C.H.GUENTER
DRACHENTÖTER
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. Im Sommer des Jahres 1940 reist...
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C.H.GUENTER
DRACHENTÖTER
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. Im Sommer des Jahres 1940 reiste ein großgewachsener, schlanker Mann von etwa fünfunddreißig Jahren von Moskau nach China. Sein Name war Jochen Ixfeld. Von Beruf war er Diplomingenieur, sein Fachgebiet die Entwicklung medizinischer Geräte. An einem gewittrigen Freitagabend bestieg er im Moskauer Zentralbahnhof den Transsibirien-Expreß. Obwohl er schon vor Wochen ein Schlafabteil gebucht hatte, ging dessen Bezug nicht ohne Trinkgeld und Kontrollen vor sich. Nachdem der Genosse Schlafwagenschaffner die Hand aufgehalten hatte, kam die Genossin Schlafwagenschaffnerin und hielt ebenfalls die Hand auf. Dabei versteckte sie ihre Neugier dermaßen geübt in ein Spiel aus Fragen und Antworten, daß Ixfeld von großer Einfalt hätte sein müssen, um nicht zu bemerken, daß sie als Agentin für die GPU arbeitete. „Sie sprechen nicht russisch, mein Herr“, stellte sie in gerade noch verständlichem Englisch fest. „Leider nein.“ „Ich muß um Ihren Paß bitten. Der bleibt in meiner Verwahrung, bis wir am Ziel sind. Aus Sicherheitsgründen.“ „Den Paß hat bereits Ihr Kollege.“ Sie wußte es, tat aber erstaunt. Dann hustete sie kurz. „Sie reisen wohin?“ „Nach China.“ „Also nicht bis zur Endstation Wladiwostok.“ „Nein, ich werde nur etwa eine Woche und knapp fünftausend Kilometer Ihr Gast sein. – Was ich beinahe schon bedauere“, fügte er charmant hinzu. Dabei blickte er ihr in die Augen. Vielleicht war es auf der langen Reise nötig, hie und da eine bevorzugte Behandlung zu 3
genießen. Erst recht jetzt in dieser Zeit politischer Krisen. Doch aus den Augen der Russin antwortete nur kalte Sachlichkeit. „Sie reisen also in die Mandschurei, Mister Ixfeld?“ „Nein, nach China“ „Und warum nehmen Sie nicht das Schiff, Mister Ixfeld?“ Er lächelte nachsichtig. „Genossin Schlafwagenschaffnerin“, begann er. „Deutschland, woher ich komme, liegt mit England im Krieg. England beherrscht die halbe Welt und fast sämtliche Meere. Es fährt kein Schiff mehr von Hamburg nach Shanghai. – Jedenfalls nicht im Augenblick“ „Und wie kamen Sie nach Moskau?“ „Mit einer dreimotorigen Ju-52 der deutsche n Lufthansa“, äußerte Ixfeld, jetzt schon weniger freundlich, auch wenn er nichts zu verbergen hatte. „Die fliegt ja noch.“ „Noch?“ tat die verkappte Geheimpolizistin überrascht „Sie fliegt, solange unsere großen Genossen Josef Stalin und Adolf Hitler es wollen. Und die werden es immer wollen, denn sie haben einen Pakt geschlossen.“ Ehe Ixfeld der Peinlichkeit ausgesetzt war, sich darüber zu äußern, fuhr die Eisenbahnangestellte sachlich fort: „Was tun Sie in China, Mister Ixfeld?“ Er erklärte es: „Einige bedeutende Kliniken dort verfügen übe r moderne medizinisch-elektrische Geräte der Firma, für die ich arbeite. Diese Geräte sind zu überholen und auf den neuesten technischen Stand zu bringen. Auch muß ich das Ärzteteam in die Handhabung einweisen.“ „Was für Geräte?“ wollte die Russin nun wissen. „Geräte für Röntgenaufnahmen. Durchleuchtung also, für Hochfrequenz-Behandlung, Beatmungsapparate und Laborausrüstung wie etwa Blutseparatoren, Mikroskope, Meßvorrich4
tungen et cetera.“ Die Genossin Kommissarin schien noch nicht zufrieden zu sein. „Warum stellen Sie Ihr Wissen nicht in den Dienst des Sowjetvolkes, Mister Ixfeld?“ Er gab ihr ein wenig Zucker. „Die russische Medizintechnik hat selbst hervo rragende Wissenschaftler“, erklärte er, wenn auch gegen seine Überzeugung. Aber es schien sie zu befriedigen. Endlich bewegte sie ihren runden Hintern in dem engen Eisenbahnuniformrock aus graublauem Filzstoff durch den Seitengang. Nach wenigen Schritten drehte sie sich um. „Sind Sie verheiratet, Mister Ixfeld?“ „Ja“ „Kinder?“ „Unterwegs.“ „Und da lassen Sie Ihre Frau allein?“ „Ist ja nur für ein halbes Jahr.“ Im Weitergehen rief sie noch: „Nach der Abfahrt gibt es Tee. Es gibt Tee von Moskau bis Ostasien. In der Küche können Sie sich Essen wärmen, aber auch Eintopf kaufen. Den Teller Borschtsch für vier Kopeken. Wir fahren pünktlich ab.“ Pünktlich bedeutete, zwei Stunden nach der im Fahrplan abgedruckten Uhrzeit.
Die Transsib fuhr Tag und Nacht, abgesehen vo m Lokwechsel sowie kürzeren und längeren Pausen. Die Fahrt ging über die Wolga und den Ural bis Swerdlowsk. Weiter östlich wurde es monoton. Der Expreß ratterte durch Birkenwälder, später auf hohen Dämmen durch endloses Sumpfgebiet. Nach 2600 Kilometern und vier Tagen Fahrt 5
erreichten sie Omsk. Südlich davon begannen die Ebenen Kasachtans. Bisweilen sah man jetzt Nomadenzelte und Schafherden in der öden und baumlosen Steppe. Man sah aber auch ausgedehnte neue Getreidefelder, wo junge Arbeiter aus Moskau, meist Studenten, die fruchtbare Erde im Kampf gegen den Hunger pflügten und Roggen säten. In Irkutsk bekam Ixfeld eine alte englische Zeitung in die Hand. Er las bestürzt, daß nach Meinung des britischen Kommentators ein Krieg zwischen Rußland und Deutschland nur noch eine Frage des Wetters sei. Jetzt, wo Hitler Norwegen erobert und Frankreich geschlagen hatte, werde er größenwahnsinnig. Krieg, überlegte Ixfeld, was dann? – Er, als Deutscher, wurde hier sofort als Gefangener behandelt. Mit einem mehr als Ungewissen Schicksal. Indessen rollte der Sibirien-Expreß am Baikalsee entlang. Die Genossin Schlafwagenschaffnerin – im Gegensatz zu ihren Kollegen war sie nicht abgelöst worden – wechselte ab und zu ein paar Worte mit Ixfeld. Nicht nur, wenn es um Wasser zum Waschen und Rasieren ging. „Der Baikalsee“, sagte sie, „ist der tiefste Binnensee der Welt.“ Sie äußerte es so stolz, als befände er sich allein in ihrem Besitz. „Kann ich Brot kaufen?“ fragte Ixfeld. „Warum haben Sie sich in Moskau nicht eingedeckt, Mister Ixfeld?“ „Die Zugratten?“ setzte er nach. „In diesem Zug gibt es keine Ratten“, fertigte sie ihn ab. Es wurde Nacht. Am Morgen säumten Lärchen- und Fichtenwälder die Strecke. Nun rollte der Transsib an der Grenze zur Mandschurei entlang. Es war nebelig. Der Grenzfluß, der Amur, war nahe. Die Genossin Schlafwagenschaffnerin weckte Ixfeld mitten 6
in der Nacht. „Noch eine Stunde bis Bjelogorsk!“ rief sie. „Endstation für Sie. Wenn Sie Pech haben, ist der Bus gerade weg. Der fährt nur zweimal im Monat.“ Als der Expreß hielt und Ixfeld sich von der Geheimpolizistin verabschiedete, wagte er eine Frage. „Was hört man aus Moskau?“ „Still“, deutete sie an, „ist das Meer vor dem Sturm.“ Sie winkte noch, als der Expreß weiterrollte. Jochen Ixfeld brauchte nur zwei Tage auf den alten Ford-Bus zu warten. Er sollte ihn bis zur Grenze und noch ein Stück weiter bis zur ersten mandschurischen Eisenbahnstation bringen. Ixfeld war der einzige Europaer. Die Chinesen um ihn herum machten alle fröhliche Gesichter. Er fragte, und sie antworteten. Aber er verstand sie nicht. Als er endlich dahinterkam, was sie so vergnügt machte, schauderte ihn. „China jetzt groß“, sagten sie, „und Rußland klein.“ „Warum ist Rußland klein?“ Sie legten Daumen und Zeigefinger fest aufeinander. „Rußland so klein, Stalin so klein.“ „Warum so klein?“ fragte er immer wieder. Endlich erfuhr er es. Wenige Stunden, nachdem er die Grenze zur Mandschurei passiert hatte, war die deutsche Offensive gegen Rußland angelaufen.
In einem schluchtenreichen Gebiet, das möglicherweise der Kleine Chingang hieß, hatte der Bus eine Panne. Es krachte bei jedem Meter in der Hinterachse. Alle Passagiere mußten aussteigen. Vierzig Männer und Frauen schoben den Bus hinauf zur 7
Paßhöhe. Von dort ging es ohne Motorkraft talwärts. Auch im nächsten Tal trafen sie weder auf eineAnsiedlung noch auf Nomaden. Nur kahle Berge ringsherum, vegetationslos und ohne Wasser, Wieder ein Stop. Es sah schlecht aus. Mit dem Bus würden sie noch vier Stunden bis zur nächsten Karawanserei brauchen, zu Fuß eine Woche. – Falls man sie je erreichte. Der Fahrer schüttelte ein Gemisch aus öl und Holzmehl hinten ins Differential. Dann ging es wieder ein Stück weiter. Bald danach, die Straße führte auf eine Brücke zu, war endgültig Schluß. Wildaussehende Reiter sperrten die Durchfahrt. Mit blanken Säbeln und angelegten Karabinern wurden die Passagiere aus dem Bus getrieben. Die armen Bauern, Händler und Schäfer wurden völlig ausgeraubt. Eine Gestalt wie Dschingis Chan persönlich, offenbar der Anführer, baute sich vor Ixfeld auf. Zwischen der Karakulmütze und dem schwarzen Bart sah man nur schlechte Zähne, eine flachgehämmerte Nase und Kohleaugen. Er gab seinen Männern einen Wink. Sie nahmen Ixfeld die Uhr ab, die Brieftasche, Paß, Papiere und alles Geld. Dann holten sie seine Lederkoffer vom Busdach und brachen sie auf. „Amerikaner?“ fragte der Bandit mit der Armeepistole und den gekreuzten Patronengürteln. „Engländer“, log Ixfeld, in der Hoffnung, es würde ihnen Respekt einflößen. Doch der Bandit grinste nur. „Um so besser. Engländer bringen mehr Lösegeld.“ Er rief seine Männer. Der Befehl mochte etwa so lauten: „Den da fesseln und mitnehmen. Die anderen umlegen!“ Sie banden Ixfeld auf ein Pony. Als sie wegritten, hörte er von der Brücke das langsame Hämmern eines alten wassergekühlten Maschinengewehrs. 8
Von diesem Tag an begann für Jochen Ixfeld ein viele tausend Meilen langer Weg. Reiten, kämpfen, Hunger, Kerker, Flucht, erneute Gefangennahme, Krankheit, Verzweiflung. Ein Dasein zwischen Leben und Tod, bis er endlich hoch im Himalaja ein Versteck fand. Als der Alptraum endete, war Jochen Ixfeld ein anderer Mensch geworden. Für seine Angehörigen, die nach ihm forschten und keine Spur von ihm fanden, galt er als verschollen. In den Jahren 1941-1945 klammerte Joche n Ixfeld sich noch an die Hoffnung, irgendwann einmal in den Westen, nach Europa entfliehen zu können. Wenn er auch nur geahnt hätte, daß es hm für den Rest seines langen Lebens nicht mehr gelingen würde, hätte er sich einen mandschurischen Krummsäbel in den Leib gestoßen. 2. Diese Stadt, dachte der CIA-Chiefagent James Pittford, als er durch Los Angeles fuhr, liegt im Paradies, trägt aber die Züge der Hölle. Besonders deutlich wurde das nachts, wenn der Abschaum unterwegs war. Die superreichen Geldhaie, die Gansterbosse und ihr Fußvolk, Nutten, Stricher, Dealer und Ganoven, ohne die sie nicht denkbar waren. James Pittford unternahm diese nächtlichen To uren nicht zum Vergnügen. In dem Hexenkessel aus Suff, Drogen, Falschspiel, Prostitution und Mord hatte er einen Mann zu suchen. Er suchte Jack Griffon, den Jazzgitarristen. Da Griffon nur bei Dunkelheit losging, um hier und dort ein paar Dollar zu machen, war er schwerer zu finden als eine Jungfrau in Hollywood. Zwischen Long Beach im Süden und Burbank im Norden 9
gab es zehntausend Bars, Clubs und Restaurants. Durch sie zogen ständig irgendwelche Musiker, denn nur wenige hatten feste Jobs, sei es bei einem Sender, bei einer Show oder in den Hollywoodstudios. Jack Griffon, ein hagerer windiger Bursche, halb Indianer, halb Spanier, gehörte zu denen, die alles mit einer Gitarre anstellen konnten, nur nicht in einer Band nach Noten spielen. Dazu hatte er eine softe Stimme und ständig mindestens zehn Dutzend Songs drauf. – Nur zu kriegen war er verdammt schwerer als Tina Turner ins Bett. Seine Adresse wechselte mit der Freundin, die ihm gerade die Steaks briet. Daß er sich telefonisch meldete, kam nur dann vor, wenn er wieder einmal völlig abgebrannt war. Griffon hatte sich schon seit Wochen nicht mehr gemeldet. Also ging es ihm gut. Er war on the trip, wie er es nannte. Endlich, nach knapp einer Woche – es war außerdem noch eine satte Portion Glück mit im Spiel – stieß der CIA-Agent Pittford auf ihn. Es war in einem französischen Restaurant oben am Santa Monica Boulevard, wo Ladies und Gentlemen aus der Filmwirtschaft zu speisen pflegten. Dies bei Kerzenlicht und leiser Musik, die selten vom Band kam, sondern meist life mit Kehle und Fingern erzeugt wurde. James Pittford sah den hageren Griffon wiegend durch die Gänge zwischen den Tischen schlendern. Dazu zupfte und sang er When You’re Smiling, dann Blue Moon, auch Yesterday, all die coolen alten Sachen. Dabei kassierte er tüchtig ab, wi e Pittford, an der Bar sitzend, registrierte. Während Pittford an seinem Drink nippte, schrieb er etwas auf den oberen Rand einer Banknote. Er wählte dazu extra einen lächerlichen Ein-Dollar-Schein. Wenn er dem Gitarristen diesen Schein zusteckte, würde er ihn mit Sicherheit beachten. Schon deshalb, weil ein Greenback fast schon eine Beleidigung darstellte. Er würde ihn also mit der gleichen Aufmerksamkeit 10
betrachten wie einen Zehner. Außerdem kannten sie sich. Es dauerte gut eine Viertelstunde, bis Griffon die Lokalrunde beendet hatte, denn hinten in eine r Nische wünschte sich ein Pärchen offenbar noch eine Extrazugabe. Endlich kam er mit der Gitarre unterm Arm an die Bar und bestellte ein Soda ohne alles, nur mit Zitrone. Da schob Pittford ihm den Schein in die Brusttasche seines bunten ChicanoHemdes, blickte ihm starr in die Augen und ging.
Auf dem Rand der grünen Dollarnote stand: Ocean Ave. Pavillon. Dringend. Pittford saß in seinem dunkelblauen Dienstchevrolet, hatte das Radio an und rauchte. Der Qualm zog durch den Fensterspalt ab. Pittford schaute auf die Uhr. Der Jazzer ließ sich verdammt viel Zeit. Dabei hatte Pittford den Treff mit Bedacht so gewählt, daß Griffon nur ein paar Blocks zu fahren hatte. Selbst wenn er zu Fuß ging, schaffte er die Meile in zwanzig Minuten. Jetzt war fast schon eine Stunde um. Drüben in dem kleinen Kombi amüsierte sich ein Pärchen. Sie trieben es laut und so heftig, daß der Kombi in den Federn schwankte. Endlich kam einer angelatscht, ohne Gitarre, aber mit der Lulle zwischen den Zähnen. Zweifellos Griffon. Er rauchte Ketten, hauptsächlich seiner sanften Stimme wegen. Um sie zu pflegen und zu erhalten, wie er es nannte. „Hast du die beiden gesehen?“ fragte er grinsend. „Nur gehört“, sagte der CIA-Agent. „Weißt du, was die treiben? Soixante-neuf.“ „Meinst du diese französische Schweinerei?“ „Ja, sechs neben neun.“ 11
„Pfui Deibel!“ „Ich find’s prima“, sagte der Jazzer. „Aber nicht in ‘nem achtziger Pontiac.“ Er schob sich neben Pittford und steckte sich an der Kippe eine neue Camel an. „Kein Gras heute?“ fragte Pittford anzüglich, „Davon bin ich weg, Mann. Ab und zu eine Prise Schnee und basta!“ „Mehr zu als ab, he?“ Der Jazzer hob beide Hände. „Meine Sache, oder? Bin total clean heute. – Was gibt es, Bruder?“ „Der Boß läßt fragen, was du wohl ausgefressen hast.“ „Nichts. Wenn ich was klarzubiegen habe, dann melde ich mich schon.“ „Daran liegt es. Du bist nur da, wenn du uns brauchst, aber nie wenn wir dich brauchen, du Stinktier.“ Der Mischling, ein gutaussehender Bursche mit dunklen Augen, einer auch im Winter braunen Haut und schwarzen Lokken, grinste. „Deshalb bin ich auch nicht pensionsberechtigt wie du und die anderen Schleimer.“ Pittford wollte keinen Streit, sondern Ergebnisse. „Okay“, sagte er also. „Du erledigst jeden Job einigermaßen gut, sonst hätten wir dir längst in deinen indianischen Jazzerarsch getreten.“ „FBI nimmt mich mit Kußhand“, bemerkte Griffon. „Mit einem Arschtritt vielleicht“, ergänzte der Agent. „Jetzt mal ohne Flax. Es geht um folgendes! „ „Um folgende Sche iße“, höhnte der Jazzer. fünftausend Vorkasse, noch mal fünf, wenn du ihn hast oder sachdienliche Hinweise lieferst, die zu einer Ergreifung führen.“ „Und wer ist diesmal die arme Sau?“ 12
Der Agent tat nicht mehr lange herum. „Ein Kumpel von dir.“ „Vom Stamme der Spaniolen oder vom Stamme der Komantschen?“ „Vom Stamme der Jazzer. Er lebt, wie wir hören, etwa so wie du. Er zieht von Kneipe zu Kneipe. Nur nicht durch so viele wie du, denn Klaviere kann man nicht vorm Bauch herumtragen. Er ist beschränkt auf Clubs, wo ein Flügel steht.“ „Flügel?“ tat Griffon erstaunt. „Adlerflügel, oder steht links Steinway drauf?“ „Er ist Pianist.“ „Hat er auch einen Namen?“ „Mal diesen, mal jenen.“ „Und wie lautet mal dieser?“ „Seaburg, Mat Seaburg. Aber verlaß dich nicht drauf.“ „Ich verlaß mich nur auf ein Steak, wenn ich es verdrückt habe. Wo finde ich Seaburg?“ „In der Szene.“ „Die reicht im Viereck von New York bis Florida und von New Orleans bis Frisko, Mann.“ „Genau dort findest du ihn.“ „Mannomann!“ meinte der Jazzer. „Bißchen wenig Indianerjunge für ‘ne so große Melone, findet ihr nicht?“ „Mit ein bißchen mehr hätten wir ihn längst.“ Der Jazzer dachte lange nach, ehe er weiterfragte: „Besondere Kennzeichen?“ „Keine.“ „Du meinst keinen.“ „Nicht anzunehmen“, meinte Pittford, „daß er keinen hat. Damals in Afghanistan soll er noch einen gehabt haben.“ Der Jazzer pfiff. „Ein Asier.“ „Man nennt sie korrekterweise Asiaten, aber er ist Amerikaner. Er lebte nur lange da drüben und mußte aus undurchsichti13
gen Gründen abhauen, als die Russen einmaschierten. Wir wissen nicht genau, was er auf der Latte hat. Nur eines wissen wir, Seaburg ist Afghanistanexperte. Weil es davo n verdammt wenige gibt, brauchen wir ihn.“ „Verkohlst du mich jetzt nicht, Bruder?“ fragte der Jazzer. „Was spielt das für eine Rolle. Such ihn, geh auf Reisen. Er ist, vielmehr er soll so ein langer Dürrer sein, mit schütterem Haar, früher mal rot.“ „Na fabelhaft“, resignierte der Jazzer. „Such mir eine Blume, hübsch bunt, viereinhalb Blätter, wächst am Stiel drunten in Texas.“ Als sei ihm gerade noch etwas eingefallen, sagte Pittford: „Er trägt eine Tätowierung.“ „Wo? Am Hintern?“ „Vermutlich am Unterarm.“ „Innen, außen, klein, groß, rot, blau, grün, ein unklarer Schiffsanker, ein Herz mit Pfeil, der Russenstern mit Hammer und Sichel, ein nacktes Weib oder was?“ „Ein nackter Drachen“, sagte Agent Pittford. „So einen für Kinder, an einer langen Schnur, zum Fliegen?“ „So einer aus der Sagenwelt Chinas, Indiens, Paki- oder Afghanistans.“ „Dachte, die Afghanis züchten nur Hunde.“ „Ein Drachen“ wiederholte der CIA-Mann und erwies seinem Under-cover-Agenten viel Geduld. „Schätze, du erkennst so was, besonders wenn der Schnee deinen Verstand geschärft hat.“ „Ist der Drachen ein Glücksbringer, eine Ar t Amulett, ein Symbol oder ein Clubabzeichen?“ „Frag mich, wenn wir ihn haben.“ Der CIA-Agent faßte in die Innentasche seines dunkelblauen Sommersakkos und holte eine n Umschlag heraus. „Abgezählt“, sagte er. „Spesen extra.“ „Quittung?“ 14
„Ist leider unumgänglich.“ Der Jazzer unterschrieb etwas. Er unterschrieb eigentlich alles. „Hau es nicht gleich auf den Kopf, Mann.“ „Was ich mit großem Vergnügen tun werde“, versprach der Jazzer. „Darf ich mal dein Autotelefon benutzen?“ „Hast du kein eigenes?“ „Klar, in meinem Rolls. Aber deines ist schöner.“ Er hob ab und konnte sogar damit umgehen. Griffon sprach mit mehreren Damen und brachte eine dazu, daß sie sich gleich mit ihm traf. Er versprach ihr eine Menge. So viel, daß er unmöglich auch nur die Hälfte davon halten konnte. Dann legte er auf. „Wirklich ein feines Telefon.“ Als er ausstieg, hielt Pittford ihn zurück. „Moment noch“, sagte der Agent. „Ich kriege ‘nen halben Dollar für die Ortsgespräche.“ „He, spinnst du, Pittifordi?“ „Mein Ernst. Was Telefongebühren angeht, ist der Agency verdammt pingelig.“ Der Jazzer konnte es nicht glauben. Aber dann griff er in die Tasche, zog den Schein mit de m handschriftlichen Treffpunkt heraus, spuckte die Dollarnote an und klebte sie Pittford an die Stirn. „Hau ab, du Kacker von einem Kackverein“, sagte er und verschwand in der Dunkelheit in Richtung Ocean Park. 3. Eine weibliche Person, die zunächst ihren Namen nicht nannte, nervte die Telefonzentrale des BND-Hauptquartiers in Pullach bei München schon seit Tagen. Sie verlangte einen kompetenten Mann zu sprechen. Wegen ihrer unglaublichen Hartnäckigkeit ve rband man sie 15
schließlich mit einem Angestellten der Presseabteilung. Dieser, geübt im Abwimmeln vo n Fans des deutschen Bundesnachrichtendienstes – obwohl es davon nicht allzu viele gab – fragte höflich: „Was können wir für Sie tun?“ „Wer sind Sie?“ „Ich bin zuständig für Public Relations, was man mit Öffentlichkeitsarbeit übersetzen könnte. Was also können wir für Sie tun?“ „Sie“, kam es von sehr weit her, „Sie können gar nichts tun. Geben Sie mir einen kompetenten Mann.“ „Ich bin kompetent.“ „Wofür?“ „Für alles, Gnädigste.“ „So einen kann ich nicht gebrauchen“, wurde er angefahren. „Ich muß einen sprechen, der sich in Asien auskennt.“ Hier war der Pressemensch offenbar überfordert. „Asien Süd, Nord o der Ost?“ wich er aus. „Mehr Nord“, sagte die Unbekannte, ohne sich auf ein bestimmtes Land einzulassen. „Aber es handelt sich um ein ernsthaftes Problem.“ „Für wen, Gnädigste?“ fragte der Pressemann. „Für Sie oder für uns?“ „Nicht für Sie“, entgegnete sie ironisch, „aber möglicherweise für die Bundesrepublik Deutschland, für die Sie doch wohl tätig sind, wie ich annehme.“ Der Pressemensch zierte sich. „Bedaure, ich kann Sie mit keinem unserer Experten verbinden. Die Herren sind stark überlastet, wie Sie annehmen dürfen.“ „Ich dachte mir“, sagte die Anruferin mit süddeutschem Akzent mit schneidender Stimme, „sei nett, geh zum Maler und nicht zum Anstreicher. Denn offensichtlich sind die Anstreicher zu sehr beschäftigt. Wie üblich bei uns sind die Behörden 16
mehr für sich selbst da als für die Bürger. Aber lassen Sie sich eines gesagt sein, junger Mann: Mein Konzern entrichtet jährlich eine zweistellige Millionenzahl an Steuern, von denen auch Sie leben. Ich habe eine Menge Freunde in Bonn und im Kanzleramt. Ich wollte keinen Trubel veranstalten, aber wenn es Ihnen so lieber ist, dann gebe ich Ihnen Dampf von oben, unter Nennung von Namen und Stellung, aber zwar sehr heißen, sehr feuchten Dampf, darauf dürfen Sie bauen, mein Herr. Auf Wieder…“ Da lenkte der Pressemann ein und tat, was er konnte. „Wie war Ihr Name, bitte?“ Sie nannte nur den Namen ihrer Firma. „Deutsche Ventil- und Regeltechnik AG, FriedrichshafenMannheim.“ Der Pressemann des BND kam von einem WirtschaftsInformationsdienst. Folglich kannte er die Bedeutung der DVR. Sie belieferte die gesamte Automobil-, Flugzeug- und Rüstungsindustrie mit Feinsensoren und baute die modernsten Industrieroboter. „Ich verbinde Sie mit einem unserer Abteilungsleiter.“ „Nein, Sie verbinden mich mit einem Herrn in der obersten Etage“, forderte die Anruferin. Der Pressemann schlug vor; „Ist Ihnen der Operationschef recht?“ „Gibt es nicht auch einen Präsidenten?“ „Derzeit ist nur sein Stellvertreter im Hause.“ „Dann den“, forderte die resolute Dame aus Industriekreisen.
Auf persönlichen Wunsch des Vizepräsidenten übernahm der Agent Nr. 18 die scharfzüngige Lady aus der Industrie. Der dafür optimal geeignete Robert Urban ve rstand sich auf heikle Missionen, und Ladies bestimmten Kalibers gehörten dazu. „Möglicherweise“, sagte der Vize zu Robert Urban, „ist das 17
der idiotischste Fall des Jahres. Ziehen Sie sich auf jeden Fall warm an, denn was gegen Dummheit schützt, schützt auch gegen Kälte und gegen Flammenwerfer.“ So hatte Urban die Verabredung getroffen. Vielmehr, die Dame hatte ihm vorgeschlagen, er möge zu einem Sportflugplatz westlich von München kommen, nach Jesenwang. Sie würde dort um diese und jene Zeit kurz zwischenlanden. Urban war zur Stelle. Pünktlich kam eine todschicke King-Air herein. Sie war das eleganteste, was es an zweimotorigen Geschäftsflugzeugen gab. Und die Pilotin, die ihr entstieg, war nicht weniger elegant. Urban traf sie in der kleinen Cafeteria. Man konnte nicht gerade behaupten, daß sie sich lediglich auf Anhieb sympathisch gewesen wären. Urban, ebenso wie die Dame, hatte schlichtweg der Blitz getroffen. Sie machte jedoch einen Hehl daraus, und er wohl auch. Sie war die Portion von Klassemädchen, die er schätzte, und sie schien ähnliches von ihm zu denken. Vielleicht nicht wortwörtlich, aber es ergab einen harmonischen Akkord, möglicherweise sogar Kongruenz, wie man in der Trigonometrie den Zustand von Übereinstimmung bezeichnete. Dabei musterten sie sich beide cool wi e Gletschereis, aber mit versteckter Neugier. Ihn, athletisch, dynamisch, mußte man für einen Skilehrer vom Arlberg halten und sie für ein Mailänder Spitzenmannequin. Das alles dauerte nur Sekunden. „Oberst Urban!“ Sie reichte ihm die Hand. Noch immer wußte er ihren Namen nicht. Also sagte er: „Und Sie sind die Dame von der De-Vau-ErAktiengesellschaft“ Tiefstapelnd, aber nicht ohne die Spur eines Lächelns, antwortete sie: „Ich bin die De-Vau-Er-Aktiengesellschaft. Me inen Namen 18
erfahren Sie schon noch.“ Sie schaute sich um. Dies mit einer halben Drehung ihres knackig proportionierten Körpers in dem zartblauen Kostüm aus Wildseide, das umwerfend gut zu ihrem blauschwarzen Haar paßte und wohl auch auf die Farbe ihres Flugzeugs, einem hellen Astralsilber, abgestimmt war. Er ahnte, was sie suchte, nämlich eine stille Ecke. „Dort hinten.“ Er ging schon vor, blieb aber stehen. „Tee, Kaffee, Fruchtsaft?“ „Ja, bitte, aus gepreßten Weintrauben und in Flaschen gegoren. – Ob die hier Champagner führen?“ Urban orderte eine Flasche Pommery. Sie führten keine andere Marke. Von dem Platz in der Nische hatte man einen Blick über das Flugfeld. Dabei saßen sie geschützt hinter hohen Topfpflanzen. Aber sie waren ohnehin die einzigen Gäste. Eine Kellnerin mit ländlichen Formen brachte den Kühler. Eiswasser schwappte um die Flasche. Sie fummelte am Drahtverschluß, bekam ihn aber nicht auf. Urban half ihr. Er goß auch selbst ein. Fortan blieben sie unbelästigt. So als hätte sie die erste Hälfte ihrer Story bereits gestern erzählt, sagte die Frau mit dem Tessiner Teint und den hellen Augen: „Mein Vater wurde 1941 geboren. Er schloß fünfundzwanzig Jahre später sein Studium ab und begann in der Garage unserer Familienvilla im Westerwald mit dem Bau von Geräten, die auf hinterlassenen Patenten meines Großvaters beruhen. Diese Geräte – ich will Sie mit technische n Einzelheiten nicht langweilen – waren so perfekt und wurden überall so sehr gebraucht, daß aus der Garagenklitsche in weiteren zwanzig Jahren ein Unternehmen mit neuntausend Arbeitern und Ingenieuren wurde. Nämlich die AG, die ich jetzt leite, nachdem mein 19
Vater leider sehr früh an Krebs verstarb.“ „Sie bauen unter anderem auch Fernsteuerungen für Industrieroboter“, sagte Urban. „Technische Dinge langweilen mich nie. Das alles, Gnädigste, ist kein Geheimnis. Es steht in jedem besseren Wirtschaftsjahrbuch. „ Sie tranken. Der Pommery war gepflegt und fein im Geschmack, aber noch ein paar Grade zu warm. „Darf ich rauchen?“ fragte er höflich. „Ich bitte darum.“ Sie selbst holte eine schwarze Zigarette aus einem flachen goldenen Etui mit dem Monogramm E.I. „Nikotin schadet der Haut“, sagte sie. „Macht nichts.“ Sie lehnte sich zurück, schlug die Beine hoch übereinander. Beine, bei denen man sich davo r hütete, an die Fortsetzung zu denken, wenn es um Geschäfte ging. Abrupt kam sie zur Sache. „Haben Sie einen Fernsehapparat?“ fragte sie, mit einem Lächeln ganz am Ende des Mundes. „Sogar in Farbe.“ „Schauen Sie auch hinein, Oberst?“ „Wenn es unumgänglich ist“ ,,Damit meinen Sie nicht nur bei Fußball?“ „Nein, Fußball ist mir geistig zu hoch. Ebenso Tennis. Nur Nachrichten hin und wieder. Aber wann bin ich schon zu Hause.“ „Wo sind Sie, wenn Sie nicht zu Hause sind, Oberst?“ „Nennen Sie das exotischste Land, das Ihnen einfällt, und ich bin dagewesen.“ „Lilliput“, sagte sie. „Gewonnen! Okay, ich habe einen Fernseher und komme ein bißchen herum. Was haben Sie für ein Problem?“ Sie zog aus ihrer Hermes-Umhängetasche, in der sich wohl auch die Flugzeugpapiere befanden, eine Fotografie. Es war eine Polaroidaufnahme. Sie zeigte eine Straßenkreuzung. Links einen zusammengeschossenen Panzer, rechts ein 20
Autowrack. Im Hintergrund Ruinen von Häusern und Schutthalden. Die Mitte des Fotos beherrschte ein Straßenhinweisschild an einem eisernen Masten. Es war vo n Kugeln zersiebt und verbeult, aber man konnte, wenn man sich Mühe gab, dem Straßennamen noch entziffern. Urban hätte dazu eine Lupe gebraucht. Doch auf den Namen kam es wahrscheinlich nicht an. „Ein Schwarzweißfoto“, stellte er fest. „Gibt es für Polaroidkameras überhaupt noch solche Filme?“ „Das Bild kam so über den Sender.“ „Dann dürfte es ein altes Bild gewesen sein.“ „Oder es wurde in einem fernen Land aufgenommen, wo der Kameramann nur Scharzweißmaterial zur Verfügung hatte.“ „Dann muß es schon ein sehr entferntes Land gewesen sein.“ „Das ärmste derzeit“, sagte sie. „Alles war reiner Zufall. Ich sah den Filmbericht und dieses Straßenschild. Nur für Sekunden. Ich traute meinen Augen nicht. Sofort holte ich meine Kamera und wartete die nächsten Nachrichten ab, wo sie den Filmbericht noch einmal brachten. Dann knipste ich. Können Sie den Namen lesen?“ Urban gab sich Mühe. Es war ein Straßenname mit field am Ende. „Field?“ fragte er. „Richtig. Der Film wurde, ich habe mich erkundigt, vor etwa drei Wochen in Kabul aufgenommen. Wenn Sie wissen, wo das liegt, Oberst.“ „In Afghanistan vielleicht?“ äußerte Urban mit leiser Arroganz. „Genau. Kabul ist die Hauptstadt von Afghanistan, aus der die sowjetischen Truppen abgezogen wurden, die aber immer noch ihre Waffen einsammeln, damit sie den Aufständischen nicht in die Hände fallen, wenn sie gelegentlich Kabul erobern werden – oder auch nicht. – Aber das ist für mich uninteressant. Mir kommt es allein auf diesen Straßennamen an. Hinten 21
steht field, die englische Bezeichnung für Feld, und vorne Ix.“ Jetzt erkannte Urban es auch. „Ixfeld, na schön. Und?“ Sie machte die Augen sehr schmal, als fände seine abfällige Bemerkung ihr Mißfallen. „Halten Sie eine Ixfeld-Straße für etwas Alltägliches, Oberst?“ „Eher weniger“, räumte er ein. „Wenn es sich bei dem Namenspatron der Straße um einen Mister Ixfeld handelt, dann ist das in der Tat ein höchst seltener Name, den ich noch nie zuvor hörte.“ Der Unmut wich wieder aus ihren Zügen. „Das möchte ich Ihnen auch geraten haben, Oberst Urban. Sie sind weit herumgestrolcht. Ich weiß einiges über Sie aus dem Almanach für Spione und Agenten. Daß Sie nie einem Ixfeld begegnet sind, ist insofern möglich, als es nur uns als einzige Ixfelds gibt. Ich bin Elena Ixfeld.“ Draußen startete eine Piper. Urban steckte sich eine MC an. Im Augenblick war wegen des Motorenlärms eine Konversation ohnehin nicht möglich.
Dann erfuhr Urban den Rest der Geschichte. Die schöne Elena nannte es ihre Familientragödie. „Mein Großvater reiste wenige Wochen vo r Kriegsbeginn mit der sibirischen Eisenbahn vo n Moskau nach China, um einen Job anzutreten. Er wollte in sechs Monaten zurück sein oder meine schwangere Großmutter nachkommen lassen. Aber man hörte nie mehr etwas von ihm. Sein letzter Brief kam aus einem Nest an der mandschurischen Grenze: Es geht mir gut und so weiter. Meine Großmutter und die Firma Siemens, für die er tätig war, unternahmen wirklich alles, um eine Spur vo n ihm zu finden. Vergebens. Es war Krieg. Weltkrieg. Zwar gab 22
es einige Hinweise, wonach er vo n Banditen getötet worden sei, irgendwo im Himalaja in einem Buddhistenkloster lebe, mit Mao kämpfend durch China ziehe oder als Ingenieur, der sein Gedächtnis verloren habe, die indische feinmechanische Industrie aufbaue. Alles nur Gerüchte. Und nun dieses Foto.“ „Dieses erstaunliche Foto“, gab Urban unumwunden zu. „Würden Sie mir zustimmen, Oberst Urban“, fragte die Frau, die so schön war, daß er fürchtete, überall dort, wo sie vorüberging, würden die Uhren stehenbleiben, „würden Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte, Ixfeld ist der seltenste Name der Welt?“ „Jedenfalls ist e r sehr selten“, schränkte er ein. „Mein Großvater verschwand im fernen Osten. Ist es möglich, daß der Name auf dem Straßenschild in Kabul mit einem Mann zu tun haben könnte, der Ixfeld heißt oder hieß?“ „Das ist anzunehmen.“ „Könnte dieser Mann mein Großvater sein?“ „Zumindest“, meinte Urban, „hat dieser Mann wohl irgendwelche hervorragenden Leistungen für Kabul erbracht. Sonst hätte man seinen Namen nicht auf diese Weise geehrt.“ „Es gab also einen Ixfeld dort.“ „Sehr wahrscheinlich.“ „Und Ixfeld heißt nicht jeder“, machte sie hartnäckig weiter. „Darüber waren wir uns einig.“ „Können Sie mir da helfen, Oberst?“ Urban überlegte. Eine Frau von ihrer finanziellen Potenz konnte auch ein Detektivbüro mit der Suche beauftragen. Andererseits riß sich keiner darum, auch für viel Geld nicht, in dieses fürchterlich gebeutelte Land zu reisen. Er wollte also nicht zuviel versprechen. „Wir haben ein paar Vertrauensleute in der Nähe“, deutete er an. ,Agenten?“ „Zunächst mal einen Konsul.“ 23
„Kann er etwas tun?“ „Tun schon. Fragt sich nur, ob er davon begeistert ist.“ Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ist es eine Spur, oder ist es keine Spur?“ Urban ging einen Schritt weiter. Das Straßenschild sah nicht so aus, als hätte man es erst vo r kurzem aufgestellt. Der Mast schien angerostet zu sein. „Vielleicht gibt es alte Straßenkarten von Kabul, mit Straßennamen darauf.“ „Es ist eine Spur“, beharrte sie. Plötzlich fühlte er ihre Hand auf der seinen. „Ich mag Männer wie Sie“, gestand sie. Urban hielt nicht allzuviel von diesem Geständnis. Sie sagte es nur, um ihn anzuspornen. „Und ich mag Mädchen wie Sie“, antwortete er, „eigentlich nicht.“ Das war faustdick gelogen. Er sagte es nur, um sich abzuspornen. Sie leerte hastig ihr Glas. Sie hatte den Champagner beinah allein getrunken. Im Weggehen zahlte sie mit einem Hunderter. „Ist das genug?“ „Genug“, sagte Urban. „Und Sie haben auch genug. Oder?“ „Wie meinen Sie das?“ „Trunkenheit am Steuerknüppel. Wohin soll’s denn gehen?“ „Nur rasch mal nach Mailand. Bin heute abend wieder zu Hause.“ Offenbar aus Trotz ging sie noch einmal zurück und rief der Kellnerin zu: „Wickeln Sie mir noch eine Flasche ein.“ Urban brachte sie zu ihrer King-Air, einem Vogel, so scharf und spitz wie Madame. Sie reichte ihm ihre Karte mit Adressen und ungefähr zehn Nummern von ihrem Bürotelefon, Autotelefon, Flugzeugtelefon, dem Telefon auf der Yacht, zu Hause in ihrer Villa und in 24
ihrer Wohnung in Cannes. Sie gab ihm nicht die Hand, sondern erklärte: „Trunkenheit am Steuerknüppel gibt es nicht. Es gibt kein entsprechendes Gesetz, also gibt es sie auch nicht. Servus, Oberst Urban, und good bye.“ Er sah sie anlassen, wenden, rollen, starten und abheben. Dann fuhr er in seinem Trommelfeuer-BMW nach München zurück. 4. Nach sieben Wochen wurde der Gitarrist Jack Griffon in Florida fündig. Es war in einem Jazzclub an der Seeseite vo n Cocoa. Der Club nannte sich Satchmo, weil der legendäre Louis Armstrong hier schon gastiert und Ella Fitzgerald zu seiner Begleitung gesungen hatte. Es war spät nach Mitternacht. Wenn der Alkohol seine Wirkung tat, dann gesellten sich zu den Musikern auf der Bühne noch Hobby-Jazzer, und sie machten gemeinsam eine Jam Session. Jeder, der einigermaßen ein Instrument beherrschte, durfte mitmachen. Genau da war es, daß ein Mann mit Drachentätowierung am rechten Unterarm vor dem Piano Platz nahm Der CIA-Spitzel, der schon nicht mehr an einen Erfolg seiner Mission geglaubt hatte, war wie vo m Donner gerührt. Vorsichtig schob er sich an den Pianisten, einen langen Kerl mit rasierter Glatze, heran. Gemeinsam hämmerten sie die guten alten Nummern aus New Orleans und Chicago. Sie spendierten sich gegenseitig ein Glas Bier, und noch eins, und Griffon meinte: „Du bist Klasse, Mann, fast ein Profi. Das sollten wir öfter mal machen. Sag Jack zu mir.“ „Ich heiße Mat.“ 25
„Jack Griffon.“ „Mat Seaburg“, sagte der Pianist mit der Tätowierung arglos. – Musiker hatten eben Vertrauen zueinander. Die Jam Session dauerte noch lange. Danach waren sie aufgekratzt wie Schauspieler, wenn nach einer gelungenen Vo rstellung der Vorhang fiel. Draußen ließen sie sich den Schweiß vom Seewind trocknen und gingen noch in ein Restaurant, um einen Happen zu essen. Jack Griffon, der endlich das Ziel seiner Begierde vor sich hatte, wollte diesen tätowierten Burschen nicht mehr loslassen. „Wo hast du schon gespielt?“ fragte er ihn, als sie ihre Chikkenburger kauten und mit Schlitz-Bier nachspülten. „Nie in einer Band.“ „Das gibt es nicht. Du bist ein Vollprofi. Erzähl mir nichts, Mann!“ Der andere grinste. „Okay, ich bin Profi, aber nur als Elektronikingenieur.“ „Wo? Hier in Florida?“ „Ich übe meinen Beruf nicht mehr aus. Hab die Schnauze voll davon. Elektronik ist die allerletzte Schnüffel-, Kontrollund Menschenmanipulationsscheiße, die je erfunden wurde. Basta. Und kein Wort mehr davon.“ Der CIA-Spitzel ließ sich Zeit. Er hockte nur kauend und kopfschüttelnd da. „Aber wo hast du diesen Rhythmus gelernt, Mann?“ „Trat mal im Zirkus auf und im Cabaret, als Musikclown. Noch nie von Elektro-Mat gehört?“ „Sorry, nein. Leider.“ Der andere bestellte noch ein Bier. „Kein Wunder. War ja auch drüben in Europa. Bin da überall rumgetrampt. Hamburg, Paris, Rom, Madrid. Hatte Erfolg. Immer volle Häuser.“ „Und warum machst du das nicht weiter?“ „Mag sein“, sagte Seaburg, „daß ich nicht gerade aussehe, als 26
ginge es mir optimal. Okay, es geht mir pessimal, aber ich bin zufrieden. Ich stieg aus, weil ich zu viele Neider hatte. Alle waren Elektro-Mat nicht gut gesinnt, weil er kein gelernter Zirkus- und Varietegaul war. Sie machten mich runter. Sie verleumdeten mich und zogen mich durch die Presse. Da bekam ich Angst.“ „Warum hast du ihnen nichts auf die Nase gegeben?“ fragte Griffon bekümmert. „Aus Angst wegen früher“, deutete Seaburg an. „Ich verließ meinen Job, bin einfach abgehauen. Von heute auf morgen tauchte ich unter. Ich mußte untertauchen, weil ich zuviel wußte. Ich fürchtete immer, sie seien hinter mir her und würden eines Tages herauskriegen, wer Elektro-Mat, der Pianoclown, in Wirklichkeit ist.“ „Hast du an so heißen Sachen gearbeitet?“ „Und in einem heißen Land.“ „Heißer als Florida im Juli?“ „Heißer als Indien im August, Junge.“ Es konnte sich nur um Afghanistan handeln. – Griffon war seiner Sache sicher und ging aufs Ganze. „Hübschen Adler hast du da am Arm.“ „Es ist ein Drache, Mann.“ „Hätte auch gern mal ‘ne hübsche Tätowierung. Aber es gibt nur noch Pfuscher. Wo hast du das Kunstwerk stechen lassen?“ Arglos ließ Seaburg den Drachen, ein beinah exotisches Gemälde in Blau, Rot und Grün, auf der Haut spielen und fliegen. „Hat mir einer in Islamabad gemacht.“ „Da gehe ich nicht extra hin deswegen.“ Sie rauchten noch eine Zigarette. Griffon stellte eine letzte Frage. „Der Drache, ist das nur eine Verzierung oder ein Clubabzeichen?“ Seaburg hatte schon eine Menge getrunken und kicherte jetzt leise in sich hinein. Ein glucksendes Lachen. Dann legte er 27
seine Hand schwer auf die Schultern seines neuen Freundes. „Clubabzeichen! Mann, du triffst es.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Wenn einer nach Cape Canaveral will, was braucht er?“ ,,’ne Mitgliedskarte der Gewerkschaft“, scherzte Griffon. „Und was noch?“ ,,’nen Ausweis mit Lichtbild, Fingerabdrücken und so.“ Der Pianist straffte sich wieder und deutete auf seinen Drachen. „Genau dasselbe bedeutet dieser, wie sagtest du, Adler. Jeder der in die Geheimlabors reinwollte, mußte sich so einen Adler tätowieren lassen. Erstens, damit er hineinkam, und zweitens, daß man ihn, für den Fall, daß er doch mal abhaut, schnell wiederfindet, weil er mit diesem Drachen ein Gezeichneter ist. – Well, und jetzt die letzte Bierdose zum Abschied.“
Die Kühle, die mit dem Nachtwind vom Atlantik hereinkam, schien den Pianisten zu ernüchtern. Er packte Griffon an der Jeansjacke. „Du hältst schön die Schnauze, Mann!“ „Worüber?“ „Über das, was ich dir erzählte. Du hast mich ausgehorcht.“ „Schon vergessen. – Und so spannend ist es auch gar nicht, Mann. Kann ich dich ‘n Stück mitnehmen?“ „Hast du ein Auto?“ ,,’nen alten Käfer.“ „Ich wohne in New York.“ „Bißchen weit.“ „Aber auch in Rockledge, in ‘nem Dreiviertelpuff bei ‘ner Bimbo-Mutter.“ „Das ist meine Richtung“, log der CIA-Spitzel. Sie fuhren nach Süden, immer an der Küstenstraße entlang. 28
In Rockledge kam der Pianist nicht mehr recht klar, meinte aber, es sei zwischen der Baptistenkirche und der Fischfabrik den Kanal rauf und dann links. Ein Haus in Holz und Rosa. „Mit Vorhängen.“ „Klar, Puffs haben immer Vorhänge.“ Sie fanden das Haus. Der Pianist stieg aus, drehte sich aber korkenzieherartig und stieg noch einmal in den VW, als betrete er einen Lift. Prompt stieß er sich die Stirn an. Er fluchte leise. „Wann sehn wir uns, Kumpel?“ „Morgen.“ „Aber erst nachmittags.“ „Ich hole dich ab.“ „Und dann?“ „Machen wir einen drauf mit Klavier und Gitarre.“ Der Pianist wankte auf das Haus zu. Er brach in die Ligusterhecke, kam wieder hervor und schaffte es dann relativ gradlinig bis zur Haustür, wo er an der Klingelschnur zog.
Noch spät rief Jack Griffon von seinem Hotel aus in Washington an. Es tat ihm im Herzen weh, den Tätowierten der Agency ausliefern zu müssen, aber die Gesellschaft von heute war nun einmal eine Revolverbande, und er brauchte die fünftausend dringend. Er bekam seinen Kontaktmann James Pittford nicht, hinterließ aber, daß Pittford dringend zurückrufen sollte. Ob man das ausrichten könne? – Ja, man könne ausrichten, Griffon habe den Fisch an der Angel. Aber welchen Fisch? – Den afghanischen Drachenfisch. Der Mann vom Nachtdienst im CIA-Hauptquartier in Langley verstand kein Wort, aber er wollte es bestimmt ausrichten. Längst war er daran gewöhnt, es in dieser Firma nur mit Verrückten zu tun zu haben. 29
Binnen Stunden organisierte der amerikanische Geheimdienst eine Art Fangnetz, aus dem Mat Seaburg ihnen nicht entkommen konnte. Eine offizielle Festnahme war nicht mö glich. Dazu war die CIA nicht befugt. Man hätte also die Ortspolizei, den County-Sheriff oder FBI einschalten müssen. Doch wenn die Männer der CIA etwas haßten, dann war es, sich in ihre Karten blicken zu lassen. Man plante also, Mat Seaburg, den Tätowierten, abzufangen, in ein Auto zu zerren und ihn in ein einsames Haus zu bringen, wo man ihm ein Angebot unterbreiten wollte, das er nicht ablehnen konnte. Pittfords Experten beeilten sich. Sie flogen mit einem CIAJet nach Fort Lauterdale. Von dort benutzten sie einen Hubschrauber nach Cocoa und für die letzten Meilen Automobile. Unterwegs nahm Pittford den Gitarristen Griffon auf. „Zwecks Identifizierung“, erklärte er. „Heißt das nicht Identifikation?“ fragte der Jazzer angehascht. „Identifizierung klingt so ve rdammt nach Halsschmerzen.“ „Ist doch schnuppe“, meinte Pittford nervös. „Und meine zweiten fünftausend?“ „Erst, wenn wir ihn haben.“ „Mann, sind das aber strenge Bräuche neuerdings.“ Wenige Minuten später hatten sie den Gesuchten. Aber in einem Zustand, der nicht ihren Erwartungen entsprach. Von den fünftausend Dollar, die Pittford seinem Spitzel schuldete, zog er die Hälfte ab. „Und warum dieses?“ protestierte Griffon. „Weil er tot nur die Hälfte wert ist, Mann.“ „Fünftausend waren ausgemacht. Für Seaburg.“ „Aber lebend“, betonte Pittford, „und basta.“ Dieser Hundesohn, dachte der Jazzer, der steckt sich den Rest in die eigene Tasche.
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Zunächst hatte Pittford ganz andere Probleme. Warum war der Tätowierte erstochen worden? Wann hatte man ihn erstochen, und wer hatte ihn erstochen? Das war nur in Zusammenarbeit mit der Kripo zu ermitteln. Aber man brauchte denen ja nicht alles zu erzählen. Wie sich herausstellte, war der ein wenig ominöse Seaburg, ein Jazzpianist ohne Sozialversicherungskarte und mit der Miete im Rückstand, offenbar im Schlaf erstochen worden. Auf scharfe Befragung hin gab die Wirtin, eine schwarze Zuhälterin, zu Protokoll, daß sie zur fraglichen Zeit noch einige Freier empfangen hätte. Sie sei sich nicht sicher, aber einer der Freier könnte möglicherweise Asiate gewesen sein. „Eigentlich mehr Inder“, sagte die Puffmutter aus, „oder Araber. So mittendurch. Nein, Schlitzaugen hatte er nicht.“ Danach stand für den Chiefagenten Pittford der Tatbestand fest. „Von einem Afghani umgebracht“, sagte er zu seinem Spitzel. Doch Griffon fiel ihm genußvoll auf die Nerven. „Afghanis sind Münzen. Die Bewohner von Afghanistan heißen Afghanen.“ „Warum, Mann“, fragte Pittford seufzend, „bist du nicht von Beruf Klugscheißer geworden. Die werden hoch bezahlt in unserer Klugscheißergesellschaft. Sie können ihre Klugscheiße grammweise an die Regierungen verkaufen, wo sie dann neue Klugscheißer züchten. Okay, und was hast du aus dem Pianisten herausgeholt?“ Jetzt endlich fühlte Griffon sich top. Jetzt war seine Stunde gekommen. Er rieb den Daumen auf dem Zeigefinger, was überall in der zivilisierten Welt Money bedeutete. „Erst den Rest der Kohle“, sagte er, „und dann noch fünf Mille extra.“ 31
„Du spinnst, Mann.“ „Okay, dann good bye.“ Pittford hielt ihn zurück und versuchte zu handeln. Doch der Gitarrist ging nicht darauf ein. Endlich zeigte der CIA-Agent sich zahlungsbereit. Er fügte aber hinzu: „Wenn du nichts bringst, dann schneiden wir dir die Eier ab.“ „Besser als den rechten Daumen“, sagte Griffon rotzig.“ Der wird noch gebraucht. Mit den Eiern kann ich nicht Gitarre spielen, Mann.“ 5. Die CIA nahm mit dem BND Kontakt auf. Im Grunde ging es nur darum, wann ein gewisser Musikclown namens Elektro-Mat in Deutschland aufgetreten sei. Der US-Geheimdienst mußte dazu aber einige Daten preisgeben. Dabei fiel ein Name, den man den Papieren in Mat Seaburgs New Yorker Apartment entnommen hatte. „Er arbeitete vor vielen Jahren schon mal für einen deutschen Unternehmer.“ „Wo?“ fragte Urban, der die Sache übernommen hatte. „In Kabul, Afghanistan.“ „Hat der Deutsche auch einen Namen?“ „Es war ein Professor. Alle Deutschen sind doch Professoren.“ „Nur alle Österreicher“, schränkte Urban ein. „Hat er also einen Namen?“ „Ja, einen ganz besonders komischen. Ixfield ode r so.“ Urban durchführen Stromstöße von ungefähr zehntausend Volt. Ohne zu erwähnen, daß erst vo r kurzem im Zusammenhang mit Ixfeld ein Problem aufgetaucht sei, sagte er: „Ixfeld ist hierzulande kein Unbekannter.“ Im Verlauf des Gesprächs tauschten Urban und James Pitt32
ford, Sachbearbeiter des Falles in Langley, ihre Stories aus. Pittford erzählte in groben Zügen von dem Pianisten Mat Seaburg, dem Mann mit der Drachentätowierung, und Urban lieferte im Gegenzug die Geschichte des vor fünfzig Jahren in der Mandschurei verschwundenen Jochen Ixfeld. „Was interessiert euch an diesem Seaburg?“ fragte er dann. „Seine Afghanistan-Kenntnisse“, erklärte Pittford. „Wir wissen verdammt wenig über dieses Land. Es gibt jedoch Anhaltspunkte dafür, daß es seine Rolle als Krisenherd bald verstärken könnte. Selbst jetzt noch, nach Beendigung des Krieges. Schon zu der Zeit, als die Engländer Indien besetzt hatten, gingen von den im Norden angrenzenden Ländern, deren Namen mit Stan enden, stets große Unruhen aus. Sie gerieten aufgrund ihrer geographischen Lage stets in das Spannungsfeld zwischen Persien, Rußland und dem Subkontinent. Deshalb müssen wir einfach soviel wie immer nur möglich über Afghanistan wissen. – Aber was brachte den BND an diesen Fall heran?“ „Fall ist übertrieben“, erklärte Urban. „Die Enkelin von Ixfeld, Hauptaktionärin eines mittelgroßen Industrieunternehmens, glaubt Spuren ihres Großvaters in Kabul entdeckt zu haben und forderte uns auf, der Sache nachzugehen.“ „Eine Privatperson entdeckt also in der vo m letzten Krieg nahezu zerstörten Hauptstadt Afghanistans die Spuren eines vor einem halben Jahrhundert in Asien verschollenen Mannes“, zweifelte Pittford. „So unwahrscheinlich es klingt“, unterrichtete Urban den Kollegen weiter, „sie las den Namen ihres Großvaters auf einem Straßenschild vo n Kabul im Fernsehen. Demnach muß Ixfeld in Afghanistan ein einflußreicher Mann gewesen sein. Zumindest aber ein guter Steuerzahler, Mäzen, Gönner oder auch Freund des ehemaligen Königs . Weiß der Teufel.“ Nun steuerte Pittford seinerseits etwas bei. „Unser tätowierter Pianist könnte als Elektronikingenieur bei Ixfeld gearbeitet haben. Angeblich erzeugten die Forschungen 33
im Ixfeld-Labor in ihm einen starken Horror. Das war einer der Gründe, warum er Hals über Kopf seinen Vertrag löste.“ „Oder vielmehr die Flucht ergriff kombinierte Urban. „Denn warum sonst sollte er aus Angst abtauchen und schließlich von einem Asiaten umgebracht worden sein.“ „Unsere Überlegungen gehen genau in diese Richtung“, gestand Pittford. „Und wohl auch dahin, was der alte Ixfeld in seinem Labor ausgebrütet haben könnte.“ Zögernd räumte der Amerikaner ein, daß dies ebenfalls ein Motiv für die Ermittlungen der CIA darstelle. Nun warf er Urban einen Köder hin. „Legen wir zusammen.“ „Was?“ „Ihr habt den Wurm, wir haben den Haken. Afghanistan ist der See. Den Fisch teilen wir uns.“ Urban wußte, wie die CIA zu teilen pflegte. Die Agency bekam stets das, was zwischen Haut und Gräten war, der Partner den Rest. Trotzdem sagte er; „Einverstanden.“ Denn auch er hatte Hintergedanken. Sofort wurde der Amerikaner konkret. „Wie gehn wir weiter vor?“ „Die CIA verfügt über die besten Satellitenfotos, die man heute herstellen kann.“ „Nun, unsere Kameras erfassen mittlerweile sogar den Unterschied zwischen Hühnershit und Hundescheiße.“ „Sucht doch mal nach der Ixfield Street in Kabul.“ „Dazu genügt ein Stadtplan“, wandte Pittford ein. „Der letzte wurde im Jahre 1925 herausgegeben“, bemerkte Urban. „Okay, wir tun, was wir können. Und was steuert der BND bei?“ 34
„Wir kümmern uns um Mat, den Musikclown, genannt Elektro-Mat. Wenn er in Hamburg und anderen Städten auftrat, muß etwas über ihn bekannt sein. Sei es bei Artistenagenturen oder i n Zeitungen von damals.“ „Offener Informationsaustausch?“ fragte ausgerechnet der Amerikaner. „Vorbehaltlos.“ „Wir legen uns also nicht gegenseitig aufs Kreuz?“ Manchmal konnten die Amerikaner fürchterlich naiv sein. „Wo denken Sie hin“, erklärte Urban. „Wir sind doch Männer von Welt.“ „Wir machen erst mal mit den Satellitenfotos weiter, dann in unserem Afghanistan-Archiv und in New York.“ „Wir hören von uns.“ Kaum hatte Urban das Gespräch beendet, führte er aus, woran er schon die ganze Zeit gedacht hatte. Er rief in Kabul an. Es dauerte geschlagene sieben Stunden, bis er durchkam. Aber dann hatte er den deutschen Generalkonsul am Draht. 6. Seit drei Tagen war es selbst dem deutschen Generalkonsul in Kabul nicht möglich gewesen, seine Villa zu verlassen. Und dies, obwohl er über eine der wenigen noch funktionierenden Limousinen verfügte und über ausreichend Benzin. Es lag an den Heuschrecken. Eine Invasion von Milliarden gefräßiger Tiere war aus dem trockenen Südwesten des Landes aufgebrochen und in Schwärmen, die die Sonne verdunkelten, über alles Freßbare hergefallen. So war der größte Teil der Ernte vernichtet worden. In Kabul hielten die Todesschwärme der Heuschrecken sich zum Glück nur kurz, denn hier gab es außer Ruinen, Dreck und Schutt nichts. – In Kabul starben sogar die Ratten an Unterernährung. 35
Jetzt, nach diesem Anruf aus München, versuchte der deutsche Generalkonsul seinen Amtssitz zu verlassen. Die ausgedörrten Körper der Riesenheuschrecken knirschten unter den Rädern des Mercedes wi e feiner Kies.
Der erste Weg führte den Generalkonsul ins Krankenhaus zu seinem Freund Dr. Amar Kabal. Kabal war in dieser Stadt geboren und kannte jeden, der früher einmal Rang und Namen gehabt hatte. Früher, das war vor der Revolution, vor der sowjetischen Invasion, die dem Land ein grausames Schicksal bereitet hatte. Dr. Kabal freute sich, den deutschen Generalkonsul zu sehen, aber er hatte wenig Zeit. „Was kann ich für dich tun, alter Freund? Frag mich aber nicht nach Tabletten oder nach Medikamenten. Davon haben wir nichts, kriegen wir auch nicht wieder herein. Schau dich um. Alle nur denkbaren Seuchen flammen wieder auf und breiten sich aus. Gestern hatten wir fast zweihundert Tote durch eine neue Art von Masern. Es gibt mehr Leprakranke als vor hundert Jahren.“ „Ist das der Grund“, fragte der Konsul, „daß die Leute wie in Trance durch die Straßen wanken?“ „Dies wiederum“, sagte der Arzt, indem er seine Zigarette austrat, „Hegt am Hunger. Da die Landwirtschaft zusammengebrochen ist, gibt es keine Versorgung mit Lebensmitteln mehr. Was tun sie? Sie flüchten in Drogenträume. Noch nie gab es so viele Opium- und Heroinsüchtige wie in diesem verdammten Sommer.“ „Woher haben sie das Geld dafür?“ „Das weißt du nicht?“ staunte der Arzt. „Keine Ahnung.“ 36
„Dann laß dich in deinem klimatisierten Mercedes zwanzig Meilen aus der Stadt hinaus ins ehemalige Kampfgebiet fahren. Dort wirst du es sehen und es nie vergessen.“ Der Arzt war wirklich in Eile. Er hatte Schwe rverletzte, die man in der Nacht hergebracht hatte, zu operieren. Der Konsul kam rasch zur Sache. „Kennst du einen Deutschen namens Ixfeld?“ Der Arzt nickte. „Ein Ingenieur. Er hatte eine Fabrik hier.“ „Warum hatte?“ „Die Fabrik ist meines Wissens zerbombt.“ „Und Ixfeld?“ „Er dürfte um die Achtzig gewesen sein und ist vermutlich auch tot, verkommen, verscharrt. War ein interessanter Mann. Hochqualifizierter Ingenieur und hochqualifizierter Spinner. Er lebte, glaube ich, zehn Jahre in einem Buddhisten-Kloster am Himalaja. Dort bekam er wohl seinen Hieb weg. Er arbeitete auf Gebieten am Rande der Grenzphysik.“ „Wie darf man das verstehen?“ „Ich verstehe es selbst nicht“, gestand der Arzt. „Aber stell dir vor, du denkst dir irgend etwas aus, und mit einem Mal geschieht es.“ „Das ginge nur, wenn ich Gott wäre“, wandte der dickliche, feiste Konsul ein. „Oder du hättest einen von Ixfelds Apparaturen. Ich hörte, wie gesagt, nur gerüchteweise davon. Er hielt alles streng geheim. Seine Labors waren wi e Tresore. Da kam keiner rein, den der Professor nicht durch die Schlüsselübergabe mit den höheren Weihen segnete. Was soll’s. Erde zu Erde, Staub zu Staub. Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden. Das alles war einmal, mein Freund.“ Wie paradiesisch und harmonisch die Welt hier einst gewesen ist, dachte der Konsul. Doch dann kamen von allen Seiten diese Teufel, die Kommunisten von Osten, die fanatischen 37
Mullas von Westen und die Russen von Norden. „Ich habe noch zwei Flaschen Champagner im Keller“, erwähnte der Konsul. „Heb sie gut auf für uns, mein Freund“, bat der Arzt und verschwand in einem Anzug, der einmal weiß gewesen war, als es noch Seife gegeben hatte. Weil es für den Konsul in der Stadt wenig zu tun gab, erledigte er den BND-Auftrag. Er suchte die Ixfield Street, aber er fand sie nicht. Dann fuhr er zur Stadt hinaus, nach Osten in Richtung Grenze. Nach zehn Meilen vernahmen sie in der Ferne gedämpftes Donnern. Nach zwanzig Meilen begannen Druckwellen von Explosionen den schweren Wagen zu erschüttern. Als sie am Ziel ankamen, staubten immer wieder gelbbraune Erdfontänen zum Himmel. Tausende von Menschen – Kinder, Frauen und Männer – knieten beiderseits der Straße und gruben mit bloßen Händen oder Blechstücken nach etwas. „Ist das schon Minengebiet?“ fragte der Konsul seinen Fahrer. „Ja, das Minengebiet, Sir.“ Der Konsul hatte davon gehört und gelesen. Die Genfer UNO-Organisation schätzte die Zahl der in Afghanistan vergrabenen russischen Minen auf zwanzig Millionen. „Zwanzig Millionen Minen“, sagte der Konsul. „Wie sollen sie die jemals alle finden?“ „Es sind vierzig Millionen Minen im ganzen Hindukusch“, sagte sein Fahrer. Wieder detonierte eine Reihe von Minen. Die zerfetzten Körper der Räumer wurden mit dem Dreck in die Luft gewirbelt. „Durch Minenräumen verdienen sich die Ärmsten ihren Lebensunterhalt, Sir.“ „Was bringt so eine Mine?“ wollte der Konsul wissen. „Hier ungefähr zehn Rupien.“ 38
Das war etwa eine Mark. „An wen verkaufen sie sie?“ „An die Mudjaheddin, an die sowjetischen Rückzugskommandos, an Terroristen.“ „Und die vergraben sie wieder. O Gott, was für ein Wahnsinn.“ „Dort oben in der Grenzprovinz in Paktia herrscht ein Überangebot“, berichtete der Fahrer. „Da bringt eine Mine nur fünf Rupien. Nur die geophonischen bringen ein wenig mehr.“ „Was sind geophonische Minen?“ „Die größte aller Sauereien, Sir“, erklärte der Fahrer. „Es sind ganz tückische Lauschminen. Ein Geophon ist über Zünddrähte mit bis zu zehn Minen verbunden. Bei einem Geräusch oder einer Erschütterung durch Schritte löst es die Explosion aus. Das Problem beim Räumen besteht darin, daß man alle Zünddrähte gleichzeitig durchschneiden muß. – Das Ganze soll übrigens eine deutsche Erfindung sein. Von einem Professor, der in Kabul mal eine Fabrik hatte.“ „Ixfeld?“ fragte der Konsul. „Den Namen kenne ich nicht, Sir.“ Die Toten und Schwerverletzten blieben einfach liegen. Hoch oben kreisten schon die Aasgeier. „Zurück in die Stadt!“ sagte der Generalkonsul, dem Erbrechen nahe.
Unterwegs kamen sie an den Zeltstädten der Obdachlosen vorbei und an Strömen durch das Land ziehender Krüppel, Aussätziger und Fluchtlingen. Hin- und hergehetzt zwischen den Fronten der Armee und der Aufständischen, war es für sie ein Weg der Verzweiflung, der nur mit dem Tod enden konnte. Der Generalkonsul hatte es immer wieder nach Bonn geschrieben, daß der Krieg zwei Millionen Zivilisten das Leben 39
gekostet hatte, der Friede n aber noch mehr Opfer fordern wü rde als der Krieg. In Bonn und in anderen Ländern der Welt tat man, was man konnte. Die Hilfe drang nicht durch. Spenden, Sendungen von Medikamenten und andere Hilfen scheiterten an bürokratischen Hürden. Der Konsul bekam Angst. Er fürchtete, Afghanistan könnte der Anfang sein. Der Anfang vo m Untergang der Welt. Irgendwo begann es und fraß sich unaufhaltsam weiter wie ein Virus, gegen den es kein Gegenmittel gab. Zu Hause war er so fertig, daß er eine halbe Flasche Cognac leerte. Dann erst sah er sich in der Lage, München anzurufen und seinen Kurzbericht abzuliefern. 7. Sie trafen sich völlig unstandesgemäß in einer Strandbar bei St. Gallen am Schweizer Ufer des Bodensees. Urban erschien wie stets korrekt gekleidet. Am besten stand ihm immer noch die dunkle Gabardinehose, das graue Glenchecksakko aus der Saville Row, das zartgetönte Hemd, mal rötlich, mal bläulich, und dazu ein Seidenwirkbinder, auch zum Abschleppen liegengebliebener Satteltrucks geeignet. Elena Ixfeld hingegen zeigte ihren Körper nahezu hüllenlos. Sie hatte einen Traum von Tanga aus schwarzer Seide an. Die wenigen Quadratzentimeter enthüllten praktisch den zauberhaftesten Körper, den Gott einem Weibe gegeben hatte. Angefangen bei den Zehen bis zu den Ohrläppchen und mit allem was dazwischen lag. „Sie riefen an“, begann sie ohne Umschweife. „Einen Drink?“ fragte er. „Sie machten es ziemlich plötzlich.“ „Einen Drink vorher, Gnädigste?“ „Danke, den nehmen wir bei mir. Ich bin mit dem Kahn da.“ Kahn war so falsch, als würde man Schloß Nymphenburg ein 40
Blockhaus nennen. Schmal, nadelspitz, mit weißen Safianpolstern, den Rumpf aus edelstem Mahagoni und MercedesTurbo-Eisen, präsentierte das Rennboot sich am Steg. Schätzungsweise brachte es 400 PS auf die Schrauben. „Gestylt von Leonardo da Vinci“, spottete Urban. „Was mißfällt Ihnen?“ zischte sie. „Ging’s nicht einen Zacken umweltfreundlicher?“ fragte er. „Vielleicht profanes Silber oder Aluminium.“ „Ach, Sie meinen wegen der Regenwälder.“ „Genau wegen derselben, Gnädigste.“ „Okay“, sagte sie. „D-Mark gab ich für Mahagoni. Aber ich verspreche Ihnen, wenn es Sie befriedigt, das nächste lasse ich aus deutscher Fichte anfertigen.“ Absolut bescheuert, diese Puppe, dachte er. „Haben Sie denn kein Rennboot, Oberst?“ „Mich befriedigt etwas anderes.“ „Was?“ fragte sie, mit einem Wimpernschlag wi e Schmetterlingsflügel. Da er nicht antwortete, höhnte sie: „Luftmatratze in Schlichtausführung etwa?“ „Aber mit Katalysator.“ Sie lachte hell auf. „Diese Kat-Märchen. Ich kann sie nicht mehr hören. Was Sie vorne reinschütten, kommt immer hinten raus. Mit oder ohne Kat. Okay, der Kat schluckt das Gift. Aber wer, bitte, schluckt eines Tages die giftigen Kats?“ Er blickte sie nur stumm an, beobachtete, wie sie mit dem rassigen Boot umging, als wäre es ein simpler Eierkocher. Sein Schweigen mißfiel ihr. „Warum grinsen Sie, Oberst Urban?“ „Ist leider angeboren.“ „Fiel mir schon damals gleich auf.“ „Geburtsfehler.“ „Geburtsfehler sind immer Ausreden.“ 41
„Arroganz ist auch ein Geburtsfehler“, bemerkte er. „Arroganz ist ein Erziehungsfehler“, verbesserte sie ihn. „Wir mögen uns beide nicht, Gnädigste“, stellte er fest. „Um so besser.“ Das war eine vielsagende Antwort voll abgrundtiefer Undeutlichkeit. Sie raste mit vollem Speed hinaus, legte den Renner in eine Wahnsinnskurve und hielt am Ufer entlang, wo bald der Bereich der Millionärsvillen anfing. Millionärsvillen war falsch. Millionärin war heute jede fleißige Marktfrau am Münchner Viktualienmarkt. Diese weißen Paläste konnte sich nur leisten, wer mehr als eine Million im Jahr übrig hatte, um sie zu unterhalten. Nach zwei Kilometern, vor einer kleinen Bucht, riß Elena Ixfeld den Riva-Renner wieder in eine Neunzig-Grad-Kurve, nahm das Gas heraus und ging mit voller Power auf Rückdampf. Urban erinnerte sich an seine Dienstzeit bei der Marine. Er hatte als I. WO mit einem Zerstörer in Kiel Anlegemanöver gefahren und war ein wenig zu schnell gewesen. Sein Kommandant, ein biederer Bayer, hatte gesagt: A bissel Rückdampf wär net schlecht jetzt. Das Riva-Boot kam zum Stehen und bumste kaum merklich gegen den Anleger. Elena Ixfeld sprang an Land, machte Vorund Achterleine fest. Dann setzte sie ein Bein nach vorn und stemmte die Hände in die Hüften. „Wir sind angelangt, Commander.“ Urban schaute sich um. Was für ein Tag. Sonne, ein paar Wolken, der Seewind frisch und duftend. Der Park war so gepflegt wie der Gesang der Vögel. Hinten stand eine Villa in Weiß mit griechischen Säulen. Und dann diese Frau – wie ein Gedicht von Schiller. Beinah zuviel des Schönen. Das Schönste hatte immer das 42
dickste Ende. „Wahrlich“, stöhnte er beinah biblisch. Entweder sie verstand ihn, oder sie verstand ihn nicht. Auch recht so.
Das Innere der weißen Villa wirkte wie ein Schlag mit der Faust. Völlig unvorbereitet traf es Urban ins Weiche. Diese reichen Verrückten. – Aber das war wohl das Erbe des verschollenen Großvaters und sein Hang fürs Chinesische, fürs Exotische. – Wer ließ sich schon in China anheuern, wenn er noch alle Tassen im Schrank hatte. Innen glich die Villa einem Traum aus Tausendundeiner Nacht, aber Made in Hollywood: Marmor, Säulen, ein Bassin mit Springbrunnen. In den Ecken und an den Längswänden Seidenpolster, alles Pastellfarben, im Grundton helles Beige, zu dem vielen Gold passend. Es war kühl, duftete narkotisierend wie ein Meer von Blüten, und über allem lag ein Hauch vo n Musik Wo wohnen diese Leute eigentlich, überlegte Urban. Vielleicht oben im Dachboden. Und was war das für eine Musik? Psychedelisch, atonal, fernöstlich. Schwingende, über ganze Oktaven gedehnte Tone, produziert von exotischen Zupfinstrumenten. – Schön, aber fad in seinen Ohren. Er schaute sich um. Elena Ixfeld schien seine Verblüffung zu erwarten. Urban bluffte gern zurück. Im Zweifelsfalle dadurch, daß er keinerlei Verblüffung zeigte, so als ob er diese abstruse Umgebung gar nicht wahrnehmen würde. „Nun“, sagte er, „was also Ihren Herrn Großvater betrifft, Gnädigste…“ Wie eine Sphinx lächelnd, winkte sie ab. 43
„Später.“ Sie verschwand so leise, daß er erstaunt war, wie leise. Urban versenkte sich in eines der Polster, wollte sich gerade eine MC anstecken, als ein Diener vor ihm stand. Er trug ein langes besticktes Gewand, wie es vielleicht zwischen Hindukusch und dem Indischen Ozean Mode war, und hielt ein Tablett in den Händen. Darauf stand ein Glas mit einer offenbar eiskalten Flüssigkeit, denn das Glas war beschlagen. Die Flüssigkeit war oben rosa, unten hellblau, in der Mitte grün. Urban wartete, bis der Lakai, lautlos wie ein rollender Gummiball, verschwunden war. Dann probierte er den Drink. Einwandfrei Bourbon, vermutlich aus Nordkentucky, über Buchenholzfeuer gemälzt, unter Verwendung von Quellwasser aus Kalksteinformationen. Die Farbe war nur ein Gag, der die Qualität nicht beeinträchtigte. Er nahm noch einen Schluck, um das alles hier ertragen zu können. Da stand die Dame des Hauses plötzlich wieder vor ihm. Sie trug ein schlichtes Kleid, oder besser, einen Anzug mit weiten pludrigen Hosen aus Seidentüll und kostbarer Stickerei und mit ebenso pludrig geschnittenen Armem. Sie trug keinen Büstenhalter. Die Spitzen ihrer Brüste wurden vo n zwei Sternen aus glitzernden Steinen verdeckt. Ebenso der Nabel. „Also“, setzte Urban erneut an, „was Ihren Herrn Großvater betrifft…“ „Das hat Zeit.“ Sie klatschte in die Hände. Di e Musik wurde allein durch das Klatschen lauter. Nun begann sie zu tanzen. Urban schaute sich das eine geraume Weile an. Es war wohl ein indischer oder burmesischer Tempeltanz mit Bewegungen bis in die Fingerspitzen und Zehen. Entweder spinne ich, dachte er, oder sie spinnt. Dann gab es noch eine Möglichkeit, nämlich die, daß er halluzinierte. Er leerte den Drink, lehnte sich zurück, schloß die Augen 44
und zählte von eins bis hundert. Als Urban die Augen wieder öffnete und sicher war, daß er nicht träumte, tanzte Elena Ixfeld imme r noch herum. Aber nicht ganz so professionell wi e sie alles andere tat, etwa wie fliegen, Motorbootfahren oder verhandeln. Eher wie eine, die Bauchtanz in der Volkshochschule geübt hatte. Bei Urban setzte jetzt jene Phase ein, in der er sich verarscht fühlte. Er stand auf und klatschte, so laut wie es ihm möglich war, in die Hände. Die Musik hörte mit einem Schlag auf, und die Tempeltänzerin erstarrte, als hatte man ihr den Strom abgeschaltet. „Was fällt Ihnen ein!“ rief sie zornig. „Meine Zeit ist begrenzt, Gnädigste.“ „Kein Grund, mein Ritual zu unterbrechen, Sie Banause.“ „Mein Ritual besteht darin, daß ich jetzt gehe . Wir telefonieren wieder mal.“ „Mein Tanz ist ein Fruchtbarkeitsritual“, erklärte sie. „Ich möchte Sie verführen. Sie bleiben da Okay?“ Kopfschüttelnd ging er. Mit raschen Trippelschritten holte sie ihn ein und hielt ihn fest. Urban war stärker als sie und stieß sie in Richtung auf den indischblaugefliesten Pool. Sie taumelte, verlor die Balance und fiel rückwärts hinein. Aber am Ende landete er ebenfalls im Wasser. – Sie hatte ihn blitzschnell gepackt und mitgerissen. Das Wasser war lau und parfümiert. Mit einem Mal begann es unter ihnen zu quirlen und zu sprudeln. Mit den Luftblasen wurden ätherische Öle ins Wasser gepumpt und hochgepreßt. Die Perlen platzten auf. Der Duft, der aus dem Wasser stieg, betäubte ihn. „Um was geht’s hier eigentlich?“ schrie er. „Um dich“, gestand sie. 45
Er spürte, wie sie sich über ihn hermachte. Aber vorher hatte sie sich schon über sich selbst hergemacht. Ihr Tüllfetzen war offenbar aus Zucke r gesponnen. Er hatte sich völlig aufgelöst. Auch beim Entkleiden von ihm zeigte sie Übung. Da es alles andere als unangenehm oder peinlich war, ließ er es über sich ergehen. Sie umschlang seinen nackten Körper mit ihren Armen und Beinen wie ein Krake, saugte sich an ihm fest und holte sich, was sie haben wollte und wie sie es haben wollte. In allen To narten und Variationen. Chinesisch, hindustanisch, himalajisch. Sie war ausdauernd und unersättlich. Nachdem der Krake sein Opfer ausgesaugt, hatte, fand das Opfer seine leere Hülle auf einem Himme lbett wieder. Der Krake lag neben Urban, satt und mit unschuldigem Lächeln im schlafenden Gesicht. Hier oben war nichts mehr asiatisch, nichts mehr mystisch, keine Ding-Dong-Musik, kein Gong und keine Dämpfe. Es war ein ganz normales französisches Bett. Als Urban im Begriff war, sich zu empfehlen, flüsterte Elena Ixfeld: „Und jetzt erzähl mir von meinem Großvater.“
Das Besondere an der Sache war die ungewöhnliche Reihenfolge. Sie schien das zu wissen. „Ich nehme an“, sagte sie, „normalerweise gelangst du zu deinen Ergebnissen, indem du erst mit den Damen schläfst.“ „Mitunter.“ „Man wird zum Gigolo in deinem Job. Stimmt’s?“ Das hatte noch keine vor ihr so gesehen. „Ja, es ist mitunter eine Art Prostitution.“ „Ein Hurenjob. – Und genau das wollte ich dir ersparen. Ein Mann wie du hat es nicht nötig, Auskünfte mit Liebe zu er46
schleichen.“ „Man bezahlt immer irgendwie.“ „Ich bezahle nur für Lustgewinn.“ „Da bist du fein raus“, sagte er und dachte an eine Zigarette. Aber die MC waren ebensowenig da, wie seine Klamotten. Elena tastete nach einem silbernen Kästchen und nahm ein weißes langes und sehr dünnes Stübche n heraus. „Haschisch, Marihuana?“ „Tabak, wenn’s geht.“ Sie hatte noch andere Spezialitäten. Eine silberne Zigarettenspitze und eine Meerschaumpfeife. „Opium, eine Prise Koks vielleicht?“ „Du bist gut sortiert“, staunte er. „Nur für meine Gäste.“ „Müssen anspruchsvolle Leute sein.“ „Nun ja, Maler, Musiker, Dichter, Modemacher.“ Keine Frage, was sie mit ihnen trieb. Überall gab es Spiegel. Er sah sich im Spiegel, grauhäutig, mit tiefen Falten, und dachte: Jetzt ist es aber genug. Er sprang aus dem Bett. Irgendwo mußte es ja eine Tür geben. „Bist du jetzt traurig?“ rief sie. „Nur unglücklich.“ „Bin ich schuld?“ „Du bist an gar nichts schuld“, sagte er. Er suchte seine Sachen. Sie waren trocken und gebügelt. Angezogen kam er noch einmal wieder. „Dem Großvater ist vermutlich bei den Kämpfen in Afghanistan umgekommen. Er lebte dort dreißig Jahre und vorher ungefähr zehn Jahre in einem Buddhistenkloster. Daß er noch einmal eine Familie gründete, davon ist nichts bekannt. Bekannt hingegen ist, daß er eine Fabrik für Instrumente baute, wie sie in der asiatischen Medizin Verwendung finden. Die Gewinne flössen ausschließlich in sein Forschungslabor. Dort 47
sollen ihm eine Reihe vo n Erfindungen geglückt sein. Man spricht von Geräten, welche die Übertragung parapsychologischer Phänomene ermöglichen. Was immer das sein mag. Wenn ich es weiß, rufe ich an. Auf Wiedersehen, Elena.“ Ehe sie ihn noch einmal zurückhielt mit ihren faszinierend abstrakten Sextechniken, zog er es vor, sich zu beeilen. Er ging hinunter, durch das Haus und den Park. An der Straße nach Sankt Gallen hielt er ein vorbeikommendes Taxi an. 8. Aus der Rückfahrt nach München wurde nichts. Robert Urban sah sich zu einem kurzen Umweg über Paris genötigt. Während seiner Abwesenheit hatten die Operationsabteilung in Pullach und das Büro Pittford in Langley bei Washington gute Zusammenarbeit geleistet. Im Archiv des BND hatte man ermittelt, daß über einen Auftritt des Musikclowns Elektro-Mat in Hamburg so gut wie nichts bekannt war. Möglicherweise hatte er in dem ehemaligen Kulturzentrum Fabrik gastiert. Aber das existierte nicht mehr. Auch bei Künstleragenturen in Frankfurt, Berlin und München war auf die schnelle nichts über ihn zu erfahren. Die Amerikaner hatten mehr Glück gehabt. Sie fanden Hinweise, daß Elektro-Mat vor Jahren im Pariser Olympia aufgetreten war, und zwar als Vornummer in einer Billy-HollidayShow. Zweifellos hatte die CIA selbst Agenten in Paris. Doch wie bei allen Geheimdiensten der Welt herrschte auch in der CIA Konkurrenzangst. Hatte man einen Fall, dann wollte man ihn bis zu seiner Lösung behalten und den Erfolg auf das eigene Konto buchen. Im Grunde eine sehr teure Kleinkrämerei. Aber Pittford war jetzt auf die Zusammenarbeit mit Urban eingestellt. Von Urban waren die besten Ergebnisse bei geringstem Ärger zu erwarten. Also blieb Pittford auch dabei. 48
Urban hatte seinen Tip erhalten. Er hatte den alten Nahkampf-BMW an die Seine getrieben. Dort telefonierte er am Abend noch mit seinem Kumpel Gil Quatembre vom Geheimdienst SDECE. Von Gil, der nie lange Fragen stellte, weil er wußte, daß Urban ihn informationsmäßig stets gut bediente, bekam er die Adresse einer Artistenagentur, der größten in Nordfrankreich. Gil kannte den Inhaber, wollte ihn anrufen und dafür sorgen, daß er sich bei B.U. meldete. Dies geschah gegen Mitternacht, zu einer Zeit, wo man in Paris durchaus noch Kontakte herstellte oder Geschäfte abschloß. Urban erklärte dem Impressario, der sich Fabian Fabien nannte, um was es ging. „Für Künstler, die Geld einbrachten“, erklärte der Agent, „habe ich ein perfektes Erinnerungsve rmögen. Da ich mich nicht an einen, wie hieß er doch, Elektro-Mat erinnere, kann er mir auch kein Geld gebracht haben.“ „Oder er wurde über eine andere Agentur vermittelt“, wandte Urban ein. „Oder auch das. Aber das läßt sich feststellen. Es gibt da einen Zentralcomputer, in dem sind alle Artisten, Gruppen und ihre Nummern, wie man ihre Darbietungen nennt, registriert. Von Zirkus – über Variete- und Club- bis hin zu Open-AirAuftritten. Der Computer erfaßt Tierdressuren, Hochseilnummern, Equilibristen, Schlangenmenschen, Magier, Jongleure und Clowns, mit allem, was dazu gehört, wie Erfolg, Presseecho, die Aktualität der Darbietung, Ausstrahlung der Akteure und wie sie in Form sind. Alles ist registriert. Dort werde ich nachsehen lassen.“ „Wann?“ fragte Urban. Nun kam die Überraschung. „Wenn Sie wollen, sofort. Das kann ich mit meinem PC vom Schreibtisch aus erledigen. De m Freund eines Freundes bin ich 49
gerne hilfreich.“ Eine halbe Stunde später rief Urban bei Fabien an. „Elektro-Mat“, sagte der Agent. „Amerikaner. Name Seaburg oder Seeborg. Letzter Auftritt vo r vier Jahren im Olympia vor der großen Pause. Machte irgend etwas mit einem Klavier. Kam nicht sonderlich gut an. Mehr erfahren Sie vielleicht in der Redaktion der Zeitschrift Varieté oder im Olympia. Dort gibt es immer ein paar Leute, die etwas wissen. Besonders über Flops.“ „Merci“, dankte Urban.
Im Archiv der Künstlerzeitschrift Varieté durfte er in den alten Jahrgängen blättern. Über die großen Stars, die Greco, Sinatra, Ute Lemper, Clayderman, fand er noch und noch Artikel. Über Elektro-Mat nur wenige Zeilen. So war zu lesen, daß der Amerikaner zwar ein begabter Jazzpianist, wohl aber ein Autodidakt war und nie ein Konservatorium besucht hatte. Seine Interpretationen waren äußerst eigenwillig. Erwähnenswert war lediglich seine Spezialnummer, wo er Jazz spielte, ohne das Klavier zu berühren. Das Klavier spielte alles in seinem hämmernden Stil, obwohl Mat auf der Bühne etwa acht Meter davon entfernt saß und dem Instrument den Rücken zugewandt hatte. Natürlich liefen da jede Menge Tricks, auch wenn man sie nicht durchschaute. Urban ließ Fotokopien anfertigen. Bevor er ging, schaute er bei dem zuständigen Redakteur vorbei. Dieser, ein bärtiger Neandertalertyp, fragte: „Ausbeute?“ „Mager.“ „Bei uns kennt Ihren Elektro-Mat keiner mehr. Aber fragen Sie doch im Olympia. Könnte sein, daß der eine oder andere 50
dort…“ „Merci“, sagte Urban. Er verließ den Verlag am Boulevard Haussmann, und weil er kein Taxi bekam, ging er zu Fuß. Im Olympia hielten sie gerade Mittagspause. Was insofern günstig war, als die Bühnenarbeiter, Beleuchter und Inspizienten in der Kantine saßen. Urban setzte sich zu ihnen, zeigte einem der Alten die Fotokopie mit dem Bild von Mat am Klavier. Der Alte legte den Löffel in die Suppe und wischte sich die Lippen am Overallärmel ab. „Klar, Elektro-Mat. Den kenne ich.“ „Wir kennen ihn alle“, kam es wie ein Echo. Urban wunderte das, weil Mat doch ein echter Flop gewesen sein sollte. „Ein Klassepianist war er nicht“, spitzte Urban die Unterhaltung an. „Kann man nicht behaupten. Aber…“ Urban wartete. „Aber?“ „Aber wir erinnern uns deutlich. Und warum, zum Teufel? Ich will es Ihnen sagen, Monsieur. Wir sind verdammt alte Theaterhasen. Kein Houdini-Nachfolger konnte einen Trick zweimal zeigen, ohne daß wir wußten, wie er funktioniert. Aber bei dem verdammten Hundesohn Elektro-Mat, da kamen wir nicht dahinter. Und das will was heißen. Mat saß da, zehn Meter weg vom Klavier, dachte nur angestrengt nach, und der Klimperkasten spielte auf Teufel komm raus.“ Das war die Bestätigung, die Urban nicht erwartet hatte. Er fragte weiter: „Haben Sie das Klavier untersucht?“ „Das ließ er nicht zu. Er sperrte es abends in eine Art Container aus Stahl, gebaut wie ein Tresor.“ „Eines ist sicher“, ergänzte ein anderer Bühnenarbeiter, „und dafür lasse ich mir ‘nen eitrigen Zahn ohne Spritze ziehen, also 51
soviel ist sicher: Während dieser Klaviernummer bestand zwischen Mat und seinem Piano keine Verbindung.“ ,,Keine Kabelverbindung, meinen Sie.“ „Nicht nur keine Kabel Verbindung, auch keine Funkverbindung oder Fernsteuerung, wie man sie bei Spielzeugautos, Spielzeugschiffen und Spielzeugflugzeugen benutzt. Nichts war zwischen Mat und dem Klavier. Kein Sichtkontakt, kein Draht, kein Funk. Er saß da, Augen geschlossen und konzentrierte sich.“ „Deshalb erinnern wir uns an Mat“, beharrte ein anderer. „Weil wir nicht hinter seinen Trick schauten.“ „Da war kein Trick dabei“, meinte ein grauhaariger Inspizient, „Was dann?“ „Das war übersinnlich, war das schon.“ „Auch das ist ein Trick, Mann.“ „Eh bien, dann ist alles ein Trick. Dann ist auch Gottvater nur ein Trick.“ „Was denn sonst.“ „Das Klavier sollte man haben“, bemerkte Urban, als die Diskussion über Elektro-Mat einzuschlafen drohte. Sie lachten nur. „Das hat er mitgenommen, Monsieur. Sogar ins Bett.“ „Wissen Sie, wohin er es noch mitnahm?“ „Ich glaube, er trat in Deutschland auf. Berlin, Köln oder so.“ Urban gab eine Runde aus, ging ins Hotel, bezahlte seine Rechnung und fuhr Richtung München. Siebenhundert Kilometer. Mit einmal Tanken, Benzin und Kaffee ging’s.
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9. Seaburgs Bude lag im oberen Brooklyn, wo die Längsstraßen zwar immer noch Avenues und die Querstraßen Streets hießen, aber wo New York zu Slums verkommen war. Dort hatte der Tote ein Apartment unterhalten. Ein Loch von Zimmer mit einem Balkon, so groß, daß man gerade ein paar Tennisschuhe lüften konnte, mit Kochnische, Duschnische und WC-Nische. Vermietet wurde der Verhau von einem reichen Schwarzen. Er hatte Seaburgs Habseligkeiten noch nicht zum Müll getragen, weil das Kabuff bis September bezahlt war. „Dieser Musiker“, sagte einer der CIA-Agenten, der sich um den Mordfall in New York kümmerte, „war mindestens die größte Wildsau seit Erfindung ungewaschener Unterhosen. Vorne verpißt, hinten verschissen. So was von Dreck, Mann.“ Unter der Matratze wimmelte es von Kakerlaken, aber sie gingen ihrem Job nach – wenn auch mit Plastikhandschuhen. Ihr Job bestand aus zwei Aufgaben: Durchsuchung der Bude bis zum letzten Staubkrümel und warten auf den großen Unbekannten. Sie nahmen an, und es war auch gängige Kriminalpraxis, daß Seaburgs Mörder hier auftauchte und das Apartment durchsuchte, um irgend etwas zu finden. – Denn Seaburg war nicht seiner Dollarmillionen wegen umgebracht worden. Die Krachbude bis ins letzte Wanzenversteck zu zerlegen dauerte mehrere Tage. Letzten Endes erbrachte die Suche nicht mehr, als sie schon in der ersten Stunde gefunden hatten. – Nun legten sie sich auf die Lauer. Einer ve rsteckte sich im Apartment, der andere in seine m Wagen, der schräg gegenüber parkte. Sie hielten Sprechfunkkontakt und lösten sich regelmäßig ab. Was sie tagelang hin und her funkten, war imme r dasselbe 53
und mehr als monoton. „Dieser hinkende Dealer ist im Anmarsch.“ „Der schwarze Dealerarsch hat ‘nen Kunden aufgerissen und holt Nachschub aus seinem Ve rsteck. „ „Die Bimbomammy mit ihrem Bimbobalg kratzt die Kurve und kommt rauf. Besoffen wie eine Haubitze.“ „Gin gibt ‘ne würzige Portion Bimbo-Mammy-Milch. Roger.“ „Klar, man muß sich beizeiten gewöhnen.“ Ab und zu kam auch ein Anruf vom Boß in Langley. Als kenne Pittford seine Männer, sagte er: „Nicht pennen, Leute.“ „Wer wird denn. Ist spannend wie im Kino, Sir.“ „Dieser Seaburg war top. Der Mord hat ein Nachspiel. Ich meine auf der Killerebene.“ „Sie können sich auf uns verlassen, Sir“, versicherte der Observator gähnend. „Wenn ihr was aufreißt, gibt’s ‘ne Prämie.“ „Fein, Sir.“ „Dafür sorge ich.“ Die Routine lief weiter und wurde allmählich ermüdend. „Ich kenne jetzt jeden Bimboarsch, der hier rauf- und runtereiert“, kommunizierte der Mann im Chevi mit seinem Kollegen in der Wohnung. „Mann, wenn das so weitergeht, stehe ich noch auf Bimbos.“ „Okay, sag mir, wenn es soweit ist. Dann kümmere ich mich gerne um deine Frau.“ „Die Pest soll dich holen, Mann.“ „Das hat sie schon. Hat sie längst. Die Pest und die verfluchten musikalischen Musikerwanzen.“
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Zwei Tage später, im Dunkel der Nacht, als gerade der Mond in die Wolken tauchte und die Straßenbeleuchtung aus Ersparnisgründen abgeschaltet wo rden war, schlich so ein Typ an. Er hatte oben an der Fulton Street ein Taxi verlassen. Weil kein New Yorker Taxifahrer jemanden in diese gefährliche Nord-Brooklyn-Ecke, ein von schwarzen Banden beherrschtes Gebiet fuhr, war es dem CIA-Agenten aufgefallen. Wenn wirklich ein Taxi einen Fahrgast in diese Gegend brachte, war der Fahrer ein Bruder vo n einem Bruder. Brüder nannten sich hier die Schwarzen, Puertoricaner oder Typen anderer Minderheiten. Also gehörte der Mann, der sich, dicht an der Mauer schleichend, dem Haus näherte, einer solchen Gruppe an. Er suchte nicht lange herum, sondern nahm den Eingang der Mietskaserne, in der sich die Bude des Musikers befand. Der CIA-Mann im Chevrolet gab einen Piepton durch. Verschlafen meldete sich sein Deputy. „What’s the matter?“ „Da ist was im Anmarsch.“ „Kein falscher Alarm, he?“ „Leg schon mal die Kanone klar.“ „Sie ist klar.“ „Ich komme. Ich riegle von unten ab. Okay?“ „Roger.“ Der Mann im Chevi stieg aus, tastete an die 38er Automatic im Holster, schlenderte in aller Ruhe über die Straße und folgte dem Unbekannten. Der Mann, der von der Rasse her nicht genau identifizierbar war, klopfte an der Tür der Hausmeisterin. Sie ließ ihn herein. Er blieb dort ungefähr eine Viertelstunde, dann ging er wieder. „Fehlanzeige“, gab der CIA-Agent auf der Treppe an seinen Kollegen durch. „Oder er hat die Falle gerochen.“ 55
„Dann kommt er wieder.“ „Nehmen wir uns die Bimbo-Mutter vor.“ Trotz der späten Stunde holten sie die Hausmeisterin noch einmal aus dem Bett. Sie wußte, daß die beiden Schnüffler waren, und stand Rede und Antwort. Sie wollte keinen Ärger. „Er fragte nur nach einer Puppe“, sagte die Schwarze aus. „Nach einer Puppe? Hast du noch alle? Verkohl uns nicht. Wer das versucht, mit dem fahren wi r Schlitten.“ Sie bekam es mit der Angst zu tun, aber in ihren dunklen Augen glomm auch Wut über diese arroganten weißen Typen, die auftraten wie Bullen, wi e Agenten vom FBI. „Er hatte eine Puppe“, sagte sie, „dieser Mister Mat Seaburg. Sie hing bei ihm im Zimmer an der Wand. Sie hatte Fäden wie eine von diesen Theaterpuppen.“ „Marionetten“, verbesserte der andere Agent und horchte mit halbem Ohr nach draußen. „Okay, und weiter?“ drängte der zweite. „Wenn Elvira ihm die Zeitung brachte…“ „Wer ist Elvira?“ „Die Tochter von meinem Mann.“ „Also deine Tochter.“ „Nein, die Tochter von meinem derzeitigen Mann. Also wenn Elvira ihm die Zeitung hochtrug und er gut drauf war, dann ließ er die Puppe tanzen.“ „Wie, wo, an der Wand?“ „Ja, aber sie tanzte, ohne daß er sie berührte. Die Puppe tanzte, und dann hörte sie wieder auf.“ „Ein Trick mit dünnen schwarzen Nylonfäden“, erklärte der Agent an der Tür. „Wo ist die Puppe?“ „Mister Seaburg schenkte sie Elvira. Sie hängte sie im Zimmer an den Schrank und stand stundenlang davor, wie vor einem Altar. Aber die Puppe bewegte sich nicht. Sie heulte und schrie die Puppe an, sie solle endlich tanzen. Das Kind wurde 56
völlig hysterisch. Da wurde es mir zu bunt, und ich warf die Puppe auf den Müll.“ „Wann war das?“ „Im letzten Winter, bevor Mister Seaburg mal wieder auf Tour in den Süden ging.“ „Im Winter auf den Müll“, wiederholte der Agent an der Tür. „Dann kriegen wir sie nicht wieder. Aber woher, verdammt, wußte dieser Typ von der Puppe?“ „Fragen wir in Langley nach“, schlug der andere Agent vor.
Sie meldeten den Vorfall ihrem Boß. Der fluchte erst nachhaltig. „So kommt eins zum anderen“, sagte Pittford. „Wird ja immer besser.“ „Was wird besser, Sir?“ „Unser Mann in Hollywood konnte ermitteln, daß Mat Seaburg mal für eine Filmfirma gearbeitet hatte. Nicht als Musiker, sondern als eine Art Stuntman, als Sensationsdarsteller. Die echte Se nsation dabei war, daß er ein Auto präparierte, das ohne Chauffeur fuhr. Und ein Flugzeug, das ohne Piloten Loopings und Turns drehte. Die Geschichte mit der Puppe paßt da haarscharf rein, und auch das, was ich aus Europa erfuhr. War ein ganz komischer Zauberer, dieser Typ. Er muß da irgendeinen unverschämten Trick gekannt haben.“ „Und den nahm er mit ins Grab, Sir.“ „Aber nicht nur wir“, ergänzte Pittford, „auch andere wissen oder wußten davon. Sie sind ebenso dahinter her wie wir. Also wird der Typ, der nach der Puppe fragte, gewiß noch einmal aufkreuzen. Diesmal müßt ihr ihn kriegen.“ „Verlassen Sie sich auf uns, Sir.“ „Also, paßt auf“, forderte Pittford. „Paßt bloß auf.“ 57
Die Männer oben in Brooklyn warteten weiter. 10. In der Bundesrepublik Deutschland gab es einen einzigen Lehrstuhl für Parapsychologie. Auf der Rückfahrt von Paris schlug Urban einen Haken über Freiburg. Per Autotelefon hatte er einen Termin beim Ordinarius erhalten. Sie kannten sich. Aus einer Zusammenarbeit vo r Jahren wußte der Erforscher von Phänomenen der außersinnlichen Wahrnehmung noch, daß Urban sich kurz zu fassen pflegte. Wie alle Leute, die vo m Kostbarsten, von der Zeit, zu wenig hatten. Urban setzte den Wissenschaftler ins Bild. Es ging um die möglicherweise mittels geistiger Kräfte ausgelöste Fernbedienung eines Klaviers. „Das fällt bei uns unter den Begriff Psychokinese“, sagte der Professor, „oder übersetzt, die Fähigkeit, Materie mit medialen Kräften zu bewegen.“ Urban, einigermaßen sicher, daß es so etwas gab, fragte weiter. „Wie weit ist hier der Erkenntnis stand, Professor.“ „Die Entdeckung der AS-Energie ist von größerer Bedeutung als die der Atomenergie. Nur können wi r noch nicht damit umgehen.“ „Aber Sie sind in der Lage, paranormale Kräfte zu messen?“ erkundigte Urban sich. „Denn eine Gehirnstrommessung ist doch etwas Ähnliches.“ Der mondgesichtige Professor berichtete über ein neuartiges Experiment. „Erst kürzlich befestigten wir eine photographische Platte am Kopf eines Mediums. Das Medium konzentrierte sich auf einen Gegenstand, den ein anderes Medium in tausend Kilometer Entfernung fixierte. Es war eine Uhr. Und was glauben Sie, entstand auf dem Film, als wir ihn entwickelten? Ein Ziffer58
blatt. Alles präzise und scharf, bis hin zur Zeigerstellung.“ „In Rußland sollen Menschen Kompaßnadeln bewegt, Kugeln vom Tisch gerollt und Streichhölze r zum Brennen gebracht haben“, ergänzte Urban. „Wir alle kennen doch das Nautilus-Experiment. Man beobachtete auf dreihundert Meter Tiefe eine Kaninchenmutter. Sie zeigte zu derselben Sekunde Reaktion, als man auf der anderen Seite des Erdballs im Laboratorium ihre Jungen umbrachte.“ „Millionen von Kubikkilometern Seewasser sind also keine Barriere für geistige Kommunikation“, verstand Urban es. „Die Russen weiteten die Experimente bis zu ihren Raumkapseln hin aus. Wie wir heute wissen, nutzte schon Stalin Medien, um politischen Einfluß zu nehmen. Wie weit ihm das gelang, können wir nicht sagen, aber darin besteht kein Zweifel mehr. Kräfte dieser Art gibt es. Im Gehirn finden Bewegungen elektrischer Ströme statt, welche feine Magnetfelder um den Torso bilden. Nur besitzt nicht jeder Mensch ein Organ, um diese Ströme weiterzuleiten. Der englische Dichter William Blake schrieb schon um 1785: Jeder Aufschrei des gehetzten Hasen reißt eine Faser dir aus dem Gehirn.“ Sie sprachen von den Möglichkeiten, auch der biologischen Beeinflussung auf dem Wege der Telepathie und über Kraftfelder, die man sogar trainieren konnte, wie es Professor Gellerstein am Popow-Institut von den sowjetischen Raumfahrern forderte. Nachdem sie den Stand der wissenschaftlichen Forschung erörtert hatten, die mikrogenetische Strahlung, den KirlianEffekt, die Kraftfelddetektoren sowie Möglichkeiten der Präkognition, der Vorhersage also, meinte der Professor abschließend: „Das alles findet in tiefen Schichten unseres Gehirns statt. Im Okzipital-Lappen und der Retikularis. Mein Assistent und ich werden niemals alles wissen. Aber im Abstand von zehn Jahren 59
gewinnen wir ein Promille an Erkenntnissen hinzu. In tausend Jahren wissen wir alles.“ „Leicht“, sagte Urban seufzend. Er ging mit der Überzeugung, daß es möglich war, mit den Kräften des Geistes alles, wirklich alles tun zu können, sobald es gelang, die Schnittstellen zu verbinden, so wie man Geräte der elektronischen Datenverarbeitung durch Leitungen miteinander zum Kommunizieren brachte. Einerseits gab es die Milliarden Speichermöglichkeiten des menschl ichen Gehirns, andererseits Roboter für nahezu alle Verrichtungen. Und es gab die Elektronik, um feinste Ströme zu verstärken. Was es nicht gab, war eine ausgereifte Technik, um das, was der Mensch aussandte, dem Empfänger verständlich zu machen. Das war die Schnittstelle. Sie klaffte noch spaltbreit auseinander. – Aber vielleicht gab es scho n einen Mann, der die Lösung gefunden hatte. Urban trieb das alte BMW-Eisen auf der Autobahn nach Norden und ab Karlsruhe dann nach Osten. Was hatte der Parapsychologe angedeutet? – Wenn wir das weite Feld der Parapsychologie beherrschen, es von allen Rätseln befreit haben, dann ist das eine bedeutendere Revolution als die Erfindung der Atomenergie.
Kaum im Hauptquartier angekommen, rief der Operationschef Urban in sein Büro. Der alte Sebastian, ungnädig wie immer, winkte mit einem Fetzen Papier. „Was kriege ich dafür?“ „Nichts“, sagte Urban. „Ist es ohne Bedeutung, will ich es nicht haben. Ist es wichtig, dann muß ich es ohnehin kriegen, oder es liegt mutwillige Zurückhaltung wichtiger dienstlicher 60
Informationen vor. Das können Sie sich zehn Jahre vor dem Ruhestand gar nicht leisten, Großmeister. Wie ich hörte, haben Sie tatsächlich beschlossen, mit fünfundachtzig abzutreten.“ „Nur wenn ich einen Nachfolger aufbauen kann.“ Keinem Nachfolger konnte etwas Schlimmeres zustoßen, als von diesem Repräsentanten einer aussterbenden Rasse von Operationschefs aufgebaut zu werden. Man hatte ihm einen Bildschirm auf den Schreibtisch gestellt, damit er mit den verschiedene n Abteilungen besser zusammenarbeiten konnte. Sebastian hatte den Bildschirm mit der Bemerkung abmontieren lassen: Sind wir hier beim Geheimdienst oder beim Fernsehen? – Er war kein Verwesi, Männer aus Stahl wie er, verwesten nicht. Er war ein Verrosti. Und jetzt war er beleidigt, weil Urban sein Angebot ablehnte. „Wo kommen Sie her?“ herrschte er seine Nr. 18 an. „Aus Paris.“ „Klar, der Herr waren in Paris, während Tausende von braven Kumpels tief unten in den Schächten von Bergwerken sich im Schweiße ihres Angesichts abrackern.“ „Manchmal würde ich gerne mit denen tauschen“, erwiderte Urban. „Diese Männer fördern Kohle, und was fördern Sie?“ „Keine Kohle“, antwortete Urban. „Der Fall, an dem Sie werkeln, hat nicht einmal eine offizielle Registriernummer.“ „Der Präsident wünscht seine Erledigung“, äußerte Urban. Sebastian kannte Urbans guten Draht nach oben. „Und Freunde müssen zusammenhalten“, höhnte er. „Feinde tun es meist weniger.“ „Werden Sie nicht impertinent.“ „Der Kanzleramtsminister wünscht diesen Einsatz“, fügte Urban hinzu. „Ferner der Außenminister und der Minister für Forschung. Auch der Verteidigungsminister hat ein Wort mitgeredet. So viele Freunde gibt’s ja gar nicht.“ 61
Wortlos übergab Sebastian den Zettel. Darauf stand eine Adresse, eine Telefonnummer und ein Name. Urban las: Internationale Rhein-Main Seefrachtspedition. Lagerhaus Duisburg. An Verwalter Peter Altmann wenden. Urban blickte den Alten an. Der fügte widerwillig hinzu: „Eine Kiste. Sie steht schon seit Jahren dort herum. Sie sollte verschifft werden. Aber die Papiere sind nicht komplett, und die Vorfracht vo n Berlin nach Duisburg wurde nicht bezahlt.“ „Inhalt?“ „Absender: Mat Seaburg“, gab der Alte als Antwort. „Empfänger: Mat Seaburg/New York. Inhalt der Kiste laut Frachtbrief: ein Pianoforte.“ Da wußte Urban, daß aus einer Nacht im eigene n Bett nichts wurde. Er telefonierte mit dem BND- Reisebüro, bekam noch einen Flug nach Düsseldorf und war schon wieder unterwegs.
Am frühen Abend stieg er vo r einem Schuppen des größten Binnenhafens der Welt aus dem Taxi. Der Lagerhausverwalter wußte, daß er kam, hatte aber noch einige Frachtkähne und LKW abzufertigen. Er nannte Urban die Halle und das Stockwerk, wo die Kiste stand. Dazu die Lagernummer. „Gehen Sie schon mal vor, Oberst“, rief der Verwalter. Sie nahmen es hier lässig. Dann drückte man Urban noch ein Stück Eisen in die Hand. Oben war es ein Nagelzieher, unten flach wie ein Meißel. Damit bekam man jede Kiste auf, vorausgesetzt, sie bestand aus Holz. Urban fragte sich zu der Halle, einem alten Backsteinbau, durch. Drinnen fand er einen Lastaufzug. Damit fuhr er bis unters Dach, wo die Ladenhüter gestapelt waren. Sie türmten 62
sich gut vier Meter hoch. Kisten, Kasten, Fässer, Trommeln, Ballen, Transportgestelle, ein paar alte Container der ersten Generation. Alles war ordentlich in Blocks gelagert, abgestützt oder mit Gurten vor dem Zusammenfallen bewahrt Ziemlich weit hinten stieß Urban auf die Nummer einer Seefrachtkiste. Ihre Abmessungen, einsfünfzig mal drei mal zwei Meter, waren wie maßgeschneidert für ein Klavier. Auf vier Seiten stand in Schablonenschrift: DUISBURG-ROTTERDAM-NEW YORK. Urban ging um die Kiste herum, ehe er sich eine Schwachstelle in den Leisten suchte, um die Seitenwand wegzuhebeln. Die Leisten krachten aus den Nagelköpfen. Noch eine, und er konnte die Seitenwand spaltbreit öffnen. Zunächst sah Urban nur weißgekörntes Styropor. Er räumte es weg. Darunter kam etwas Glänzendpoliertes zum Vorschein. Eindeutig ein Klavier. Da wurde Urban von hinten angesprochen. „Was suchen Sie hier?“ Er zog den Kopf aus der Kiste und merkte mit Sekundenbruchteil-Verzögerung, daß die Frage nicht im Ruhrdialekt, sondern in Englisch gestellt worden war. Zu spät. Er blickte in den stummeligen Lauf einer schweren Automatic. Sie wurde hochgerissen. Urban konnte ihr nur noch insofern entgehen, als er ihr nicht sein Gesicht, sondern seine Halskante darbot. Das Ding war kraftvoll geführt und traf ihn mit ekelhafter Wucht Ehe bei Urban das Licht ausging und der Vorhang herunterrasselte, nahm er noch zwei Dinge wahr. Der Mann war kein blonder Normanne, eher ein schwarzhaariger Araber oder Inder mit Moslembart. – Und er hatte in der anderen Hand eine Granate. Keine von den Dingern, die nur explodierten. Sie war eine von jener gemeinen Sorte, die Explosionsstoff und einen Brandsatz enthielt. 63
Schon zu drei Vierteln in Narkose, begriff Urban, was dieser Mann vorhatte und daß er alles tun mußte, um es zu verhindern, selbst wenn es übe rmenschliche Kräfte kostete. Bevor die Kanone zu einem zweiten, ihn total benebelnden Schlag ansetzte, packte Urban den Lauf. Der Schuß wurde ausgelöst. Die Kugel, die den Lauf verließ, fetzte Haut von seinem Handballen und schwärzte die Stelle mit Pulverschmauch. Der Schmerz machte Urban richtig wütend. Er machte seine Faust hart. Urban wuchtete sie dem dunkelbärtigen Bruder ins weiche Dreieck. Das brachte ihn auf die Zehen, wie einen Baletttänzer beim Spitzentanz. Urbans Treffer in den gestreckten Körper war wie der Hammerschlag auf einen Gong. Doch der schwarzbärtige Bursche erwischte ihn noch mal. Aber Urban ihn auch. Ehe sie beide zu Boden gingen, steckte der Gegner den Abzugring seiner miesen Handgranate zwischen die Zähne, riß den Bolzen heraus und warf die noch scharfe Granate in den Spalt der Seekistenbretter. Urban lag da und brauchte Sekunden, um auf die Beine zu kommen. Da sah er den anderen weglaufen, als ginge es um sein Leben. Der schafft es nicht weit, hoffte Urban, aber sieh zu, daß du wenigstens an ein Telefon oder an einen Feuerlöscher kommst. Er suchte herum, fand einen Feuerlöscher, brachte ihn zu dem inzwischen explosionsartig entflammten Klavier und setzte ihn in Betrieb. – Aber kein Gramm Schaum verließ die Düse. Der Inhalt war total vertrocknet. Urban suchte weiter. In der unteren Etage fand er einen Minimax. Als er ihn endlich zum Sprühen brachte, war nicht mehr viel zu machen. Das einzige, was er vor dem Feuer retten konnte, war das Lagerhaus. Inzwischen hatte der Sprengstoff im Brandsatz die Seefrachtkiste samt Inhalt in tausend Fetzen gerissen. 64
Als endlich der Lagerhausverwalter auftauchte, dazu ein paar Männer mit Feuerwehrhelmen und einer Spritze an einem roten Schlauch, war das Schlimmste schon vo rüber. „Waren Sie das?“ fragte Peter Altmann überflüssigerweise. „Ich fürchte, ich muß die Polizei informieren.“ Urban reichte dem Verwalter mit blutender Hand den Nagelzieher zurück. „Warum?“ „Haben Sie einen Mann gesehen?“ Urban beschrieb ihn. „Wir achten hier nicht auf jeden.“ „Ja dann“, gab Urban es auf. „Sie rufen also die Polizei?“ fragte Altmann. „Kann Sie etwas davon abhalten?“ Urban überlegte. „Ja“, sagte er. „Lassen Sie die Reste des Klaviers sorgfältig zusammenkehren, sorgfältig verpacken und am besten per Expreß-Kurier nach München spedieren. Adresse: BND, Pullach, Labor Stralman.“ „Wird erledigt“, versprach der Verwalter erleichtert. Offenbar zog er es vor, die Sache bei der Versicherung durchzufechten, als bei der Polizei endlose Fragen beantworten zu müssen. 11. Bei der Concierge jenes Apartmenthauses im nördlichen Brooklyn von New York, wo Mat Seaburg gewohnt hatte, wurde angerufen, Ein Mann mit holprigem American-English fragte nach der Puppe. Er fragte so, als läge n zwischen seinem Besuch und dem Anruf nicht geschlagene achtundvierzig Stunden. Ein CIA-Agent hörte mit. Er stieß der Schwarzen ständig mit zwei steifen Fingern ins Kreuz. „Ja, die Puppe“, sagte die Hausmeisterin. 65
„Ist sie noch da?“ „Ja, die Puppe.“ „Kann ich sie haben?“ „Nein.“ „Für hundert Dollar.“ Die Schwarze zögerte. ,3undertfünfzig.“ „Okay.“ „Wann? Ich bin nicht immer im Haus, Mister.“ „Gleich. In einer Stunde. Warten Sie mit de r Puppe oben am Corner. Es muß schnell gehen.“ „Okay.“ Der Anrufer legte auf. „Gut gemacht, Bimbo-Mammy“, lobte der CIA-Agent. „Und die Puppe?“ „Die haben wir schon besorgt.“ „Und die Bucks?“ „Sie gehören dir. Jedem das Seine. Wir sind ja keine Rassisten. Wir mögen nur euch Bimbos nicht.“ Ihr wurde eingebleut, wie sie sich zu verhalten hatte. Den Agenten kam es nur darauf an, den Puppenkäufer zu kriegen. „Und steh nicht wie eine Nutte herum“, sagten sie noch. Dann bezogen sie oben an der Fulten-Ecke Posten und warteten. Der eine lehnte am Hydranten und las Zeitung. In der Mitte stand die schwarze Hausmeisterin mit ihrer Stieftochter. Das Kind Elvira hatte die Puppe im Arm. Auf die Minute pünktlich, als hätte er beim nächsten Block gewartet, kam ein Yellow Gab angerollt. Das Taxi hielt. Die hintere Tür schwang auf. Plötzlich rief der Insasse dem Fahrer etwas zu. Der Driver fuhr noch die paar Meter bis zu der schwarzen Hausmeisterin. Wieder ging die Tür auf. Hier am Corner konnte das Taxi nicht lange parken. Der Mann im Fond schrie: „Wirf die Puppe her“, oder so etwas. 66
Die Hausmeisterin wirkte unsicher und zögerte. Erneut wurde sie aufgefordert: „Die Puppe her!“ „Erst die Dollar.“ Der Fahrgast des Taxis schob ein Bein aus dem Wagen. In ihrem Zweifel darüber, was sie tun sollte, schaute die Negerin sich um. Dies wiederum fiel dem Moslembärtigen auf. Offenbar witterte er die Falle. Was dann passierte, war präzise in Sekundenabschnitte aufteilbar. Der Mann im Fond des Taxis wandte sich wild gestikulierend an den Fahrer. Der wollte den Motor anlassen. Aber der Motor sprang nicht sofort an. Der Fahrgast schlug die Tür zu. Doch schon war ein Agent aus dem Schatten des Torbogens gesprungen und riß die Tür wieder auf. Der Mann im Fond stieß ihn mit beiden Beine n zurück. Der Taxifahrer orgelte weiter mit dem Anlasser. Nun versuchte der Fahrgast zur Straßenseite hin zu türmen. – Das gelang ihm zunächst auch. Ehe der Agent herum war, hechtete der Fahrgast auf der Straßenseite aus dem Taxi. Dort lief er aber dem zweiten Agenten, der am Hydranten gelehnt und Zeitung gelesen hatte, in die Arme. Doch der kleine Araber war ein wendiger fixer Bursche. Vor dem Zusammenprall schlug er einen Haken und noch einen und drohte ihnen zu entwischen. Sie sprinteten hinter ihm her. Keine Chance, ihn einzuholen. Dann schossen sie. Erst auf die Beine, ohne zu treffen, dann schossen sie ihm in den Unterleib, Der Flüchtende machte einen Salto vorwärts, blieb liegen, raffte sich auf und stürzte erneut. Im Nu waren die CIA-Agenten über ihm. Was sie hier machten, war absolut illegal. Sie durften einen Mann belauschen, beschatten, beobachten, aber nicht festnehmen. Dazu war nur die Polizei oder das FBI berechtigt. – Sie mußten ihn aber lebend haben. Also holte, ohne daß sie sich 67
lange verständigten, der zweite Agent den Dienstwagen. Mit aufheulendem Motor raste er heran und bremste scharf. Kofferraumdeckel auf. Sie warfen den Schwerverletzten hinein. Kofferdeckel zu. Im Nu waren sie weg.
Die New Yorker Residentur der CIA lag in einem Haus in Long Island. Dorthin brachten sie den Mann, der Seaburgs Puppe hatte kaufen wollen und den sie für eine n Araber hielten. Als sie ihn aus dem Kofferraum holten, war alles voll Blut, und der Schwerverletzte war tot. „Eher ein Inder“, stellte der Chef der Residente fest, „oder Afghane.“ „Was spielt das jetzt für eine Rolle.“ Sie trugen ihn in die Garage, legten ihn dort auf die Werkbank und durchsuchten ihn. Sie fanden einen afghanischen Reisepaß, eine plumpe Fälschung, wie sich herausstellte. Im Paß klemmte ein Notizzettel. Darauf handgezeichnet das Bild eines Drachen. „Wie der tätowierte Drache an Mat Seaburgs Unterarm“, stellte jener Agent, der in Florida dabeigewesen war, fest „Und eine Telefonnummer.“ Der Bürochef von New York versuchte die Nummer anhand der Vorwahl zu bestimmen. „Mittlerer Westen“, schätzte er. „Das werden wir gleich haben.“ „Und die Leiche?“ Sie riefen in Washington an. James Pittford reagierte mächtig sauer. „Ich wollte ihn eigentlich lebend.“ „Es gab nur zwei Möglichkeiten, Sir. So wie er ist oder gar nicht. Zweifellos gehört er zu dieser Mörderbande.“ 68
„Bin in drei Stunden da“, sagte Pittford. „Und die Leiche?“ „Abchecken, Printe nehmen, fotografieren, messen, wiegen und so weiter. Dann muß er verschwi nden. Um die Telefonnummer kümmern wir uns vo m Hauptquartier aus.“ Ermittlungen ergaben, daß die Telefonnummer auf dem Zettel im Paß des Toten zu einem Anschluß in Topeka/Kansas gehörte. Und dort einem gewi ssen Delano H. Collek. Collek war im Telefonbuch als Lt. Colonel eingetragen. Also war er Offizier der US-Army. Sofort wurde in Topeka/Kansas ein CIA-Agent auf Collek angesetzt Binnen weniger Stunden gab der Agent seinen ersten Kurzbericht an Pittford, der inzwischen in New York eingetroffen war. „Collek“, so lautete die Übermittlung, „mäht in seinem Vorgarten den Rasen, Sir.“ „Familienstand?“ „Witwer, soweit wir erfahren konnten.“ „Wie alt ist Collek?“ „Um die Sechzig.“ „Also nicht mehr aktiv.“ „Nein, er genießt schon seit längerem sein Lebe n als Pensionär. Wie wir ihn einschätzen, ist er ein gesunder sportlicher Mann. Er wird dem Staat pensionsmäßig noch etliche Jahre auf der Tasche liegen.“ „Was?“ fragte Pittford mehr zu sich als zu seinem Agenten, „kann er mit dem Afghanen zu tun gehabt haben?“ „Sollen wir ihn daraufhin ansprechen?“ „Nein“, entschied Pittford. „Scheucht ihn nicht auf.“ „Der Mann macht nicht den Eindruck, als hätte er je mit etwas anderem zu tun gehabt als mit seinem Garten und seinem Segelboot, das hinter einem riesigen Campingbus hängt.“ „Dranbleiben!“ befahl Pittford. „Ich übernehme ihn selbst. 69
Und was immer geschieht, laßt ihn nicht entwischen.“ 12. Reste des im Lagerhaus der Duisburger Spedition verbrannten Klaviers waren in der Nacht mit einem Expreß-Lieferwagen nach München befördert wo rden. Dort hatten die Experten der Stralman-Abteilung den Schutt und die Asche gesiebt, das Grobe vom Feinen getrennt und zu analysieren versucht. Am Vormittag besuchte der Agent Nr. 18 den Professor in seinem hektargroßen Kellerlabor unter demBND-Gelände. Der weißhaarige Stralman, diese Woche im braunen Labormantel und Silberrandzwicker, nahm Urban väterlich bei der Schulter. Er führte ihn in eine der Werkstätten, wo so gut wie jedes Produkt, das auf Erden hergestellt wurde, nachgebaut werden konnte. – Vorausgesetzt, man besaß ein funktionierendes Exemplar davon. Darüber hinaus befaßte Stralman sich auch mit eigenen Entwicklungen auf nahezu allen Gebieten. Egal ob es sich um Verteidigungswaffen in Minigröße, um Einsatzfahrzeuge für die drei Hauptelemente, um elektronische oder chemische Spezialitäten handelte. Diesmal ging es nur um ein Klavier. „Wir dachten“, gestand Stralman, „es wäre leicht. Aber es gehört zu den schwierigsten Problemen, mit denen wir je zu tun hatten. Möchte beinah sagen, die Sache ist so gut wie unlösbar.“ Zwei Versuchsanordnungen waren aufgebaut. Links eine angekokelte Klaviertaste nebst Schlaghebelmechanismus und einigem Drumherum. Drüben auf dem Tisch stand ein rundes Aquarium, in dem ein Goldfisch schwamm. – Was beides miteinander zu tun haben sollte, war Urban rätselhaft. Stralman fing behutsam an, beinah zum Mitschreiben langsam. 70
Er drückte auf die einsame Klaviertaste. De r Hebel wurde zum Schlagen gebracht und die ebenfalls einsame Klaviersaite machte ping! „Das ist schätzungsweise der fünfzigste Teil eines Hanoforte“, bemerkte Urban. Stralman deutete auf die Unterseite der Taste. Si e schimmerte metallisch. „Hier sitzt ein Elektromagnet. Gibt man ihm Strom, zieht er die Taste an, und sie hämmert einen Ton.“ Der Magnet war mit zwei Drähten versehen. De r eine lief direkt zu einer Stromquelle, der zweite über einen Schalter. Stralman bediente den Schalter. Die Energie strömte, der Magnet zog die Taste an, und es machte abermals ping! „Nächste Stufe“, erklärte Stralman. Er löste die Drahtverbindung, klemmte die Drahtenden, die zur Taste liefen, an einen Empfänger und die Drähte von der Stromquelle an einen kleinen Sender. „Sender und Servo“, erklärte er, „wie man sie bei modernem Kinderspielzeug verwendet, bei ferngesteuerten Autos, Schiffen und Modellflugzeugen.“ Stralman betätigte am Sender einen Hebel. Der Befehl wurde nun per Funk übertragen und empfangen. – Wieder machte die Klaviersaite ping! Jetzt nahm Stralman den Sender weg und sagte zu Urban: „Versuch’s mal ohne Sender.“ „Wie denn?“ „Ja, genau das ist die Frage. Versuch mal was.“ „Das geht nicht.“ „Konzentriere dich. Versuch, das Ding zu hypnotisieren.“ Urban probierte es gar nicht erst. „Ich bin kein Medium.“ „Dieser Mat Seaburg war auch keines. Und trotzdem brachte er das Klavier ohne Funk oder Drahtkontakt zum Spielen. Die 71
Tasten hatten Magnetsensoren, es gab einen Empfänger und einen kleinen Verstärker. Aber wie hat er die Spielbefehle übertragen?“ Urban wußte keine Erklärung. „Wie hat er es also gemacht, bitte?“ Stralman nahm ein zusammengeschmortes, etwa daumengliedgroßen Stück Materie aus einer gläsernen Laborschale. „Vermutlich damit.“ „Und was ist das?“ „Wir wissen nicht, was es ist. Nicht einmal, was es einst war. Vielleicht eine Art Bioplasma, aber gewiß des Rätsels Lösung. Es ist irgendein Empfänger, der in der Lage war, sogar feinste menschliche Gehirnwellen aufzunehmen, einzuordnen und an das Klaviersteuersystem weiterzugeben.“ „Elektronisch?“ fragte Urban. „Oder biologisch.“ „Sie meinen, es sei ein hochgezüchtetes Gehirnzellensystem.“ „Oder auch Gehirnzellen, von hochentwickelten Organismen stammend. Diese Zellen gibt es. Die Frage lautet nur, wie halt man sie am Leben und wie stellt man die Kontakte zu ihnen her.“ Urban bezweifelte die ganze Geschichte. Schon an der Universität Freiburg waren ihm leise Zweifel an diesem ganzen parapsychologischen Präkognitions- und PsychokineseKraftfeld-Quark gekommen. „Bio-Technik, Gen-Technik, vermischt mit Mikro-ChipTechnik. Ich weiß nicht, Professor. Ist das nicht alles Humbug?“ Nun wandte Stralman sich dem Goldfisch zu. Der Fisch schwamm munter in seiner Glaskugel herum. Ein wohlgenährter, gesunder, etwa zeigefingerlanger Goldfisch. Stralman schaltete über dem Fisch eine Lichtquelle ein. Der 72
Goldfisch reagierte, indem er tiefer tauchte. Nun hängte Stralman einen kleinen wasserdichten Lautsprecher in das Glas und speiste Musik ein. Der Goldfisch reagierte wieder. Vor dem Licht war er in Deckung gegangen, am Lautsprecher schnupperte er herum. Stralman zog den Lautsprecher aus der Glaskugel und löschte auch das Licht. Nun nahm er zwei Drähte, die von einem Trafo mit Schwachstrom beliefert wurden. „Nur sechs Volt“, sagte er, „keine Quälerei. Ich bin selbst Vorsitzender im Menschenschutzverein vor Tieren. Achtung!“ Stralman hielt zunächst den ersten Draht, dann den zweiten Draht mit den kupferblanken Enden ins Wasser. Für eine Sekunde. Der Fisch bekam einen Stromschlag und schien zu erstarren. Stralman nahm den Strom weg. Der Goldfisch zog wieder völlig ungerührt seine Kreise. „Verstehe ich richtig“, sagte Urban, „in dieser Versuchsanordnung ist der Goldfisch zugleich die Klaviersaite und der biologische Empfänger?“ „Nennen wir ihn ein biologisches Fernsteuergerät“, verbesserte Stralman. „Aber nun wird es interessant, mein Sohn.“ Er dimmerte das Licht im Raum so weit herunter, daß es fast dunkel wurde. Der Goldfisch glaubte offenbar, es wäre Nacht, und nahm nahe dem Boden des kugeligen Aquariums Schlafstellung ein. Urban fühlte Stralmans Hand an seinem Mittelfinger. Stralman drehte Urbans Hand auf den Rücken und sagte: „Nun konzentriere dich.“ „Auf was?“ „Auf den Goldfisch.“ „Und wie, bitte, soll ich ihn mir vorstellen? Stehe ich hinter ihm und schau ihm über die Schulter, oder bin ich selbst ein Goldfisch?“ „Von all dem ein bißchen.“ 73
Urban versuchte es. „Sag mir, wenn du dicht dran bist, Junge.“ Es war nicht einfach, sich auf einen Goldfisch zu konzentrieren. „Schau ihm in die Augen, als seist du in der Lage, ihm durch Gedanken zu befehlen: Tu dies, tu jenes.“ Urban gab sich alle Mühe. „Wie lange noch?“ flüsterte er. „Nur ein paar Sekunden.“ In diesem Moment ereigneten sich zwei Dinge: Urban fühlte einen schmerzenden Stich in der Zeigefingerkuppe. Nahezu gleichzeitig lief durch den schlafenden Goldfisch ein Zucken. Um sicherzugehen, stach der Professor noch einmal mit der Nadelspitze fest in Urbans Finger. Wieder zuckte der Goldfisch zusammen. Stralman machte Licht und reichte Urban ein Stück Verbandmull. Es färbte sich rot von dem Tropfen Urbanblut. „Das war Psychokinese“, erläuterte Stralman mit Siegerlächeln. „Der unerwartete Schmerz löste bei dir eine Schockwe lle von Gehirnströmen aus, die sich durch deine Konzentration dem Nervensystem des Goldfisches mitteilten. Was zu bewe isen war.“ Urban steckte sich eine MC an und Stralman seine Pfeife. „Nur ist ein Goldfisch natürlich kein Klavier“, meinte Urban. „Und ein Urban ist kein Mat Seaburg. Aber vergiß nicht, Mat Seaburg war, wie ich hörte, Assistent von Ixfeld. Und was Ixfeld in seinem Labor trieb, nachdem er zehn Jahre lang in einem Buddhistenkloster die Geheimnisse Asiens erforschte, das wissen wir nicht.“ „Noch nicht“, schränkte Urban ein. „Wir versuchen natürlich, das Stück verkohlter Materie zu analysieren“, versprach Stralman. „Die Proben sind bereits im Labor in der Petrischale, im Chromatographen, unter dem Mikroskop. Die gefundenen Werte werden im Computer hin und 74
her, rauf und runter, hinüber und herüber gerechnet.“ „Ich fürchte“, sagte Urban, „da muß einer von uns, um wirklich Klarheit zu erhalten, selbst nach Kabul.“ Allein schon der Gedanke schien Stralman körperlich zu schmerzen. „Aber ich doch nicht.“ „Deshalb“, spottete Urban, „reißen ältere Wissenschaftler auch keine neuen Bäume der Erkenntnis mehr aus.“ „Ich habe als Junge versucht, alle Meerengen zu durchschwimmen, die auch Lord Byron, der Meisterschwimmer, durchschwömmen hatte. Es gelang mir nicht. Und zu dichten wie er, gelang mir schon gar nicht. So wurde ich eben Physiker.“ Ehe der Professor einen seiner salzsäureähnlichen Selbstgebrannten Obstschnäpse anbot, suchte Urban das Weite. Professor Stralmans letzte Frage holte ihn noch ein. „Was, zum Teufel, hat wer davon, wenn er durch Gedankenübertragung klavierspielen kann.“ „Vielleicht“, sagte Urban, „kann er dann auch durch Gedankenübertragung Raketen zur Umkehr zwingen, U-Boote vom Kurs abbringen oder das Denken von Politikern beeinflussen.“ „Das kann ich auch“, rief Stralman, „das ist keine Kunst. Ein kleines Schnitzel ist schnell gegessen.“ 13. Den verantwortlichen CIA-Chiefagenten James Pittford erfaßte Unruhe. Außerdem forderte sein Vorgesetzter, der Direktor der Abteilung Ferner Osten, endlich Erfolge. Bis jetzt waren sie immer zu spät gekommen. Sowohl in Florida als auch in New York. – Die Nachrichten vom BND in München klangen ebenfalls nicht aufregend. Deshalb wich Pittford von seinem Prinzip ab, wichtige Gespräche nur persönlich zu fuhren. Außerdem verstrich zuviel 75
kostbare Zeit, wenn er erst nach Kansas jettete. Also rief er die Nummer auf dem Notizzettel des toten Asiaten an. Der Excolonel Collek fiel zunächst aus allen Wolken. Dann aber zeigte er sich widerspenstig. „Hatte ja keine Ahnung, daß technische Beratung durch einen Rentner gegen die Geheimhaltung verstößt“, erklärte er. „Was wollte man von Ihnen, Colonel?“ fragte Pittford. Der Exoberst zögerte. „Kann ich auch sicher sein, daß Sie von der Agency sind? Ich möchte nicht einem Reporter in die Falle gehen.“ „Schauen Sie zum Fenster hinaus, Collek“, bat Pittford. „Dort sehen Sie einen dunkelblauen Chevi mit DC-Nummer. Darin sitzen zwei Agenten vo n mir. Fragen Sie die beiden. Der eine heißt Rottinsky und der andere Chinook, ein Halbkoreaner.“ „Ich sehe sie“, antwortete der Exoberst der US-Army. „Fragen Sie also. Fangen Sie schon an, Mann!“ „Was verlangte man von Ihnen, Colonel?“ „Beratung.“ „Auf welchem Gebiet?“ „Ich war Pionieroffizier.“ „Brückenbau, Straßenbau, Festungsbau?“ „Eisenbahnbau“, sagte Collek zu Pittfords Überraschung. „Kennen Sie Einzelheiten des Jobs?“ „Es ging um einen Beratervertrag, hoch honoriert. Hunderttausend Dollar für maximal drei Monate. Einsatz in Fernost.“ „Wo?“ „Keine Ahnung. Das sollte ich später erfahren.“ „Was sind das für Leute, die Sie anheuerten?“ „Inder, denke ich.“ „Wie kam man auf Sie?“ „Ich besitze internationale Reputation als Eisenbahnexperte, Mister Pittford.“ 76
„Also dachten Sie sich nichts dabei.“ „Überhaupt nichts. Nur, ob ich das Ganze auf mich nehmen will, dachte ich, in Asien, unter gewi ß schwierigen Bedingungen, vielleicht eine Trasse durch den Dschungel oder über Gebirge zu projektieren. Aber hunderttausend Dollar sind eine Menge Kohle.“ Pittford fragte noch einmal. „Und Sie wissen nicht, wo Sie eingesetzt werden sollten?“ „Auf dem Flug nach drüben wollte man mir die Projektstudien vorlegen.“ Nun lieferte Pittford ihm ein Stichwort. „Was halten Sie von Afghanistan?“ Der Colonel reagierte völlig unerwartet. Er fing schallend an zu lachen und hörte nicht mehr auf damit Als er zur Ruhe kam, fragte der CIA-Agent. „Was finden Sie so komisch daran, Colonel?“ Wieder prustete Collek los. Dann antwortete er endlich: „Mann, wo lebt Ihr Geheimdienstleute eigentlich? Wissen Sie so wenig über ferne Länder? Afghanistan besitzt nicht eine einzige Meile Eisenbahn. Nicht eine Schiene, nicht eine Schwelle.“ Pittford fand das nicht ungewöhnlich. „Vielleicht will man eine Bahnlinie bauen.“ „Die haben vermutlich andere Sorgen. Nein, es gibt keine derartigen Pläne in Afghanistan. Die Strecken aus Rußland, Pakistan und Persien enden an den Grenzen. Tut mir leid, Sir, sorry, aber es ist so.“ Der CIA-Chiefagent wirkte enttäuscht und niedergeschlagen. „Das verstärkt nur die Rätsel um diese Morde und zwingt uns zu größter Vorsicht. Haben Sie etwas dagegen, Colonel, wenn wir Ihr Haus überwachen?“ „Tun Sie sich keinen Zwang an, Mister… wie war doch der Name? Ach ja, Pittford.“ „Schön, dann sorgen wir jetzt für Ihre Siche rheit.“ 77
„Solange Sie wollen, wenn es mich nichts kostet“, sagte der Colonel. Wenig später war das Gespräch beendet.
Der Morgen dämmerte. Die Rolläden an Colleks Bungalow waren heruntergelassen. Der Campingbus mit dem Bootsanhänger stand noch vor der Garage. Aber der Colonel, ein Frühaufsteher, war nicht zu sehen. Als um zehn Uhr die Rolläden noch immer nicht hochgezogen waren, riefen sie über Autotelefon bei Collek an. Im Bungalow läutete der Apparat, aber es wurde nicht abgehoben. Kurz entschlossen stiegen die Agenten ins Haus ein und fanden Spuren eines raschen Aufbruchs, als habe Collek das Allernötigste in eine Reisetasche gepackt und sei dann verschwunden. Die Agenten setzten sich mit Langley in Verbindung. Dort sah man keine andere Chance, als mit dem ungeliebten FBI Kontakt aufzunehmen. Beim FBI frohlockte man, wie stets, wenn der USGeheimdienst das Ende der Fahnenstange erreicht hatte und allein nicht mehr weiterkam. Sofort setzte das FBI seine Riesenorganisation in Gang. Dies schon deshalb, um der CIA-Konkurrenz eins auszuwischen und um zu beweisen, wer der wahre Herr in der Branche war. Am Abend hatte die FBI-Division von Kansas folgendes ermittelt: Der Ex-Pionier-Colonel Delano H. Collek hatte in Begleitung eines Inders oder Pakistanis am Flugplatz von Topeka die Frühmaschine der Middle-East-Airline bestiegen. Die beiden 78
waren nach Los Angeles geflogen. Dort führte die Fahndung zu der Erkenntnis, daß die Gentlemen Plätze in der Economy-class der Pazifik-Airlines gebucht hatten und abgeflogen waren. Und zwar mit dem Boeing Jumbo 747, der am späten Vormittag über Hawaii nach Tokio ging. Die mit Hilfe des japanischen Geheimdienstes Kempetai weitergeführte Fahndung erbrachte, daß Collek und der Inder oder Pakistan! sich schon wieder in der Luft befanden. Diesmal Richtung Bangkok. Hektisches Getelexe nach dort holte die beide n nicht mehr ein. Sie hatten eine Privatmaschine gechartert, die sie über den Golf von Bengalen nach Kalkutta brachte. Dort verlor sich ihre Spur. 14. Der Anruf spät abends in Urbans Schwabinger Wohnung hörte sich harmlos an als das Klingeln des Briefträgers. Er leitete jedoch binnen weniger Minuten eine katastrophale Entwicklung ein. Während Urban von seiner im Maisonette liegenden Bibliothek herunterstieg, hoffte er insgeheim, der Anrufer würde auflegen. – Der aber blieb stur in der Leitung. Urban hob ab. „Landpolizeidirektion Oberallgäu, Schmiedhammer.“ „Was kann ich für Sie tun, Kollege?“ fragte Urban. Sie kannten sich. „Wir haben da ein Päckchen für Sie, Doktor Urban.“ „Streikt die Post, oder was ist los?“ „Einer unserer Streifenwagen fand es, abseits de r Straße.“ Streifenwagen fuhren in der Regel auf der Straße und nicht abseits davon. – Urban hatte gleich ein unangenehmes Gefühl. „Wo?“ „Bundesstraße Nummer zwölf, zwischen Kempten und 79
Kaufbeuren, wenige Kilometer vor Immenthal.“ „Und ich soll der Empfänger sein?“ „Ihr Name und Ihre Adresse stehen drauf. Da Sie uns persönlich bekannt sind, besorgten wir uns Ihre Geheimnummer. Inhalt des Päckchens vermutlich ein Buch.“ Urban addierte die wenigen Fakten. „Das Päckchen ging nicht zufällig dort verloren. Stimmt’s?“ „Zufällig nein, eher durch brutale Gewalteinwi rkung, verbunden mit Fliehkraft et cetera“, erklärte Schmiedhammer, „Es stammt aus einem Automobil“, kombinierte Urban weiter. ,Aus einem verunfallten“, ergänzte der Mann von der Landpolizei. „Es passierte an der Kreuzung Untrasried. Dahinter ist eine weite Neunzig-Grad-Kurve. Der Mercedes fuhr wohl mit stark überhöhter Geschwindigkeit. Deshalb kam er von der Straße ab. Der mehrfache Überschlag endete an einer alten Eiche. Stammdurchmesser zwei Meter. Der Baum war der Stärkere.“ Urban stellte eine Zwischenfrage. „Ruft ihr mich an, weil ihr hofft, mit meiner Hilfe den Fahrer identifizieren zu können?“ „Das war anhand des Kennzeichens möglich“, erfuhr er. „Und der Fahrer?“ „Tot. Es war das neue Fünfhundert-SL-Cabrio. Jetzt ist es ein ziemlicher Schrotthaufen. Der Fahrer hätte es wohl überlebt, wenn er vorschriftsmäßig angegurtet gewesen wäre. Übrigens ist e s eine Fahrerin.“ Urban genügten die Fakten. Ein neuer Mercedes-Sportwagen, zu schnell gefahren und die Fahrerin nicht angeschnallt. Keine Frage, wer das gewesen war. „Ist der Wagen in der Schweiz zugelassen, im Kanton Sankt Gallen?“ „Nein, inFriedrichshafen.“ 80
Dort lag die Verwaltung des Ixfeld-Konzerns, erinnerte Urban sich. „Elena Ixfeld.“ Der Beamte räusperte sich etwas verlegen. „Wir nehmen an, daß Sie die Dame kannten. Offenbar war sie unterwegs nach München.“ Davon wußte Urban nichts. Elena hatte sich nicht angemeldet. Sie hatten sich seit der wütenden Bettbalgerei am Bodensee nicht mehr gesprochen. Daß sie ohne Anmeldung kam, war aber durchaus ihr Stil. „Ja, möglicherweise“, sagte Urban mit trockenem Hals. „Wie expedieren wir das Paket? Per Post?“ Eine nicht näher erklärbare Unruhe verstärkte Urbans Erschütterung über das tragische Ereignis. „Ich hole es mir ab.“ „Sie kannten die Dame besser als gut?“ „Ja, ein wenig.“ „Ist uns recht, wenn Sie selbst vorbeikommen. Es gibt da noch ein paar Ungereimtheiten.“ „Wo treffen wir uns, Schmiedhammer?“ „Hier in der Direktion. Der Wagen steht in der Polizeigarage, die Tote liegt im Schauhaus. Aber wir sollten uns den Unfallort…“ „Morgen früh“, sagte Urban, „sobald die Sonne aufgeht.“
Die Dämmerung lieferte genug Licht. Wo der SL sich über den Graben seitlich der Straße, dann quer über den Acker in Richtung auf den Baum hingewälzt hatte, war die Erde frisch aufgerissen und durchfurcht. „Keine Bremsspur.“ „Nicht ein Meter.“ 81
„Lag ein technischer Defekt vor?“ fragte Urban zweifelnd. „Bei einem nagelneuen Daimler? Wir haben ihn untersucht. Bremsen, Lenkung, alles in Ordnung. Auch der Überrollbügel federte hoch. Aber er nützte ihr wenig. Sie wurde herausgeschleudert, vermutlich in hohem Bogen, und schlug mit dem Kopf gegen diese alten Mauerreste.“ Die Steine stammten von einer früheren Bacheinfassung. Dort, wo Elenas Kopf gelegen hatte, war eine weiße Kreidemarkierung und ein dunkler Blutfleck „War sie eine gute Fahrerin?“ fragte der Polizeibeamte. „Sie fuhr vor zwei Jahren noch die Rallye Akropolis mit“ „Nun ja, das besagt wenig. Vielleicht stand sie unter Alkohol oder Drogen.“ „Oder Medikamenten“, ergänzte Urban. „War sie krank?“ „Ein bißchen überpowert.“ „Beruhigungsmittel also. Man wird das noch im Gewebe feststellen müssen. Wegen der Versicherung.“ „Wie schnell fuhr sie?“ fragte Urban. „Etwa doppelt so schnell, wie an dieser Stelle erlaubt. Hundertsechzig ungefähr.“ Aber wie war es möglich, daß eine Frau, die so perfekt Auto fuhr, wie sie Motorboote und Flugzeuge bewegte, in einer langgezogenen Kurve mit so einem Automobil… „Straßenzustand?“ erkundigte Urban sich. „Trocken, optimal.“ „Wann passierte es genau?“ „Etwa zweiundzwanzig Uhr.“ „Ob man sie blendete?“ „Also wenn Sie mich fragen, Oberst Urban“, äußerte der Polizeibeamte. „Wenn sie nicht betrunken war oder Drogen in sich hatte, dann müssen hier schon übernatürliche Kräfte im Spiel gewesen sein.“ „Oder man verabreichte ihr irgend etwas“, befürchtete Ur82
ban. „Hatte sie Probleme?“ „Einige.“ Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf. „Jung, schön und reich – aber Probleme.“ „Gerade deshalb.“ Urban äußerte dem Beamten gegenüber nichts über Zusammenhänge, die er allenfalls ahnte. Aber offenbar lag hier wieder ein Beweis vor, wi e schlagkräftig diese AfghanenOrganisation, der sie gegenüberstanden, war. – Der eine lauerte im Dunkeln und schoß auf den im Licht. „Und den im Dunkeln sieht man nicht“, zitierte Urban ein wenig abgewandelt Bert Brecht. „Ganz dunkel war es noch nicht“, verstand der Beamte ihn falsch. Urban fühlte jenes Hämmern im Schädel, das oft schweren Entscheidungen vorauszugehen pflegte. Er griff in die Reverstasche seines Glenchecksakkos und zog einen Tablettenstreifen heraus. Oben Silberfolie, unten Plastik. Er drückte ein weißes Bonbon heraus. Der Beamte sah ihm zu, wie er eine von den kleineren Liebesperlen schluckte. „Statt eines Frühstücks“, bemerkte Urban. „Artistenfrühstück. Bloß nicht prassen.“ „Nein, Astronautenfrühstück.“ „Geben Sie mir was ab von Ihrem Frühstück?“ fragte der Polizist. „Bin jetzt seit achtzehn Stunden auf den Beinen. Hilft es auch gegen ein beschissenes Gefühl im Magen?“ Urban drückte ihm eine Thomapyrin in die offene Hand. „Hilft manchmal auch gegen Traurigkeit“, sagte er dazu. Das hatte er bitter nötig, denn der Gedanke an die schöne Elena und ihr unschönes Ende war einigermaßen erschütternd. „Das Labor soll sie auf Gift hin untersuchen, das blitzartig fahruntüchtig macht, beispielsweise K.O.-Tropfen.“ 83
„Wird notiert“, versprach der Beamte. In der Landpolizeidirektion wurde Urban noch das Päckchen ausgehändigt. Gegen Quittung. Dann fuhr Urban nach München zurück.
Unterwegs hielt Urban an, ging in ein Frühcafe und nahm eine Tasse heißen Kaffee mit Zucker und Sahne. Wieder im BMW, riß er das Päckchen auf. Da das Buch in extra feines Safianleder gebunden war, stand der Titel nicht vorne drauf. Urban öffnete den Deckel und sah einen Stempel: EX LIBRIS Jochen Ixfeld. Früher hatte man solche Stempel oder Einkleber benutzt, um sein Eigentum bei Büchern zu sichern. – Das Buch stammte also aus der Bibliothek vo n Großvater Ixfeld, dem in Asien Verschollenen. Die nächste Seite enthielt den Titel und das Erscheinungsjahr. Das Buch war 1924 gedruckt worden. Laut Titel handelte es sich um eine Sammlung deutscher Heldensagen unter besonderer Berücksichtigung des Nibelungenliedes. Es war reich bebildert mit kolorierten Stahlstichen des bekannten Graveurs Erwin Humbauer. Urban blätterte es durch. Vielleicht fand sich zwischen den Seiten ein Hinweis. Ein Zettel, eine Textmarkierung oder eine umgebogene Ecke. Er fand ein Lesezeichen. Elenas Visitenkarte lag bei dem Bild, das Jung-Siegfried als Drachentöter zeigte. Siegfrieds Zauberschwert Balmung steckte schon im Drachenhals. Der Ritter selbst stand unter dem aus der Wunde rinnenden Blut, um sich zu hörnen, wie es so schön hieß. Von einem Lindenbaum am Bildrand taumelte ein Blatt ge84
nau auf jene Stelle zwischen Siegfrieds Schulterblättern zu, wo er verwundbar blieb und ihn dereinst der Speer des Hagen von Tronje durchbohren würde. – Und der Drache? Urban hatte ihn schon einmal gesehen. Etwas mehr stilisiert vielleicht, aber es war dieser Drache. Zurück in Pullach, verglich Urban den Drachen des Stahlstiches mit dem Drachen jenes Fotos, das die CIA von Mat Seaburgs Unterarm geliefert hatte. Um festzustellen, daß es sich um das gleiche Tier handelte, dazu brauchte man keine Phantasie. Urban kombinierte folgende Beweiskette: Großvater Ixfeld hatte aus der Erinnerung das Drachenzeichen entworfen. Alle, die Zugang zu ihm hatten, mußten diese Tätowierung tragen. Aber wie war Elena auf den Drachen gekommen? – Zwar hatte er ihr von der Tätowierung erzählt, vermutlich aber war sie einem Mann begegnet, der die gleiche Tätowierung trug. Eine Frage, die ohne Antwort bleiben mußte. Eine Frage, die wahrscheinlich nur an Ort und Stelle geklärt werden konnte. Soviel stand fest: Elena hatte sich bedrängt, bedroht, verfolgt gefühlt. Vermutlich von einem der Drachenmänner. Egal, ob sie nach München unterwegs war oder nicht, sie hatte die Absicht gehabt, ihm dieses Buch zugehen zu lassen. – Und die Visitenkarte bei dem Bild mit der Drachentöterszene? Drückte sie damit einen Wunsch aus? Urban telefonierte hinunter zum BND-Reisebüro. So, als würde er nur zum Fischen an den Ammersee fahren, sagte er: „Sucht mir eine Verbindung nach Kabul raus. Ankunft möglichst noch gestern.“
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15. „Bis hierher, Commander“, rief der amerikanische Captain, als sie aus dem Cockpit der zweisitzigen F 18 kletterten, „und keine Meile weiter.“ Es war heiß auf dem Flugfeld von Peshawar. Vom Tower kam ein Jeep herüber. Sie standen da, warteten und steckten sich Zigaretten an. Nicht jeden Tag brachte ein Mann siebentausend Kilometer so rasch hinter sich, wie Urban vo m frühen Morgen bis 11.00 Uhr pakistanischer Ortszeit Die NATO hatte ausnahmsweise einmal gespurt. Vermutlich durch Druck der Amerikaner. Ein Bundeswehr-Tornado hatte ihn bis Ankara gebracht. Dort hatte ihn eine F-18 der US-AirForce weitergeschleudert. Erst ohne Genehmigung über den Iran hinweg, dann auch über sein Einsatzgebiet Afghanistan. Aussteigen war leider nicht möglich gewesen. Landegenehmigung hatten sie erst für Pakistan. Mit nahezu trockenem Tank waren sie angekommen. Urban schattete die Augen gegen die blendende Sonne ab. Im Westen stieg das Kashmundgebirge bis auf viertausend Meter Höhe. Überall Gebirge, nichts wie Gebirge bildeten hier die Grenze. „Wollen Sie da rüber?“ fragte der Amerikaner und nahm den weißen Sturzhelm ab. „Ja, über den Khaiberpaß.“ „Das ist vielleicht ‘ne fabelhafte Gegend.“ „Nur dreihundert Kilometer.“ „Bis wohin?“ „Nach Kabul.“ „Dann viel Spaß. Die legen Sie schon auf halbem Weg um, Commander.“ 86
„Als Europäer, ja.“ „Sie werden doch nicht etwa…“ „Ich versuche es als Mudjaheddin. Gibt keine andere Chance.“ „Hier lauern in jeder Straße tausend Augen, Spione, Agenten, Verräter. Die warten drüben schon auf Sie.“ „Vermutlich.“ „Man stellt Sie an die Wand. Ein Toter mehr oder weniger, bei Millionen Toten, was macht das da aus. Die da drüben sind durch den Krieg so verroht wi e Tiere.“ „Nicht meine Schuld“, erklärte Urban. „Wessen Schuld dann?“ „Die von Stalin.“ „Aber daß man Sie drüben hopsnimmt, ist allein Ihre Schuld, Commander.“ „Nein, die von Hitler“, bemerkte Urban nicht ohne Ironie. Erstens war Hitler an allem schuld. Und zweitens, wenn man die Entwicklung zurückverfolgte, dann hatte das Drama mit dem Angriff auf die UdSSR angefangen. Der Jeep kam, und sie stiegen ein. Im Stabscasino bekamen sie heißen Cay zu trinken. Der half gegen alles. Gegen Hitze und Kälte. Dann holte eine Gruppe von Experten Urban ab. Sie brachten ihn in eine abseits gelegene Garage. Dort präparierten sie ihn für sein gewagtes Unternehmen.
Es ging zum Fürchten glatt. Auf den dreiundfünfzig Kilometern bis zum heißumkämpften Khaiberpaß, dem Tor nach Afghanistan, eskortierte Urban ein pakistanischer Armeejeep. Oben auf 1100 Meter Höhe war es eiskalt und Nacht. Sein Jeep, ein äußerlich verbeultes und verrostetes Fahrzeug, hatte 87
keine Heizung. Das Verdeck war zerfetzt, die Frontscheibe gesplittert. Aber technisch sei er okay, wie man ihm versicherte. Kurz vor dem Grenzübergang scherte der Armeejeep aus der Kolonne von Lastwagen und PKW’s aus. Die Offiziere salutierten, Urban salutierte zurück. Er rückte seinen Turban zurecht, drückte den Bart des Propheten fest und gab Gas. Im Kameltreibertempo ging es bis zum Grenzposten. Erster Gang rein, Gang heraus, kuppeln, Gang rein, Gas. – Dann endlich tauchte die Hütte auf, de r Mast, die Fahne im Wind. Es nieselte. Oder war es kondensierter Dunst? Der Posten wirkte arrogant. „Dokumente!“ befahl er. Urban zeigte Papier, Stempel, Ausweise. Der Soldat sah sie durch und ließ die darin versteckte Zehndollarnote so geschickt verschwi nden wie ein Zauberer eine falsche Karte. Urban wurde durchgewinkt. Auf der serpentinenreichen Abfahrt hinunter nach Jalabad gab es noch und noch Kontrollen. Jeder kontrollierte willkürlich. Einmal war es die Polizei, dann die Armee, dann Irreguläre, dann Partisanen, die gerade den Abschnitt besetzt hielten. Urban hatte Papiere als Arzt. Sie sprachen Dialekte, die er nicht verstand. Aber auf Englisch ging’s. Endlich freie Fahrt. Langsam kam der Morgen. Alles wurde auf dieser einen Straße befördert. Armeegüter, Ausrüstung, Waffen, Soldaten, Lebensmittel. Beiderseits der Straße endlose Kolonnen. Flüchtlinge von irgendwoher nach irgendwohin. Wo man hinsah, Verwüstung. Schrott, Panzer, Hubschrauber, Haubitzen mit zerfetzten Rohren. – Und zerstörte Ortschaften. Dieses Land war die Hölle. Jeder, der in der Politik die Muskeln spielen ließ, sollte zwangsweise acht Tage nach Afghanistan abkommandiert we rden. Und erst die Me nschen hier. Alle hungrig, zerlumpt, verzweifelt, ohne Hoff88
nung, krank, aussätzig. Was für ein Jammer. Am Nachmittag erreichte Urban Serubi. Noch siebzig Kilometer bis zur Hauptstadt. Er tankte aus dem Kanister. Dann nahm er einen Tee. In der Ortschaft gab es nur ein einziges Telefon. Er rief den deutschen Konsul an. „Bin in einer Stunde da“, sagte er. „Rechnen Sie besser drei.“ „Sie freuen sich mächtig“, stellte Urban nüchtern fest. „Hätte nichts dagegen“, sagte der charmante Konsul, „wenn Sie vorher zum Teufel gingen. Denn sonst gehen wir hier gemeinsam vor die Hunde.“ „Geteilter Schmerz“, sagte Urban, „tut nur halb so weh, Exzellenz.“
Als Urban ankam, befand er sich im Zustand eines Mannes, der zehnmal heftig geschwitzt hatte und dann zehnmal von pudrigem grauen Dreck eingestaubt worden war. Der Konsul hatte offenbar einen Gentleman mit Mercedes erwartet. Er schaute sich um, als er Urban vor seinem Büro begrüßte, so als könne man sie beobachten. „Ich fahre voraus. Sie folgen mir.“ „Gern. Wohin?“ „Erst zu dem Straßenschild, dann zu Ixfelds Villa, dann zu seiner Fabrik. Mehr konnte ich nicht ermitteln.“ Urban wartete. Hin und wieder nahm er einen Schluck aus der Feldflasche, einem zerbeulten Aluminiumding mit Filzumhüllung. Inhalt Bourbon. Der Whisky war lauwarm. Urban, der hier auf seine Goldmundstück-Luxus-MC verzichtete, drehte sich eine Zigarette mit dem langfasrigen groben Tabak des Landes. Drüben beim Generalkonsulat ging das Parktor auf. Ein Mer89
cedes der älteren S-Klasse kam heraus. Urban folgte ihm. Ein Trauerspiel, diese Stadt. So mochte Dresde n im Februar 1945 ausgesehen haben. Schuttberge, Brandspuren, kaputte Häuserzeilen, riesige Löche r in den Straßen. Sie überquerten auf einer Notbrücke den Kabulfluß, der kaum Wasser führte. Sie kamen an einem Stadion vorbei. Urban hatte die Straßenkarte vo n Kabul an einen Schalter im Armaturenbrett geklemmt. – Das war also das Zentrum. Hier lagen die Botschaften. Ein Boulevard, der sich Bibimahro nannte, führte nach Norden hinaus. Hin und wieder Fuhrwerke, Lastesel, Kulis, die Karren schoben, Aussätzige, die mit Glocken bimmelten. Und überall Elend. Menschentrauben mit Eimern umringten einen Hydranten. Der Konsulats-Mercedes bog Richtung Akbar Xan ab. Um Ecken, dann wieder gradeaus. Er verfuhr sich, machte kehrt. Urban kurvte immer hinterher. Dann hielt der Mercedes plötzlich an. Der Konsul deutete auf ein Straßenschild. Es war die Tafel vo n Elenas TV-Bild: Ixfield Street Sie fuhren weiter. Etwa fünfhundert Meter. Der Konsul deutete auf eine palastartige Villa. Sie lag hinter Hecken in einem Park. Vor der Villa standen Doppelposten. Auf dem Dach flatterte eine Fahne. Offenbar hatte sich hier ein Stabsquartier eingerichtet. Der Konsul fuhr weiter. Jetzt in Richtung Flughafen, wie Urban der Karte entnahm. Hinweisschilder tauchten auf. Kabul Airport. Auf Englisch, Afghanisch und Russisch. Überall hingen noch sowjetische Tafeln mit taktischen Kommandozeichen. Manchmal begegneten sie Molotow-Jeeps. Offenbar gehörten sie zu russischen Abteilungen, die die Überbleibsel des Krieges abwickelten. Die Straße zum Flugplatz führte über eine n Hügel. Auf sei90
nem Kamm verließ der Mercedes die mit Schlaglöchern übersäte Straße und bog in einen Nebenweg. Er zog sich durch dürres Gehölz zu einer Gruppe von Felsen. Jetzt hielt der Mercedes an. Der Konsul winkte Urban. Urban klopfte sich den Staub aus den pakistanischen Klamotten und setzte sich zu dem Konsul in den Luxus-Mercedes, dessen Klimaanlage aber wegen Ersatzteilmangels nicht arbeitete. Der Konsul reichte ihm ein Fernglas.
„Näher können wir nicht heran. Überall Straßensperren“, bedauerte der Konsul. „Armee?“ „Weiß der Teufel“, sagte der Konsul. „In dieser Straße hat die Armee das Sagen, in der nächsten Straße eine der Mordbanden, in der dritten eine illegale Armeeeinheit. Keiner kennt sich aus.“ Etwa zwei Kilometer entfernt dehnte sich das Areal des Flugplatzes. Links gab es Hangars und Bunker, davor jede Menge Flugzeuge und Hubschrauber. Das Viertel vor dem Flugplatz hielt Urban für ein Industriegebiet. Der Konsul klärte ihn auf. „Hier hatte auch Ixfeld seine Fabrik und sein Labor.“ „Welches der Gebäude ist es?“ „Das dritte oder vierte von der Straße nach Norden, nein, nach Osten.“ „Es ist nicht zerstört.“ „Aber wohl total geplündert“, fürchtete der Konsul. „Was man feststellen könnte.“ „Wie denn? Hier kommt keine Maus durch.“ „Was treiben die dort auf dem Flugplatz? Hat die afghanische Luftwehr soviel Fluggerät?“ „Nein“, klärte der Konsul ihn auf. „Hier sammeln die Russen die Reste an intaktem Material und bringen es nach Sowje91
tisch-Usbekistan.“ Urban hatte die Distanzen genau im Kopf. Vo n Kabul bis zur Grenze der UdSSR waren es zweihundertfünfzig Kilometer. Es gab nur eine Straße dorthin und keine Eisenbahn. Die Straße führte übers Gebirge und durch das Sumpfgebiet des Amu Darya. Mit dem Glas erkannte Urban hektisches Treiben bei einem Hangar. Doch was im Hangar vorging, war leider nicht zu erkennen. Das Tor mußte auf der entgegengesetzten Seite der riesigen Halle liegen. „Was befindet sich in dem Hangar?“ fragte Urban und wußte, daß diese Frage überflüssig war. „Keine Ahnung, Colonel.“ „Raketen, Atomwaffen?“ „Angeblich haben die Russen keine Atomwaffen hier gelagert.“ „Russen und angeblich. Das bedeutet, keiner weiß von nichts was Genaues“, bemerkte Urban bissig. Der Konsul wurde nervös und begann zu drängen. „Wir müssen zurück. Schätze, man beobachtet uns längst.“ Urban wollte das Herz dieses Hasenfußes nicht unnötig schwer machen. Er sagte dem Konsul nicht, daß seine Neugier in keiner Weise befriedigt war und daß er es noch einmal ve rsuchen würde. In der Dunkelheit. „Danke, Sir.“ Urban verließ den Mercedes. „Darf ich Sie zu einem Drink einladen?“ „Noch etwas“, rief der Konsul. „Gehen Sie kein Risiko ein. Was auch geschieht, ich kann Ihnen nicht helfen. Sie sind auf sich allein gestellt.“ „Wie immer. Darf ich Sie trotzdem zu eine m Drink einladen, Exzellenz?“ Der Konsul hatte Angst. Er war ein totaler Blödmann. „Danke, aber lieber verdurste ich“, sagte er und kurbelte die Scheibe hoch. 92
Urban suchte eine Dusche, fand aber keine. Er suchte ein Restaurant und fand keines. Also beschränkte er sich auf seinen Proviant aus pakistanischen Armeebeständen. Cornedbeef, Dosenkäse sowie Hartwurst vom Hammel – schön fett. Das Brot mußte man mit der Sage zerkleinern oder mit dem Hammer. Die Faust eines Mannes war zu schwach dazu. Aber er hatte noch ein Paket Crackers. Mit Mineralwasser bereitete er kalten Instant-Tee. Dann drehte er sich eine Zigarette und noch eine, und mit dem Bourbon in der Feldflasche tötete er die Bazillen. Die Sonne sank. Die Dämmerung kam schnell. Es wurde rasch dunkel und Nacht. Urban fuhr zu der Felsengruppe, wo er die Ehre genossen hatte, in des Konsuls Mercedes Platz nehmen zu dürfen. Dort stellte er den Jeep ab und stieg talwärts. Im Industriegebiet gab es kaum Mauern, nur Zäune. Lächerliche Maschendrahtzäune und rostigen Stacheldraht, Marke Weltkrieg zwo. Er robbte unten durch und näherte sich den Fabrikhallen. Ab und zu hörte er einen Wachjeep oder einen Rundengänger. Kein Problem. Er nahm sich eine Halle nach der anderen vor. An einer davon konnte man noch das Firmenschild lesen: IxfieldCorporation, Die Fenster waren ohne Glas, die Türen offen. Die Maschinen waren abmontiert oder kaputt. Der Wind wehte Sand herein, der allmählich alles zudeckte. Bald wußte Urban genug. – Die Firma Ixfield gab es nicht mehr. Ixfelds Villa hatte die Armee okkupiert. Wahrscheinlich war der alte Ixfeld längst verwest. Manches andere hingegen war aber ungeklärt. Was, zum Beispiel, hatten die Afghanen mit diesem amerikanischen Eisenbahnpionier, von dem Pittford berichtet hatte, vor? Und was 93
befand sich in dem großen Flugzeughangar? Nahezu ungehindert gelangte Urban bis zu dem hohen Zaun, der den Flughafen umgab. Unmöglich, da hinüberzukommen. Drei Bahnen Maschendraht von je einem Meter Breite waren übereinander verknüpft. Typ unverzinkt einfach. Aber der Zaun war so locker gespannt, daß eine alte Frau ohne Mühe unten durchkriechen konnte. Noch immer ging es so zum Fürchten einfach, daß Urban das drohende Unheil beinah körperlich fühlte. Ohne Hindernis gelangte er bis zu dem großen Hangar. Die Posten pennten offenbar. Er schlenderte an Transportflugzeugen und einer Reihe von MiG-Jägern und kleineren Hubschraubern vorbei. Über dem Flugplatz lag himmlischer Frieden. Der Geruch von Staub, vermischt mit dem Gestank von Kerosin, Farbe, Schmierfett und Batteriesäure war höllisch, aber üblich auf Militärflugplätzen. Das schwarze Viereck im Süden waren die Umrisse des großen Hangars. Er war so hoch wie das Schiff einer Kathedrale, und das Tor stand einen Spalt offen. Das Vorfeld lag im Dunkeln. Drinnen brannten Scheinwerfer. Ringsum bewachten Posten den Hangar. Urban schlich in eine andere Position und konnte jetzt durch das halboffene Tor hineinsehen. Drinnen parkte nur eine einzige Flugmaschine . Allerdings der gewaltigste Hubschrauber, den er je gesehen hatte. Ein Ding wie ein Wohnblock Dagegen war der Boeing-Vertol ein Kinderspielzeug. Es mußte sich um einen MI-12 handeln. Er hatte zwei riesige Hauptrotoren und vier Triebwerke. – Zweifellos der größte Transporthubschrauber der Welt Urban wußte es nicht genau, aber in der Zivilve rsion konnte dieses Monster dreihundert Passagiere aufnehmen und in der Militärversion mindestens vierzig Tonnen tragen. Das waren 94
vier Eisenbahnwaggons. An diesem Hubschrauber wurde gearbeitet. Wie Ameisen hingen Mechaniker überall. An den zwe i Rotorauslegern, am Fahrwerk, an der Heckrampe des Rumpfes. Was, zum Teufel, hatten sie mit diesem Ding vor? Wie kam es überhaupt hierher? – Natürlich hatte die Rote Armee es hergebracht, aber für welchen taktischen Einsatz? Dieser Hubschrauber wäre, im Falle eines Umsturzes, in der Lage gewesen, sämtliche afghanischen KP-Funktionäre nach Rußland ins Exil zu fliegen. Urbans Neugier trieb ihn wie immer dazu, mehr wissen zu wollen. Flach am Boden liegend, arbeitete er sich bis zu einem Treibstofftank. – Das war der Moment, wo es anfing, schiefzulaufen. Er lag sicher in Deckung hinter dem Kerosintank. Doch mit einemmal wurde er in grelles Licht getaucht, so wie ein Scheinwerfer auf der Bühne einen Sänger erfaßte. Er hatte keine Chance, dem scharfen Lichtkegel zu entkommen. Dann ertönte die Aufforderung in englischer Sprache aus dröhnendem Lautsprecher: „Hands up!“ Urban schaute sich um. Überall standen Soldaten mit Maschinenpistolen, und alle waren barfuß. Nur so war ein derart lautloses Anschleichen möglich gewesen. Sie hatten ihn. 16. „Neues über den Pionier-Oberst Collek“, meldete einer von Pittfords Zuarbeitern und legte aktuelles Material vor. Pittford litt noch unter den Nachwirkungen eines Donnerwetters, das er gerade von seinem Abteilungschef kassiert hatte. Gedankenverloren starrte er zum Fenster hinaus auf den dun95
kelgrünen Wald. Er hatte eine Stinkwut. Immer wenn er sich keinen Fehler vorzuwerfen brauchte, man aber Unmögliches von ihm verlangte, empfand er Mordgefühle. Er beherrschte sich nur mühsam. „Was gibt’s?“ „Betrifft Lt. Colonel Delano H. Collek, Topeka/Kansas, Sir.“ „Ex“, verbesserte Pittford den Assistenten, „Ex-Colonel.“ „Wußten Sie, daß er Russisch spricht, Sir?“ „Woher, verflucht, soll ich das? Ich bin ihm nie.“ „Sogar perfekt, wird behauptet.“ „Von wem?“ „Von seinen Freunden und Kameraden, die wi r wunschgemäß verhörten.“ Pittford winkte lässig. Der junge Mitarbeiter setzte sich und fuhr fort: „Collek brachte es im Krieg bis zum Major, Nach dem Krieg wurden alle Offiziere zurückgestuft, soweit man sie in den aktiven Armeedienst übernahm. Er sollte als Captain weitermachen. Das mißfiel ihm, und er schaute sich nach einem anderen Job um.“ „In Rußland“, kombinierte Pittford. „In der Tat, Sir. Damals lief ein Hilfsprogramm der Westalliierten für die Sowjetunion. In der Siegeseuphorie leistete man Wiederaufbauhilfe. Für dieses Programm ließ Collek sich einsetzen.“ „Zum Bau der Transsibirischen Eisenbahn“, spottete der Chefagent. „Wieder zutreffend, Sir“, stimmte der Mitarbeiter ihm zu. „Nur war die Transsibirische schon fertig. Collek projektierte, plante und baute mehrere Linien, welche den südlichen, mittelasiatischen Teil der SU erschlossen. Genauer die Kasachische SSR.“ „Da, wo jetzt die Unruhen ausgebrochen sind, diese Nationalitätenkonflikte.“ 96
„Ja, in Turkmenistan und Usbekistan, Sir“, fuhr der Mitarbeiter fort. „Collek baute Viadukte und Brücken der Bahnstrekken, die jewe ils bis zur Grenze von Persien, Afghanistan und China führen.“ Pittford wartete, doch es kam nichts mehr. „Und?“ fragte er. „Collek kennt das sowjetische Eisenbahnnetz zwischen Baku und Alma-Ata vermutlich besser als das unserer WesternRailroad.“ „Na schön. Und?“ gab Pittford sich neugierig, aber auch ungehalten. „Bitte keine blauäugigen Kombinationen.“ „Nun arbeitet Collek offenbar für Afghanistan. Er bringt für sie sein Spezialwissen ein. Was planen die Afghanen, die selbst keine Eisenbahn besitzen, also in der Sowjetunion?“ „Auf keinen Fall eine Offensive. Die können gegen Rußland so wenig einen Krieg anfangen, wi e eine Laus gegen einen Affen.“ Der Mitarbeiter klappte seinen Aktenordner zusammen. „Dachte nur, daß Sie das wissen sollten, Sir.“ „Danke. Aber was fangen wir damit an? Collek ist und bleibt verschwunden. Okay, er spricht Russisch. Er kennt die sowjetischen Eisenbahnlinien und steht möglicherweise im Dienst Afghanistans. Welche größeren Städte gibt es in dieser südlichen Sowjetrepublik?“ Aus dem Kopf leierte der Mitarbeiter die Namen herunter „Termez, Dusanbe, Samarkand, Buchara, Taschkent.“ „Die kenne ich alle aus Doktor Schiwago“, sagte Pittford. Der Assistent ging, aber Pittford rief hinter ihm her: „Wann kehrte Collek in die USA zurück?“ „Als der kalte Krieg begann. So um neunzehnhundertsechzig herum, Sir. Die Army beförderte ihn sofort zum Colonel. Ve rmutlich war das in dem Vertrag vorgesehen.“ „In dem Aufbauhilfe-Programmplan“, präzisierte Pittford. „Für mich besteht natürlich kein Zweifel, daß unsere Ingenieure und Offiziere nach Rußland gingen, um Spionage zu trei97
ben.“ „Dann muß Collek in den alten OSS-Akten zu finden sein, Sir.“ „Sie können ja mal nachfassen“, erlaubte Pittford ihm, „obwohl das wenig bringen dürfte. Und lassen Sie eine Lageanalyse der aktuellen politischen Situation vornehmen. Unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Moskau und Kabul.“ Der Mitarbeiter wollte dies unverzüglich an die zuständigen Abteilungen weiterleiten.
Die politische Lagebeurteilung des amerikanischen Geheimdienstes lag schnell vor. Sie gliederte sich in zwei Punkte und betraf die interne und die externe Problematik der UdSSR. Chefagent Pittford erwähnte es bei seinem täglichen Referat. „Die Arbeitsgespräche zwischen unserem Präsidenten und dem der Sowjetunion wurden nochmals verschoben. Der Russe hat nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten zu bewältigen, er sieht sich täglich zunehmenden Spannungen zwischen den vielen Völkern und Nationalitäten seiner Republiken gegenüber. Das fängt in Armenien an und brennt nun weiter über die Steppen Usbekistans. Anstelle des Treffens der beiden Präsidenten in Washington muß der Generalsekretär die Auseinandersetzungen an seinen südlichen Grenzen schlichten. Wie man hört, plant er eine Reise dorthin, oder er ist bereits unterwegs.“ Auf mögliche Zusammenhänge zwischen der Reise des sowjetischen Präsidenten und den Vo rgängen in Afghanistan ging Pittford nicht ein. Der Abteilungsdirektor schätzte Mutmaßungen ohne Beweiskraft wenig. Um so mehr setzte es Pittford in Erstaunen, als der bullige Bürstenkopf selbst davon anfing. „Dann begibt der Generalsekretär sich ja ve rdammt nahe an 98
die Grenze. Ob das etwas zu bedeuten hat?“ „Nun, alle Afghanen sind, mit Ausnahme der Regierung und der regierungstreuen Arme eteile, auf die Russen schlecht zu sprechen. Ihnen lasten sie das ganze Elend in ihrem Lande an. Zwar ist es der derzeitige Kremlchef, der den Krieg beendete. Aber für kein Land der Erde, mit Ausnahme vo n Afghanistan, gab es je einen Frieden, der schlimme r war als der Krieg.“ „Und die Armee ist von starken antikommunistischen Kräften unterwandert, die es den Russen heimzahlen möchten“, ergänzte der Bulle mit der grauen Bürste auf dem Kopf. „Haltet mal diesen Ball am Fuß.“ „Ohne Pause“, versicherte Pittford. Daß sie keinen eigenen Agenten in Afghanistan hatten, verschwieg er. Er verschwieg auch, daß ein BND-Agent dort arbeitete, denn dieser Mann galt seit zwei Tagen als verschollen. 17. Obwohl er befehlsgemäß die Hände erhoben und über dem Kopf gefaltet hatte, sich also ergab, schlugen sie Urban brutal zusammen. Vermutlich hielten sie ihn für einen Saboteur oder einen Spion der aufständischen Mudjaheddin. Sie brachten ihn quer über den Flugplatz zu einem Bunker, der grau und kantig gegen den Nachthimmel ragte. Umgeben war der Bunker von gerolltem Messerdraht, von Spanischen Reitern und Minenfeldern im Schachbrettmuster. Es gab nur einen Zugang. Der war taghell beleuchtet und scharf bewacht. Wer hier eingeliefert wurde, konnte sich jeden Gedanken an Flucht aus dem Kopf schlagen. Sie trieben Urban mit Kolbenschlägen durch den klimatisierten Bunker und warfen ihn in eine Einzelzelle. Sie war völlig kahl und leer. Ohne Pritsche, ohne Wasser oder Klokübel. Urban lag am Boden und wußte nicht wie lange. 99
Als er wieder zu sich kam und sich abtastete, ob er noch komplett war, hörte er mit dem Ohr am Boden einen merkwürdigen Gesang: O du schöner Westerwald… Du träumst, dachte er. Dann kam er mit der Hand gegen den unteren linken Rippenbogen. Sie hatten die Stelle mit einem Karabinerkolben zweimal erwischt. Es schmerzte brutal. – Wer Schmerzen so fühlte, war wach, und der konnte auch hören. Wenig später erscholl wieder das Lied vom schönen Westerwald. – Aber immer nur die erste Zeile der ersten Strophe. Mit allen Dehnungen und Betonungen: O du schö-ho-höner We-e-esterwald… Hier in einem Kommandobunker am Flughafen nördlich von Kabul in Afghanistan hörte er dieses Lied. Du mußt etwas gegen den Schädel bekommen haben, mein Junge, dachte Urban. Aber das ging in der Regel mit Kopfschmerzen einher. Ausgerechnet am Kopf hatte er aber keine Schmerzen. – Oder bist du schon tot, dachte er, und weißt es nur nicht. Um Kräfte zu sammeln, versuchte er zu entspannen.
Schritte dröhnten näher. Die Kasemattentür wurde von außen entriegelt. Licht fiel auf Urban. Er sah die blankpolierten Stiefel eines Mannes, der breitbeinig vor ihm stand. Er federte so folterknechtsmäßig in den Knien, daß seine sanfte Stimme Urban irritierte. „Mister Dynamit“, sagte der Mann auf Englisch. „Wir haben Sie zwar nicht eingeladen, unser Gast zu sein, und Ihre Verkleidung scheint mir ein wenig obsolet, aber wir bitten Sie in aller Form für die grobe Behandlung um Entschuldigung.“ Ein Wunder ist geschehen, dachte Urban. – Aber Wunder gab es nicht. 100
Er stand auf und sah sich einem Offizier mit dem Dienstgrad eines Majors gegenüber. Der Offizier, ein gutaussehender Afghane mit einer Reihe von Orden, lächelte beinahe vornehm. „Wir wußten, daß Sie kommen würden. Aber daß Sie es so schnell schafften, den Finger dorthin zu legen, wo es blutet, das, Commander Urban, verrät Ihre Spitzenklasse. Keine sechs Stunden in Kabul und schon im Zentrum des Zentrums.“ Der Offizier gab den Soldaten einen Wink. „Später reden wir weiter über Ihr Schicksal“, sagte der Major und ging. Sie brachten Urban in die Wachräume des Bunkersystems. Er konnte kalt und warm duschen, fand Seife, Bürste, Rasierzeug, eben alles, was zur Toilette gehörte. Er bekam ein Uniformhemd, eine Uniformhose, alles in Khaki, Unterzeug, Sokken und Slipper, nicht neu, aber alles tadellos gewaschen. Die Tür war offen, er ging hinaus. Ein Soldat brachte ihn ins Offizierscasino. Dort erhielt Urban ein Frühstück serviert: Tee, Fladenbrot, Rührei. Urban schaute auf die Uhr. Die Rolex hatten sie ihm auch gelassen. Sie zeigte 9 .00 Uhr an. Aber hier im Bunker gab es kein Fenster, nur künstliche s Licht, also auch keine Tageszeiten. Auf dem Tisch lagen Zigaretten. Er steckte sich eine an. Vom Geschmack waren sie noch machomäßiger als eine Gauloise. An den Wänden hingen Karten des Landes, Fotos vom Krieg und eine zerfetzte Regimentsfahne. Urban hatte die Zigarette kaum aufgeraucht, als der Offizier wiederkam. „Bitte behalten Sie Platz“, sagte er höflich. „Mein Name ist Parwan. Khari Parwan. Im Auftrag unseres Kommandeurs, des Generals, habe ich Ihnen folgendes mitzuteilen: Wir unterhalten gute Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland. Wir 101
erwarten Hilfsgelder und Hilfsgüter aus Bonn. Wir wissen, welcher Auftrag Sie zu uns führt. Andererseits können wir Ihr Eindringen, oder nennen wi r es Ihre Agententätigkeit, nicht hinnehmen. Sie sind unser Gefangener. – Vermutlich auf Lebenszeit. – Sie dürfen sich in der Bunkeranlage frei bewegen, aber rechnen Sie damit, daß Sie diesen Bunker nie mehr verlassen werden.“ Solange es euch gibt, setzte Urban in Gedanken hinzu, mußte dann aber begreifen, daß er das nicht mehr erleben würden, denn der Offizier erklärte: „Wir sind eine Spezialeinheit der Armee. Alles andere werden Sie mit der Zeit wohl selbst herausfinden.“ Der Major stand auf und verbeugte sich knapp. „Wenn Sie Probleme haben, ich bin oben im Stabsbüro. Bis später, Oberst Urban.“ Er ging. Urban war es einen Moment so flau, als hätte man ihm die zu starke Dosierung eines Beruhigungsmittels in den Tee gerührt. Und wieder glaubte er von Ferne dieses Lied zu hören: O du schöner Westerwald…
Urban wanderte durch das Bunkersystem, das mit einem Eisberg zu vergleichen war. Neunzig Prozent befanden sich unter der Erde. Zu den neunzig Prozent gehörten die Mannschaftsquartiere, die Küchen, die Casinos, die Nachrichtenzentrale, das Krankenrevier, das Kraftwerk für Strom und Klima. Zu den Büros und Lagerräumen hatte Urban keinen Zutritt. Aber einen Bereich, der mit Laboratory bezeichnet war zu betreten, daran hinderte ihn niemand. Es war der Raum, aus dem der monotone Gesang des We102
sterwaldliedes kam. Als Urban hineinging, scholl ihm hinter Schalttafeln und technischen Geräten eine Stimme entgegen „Shut the door!“ Nach dieser Aufforderung, die Tür zu schließen, wieder die erste Westerwaldstrophe. Urban ging um die Regale und Arbeitstische herum. Es stank nach Ozon, nach Reagenzien und Elektrizität. Hinten, vor einem Computerterminal und einem Mikroskop, saß auf einem Hocker eine Gestalt im Labormantel, mit krummem Rücken und weißem, sehr schütteren Haar. Der Mann – Urban schätzte ihn auf mindestens achtzig – blickte auf und sang jetzt nicht mehr. Er starrte Urban an. Dabei sprach er laut und deutlich vor sich hin. Offenbar war es Afghanisch. Dann widmete er sich wieder seinem Mikroskop. Der linke Ärmel seines Labormantels war nach oben gerutscht. Deutlich sah man die Drachentätowierung. Urban hatte nicht den geringsten Zweifel, we r dieser Mann war. Deshalb wagte er es. „Wie geht es Ihnen, Professor Ixfeld?“ fragte er auf Deutsch. Der Forscher reagierte kaum darauf. Er machte nur eine fahrige Bewegung. Sie bedeutete, daß er beschäftigt sei. Als er fertig war und die Mikroskopleuchte ausgeknipst hatte, steckte er sich eine Zigarette an. „Ich habe erfahren, wer uns da besucht hat.“ „Entschuldigen Sie, Professor, wenn ich ohne das Drachenzeichen Ihr Labor betrete.“ Ixfeld hatte kein Gramm Fett in seinem mageren Gesicht. Es bestand nur aus Haut über Knochen, ähnlich einer Trommel. Wie mochte da erst sein Körper beschaffen sein. Dieser Mann erinnerte Urban an keinen anderen. Die hohe Stirn, die abstehenden Ohren, die tiefliegenden, wäßrigen alten Augen, die Hakennase, der bittere Zug um den schlaffen Mund, 103
das spitze Kinn, all das war eine seltsame Kombination. Vielleicht war es auch etwas von dem, was Ixfeld Elena vererbt hatte. „Das mit dem Drachen“, sagte der alte Mann, „hielt ich für nötig, um mich gegen Industriespione zu schützen. Und dann war es einer meiner Lieblingsschüler, der mich verriet.“ „Er ist tot, Professor.“ „Junger Mann“, sagte Ixfeld, „jeder verliert einmal alles. Nämlich dann, wenn der Tod kommt. Und wer kennt schon den Tag und die Stunde. Das heißt, ich fürchte, beide zu kennen, Tag und Stunde. Man wird mich beseitigen, wenn es vollbracht ist.“ „Was“, fragte Urban, „soll vollbracht sein?“ Der Professor winkte ihn näher zu sich heran. Urban nahm sich einen Stuhl. Der Professor schob ihm das Mikroskop hin. „Ist kein Geheimnis mehr“, sagte er. „Je mehr Leute es sehen, desto besser. Was sehen Sie?“ Urban stellte das Okular scharf. „Bei uns würde man es als das Stück eines weißen Gummibärchens bezeichnen.“ Ixfeld kicherte. „Nun denken Sie einmal scharf an Zet, Ypsilon und Ix wie Ixfeld.“ Urban versuchte es. Aber nichts geschah. „Intensiver.“ „Gern.“ „Noch mehr!“ Urban tat es und sah, wie das Präparat unter dem Mikroskop plötzlich zuckte. Im selben Moment flammte an einer Tafel eine rote Lampe auf. „Explosion!“ sagte Ixfeld. „Interessant, wie?“ Urban nahm an, daß es sich hier um eine de r geheimnisvollen Ixfeld-Zellen handelte, die auf Gehirnströme oder biologi104
sche Kraftfelder reagierten. „Naja, im Labor“, meinte Urban, „da klappt es meistens.“ Ixfeld wirkte jetzt echt besorgt. „Leider klappt es auch auf tausend Kilometer Entfernung.“ Mehr war von ihm nicht zu erfahren. Ixfeld begann wieder zu singen: „O du schöner Westerwald.“ Dabei schaute er angestrengt in das Mikroskop.
Anläßlich seines dritten Besuches bei Ixfeld – sie hatten schon etwas Vertrauen zueinander gefaßt – fragte Urban. „Was wird hier vorbereitet, Professor?“ „Ich habe die Produktion von einigen Hundert meiner Biokinese-Zünder abgeschlossen. Sie we rden alle in russische Tellerminen eingebaut, nein, implantiert möchte ich sagen, und mit Sprengzündern verbunden. Dann genügt schon ein Gedanke, gedacht in einem bestimmten Code, und alles macht Wumwong-wang-bummmm!“ „Wo wird das geschehen?“ „Dort, wo man den schweren Transporthubschrauber hinbringt. Er wird mit vierzig Tonnen Minen beladen. Wie ich hörte“, Ixfeld lachte erst, dann senkte er die Stimme „fliegen afghanische Piloten ihn nach Norde n an die russische Grenze. Dort wird ein kilometerlanger Güterzug voller Kriegsmaterial, das die Russen aus Afghanistan herausbringen, zusammengestellt. Panzer, Spähwagen, Motoren, Hubschrauber, Kanonen, Raketen, Minen, Granaten. Munition, Munition… alles, was dein Herz begehrt. Junge, wenn das in die Luft geht.“ „Es wird also in die Luft gehen.“ „Mit Sicherheit.“ „Und keiner kennt den Tag, den Ort und die Stunde.“ „So ist es. Aber wie rief schon einst Marschall Blücher: Ra105
che für Sadowa! Oder war es Metternich, oder Napoleon?“ „Gambetta“, sagte Urban, „ein Franzose.“ „Ist schon zu lange her. Aber was soll’s. Ich bin hier, weil ich immer alles selbst gemacht habe. Und weil ich stets eigensinnig und mißtrauisch war, machte ich immer alles selbst. Und deshalb bin ich Wer.“ „Wovon reden Sie, Professor?“ ,,Davon ein andermal, mein Sohn.“ Urban ging es jetzt um etwas ganz anderes. „Die Explosion wird also drüben in der Sowjetunion stattfinden.“ „Man stelle sich vor, ein paar hundert Tonnen TNT marschieren in die Luft. Das gibt ein Riesenfeuerwerk, wie es die Welt seit Hiroschima nicht gesehen hat, denke ich.“ Urban schauderte bei dem Gedanken, es könnte in der Nähe einer Stadt geschehen. „Und wir können gar nichts tun?“ Ixfeld schnippte mit den Fingern. „So viel,“ „Also gar nichts.“ „Verdammt überhaupt nichts.“ Ixfeld sang wieder. „O du schöner Westenwald… Los, sing mit, Junge! Über deine Höhen pfeift der Wind so kalt, jedoch der kleinste Sonnenschein, dringt tief ins Herz hinein…“ Er sang es wieder und wieder, als sei er nicht mehr ganz bei Verstand. Plötzlich hielt er inne. „Ich stamme aus dem Westerwald“, erzählte er, nachdem er die Schärfe am Okular nachgestellt hatte. Urban stand kopfschüttelnd da, mit ein wenig geringfügiger Verstärkung seines angeborenen Dauerlächelns, wie immer, wenn er absolut ratlos war. „Los, sagen Sie was, Junge“, forderte Ixfeld ihn auf, „und 106
wenn es Blödmann ist.“ „Sie sind kein Blödmann“, antwortete Urban, „und ich komme auch noch dahinter, warum.“ „Fein, dann reichen Sie mir die kleine braune Flasche dort, mein Herzmittel.“ Ixfeld schluckte eine Tablette. In den nächsten Stunden überlegte Urban fieberhaft, ob es irgendwie möglich sei, eine Verbindung mit Pullach zu kriegen. Doch zu den Räumen, deren Betreten für ihn verboten war, gehörte auch die Nachrichtenzentrale. Und die übrigen Telefone dienten nur der Kommunikation innerhalb des Bunkers. Dann saß er wieder in seiner Gästekammer auf der Pritsche und wurde sich über eines klar: Die Armee hatte Ixfeld notwendigerweise in ihre Pläne eingeweiht. Und die Armee wußte, daß er mit Ixfeld gesprochen hatte. Also wußte die Armee auch, daß er einigermaßen im Bilde war. – Da sie alles andere als Zeugen gebrauchen konnte, war das die Bestätigung dafür, daß er nicht mehr lange am Leben blieb. Eine Flasche Whisky wäre jetzt etwas Feines gewesen. 18. Die Amerikaner hatten keinen Agenten in Kabul, aber ihre Spionagesatelliten kreisten am Himmel. Dazu jagten sie nachts SR-71 Höhenaufklärer übe r Afghanistan, die mit ihren Seitensichtkameras aktuelles Filmmaterial lieferten. Dann setzten sich die Auswerter des Pentagon mit den CIALeuten zusammen. In Stichworten wurden Fakten benannt und Schlußfolgerungen daraus gezogen. Alles wurde aufgezeichnet, notiert, in die Computer eingegeben, dort weiterverarbeitet und analysiert wie der überraschende Zug eines Schachmeisters. „Das ist Kabul-Airport.“ 107
„Die Aufräumkommandos der Russen, unterstützt von der afghanischen Armee, karren die Reste des Krieges zusammen und schaffen sie weg.“ „Mit LKWs.“ „Unter anderem steht da ein riesiger Hubschrauber.“ Ja, ein MIL-Mi-zwölf, NATO-Code HOMER“ „Er wird beladen, wie mir dünkt.“ „Was die offenen LKWs anliefern und im Hangar verladen, sind Landminen.“ „Von Zivilisten ausgebuddelt.“ „Wie viele davon trägt ein HOMER?“ „Rund vierzig Tonnen.“ „Wieviele?“ „Was wiegt eine Mine?“ „Neun Kilo, die russischen.“ „Also etwa viertausendfünfhundert Stück.“ „Was haben die vor?“ „Die mit beschädigten Hubschraubern und Panzer beladenen LKWs rollen nach Norden, Und zwar auf der einzigen Piste, über Charikar und Kolm nach Termez. Das liegt schon in der UdSSR.“ „Im Kuhestan-Gebirge wurden Gefechte registriert.“ „Die Aufständischen versuchen, Waffen und Munition an sich zu bringen.“ „Dann wird dieser Riesenhelikopter wohl in den nächsten Stunden ebenfalls nach Norden starten.“ Luftfotos aus Kameras, die bis in sowjetische s Gebiet fotografiert hatten, wurden begutachtet. „Ein Munitionszug.“ „Es sind mehrere Munitionszüge. Mindestens drei.“ „Von Termez zweigen zwei Bahnlinien ab, die sogenannten Hauptlinien. Die eine fuhrt nach Sibirien, die andere ins europäische Rußland. Welche Strecke werden die Züge wohl nehmen?“ 108
„Sie fahren dorthin, wo Depots und Werkstätten zur Generalüberholung der Waffen liegen. Also nach Gorki, Moskau oder in das Uralgebiet.“ „Die Russen haben Nerven. Sie lassen Tausende von Tonnen Sprengstoff durchs Land rollen.“ ,,Die Züge sind bewacht.“ „Bei uns wäre das unmöglich.“ Einer lachte. „Und die Atomsprengköpfe, die wir her- und hin und wieder herfahren, von Texas bis Colorado, was ist mit denen?“ Niemand antwortete darauf. „Die Züge werden also die westliche Strecke nehmen.“ „Die Strecke führt über Sümpfe, Brücken, Pässe, durch Tunnels und so weiter.“ „Wenn wir weiter kombinieren“, ergriff Pittford das Wort, „und davonausgehen, daß die Drachenleute die Hand im Spiel haben, gemeinsam mit unserem Eisenbahnexperten Collek, dann ist wohl ein Anschlag auf den Zug geplant.“ Die anwesenden Offiziere und die Geheimdienstleute in Zivil blickten sich an. Einer brach das Schweigen. „Zum Glück trennt uns der halbe Erdumfang vo n dieser Ekke, Gentlemen.“ „Sollten wir Moskau nicht warnen?“ wurde in die Runde geworfen. „Wenn wir das Gras wachsen hören“, meinte einer, ,4ann hören die die Blumen welken. Nein, sie würden uns nur belächeln. Und was soll schon passieren. Nichts ist bewiesen.“ „Der sowjetische Generalsekretär bereist das Grenzgebiet. Es heißt, er sei unterwegs nach Taschkent.“ „Taschkent liegt an der anderen Eisenbahnstrecke, an der Ostroute, die die Züge nicht nehmen werden.“ „Mit welcher Garantie?“ „Mit hoher. Was sollen sie auch mit dem Zeug in der Kirgi109
sensteppe.“ Die Sitzung wurde vertagt. Das nächste Zusammentreffen sollte am folgenden Tag zur gleichen Stunde stattfinden. Man wollte die neuesten Luftaufnahmen auswerten.
Der Präsident der USA, der stets auf dem laufenden gehalten wurde, entschied, daß man nicht nur den Kreml, sondern auch das Politbüro und den KGB verständigte. Dies wurde in die Wege geleitet. Vorsichtig formuliert, deutete man an, daß durch bestimmte Vorgänge in Afghanistan, im Zusammenhang mit Munitionstransporten, mögliche rweise der Staatschef der UdSSR auf seiner Mission gefährdet sei. Nicht, daß man sich in Moskau die Ratschläge des amerikanischen Geheimdienstes verbat. Man dankte dafür und versprach, sie zu berücksichtigen. Moskau ließ aber durchblicken, daß man über Vorgänge auf dem Territorium der Sowjetunion wohl um einiges besser im Bilde sei als die CIA. „Sie glauben uns kein Wort“, sagte der CIA-Chef zum Verteidigungsminister, als sie am Abend telefonierten. „Haben wir Beweise?“ „Kaum.“ „Na bitte.“ „Die Reaktion aus Moskau läßt beinah darauf schließen, daß es ihnen durchaus recht wäre, den Generalsekretär durch einen Bombenanschlag loszuwerden.“ „Es sieht nicht nur so aus“, sagte der Verteidigungsminister offen, „es ist so, mein Lieber. Oder würden Sie einem Mann, der unseren Geheimdienst und die Armee entmachten, auflösen und auf Null bringen will, würden Sie diesem Präsidenten ein langes Leben wünschen?“ „Geben Sie sich selbst die Antwort, Jim“, sagte der CIA110
Chef. 19. Vom Ixfeld-Labor aus war Urban in die Lüftung eingestiegen. Nun arbeitete er sich in dem achtzig mal sechzig Zentimeter messenden Schacht aus verzinktem Blech vorwärts. Dabei versuchte er, sich mit den Handballen und den nackten Füßen, und indem er sich einmal oben und einmal unten einspreizte, vorwärts zu schieben. Aber der Schacht war voll Staub und Schmiere, was das Weiterkommen erschwerte. Irgendwo mußte der Schacht im Freien enden – vermutlich am Dach des Bunkers. Es konnte nur zwei Hindernisse geben: de n großen Ventilator mit dem Kühlsystem und die Schutzgitter. Da der Schacht nach oben führte, der Maschinenraum aber unten lag, hoffte Urban, das einzige Hindernis vor der Freiheit sei das Schutzgitter. Er hatte richtig kalkuliert. Nach stundenlanger kräfteverzehrender Kletterei im Abluftstrom, um enge Bögen herum, Steigungen hinauf, durch Schachtschleusen und Abzweigungen, sah er endlich Tageslicht schimmern. – Aber auch, daß es gesiebt war. Erst durch ein feines Rattengitter, das sich entfernen ließ, dann aber durch daumendicke Stahlstäbe. Sie waren kreuz und quer übereinandergeschweißt. Verzweifelt rüttelte Urban daran. Keine Chance. Erschöpft gab er auf. Das war seine dritte und letzte Idee gewesen. Woran er zuerst gedacht hatte, war gewaltsamer Ausbruch. Indem er einem der Offiziere die Waffe entriß und ihn als Geisel nahm, hoffte er, die Sicherheitsschleuse am Blinkereingang zu überwinden. Egal, wie weit er gekommen wäre. Er hätte es versucht Doch als er sich wie ein Taschendieb an Major Khari Parwan 111
herangeschlichen hatte, mußte er feststellen, daß dessen Revo lvertasche leer war. Die Soldaten und Offiziere im Bunker waren unbewaffnet. Der zweite Plan hatte so ausgesehen, daß er versuchen wollte, den General in seinem Büro zu überraschen. Nachts arbeitete der General meist bis spät. Wenn er ihn erledigte und seine Uniform anzog, dann konnte er damit vielleicht die Bunkersperre passieren. Gestern hatte er es gewagt, hatte aber feststellen müssen, daß der General nie allein blieb. Stets war er von seiner Garde umgeben. Nun sperrte ihn ein daumendickes Gitter aus Stahl von der Freiheit ab. Urban kroch zurück bis zur Schleuse für die Luftverteilung. Er wand sich herum wie ein Wurm und versuchte, wieder in Ixfelds Labor zu gelangen. Dort fiel er vor Erschöpfung beinah aus dem Schacht. Er sah aus wie geteert und mit grauen Staubfusseln gefedert. Als Ixfeld ihn sah, krächzte er. „Wo ist mein Herzmittel?“ Urban drückte ihm die braune Pillenflasche in die Hand. „Schon die dritte Tablette heute, Professor.“ „Ich zähle sie nicht mehr.“ Es war ein starkes Mittel. Es enthielt Nitroglyzerin, wie man es nur bei schweren Anfällen einnehmen sollte. Ixfeld schluckte eine Tablette, als sei es lediglich Spucke. „Reinigen Sie sich“, sagte er. Urban zog sich aus, schüttelte Hose und Hemd aus und wusch sich in dem kleinen Laborspülbecken. „Der Major war da“, sagte der Professor. „Er hat Sie gesucht.“ „Was wollte er?“ „Mit Ihnen quatschen, wie immer. Es ist wohl bald soweit.“ Urban hockte da und drehte sich von dem schwarzen afghanischen Tabak eine Zigarette. Er war total kaputt, sowohl in112
nerlich wie äußerlich fertig. „Es klappt nicht, wie?“ „Kaum,“ Urban gab nie ganz auf, deshalb sagte er nicht nein, sondern kaum. „Auch mit General Chary klappte es nicht.“ „Sie hatten eine Stabskonferenz. Sie dauerte bis zum Morgen“, berichtete Urban. „Dieser General ist ein merkwürdiger Mann. Warum organisiert e r diese geheime Operation?“ „Er möchte die Regierung stürzen und selbst Staatschef werden“, vermutete Ixfeld. „Der General hofft, das Signal, das er mit der Explosion setzt, sei groß genug, daß es ihm Sympathien einbringt. Bei der Bevölkerung wie bei den Funktionären und bei der Armee.“ „Und warum ist er gegen die Regierung?“ „Weil sie aus Kommunisten von Moskaus Gnaden besteht, weil er in Oxford studierte und eine Ausbildung als britischer Offizier genoß. Er hofft auf die Hilfe des Westens. Nur so ist Afghanistan noch zu retten.“ „Und Sie, Professor“, fragte Urban wieder einmal, „was wollen Sie eigentlich?“ Darauf erklärte der alte Mann: „Meine Person zählt hier nicht mehr, junger Freund.“
Am Abend eines Tages, von dem sie nicht mehr wußten, welcher es war, wurden Urban und Ixfeld auf eine gemeinsame Stube verlegt. „Es geht los“, sagte Ixfeld so erwartungsvoll, als würden gleich gutgemixte Drinks serviert. Urban hatte einige Fragen auf dem Herzen. „Warum“, setzte er an, „der Zirkus mit Ihren biokinetischen Zündern? Warum verwendet man nicht die bewährten Uhr113
werkzünder, die Säurezü nder und die Funkfernzünder? Erklären Sie mir das, Professor.“ Der Alte massierte seine Finger, seine Gelenke, seine Beinmuskeln, seinen Hals und versuchte es. „Funkzündung kann man stören. Erst recht auf große Distanzen. Es läßt sich nie ganz vermeiden, daß sie durch ein irrlaufendes Signal, sei es durch Radio, Fernsehen, Flugzeuge, Sprechfunk, ja selbst durch die Zündfunken aus Automobilen, vorzeitig ausgelöst werden. – Das ist Punkt eins.“ „Und Uhrwerkzünder?“ fragte Urban. „Es gibt Uhrwerkzünder, kombiniert mit Schiffahrtschronometern, die jahrelang auf die Sekunde genau ticken.“ „Sofern sie mal eingestellt sind, ja. Aber wenn sich die Umstände durch neue Voraussetzungen kurzfristig ändern, wer soll dann die Zündzeit korrigieren?“ „Und mit Ihren Horrorapparaten ist das alles möglich. Sowohl als auch?“ „Nun, man hat es besser im Griff.“ „Wie funktioniert das?“ „Durch Konzentration.“ „Auf was?“ „Auf einen geheimen Code.“ „Durch die Konzentration eines einzigen Mannes?“ „Dazu ist die geistige Kraft mehrerer Leute nötig. Ich habe eine ganze Kompanie von Soldaten trainiert.“ Urban konnte es nicht fassen. „Die stehen dann in Kompaniestärke da. Kommando: Stillgestanden! Augen zu! Denken! – Aber was denken sie? Ihr ZetYpsilon-Ix?“ „In Afghanischer Version“, bestätigte Ixfeld. Die Gleichgültigkeit dieses Mannes war es, was Urban irritierte, und wie er seine Geheimnisse preisgab. Nun wußte Urban zwar, wie es ging, konnte aber trotzdem 114
nichts dagegen tun. Eine völlig neuartige Situation. In fast allen Fällen bisher konnte er irgend etwas unternehmen, obwohl er oft nicht wußte was. Diesmal war es umgekehrt. Eine tödlich veränderte Reihenfolge. „Ich bin müde“, sagte Ixfeld. „Ich will schlafen.“ „Man wird uns wohl bald abholen“, fürchtete Urban. „Ja, der Hubschrauber ist startklar. Schätze, in ein zwei Tagen gibt es den ungeheuren Knall. Oder wie nennt man das? Urknall, ach ja, Urknall.“ Der Alte schlief nicht tief und nicht lange. Halb wach dirigierte er mit eckigen Bewegungen und summte dazu sein Westerwaldlied. „Wenn die Stunde gekommen ist“, sagte er, „werden sie dastehen wie der Donkosakenchor unter der Stabführung von Serge Jaroff. Einer wird das Zeichen zum Einsatz geben. Und dann werden ihre Gedanken meine Ixfeld-Zellen zum Tanzen bringen.“ „Warum“, stellte Urban immer wieder verbissen die gleiche Frage, „warum, Professor, machen Sie bei diesem tödlichen Spiel mit?“ Der Alte richtete sich auf, als würde sich ein Gerippe bewegen. „Mein Herzmittel!“ Er nahm seine Tablette und gab Urban die Flasche zurück. „Gut aufheben. Immer bereithalten. Ich verliere sie immer und finde sie nie. Aber sie ist mein Leben.“ Nach langer Pause sagte er: „Ach ja, nun zu Ihrer Frage, mein Junge, warum ich diesen Mörderzirkus mitmache. Es ist ganz einfach. Bevor der Krieg begann, bevor hier die Russen einmarschierten, war ich ein angesehener vermögender Industrieller in diesem Land. Ich nahm Einfluß auf Politik, Wirtschaft und Kultur. Guten Einfluß, wie ich denke. – Und mit dem Iwan war alles aus. Meine Mitarbeiter flohen, meine Fabrik wurde beschlagnahmt, meine 115
Güter, mein Haus, alles. Ich wurde verhaftet, verhört, eingesperrt und verurteilt. Ich stand wieder bei Null, wie im Jahre 1952, als ich vom Himalaja herunterkam.“ „Warum“, fragte Urban, „versuchten Sie nie, Kontakt zu Ihrer Familie in Deutschland aufzunehmen?“ Der Alte kicherte nur. „Familie, Deutschland, was ist das?“ „Haben Sie denn alles vergessen, Professor?“ „Ich wollte nur vergessen, vergessen. Ich mußte es, um zu überleben. Natürlich habe ich nach ihnen geforscht, als ich aus dem Himalaja herunterkam. Es hieß, sie wären tot. Vater, Mutter, Frau, Sohn. Die Auskunft des Roten Kreuzes war nicht zu bezweifeln. Und Deutschland war damals wirklich nicht so reizvoll, um dorthin heimzukehren. So, nun wissen Sie alles. Fragen Sie mich, bitte, nie mehr danach. Okay?“ „Okay.“ „Und mein Motiv, daß ich Haß gegen die Russen empfinde, kennen Sie nun auch. Stellt Sie das zufrieden?“ „Mich nicht“, sagte Urban, „Sie offenbar schon.“ „Es gibt nichts Schöneres“, gestand der Alte, „als es ihnen heimzuzahlen.“ Schritte kamen näher. Der Major erschien mit einem Arzt und zwei Soldaten. Er war höflich wi e immer. „Ihren Arm bitte, Gentlemen.“ Sie bekamen Injektionen gesetzt. Eine Menge Zeug aus langen Spritzen, mindestens zwanzig Kubikzentimeter. „Traubenzucker“, sagte der Major. „Hormone, Mineralstoffe und eine Wirkstoffkombination gegen Infektionen. Betrachten Sie es als Energiespritze und Proviant für die Reise.“ Und kombiniert mit einem Schlafmittel, dachte Urban. Minuten später fühlte er, daß er sehr müde wurde. Er sah, wie man dem Professor die Hände mit Polizeihandschellen auf den Rücken fesselte und ihn heraustrug. Dann wurden seine Hände ebenso gefesselt. 116
Auch ihn trug man auf einer Trage hinaus und beförderte sie mit dem Jeep zum Hangar. Seitlich von dem riesigen Transporthubschrauber stand eine Kiste, so groß wie ein überdimensionaler Karnickelstall. Man rollte Urban neben Ixfeld, der in tiefem Schlaf schon dort lag. Mit halbem Bewußtsein registrierte Urban, wi e man den Käfig per Kran in den Helikopter hob, zwischen Lattenverschlägen voller Tellermine n versteckte, und wie unmittelbar danach die Startvorbereitungen einsetzten. Bald ertönte ein ohrenbetäubendes Brausen. Es konnte nur vo n den vier SolowiewTurbinen stammen. Vielleicht waren es auch schon die prasselnden Feuer der Hölle. 20. Trotz seiner vierundsechzig Jahre konnte Colonel Delano H. Collek noch klettern wie ein Baumbär. Völlig schwindelfrei arbeitete er sich im Gitterwerk des mittleren Teils der großen Eisenbahnbrücke über den ArmudarjaFluß. Die Brücke, eine Konstruktion aus drei Stahlbögen mit zwei Betonpfeilern, die auf felsigem Flußboden ruhten, war dreihundertneunzig Meter lang und jetzt vierzig Jahre alt. – Sehr jung also für ein solches Bauwerk. Selbst für russische Ve rhältnisse, wo solche Viadukte kaum gepflegt wurden. – Die Bögen und Streben aus zentimeterdicke m Schiffsbaustahl verlangten allerdings nach Anstrich. Sie begannen zu rosten. Aber bis sie durchrosteten, verging sicher noch ein Jahrhundert. Collek kannte die Brücke so gut wie ein Mann, der sie erschaffen hatte. Deshalb fiel es ihm schwer, sie zu zerstören. Niemand vernichtete leichten Herzens eines seiner Bauwerke. – Aber Collek wußte eines genau: Wenn er es nicht tat, würde 117
sein Leben kürzer sein als bei normalem Verlauf. Außerdem hatte er eine Menge Geld dafür genommen. Trotzdem war er entschlossen, die Brücke nicht total zu sprengen. Er würde nur soviel TN T einsetzen, um den Gleiskörper in der Mitte des Mittelbogens einzuknicken. Er würde die Schienen an einer Stelle so absenken, daß sie etwa einen Winkel von hundertzehn Grad zueinander bildeten. Mithin unbefahrbar für Züge jeder Art. Das zerfetzte sein Lieblingsbauwerk nicht, sondern machte es nur kurzfristig, etwa für einige Monate, unbenutzbar. Wie jeder Ingenieur kannte er die Schwächen seiner Konstruktion. Ob Automobil, Flugzeug, Küchenmaschine ode r Brücke, alles hatte eine Schwachstelle. Nicht, daß die Stelle den Gebrauchswert beeinträchtigte, sie war nur ein Punkt besonderer Empfindlichkeit, so wie es beim Menschen nicht gleichgültig war, ob man ihm ins Ohrläppchen oder ins Herz stach. Bei der Armudarja-Brücke gab es da im Mittelabschnitt des Kastenträgers eine Strebe, die wegen besonderer Belastung in dreifacher Stärke ausgeführt war. Brach sie weg, dann sackte der Gitterkasten zusammen und der gewünschte Effekt war erreicht. Dazu errechnete Collek einen ungefähren Bedarf von fünfzehn Kilogramm TNT. Er hatte zwanzig Kilo im Tornister auf dem Rücken.
Es war ein klarer sonniger Tag, leichter Wind nahm ihm die Hitze. Des Armudarja gelbe Fluten hatten nur mittleren Wasserstand. Mehr als üblich für diese Jahreszeit. Das Sumpfgebiet des etwa dreihundert Meter breiten Flußarmes glitzerte im Licht. An dieser Engstelle hatte man Steindämme aufgeführt und bis ans Ufer herangezogen. Sie trugen die Enden der Brücke. 118
Gegen 10.30 Uhr stieg Collek in die Brücke ein. Nach etwa fünfundzwanzig Minuten, als Collek den gesuchten Träger erreicht hatte, ein mächtiges Stück Stahl in DoppelT-Ausführung, plazierte er den Plastiksprengstoff in mehreren Portionen und setzte die Zünder ein. Bis jetzt hatte alles einigermaßen geklappt. Sie waren den Verfolgern der CIA und des FBI entkommen, waren mit dem Sonderflugzeug in der nördlichsten Stadt Afghanistans, in Mazar-E-Sharif, gelandet. Der Distriktkommandeur, ein Freund von General Azyr, hatte ihn mit einem Jeep nach Norden bringen lassen. Der Fluß bildete hier die Grenze zur UdSSR. Sie war kaum gesichert. Diese Grenze ließ sich nicht sperren wie etwa die in Korea. Auch die Brücke war nicht bewacht. Es gab nur einige weit verstreute Wachtürme. Ab und zu überflog ein Kontrollhubschrauber die Gegend – so auch vor einer halben Stunde. Aber da hatte Collek sich schon in Deckung der Brücke bewegt. Colonel Collek beherrschte jeden Handgriff. Nach fünfzehn Minuten war er fertig. Nun verband er noch die Zünder mit den Zündschnüren, mit je zwei roten Elektrokabeln mit Kupferseele. Die Kabel liefen in einem Zentralverteiler zusammen. Ihm führte die Zündschaltuhr den Batteriestrom zu. Der Strom würde die Primer auf die Sekunde genau zünden, und sein Job war beendet. Sorgfältig justierte Collek die Schaltuhr, ein Schweizer Präzisionsinstrument mit Doppelwerk. Das eine arbeitete auf Quarz-Basis, das andere mit Federkraft. Sie versagten erfahrungsgemäß nie. Collek stellte den Zündzeitpunkt so ein, daß die Brücke in hundert Minuten, also noch rechtzeitig vor Abfahrt der Munitionszüge in Termez, hochging. Er wußte, daß die Russen die Munitionszüge en bloc auf die Reise schickten, denn es war leichter, drei Züge gleichzeitig zu 119
bewachen, als jeden einzeln. Daß die Brücke unbefahrbar war, würde der Mann mit der Draisine, der eine Stunde vor den Zügen ein letztes Mal die Strecke überprüfte, per Funk melden. Dann würden sie in Te rmez die Züge anhalten und nach einigem Hin und Her umleiten. Es gab keine andere Möglichkeit. Das Kriegsgerät mußte weg aus dem Grenzgebiet und wurde gewi ß bei den Depots und bei den Überholungswerken erwartet. In der UdSSR lief alles stets nach Plan. Pläne zu ändern, hatte sich stets als ein Ding der Unmöglichkeit erwiesen. Man würde die Züge also auf dem Umweg über Tashkent und das sibirische Eisenbahnnetz an die Zielorte im Westen weiterleiten. Die Kabelverbindung war jetzt hergestellt und überprüft. Die Uhren liefen. Als letzte Sicherheit, nur für den absoluten Notfall, drückte Collek noch einen britischen Säurezünder in einen der TNT-Klumpen und brach das Röhrchen entzwei. Das nun fließende Azeton würde den Zelluloidstreifen zerstören. Nach etwa zweihundert Minuten würde der Streifen ebenfalls einen Zünder auslösen. – Dies aber nur für den Notfall. An einem Seil ließ Collek sich nun in den Fluß hinab. Er hatte eine Preßluftschwimmweste dabei. Im Strom würde er sich zur afghanischen Seite hinübertreiben lassen. Dann war sein Job endgültig erledigt. Good bye und Salem aleikum, stolzes Armudarja-Viadukt.
Nur eines von tausend Schweizer Zünduhrwerken hatte Fehlfunktion. – Das von Colonel Collek war eines davon. Er hing an seinem Nylonkletterseil etwa zwanzig Meter unter dem Mittelbogen der Brücke und noch zwölf Meter vom Wasser des Armudarja entfernt, als ihn erst eine Druckwelle traf, 120
dann ein Faustschlag bewußtlos machte. Das Seil riß. Der reaktionsunfähige Körper des Amerikaners schlug in ungünstiger Lage, mit dem Kopf voran, auf dem Wasser auf. Dann trafen ihn noch die Trümmer von weggefetztem Stahl, von Schienenschwellen und von den schweren Steinen des Gleisbettes. Nur dem Umstand, daß sich beim Aufschlag die Preßluftflasche der Schwimmweste öffnete und die Gummikammern aufblies, verdankte Collek es, daß er nicht absoff. In der Weste hängend, erfaßte ihn die Strömung. Dabei trieb er in den Wirbelbereich des nördlichen Brückenpfeilers. Die Strudel drehten ihn mehrmals herum und zwangen ihn in eine Richtung, die er bei klarem Bewußtsein nie akzeptiert hätte. Der Verletzte konnte nichts dagegen tun, daß die Strömung ihn zwar langsam, aber unaufhaltsam zum russischen Ufer hinübertrug. Jenseits der Flußbiegung, ungefähr vier Kilometer flußabwärts, setzte die Strömung ihn auf einer Kiesbank ab. Die Kiesbank lag im Streubereich des Maschinengewehrs eines Wachturms. Die Posten, aufgescheucht von der fernen Explosion, achteten jetzt besonders auf jede Bewegung im Fluß. Bald entdeckten sie dann den dunklen Punkt in Ufernähe. Sie schickten einen Spähtrupp los. Der barg den schwerverletzten Amerikaner. Da sein Auftauchen zeitlich ungefähr mit der Detonation bei der Eisenbahnbrücke in Zusammenhang zu bringen war, meldeten sie den Fund telefonisch dem KGB in Termez. Dort wollte man einen Wagen vorbeischicken.
Es dauerte geschlagene achtundvierzig Stunden, bis ein Jeep kam, um den Mann, den man für alles andere als für einen Attentäter hielt, abzuholen. 121
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Zustand des verletzten Colonel Delano H. Collek sich nicht verschlechtert, aber auch nicht verbessert. Nur be i seiner Oberschenkelwunde bestand die Gefahr, daß sich eine Gasbrandinfektion ausbreitete. Collek wurde im Armeespital verarztet und dann verhört Er sagte, wer er sei, wobei er sich als Reporter eines amerikanischen Wochenmagazins bezeichnete. Er sei von Afghanistan aus den Fluß hinuntergefahren. Plötzlich sei er dort unter Beschuß geraten. – Mit einer Brückensprengung habe er nichts zu tun. Man möge ihm aber bitte weitere Einzelheiten liefern, da seine Redaktion in Ne w York auf so was besonders scharf sei. Beinahe glaubten sie ihm. Auch als er versuchte, seine Wunden als Alligatorenbiß zu erklären, glaubten sie ihm noch. Es gab hin und wieder Alligatoren im Armudarja. Der KGB wollte die Verhöre schon abschließen und Collek zur Weiterbeförderung seinem Generalkonsulat übergeben, als einer der KGB-Agenten in Colleks Taschen etwas fand. Es handelte sich um ein Stück Draht, fingerlang, mit Kupferseele und roter Isolierung mit grüne n Markierungsringen. „Moment mal“, sagte der Verhöroffizier und verschwand. Nach wenigen Minuten kam er wieder und hatte ein anderes Stück Draht in der Hand. Allerdings war es ziemlich angeschmort. „Das fanden unsere Experten an der Sprengstelle der Brükke.“ „Dieses Stück Draht kam nicht durch Zufall in seine Tasche. Er hat es beim Abisolieren durchgekniffen und versehentlich eingesteckt.“ „Doktor“, befahl der KGB-Offizier, „bringen Sie uns diesen Mann zu klarem Bewußtsein und zum Sprechen. Egal wie Sie das machen. Wir müssen wissen, warum und in wessen Auftrag er die Brücke zerstörte.“ Sie versuchten alles. Aber Collek blieb bei seiner Erklärung. 122
Den Draht hätte er zufällig am Ufer gefunden. Und weil sie ihn so brutal fertigmachten, schaltete er auf stur und sagte kein einziges Wort mehr. Wenn nur diese fürchterlichen Schmerzen nicht gewesen wären. Schon seit Stunden verweigerten sie ihm das betäubende Morphium. 21. Der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, erwachte erst aus der Langzeitnarkose, als er tief unter sich das Rattern von Eisenbahnrädern über Schienenstöße hörte. Wie lange hatte er geschlafen? Vom Flug zur Grenze hatte er nichts bemerkt, auch nichts von der Verladung des Hubschrauber-Ungetüms auf die Spezialwaggons, was äußerst kompliziert war. – Es dauerte viele Stunden, bis man die Rotoranleger abmontiert oder eingeklappt hatte. – Nichts von alledem war in sein Bewußtsein gedrungen. Doch nun rollte der Zug. Es stank im Karnickelkäfig. Offenbar hatte der alte Ixfeld an Urbans Seite den Darm entleert. Aber er lag wach. „Mein Herzmittel!“ stöhnte er. „Ich komme nicht ran, Professor.“ „Dann sterbe ich.“ Urban lachte darüber. „Ein bißchen früher oder später, spielt das noch eine Rolle, Professor?“ „Ja“, sagte der Alte, „wenn man bedenkt, daß ich all mein Wissen, all meine Erkenntnisse weiterve rerben wollte. – Und noch einmal wollte ich Schnee sehen, Gänsebraten riechen, Orgelmusik hören. – Unsinn alles!“ „Stellen Sie es sich vor“, riet Urban ihm, „wenn wir mit Hilfe von TNT atomisiert auf die letzte Reise gehen.“ 123
„Atomisiert“, sagte der Alte, und nach einer Ar t Röcheln fuhr er fort: „Wissen Sie eigentlich, junger Mann, daß eine TNT-Explosion eine atomare Reaktion ist. Eine TNT-Bombe ist genaugenommen eine Atombombe, denn jede Sprengstoffreaktion ist stets ein atomarer Vorgang. Das, was wir allgemein unter Atomexplosion verstehen, ist eine Nuklearexplosion. Bitte den feinen Unterschied zu beachten. Unsere Sprache ist ja schon derart vergröbert, daß...“ „Unsere Psyche auch“, bemerkte Urban nebenhin. „Wie meinen Sie das?“ „Ihren pathologischen Haß zum Beispiel, meine ich.“ „Scheißkerl! Arschloch!“ murmelte der Alte und schwieg eine Weile vor Erschöpfung. „O, mein Herz!“ „Wenn Sie durch Ihre Mentalzünder diese Züge auf dem Rangierbahnhof einer Stadt hochgehen lassen, dann sind leider Sie der Scheißkerl, Herr Professor.“ „Es geht nicht um uns“, sagte der Alte. „Es geht um die Freiheit Afghanistans, um den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Verstehen Sie das nicht?“ „Paßt fein in Ihr Rachespiel, he?“ „Ja, das ist der Joker.“ Nun gab Urban es ihm. Er hatte es sich lange aufgespart. Vielleicht war es zu früh, vielleicht zu spät, vielleicht auch der rechte Moment. „Professor“, sagte er, „ich muß Ihr Rachegebäude einreißen.“ „Meinen Haß nimmt mir keiner.“ „Okay, die Russen mögen eine Teilschuld tragen, aber den anderen Teil der Schuld, den haben die Afghanen. Ich kannte Ihre Enkelin, Professor.“ „Wen?“ „Elena Ixfeld, die Tochter Ihres Sohnes Hermann, der anno zweiundvierzig geboren wurde.“ „Warum erfahre ich das jetzt erst?“ „Hätte es Sie interessiert? Aber jetzt, wo wir bald zum Hades 124
fahren, möchte ich es gerne noch loswerden.“ „Was ist aus meinem Sohn Hermann geworden?“ fragte Ixfeld sentimental. „Er trat in Ihre Fußstapfen. Er wurde ein begabter Ingenieur. Er baute einen Industrieko nzern auf, der Regel-, Meß- und Steuergeräte produziert. Damit beliefert er die Roboterfabriken der ganzen Welt. Außerdem stellt er selbst Roboter her.“ „Er müßte jetzt fünfzig sein“, flüsterte Ixfeld schwach. „Er starb leider.“ „Herz? Das schwache Herz ist ein Familienleiden derlxfelds.“ „Keine Ahnung.“ „Und wer leitet jetzt die Werke?“ „Ihre Enkelin, eine schöne, kluge und ungeheuer vitale Frau.“ Ixfeld hatte sich aufgerichtet. Er hatte jedes Wort verstanden und ließ sich jetzt entkräftet zurückfallen. „Wie schön. Was für eine wundervolle Nachricht.“ Urban wollte und konnte dem alten Mann den Rest nicht ersparen. „Elena leitete den ganzen Konzern. Sie kam zu mir und zeigte mir ein Foto. Das TV-Filmbild eines Straßenschildes in Kabul: Ixfield Street. Wir mußten etwas unternehmen. Unsere Ermittlungen liefen parallel zu denen der Amerikaner, die Mat Seaburg suchten.“ „Was macht Mat Seaburg?“ fragte der Professor neugierig. Er erinnerte sich also an seinen Assistenten. „Er wurde erstochen, wahrscheinlich von einem Afghanen mit einem Drachenzeichen am Arm.“ „Alles ehemalige Mitarbeiter von mir“, bemerkte der Alte. „Und meine Enkelin? Ist sie verheiratet, hat sie Kinder, ist die Nachfolge geregelt?“ „Leider nein.“ „Wieso nein?“ 125
„Auch sie ist tot“, berichtete Urban hart, aber zielstrebig. „Offenbar wagte sie sich in diesem Spiel zu weit vor. Es war ein Autounfall. Aber er wurde arrangiert. Wir nehmen an, daß sie ebenfalls vo n Afghanen getötet wurde. Von Ihren fabelhaften Freunden, für die Sie Massenmordinstrument e erfanden und lieferten, Professor.“ Der Alte war geschockt. Er atmete kaum noch und sagte lange nichts. Dann, ganz leise: „Mein Gott… falls es einen Gott gibt.“ Urban erwartete keinen Wink von oben. – Und er stellte sich auch nicht ein.
Der Zug rollte. In ihrem Karnickelkäfig zwischen den viertausend Tellerminen im Rumpf des Transporthubschraubers fiel nur wenig Licht. Es wurde Nacht, wieder Tag und wieder Nacht. Doch sie überstanden es. Und dann, irgendwann einmal, sagte der Alte: „Ich sterbe jetzt, mein Sohn.“ „Wer glaubt, daß er stirbt, der stirbt noch lange nicht“, erklärte Urban brutal. Dieser alte Sack, er war nicht mehr zu retten. Er glühte vor Haß. Er war schon völlig in seinen Haß eingesponnen. Und jetzt ging er wohl bald dahin. „Schönen Gruß an den Satan“, sagte Urban. Ixfeld begann schon zu lallen. Er hatte Mühe, seine Sätze auf die Reihe zu bringen. Vielleicht waren es seine letzten Gedanken, bevor es dahinging„Was glauben Sie“, flüsterte er kaum verständlich, „warum ich ständig das Lied vom schönen Westerwald singe?“ „Weil Sie ein wehmütiger seniler Sack sind, der diesen alten Song eben draufhat.“ 126
Ixfeld besaß noch die Kraft zu kichern, oder er fand Urbans Bemerkung ungemein amüsant. „Irrtum, Kleiner.“ „Warum dann, Großer?“ „Denken Sie, ich bin ein Idiot?“ „Ja“, gestand Urban, „ziemlich genau das.“ „Na schön, in gewisser Hinsicht mögen Sie damit recht haben. Aber der Westerwald hat eine andere Bedeutung.“ „Heimweh?“ „Falsch geraten. Eine völlig andere, eine für Sie unvorstellbare Bedeutung.“ „Welche? Machen Sie es nicht so spannend, Opa.“ „Etwa die gleiche Bedeutung wie Zet-Ypsilon-Ix auf Afghanisch“, murmelte der Alte, jetzt wieder erschöpft. „Verstehe ich nicht.“ „Wie sollten Sie auch. Sie sind ein noch größerer Idiot als ich. Wie kann ein Mann, der alle Sinne beisammen hat, so einen miesen Job übernehmen. – O verdammt, mein Herz!“ „Jammern Sie nicht.“ „Jetzt steht es still, mein Herz.“ „Wenn es stillsteht, merken Sie nichts mehr davon.“ Urban wartete, bis sich die Krämpfe bei Ixfeld gelöst hatten. Dann gab er das Stichwort: „Westerwald?“ Der Alte nickte. „Hundert Biozünder in den Tellerminen. Sie folgen alle einem Kommando.“ „Ich weiß, Serge Jaroff dirigiert seine Donkosaken. Stillgestanden, Augen zu, Anfangen mit Denken. – Aber intensiv bitte, Zet-Ypsilon-Ix.“ „Darauf ist jede einzelne meiner Biozellen programmiert.“ „Dachte ich mir schon. Das ist nichts Neues.“ „Allerdings codiert. Diese Zellen sind wie neugeborene Kin127
der, äußerst lernfähig. Man muß es ihnen nur beibringen, dann tun sie es unaufhaltsam. Die Gesetze der Biologie sind die unumstößlichsten der Erde. Zwar versucht man, sie jetzt durch Gen-Manipulation zu ändern. Aber man kann sie nicht ändern. Sie werden sehen. Am Eingriff in diese uralte genetische Ordnung, daran geht die Welt vo r die Hunde.“ „Westerwald“, kam Urban wieder zum Thema zurück, hartnäckig und zielstrebig, als erhoffte er sich davon noch irgend etwas. Mit den gefesselten Händen konnte er kein Zeichen geben, deshalb bewegte Ixfeld den Kopf. „Ich gab ihnen zwei Codes. Den Zündcode und den anderen.“ Urban verstand, wollte es aber genau wissen. „Wenn ich jetzt an den Todescode denke, machen Ihre Biozellen tik-tak, und alles geht hoch.“ „So ist es.“ „Und wenn ich Westerwald singe?“ „Deshalb sang ich ihnen immerzu den Westerwald vor, jeder Zelle einzeln. Bei Westerwald erfaßt sie eine Art Lähmung, eine Starre mit beginnender Selbstzerstörung.“ „Und wenn es nicht klappt, oder nur bei eine r einzigen?“ „Vertrauen Sie dem alten Westerwald-Barden Ixfeld“, sagte der Professor. Urban glaubte ihm nicht. Gewiß löste er die Sprengung dadurch vorzeitig aus. „Ich vertraue Ihnen nicht.“ Doch dann lieferte der Alte noch ein makabres Schauspiel. Mit letzter Kraft, wie ein Vogel, der den Frost einer Winternacht schon im Gefieder spürte und einen letzten Schrei von sich gab, krächzte Ixfeld sterbend das Lied vom Westerwald. Und Urban stimmte ein. Er sang, so laut er konnte, so laut, daß es über das ratternde Rollen der Räder hinwegschallte und bis in die hinterste Ecke des Hubschrauberladeraums drang. 128
Er sang es allein weiter, als Ixfelds Stimme ihn nicht mehr begleitete. – Der Alte war gestorben. Urban sang, bis ihn die Kraft verließ.
Die drei Munitionszüge, ein kilometerlanger Bandwurm mit soviel Waffen, daß man eine Armee damit ausstatten konnte, und mit soviel Munitionssprengstoff, daß er eine Großstadt mühelos in Schutt und Asche legte, fuhr langsamer. Er ratterte über Weichen, an Stellwerken vorbei in den Rangierbahnhof im Süden von Tashkent. Unterwegs waren die Munitionszüge immer wi eder abgestellt und angehalten worden, um schnellere Züge vorbeizulassen. Aber dieser Halt hier in Tashkent hatte einen anderen Grund. Alles, was von der Roten Armeegarnison auf die Beine zu bringen war, riegelte die Umgebung der Züge ab. Aber so, daß keine Maus durchkam. Eilig zusammengeholte Experten mit Meßgeräten nahmen sich jeden einzelnen Waggon, Kesselwagen und Tieflader vor. Jeder geladene LKW, Panzer, Späh wagen, Hubschrauber und Jeep, jede Kanone, jede Granate und Kartusche wurde untersucht. Sie machten es aufgrund der Aussage eines Sterbenden, eines Spions, Agenten, Terroristen, der ihnen gewisse Hinweise geliefert hatte. Niemand zweifelte an seiner Aussage, denn sie war mit Brutalität aus ihm herausgeholt worden. Mit einer Methode, bei der jeder Mensch zu lügen aufhört, weil nur die Preisgabe der Wahrheit ihn von seinen Qualen erlöst. Ordnungsgemäß, wie beim Militär üblich, ging alles der Reihe nach. Jeder der Züge bestand aus nahezu hundert Waggons. 129
Die Kontrolle jedes Waggons nahm eine halbe Stunde in Anspruch. Da man an mehreren Stellen gleichzeitig arbeitete, rechnete man für die Überprüfung der Züge insgesamt dreißig Stunden. Der gesuchte Waggon war sicher nicht der erste und nicht der letzte. Deshalb nahm man einen Mittelwert an. Der Transporthubschrauber auf den zwei zusammengekoppelten Tiefladern war etwa acht Stunden nach Beginn der Kontrollen an der Reihe. Die große Laderampe ging nicht zu öffnen. Also stiegen die Soldaten durch die Rumpftür ein und arbeiteten sich über und durch die Lattengestelle voller Minen. Um besser sehen zu können, forderten sie Handscheinwerfer an. Bis sie kamen, vergingen wieder Stunden. Endlich stießen sie auf einen mit Draht vergitterten Kasten. Nicht mit größter Phantasie war zu erkennen, was dieser Kasten hier zu suchen hatte. „Für mich ist das ein Karnickelstall“, sagte einer der Ingenieure. „Vorsichtig herausheben.“ Da dies nur möglich war, wenn man den Hubschrauber zur Hälfte entlud, dauerte es noch bis Mitternacht. Bevor sie den Karnickelstall auch nur einen Zentimeter bewegten, prüften Sprengstoffexperten, ob er nicht mit automatischen Zündvorrichtungen verbunden war. – Er war es nicht.
Das war zu jener Stunde, als der Kremlchef im Obersten Sowjet von Tashkent mit den Funktionären verhandelte, um im Nationalitätenstreit zwischen Turkmenen und Usbeken einen Bürgerkrieg zu verhindern.
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Die Russen holten mit dem Karnickelstall zwe i männliche Körper aus dem Helikopter. Der eine war tot, der andere fast tot. Den noch Lebenden brachten sie verhältnismäßig rasch wieder in Form. Dies mit allen Mitteln de r Intensiv-Medizin. Dafür sorgte schon ein gewisser Igor Krischnin, General in der KGB-Zentrale Moskau – und Urbans Freund. „Wie habt ihr uns gefunden?“ wollte Urban wissen, als es ihm wieder besser ging. „Durch den Hinweis eines US-Pionier-Colonels, der die Eisenbahnbrücke über den Armudarja sprengte und dabei schwer verletzt wurde.“ „Lebt er noch?“ „Nicht mehr so sehr.“ Sie stellten hundert Fragen. Eine davon lautete, warum Urban dies alles getan hatte. Warum er sich so eingesetzt und sein Lebe n riskiert hatte. „Nicht für den Weltfrieden“, antwortete Urban mit gewohntem Zynismus, „oder Menschenfreundlichkeit. Ich tat es, weil ich ungern jetzt schon sterbe. Ich bin ein egoistischer alter Knacker von einem Bastard. Ich habe nur den Drachen getötet. Versteht hr?“ Ihr Kopfschütteln bewies ihm, daß sie ihn ve rstanden hatten. – Oder auch nicht. ENDE
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