Eine Welt badet im Feuer... Unheimliche Monster wandern durch die Straßen, der Dämonenkult ist in einen mörderischen Wa...
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Eine Welt badet im Feuer... Unheimliche Monster wandern durch die Straßen, der Dämonenkult ist in einen mörderischen Wahn verfallen – der Gildenbund wird durch die Zwietracht der Gilden auf eine Zerreißprobe gestellt. Weil jeder nur noch an sich denkt, droht Ravnica zu zerbrechen. Doch in einer Stadt, in der die Geister der Toten sich nicht sofort verabschie den, ist es nicht immer eine Entschuldigung, tot zu sein... Cory J. Herndon schließt die atemberaubende Geschichte von Heldentum, Abenteuern und Betrug ab, die er in Rav nica: Stadt der Gilden begonnen hat.
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Zwietracht
Ravnica Zyklus · Band 3
Cory J. Herndon
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanno Girke
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. Dieses Buch wurde auf chlorfreiem, umweltfreundlich hergestelltem Papier gedruckt. In neuer Rechtschreibung. Deutsche Ausgabe herausgegeben von der Panini Verlags GmbH, Rote bühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten. Originalaus gabe: »Magic: The Gathering: Ravnica Cycle, Book III: Dissension« by Cory J. Herndon. First published by Wizards of the Coast in January 2006. Magic: The Gathering, Experience the Magic, and the Wizards of the Coast logo are trademarks of Wizards of the Coast, Inc., in the US and other countries. © 2006 Wizards of the Coast, Inc. All rights re served. Licensing by Hasbro Properties Group. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s). Übersetzung: Hanno Girke Lektorat: Patrick Niemeyer Besonderen Dank an Cristiano Scibetta von Hasbro Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Löffler Umschlaggestaltung: tab visuelle kommunikation, Stuttgart Cover art by Zoltan Boros und Gabor Szikszai Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Nerhaven Paperback A/S, Viborg, DK Printed in Denmark ISBN-10: 3-8332-1304-3 ISBN-13: 978-3-8332-1304-5 1. Auflage, Juli 2006 www.paninicomics.de/magic
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Widmung Für meinen Cousin Erik,
der mit mir zusammen
viele niemals veröffentlichte
Monstercomics erstellt hat.
Danksagungen Die folgenden tollen Menschen
haben dieses Buch erst möglich gemacht:
Susan J. Morris, Redakteurin;
Brady Dommermuth, Chef des Mogfc-Kreativteams;
Peter Archer, Leiter der Buchabteilung von Wizards of the
Coast; Matt Cavotta, kreativer Schreiberling bei Magic;
Jeremy Cranford, künstlerischer Leiter bei Magic;
Scott McGough, Besserwisser; die Erschaffer von Magic:
The Gathering in all seinen Inkarnationen ... und die Be satzung der Behemoth (1977–1979)
Besonderer Dank gilt: der unversenkbaren S. P. Miskowski;
dem unumwerfbaren Bayliss;
und dem unaufhaltsamen Remo.
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Kapitel 1
H
Besitz wird zu neun Zehnteln vom Gesetz geregelt – wir kümmern uns um das letzte Zehntel. Capobar & Partner sind darauf spezialisiert, verlorene Objekte wiederzube schaffen. Kein Auftrag ist zu klein, zu groß oder zu gefähr lich. Zufriedenheit wird garantiert. Gebühr verhandelbar, Beratung möglich (100 Zidos pro Tag plus Spesen). Schlotweg 15017, Innenstadt von Ravnica. Persönliches Treffen Bedingung. Spesen nicht verhandelbar. Ein jeder ist auf der Suche nach etwas! Schicken sie uns noch heute ei nen Falken zur Terminabsprache! Daueranzeige in Ravnicas Gildenbund-Zeitung
29. Cizarm 10012 Z. C. Der Meisterdieb Evern Capobar hatte schon seit fast zehn Jahren keinen Auftrag mehr persönlich ausgeführt. Der letzte hatte ihn in die Unterstadt von Alt-Ravnica geführt, wo er beinahe mehrere Körperteile an Devkarin-Banditen verloren hätte, bevor er schließlich doch mit einem ihrer wertvollsten Artefakte entkommen konnte. Die Stadtgrenzen von Ravnica hatte er sogar schon fast seit drei Jahrzehnten nicht mehr verlassen. Sein neuester Auftrag 6
hatte das Potenzial, noch seltsamer und noch gefährli cher als ein Ausflug in die Tiefen der Golgari-Gefilde zu sein. Aber Capobar war nicht sonderlich beunruhigt. Alle Aufträge waren auf die eine oder andere Weise seltsam. Auch wenn dieser hier nicht unbedingt sein Spezialgebiet war, denn es ging anscheinend nicht so sehr um das Stehlen, sondern eher um das Beschaffen einer Ware. Auch wenn es in der Anzeige, die er in der Zeitung laufen ließ, viel schöner umschrieben war: Normalerweise heu erte ein Kunde einen Meisterdieb an, damit dieser etwas stahl. Ob man das jetzt Wiederbeschaffung nannte oder nicht, war nicht sein Problem. Capobar hatte seine Leute für diese Art Geschäft, wobei die Definition des Wortes »Leute« hierbei etwas breiter zu fassen war. Doch bei diesem speziellen Auftrag war ver langt worden, dass er sich persönlich darum kümmerte, und zum Glück unterschieden sich die Voraussetzungen, die man als Schatzsucher brauchte, nicht unbedingt von denen eines Diebes. Capobar kannte sich auf beiden Ge schäftsfeldern aus. Als Hauptanteilshaber einer der erfolgreichsten unab hängigen Diebesgenossenschaften des Stadtkerns brauch te Capobar nur selten ein persönliches Risiko einzugehen und noch seltener die Stadttore zu durchschreiten, um in die Welt außerhalb der Stadt einzutauchen. Er war kein Feigling und hatte auch nicht besonders Angst um sein Leben, aber er war Realist. Er war nicht mehr so flink wie früher, und mit der Zeit hatte er es sich auch erlaubt, immer später ins Büro zu kommen. Noch mit über acht 7
zig Jahren war Capobar der beste Dieb des Viertels gewe sen, doch jetzt führte er die Bücher und alle Verhandlun gen, bei denen man dem Kunden von Angesicht zu Ange sicht gegenübersaß. In den letzten Jahren war dies mehr und mehr das Herzstück seiner Arbeit geworden, und immerhin würde er ja demnächst auch schon seinen 101. Geburtstag feiern. Zum Glück hatte er ein untrügliches Auge für Talent, weshalb es Capobar & Partner so gut wie damals ging – oder sogar noch besser –, als er die mei sten Aufträge noch allein abgewickelt hatte. Die Ausnahme waren diejenigen Klienten, die – aus welchem Grund auch immer – darauf bestanden, dass Capobar den Auftrag persönlich ausführte. Natürlich ko stete es extra, wenn der Meister das selbst übernahm, und für einen guten Preis und einen guten Kunden kam Capobar auch gelegentlich aus seinem BeinaheRuhestand zurück, um dem Auftrag seine persönliche Note zu geben. Er kannte immer noch ein paar Tricks, die er seinen Angestellten nach wie vor nicht beigebracht hatte. Mehr als nur einmal hatte er auch Aufträge über nommen, die besagte Angestellte betrafen. Auch Diebes ehre war ein dehnbares Wort. Diesmal war es noch etwas anders, auch wenn er sich hütete, dem Klienten das auf die Nase zu binden. Selbst wenn Capobars persönliche Beteiligung nicht gefordert gewesen wäre, hätte er den Auftrag wahrscheinlich trotz dem selbst ausgeführt. Man brachte es ohne eine gesunde Portion Neugier nie bis zum Rang eines Meisterdiebs, und dieser Auftrag hatte ihn neugierig gemacht. Zudem war 8
sein Klient einer der Gildenmeister. Und per Definition war er damit einer der zehn – oder neun, je nach Zählung – machtvollsten und reichsten Wesen in der ganzen Welt von Ravnica. Und bei der Bezahlung, die ausgehandelt worden war, passte sich Capobar den Gegebenheiten gern an. Dafür respektierte er die seltsamen Wünsche seines Klienten und reiste hunderte von Meilen aus seinem Revier in diese entlegene Sanierungszone. Er befand sich gerade im Brustkorb eines riesigen Ske letts. Die Überreste der riesigen Kreatur verbargen ihn gut vor möglichen neugierigen Blicken aus der immer noch sehr lebhaften Siedlung, und gleichzeitig gaben sie ihm einen Vorgeschmack darauf, was er in den Ruinen zu erwarten hatte. Die verkohlten Knochen waren die einzi gen Überreste des schweren Körpers, der vor drei Wo chen hier abgestürzt und verbrannt war. Eine halbe Meile weiter im Norden war ein ähnlicher Knochenhaufen zu sehen. Dort hatte der andere Drache seine letzte Ruhe gefunden. Doch so selten sie auch sein mochten, diese Skelette waren nicht sein Ziel. Die verrottenden und angefresse nen Knochen hatten für seinen Klienten keinen Nutzen und somit auch nicht für ihn. Es schien, als ob die Ein heimischen die Leichen angesteckt hätten, um ganz si cher zu gehen, dass keiner der beiden Drachen wieder zum Leben erwachte. Den schwarzen Qualm, der aus dieser Gegend in die Luft gestiegen war, hatte man bis in die Stadt riechen können, und in allen Zeitungen hatte 9
man auf der Titelseite lesen können, dass die Utvarer die Leichen in Brand gesteckt hätten. Für kurze Zeit hatte es die Befürchtung gegeben, dass mit dem Qualm auch die gefürchtete Kuga-Seuche in die Stadt ziehen könnte. Doch sofort hatte es Dementis von Simic-Biomagiern gegeben, die versicherten, dass keine Spur der Erreger mehr zu finden sei. Die Seuche schien ausgerottet zu sein, oder so ähnlich zumindest, weil ein anderer Simic der Bevölke rung ein Gegenmittel verabreicht hatte. Capobar war froh gewesen, das zu hören, obwohl er trotzdem Schutzklei dung und ein paar Heiltränen am Gürtel trug – nur für den Notfall natürlich. Er überlegte, die Schutzmaske hervorzuholen, weil der Qualm ihm bis in die Nasennebenhöhlen gestiegen war und dort brannte, entschied sich aber erst einmal dage gen. Sein Partner würde nicht mehr lange brauchen. Oder besser gesagt Mitarbeiter, denn der Schattengänger arbei tete für Capobar. Die Knochen hatten angefangen, sich zu zersetzen. Verfaultes, geliertes Mark tropfte aus ihnen heraus und verbreitete einen penetranten, metallenen Gestank. Ein Tropfen fiel aus der zehnten Rippe des toten Drachen und zischte, als er mit dem Gestein neben Capo bars rechtem Fuß verschmolz. Wenn er nicht einen so straffen Zeitplan gehabt hätte, wäre er sicherlich in die Versuchung geraten, etwas von der Substanz zu sammeln – es ließ sich sicher ein mächtiges Gift daraus herstellen. Und eine weitere Möglichkeit, um fast jedes Türschloss zu knacken, wenn einen der Geruch nicht störte. Aber sein Klient hatte ihn nicht angeworben und bezahlt, um Dra 10
chenknochen und ätzendes Mark zu beschaffen. Das, was sein Auftraggeber von ihm besorgt haben wollte, lag in der Mitte eines kesselförmigen, zerfallenen Gebäudes, das einst über einem brodelnden Vulkankrater errichtet worden war. Capobar zog sein schwarzes Hals tuch nach oben, um damit Mund und Nase zu bedecken, da der Gestank der verwesenden Knochen ihm zusetzte. Aber er wollte noch bleiben, bis sein Späher zurück war. »Der Weg zur Ruine ist sicher«, flüsterte eine Stimme ohne Körper hinter seiner rechten Schulter. Wie immer kam die Stimme ohne Vorwarnung – man konnte noch nicht einmal die Schritte der Schattengänger hören. Dies war einer der Gründe, warum sie so gut bezahlt wurden. Ein weiterer Punkt war die fast perfekte Unsichtbarkeit. Nur Schattengänger wussten, wie Schattengänger wirk lich aussahen. Obwohl Capobar über wirklich nicht we nige und in den meisten Fällen auch gut informierte Quellen verfügte, hatte er nie herausfinden können, ob diese Unsichtbarkeit eine Art Fähigkeit war, die zu diesen Wesen einfach dazugehörte, oder ob es sich nur um ei nen Menschen mit bemerkenswerten Tarnfähigkeiten handelte. »Gut gemacht«, flüsterte Capobar. »Keine Anzeichen für die Seuche?« »Das hätte ich gerochen«, antwortete der Schattengän ger. »Auch die Luft ist rein.« Der unsichtbare Schleicher machte eine Kunstpause. »Zumindest rein, was die Seu che anbelangt. Der Tod hat reiche Beute gemacht, und die Aasfresser haben noch nicht alles verschlungen.« 11
»Vielleicht sind die Aasfresser unter den Toten«, sagte Capobar. »Wenn du damit die Gruul meinst, dann gebe ich dir Recht. Sie sind unter den weiter entfernten Leichen zu finden. Viele von ihnen, dort in den Hügeln.« »Du redest so viel«, sagte Capobar. »Bist du etwa ner vös?« »Kaum«, antwortete die Stimme. »Darf ich fragen, wel che Anweisungen du für mich hast?« »Wir bleiben beim Plan«, antwortete der Dieb, der ver suchte, seine eigene Nervosität zu überspielen. Norma lerweise gehörte er nicht zu denen, die besonderen Wert auf Formalitäten legten, aber es war auffällig und etwas irritierend, dass es noch keinem der Schattengänger, die er bisher angestellt hatte, eingefallen war, ihren Arbeitge ber zu siezen. Capobar wäre wahrscheinlich sogar schon mit einem »Chef oder »Herr Capobar« zufrieden gewesen. Der Meisterdieb hatte drei Schattengänger in seinen Diensten (soweit er das sagen konnte – er konnte sie schlecht durchzählen, jedenfalls bezahlte er drei), aber persönlich hatte er bislang noch nicht viel mit ihnen zu tun gehabt. Er kannte noch nicht einmal den Namen des einen, mit dem er gerade sprach. Aber da er sie eh nicht unterscheiden konnte, war das auch nicht so wichtig. Schattengänger lebten in einem Zustand natürlicher Un sichtbarkeit. Es gab anscheinend ein paar Tricks, mit denen man sie sichtbar machen konnte. Aber denjenigen, die versucht hatten, sie mit Mehl oder Farbe zu besprit zen, war es schlecht ergangen. Soweit Capobar wusste, 12
konnte kein lebendes Auge sie ohne magische Unterstüt zung sehen. Sie verlangten immer Bargeld als Bezahlung. Geld, das sprichwörtlich aus seiner Hand verschwand. Capobar fragte sich, was sie damit machten. Wahrscheinlich mussten auch sie essen, aber was machten sie mit den übrigen Zidos? Die erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit der Schattengän ger war nur einer der Gründe, warum der Meisterdieb den unsichtbaren Helfer mitgenommen hatte. Von sei nem derzeitigen Standort aus am Rand der Huske konnte er die Leuchtkugeln von Utvaras Hauptstraße noch er kennen, die typischen Geräusche der nächtlichen Be säufnisse waren leise zu hören. Aus den Gruben in der Salzebene kam ebenfalls Lärm: Viele Bergleute arbeiteten rund um die Uhr oder bezahlten Wanderarbeiter, um Nachtschichten zu fahren. Zwischen Capobars derzeiti gem Standort und den Überresten des Kessels gab es we nig Deckung. Die Ebene war das größte Problem. Zwar wurde sie durch die Huske umringt und damit räumlich stark ein gegrenzt (und hinter der Huske dehnten sich endlose Meilen von Gebäuden aus), aber sie war immer noch groß genug. Vor langer Zeit war sie ein riesiger Platz gewesen, der mit Steinen und Ziegeln gepflastert gewesen war. Jetzt war nur noch Ödland übrig. Unter den Steinen warteten Schichten von aufgegebenen alten Zivilisationen, nach deren Schätzen die Schatzsucher in ihren verstreuten kleinen Minen suchten. 13
Sein Ziel saß genau in der Mitte der Ebene. Jeder, der zufällig hinschaute, konnte ihn irgendwann entdecken. Dagegen konnte er nichts machen, auch wenn er noch so viele Vorkehrungen traf. Capobar selbst hatte Unsichtbar keitsmagie nie getraut, denn sie konnte in ungeübten Händen recht gefährliche Auswirkungen haben. Daher war es unausweichlich, dass er sich eines Schattengän gers bediente. Er musste unter der Annahme arbeiten, dass er gese hen werden würde. Aber es stand im doppelt verzauber ten, dreifach unterzeichneten und nahezu nicht brechba ren Vertrag, dass er das Beutestück persönlich erlangen musste. Danach würde der Schattengänger den Gegen stand zurück in das Büro in der Stadt bringen. Selbst wenn der Auftraggeber ihn angeheuert hatte, das Zeug persönlich zu besorgen, hieß das noch lange nicht, dass Capobar es auch 300 Meilen weit zurück in die Stadt transportieren würde. Sein Erfolg hing von zwei Faktoren ab: Capobar musste schnell ans Ziel gelangen, und die Bewohner der Gegend durften nicht sofort reagieren. Den ersten Punkt hatte er sichergestellt, beim zweiten gab es ein Risiko. Sie durften ihn erwischen, wenn er wieder auf dem Weg aus dem Kessel heraus war, denn dann würde der Schattengänger längst mit der Beute in den Ausläu fern der Huske sein, auf dem Weg in die Stadt. Wenn die Übergabe wie geplant klappte, wäre das finanzielle Über leben von Capobar und Partner für die nahe Zukunft ge sichert. Und wenn die Auskünfte stimmten, die er einge holt hatte, strömten zurzeit viele neue Siedler in die Stadt. 14
Ein weiteres neues Gesicht würde kaum zum Stadtge spräch werden. Capobar vermutete, dass er aufdringliche Fragensteller damit abwimmeln konnte, dass er erst seit kurzem in der Stadt sei und ihn interessiere, was sich in den Ruinen verbarg. Gefährlicher als die Bergleute der kleinen Stadt waren die Gruul-Stammesangehörigen, die das zerfallende Hü gelland rund um die Ebene für sich beanspruchten. Seit der Schlacht vor ein paar Wochen war die Huske ihr Ho heitsbereich, offiziell von jenem Tag an bis in die Ewig keit. Allerdings hatte das Wort Ewigkeit verschiedene Bedeutungen, besonders wenn es in einem OrzhovVertrag verwendet wurde. Aber Capobar bezweifelte nicht, dass er die ganze Zeit von einem oder mehreren Gruul-Spähern im Auge behalten wurde, selbst wenn er gerade nur die Stadt, die Ebene, die Ruinen und den Hü gelring, der die ganze Region umschloss, betrachtete. Aber wenn ihn sein Instinkt nicht täuschte, würden die hiesigen Konstabler nur mit Lethargie auf einen einzel nen Mann reagieren, der sich nachts zum Kessel schlich, und den Gruul war es egal, was jemand in der Ebene machte. Wenn sie Interesse daran gehabt hätten, ihn daran zu hindern, hätten sie ihn schon längst abgefangen. Und wenn man auf das vertraute, was der Schattengänger berichtet hatte, konnten die Gruul sich momentan auch nicht um sehr viele Dinge kümmern. Solange er nicht den Fehler machte, auf dem Rückweg eine mögliche Abkür zung durch die Huske nehmen zu wollen, sollte er sicher sein. Ein Eindringen in ihr Gebiet würde aber wahr 15
scheinlich gleichbedeutend mit dem Ende seines Ausflugs sein, selbst wenn die Gruul nicht mehr viele Leute zur Verfügung hatten. Er zog die Mana-Brille, die er auf die Stirn geschoben hatte, wieder vor die Augen und berührte die Lichtbre chungskristalle ein paar Mal, um sich das gesamte Spek trum magischer Auren betrachten zu können. Die Dschinns und Elementarwesen des alten Magierfürsten hatten zusammen mit seinen Goblins die Gegend längst verlassen. Möglicherweise waren sie auch von denselben Bewohnern der Siedlung vertrieben worden, die auch die Drachenleiber verbrannt hatten. Auf der niedrigsten und der höchsten Einstellung glaubte er einen Schimmer über dem Pfad, der vor ihm lag, zu erkennen. Vielleicht war es ein leichter magischer Nebel? Das konnte man fast schon erwarten, nachdem hier vor so kurzer Zeit so viel Mana verbrannt worden war. Der schmale Streifen Farmland im Westen wirkte im Mondlicht grau, glühte aber durch seine Kristallbrille grün. Auch sonst zeigten sich einzelne Felder von Magie auf seinen Linsen – der rötliche Umriss eines Bergmanns in einem Arbeitsanzug, der mit einem Kraftzauber versehen war, der weiße Streifen, den ein Falke hinterließ, dessen Geschwindigkeit magisch erhöht worden war, und die olivgraue Mauer, die zwei Gebäude umgab, die wie Schlafsäle für Zombie-Arbeiter aussahen. Vor einem Monat noch hatte Capobar so gut wie nichts über Utvara gewusst. Es war für ihn nur eine Sanierungs zone gewesen, eine von vielen, die sich über die ganze Welt verstreuten. Es gab eine Menge solcher Orte, wo 16
eine alte, zerfallene Architektur längst vergangener Gene rationen dem Erdboden gleichgemacht und wieder Neues aufgebaut wurde. Das war eine Entwicklung, die schon längst zur Perfektion gebracht worden war, jedenfalls in der Theorie. Doch dann waren die Drachen aufgetaucht, und das hatte sogar in der großen Stadt für Schlagzeilen gesorgt. Zwei von ihnen waren aus den immer noch rau chenden Ruinen aufgestiegen, die jetzt gerade mal eine halbe Meile von ihm entfernt standen, hatten einander bekämpft und schließlich auch getötet. Die meisten Leute schoben die Schuld auf den Izzet-Magierfürsten, der das explodierte Kraftwerk und die umliegende Infrastruktur angelegt hatte, aber es hielt sich auch hartnäckig das Gerücht, dass irgendwelche verdammten Dummköpfe versucht hätten, auf den Drachen zu reiten. Capobars Auftraggeber behauptete, dass es ursprüng lich drei Drachen gegeben habe. Nur zwei hatten es aus dem Kraterkessel geschafft. Vielleicht war es nur Aber glaube, vielleicht aber auch Angst um die eigene Sicher heit: Die Ruinen des Kessels waren seit über drei Wochen nicht betreten worden. Die Bevölkerung schien keine Ahnung zu haben, welche Reichtümer sich in ihm befan den. Und vor allem schien die Orzhov-Baronin es nicht zu wissen, denn sonst wären sie schon lange nicht mehr hier. Seine Mana-Brille bestätigte ihm, dass sein Ziel immer noch auf ihn wartete. Es war von einer grellen blau orange Aura umgeben, die so hell leuchtete, dass er an den Einstellungen seiner Brille herumwerkeln musste, 17
um es genau sehen zu können. Capobar strich seinen Mantel glatt, als er aufstand und seine Beine streckte. Unwillkürlich zuckte er zusammen, weil seine Glieder beim Dehnen knackten. Er war in dunkle, einfache Gewänder gehüllt, die ihn nicht unbe dingt wie einen Meisterdieb aussehen ließen. Unauffällig keit war Trumpf, wenn er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Capobar drehte an seiner Mana-Brille her um, bis das durch die Lichtbrechung erzeugte Feld wieder im höheren Spektralbereich angelangt war und er den »Nebel« sehen konnte. Der Dieb zog seine Kapuze tief in die Stirn und ließ seine Finger im Handschuh knacken. Er drehte den Kopf über die Schulter nach hinten und flüsterte in die Rich tung, aus der er die Stimme des Schattengängers zuletzt gehört hatte: »Bleib zehn Schritte hinter mir, bis ich das Zeug habe. Der Austausch wird wortlos durchgeführt. Warte hinterher in meinem Büro auf mich, und lass es dir im Traum nicht einfallen, mir abzuhauen.« Den letzten Satz fügte er fast schon im Reflex hinzu, während er sich nach unten beugte und die Hände auf die Oberschenkel stützte. Die beiden identischen Tätowierungen dort wa ren Zauberzeichen eines Flinkfuß-Magiers, die er sich vor nicht allzu langer Zeit für viel Geld hatte einritzen lassen. Er hatte nicht mehr den Körper eines jungen Mannes und musste daher manchmal nachhelfen. Capobar flüsterte die Aktivierungsworte, und ein Schwall mächtiger Magie rauschte sofort in seine Muskeln, Knochen und in den gesamten Blutkreislauf. Diese magische Unterstützung 18
würde nicht lange anhalten, aber in vierundzwanzig Stunden würde er sie wieder anwenden können. Natür lich erwartete er nicht, dass er sie noch einmal benutzen musste. In vierundzwanzig Stunden hatte Capobar vor, gemütlich in seinem Sessel zu sitzen, Hyde-Wein zu trin ken und die Einnahmen dieses kleinen Abenteuers zu berechnen. »Mir drängt sich der Gedanke auf, dass du mich nicht anheuern solltest, wenn du mir nicht traust.« »Mir drängt sich hingegen der Gedanke auf, dass ich dich nicht fürs Denken bezahle«, erwiderte Capobar. Er zitterte kurz, bevor er einen kleinen Hüpfer machte, der ihn fast mit dem Kopf gegen eine der schwarzen Rippen schleuderte. Es dauerte immer ein paar Minuten, bis er sich an die Auswirkungen des Zauberzeichens gewöhnt hatte. »Ab hier sind die einzigen Gefahren fallende Felsbrocken und abkühlende Lava. Unter uns gesagt: Nach dem ich das hier nun gesehen habe, ergibt deine Bezah lung immer weniger Sinn. Der Weg ist frei, und Wachen scheint es nicht zu geben.« Er wippte etwas auf den Fü ßen, was ein Geräusch wie von einem Kolibri erzeugte. Ein wenig wirkte er auch wie ein Kolibri. Die magischen Tätowierungen sorgten dafür, dass ihn ein heftiges Ver langen überkam, fast wie ein starker Durst. Alles in Capo bar schrie förmlich danach, endlich loszurennen. »Selbstverständlich kann über meine Gebühr nicht nachverhandelt werden«, flüsterte der Schattengänger. »Natürlich«, sagte Capobar. »Dein Lohn ist der gleiche wie immer. Und«, fügte er hinzu, bevor der Schatten ant 19
worten konnte, »deinen Bonus bekommst du hinterher im Büro.« In seinem beschleunigten Zustand bemerkte Capobar, wie der Nebel um ihn herum langsam Gestalt annahm. Eine Sekunde später bebte der Boden und warf ihn um. Der dazugehörige Krach klang, als hätte ein riesiges Wesen aufgestampft. Das Beben fühlte sich wie eine un terirdische Explosion an. Capobar rollte sich ab und rap pelte sich auf. Er warf rasche Blicke in alle Richtungen und erwartete, wenigstens irgendetwas zu erspähen. Er schaffte es, auf den Beinen zu bleiben, als der zweite »Schritt« kam, und es dämmerte ihm, warum es nichts zu sehen gab. Was auch immer diese gewaltigen Schritte verursachte, »ging« oder wälzte sich unter dem Boden, auf dem Capobar stand. Es klang riesig, und es klang, als wollte das Wesen nach oben. Capobar schob seine Mana-Brille wieder auf die Stirn. Das magische Feld blendete ihn. Was auch immer da unten war – es versprühte Mana in die Luft, durch blan ken Fels. Ein weiteres donnerndes Beben erschütterte in unmittelbarer Nähe den Boden und erzeugte diesmal einen Riss in den Steinen. »Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Deine Gebühr er gibt mit jeder Sekunde mehr und mehr Sinn«, murmelte er und wiederholte es dann etwas lauter, damit der Schat tengänger ihn auch sicher gehört hatte. »Aber es kommt nicht infrage, dass ich mich mit leeren Händen auf den Rückweg mache. Bist du noch da?« 20
»Ich frage mich, warum wir noch warten«, sagte der Schattengänger. »Warum wir noch ...«, begann Capobar, aber ein viertes Beben schnitt ihm das Wort ab. Die Fläche im Boden, die jetzt mit Rissen durchzogen war, hatte annähernd Kegelform. »Auch egal. Lassen wir uns davon nicht ablenken. Los geht’s.« Capobar schoss genau in dem Moment los, als der bis lang größte Stoß von unten die Ebene erschütterte. Mit jedem seiner beschleunigten Schritte überbrückte er gut zwölf Meter. Als sich eine große Steinplatte vor ihm an hob und eine Art Rampe bildete, benutzte er die Bewe gung des Steins, um sich hoch in die Luft schleudern zu lassen. Er riskierte einen Blick nach unten, während er schneller als das Geschoss eines Knallstabs über die Mitte des Risses in der Erde hinwegflog. In der Mitte des Spalts erschien ein einzelnes gelbes Auge, dessen Pupille wie die einer überdimensionalen Katze wirkte. Das Auge blinzelte ihn kurz an, und der seltsame Blick traf Capobar mit einer spürbaren Welle der Bosheit. Es erinnerte Capobar an einen Schlag, der einem alle Luft raubte, nur dass dieser Blick direkt die Seele traf. Er vergaß dadurch, sich abzurollen, als er auf der anderen Seite des sich gerade bildenden Kraters landete. Nur dank den schnellen Reaktionszeiten, die er durch die Zauber zeichen hatte, kam er nicht ins Straucheln, sondern spur tete weiter, ohne sich etwas zu brechen. Er schaute nicht zurück und rief auch nicht nach dem Schattengänger. Capobar rannte, so schnell er konnte, auf den Kessel zu. 21
In einer Ecke seines Gehirns summierte er bereits astro nomische Gefahrenzulagen, die er auf die Spesenabrech nung setzen würde. Als er etwas Abstand gewonnen hatte, drehte sich der Meisterdieb mitten im Spurt um und lief rückwärts wei ter. Seine Füße verschwammen vor Geschwindigkeit fast in der Luft, und der Wind drückte seine Kapuze hart in den Nacken. Er setzt die Mana-Brille wieder auf und such te nach dem Schattengänger. Er spielte an der Einstellung der Brille herum, bis er den geisterhaft bläulichen Umriss seines Mitarbeiters entdeckte, der neben ihm den Weg entlangsprintete. Hauptgrund Nummer eins, warum Ca pobar so viele Zidos für dieses Ausrüstungsstück bezahlt hatte: Auch Unsichtbarkeit hängt vom Auge des Betrach ters ab. Dank der Mana-Brille konnte er seine ganze Truppe im Auge behalten, auch die Schattengänger. Ein willkommener Nebeneffekt der magischen Brille war, dass sie es ihm einfacher machte, das hasserfüllte gelbe Auge anzuschauen. Es ruhte auf einem Strang lan ger, schuppiger Tentakel und hatte sich aus dem Krater geschoben. Die gefleckten Stränge umklammerten das Auge wie einen Gummiball und drückten es mal in diese, mal in jene Form, soweit er das durch die Unschärfe der Brille sehen konnte. War es in Wirklichkeit vielleicht gar kein richtiges Auge? Vielleicht eine Art Tarnung? Aber brauchte etwas dieser Größe eine Tarnung? Die Kreatur selber verursachte ihm keine Bauch schmerzen, solange sie dort blieb, wo sie jetzt war. Das Beben schien aufgehört zu haben, und das Auge, das 22
vielleicht gar kein Auge war, begnügte sich damit, ihm beim Wegrennen zuzuschauen. Die Haare in Capobars Nacken sträubten sich beharrlich, aber solange das We sen nur beobachtete, würde er den ursprünglichen Plan nicht ändern. Was auch immer dieses Ding war – das Nachtleben von Utvara war davon unbeeindruckt geblie ben, und es war auf jeden Fall kein weiterer Drache. Ob wohl es von der Siedlung aus gut zu sehen war, schien dort niemand besonders beunruhigt zu sein. Das fröhli che Zechen unter den Leuchtmasten ging weiter, und die Maschinen der Bergarbeiter gruben weiter Löcher in die Erdoberfläche. Dem Meisterdieb war bewusst gewesen, dass es hier draußen Monster gab, aber es überraschte ihn doch, dass sie so groß waren. Aber wenn sich die Einheimischen nicht daran störten, dann sollte es auch ihm egal sein. Das Ding konnte ihn eh nicht fangen, selbst wenn es das gern wollte. Allerdings würde es später als Erklärung für alles dienen können, falls er sich rechtfertigen musste – neu in der Stadt, Angriff des Monsters, Unterschlupf im nächstbesten Gebäude gesucht, selbst wenn es eine rau chende Ruine war. Der flinkfüßige Meisterdieb benötigte nur wenige Mi nuten, um an den Kessel heranzukommen. Die Hitze und der Qualm wurden so intensiv, dass sie fast greifbar wa ren. Capobar zog sein Halstuch wieder vor Nase und Mund. Der Schweiß tropfte ihm nur so von der Stirn. Der Ort war zwar eine Ruine, aber eine Ruine, die auf einem aktiven geothermischen Schlot saß. Außer der hohen 23
Temperatur schien nichts zwischen ihm und seinem Ziel zu stehen. Das war ja immerhin etwas. Er atmete ein paar Mal langsam durch, als der Flink fuß-Effekt langsam nachließ. Die Magie war zwar nütz lich, aber sie hielt nicht lang an. Er sah mit Erleichterung, dass der Schattengänger mit ihm Schritt hielt. Anscheinend hatte es früher zwei Haupteingänge in den eingestürzten Kegel gegeben, der von dem riesigen Kesselprojekt des Izzet-Magierfürsten übrig geblieben war. Durch einen von beiden konnte man immer noch ins Innere der Ruinen kommen – Capobar konnte das aus der Art und Weise erkennen, wie die magische Aura sei nes Ziels heller unter dem Umriss eines gewölbten Tor bogens glühte. Ohne ein Geräusch zu machen, schlüpfte er zwischen den Steinen und Felsen hindurch, die den Eingang vor dem Rest der Ebene verbargen, und betrat das Gelände des ehemaligen Kraftwerks. Als er einen Blick auf das Innenleben der Ruine werfen konnte, schluckte er die Warnung, die er schon auf den Lippen hatte, schnell herunter. Wenn ihn sein Auge nicht trog, konnte bereits ein lautes Wort zu einem von zwei möglichen Ereignissen führen, und keines davon war wünschenswert. Zum einen bestand die Gefahr, dass das ganze Gebäude, das sich langsam immer mehr neigte, endgültig einstürzte. Überall lagen Metallstränge und zerbrochene Steinblöcke herum. Die Lava, die den Ort so heiß und feucht wie einen Dschungel machte, erleuchtete alles in einem matten orangefarbenen Licht. Eine riesige 24
Plattform, die ihn irgendwie an einen überdimensionalen Platzteller erinnerte, hing an einer Ecke noch an einem Metallkabel, während die gegenüberliegende Ecke in den unzweifelhaft zerschmetterten Überresten eines riesigen Eies ruhte. Auf der Oberfläche der Scheibe waren seltsa me geometrische Muster erkennbar. Capobar war überrascht, dass er und der Schattengän ger nicht allein in der Ruine waren. Zu seiner Erleichte rung waren sie noch nicht entdeckt worden. Das zweite mögliche Ereignis, und für ihn inzwischen das wahr scheinlichere, wäre Tod durch ein Monster. Ein paar Drehungen an der Mana-Brille zeigten ihm, dass dieser Riese eine Art magische Verwandtschaft mit dem Tentakelaugen-Wesen unter der Straße hatte. Es war riesig, aber bei weitem nicht so groß wie das Drachenske lett – vielleicht so groß wie zwei größere Heuwagen, die aufeinander gestapelt waren. Aber der Riese könnte ihn ohne Problem in einem Stück hinunterschlingen. Sein Körper ähnelte einem Käfer, hatte aber weder Panzer noch Flügel. Die Haut war erschreckend menschenähn lich, rosa und fleischig. Das Wesen hatte einen langen Schweif und ein flaches Gesicht voller Zähne, in dem keine Augen zu erkennen waren. Es stand auf vier mus kelbepackten Beinen, die in einer Parodie menschlicher Arme ausliefen. Es bewegte sich auf seinen Hand-Beinen langsam vor und zurück, während sein Maul sich in et was versenkte, das doppelt so groß wie das Monster war – ein zerschmettertes Ei. Leider bedeutete das auch, dass der augenlose Kopf 25
des Wesens bis zur Nase tief im hellen Glühen von Capo bars Ziel steckte. Zum Glück war es ein riesiges Ziel, und mit etwas Glück konnte er trotzdem vermeiden, entdeckt zu werden. Das Monster schien ganz in sein Festmahl vertieft zu sein. Die Gruul nannten solche Wesen »Nephilim«, aber das war eher eine generelle Bezeichnung für riesige, norma lerweise gefährliche Mutationen, die von Zeit zu Zeit aus Höhlen in der Huske hervorkamen. Sie waren normaler weise so groß wie ein Güterwagen, auch wenn die GruulStämme behaupteten, dass sie früher bis in den Himmel geragt hätten und gottgleich gewesen seien. Auch waren die Gruul nicht die Einzigen, die das glaubten, aber es war nun einmal ihre Bezeichnung für die Wesen, der sich durchgesetzt hatte. Solche Monster waren sowohl in den Geschichts- als auch in den Märchenbüchern von Ravnica immer wieder vorgekommen, aber nur noch in wilden Gebieten wie Utvara konnte man auf sie treffen. Die Gruul glaubten zudem, dass die Nephilim unsterblich seien, aber Capobar gehörte nicht zu denjenigen, die solche Behauptungen einfach glaubten. Magie war Magie und konnte seltsame Sachen bewirken, aber vor allem war Magie ein Werkzeug. Dinge lebten, Dinge starben, manchmal hingen sie nach ihrem Tod noch etwas herum – aber er war sich ziemlich sicher, dass nichts für immer lebte. Da war es egal, wie magisch es war. Noch nicht einmal die Engel waren noch zu finden. Zwar konnte niemand sicher sagen, ob sie tot waren, jedenfalls waren sie irgendwie verschwunden. Jeder wusste das. 26
Der Nephilim schlurfte auf Capobar zu, um an einen anderen Teil seiner Nahrung zu kommen. Der Dieb duck te sich hinter einem bizarr aussehenden Stück Schrott von der Größe eines Dromads, das früher einmal eine Ansammlung von blank polierten Izzet-Apparaturen ge wesen war. Wenn Capobar sich von der anderen Seite an das zer störte Ei heranschlich, konnte er es immer noch schaffen, das Zeug zu besorgen. Er konzentrierte sich darauf, sich lautlos zu bewegen, und schlich um den wackelnden Körper des Nephilims herum. Der Geruch nach faulen Eiern stieg ihm in die Nase. Der Nephilim roch so schlecht, wie er aussah, aber im Vergleich zu den verrottenden Drachenknochen war es fast eine Wohltat. Jedenfalls war es unwahrscheinlich, dass die persönliche Duftmarke dieses Nephilims einem die Nasenlöcher und den größten Teil des Gesichts dau erhaft beeinträchtigen würde. Da Capobar seine Augen so fest auf das Monster ge richtet hatte, stolperte er beinahe über die Leiche eines Goblins. Hier und da lagen ein paar schlaffe Körper her um: Arbeiter, die es nicht mehr geschafft hatten, rechtzei tig herauszukommen. Es war seltsam, dass der Nephilim den Goblin nicht angerührt hatte. Capobar hatte ange nommen, dass die Goblins für die Kreatur genau in Häppchen-Größe gewesen wären. Vielleicht waren sie ja zu weich gekocht. Ein vorsichtiger, leiser Sprung trug ihn über einen Riss im Boden, aus dem Lava herausbrodelte, die dann abkühlte. 27
Capobar stieß beinahe mit einem zweiten Nephilim zu sammen, der ziemlich genau das Gleiche wie der erste tat. Größere Teile zerbrochener Gerätschaften und die steinige Lavakuppel, die dem Ei als Nest gedient hatten, hatten das zweite Monster verborgen. Dieses Wesen war eher schlangenartig und hatte einen röhrenförmigen, gewundenen Körper, der mit Schuppen in allen Farben besetzt war. Dazwischen schimmerten die gleichen rosi gen Hautfetzen durch, die er auch an den anderen beiden Nephilim gesehen hatte. Es war unmöglich zu sagen, wie lang die Kreatur tatsächlich war, da sie auf mehreren Windungen ruhte. Ihr Kopf und Oberkörper waren zu sammengewachsen, und auch dieses Wesen hatte einen Körperteil, der frappierende Ähnlichkeit mit dem von Menschen hatte. Zwei menschenähnliche Arme mit Klau en an den Händen zwickten kleine Stücke Drachenfleisch aus der stählernen Eierschale heraus und stopften das Fleisch in ein kleines Maul, das von silbernen Zähnen umringt etwa in Höhe des Bauchnabels der Kreatur saß. In der Mitte des blockartigen Oberkörpers des Nephilims saß ein einzelnes gelbes Auge, das eindringlich auf das Fressen starrte. Das Wesen erinnerte Capobar etwas an die fliegenden Schlangen, die die Simic zur Feier der Zehntausendjahresfeier freigelassen hatten – und gleich zeitig auch an einen Zentauren, der nur aus Schwanz und Auge bestand. Die zweite fressende Kreatur schenkte Capobar nicht mehr Aufmerksamkeit als die erste. Die Überbleibsel des Eies waren wohl ein ziemliches Festmahl – zumindest 28
wenn man eine seltsame mutierte Verschmelzung ver schiedenster Wesen war. Er hoffte nur, dass sie genügend übrig lassen würden, damit er seinen Auftrag erfüllen konnte. Er merkte, dass sein Herz raste, und zwang sich, daran zu denken, wer er eigentlich war. Evern Capobar war der Meister. Ein Meister zumindest. Gut, hier waren Monster. Große Monster. Aber hatte ihn das früher gestört, wenn er um ein oder zwei Monster hatte herumschleichen müs sen? Eine ungeschützte Seite des Eies war immer noch frei. Er musste also nur unbemerkt um das zweite Monster herumkommen, dann wäre er auch wieder aus dem Blickfeld von beiden verschwunden. Sorgsam umrundete er die zuckende Schwanzspitze und einen weiteren ver trockneten Goblinkörper und riskierte dann einen Blick. Die Klauen des einäugigen Schlangenwesens zerfleisch ten immer noch das Drachenfleisch in Häppchengröße. Eine der Klauen schlug nach dem ersten Nephilim, der daraufhin knurrte. Die beiden Kreaturen machten mit den Überbleibseln der Drachentotgeburt kurzen Prozess. Capobar hob eine Hand, um dem Schattengänger ein Signal zu geben. Wenige Sekunden später erschien ein silberner Zylinder, der ungefähr die Länge und den Durchmesser seines Arms hatte, wie aus dem Nichts mit ten in der Luft und senkte sich in seine ausgestreckte Hand. Aus seinem eigenen Gepäck holte der Dieb eine scharfe Hohlnadel hervor und schraubte sie am einen Ende des Zylinders fest. Dann reckte er das zum Werk 29
zeug umgestaltete Gefäß über seinen Kopf wie ein Soldat, der seinen Gegner aufspießen wollte. Capobar war noch nie ein unnötiges Risiko eingegan gen. Wäre er geschnappt worden, bevor er es geschafft hatte, den Kessel zu betreten, wäre es nicht einfach ge wesen, zu erklären, warum er das Gerät bei sich hatte. Die fressenden Nephilim hatten von den ganzen Vor bereitungen nichts mitbekommen. Aber sie waren den noch nicht ganz unbemerkt geblieben. »Menschenwesen«, grollte eine Stimme, und der Dieb ließ beinahe seine zusammengebaute Spritze fallen. Die Stimme schien – nein, sie kam definitiv aus dem Ei. Capobar wartete eine Sekunde, bevor er antwortete. »Ja?« »Menschenwesen«, sagte der Drache. Seine Stimme war unnatürlich dunkel und verursachte am ganzen Leib des Meisterdiebs ein Schaudern. Doch selbst Capobar, der nie in seinem Leben einen lebendigen Drachen gesehen hatte, war klar, dass dieser Drache unglaublich schwach war. Der Dieb bezweifelte, dass die Stimme bis zu den Ohren der Nephilim getragen wurde, und erst recht nicht bis außerhalb der Ruinen des Kessels. Und warum sollte der Drache nicht schwach sein? Er wurde immerhin ge rade bei lebendigem Leib gefressen. Eines musste Capobar seinem Klienten lassen. Dieser hatte ihm erklärt, dass der genaue Zeitpunkt für die Ge winnung überaus wichtig war, und es schien, als hätte der Dieb genau den richtigen Moment erwischt. Die Extraktion hatte vor dem Tod des Drachen zu geschehen, 30
aber vorzugsweise genau vor dessen Tod, so hatten die Anweisungen gelautet. Er fragte sich, ob sein Klient von den Nephilim gewusst hatte. Oder hatte er sie sogar ge schickt? Capobar war sich sicher, dass ein Gildenmeister – und besonders dieser eine – solche riesigen, wenn auch dummen Kreaturen beeinflussen konnte. Der Dieb hatte erwartet, dass der Drache noch am Le ben war. Sonst hätten die Anweisungen keinen Sinn er geben, und er hätte sich nicht hermühen müssen. Aber er hätte nie im Leben gedacht, dass das Vieh zu ihm spre chen würde. »Ich bin der Mensch«, flüsterte Capobar in die Dunkel heit im Inneren des zerstörten Eies. Er tastete sich leise einen Schritt vorwärts und spähte tiefer in die Eierschale hinein, wo er den Umriss einer reptilienähnlichen Schnauze ausmachen konnte. Ein undeutlicher roter Kreis erschien in den Schatten. Das Auge zwinkerte sehr langsam einmal. Das Ge räusch dabei erinnerte Capobar an Sandpapier, das ge geneinander gerieben wurde. »Du kannst mich hören«, keuchte der Drache. Selbst während das Wesen sprach, konnte Capobar noch die Geräusche der Nephilim hören, die es auseinander rissen. Er war froh, einen leeren Magen zu haben. »Du verstehst mich.« »Ja«, flüsterte Capobar. »Mir wäre es aber ganz recht, wenn die beiden da drüben es nicht mitbekämen. Kannst du etwas leiser sein?« Falls der Drache ihn gehört hatte, ignorierte er die Bit 31
te. »Du wirst mich töten«, sagte er. Wie Capobar es auch drehte und wendete, es klang nicht wie eine Vorhersage. Die Aussage war ein Befehl. Ein Befehl, allerdings mit dem deutlichen Unterton einer dringenden Bitte. »Du willst sterben?«, fragte Capobar. »Du wirst mich töten«, antwortete der Drache. Er wank te noch nicht einmal, als das schlangenartige Wesen eine seiner Rippen herausriss. »Das werde ich«, sagte Capobar. Er hob die Spritze. »Das wird aber etwas wehtun ...« Sein Mund blieb ihm offen stehen, als sich das rote Auge auf ihn richtete und er einen Hauch Verärgerung darin lodern sehen konnte. Er fühlte sich einer genauen Musterung unterzogen. »Es ist mir egal, wie du es machst, aber mach es end lich«, keuchte der Drache. »Es ist keine Zeit zu verlieren.« »Könntest du gerade mal ...«, begann Capobar und zog eine Grimasse. »Tut mir Leid – ich tue dir einen Gefallen, also könntest du mir auch etwas helfen. Es würde alles viel schneller und leichter gehen, wenn du deinen Nak ken etwas entgegenstrecken würdest, ja? Deinen Kopf etwas herausschieben.« Wiederholtes heiseres Keuchen ertönte aus dem zer störten Ei. Der Drache schien zu lachen. »Du bist klein. Du kannst es nicht erkennen. Ich bin hier gefangen. Mein Rückgrat ist zerstört oder weg. Mein Fleisch wird mir von den Rippen gerissen und dann aufgefressen. Mein Kopf bewegt sich überhaupt nicht mehr, Häppchen.« Nun, das kann ich nachvollziehen, dachte Capobar. Er 32
versuchte zu ignorieren, dass er gerade als »Häppchen« bezeichnet worden war. Er wandte sich im Flüsterton wieder dem Drachen zu. »Dann brauche ich dich wohl auch nicht zu bitten, kurz stillzuhalten.« Er klemmte sich die riesige Spritze unter den Arm. Mit vorsichtigen Schrit ten schlich er über die gezackten Splitter der Eierschale und durch ein Vermögen an getrocknetem Drachenblut, bis er die riesige Plattform erkennen konnte, die auf den Drachen gestürzt war. Das rote Auge befand sich jetzt direkt vor seinem Gesicht. »Worauf wartest du?«, keuchte der Drache drängelnd. »Ich muss nur schauen, dass ich die richtige Stelle tref fe. Die Drüse ist genau ... dort«, sagte Capobar, als er die Nadel ausrichtete und exakt über dem riesigen glühenden Auge in den Drachenschädel rammte. Er stemmte einen Fuß gegen eine Klampe, die seitlich an dem Zylinder be festigt war, und zog mit voller Kraft am Kolben der Sprit ze. Nach ein paar Momenten, in denen sich sein Rücken so alt anfühlte, wie er tatsächlich war, konnte er durch ein gläsernes Sichtfenster im Zylinder erkennen, dass die Spritze mit einer dicken gräulich roten Substanz gefüllt war, die man nicht mehr unbedingt als flüssig bezeichnen konnte. Nachdem er den Kolben bis zum Anschlag he rausgezogen hatte, glitt die Spritze geräuschlos wieder heraus. Capobar schraubte die Nadel ab und verstaute sie in seinem Rucksack, bevor er den improvisierten Behälter mit einem Korkstopfen verschloss. Er klemmte sich den Zylinder wieder unter den Arm – solange der Stempel bis zum Anschlag herausragte, war dies die einzige Möglich 33
keit, die kostbare Ware zu transportieren.
»Danke«, sagte der Drache und starb.
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Der Schattengänger war bereits verschwunden, um Ca pobar am Rand der Ruinen zu treffen. Der Meisterdieb glaubte die Geräusche von Dromadhufen zu hören, die sich aus Richtung der Siedlung näherten. Anscheinend schien jemand zu kommen, um nach ihm zu schauen. Das riesige Auge am Stiel war dafür nirgendwo zu sehen. »Jetzt?«, fragte der Schattengänger hinter Capobars Schulter, als der Dieb am Treffpunkt ankam. »Ja«, nickte Capobar und streckte seinem unsichtbaren Mitarbeiter den Behälter mit der kostbaren Füllung ent gegen. Eine unsichtbare Hand ergriff den Zylinder, der daraufhin verschwand. »Ich sehe dich dann im Büro«, fügte er hinzu. »Plan schon mal mit ein, mich zum Tref fen mit dem Klienten zu begleiten. Ich könnte ein biss chen Rückendeckung brauchen.« »Das ist wahr«, sagte die Stimme. Dann spürte Capobar, wie etwas Eisiges gegen seinen Oberkörper drückte. Ein kleiner Kältestich direkt über seinem Herzen ließ ihn zurückstolpern, und er bemerkte, wie er von einem zweiten Paar starker, unsichtbarer Ar me aufgefangen wurde, bevor er nach hinten umkippen konnte. Er wusste, dass er sich nie mit Schattengängern hätte einlassen sollen. Sie waren einfach zu ... zwielichtig. 34
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Die Nephilim fraßen stundenlang. Aus den beiden, um die Capobar herumgeschlichen war, wurden drei. Aus drei wurden vier. Als der fünfte Nephilim sich dazugesellte, war im Kessel nicht mehr genügend Platz für alle. Ihre Körper hörten nicht auf zu wachsen, daher versiegte ihr Hunger auch nicht. Jeder von ihnen war einzigartig. Einer sah aus wie ein lebender Fels, ein Stück Hügel auf drei Krabbenbeinen. Der Kopf einer antiken Statue schwebte über seinem Schwerpunkt, was einerseits an der magischen Natur des Nephilims lag – und andererseits daran, dass er während seines letzten vierhundertjährigen Schlafs zu sehr nach einem Hügel ausgesehen hatte. Der nächste ähnelte einer sechsbeinigen Kreuzung zwischen einem Salamander und einem aufgedunsenen Fisch: Er schien nur aus Ar men, Beinen und Schlund zu bestehen. In der knollen förmigen Kehle der Bestie zappelten unzählige Miniatur ausgaben von ihr, von denen einige herausschlüpften und auf den Boden hüpften. Bald waren sie verschwun den, auf der Jagd nach fliehenden utvarischen Bergleuten. Schließlich kam auch noch der Buddler an – das Monster, das auf seinem Weg zum Kessel am Rand der Huske die Erde aufgerissen hatte und Capobars Auftrag beinahe frühzeitig beendet hätte. Jetzt, wo sein ganzer Körper zu sehen war, musste man es als eine Kreuzung zwischen einer Qualle, einem Kraken und einem seltsamen Baum bezeichnen, die auf Tentakeln ruhte. Auf kleineren Aus 35
wüchsen saßen mehrere Augen – eines davon hatte Ca pobars Flucht beobachtet. Die Kreatur nutzte die Zacken an ihren zuckenden Armen, um Fleischbrocken abzurei ßen, aufzuspießen und zwischen lichtempfindliche Au genhöhlen zu stopfen. Dort wurde die Nahrung direkt von einem Organ verschlungen, das es in vergleichbarer Form in ganz Ravnica nicht gab: eine Kombination aus Gehirn und Magen. Das Wesen konnte in jede Richtung und in sieben Dimensionen sehen. Am Anfang war genügend Nahrung für alle da, und alle fünf Monster waren zufrieden. Dann änderten sich die Dinge. Der vierbeinige Nephilim, der wie ein herumlaufendes Maul mit Schwanz aussah, bemerkte als Erster, dass sein Körper gegen die verbliebenen Innenwände der Ruine drückte. Nur wenige Minuten später zerfielen die restli chen Wände des Kessels zu Trümmern. Mit einem kräfti gen Hieb seines Mauls riss das Röhrenschwanz-Monster den letzten größeren Bissen Drachenfleisch vom Gerippe und schlang es in einem Stück hinunter. Dann schickte es ein lautes Gebrüll in den Nachthimmel. Die anderen hiel ten mit ihrem schrecklichen Gebrüll dagegen. Der Boden erbebte, als die riesigen Wesen einander umkreisten, um in eine gute Position zu kommen, aus der sie den Rest des Drachen für sich beanspruchen konnten. Sie waren alle hungrig bis zur Schmerzgrenze, und sie waren alle gleichzeitig Raubtier sowie potenzielle Beute. Ihre Körper wuchsen mit alarmierender Geschwindig keit weiter, auch als sie ihre Ernährung von Drachen 36
fleisch auf frisch gefangene Bergleute aus der Ebene um stellten. Je größer das Raubtier, desto größer sein Revier, so sagten die Gruul. Vom Drachen war nichts mehr übrig, daher mussten die Nephilim ihr Jagdrevier ausweiten – und sie schienen es alle gleichzeitig zu bemerken. Während ihre riesigen Körper mutierten und sich wei ter ausdehnten, suchten sie nach etwas, das sie fressen oder gegen das sie kämpfen konnten – oder beides. Zwi schenzeitlich gerieten einige Nephilim kurz aneinander, bis der Boden bebte. Schreckliches Gebrüll und lautes Kreischen schallte durch die Morgenluft. Andere wandten sich den relativ kleinen Stadtbewohnern und ihren arm seligen Häusern, Geschäften und Lagern zu. Innerhalb von Stunden befand sich ganz Utvara in Pa nik und Chaos. Alles Brennbare stand im Flammen, seit die Nephilim die alte Yorboff-Schmiede zerstört hatten und das Feuer um sich greifen konnte. Die Bewegung der Nephilim verursachte Erdrutsche in der Huske, sodass die Gruul Schutz suchen mussten, weil ihre aus Holz und Leder errichteten Gebäude zusammenstürzten. Die Nephilim ergriffen sie und schlangen sie hinunter, wenn sie sich nicht gerade am Nutzvieh gütlich taten, das durch die Hügelausläufer vor den Riesenwesen floh. Die Stadt bewohner rannten in alle Richtungen – der Schrecken, der sie erfasst hatte, war so greifbar, dass sich die weni gen Vedalken in Utvara vor Schmerz am Boden wanden. Auf dem immer schlimmer zerstörten Marktplatz der Siedlung saß eine Schlange, die sich zusammengerollt hatte. Kopf und Hals bewegten sich fast unmerklich zu 37
einem Rhythmus, den nur sie hören konnte. Sie beobach tete die Nephilim, die sich auf die Stadt und ihre kleinen, schreienden Bewohner zuwälzten. Die Schlange wusste alles über Heimsuchungen. Hätten die schreienden Leute ihr auch nur ein kleines bisschen Aufmerksamkeit ge schenkt, hätten sie bemerkt, dass der Kopf der Schlange eine eigenartige menschliche Form mit dem Gesicht eines kleinen Mädchens annahm. Das Gesicht lächelte und schmolz für den kürzesten vorstellbaren Moment in eine zuckende Masse bläulicher Würmer, bevor es wieder wie das eines Reptils aussah. Zufrieden glitt die Schlange in die Menge, um einen vollständigen Bericht für ihren Herrn zu erstellen.
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Die einzige Person, die vielleicht in der Lage gewesen wäre, das Desaster in Utvara zu verhindern, kam mehrere Stunden zu spät, um noch helfen zu können. Die GoblinFrau schoss durch den Himmel über die Sanierungszone und durchquerte die Wolkendecke ohne den üblichen Knall beim Durchbrechen der Schallmauer, der norma lerweise zu jedem Flug in einer Observokugel dazugehör te. Die Goblin-Piloten, die von den Izzet-Magierfürsten normalerweise für Beobachtungsflüge ausgewählt wur den, schwelgten in dem Geräusch, das in den meisten Fällen ein Voranzeiger eines besonders spektakulären Todes war. Die Goblin-Frau hatte in letzter Zeit genügend Explo 38
sionen gesehen, daher traf sie der Anblick von Utvaras Untergang besonders hart. Die blubbernde Narbe, die sich dort befand, wo noch vor kurzem der Kessel gestanden und eine blühende Siedlung mit Wasser und Energie ver sorgt hatte, tat besonders weh, wie sie sich eingestehen musste. Sie kam gerade von einem Treffen mit dem Gildenmei ster zurück, dem Drachen Niv-Mizzet. Der Drache hatte sie zum Leiter des Kessels bestimmt, so zerstört er auch war. Aber die Goblin-Frau hatte Pläne, von denen sie überzeugt war, dass sie funktionieren würden. Nun war ihre beste Chance hin, eine eigene Forschungsgruppe zu leiten. Ihre neu gewonnene Heimat wurde von den Füßen und Tentakeln von Kreaturen zerstört, die die GoblinFrau nur zu gut kannte. Bis vor ein paar Wochen war sie ein Izzet-Kurier gewesen und hatte dabei einige Zeit bei den Stämmen der Gruul verbracht, die in der Huske leb ten. Sie wäre mehrfach beinahe von Nephilim getötet worden. Doch damals waren sie deutlich kleiner gewesen. Die Pilotin der Observokugel drückte auf die durch sichtigen, schwach leuchtenden weißen Steine, die ins Armaturenbrett eingelassen waren, und der Ley-Kristall erwachte zum Leben. Die schimmernde Oberfläche des spiegelartigen Sichtfensters erschien in der dünnen Luft über dem Kristall und zeigte sofort das Gesicht einer glatzköpfigen Menschenfrau, die schon sicher über hun dert Jahre alt war. Auf ihrer Stirn leuchtete eine Tätowie rung, die das Gilden-Siegel der Izzet zeigte. Ihr neutraler 39
Gesichtsausdruck versteifte sich zu einem finsteren Blick, als sie sah, wer gerufen hatte. »Hier ist ...« Die Goblin-Frau musste vor Nervosität schlucken. Ihr neuer Titel war immer noch ungewohnt und kam ihr nicht so recht über die Lippen. Die neuen, ihr vom Drachen verliehenen Extrasilben ihres Namens waren ihr ebenfalls noch etwas unheimlich. »Hier ist Mei steringenieur Crixizix«, sagte die Goblin-Frau. »Ich fordere hiermit die Hilfe der Notfall-Eindämmungstruppe an. In der Sanierungszone Utvara hat sich eine Katastrophe ereignet, die sich zu einer weiträumigen Bedrohung ent wickelt.« »Wo ist dein Magierfürst, Goblin?«, fragte die Frau. »Dir ist es nicht gestattet, diese Ley-Frequenz für dumme Scherze ...« »Es ist kein dummer Scherz«, sagte Crixizix so ruhig sie konnte. »Es ist ein Ernstfall. Und vielleicht haben Sie mich nicht deutlich genug verstanden. Hier ist Meisteringenieur Crixizix. Sie werden unverzüglich eine Eindämmungs truppe in die Sanierungszone Utvara schicken. Haben Sie mich verstanden?« Crixizix musste sich beherrschen, nicht ein unhöfli ches, aber selbstzufriedenes Grinsen zu zeigen. Am wech selnden Gesichtsausdruck der Frau in der NotfallEinsatzzentrale konnte sie ablesen, dass diese endlich das Siegel des Feuerhirns erkannt hatte, das deutlich neben Crixizix’ Kinn leuchtete. »Zu Befehl«, sagte die Frau in der Schaltzentrale. »So fort. Wie groß muss das Team sein, das Sie benötigen?« 40
Die Goblin-Frau warf einen erneuten Blick aus dem Cockpit der Observokugel und aktivierte etwas verspätet ein halbes Dutzend kleiner Aufzeichnungskameras, bevor sie antwortete. »Groß«, sagte sie. »Und sagen Sie ihnen, dass sie die großen Knallstäbe einpacken sollen. Diese Viecher hier könnten, möge mir meine Impertinenz ver geben werden, es selbst dem Großen Drachen alles ande re als leicht machen.« »Wie sicher sind Sie sich, dass dieser Zwischenfall von Izzet verursacht wurde?«, fragte die Frau. »Das Ganze klingt doch eher nach etwas, was Sie der Simic-Obrigkeit mitteilen sollten. Riesige Monster fallen unter deren ...« »Gute Frau, es ist so deutlich wie die Tätowierung auf Ihrer Stirn«, sagte Crixizix. »Sie haben die Überreste von Zomaj Haucs Projekt gefressen. Das Resultat war genau das, was immer in Erwägung gezogen, aber nicht öffent lich geäußert wurde, um nicht den Verdacht der Ketzerei heraufzubeschwören.« Dies war eine höfliche Umschrei bung. Nur genau ein einziges Mal hatte es ein Magierfürst gewagt vorzuschlagen, dass Niv-Mizzet nur eine winzige Schuppe seiner Haut opfern solle, um sie an jemanden oder etwas zu verfüttern. Von ihm war nicht mehr als ein Häufchen Asche übrig geblieben. »Mobilisierung und Entsendung wird ein paar Stunden dauern«, tönte die Stimme aus der Notfallzentrale. »Ein paar Stunden?«, sagte die Goblin-Frau. »Dies ist ein Notfall!« »Dann würde ich vorschlagen, Meisteringenieur«, ant wortete die Frau, »dass Sie Ihr Bestes geben, bis wir an 41
kommen.« Der schwebende Spiegel flimmerte und ver schwand. »Mein Bestes«, murmelte Crixizix. Sie stellte einen Bremswinkel für die Flammendüsen ein, die rund um die Mitte der Observokugel befestigt waren. Beinahe wäre sie über Utvara hinausgeschossen. Was konnte sie bloß tun? In Wirklichkeit war sie gar kein rich tiger Ingenieur, erst recht kein Meister. In ihren neuen Titel musste sie erst einmal hineinwachsen. Und ein In genieur war auch weder eine Kampfeinheit Engel noch eine Gruul-Horde – und eines von beiden wäre minde stens vonnöten, um das Chaos zu beseitigen, das die Nephilim gerade in Utvara verursachten. Die Sanierungs zone musste ganz dringend saniert werden. Das Feuerhirn hatte ihr eine Berührung gewährt, als der Große Drache ihr einen Rang in der Gilde verliehen hatte. War man einmal berührt worden, verließ einen diese Gabe nie wieder. Selbst auf diese Entfernung konnte Crixizix das Feuerhirn spüren. Wenn sie sich konzentrier te, konnte die Goblin-Frau die tiefen, rumpelnden Echos der Gedanken des Großen Drachen hören, der sich gerade in einem tiefen, traumlosen Schlummer befand. Sie hatte aufgeschnappt, dass die Lebensanhänger das Feuerhirn als eine Art Gemeinschaft bezeichneten, die ähnlich ih rem eigenen Gesang war. Crixizix konnte nicht genau sagen, ob das stimmte. Aber sie wusste, dass es alles an dere als ein Gesang war, wenn man sich ganz der Macht des Drachen unterwarf. Es war ein direkter und unheil voller Kontakt mit einem Verstand und Willen, der selbst 42
den mächtigsten Magierfürsten sich klein und unbedeu tend fühlen ließ. Und was sollte dann sie als neu ernannte Meisteringenieurin erst sagen? Und dennoch war der Goblin-Frau die Verbindung zum Drachen aus einem bestimmten Grund gewährt worden. Im Prinzip hatte sie das Recht, seine Hilfe anzufordern. Der Drache musste sie zwar nicht leisten, aber ein per sönliches Interesse an der Situation könnte ihn herbei locken. »Es gibt keine größeren Knallstäbe als ihn«, sagte die Goblin-Frau laut zu sich. Sie stellte die automatische Na vigationsaura der Observokugel auf einen Kurs ein, der sie an einer der am wenigsten zerstörten Stellen der Hauptstraße landen lassen sollte. Dann schloss sie ihre Augen und hoffte bei Krok, dass Niv-Mizzet nicht zu mür risch aufwachen würde, um sich die Einzelheiten anzu hören.
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Kapitel 2
H
Freiwilligen, die sich in Ausübung ihres Dienstes befinden, werden die vollen Rechte und Pflichten eines WojekOffiziers zugewiesen. Zusätzliche Ausbildung an der Aka demie ist für qualifizierte Freiwillige erlässlich, falls sie fünf oder mehr Dienstjahre in einer der anerkannten und in Unterabschnitt A aufgeführten Organisationen abgeleistet haben. Vereinbarung zwischen Ledev und Wojeks über gemeinsamen Dienst, Abschnitt 2 Eulenwesen brauchen sich nicht zu bewerben. handgeschriebenes Schild im Fenster des Wojek-Rekrutierungsbüros
30. Cizarm 10012 Z. C. Eine kleine Zoohandlung am dunkleren, stärker herun tergekommenen Ende der Zinnstraße im dicht besiedel ten Zehnten Distrikt hatte bereits geschlossen. Das war in der langen Straße, die eigentlich rund um die Uhr von Marktständen überquoll, eine Seltenheit und zog daher die Aufmerksamkeit der auf Streife gehenden Wojeks auf 44
sich. Die beiden Offiziere, die auf ihrem Rundgang bei dem Laden anhielten, sahen sofort, dass »Zuza’s Exoti sche Tierwesen« auch in nächster Zeit nicht geöffnet sein würde – höchstens unter einem neuen Besitzer. Einer der Wojeks hatte schon viele Jahre Erfahrung auf den Straßen Ravnicas gesammelt, während der andere sich eher mit den Gesetzen der langen Straßen außerhalb der Stadt auskannte. Dennoch war es der ältere Veteran, der die Fassung und kurz darauf auch einen Teil seines halb verdauten Frühstücks verlor, nachdem die beiden durch die Tür in den Laden getreten waren. Zum Glück hatte der Leutnant die Geistesgegenwärtigkeit, sich vor dem Laden auf die regennasse Straße zu übergeben und damit den Tatort nicht zu verändern. Da Zuza ein respek tiertes Mitglied der Orzhov-Gilde gewesen war, konnte dieser mögliche Mord als eine strafwürdige Verletzung von Handelsgesetzen gelten. »Sie fressen sie auf, sagte Leutnant Pijha, nachdem er sich wieder zusammengerissen hatte. Sein lederiges Ge sicht verzog sich zu einer Grimasse aus Abscheu und Schrecken. Er nahm seinen Helm ab, um sich den Schweiß aus den buschigen Brauen zu wischen. »Das kann ich sehen«, antwortete seine Partnerin. »Die Frage ist: Warum?« Nikos Pijha war ein Bulle von einem Mann, dessen Bauch langsam die Ausmaße einer Tonne annahm. Er steckte in einer Wojek-Uniform älteren Schnitts, die ihm nicht mehr ganz passte. Pijha zog eine Augenbraue hoch, als er zu der dünnen, jüngeren Halbelfin blickte, die ne 45
ben ihm stand. Sie trug sowohl das Wappen der Boros als auch eine Mantelnadel des Selesnija-Konklaves über ih rem neuen, noch glänzenden Wojek-Brustpanzer mit dem zehnzackigen Stern. Ihr grüner Umhang bildete ei nen Kontrast zu dem roten, der von Pijhas Schultern fiel, und sie trug ihr goldblondes Haar zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden, der unter einem eher ungewöhnlichen Helm hervorlugte – dem leichten Kopfschutz der selesnijanischen Ledev-Truppe. Die Part nerin des Leutnants stand im Rang einer Unterstützenden Streifenbeamtin – die »USBler« waren eine Abteilung des Bunds der Wojek, die nach der Zehntausendjahresfeier aus Freiwilligen zusammengestellt worden war. Die mei sten USBler kamen von den Ledev oder waren AzoriusBüttel, und »richtige« Wojeks benutzten auch oft den Be griff »Teilzeitler« – zumindest hinter dem Rücken der USBler. Wahrscheinlich hatten sie noch deutlich schlim mere Bezeichnungen, dachte sich die Halbelfin. Die Wojeks hatten während der Zehntausendjahresfei er eine Menge guter Leute verloren, aber die verbliebenen Mitglieder des Bundes hatten keine Zeit gehabt, die Verlu ste zu beklagen. Ravnica brauchte sie jetzt noch dringen der als vor der Katastrophe. Es gab jedoch immer noch Veteranen, die ihre Vorurteile gegen die USBler pflegten. Pijha war da eine der wohltuenden Ausnahmen. Seine USB-Partnerin hieß Fonn Zunich, und sie hatte etwas dagegen, dass die regulären Wojek-Helme ihren Gehörsinn beeinträchtigten. Sie hatte Jahrzehnte ge braucht, um ihre leicht spitzen Halbelfenohren so zu 46
trainieren, dass sie fast jede Gefahr vernahm. Doch im Moment hörte sie nur Kauen und Pfeifen. Die Kaugeräusche kamen von Dutzenden von Ratten, die an der toten Besitzerin der Tierhandlung nagten, und das Pfeifen vom alten Forensik-Spezialisten des Polizeilabors. Der Nekromagier Helligan benutzte ein scharfes und spitz zulaufendes Schabmesser, um Proben aus der Leiche zu entnehmen. Er nickte ihnen zu, als sie den Laden betra ten, und beschäftigte sich dann wieder damit, vorsichtig etwas Halbgegessenes aus der Brusthöhle der toten Frau zu entfernen. »Vor-Ort-Nekrotopsie?«, fragte Pijha den Labormagier. Helligan nickte grinsend. »Das ist wohl die effizienteste Lösung – bevor ich groß auf den Kammerjäger warten muss, der die ganzen Burschen hier verjagt.« Er schien sich schon lange nichts mehr aus der Arbeit an Leichen zu machen, egal, in welchem Zustand diese waren. »Die legen ein ganz schönes Tempo vor.« Es hätte Fonn nicht überrascht, wenn er bei der Arbeit nebenher aus einer Tüte Knusperraupen genascht hätte. Sie unterdrückte ein instinktives Schaudern wegen der »Burschen«, über die Helligan geredet hatte. »Was ist so exotisch an Ratten?«, fragte sie, ohne einen der Männer direkt anzusprechen. »Klar, diese Exemplare hier sind ziemlich groß, aber ich habe in Alt-Ravnica schon deut lich fettere gesehen.« »Eine ganze Menge«, sagte Pijha. »Ratten sind gerissen. Und sie leben in einer äußerst stark organisierten Gesell schaftsstruktur, wird oft behauptet. Mein Großonkel Pol 47
londo war ein Kammerjäger. Er hat einmal erzählt, wie er eine ganze Rattenstadt unten in Alt-Ravnica gefunden hat. Es hat sich doch tatsächlich herausgestellt, dass sie eine Art Kampfrudel zusammengestellt haben – wie nennt man das bei Ratten? Rudel? Meute? Schwarm? Jedenfalls – sie ernährten sich von den Zomb... also den Untoten da unten, denen, die nicht so schnell sind. Den schlurfenden Gestalten. Aber was so interessant daran ist: Sie sind nicht daran gestorben. Dabei weiß doch jeder, dass man daran krepiert, wenn man untotes Fleisch frisst.« »Nekrotisches Fleisch kann man eigentlich generell als giftig bezeichnen«, stimmte Helligan abwesend zu, ohne aufzublicken. »Aber diese Ratten von Onkel Poll hatten eine Möglich keit gefunden, um ...« »Das glaube ich Ihnen«, sagte Fonn. »Aber darauf wollte ich nicht hinaus. Was mir eigentlich aufgefallen ist: Ich sehe keine anderen Tiere hier. Nicht jeder hat einen Kam merjäger in der Familie. Aber dieser Laden hier heißt immerhin ›Zuza’s Exotische Tierwesen‹, oder? Darunter verstehe ich eigentlich etwas anderes als ein ... Nagetier gehege.« »Das ist fein beobachtet«, lobte Pijha, nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte. »So ergibt das alles wenig Sinn. Wenn es ein Schnellrestaurant gewesen wäre, könnte ich das akzeptieren. In nicht wenigen Lokalen werden immerhin Ratten gebraten.« »Wirklich?«, sagte Fonn, der gerade etwas übel gewor den war. Blut war die eine Sache, aber ... 48
»Ratten lassen sich gut essen. Das hat mein Onkel je denfalls immer gesagt«, fuhr Pijha fort. Er zuckte die Ach seln. »Wie wäre es mit dieser Erklärung: Sie hat auch Ratten verkauft, aber nicht ausschließlich? Aber dann haben die Ratten die anderen Tiere gefressen. Und dann haben sie einen Augenblick erwischt, wo sie nicht aufge passt hat.« Er machte eine Handbewegung auf die Überre ste von Zuza hin. »Das könnte sein. Aber sie muss schon ziemlich tief und fest geschlafen haben, damit sie es nicht mitbekom men hat, dass die Ratten sie beißen. Aber schauen Sie sich doch hier im Laden um«, sagte Fonn. Nachträglich fügte sie noch ein »Herr Leutnant« hinzu. In ihrem nor malen Leben als Ledev-Wächterin hatte sie zwar den Rang einer Zenturiadin, aber hier war ihr Rang deutlich unter dem des Wojeks. Sie musste sich nicht zurückhal ten, aber eine gewisse Förmlichkeit sollte schon gewahrt bleiben. »Hier laufen Dutzende Ratten herum, und ich sehe auch dutzendweise Käfige. Und sie sind alle offen. Auch die Eingangstür des Ladens war nicht abgeschlos sen. Es gab überhaupt keinen Grund, warum sie von den Ratten hätte umzingelt werden können. Sie hätte ihnen einfach davonlaufen können.« »Ich mag meine Erklärung immer noch«, sagte Pijha gutmütig. Seine Übelkeit hatte sich längst verzogen. Er war manchmal etwas dickköpfig, aber weder nachtra gend noch besonders streitsüchtig. Fonn kam gut genug mit ihm aus, um öfter mit ihm zusammenarbeiten zu können, obwohl die Halbelfin nur einige Monate im Jahr 49
für den Bund der Wojeks arbeitete. Sie vermutete, dass der größte Teil von Pijhas Begriffsstutzigkeit nur geschau spielert war, vielleicht sogar alles. Viele Zeugen sagten mehr aus, als sie eigentlich verraten wollten, wenn sie das Gefühl hatten, einem unterbelichteten Beamten ge genüberzustehen. Sie diente jetzt seit ein paar Jahren als USBler – anfangs eine Woche pro Monat, später mehr, da ihr die Arbeit immer besser gefiel. Sie war unter den Wo jeks nur wenigen begegnet, die ähnlich wie er arbeiteten. Die meisten davon waren alte Streifenbeamte. Die meist jungen, nach oben auf die Chefsessel beförderten Offizie re pflegten in der Regel streitlustiger, militärischer zu denken. Nach den Verlusten, die der Bund vor einem Jahrzehnt hatte hinnehmen müssen, war das auch nur allzu verständlich. Die meisten neueren Wojeks, die dem Bund in den letzten zehn Jahren beigetreten waren, hat ten kein Problem damit, Verdächtige unsanft zu behan deln und Zeugen mit extremen Vorurteilen zu begegnen. Auch hier waren die USBler wieder die Ausnahme – die meisten waren andere Methoden gewohnt. Trotzdem – Fonn vermutete, dass der Leutnant diesmal weit daneben lag. Der Tatort roch nicht richtig. Der einzi ge Tiergeruch, den sie ausmachen konnte, war tatsäch lich der von Ratten. Dicken, fetten Ratten. Und das einzi ge Blut im Raum stammte, wenn sie ihrer Nase vertrauen konnte, von einem Menschen. »Und wo ist dann das ganze Blut?«, fragte sie. »Dort«, sagte Pijha und zeigte um sich. »Und da auch. Überall um sie herum, wie es scheint. Ich habe das Ge 50
fühl, dass die Ratten das auch auflecken. Ich bin mir im Moment nicht ganz sicher, ob ich wirklich gleich Mittag essen haben will.« »Aber nur rund um sie herum«, sagte Fonn. Sie umkrei ste die Leiche und stieg dabei vorsichtig über die umher huschenden Nager. Ein paar Ratten schnappten nach ihren Stiefeln, waren aber sonst damit beschäftigt, gegen ihre Artgenossen um den Rest der Mahlzeit zu kämpfen. »Bitte pass auf, wo du hintrittst«, sagte der Labormagier Helligan. »Ich bin noch nicht fertig.« »Hast du jemandem Bescheid gesagt, der die Ratten einsammelt?«, fragte Pijha den Labormagier, der immer noch über der Leiche der Inhaberin der Tierhandlung kniete. »Sie sollten wenn möglich nicht alle getötet wer den, wir brauchen ein paar für die Beweisaufnahme.« »Ja«, sagte Helligan, der sich auf eine Wunde konzen trierte, die mehrere Nager gleichzeitig zu vergrößern ver suchten. »Ich habe Bescheid gesagt, dass sie sich nicht beeilen müssen. Das hier ist doch faszinierend, oder?« »Faszinierend oder nicht, ein paar sollten wir einsam meln, finde ich«, sagte Fonn. »Falls sie verantwortlich ...« »Du willst sie vor Gericht bringen?«, fragte Helligan. »Wenn überhaupt, dann war das hier ein Unfall. Ich bin mir sicher, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist.« Er hatte anscheinend gerade einen seiner schwieri gen Einschnitte in die Leiche beendet und beteiligte sich jetzt wieder aktiv an der Unterhaltung der beiden Wojeks. »Wenn ich es richtig sehe, war sie noch nicht einmal siebzig«, sagte Pijha. 51
Helligan nickte. »Das stimmt«, sagte er. »Aber ich glau be nicht, dass sie verschwinden werden. Im Gegenteil zu dem, was von ihr übrig ist. Ich muss genügend davon zusammentragen, um bestimmen zu können, was sie getötet hat.« »Die Ratten haben sie nicht getötet?«, fragte Fonn nach. »Wie es aussieht nicht. Selbst wenn meine ersten ne krotischen Beobachtungen es mir nicht gesagt hätten, wäre auch das ganze Blut hier aussagekräftig genug. Siehst du?« Er stocherte mit seinem Operationsbesteck in einer Blutlache herum, worauf das Blut wackelte. »Es ist zwar zum Teil schon geronnen, aber du kannst immer noch ungefähr den Umriss erkennen. Das Blut hat zu erstarren angefangen, als es noch in ihrem Körper war. Unsere Freunde hier haben dafür gesorgt, dass es aus ihr rauskonnte, aber diese Frau und ihr Blut waren bereits tot, bevor das Ganze passiert ist.« »Da geht sie dahin, meine schöne Erklärung«, jammerte Pijha. »Nekrotische Beobachtungen? Wie sehen die aus?« Als ob es eine Antwort auf die Frage des älteren Wojeks war, ertönte plötzlich ein lautes Kreischen. Es klang, als wäre es nur wenige Straßen weiter ausgestoßen worden. »Das zum Beispiel«, sagte Helligan. »Wundensucher. Ich musste warten, bis er heraus war, bevor ich mit der Ar beit anfangen konnte. Standard-Sicherheitsmaßnahme – ich als kleiner Labormagier bekomme keinen Arretierer ausgehändigt. Aber der Geist schien hier nicht herum hängen zu wollen.« »Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Anblick 52
schön war«, sagte Fonn. »Also wurde sie nicht von den Ratten getötet, aber getötet wurde sie.« Der Labormagier hob eine der Ratten hoch. Fonn be reitete sich innerlich auf einen weiteren naturwissen schaftlichen Vortrag vor, den sie nicht brauchte. Helligan hielt sich für mehr als nur einen normalen Labormagier und vergeudete selten eine Gelegenheit, die außerge wöhnliche Breite seines Wissens zu demonstrieren. »Dein Partner hat Recht, Offizier Fonn. Es sind wirklich faszinierende Kreaturen«, begann der Labormagier. »Sie haben einfach keine Angst vor uns. Sie übertreffen von der Anzahl her alle anderen Lebensformen auf dieser Welt. Vielleicht nicht, wenn man die Untoten dazuzählt, aber die Definition von Leben ist auch etwas, was ... Aber ich schweife ab. Ich wollte nur betonen, dass ich zögern würde, etwas als zu kompliziert für ihre Nagergehirne oder zu schwer für ihre leistungsfähigen kleinen Körper anzusehen.« Als ob sie seine Annahme unterstützen woll te, piepste eine Ratte den Labormagier laut an, als dieser ein kleines, gebogenes Werkzeug in eine offene Wunde im Nacken der Frau steckte. Fonn schnitt eine Grimasse. Sie hatte gewusst, dass es nicht immer einfach sein würde, bei den Wojeks zu arbei ten. Aber heute war es einfach nur ekelhaft. Nach der Zehntausendjahresfeier waren die Reihen der Wojeks stark ausgedünnt gewesen. Einerseits hatten die verderbten Schweiger des Konklaves wie verrückt jeden Stützpunkt der Wojeks in der Stadt angegriffen, anderer seits hatten Laurer die Reihen der Wojeks tief unterwan 53
dert, was außerhalb des Bundes allerdings kaum bekannt war. Hunderte Wojek-Offiziere waren getötet worden. Und bevor ihre genaue Zahl überhaupt festgestellt wer den konnte, hatten viele weitere den Bund verlassen, um besser bezahlte Jobs im privaten Bewachergewerbe anzu nehmen. Und manche hatten einfach ihren Stern ganz an den Nagel gehängt, so wie Fonn Zunichs frustrierter alter Freund Agrus Kos. Die Verluste und Abgänge hinterließen eine große Lücke, die gefüllt werden musste, und der Bund hatte sich an ähnliche Organisationen der anderen Gilden gewandt und um Hilfe gebeten. Fonns Vater war ein Wojek gewesen, und sie war eine der ersten Ledev, die sich als Freiwillige für die Hilfstruppen angeboten hatten. Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand. Es lag ihr im Blut, vielleicht sogar noch mehr als die Arbeit auf den langen Routen außerhalb der Stadt. Ihr Blut und alle ihre Instinkte sagten ihr, dass dieses Problem nicht so einfach zu lösen war, wie es aussah, aber sie konnte nicht genau sagen, warum es nicht so einfach war. Pijha könnte Recht haben. »Es ist noch gar nicht so lange her«, sagte Pijha, »dass Sachen wie das hier gar nicht unsere Zeit wert gewesen wären. Du weißt das, oder? Ich meine, das hier ist ja nur ein einfacher Mord. Wir dehnen die Definition von Gilden und Handel hier ein wenig. Ich habe kein Siegel über der Tür gesehen.« »Das nicht, aber schauen Sie mal hierher – sie hat am Kragen ein Abzeichen des Karlov-Clans. Sie hatte also ihre Beziehungen. Und ihre Kunden könnten ...«, sagte 54
Fonn. »Moment mal. Ihre Kunden. Wir müssen ihre Kas senbücher überprüfen. Die letzte Person, die hier etwas gekauft hat, ist ein möglicher Verdächtiger oder zumin dest ein Zeuge.« »Das haben die Ratten gefressen«, sagte Helligan. »Ich glaube, da sind noch ein paar Schnipsel da drüben in der Ecke, wo sie gerade ein Rattennest bauen.« »In Ordnung«, sagte Fonn. »Dann können wir einfach einmal eine stichhaltige Vermutung aufstellen. Es befin den sich keine anderen Tiere hier, also könnten wir an nehmen, dass sie nur Ratten verkauft hat. In vielen Kultu ren sind Ratten heilig. Und die Rakdos-Gilde bevorzugt doch Ratten als Haustiere, oder?« »Frau USB?«, mischte sich Helligan ein. »Und vielleicht gefielen den Rakdos ihre Preise nicht«, spann Pijha den Faden weiter. »Sie schubsten sie etwas herum, aber da sie ja Thrill-Killer sind, konnten sie sich nicht zurückhalten. Nur leider bleibt dann ein kleines Problem übrig.« »Ja.« Fonn nickte und verzog das Gesicht. »Sie hatte noch Blut in sich.« »Rakdos hätten es getrunken oder an alle Wände ge schmiert. Zurückhaltung ist bei denen ja schon immer ein Fremdwort gewesen«, sagte Pijha, der nun in Fahrt ge kommen war. »Also waren es keine Rakdos. Aber wer sonst würde ...« Helligan hustete, um sich Aufmerksamkeit zu verschaf fen, und probierte es noch einmal. »Frau USB? Herr Leut nant?« 55
»Was hast du gefunden?«, fragte Pijha. »Ach, noch nichts. Ich muss diese Proben noch einigen Tests unterziehen«, sagte der Labormagier. »Aber es gibt eine einfache Methode, um herauszufinden, ob diese Ratten etwas anderes als diese Frau gefressen haben, falls das etwas ist, was ihr gern sofort bestimmt haben wollt. Ich glaube, es bleiben hinterher noch genügend Tiere für die alchimistischen Wissenschaften übrig, auch wenn wir jetzt noch ein paar zusätzlich fangen.« Helligans Hand schoss blitzschnell vor und packte eine quietschende fette Ratte am Schwanz. In der anderen Hand hielt er sein Operationsbesteck, bei dem gerade das scharfe Skalpell ausgeklappt war. »Nein, Doktor, das ist wirklich nicht ...«, begann Fonn, beendete den Satz dann aber mit einem unfreiwillig her vorgestoßenen »Igitt!«. Einige Sekunden, die die Halbelfin so schnell nicht vergessen würde, und ebenso viele weitere Quieker spä ter schüttelte der Labormagier ungläubig den Kopf. Sein Gesichtsausdruck zeigte Überraschung, gemischt mit wissenschaftlicher Neugier. Er warf den Rattenkörper beiseite und schnappte sich den nächsten Nager. Nach dem er an dieser Rattenleiche dieselben Schritte durchge führt hatte, warf er auch sie beiseite, um sich dann eine dritte zu schnappen. »Na, da will ich doch die Mutter eines Dromads sein«, sagte er. »Ich muss zugeben, dass es eine kleine und nicht besonders wissenschaftlich ausgewählte Stichprobe war, aber das Einzige, was ich finde, sind einige vorverdaute 56
Brocken von Frau Zuza Uldossa, ehemalige Besitzerin dieses Ladens.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich muss noch ein paar aufschneiden, um ganz sicher sein zu kön nen. Aber wenn sie die Vögel gefressen haben, hat dieser Bursche hier keinen abbekommen.« »Vögel?«, fragte Fonn nach. Sie hatte einen leichten Vo gelgeruch in der Luft wahrgenommen, ihn aber auf die Tauben geschoben, die draußen auf der Dachrinne wie fast überall in der Stadt aufgereiht dahockten. Helligan winkte mit seinem blutigen Skalpell durch den Raum. »Vogelkäfige, wenn ich nicht arg danebenlie ge. Und das hier habe ich gefunden.« Er holte eine golde ne Feder hervor, an der wundersamerweise kein Blut klebte. »Wo haben Sie die gefunden?«, fragte Fonn. »Auf dem Kehrblech«, sagte Helligan und deutete in ei ne Ecke, wo die infrage kommende Kehrschaufel neben einem aufrecht stehenden Besen lehnte. »Wenn man von dem Offensichtlichen absieht, ist der Laden ziemlich sauber. Sie muss erst vor kurzem gekehrt haben.« Pijha nahm die Feder aus der Hand des Labormagiers und hielt sie ins Licht. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln und reichte die Feder dann an Fonn weiter, die sie ebenfalls unter die Lupe nahm. »Das ist keine Taubenfeder«, sagte sie nach ein paar Sekunden. »Echt nicht?«, sagte Pijha überrascht. »Nein«, sagte Fonn. Sie roch vorsichtig an der Feder, und ihre Nase bestätigte das Urteil ihrer Augen. »Es han 57
delt sich um die Schwanzfeder eines Paradiesvogels.« »Die sind doch unheimlich selten«, warf Helligan ein. »Es scheint, dass wir mehr von den kleinen Burschen einsammeln müssen als geplant. Wenn sie einen Para diesvogel gefressen haben ...« »Diese Ermittlung wird wohl ausgeweitet werden«, sag te Pijha seufzend. Er war äußerst engagiert, aber Fonn wusste, dass er seine Fälle lieber einfach hatte – oder zumindest ohne Einmischung von den Sesselfritzen. Aber der Tod einer so hochwertigen Kreatur würde den Grad des Verbrechens erhöhen, und seine Vorgesetzten wür den ihm auf die Pelle rücken. Sobald die Versicherungs leute und andere interessierte Parteien hier eingefallen waren, würden sie sich auf jeden Fall dafür interessieren, was alles getan wurde, um die guten, reichen Bürger von Ravnica zu beschützen. Lautes Glockengeläut drang von draußen herein und unterbrach Fonns Gedankengang. Sie zählte die toten Ratten und zog ein Gesicht. »Tut mir Leid, Leutnant«, sagte sie. »Ich muss Sie jetzt leider hier allein lassen. Ich habe gleich einen weiteren Einsatz.« Pijhas Stirnrunzeln verzog sich und verwandelte sich in sein normales freundliches Grinsen. »Ich kann mich dunkel daran erinnern. Du hast es gestern erwähnt, und letzte Woche, und auch die Woche davor. Grüß die Kin der schön von mir. Helligan und ich können die Festung halten, bis du zurück bist. Und wenn wir die Lösung fin den, bevor du wieder da bist, geht die erste Runde Ge 58
tränke auf dich.« »Das werden Sie wohl kaum hinkriegen«, sagte Fonn. »Wir sehen uns in ein paar Tagen.«
K
Myczil Savod Zunich hielt den Atem an, als seine Beute an seinem provisorischen Jagdversteck vorüberlief. Er war erst elf Jahre alt, aber es handelte sich nicht um sei nen ersten Ausflug in die Wildnis am Rand der unterirdi schen Metropole Alt-Ravnica. Sein Vater hatte dafür ge sorgt, dass der Junge eine Armbrust laden konnte, sobald er auf den eigenen Beinen stehen konnte. Im Alter von fünf Jahren hatte er zum ersten Mal getötet, nachdem das Jungtier eines Riesenwurms in eine Falle geraten war, die das frühreife Kind selbst entwickelt und mithilfe seines Vaters gebaut hatte. Jarad hockte ebenso leise neben seinem Sohn. Der Devkarin-Gildenmeister der Golgari und damit de facto Herrscher der Unterstadt, hielt einen Speer mit geschnitz ten Verzierungen in der Hand. Es war das erste Mal, dass er seinen Sohn zu einer Jagd auf zweibeinige Opfer mit nahm. Ihre Beute war eine kleine Bande rebellischer To desgänger. Die Zombies hatten damit begonnen, auf we niger benutzten Straßen nach Alt-Ravnica Überfälle durchzuführen – in Gegenden, um die sich Ledev und Wojeks nicht kümmerten. Jarad war das nur recht. Als Golgari war er stolz darauf, dass unter seiner Anführer schaft in der Unterstadt eine eigene Form von Ordnung 59
herrschte. Und wenn er sich persönlich um die Sicherheit seines Gebiets kümmern konnte, machte er das nur zu gern. Genau betrachtet waren diese Todesgänger ebenfalls Golgari. Aber sie hatten Jarads Anordnung ignoriert, der solche Aktivitäten für gesetzlos erklärt hatte, und damit alle Rechte an diesem Titel aufgegeben. Der Gildenmeister wusste nicht, ob sein Sohn sich ent scheiden würde, seinen Fußstapfen zu folgen – oder de nen seiner Mutter. Vielleicht würde der Junge auch kei nen dieser vorbestimmten Wege einschlagen, sondern sich in eine ganz andere Richtung entwickeln. Was sein gutes Recht war. Aber Jarad war nicht nur ein Vater, son dern auch ein Gildenmeister, und er würde es natürlich vorziehen, wenn sein Abkömmling seine Position über nehmen würde, wenn Jarads Zeit einmal gekommen war. Und dass diese eines Tages kommen würde, war unaus weichlich. Bislang hatte er immer stolz auf den jungen Myc sein können. Der Junge hatte sich schnell entwickelt, was bei seinem Anteil an Elfenblut auch normal war. Gegen Bestien hatte er sich bereits bewiesen, jetzt musste er sich gegen umsichtigere Beute beweisen. Myc hatte einen eigenen Plan für diese Jagd entwickelt, und ein beeindruckter Jarad hatte ihm zugestimmt. Die Idee des Jungen war einfach und ziemlich effektiv, auch wenn sie nicht so todverheißend war, wie es der Plan des Gilden meisters gewesen wäre. Jarad gab Mycs Mutter daran die Schuld. Sieben, acht ... insgesamt dreizehn Paar grauer, kno 60
chiger Füße schlurften an ihnen vorbei. Die Todesgänger waren noch einige Schritte von der Stelle entfernt, an der die Falle ausgelöst werden würde, als Jarad seinen Sohn keuchen hörte. Der Ton verstummte sofort, als der hin terste Zombie stehen blieb. Der Devkarin sah, was Myc so außer Fassung gebracht hatte, und blickte finster. Seine Exfrau kam um die Ecke und ritt tapfer die kaum benutzte Straße entlang. Die Hufe ihres großen Dromads klapperten laut auf den moosbedeckten Pflastersteinen. Die Todesgänger drehten sich sofort um und traten ihr entgegen. Ein paar Schritte weiter, und sie wären in einer großen Fallgrube gelandet, über der ein Netz ausgespannt war. So hätte man sie alle mit einem Streich erwischen können. Sobald die Reiterin die Zombies sah, zog sie an den Zügeln und brachte das Dromad zum Stehen. »Hallo«, sagte die Halbelfin. Die silberne Helmzier ihres Ledev-Helms glänzte im bläulichen Licht der einzigen Leuchtkugel, die im Umkreis einer Meile zu finden war. »Ich bin mir sicher, dass es hier keinen Ärger geben wird. Ich bin auf dem Weg nach Alt-Ravnica.« Der dreizehnte Zombie, der plötzlich an vorderster Po sition stand, da sich die Gruppe umgedreht hatte, schlurf te unmissverständlich auf die Reiterin zu. Sein zahnloser Mund zischte eine einfache Antwort: »Nein, bifft du nifft.« Jarad spürte einen Stoß in seinen Rippen und sah Myc, der unruhig zu ihm aufsah. Mit seinen Lippen formte er unhörbar die Worte: »Und was machen wir jetzt?«. Die Halbelfin stieg gewandt von ihrem Dromad ab und schob sich zwischen das Tier und den Todesgänger. Sie 61
zog ein langes, silbernes Schwert. »Bin ich doch«, sagte sie ruhig. Einen kurzen Moment lang erinnerte sich Jarad, war um er einst sein Herz an Fonn Zunich verloren hatte. Er spürte einen kleinen Stich des Bedauerns, dass sich die Dinge zwischen ihnen so schlecht entwickelt hatten. Mut oder nicht, dieser Überzahl war sie nicht gewach sen. Jarad drehte sich zu Myc und flüsterte ihm Auf drei! ins Ohr. Myc nickte. Als die ganze Bande wieder an ihnen vorbeigeschlurft war, um Fonn einzukreisen, fing der Devkarin schweigend seinen Countdown an. Eins. Zwei. Fonn war so ruhig wie immer geblieben, nur ihr Dromad hatte einmal kurz nervös gewiehert. Drei. Vater und Sohn sprangen gleichzeitig hinter ihrem Versteck hervor und landeten hinter den Zombies. Die beiden hintersten Todesgänger drehten sich langsam zu ihnen um und wurden gleich darauf von Devkarin-Stahl in Einzelteile zerlegt. »Schön, euch beide zu sehen«, sagte Fonn und durch brach die betäubende Stille. »Sind das Freunde von euch?« »Hallo, Mama«, sagte Myc. »Nein, keine Freunde. Jarad grinste schief. »Eher Beu te.« Die Todesgänger waren klug genug, um seine Worte zu verstehen – und auch die Tatsache, dass ihre Anzahl so schnell von dreizehn auf elf reduziert worden war. Auf beiden Seiten versperrten Steinmauern den Weg, und die 62
Straße war in beide Richtungen von blanken Klingen versperrt, die deutlich sichtbar mit einigem Können ge führt wurden. Nach Jarads Erfahrung würden die Todesgänger sich für eine ihrer zwei verbliebenen Möglichkeiten entschei den: Entweder würden sie sich gegenseitig zerfleischen, oder sie würden kämpfen. Alle Todesgänger entschieden sich für die zweite Mög lichkeit. Vier rannten auf Fonn zu, die zunächst einen von ihnen enthauptete, bevor sie dann mehrere wilde, unko ordinierte Schläge von selbst gemachten Waffen abwehr te. Mehr bekam Jarad nicht mehr von ihr mit. Die restli chen sieben Zombies kamen auf den Gildenmeister und seinen Sohn zu. Der Devkarin schnitt mit seinem KindjalDolch die Unterarme des ersten Zombies ab und zer trennte den Schädel des Zombies bei der Abwärtsbewe gung. Mycs geringere Größe ermöglichte ihm einen ande ren Angriffswinkel. Der Junge durchschlug mit seinem Schwert das Bein eines Todesgängers, der in seine Reichweite kam. Der Zombie knickte zur Seite weg, aber sofort nahmen zwei weitere seinen Platz ein, sodass Myc sich zurückziehen musste, bis er wieder neben seinem Vater stand. Mit einem Glückstreffer schlug einer der Zombies der Halbelfin die Waffe aus der Hand. Fonn zog sich darauf hin zu ihrem Dromad zurück, das ebenfalls anfing, nach hinten zu tänzeln. »Mama«, brüllte Myc und warf einen Blick über die 63
Schulter. »Wir müssen ihr helfen!« »Mir passiert schon nichts!«, rief Fonn zurück. »Bleib, wo du ...« Myc war allerdings schon unterwegs, und Fonns Pro test stieß auf taube Ohren. Jarad konnte nicht mehr ma chen, als das Tempo seines vorpreschenden Sohns mit zuhalten, der sich unter den Hieben der Todesgänger hindurchduckte und sich einen Weg zu seiner Mutter bahnte. Die Aktion sorgte für genügend Ablenkung, sodass Jarad zwei weitere Todesgänger außer Gefecht setzen konn te. Ein dritter Zombie bekam einen Tritt ab, der dessen Kniescheiben zerschmetterte. Als der Todesgänger zu sammenknickte, traf der nächste Tritt seinen Schädel und trennte ihn ab. Als Jarad wieder nach Myc und Fonn schauen konnte, lagen die restlichen vier Zombies bereits in Stücken auf der Straße. Einige Teile zuckten noch, während ihre ne krotische Energie im Boden versickerte. »Hast du ...?«, fragte Jarad seine Exfrau, aber die schüt telte nur den Kopf. »Sie wollten meiner Mama etwas antun«, sagte Myc. »Tut mir Leid, Papa. Wir müssen sie dann halt nächstes Mal lebendig fangen. Ich kann nichts dafür.« Jarad musste ein Grinsen unterdrücken, von dem er wusste, dass es Fonn Kummer bereitet hätte. So etwas versuchte er zu vermeiden, wenn ihr gemeinsamer Sohn in der Nähe war. Mit Fonn war, warum auch immer, in diesem Moment 64
allerdings nicht so gut Kirschen essen. »So passt du also auf meinen Sohn auf?«, sagte Fonn mit mäßig unterdrück tem Zorn. »Eine Jagd auf Zombies?« »Das war meine Idee, Mama«, sagte Myc. »Ich lerne ge rade eine Menge neuer Sachen. Und ich dachte ...« Fonn seufzte. »Schon gut.« Sie blickte Jarad an und zog eine Augenbraue hoch. »Darüber reden wir später. Im Moment haben wir eine Reise vor uns. Bist du soweit, Myc? Musst du noch irgendetwas holen?« »Nein.« Myc sah seinen Vater fragend an. »Kann ich ge hen?« »Du hast dich gut geschlagen. Sei stolz auf diese Jagd«, sagte Jarad. »Die Fähigkeit, zu improvisieren, ist minde stens so wichtig wie die Fähigkeit, einen guten Plan zu entwickeln – nichts kann perfekt vorhergesehen werden.« »Ja, Papa«, sagte Myc. Der Devkarin verbarg instinktiv seine ungebührende Enttäuschung, als er sah, wie schnell der Junge aus seiner Rolle als Jäger herausschlüpfte, um sich auf seine LedevAufgabe zu konzentrieren. Tief in seinem Inneren wusste er, dass es für seinen Sohn das Beste war, wenn er zwei so unterschiedlich ausgerichtete, Ausbildungen durchlief. Die Enttäuschung steckte mehr im Bauch. Jarad ließ sie sich wie immer nicht anmerken. Es war sinnlos, darauf herumzureiten. »Fonn, es war nett, dich mal wieder zu sehen«, sagte er förmlich. »Ganz meinerseits«, antwortete Fonn. Der Devkarin zuckte die Achseln und zog eine weiße 65
Jagdmaske, das offizielle Symbol seines Amtes, über sein Gesicht. »Wir sehen uns bald. Ich muss ein paar Jäger herschicken, damit sie das Chaos hier beseitigen.« Er legte eine Hand auf Mycs Schulter, blickte dann zu Fonn und sagte: »Du warst heute sehr gut.« »Danke«, sagte Fonn mit überraschender Ernsthaftig keit. Dann drehte sie sich von ihm weg. »Myc, die ande ren Pfadfinder werden schon auf uns warten.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Myc und umarmte seinen Vater kurz. »Ich bin ja bald wieder hier, Papa.« »Komm schon«, sagte Fonn. »Du darfst das Dromad rei ten.« »Ich will noch ein bisschen zu Fuß laufen«, sagte Myc. »Erst mal kannst du reiten.« Jarads Lächeln unter der Maske verebbte, während er den beiden nachblickte. Er erwiderte Mycs letztes Winken und wandte sich dann der dringlichen Aufgabe zu, dafür zu sorgen, dass hier aufgeräumt wurde. Und sobald er wieder seine ganze Aufmerksamkeit der Leitung der Gil den widmen würde, warteten noch schmutzigere Aufga ben auf ihn. Normalerweise würde das voll und ganz ausreichen, um seine Gedanken ausreichend zu beschäf tigen, bis er seinen Sohn das nächste Mal sah. Nicht sel ten genoss er es, fast in sein altes Leben zurückschlüpfen zu können, zu jagen und die Wildnis zu erkunden. Diesmal jedoch weigerte sich eine nagende Unsicher heit, seine Gedanken zu verlassen. Einige Devkarin-Elfen hatten die Gabe der Vorhersage, zu denen Jarad bislang allerdings nie gehört hatte. Und trotzdem wollte ihn das 66
Gefühl nicht verlassen, dass sich die beiden Personen, die ihm in ganz Ravnica am meisten am Herzen lagen, tief in einen Schlamassel verstricken würden.
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Kapitel 3
H
Sage nicht, ich hätte das Gesicht eines Engels,
Das lässt sich so einfach behaupten.
Aber ich möchte gar nicht das Gesicht eines Engels haben.
Seitdem ich das Schicksal der Engel kenne.
Engelsgesicht, von Shonya Bayle, der Bänkelsängerin der Zinnstraße
30. Cizarm 10012 Z. C. Teysa Karlov erzitterte. Wenn sie doch nur daran gedacht hätte, für dieses erste Gespräch einen schweren Mantel über die zeremoniellen Gewänder der Advokaten anzu ziehen. Das ganze Gebäude hatte sich nach der kalten Nacht noch nicht wieder aufgewärmt. Es war auch so viel zu kühl für diese Jahreszeit. Die Sonne hatte gerade ihre ersten Strahlen über die Türme geworfen, als sie Prahv und damit das Gebiet der Azorius betreten hatte. Der Sitz des Gesetzes im Herzen Ravnicas war dank den hohen Gewölbehallen ohnehin immer recht zugig. Und zudem beschäftigten die Azorius recht viele Vedalken, und die fühlten sich bei niedrigeren Temperaturen wohl. Hoch näsig behaupteten sie, dass die Kälte mithelfe, ihre »über 68
legene Intelligenz« zu bewahren. Der Grund für die Kälte war Teysa jedoch egal. Sie hatte sich in den letzten Wo chen an die warmen, wüstentypischen klimatischen Be dingungen ihrer neuen Baronie gewöhnt. Die junge Frau, ein Spross einer der drei mächtigsten Familien der Gilde des Handels, herrschte als Baronin über die Sanierungs zone von Utvara. Bald würde sie auch ordentlich gewähl te Bürgermeisterin sein, die richtigen Leute waren bereits geschmiert. Außerdem war sie eine voll lizenzierte Orz hov-Advokatin und hatte als Magiejuristin einen hervor ragenden Ruf. Sie war in die Stadt zurückgekehrt, um sich um einen neuen Klienten zu kümmern, den sie kaum ablehnen konnte. Fälle wie dieser liefen einem nicht jeden Tag über den Weg, und sie war sich sicher, dass sie in Utvara alles in guten Händen zurückgelassen hatte. Zomaj Hauc war tot, das Schisma im Himmel über ihrer Baronie war verblasst und zu einer kaum noch wahrnehmbaren Verkrümmung geschrumpft. Zwar gab es noch viele ungelöste Geheim nisse, was das Himmelsphänomen anbetraf, aber mögli cherweise würde dieser Fall einige der offenen Fragen lösen. Die Baronin schickte eine stille Nachricht an ihr Orz hov-Blut und brachte dadurch ihr Zittern unter Kontrolle. Im eigentlichen Sinne des Wortes war es keine Unterhal tung, aber sie hatte herausgefunden, dass ihr Blut eher antwortete, wenn sie ihren Willen in Worte fasste. Inner halb von wenigen Sekunden hörte sie auf zu zittern und erlangte ihre Fassung zurück, obwohl der Raum noch 69
kälter wurde, als der Wächter die Zellentür hinter ihr schloss. Was auch immer der physikalische Grund gewesen war – das Zittern hatte ein seltsames Gefühl von Unsi cherheit und Unwohlsein hinterlassen. Sie nahm sich vor, Kontakt mit ihren Stellvertretern daheim aufzunehmen, sobald sie hier wieder raus war. Seltsam, dass sie die Ba ronie bereits als Heimat betrachtete, das Wort hatte sich automatisch in ihrem Gehirn gebildet. Das Blut hatte den Ruf, vor drohender Gefahr zu warnen, und bei jemandem aus einer der herrschenden Familien konnte Unwohlsein bedeuten, dass noch deutlich Schlimmeres bevorstand. Teysas Gehstock rutschte beinahe auf dem Boden weg. Orzhov-Blut in seinen Adern zu haben verlangte seinen Preis, und ihre Gehbehinderung war eine davon. Es war nicht nur kalt hier, sondern feucht und kalt. In den öffent lich zugänglichen Teilen von Prahv wäre es undenkbar, dass Schimmelpilze und andere ... Dinge sich ungehindert ausbreiteten. Aber anscheinend hatte die Reinigung der Zellen für Untersuchungshäftlinge keine besonders hohe Priorität auf der Aufgabenliste des Wachpersonals. Das war nicht immer so gewesen. Sie war früher bereits in einigen solcher Zellen gewesen, um mit ihren Klienten zu sprechen, und meistens waren sie blitzblank gewesen. Die Azorius schienen nachzulassen. Der Senat war heut zutage voller Speichellecker und Opportunisten, die viel eher an langen Debatten interessiert waren. Fast niemand kümmerte sich noch darum, die Fassade der Reinheit und Gerechtigkeit instand zu halten, die Prahv der Welt ge 70
genüber immer gewahrt hatte. Die Azorius wurden den Orzhov immer ähnlicher. Die Baronin von Utvara hatte Probleme, die Vielzahl an Gerüchen zu ignorieren, die sich in der engen Zelle zu einem unangenehmen Gestank vereinigten. Sie humpelte die kurze Strecke von der Tür bis zu der durchsichtigen Barriere, ohne ihren Stock zu benutzen. Dann stand sie dem letzten verbliebenen Engel von Ravnica Auge in Au ge gegenüber. Teysa war dem Engel zuletzt vor nur wenigen Wochen unter ganz anderen Umständen begegnet. Der Engel war aus dem Schisma entstiegen, während die Baronin eine zusammengewürfelte Truppe gegen den Izzet-Magierfürsten anführte, der dabei war, frisch geschlüpfte Dra chen auf die Welt loszulassen. Der hoch gewachsene Krieger war nur wenig zu spät gekommen – eigentlich typisch für einen Ordnungshüter, wie Teysa fand. Als Teysa dem Engel begegnet war, trauerte dieser gerade um den alten Mann, der im Kampf mit den Drachen umge kommen war, einen Wojek im Ruhestand namens Kos. So eine Bindung an einen »Sterblichen« galt nicht gerade als typische Eigenschaft von Engeln. Teysa hatte sich darüber erst gewundert. Dann aber hatte sie angenom men, dass der Engel es einfach als Tarnung nutzte, um nicht erklären zu müssen, warum er gekommen war und wo die anderen Engel steckten. Das Verschwinden der Engel während der Zehntausendjahresfeier war weltweit ein Thema, zu dem man jederzeit in jeder Kneipe in jeder Ecke der Welt verschiedenste Meinungen hören konnte. 71
In Pivlics Gasthaus in Utvara, das Teysa noch als Kom mandozentrale diente, hatte sie bereits mehr als zwölf unterschiedliche Erklärungen dazu gehört. Teysa wusste, dass der Engel auf Kos’ Beerdigung ge sprochen hatte und ein paar Tage später wieder ver schwunden war, was noch mehr offene Fragen verur sacht hatte. Ein paar Stunden zuvor war der Engel wieder aufgetaucht und hatte damit verschiedenste Ereignisse ausgelöst, die Teysa dann schließlich zurück nach Prahv brachten. Jetzt hatte die Baronin die Möglichkeit, einige Antwor ten zu bekommen. Einerseits gehörte das berufstechnisch zu ihren Aufgaben, andererseits wollte auch ihre persön liche Neugier gestillt werden. Das Schisma hing immer noch über Utvara. Es war zwar kleiner geworden, aber weiterhin unergründlich. Teysa hatte das Gefühl, alles über das Schisma lernen zu müssen, egal, wie ausgeprägt es im Moment war. Und dann galt das Verschwinden der Engel als eines der größten Geheimnisse des letzten Jahr hunderts. Die Frau, die die Erklärung dafür entdeckte, würde einen legendären Ruf bekommen. Teysa hatte zwar kein unbändiges Verlangen nach einem hohen Be kanntheitsgrad, aber es könnte neue Wege zur Macht eröffnen – Möglichkeiten, die die Baronie Utvara nicht bot. Es war der Advokat in ihr, der da sprach und der ihren persönlichen Ehrgeiz verteidigte, und er hatte mit einigen Argumenten gepunktet. Teysa hatte den schnellsten Zep peliden zurück in die Stadt genommen, sobald die Nach 72
richt des Engels am Morgen ihr Büro erreicht hatte. Wäh rend der ganzen Reise hatte sie über mögliche Strategien und Verläufe nachgedacht. Der Engel war gefesselt. Eine schwere silberne Kette lief durch die Reifen an den Hand- und Fußgelenken und durch Mizzium-Ringe, die wiederum an einem MizziumBlock befestigt waren, der in den Boden eingelassen war. Diese Konstruktion gab dem Gefangenen etwas Raum, sich zu bewegen, diente gleichzeitig aber auch als weitere Schutzvorrichtung, auch wenn das in der unzerstörbaren Zelle möglicherweise überflüssig war. Der Kerker befand sich tief im Keller des dritten Turms von Prahv. Die Tür me enthielten viele solcher Zellen, wo diejenigen, die auf ihren Prozess warteten, diese Zeit in absoluter Isolation verbrachten. Sie konnten mit der Außenwelt kommuni zieren – aber nur, wenn die Außenwelt sich zu ihnen in die Zelle begab. Die Azorius und ihre Wachen erlaubten den Angeklagten, durch dicke Platten geräuschdurchläs sigen Invizomizziums zu sprechen. Der Pakt der Gilden war manchmal sehr hart, was die Gesetze anging, aber fair: Konnte man sich einen Advoka ten oder einen Magiejuristen leisten, half dieser einem, den Fall vor den blinden Richtern darzulegen. Der Senat war streng darauf bedacht, dass man sich fast sklavisch an das festgeschriebene Protokoll hielt. Teysa wünschte sich manchmal, dass sich auch der Senat genauso zwanghaft gründlich um den Zustand der Gefängniszellen kümmern würde, aber das war im Moment nebensäch lich. 73
Die Azorius-Minister, wie die Bürokraten der oberen Mittelklasse genannt wurden, leiteten Prahv und saßen im Unterhaus des Senats. Sie schienen in diesem Fall noch größeren Wert als sonst darauf zu legen, dass im Fall des Engels das Protokoll penibel eingehalten wurde. Im Oberhaus des Senats saß eine Gruppe von Vedalken. Sie zählte nicht so viele Mitglieder wie die Bürokraten im Unterhaus, zeigte dafür aber deutlich mehr Initiative, auch wenn sie zusammen immer noch weniger politische Macht als die Richter besaßen. Die Vedalken waren ohne Zweifel genauso gespannt wie alle anderen darauf, den letzten Engel zu befragen, aber der Advokat des Angeklag ten hatte das Recht, zuerst mit ihm zu sprechen, bevor Anklage gegen ihn erhoben wurde. Bevor in diesem Fall nicht Teysa mit ihm gesprochen hatte, durften ihn selbst die Richter nicht befragen. Die Neuigkeit war schnell bei den Zeitungen ange kommen, und der »heilige Gefangene von Prahv« zog massenhaft Neugierige zur Festung der Azorius. Zumeist herrschte die Meinung vor, dass die Azorius einen großen Fehler begingen, indem sie den Engel einsperrten. Daraus würde sich nichts Gutes entwickeln. Teysa war auf ihrem Weg nach Prahv ein paar kleinen Pilgergruppen begeg net. Bis sie wieder draußen war, würden die Massen wahrscheinlich schon singend um eine brennende le bensgroße Puppe des Obersten Schiedsmannes Augustin IV. herumspringen. Die Azorius bewegten sich da auf einem schmalen Grat. Teysa überlegte kurz, wie sie auf den Engel zugehen 74
wollte. Der Gefangene erwartete sicher Fragen und noch mehr Fragen über seine verschwundenen Mitengel, also würde Teysa genau damit nicht beginnen. Ihre Gesichts züge verschärften sich zu Nummer siebenundzwanzig: empörter Protest. »Hallo. Nett, Sie zu treffen. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich gerade in Utvara sein sollte«, sagte Teysa zu dem Gefangenen. »Ich möchte doch annehmen, dass Sie in der Zeit, die Sie dort bei uns verbracht haben, gehört haben, dass ich nicht länger als Advokatin arbeite. Ich bin sozu sagen im Ruhestand. Und, nichts für ungut, ich kenne Sie kaum. Warum haben Sie nach mir verlangt? Wissen Sie überhaupt, was ich für meine Dienste verlange? Haben Sie überhaupt einen Zib, der Ihnen gehört?« Keine Reaktion. Der Engel stand weiterhin regungslos da, halb verdeckt vom Schatten der blauen Leuchtkugel, die die einzige Lichtquelle der Zelle abgab. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin hier drüben«, sagte sie. Nichts. Das ungute Gefühl machte sich wieder in ihrem Kopf breit und verlangte Aufmerksamkeit, aber sie unter drückte es. Dann hatten sich ihre Augen endlich genügend an die Dunkelheit gewöhnt, um den Engel in den Schatten ge nau ausmachen zu können. Teysa war geschockt, welche Verletzungen er davongetragen hatte, Protokoll hin oder her. Der hoch gewachsene Gefangene war immer noch eine eindrucksvolle Gestalt, aber arg mitgenommen, ver schrammt und mit vielen offenen Wunden. Dank den silbernen Ringen waren die großen Flügel von den Schul 75
terblättern abwärts gelähmt, die große Kraft des Engels war deutlich eingeschränkt. Durch die zusammengezerr ten Flügel wirkte er auf Teysa wie ein gekrümmter und verwundeter Raubvogel, was noch von den vielen ge trockneten Blutspritzern verstärkt wurde, die im flak kernden dünnen Licht der einzigen Leuchtkugel der Zelle zu erkennen waren. »Schauen Sie, Herr ... Pierakor Az Vinrenn D’rav«, fügte Teysa hinzu, ohne sich dabei zu verhaspeln. Sie hatte den Namen auf dem ganzen Flug hierher geübt. »Sie müssen schon besser mit mir zusam menarbeiten.« Der Engel drehte sich um und überbrückte die Strecke zur Baronin und zum Invizomizzium mit nur zwei Schrit ten. Die schwere Kette um seine Füße brachte ihn mit einem metallischen Klang kurz vor der Sicherheitssperre zum Halt. Teysa ging automatisch einen Schritt zurück. Im einen Auge des Engels brannten Zorn und Schmerz mit hellem Feuer. Das andere war komplett zugeschwol len. Direkt über dem Auge war eine unbehandelte Schnittwunde, die bis auf den Knochen ging. Der Ein schnitt lief von der Mitte der Stirn bis knapp über das rechte Ohr. Um seine Rippen war eine blutgetränkte Bandage zu sehen, eine weitere war um den Oberschen kel gebunden und eine dritte um die linke Schulter. Der linke Arm des Engels hing in einer einfachen Schlinge, wie sie in der Gefängnisambulanz verwendet wurde, und er trug eine graue Gefangenenuniform, die für jemanden gedacht war, der deutlich schmächtiger gebaut war ... und weniger engelhaft. Seine rote Haarpracht war zu 76
kurzen Stoppeln verunstaltet worden – wie es aussah, hatte man das mit einer Fackel bewerkstelligt. Der Engel wirkte blass und ausgelaugt. Es wurde zwar behauptet, dass Engel Wesen aus Magie seien, aber dieser Engel be stand augenscheinlich auch aus Fleisch und Blut. Und davon hatte der Gefangene, falls die Baronin das richtig einschätzte, durch die Verletzungen auch eine Menge verloren. Wäre der Engel ein Mensch und nicht eine halb unsterbliche Manifestation aus Magie und Gerechtigkeit, hätte Teysa vorgeschlagen, dass er am besten jetzt gleich sein Testament aufsetzte. Der Engel fixierte Teysa mit seinem offenen Auge, und einen Moment lang konnte sie das Feuer darin bis in ihre Seele hinein spüren. Dann war es genauso schnell wieder verschwunden. Der Engel entspannte sich und bemühte sich sogar zu lächeln. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte er. »Ich habe gerade nachgedacht. Sie haben mich dabei unterbrochen, und ich habe instinktiv reagiert. Eingesperrt zu sein ist für mich ein ... ein ungewohnter Zustand, besonders im derzeitigen Augenblick. Sie sind die Baronin von Utvara.« »Und Sie... nun, Sie sind jedenfalls verletzt«, sagte Tey sa. »Sind Sie sich sicher, dass Sie das durchhalten? Ich könnte einen Heiler kommen lassen, oder zumindest ein paar Heiltränen besorgen. Wir können später immer noch miteinander reden.« »Nein«, antwortete der Gefangene. »Ich werde heilen.« »Sie würden schneller heilen, wenn ... Na, auch egal«, sagte die Baronin. »Darf ich Sie Feder nennen? Wir sind 77
uns schon einmal begegnet, und damals baten Sie mich, Sie Feder zu nennen.« »Das dürfen Sie«, sagte der Engel. »Es ist mein Name geworden.« »Also, Feder, während Sie nachgedacht haben – haben Sie da zufälligerweise gehört, was ich ...« »Ein Engel hört immer, was ein Sterblicher sagt, wenn er direkt angesprochen wird«, sagte Feder. »Die Entfer nung ist dabei unerheblich.« »Oh«, sagte Teysa, die aus dem Rhythmus gebracht worden war. »In Ordnung. Dann reden wir also nicht aneinander vorbei. Das ist gut. Das ist sogar sehr gut, diese Fähigkeit könnte noch nützlich sein, falls Sie in den Wahrheitskreis müssen. Das bedeutet, dass wir dann immer noch eine Kommunikationsmöglichkeit haben. Aber dazu kommen wir später.« »Ein Wahrheitskreis wird nicht nötig sein«, sagte der Engel. Teysa machte sich nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass die wahrheitserzwingende Magie angewendet wer den würde, egal, was der Angeklagte für nötig hielt. »Ich werde Ihre Fragen beantworten«, fuhr Feder fort. »Erstens: Pivlic hat Sie mir empfohlen. Zweitens: Ich weiß, was Ihre Dienste wert sind. Wenn Sie Ihre Bank konten überprüfen, werden Sie feststellen, dass bereits eine beträchtliche Summe auf Ihr Hauptkonto überwie sen worden ist. Das restliche Geld wird bezahlt, sobald Sie meinen Fall übernehmen.« »Wie kommen Engel an Zidos?« 78
»Ich war zweiundzwanzig Jahre lang ein Wojek, und der Bund bestand darauf, mir den normalen Lohn zu bezahlen, trotz meines ... ungewöhnlichen Status. Das hatte mit der Gewerkschaft zu tun. Ich habe den Lohn nie ausgegeben, sondern ihn in den guten Händen von ...« »Pivlic?« »Das stimmt.« »Pivlic hat überall seine Hände drin.« »Er hat das Geld für mich in verschiedenste unterneh merische Vorhaben investiert, die den strengen gesetzli chen Standards, die ich verlangt habe, genügten. In den letzten zwölf Jahren hat er anscheinend – so hat er das jedenfalls ausgedrückt – meinen Reichtum deutlich an wachsen lassen. Daher werden Sie meinen Fall überneh men.« Es war eine Aussage, keine Frage. Teysa versuchte, im Gesicht des Engels zu lesen, ent deckte aber keinerlei Anzeichen von Scherzhaftigkeit oder Unehrlichkeit. Mal wieder Pivlic. Ihr neuer Stellver treter schaffte es immer wieder, sie zu überraschen, und schien noch lange nicht alle seine Karten auf den Tisch gelegt zu haben. Der Bold legte großen Wert darauf, jeden zu kennen. Das war anderseits auch einer der Gründe, warum er für sie so wertvoll war. Sie machte sich geistig eine Notiz, einige Verträge aufzusetzen, die seine Loyalität für die nächsten hundert Jahre sicherstellen würden. Ein Stellvertreter mit guten Verbindungen erlag nur zu oft der Versuchung, selbst irgendwann einmal der Boss werden zu wollen. »Und wie beträchtlich ist ...« 79
»Beträchtlich«, sagte Feder. »Ich habe Pivlic die Summe vorgelegt, bevor ich Ihnen meine Nachricht habe zu kommen lassen, und er stimmte mir zu, dass sie großzü gig sei.« »Ich werde es überprüfen, aber gehen wir jetzt einfach mal davon aus, dass Sie nicht lügen. Sie sind ja schließ lich ein Engel. Also lügen Sie mich bitte auch nicht an, Feder – oder soll ich Konstabler Feder sagen?« »Zuletzt lautete mein Titel ›Legionär‹. Und davor ›Kon stabler‹. Aber Sie können mich ruhig auch bloß Feder nennen«, sagte Feder. »Und ich spreche nicht die Un wahrheit. Engel lügen nicht.« »Engel können nicht lügen oder lügen nicht?« »Engel lügen nicht.« »Feder«, sagte die Baronin und schaltete ihren Ge sichtsausdruck auf Nummer fünf: Ich bin diejenige, die sich um dich kümmert, du kannst mir daher vertrauen. »Feder, jeder lügt. Aber in dubio pro reo. Lassen Sie uns davon ausgehen, dass ich denke, dass Sie die Wahrheit sagen. Bevor ich den Fall übernehme, muss ich zuerst ein wenig mehr darüber wissen.« »Ich bin mehrerer Vergehen angeklagt. Fahnenflucht in Kriegszeiten. Schlagen eines Vorgesetzten. Brechen von Eiden. Versagen dabei, meine Pflichten als Wojek-Offizier und als Boros-Legionär zu erfüllen. Und ich könnte auch als schuldig am Mord an einem Gildenmeister gelten.«
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Feder brauchte eine gute halbe Stunde, um die Anklage punkte im Detail aufzuführen – das Gedächtnis von En geln war berühmt für seine erschreckende Präzision. Teysa vermutete, dass der größte Teil dessen, was der Engel ihr erzählte, auch wortwörtlich so in der offiziellen Anklageschrift stand. Als Advokatin war sie nicht wenig entsetzt, als der Engel ihr erzählte, dass die meisten In formationen, auf denen die Anklage beruhte, von ihm selbst stammten, der sich sogar freiwillig gestellt hatte. Es war wie verhext. Sie arbeitete nicht nur für einen Engel, nein – sie arbeitete für einen Engel, der entweder übergeschnappt war oder eine Warnung übermitteln wollte, die alle hören sollten, die in Ravnica an der Macht waren. Als Feder mit seinem Bericht fertig war, wusste die Baronin, wie sie es angehen musste, um aus dieser Geschichte eine erfolgreiche Verteidigungsstrategie zu erarbeiten. Die mildernden Umstände waren unglaublich überzeu gend und würden ihr einen Vorteil bei den Richtern ver schaffen. Das war die beste Hoffnung, die sie hatte, da der Engel darauf bestand, ihm Rahmen der Verteidigung selbst auszusagen. Innerhalb von wenigen Stunden stand ihre Strategie fest. Teysa hatte tatsächlich einen ehrlichen Klienten, und genau dadurch würde sie den Fall gewin nen – falls sie es denn überhaupt schaffte, ihn zu gewin nen. Die Wahrheit und ein wenig Hilfe von seiner Advo katin würden Feder wieder auf freien Fuß setzen – eine andere Möglichkeit gab es nicht.
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Crixizix erschauderte, als der Große Drache Niv-Mizzet über dem Horizont erschien und einen Moment lang die Sonne verdeckte. In ihrem Herzen kämpften Erleichte rung und Furcht gegeneinander. Erleichterung darüber, dass diese Katastrophe nun fast sicher enden würde oder zumindest Rettung und Wiederaufbau anstand, denn sie wusste mit all der Sicherheit, die ihr der Glaube verlieh, dass nichts der entfesselten Macht des Izzet-Gilden meisters widerstehen konnte. Furcht davor, dass ihre kurze Karriere als Meisteringenieur schon bald im wahr sten Sinne des Wortes in Flammen aufgehen könnte. Als sie zuletzt Verbindung mit der übellaunigen Frau in der Einsatzzentrale aufgenommen hatte, wurde ihr ge sagt, dass sich das Eindämmungsteam gerade auf einem Manöver am Nordwestpol befand und sich auf den Weg machen würde, sobald der Kontakt wiederhergestellt werden könne – wahrscheinlich in ungefähr dreißig Stunden. Die einzige andere Hilfe, die sie geschickt be kam, war eine kleine Truppe Feuer bekämpfender Hy dromagier, die sich direkt hierher teleportiert hatten. Leider materialisierten sich die Zauberer an einer Stelle, die inzwischen keinen Boden mehr hatte. Crixizix musste aus der Ferne hilflos mit ansehen, wie sie in die Tiefen von Utvaras kalter, toter Unterstadt fielen. Sie brach ihre ersten drei Landeversuche ab, da immer mehr von Utvara den Fäusten, Füßen und anderen Kör perteilen der Nephilim zum Opfer fiel. Crixizix gab dann 82
auch die Idee auf, Leute einzeln mithilfe der Observoku gel in Sicherheit zu bringen, da der in Panik geratene Mob ihr Fahrzeug beinahe zu Boden gerissen und zum Absturz gebracht hätte. Die Goblin-Frau entschied sich schließlich dafür, in der Luft zu bleiben, von wo aus sie einen besseren Überblick hatte. Hier konnte sie wenigstens etwas mehr Gutes tun, indem sie durch die Lautsprecherverzauberungen ihrer Observokugel den Flüchtenden half, Wege zu finden, auf denen sie sicherer fliehen konnten. Wütend und in noch größerer Panik, jagten die Leute sie, statt ihren Anwei sungen zu folgen, aber die Wirkung blieb die gleiche. Crixizix hatte mehrere Dutzend Leute in relative Sicher heit gebracht – sie bezweifelte, dass die Nephilim langfri stig in Utvara bleiben würden. Aber immer noch wurden viele Stadtbewohner von den Monstern gefangen, gefres sen oder einfach platt getrampelt. Hätte der Drache sich nicht bereiterklärt, sich der An gelegenheit anzunehmen, wäre Crixizix wahrscheinlich in die Stadt zurückgekehrt und hätte die Wojeks, die Le dev und sogar die Titanen alarmiert. So jedoch informier te sie nur einen niedrigen Funktionär der Orzhov, nach dem die Baronin auf keiner der Ley-Linien zu finden ge wesen war und sie zu höheren Rängen nicht durchkam. Sie konnte auch Pivlic nicht erreichen, der sicherlich eine Möglichkeit gewusst hätte, wie man Teysa Karlov hätte benachrichtigen können. Doch abgesehen davon hatte der Gildenmeister der Izzet ihrem Ansinnen zugestimmt – allerdings mit einem stark irritierten Unterton. Wie ver 83
sprochen erreichte er Utvara schon kurze Zeit später. Crixizix hatte gerade eine unter Schock stehende Vias hino-Familie bis zum Rand der Huske gelenkt, als der Drache sein langes Schweigen brach. Diese Situation ist nicht annehmbar, sagte das Feuerhirn in ihrem Kopf. Die Goblin-Frau antwortete nicht, stellte aber die Flammendüsen um und änderte ihren Richtungsvektor, um den Gildenmeister zu eskortieren. Der Drache überquerte die Ruinen des Kessels, die schon vor Stunden von den Nephilim auf der Suche nach weiterer Nahrung verlassen worden waren. Er öffnete sein riesiges Maul und hüllte die Überreste von Zomaj Haucs Vermächtnis in ein Flammeninferno. Die Ruinen wurden innerhalb weniger Minuten von den Flammen verzehrt, fielen zusammen und verschmolzen schon bald mit dem Vulkankraterkessel, auf dem sie ruhten. Nach dem die Ruinen komplett geschmolzen waren, kehrte Niv-Mizzet zu ihnen zurück und breitete seine großen lederigen Schwingen aus. Er flog auf der Stelle und schlug kräftig mit den Flügeln, bis sich eine riesige Staubwolke über der Vulkanspalte gebildet hatte. Nach ein paar Minu ten hatte der Wind den geschmolzenen Fels und das flüs sige Metall soweit heruntergekühlt, dass beides zu erstar ren begann. Insgesamt benötigte Niv-Mizzet genau sieben Minuten, um den Kessel vom Erdboden zu löschen und eine aktive geothermische Spalte zu verschließen. Crixizix hoffte, dass dies nicht die Lösung war, die der Gildenmeister für 84
die ganze Sanierungszone im Sinn hatte. Als ob er auf ihre angstvollen Gedanken antworten wollte, ertönte die Stimme des Feuerhirns wieder in ih rem Kopf. Warum hast du all dies zugelassen, Meisteringe nieur? Die Überreste meiner Artgenossen sollten doch ein geäschert werden. Komplett. Ich hatte meine Meditationen nur deswegen wieder aufgenommen, weil du mir versichert hast, dass dies geschehen würde. Dem mentalen Abbild, das Niv-Mizzet von sich proji zierte und das ein perfektes Ebenbild seiner körperlichen Gestalt war, fehlte jegliches gekünsteltes Verhalten. Die Goblin-Frau hingegen fühlte sich im mentalen Bereich furchtbar unbedeutend, wenn sie sich in seiner Gegen wart befand. Sie zuckte zusammen, als das Abbild den Kopf leicht schräg legte, und musste den ganzen Mut aufbringen, der ihr noch verblieben war. Nun?, wollte Niv-Mizzet wissen. Wir waren gerade dabei, alles nach Plan durchzuführen, großer Niv-Mizzet, gab Crixizix zurück. Hätten wir jetzt mehr Zeit, würde ich Euch gern den geplanten Ablauf näher erläutern, aber ich kann Euch versichern, dass sie ... Von deiner Inkompetenz kannst du später berichten, Meisteringenieur, dachte der Drache. Du musst noch nicht um dein Leben fürchten. Dies ist alles noch Zomaj Haucs Werk. Du bist nur ein Goblin. Vielleicht habe ich bereits zu viel von dir verlangt. Mein Fürst, dachte Crixizix, ich unterwerfe mich Eurem Oberbefehl. Sagt mir, was ich für Euch tun soll. Bleib mir aus dem Weg, antwortete das Feuerhirn. Es ist 85
schon einige Zeit her, dass ich die Gelegenheit hatte, so etwas zu tun, fügte er hinzu. Ich habe vor, mich dabei zu amüsieren. Wenn du von diesem Gesindel noch jemanden retten willst, dann tue das am besten sofort. Ich flehe Euch an, bitte bemüht Euch, das ... Der geistige Hieb schleuderte Crixizix’ Kopf mit einem hörbaren Knacken zurück in ihren Sitz. Mein Zorn nimmt keine Rücksicht, brummte das Feuer hirn. Ist er einmal entfacht, will er nichts außer Blut sehen. Genieß die Vorführung. Crixizix ließ die Flammendüsen aufheulen, um dem Drachen auszuweichen, der nun in einen Sturzflug über gegangen war und gleich darauf dicht über der Oberflä che von Utvara flog. Sie stieg mit der Observokugel in die Höhe, um ihm wie befohlen aus dem Weg zu gehen. Ge rade noch fiel ihr ein, die Aufnahmegeräte einzuschalten. Wenn der Große Drache eine Vorführung versprach, war es vielleicht keine so schlechte Idee, sie für die Ge schichtsbücher aufzuzeichnen – selbst wenn die Vorfüh rung wohl in einer Katastrophe für Crixizix’ neu erwählte Heimat enden würde. Aber die schlimmsten Ängste der Goblin-Frau stellten sich zumindest nicht unmittelbar ein. Trotz seiner marki gen Worte steckte der Drache nicht sofort die ganze Stadt in Brand. Er drehte eine Runde über der Stadt und stieß ein Brüllen aus, das alle fünf herumwütenden Monster so anstachelte, dass sie herausfordernd zurückbrüllten. Von ihrem neuen Aussichtspunkt aus konnte Crixizix das Schlachtfeld sehen, zu dem Utvara geworden war. 86
Am Nordende der Stadt verschlang das vierbeinige Mon ster, das nur aus Schwanz und Maul bestand, ganze Schwaden von den Feldern der Golgari und einzelne Vez bäume. Es klang fast wie ein Grölen, als es Niv-Mizzets Herausforderung erwiderte. Im Osten riss das GehirnWesen mit den Tentakeln gerade die Wände einer billigen Absteige ein. Südlich davon grub etwas, das wie ein wan dernder Hügel aussah, auf dem der Kopf einer Statue aufgepflanzt war, tiefe Furchen in den Boden und er schütterte dabei eine ganze Gruppe von Gebäuden so sehr in ihren Fundamenten, dass sie zusammenstürzten. Im Westen zerdrückte der Schlangen-Nephilim mit seinen Schwanzwindungen einen Haazda-Wachturm. Fliehende Haazda-Freiwillige rannten durcheinander, bis sie auf eine Gruppe Froschling-Brut stießen, die in die entgegen gesetzte Richtung wollte. Das Elterntier wachte über sei ner Brut und spuckte noch ein paar mehr aus. Der her umhüpfende Nephilim-Nachwuchs, der auch schon die halbe Größe eines ausgewachsenen Menschen hatte, erwischte jeden Haazda in Reichweite. Jeder der ursprünglichen fünf Nephilim, die Crixizix sehen konnte, war nach Stunden ununterbrochenen Wachsens inzwischen größer und schwerer als NivMizzet. Aber die Kreaturen besaßen weder die uralte In telligenz des Feuerhirns noch seine Macht oder Gerissen heit. Sie spürte eine Welle ähnlicher Empfindungen, die vom Drachen selbst ausging. Der Gildenmeister der Izzet schleuderte einen Flammenstoß auf das Schwanzmaul und hüllte den Nephilim in Drachenfeuer ein. Das augen 87
lose Monster heulte bemitleidenswert auf und krümmte dann alle vier spindeldürren Beine. Es stemmte sich vom Boden ab und sprang auf den Drachen los, während hei ße Klumpen seiner öligen, schmelzenden Haut auf die zerstörten Gebäude am Boden tropfte. Niv-Mizzet wartete nicht darauf, umgeworfen zu wer den, sondern flog einen eleganten Bogen um die bren nende Kreatur herum. Als diese vorbeischoss, schlitzte er ihr mit seinen Krallen an drei Stellen den Rücken auf und riss einige gezackte Rippen heraus, die dann klappernd auf der Erde landeten. Als das Wesen irgendwie wieder auf allen vieren landete, waren die Flammen zwar ausge brannt, das Wesen aber in keinem guten Zustand und dafür umso wütender. Der Drache erstickte diese Wut, indem er erneut einen gezielten Strahl pyromagischer Flammen ausstieß, der die ihm zugewandte Seite des Nephilims innerhalb von Sekunden in glühend heiße Asche verwandelte. Der hintere Teil brach zuckend zu sammen und begrub den letzten noch stehenden Teil von Baronin Karlovs neuer Villa unter sich. Crixizix’ Jubel erstarb auf ihren Lippen, als sie bemerk te, was Niv-Mizzets schneller Angriff verursacht hatte. Ganze Abschnitte mit Trümmern standen in Flammen, die vom Wind, den der Drache mit jedem Flügelschlag erzeugte, nur noch mehr angefacht wurden. Und was noch schlimmer war: Die anderen Nephilim konzentrier ten sich jetzt direkt auf Niv-Mizzet, der Vorteil der Überra schung bestand nicht mehr. Der Gildenmeister wirkte ausweglos umzingelt. 88
Unsinn, sagte das Feuerhirn, führte diese Aussage aber nicht weiter aus. Die Goblin-Frau konnte spüren, wie die geballte Intelligenz am Arbeiten war, getrieben von der Unmittelbarkeit des Kampfes. Sie entschloss sich, positi ver zu denken. Drachenfeuer war eines der sehr wenigen Dinge, die magisch geschmiedetes Mizzium schmelzen lassen konnte, und Crixizix’ Observokugel würde einem verirrten Strahl nicht standhalten. Niv-Mizzet eilte im Tiefflug zu dem Nachwuchs aus spuckenden Frosch-Nephilim und bedeckte die ganze Ebene mit Feuer. Die in einer Horde herumhüpfenden Froschwesen platzten in den Flammen auf. Während der Drache über sie hinwegflog, starben hunderte auf einmal. Der Herdeninstinkt setzte ein, und mehrere der kleinen Wesen, die mit Verbrennungen davongekommen waren, schafften es, sich am Schwanz des Drachen festzuklam mern. Ohne nach hinten zu blicken, schnalzte Niv-Mizzet seinen Schwanz wie eine Peitsche und ließ auf diese Wei se Dutzende Froschwesen auf dem steinigen Boden zer schellen. Dieses Manöver war wirkungsvoll gewesen, führte aber beinahe zum Untergang des Drachen. Der Erzeuger der Brut fuhr einen affenartigen Arm mit Saugnäpfen aus, der sich um Niv-Mizzets Schwanz wickelte. Der Drache schlug seine Flügel wie wild und erzeugte dabei viele unkontrollierte kleine Windhosen, aber er schaffte es nicht, sich aus dem eisernen Griff des Nephilims zu be freien. Der Nephilim stemmte sich mit seinen restlichen Gliedmaßen in den Boden und zog Niv-Mizzet aus dem 89
Himmel zu Boden. Der Aufprall des Drachen verursachte ein Krachen, das in alle Richtungen noch meilenweit zu hören war. Niv-Mizzet schaffte es gerade noch, sich so zu drehen, dass er auf seinem Bauch landete und sich dabei nicht einen Flügel brach, aber sein nächstes Brüllen war voller Schmerz. Die Qualen, die er litt, wurden durch das Feuerhirn weitergetragen, und schon bald standen Crixi zix’ Augen in Tränen, da sie den Schmerz zu einem ge wissen Grad nun mitspürte. Aber Niv-Mizzet war noch lange nicht am Ende seiner Weisheit. Innerhalb weniger Augenblicke erholte er sich von dem Aufprall, stemmte sich mit den Beinen hoch und drehte den Kopf weit genug herum, um einen Feuerstrahl direkt in das offene Maul des Frosch-Nephilims zu schik ken. Der Kropf der Kreatur blähte sich wie ein Ballon auf, und hundert weitere Nachkömmlinge wurden auf der Stelle verbrannt. Dann konnte selbst die uralte dicke Haut des Nephilims dem Druck nicht mehr widerstehen. Der Brutausspucker explodierte. Die Druckwelle verteilte Teilchen des Elterntiers und seiner Nachkommen in alle Richtungen, sodass es im ganzen von der Huske umringten Gebiet eine Minute lang Froschstückchen regnete. Selbst Niv-Mizzet wurde mitge rissen und fand sich auf einmal jenseits der Observokugel wieder. Crixizix hatte mehr Glück, da die Kugel so gebaut war, dass sie solche Bedingungen überstehen konnte. Es wackelte noch nicht einmal, als die Überreste des Nephi lims auf der Observokugel aufklatschten, da sie vorsorg lich etwas mehr Pyromana in die Flammendüsen geleitet 90
hatte. Sie löste die Befestigungen der Kreiselvorrichtung, mit der sie das Cockpit in alle Richtungen drehen konnte, und folgte mit ihrem Blick dann dem Gildenmeister, der von der Druckwelle in hohem Bogen mitgerissen worden war. Der Drache schien betäubt zu sein, möglicherweise sogar verletzt. Nachdem Niv-Mizzet den Scheitelpunkt seiner Flugbahn passiert hatte, füllten sich seine Flügel mit Luft, um den freien Fall abzufangen. Der Gildenmei ster schlug einen Salto, um dann auf allen vieren direkt vor dem Schlangen-Nephilim zu landen. Das riesige Auge des Monsters blickte den Drachen ungerührt an und löste seinen Schwanz vom Haazda-Wachturm. Während der Turm in einer Staubwolke zusammenfiel, erhob sich der Nephilim wie eine Kobra vor dem Angriff – eine Kobra mit Armen, die auf beiden Seiten aus dem Kopf heraus wuchsen. Mit einem bedrohlichen Poltern kopierte Niv-Mizzet die Bewegung des Schlangenwesens und bog seinen Hals nach hinten. Er hatte sein Maul weit geöffnet, sodass man die Doppelreihen schrecklicher, rasiermesserscharfer Zähne gut erkennen konnte. Aus Niv-Mizzets Kehle stieg Rauch auf, der sofort verschwand, als der Drache tief Luft holte. Das Einatmen wurde rabiat unterbrochen, weil eine knollenförmige Ladung Gewebe von der Seite gegen NivMizzets Kopf prallte. Der Drache sprang erschreckt zu rück. Er war wie gelähmt und konnte seinen zweiten Angreifer nicht ausmachen, bis er von einem zweiten Geschoss mit voller Wucht am linken Flügel getroffen 91
wurde. Crixizix und Niv-Mizzet entdeckten den vierten Nephilim fast gleichzeitig. Das Tentakel-Monster riss ei nen weiteren Brocken seines eigenen Kopfes ab – genau er gesagt eines der riesigen Augen, die auf den Tentakeln ruhten – und schleuderte ihn auf den Drachen. Der Dra che duckte sich, wich dem Geschoss aus und schwang sich dann mit gewaltigen Flügelschlägen in die Luft. Das hat Spaß gemacht, dachte Niv-Mizzet. Aber jetzt wird das Ganze langsam langweilig. Aber mein Fürst, es sind doch immer noch drei von ih nen am Leben, dachte Crixizix. Ihr müsst ... Du maßt es dir an, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe?, antwortete der Drache. Nein. Die Sache hier war eine nette Ablenkung, aber ich verliere allmählich die Lust daran. Ich glaube, ich ziehe mich zurück, um eine Weile zuzusehen, wie die anderen sich mit den Nephilim abmü hen. Crixizix war platt. Ihr fliegt einfach so davon?, fragte die Goblin-Frau un gläubig. Das Feuerhirn antwortete nicht. Der Drache kreiste noch einmal durch den Himmel und flog dann zu einem seiner vielen versteckten Horste im Norden. Es fiel Crixi zix auf, dass Niv-Mizzet nicht in dieselbe Richtung flog, aus der er gekommen war. Es schien, als hätte er die Stadt Ravnica aufgegeben. Crixizix wusste nicht, was sie tun sollte. Furcht inner halb des Feuerhirns war unvorstellbar. Aber genauso unvorstellbar war es auch, dass der Gildenmeister der 92
Izzet seine Leute so verantwortungslos im Stich lassen würde. Dass er es zulassen würde, dass die Izzet von ran dalierenden Nephilim ausgelöscht wurden. Falls sie dies den anderen erzählte, würden sie es wahrscheinlich als Grund sehen, um sie aus der Gilde zu werfen. Sie war nicht gerade beliebt – die meisten Magierfürsten waren der Meinung, dass sie auf eine Position befördert worden war, auf die sie nicht gehörte. Die Goblin-Frau fing an zu weinen. Ob es aus Erschöp fung, Desillusionierung oder Scham war, konnte sie nicht genau sagen. Die drei siegreichen Nephilim zogen ab und ließen eine Spur der Verwüstung zurück. Dabei wurden Überreste alter Zivilisationen freigelegt, die längst vergessen waren, nun aber möglicherweise auch nie mehr erforscht wer den würden. Crixizix warf ihren Blick zurück nach Utva ra. Sie bemühte sich, sich zu beruhigen. Es war egal, dass sich ihr Gehirn anfühlte, als wäre es entzweigerissen worden. Es war egal, ob das Feuerhirn nun ein Lebewe sen war, das ab und zu unverantwortlich handelte, ob der Drache einfach Angst gehabt oder welchen Grund es für ihn auch sonst gegeben hatte, die Izzet zurückzulassen. Solche Dinge geschahen. Wenn man alles zusammen rechnete, ging es den Leuten unter ihr viel schlimmer, und sie hatte immer noch die Möglichkeit, etwas für sie zu tun. Sie programmierte die Observokugel so, dass sie vor dem »Geflügelten Bold« landen würde. Das Gasthaus war eines der wenigen Gebäude in Utvara, die wenigstens 93
noch zur Hälfte intakt waren. Geschäftig huschte sie in der Kugel hin und her, um alles zusammenzusuchen, was sich an medizinischer und alchimistischer Ausrüstung an Bord befand.
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Kapitel 4
H
Die einzige Liebe im Leben eines Ledev ist die lange, einsa me Straße. Er braucht keine Familie außer dem Konklave – zumindest verlangt das Konklave von einem, das zu glau ben. Erinnerungen eines Oberzenturiaden anonym veröffentlicht, 9104 Z. C. vom Selesnija-Konklave auf den Index gesetzt, 9105 Z. C. 2. Auflage, 9106 Z. C.
31. Cizarm 10012 Z. C. Der erst vor kurzem wieder eröffnete Handelsweg nach Utvara verengte sich an einem Ort zweihundert Meilen östlich von Prahv erkennbar. Fonn beäugte die halb lee ren Gebäude, die an beiden Seiten der Straße emporrag ten. Der Weg verlief wie ein Riss durch die äußeren Teile der großen, zentralen Stadt. Sie hatte ihr Dromad gegen einen zuverlässigen Wolf eingetauscht und saß aufrecht im Sattel. Die Teilzeit-USBlerin führte einen kleinen Trupp jugendlicher Pfadfinder an. Die Halbelfin hatte ihre Wojek-Rüstung vorübergehend abgelegt und war in die bequemere der Ledev geschlüpft. 95
Jetzt war sie wieder eine Heldin der Straße, eine Beschüt zerin der Reise- und Handelsrouten von Ravnica. Und sie war froh, dass diese Aufgabe bedeutete, dass sie Zeit mit ihrem Sohn verbringen konnte. Sie war mit Myc und den anderen auf dem Weg nach Utvara, aber sie mussten sich nicht beeilen. Dieser Ausflug nach Utvara war kein Ur laub. Die Pfadfinder sollten die Straßen außerhalb der Stadt in allen Details kennen lernen. Fonn hatte festgestellt, dass der Dienst beim Bund der Wojeks ihr eine besondere Form der Erfüllung bot – sie konnte auf diese Weise ihres Vaters gedenken, der selbst Wojek gewesen war. Es war für sie fast eine Verpflichtung geworden, die Familientradition weiterzuführen. Ande rerseits fühlte sie sich nur auf der Straße wirklich zu Hau se. Seitdem Myc die Ausbildung bei den Pfadfindern auf genommen hatte, bekam der Dienst für sie noch eine ganz andere Bedeutung. Es war eine andere Art von Pflicht. Und vor allem ein notwendiges Training, das Fonn ihrem Sohn angedeihen lassen wollte. Ihr schien, als ob die Ledev-Wächter in der letzten Zeit falsche Priori täten gesetzt bekamen. Statt allen zu nützen, indem sie mit Patrouillen auf den Straßen für Sicherheit sorgten, bewachten sie immer häufiger Tempel-Außenposten und dienten damit nur den Interessen des SelesnijaKonklaves. Fonn befürchtete, dass sich die Ledev immer mehr zu reinen Sicherheitskräften entwickelten. Das schmeckte der Halbelfin gar nicht, und sie wusste, dass sie nicht die Einzige war, die so fühlte. Das war die Hin terlassenschaft der Schweiger. Für viele tausend Jahre 96
hatten diese Wesen als Wachen, Diener und Träger für körperlose Mitglieder des herrschenden Kollektivs der Gilde gedient. Aber die Schweiger waren unglücklicher weise zur Zehntausendjahresfeier von dunklen Kräften unterwandert und verdorben worden, und man konnte ihnen nicht mehr trauen. Die Scheiterhaufen hatten noch wochenlang am Fuß des Vitu Ghazi gebrannt, und das Selesnija-Konklave hatte geschworen, dass diese gesichts losen Kreaturen nie wieder erschaffen werden sollten. Fonn zwang sich dazu, nicht zu lange darüber nachzu denken. Die Zeit, die sie auf der Straße unterwegs war, war auch immer eine Zeit des Nachsinnens und der inne ren Einkehr. Und je länger sie die Pflastersteine der Stra ße unter ihren Füßen (und denen ihres Wolfs) hatte, desto mehr Zeit hatte sie normalerweise dafür. Jedenfalls fühlte sich das Leben gerade gut an. Auf der Straße herrschte nur leichter Verkehr. Fonn nickte einem Händler zu, der auf einem kleinen Karren vorbeirumpelte. Sie erinnerte sich an den Mann, einen Utvarer. Er war in der Menge gewesen, die sich bei der Gedenkfeier für Agrus Kos und die anderen Opfer des Drachenangriffs eingefunden hat te. Sie fühlte immer noch eine Spur von Schuld, dass sie in den letzten zwölf Jahren Agrus Kos mehr oder weniger ganz aus ihrem Leben verbannt hatte. Sein plötzlicher und sinnloser Tod hatte sie mehr mitgenommen als üb lich. Es war nicht so, dass Fonn glaubte, die Drachen selbst hätte aufhalten zu können. Aber sie hätte Kos hel fen und ihm auf diese Weise vielleicht sein unnötiges Schicksal ersparen können. 97
Andererseits wäre wahrscheinlich Kos der Erste, der sie darauf hinweisen würde, dass alles seine eigene Schuld war. Sie hatte nichts damit zu tun, dass er in Rente gegangen war und ein neues Leben in der Sanierungszo ne begonnen hatte. Das hatte er sich selbst ausgesucht. Fonn kratzte an ihrer zytoplastischen Hand. Ihre echte Hand hatte sie verloren, kurz nachdem sie Mycs Vater kennen gelernt hatte. Da die Kreatur, die ihr die Hand abgerissen hatte, mit einem Fluch belegt war, konnte normale Magie ihre Hand nicht wiederherstellen. In den meisten Fällen bemerkte sie die künstliche Hand nicht. Nur diesmal hatte sie wie verrückt zu jucken angefangen, kaum dass sie die Stadt verlassen hatten. Zytoplastik war eine relativ neue Form von Bioalchimie. Aber laut den Simic war sie wirklich idiotensicher; bei zehntausend Operationen hatte nur eine Handvoll Körper die neuen Gliedmaßen wieder abgestoßen. Fonn trug sie jetzt seit zwölf Jahren ohne jegliche Beschwerden, und die künstli che Hand funktionierte ebenso gut wie die ursprüngliche Hand. Allerdings konnte man sie nicht gerade als attraktiv be zeichnen – die Haut über dem Fleisch war blass und ir gendwie auch durchsichtig. Durch das Zytoplasma konn te man blaue und grüne Stränge sehen, die sich um fein faserige Knochen herumrankten. Das Selesnija-Konklave sprach sich aus theologischen Gründen strikt gegen Zyto plastik aus, allerdings gab es kein Gesetz, das sie verbot. Ihr Wolf spitzte die Ohren, ein Anzeichen dafür, dass er Gefahr witterte. Fonn strich ihm über den Nacken. 98
»Deswegen müssen wir uns keine Sorgen machen. Ich kann es auch riechen«, flüsterte sie dem Wolf ins Ohr. »Das ist Utvara. Dort ist ein geothermischer Riss. Stein verbrennt. Etwas anderes kann man dort kaum riechen.« Ihre Augen schweiften über die Straße und blieben an etwas Ungewöhnlichem hängen. »Oder es könnten auch die dort sein.« Sie waren noch etwa eine Meile von einem der interes santen Abschnitte des Weges entfernt. Die Straße verlief an dieser Stelle in einem breiten Tunnel, der unter einem komplexen Netz aus neuer und alter Architektur verlief. Dort lebten tausende gildenloser Ravnicaner, aber auch Anhänger der »wilden Gilden«: Gruul, Rakdos, nicht selten auch Golgari. Das war einer der Gründe, warum sie mit neuen Rekruten gern auf diesem Streckenabschnitt übte. Man wusste nie genau, in was man hineingeraten konnte, aber es war auch noch nahe genug an den Stadtgrenzen, um eine Fluchtmöglichkeit zu haben, wenn man auf Wi derstand stieß. Heute würde es allerdings eher keine Ge fahr geben, dafür war auf der Straße zu viel los. Trotzdem löste die Gruppe von Reisenden, die aus den Schatten aufgetaucht waren, in ihr einen Alarm aus. Die Gestalten waren in die üblichen Lumpen und Lederfetzen von Rakdos-Priestern gehüllt. Sie sahen nicht nach einer Räuberbande aus, sondern eher wie Pilger, die auf dem Weg zu einem ihrer schmutzigen und blutigen Rituale waren. Das war das Besondere an den Straßen von Ravni ca – sie verbanden die ganze Welt miteinander und bilde ten ein Netz aus sich ständig hin und her bewegenden 99
Leuten, aus Handel und verschiedensten Kulturen. Wenn man jemandem begegnete, bedeutete das nicht, dass er auch dort herkam, wo man hinwollte – oder umgekehrt. Der Kult von Rakdos hatte seinen Ruf als eine der blut rünstigsten der neun Gilden von Ravnica mehr als ver dient. Nein, eigentlich waren es ja zehn, korrigierte sich Fonn. Ihr Leumund war zwar in der letzten Zeit ein wenig besser geworden, aber das lag vor allem daran, dass sich nach den niedergeschlagenen Aufständen erst wieder neue Anführer herauskristallisieren mussten. Heutzutage arbeiteten die mit den Tätowierungen und Narben des Kults von Rakdos als Rausschmeißer, Söldner und billige Arbeitskräfte über die ganze Stadt verstreut. Die meisten davon lebten in voll gestopften Baracken, in die sich an dere nicht hineintrauten, und blieben mit ihren Blutritua len unter sich. Gerüchteweise waren diese Massenlager auch Brutstätten von Gewalt und Chaos, aber keiner wusste es so genau. Die einzigen Rakdos-Kultanhänger, die ihre Behausungen außer zum Arbeiten verließen, waren die Priester. Sie überwachten die Pilgerreisen und diejenigen Rituale ihrer Religion, die sich außerhalb der Regeln der Stadtverordnung bewegten. Akte wie das reli giöse Opfern von denkenden Wesen waren eigentlich nicht erlaubt, ebenso wenig das Töten zum Zweck des Kannibalismus. Soweit Fonn wusste, war das allerdings das heiligste aller Rakdos-Rituale. Aber solange sich der Dämonengott und Gildenmeister Rakdos weiterhin in seinem Palast Rix Maadi gut unter halten fühlte, nahmen seine Anhänger den ihnen zuge 100
standenen Platz in der Gesellschaft Ravnicas ein. Doch eines Tages würde der unberechenbare Dämonengott sich wieder erheben, was seit der Unterzeichnung des Gildenpakts schon einige Dutzend Male geschehen war. Bis heute diskutierten Lehrmeister und Philosophen dar über, warum die Parune zugestimmt hatten, dass eine Gilde wie der Kult von Rakdos überhaupt existieren durf te. Fonns heimliche Meinung war, dass es die einfachste Möglichkeit war, den fast unsterblichen Dämon Rakdos unter Kontrolle zu halten, wenn man ihn sich mit einer Religion beschäftigen ließ. Die Priester wirkten auf die Entfernung irgendwie an ders, fast schon komisch. Ein paar von ihnen bliesen in Musikinstrumente, andere trommelten oder schlugen Saiteninstrumente an. Sie erzeugten ein Marschlied, das man bestenfalls als atonal bezeichnen konnte. Einer der Priester führte ein riesiges Indrik als Packtier an der Lei ne. Fonn konnte das leise Stampfen hören, das sich dem gemächlichen Marschtempo und der Musik angepasst hatte. Es war mit mehreren Dutzend Tierkäfigen ver schiedenster Größe behängt. Auch wenn die meisten davon leer waren, wirkte die riesige Kreatur wie ein Wanderzoo. An einigen Stellen schauten auch ihre Kno chen heraus, was auf die willkürliche, aber wirkungsvolle Nekromagie der Rakdos schließen ließ. Fonn zog eine Grimasse. Nun, dafür war die Ausbil dung nun einmal da. Sie mussten einfach nur wie geplant weitergehen. Schließlich hatte sie diesen Weg ja auch deswegen ausgesucht. Ein voll ausgebildeter Ledev 101
Wächter würde sich nicht davor drücken, an einer klei nen Bande Rakdos vorbeizureiten. Wäre sie allein unter wegs, bestünde gar kein Problem. Und wenn niemand die Nerven verlor, blieb es bei der Begegnung beim Aus tausch von Grußformeln. Aber diesmal war ihr Sohn unter den Rekruten, und er war erst elf Jahre alt. Für einen Elfen bedeutete das aller dings, dass er nicht mehr weit bis zum Erwachsenenda sein war. Myc war zu drei Viertel Elf, daher ging seine Reife noch schneller voran als bei Fonn damals. »Stimmt irgendwas nicht, Mama?«, rief eine junge Stimme von hinten. »Wahrscheinlich ist alles in Ordnung. Ich glaube, dass Tharmoq einfach nicht an die geothemischen Risse ge wöhnt ist«, antwortete sie schnell. Sie musste ein seltsa mes Schuldgefühl bekämpfen. »Aber ihr haltet lieber alle die Augen auf. Da vorn treibt sich eine übel aussehende Bande herum. Wahrscheinlich sind es nur Pilger, die nach entlaufenen Tieren suchen, die sie opfern können. Aber ich will, dass ihr alle vorsichtig seid. Das Gesetz verbietet ihnen nicht, lebendige Tiere zu fangen, auch wenn wir das nicht mögen.« »Aber Mat’selesnija ist in allen Dingen«, mischte sich einer der anderen jungen Rekruten ein. »Das Leben braucht Freiheit.« »Ja, und darum verhalten wir uns anders als die Rak dos. Sie haben ihr Glaubenssystem, und wir unseres. Der Gildenpakt besagt, dass wir das respektieren müssen, also tun wir es auch«, sagte Fonn. »Nur weil manche sich nicht 102
an Recht und Ordnung halten, heißt das noch lange nicht, dass wir uns auf ihr niedriges Niveau hinunterbegeben.« »Aber haben wir nicht den Geltungsbereich des Pakts verlassen, seit wir aus der Stadt raus sind?« Diesmal fragte ihr Sohn, in dem ein kleiner Philosoph steckte und der von Geschichte fasziniert war. »Im Prinzip kann das so sein, allerdings gilt das nicht für die Straße«, erklärte Fonn. »Das Straßennetzwerk um fasst ganz Ravnica, vom Nordwestpol bis zum Südostpol. Aber für uns ist alles ein und dieselbe Straße, und die Straße verläuft auch durch die Stadt.« »Also gelten die Stadtverordnungen?«, sagte Myc. »Ja.« Fonn nickte. »Und wir sorgen dafür, dass sie ein gehalten werden. Darum wird es auch nicht vorkommen, dass einer von diesen Witzbolden eins von unseren Dro mads für seine Käfige erbeuten will. Und falls sie es doch versuchen, dann hindern wir sie daran.« Mit einem klei nen Grinsen, das keiner der Pfadfinder sah, fasste sie noch einmal Myc ins Auge. »Und du redest mich nicht mit Mama an, solange du im Dienst bist, Pfadfinder!« Fonn hörte ein leises Kichern von den anderen Auszu bildenden. Die meisten waren ein paar Jahre älter als ihr Sohn, der zwar körperlich mit ihnen mithalten konnte, aber trotzdem nur elf Jahre auf dem Buckel hatte. Einen kurzen Augenblick bereute sie die öffentliche Zurecht weisung. Sie musste sich erst an die neue Situation ge wöhnen. Aber Myc hatte sich mehr als alles andere ge wünscht, dabei sein zu dürfen, und er hatte das notwen dige Mindestalter erreicht. Elfen und Mischlinge mit 103
Elfenblut wurden recht schnell erwachsen. Das galt be sonders für die Dunkelelfen der Devkarin, die einen gro ßen Teil ihres Lebens unter der Erde verbrachten. Myc war zur Hälfte Devkarin und sehr schnell groß geworden. Als sie ihn als Rekruten bei den Pfadfindern hatte begrü ßen dürfen, platzte sie fast vor Sorge, aber auch vor Stolz. Nach ihrer Trennung hatten sich Fonn und Jarad dar auf geeinigt, dass sie Myc seinen eigenen Weg gehen lassen würden. Fonn hatte beinahe erwartet, dass der Junge beide Richtungen ablehnen würde, aber er hatte am Ende mehr Weisheit bewiesen, als sie hätte hoffen können. Myc hatte beschlossen, seine Zeit zwischen bei den Welten so gut wie möglich aufzuteilen. Es war von Anfang an unwahrscheinlich gewesen, dass ihre Ehe halten würde, und sie hatten es gerade mal bis zum sechsten Geburtstag ihres Sohnes geschafft. Sie musste verrückt gewesen sein, dass sie jemals geglaubt hatte, sie würden es schaffen. Im Nachhinein schob sie das damalige Verlangen nach einem Ehebund auf die Erleichterung, die durch sie beide geflossen war, nach dem sie die Zehntausendjahresfeier gemeinsam überlebt hatten. Immerhin verstanden sie sich noch recht gut, und sei es nur Myc zuliebe. Fonn erzog den Jungen nach Art der Ledev, und Jarad nahm ihn ab und zu mit auf Jagden durch die Unterstadt. Es hätte schlimmer kommen können. Fonn hatte in relativ kurzer Zeit als Ledev eine unheim liche Menge an Erfahrung sammeln können, und das war dem Konklave nicht entgangen. Sie war in den Orden von 104
Mat’selesnija aufgenommen worden und hatte den Titel einer Zenturiadin erhalten. Sie hatte eine feste Bleibe im Vitu Ghazi zugewiesen bekommen, und ihr Aufgabenbe reich umfasste die Ausbildung von neuen Rekruten. Dank ihrem Rang fiel es ihr auch leichter, ihrem Teilzeitjob bei den Wojeks nachzugehen. Und es half auch, dass ihr ehemaliger Reitwolf Biracazir nun Mitglied des Konklaves war und sie dadurch einen besonderen Draht zu der Ver sammlung hatte, die die Geschicke der Gilde leitete. Selbst auf eine große Entfernung wie jetzt musste sie sich nur kurz konzentrieren, um die beruhigende Anwesen heit des Wolfs im Gesang zu hören. Es war nicht der gleiche Gesang, an den sie sich von früher erinnerte, aber er war immer noch stark. Er ver band alle Selesnijaner miteinander und mit der Welt der lebenden Dinge. Wie der Rest der Gilde hatte sich auch der Gesang verändert. Im letzten Jahrzehnt waren immer weniger Ledev-Wächter auf Patrouille durch die Welt geritten, dafür wurden immer mehr Truppen in das Ge biet der Gilde im Zentrum von Ravnica zurückgezogen. Der Vitu Ghazi, der Baum der Einheit, war befestigt wor den, bis er kaum noch zu erkennen war. Jetzt sah er, wenn überhaupt, wie eine lebende Version der Inneren Festung, dem großen Wojek-Hauptquartier, aus. Noch dazu wie eine sehr groß gewachsene Version. Der Baum war schon immer auch aus großer Entfernung zu sehen gewesen. Fonn wusste, dass sie ihn sehen würde, wie er über die Stadttore und selbst über die Titanen hinausrag te, wenn sie jetzt einen Blick über die Schulter warf. Au 105
ßerdem sähe sie neue Turmspitzen aus ihm herausragen, Landeplattformen für die auf Greifen fliegenden Patrouil len und mit Silhana-Bogenschützen bemannte Wachtür me. Die beschützende Mutter in ihr wollte dauernd einen Blick über die Schulter werfen, um Myc im Auge zu be halten, aber sie zwang sich dazu, unbeirrt nach vorn zu blicken. Sie hatte den Jungen heute schon einmal in Ver legenheit gebracht, da musste sie es jetzt nicht noch schlimmer machen. Egal, wie alt er jetzt war – für sie als Mutter war er immer noch ihr Junge, auch wenn er jetzt ein langes Schwert über der Schulter hängen hatte und in einem derben grünen Wams mit Kettenhemd steckte. Wenn man auch seiner Rüstung ansah, dass sie von ei nem Devkarin-Rüstungsmacher gefertigt worden war – Myc hatte sich dem Leben als Ledev verpflichtet, und er verdiente eine Chance, sich darin zu beweisen. Und dazu gehörten nun auch einmal Beulen und Kratzer. Es wurde schwierig, die Rakdos-Kultisten im Auge zu behalten. Der Wind hatte plötzlich gedreht und rauchigen Dunst aus Utvara herbeigeweht, der sich mit dem Mor gennebel vermischte. Es roch nach Schwefel und verbranntem Fleisch. Auf perverse Art erinnerte es sie an Kos’ Scheiterhaufen. Fonn konnte nicht gerade behaupten, dass sie Kos vermisste. Sie hatte den ehemaligen Partner ihres Vaters in den letzten zwölf Jahren kaum gesehen und es akzep tiert, dass er ihr bei ihren ersten Schritten als Wojek nicht half. Sie hatte ihm den Tod ihres Vaters lange nachgetra 106
gen und war sich immer noch nicht sicher, ob Kos nicht wenigstens zum Teil für Myczil Zunichs Sturz verantwort lich war. Doch jetzt, wo er plötzlich nicht mehr da war, fehlte er ihr irgendwie. Er war das letzte lebendige Ver bindungsglied zu dem Mann, dessen Namen nun ihr Sohn trug. Kos gab es jetzt nicht mehr. Sie hatte den Scheiterhau fen gesehen, sie hatte Schulter an Schulter mit Jarad dort gestanden, als Kos’ sterbliche Überreste in Flammen auf gingen und in den Himmel stiegen. Ihr Ausflug war keine Wallfahrt. Utvara lag einfach sehr gelegen; die Strecke diente ihren Zwecken. Es war ein langer Ritt, aber er war nicht allzu qualvoll. Die Straße war nicht zu leer und nicht zu überfüllt. Die Türme des Elendsviertels vor ihnen boten die Möglichkeit eines her ausfordernden, aber nicht unbedingt tödlichen Trainings. Und auch die Huske bot immer ein paar Lernmöglichkei ten: ausgestoßene Gruul, wilde Tiere oder andere seltsa me Kreaturen. Sie hatte den Weg so geplant, dass sie um die Huske herumreiten würden und nicht durch das Ge biet der Baronie hindurch. Den Ledev war unmissver ständlich klar gemacht worden, dass sie die Straße nach Utvara nicht zu bewachen brauchten. Diese Aufgabe wurde von Patrouillen der Baronin übernommen, die utvarische Gruul dafür angeheuert hatten. Fonn war dem Anführer der Gruul begegnet. Golozar war ein Flegel, aber er war auch intelligent, und sie war von seinen Plänen beeindruckt, wie er Utvara und seine wachsende Bevölke rung beschützen wollte. 107
Sie hörte die Pfadfinder miteinander tuscheln. Auch wenn ihre Schützlinge versuchten, so leise zu sprechen, dass die Hufgeräusche der Dromads es verbergen sollten, bekam Fonn es trotzdem mit. Sie hatte bei weitem die schärfsten Ohren in der Gruppe und hörte den Klang, wenn auch nicht ganz den Inhalt. Die Rakdos-Kultisten vor ihnen waren inzwischen vom Nebel verschluckt worden, nur ihr misstönendes Marsch lied war noch zu hören. Vielleicht waren sie noch eine Meile entfernt. Fonn wurde von einer irrationalen Furcht um Myc ergriffen, die sie schnell unterdrückte. Deswegen hatte sie doch diesen Weg gewählt – um den Pfadfindern eine Herausforderung zu bieten. Hoffentlich gerieten die Kinder nicht in Panik. Sie entschloss sich, dem gegenzu steuern, indem sie Normalität vorspiegelte, bis sie die Pilgergruppe erreichten. Sie zügelte den Wolf und drehte sich zu ihren Schütz lingen um. »Rekruten, ihr seid hier, um zu lernen«, sagte Fonn und legte dabei so viel Autorität in die Stimme, wie sie auf bringen konnte. Um das noch zu betonen, hob sie die Hand, was die jungen Pfadfinder sofort zum Schweigen brachte. »Wir kommen jetzt bald in den Nebel, und da solltet ihr immer wissen, wo die anderen sind. Daher gibt es jetzt im Vorfeld ein paar Verhaltenshinweise.« Sie hob wieder die Hand, um das automatische Gestöhne gleich im Keim zu ersticken. Schüler, egal, in welcher Welt, benahmen sich ausnahmslos gleich, wenn es darum ging, etwas absolut Langweiliges machen zu müssen. »Das 108
bedeutet, dass wir die ganze Zeit miteinander sprechen werden. Einerseits, weil wir möglicherweise nichts mehr sehen können. Andererseits, weil es nichts Tödlicheres als Stille gibt, wenn man sich auf einer langen Reise be findet. Ihr wollt, dass euer Geist schwach wird und dass ihr den Überblick darüber verliert, warum ihr euch über haupt hier herumtreibt? Dann reitet einfach träge und vor euch hin starrend durch die Gegend. Bevor man sich’s versieht, ist man schon weggedöst.« Sie drehte ihr Reittier wieder herum und ritt langsam weiter. »Daher empfehle ich, dass ihr euch ruhig auch laut unterhaltet.« Das weiche Trapsen der Dromadhufe war die einzige Antwort. »Ich fange dann mal mit einem ganz einfachen Thema an«, sagte Fonn fröhlich. »Ich habe da eine ganz einfache Frage, die mir gerade durch den Kopf geschos sen ist: Was war denn gerade so komisch?« »Wie bitte?«, antwortete die älteste unter den Rekruten, ein junges Mädchen mit goldenen Zöpfen. Lilyema Tyl ver, kurz Lily genannt, gehörte zu den Menschen, die ihre eigene Wichtigkeit in der Welt deutlich überschätzten. Ihre Eltern hatten sich eigentlich einen Sohn gewünscht, der die Tradition der adligen Tylver-Familie weitertragen und eine Karriere in Theologie und Politik machen sollte. Lily hatte dagegen die Ledev-Wächter gewählt. Fonn re spektierte diese Entscheidung, auch wenn die Gründe des Mädchens äußerst fantasiereich waren. Lily wollte so eine Art Mischung aus Kriegerin und Baronin werden. Fonn hatte mitbekommen, wie sie das den anderen erzählt hatte. Sie war auch die einzige unter den Rekruten mit 109
einem Umhang, und auch nach über 200 Meilen Wegstrecke seit den Stadttoren von Ravnica war das Klei dungsstück noch ohne Staub und Flecken. Der Umhang war schwarz mit einem Futter aus grüner Seide, und Fonn hatte das Mädchen schon dabei beobachtet, wie sie den Mantel ausbürstete. Die Halbelf in hatte sich ent schlossen, diese kleine Eitelkeit durchgehen zu lassen. Selbst entworfene Uniformen waren eine Tradition der Ledev. Myc mit seiner Kettenrüstung im Stil der Devkarin stach ja auch heraus. Aber nichts von alldem änderte etwas an der Tatsache, dass nach Fonns Erfahrung mit frischen Rekruten immer die erste Person, die etwas sagte, auch diejenige war, die am besten wusste, was denn nun so komisch gewesen war. »Ich hatte gefragt, was denn gerade so komisch war.« »Nichts, Frau Zunich«, antwortete Tylver, ohne ins Stot tern zu kommen. »Hat sonst jemand etwas gehört?«, bohrte Fonn nach. »Vielleicht waren es ja auch nur meine Ohren. Manchmal bekommt man ein seltsames Echo aus einer der Schluch ten mit.« Mit einer Handbewegung zeigte sie auf die auf ragenden Hauswände zu beiden Seiten der Straße, die sie direkt in die Unterführung leiteten. Einst waren die Ge bäude öffentlicher Wohnraum gewesen, aber die ur sprünglichen Bewohner hatten die Siedlung schon längst verlassen. Jetzt lebten hier schon lange gildenlose Haus besetzer, Anhänger des Rakdos-Kultes und verschieden ste wilde Tiere hinter den kahlen Mauern. »Aber vielleicht 110
habe ich auch Geräusche aus einem der Gebäude gehört. Vielleicht sollten wir ja einmal nachsehen.« »Mam... äh, Frau Scharführerin«, ließ sich Myc ver nehmen. Fonn seufzte. Sie hatte eigentlich gehofft, dass ihr Jun ge nicht als Nächster reden würde. Er war der jüngste unter den Rekruten und auch knapp der kleinste. Was er auf jeden Fall nicht brauchte, war ein Ruf als Petze. Aber sie hätte es sich auch denken können. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn jetzt schon mitzunehmen. Vielleicht hätte sie darauf bestehen sollen, dass er noch mindestens zwei Jahre in Alt-Ravnica bei Jarad verbrachte. Er könnte dort von seinem Vater lernen, wie man Riesenschnecken aufspürte, und sie hätte nicht dauernd das Bedürfnis, nach ihm zu schauen. »Ja, Zunich?«, sagte sie mit übertriebener Sachlichkeit, um ihren nur halb unterdrückten Seufzer zu verbergen. »Frau Scharführerin, wenn Sie dafür bereit sind – wir sind allzeit bereit«, fuhr ihr Sohn fort. »Falls Sie etwas gehört haben, muss da auch etwas sein. Wir haben auf jeden Fall nicht geredet.« Er hatte etwas dick aufgetragen, aber Fonn war froh, dass sie vor den anderen herritt, sodass die Rekruten nicht sehen konnten, wie ihr Grinsen sich in ein vor Stolz fast platzendes Lächeln verwandelte. Was für einen klu gen Sohn sie doch hatte. »Vielleicht war es auch nichts«, sagte sie. »Das bedeutet aber nicht, dass wir uns nicht ein wenig unterhalten können. Kennt einer von euch ir gendwelche Wanderlieder?« 111
»Können wir Ihnen Fragen stellen?«, sagte ein anderer Rekrut. Der Stimme nach kam die Bitte von Aklechin, einem von Tylvers Kumpanen. Er hatte die Ansätze eines hervorragenden Schwertkämpfers, aber leider nicht die eines guten Lerners. Er war ein Mensch, etwa sechzehn, und sein leichter Akzent deutete darauf hin, dass er wahrscheinlich aus den Klostergebieten der Polarregion im fernen Nordwesten stammte. Als einziger der Rekru ten hatte er sich gekleidet, als ginge es in die Wüste. Die anderen, selbst Myc, hatten Regenausrüstung eingepackt – in der Stadt herrschte in dieser Jahreszeit das nasse Wetter. Die Ledev-Wächterin bemerkte, dass alle Pfadfinder warteten. Sie warf einen Blick auf die Rakdos, die weiter durch den Nebel marschierten und immer näher kamen. Sie würden ihnen bald begegnen. Nun gut. »Ihr könnt mir jede Frage stellen, wann auch immer ihr wollt. Ich kann euch nicht immer eine Antwort verspre chen, aber denkt nicht, dass ihr nicht fragen dürftet.« »Hm, ja«, sagte Aklechin. »In Ordnung. Wird es zum Kampf kommen?« »Gute Frage«, antwortete Fonn. »Schlechter Zeitpunkt.« Sie wandte sich zu dem vierten Rekruten, dem einzigen, der bislang noch nichts gesagt hatte. »Orval, kannst du mir sagen, warum das ein falscher Zeitpunkt war, bevor ich Herrn Aklechin seine Antwort gebe?« »Ja, Frau Zunich«, sagte der vierte Rekrut. Als Einziger ritt er nicht auf einem Dromad, da vier weitere Hufe recht überflüssig gewesen wären. »Die Frage kam zum falschen 112
Zeitpunkt, weil sie die Situation verhext. Jeder Idiot weiß das«, fuhr Orval fort. »Das ist nachgewiesen. Ein altes Zentauren-Sprichwort. Und in diesem Fall ist es beson ders schlecht, weil gerade Todesanbeter – Entschuldi gung, Rakdos-Todesanbeter – auf uns zukommen, Frau Scharführerin. Und es kann gut sein, dass es jetzt zum Kampf kommt, obwohl es normalerweise keinen gegeben hätte. Man nennt es das Gesetz der verhexten Situatio nen.« »Das trifft es ziemlich genau«, sagte Fonn, die vom Wissen des jungen Zentauren ehrlich beeindruckt war. »Du kannst es auch Aberglaube nennen oder ein Heraus fordern des Schicksals. Nur ein Dummkopf sucht Ärger. Ich glaube allerdings nicht, dass wir uns wegen dieser Bande Sorgen machen müssen. Es sind nur Reisende. Andererseits gilt aber auch: Vergesst nie, im Notfall ein Schwert bei euch zu tragen. Ein Ledev ist immer auf alle möglichen Ereignisse vorbereitet, damit ...« Der Wolf Tharmoq blieb abrupt stehen und drückte seinen Oberkörper gegen den Boden. Er schien die Straße vor ihnen anzuknurren. Fonn blieb das Wort mitten im Satz stecken. Der Nebel war tatsächlich äußerst dicht und wälzte sich irgendwie unnatürlich auf Straßenhöhe auf sie zu. Der Marschgesang war schneller geworden und klang jetzt wie eine verstimmte Orgel, die von Wahnsinnigen gespielt wurde. »Rekruten, in Formation!«, befahl Fonn. »Bleibt dicht beieinander. Egal, wie dicht der Nebel wird – versucht in 113
Sichtweite zu mir zu bleiben. Wenn das nicht klappt, haltet wenigstens Kontakt mit den anderen Pfadfindern. Und redet miteinander!« Die Auszubildenden antworteten mit einem nicht ganz einheitlichen »Jawoll«. Sie klangen so nervös, wie sich auch Fonn fühlte. Die Rauchwolke kam immer dichter auf sie zu und verdunkelte bereits den ganzen Weg vor ihnen. »Seid wachsam, Pfadfinder! Wir bleiben nicht stehen, sondern reiten weiter. Wir rennen nicht vor Wolken da von.« Eigentlich hatte sie weiteres gelangweiltes Stöhnen und Murren erwartet und war deshalb von dem diesmal im Chor ertönenden »Jawoll!« angenehm überrascht. »Das klingt doch ganz gut. Weiter geht’s!« Leider weigerte sich Tharmoq, auch nur einen Schritt weiterzugehen. »Na los, alter Junge«, sagte sie und lehnte sich nach vorn, um in das Ohr des Wolfs zu raunen. »Doch nicht hier vor den ganzen Pfadfindern!« Während sie gerade sprach, spürte sie, wie ein kaltes, klammes Gefühl über sie hinwegspülte. Die Luft roch stark nach Schwefel. Die Wolke verschluckte Fonn und die Pfadfinder in nerhalb von Sekunden. Die jungen Rekruten waren plötz lich nur noch als schattige Umrisse um sie herum zu er kennen und fingen alle gleichzeitig an, wie panisch loszu reden. Nur Mycs Stimme war klar und deutlich herauszuhören. Er wiederholte genau das, was seine Mut ter den anderen zurief: »Immer mit der Ruhe!«, »Bleibt zusammen!«, »Bleibt ruhig!« und Ähnliches. 114
Die Stimme ihres Sohnes war das Letzte, was sie hörte, bis alles von der Musik der Rakdos übertönt wurde. Fonn sah andere Gestalten im Nebel – dürre Körper wie von Vogelscheuchen, kolossartige Gestalten, die nur aus Schultern und Armen zu bestehen schienen. Ihr wurde leicht schwindlig, und sie rief nach Myc. Keine Antwort. Der Wolf neben ihr begann laut zu win seln und im Kreis zu rennen. Panik hatte sein Wolfsge hirn erfasst. Fonn rief noch einmal nach Myc und hatte ihr Schwert schon halb aus der Scheide, als ihr eine kno chige Hand einen beißend riechenden Lumpen auf Nase und Mund drückte. Fonn kämpfte dagegen an, das Be wusstsein zu verlieren, hatte aber keine Chance. Ihre Hand rutschte vom Schwertgriff und schwang noch etwas durch die Luft, bevor sie das Gleichgewicht endgültig verlor, seitlich abrutschte und zu Boden fiel. Dunkelheit breitete sich in ihrem Kopf aus. »Du wirst jetzt schlafen«, flüsterte ihr jemand rau ins Ohr. Die Stimme verwandelte sich in ein kratzendes Keu chen und dann in ein gackerndes Lachen, das in ihrem Kopf quälend hin- und herschallte, bis es endlich ganz versiegte.
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Kapitel 5
H
Frage: Was sagt ein Zombie zu einem Neuromagier? Antwort: »Das willst du wirklich essen?« Die 101 besten Zombiewitze (Totlach-Verlag, 5410 Z. C.)
31. Cizarm 10012 Z. C. Unter Jarads aufmerksamem Blick bereiteten sich hun dert Zombies vor, mehrere Hektar unterirdischer Felder in Brand zu setzen. Es hatte die Erntehelfer einen guten Teil des Morgens gekostet, den nötigen Brennstoff so zu vergießen, dass alle Felder gleichmäßig abbrennen konn ten. Golgari-Böden trockneten nicht aus, da sie unver meidlicherweise unterirdisch waren, und dank moderner Bewässerungstechnik war die Atmosphäre immer recht feucht und dunstig. Es reichte nicht aus, einfach nur eine Fackel an die inzwischen einen Monat alten Stoppeln der letzten Ernte zu halten, die in der Zwischenzeit mit ent flammbaren Pilzen überwachsen waren. Aber die Felder mussten brennen. Das gebot die Tradition. Und es war zudem auch gute Ackerwirtschaft. Das Feuer als Abschluss der Erntesaison war für die Golgari ein relativ bedeutendes Ereignis. Daher wurde 116
auch erwartet, dass der Gildenmeister persönlich bei der Inbrandsteckung anwesend war, da gab es auch diesmal keine Ausnahme. Und wieder einmal war der Gildenmei ster zu spät gekommen. Die Zombie-Erntehelfer und der Devkarin-Hohepriester, der die Flammen segnen sollte, mussten eine Stunde lang warten. Einige mussten sich sogar neue Fackeln besorgen, weil die alten bereits nie dergebrannt waren. Als Jarad ankam, hatte er mehrere kleine Kratzer und Wunden am Oberkörper, an den Armen und im Gesicht. Er hatte nach dem Abliefern seines Sohns keine Zeit mehr gehabt, noch schnell die zeremoniellen Roben des Gil denmeisters zu holen. Immerhin war es ihm aber gelun gen, auf dem Weg hierher noch ein wenig zu jagen. Wie auch immer es dazu gekommen war – inzwischen gab es in der Unterstadt viele solcher Banden wie die eine, die sie am Tag zuvor zerschlagen hatten. Jarad hatte be schlossen, etwas von seiner inneren Spannung abzubau en, und auf dem Weg noch ein paar Banditen erledigt. Die Jagdbeute, die er über seinen Schultern trug, hatte er dagegen nur zufällig aufgespürt, als er durch einen der breiten Abwasserkanäle gewatet war. In der letzten Zeit wurde er immer extrem unruhig, wenn er nicht zumin dest alle zwei Wochen etwas jagte und tötete. Fonn zu sehen hatte diese Unruhe nur noch weiter verstärkt. Und wenn der Gildenmeister unruhig war, litten seine Ent scheidungen darunter. Am Anfang hatte Jarad die Aufga be gar nicht übernehmen wollen. Doch aus zwei Gründen war er dann doch Gildenmeister geworden. Einerseits im 117
Gedenken an die edle Elfin, die seine Schwester einst gewesen war, und andererseits aus Trotz. Er mochte die Klischees nicht, die den Golgari anhafteten, und er wollte es allen zeigen, dass die Golgari besser als ihr Ruf waren. Der Devkarin-Hohepriester begrüßte ihn. »Verehrter Gildenmeister, wir sind froh, dass Ihr endlich angekom men seid. Möget ihr vom Zombie-Gott gesegnet werden.« Der bleiche alte Elf war traditionell in knochenbesetzte Lederumhänge gewandet. Seine Haare und sein Bart wa ren zu Rastalocken gedreht und hingen ihm bis an den Gürtel. Er stützte sich auf einen einfachen knorrigen Stab aus Ebenholz und blickte starr hinter einer Schädelmaske hervor, die deutlich verzierter als Jarads Exemplar war. »Verehrter Gildenmeister, verratet Ihr mir, was Ihr da über Eure Schultern tragt?« »Nach was sieht es denn aus?« »Wie ein Alligator – ein Gavial?« »Warum fragt Ihr dann noch?«, sagte der Gildenmei ster. Jarad hatte wirklich einen Grauschuppen-Gavial über seinen Schultern hängen. Er verlagerte sein Gewicht und ließ den Kadaver des riesigen Reptils auf den Boden der Aussichtsplattform fallen. »Ich habe den Burschen gefun den, als er versucht hat, sich durch eine Bewässerungs röhre in die Feier einzuschleichen«, fugte er erklärend hinzu. »Und ich brauche eh ein paar neue Stiefel.« »Und ich bedanke mich im Namen des landwirtschaft lichen Kollektivs«, sagte der Vormann, der für diesen Abschnitt der Felder zuständig war. Der Vormann war wie seine Arbeiter ein Zombie, aber er trug etwas feinere 118
Kleidung als die Fackelträger, die sich rings um die Felder unter ihnen aufgestellt hatten. Er streckte seine Hand aus, und Jarad schüttelte sie kräftig. »Vormann Ulkis«, begrüßte er ihn. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen. Ist alles bereit?« »Ja«, antwortete der Priester statt seiner. »Die Gebete wurden gesprochen. Wir warten nur noch auf Euren Be fehl.« Jarad konnte wieder eine leichte Ungeduld in der Stimme des alten Elfen heraushören. Er verstand sie zwar, weil der Mann eine Stunde lang gezwungen gewe sen war zu warten, aber sein Tonfall war dennoch etwas unpassend für eine Unterhaltung mit dem Gildenmeister. Jarad hatte Verhandlungen noch nie besonders ge mocht, ebenso wenig wie Kompromisse oder Gerede über Gewinnspannen. Aber inzwischen verging kein Tag, noch nicht einmal eine Stunde, ohne dass er sich mit minde stens einem davon beschäftigen musste. Jarad hatte nicht gewollt, dass er seinen Jungen immer wieder Fonn und den Selesnijanern überlassen musste. Er hatte auch nicht zusehen wollen, als der Hals seiner Schwester wie ein dürrer Zweig zerbrochen wurde. Er hatte ihre Macht, die jetzt er innehatte, nicht begehrt. Aber nun war er der Gildenmeister, und das bedeutete, dass er verdammt noch mal auch von den Priestern etwas Respekt erwarten durfte. »Nillis, Ihr scheint sehr in Eile zu sein«, sagte er. »Habe ich Euch lange aufgehalten?« »Nein, Gildenmeister«, sagte der Priester erwartungs 119
gemäß unterwürfig. »Ich sehne mich nur danach, den Kreislauf der Erneuerung wieder zu beginnen, um mit dem Ende einer Ernte den Beginn der nächsten Saat zu begrüßen. Es ist ein heiliger Zeitpunkt, und falls ich un geduldig erscheine, liegt das nur an meinem Eifer.« »Seid Ihr Euch da sicher?«, sagte Jarad. Er ging an dem sich verbeugenden Priester vorbei an die Brüstung des Ausgucks. Auf dem Feld lagen wie kleine weiße Punkte die Brandbeschleuniger. Darüber waren zerkleinerte Stücke von abgestorbenem Dindin-Rohr aufgetürmt. Überall konnte man die Reste der halb untergepflügten Fleischpilze erkennen. Die hundert Fackeln, die nur auf sein Kommando warteten, warfen tanzende Schatten an die Wände der Höhle, da der riesige Sonnenpilz an der Höhlendecke sich gerade in seiner Nachtphase befand. Doch selbst im abgedunkelten Zustand warf der Spo rophyt genügend Licht in die Höhle, dass Jarad ein paar Dinge erkennen konnte, die nicht auf den Feldern liegen sollten. Genauer gesagt: große, braune, pummelige Dinge, die weder zu den Überresten der Ernte noch zu dem hel len weißen Schein der Brandbeschleuniger passten. Jarad wirbelte herum und marschierte zum Hoheprie ster zurück, der hoffnungsvoll den Kopf gehoben hatte, um das Kommando des Gildenmeisters zu empfangen. Stattdessen erwischte ihn die Faust des Gildenmeisters hart am Kinn. Der Krückstock des heiligen Devkarin fiel klappernd zu Boden. Er stöhnte auf. »Gildenmeister? Was ...?« »Ihr habt Opfer auf den Feldern verteilt«, sagte Jarad 120
langsam. Er konnte seinen Ärger kaum in Zaum halten. »Dieser Brauch ist nicht länger gestattet, Nillis. Warum habt ihr entgegen der Anordnung Eures Gildenmeisters gehandelt?« »Ich ... nein, dort sind ...« »Lügt mich nicht an, Priester«, sagte Jarad. »Ich möchte keine Entschuldigungen hören, und ich werde auch nicht mit Euch diskutieren. Ihr werdet persönlich jedes der Opfer dort wieder herausholen und zu seinen Eltern zu rückbringen. Der Brand muss bis morgen warten.« Er drehte sich zum Vormann um. »Ulkis, hast du davon ge wusst?« Falls der Vormann eingeweiht gewesen war, war er klug genug, nichts davon zu sagen. Er war ohnehin nicht das gesprächigste Wesen, dem Jarad je begegnet war. Der Zombie schüttelte nur den Kopf und sah den Priester unfreundlich an. »Bei Krokt«, fluchte Jarad. Dafür hatte er eigentlich ge rade gar keine Zeit. Er hatte in einer Stunde einen Ter min, der Simic-Gildenmeister wollte sich dann mit ihm treffen. Er traute dem Priester nicht, und er würde es nicht zulassen, dass geraubte Menschenkinder bei leben digem Leib verbrannt wurden. Es war egal, was der »Zombie-Gott« verlangte. Der Zombie-Gott war tot, seine Schwester hatte das bewerkstelligt. Dem Zombie-Gott würde es egal sein, ob es jetzt Opfer gäbe oder nicht. Aber Kinder zu rauben und auf Feldern zu verbrennen würde nicht grade dienlich sein, der Gilde neuen Respekt zu verschaffen. Das war nicht die Art und Weise, wie Jarad 121
vod Savo die Gilde leitete.
»Nun gut«, sagte er zu dem Vormann. »Du wirst Nillis überwachen und sicherstellen, dass er nach unten auf die Felder geht und jedes der Kinder persönlich befreit. Mor gen treffen wir uns wieder hier und schauen, ob wir das Feld dann zum Brennen bekommen. Ich habe immer noch gute Kontakte zu den Wojeks und werde morgen früh als Allererstes bei ihrer Abteilung für vermisste Kin der nachfragen.« Er warf einen Blick aufs Feld und zählte schnell. »Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn sie dann zwölf über Nacht erfolgreich aufgeklärte Fälle in ihren Akten hätten.« »Aber Gildenmeister«, warf Nillis ein, »der Erntekalen der erlaubt nicht ...« »Daran hättet Ihr denken sollen, bevor Ihr Euch mei nen Anordnungen widersetzt habt«, sagte Jarad. »Ihr habt ausgesprochenes Glück, dass ich Euch nicht von Ulkis in einen der frei werdenden Säcke stecken und anstelle der Kinder auf den Feldern verbrennen lasse. Erwartet nicht, dass ich immer so großzügig bin. Und jetzt macht Euch auf den Weg!« Er wandte sich dem Vormann zu und konzentrierte sich. Als er wieder zu sprechen begann, hatte seine Stimme ein leichtes Echo. Den Worten, die er jetzt sprach, würde der Zombie gehorchen müssen. Der Dev karin war zwar längst kein so guter Totenbeschwörer, wie es seine Schwester gewesen war, aber auch er kannte ein paar Tricks. Und in seiner neuen Rolle als Gildenmeister hatte er genügend Möglichkeiten, sie zu verwenden. 122
»Vormann, du siehst zu, dass er es macht. Ich sehe euch beide morgen wieder, und ich werde wissen, ob du meine Befehle ausgeführt hast oder nicht. Das gilt für euch bei de.« Der Priester gab sich geschlagen. »Ja, Gildenmeister.« Der Vormann nickte und stimmte zu. »Falls er es nicht hinbekommt, breche ich ihm die Arme, Gildenmeister.« »Nein«, sagte Jarad. »Überlass die Arme mir. Aber du kannst ihm gern die eine oder andere Rippe brechen. Er soll merken, dass ich es ernst meine.« »Gildenmeister, wirklich ...«, stammelte der Hoheprie ster, aber er sprach bereits zu Jarads Rücken. Vielleicht war es nicht fair. Aber diese Missachtung seiner Richtlinien hatte das Fass zum Überlaufen ge bracht. Was war das Besondere daran, Gildenmeister zu sein, wenn einem die Untergebenen nicht gehorchten? Jetzt war er trotzdem zu spät für sein nächstes Treffen, aber nicht wegen des Gavials oder der räuberischen To desgänger. Die Jägerinnen, die ihm als Leibwächter dien ten, traten hinter ihn. Sie nahmen den langen Weg durch die Unterstadt. Er hatte keine Eile, sich mit dem Simic zu treffen. Er machte bei einem der besseren Schneider von Alt-Ravnica Halt, um sich eine neue Weste und einen nicht zu unverfroren wirkenden Umhang mitzunehmen. Er nutzte die Gelegenheit, um sich etwas sauber zu ma chen. Als er endlich in die Empfangshalle trat, hatte er auch seine Rastalocken stramm zurückgeknotet, das Gol gari-Siegel an seine Brust geheftet und seine DevkarinMaske vor sein Gesicht gezogen. Sein Leutnant wartete 123
schon an der Tür auf ihn und drückte ihm den Amtsstab des Gildenmeisters in die Hand. Auf dem verzierten Stek ken aus Ebenholz ruhte ein einfacher grüner Stein, in den das Symbol der Golgari eingemeißelt war. Jarad setzte seinen neutralen, geschäftsmäßigen Ge sichtsausdruck auf und marschierte mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte, in die Empfangshalle. Von all seinen Pflichten als Gildenmeister war Diplomatie eben falls eine, die er nicht unbedingt genoss. Andererseits musste er zugeben, dass ihm direkte Verhandlungen schon Spaß machten. Hier konnte er ähnlich vorgehen wie auf der Jagd. Er liebte Täuschungsmanöver und kom plizierte Fallen, um den Gegner zur Strecke zu bringen, auch wenn es hier jetzt eher mit Worten und weniger blutig ausgetragen wurde. Jarad hatte festgestellt, dass seine diplomatischen Fähigkeiten am besten waren, wenn er es mit jemandem zu tun hatte, den er nicht lei den konnte. Und anscheinend war heute ein Glückstag: Genau so jemand erhob sich und kam Jarad entgegen, als er die Halle betrat. Der Abgesandte der Simic war ein Vedalken. Er hatte schon öfter mit ihm zu tun gehabt und ihm nur deswegen eine weitere Audienz gewährt, weil die Simic-Gilde anscheinend Probleme hatte, Jarads Einstel lung zu bestimmten Themen zu begreifen. Er hatte den Eindruck, die Simic würden seine Meinung bewusst igno rieren. »Doktor Otrovac«, begrüßte er den Vedalken mit einer fast nicht wahrnehmbaren Verbeugung. »Seien Sie will kommen. Ich hoffe, dass wir Sie nicht zu lange haben 124
warten lassen. Wir befinden uns nämlich gerade zwi schen zwei Ernten. Da ist immer viel zu tun.« »Ich musste nicht lange warten«, log der Vedalken. Jarad spürte eine Art Jucken auf seiner Kopfhaut. Ob wohl er es schon oft versucht und noch nie geschafft hatte, unternahm Otrovac auch diesmal mutig den Ver such, die Gedanken des Gildenmeisters zu lesen. Es funk tionierte diesmal nicht, hatte noch nie funktioniert und würde auch in Zukunft nicht funktionieren. »Ersparen Sie uns die ermüdenden Spielchen, Doktor. Sie wissen, das sie hier nicht hineinkommen«, sagte Jarad und klopfte sich gegen die Stirn. »Das ist eines der Privile gien der Gildenmeister.« »Leider weiß ich nicht, worüber Ihr redet«, sagte der Simic. »Ich freue mich, Euch zu sehen, Gildenmeister. Ich überbringe eine Nachricht des großen Stammvaters Momir Vig, der seinen tiefsten Respekt und seine ehrerbie tigsten Grüße aus dem großen Gewächshaus sendet, zu sammen mit hochachtungsvollen Grüßen der anderen Ältesten von Novijen.« »Und?« »Und was?«, sagte der Vedalken, der auf dem falschen Fuß erwischt worden war. »Und ... und Geschenke natür lich, mit denen wir unsere Gespräche beginnen können.« »Sind das die gleichen Geschenke, die Sie letzten Monat bereits überreichen wollten?«, fragte Jarad. »Nun, zum Teil«, gab der Simic zu. »Aber ich habe auch zusätzlich ... Tut mir Leid, aber könnten wir das weniger öffentlich besprechen?« 125
»Natürlich«, sagte Jarad. Er führte den Simic zu einem kleinen Vorzimmer, das er für private Gespräche benutz te. Er wies seine Leibwächter an, vor der Kammer Positi on zu beziehen und ein Auge auf die Begleitung des Si mics zu haben. »Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte er und wies auf ei nen Stuhl, der vor einem einfachen Tisch stand. Jarad ließ einige Leuchtkugeln aufflammen und setzte sich hinter den Tisch, der den kleinen Raum dominierte. »Nun?« »Ihr seid sehr direkt, wie immer«, sagte der Simic. »Da es Euch nicht behagt hat, auf unsere bisherigen Angebote einzugehen, bin ich befugt, ›den Handel etwas zu versü ßen‹, wie es die Kaufleute ausdrücken.« »Ich höre«, sagte Jarad. Er stemmte seine Ellbogen ge gen die Tischplatte, legte die Hände übereinander und schob die Fingerspitzen unter sein Kinn. Der Simic ließ sich davon nicht irritieren. »Zusätzlich zu all dem, was Ihr als erste Lieferung an zytoplastischen Verbesserungen erhalten werdet, hat der große Stammvater acht Millionen Zidos auf einem Num mernkonto bei der Karlov-Bank deponiert. Ich vertraue darauf, dass Ihr wisst, dass diese Bank den besten Namen in Finanzkreisen besitzt. Das Konto wird auf Euch über schrieben, sobald der Vertrag unterzeichnet ist. Was Ihr mit dem Geld anstellt, liegt ganz an Euch.« »Zidos. Sehr beeindruckend«, sagte Jarad. Sein Tonfall ließ eindeutig erkennen, dass Gold für ihn höchstens eine Beigabe war. »Und?« »Und?«, sagte der Simic. »Ich habe Euch gerade berich 126
tet, dass wir acht Millionen – Millionen! – Zidos für Euch beiseite geschafft haben, und Ihr sagt ›und‹?« »Wir nehmen mit unseren Ernten ordentlich Geld ein«, sagte Jarad. »Die Schlachthöfe sind ebenfalls keine Wohl fahrtsorganisation. Wir liefern zwar das Essen an Wohl fahrtsorganisationen, aber das ist im Moment nebensäch lich. Worauf ich hinauswill: Ich habe bereits Zidos. Sie bieten mir nichts an, was ich nicht schon habe – bezie hungsweise etwas, was ich nicht haben will, wie ich Ih nen schon mehrfach gesagt habe.« »Zytoplastische Verbesserungen können helfen, Eure Arbeiten zehn Mal effektiver durchzuführen!«, sagte Otro vac. »Unsere Arbeiten laufen auch ohne Ihre Verbesserun gen gut genug«, sagte Jarad. Er mochte eine Frau geheira tet haben, die so ein zytoplastisches Ding trug, aber er hatte nie eingesehen, warum das Pseudofleisch der Simic für etwas anderes als das Ersetzen eines verloren gegan genen Körperteils eingesetzt werden sollte. Letzteres war wenigstens etwas Sinnvolles. Aber es war eine ganz ande re Sache, eine fremde Gilde irgendwelche komischen Dinge, die wahrscheinlich nur der Zombie-Gott kannte, an Leuten aus dem eigenen Volk anbringen zu lassen. Das hielt er für völlig überflüssig. »Die Antwort lautet also immer noch Nein«, beendete er seinen Satz. »In Ordnung, dann eben zehn Millionen.« »Nein.« »Vierzehn Millionen, und das ist das letzte Wort«, sagte der Simic. 127
»Sind Sie taub?«, fragte Jarad. »Ich sagte Nein. Wissen Sie, was? Je mehr Zidos Sie mir anbieten, desto sinnloser ist der ganze Vorschlag. Das ganze Angebot stinkt zum Himmel, Otrovac. Sie sagen, dass sie unsere Leistungsfä higkeit steigern wollen. Sie wollen uns diese Zytoplasten schenken und mir noch zusätzlich genügend Zidos über schreiben, um mir einen eigenen Stadtteil in der Mitte von Ravnica zu kaufen.« »Unsere Gründe sind wirklich einfach«, sagte der Dok tor. »Ich habe sie Euch auch schon oft erklärt. Wir wollen Druck auf den Markt ausüben.« »Sie wollen, dass wir von Simic-Biotechnik abhängig werden«, konterte Jarad. »Was ich daran nicht verstehe: Warum das alles? Nur darum habe ich Ihnen überhaupt noch eine Audienz bei mir gewährt.« »Warum? Weil es sich auf das Geschäft natürlich gut auswirkt«, sagte der Vedalken. »Sie wären ein lausiger Orzhov, Doktor«, sagte Jarad. »Ich gebe Ihnen noch genau eine Chance. Warum?« »Es besteht keine Veranlassung, müßige Bedrohungen auszustoßen«, sagte der Simic und tat so, als wollte er sich aus seinem Sitz erheben. »Meine Drohungen sind nie müßig«, sagte Jarad. »Sie haben meine Antwort gehört.« »Und Ihr habt mich gehört«, sagte Dr. Otrovac. »Ihr habt Eure Antwort.« »Dann haben Sie auch Ihre«, antwortete der Devkarin. »Und jetzt verschwinden Sie endlich aus meinem Laby rinth.« 128
Jarad bemühte sich noch nicht einmal, dem Doktor die Tür zu öffnen. Er blieb stattdessen hinter dem Tisch sit zen und sah dem Vedalken dabei zu, wie dieser den Raum verließ. Er knetete sein Kinn mit Daumen und Zei gefinger und ließ das Gespräch noch einmal Revue pas sieren. Es war wirklich erstaunlich, dass die Simic so durch schaubar handelten. Ihre Zytoplasten waren von vielen verschiedenen Geschäftszweigen in den letzten Jahren mit offenen Armen aufgenommen worden. Die Orzhov verwendeten sie, um dadurch den Preis für Sklaven er höhen zu können. Die Izzet bewunderten die Funktionali tät. Andere verwendeten sie für unterschiedlichste Zwek ke, einige davon sicher auch illegal. Diese biomagischen »Aufsätze« wurden an Gewebe be festigt und verbesserten den Körperteil, den sie bedeck ten. Wie genau das funktionierte, wussten nur die Simic selbst. Zytoplasten waren formlose, durchsichtige Massen, die sich zum Beispiel um einen Unterarm und eine Hand legten und dann je nach Bedarf einen funktionstüchtige ren Unterarm und eine verbesserte Hand herausbildeten. Zumindest hatte der Simic ihm das so erklärt. Und wenn es wahr wäre, würden Zombies, die mit Zytopla sten verbessert wurden, wahrscheinlich schneller und effizienter arbeiten. Aber Jarad traute dem Braten nicht. Vor allem hasste er die Idee, dass so ein großer Teil seiner Gilde von den Simic verändert werden würde. Nekromagie war eine Sache, biomagische Symbiosen eine andere. 129
Er schob sich vom Tisch weg und stand auf. Nun, es war keine komplette Zeitvergeudung gewesen. Wenn die Simic es jetzt immer noch nicht kapiert hatten, würde er sie noch einmal hinauswerfen, und immer wieder. Wenn sie hartnäckig wurden, würde er auf Pfähle aufgespießte Vedalkenköpfe an den Einfallstraßen von Alt-Ravnica stellen lassen. Irgendwie wünschte er es sich sogar, dass sie es weiter versuchten. Als sein Sohn geboren wurde, hatte er bei Myczils Leben geschworen, dass er nichts und nieman den mehr Schaden zufügen würde, der es nicht verdient hatte. Das war das Äußerste, was Fonn aus ihm hatte herausbringen können, aber es war ja schon fast ein Schwur, sich immer friedlich zu benehmen. Auch wenn ihre Hochzeitsschwüre inzwischen aufgehoben worden waren, hatte er um Mycs willen diesen hier beibehalten. Er war schon lange niemandem mehr begegnet, der den Tod so sehr verdient hatte wie Otrovac. Er konnte nur nicht genau sagen, warum.
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Dr. Otrovac beeilte sich, aus dem Golgari-Labyrinth hi nauszukommen. Als er mit seiner Begleitung wieder auf die Straßen von Alt-Ravnica trat, richtete er zunächst den Kragen seiner Tunika. Er löste ein paar Knöpfe und zog den Stoff beiseite, um seine eigene kleine zytoplastische Verbesserung freizugeben. Er war weder ein unwichtiger Vedalken noch ein unwichtiger Simic. Er wurde sowohl 130
als Doktor als auch als Unterhändler hoch geschätzt, und wenn er ehrlich sein sollte, hatte der Devkarin wirklich Recht. Das Angebot der Simic ergab nicht viel Sinn. Otro vac vermutete, dass sein Gebieter wusste, was er tat, aber es war beunruhigend, sich nicht ausreichend informiert zu fühlen. Vielleicht konnte sein Gebieter ja etwas mehr Sinn in die ganze Angelegenheit bringen. Als er das Zytoplast vor Monaten auf seinen Nacken gedrückt hatte, war es nichts anderes gewesen als eine Hand voll formloser Amöben oder so etwas Ähnliches. Es hatte sich sofort mit seiner Haut verbunden und sich so angepasst, dass er die gewünschte neue Grundeigenschaft erhielt. Da Otrovac einer von Momir Vigs persönlichen Bot schaftern war, entsprach diese Funktion natürlich auch einem Wunsch des Stammvaters. Das Zytoplast nahm die Fonn eines einzelnen Auges über einem lippenlosen Mund an. Otrovac senkte sein Kinn und sagte leise: »Ihr habt es gesehen. Er hat das Angebot ausgeschlagen.« »Er ist ein Dummkopf, sagte der lippenlose Mund mit Momir Vigs Stimme. »Aber ich habe das nicht anders erwartet.« »Geehrter Stammvater, vielleicht war es nicht weise, ihm die Zidos anzubieten«, sagte der Vedalken. »Es gab dem Angebot den Anschein ...« Otrovac musste sich be mühen, unterwürfig zu klingen. »Es musste für ihn so klingen, als ob wir kurz vor dem Verzweifeln wären. Ich verstehe es nicht.« 131
»Was verstehst du nicht?«
»Warum haben wir nicht einfach die Zytoplasten ver teilt und uns nicht um seine Wünsche geschert? »Diese Möglichkeit haben wir immer noch«, sagte die Stimme. »Ich vermute, dass man das Angebot annehmen wird, wenn du es das nächste Mal unterbreitest.« »Stammvater? Was meint Ihr damit? Er wird mich tö ten, wenn ich ...« »Das glaube ich nicht«, ließ sich der Gildenmeister durch den lippenlosen Mund vernehmen. »Er hat eine große Schau daraus gemacht, das Angebot zwei Mal abzu lehnen. Damit hat er seinen Stolz bewahrt. Jetzt wird er ohne Zweifel beim dritten Mal annehmen.« »Ich weiß nicht, verehrter Stammvater«, sagte der Dok tor. »Er schien mir äußerst entschlossen zu sein.« »Vertrau mir«, sagte Momir Vig. »Sei nicht beunruhigt, Otrovac. Ich glaube, ich habe unser Golgari-Problem ge löst.« »Sehr wohl, Gildenmeister«, sagte der Simic-Botschafter. »Ich freue mich schon darauf, Eure Lösung zu erfahren.« »Sie ist sehr faszinierend«, sagte sein Nacken mit Momir Vigs Stimme. »Verspäte dich nicht.« »Verstanden«, sagte Otrovac und zog seinen Kragen wieder zurück. Er pfiff einem seiner Diener, die Kutsche zu holen. Die Aussage des Gildenmeisters war rätselhaft. Wie konnte man das »Golgari-Problem« lösen, solange Jarad noch in Amt und Würden war? Mit diesem Dunkel elfen konnte man unmöglich verhandeln, und Otrovac war erfahren genug, um zu behaupten, dass sich das auch 132
so schnell nicht ändern würde. Er beschäftigte sich immer noch mit diesem Thema, als die Kutsche vorfuhr. Sie wurde von zwei zytoplastisch verbesserten Dromads gezogen, die längere und stärkere Beine mit zusätzlichen Gelenken hatten. Während ihn die Kutsche den langen, in Spiralen an steigenden Weg aus der Unterstadt zurück in das oberir dische Ravnica transportierte, schweiften seine Gedanken etwas ab. Er hoffte, dass die Lösung des Problems auch Folter enthielt. Otrovac mochte Jarad vod Savo nicht. Ganz und gar nicht.
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Kapitel 6
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Sie sind nun seit zehn Jahren verschwunden. Wir müssen den Tatsachen ins Auge schauen, verehrte Kollegen und verehrte Gesetzeshüter. Ob sie uns verlassen haben oder auf eine uns unbekannte Weise zerstört wurden, können wir nicht sagen. Wir wissen nur: Die Engel sind nicht mehr hier, und wir können sie nicht finden. Die Boros-Legion muss nun endlich die Führungsstrukturen unserer Gilde anpassen. Wir müssen ohne die Hilfe der Engel auskom men. Es wird nicht einfach werden, aber dieser Schritt ist leider notwendig. Wojek-Generalkommandeur Lannos Nodov, Geschäftsführender Gildenmeister, Boros-Legion Rede vor dem Azorius-Senat, 19. Quaegar 10010 Z. C.
31. Cizarm 10012 Z. C. Agrus Kos war tot. Seiner Meinung nach sollte sich das Schicksal damit eigentlich zufrieden geben. Aber nein. Das wäre zu einfach gewesen. Über ein Jahrhundert und ein Viertel des nächsten hat te er alles überlebt, was das Schicksal ihm in den Weg gestellt hatte, bis es ihn dann doch eines Tages erwischt 134
hatte. Kos wusste das. Er war auf steinigem Boden in einer trockenen Gegend gestorben. Er konnte sich nicht genau an den Namen der Gegend erinnern, aber da waren ... Flügel gewesen. Und ein Goblin, fiel ihm ein. Aber das war alles im wahrsten Sinne des Wortes in seinem letzten Leben gewesen. Aber das Leben ging weiter – und manchmal auch für die Toten. Besonders dann, wenn man bestimmte Schriftstücke in einem Wojek-Rekrutierungsbüro unterschrieben hatte, die man sich nur flüchtig durchgeschaut hatte. Besonders dann, wenn man sich damals noch im Stimmbruch be funden hatte, aber ein falsches Alter angegeben hatte, damit man überhaupt genommen wurde. Und ganz be sonders dann, wenn die Besitzer dieser Dokumente sich entschlossen, sie gegen einen zu verwenden. Und es gab ein solches Dokument, nämlich eines, das Agrus Kos, Leutnant a. D., Bund der Wojeks, Zehnter Distrikt, noch zu einem fünfzigjährigen Dienst in der Spektralwache verpflichtete, der direkt nach dem Tod abzuleisten war. Er war jetzt seit ein paar Wochen dabei, möglicherweise auch schon seit ein paar Jahren. Er konnte es wirklich nicht sagen. Es war nicht seine Aufgabe, das zu wissen. Spektralwächter bestanden eigentlich nur aus ihrer Auf gabe. »Guten Morgen, Minister«, sagte Kos und nickte einer in weiten Roben und Umhängen verhüllten Gestalt zu, die lächelnd auf ihn zukam. »Es freut mich zu sehen, dass es Ihnen offenbar wieder gut geht«, log er. 135
»Hallo, Argus«, sagte der Minister. Kos glaubte einen Anflug von kindischer Freude in der Stimme des Mini sters zu hören, der seinen Vornamen offensichtlich mit Vorsatz falsch aussprach. Als es zum ersten Mal gesche hen war, hatte Kos ihn korrigiert. Doch der Minister für Weissagungen hatte es beim nächsten Mal wiederholt, nur deutlich lauter diesmal. Kos’ Sinn für Humor war mit ihm zusammen gestorben, aber er war sich dennoch ziemlich sicher, dass dies nicht besonders lustig war. Sein eigener Name war eines der wenigen Dinge, an die er sich erinnern konnte. Er kannte auch die Namen aller Azorius-Funktionäre. Er brauchte sie sich noch nicht einmal zu merken, da die Namen von allein in seinem Gehirn auftauchten, sobald er einen der Azorius sah. Mit anderen Erinnerungen hatte er größere Probleme. Er konnte sich flüchtig an Leute erinnern, seltsame Leute aller Art: Elfen, Zombies, Goblins, Bolde und Geister. Er konnte sich an Gefühle wie Zorn und Verlust, Freude und Enttäuschung erinnern, aber er schaffte es nicht, sie be stimmten Ereignissen zuzuordnen. Er wusste noch, dass er einst ein Wojek gewesen war, ein Beschützer der Ge setze. Immer wieder tauchten Erinnerungsfetzen an das Leben im Dienst auf. Aber sein vergangenes Leben konnte genauso gut ein Buch gewesen sein, das er einst als Kind gelesen und dann nie wieder in die Hand genommen hatte. An seine Kindheit konnte er sich auch nicht mehr groß erinnern. Es hieß, dass Geister kein Zeitempfinden besaßen, aber anscheinend hatte zu diesem Thema nie jemand einen 136
Spektralwächter gefragt, der per Gesetz an den AzoriusSenat gebunden war. Auch für einen Geist verging die Zeit, und für Kos verging sie viel zu langsam. Es frustrier te ihn, dass er nicht in der Lage war, die Zeit zu messen. Er wusste, dass er relativ neu bei der Wache war, aber es fühlte sich so an, als wäre er schon seit Urzeiten hier. Er wusste ebenfalls, dass er eine ziemlich lange Zeit als Wo jek gedient hatte, deutlich länger als hier. Aber das hatte er damals wenigstens genossen. Es war wirklich verdreht: Wenn Kos sich richtig an seine Zeit als Wojek erinnerte, als er noch als lebender Gesetzeshüter aus Fleisch und Blut Streife gegangen war und ab und zu kämpfen musste – seinerzeit hatte er immer Mitleid für Spektralwesen gehabt und gewusst, dass es den meisten Wojeks ähnlich ging. Aus der Perspektive eines durchschnittlichen Wachtmeisters war ein Spektralwächter ein trauriges Ebenbild, eine Nachahmung ihres Lebens, lediglich in den Tod hinein verlängert. Das Schlimmste war, an einen Ort gebunden zu sein. Die Schicht eines Spektralwärters endete nie. Ein Spek tralwesen war ein redender Grabstein, der nicht in der Lage war, den leuchtend weißen Friedhof, den Prahv für ihn darstellte, zu verlassen. Die Türme der Gerechtigkeit und der Azorius-Senat waren die Heimstatt tausender geschäftig herumschwebender Geister, die einst nicht genau hinschauten, welches Formular sie gerade unter schrieben – wenn sie nicht bereits im Leben so langweili ge Leute gewesen waren, dass sie sich um diese Pflicht richtiggehend beworben hatten. 137
Kos wusste innerlich, dass er viel lieber einfach nur tot gewesen wäre. Er konnte jedoch keinen Zorn, keine Ent täuschung oder sonst ein Gefühl empfinden. Aber was er über den Mann, der er einst gewesen war, an Bruchstük ken zusammengetragen hatte: Dies wäre das Letzte gewe sen, was er damals gewollt hätte. Und da stand er nun hier, wenn man von Stehen überhaupt sprechen konnte. Er existierte, solange er sich nicht vom Gelände der Azo rius entfernte. Beim ersten Versuch, das zu tun, würde er sich in Luft auflösen. Daher versuchte er es gar nicht erst. »Guten Morgen, Herr Tribun.« Kos begrüßte einen wei teren Zuspätkommenden. Die Sitzung des Azorius-Senats sollte in wenigen Minuten beginnen, aber Tribun Narus cov schien keine Eile zu haben. Er schien auch die Begrü ßung des Geistes nicht gehört zu haben. Kos zuckte mit seinen Geisterschultern seinem Gegenüber zu, einem Spektralwesen namens Castell. Castell zuckte wie üblich mit den Schultern zurück, und beide drehten sich dann wieder in Richtung Eingang, um zu sehen, wer als Näch stes kam. Kos hatte einmal versucht, sich mit Castell zu unterhalten, und bereute es immer noch. Castell schien normales Geplauder nicht zu mögen und stellte sich taub. Was natürlich auch dazu führte, dass Kos sich unendlich langweilte. Die vier Stunden lange Quasi-Nonexistenz war nicht die einzige Methode, mit der die Azorius sicherstellten, dass ihre Spektralwächter nicht durchdrehten. Der Ge dächtnisverlust sollte erreichen, dass Spektralwesen nicht zu viel ihrer früheren Persönlichkeit annehmen konnten, 138
weil das unter Umständen die altehrwürdige Förmlichkeit im Azorius-Senat und den Gerichtssälen stören konnte. An manchen langen, dunklen Abenden sah Kos Bolde und ähnliche Wesen an den unteren Türmen vorbeiflie gen. Sie schienen nach Alt-Ravnica hinunterzupendeln, um unterschiedlichste Botengänge zu erledigen. Kos wusste, dass er einen Bold gekannt hatte. Pavel? Pilkin? Die Azorius hatten genau das von Kos behalten, was sie benötigten. Er konnte sich an jedes Gesetz erinnern, das er je gelernt hatte, und er hatte den Verdacht, dass ihm von Azorius-Ektomagiern noch einige weitere beigebracht worden waren. Daher war er so überrascht und schockiert, wie er es als Geist nur sein konnte, als er bemerkte, dass er den Mann, der als Nächstes die Stufen heraufkam, sofort wie dererkannte. »Mann« war allerdings eine nicht ganz zu treffende Bezeichnung. Die Gestalt sah zwar unzweifel haft männlich aus, war aber alles andere als ein Mensch. Er war eine ganze Elle größer als die Paladine, die ihn begleiteten, und seine goldenen Flügel glitzerten im er sten Sonnenlicht. Kos sah ihn und wusste sofort den Na men. Und er wusste auch sofort, dass es nicht der echte Name war, sondern ein Spitzname. Ein Spitzname, den er ihm gegeben hatte. Das hatte er doch, oder? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. »Feder«, sagte Kos. »Bist du das?« Die Augen des Engels öffneten sich weit, als er Kos’ Stimme hörte. Die beiden großen Paladine in silberbe schlagenen Plattenrüstungen schubsten ihn Schritt für 139
Schritt weiter, als sie an Kos vorbeikamen. Feder öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. In diesem Moment sah Kos, dass nicht nur die Handgelenke des Engels mit Handschellen gefesselt waren, sondern er auch wieder die Flügelfesseln trug, die ihn schon während seines Dienstes beim Bund der Wojeks behindert hatten. Der Engel war für lange Zeit sein Partner gewesen. Zumindest war Kos sich dessen ziemlich sicher. Er war sich auch sicher, dass er sehr lange nach ihm Ausschau gehalten hatte, als er noch am Leben gewesen war. Der Engel war das Letzte gewesen, was er vor sei nem Tod noch gesehen hatte. Er hatte gesehen, wie der Engel auf ihn zuflog. Die Paladine, die Feder nach Prahv brachten, drückten den Kopf des Engels nach unten und schoben ihn so roh die Stufen hoch, dass er fast ins Stolpern kam. Kos wollte sich umdrehen, um ihm zu folgen, wurde aber von einem Kraftfeld daran gehindert, seinen Wachposten zu verlas sen. Einer der Paladine beobachtete ihn misstrauisch und blaffte ihn an. »Bleib dort, wo du hingehörst, Spektralwe sen!« Die derzeitige Form von Agrus Kos war gezwungen zu gehorchen. Was aber nicht bedeutete, dass er nicht zuse hen konnte, wie die Paladine den Engel durch den großen Torbogen von Prahv schoben und zogen. »Guten Morgen, Wächter«, schnaufte eine knarrende Stimme hinter ihm. Kos, der gezwungen war, die Begrü ßung zu beantworten, drehte sich um und nickte. »Guten Morgen, Minister Bulwic«, sagte er automatisch. 140
Kos und Castell lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder
auf die Treppe und den nicht enden wollenden Strom von Ministern und anderen Amtsträgern, die auf dem Weg in die heiligen Hallen der Gesetzgebung und der Gerechtigkeit waren. Das Traumbild eines Engels verblieb noch kurz in eini gen Ecken seines Gedächtnisses, aber er konnte das gera de Erlebte nicht lange festhalten. Die Erinnerung an das gefesselte Wesen war schon wieder entschlüpft. Ein Roc flog vorbei und verdeckte für einen Moment die Sonne, die ohnehin schon von einer immer dunkler werdenden Wolke verdeckt wurde. Es würde wieder Regen geben. »Guten Morgen, Minister«, wiederholte Kos, erhielt ein freundliches Nicken eines weiteren ankommenden Sena tors und nickte zurück. Er hörte Brüllen und laute Pfiffe vom oberen Treppenabsatz, richtete seine Aufmerksam keit aber auf die Ankömmlinge. Agrus Kos war tot, aber sein Geist lebte weiter. Der Geist war nicht unbedingt glücklich darüber, aber man würde es nicht erfahren, würde man ihn fragen.
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Es war nicht die Luftjek-Patrouille, die als Erstes entdeck te, dass Parhelion nach Ravnica zurückkehrte. Aber Luftmarschallin Shokol Wenslauv war die Erste, die es näher unter die Lupe nahm. Das fliegende Hauptquartier der Boros-Engel, das seit der Zehntausendjahresfeier verschwunden gewesen war, 141
war vor einigen Stunden direkt über Utvara wieder er schienen. Es war erst hinter Wolken versteckt, die heili gen Donner und seltsam violette Blitzschläge mit sich brachten. Die verbliebene Bevölkerung von Utvara hatte es kaum bemerkt, da die Nephilim weiterhin die Siedlung in Schutt und Asche legten. Wenslauv war als erfahrene Roc-Reiterin damit ver traut, was Erschöpfung und dünne Luft für Auswirkungen auf den mentalen Zustand haben konnten, wenn man mehrere Stunden lang Streife geflogen war. Zuerst dachte sie, es sei eine Art Trugbild. Die Patrouille war auf dem Rückweg zum Nest, um dort eine achtstündige Ruhepau se einzulegen, bevor wieder eine Vierzehnstundenschicht anstand: vier am Boden mit Papierkram, zehn in der Luft. Aber es war kein Trugbild, das stellte sie schnell fest. Gerade noch war der Himmel fast leer gewesen, nur der übliche spärliche Verkehr bei Sonnenaufgang war zu sehen gewesen: ein paar Flugvögel, Passagierfledermäu se, kleine Privatzeppelide und ihre viel größeren Vettern, die Fracht transportierten. Dazu ein paar Bürger von Rav nica, die selbst fliegen konnten, und hier und dort herum flitzende Nachrichtenfalken. Aus dem Osten schienen Stürme aufzuziehen, was für diese Jahreszeit zwar etwas ungewöhnlich, aber nicht völlig unüblich war. Eine Sekunde später erschien aus den Wolken im Nordwesten eine goldene Burg mit großen Segeln. Sie war so wirklich und greifbar, wie man es sich nur vorstellen konnte. Früher einmal war die Burg die obere Hälfte von Sonnenheim gewesen, und sie dockte dort auch noch von 142
Zeit zu Zeit an. »Bei Krokt«, fluchte Wenslauv leise und sprach sofort ein Bußgebet hinterher, da sie im Angesicht des Heims der Engel so gotteslästerlich gewesen war. Sie gab ihrem Begleiter ein Zeichen, dass er auf Rufweite herankommen solle. Wenslauv musste brüllen, um die Höhenwinde zu übertönen, die um die Spitzen der Türme pfiffen und sich in den Flügeln ihres Helms verfingen. »Leutnant, Sie be richten der Inneren Festung. Ich fliege hoch und begrüße ...« Die Luftmarschallin stoppte mitten im Satz und blickte auf Parhelion. Die fliegende Burg war noch in weiter Fer ne, aber sie flog unter vollem Segel direkt auf sie zu, und damit auch geradewegs in Richtung der Stadtmitte. Wenslauv musste sich korrigieren. Etwas stimmte nicht beim fliegenden Hauptquartier der Boros-Engel, das frü her ein so vertrauter Anblick gewesen war. Es war nicht nur das plötzliche Wiedererscheinen hoch über der Stadt. An vielen Masten hingen keine Segel, einige bestanden nur noch aus zersplitterten Stümpfen. Eines der sechs riesigen Schwebekissen, die an der Unterseite der Festung montiert waren und sie in der Luft hielten, war schwarz und zerbeult. Eine dünne Wolke öligen Rauchs trat stetig aus dem Antrieb aus. Einige der Spitzen, die gemeinsam in der Mitte des Parhelions einen Bogen formen sollten, waren abgebrochen und rauchten vor ausströmender magischer Energie. »Frau Marschall?« »Eine Sekunde bitte.« 143
Offene Flammen züngelten aus mehreren zerbroche nen Fenstern. Die Oberfläche der Festung wies viele Del len und Krater auf, als ob Geschosse dort eingeschlagen wären. Man konnte Wenslauv als Expertin dafür bezeich nen, was mit Gegenständen passierte, die aus großer Hö he fallen gelassen wurden. Sie hatte auch überdurch schnittliche Erfahrung mit Goblin-Knallstäben, die heut zutage alle Luftjeks als Standardausrüstung mit sich trugen. Die Löcher, die überall am Luftschiff zu sehen waren, erinnerten sie an beides. Das Parhelion wirkte, als käme es gerade aus einem Krieg. Aber das Seltsamste, was Wenslauv sah, war das, was sie nicht sah. Als Razia noch vom Kommandodeck des Parhelions aus den Him mel über Ravnica überwachte, da hatte immer eine Trup pe von mindestens einem Dutzend Engeln das Schiff be gleitet. Nicht nur begleitet, die Engel hatten das Luftschiff eher geleitet. Ihre reinen Stimmen hatten sich erhoben und das sich immer aufs Neue ändernde Lied gesungen, mit dessen Hilfe die fliegende Festung auf ihrem Kurs durch den Himmel über Ravnica gehalten wurde. Obwohl das Parhelion wieder da war, fehlten die En gel. Ohne Begleittruppe, die es steuerte, schien das Parhe lion auf einem fest bestimmten Kurs zu sein, der leicht absteigend war und in einiger Entfernung hinter der Luftmarschallin in der Mitte von Ravnica enden würde. Befänden sich lebendige Wesen an Bord, würde das Schiff unmöglich in dieser Richtung fliegen – und erst recht nicht leicht nach Steuerbord gekippt. Die Flam mendüsen würden sicherlich nicht mit höchstens halber 144
Leistung brennen und dem Schiff seine Geschwindigkeit geben. Alles war falsch, nichts war so, wie es sein sollte. Sie riss sich lang genug vom Anblick des Parhelions weg, um einen kurzen Blick auf den Rest des Himmels zu werfen. Wie erwartet, waren sie und ihr Begleiter die einzigen Ordnungshüter weit und breit. Und es begann gerade wieder zu regnen. Das war nun schon der vierte Tag in Folge, an dem die Regenschauer kamen und gin gen. »Frau Luftmarschall?« Ihr Leutnant, ein für einen Go blin recht talentierter Roc-Reiter namens Flang, versuchte es noch einmal. »Das ist das ... Die Engel! Die Engel sind wieder da!« »Vergiss meinen Befehl von gerade«, rief Wenslauv. »Das Ding schwebt genau auf Prahv zu. Flieg nicht zur Inneren Festung, sondern direkt zum Senat. Beruf dich auf mich, und lass das ganze Gebäude evakuieren, und zwar sofort!« »Aber, aber ...«, kreischte Flang. »Die Sesselfritzen müs sen doch informiert werden!« »Na gut«, sagte Wenslauv. »Du hast möglicherweise Recht. Aber flieg schnell, und scheiß auf die Geschwin digkeitsbeschränkungen. Hol dir die Reservisten aus der Inneren Festung, und nimm sie mit. Falls schon ein Stra jek-Team bereit ist, sollen sie auch gleich mitkommen. Ich glaube nicht, dass das Parhelion noch bremsen wird, und Prahv liegt direkt in seiner Flugbahn.« »Sind Sie sich da sicher, Frau Luftmarschall?«, fragte Flang. 145
Wenslauv blickte noch einmal kurz auf das Luftschiff, überprüfte mit ihrem Daumen die Windrichtung und nickte. »Absolut sicher. Hol die Leute da raus, Leutnant. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit des Parhelions soll test du ein paar Stunden Zeit dafür haben.« »Das ist ja recht viel ...« »Leutnant, wenn irgendjemand in Prahv Ärger macht, verhafte ihn. Dafür hast du die Reservisten dabei. Ich hoffe allerdings, du benötigst sie nicht, und ich hoffe außerdem, dass die Evakuation eine übertriebene Reakti on ist. Ich werde das herausfinden, sobald ich da oben bin.« Wenslauv zeigte auf das Luftschiff. »Es könnte noch Zeit sein, den Kurs zu ändern.« »Aber was können Sie dort tun?« »Es muss eine Möglichkeit geben, das Ding in der Luft zu halten – falls ich es schaffe, an Bord zu kommen. Und genau das werde ich versuchen. Viel Glück, Flang.« Wens lauv salutierte kurz zum Abschied. »Jawoll, Frau Luftmarschall!« Auch der Goblin salutierte und lenkte dann seinen Roc in Richtung Stadtmitte. »Bleibt das wirklich an mir hängen?«, sagte Wenslauv laut, obwohl sich niemand mehr in Hörweite befand. »Natürlich, ich werde die obere Hälfte von Sonnenheim ganz allein in der Luft halten. Kein Problem.« Sie gab ihrem Roc die Sporen und flog auf direktem Weg auf das Parhelion zu. Auch wenn die jüngeren Luft jeks von den unermüdlichen Pegasussen begeistert wa ren: Für sie flog nichts besser als ein Roc.
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»Rakdos?«, sagte Capobar zum wahrscheinlich hundert sten Mal, seid sie Alt-Ravnica durch ein recht unbekann tes und selten benutztes Tor verlassen hatten. Er konnte es immer noch nicht ganz glauben. »Warum an die Rak dos? Wisst ihr nicht, wie unvorteilhaft Aufstände für das Geschäft sind? Ihr werdet mich ruinieren. Uns. Uns alle ruinieren. Das Geschäft.« Er bekam keine Antwort. Er gab sich innerlich einen Tritt dafür, dass er nie die wahren Namen der Schattengänger gelernt hatte. Dann hätte er wenigstens jemand verfluchen können, wenn er von ihnen getötet wurde. Auch während Capobars vorhergegangenen neunund neunzig Ausbrüchen hatten die Schattengänger keinen Ton gesagt und ihn nur manchmal durch leichte, un sichtbare Schubser daran erinnert, dass sie immer noch ganz in der Nähe waren. Capobar wurde noch hartnäcki ger und tapferer, während sie in flottem Tempo durch eine nicht enden wollende Folge von schmalen Gässchen eilten. Der Dieb musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung mehr hatte, wo sie sich befanden, und er vermu tete langsam, dass die ganze Situation ihn leicht verrückt machte. Und darum fragte er wieder nach. »Ihr habt einen Teil davon an die Rakdos verkauft? Das ist doch verrückt. Ihr scheint nicht genügend Zeit in der sichtbaren Welt zu verbringen, ihr beide. Das war eine ganz, ganz schlechte Idee. Izolda wird uns nicht überle ben lassen. Mich werden sie zwar am leichtesten finden, 147
aber euch kriegen sie auch. Das war ein schlechter Han del, und ihr hattet kein Recht dazu – in Ordnung, viel leicht hattet ihr das, aber es ist immer noch verrückt.« Capobar, du redest gerade nur, um dich selbst reden zu hören, alter Knabe, und das ist ein Zeichen von Hysterie, sagte er sich selbst. Er bemühte sich, damit aufzuhören, indem er seinen Teil der Nummer wiederholte, auf deren zugehörigem Konto sich die Zidos befanden, die die Bluthexe ihnen gerade bezahlt hatte. Die Schattengänger hatten die anderen beiden Drittel. Aber er konnte sich nicht dazu bringen, dem Handel zu trauen. Izolda war nicht die Gildenmeisterin der Rakdos, obwohl sie es ge nauso gut hätte sein können. Der Dämonengott trug offi ziell den Titel, aber eigentlich nur auf dem Papier. Seit hunderten von Jahren war Izolda diejenige, die die eigent liche Macht über die Thrill-Killer hatte und hinter deren Aktionen steckte. Während sie in der Dunkelheit durch enge Gassen marschierten, hatte Capobar viel Zeit zum Überlegen. Die meisten der unwichtigeren Wege, Gassen und Straßen sahen höchstens um die Mittagsstunde ein wenig Sonne, da die hoch aufragenden Gebäude nicht viel Licht einfal len ließen. Er versuchte, die Wahrscheinlichkeit zu be rechnen, dass die Schattengänger wirklich wussten, wor auf sie sich eingelassen hatten. Ein großer Faktor dabei war, dass die Bluthexe für ihre Rücksichtslosigkeit in allen Bereichen berüchtigt war. Vereinzelt blitzten hier und da Leuchtkugeln auf und beleuchteten die feuchten Pflastersteine unter seinen Füßen. Capobar konnte sich 148
nicht auf seine eigenen Gedanken konzentrieren. Ein übler Kopfschmerz kündigte sich an. Und genau diesen Moment nutzte einer der Schatten gänger, um das Dauerschweigen zu beenden, als ob er dem ganzen Terror noch die Krone aufsetzen wollte. »Du redest sehr viel«, sagte eine Stimme. Capobar, der damit gar nicht gerechnet hatte, stieß vor Überraschung unfreiwillig einen kurzen Schrei aus. »Warum redest du so viel?« Er spürte, wie eine kalte, aber unsichtbare Klinge ganz leicht gegen seinen Rücken drückte. »Geht in Ordnung«, stammelte der Meisterdieb. »Aber daraus wird sich nichts Gutes entwickeln, einfach einen Gil... äh, einen Kunden übers Ohr zu hauen. Die Abma chung, die ich getroffen habe, war über die ganze Menge. Ich habe dem Klienten alles versprochen, nicht die Hälfte, nicht zwei Drittel, nicht einen anderen Bruchteil. Und mein Kunde macht auf mich nicht den Eindruck, jemand zu sein, der gern teilt. Ihr habt das hinter meinem Rücken eingefädelt. Ihr werdet nie wieder einen anständigen Auftrag bekommen. Und ihr werdet Capobar & Partner in den Ruin treiben. Ich kann das nicht so hinnehmen, das wisst ihr.« »Und was, wenn ich fragen darf, ist schon anständig?« Der Schattengänger schien sich zu amüsieren. Rechts von Capobar ertönte eine andere Stimme mit ten aus der Luft. »Hier ist es.« »Was ist hier?« Capobar war nervös. Doch die einzige Antwort, die er bekam, war ein etwas stärkerer Druck mit der Dolchspitze gegen seinen Oberkörper. Er zog die 149
Schultern hoch und streckte die Arme aus, sodass die Handflächen nach oben zeigten. »In Ordnung, in Ord nung.« Jemand packte ihn am Oberarm und hielt ihn in einem so eisernen Griff, dass Capobar wusste, dass sein Arm brechen würde, wenn er sich wehrte. »Hörst du endlich auf, so herumzuplappern, oder muss ich dir erst die Zunge herausschneiden?« Der Meisterdieb, der sich mit jeder Minute weniger meisterlich fühlte, wollte gerade antworten, spürte aber wieder den Druck der Klinge, jetzt unterhalb der Kehle, und überlegte es sich deshalb noch einmal anders. Er nickte vorsichtig. »Gut«, sagte die erste Stimme mit deutlich hörbarer Ge nugtuung. Dann schien sie sich an den anderen Schatten gänger zu richten. »Mal hier das Zeichen hin.« Links von Capobar erschienen Kreidelinien auf dem Boden. Sie beschrieben einen Bogen um ihn herum und bildeten schließlich einen vollständigen Kreis mit sechs Schritten Durchmesser. Dann wurden kleinere Zeichen hinzugefügt, anscheinend magischer Natur. Sie bildeten einen kleineren Kreis innerhalb des größeren. Zu guter Letzt entstand noch ein dritter Kreis im Kreis. Die ganze Prozedur dauerte etwa zehn Minuten, und Capobar wagte es nicht, sich zu bewegen. Selbst wenn er sich nur kurz kratzen wollte, erhöhte sich der Druck der Klinge. Als der dritte Kreis sich geschlossen hatte, packte eine zweite Hand den Meisterdieb am anderen Arm. Die körperlosen Stimmen begannen im Flüsterton mit 150
einem kurzen Gesang. Ihr Dialekt hatte gewisse Ähnlich keit mit der Hochsprache der Vedalken, aber Capobar konnte den Sinn der komplizierten Worte nicht ausma chen. Er erkannte nur die letzten beiden Wörter: seinen Namen und den seines Auftraggebers. Es gab einen Blitz, und im nächsten Augenblick stand er zwischen zwei sehr sichtbaren Schattengängern in einem identischen Kreis in einer äußerst stickigen grünen Umgebung. Es dauerte einen Moment, bis sich Capobar an seine neue Umgebung gewöhnt hatte. Seine Augen tränten, wenn er weiter entfernte Objekte betrachten wollte. Er konnte nur verschwommene Farben erkennen, dazu so etwas Ähnliches wie einen Kronleuchter, der etwa zehn Meter von ihm entfernt war. Der Geruch von feuchter Erde hing über allem. Ein weiterer bekannter Geruch lag in der Luft, aber sein Geruchssinn war noch nicht wieder in der Lage, ihn zuzuordnen. Immerhin konnte er jetzt zum ersten Mal seine Angestellten – die demnächst seine ehemaligen Angestellten sein würden – genauer unter die Lupe nehmen. Er war überrascht, als er sah, wie schmächtig die Schattengänger waren – beide gingen ihm vielleicht gera de einmal bis zur Schulter. Ihre drahtigen Körper waren locker in hauchdünne blaue Bandagen gewickelt und erinnerten ihn etwas an die Mumien der Großen Schiedsmänner, die entlang der Promenade von Prahv ruhten. In den ebenfalls umwickelten Gesichtern waren glühende Augen ausgespart, und auch die Arme fielen ihm gleich auf: Sie waren viel zu lang und besaßen ein 151
zusätzliches Gelenk. Capobar musste sich korrigieren: Letzteres traf nur auf die beiden »normalen« Arme zu. Die Schattengänger hatten zusätzlich einen kleineren, verkümmert wirkenden Arm mit einer klauenbewehrten Hand, der ihnen aus dem Oberkörper wuchs. Der dritte Arm war nackt, sodass man bleiche, fast schon transparente Haut sehen konnte, unter der sich blaue und weiße Adern abzeichneten. Um den Hals trug jeder der Schattengänger eine Art silbernen Kragen, der unter dem Kinn in drei blauen Edelsteinen auslief. Capobar wunderte sich, ob diese Kragen das Geheimnis der Unsichtbarkeit waren, weshalb er auch gleich die nahe liegende Frage stellte. »Warum kann ich euch sehen?«, stieß er hervor. »In diesem Raum kann alles gesehen werden.« Aus dem lebendigen grünen Wust vor ihm kam eine unver wechselbare, zytoplastisch veränderte Stimme. Das konn te nur das Neuroboretum sein, das erweiterte Gehirn des Gildenmeisters der Simic, von Stammvater Momir Vig. Dem Klienten. Seinem Klienten. Die Schattengänger schienen tatsächlich ihr Wort zu halten. Ob die beiden es jedoch schaffen würden, die Übergabe durchzuführen, ohne dass Momir Vig merkte, dass die Beute schon mit jemandem anders geteilt wor den war, blieb die Frage. Ihm blieb nichts, als sich noch ein wenig an die Hoffnung zu klammern. Capobar hätte das Gewächshaus allein schon an der hohen Luftfeuchtigkeit erkennen müssen, aber seine Verwirrung war zu groß gewesen. Dieses Gewächshaus 152
war ein lebendiges und sich daher dauernd veränderndes Gefüge, das die oberste Etage von Novijen, der SimicGildenhalle, bildete. Novijen selbst war eher gewachsen als gebaut worden. Das Gewächshaus diente dem Stammvater als Dauerexperiment für biomagische Archi tektur. Auch Momir Vig war anwesend. Er befand sich auf ei ner Plattform mit glatter Oberfläche, die einer riesigen silbernen Lilie ähnelte. Die nachgebildete Blume wuchs inmitten eines Gewirrs aus Röhren, Ranken, seltsamen Pilzpflanzen und unbeschreibbaren wachsenden Orga nismen, aus denen dieses Neuroboretum bestand. Son nenlicht wurde nur durch Filter in den Raum gelassen, um dem wuchernden Leben innerhalb des Gewächshau ses beste Bedingungen zum Wachsen zu bieten. Momir Vig verließ das Gewächshaus selten, und das mit gutem Grund. Selbst Capobar konnte das Prickeln des Manas spüren, das in der schwülen Luft hing, und er kannte die Gerüchte, dass sich Momir Vig davon ernährte. Der Gildenmeister der Simic war nicht allein. Auf der rechten Seite des Neuroboretums stand eine Gestalt, die einst eine Devkarin-Elfin gewesen war, aber durch Ne kromagie in vielen Belangen verändert worden war. Ihre Haut war verkohlt und von Furchen durchzogen wie Baumrinde – und es war erschreckend viel von ihrer Haut zu sehen. Ihr bleiches, eingefallenes Gesicht saß in einem ungesund wirkenden Winkel auf dem Hals, als ob dieser schon einmal gebrochen worden wäre. Verfilzte tief schwarze Haarsträhnen rahmten den Kopf aus. Capobar 153
konnte eine Rippe entdecken, die aus der grauen Haut herausragte. Sie trug zerrissene Roben, die nur das Nötig ste bedeckten, aber irgendwie religiös wirkten. Vielleicht war sie so eine Art Zombiepriesterin. Und es wäre nett gewesen, wenn sie eine Kapuze getragen hätte, und sei es nur, damit sich Capobars Magen nicht umdrehte. Die Gestalt zur Linken des Diebs war schwerer auszu machen. Sie schien nicht nur im Schatten herumzulun gern, sie war möglicherweise ein Teil des Schattens. Sie war lang, dünn, trug einen schwarzen Mantel und hatte glühende Augen, die man als Einziges in der Dunkelheit deutlich erkennen konnte. Capobar warf noch einmal einen Blick auf das mit Membranen bespannte Fenster über ihm und beobachte te dann den schattigen Fremden genauer. Was auch im mer dieses Wesen war, es schien die Schatten selbst er zeugen zu können, indem es das gelbliche Sonnenlicht um sich herumbog. Ein netter Trick, wie Capobar zugeben musste. Er schielte zu den Schattengängern hinüber. Auch sie starrten auf den Schattenmann. Ihre dritten Arme zuck ten bedenklich, aber sie sagten keinen Ton. Die unangenehme Stille dauerte an, bis Capobar sich räusperte und alles auf eine Karte setzte. »Seid gegrüßt, Gildenmeister«, sagte er. »Wir haben den gewünschten Gegenstand beschafft. Meine Partner sollten in der Lage sein, alles Weitere zu regeln. Und da ich daran nicht zweifle, werde ich mich beeilen, zurück ins Büro zu kommen, wo ich noch ziemlich viel Papierkram zu erle 154
digen habe. Es war mir ein Vergnügen.« Er konnte sich nicht bewegen. Das hätte er sich auch denken können, schalt er sich. »Willkommen, Meisterdiebe«, sagte der SimicGildenmeister. »Wir alle sind sehr erfreut, euch hier zu sehen. Euch alle.« »In Ordnung«, sagte Capobar. »Wie ich schon sagte, glaube ich, dass wir unseren Teil der Abmachung erfolg reich durchgeführt haben. Ich möchten mich bei Euch und Euren werten Gästen entschuldigen, ohne unhöflich sein zu wollen. Aber ein erfolgreiches Diebesunterneh men besteht nun einmal aus Arbeit, und die drängt mich im Moment etwas.« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, weil du im Moment nämlich nicht gehen wirst, Meisterdieb«, sagte der Stammvater. Endlich meldete sich auch einer der Schattengänger zu Wort. »Stammvater, wir haben Eure Befehle ausgeführt. Wir haben den Todeskultisten erlaubt, einen Teil der Beute abzuzapfen.« »Sehr gut«, sagte der Sinuc. »Ihr habt das befohlen?« Capobars Frage hing unbe antwortet in der schwülen Luft. »Es ist noch genügend für Euer Projekt in der Spritze«, sagte der zweite Schattengänger. »Daher werden wir Euch jetzt die Beute überreichen. Wir vertrauen darauf, dass alle abgemachten Zahlungen geleistet wurden, wie es im Vertrag steht.« Der Schattengänger zog die riesige Spritze aus seinen Bandagen und legte sie auf den schwammigen 155
Boden. Er stieß sie mit dem Fuß an, sodass sie bis vor die Füße des Simic-Gildenmeisters rollte. Die untote Elfin kicherte gackernd. »O ja«, zischte die Priesterin mit dem gebrochenen Hals. »Ich hoffe, ihr habt wirklich genug von dem Zeug mitgebracht. Wir haben nämlich Großes damit vor.« »Zombie-Gott«, sagte der Schatten, und das Gelächter der untoten Devkarin brach sofort ab. Ihr schiefes Grin sen war allerdings nicht aus ihrem hässlichen Gesicht wegzubekommen. Capobar hörte einen geflüsterten Fluch des Schatten gängers links von ihm und musste beinahe laut loslachen. Für ihn war es jetzt klar, dass die Schattengänger genauso überrascht wie er waren, die anderen zu sehen. Und es war auch klar, dass ihr Plan ebenfalls über den Haufen geworfen worden war. Er vermutete, dass sie durch ihre plötzliche Sichtbarkeit ziemlich erschüttert waren, da sie es nicht gewohnt waren, ihre Körpersprache zu verber gen. Jedenfalls zeigten sie beide Anzeichen von Nervosi tät. In seiner Verzweiflung fiel ihm nur noch eines ein, obwohl auch das wohl ein vergeblicher Versuch war. »Und was ist mit den anderen Kreaturen?« Die Augen des Stammvaters blitzten auf. »Andere Krea turen?« »O ja«, sagte Capobar. »Die Kreaturen, die das gefressen haben, was von dem, ähm, Drachen übrig war. Die Nephi lim von Utvara. Sie waren dabei, in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit zu wachsen, als wir uns auf den Rück 156
weg gemacht haben. Ich weiß, verehrter Stammvater, dass Ihr Euch für solche Dinge interessiert, solche unge wöhnlichen Lebensformen.« Er gab sich Mühe, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, vermutete aber, dass man ihm seine Verzweiflung ansah. Momir Vig wandte sich jetzt ganz Capobar zu. Er be trachtete ihn wie eine Spinne, die einen saftigen Blutkäfer in ihrem Netz vorfand. »Wie viele?« »Äh, tja«, stammelte der Dieb. »Fünf. Und sie sind rie sig. Sie werden jede Minute größer, da habe ich keinen Zweifel.« Das kahle, bleiche Gesicht des Elfen ruhte auf Capobar. Vig war einst ein Elf gewesen – unter den wenigen ver bliebenen ursprünglichen Körperteilen des Stammvaters waren die spitzen Ohren noch deutlich zu erkennen, die ihm im milchig nebligen Licht gleichzeitig etwas Dämoni sches gaben. Die Elfenrasse, der Vig angehört hatte, war schon lange ausgestorben, ihr Name war längst verges sen. In der Zeit vor dem Gildenbund war sie in Stammeskämpfen von Silhana und Devkarin vollständig ausge löscht worden. Die beiden überlebenden Elfenrassen fanden zwar nicht viele gemeinsame Nenner, aber sie hatten sich schnell darauf geeinigt, dass Vigs Volk einfach zu grausam und ruchlos war. Das Aussterben der Rasse war von niemandem betrauert worden, noch nicht ein mal vom Stammvater. »Ich danke Ihnen für den Bericht, Meisterdieb.« Der erste Schattengänger, der immer noch einen hal ben Schritt hinter Capobar stand, versuchte Kapital dar 157
aus zu schlagen. »Wir hatten angenommen, dass Ihr da von wisst, Stammvater. Wir werden gern noch einmal nach Utvara eilen und Euch ...« »Von wegen«, sagte der Simic. Ohne jede Vorwarnung schossen glitzernde blaue zytoplastische Ranken aus dem Boden und wanden sich die Beine der Schattengänger hoch. Sie umrankten die Oberkörper, wuchsen und dehn ten sich aus, bis die drahtigen Körper der Schattengänger vollständig mit durchsichtigen Fasern überzogen waren. Das alles geschah so schnell, dass die Schattengänger noch nicht einmal die Zeit hatten, vor Schreck aufzu schreien. Nach wenigen Sekunden wurden ihre blauen Augen dunkel. Capobar spürte, wie sich seine Muskeln etwas ent spannten, und er streckte versuchsweise die Finger einer Hand. Er konnte sich wieder bewegen. »Ich hatte die Abmachung mit dir getroffen«, sagte der Stammvater. Er schien Capobars ungläubigen Blick rich tiggehend zu genießen. »Der Vertrag ist erfüllt. Und du hast mir zudem zusätzliche Dienste geleistet. Ich hatte mir schon lange gewünscht, eigene Schattengänger für Experimente zu haben. Ich glaube, diese beiden hier werden hervorragend dazu geeignet sein.« Fassungslos fragte Capobar noch einmal nach. »Also kann ich wirklich gehen?« »Natürlich«, sagte Momir Vig. »Wenn ich deine Dienste wieder benötige, werde ich dich benachrichtigen lassen, Meisterdieb. Geh heim und genieß den Rest deines Le bens.« 158
Auch zehn Minuten später, als Capobar über den gro ßen Festplatz ging, versuchte er immer noch herauszu finden, ob »genieß den Rest deines Lebens« nur eine Flos kel war oder doch mehr. Er atmete die saubere, kalte Luft ein, die nach drohenden Regenfällen roch, nicht nach Magie oder Mana. Vor seinem geistigen Auge entstand eine Vorstellung, was der Simic-Stammvater mit den Nephilim anstellen könnte. Capobar bekam ein schlechtes Gewissen, was sonst gar nicht seine Art war. Er hatte dem Simic auch noch davon erzählt. Er begann, etwas schneller zu gehen. Capobar war normalerweise jemand, der immer nüch tern blieb. Aber jetzt überkam ihn das dringende Verlan gen, sich mit einem Fass Bumbat zu unterhalten und nicht mehr damit aufzuhören.
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Wenslauvs Reittier stieß einen klagenden Schrei aus, der sich mit dem Pfeifen des Windes vermischte. Sie holte alles aus dem Tier heraus und lenkte es zu der Lande plattform, die dem Kommandodeck des Parhelions am nächsten gelegen war. Sie befanden sich immer noch außerhalb der Stadt. Flang hatte also noch Zeit, Prahv zu räumen. Sie selbst hatte etwas weniger Zeit, das sich langsam weiter herabsenkende Luftschiff noch unter Kontrolle zu bekommen. Noch immer hatte sie keine Anzeichen dafür entdeckt, dass irgendjemand an Bord war, Engel oder Nicht-Engel. 159
Aber wenn sie rechtzeitig das Steuer übernehmen konnte, wäre sie vielleicht in der Lage, das Ding in der Luft zu halten, bis Hilfe kam. Und wenn nicht – dann waren Prahv und ein guter Teil der Innenstadt wahrscheinlich dem Untergang geweiht. Die Flügel ihres Rocs schlugen verzweifelt, um die Ge schwindigkeit zu erreichen, die Wenslauv von ihm ver langte. Wind und Sonne verschwanden gleichzeitig, als sie die windgeschützte Seite der fliegenden Festung er reichten. Obwohl die Sonne nun komplett von dem riesi gen Schiff verdeckt war, konnte sie erkennen, dass das Landedeck dunkel dalag und dem Anschein nach verlas sen war. Eigentlich hätte die Plattform von hellen Leucht kugeln angestrahlt sein sollen und ein wachhabender Boros-Legionär sollte den Luftverkehr regeln. Aber da war niemand. Wenslauv landete den Roc am Rand des Decks, wo sie noch genug Licht hatte, um zu sehen, wo sie aufsetzte, und kletterte vom Rücken ihres Reittieres. So viel dazu, was hätte sein müssen, dachte sie. Was sie sah, versetzte ihr einen Schock. Der erschöpfte Roc hinter ihr kreischte laut, während sie sich im Düsterlicht umsah. Es war deutlich zu erken nen, dass die Leuchtkugeln absichtlich zerschlagen wor den waren. Die Scherben waren auf dem ganzen Boden verteilt. Wenslauv drehte sich zu dem riesigen Vogel um und tätschelte ihm beruhigend den Hals. »Flieg in den Horst zurück, Jayn«, sagte sie mit sanfter Stimme. Eigent lich schrie alles in ihr, den Vogel hier warten zu lassen. 160
Aber entweder würde sie im wahrsten Sinne des Wortes das Ruder herumreißen können – oder bei dem Versuch sterben. Und es hatte keinen Sinn, den treuen Vogel mit ihr sterben zu lassen. Mit etwas Glück würde sie es ja schaffen, die Flugbahn des Luftschiffs zu ändern. Dann könnten diejenigen, die ihr zu Hilfe kamen, sie anschlie ßend mitnehmen. Und wenn sie es nicht schaffte, hatte sie eh kaum die Möglichkeit, mit heiler Haut davonzu kommen. Die fünf verbliebenen Schwebekissen auf der Unterseite des Schiffs würden eine Kollision selbst bei dieser niedrigen Geschwindigkeit nicht überstehen, selbst wenn die Flammendüsen vorher leer gebrannt waren. Im besten Fall würden sie nur platzen und giftigen Treibstoff auf das Parhelion und die Umgebung verspritzen. Im schlimmsten Fall würden sie explodieren. Das wäre dann wohl das Ende der Himmelsfestung der Engel samt allen Insassen – und der gesamten Umgebung. Der Roc warf Wenslauv einen Blick zu, aus dem man seine für ein Tier erstaunliche Intelligenz ablesen konnte, und senkte dann den Kopf. »Mach es gut«, sagte Wenslauv. »Ich verlasse mich dar auf, dass du dich in Sicherheit bringst. Und jetzt ab mit dir.« Sie gab dem Roc einen freundlichen Klaps. »Na flieg schon.« Jayn, der Roc, scharrte herum und streckte den Schna bel in die Luft, um sich mit den Luftströmen abseits des Landeplatzes vertraut zu machen. Er klopfte mit den Klauen noch zwei Mal auf den Boden, als ob er seiner Reiterin eine letzte Gelegenheit geben wollte, noch ein 161
mal die Meinung zu ändern. Aber die Luftmarschallin schüttelte den Kopf. Mit einem klagenden Ruf erhob sich der Roc mit leerem Sattel in die Luft und steuerte auf die Stadtmitte zu. Er hielt einen gewissen Abstand zum Luft schiff ein und schien sich zu weigern, seine Reiterin ganz allein zu lassen. Wenslauv zog eine Grimasse und wandte sich dann wieder der Dunkelheit zu. Sie zog einen kurzen silbernen Knüppel, den sie allerdings vor Schreck fast wieder fallen ließ. Der Wind hatte sich verstärkt und das Deck ins Schwanken gebracht. Sie drehte am Griff der Waffe der Wojeks, und der Pendrek erwachte zum Leben. Sie wünschte, er würde auch Licht spenden, aber mit Wünschen kam sie im Moment nicht weiter. Inzwischen hatten sich Wenslauvs Augen immerhin schon so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie erkannte, wo sich der Eingang ins Innere des Parhelions befand. Die Umrisse des Türrahmens waren dank irgendeiner Lichtquelle tief im Inneren des Schiffs halbwegs zu er kennen. Allerdings bemerkte sie die Hindernisse auf dem Boden erst, als sie darüber stolperte. Nicht ihrer Erfah rung als Luftjek hatte sie es zu verdanken, auf den Beinen zu bleiben, sondern reinem Zufall: Die Plattform ver schob sich bei abflauendem Wind zufällig in die richtige Richtung. Wenslauv war kurz davor, wieder zu fluchen. Sie brauchte dringend Licht. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie in der Nähe des Eingangs so etwas Ähnli ches wie einen Schalter fand. Sie hoffte, damit die Leuchtkugeln wieder zum Leben zu erwecken. Falls sie 162
alle zerschlagen waren, wäre die Mühe zwar vergebens, aber vielleicht hatten ja doch einige überlebt ... Rund um sie herum war die Landeplattform plötzlich zu sehen, da tatsächlich noch ein gutes Dutzend Leucht kugeln ansprangen. Ein elektrischer Schlag fuhr in ihre Hand, die immer noch auf dem Schalter lag, und sie sprang vor Schreck zurück. Diesmal hatte sie nicht so viel Glück: Sie stolperte über das gleiche Objekt, über das sie zuvor schon beinahe gefallen war. Zu ihrem Schreck musste sie feststellen, dass es sich genau um das handel te, was sie befürchtet hatte. Der tote Engel war teilweise verstümmelt worden. Er hatte nur noch einen Flügel, und der war verdreht und seltsam abgespreizt. Der andere Flügel lag zu einem Hau fen Federn zusammengefallen ein Stück entfernt. Auch ein Arm fehlte komplett. Die Schulter war nur noch ein gezackter roter Stumpf, aus dem das Weiß eines gesplit terten Knochens deutlich herausstach. Wenslauv war über die Beine des Engels gestolpert, die in die falsche Richtung zeigten. Ein bösartig wirkender roter Streifen im Hüftbereich zeigte, dass jemand den Engel mit unglaubli cher Stärke verdreht haben musste, bis die Innereien aus dem Bauch gequollen waren. Eigentlich hätte alles blut bespritzt sein müssen, und etwas Blut war auch noch zu sehen. Im managespeisten Licht konnte Wenslauv erken nen, dass die Leiche schon länger hier liegen musste. Die Blutpfützen waren getrocknet und vom Wind teilweise schon aufgesogen worden. Eines der wenigen Dinge, die am Engel noch einiger 163
maßen heil waren, war das Gesicht. Die verdorrten Augen standen offen und starrten sie an. Das Kinn hing locker nach unten. Ein silbernes Schwert war in drei Teile zer brochen worden. Zwei davon lagen neben dem Engel, der dritte steckte genau zwischen den Augen in seiner Stirn. Im ausgetrockneten, offenen Mund des Engels wim melten kleine, weiße Wesen. Wenslauv würgte Gallenflüssigkeit hinunter und kämpfte gegen das Bedürfnis ihres Magens an, seinen Inhalt wieder herzugeben. Die Luftmarschallin hatte normalerweise keine schwache Kondition, aber die Würmer waren wie der Tropfen, der das Fass zum Über laufen brachte. Nur die Tatsache, dass sie heute noch nicht ihre Marschverpflegung angebrochen hatte, rettete sie davor, den bereits unappetitlichen Schauplatz unfrei willig weiter zu verzieren. Die Leiche war mindestens eine Woche alt. Wenn das, was den Engel so zugerichtet hatte, immer noch an Bord war, hatte sie noch weniger Grund zur Hoffnung, als bis lang angenommen. Aber sie musste es versuchen. Wens lauv machte einen Bogen um die Leiche und lief den Gang in die Richtung, die sie für die richtige hielt.
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Nur wenige Sekunden, nachdem Wenslauv verschwun den war, strömte eine faustgroße Menge Würmer aus dem Mund des toten Engels. Die Masse formte sich zu einer zylindrischen Gestalt, die sich nach und nach in die 164
Länge streckte. Nach einigen Sekunden ließen sich lang sam Details erkennen. Aus den Würmern war eine Utva rische Viper mit ihren charakteristischen roten Streifen längs des Rückens entstanden. Die Schlange glitt leise hinter der Luftjek her und be mühte sich, genügend Abstand zu halten.
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Kapitel 7
H
Die Aufgabe der Boros-Legion wird es sein, das Gesetz durchzusetzen. Das Selesnija-Konklave soll der lebendige Geist des Gesetzes sein. Das Orzhov-Syndikat soll die Kon trolle über die Reichweite des Gesetzes haben und die Rech te aller Bürger schützen, sich gegen jede Anklage vor den Gerichten Ravnicas verteidigen zu können. Der AzoriusSenat soll die letzte Instanz sein, wie das Gesetz auszulegen ist, und bei allen Gerichtsverhandlungen die Richter stellen. Gildenpakt, Artikel I, Abschnitt 2
31. Cizarm 10012 Z. C. Goldene Sonnenstrahlen hüllten die ungewöhnliche Ver handlung, die gerade zur Ruhe gerufen wurde, in ein besonderes Gewand. Für die Sitzungen der Senatskam mern von Prahv wurde eine riesige Bronzeglocke ver wendet, die in einem Mana-Kraftfeld unterhalb des Schlusssteins des Kuppelgewölbes aufgehängt war. Das Geräusch störte Teysa kaum, die im Kopf noch einmal verschiedene Aspekte durchging. Sie hatte die Glocke schon oft gehört, allerdings nur selten direkt unter ihr gesessen. 166
Der Sitzungssaal des Senats, der so gebaut war, dass er an eine große Höhle erinnerte, war nur spärlich besetzt. Hauptsächlich waren die geisterhaften Gestalten der Jury der Seelen zu beobachten, die zwischen den größtenteils leeren Bänken rings um das Amphitheater hin und her schwebten. Teysa hatte den Antrag gestellt, die Verhandlung hier stattfinden zu lassen, und sie hatte auch erfolgreich den Status eines Hohen Tribunals erreichen können. Sie musste sich auf eine obskure, fast in Vergessenheit gera tene Regelung berufen, die noch aus den frühen Tagen des Gildenbunds stammte. Damals hatten sich die Gilden häufiger und wilder bekämpft. Teysa war damit durchge kommen, weil Feder eine besondere Stellung innehatte. Wenn er tatsächlich der letzte Engel war, wie nicht nur er behauptete, sondern auch viele Leute in der Menge drau ßen mit ihren Sprechchören, dann standen die Chancen nicht schlecht, dass er damit automatisch Gildenmeister der Boros war. Der Engel hatte Teysa gegenüber zwar behauptet, er habe kein Interesse daran, Gildenmeister zu werden. Aber die Baronin erinnerte ihn daran, wer von beiden der Advokat war, und Feder hatte auf seine Ein wände verzichtet – zumindest für die Anhörung. Das Thema der Nachfolge bei den Boros war in allen Statuten, Artikeln, Erweiterungen, Novellen und Verordnungen nicht ausreichend geklärt worden, das hatten auch Azori us-Gelehrte bestätigt. Um also absolute Fairness und Übereinstimmung mit den Statuten des Gildenpakts zu garantieren, wurde Feder behandelt, als ob er ein Gil 167
denmeister war – auch wenn der derzeitig agierende Gildenmeister der Boros-Legion mit im Saal saß. Das Verfahren als Hohes Tribunal aufzuziehen hatte einige Vorteile. Am meisten davon wog wahrscheinlich die Unterschiedlichkeit der Meinungen und Betrach tungsweisen, die so ein Fall mit sich brachte. Nun, es musste nicht unbedingt ein Vorteil sein, aber Teysa fand diese Ausgangslage aussichtsreicher als ein Standardver fahren mit einem blinden Schiedsmann und einer Gruppe Geschworener, die aus gedankenlesenden Vedalken be stand. Anstatt sich nur vor Azorius rechtfertigen zu müs sen, musste sich der Angeklagte den Weisen der drei hohen Gilden stellen: Azorius, Selesnija und Boros. Das Selesnija-Konklave wurde durch den derzeitigen Lebenden Heiligen vertreten, einen Loxodon namens Kel. Er betrat den Saal, ohne großes Aufsehen zu machen. Fast schien ihm schon das laute Ausrufen des Gerichtsdieners beim Eintreten zu viel des Guten zu sein. Von der anderen Seite kam ihm einer der übrigen Richter des Tribunals entgegen. Dieser pflegte allerdings ein bedächtiges Tem po, schaute sich genau um und tauschte mit den Ge richtsdienern Grüße aus. Dem Generalkommandeur der Wojeks, der gleichzeitig auch agierender Gildenmeister war, sah man an seinem wettergegerbten Gesicht die Jahrzehnte bei den Luftjeks an. Er trug den glänzenden Brustpanzer mit eingeprägtem Boros-Siegel, der ihm amtshalber zustand. Er marschierte entschlossen zu sei nem Platz auf dem Podium der Richter, wo er in Habt Acht-Stellung hinter seinem Stuhl verharrte, bis der Leiter 168
des Tribunals eintrat. Der Große Schiedsmann Augustin IV. schwebte auf mehreren tausend Kilo poliertem Stein, der sich entlang einer Lichtachse bewegte, in den Saal. Der Oberkörper des Großen Schiedsmannes endete auf einem Thron aus weißem Marmor mit Silberverzierungen. Der Prunksessel ruhte auf vier kleinen Schwebekissen, die Augustin mit der Innenseite einer seiner bleichen Hände kontrollierte. Er landete mühelos genau in der Mitte des Podests, ohne auch nur einmal kurz korrigieren zu müssen. Obwohl dem Tribunal drei so unterschiedliche Persön lichkeiten vorsaßen, machte sich Teysa eigentlich am meisten Sorgen über den Großen Schiedsmann. Sie kann te ihn nicht ganz so gut, wie sie es sich gewünscht hätte. Augustin war erst seit ein paar Jahrzehnten an der Macht, nachdem er den weisen und gildenübergreifend respek tierten Lucian III. abgelöst hatte, nachdem dieser seinem Kampf mit der Goff’schen Krankheit erlegen war. Die anderen beiden hatten zwar Mitspracherecht, aber am Ende würde der Große Schiedsmann das endgültige Urteil über Teysas Klienten sprechen. Es gab keine Geschwore nen, die Jury der Seelen konnte man hier nicht einrech nen. Die Sitzreihen des Senats, zur Zuschauertribüne umfunktioniert, waren spärlich gefüllt. Teysa sah ein paar der älteren Minister und Lords aus beiden Kammern des Senats, die zum Stillschweigen verpflichtet worden waren. Dazu kamen die Gerichtsdiener, der Angeklagte, ein einzelner Gerichtsschreiber, der für das Archiv mit stenografierte, und natürlich sie selbst, die Advokatin des 169
Angeklagten. Ein Vertreter der Anklage war nicht vorge sehen. Dank dieser ungewöhnlichen Verfahrensregelung würden die drei Richter sowohl die Befragung durchfüh ren als auch später die Anklage formulieren. Teysas Auf gabe war es nun, so gut zu reagieren, wie sie konnte. Zum Glück hatte die Baronin allen Grund zur Annahme, dass sie im Improvisieren nicht ganz untalentiert war. Sie hatte sich in ihre konservativsten AdvokatenGewänder geworfen und stand jetzt neben Feder hinter einem langen Tisch, den Richtern genau gegenüber. Die Gerichtsdiener hatten dem Engel die Fußfesseln abge nommen, aber Feders Hände waren immer noch anein ander gefesselt. Auch seine Flügel wurden immer noch von silbernen Klammern zusammengehalten und waren damit funktionsuntauglich, wodurch sich der Engel nur eines kleinen Teils seiner Kraft bedienen konnte. Zum Glück für sie als Advokatin bedeutete das aber auch, dass ihr Klient nicht einfach davonpreschen konnte, während er sich im Zeugenstand befand. Ob wörtlich oder übertra gen gemeint, war egal – Engel waren berüchtigt für ihr hitziges Temperament. Rechts von Teysa hockten Elbeph und Phleeb, zwei der Grugg-Brüder, die ihr schon lange als Diener dienten, sowohl im Gerichtsaal als auch im Alltag und bei ihren Geschäften. Der Große Schiedsmann saß still da. Sein Kinn war auf die Brust gerutscht, und sein augenloses Gesicht ließ kei nerlei Regung erkennen. Es war so still im Raum, dass man seine langsamen und stetigen Atemzüge hören konnte. Er wirkte wie ein bleicher, blauer Großvater, der 170
nach einer schweren Mahlzeit ein Mittagsschläfchen hielt. Nach fast einer Minute drehte er sein blindes Ge sicht dem Engel zu. Der Große Schiedsmann betrachtete ihn noch eine ganze Minute schweigend. Teysas Bein schmerzte, aber sie verzog nicht das Ge sicht, auf dem gerade Ausdruck Nummer sechs prangte: Ich habe höchsten Respekt vor Euch, verehrtester Älte ster. Auch den anderen Richtern schien es wie eine Ewig keit vorzukommen. Der Wojek-Generalkommandeur be gann unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, und der Lebende Heilige Kel gab seinen Instinkten nach und ließ geschickt eines seiner riesigen Ohren so zucken, dass er eine aufdringliche Stechmücke damit erlegte. Endlich nickte der Große Schiedsmann dem obersten Gerichtsdiener zu, einem untersetzten Mann in einer silbernen Uniform. Der Gerichtsdiener schlurfte bis zur dritten Stufe vor dem Richterpodest und rammte dort seinen Zeremonienstab auf den Steinboden. Seine beiden Gehilfen taten es ihm gleich. »Das Hohe Tribunal ist versammelt!«, verkündete der kleine Mann mit dröhnender Stimme. Er drehte sich auf dem Absatz um, lehnte den Stab gegen seine Schulter und marschierte so prunkvoll er konnte die Stufen des Senats wieder hinunter. Als er unten angekommen war, nahm er stramme Haltung an und blieb stocksteif dort stehen. »Nehmen Sie Ihre Plätze ein«, sagte Augustin IV. Teysa und Feder setzten sich beide hinter den Tisch, während sich die Thrulls zusammenkauerten. Die Stimme des 171
Großen Schiedsmannes war voll und sanft, was gar nicht zu seinem Ruf passte, unbarmherzige Urteile zu fällen. Er war während des letzten Rakdos-Aufstands an die Macht gekommen und hatte mehr Hinrichtungen angeordnet als alle Großen Schiedsmänner in der Geschichte der Gilde vor ihm. Teysa hatte in ihrer Laufbahn bereits zwei Mal die Ehre gehabt, einen Fall vor ihm darzulegen. Beide Male hatte sie ihn als gerecht erlebt, aber schwer einzu schätzen und fast unmöglich zu betrügen. Dies war eine der Sachen, auf die sie baute. Diesmal umfasste ihre Strategie noch nicht einmal die formalisier te Verschleierung, die ihren Berufsstand auszeichnete. Selbst Augustin würde nicht in der Lage sein, die Wahr heit aus dem Mund eines Engels zu leugnen. »Diese Gerichtsverhandlung ist hiermit eröffnet und wird in aller Form zur Ordnung gebeten«, fuhr der Große Schiedsmann fort. »Der Senatsstenograf wird für die Ak ten aufzeichnen, dass diese Versammlung in vollster Übereinkunft mit den Bestimmungen des Gildenpakts und aller entsprechenden Statuten und Artikel zusam mengekommen ist. In die Akten wird ebenfalls aufge nommen, dass Pierakor Az Vinrenn D’rav, Engel der Bo ros-Legion, auch unter dem Namen Konstabler Feder des Bunds der Wojek bekannt, der folgenden Vergehen ange klagt ist. Gerichtsdiener, bitte die Anklagepunkte.« Was folgte, war die Aufzählung der Vergehen fast Wort für Wort in der Version, die Teysa bereits von Feder in der Vernehmungszelle erhalten hatte. Der Obergerichts diener beendete den Vortrag, rollte zwei Pergamentrollen 172
zusammen und übergab eine an die Richter und eine an Feders Advokatin. Der Loxodon griff zuerst danach und überflog das Geschriebene noch einmal. Er schien kurz sichtig zu sein, da er dabei die Augen zusammenkneifen musste. Teysa rollte ihre Kopie auf und legte sie auf den Tisch vor sich. »Pierakor Az Vinrenn D’rav, Engel der Boros-Legion, Sie sind dieser Vergehen angeklagt«, sagte der Große Schiedsmann. »Sie werden jetzt in den Wahrheitskreis treten, um über Ihre Taten Zeugnis abzulegen, falls Sie sich nicht weigern, dies zu tun. Weigern Sie sich? Sie haben das Recht, es zu tun, aber es wird als automati sches Schuldbekenntnis gewertet.« Die Frage war an Feder gerichtet, aber das Protokoll sah vor, dass Teysa zuerst antwortete. »Wir lehnen die Möglichkeit zur Aussage nicht ab, Euer Ehren«, sagte sie förmlich. »Wünschen Sie weitere Personen in den Zeugenstand zu rufen? Nun wäre der Zeitpunkt, sie zu benennen«, sagte Augustin. »Nein, Euer Ehren«, antwortete Teysa. »Mein Klient ist der einzige Zeuge, der in der Lage ist, über die Ereignisse zu berichten, die zu dieser Anklage geführt haben. Wir verzichten daher im Moment auf unser Recht, weitere Zeugen zu benennen. Möglicherweise werden wir erst zu einem späteren Zeitpunkt weitere Zeugen benötigen. Ich zitiere dazu den Fall von ...« »Gut, zugestimmt«, sagte der Große Schiedsmann. »Sie brauchen das nicht weiter ausführen. Legionär Pierakor, 173
nehmen Sie bitte im Wahrheitskreis Platz.« Feder ging in den Kreis, der zwischen Teysas Stuhl und dem des Obergerichtsdieners angelegt worden war. Er setzte sich dort auf den einfachen Hocker. Seine Flügel hätten ihm das Sitzen auf einem normalen Stuhl auch nicht richtig erlaubt. »Legionär, die Verbrechen, deren Sie angeklagt sind, sind zahlreich und schwerwiegend. Sie haben sich ent schlossen, als Ihr eigener Zeuge zu fungieren, was vor aussetzt, dass Sie letztlich umständehalber auf Unschuld plädieren. Sobald Sie sich entschlossen haben, dies zu tun, geben Sie damit das Recht auf, die Aussage zu ver weigern und die Fragen dieses Gerichts oder Ihres eige nen Advokaten nicht zu beantworten. Haben Sie das ver standen?« »Ja, Euer Ehren, wir haben das verstanden«, sagte Tey sa. Feder nickte. »Ich habe es verstanden«, sagte er. »Gut«, meldete sich der Wojek-Generalkommandeur dazwischen. »Euer Ehren, ich beantrage die Ehre der er sten Frage.« »Das ist Euer Recht«, erwiderte der Große Schieds mann. »Der Angeklagte gehört Eurer Gilde an, zumindest zum heutigen Tage.« Nodov drückte sich aus seinem Sitz hoch und lehnte sich vor auf die Brüstung. »Meine erste Frage bezieht sich auf die Anklagepunkte, Legionär, und was diese Anklage punkte für uns bedeuten oder auch nicht«, sagte er. »Wo genau haben diese Ereignisse stattgefunden? Geben Sie 174
uns bitte nähere Einzelheiten zum Hintergrund.« Er zeigte fordernd mit einem Finger auf Feder. »Wohin sind die Engel gegangen?« Für eine Zeit, die wie eine Ewigkeit wirkte, hätte man in den riesigen Räumlichkeiten des Senats eine Steckna del fallen hören können. Nur das Geflüster der Jury der Seelen war jenseits des Verstehbaren zu vernehmen, und auch sie verstummten, als Feder zu sprechen begann. »Mit einer Ausnahme, Euer Ehren, glaube ich, dass die Engel alle tot sind«, sagte er.
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Nicht anders als sonst hörte Fonn den Gesang bereits kurz vor dem Aufwachen. Der Gesang war immer das Erste, was sich in ihrem Bewusstsein sammelte. Norma lerweise war dies für sie eine sehr angenehme Weise, den Tag zu beginnen. Es fühlte sich so an, als ob man sicher daheim aufwachte, selbst wenn man gerade an einen Wolf gekuschelt neben einem verloschenen Lagerfeuer am Rand eines Weges am anderen Ende der Welt schlief. Seltsamerweise stimmte das sogar einigermaßen. Fonn blinzelte, bis sich ihre Augen an die Nachmittagssonne gewöhnt hatten. Sie saß an einen Meilenstein gelehnt mitten auf der Straße. Ohne zu zögern, sprang sie auf ihre noch etwas wackeligen Beine. Sie waren alle weg – die Rakdos, ihr Wolf, die Dro mads, die Pfadfinder. Ihr Sohn. Fort. 175
Fonn musste sich abstützen, um das Gleichgewicht zu bewahren, weil die Panik sie überkam. Die Welt drehte sich um ihren Kopf, und sie rutschte beinahe in einer Blutlache aus. Langsam drehte sie sich herum. Bitte lass es nicht seins sein, betete sie. Bitte. Es war weder Mycs Blut noch das einer ihrer anderen Pfadfinder. Aber wo ihr Sohn und die anderen verschol lenen Jugendlichen waren – auf ihren Dromads ritten sie jedenfalls nicht. Die großen Reittiere waren bestialisch getötet worden. Die Einzelteile lagen über die ganze Brei te der Straße verstreut. Nachdem Fonn die ersten Übel keitswellen gerade überstanden hatte, konnte sie auch Körperteile erkennen, die unzweifelhaft zu einem Wolf gehörten. Von Heulkrämpfen geschüttelt, brach sie zu sammen. Die Rakdos hatten auch Tharmoq in Stücke gerissen. Das Einzige, was Fonn vor dem totalen Zusam menbruch bewahrte, war das ebenso unbestreitbare Feh len von menschlichen, elfischen oder zentaurischen Überresten. Ihr Sohn war verschwunden und benötigte Hilfe. Nichts konnte Tharmoq oder die Dromads zurückbringen, aber Myc und die anderen konnten möglicherweise noch gerettet werden. Das Adrenalin in ihr hatte die Kontrolle übernommen. Sie sprang auf und schaute die blutüberströmte Straße entlang in beide Richtungen, um Hinweise zu finden, wohin die Rakdos ihren Sohn und die anderen Pfadfinder verschleppt haben könnten. Erst jetzt bemerkte Fonn den kleinen Menschenauflauf um sie herum. Manche betrach 176
teten sie verschreckt, anderen stand die Furcht in den Augen. Anscheinend hatte niemand den Mut aufbringen können, sich ihr zu nähern. Ihr Leib war ja immerhin noch intakt, und ihre Waffen – die versteckten ebenso wie die offen getragenen – hatte man ihr auch gelassen. Fonn stürzte auf die Gafferin zu, die ihr am nächsten stand. Sie erkannte die dickliche Frau wieder: Sie hatte hinter einem Obststand gehockt, an dem sie vorbeigerit ten waren, bevor die Wolke sie alle eingehüllt hatte. »He, du dort«, rief sie der Händlerin zu. Fonn eilte zu ihr hin, so schnell ihre noch wackeligen Beine es erlaub ten. Die Frau wich etwas zurück. »Was hast du gesehen? Wohin haben sie die Kinder geschleppt?« Die Frau stammelte einen Moment vor sich hin, bis sie klare Worte herausbrachte. »Ihr lebt!«, bekam die Händle rin schließlich heraus. »Ihr seid nicht ein ... Ihr seid so ... Ihr seid kein Zombie, oder?« »Wie bitte?«, sagte Fonn und schaute an sich hinab. Ih re Kleider waren blutgetränkt, ihre Arme ebenfalls be schmiert. Sie zog eine Grimasse und spürte, wie Flöck chen getrockneten Bluts sich von ihrer Haut lösten und herunterfielen. »O ja, ich lebe. Ich bin ein Offizier des ... Nein, Moment, ich bin eine Ledev-Wächterin vom Orden der Mat’selesnija. Sie haben meinen ... meine Rekruten geraubt. Es sind Jugendliche. Sag mir, was du gesehen hast. In welche Richtung sind sie gezogen? Es waren Rak dos. Thrill-Killer.« »Ich habe ... ich habe nur eine Wolke gesehen«, bekam die Frau schließlich heraus. »Nebel. Er wurde plötzlich 177
ganz dicht, dann wehte er über Sie, und das – all das hier – war das, was übrig geblieben ist.« Die Händlerin musste schlucken. »Ich werde dir nichts tun. Die Wolke. Der Nebel. In welche Richtung?« »Das waren wirklich Rakdos«, sagte ein anderer Schau lustiger, ein großer Mann mit einer Augenklappe und der Schürze eines Schmieds. »Bellavna, du bist doch viel zu überarbeitet, um überhaupt noch zu wissen, was du in Krokts Namen gesehen hast. Aber ich kann mich an alles erinnern, Frau Zenturiad. Ich habe so einen Nebel schon einmal gesehen, ja, das habe ich. Habe ihn in der Nacht gesehen, in der die ganzen Kinder in Chaurn verschwun den sind. Es ist ein Dämonennebel, so heißt’s. Nur die Rakdos können ihn herbeirufen.« »Also hat von euch allen niemand irgendetwas gese hen?« Fonn war fast schon wieder am Kreischen. Eine jüngere Frau, deren Kittel sie als Ladenbesitzerin kennzeichnete, trat nach vorn. »Ich habe ... Ich weiß nicht, ob das wirklich wichtig ist oder nicht, aber ich ha be Ratten gesehen. Viele Ratten. Und meine Katze ist schon seit Tagen verschwunden.« »Das stimmt«, pflichtete ein weiterer Gaffer bei, und auch einige andere gaben Laute der Zustimmung von sich. Mehrere Haustiere wurden vermisst, und überall waren Ratten aufgetaucht, da war sich die Menge einig. Das ergab ja eine interessante Verbindung zu dem Fall, den sie in Leutnant Pijhas fähigen Händen zurückgelas sen hatte, aber es musste nicht unbedingt im Zusammen 178
hang mit ihrer aktuellen Krisensituation stehen. Oder vielleicht doch? Rakdos war auch unter vielen anderen Namen bekannt. Der Schänder. Der Versklaver. Der Dämonengott. Und, in etwas entlegeneren Überliefe rungen, der Rattenkönig. Fonn versuchte, das im Hinter kopf zu behalten, um später darüber nachzudenken. Jetzt musste sie erst einmal die Spur der Kultisten aufnehmen. Sie zwang sich dazu, tief und kräftig zu atmen, um wieder zu etwas mehr Ruhe zu kommen. Das Letzte, womit sie Myc jetzt helfen konnte, war ein hysterischer Anfall. Sie konzentrierte sich stattdessen auf den Gesang. Seit dem Moment, als er geboren wurde, hatte Fonn im mer mühelos den einen Ton im ewigen Chor heraushö ren können, den die lebendige Seele ihres Sohns erzeug te. Und auch jetzt konnte sie ihn hören, wenn auch nur leise. Er befand sich also bereits ein ganzes Stück ent fernt. Aber irgendwo war ihr Sohn, und er war noch am Le ben. Fonns Herz hüpfte, weil sie sich an diese Hoffnung klammern konnte wie ein ertrinkender Mensch an ein Seil. »Tut mir Leid, gute Frau«, brabbelte der Schmied. »Ich versuche ja nur zu helfen. Glaubense wirklich, dass sie das ganze Fleisch hier brauchen? Ich frag ja nur, weil ...« Fonn hatte ihr Schwert gezückt und dem Mann an die Kehle gepresst, bevor er das »weil« fertig ausgesprochen hatte. »Das ist keine Nahrung«, knurrte sie. »Gar nichts davon?«, wollte die Händlerin wissen. »Der 179
Wolf, nun gut, der ist wohl ziemlich zäh, aber von dem Dromad könnte sich meine Familie zwei Wochen lang ernähren. Von einem davon. Und wenn Sie das Fleisch nicht wollen...« »Genau«, sagte ein anderer. Die Menge schien zu be greifen, dass sie nur eine einzelne Frau war und nicht etwa ein Widergänger, der gekommen war, um sie alle zu verschlingen. »Wolfsfleisch soll ziemlich gesund sein, gut gegen ziemlich viele Beschwerden. Und allein für den Schädel bekäme ich schon ...« Die Ledev-Wächterin ließ ihre Schwertspitze sinken und trat unsicher einen Schritt zurück. Diese Menschen konnten sie nicht verstehen. Wie so viele, die in solchen Gegenden leben mussten, sahen sie nur noch die prakti sche Seite. Aber allein der Gedanke daran, dass irgendje mand, und erst recht diese Fremden, die Überreste von Tharmoq und den Dromads weiter entweihen würde, machte sie sofort wütend. Sie war kurz davor, selbst zu morden. Und das war nicht gut so. Fonn blendete die geschwätzigen Schaulustigen aus, die sich inzwischen den Leichen der Tiere genähert hat ten und mit Stöcken in ihnen herumstocherten, um die besten Teile zu finden. Aasfresser, dachte sie. Aber auch Aasfresser waren Teil des Lebens. Selbst dann, wenn es denkende Wesen waren. Diese Leute be fanden sich zwar vielleicht nicht auf der untersten Stufe der sozialen Leiter, aber auch nicht mehr als eine Sprosse oder zwei höher. Fonn konnte weder den Wolf noch die Dromads ins Leben zurückbringen, aber irgendwo da 180
draußen war ihr Sohn noch am Leben. Sollte der Tod der treuen Tiere doch noch einen zusätzlichen Zweck erfül len, beschloss sie. Auch wenn diese Fremden es wahr scheinlich nicht begreifen konnten, was das für ein Opfer für sie bedeutete. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf den Gesang, bis sie Mycs Ton gefunden hatte. Langsam drehte sie sich im Kreis und stellte fest, dass sich die Tonhöhe unwesentlich änderte. Wenn sie nach Norden oder Süden gewandt war, war der Ton so gut wie gleich. Wenn sie nach Osten blickte, gen Utvara, klang der Ton am leisesten. Als sie sich nach Westen drehte und in Richtung der Stadt schaute, konnte sie ihn am besten vernehmen. Also nach Westen, dorthin, wo sie hergekommen wa ren. Die Rakdos schienen die gefangenen Pfadfinder di rekt zurück in die Stadt zu schleppen. Zumindest bei Myc konnte sie es genau sagen, aber sie vermutete, dass die anderen in seiner Nähe waren, da niemand von ihnen zwischen den Dromads lag. Sie hatte über zweihundert Meilen bis zur Stadt – und das ohne Reittier. Sie konnte nicht sagen, wie schnell sich die Rakdos tatsächlich fortbewegen konnten. Es war ihr inzwischen klar, dass die gemächliche Karawane nur ein Teil der List gewesen war. Sie überflog noch einmal die schnatternde Menge, entdeckte aber nicht mehr als ein hageres Paar Ochsen und ein buckeliges Dromad, das von einer Wolke schwarzer Fliegen umzingelt war. Sie könnte ihnen hinterherlaufen und sie, wenn sie die 181
Spur aufnehmen konnte, vielleicht sogar einholen. Wenn sie unterwegs allerdings ein besseres Transportmittel fand ... Fonn hatte niemanden sonst, an den sie sich jetzt noch hätte wenden können. Es würde sie einiges von ihrem Stolz kosten. Er könnte sie unterwegs treffen, und zu sammen würden sie Myc und die anderen retten. Er konnte es gar nicht ablehnen. Sie betastete ihren Hals. Der Anhänger war noch da. Fonn zog ihn unter ihrer Tunika hervor und betrachtete den grünblauen Sprachstein. Jarad hatte das Gegenstück. Sie hatten sie sich gegenseitig an dem Tag geschenkt, an dem Myczil Savod Zunich auf die Welt gekommen war. Solche Steine waren unglaublich teuer, und seit der Scheidung hatte keiner von beiden ihn benutzt. Aber sie trug ihren immer bei sich, und sie wusste, dass Jarad das ebenfalls tat. So hatten sie eine direkte Kommunikati onsmöglichkeit, die sie allerdings nur im Notfall nutzen wollten, da in den Steinen nur wenig Energie steckte. Und dies hier war sicherlich ein Notfall. Sie zog den blutbesudelten Handschuh aus, den sie über ihrer verbliebenen richtigen Hand trug und berührte den grünblauen Stein drei Mal. Bei der dritten Berührung begann sie zu sprechen. »Jarad, es ist ein Notfall. Ich brauche deine Hilfe. Ich befinde mich am Barackenturm von Bargond, östlich der Stadt. Der große, der mit dem Tunnel. Mein Wolf ist tot, Myc ist geraubt worden.« Der Stein glühte in hellem Grün, und die tiefe Stimme des Devkarin klang dünn und entfernt. »Ich habe dir doch 182
gesagt, dass er noch nicht bereit ist ...« »Darüber sollten wir später sprechen, in drei Krokts Namen!«, blaffte Fonn. »Rakdos haben ihn verschleppt.« »Warum hast du das nicht gleich ...« »Rakdos haben ihn geraubt, aber er ist am Leben. Ich kann ihn hören. Sie sind in Richtung Stadtmitte unter wegs, ich bin mir aber sicher, dass sie sich noch auf dem Weg befinden. Wir müssen sie einholen, allerdings bin ich zu Fuß unterwegs. Wie schnell kannst du bei mir sein?« »Ich ... bald«, antwortete Jarad. »Ich muss mir nur noch mein Schwert umgürten. Die Gilde kann sich ruhig eine Weile selbst um sich kümmern ... Was glaubst du, wie lange die ganze Sache dauern wird?« »Keine Ahnung. Aber wir müssen uns beeilen«, sagte Fonn. »Ich brauche ein eigenes Reittier. Es hat keinen Sinn, deins doppelt zu beladen. Versuch, mich auf der Straße zu entdecken. Ich werde dir so weit entgegenlau fen, wie ich kann.«
K
»Pivlic!«, brüllte die Goblin-Frau. »Bist du da drin?« Der Bold hörte die Stimme und erkannte sie auch, aber es dauerte einen kurzen Moment, bis er ihr einen Namen zuordnen konnte. Crix. Nein, die Izzet hatte jetzt ja einen neuen Namen. Sie hatte ihn schon im Voraus über die Ley-Linien kontaktiert, um ihm die guten Neuigkeiten mitzuteilen. Das war vor ein paar Stunden gewesen, auch 183
wenn es ihm wie vor einem halben Leben vorkam. Und
vor den ganzen Schmerzen. Crix... Crixi... Crixizix. Genau, das war es. Pivlic hatte mit ihr einen Termin für ein Treffen ausgemacht, bei dem beide gemeinsam einen Blick auf ihre neuen Blaupausen für den wieder errichteten Kessel werfen wollten – nun, irgendwann heute. Und es musste inzwischen Tag sein, sagte ihm sein verschwommenes Sehvermögen. Fackel licht konnte unmöglich so hell sein. Im Moment fühlte er sich nicht sonderlich gut. Pivlic blinzelte Blut aus seinen Augen und versuchte, sich auf den Raum zu konzentrieren. Das war allerdings nicht ganz so einfach, weil der Raum nicht mehr wirklich exi stierte. »Pivlic!«, rief die Goblin-Frau wieder. Diesmal klang ih re Stimme etwas dringlicher. »Ich bin es, Crixizix!« Genau, Crixizix. Es war nicht schlecht, zu wissen, dass das alte Gehirnstübchen doch noch einigermaßen intakt zu sein schien. Die Fähigkeit, sich an alles zu erinnern, war mit für seinen Erfolg verantwortlich. »Pivlic, reden Sie mit mir!«, rief Crixizix. »Leben Sie noch?« »Ja?«, versuchte der Bold zu rufen, aber in seinen Oh ren klang die eigene Stimme nur schwach. Sie musste gegen weit entfernte Geräusche ankämpfen: misstönen des Gebrüll und schwere Schritte, die den Boden noch so sehr erschütterten, dass von der Säule direkt über seinem Kopf Staub herunterrieselte. Seine Stimme musste eben falls gegen seinen Herzschlag ankämpfen, der laut in den Ohren pochte. »Ja!«, probierte er es noch einmal, diesmal 184
etwas lauter. »Hier bin ich!« Pivlic stellte fest, dass das Atmen äußerst schmerzhaft war. Eine Sekunde später hatte er auch herausgefunden, warum. Die Säule über ihm war auf ihn gekippt, als die ganze Stadt zu wackeln angefangen hatte. Die Nephilim waren schuld daran gewesen – genau, »Nephilim« hatten die Gruul zu diesen Wesen gesagt. Aber diese Exemplare waren besonders riesig gewesen und hatten es auf die Stadt abgesehen. Oder war es der Drache gewesen? Noch so ein kroktverdammter Drache, der mit seinen Riesenflügeln so einen Wind verursacht hatte, dass die Säule umkippte? Pivlic hatte versucht, die wichtigsten Doku mente der Baronin zusammenzusuchen, um sie mit sei nem Privatzeppelid in Sicherheit zu bringen, als auf ein mal Teile des Gebäudes eingestürzt waren. Der Sockel der Säule drückte seine Beine gegen den Fußboden und presste seinen Unterkörper auf eine Weise zusammen, die ihm eigentlich große Schmerzen verursachen musste. Aber er konnte von dem, was sich unterhalb seiner Brust befand, nichts mehr spüren. »Wir werden Sie dort herausholen«, rief Crixizix. »Aber es wird eine Weile dauern. Die Stadt ist ein einziges Cha os, und die Oger tun ihr Bestes, das am Einstürzen zu hindern, was noch steht. Die Izzet schicken auch noch Hilfe.« Die Stimme der Goblin-Frau klang heiser und krat zend, als hätte sie auf einer Beerdigung zu viel geweint. »Noch mehr Hilfe, wollte ich sagen«, fügte sie leise hinzu. »Wir bezahlen doch Kavudoz dafür, dass er sich um die Baustellen kümmert, nicht freiberufliche Oger ...«, warf 185
Pivlic ein. Sein Geschäftssinn war immer präsent. »Kavudoz ist tot. Können Sie es noch ein kleines biss chen aushalten?« »Ich glaube schon«, rief Pivlic zurück, aber er war sich nicht wirklich sicher, ob er das glaubte. Er hatte diese Art von Verletzung schon einmal miterlebt. Einst war ein Lokoped, der sich mit der Kuga-Seuche infiziert hatte, in Panik ausgebrochen und hatte sich mitten auf einer äu ßerst verkehrsreichen Straße aufgebäumt. Dabei hatte er sieben Zuschauer unter sich begraben und zerquetscht, und einen davon auf eine ähnliche Art und Weise wie jetzt Pivlic. Der Mann hatte den Eindruck erweckt, es gehe ihm gut – er war bei Bewusstsein und hatte sogar noch gewitzelt. Aber als der Lokoped entfernt und der Mann unter ihm herausgezogen wurde, war sein zerstör ter Körper auseinander gefallen. Der Mann war sofort gestorben, Heiltränen oder andere erste Hilfe hätten auch nichts mehr genutzt. Der Bold vermutete, dass auch er normalerweise gar nicht mehr leben würde. Er wollte der Goblin-Frau noch etwas zurufen, aber seine Kehle war so trocken gewor den, dass er nicht viel mehr als nur ein Krächzen heraus bekam. »Beeilt euch«, keuchte er.
K
Myczil Zunich hatte schon immer möglichst schnell groß
werden wollen. Wie andere Kinder auch hatte er schon
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hundert verschiedene Pläne geschmiedet, was er alles machen wollte, wenn er erst einmal erwachsen war. Aber anders als die meisten Kinder hatte Myczil einiges an Ernsthaftigkeit hinter seine Pläne gelegt. Er hatte viel gelesen und hart trainiert, und das schon ab einem sehr jungen Alter. Er wusste viel mehr über den Schwert kampf, als seine Mutter ahnte. Sein Vater hatte ihm Übungsstunden mit der Klinge gegeben, seit Myc in der Lage gewesen war, ein Schwert zu halten. Wenn er ehr lich war, dann hatte er die Prüfungen zur Zulassung als Pfadfinder als nicht besonders anstrengend empfunden. Um nicht aufschneiderisch zu wirken, hatte er seiner Mutter allerdings nichts davon erzählt. Sie hatten ihn gegen andere Schüler kämpfen lassen, die längst nicht so erfahren mit dem Schwert waren wie er. Myc hatte sie alle besiegt. Er wusste, dass einige ihn deswegen nicht so gern mochten, besonders da er doch viel jünger als die meisten war. Myc nahm es ihnen nicht übel, er hatte Verständnis da für. Auch dass er gelegentlich damit aufgezogen wurde, störte ihn nicht im Geringsten. Seine Prioritäten lagen woanders. Er würde ein Ledev-Wächter werden, sobald er das gesetzliche Mindestalter von sechzehn Jahren erreicht hatte. Wenn bis dahin nichts Schlimmeres als sein Stolz verletzt wurde, konnte er von Glück reden. Er wusste auch, dass die meisten es auch gar nicht so meinten. Er hatte jedem von ihnen schon in verschieden ster Hinsicht im Training geholfen. Aber unter Gruppenzwang veränderten sich Kinder immer unweigerlich – 187
Myc betrachtete natürlich niemals sich selbst auch als Kind. Diese Gedanken verschwanden langsam, als Myc auf wachte und bemerkte, dass sein Körper schmerzte. Die Angst drohte zurückzukehren. Seine Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden. Er befand sich in ei nem Käfig. Aber ein Ledev hatte keine Angst. Ein Ledev, der gefan gen genommen wurde, suchte immer als Erstes nach einer Möglichkeit zur Flucht, um dann seine Kameraden zu befreien. Der Riegel am Schloss war so primitiv, dass er nur mit brutaler Gewalt geöffnet werden konnte. Was natürlich mit gefesselten Händen ein Ding der Unmöglichkeit war. Myc zuckte zusammen, weil ihm wieder ein Schmerz durch die Arme schoss. Die Fesseln saßen so stramm, dass er eigentlich nur so ruhig wie möglich auf der Seite liegen konnte, damit seine Schultern und Knie nicht zu sehr wehtaten. Jeder Versuch, sich zu bewegen, endete unweigerlich mit Schmerzen. Myc zweifelte nicht, dass das mit Absicht so war. Auch wenn er noch nicht viel mehr als elf Jahre auf dem Buckel hatte – der junge Elf hatte Bücher über Sagen verschlungen, seitdem er drei war, später auch viele rich tige Geschichtsbücher. Sein Vater hatte ihn eines Tages dabei erwischt, wie er die Präambel eines Vertrags herun tergerasselt hatte, den Jarad auf dem Tisch hatte liegen lassen. Er habe zwar die längeren Wörter ausgelassen, wurde Myc später erzählt, aber er habe sehr klar und 188
betont gesprochen. Er selbst konnte sich nicht mehr ge nau daran erinnern. Er konnte sich aber auch nicht mehr an eine Zeit erinnern, in der er nicht lesen konnte. In seinem kurzen bisherigen Leben hatte er jede Gelegenheit genutzt, um sich in die Geschichte der großen Gilden zu vertiefen, über berühmte Helden und berüchtigte Gauner in der Geschichte Ravnicas zu lesen. Natürlich hatten die Golgari und das Selesnija-Konklave dabei eine besondere Faszination auf ihn ausgeübt, gerade weil er nicht genau wusste, welcher der beiden Gilden er sich zugehörig füh len sollte. Sein Vater war Gildenmeister der Golgari, seine Mutter eine Heldin und Ledev-Wächterin des SelesnijaKonklaves. Leider mochten sie sich gegenseitig nicht mehr so gern. Darüber wollte Myc am liebsten nicht nachdenken. Wenn er es tat, kam er immer zu dem Schluss, dass es irgendwie sein Fehler war. Die Golgari, als Gilde der Monster, jagten ihm keine Angst ein. Die Gilde seines Vaters faszinierte Myc. Und er konnte gar nicht damit aufhören, die Sagen über die Gil den zu lesen. Über die edlen Boros und ihre feurigen Engel. Über die zwielichtigen Orzhov, die Gilde der An wälte, Geister und Zidos. Über die hochintelligenten Rechtsweisen im Azorius-Senat, über die brillanten Ärzte des Simic-Kombinats, die methodischen und machthung rigen Izzet und die wilden und unzivilisierten Gruul. Und nicht zu vergessen – seine Mutter hatte ihm einmal des wegen sogar einen Klaps gegeben – über die Unsichtba ren, das Haus Dimir, die zehnte Gilde, die Gilde, die nicht 189
existierte. Es war nicht einfach gewesen, an diese Ge schichten heranzukommen, aber Myc kannte die Biblio theken von Ravnica inzwischen gut. Und da gab es natür lich auch noch die Anhänger des Rakdos-Kultes. Niemand schien zu wollen, dass er etwas über die Gilde der Todes anhänger wusste. Er fragte sich nach dem Grund dafür. Ein Wächter der Straße musste damit rechnen, in alles Mögliche hineinzugeraten – und wie auf viele Jungs in seinem Alter übte der gefährliche Kult von Rakdos auch auf ihn eine Faszination aus. Nicht, dass er unbedingt wie sie sein wollte. Nein, Myc malte sich aus, wie er in den Rakdos-Aufständen gegen hässliche Sklaventreiber kämpf te und mit seinem tüchtigen Schwert und seinem tapfe ren Wolf zusammen die Gerechten und Unschuldigen befreite. Nun, da er Rakdos zum ersten Mal aus der Nähe sah und roch und jeder Schritt des Indriks seine Glieder durcheinander rüttelte, fühlte er sich gerade nicht beson ders wagemutig. Und er hatte auch keine besondere Lust, den Unschuldigen zu helfen, außer natürlich sich selbst. Und den anderen Pfadfindern, wenn sie in der gleichen Situation waren. Der junge Elf konzentrierte sich auf die Ungerechtig keit seiner derzeitigen Lage, damit die Angst ihn nicht überwältigen konnte. Zorn konnte umgelenkt werden und ihm dabei helfen, klar zu denken. Er blinzelte, damit die verschwommene Welt um ihn herum etwas klarer wurde. Genau diesen Augenblick wählte ein neben dem Indrik einhergehender Kultist, um zähnefletschend den 190
Käfig anzuspringen und laut wie ein Mooshund zu la chen. Myc kreischte auf und wollte wegrutschen, was der Gitterboden des Käfigs aber nicht zuließ. Das Gesicht des Kultisten war schrecklich vernarbt, besonders im Mund bereich. Es sah aus, als ob der Mann seine Lippen und Wangen weggeschnitten hätte, sodass man seine Kiefer mit den gelben Zähnen sehen konnte. Der Thrill-Killer hatte auch keine Augenlider mehr, sodass seine roten Augen frei in ihren Höhlen herumrollen konnten. Er schnappte mit den Zähnen nach dem jungen Pfadfinder und kicherte dabei vor Freude. Selbstverstümmelung war genau wie Selbstausschlachtung Tradition bei den Rak dos. »Runter mit dir, Z’reddok«, zischte ein Priester. Wel cher der Priester es war, konnte Myc nicht sagen. Seine Versuche, sich von der Tür des Käfigs wegzuwälzen, hatte nur das Ergebnis gebracht, dass sein Gesicht jetzt der grauen, faltigen Haut des Indriks zugewandt war. Die Bestie roch säuerlich nach Schweiß und war von Mük kenschwärmen umgeben, die immer mal wieder auch das Ledev-Pfadfinderblut probierten, wenn sich eine Möglichkeit ergab. »Die sind nicht für dich, die hier. Eins von denen ist für Izolda.« Z’reddok, der Gackernde, brabbelte etwas in einer keh ligen Sprache, die Myc nicht verstehen konnte. Er hatte ein Ohr für Sprachen und konnte sowohl das alte Devkari und den Silhana-Dialekt des Elfischen fließend sprechen. Die meisten anderen Sprachen konnte er zumindest grob einordnen, aber diese hier war ihm fremd. Myc war froh 191
darüber. Es klang nicht danach, dass Z’reddok etwas ge sagt hatte, was er gern hören wollte. Seine Fluchtmöglichkeiten waren, zumindest jetzt, nicht besonders gut. Aber er konnte immer noch versu chen, mit seinen Kameraden Kontakt aufzunehmen – gesetzt den Fall, dass sie ebenfalls hier waren. Die Aussa ge des Priesters »eins von denen« war für Myc Anzeichen genug, dass er nicht der einzige Gefangene auf dem In drik war. Halb hatte er gehofft, dass nur er hier war. Die anderen könnten dem Plan vielleicht nicht ganz gewach sen sein, der sich in seinem Kopf bildete. Andererseits – sie hatten die gleichen Prüfungen bestanden wie er und danach die gleiche Ausbildung genossen. Vielleicht konn ten auch sie ihre Furcht überwinden. Eines wusste er: Seine Mutter war nicht hier. Er konnte ihren Ton im Gesang hören, aber sie musste sich viele Meilen hinter ihnen befinden. Die anderen waren nicht blutsverwandt, daher konnte er nicht sagen, ob sie sich in der Nähe befanden. Er muss te das Risiko eingehen, nach ihnen zu rufen. Vielleicht konnten sie auch zusammen etwas austüfteln, wenn sie die Möglichkeit hatten, sich auszutauschen. Wenn er den Priester richtig verstanden hatte, würde man sie eine Weile in Ruhe lassen, weil mindestens einer von ihnen für jemand oder etwas anderes bestimmt war. Hatte er wirklich »Izolda« gesagt? Myc kannte den Namen aus den Zeitungen. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was so eine Kreatur mit ihm oder einem der anderen Pfadfinder anstellen würde. 192
»Ledev-Pfadfinder«, rief er leise im Silhana-Dialekt. Alle Pfadfinder mussten diese Elfensprache zu einem gewis sen Grad beherrschen, und nur wenige außerhalb des Selesnija-Konklaves waren des Dialekts mächtig. Dadurch eignete er sich perfekt als Geheimsprache, solange Myc keine komplizierten Wörter benutzte. Er hatte die Spra che natürlich von seiner Mutter gelernt. »Seid ihr hier?« Die Rakdos reagierten nicht auf seinen leisen Ausruf, jedenfalls konnte Myc keine Reaktion erkennen. Aber er bekam auch keine Antwort auf Silhana zurück. Er ver suchte es noch einmal, und wieder gab es keine Reaktion. Er glaubte, ein paar Rakdos zischen und etwas wie »stin kende Elfensprache« fluchen zu hören, bevor ein anderer Priester wieder für Ruhe sorgte. Endlich vernahm Myc eine leise Stimme, die ihm ant wortete. Einer der anderen Pfadfinder, nein, die Stimme war weiblich. »Ich glaube, wir sind alle hier«, sagte die Stimme. Ihr Silhana-Dialekt hatte einen deutlichen RaviAkzent, der Myc aus irgendeinem Grund gut gefiel. »Lily?«, rief Myc leise zurück. »Wo bist du?« »In einem Käfig«, sagte die ältere Pfadfinderin. »Und du?« »Ebenfalls«, antwortete Myc. »Unter dir, vermute ich.« »Myc?« Das klang nach Aklechin. »Lily? Ich bin zusam mengeschnürt.« »Ich auch«, sagte Lily. »Ruhe!«, zischte einer der Priester und ließ seinen krummen Holzstab gegen das Gitter von Mycs Käfig sau sen. »Kein Elfengebrabbel mehr!« 193
Myc wartete ein paar Minuten, bis der Priester und die anderen Kult-Anhänger sich wieder etwas weiter vom Indrik entfernt hatten. Als er meinte, wieder etwas mehr Redefreiheit zu haben, nahm er die Unterhaltung wieder auf, diesmal aber im Flüsterton. »Lily? Hast du etwas von Orval gehört?« »Nein, aber da ist etwas oder jemand im Käfig rechts von mir. Man kann das daran sehen, wie der Käfig wak kelt. Und ich glaube, ich kann einen Huf erkennen«, flü sterte Lily zurück. »Sie hätten ihn doch nicht in einen Käfig gesteckt, wenn ... wenn er tot wäre, oder?« »Ich hoffe doch nicht«, sagte Myc ganz leise. »Und nie mand hat gesehen, was mit meiner Mutter passiert ist?« »Sie war auf einmal im Rauch verschwunden«, weinte Aklechin. »Sie muss ...« »Nein«, knurrte Myc zurück. »Sie ist nicht tot. Aber wir entfernen uns von ihr weg, so viel kann ich sagen. Glaub es mir.« »Ich glaube es dir«, sagte Lily. »Ich habe doch gesagt: Kein Elfengebrabbel!«, blaffte der Priester. »Wir kriegen langsam Hunger. Vielleicht sollten wir ja denjenigen essen, der am meisten redet. Z’reddok ist ziemlich hungrig, oder, Z’reddok?« Myc presste die Zähne aufeinander. Er wollte nicht der Grund dafür sein, dass einem der anderen Leid zugefügt wurde. Stattdessen bemühte er sich, wieder erkennbare Bauwerke durch die Gitterstäbe des Käfigs hindurch zu erkennen, hatte dabei aber kein Glück. Die Sonne stand bereits hinter den Türmen, sodass aus Mycs Blickwinkel 194
alle Orientierungsmerkmale bereits in tiefem Schatten lagen. Er vermutete, dass sie sich immer noch auf der Hauptstraße befanden, aber er konnte es nicht mit Ge nauigkeit sagen. Ohne einen anderen Bezugspunkt wie zum Beispiel die Tageszeit konnte der Stand der Sonne ihm auch nicht viel verraten, noch nicht einmal die Rich tung, in die sie sich bewegten. Z’reddok dagegen bestätigte, dass er tatsächlich hung rig sei, und fing an, einige seiner Lieblingsspeisen aufzu zählen. Er sprach zu niemand Bestimmtes, aber mit übel keiterregendem Eifer.
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Kapitel 8
H
Sage nicht, ich hätte die Stimme eines Engels,
Sage nicht, dass du mir alles glaubst.
Sage nicht, ich hätte die Stimme eines Engels,
Denn ein Engel würde dich niemals anlügen.
Engelsgesicht, von Shonya Bayle, der Bänkelsängerin der Zinnstraße
31. Cizarm 10012 Z. C. Einen Engel – das wäre schön. Und wenn nicht, dann vielleicht einen Geist. Einen einfachen, stinknormalen Geist. Wenslauv hätte sich wirklich gefreut, auch nur einen Geist zu sehen. Das wäre zumindest ein wenig ver traut gewesen im Gegensatz zu den Überresten des Mas sakers, an denen sie auf dem Weg zum Kommandodeck des Parhelions vorbeimusste. Sie hatte den Tod schon in vielen verschiedenen Ausprägungen gesehen, aber der Tod war auch immer mit Geistern verbunden. Wenn so viele Leute starben, dann gab es immer ein paar Geister, die noch in der Gegend herumhingen. Und hier waren viele Engel gestorben. Manche solcher Geister waren rachsüchtig, manche einfach nur verloren, aber sie alle 196
waren meist für einen Hinweis oder zwei gut. Aber hier gab es keine Geister. Nur tote Engel. Wenslauv hatte schon als Kind gelernt, dass Engel un sterblich und unzerstörbar waren. Ravnica würde immer sicher sein und die Bewohner immer im Frieden, da die Engel von Boros in einer goldenen Festung namens Parhelion durch den Himmel segelten. Niemand konnte einen Engel töten, und Engel wurden nie alt oder krank. Engel bestanden aus Magie, Gerechtigkeit und Rache, alles in einem Körper vereinigt, und sie waren immer die Helden in den billigen Groschenheftchen, mit denen Wenslauv aufgewachsen war. Als sehr junges Mädchen glaubte sie eine Weile daran, dass einem ein Flügelpaar wachsen und man zu einem Engel werden konnte, wenn das Herz rein genug war. Ihre Schwester hatte ihr das so erklärt. Und als sie eines Tages feststellte, dass Jirni sich die ganze Geschichte nur ausgedacht hatte, führte das zu einer Prügelei, bei der Shokol eine aufgeplatzte Lippe und Jirni ein blaues Auge davontrug. Wenslauv würde das nie im Leben zugeben, aber sie hatte sich den Luftjeks ange schlossen, weil diese ganz einfach mit den Engeln flogen. Aber im Moment flog sie nicht, und die Engel taten das ebenfalls nicht. Jedenfalls nicht in der näheren Zukunft. Am Anfang hatte sie die Leichen in unregelmäßigem Abstand gefunden. Sie war bereits ein ganzes Stück den Gang entlanggekommen, als sie den zweiten Engel ge funden hatte. Wie schon der erste Engel auf der Lande plattform war auch er verdreht und gebrochen worden. 197
Ein zerbrochenes Schwert, gebrochene Knochen, Anzei chen von Verwesung. Dem Anschein nach ungefähr eine Woche alt. Ein paar tote Engel später schaute sie nicht mehr ganz so genau hin. Sie entdeckte die Schlange, als sie zu einer T-Kreuzung zurückkehrte, nachdem ihr zuerst eingeschlagener Weg an einem eingestürzten Bugschott geendet hatte. Ein schuppiger Schwanz verschwand unter einer der Leichen. Dieser Körper lag mit dem Bauch nach oben da und be saß noch alle Gliedmaßen, nur ein großer Teil des Halses war verschwunden. Der leblose Kopf war so schrecklich verdreht worden, dass das Gesicht zum Boden zeigte. Nach ein paar Sekunden war die Schlange immer noch nicht auf der anderen Seite der Leiche herausgekommen. Allein die Anwesenheit einer Schlange war unwahr scheinlich, andererseits waren Magier und Druiden dafür bekannt, sie als Diener zu verwenden. Vielleicht beobach tete sie jeden Schritt, den Wenslauv machte, oder sie wusste nicht, wohin. Wie auch immer, Wenslauv konnte die Schlange nicht einfach hier herumgleiten lassen. Die se Sorte war giftig, und sie hatte hier Dinge zu erledigen. Die Luftmarschallin betete kurz, dass die Engel ihr verge ben mochten, und wälzte dann die Leiche mit ihrem Stie fel auf die andere Seite. Wie erwartet, kippte sie über und schnitt ihr eine augenlose Grimasse. Der Boden unter dem Engel war leer. Wenslauv drück te die Leiche noch ein Stück weiter, ohne dabei in die leeren Augenhöhlen des Engelsgesichts zu blicken, fand aber immer noch nichts. Die Schlange musste durch eine 198
der geborstenen Schweißnähte der Wand geschlüpft sein. Davon gab es in dieser schwebenden Katastrophe genug. Aber das erklärte trotzdem nicht, was das Tier hier zu suchen hatte. Egal – sie vertrödelte hier gerade nur ihre Zeit. Sie musste eine Bruchlandung verhindern. Wenslauv bedeckte mit einer Hand die Nase, um sich etwas vor dem Gestank zu schützen. Sie eilte den Gang hinunter und folgte den Markierungen, soweit diese vor handen waren. Alle Gänge im Schiff waren außerordent lich hoch und breit, was bei einer Besatzung aus fliegen den Wesen aber auch nicht zu verwunderlich war. Der Geruch des Todes hing schwer in der Luft. Die Luftmar schallin fühlte sich immer kleiner, an je mehr Leichen sie in diesem großen Gräberfeld vorbeikam. Und es wurden immer mehr, je näher sie dem Kommandodeck kam. An den Hinweisschildern konnte sie erkennen, dass sie auf dem richtigen Weg war. Wenslauv blieb noch eine Stunde Zeit, vielleicht auch zwei, wenn sie Glück hatte. Das zerstörte Schwebekissen könnte aber auch jederzeit dazu führen, dass eines seiner Nachbarn sich überhitzte und damit eine massive Explo sion auslöste. Und was die Engel getötet hatte, konnte hinter jeder Ecke auch auf sie lauern, um ihr jeden Kör perteil einzeln auszureißen. Und anscheinend konnte sie sogar an einem Schlangenbiss sterben, wenn sie nicht vorsichtig genug war. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Gedankenverloren wäre sie beinahe daran vorbeige gangen, ohne es zu entdecken. Ein silbriges Glitzern in 199
den orangefarbenen Leuchtkugeln ließ sie stoppen. Sie warf einen kurzen Blick auf den Knüppel in ihrer Hand und betrachtete dann beeindruckt eine ganze Wand, an der ordentlich Knallstäbe, Lanzen, Schwerter, Sprengstoff und eine überraschende Auswahl an Äxten und Langmes sern aufgereiht waren. Eine Stunde hatte sie. Vielleicht zwei. Aber so lange musste sie erst einmal überleben. Und falls sie kämpfen musste, dann brauchte sie vielleicht eine bessere Bewaff nung. Wenslauv zuckte die Achseln und verschwand in der Rüstkammer.
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»Agyrem?«, platzte es aus Nodov heraus. »Das ist doch – das ist doch nur eine Sage«, beendete er seinen Satz we nig überzeugt. »Es existiert wirklich«, sagte Feder. »Ich befinde mich im Wahrheitskreis. Ich mache Euch gern Platz, wenn Ihr ihn auf seine Funktionstüchtigkeit überprüfen wollt.« »Der Angeklagte soll keine Aufforderungen stellen«, sagte der Große Schiedsmann. »Kann bestätigt werden, dass der Wahrheitskreis rich tig funktioniert?«, wollte jetzt auch der heilige Kel wissen. »Nun, falls die Geschichte stimmt, dann ... Ich weiß nicht, ›Blasphemie‹ ist wahrscheinlich ein zu starkes Wort dafür ...« »Agyrem ist nur ein anderes Wort für ... Nennen wir es den Himmel«, sagte Nodov. »Für den Ort, an den man 200
geht, wenn man gestorben ist. Aber was gerade berichtet wurde, bedeutet doch, dass das Parhelion in eine andere Existenzebene geflogen ist.« »Nein, keine eigene Ebene oder Welt«, sagte Feder. »Nicht genau. Eher eine Art ... Existenznische.« »Was meinen Sie damit?«, fragte der Große Schieds mann. Als Teysa fragend eine Augenbraue hob, fügte er schnell noch »etwas genauer für das Protokoll bitte« hin zu. Wenn der blind ist, bin ich es auch, dachte Teysa. »Wir – also die Engel – wussten schon seit langem, dass Ravnica von gewissen ... Eventualitäten abgeschirmt ist, Euer Ehren«, sagte Feder. »Abgeschirmt von anderen Orten, anderen Welten, anderen Zustandsarten. Vor lan ger Zeit, als selbst die Engel noch jung waren, gab es eini ge, die von diesen anderen Orten in unsere Welt kamen. Deren Welten waren einerseits wie unsere Welt, aber dann doch wieder nicht – sie hatten ihre eigenen Engel und Dämonen, ihre eigenen Völker und Götter. Die mei sten der Neuankömmlinge bemerkten gar nicht, dass sie nicht schon immer hier gewesen waren. Ein paar der Besucher, äußerst mächtige Wesen, verließen uns wieder, um in ihre anderen Welten zurückzukehren. Ab und zu kamen sie wieder her und erzählten von diesen anderen Orten.« »Aha, und warum wissen wir das nicht?«, warf Nodov ein. »Einspruch! Ungebührliches ...« »Sprechen Sie weiter, Legionär«, sagte der Große 201
Schiedsmann. »Ich vermute, es ist unausweichlich.« »Was ist unausweichlich?«, wollte der Loxodon wissen. »Dies alles geschah lange vor dem Gildenbund«, sagte Feder. »Nach einer Weile bemerkten wir, dass die Besu cher nicht mehr so häufig kamen, und irgendwann hör ten die Besuche ganz auf. Und nur noch wenige erinner ten sich daran, dass es das überhaupt gegeben hatte. Der erste Azor wusste davon und gab das Wissen an seine Nachfolger weiter – oder, Euer Ehren?« »Der Angeklagte wird es unterlassen, weitere Fragen zu stellen«, sagte Augustin IV. »Aber um die Angelegenheit nicht unnötig zu verschleppen ... Ja, das tat er.« »Ich frage mich, was für andere Geheimnisse noch vor uns verheimlicht werden«, sagte der Loxodon, dessen Rüssel sich verdächtig krümmte. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Eure Heiligkeit«, sagte der Große Schiedsmann. »Als keine Besucher mehr nach Ravnica kamen, ent schlossen sich ein paar Engel, sie zu suchen.« »Waren Sie unter diesen Engeln?«, wollte der selesnija nische Richter wissen. »Ich war dabei«, sagte der Engel. »Wir hatten damals nicht begriffen, wie sie es schafften, in andere Welten zu reisen, und haben es bis heute nicht. Aber wir bauten trotzdem das Parhelion aus allem, was die Besucher an Artefakten und Magie zurückgelassen hatten. Wir sind mit der Himmelsfestung bis zum Ende des Himmels ge flogen und haben versucht, den Fremden in ihre anderen Welten zu folgen.« 202
»Das ist bemerkenswert«, sagte der Wojek-General kommandeur etwas gütlicher. »Und was ist dabei heraus gekommen?« »Wir haben entdeckt, dass dort ein großes Nichts ist«, sagte Feder. »In einer bestimmten Entfernung von Ravni ca endet die Existenz einfach. Das Universum, wie wir es kennen, hört einfach auf.« »Aber das ist doch nichts Neues. Das ist eine geläufige These der Naturphilosophie«, sagte der heilige Kel. »Was hat das mit der so genannten Geisterstadt zu tun?« »Sehr viel, Eure Heiligkeit«, sagte Feder. »Aber das geschah doch alles schon lange vor dem Gil denbund, oder?«, warf Nodov ein. Der Engel nickte. »Ja«, sagte er. »Die Vorgeschichte ist aber notwendig, um zu erklären, welche Theorie Razia über Agyrem hatte. Razia glaubte, dass der Himmel – und damit das ganze Dasein – irgendwo aufhört, da diese Welt isoliert ist. Abgekapselt. Weder Energie noch Materie verlässt jemals das System – und es kommt auch keine neue dazu. Ravnica ist ein in sich selbst geschlossenes System. Ohne dieses Phänomen wäre die Magie des Gil denpakts nicht in der Lage gewesen, einen so großen Zeitraum relativen Friedens zu gewähren. Aber das Siegel ist nicht perfekt. Es überschneidet sich und wirft Falten, wie eine Blase auf der Haut. Und Agyrem ist, um den Vergleich weiter zu bemühen, diese Blase. Seelen können Ravnica nicht verlassen. Es gibt kein Jenseits, das sie er reichen können. Daher lungern die Geister noch so lange herum, und wenn sie das Reich der Lebenden verlassen, 203
werden sie in der Falte von Agyrem wie ein Fisch in ei nem Netz gefangen.« Der Engel drehte sich leicht, sodass er jetzt den Großen Schiedsmann direkt anblickte. »Wie Ihr wisst, Euer Ehren, fand Razia das erst heraus, als das Parhelion buchstäblich in Agyrem gestrandet war.« Es fiel Teysa schwer, ein Grinsen zu unterdrücken. Die beiden anderen Richter trauten Augustin nicht mehr und hatten ganz andere Gedanken als die mögliche Bestrafung ihres Klienten. Sie waren von den Auswirkungen dessen, was Feder beschrieben hatte, zu sehr beeindruckt. Sie wusste, dass sie den Zorn des Großen Schiedsman nes riskierte, indem der Engel ein Geheimnis aufdeckte, das die Boros-Engel und die Azorius-Richter anscheinend viele tausend Jahre gemeinsam geteilt hatten. Aber es war den Versuch wert. Es gab tatsächlich einen Ort, an dem man landete, wenn man tot war. Wenn man ausschloss, dass Ektoma gie, Nekromagie, ein Boros-Arrestierer oder der »Gesang« der Selesnijaner einen an die körperliche Welt von Rav nica band, würde man früher oder später in Agyrem auf tauchen. Und diese simple Tatsache hatte das Potenzial dafür, viele Glaubensstrukturen auf der ganzen Welt ei nerseits zu bestätigen, andererseits aber auch zu widerle gen. »Schreiben Sie ins Protokoll, dass ich, Augustin IV., ver lässliche Theorien bestätige, die die Existenz eines Ortes wie des beschriebenen betreffen«, sagte der Große Schiedsmann. »Aber ich muss eingestehen, dass meine eigene Neugier mich überwältigt, Legionär. Wie haben Sie 204
es geschafft, um mit Ihren Worten zu sprechen, dort zu stranden?« »Nun gut«, sagte Feder. »Sind alle Anwesenden mit dem Phänomen vertraut, das sich über der Sanierungszone Utvara befindet und allgemein unter der Bezeichnung ›Schisma‹ geführt wird?« »Ich bin es«, murmelte Teysa. Die anderen hatten ebenfalls schon davon gehört. »Es scheint, dass das Schisma das Gewebe von Agyrem verdreht hat«, erklärte Feder. »Es hat sozusagen einen Knoten hineingemacht.« »Und wie das?«, fragte der heilige Kel. »Ich habe von dem Phänomen gehört, aber ich habe immer vermutet, dass es nur ein Lichteffekt ist, ein Überbleibsel irgendei ner Izzet-Magie.« »Es ist deutlich mehr«, sagte der Große Schiedsmann. »Es war ein widernatürliches Experiment, hinter dem Orzhov-Magie und Orzhov-Zidos steckten, wenn ich mich nicht irre. Ist dem nicht so, Frau Anwalt?« Teysa zog unfreiwillig eine Grimasse. Der Große Schiedsmann verfügte über sehr gute Informationsquel len, was ja auch nicht weiter verwunderlich war. »Leider weiß ich wirklich nicht, wovon Ihr sprecht, Euer Ehren«, sagte sie. Advokaten konnten nicht in den Wahrheitskreis gebeten werden. »Außerdem muss ich die Relevanz dieser Einschätzung ...« »Entspannen Sie sich, Frau Anwältin. Die Orzhov erfül len ihren Teil des Gildenbunds, wie wir alle«, sagte Augu stin. »Sie sind hier nicht auf der Anklagebank.« 205
Nach einigen Momenten des Schweigens nickte Teysa. »Fahren Sie fort, Legionär.« »Agyrem wurde an das Schisma ... das beste Wort dafür ist vielleicht ›angehakt‹.« »Wollen Sie damit sagen, dass Agyrem im Himmel he rumfliegt?« Nodov wollte das nicht glauben. »Einfach eine große, unsichtbare Geisterstadt, die wie ein Blatt im Wind durch die Luft treibt und unsere großen Religionen damit verspottet?« »Ich sage nicht, dass die Stadt der Geister irgendje mands große Religion verspottet, welche Religionen sich dafür auch eignen mögen«, sagte Feder beruhigend. »Ich bin ein eingeschworener Verteidiger von Recht, Gesetz und Rache. Das sind keine Götter, es sind Ideale. Ich be haupte auch nicht, zu verstehen, wie das Gewebe des Daseins in Beziehung zu unserer Welt funktioniert. Ich weiß nur, was mein Gildenmeister mir erzählt hat, und ich glaube daran, dass dies die Wahrheit ist.« »Dem wird so sein, sonst wären Sie nicht in der Lage, diese Aussage zu treffen«, sagte der Große Schiedsmann. »Legionär, wie fand das Parhelion einen Weg in diese ›Falte des Daseins‹? Ich muss gestehen, dass ich mir das noch nicht ganz vorstellen kann.« »Euer Ehren, das Parhelion war so konstruiert worden, dass es die Grenzen unserer Wirklichkeit finden sollte«, sagte Feder. »Das Mana, das die fliegende Festung an treibt, verdreht die Wirklichkeit minimal, soweit ich weiß. Das Luftschiff bleibt nicht nur wegen der Schwebekissen in der Luft, jedenfalls nicht ganz, sondern weil ein klein 206
ster Teil von ihm an einem leicht unterschiedlichen Ort ist und dort auch bleibt. Vergebt mir die Unbeholfenheit dieser Erklärung, aber ich bin kein Ingenieur. Dieser klei ne Bauteil des Parhelions, der Wirklichkeitsmotor, erlaub te dem Schiff, nach Agyrem zu fliegen, nachdem die Gei sterstadt am Haken des Schismas hing. Das Parhelion durchbrach den Schleier und erreichte die andere Seite. Razia war nicht sofort klar, wie wir zurückkommen konnten. Nach einer kurzen Zeit entschied sie, lange ge nug zu bleiben, um die Gegend zu erforschen.« »Eine edle Einstellung«, sagte der Große Schiedsmann. »Die ewige Suche nach Wissen. Nicht sehr engelsgleich. Wie auch das Vernachlässigen ihrer Verantwortung, Rav nica zu beschützen.« »Das kann man schwerlich bestreiten«, sagte Feder. »Allerdings muss man dazu sagen, dass Razia alles andere als ein typischer Engel war. Er bewertete die Gelegenheit, eine mögliche Bedrohung genauer zu untersuchen, höher als die Tatsache, dass die Welt dadurch eine Weile ohne Engel auskommen musste. Ich will es auch im Nachhi nein nicht beschönigen, ich glaube selbst, dass er die falsche Entscheidung gefällt hat.« Zum ersten Mal, seit dem er in den Zeugenstand getreten war, ließen sich Emotionen in der Stimme des Engels erkennen – Gefühle von tiefer Trauer. »Das Parhelion war erst eine kurze Zeit in Agyrem gewesen, als ich ihn dort fand. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht mehr an allzu viele Einzel heiten meiner Suche erinnern kann, außer dass es nicht einfach gewesen war.« 207
»Und dennoch haben Sie diesen Schleier, von dem Sie gesprochen haben, allein durchquert?«, fragte Augustin IV. Teysa war sich nicht ganz sicher, ob sie den faszinier ten Blick in seinem eigentlich blinden Gesicht mochte. »Ja, aber es war mir nur mithilfe der Engel auf der an deren Seite möglich«, sagte Feder. »Sie lenkten mich.« »Was ist es für ein Ort – wie sieht es dort aus?«, fragte Nodov. »Wie muss ich mir das große Jenseits vorstellen?« »Es ist alles«, sagte Feder. »Agyrem ist ein jeder Ort, den es je gegeben hat, alle gleichzeitig. Leider hatte ich nur wenig Zeit, das alles genauer zu erforschen.« »Warum?«, fragte der Große Schiedsmann. »Weil die Geister von Agyrem sich im Krieg mit den Engeln befanden.«
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Wenslauv entschied sich, alles mitzunehmen, was sie tragen konnte. Wenn es zu einem Kampf kam, würde sie Widerstand leisten. Aus der Lage einiger Leichen hatte sie gefolgert, dass die Engel versucht hatten, an die Waffen zu kommen, es aber nicht geschafft hatten. Leise schlich sie wieder aus der Rüstungskammer auf den Gang. Zwei geladene Knallstäbe hatte sie sich über den Rücken ge schlungen, einen dritten hielt sie in der rechten Hand. Zwei Kurzschwerter und ein Netz hingen an ihrem vom Gewicht nach unten gezogenen Waffengürtel – man konnte ja nie wissen, ob nicht irgendwann ein Netz ganz 208
nützlich war. Zwei Patronengurte mit kleinen, orangefar benen Kugeln, die von den Goblins als Knallbrocken be zeichnet wurden, kreuzten sich über ihrem Brustpanzer. Luftmarschallin Wenslauv legte den Sicherungshebel des Knallstabs um und hielt die Waffe schützend vor sich, während sie sich wieder auf den Weg zum Kommandodeck machte. Mit einer Hand musste sie sich wiederholt an der Wand abstützen, da sie auf dem leicht geneigten Boden immer wieder auszurutschen drohte. Derart mit Waffen und Sprengstoff beladen, wie sie im Moment war, musste sie nur ein einziges Mal stolpern und im falschen Winkel fallen, und schon würden die Bugschotts mit Luftmar schallteilchen gesprenkelt werden. Als sie wenige Minuten später das Kommandodeck betrat, war sie nicht wenig verblüfft. Das ganze Deck war komplett leer. Nirgends lag mehr eine Leiche herum, obwohl Blutspuren auf dem Boden zu sehen waren. Es waren auch keine Gegner sichtbar, aber alles lag in Trümmern. Alle anderen Ein- und Ausgänge schienen versperrt zu sein. Das große Steuerrad war aus seiner Verankerung gerissen worden und lag in vier Teilen auf dem Boden. Die verschiedenen Kontrollzentren sahen nicht besser aus: Aus zweien züngelten immer noch klei ne grüne Flammen, die sowohl magisch als auch elek trisch aussahen. Nur die riesige, nach vorn gerichtete Windschutzscheibe aus Invizomizzium war unbeschädigt und schien nicht viel abbekommen zu haben. Hinter ihr keuchte jemand. Wenslauv fuhr herum, den 209
Knallstab im Anschlag und den Daumen am Abzug. Wenslauv hatte sich geirrt. Ein Engel war immer noch hier. Und er war auch lebendig, auch wenn er nicht so aussah, als ob er das noch lange sein würde.
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Leutnant Flang war nicht der einzige Goblin-Luftjek im Bund der Wojeks, aber er war der einzige, der dem Elite geschwader der Inneren Festung zugeteilt worden war. Er hatte zudem unter seinen Luftjek-Kameraden einen wohlverdienten Ruf, Pech magisch anzuziehen. Flang hatte gehofft, dass sein Pech endlich vorbei war, als er einer Flugstaffel zugeteilt wurde, deren Station das Wo jek-Hauptquartier war. Flang war überzeugt, dass seine Pechsträhne irgend wann enden würde. Drei von fünf Wahrsagern, die er deswegen aufgesucht hatte, waren sich dessen sicher gewesen. Flang glaubte an Glück und Pech, und drei von fünf war eine gute Quote, mehr als die Hälfte. Doch der Wechsel in die neue Einheit stellte sich für Flang als erneuter Spaß von Krokt, dem Goblin-Gott des Pechs, heraus. Er wurde bald nur noch Pechvogel-Flang genannt, und er hatte den Spitznamen unglücklicherwei se selber geprägt. Wer schien immer als Letzter zur Landeplattform zu rückzukehren und war daher meist dafür verantwortlich, sie hinterher sauber zu schrubben? Flang. Wer kam im mer ein paar Minuten zu spät an den Spieltisch, um noch 210
einen Platz zu erhaschen? Flang. Wer schaffte es manchmal doch an den Spieltisch und verlor dann inner halb von fünf Minuten einen ganzen Monatslohn? Das schaffte nur Flang. Wer war mit Höchstgeschwindigkeit auf dem Weg zur Station unterwegs, um eine Nachricht höchstwichtiger Bedeutung zu übermitteln, grübelte dabei aber so sehr über Flangs Pech nach, dass er abgelenkt wurde und zu knapp unter einem Überweg durchflog, dadurch aus dem Sattel geworfen wurde und wie ein Stein durch die Luft fiel, bis er plötzlich und tödlich auf dem Dach von, wie sollte es auch anders sein, Flangs Lieblingsrestaurant aufprallte? Flang.
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Kapitel 9
H
Hör mal, ich habe keine Ahnung, wo sie hin sind. Ich habe auch keine Idee, was sie mit dem Vampir gemacht haben. Ja, ich kenne den Wolf. Ich bin mir sicher, dass er seine Aufgabe hervorragend erfüllen wird. Aber wartet mal, streicht das bitte alles und macht ein ›Kein Kommentar‹ daraus. Leutnant Agrus Kos, in: Ravnicas Gildenbund-Zeitung vom 2. Seleszni 10000 Z. C.
22. Seleszni 10002 Z. C. Feder – er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, von sich selbst als Pierakor Az Vinrenn D’rav zu denken – tauchte in die Stadt der Geister hinab. Die beißende Kälte war bis auf die Knochen zu spüren. Während seiner Zeit bei den Wojeks war er an die Oberfläche Ravnicas gebunden gewesen. Doch nach inzwischen zwei Jahren, in denen er ganz Ravnica nach Spuren des Parhelions abgesucht hat te, hatte er sich wieder an das Gefühl gewöhnt, Wind in den Flügeln zu spüren: Böen, Aufwind, Abwind, Wolken – das Schweben in der Luft konnte man nicht verlernen. Aber hier gab es weder Wind noch Luft. Feder musste 212
nicht atmen, solange er nicht sprechen wollte, und so glitt er durch freien Raum. Aber man konnte es nicht unbedingt ein Fliegen nennen. Es fühlte sich eher so an, wie wenn er sich in Richtung eines unordentlichen Nichts zwang. Vieles funktionierte hier anders. Jedenfalls sah alles anders aus. Feder lebte schon ziemlich lange und hatte viel gesehen, aber noch nie etwas Ähnliches wie Agyrem. Die Welt von Ravnica war komplett verschwunden. Feder schwebte auf niedriger Höhe über eine planlos zusammengewürfelte Ansiedlung, die höchstens verrück te Götter mit einem gewöhnungsbedürftigen Humor und noch schlechterem Geschmack ersonnen haben konnten. Etwas, das wie eine umgestülpte Rakdos-Baracke aussah, thronte auf einem knollenförmigen und deformierten Baum, wie ihn die Selesnijaner für ihre Außenposten verwendeten. Straßen hoben vom Boden ab und verliefen in unvorstellbaren Kurven durch die Luft, was allen Ge setzen von Schwerkraft und Logik widersprach. Überall waren durchsichtige Bewohner zu sehen, die durchein ander wirbelten – eine geisterhafte Bevölkerung, die vor beihuschte und die Welt dabei schimmern ließ. Aber ihn interessierte eher das Schiff, das ihn hergeru fen hatte. Das Parhelion schwebte durch die Luft, aber seine Segel hingen schlaff herab, da kein Wind sie auf bauschen konnte. Er hatte endlich die anderen Engel gefunden. Hätte er sich von dem Anblick losreißen können, hätte er be merkt, dass er nicht nur das Parhelion wiedergefunden 213
hatte. Ein Schwarm glühender weißer Umrisse stieg von der Flickwerk-Stadt auf und auf das Luftschiff zu. Sie schimmerten in seinem Blickfeld, aber er ignorierte sie. Die Engelsschar. Er hatte sie wirklich vermisst. Feder hatte ihre Rufe in jeder magischen Faser seines Körpers hören können. Ihre Abwesenheit war wie ein Schmerz, der ihn aus weiter Ferne peinigte. Die goldene Brüstung des Parhelions blitzte in einem Himmel ohne Sonne, die weißen Segel glänzten wie zur Begrüßung, alle Flugdecks waren geöffnet, und die Schwebekissen glüh ten wie Feuer. Die Gestalten traten aus Feders peripherem Sehen di rekt in sein Blickfeld. Die Engel wurden angegriffen. Die Schar der Engel erschien aus den Landedecks und stieg in die Luft, um sich dem chaotischen Gewimmel aus herumflitzenden Geistern entgegenzustellen, die in einem unendlichen Strom von ektoplasmatischer Energie aus Agyrem heranströmten. Die Engel hatten sich immer zu dritt zu Kampfeinheiten organisiert und fuhren wie Sensen durch die Geister. Spektralenergie wurde in alle Richtungen verspritzt und verpuffte für alle Zeiten in kleinen weißen Blitzen, aber die Feinde waren den Engeln zahlenmäßig mehr als nur überlegen. Feder bemerkte, dass die Angriffsmanöver der Engel improvisiert waren und innerhalb der Kleingruppen hastig koordiniert wur den. Ungefähr tausend Engel hatten im Parhelion gelebt, aber während Feder zusah, fiel einer von diesen tausend aus dem seltsam verzerrten Himmel. Ein Gewimmel aus kreischenden, ungestalten Umrissen hatte ihn erwischt. 214
Der unglückliche Engel verschwand in etwas, was wie ein See aus Öl aussah, wenn man das bei der sich immer wieder verändernden Landschaft dieser seltsamen Welt so nennen konnte. Nach all dem, was er bislang durchgemacht hatte, um herzukommen, gab es jetzt kein Zurück mehr. Feder tat das Einzige, was er tun konnte – er zog sein Schwert und stürzte sich ins Getümmel. Eine Horde klagender Geister stieg auf, um ihn abzu fangen. Die Geister riefen nach ihm. Sie kannten seinen vollen Engel-Namen. Feder verspürte Furcht. Nein, es war mehr als Furcht, es war große Angst. Er erkannte, warum ihm die Geister bekannt vorgekommen waren. Es waren Schweiger. Er legte die Flügel an und ging in den Sturzflug. Wenn er die Geister der Schweiger abhängen konnte, hatte er eine Gelegenheit, zu Razia durchzukommen und viel leicht sogar das Parhelion in die Welt zurückzubringen, in der es gebraucht wurde. Zumindest war das der Plan. Aber die Geister folgten ihm schneller, als er denken konnte, und erschienen direkt vor ihm wieder, bevor er überhaupt gemerkt hatte, dass sie sich bewegt hatten. Der Anführer der gespenstischen Wesen fing an zu glühen und wurde durchsichtig. Doch als die Faust des geister haften Schweigers gegen Feders Kinn krachte, fühlte sie sich außerordentlich fest an. Beinahe hätte der Engel vor Überraschung sein Schwert fallen lassen, als er nach hin ten in die luftlose Leere taumelte. Gleich darauf hatte sich Feder jedoch wieder ausreichend unter Kontrolle, um mit 215
einem wütenden Streich den übermütigen Geist in zwei Teile zu schneiden, als wäre er nur eine Rauchwolke. Der Geist des Schweigers verschwand in einem Blitz aus weißem Licht. Konnten Geister sterben? Feder war kein Philosoph, aber er vermutete, dass sie zumindest zerstört werden konnten, und vielleicht war das der wichtigste Unter schied von Agyrem zu der Welt, die er kannte. Es gab kein Herumhängen, nur einen Blitz, ein Platzen, und dann war nichts mehr da. Bevor er weiter darüber nach denken konnte, schlug ihm der nächste Hieb, der diesmal von hinten kam, den Helm vom Kopf. Dann traf eine Faust ihn im Magen. Benommen versuchte der Engel abzutauchen. Er hieb wie wild mit seinem Schwert um sich. Vielleicht schaffte er es ja, seine beharrlichen Geg ner auszumanövrieren und das Parhelion zu erreichen. Es blitzte noch ein paar Mal rund um Feder weiß auf, dann tauchte Anezka, Razias erster Leutnant, neben ihm auf. »Pierakor?«, sagte Anezka. Das Gesicht des anderen Engels zeigte eine Mischung aus Schock und Wiedersehensfreude. Das beruhigte Fe der ein wenig. Er hatte sich die ganze Zeit Sorgen ge macht, wie es aufgenommen werden würde, dass er sei nen Dienst bei den Wojeks an den Nagel gehängt, die Flügelfesseln abgestreift und sich eigenmächtig auf die Suche gemacht hatte. »Pierakor! Du hast uns gehört! Komm schnell. Wir brauchen jedes Schwert, das ...« 216
Der nächste Geist kam in selbstmörderischer Mission auf sie zu. Der Boros-Leutnant machte eine schnelle Schwertbewegung und zerschnitt das durchsichtige Ge sicht. Wieder blitzte es, wieder gab es einen geisterhaften Schweiger weniger. »Was ist hier los?«, fragte Feder. »Wie kann ich helfen?« »Razia wird es dir erklären«, sagte Anezka. »Wir müs sen schnell ins Parhelion.«
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Es war schon Jahrzehnte her, seit Feder zuletzt die Decks des Parhelions betreten hatte oder uneingeschränkt durch dessen Gänge geschwebt war. Aber er konnte seine Heimkehr nicht genießen. Zusammen mit Anezka durch brach er den Geisterschwarm, der zu seiner großen Be stürzung nicht nur aus Schweigern bestand. Das bedeute te, dass die Gefahr für das Schiff noch größer war, als er ursprünglich angenommen hatte. Zwei stoische Engel, Mitglieder der Leibgarde des Gildenmeisters, warteten schon auf sie. Sie salutierten vor Anezka und begrüßten Feder immerhin mit einem Nicken. »Sei gegrüßt, Legio när.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehten sie sich sofort um und geleiteten die Neuankömmlinge direkt zum Kommandodeck. Feder hatte den Gildenmeister nicht mehr gesehen, seit Razia das Urteil über Pierakor Az Vinrenn D’rav gefällt und ihn dazu verurteilt hatte, für die Sterblichen zu arbei ten. Das Verbrechen war keines, das auch nur einer der 217
Sterblichen hätte verstehen können, und Feder hatte es nie geschafft, es seinen Wojek-Kollegen ausreichend verständlich zu erklären, obwohl diese natürlich immer neugierig gewesen waren und sich immer neue Fragen ausgedacht hatten. Zum Glück erwarteten Sterbliche von Engeln, dass sie schweigsam waren, und nur wenige hat ten hartnäckig nachgebohrt. Und von denen war nur Kos der Lösung nahe gekommen, und er würde seine Vermu tung mit ins Grab nehmen, anstatt herumzutratschen. Feder fragte sich, ob Kos noch lebte oder ob er auch hier war. Nach Jahrzehnten unter Sterblichen war Feder seltsam zumute, als er nun vor dem heiligsten aller Wesen stand, dem Parun und Gildenmeister der Boros-Legion. War es Scham? Razia war das Vorbild aller Engel. Bo ros’ brennende Flamme. Der Gildenmeister der Gerech tigkeit. Die Verkörperung der Rache. Feder ging auf ein Knie und beugte den Kopf. »Mir wurde berichtet, dass die Sterblichen dir einen Kosenamen gegeben haben«, sagte Razia ohne große Vorrede. »Soll ich ihn statt deines richtigen Namens ver wenden?« »Wie bitte?«, sagte Feder verwundert und blickte auf. Die Frage hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Der Gildenmeister machte ihm ein Zeichen, er solle aufstehen. »Dein Name, Konstabler«, sagte Razia. »Namen haben Macht, und du hast deinen eigenen aufgegeben und durch einen von Menschen gewählten ersetzt. Ziehst du es nun vor, ›Feder‹ genannt zu werden?« 218
Feder war sich nicht sicher gewesen, wie der Gilden meister ihn begrüßen würde. Aber damit hatte er nun gar nicht gerechnet. »Ich höre auf diesen Namen«, sagte er, zu einer Antwort gezwungen. »Ich höre auch auf meinen heiligen Namen. ›Sie werden dich an deinen Taten erken nen, nicht an deinem Namen.‹« »Feder, du zitierst aus einem Buch, das ich geschrieben habe«, sagte Razia. Der Gildenmeister sprach den Namen so aus, dass er gleichzeitig lächerlich und äußerst ernied rigend klang. »Warum befindest du dich auf meinem Kommandodeck? Wir sind in einen heiligen Krieg gegen einen Feind verwickelt, der möglicherweise unmöglich zu besiegen ist. Dies ist eine Aufgabe für richtige Engel, nicht für gefallene.« »Heiligster Gildenmeister«, begann Feder. »Die Um stände zur gegebenen Zeit haben dafür gesorgt, dass ich so handelte, wie ich es tat. Wie Ihr sagtet, war ich zum Dienst beim Bund der Wojeks abkommandiert ...« »Und um ein Exempel zu statuieren, was mit Engeln geschieht, die sich den direkten Befehlen ihres Gilden meisters widersetzen«, sagte Razia. »Was haben die Sterb lichen daraus gemacht?« »Falls ich meine ehrliche Meinung dazu äußern darf ...« »Es sei dir gewährt.« »Mir wurden einige außergewöhnliche Aufträge erteilt«, sagte Feder. »Und der Gildenpakt war direkt in Gefahr.« »Verstehst du das nicht, Konstabler?«, sagte Razia und fuhr mit flammenden Augen auf ihn los. »Du hast dabei geholfen, den Gildenpakt zu brechen. Du und dieser 219
Dummkopf Agrus Kos.« »Gildenmeister«, protestierte Feder wahrscheinlich et was heftiger, als es weise war. »Agrus Kos hat das Haus Dimir aufgehalten. Der Vampir war gerade dabei, Mat’selesnija zu zerstören und hatte bereits das SelesnijaKonklave verdorben. Kos’ Lösung war einfach. Er hat ihn verhaftet.« »Genau«, sagte Razia. »Konstabler, der Gildenpakt ist – oder war – ein mächtiger Zauber, wahrscheinlich der mächtigste, den diese Welt je gesehen hat. Ohne ihn wäre die Welt, die wir beschützen, schon vor vielen tausend Jahren im Chaos untergegangen und hätte sich selbst immer wieder aufs Neue zerstört. Wirf einen Blick aus dem Fenster. Was du siehst, ist das Ergebnis einer friedli chen Vergangenheit. Kannst du dir vorstellen, was passie ren wird, wenn der Gildenbund zusammenbricht? Mit welcher Macht du Szadek ausgestattet hast?« »Das verstehe ich nicht«, sagte Feder. »Dieser Krieg!« Razia brüllte ihn geradezu an. »Kein En gel weicht je einem gerechten Kampf aus. Aber die Schlacht, die wir führen, ist das nicht, und trotzdem sind wir hier unter Belagerung. Wir zerstören Seelen, Pierakor! Diese Wesen, die leben und sterben, sie kommen dann hierher, siehst du das nicht? Und wir zerstören etwas, das nicht ersetzbar ist. Diese entsetzlichen Taten sind dein Werk!« »Wie ...«, setzte Feder gerade an, als eine unscharfe Bewegung vor der Invizomizzium-Windschutzscheibe ihn ablenkte. 220
Eine Welle Geister rollte auf sie zu. An der Spitze der riesigen Spektralarmee flog eine bekannte Gestalt, die wie eine Golgari-Fledermaus aussah. Aber sie schien eher ein Schatten als wirklich zu sein, und außerdem hatte sie ein bleiches, menschliches Gesicht mit schwarzen Augen. Die silbernen Zähne des Dimir-Gildenmeisters glitzerten in dem seltsamen, geisterhaften Licht. Razia sah das Entsetzen, das sich auf Feders Gesicht ausbreitete, und drehte sich in Richtung der anrückenden Gefahr, als Szadek und seine Geisterarmee gerade die Ummantelung des Parhelions erreichten. Der Vampir schlüpfte durch die Wände des Schiffs, als gäbe es sie nicht, und seine Soldaten folgten ihm.
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Wenn es eines gab, auf das ein Engel immer vorbereitet war, dann war es ein Kampf. Selbst während seiner Zeit als Wojek-Wachtmeister hatte Feder sich nie vor einem Kampf gescheut, obwohl sich ihm als Ordnungshüter diese Gelegenheit selten bot. Das war auch einer der Gründe gewesen, warum er es so genossen hatte, Agrus Kos zu helfen; sein alter Freund war ebenfalls nie einem Kampf ausgewichen – und er hatte ein Talent dafür, sich in den Streit von anderen einzumischen. Obwohl es bei einem Engel mehr oder minder der Normalzustand war, für einen Kampf allzeit bereit zu sein, hatte keiner erwartet, dass die Außenhülle des Parhelions so leicht zu durchdringen war. Feder würde 221
später mit großer Demut vor dem Azorius-Senat gestehen, dass es die Arroganz der Engel war, die zu ihrem Unter gang führte, da sie ihre fliegende Festung für unein nehmbar hielten. Als Erster fiel Anezka. Feder sah, wie der Leutnant sich zwischen den Gildenmeister und den spektralen Vampir aus dem Hause Dimir stellte. Feder hatte keine Zeit, sich zu fragen, wie Szadek wieder freigekommen war, und erst recht nicht, wie er einen Weg in die Stadt der Schat ten gefunden hatte. All das war auch nebensächlich: Der Dimir-Gildenmeister war hier, und seine Macht, die Gei ster der Toten zu beeinflussen, war anscheinend unge brochen. Szadek war wahrscheinlich das mächtigste We sen dieser Welt. Anezka trat dem heraneilenden Schatten mit einem heiligen Schwert entgegen. Aber bevor die Waffe den Vampir treffen konnte, schlüpften zwei kleine Geister dazwischen und umwickelten die Klinge des Schwerts mit ektoplasmatischen Ranken. Sie bewegten sich so schnell, dass sie nicht viel mehr als ungestalte Klumpen aus weißem Licht waren. Der Boros-Leutnant stockte mitten im Schlag. Seine Augen brannten vor Enttäu schung, aber die Geister wollten nicht loslassen. Es knackte laut, und die Ranken brachen Anezkas Schwert entzwei. Sofort machten die Geister Platz für ihren Herrn, und der Vampir trat einen Schritt vor. Szadek ergriff Anezka an der Kehle und warf den Engel wie eine Puppe gegen das Bugschott. Der Aufprall zerschmetterte den Schädel, 222
und Boros’ erster Leutnant sackte leblos zu Boden.
Engel alterten nicht, ähnlich wie die Nephilim. Sie wa ren gegenüber vielen Arten von Magie unverwundbar und lieferten die geschicktesten Kämpfer der Welt. Nur be stimmte Waffen und Metalle konnten ihre Haut über haupt durchdringen. Ihre Knochen konnten unmöglich gebrochen werden. So jedenfalls war es in Ravnica. Aber Feder befand sich nicht mehr in Ravnica, und es machte den Eindruck, dass in der seltsamen Nischenwelt Agyrem auch Engel auf normale Weise sterblich waren. Razia schien das auch gemerkt zu haben, ließ es sich aber nicht anmerken. Stattdessen bekam der Gildenmei ster einen Wutanfall, als er den zerschmetterten Schädel seines Leutnants sah. Razia zog heiligen Stahl, und Feder trat mit ebenfalls gezücktem Schwert an die Seite seines Gildenmeisters. Feder hatte den größten Teil des Dramas während der Zehntausendjahresfeier verpasst, und als er Szadek end lich zu Gesicht bekommen hatte, befand sich der Vampir in einem wirklich traurigen Zustand: halb aufgefressen von Lupul, seinem eigenen gestaltwandlerischen Diener, und mit Wojek-Handschellen gefesselt. Hier in Agyrem hatte sich Szadek anscheinend erholt. Die neue Inkarna tion des Gildenmeisters des Hauses Dimir war halb wirk lich, halb Schatten, bleich und schrecklich. Seine Augen brannten grell mit blauer Flamme. Szadek breitete seine Arme aus, und die klagenden Geister teilten sich auf, um sich auf die übrigen Engel zu stürzen. Der Vampir blieb 223
mit Razia und Feder auf dem Kommandodeck des Parhe lions zurück. »Sei gegrüßt, Razia. Lange nicht mehr gesehen«, sagte der Vampir mit einem Lächeln, das seine silbernen Zähne durchschimmern ließ. »Ich bin so froh, dass du hergefun den hast. Ich hatte bereits befürchtet, dass die Spur, die ich ausgelegt habe, vielleicht nicht offensichtlich genug für dich war.« »Was hast du getan, Vampir?«, brüllte Razia. »Der Gil denpakt ...« »Bei jemandem, der so alt ist wie du, ist das Gedächtnis oft ein klein wenig eingerostet«, antwortete der Vampir. Sein beiläufiger, fast schon lockerer Ton war beunruhi gend, und Feder fragte sich, ob es am Vampir lag, dass er sich so unsicher fühlte. »Ich tue doch genau das, was mir dein Gildenpakt vorschreibt.« »Schweig!«, rief Razia und schwang das Schwert direkt in die Richtung des Vampirhalses. Diesmal erschienen keine Geister, um den Schlag abzuwehren. Szadek tat es selbst – mit seiner bloßen Hand. »Nein, das funktioniert so nicht«, sagte der Vampir. Sein grausames Lächeln wurde breiter. »Ich habe es ein Mal zugelassen, verwundbar zu werden. Das hatte seine guten Gründe, aber du wirst feststellen, dass ich wieder ganz der Alte bin.« Szadek ergriff die Klinge und entriss Razia das Schwert. Das war die Gelegenheit, auf die Feder gewartet hatte. Er setzte zu seinem eigenen Schlag an, aber Szadek rea gierte mit erschreckender Geschwindigkeit. Seine Arme 224
schienen zu schimmern, und Feders Schwert traf auf Razias Schwert. Szadek flüsterte ein magisches Wort, worauf ein purpurfarbener Energiestrahl nach Razia peitschte. Er traf den heiligsten Engel in der Bauchgegend und warf ihn auf den Rücken. Gleichzeitig blockte er Feders Schlag mit dem Knauf von Razias Schwert und schob den Engel mit seinem Ellbogen weg. Der Vampir war unheimlich stark, und Feder musste sich bemühen, das Gleichgewicht zu halten, nachdem er am Kinn getrof fen worden war. Szadek warf Razias Schwert in die Luft und fing es am Griff wieder auf. Er betrachtete es mit einem Sammlerblick und streckte es in Feders Richtung. »Eine einfache Waffe?«, sagte Szadek. »Du willst mich mit einer einfachen Waffe besiegen? Das wird nicht rei chen. Ich war schon nicht mehr von Schwertern ver wundbar, bevor deine Inkarnation entstanden ist.« Feder bemerkte, dass Razia immer noch leicht benommen wirkte. Er versuchte, wieder in eine gute Kampfposition zu kommen, als Razia den nächsten Aus fall startete. Szadek reagiert wieder gelassen, warf den Engel erneut zu Boden und wandte sich wieder Feder zu. Während die klagenden Geister rund um sie herum durch das Parhelion schwebten und ihre Schreie sich mit dem Brüllen der sich wehrenden Engel mischten, fochten Sza dek und Feder ein einseitiges Duell aus. Der Vampir musste noch nicht einmal genau hinschauen, um mit einer Hand jeden Hieb und jeden Schlag abzuwehren und jede sich bietende Öffnung gleich wieder zu verschließen. 225
Gleichzeitig trieb der Vampir den Engel so vor sich her, dass Feder keine Möglichkeit hatte, zwischen den Feind und seinen gefallenen, betäubten Gildenmeister zu kom men. So würde das nie gelingen, erkannte Feder. Und des halb tat er etwas, was keinem Engel leicht fiel: Er zog sich aus dem Kampf zurück. Mit einem Satz war er bei seinem angeschlagenen Gildenmeister, warf sich Razia über die Schulter und rannte zum Ausgang. Szadeks Gelächter folgte ihm den schlecht erleuchteten Gang hinterher. Und als er einen Blick zurück riskierte, musste er sehen, dass auch Szadek selbst ihnen folgte.
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»Pierakor, setz mich ab«, sagte Razia mit schmerzverzerr ter Stimme. »Wir werden nicht gewinnen, jedenfalls nicht heute. Es ist mein Schicksal, an der Seite der Engelsschar zu sterben.« Feder duckte sich, um einer kreischenden, geisterhaf ten Gestalt auszuweichen, und sprang dann über die Lei che eines weiteren geschlagenen Engels. Die Engelsschar wurde regelgerecht abgeschlachtet. »Der Meinung bin ich nicht«, sagte Feder. »Wir müssen überleben, um den Kampf später fortführen zu können.« Er schleppte den geschwächten Gildenmeister tief ins Innere des Parhelions, wo der kraftvolle Wirklichkeitsmo tor tuckerte, der die fliegende Festung durch den Himmel schweben ließ. Wenn sie durch eine der Klappen fliehen 226
konnten, die vom Maschinenraum auf die Unterseite des Luftschiffs führten, konnten die Engel es gemeinsam schaffen, nach Ravnica zurückzukehren, um die Legion zu warnen, dass sie den flüchtigen Szadek aufgespürt hatten. Ein wenig Hoffnung verblieb ihnen, da war sich Feder sicher. Das Gelächter ihres Verfolgers hallte in den Gängen hinter ihnen. Erst nach einer Stunde Flucht, in der Feder ohne Pause durch die labyrinthartigen Gänge gerannt war, verebbte das Gelächter zu seiner Überraschung. »Ich glaube, wir haben es geschafft, Heiligster«, sagte Feder. Wenn sie fliehen mussten – die Fluchtluken waren jetzt direkt ne ben ihnen. Er setzte Razia vorsichtig zwischen zwei der größten Generatoren ab und schaute, ob Szadek ihnen wirklich nicht mehr folgte. Niemand war zu sehen. Die Engel, die ab und zu hier unten angetroffen werden konnten, weil sie sich um die Maschinen kümmerten, hatten anschei nend in den Kampf eingegriffen. Entfernte Kampfgeräu sche zwischen Geistern und heiligen Kriegern war alles, was Feder ausmachen konnte. Dem Gildenmeister ging es nicht gut. Der Vampir hatte ihm trotz des stabilen Brustpanzers einige Rippen gebro chen. Razias beschädigte und zerbeulte Rüstung wies überall Blutspuren auf. Feder griff mit einer Hand an seine eigene Schulter. Als er sie wieder wegzog, war sie nass und rot. Er wusste nicht genau, ob es eigenes Blut war oder das von Razia, aber eigentlich war er sich si 227
cher, nicht selbst verwundet worden zu sein. »Er wird nicht aufgeben«, sagte Razia. »Als Erstes wird er mich töten. Das ist sein Plan.« »Warum jetzt? Warum auf diese Weise?«, fragte Feder. »Er hatte zehntausend Jahre Zeit, um einen Angriff durch zuführen. Warum hat er Euch – und uns alle – hierher gelockt?« »Liegt das nicht auf der Hand?«, sagte Razia. »Diese Welt ist sein Spielplatz. Die Geister folgen ihm wie Mario netten, und es gibt weder die Boros-Legion noch den Gildenbund, um ihn aufzuhalten.« »Ich kann Euch hier nicht zurücklassen, Heiligster.« »Du kannst, und du wirst es auch«, sagte Razia. »Hilf mir auf die Beine.« Feder streckte dem Gildenmeister die Hand hin. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog sich Razia hoch. Der Gil denmeister ließ Feder los und presste sich die andere Hand gegen den zerschmetterten Brustkorb. »Er hat Euer Schwert«, sagte Feder. »Nehmt meines.« »Danke«, sagte Razia. »Du musst jetzt gehen. Flieg zu rück und warn sie. Der Große Schiedsmann und die ande ren Gildenmeister müssen benachrichtigt werden. Du bist unser letzter Gesandter.« »Ich kämpfe mit Euch, Heiligster«, sagte Feder. »Die En gel von Boros ...« »Die Engel von Boros werden nicht überleben, wenn du nicht das tust, was ich dir auftrage«, keuchte Razia. »Ich erkenne, dass dich keine Schuld trifft. Es war alles Szadeks Tun. Vergib mir meinen Zorn. Ich werde gegen 228
das Haus Dimir kämpfen, und ich werde wahrscheinlich dabei umkommen. Du hast deine Befehle. Du kannst sie an die Begebenheiten anpassen, aber du musst jetzt ge hen. Und zwar sofort.« Das laute Geräusch von Metall, das gegen Stein prallte, hallte durch das Maschinendeck. Dann hörte Feder, wie eine Mizzium-Tür scheppernd auf den MizziumFußboden krachte. Die Türangeln und das Schloss hingen seltsam verdreht da und rauchten noch leicht. Feder flüchtete waffenlos, drehte sich aber mitten in der Luft, um instinktiv seinen Gildenmeister zu verteidigen. »Der hier ist ganz schön hartnäckig, Razia.« Szadek lä chelte höhnisch. »Du solltest stolz auf ihn sein. Als du damit begonnen hast, dir Nachwuchs zuzulegen, war ich mir sicher, dass sie nur schwache Abbilder des Originals sein würden. Aber der hier ist fast so störrisch wie du.« »Legionär, verschwinde endlich!«, befahl Razia und stieß sich vom Boden ab. Die beiden Engel stießen in der Luft zusammen, als Szadek mit gestrecktem Schwert aus den unfassbaren Schatten auf sie zukam. Feder, der von Razia weggedrängt worden war, purzelte zurück auf den Boden. Er entdeckte die Klappe einer Ausstiegsluke, kurz bevor sein Kopf unsanft mit dem Mizzium Bekanntschaft machte. Feder rollte sich in Seitenlage und schaute gera de rechtzeitig auf, um vor Schrecken hilflos mit ansehen zu müssen, wie Szadek den Gildenmeister mit dessen eigenem Flammenschwert durchbohrte. Boros’ Klinge ging in Flammen auf, als sie in Razias Fleisch eindrang, das Herz des Gildenmeisters aufspießte 229
und auf der anderen Seite wieder aus dem Körper austrat. Ein Strahl glühend heißen Plasmas schoss aus Razias Rücken, tröpfelte dann noch etwas und starb schließlich ab. Das Schwert, das Feder seinem Gildenmeister gege ben hatte, fiel diesem aus der kraftlosen Hand. Feder riss die Luke auf und stürzte sich vom Boden des Parhelions in den wundersamen blauen Himmel von Agyrem.
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Die nächsten zehn Jahre erschienen dem letzten Engel wie eine Ewigkeit. Er hatte sogar vermutet, dass er für die Rückkehr viel länger gebraucht hatte, vielleicht sogar ein Jahrhundert, berichtete Feder dem Tribunal. Jahrelang war er durch die albtraumhafte Landschaft Agyrems ge flogen, hatte sich mal hier, mal dort versteckt. Ab und zu hatte er ein paar riskante Gegenangriffe gewagt, war aber immer wieder in die Flucht geschlagen worden. Jahrelang war er durch die verdrehten, sich andauernd verändern den Straßen der Stadt der Geister gejagt worden, ohne Rast, ohne Pause. Zum Glück benötigte er keinen Schlaf, sonst hätte er es niemals geschafft. Es war reines Glück, dass er gerade in der Nähe der Schnittstelle war, als das Schisma einen Durchgang zwi schen Agyrem und Ravnica öffnete. Als er den weiten, gesegnet festen und normalen Boden der wirklichen Welt unter sich sah, waren ihm die Tränen gekommen, ge stand Feder den Richtern. Dann hörte er, wie Kos seinen 230
Namen rief, und eilte in die ihm ungewohnte Sanierungs zone Utvara. Er hätte sich darauf verlassen sollen, sagte Feder, dass der alte Mann einen Weg finden würde, um seinem guten Freund wieder zurück auf die Welt zu hel fen. Ein Engel hörte immer die Stimmen derjenigen, die ihn anriefen. Aber wie sich herausstellte, hatte Kos im Sterben nach Feder gerufen. Nach ein paar Tagen des Trauerns hatte Feder beschlossen, noch einmal nach Agyrem zurückzu kehren, bevor er sich den Boras stellte. Falls das Schisma ihn durchgelassen hatte, konnte es sein, dass auch andere Dinge hindurchkamen – Wesen wie Szadek. Er wollte unbedingt wissen, ob die Geister in ihrem eigenen Reich bleiben würden. Das war ein Fehler gewesen. Die spektralen Streitkräfte von Szadeks Armee hatten ihn gejagt, sobald er wieder in der Geisterwelt aufgetaucht war. Was schlimmer war, sie wurden von Schatten begleitet, die wie die besessenen Seelen der anderen Engel aussahen. Immerhin konnte Feder feststellen, dass die Geister aus irgendeinem Grund das Schisma zu fürchten schienen. Er fand keine andere Erklärung dafür, warum die Armee ihm nicht gefolgt war. Geschlagen und verletzt, war er in die Stadt zurückge kehrt und hatte sich den Behörden gestellt. Er hatte ver mutet, dass dies die einfachste Methode war, um die An führer der Gilden Ravnicas zu warnen. Er hatte viele der spezifischen Anklagepunkte so ausgeklügelt, dass das Verfahren vor Augustin IV. abgehalten werden musste, so wie Razia es gewünscht hatte. 231
Und das war die ganze Geschichte, berichtete Feder dem Tribunal, wohin die Engel verschwunden waren und warum er nun vor den Richtern stand.
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Kapitel 10
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Unsere Welt zeichnet sich dadurch aus, dass sich diametral entgegenstehende Kräfte ausgleichen. Und wenn mich je mand fragte, ob das nicht ewigen Konflikt bedeute, würde ich immer antworten, dass es dauerhaften Frieden erschaf fe. Wer sein Gegenteil verringert, verringert auch sich selbst. Großer Schiedsmann Konstantin II., Kommentare zum Gildenpakt, 3209 Z. C.
31. Cizarm 10012 Z. C. Agrus Kos kehrte auf die Welt zurück, und Erinnerungen, Emotionen und rohe Lebensenergie stürzten über ihn herein. Gerade noch war er ein geisterhafter, mental ka strierter Spektralwächter gewesen, und sein Gehirn hatte einem Golgari-Käse geglichen: Es war voller Löcher, und nur das Wissen über das Recht stand ihm vollständig zur Verfügung. Und auf einmal war alles wieder da, über 125 Jahre an Schmerz, Verlust, Freude, Verwunderung, Herze leid und körperlichen Erfahrungen. Kos’ nächster Gedankengang war typisch für einen auf Streife gehenden Wojek. Er war von den Azorius für fünf 233
zig Jahre verpflichtet worden. Aber wie er dank seinem wieder funktionierenden Hirnstübchen plötzlich feststell te, hatte er davon nur ein paar Wochen abgedient. Das Ganze hatte sich viel länger angefühlt. Und trotzdem stand er jetzt wieder da, und sein Verstand funktionierte wieder komplett. Was auch immer gerade geschehen war: Kos vermutete, dass er dafür noch bezahlen musste. Wie das vonstatten gehen sollte, war ihm völlig unklar, aber ein dickes Ende musste noch kommen. So etwas geschah nicht zum Nulltarif. Kos konnte sich jetzt wieder daran erinnern, dass sein Körper ... verbrannt worden war, auf einem Scheiterhau fen inmitten des Marktplatzes von Utvara. Der Körper, in dem er jetzt steckte, lebte und atmete, fühlte sich aber ein wenig ... seltsam an. Er holte tief Luft und füllte seine Lunge. Kos warf einen vorsichtigen Blick nach unten auf seine Hände und Füße. Seine Hände waren bleich und sein Körper steckte in weiten blauen Gewändern. Der Körper war der eines Menschen. Doch sonst kam ihm der Körper nicht besonders be kannt vor und stand in absolutem Kontrast zu der Erinne rungsflut, die sich in seinem Kopf anstaute. Er wusste, wer er gewesen war, und dies war nicht sein Körper. Die Hände waren bleich und rosa. Sein Körper hatte einen deutlichen Schmerbauch und seine Arme waren irgendwie schwabbelig. Das konnte alles nicht er sein. Kos war als alter Mann gestorben, aber er war drahtig gewesen und bis ans Ende seiner Tage gut in Form. Leute an den Köpfen aneinander zu hauen war ein gutes Fitnesstraining. 234
nesstraining. »Zum Krokt noch mal«, sagte Kos. Steckte er im Körper eines Fremden? Wie kam das? Kos hatte in seinem gan zen Leben nie auch nur den Hauch von magischem Ta lent besessen, noch hatte er welches gewollt oder Magie im Allgemeinen getraut. Er hatte die Taj der Orzhov gese hen und auch gegen sie gekämpft, aber diese Seelen hat ten Leichen übernommen, nicht lebendige Körper. Die Taj ähnelten irgendwie eher Zombies, oder auch nicht. Aber vielleicht war dies auch etwas, worauf man von allein gar nicht kommen konnte. Vielleicht hatte irgend jemand dafür gesorgt, dass er jetzt in einem fremden Körper steckte – bei seinem Glück war das sogar die wahrscheinlichste Lösung. Aber wenn er kein Zombie war und auch nicht er selbst: In wessen Kopf steckte er dann? Es ist jetzt unser Kopf, ertönte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Die Stimme klang so ähnlich wie die, mit der er gerade geflucht hatte. Und versuch mal, körperlich in Schuss zu bleiben, wenn du so viel zu tun hast wie ich. Der Besitzer der Stimme schien sich angegriffen zu fühlen. Aber bevor Kos herausbekommen konnte, was damit gemeint war, erwachte der Zorn in ihm. Plötzlich über kam ihn eine spezielle Erinnerung – die an seinen Tod. Während er am Eingangstor von Prahv auf Wache ge standen hatte, waren immer nur bruchstückhafte, ver schwommene Erinnerungen durch seine Gedanken ge wandert, und sein eingeschränktes Gehirn war nicht in der Lage gewesen, sich auf Bilder und Erinnerungen zu 235
konzentrieren. Jetzt auf einmal sah er alles klar und
scharf vor sich. »Zum Krokt noch mal«, wiederholte Kos in seiner selt samen nasalen neuen Stimme. »Was für ein Abgang.« Kos erinnerte sich an seine Verzweiflung, die ihn dazu getrieben hatte, mit diesem Goblin in diese neumodische Vorrichtung zu steigen. Plötzlich wusste er auch wieder, wie sie zusammen gegen einen Drachen gekämpft hatten und den Flug abbrechen mussten. Und zwischendurch war etwas in der Observokugel explodiert, und Schrottre ste hatten ihn durchbohrt. Zwei oder drei Mal, so genau kamen die Erinnerungen dann doch nicht. Er hatte die letzten Heiltränen riskiert, um diese schlimmen Verlet zungen zu heilen, und ein Goblin – nein, eine Goblin-Frau namens ... Crix? Genau, Crix, die Izzet-Gesandte mit den Raketenfüßen. Sie hatte ihn aus der abstürzenden Kugel gerettet und zurück zur Erde gebracht. Kos hatte viel riskiert und verloren. Er war gewarnt gewesen. Er wusste nicht mehr, wie oft ihm gesagt wor den war, dass jede zusätzliche Heilträne ihn umbringen konnte. Aber was hätte er sonst tun können? Vermutlich musste er dankbar sein. Die meisten Leute bekamen wahrscheinlich nie die Gelegenheit, festzustel len, wie dumm ihr eigener Tod eigentlich gewesen war. Das Schicksal schien Agrus Kos wieder einmal ärgern zu wollen. Die Freude darüber, wieder am Leben zu sein, fiel mit großem Getöse in sich zusammen, als die Tatsache, dass er wieder am Leben war, ihm erst richtig bewusst wurde. 236
»Kos«, erklang eine musikalische Stimme. »Bist du da drin?« Kos blinzelte und merkte endlich, dass er nicht nur am Leben war – er war in einem Körper, der sich irgendwo befand. Er streckte seinen pummeligen neuen Körper ein wenig und schaute sich erst einmal um. Was er sah, war nicht ganz so vertraut wie die Stimme, kam ihm aber trotzdem bekannt vor. Er war hier während seiner Zeit als Wojek sicherlich ein halbes Dutzend Mal als Zeuge der Anklage aufgetreten. Er befand sich im Sitzungssaal des Azorius-Senats, einem riesigen Raum mit hoher Kuppel, der etwas wie ein Amphitheater wirkte. Geister, die in der Jury der Seelen dienten, waren überall zu sehen, und da saßen auch drei Personen, die wie Richter aussahen. Kos schaute genauer hin. Wenn ihn seine Augen nicht täusch ten, war einer der Richter wie üblich ein Azorius, die anderen beiden kamen jedenfalls vom Selesnija-Konklave und von Boros’ Legion. Mit immer noch recht ver schwommenen Augen konnte Kos schließlich auch aus machen, woher die Stimme gekommen war. Er wagte kaum zu hoffen, dass er Recht hatte, was die Person des Sprechers anlangte, trotzdem verzog sich sein (geliehenes?) Gesicht – zu einem breiten Grinsen. »Feder? Bist du das?«, fragte er. Na endlich dämmert es dir, sagte die seltsame Stimme in seinem Kopf. Wer bist du?, dachte Kos. Und was hast du für ein Pro blem? Ich bin dein Anker, antwortete die Stimme. Kos wun 237
derte sich, ob er einfach nur tot war, oder vielleicht doch auch noch verrückt geworden war. Ich heiße Obez Mur zeddi. Du bist in meinen Körper geschlüpft. Aber mach es dir nicht zu bequem darin, ich möchte ihn irgendwann zu rückhaben. Die Stimme wurde etwas weinerlich. Ich hätte doch besser heute Urlaub nehmen sollen.
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»Also noch einmal – was bin ich jetzt genau?«, wiederhol te Kos. Mit jedem Satz, den er sprach, änderte sich seine Stimme etwas mehr zu seiner alten Stimme hin, aber ganz würde er es wohl nicht hinbekommen. Sein Geist, oder wie man es auch nennen wollte, versuchte seinen neuen Körper dazu zu zwingen, wie der alte zu klingen – aber bislang nur mit durchwachsenem Erfolg. Der blinde Azorius-Richter seufzte übertrieben, aber Kos scherte sich nicht darum. Nichts von alledem ergab bislang für sein neu in Betrieb gesetztes Gehirn einen Sinn. Und wenn er eine längere Erklärung als »Willkommen zurück, Kos« bekommen konnte, dann wollte er sie auch haben. »Ich habe dich zu einem Avatar von Azorius gemacht«, sagte der Große Schiedsmann. »Du steckst derzeit im Körper des Magiejuristen Obez Murzeddi, der ein ausge bildeter Ektomagier und einer der fähigsten und geschätz testen Mitarbeiter meines Stabs ist. Er war freiwillig be reit, als dein körperlicher Anker zu dienen, während du deinen Dienst nach unserem Geheiß fortsetzt.« »Und warum habt Ihr das gemacht?«, fragte Kos. »Wa 238
ren knapp über hundert Jahre Dienst nicht genug? Habe ich nicht auch das Recht, irgendwann einmal in den Ru hestand zu gehen?« »Du bist immer noch ein Spektralwächter und dienst daher den Azorius«, sagte Augustin. »Du wirst feststellen, dass der entsprechende Vertrag diesbezüglich äußerst klar formuliert ist und sich nicht ändert, nur weil du einer anderen Aufgabe zugewiesen wurdest. Ein Vertrag ist ein Vertrag, und die Laufzeit des Vertrags, den du unterzeich net hast, sollte dir ausreichend Zeit lassen, die Aufgabe, die wir dir stellen, zu erfüllen.« »Ihr könnt mich nicht zwingen, irgendetwas zu tun«, sagte Kos. »Das stimmt nicht«, sagte der Große Schiedsmann. »Du hast dich verpflichtet.« »Dann machen wir es so, dass ich diese Aufgabe für Euch erfülle, und dann lasst Ihr mich nach Agyrem oder sonst wohin gehen«, beharrte Kos. »Diese Aufgabe ist meines Erachtens mehrere Jahrzehnte Dienst wert.« »In Ordnung«, sagte Augustin IV. »Um ehrlich zu sein, darauf kommt es dann auch nicht mehr an. Das ist die Aufgabe, für die du vorgesehen bist.« »Ich und der Gildenpakt«, sagte Kos. »Warum immer ich?« Feder mischte sich ein. »Kos, der Gildenpakt wurde ge brochen. Und du, besser gesagt wir, wir müssen jetzt die Verantwortung dafür übernehmen.« »Wieso denn das?« Kos klang beleidigt und ungeduldig. Immer mit der Ruhe, sagte die Stimme in seinem Kopf. 239
Wir hier sind alle auf einer Seite. Sei ruhig, teilte Kos der Stimme mit. Lass mich in Frie den. Das würde ich ja gern, aber ich bin ein Diener der Azori us. Was du übrigens auch bist. Wir tun das, was der Große Schiedsmann uns befiehlt. Arschkriecher, dachte Kos. Ja sicher, das wird auf jeden Fall helfen. Beleidige mich noch ein bisschen. Warum findest du nicht erst einmal heraus, worum es geht, bevor du mit Schimpfwörtern um dich wirfst? Die Stimme hatte da nicht ganz Unrecht, aber Kos wollte gerade nicht so kompliziert denken. Und er moch te es auch nicht, dass eine neunmalkluge, sarkastische Stimme in seinem Kopf rumorte, die nicht seine eigene neunmalkluge, sarkastische Stimme war. »Wieso sind wir verantwortlich, Feder?«, fragte Kos. »Und Baronin – was habt Ihr mit der ganzen Geschichte zu tun?« Teysa Karlov zuckte die Achseln. »Ich bin nur die Ad vokatin«, sagte sie und machte eine Handbewegung in Richtung der Gestalt auf dem schwebenden Marmorses sel. »Frag lieber den Richter.« »Sie hat ihre Rolle bereits gespielt«, sagte der Große Schiedsmann, ohne näher darauf einzugehen. »Du hast leider vor zwölf Jahren die Rolle gespielt, die Szadek für dich vorgesehen hatte. Ich werde versuchen, das so deut lich wie möglich zu erklären, und du tust das, was dir befohlen wird«, erklärte der Große Schiedsmann herrisch. 240
»In deinem früheren Dasein hast du, Agrus Kos, dich in Angelegenheiten eingemischt, die für den Gildenbund von größter Wichtigkeit waren. Du wurdest von einem Wesen hereingelegt, das quasi eine Verkörperung der Irreführung ist, aber das ändert nichts daran, dass du hereingelegt wurdest.« »Worüber redet Ihr gerade?«, sagte Kos. »Wer hat mich hereingelegt? Ich habe möglicherweise im Achterwasser ein paar Mal über den Durst getrunken, aber ...« »Du hast den Gildenmeister der Dimir verhaftet. Mit dieser Tat hast du den Gildenbund zerstört.« »Aber da hat dieser Szadek doch gerade versucht, den Gildenbund zu zerstören, Euer Ehren«, warf Kos ein. »Ich habe ihn aufgehalten. Und ihn danach nie wieder gese hen. Er wurde, wenn ich mich recht entsinne, von Azori us-Wachen abgeführt.« Er machte mit Obez Murzeddis Hand eine Bewegung, die alle Richter des Tribunals ein schloss. »Und jetzt habt ihr es geschafft, ihn wieder zu verlieren?« »Es ist unwichtig, wie der Dimir-Vampir entkommen konnte«, antwortete Augustin. »Allerdings möchte ich annehmen, dass es nicht möglich gewesen wäre, wenn der Gildenbund nicht durch deine anderen fehlgeleiteten Aktionen bereits so tödlich verwundet gewesen wäre.« Der Große Schiedsmann beugte sich vor. »Dein Verbre chen war deine Unwissenheit, gepaart mit erschweren den Umständen.« »Wenn ich so unwissend bin, warum buchstabiert Ihr es dann nicht für mich, Euer Ehren?« Kos war geladen. 241
Trotz der silbernen Augenbinde konnte man merken, dass der Richter finster blickte. »Die Dimir existieren, um sich gegen den Gildenbund zu stellen. Sie stärken seine Kraft, indem sie das Gegenteil wollen. Deswegen wurde das Haus Dimir mit aufgenommen. Das Gleiche gilt für Rakdos und seine stinkende Bande. Der Gildenpakt hätte nie so lange gehalten und wäre nie so mächtig gewesen, wenn er nicht eine starke und böse Opposition gehabt hätte. Aber du hast Szadek für Verbrechen gegen den Gildenpakt verhaftet. Du hast damit ein Paradox geschaf fen, da seine Taten genau der Zweck waren, den er in nerhalb des Gildenbundes erfüllte.« »Ihr wollt damit sagen, dass er den Gildenpakt zerstö ren sollte? Und die einzige Möglichkeit, den Gildenbund zu retten, wäre gewesen, ihn das tun zu lassen? Das ergibt doch keinen Sinn.« »Deshalb nennt man es ja auch ein Paradox«, sagte Au gustin IV. »Um was geht es denn jetzt eigentlich?«, wollte Kos wissen. »Sollte sich nicht jemand dringend darum küm mern und versuchen, das alles wieder hinzubiegen?« Kaum hatten die Worte seinen geliehenen Mund verlas sen, da bereute Kos sie auch schon. Augustin nickte. »Ja.« »In Krokts Namen, das wollt Ihr doch nicht mir ...« »Ja, wir hatten an dich gedacht.« »Oh, na klar. Weil ...« »Du hast dafür gesorgt, dass der Gildenbund kollabiert ist, auch wenn das nicht deine Absicht war. Aber genau 242
das ermöglicht es uns vielleicht mit etwas Glück und Ausdauer, die Lücke wieder zu stopfen und das heilige Dokument wieder in Kraft zu setzen. Wir, die Gildenmei ster der hohen Gilden, sind nicht die Einzigen, die unter Arroganz und Hochmut leiden«, sagte der Richter. »Sza dek musste seine Abwehrmechanismen lockern, damit du ihn überhaupt verhaften konntest. Er musste seine Wurmgestalten verwenden, um dich zu überzeugen, dass er besiegt sei. Aber damit dieser Trick funktionierte, musste er tatsächlich zulassen, dass du zu einer Gefahr für ihn werden konntest.« »Woher wusste er, dass ich ihn nicht töten würde?«, fragte Kos verwundert. »Das war das Risiko, das er eingehen musste«, sagte der Azorius-Gildenmeister. »Du hast dich genau so verhalten, wie er sich das ausgerechnet hatte – wie ein ehrlicher Gesetzeshüter. Indem du das Paradox erzeugt hast, hast du etwas hinbekommen, was er allein nicht konnte – selbst wenn du nichts davon wusstest. Da der Vampir es dir jedoch ermöglicht hat, seine Schutzvorkehrungen zu durchdringen, kann er sie nie wieder gegen dich anwen den.« »Und warum nicht?«, fragte Kos. »Seine Macht beruht auf Täuschung, auf Geheimnis sen«, sagte der Richter. »Auch die Schutzvorkehrungen basieren auf einem ähnlichen Prinzip. Er musste nicht seine Magie brechen. Er hat einfach nur dich zu einer kleinen Ritze in seiner ›Rüstung‹ gemacht, und noch nicht einmal er kann das wieder rückgängig machen.« 243
»Woher wisst Ihr das so genau?«, fragte Kos. »Ich habe den Eindruck, bis heute noch nie etwas von diesem Di mir-Paradox gehört zu haben.« »Ich weiß«, sagte der Azorius. »Er ist mein exaktes Ge genteil.« »Was bedeutet das? Könnt Ihr seine Gedanken lesen?«, bohrte Kos nach. »Ich kann seine Pläne lesen, dank Jahrhunderten ge nauer Studien und Jahrtausenden gesammelter Daten.« »Das schien Euch aber nicht zu helfen, als er plötzlich auftauchte, um das Selesnija-Konklave aufzufressen«, konterte Kos. »Nein«, sagte der Richter. »Das stimmt. Er hat ... be stimmte Methoden verwendet, um sich vor Entdeckung zu schützen, die ich nicht vorhergesehen hatte. Die Welt ist leider nicht immer perfekt.« »Also habt Ihr mich aus dem unendlich langweiligen Leben nach dem Tod zurückgeholt, damit ich für Euch einen Auftrag als Meuchelmörder übernehme«, schluss folgerte Kos. »Wie ein ganz gewöhnlicher Kleinkriminel ler.« »Hast du einen Einwand?«, fragte der Große Schieds mann. »Eigentlich nicht«, sagte Kos nach kurzem Überlegen. »Ich mache es.« »Du kannst ihn zerstören, aber du musst ihn zuerst fin den.« »Eine Sekunde«, sagte Kos. Irgendetwas hatte ihn die ganze Zeit an der Argumentation des Azorius gestört, aber 244
er hatte es nicht erkennen können. Jetzt konnte er es in Worte fassen. »Ihr habt seine ›Wurmgestalten‹ erwähnt. Anscheinend bin ich doch nicht der Einzige, der ihm Schaden zufügen kann. Die Laurer haben ihm ganz schön zugesetzt.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte der Große Schiedsmann. »Ich habe da so meine Vermutungen. Ent weder glaubte der Vampir nicht, dass er sich gegen die Laurer schützen musste. Vielleicht haben die Laurer auch ihre eigenen Methoden, um durch Szadeks Schutz zu kommen. Aber wie auch immer, die Laurer gibt es nicht mehr.« »Wie wollt Ihr das wissen?«, sagte Kos. »Sie können doch jede beliebige Gestalt annehmen.« »Meine eigenen Diener haben ein Jahrzehnt lang daran gearbeitet und sind dabei ein hohes Risiko eingegangen. Aber da alles geheim gehalten wurde, mit Erfolg«, antwor tete der Azorius. »Die Laurer konnten zerstört werden.« »Ich wollte es nur angesprochen haben«, sagte Kos. »Und ... das wird dann den Gildenbund retten? Und das war es dann? Ihr lasst mich frei, und die Welt ist wieder normal?« »Das ist nicht auszuschließen«, sagte der heilige Loxo don Kel. »Die Magie des Gildenbundes ist immer noch im Ge sang zu finden. Sie kann wieder repariert werden, denn diese Wunde muss nicht tödlich sein.« »Mein verehrter Kollege ist da optimistischer als ich«, sagte Augustin IV. »Aber wenn du ihn zerstörst, wird er 245
nicht in der Lage sein, diese Welt noch weiter in die Dun kelheit zu treiben und Konflikte zu erzeugen – Konflikte, die ihn stärken. Seine Machenschaften sind zahlreich, und ich habe das Gefühl, dass er hinter ziemlich vielen unschönen Dingen in Ravnica steckt.« »Mir scheint, dass man das Problem am besten vor zehntausend Jahren hätte lösen sollen, indem man ihn einfach nicht in den Bund hineingelassen hätte«, sagte Kos. »Aber ich bin kein Richter, mir steht kein Urteil zu.« »Hinterher ist man immer klüger«, stimmte der Richter zu. »Aber zehntausend Jahre Frieden sind nichts, was man so einfach abtun kann. Das Haus Dimir muss auf gehalten werden, aber ohne Szadek und das Haus Dimir hätte es überhaupt keinen Gildenpakt gegeben. Wir ha ben Gesetz und Magie zusammengeführt, und Magie funktioniert manchmal bei speziellen Zahlen am besten.« »In diesem Fall war es die Zehn«, warf Teysa ein. »Und was genau werde ich jetzt tun?«, fragte Kos. »Als Avatar von Azorius habe ich dir einen Teil meiner Macht gewährt«, sagte der Große Schiedsmann. »Wie ich schon sagte, ist deine Geistergestalt hier in Magiejurist Murzeddi verankert. Aber du kannst seinen Körper eine Zeit verlassen und kurzfristig in andere Körper in einer gewissen Reichweite wechseln, falls die Situation das befiehlt. Doch in wessen Körper auch immer du steckst – du bist immer noch du. Du bist immer Kos. Und daher kannst du ihm Schaden zufügen.« »Und wie komme ich aus diesem Körper wieder her aus?« 246
»Du musst natürlich deine Taktik der jeweiligen Situa tion anpassen«, sagte der Richter. »Magiejurist Murzeddi wird dir helfen.« Kos grübelte. Sein erster Zorn darüber, dass er gegen seinen Willen und dazu noch nach seinem Tod wieder eingezogen worden war, ließ langsam nach. Er hatte Rav nica und dem Gildenbund für den größten Teil seines Lebens gedient. Auch wenn die Umstände jetzt etwas seltsam waren – so richtig anders war es auch nicht. Nein, natürlich nicht, meldete sich Obez Murzeddis Stimme in seinem Kopf, aber Kos ignorierte sie. Er muss te nicht weiter überzeugt werden. »Ich glaube, dann fange ich am besten gleich an«, sagte Kos. »Aber ich werde Hilfe benötigen.« »Du kannst auf mich zählen«, sagte Feder und wandte sich an den Richter. »Dies natürlich nur unter der An nahme, Euer Ehren, dass die Anklage ...« »Die Anklage wird natürlich fallen gelassen«, sagte der Große Schiedsmann. »Aber als der letzte verbliebene En gel sind Sie – seid Ihr der neue Boros-Gildenmeister. Ihr habt Pflichten.« Feder zeigte mit einer Hand auf den Wojek-General kommandeur. »Der geschäftsführende Gildenmeister Nodov wird sich als mein Stellvertreter weiterhin darum kümmern. Euer Ehren, Ihr seid derjenige, der daraufhin gewiesen hat, dass auch ich in dieser Sache in der Ver antwortung stehe. Ihr könnt mir nicht die Gelegenheit verweigern, Kos dabei zu helfen, die ganze Sache wieder in Ordnung zu bringen.« 247
Der Richter überlegte kurz und nickte dann. »In Ordnung, Feder. Du bist im Team«, sagte Kos dank bar. In diesem Körper würde er froh sein können, ein Schwert halten zu können – und erst recht, es zu benut zen. Das Können steckte zwar noch in ihm, aber die nöti gen Muskeln waren nicht vorhanden. Er wollte es nicht darauf ankommen lassen, dass er einen austrainierten Kämpfer finden musste, in dessen Körper er schlüpfen konnte – falls er das überhaupt hinbekam. Feder würde diese Lücke schließen – und noch einige mehr. »Bevor du dich auf den Weg machst, warte noch kurz«, sagte der Große Schiedsmann. »Mein eigener Geheim dienst könnte Szadeks wahres Versteck herausgefunden haben.« »Aber Ihr habt doch gerade erst erklärt, dass er sich in einer Art Geisterstadt aufhält«, sagte Kos. »Im Gegensatz zu den Vermutungen des Legionärs gehe ich davon aus, dass Szadek nicht das Schisma benötigt, um zwischen Agyrem und Ravnica hin- und herzureisen«, sagte Augustin. »Ich bin der Meinung, dass er sich bereits hier befindet. Er hatte gewartet, bis alle Engel in Agyrem waren, um dann das Parhelion anzugreifen, obwohl er vorher schon beliebig viel Zeit dafür gehabt hätte. Ich glaube, dass er gerade eine ähnliche Täuschung plant. Er hält seine Streitkräfte zurück, bis alle Teilchen seines Plans dort sind, wo er sie haben will. Zum Glück haben wir etwas, was Szadek normalerweise nicht hinterlässt: einen lebenden, atmenden Zeugen.« Der Richter wandte sich zur Seite. »Gerichtsdiener, führ Evern Capobar herein.« 248
Ein älterer Mann wurde aus dem Vorzimmer in den Senat geführt. Er wirkte mürrisch und wütend. Über ei nem seiner Augen klaffte eine hässliche Wunde. »Evern Capobar«, verkündete der Büttel und kehrte auf seinen Posten zurück. »Er wird wegen mehrerer Vergehen ...« »Nicht jetzt, Nodov«, beschwichtigte der Loxodon. »Er wurde in der Innenstadt aufgegriffen«, sagte Augu stin. »Er ist derjenige, der uns weiterhelfen kann.« Kos und der Rest der kleinen Versammlung hörten ge spannt der Geschichte des leicht angetrunkenen Meister diebs zu. Die Schattengestalt, die Capobar beschrieb, passte nur zu gut auf Szadek. Kos gefiel es gar nicht, dass sich der Gildenmeister der Dimir anscheinend mit dem Simic-Stammvater verbündet hatte, sondern offenbar auch noch eine Devkarin-Frau bei sich hatte, die er Zom bie-Gott nannte. Das klang alles nicht sonderlich gut. Er hatte Geschichten über den Zombie-Gott gehört. Jarad hatte sie ihm erzählt, der ehemalige Kopfgeldjäger, der jetzt auch Gildenmeister war. Eigentlich hatten alle ange nommen, dass Svogthir tot war, aber andererseits war es derzeit ohnehin nicht groß in Mode, anständig tot zu bleiben. Und er konnte auch nur an eine Devkarin-Frau denken, auf die Capobars Beschreibung passte. Ein Schauer lief Kos über den Rücken, als er sich erin nerte. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass du daran gerade nicht gedacht hättest, ertönte Obez’ Stimme. Schau halt nicht hin, antwortete Kos.
Du füllst mein ganzes Hirn mit Erinnerungen an gebro 249
chene Hälse und Wurmmonster, und dann erwartest du von mir, dass ich nicht zuschaue? Kos fragte sich, ob er die Arbeit verweigern konnte, bis der Azorius ihm einen neuen Anker gefunden hatte, aber das würde wohl nicht so schnell passieren. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Aussage des Diebes zu. Schwerer war zu begreifen, wie der Simic-Stammvater in das ganze Bild passte. Die Simic waren die Gilde der Medizin, sie stellten die Bioingenieure Ravnicas. Sie pro duzierten Heilmittel gegen alle Krankheiten dieser Welt und hatten die Bevölkerung schon vor zahlreichen Seu chen gerettet. Sie stellten tonnenweise magische Heilsal ben her und versorgten auch die Gesetzeshüter mit den tropfenförmigen Heiltränen. Aber wenn er wusste, dass der Gildenpakt gebrochen war, musste befürchtet wer den, dass der Stammvater auch anderes herstellte, was nicht ganz so segensreich sein würde. Momir Vig galt als Genie, und obwohl die Simic in Ravnica die Ärzteschaft stellten, hatten sie ebenfalls einen begründeten Ruf, äu ßerst experimentierfreudig zu sein. Die Koga-Seuche war wohl auch aus so einem Experiment entstanden – das hatte zumindest Kos immer vermutet. Dann gab es die Virusoiden, die dieser Simic in Utvara, Dr. Nebun, als Arbeiter in seinem Labor in der Sanierungszone verwen det hatte. Noch nicht einmal der Ex-Wojek, ExRausschmeißer, Ex-Spektralwächter und Neu-Avatar Kos brauchte große Vorstellungskraft, um sich auszumalen, wie sich das entwickeln konnte, wenn die Simic nicht mehr vom Gildenpakt zurückgehalten wurden. Und ganz 250
besonders, wenn der Gildenmeister der Simic wusste, wie es um den Gildenbund bestellt war. Irgendwie passte doch alles zusammen, und Kos konn te sich nicht des Gefühls erwehren, dass er gerade in die nächste Falle tappte.
K
Es hatte Stunden gedauert, aber Crixizix hatte es endlich geschafft, einen engen Tunnel zu Pivlic hin zu graben. Der Bold wusste nicht, wie er es so lange durchgehalten hatte, abgesehen von seiner absoluten Entschlossenheit, nicht zu sterben. Die Goblin-Frau kroch behutsam auf ihn zu, damit sie nicht den Rest vom Gasthaus »Zum Geflügelten Bold« zum Einsturz brachte. Der Bold begrüßte diese Vorsicht, hätte sich aber auch über etwas mehr Tempo nicht beschwert. »Hallo«, krächzte Pivlic. Seine Kehle war so trocken wie Sandpapier. »Was bringt Sie in den Geflügelten Bold? Darf ich Ihnen unsere Spezialität des Tages vorschlagen, gute Frau? Bold-Pastete. Ein echtes Schnäppchen.« »Ich bin froh, dass Sie noch leben«, sagte Crixizix. »Vergeuden Sie Ihre Energie nicht. Ich werde Sie hier herausholen. Ich habe Heiltränen dabei, und dort hinten warten zwei Oger, um auf meinen Befehl hin die Säule hochzuziehen.« »Aber die Stadt ...« »Die Stadt ist verloren«, sagte die Goblin-Frau traurig. »Viele sind tot, und der größte Teil der Bevölkerung konn 251
te fliehen. Sie schienen sich nicht so große Sorgen um uns zu machen. Wir sind zu klein, glaube ich.« Etwas, das weitaus schlimmer als die Zerstörung der Stadt war, schien die Goblin-Frau zu bedrücken. »Wer hat sich keine großen Sorgen gemacht?«, fragte Pivlic. »Haben die Steintitanen uns besucht? Sind die Dra chen zurückgekehrt?« »Sie werden sich sicherlich bald wieder daran erin nern. Falls nicht, werde ich es Ihnen später erzählen, sobald Sie befreit sind.« Die Goblin-Frau wand sich um die Säule herum und zog ein starkes Seil hinter sich her. Crixizix musste um den Bold herumgreifen, um das Seil unter der Säule durchzufädeln und versperrte Pivlic dabei mit ihrem tä towierten Unterarm kurzfristig die Sicht. »Das klappt nicht«, sagte Pivlic, der sich wieder an den Unfall mit dem Lokopeden erinnerte. »Auch Heiltränen können nichts daran ändern, dass mein Unterleib zer schmettert ist. Wenn die Säule weggezogen wird, sterbe ich.« »Nicht reden«, schalt Crixizix ihn sanft. Die Goblin-Frau war ein eher ungewöhnliches Exemplar ihrer Art, und Pivlic war schon vielen Goblins begegnet. Sie schien überaus intelligent zu sein und war dazu noch äußerst charmant. Der Bold vermutete, dass er aus ihr eine her vorragende Orzhov-Bevollmächtigte machen konnte, falls sie sich jemals entschloss, die Izzet zu verlassen. »Oder muss ich annehmen, dass Sie inzwischen auch ein Arzt sind?«, fuhr Crixizix fort. »War Ihnen Statthalter der Ba 252
ronin nicht genug? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Sie hier herausholen werde. Seien Sie da mal ganz beru higt.« »Haben Sie das nicht auch zu Kos gesagt?«, krächzte Pivlic. Es gab nicht viele Leute, die Pivlic nicht nur seinen Freund genannt, sondern auch als einen solchen angese hen hatte, und Kos hatte dazugehört. Crixizix’ freundlicher Gesichtsausdruck wurde kurzfri stig härter, aber sie sagte nichts. »Tut mir Leid«, sagte der Bold. »Machen Sie weiter.« Crixizix nickte, und das Lächeln kehrte zurück. Sie ließ das Seil los und lehnte sich zurück, sodass Piv lic sehen konnte, wie das Seil sich wie aus freien Stücken durch den Tunnel nach oben schlängelte. Crixizix beugte sich zu Pivlics Ohr. »Sie haben Recht. Ihr Unterkörper ist zerschmettert, und unter normalen Umständen würde ich sagen, dass es übel aussieht.« »Das sagt aber keine nette Krankenschwester«, krächz te Pivlic. »Möglich«, lachte die Goblin-Frau schwach. Sie schien nicht ganz so zuversichtlich zu sein, wie sie vorgab, fand Pivlic. Nun, besser vorgetäuschte Zuversicht als gar keine. Der Bold sah das schwache rote Leuchten aus den Au genwinkeln und hörte das typische Geräusch von Heiltränen, die aus der Schutzverpackung gepresst wurden. »Die werden nicht helfen«, sagte Pivlic. »Natürlich werden sie das«, sagte Crixizix. »Ich werde sie schnell genug anwenden. Und Sie sollten doch wissen, dass ich schneller bin, als ich aussehe.« Sie drehte den 253
Kopf nach oben und rief ganz ohne Vorwarnung: »Zieht!« Unter lautem Grunzen zogen die beiden von unten nicht sichtbaren Oger am Seil. Sie Säule hob sich erst langsam, dann etwas schneller, als sich mit dem anstei genden Winkel das Gewicht zugunsten der Oger verlager te. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Gefühl in Pivlics Unterkörper wiederkehrte. Das Blut, das ihm bis in die Kehle stieg, verhinderte außer einem erstickten Ge gurgel jeden Ton. Crixizix’ Hände bewegten sich so schnell, dass man sie nur verschwommen wahrnehmen konnte. Die GoblinFrau klatschte die ausgepackten Heiltränen immer paar weise in den unteren Bauchbereich und in die Beine des Bolds. Der Schmerz ließ nicht nach. Alles schien im Kör per des Bolds zu brennen, während die Nervenenden schneller als ein Wimpernschlag nachwuchsen. Seine Qual erreichte ihren Höhepunkt, als er spüren und hören konnte, wie die zerbrochenen Knochen laut knirschend wieder an Ort und Stelle rückten. Erst mit den letzten beiden Heiltränen, die Crixizix seitlich in seinen Körper drückte, ließ der Schmerz langsam nach. Der Bold hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Kör perverletzungen zu vermeiden, besonders am eigenen Körper. Das war Teil seiner Geschäftsstrategie: immer gesund und am Leben zu bleiben. Daher hatte er bislang nur selten Bedarf an dieser Art erster Hilfe gehabt. Die Behandlung war vorbei, bevor er es richtig merkte. Pivlic blinzelte. Er wackelte mit seinen Zehen. »Schon besser so«, stöhnte er. 254
»Gut«, sagte Crixizix. »Können Sie schon wieder flie gen?« Pivlic breitete seine Flügel aus und nahm seinen Un terkörper näher in Augenschein. Bis auf wenige Narben, die aber eher ein kosmetisches Problem waren, schien alles intakt zu sein. »Ich glaube schon«, sagte er. »Beeilung!«, knurrte jemand von oben. »Hm, stimmt ja«, sagte Pivlic. »Die Säule! Aber ich kann Sie nicht tragen.« »Das ist auch nicht nötig«, sagte Crixizix, die ihr Ge wicht auf ihre Fersen verlagerte. »Wahrscheinlich geht es eh schneller, wenn ... Ach, halten Sie sich einfach an meinen Schultern fest.« »Ähm«, sagte Pivlic, »in Ordnung.« Der Bold hörte, wie die Goblin-Frau ihre Fersen anein ander stieß – und sofort schossen sie aus dem Krater, der der Mittelpunkt von Pivlics letztem – und zuletzt zerstör tem – Geschäft gewesen war. Orange Flammen schossen unten aus Crixizix’ Füßen und trugen sie weit in die Luft. Unter ihnen konnte Pivlic die Oger erkennen. Einer von ihnen knurrte dem anderen gerade etwas zu. »Sie drau ßen! Lass fallen!« Mit lautem Krachen fiel die Steinsäule zurück in das Loch, das vom Geflügelten Bold übrig geblieben war. Die Zerstörung seines Gasthauses ansehen zu müssen war so schmerzhaft, wie ab der Hüfte zerdrückt zu werden, wenn nicht noch mehr. Pivlic ließ die Schultern der Goblin-Frau los und wackelte mit den Flügeln, um aus eige ner Kraft in der Luft zu bleiben. Crixizix regulierte den 255
Mana-Ausstoß aus ihren Düsen, um neben ihm ruhig zu schweben. Unter der Ruine war nicht nur ein erfolgreiches Unter nehmen begraben, auf das der Bold wirklich stolz sein konnte. Da die Baronin im Gasthaus ihr vorläufiges Büro aufgeschlagen hatte, befanden sich auch ihre gesamten Unterlagen unter den Trümmern. Es war für Pivlic kein großer Trost, dass auch das neue Haus der Baronin kein besserer Aufbewahrungsort gewesen wäre. Auch eine Menge seiner eigenen Zidos und vor allem einige seltene und verbotene Kunstwerke, die sehr schwer wiederzube schaffen sein würden, waren verloren. Mit einem lauten Krachen stürzte das Loch in sich zu sammen und begrub die teure Säule unter sich – ein letz ter kleiner Scherz des Schicksals. »Bei Krokt«, sagte Pivlic. »War das wirklich nötig, meine Beste? Gut, ich lebe, aber allein die Selbstbeteiligungs summe in meinen Versicherungsbeträgen ...« »Der Schaden war schon vorher angerichtet.« Crixizix ließ ihn gar nicht ausreden. »Und ich bezweifle, dass ir gendeiner Ihrer Versicherungsverträge das hier abdeckt. Wenn Sie Schuldige suchen, schauen Sie doch einmal dort hin.« Pivlics Blick folgte Crixizix’ Finger, mit dem sie auf die Nephilim zeigte. Nachdem sie Utvara dem Erdboden gleichgemacht hatten, schienen die riesigen Kreaturen jetzt den Rest der Welt, die ihnen früher ganz gehört hat te, neu erforschen zu wollen. Die drei verbliebenen We sen hatten sich nach Westen gewandt, wälzten sich durch 256
die Huske und bewegten sich entlang der Straße, die zu rück in die Stadt Ravnica führte. Ihr ungehindertes Wach stum hatte anscheinend nachgelassen, aber selbst aus dieser Entfernung wirkte das Trio immer noch gigantisch: die schlangenartige Kreatur mit ihren beunruhigend menschlichen Armen und dem verdammten Auge, die stampfende Kreuzung aus Krustentier und Berg und schließlich die Tentakelbestie, die auf den Saugnäpfen ihrer vielen zuckenden Auswüchse über dem Boden zu schweben schien. »Sie hauen endlich ab«, sagte Pivlic. »Und befinden sich auf direktem Weg in die Stadt«, sag te Crixizix. Wie es seine Gewohnheit war, begann Pivlic sofort darüber nachzudenken, was diese seltsame Wendung der Ereignisse für ihn bedeutete. Die Baronin hatte ihm die Verantwortung für ein paar Tage übertragen, und in die ser Zeit war die gesamte Stadt zerstört worden. Hier aus der Luft konnte er auch erkennen, dass ebenfalls viele Türme der Minen eingestürzt waren. Der Kessel war komplett zerstört und schien sogar gänzlich von der Oberfläche entfernt worden zu sein, während am Rand des Gebiets der Selesnijaner und zwischen den Feldern der Golgari kleinere Feuer wüteten. Er hätte die Gelegenheit nutzen können, um die Gruul von Utvara zu warnen, aber Vor Golozar und sein Stamm standen auf seiner Prioritätenliste nicht besonders weit oben. Zuallererst musste er der Baronin berichten, und diese befand sich in der Stadt. Nein, als Erstes musste er 257
sich zunächst einmal um sich selbst kümmern, korrigier te Pivlic sich. Aber die Baronin zu warnen konnte man durchaus als Wahrung von Pivlics Interessen verstehen, überlegte er. Die Entscheidung fiel leichter, wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtete. Drei der fünf Mon ster, die innerhalb von ein paar Stunden das Vermögen der Baronin vernichtet hatten, befanden sich gerade auf dem Weg zu dem Ort, an dem sich Teysa Karlov derzeit aufhielt. Er wäre kein würdiger Orzhov, wenn er nicht eine Methode fände, daraus Kapital zu schlagen. Crixizix schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie. »Alles ist futsch. Selbst wenn die Ein dämmungstruppen jetzt doch noch auftauchen – schauen Sie es sich doch einmal an. Und da ist noch etwas, was ich Ihnen erzählen muss. Niv-Mizzet war hier.« »Der Drache?«, sagte Pivlic. »Stimmt ja! Ich erinnere mich, einen Drachen gesehen zu haben. Er war ... sozu sagen ein guter Drache, oder, meine Beste? Wo ist er hin?« Crixizix deutete zum Horizont. »Weg.« »Tot?« »Nein. Aber ich ... ich weiß nicht, ob er sich in nächster Zeit wieder zeigen wird«, sagte Crixizix. »Ich vermute, dass ich ohne seinen Rat handeln muss. Zumindest die erste Zeit lang.« »Und das ist ein Problem, glauben Sie?«, sagte Pivlic, der wieder in seine fröhliche Unbekümmertheit zurück fiel. »Ich dagegen muss der Baronin von all dem berich 258
ten. Sie haben dagegen alle Freiheiten. Wer weiß schon, wo Niv-Mizzet ist? Verstehen Sie mich, meine Beste? Sie sagen, dass er Sie verlassen hat – aber vielleicht bedeutet das ja, dass er Ihnen die Verantwortung übertragen hat, oder? Wer kann schon das Gegenteil behaupten?« Einen Moment lang wirkte Crixizix, als würde sie dem Bold am liebsten mit den Zähnen die Flügel ausreißen, aber dann begann sie zu kichern. Es klang erst etwas übergeschnappt, entwickelte sich aber nach und nach in ein befreiendes Lachen, mit dem sich die lange aufgebau te Anspannung löste. Die beiden landeten auf einer stehen gebliebenen Wand des sonst fast vollständig zerstörten Gebäudes der Gildenkuriere. Zwei Golems, die als Nachrichtenüberbrin ger dienten, lagen zerschmettert und regungslos auf dem Boden, aber sonst war der Marmorfußboden noch relativ heil. In einer Vorratskammer fanden sie etwas Essen und schmausten eine Weile kaltes Fladenbrot und Trocken früchte. Ihre Unterhaltung drehte sich nur um belanglose Dinge, damit sie das Erlebte etwas besser wegstecken konnten. Doch dann verdüsterte sich das Gesicht der GoblinFrau wieder etwas. »Vielen Dank, Herr Pivlic, für Ihre Sicht der Dinge. Und Sie werden auf jeden Fall zurück in die Stadt fliegen?«, fragte sie. »Nach so einem Erlebnis könnte ich wahrscheinlich bis zum Ende der Welt fliegen«, antwortete Pivlic. »Aber ich muss erst einmal zur Baronin, das stimmt. Und was ge 259
nau werden Sie jetzt tun, meine Beste?« »Die Oger haben mich zu, ähem, sozusagen ihrer An führerin gemacht«, sagte Crixizix. Ein seltsames, aber irgendwie stolzes Grinsen belebte ihre Züge wieder. »Sie meinen, dass Oger in einer solchen Krise einen Anführer brauchen, und dann hat einer von ihnen diesen kleinen Trick bemerkt.« Sie deutete auf ihre Füße. »Daraufhin haben sie beschlossen, dass ich perfekt dafür geeignet bin. Oger können sehr praktisch denken. Und jemand muss auch den Verletzten helfen. Die meisten Einwohner konnten sich retten, glaube ich. Aber es sind immer noch einige verschüttet. Und solange ich keine anders lauten den Befehle erhalte, werde ich hier helfen. Der Eindäm mungstrupp muss auch irgendwann hier auftauchen, und ich werde bis dahin genug Arbeit für ihn finden.« »Und was ist mit ...« »Dem Drachen?«, unterbrach ihn Crixizix. »Ich werde ihnen ... irgendetwas erzählen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Aber der Große Niv-Mizzet hat sich auch in der Vergangenheit noch nie allzu sehr in die Belange der Gilde eingemischt.«
K
»Heiligster«, rief Wenslauv aus. Sie griff instinktiv nach einer der Heiltränen an ihrem Gürtel. Aber bevor sie die Verpackung aufreißen und die Medizin gegen Razias schlimmste Wunde – ein klaffendes Loch mitten in der Brust, sodass man Herz und Rippen sehen konnte – drük 260
ken konnte, hielt der Gildenmeister abwehrend eine Hand hoch. »Nein, ich kann nicht ... verschwende sie nicht«, bekam er heraus. »Du wirst sie vielleicht selbst brauchen.« Der Engel Razia war in noch schlechterem Zustand als der Rest des Kommandodecks des Parhelions. Der Gil denmeister der Boros saß in einer etwas verdeckten Wandnische im hinteren Teil des Decks. Sein rechter Arm endete in einem verbrannten, verdrehten Etwas, das mehr Klaue als Hand war. Das heilige Schwert war nir gendwo zu entdecken. Brandlöcher und tiefe Fleisch wunden waren durch die Risse seiner verzierten, einst so glänzenden Rüstung zu sehen. »Ihr seid verletzt!«, protestierte Wenslauv. »Aber damit kannst du mir nicht helfen«, sagte der En gel und nahm den Neuankömmling genauer in Augen schein. Er musste die Anstecknadel mit den drei Flügeln erkannt haben, denn er sprach sie nun mit ihrem Rang an: »Berichtet, Luftmarschallin.« »Die anderen Engel ... sie sind alle tot«, sagte Wenslauv nach kurzer Überlegung, was sie zuerst sagen sollte. »Ich habe keine Anzeichen von Feinden gesehen. Ich glaube, Ihr seid der Einzige, der überlebt hat, Heiligster. Vergebt mir meine Neugier, aber was ist hier passiert? Wer hat das getan?« »Da du hier bist«, keuchte der Engel, »müssen wir wie der zurück in Ravnica sein.« »Über Ravnica, Heiligster«, korrigierte Wenslauv und nutzte die Gelegenheit, um ihr Hauptanliegen vorzubrin 261
gen. »Wir befinden uns auf Kollisionskurs mit der Stadt mitte, Heiligster. Wie es aussieht, ist das Steuerruder zer stört. Ich bin mir nicht sicher, was ich unternehmen soll. Ich brauche Eure Hilfe. Könnt Ihr stehen?« »Ja«, sagte der Engel, zeigte aber noch keine Anstren gung, es auch zu versuchen. »Das Steuerruder. Und die anderen – alle tot. Es gab einen Angriff. Wir befanden uns im Krieg. Eindringlinge hatten uns überrascht.« »Ich habe keine Eindringlinge gesehen, aber ich hatte auch nicht die Zeit, eine auch nur halbwegs gründliche Suche durchzuführen«, berichtete Wenslauv. »Das Parhe lion ist ... Wir müssen eine Möglichkeit finden, es in der Luft zu halten. Ich bin Roc-Reiterin und kenne mich des halb ein wenig mit der Fliegerei aus, Heiligster. Aber hier weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.« Der Engel streckte seine gesunde Hand aus. »Ich kann stehen. Ich werde dich anleiten.« Wenslauv zog den Engel auf die Beine. Im Stehen über ragte der Gildenmeister, obwohl er schmerzgekrümmt war, die Wojek bei weitem. Nach wenigen Schritten be gann der Engel zu wanken und drückte seine verwundete Hand gegen die Stirn. »Alles in Ordnung mit Euch, Heiligster?«, fragte die Luftmarschallin. »Es geht ja nicht anders«, antwortete der Engel. »Hilf mir dort hinüber.« Er zeigte auf ein paar Konsolen, die inmitten der zerstörten Kontrollinstrumente noch eini germaßen intakt erschienen. »Du wirst mir als Hand die nen müssen«, sagte er. 262
»Natürlich, Heiligster«, sagte Wenslauv. Ein zufälliger Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass das Luftschiff durch die Wolkendecke gestoßen war, während sie dem Engel aufgeholfen hatte. Die weißen Türme von Prahv waren durch die Invizomizzium-Windschutzscheibe schon deutlich zu erkennen. Luftmarschallin Wenslauv war, wie sie selbst gesagt hatte, nicht ausgebildet, ein Luftschiff zu lenken, aber sie hatte ausreichend Erfahrung, um Fluggeschwindigkeiten ohne magische Instrumente oder mehrfarbige Schalter und Hebel bestimmen zu können. Sie schätzte, dass ih nen höchstens noch drei Minuten zur Verfügung standen – falls sie ihren Kurs beibehielten. Solange die Antriebe unkontrolliert brannten, konnte sie auch das nicht garan tieren. Die Konsole war einfach gehalten und sah alles andere als wichtig aus. Eigentlich bestand sie nur aus einer rechteckigen Mizzium-Platte mit einem roten Edelstein etwas abseits der Mitte. »Was muss ich tun?«, fragte Wenslauv. »Drei Mal auf den Edelstein drücken. Beim dritten Mal musst du das Kodewort sprechen.« »Und wie lautet es, Heiligster?« »›Stangentänzerin.‹« »Stangentänzerin?« »Und manche Sterblichen glauben, wir hätten keinen Humor«, sagte der Engel. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, Luftmarschallin.« Wenslauv nickte, unterdrückte ihre Meinung zu dieser 263
Art »Witze« und drückte ihren Daumen gegen den roten Stein. Eins, zwei, drei: »Stangentänzerin.« Das Mizzium glitt langsam und knirschend beiseite. Darunter befanden sich zwei Hebel mit roten Griffen. »Ich befürchte, dass sie auf Engelsstärke ausgelegt sind«, sagte Razia. »Leider kann ich dabei nicht helfen.« »Ich werde mein Bestes geben, Heiligster«, sagte Wens lauv und griff nach den roten Hebeln. »Der Hebel rechts bestimmt unseren Neigungswinkel, der Hebel links ist für die seitliche Steuerung«, sagte der Engel. »Ganz einfach und nur für Notfälle.« »Seitliche Steuerung werden wir nicht benötigen. Es werden Leute sterben, egal, ob wir nach links oder rechts ausweichen«, sagte Wenslauv. »Wir müssen ansteigen. Wir müssen irgendwie in der Luft bleiben.« »Einverstanden.« Die Luftmarschallin ließ den linken Hebel los und packte mit eisernem Griff den rechten mit beiden Hän den. Sie stemmte die Sohle ihres Stiefels gegen die Kon sole und zog mit aller Kraft. Der Hebel wollte sich nicht bewegen. Die Türme von Prahv kamen immer näher. Zu Wenslauvs Überraschung waren keine Luftjek-Patrouillenreiter aufgestiegen, um ihnen entgegenzufliegen. Sie versuchte es noch einmal, aber wieder ohne Erfolg. Sie warf einen schnellen Blick über das Kommandodeck, ob sie irgendetwas sah, was sie als Hebel einsetzen konnte, aber nichts war nah genug. Eine kleinere Möwe stieß gegen die Windschutzschei 264
be. Der Aufprall half Wenslauv, die Geschwindigkeit des Luftschiffs auf etwa hundert Meilen pro Stunde zu schät zen. Plötzlich sah sie keinen Himmel mehr. Durch die Windschutzscheibe waren nur noch die Türme von Prahv zu erkennen und direkt vor ihnen die durchsichtige Kuppel des Senats. Wäre das Parhelion ein Pfeil, wäre die ganze Angelegenheit ein Treffer genau in die Mitte der Zielscheibe. Jetzt konnte sie schon fliehende Leute sehen. Ein paar Sekunden später war sie dicht ge nug, um Gesichter ausmachen zu können. »Bei Krokt«, fluchte sie und wandte sich an den Engel. »Heiligster, es will nicht ...« Ein paar Sekunden früher, als Wenslauv berechnet hat te, stieß das Parhelion mit der Kuppel des Senatsgebäudes zusammen. Den Absturz konnte man überall von den Tiefen von Alt-Ravnica bis in die Außenbezirke vor den Stadttoren hören, und selbst die Nephilim hoben ver wundert ihre Köpfe.
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Kapitel 11
H
Sind Sie hungrig wie ein Dämon? Für nur ein paar Zidos mehr machen wir Ihre Portion doppelt so groß – fragen Sie einfach Ihren Kellner! Schild über dem Eingang von
»Pivlic’s Alt-Ravi-Kabarett und Restaurant«
(durch einen nie aufgeklärten Brand 9963 Z. C. zerstört)
31. Cizarm 10012 Z. C. Myc Savod Zunich hatte ein gewisses Vertrauen in das Glaubenssystem der Selesnijaner. Andererseits war sein Vater ein Devkarin mit einer gewissen Vorliebe für To tenbeschwörung, was einen gegensätzlichen Einfluss zu dem seiner Mutter, einer Silhana-Halbelfin, bedeutete. Aber er hatte sich nie als strenggläubig gesehen. Er war sich noch nicht einmal sicher, was strenggläubig in die sem Zusammenhang überhaupt bedeutete. Er wollte ein Ledev sein. Die weiten Straßen boten ihm einen großen Anreiz – immer neue Abenteuer warteten auf ihn, wenn er diesen Weg weiterverfolgte. Aber er wollte auch ein Jäger werden, vielleicht auch ein Gildenmeister. Dies waren die beiden Seiten der Medaille. Myc gehörte ein 266
fach noch in beide Welten. Viele Golgari verehrten den Zombie-Gott, sein Vater allerdings nicht. Darum fühlte er sich diesem Glaubenssystem auch nicht zu sehr ver pflichtet. Er wusste nur eines – der Rakdos-Kult war sicherlich die Religion, mit der er auf keinen Fall etwas zu tun ha ben wollte. Der Kult war die Sorte von Religion, die ei nem die Lust an Religion für den Rest des Lebens verder ben konnte. Myc und die anderen Pfadfinder waren geschoben, ge schleppt, gehievt und zuletzt auch gezogen worden, als das Indrik nicht mehr durch den letzten Abschnitt des unterirdischen Tunnels passte. Jetzt befanden sie sich in einer drückend heißen unterirdischen Halle. Sie konnten nicht weit vom Baum der Einheit entfernt sein, denn Myc konnte den Gesang sehr deutlich hören. Der Baum war irgendwo über ihnen, also mussten sie sich in der Stadt mitte befinden. Myc wusste genau, was sich unter der Stadtmitte be fand. Mitten im Golgari-Gebiet von Alt-Ravnica wuchs wie ein Geschwür Rix Maadi, die Gildenhalle der Rakdos, in die Tiefe. Seinem Vater schien es immer einen Stich zu versetzen, wenn er ihm davon erzählen musste. Rix Maa di war wie ein Bienenstock aufgebaut, und die Anhänger des Kultes vergrößerten es andauernd, indem sie immer mehr Schrott daran anbauten. Aus gezackten Schornstei nen, die wie Dornen nach außen wiesen, sickerten dünne schwarze Rauchflusen. Rix Maadi war eigentlich ein Teil der Unterstadt, aber in Wirklichkeit eine eigene kleine 267
Welt der Rakdos für sich. Es gab Gerüchte, dass es hier weit tiefer in den Boden ging als in den von den Golgari beherrschten Teilen der Unterstadt, sogar tiefer als in Grigors Schlucht. Die Rakdos bauten in der Tiefe die Me talle ab, die ihnen eine gewisse Macht in Ravnica verlie hen, auch wenn eigentlich niemand etwas mit ihnen zu tun haben wollte. Jarad hatte Myc versprechen lassen, dass der Junge sich nie ohne seinen Vater in die Nähe wagen würde. Natürlich hatte Myc das Versprechen bei der ersten Gele genheit gebrochen, aber näher bis an den Rand der Rak dos-Lasterhöhle hatten weder er noch seine Kumpel sich getraut. Sie hatten sich zwar gegenseitig Mutproben ge stellt, und das erste Kind, das sich bis zu den RakdosWachen vortrauen würde, hätte wohl für alle Ewigkeiten viel Respekt gewonnen. Aber bislang wollte noch nie mand den Ruhm für sich beanspruchen. Myc hätte es versucht, wie er immer sagte, wenn es nicht für seinen Vater als Gildenmeister großen Ärger bedeuten würde. Nun befand sich Myc anscheinend mitten in Rix Maadi, und er konnte sich beim besten Willen nicht mehr vor stellen, warum er jemals hier hineingewollt hatte. Alles stank nach Schwefel und Verfall. Die Luft bestand fast nur aus Rauch, der aus hunderten Kohlebecken hochstieg, in denen Krokt weiß was für ölige Substanzen und ekelhafte Räucherstäbe verbrannt wurden. Überall krabbelten Rat ten herum: kleine, große, sehr große – einige hatten die Größe von Mooshunden und sahen drei Mal so hinterhäl tig aus. Insgesamt waren es mehr Ratten, als Myc jemals 268
in seinem ganzen Leben zusammengenommen gesehen hatte, und sie rannten alle herum wie Haustiere, die auf ihre Fütterung warteten. Und dann war da noch die Hitze. Die Höhle war riesig, und die offene, glühende Lavagrube in der Mitte verwan delte den Raum in eine Hitzekammer. Entlang den Wän den wanden sich wabenförmig Rampen und Pfade nach oben, und weit über ihm gab es einen Weg nach draußen, den er nur erreichen konnte, wenn er Flügel hätte. Er entdeckte mehrere Abzugsschächte, wie sie überall in der Unterstadt zu sehen waren. In die Wände und Decke war ein Netzwerk aus Schornsteinen und Luftlöchern einge arbeitet, aber es schien nicht richtig zu funktionieren. Die Belüftung musste gegen die unheilvoll brodelnde und glühende Lavamasse ankämpfen, die wie eine dicke Sup pe in einem Topf kochte. Rix Maadi war ein stinkender Ofen von der Größe einer Kleinstadt. Mitten in der Höhle war eine Art chaotischer Jahrmarkt in vollem Gange. Es gab düstere Belustigungen, unzüchti ge Tänze, die Mycs Mutter ihn sicher noch nicht sehen lassen würde, und Gruppen von misstönenden Sängern, die den Lärmpegel in der riesigen Höhle nur weiter er höhten. Wo er auch hinblickte, sah er Rakdos trinken, tanzen oder brutal mit anderen Kultisten kämpfen. Die Luft war voller Rauch, Gestank und grausamem Geläch ter. Er und die anderen Pfadfinder waren immer noch in ihren Käfigen, aber zur Begutachtung nebeneinander aufgestellt worden. Wenigstens konnte Myc jetzt sehen, 269
dass es den drei anderen ganz gut ging. Er konnte auch feststellen, dass sein Instinkt ihn nicht getrogen hatte: Seine Mutter war nicht hier. Myc vermutete, dass er das Begutachten nicht genie ßen würde, und das bestätigte sich, als er sah, wem sie hier präsentiert wurden. Die Kultisten nannten das We sen Izolda, was in Alt-Ravi so etwas Ähnliches wie »Blut hexe« bedeutete, wenn Myc sich nicht ganz irrte. Ihre bleiche Gestalt war in dünne Ketten und dicke, ge schwärzte Häute gehüllt. Ihre Hände endeten in langen, schwarzen, messerartigen Klauen, von denen dickflüssi ges rotes Zeug auf den Steinboden tropfte, als sie auf die Gefangenen zukam. Ihre Augen waren komplett weiß, wenn man von den vertikalen Narben absah, die von den Augenbrauen bis zum Wangenknochen mitten durch die Augen verliefen. Sie bewegte sich problemlos und unge stört durch die ungestüme und blutdürstige Menge. Vielleicht war Izolda ja so eine Art Vampir – Myc wollte sich das lieber nicht so genau vorstellen. Der junge Pfadfinder wollte auch lieber nicht wissen, was unter der knappen Kleidung, den Ketten und der elfenbeinweißen Haut steckte und warum sie die »Blut hexe« genannt wurde. Er war sich allerdings sicher, dass er das bald erfahren würde, ob er es nun wollte oder nicht. Izolda bedachte Myc mit einem abwägenden Blick aus ihren leeren Augen. Ihr ruhiges Atmen klang wie das Zischen einer Schlange. Sie legte den Kopf schräg und nickte. Dann drehte sie sich um und ging zum anderen Ende der Käfigreihe. Die Bluthexe beugte sich über den 270
Zentauren Orval, der im ersten Käfig saß, und streckte eine ihrer Klauen in den Käfig. Sie fuhr einen besonders langen Fingernagel aus und kratzte damit über die Stirn des Gefangenen. Die rasche Bewegung entlockte dem Zentauren einen gedämpften Aufschrei. Aus seiner Stirn flossen ein paar Tropfen Blut. Izolda zog sich von dem eisernen Käfig zurück und ging mit festen, aber gemäßig ten Schritten durch die Feiernden zu dem großen Kohle becken, das in der Mitte des Tempels der Todesliebhaber montiert war. Ja, es musste ein Tempel sein, nicht eine Höhle oder eine Halle, erkannte Myc. Dies war ein Ort, wo böse Ta ten verehrt wurden. Und die Gemeinde war ein Tollhaus. Die Rakdos-Bluthexe hielt ihre Klaue für ein paar Se kunden über die glühenden Kohlen. Ihre leeren Augen starrten fix auf das Feuer und beobachteten, wie es sich orange verfärbte. Dann zog sie mit einem lüsternen Schnurren die Hand zurück und begann wieder zu zi schen. Izolda sorgte dafür, dass es Myc wirklich kalt den Rük ken herunterlief. »Der hier nicht«, zischte die Bluthexe ihren gackernden Lakaien zu. »Der Nächste.« Izolda wiederholte den Vorgang noch zwei Mal. Akle chin war am Schluchzen, bevor die Klaue ihn erwischte, und musste sich hinterher zusammenreißen, um nicht ganz in Tränen auszubrechen. Zu Mycs Überraschung hielt Lily still. Und da er sah, dass sie leicht zuckte, ging er zu achtzig bis fünfundachtzig Prozent davon aus, dass 271
sie noch lebte. Der Devkarin-Teil in seinem Blut sorgte dafür, dass er nie vergaß, dass zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent der Leute sich bewegten und dennoch nicht mehr lebten. Aber er entdeckte keine verräterischen Anzeichen von Nekromagie an ihr. Sie war nur wider spenstig und tapfer. Myc fand diese Mischung eindrucksvoll und anzie hend. Und daher belegte Myc die Rakdos mit einer Flut von Schimpfworten, von denen er vorher nicht gewusst hatte, dass er sie alle kannte, als die Bluthexe mit einer Klaue auf Lilys Käfig zeigte und zwei maskierte Zombies vortraten, um die Käfigtür zu öffnen. Die Kultisten zerrten das blonde Mädchen an den Armen aus dem Käfig. Sie hielten sie hoch, sodass Lily mit den Füßen in der leeren Luft strampelte. Das Mädchen stimmte in das Schreien und Schimpfen ein. »Bringt sie in meine Opferkammer«, sagte die Hexe. »Ich finde sie amüsant.« »Lass sie in Frieden!«, brüllte Myc. »Genau!«, schrie Lily. »Lasst mich los!« Die Bluthexe lachte. Es war ein kaltes Lachen, das so gar die drückende Hitze kurz verdrängte. »Warte, bis du an der Reihe bist, Junge«, knurrte sie. Sie gab den Zom bies einen Wink, und die Diener zerrten eine die Rakdos immer noch mit Schimpfworten überhäufende Lily durch die Menge. Myc merkte, wie ihm die Knie zitterten, als Lily aus seinem Blick verschwand und Izolda auf seinen Käfig zuschlich. 272
»Und jetzt zu dir«, zischte sie. »Das Mädchen wird eine feine Dienerin abgeben, aber dich wird ein anderes Schicksal erwarten. Macht dir das Angst?« Myc antwortete erst einmal nicht. Mit heldenhafter An strengung biss er sich fast die Unterlippe durch, um nicht loszuheulen. »Nein«, spuckte er ihr dann trotzig entgegen. »Das sollte es aber«, sagte die Bluthexe und streckte ih re Hand in den Käfig. Myc versuchte, sich in die Ecke zu drücken, um aus ihrer Reichweite zu kommen, und be wegte seinen Kopf hin und her, aber es nützte nichts. Mühelos fuhr die Hexe ihm mit der Spitze ihrer Klaue über die Stirn, um Bluttropfen aufzusammeln. »Ja«, zischte Izolda. »Dieser hier ist es.« Sie nickte einem weiteren Paar affenartiger Diener zu. Die beiden zerrten einen um sich tretenden Myc aus seinem Käfig, brachten ihn aber zu seiner Überraschung nicht in dieselbe Rich tung, in die Lily verschwunden war. Stattdessen schlepp ten sie ihn zu einem verzerrten und verrosteten Abbild eines selesnijanischen Vezbaums, der vor der Lavagrube in den Boden gerammt worden war. Seine Haut wurde immer heißer, je näher sie der Grube kamen. »Dieser hier ist was? Dieser hier ist was, verflucht noch einmal?«, brüllte Myc, als die Zombies ihn auf den unter sten »Ast« des eisernen Abbilds zerrten und seine Handge lenke mit rauen, schmerzenden Seile an die Zweige ban den. Immer mehr Zombies kamen und bildeten einen Kreis um ihn. Die Bluthexe hatte sie zusammengerufen, anscheinend steuerte das wilde Fest jetzt seinem Höhe punkt zu. Als seine Beine ebenfalls mit rauem Seil an den 273
eisernen Baum gebunden waren, rückten sie noch näher, ohne ihn jedoch zu berühren. Es schien, als würden sie ihn für ihre Herrin übrig lassen. Auch wenn er unbeschreibliche Angst hatte – Myc machte sich noch größere Sorgen um Lily. Er konnte nicht sagen, wohin sie verschleppt worden war und oder was mit ihr geschehen würde. Er benutzte seine Wut, seinen Zorn und Hass auf die Rakdos als Schild, der ihn vor der Angst um sich selbst schützte. Myc zerrte mit aller Kraft an den rauen Seilen. Er hatte ein ganz kleines bisschen Spielraum, konnte aber mit seinen Händen nicht durch die geflochtenen Fasern schlüpfen. Vielleicht fand er ja am Metall des Baums eine scharfe Kante, über die er das Seil hin- und herziehen konnte, um es aufzudröseln ... Izolda streckte ihre klauenbesetzten Hände in die Luft und hob in einer seltsam bellenden, kehligen Sprache zu singen an. Die Kultisten stimmten in den Gesang ein, von dem Myc nur ein einziges Wort verstand, einen Namen: Rakdos. Der Schänder. Er spürte, wie ihm das Blut an den Handgelenken her unterlief, aber Myc zerrte nur umso kräftiger an den Sei len.
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Fonn hatte erwartet, dass Jarad schnell sein würde. Sie
hatten ihre Probleme miteinander gehabt, weil sie in
einigen Punkten einfach sehr verschieden waren. Da
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waren unterschiedliche Erwartungen, unterschiedliche Interessen, Ziele und Berufungen. Und diese Differenzen hatten sich im Laufe der Jahre aufgetürmt, bis sie eines Tages unüberwindbar gewesen waren – jedenfalls dann, wenn es so viel einfacher war, sich zum Dienst auf die Landstraße oder in die Gildenhalle zurückzuziehen, statt darüber zu reden. Aber unabhängig davon, wie sie inzwi schen zueinander standen – Fonn hatte es noch nie er lebt, dass Jarad gezögert hatte, wenn es um seinen Sohn ging. Aber selbst sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Golgari-Gildenmeister in so kurzer Zeit eine so große Suchtruppe auf die Beine stellen würde. Hippogreifen, düstere Fledermäuse, Mantikore und ein paar Riesenraben begleiteten den Devkarin, als er aus dem Himmel über der weiten Ebene auf die Straße nach Utvara zuflog. Jarad saß rittlings auf seinem persönlichen Reittier, der Riesenfledermaus Vexosh. Eine weitere Fle dermaus ähnlicher Größe führte er an einer langen Leine mit sich. »Vergeude keine Zeit mit dem Landen«, rief Fonn ihm zu. »Flieg einfach etwas niedriger.« Der Devkarin nickte und winkte ihr zu. »Mach dich bereit«, rief er zurück. Jarad zog seine Fledermaus direkt auf die Ledev-Zenturiadin zu und führte die reiterlose Fledermaus hinter sich her. Kurz bevor es zu spät war, sich wieder hochzuziehen, ließ er die Leine los. Die zweite Fledermaus flog weiter auf Fonn zu, und in letzter Sekunde sprang die Elf in in die Luft. Sie fing die Zügel, drehte sich in der Mitte ihres Saltos und landete mit quietschendem Geräusch im Sattel. Fonn zog 275
kräftig an den Zügeln und zwang die Fledermaus zu einer engen Kurve, die sie neben Jarad brachte. »Was ist passiert?«, rief er ihr zu. Er brüllte nicht, son dern verwendete seine »Gildenmeister-Stimme«, wie Fonn sie nannte. Sie durchdrang den Krach, ohne zu emotional oder verzweifelt zu klingen. Er verwendete sie, wenn er im Auftrag der Golgari Verhandlungen führte. Sie war auch von hohem Nutzen, wenn man mit der höchsten Geschwindigkeit, die Fledermäuse erreichen konnten, durch die Luft schoss. Und die uralte Abart, die seit Jahr tausenden von den Golgari gezüchtet wurde, konnte schon ein ganz schönes Tempo vorlegen. Sie erreichten zwar nicht ganz die Geschwindigkeit einer Observokugel oder eines Rocs, aber sie waren mehr als schnell genug für die Unterstadt, wo es für fliegende Wesen eher auf Wendigkeit als auf Geschwindigkeit ankam. Fonn schloss kurz die Augen, um sich auf den Gesang einzustimmen. »Tiefe. Er befindet sich irgendwo unter der Erde. Wir müssen zurück in die Unterstadt. In Rich tung Stadtmitte. Wahrscheinlich ...« »Rix Maadi. Dieser verdammte Kaninchenbau«, sagte Jarad und schickte ein paar ausgewählte Devkarin-Flüche hinterher. »Ich hätte das Nest abfackeln lassen sollen, als ich die Gilde übernommen habe. Wir brauchen wirklich keine ...« »Bring uns einfach so schnell dorthin, wie du kannst«, bat Fonn. »Sobald Myc und die anderen in Sicherheit sind, helfe ich dir persönlich, das Feuer zu legen.« Jarad nickte. »Hier entlang. Wir fliegen den Weg zu 276
rück, auf dem ich gekommen bin.« Während sie Jarad in einen Zugangstunnel folgte, der sie nach Alt-Ravnica führte, erklärte Fonn ihm die Einzel heiten über die Entführung ihres Sohnes. Laut kreischend folgten die Wesen ihnen, und gelegentlich musste sie brüllen, um die Geräusche der Missbildungen zu übertö nen. Fonn vermutete, dass sie nicht mehr so gefordert gewesen waren, seitdem Savra sie ausgeschickt hatte, um die Innere Festung anzugreifen. Jarad überraschte sie erneut, da er nicht versuchte, ei nen Streit vom Zaun zu brechen. Er gab ihr noch nicht einmal wieder die Schuld an der ganzen Situation, wie sie das eigentlich erwartet hatte. Stattdessen schien er eine Ahnung zu haben, warum die Rakdos zu Kidnappern geworden waren. Wenn man der Anführer einer Gilde war, die den größ ten Teil von Alt-Ravnica kontrollierte, kam einem so eini ges an Gerüchten zu Ohren. Jarad hatte zusätzlich noch die ihm gehorchenden Insekten, was ihm einen weiteren Vorteil verschaffte. Dank seiner speziellen mentalen Ver bindung mit den Käfern war es für ihn relativ einfach, hinter die Geheimnisse seiner Verbündeten und Feinde zu kommen – und ebenfalls hinter die seiner potenziellen Verbündeten und Feinde. Als er Fonn zum ersten Mal begegnet war, hatte er sie mithilfe der Käfer gefangen gehalten. Ihr gegenseitiges Kennenlernen war ohnehin unter vielen Gesichtspunkten sehr seltsam verlaufen. Jarad erzählte ihr, dass er diesmal die Insekten nicht benötigt habe, um herauszufinden, dass der Rakdos-Kult 277
etwas vorhatte. Überall waren Ratten, berichtete er. Im Lauf der letzten Woche hatten sich Berichte gehäuft, dass Ratten ganze Kolonien von Untoten aufgefressen hätten, von den Auswirkungen für die Insektenbevölkerung ganz zu schweigen. Ratten waren die Vorboten des Dämonen gottes Rakdos, des Paruns und nominellen Gildenmei sters des Kultes. Der Kreislauf der Gewalt lief weiter, und diese eine Speiche im Rad drehte sich mit tückischer Präzision. Jarad erklärte ihr seine Vermutungen, darunter einen sehr exakten und erschreckenden Grund dafür, warum die Pfadfinder verschleppt worden sein konnten. Panik überkam Fonn. Sie rammte ihre Hacken so fest in die Seite ihres Reittiers, dass die Kreatur sich mit lautem Fiepen beschwerte. Sie hatten mehr als die halbe Strecke nach Rix Maadi geschafft, als sie einen ohrenbetäubenden Krach über sich hörten, der die Missbildungen so erschreckte, dass sie noch mehr Lärm machten. Aber das war kein Grund, das Tempo zu verlangsamen. Was auch passiert war – es hatte nichts mit Myc zu tun. Fonn konnte ihn immer noch im Gesang hören, direkt vor ihnen. Die neue Katastrophe würde sich hinten an stellen müssen.
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Der Krach hatte tatsächlich nichts mit Myc zu tun, jeden falls nicht direkt, aber er konnte ihn ebenfalls hören.
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Allerdings war der Krach für den jungen Pfadfinder nur ein Teil des johlenden und dröhnenden Albtraums, zu dem sein Leben geworden war. Er erinnerte sich an einen der vielen Jagdausflüge, die sein Vater mit ihm durch die Wildnisse der Unterstadt unternommen hatte. Es war sein erster Ausflug im kalten, unterirdischen Winter gewesen, und in der ersten Nacht war der Junge zu dicht am Lagerfeuer eingeschlafen. Er war eine halbe Stunde später aufgewacht und dachte, sein Gesicht müsse in Flammen stehen. Das traf nicht ganz zu, aber er war den Flammen doch so nahe gekom men, dass er ordentliche Brandverletzungen davongetra gen hatte. Die Hitze, die nun aus der Lavagrube aufstieg, war viel, viel schlimmer, und er konnte ihr nicht entfliehen. Er hatte das Gefühl, dass es immer heißer wurde. Der Teil seines Gehirns, der für die Vernunft zuständig war, ver suchte ihm einzureden, dass er einfach gar gekocht wur de und es nicht heißer werden konnte. Aber es fühlte sich halt so an. Myc Zunich hatte in seine elf Jahre eine ganze Menge Lernen und Erwachsenwerden gepackt. Aber dennoch war er erst elf Jahre alt, und ein Viertel des Bluts in seinen Adern war menschlichen Ursprungs. Es dauerte nicht lange, und seine tapfere Miene wurde von Schmerz, Hitze und Angst weggewaschen. Er hatte es aufgegeben, an den Seilen zu zerren. Das eine schien auszufransen, aber das andere wollte sich gar nicht verändern – und außerdem hatte er einfach keine Kraft mehr. Die ersten Minuten 279
hatte er seine Kidnapper noch angebrüllt, dann nur noch Kraft zum Weinen gehabt. Jetzt war seine Kehle so trok ken und heiser, und die Hitze wurde so intensiv, dass er seine ganze Aufmerksamkeit darauf verwenden musste, noch Luft zu bekommen. Und das war nicht ganz einfach. An den Gestank und die dicke, rauchdurchsetzte Luft konnte man sich nicht so leicht gewöhnen, ebenso wie man sich auch nicht an die Schlachtstraßen in Schlachthöfen gewöhnen konnte. Die Wände waren inzwischen mit einem dichten Teppich aus Ratten besetzt, von denen immer wieder eine ihren Halt verlor, in die Lava fiel und dort in einer Rauchwolke zer platzte. Myc keuchte jämmerlich. Der Gesang ebbte ab und endete in allgemeinem Miss klang und Lärm. Die Menge teilte sich dank den stachel besetzten Knüppeln von Izoldas Leibgarde. Die Bluthexe schritt zielgerichtet auf den nachgebildeten Baum zu. Sie hatte ihre Klauen eingezogen – oder vielleicht auch abge legt. Mit einer Hand trug sie eine kleine, flache Silber schüssel, in der etwas zähflüssig schwappte, das den Feu erschein widerspiegelte und mit innerer Magie glomm. Mit der anderen Hand umklammerte sie ein gezacktes Messer mit gravierter Klinge, das so lang wie Mycs Arm war. Ihren vernarbten Mund hatte sie zu einem skelettar tigen Grinsen verzogen. Sie hatte während des Gesangs ihren Schädel und ihre Arme in blutgetränkten Stachel draht gewickelt. Izolda reckte die Schüssel und die Klinge über ihren 280
Kopf, als wollte sie beides Myc opfern. Sie nahm ihren rhythmischen, kehligen Gesang wieder auf, in den die Kultisten rund um sie herum nach und nach ebenfalls wieder einfielen. Alle Geräusche vereinigten sich in ein gemeinsames Grölen. Die Bluthexe blieb fast eine Minute lang in dieser Haltung stehen, bis sie den gemeinsamen Blutdurst aller Kreaturen im ganzen Raum vereinigt hatte. Mit einem Geräusch, das halb ein Heulen, halb ein Schrei war, senkte die bleiche Hexe langsam und bis aufs Äußerste konzentriert ihre Hände. Die Sprechgesänge gingen weiter und wurden durch die blutdürstigen Prie ster immer wieder aufs Neue angefacht. Während sie die Hände senkte, lösten sich ihre Füße vom Boden. Eine Wolke aus dunkler, wirbelnder Energie hob sie in die Luft und ließ sie schweben. Izolda glitt auf ihn zu, heulte ihre schreckliche Klage und bohrte ihre leeren weißen Augen in Mycs von der Hitze eh schon verwirrten Verstand. Er strengte sich an, klar zu denken, aber die flammen de Grube hinter ihm kochte ihn bei lebendigem Leib – kein besonders hilfreicher Umstand, wenn man klar den ken wollte. Er konnte der Hitze nicht entfliehen. Izolda kam immer näher, und auch aus allen anderen Richtun gen schlugen Klauen, Finger und aus gezackten Knochen fabrizierte Waffen nach ihm. Die Fesseln waren zu stark. Er war doch nur ein Kind. Es dämmerte ihm, dass er wohl bald sterben würde. Mycs Stimme hatte sich bereits verabschiedet. Er konn te noch nicht einmal mehr rufen. Aklechin und Orval befanden sich immer noch in ihren Käfigen, aber selbst 281
wenn er ihnen etwas hätte zurufen können – was konn ten sie schon tun? Nichts. Was konnte Myc noch tun? Nichts. Und was würde Izolda mit ihm anstellen? Nichts Gutes.
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»Das ist nicht gut«, keuchte Pivlic. »Das ist gar nicht gut.« Seine schmerzenden Flügel trugen den Bold in einer Geschwindigkeit, die man nur bewundern konnte, in Richtung Ravnica. Aber Bolde waren eigentlich nicht für längere Flüge gebaut, und die Anstrengung wurde ihm langsam zu viel. Kurze hohe Sprünge oder das Manövrie ren durch enge Gänge, das lag ihm viel mehr. Immerhin hatte er es geschafft, die Nephilim zu überholen. Die dicht nebeneinander stehenden, würfelförmigen Türme der Vorstädte hatten das Fortkommen der drei verbliebe nen Monster deutlich verlangsamt, und Pivlic konnte einen Vorsprung gewinnen. Die Nephilim schienen nicht in Eile zu sein, wichen aber auch nie von ihrem Kurs ab. Pivlic hätte sich nie als besonders gefühlsvoll bezeichnet, aber er war erschrocken, als er sah, welche Spur der Verwüstung die riesigen Monster hinterließen. Und dies war nur eine Fortsetzung dessen, was sie mit Utvara an gerichtet hatten. Pivlic wollte gar nicht wissen, was in der noch viel dichter besiedelten Stadt geschehen würde. Hier hatte er schon hunderte Leichen gesehen, die teils angefressen, teils von einem der drei Monster zerquetscht entlang der Straße lagen. Und sicher ebenso viele waren 282
von den hungrigen Monstern gefressen worden. Überall waren Geister zu finden, die meisten davon Wundensu cher, die nichts gegen die Monster ausrichten konnten, die für ihren Tod verantwortlich waren. Pivlic hatte Glück, dass die Wundensucher am Boden blieben und die riesigen Nephilim ankreischten, obwohl sie damit nichts erreichen konnten. Diese rachsüchtigen, verrückten Gei ster konnten den Lebenden großen Schaden zufügen, wenn sie wollten – aber nicht den Nephilim. Pivlics Glück war das Pech der Überlebenden des Blutbads, denn die Geister verursachten nur noch weitere Panik. Die meisten flohen in Richtung Stadt – und das würde ihnen am al lerwenigsten helfen, wenn die Nephilim ihren Kurs bei behielten.
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Das schartige silberne Messer schnitt nicht glatt durch die Haut von Mycs Handfläche. Der Schnitt tat weh. Die Spit ze bohrte sich in das Fleisch und riss die Haut auseinan der, sodass rund um die Klinge das Blut nur so heraus sprudelte. Der junge Pfadfinder wollte schreien, aber seine trockene und geschwollene Kehle gab nicht mehr als ein heiseres Husten her. Die Rakdos-Bluthexe nagelte ihn mit einem starren Blick aus ihren weißen Augen fest, der ihm wie ein Speer in die Seele fuhr. Die faserigen Seile schnitten noch fester in seine Haut, als er diesem grausamen, entsetzlichen Gesicht zu entkommen versuchte. Aber er war wie ver 283
steinert. Der Schmerz in der Hand war unerträglich, und das wenige Wasser, das noch in seinem Körper verblie ben war, rann aus seinen Augwinkeln. Izolda vergeudete keinen Tropfen von Mycs Blut und hielt die silberne Schale direkt unter die tropfende Hand. Die dunkelrote Flüssigkeit tropfte auf die seltsame Masse, die sich bereits in der Schale befand, und schwamm auf ihr wie Öl auf Wasser. Eine ganze Minute lang hielt die Rakdos-Hexe die Schüssel unter Mycs Hand und fing sein Blut auf, bis sie anscheinend mit der Menge zufrieden war. Dann drückte sie die glühend heiße flache Seite der Klinge ohne Vor warnung gegen die blutende Handfläche. Myc bekam nur eine Mischung zwischen einem Quietschen und einem Krächzen heraus. Die Wunde wurde ausgebrannt, und anschließend zog Izolda das Messer weg. Myc konnte riechen, wie sein eigenes Fleisch verbrannte. Er wollte würgen, aber sein Magen war bereits leer. Die Priesterin begann erneut mit einem misstönenden Sprechgesang, und die Masse stimmte ein. Myc hatte noch nie so etwas wie diese Rakdos-Versammlung gese hen. Es schienen immer mehr Leute zu werden, obwohl auch immer wieder Todesschreie zu hören waren. Er hatte den Eindruck, dass jeden Moment irgendein Kultist irgendeinen anderen aus beliebigem Grund anfallen konnte. Ihr böses Gelächter hallte durch Rix Maadi, störte den Rhythmus des Sprechgesangs und zog sich durch die Menge. Es schien von ... Clowns auszugehen? Zumindest für Myc sahen sie wie Clowns aus. Das war 284
die beste Beschreibung, die er für sie finden konnte, ob wohl es sicherlich nicht die Sorte Clowns war, die ein Kind sehen wollte. Es waren fette, deformierte, vernarbte Wesen, die wie Menschen aussahen, zumindest beinahe. Sie trugen zerlumpte Parodien von Gesellschaftskleidung: Westen mit weißen Knöpfen und zerfetzten Ärmeln, Zy linderhüte, die auf einer Seite verbeult waren, fingerlose weiße Handschuhe, Hosen mit Nadelstreifen und riesige rote Schuhe mit lächerlich überdimensionalen Schnallen. Allein diese Verkleidung war noch nicht so furchterre gend. Aber die Schnallen waren anscheinend aus Bruchstük ken von Menschenschädeln gefertigt. Die Westen waren aus bleichem, kaum gegerbtem Leder mit dunklen Sprit zern zusammengenäht. Die Häute kamen nicht von Tie ren, die Myc kannte. Auch die Mäntel und Hosen waren mit getrocknetem Blut besudelt, und die Westen- und Manschettenknöpfe waren kleine Knochen. Die Hüte blieben nur deswegen auf ihren Köpfen, weil sie mit ei nen langen Nagel durch die Krempe im Schädel befestigt waren, wie es aussah. Sie jonglierten mit brennenden, unregelmäßig geformten Gegenständen – aus der Entfer nung konnte Myc nicht genau erkennen, um was es sich handelte, und er wollte es lieber auch nicht so genau wissen. Die Clowns versuchten, mit Einzelnen ihre Scher ze zu treiben, wurden aber weitestgehend vom Rest der Masse ignoriert. Aber nicht nur die hässlichen Clowns gaben der Folte rung den Rahmen eines Jahrmarkts. Verschiedene Es 285
sensverkäufer wanderten zwischen den Pilgern umher und priesen lautstark ihre Waren an. Überall brandeten Kämpfe auf, Schlägereien, Messerstechereien, fröhliches Morden und sonstiges Blutvergießen gehörte bei den Musikanten, Tänzern, Priestern und Krawallbrüdern an scheinend zum guten Ton. Der nächste Sprechgesang der Bluthexe zog Mycs Aufmerksamkeit wieder zu ihr hin. Es war ein tiefer Ge sang mit einem regelmäßigen Rhythmus. Trotz allem, was um ihn herum geschah, und trotz der unmenschli chen Hitze drohte Myc einzuschlafen. Vielleicht war der Blutverlust mit daran schuld. Er bezweifelte, dass er noch viel mehr aushalten konnte. Sein Blut. Es befand sich immer noch in dem kleinen Mischbottich, doch die Bluthexe hatte inzwischen ihren unheiligen Dolch an ihrem Gürtel verstaut und hielt die Schüssel mit beiden Händen über den Kopf. Sie schwebte in einem lockeren Kreis um den Eisenbaum und betrach tete ihn die ganze Zeit mit ihren weißen Augen. Plötzlich merkte Myc, dass er die meisten Worte von Izoldas neuem Gesang verstand. Ein Brechreiz überkam ihn. Sie sang nicht in einer unbekannten Dämonenspra che, wie er zuerst vermutet hatte, sondern in einem mit schwerem Akzent versehenen einfachen Ravi. Auch der Satzbau war äußerst altertümlich: »Versklaver, um die Welt zu übernehmen, um die Welt zu versklaven, Schänder, Verschlinger des Lebens, erhebe dich! 286
Meister der Dämonen, verschlinge diese Zwietracht,
Schlürfe das Blut der Unschuldigen,
Lass deine Botschafter die neue Zeit verkünden.«
Und das war nur die erste Strophe. Es ging immer so wei ter, bei jedem neuen Durchgang ging es wieder um Rak dos’ Erwachen, Rakdos als Schänder, Rakdos im Allge meinen und um alles, was der Dämonengott je war und in Zukunft sein würde. Angenehm war es nicht. Izolda streckte ihre leere Hand aus, und mit einem Knacken fuhren ihre Klauen aus den Fingerspitzen her aus. Sie tunkte diese langen Stahlnägel in die Schüssel, rührte sie drei Mal um und verspritzte dann Tropfen der Mischung aus dem Blut und dieser seltsamen Masse über der glühenden Lava unter ihr. Die Tröpfchen zischten und brutzelten, als sie auf die brodelnde Oberfläche fie len. Myc wusste genau, wer der Schänder war, und hatte nicht wenig Angst vor ihm, seit er erkannt hatte, dass sie sich in Rix Maadi befanden. Der Dämonengott Rakdos war in vielen Bereichen der am wenigsten Interessierte unter den Gildenmeistern, die, wenn man von der Erfahrung seines Vaters ausgehen durfte, mindestens so viel Zeit mit Politik wie mit der Leitung der Gilde verbrachten. Aber wenn sich Rakdos mit dem Geschehen innerhalb und außerhalb seiner Gilde beschäftigte, machten die Thrill-Killer die Zeit wett, in der man nichts von ihnen gesehen und gehört hatte. Beim letzten ihrer »Festivals«, das sie auf den Straßen von Rav 287
nica ausgetragen hatten, hatte das die Stadt hunderte von Wojeks gekostet, und mehrere Häuserblocks waren kom plett zerstört worden, bevor die Ordnungshüter die Rebel lion niederschlagen konnten. Das war allerdings lange, bevor Myc geboren wurde, geschehen. Myc hatte früher nicht verstehen können, warum der Gildenbund einer der Gilden erlaubte, nur für Gewalt und Tod zu leben. Aber die Geschichten, die ihm seine Mutter erzählte, erinnerten ihn auch immer wieder daran, dass Gewalt und Tod genauso ein Teil des Lebens waren wie Freundschaft, Ehre und Liebe. Die Rakdos-Bergleute be schafften das Rohmaterial, aus dem die Welt gebaut wur de. Rakdos-Söldner erfüllten ebenfalls ihren Zweck. Nicht, dass seine Mutter die Rakdos gemocht hätte. Rakdos waren Mörder, aber auch das war relativ zu se hen. Fonn hatte ihrem Sohn erklärt, dass es auch einige Leute gab, die seinen Vater als »saprophytischen Zom biemeister« bezeichneten, der »dank des Todes gut gedei he«, wie eine gewisse Zeitung ihm bescheinigt hatte. Und das war sogar noch zu einer Zeit gewesen, bevor Mycs Eltern sich getrennt hatten. Es gab selbst Leute, die das ehrenwerte Selesnija-Konklave hassten – allerdings war es kein Zufall, dass es sich dabei hauptsächlich um Rak dos handelte. Irgendwann hatte der Junge dann die Logik dahinter erkannt und verstanden, wie der Gildenbund die Welt in der Waage hielt. Myc war ein kluges, manchmal auch altkluges Kind und gern stolz darauf, Recht zu haben, besonders weil es so häufig vorkam. Aber diesmal war es nur ein schwacher 288
Trost, Recht gehabt zu haben. Als Izoldas kreischender Gesang seinen Höhepunkt er reichte, entstieg der Dämonengott Rakdos der Lavagrube.
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Kapitel 12
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Die Gruul nennen sie »Nephilim«: die Beute, die nicht ster ben will. Sie sind ein Gottesbeweis dafür, dass die Gruul nie die Jagd aufgeben dürfen. Und das ist nur eine von vielen Sehenswürdigkeiten, die Sie erwartet. Aber Sie müssen nicht um Ihre Sicherheit besorgt sein, denn für die HuskeAbenteuerreisen werden gemütliche, luxuriös ausgestattete Lokopeden eingesetzt. Nur hier bekommen sie sowohl Gruul-Führer als auch eine eiserne Orzhov-Garantie! Ris kieren Sie nicht Ihr Leben und das Leben Ihrer Familie, wenn sie das wilde und mysteriöse Utvara besuchen! Wei tere Informationen erhalten sie in der Gaststätte »Zum Geflügelten Bold«, Utvarazi-Straße 8. Legen Sie diese Anzei ge vor – und Sie erhalten zehn Prozent Rabatt! Werbezettel für Huske-Abenteuerreisen, 10012 Z. C.
31. Cizarm 10012 Z. C. Pivlic stürzte ab. Er fiel unablässig. Er hörte gar nicht mehr auf zu fallen. Beinahe verlor er das Bewusstsein. Ein Teil seines Gehirns, das noch zu arbeiten schien, sag te ihm, dass er so hoch geflogen war wie noch nie zuvor – aber besser fühlte er sich dadurch nicht. Das Fliegen in 290
der Höhe hatte ihn mehr Kraft gekostet als erwartet, er war erschöpft und bekam kaum noch Luft. Plötzlich und unerwartet endete der Fall mit einem Aufprall und einem Gefühl, in die Höhe getragen zu wer den – und zwar nach Osten. Pivlic stellte überrascht und auch etwas erleichtert fest, dass sein abrupter Rich tungswechsel verhindert hatte, dass sein Absturz wie ein normaler geendet hatte. Ein paar Umstände waren an ders. Zudem war er immer noch am Leben. Und was noch besser war: Er schwebte auch wieder durch die Luft. Rocs hatten keine normale Sprachfähigkeit, und nach Pivlics Erfahrung dachten sie auch nicht wie Bolde, Elfen oder Menschen. Es waren halt nur Vögel – große Vögel. Sie dachten so, wie Vögel dachten. Doch Rocs waren für Vögel immer noch außergewöhnlich klug, und die gut ausgebildeten Rocs der Luftjeks waren vielleicht die be sten von allen. Dieser hier war jedenfalls klug genug ge wesen, um Pivlic mit seinem Rücken aufzufangen, aber das erklärte immer noch nicht, warum der Bold in einem leeren Sattel gelandet war. Der Roc hingegen hatte einfach nur versucht, seinen Reiter wieder zu finden und Pivlic entdeckt, der steil nach unten fiel. Der Vogel hatte festgestellt, dass der fallende Bold in etwa die Größe von Flang hatte, und entspre chend reagiert. Immerhin, für einen Vogel war das klug. Pivlic konnte das nicht ahnen, und es interessierte ihn auch nicht, aber der Roc war erleichtert. Auf dem Sattel zu landen war etwas anderes, als im Sattel zu sitzen. Pivlic, der erschöpft auf dem Bauch lag 291
und überrascht war, noch am Leben zu sein, bemerkte, dass er zu rutschen anfing. Er klammerte sich mit beiden Händen am Leder fest. Dank seinen winzigen Krallen konnte er sich ausreichend gut festhalten. Mit seiner rest lichen Kraft zog er sich in den Sattel hoch. Er musste behutsam vorgehen, damit der Wind sich nicht in seinen eigenen Flügeln verfing und ihn wegtrug. Als er es ge schafft hatte, griff er nach den herumflatternden Zügeln. Der Roc stieß einen Schrei aus. Pivlic, dessen empfind liche Ohren auf das laute Geräusch nicht vorbereitet wa ren, ließ vor Schreck fast wieder los. Er kam mit seinen kurzen Beinen nicht ganz an die Sporen heran und drück te daher seine Beine so fest zusammen, wie er konnte. Diese Muskeln waren wenigstens noch ausgeruht. Pivlic war ein Flieger, aber normalerweise bewegte er sich aus eigener Kraft durch die Luft. Trotzdem konnte es ja nicht so schwer sein, im Sattel sitzend zu fliegen, wie es die Menschen taten. Natürlich war es beschämend für ihn, aber gewisse Dinge mussten einfach getan werden, wenn der Teufel auf Besuch kam, wie das Sprichwort sagte. Er hatte beide Zügel in der Hand. Der eine führte zur linken Seite des Vogelkopfs, der andere zur rechten. Es war wahrscheinlich nicht anders, als ein Dromad zu rei ten, und auf so einem Vierbeiner hatte er schon gesessen. Zwar nur als Passagier hinter Kos, aber er hatte genau aufgepasst. So schwer konnte das nicht sein. »Hallo, mein neuer Freund«, sagte Pivlic mit dem, was von seiner leutseligen Gastwirt-Stimme übrig geblieben 292
war. »Ich glaube, ich werde deine Hilfe für die nächste Zeit brauchen. Als Erstes werde ich gleich diese Zügel ausprobieren. Wirf mich bitte dabei nicht ab.« Er bezwei felte, dass der Vogel seine Worte verstand, aber die sei denweiche Stimme des Bolds hatte schon ganz andere Wesen besänftigt. Und es beruhigte die Nerven, wenn man viel redete, musste er sich eingestehen. Er zog probeweise kurz an einem der Lederriemen. Der Roc bewegte den Kopf nach rechts und machte keine Anstalten, seinen Passagier abzuwerfen. So weit, so gut. Er drehte eine größere Schleife in der Luft, kehrte den Vorstädten den Rücken und flog wieder auf die drei riesi gen Nephilim zu, die gerade einen neuen Weg zu den Stadttoren anlegten. Der bergähnliche, den er »Stampfer« getauft hatte, war gerade dabei, einen Wasserturm um zuwerfen. Die Zerstörung übte eine makabre Faszination auf Pivlic aus, der mit ansehen konnte, wie der Turm seinen Kipppunkt erreichte. Ein Wasserschwall schwapp te über den Rand, bevor der Nephilim die letzte Stützstre be zerknickte, worauf der ganze Turm das Dach eines Hauses eindrückte und unter sich begrub. Hier waren nicht ganz so viele Leichen zu sehen, auch wenn viele Körper im Wasser trieben. Pivlic schrieb das den fliehen den Menschenmassen zu, die sich durch die Ausfallstra ßen der Vorstädte schoben. »Glitscher«, das Schlangenwesen, war noch ein Stück vor Pivlic. Es wand sich gerade um einen anderen Turm herum, der daraufhin einzufallen begann. Mit seinen 293
Klauenhänden riss der Nephilim erschreckte Bewohner aus den Fenstern und stopfte sie sich in sein mahlendes Maul, während das unheilvolle Auge alles genau beobach tete. Der auf seinen Tentakeln tänzelnde »Hirni« hatte die Führung übernommen und riss ab und zu ein knollen förmiges Etwas von seinem Kopf ab, um es im Vorbeige hen auf ein nahe gelegenes Gebäude zu schleudern. Die Treffer sorgten meist für irreparable Schäden und noch mehr verängstigte Bewohner, die auf die Straßen stürz ten, wo sie vom Mob mitgerissen wurden. Es herrschte das reinste Chaos. Ab und zu konnte Pivlic noch verzwei felte Wojeks entdecken, die sich vergebens bemühten, die Flüchtlingsströme zu koordinieren. Der Roc beruhigte sich etwas, als er sich an Pivlics Ge wicht gewöhnt hatte, und der Bold fühlte sich schon bald wohl, auf breiten goldenen Flügeln getragen zu werden. Im Gegensatz zu ihm waren Rocs für Langstreckenflüge geeignet, und Pivlic bewunderte das mühelose Gleiten des großen Vogels. Die Ruhepause gab ihm etwas Zeit zum Nachdenken. Er suchte die Silhouette der Metropole nach den riesigen Steinwächtern ab. Die neun alles überragenden Statuen würden sicher mit den marodierenden Monstern kurzen Prozess machen. Pivlic hatte vorgehabt, sie zu warnen, doch sicherlich wussten die Boros und Wojeks inzwi schen schon, was für eine Gefahr da auf die Stadt zukam. Aber die neun verbliebenen Titanen standen immer noch dort, wo sie schon seit tausenden von Jahren stan den. Sie hatten sich nicht bewegt – wie damals, als Zobor 294
in der Schlacht bei der Zehntausendjahresfeier fiel. Wenigstens konnte der Bold die winzigen Umrisse der »anderen« Luftjeks erkennen. Mehrere Geschwader stie gen von der Innenstadt auf, kleine Punkte vor der hellen Scheibe der aufgehenden Sonne. Er fragte sich, was RocReiter gegen die Nephilim wohl ausrichten konnten, stell te dann aber fest, dass sie in eine andere Richtung flogen. Sie bewegten sich auf eine andere große, goldene Scheibe zu – das Parhelion? Ja, es war das Parhelion. Die Festung der Engel war auf Kollisionskurs mit den weißen Türmen von Prahv. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, als er ahnen konnte, dass die Roc-Reiter die im Sinkflug befind liche Festung nicht mehr rechtzeitig erreichen würden. Und selbst wenn sie es geschafft hätten – was hätten sie tun können? Die fliegende Festung landete mit einem ohrenbetäu benden Lärm, der die röhrenden Nephilim und die ein stürzenden Gebäude bei weitem übertönte, auf dem Se natsgebäude. Besser gesagt, genau in seiner Kuppel. Das durchsichtige Dach des Azorius-Senats wurde einge drückt und stürzte zusammen. Zudem hatte das Parhelion auch drei der sechs Türme der Gerechtigkeit zum Ein sturz gebracht. Sie krachten wie riesige versteinerte Bäu me um und hinterließen nicht mehr als glitzernden Staub. Riesige Staubwolken stiegen in der Landeschneise des Luftschiffs auf, Schutt und Trümmer spritzten in alle Richtungen. Pivlics Instinkt setzte sofort ein. Er bohrte dem Roc seine kleinen Füße in die Seite und lenkte den Vogel zur 295
Absturzstelle. Er hatte ohnehin vorgehabt, dorthin zu fliegen, da er Teysa vor den Nephilim warnen wollte. Jetzt war ein Rettungseinsatz daraus geworden, wie es schien. Es gab immerhin die Möglichkeit, dass seine Baronin überlebt hatte. Und falls nicht, musste er ausreichende Beweise sammeln, die er dem Obzedat vorlegen konnte. Inzwischen hatte sich die Staubwolke rund um das zer störte Azorius-Gebäude so weit ausgebreitet, dass sie die Roc-Reiter verschluckte. Dafür konnte man besser erken nen, in welchem Zustand sich Prahv befand. Das Parheli on war tatsächlich genau mitten in dem Gebäudekomplex gelandet. Was vom Senat und den Türmen übrig geblie ben war, schien das Gewicht der fliegenden Festung zu mindest vorerst zu halten. Pivlic bezweifelte allerdings, dass das ein Dauerzustand sein würde. Die Geschwindig keit des Parhelions hatte anscheinend nicht ausgereicht, um das Bauwerk ganz unter sich zu begraben. Es konnte tatsächlich Überlebende geben, die dann jetzt gerade den Bug der fliegenden Festung anstarren mussten. Und die Baronin konnte unter den Überlebenden sein. Und während dies alles geschah, hatten sich die Tita nen kein bisschen bewegt. Ihre alles überragenden Stein körper waren wie erstarrt. Und gleichzeitig näherten sich die Nephilim immer weiter der Stadt. »Warum tun sie denn gar nichts?«, fragte Pivlic den Roc. Falls der Roc es wusste, sagte er es nicht.
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Von ihrem Ausguck oben auf dem Wojek-Hauptquartier in der Inneren Festung aus fragte sich Abschnittskom mandeurin Migellic, die in Nodovs Abwesenheit den Oberbefehl über den Bund der Wojeks hatte, das Gleiche. »Warum sind die Titanen immer noch bewegungslos«, brüllte sie drei Boros-Magier an. Die drei Gildenmagier hatten sich um den Aktivierungsschrein gedrängt, der die Wächtertitanen eigentlich zum Leben erwecken sollte. Der Anführer der Boros-Gildenmagier war ein kahlköp figer, reich tätowierter älterer Zauberer namens Morr. Er hatte einen Ausdruck des Bedauerns im Gesicht. »Es gibt nichts, was wir noch tun können, Kommandeurin«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Die Wächter antworten nicht. Es ist schon viele Jahrzehnte her, seit wir sie zu Hilfe gerufen haben.« Migellic ließ das nicht gelten. »Zobor hat die GolgariHorde vor exakt zwölf Jahren bekämpft«, sagte sie. »Ich will keine Entschuldigungen hören.« »Der zehnte Titan hatte kaum eine Gelegenheit, sich zu bewegen«, sagte Morr ruhig. Er schien sich nicht vom hitzigen Temperament der Kommandeurin anstecken lassen zu wollen. »Die Magie, mit der die Titanen erschaf fen wurden, ist viele tausend Jahre alt, und wir ... Nun, der größte Teil dieses Wissens ist über die Jahre verloren gegangen. Ich muss zugeben, dass wir nicht mehr ganz verstehen, wie sie funktioniert. Jedenfalls nicht mehr vollständig. Es kann sein, dass Zobors Fall die anderen in eine Art Koma geworfen hat. Vielleicht wurde die Magie dadurch ganz zerstört. Aber wenn ich meine persönliche 297
Meinung äußern darf, dann ist das Parhelion der Grund.« »Das Parhelion ist gerade während meiner Schicht auf Prahv gestürzt, während der Kommandeur der gesamten Legion im Senat saß!« Migellic war schon fast wieder am Brüllen. »Und was soll das alles überhaupt miteinander zu tun haben?« »Die alten Berichte lassen die Lesart zu, dass die Engel einen Teil ihrer Macht abgegeben hatten, um die Titanen zu den ultimativen Wächtern von Ravnica zu machen«, erklärte der Zauberer, der sich für Migellics Geschmack zu sehr bemühte, etwas beschränkt zu wirken. »Man könnte annehmen, dass die Engel sich nicht mehr im Parhelion befinden, da sie es sonst nicht genau in die Kuppel des Senats gesteuert hätten. Daher wäre es auch nur logisch anzunehmen, dass die Macht, die sie den Titanen verliehen haben, ebenfalls nicht mehr da ist.« »Das heißt also, die Titanen sind ...« Migellic hatte wie die meisten Wojeks ihr ganzes Leben innerhalb der Stadtmauern von Ravnica verbracht. Die Titanen waren eine ständige Mahnung, dass sie in einer Welt mit Geset zen lebten. Jedes Kind in Ravnica wuchs in dem uner schütterlichen Glauben auf, dass die Titanen da waren, um Ravnica zu retten, sollte jemals ein Unglück über die Stadt hereinbrechen. Der in den letzten Minuten stark erschütterte Glaube machte es Migellic schwer, den Satz zu beenden. »Es sind also ... nur Statuen?«, brachte sie endlich heraus. »Im Moment ist das leider eine ziemlich akkurate Beur teilung«, antwortete Morr. 298
Migellic fluchte und ließ ihre Faust auf den Tisch in der Mitte heruntersausen. Das maßstabsgerechte Modell der Stadt erlebte dabei ein Erdbeben, das drei der Miniaturtürme von Prahv umwarf. »In Ordnung«, sagte sie verzweifelt. »Dann haben wir eben nicht die Titanen, auf die wir zurückgreifen können. Es ist an der Zeit, unsere anderen Reserven zu mobilisie ren.« Sie winkte einen Leutnant heran und gab ihm den Befehl, alle Wojeks von Ravnica als eiserne Reservearmee einzuberufen. »Gib unten Bescheid, dass die Rüstkam mern geöffnet werden«, sagte Migellic. »Belagerungswaf fen und Waffen zur Eindämmung von Massen sind aus zugeben. Lass Stoßtrupps bilden. Und beeil dich!«
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Fonn und Jarad näherten sich allmählich den bienen stockartigen Umrissen von Rix Maadi. Jetzt kapierte die Ledev auch, warum Jarad sich die Mühe gemacht hatte, die kleine Horde an Missbildungen mit sich zu bringen. Sie dienten als Ablenkung, damit die beiden Fledermaus reiter möglichst unbemerkt – ohne aufgehalten zu wer den – in das Innere gelangen konnten. Verhandlungen mit den Rakdos führten ohnehin unweigerlich zum Kampf, und Jarad hatte deshalb diesmal darauf verzichtet, überhaupt reden zu wollen. Die Missbildungen hatten die Rakdos-Wachposten schnell in kleinere Kämpfe verwickelt. Fonn musste zugeben, dass sich die Kreaturen gegen die ebenso wilden 299
und blutdürstigen Gegner ganz gut schlugen. Sie hatte die Missbildungen bisher eigentlich immer als die hässlichen Stiefkinder der ebenfalls nicht allzu hübschen Gilde ihres Exmannes gesehen, aber jetzt gewannen sie einiges an Achtung. Die Rakdos verfügten kaum über Wesen, die fliegen konnten, machten das aber mit ihrer Wildheit wett. Di rekt bevor sie und Jarad das offene Fallgitter erreichten, das ins Innere des Bienenstocks führte, mussten sie mit ansehen, wie ein Hippogreif von einem geschleuderten Felsen abgeschossen wurde. Schnatternde Goblins mit blitzenden Klingen und brennenden Fackeln schwärmten aus und ließen dem armen Tier keine Chance. Innerhalb von Sekunden war von ihm nichts mehr übrig. Seine Schmerzensschreie hatten schlagartig aufgehört. Die meisten anderen Missbildungen hatten mehr Glück. Zwei Riesenraben stritten sich um die besten Teile eines gepanzerten Trolls, dem sie bereits die Augen aus gepickt und die Kehle aufgeschlitzt hatten. Einer der Man tikore war gelandet und hielt mit seinem wild um sich schlagenden Stachelschwanz mutige Goblins auf Abstand, während er mit seinen Löwenklauen wuchtige Hiebe austeilte. Die untere Körperhälfte eines Ogers hing dem Mantikor bereits aus dem Maul und verschwand gleich darauf mit einem gewaltigen Schluck in dessen Schlund. »Mir nach«, rief Fonn ihrem Exmann zu, als sie das rie sige und unförmige Tor durchflogen. Nur Sekunden spä ter waren sie ganz von der schwefligen Atmosphäre ein gehüllt, die im ganzen Gebiet der Rakdos vorzuherrschen 300
schien. Der Bienenstock war offenbar ringweise aufge baut. Und sie befanden sich erst am äußersten Ring. Sie mussten immer noch einen Weg in das Bauwerk finden. »Weißt du wirklich, wo du gerade hinfliegst?«, rief Jarad. »Genau auf meinen Sohn zu. Halt dich bitte nicht ir gendwo auf, um zu kämpfen.« »Bin direkt hinter dir«, rief Jarad. »Es sieht ganz so aus, als ob wir direkt auf ihr Schlachthaus zufliegen. Das ist eine Art Todestempel genau in der Mitte des ganzen Dings.« »Woher weißt du das alles?« »Ich bin immerhin einer der Gildenmeister. Ich war schon einmal hier.« Fonn hörte, wie Jarad sein Schwert zog, und griff auch automatisch nach dem Heft ihrer Klinge. Die Rakdos-Kultisten, über die sie hinwegfegten, waren bislang zu überrascht gewesen, um sie einigerma ßen organisiert anzugreifen, aber das sie das irgendwann taten, war nur eine Frage der Zeit. Fonn hatte alle Hände voll zu tun. Einerseits musste sie die kreischenden Kultanhänger ständig im Auge behalten, andererseits auch das für sie ungewohnte Reittier im Zaum halten. Der gesamte Rest ihrer Aufmerksamkeit richtete sich auf den einsamen Ton ihres Sohns im Ge sang, der immer lauter wurde und sie durch das RakdosTerritorium lenkte. Sie flogen auf einen engen Abzugs schacht zu, der sie in die Mitte des Gebildes führen wür de, wenn Jarad Recht hatte. Die Fledermaus landete in stinktiv am Eingang des Schachtes. Ihre Flügel würden 301
hier nie hindurchpassen. Fonn sprang ab, ohne zu schau en, ob Jarad ihr folgte. Sie war froh, gleich darauf auch seine Füße auf dem Boden aufprallen zu hören. Vom Rücken der Fledermaus aus hatte der Schacht eng ausge sehen, aber er war geräumig genug, dass sie beide auf recht stehen konnten. »Haben wir einen Plan, wie wir vorgehen wollen?«, fragte Jarad. »Na klar«, sagte Fonn. »Wir rennen durch diesen Schacht in den Tempel, töten alle Rakdos dort und holen Myc raus.« »Guter Plan«, stimmte Jarad zu. »Ich war schon immer der Ansicht, dass aus dir auch eine perfekte Jägerin hätte werden können.« »Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte Fonn, aber sie emp fand Jarads Humor trotz der Situation als wohltuend. Vielleicht hätte ihre Ehe ja etwas mehr Gefahr benötigt, um zu bestehen, dachte sie schuldbewusst.
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Myc wünschte sich viele Dinge. Kalte Luft zum Atmen beispielsweise. Seine Freiheit und die Freiheit der ande ren Pfadfinder. Er wollte wissen, wohin Lily von den To desanbetern verschleppt worden war. Und eigentlich fände er bereits ein Gläschen Wasser eine nette Geste. Aber noch mehr als alles andere wollte er zu Hause im Vitu Ghazi sein – oder im Labyrinth bei seinem Vater. Oder sonst irgendwo, solange er nicht hier sein musste. 302
Und trotzdem konnte er sich nicht davon abhalten, den Kopf so zu verdrehen, dass er bei Rakdos’ Rückkehr auf die Welt zusehen konnte. Zuerst tauchten die Hörner des Dämons aus der Lava aus. Sie glühten in der rauchigen Luft in einem dunklen Orange, das sich beim Abkühlen aber schnell in ein mat tes Schwarz verwandelte. Dann schob sich langsam der Kopf des Dämons aus der Lava: erst ein knochiger, her vortretender Kamm, dann schwere Augenbrauen, die seine Augen verbargen, und schließlich eine lange, zie genähnliche Schnauze. Als Nächstes kamen die Schultern mit den Fledermausflügeln, von denen geschmolzener Stein herabtropfte. Am ganzen Körper waren hervortre tende Adern zu sehen, die mit innerem Feuer glühten. Die Bluthexe verstärkte ihren klagenden Gesang, wäh rend der Dämon sich brüllend aus der Grube heraus stemmte und langsam seine düsteren Flügel ausbreitete. Das Gesicht des Dämons befand sich nur wenige Meter von dem des Pfadfinders entfernt, und Myc schaffte es nicht, wegzusehen. Die Auferstehung des Dämonengottes lenkte Izoldas Aufmerksamkeit von Myc weg. Sie schwebte in der Luft und hob die Schüssel mit der Mischung aus Blut und der seltsamen gelierten Flüssigkeit über ihren Kopf, während sie Rakdos anrief. Langsam zog sie die Schüssel an ihre Lippen und kippte sie leicht ... Mit einem metallischen Klirren schlug ein typischer Devkarin-Pfeil ihr die Schüssel aus der Hand. Der Pfeil flog weiter und durchtrennte das Seil, mit dem Mycs linke 303
Hand gefesselt war. Myc riss sie frei und nahm dabei in Kauf, dass sich der Schnitt in seiner Handfläche wieder öffnete. Izolda kreischte vor Wut. Die Schüssel kippte in der Luft um; ihr Inhalt verteilte sich gleichmäßig über den Kopf des Dämons, über Myc und über die brodelnde La vagrube im Boden, die auch die silberne Schüssel schluckte. Nur Sekundenbruchteile später folgte ein zweiter Pfeil, der das Seil zerschnitt, mit dem die Beine des Jungen zusammengebunden waren. Myc hielt sich an den Seilre sten fest und schwang sich an ihnen um den Metallbaum herum, damit dieser zwischen ihn und die Bluthexe kam. Das Kinn des Dämons befand sich gerade auf seiner Au genhöhe, und Myc spürte, wie seine Haut wieder neue Blasen warf, da auch der Dämon eine unheimliche Hitze ausstrahlte. Der Junge konnte nicht sehen, was mit der Bluthexe geschah, denn in dem Moment, als der Inhalt der Schüs sel sich über ihn ergoss, veränderte sich seine Welt. Myczil Savod Zunich wurde von etwas ergriffen, was Wahnsinn nahe kam. Sein ganzes Wesen füllte sich mit ursprünglicher, animalischer Wut – Wut, von der er wusste, dass es nicht seine eigene war. Aber er fühlte sich dadurch nicht eingesperrt. Er fühlte sich frei. Er fühlte sich ... riesig. Wenn er scharf nach dachte, dann fühlte er sich vor allem so, wie Rakdos aus sah. Er war ein Dämonengott. Blind vor Zorn und Blutgier 304
sah Myc nicht, wie der Dämon eine mit furchtbaren Klauen besetzte Hand nach ihm ausstreckte. Rakdos lach te leise und pflückte Myc von dem nachgebauten Baum. Das Geräusch erheiterte den verwirrten Ledev ungeheim. Er lag auf seinem Rücken in der offenen Handfläche des Dämons und blickte in dessen schreckliches Gesicht. Er stellte fest, dass er keine Angst mehr hatte und seine sadi stischen Gelüste etwas nachließen, um Platz für ... Neu gier zu machen? Konnte ein Dämonengott neugierig sein? Oder waren das Mycs eigene Gefühle? Er konnte es nicht sagen. Der Dämon betrachtete ihn genau. Ohne seine Augen von dem jungen Ledev zu nehmen, schlug der Dämon mit seiner anderen Hand zu und schickte die Bluthexe zu Boden. Sie kreischte überrascht auf, krachte in die feiern den Anhänger und verschwand in der Menge. Das löste bei den Todesanbetern das kleine bisschen Selbsterhal tungsinstinkt aus, dass sie noch besaßen, und sie zogen sich ehrfürchtig ein Stück von dem auferstehenden Dämon zurück, der inzwischen fast eine Größe von zehn Metern erreicht hatte. Izoldas Gesang war verstummt, aber die versammelten Kultanhänger machten das mehr als wett, da sie ihre eigenen Lieder nun umso lauter sangen. Myc spürte, wie eine seltsame Welle der Genugtuung ihn durchströmte. Weder dies hier noch das Verlangen nach Blut und Fleisch waren Teil seines Ichs. Aber wäh rend er dies dachte, konnte er auch ein anderes Bewusst sein hören, riesig und uralt, verschlagen und böse. Ich bin hungrig, sagte das andere Bewusstsein. Ich frage 305
mich, was du bist. Eine Vorspeise? Ich bin keine Nahrung, dachte Myc. Lass mich runter. Essen, sagte das Dämonenhirn. Ja, ich muss fressen. Ich werde sie alle zerstören, sie vor mir hertreiben, mir ihr Gejammer anhören ... Schon kapiert, unterbrach Myc den Gedankengang. Dann schnitt er eine Grimasse. Jetzt hatte auch er Hunger bekommen. Ja, es ist Zeit, sie zu fressen, sagte der Dämonengott in ihrem geteilten Bewusstsein. Dann friss sie, befahl Myc ihm. Und fang mit diesen Clowns da an. Aber gern, stimmte das Dämonenhirn ihm zu, und Myc bemerkte, wie der Dämon die Menge vor seinem inneren Auge abschätzte. Ich hasse Clowns. Mycs unerklärliche Verbindung zu dem Dämonengott war so stark, dass er noch nicht einmal hörte, wie seine Mutter seinen Namen rief.
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»Wir sind zu spät gekommen«, flüsterte Jarad, der einen weiteren Pfeil einlegte, aber nicht wusste, auf welches Ziel er ihn abschießen sollte. »Myc!«, rief Fonn vom Rand des Abzugsschachtes, der in die große Tempelhalle der Rakdos mündete. »Myc, kannst du mich hören?« Der Junge saß auf der Hand des Dämonengottes Rak dos. Er war nicht tot, aber er antwortete auch nicht. Wie es aussah, war er mit irgendetwas beschäftigt. 306
»Wir müssen dort runter«, sagte Jarad und fummelte an seinem Gürtel herum. Er holte ein langes, dünnes Seil mit einer zusammenfaltbaren Kralle hervor, wie sie auch Wojeks von Zeit zu Zeit bei sich führten. Er suchte die Decke der Höhle nach einem Vorsprung ab, an dem sich der Enterhaken verkanten könnte, und schwang das Seil immer schneller in der Hand. »Myc!«, rief Fonn noch einmal. Aber es kam keine Ant wort; sie hatte auch keine erwartet. Einige der wild aus sehenden Kultanhänger hatten sie dafür jedoch gehört, und ein paar brüllten und zeigten zu ihnen hoch. Kleine re Gestalten, wahrscheinlich Goblins, begannen die steile Wand unterhalb ihres Standortes hochzuklettern. »Jarad, sie haben uns entdeckt«, sagte Fonn. »Was machst du da eigentlich?« »Dort«, sagte der Devkarin und ließ den Haken fliegen. Der Haken traf eine schwere Kette, die nicht weit über ihnen hing, und verhakte sich wie gewünscht in ihr. Oh ne sie zu fragen, trat Jarad neben Fonn und legte ihr den Arm um die Hüfte. »Halt dich fest«, sagte er. Fonn tat, wie geheißen. »Ist das auch stabil genug für uns beide?«, fragte sie. »Das hoffe ich doch«, sagte Jarad. »Warte kurz!«, rief Fonn. »Heilige Mutter von ... Schau dir das an!« Sie zeigte auf den Dämon, der sich ihren Sohn gerade vorsichtig auf die Schulter setzte. Myc, der blutbe spritzt war, aber sonst in Ordnung zu sein schien, krab belte von der Schulter zu einer großen Kette, die Rakdos um den Hals trug. Ihr Sohn machte es sich auf einem der 307
Verbindungsglieder bequem. Myc lächelte hinterhältig und sagte etwas, was Fonn nicht verstehen konnte. Er schenkte weder ihr noch Jarad irgendwelche Aufmerksamkeit. »Was macht er da?«, sagte Jarad. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Fonn suchte nach Mycs Ton im Gesang und fand ihn sofort – aber er hatte sich verändert. Es war immer noch der Ton ihres Sohnes, aber er hatte einen tiefen, dauerhaften, uralten und zor nigen Unterton. Es war ein bitterer Ton, ein Missklang. Die Konzentration der Ledev wurde jäh gestört, als der erste Goblin es geschafft hatte, die Wand zu erklimmen und über den Rand in die Tunnelmündung zu klettern, wo Jarad und sie standen. Mit der Kreatur kam ein kleine rer Trupp rotäugiger Ratten, den die beiden Elfen unge stüm wegkickten. Auch der Goblin machte Bekanntschaft mit Jarads Stiefel, der ihn genau zwischen den Augen traf. Die Kreatur stolperte nach hinten über die Kante, stürzte durch die Luft und verbrannte schließlich in der Lavagru be. Der nächste Goblin nahm den Platz seines Vorgängers ein, und der nächste wiederum dessen Platz. Auch Fonn erzielte ein paar sehr gute Treffer, aber so konnte es nicht ewig weitergehen. Fonn trieb ihr Schwert in einen Goblin und schubste seinen leblosen Körper dann über die Kante. »Ich sehe noch mehr Käfige«, sagte sie und zeigte nach unten. »Das müssen die anderen Kinder sein.« Hoffentlich sind sie es, fügte sie im Stillen hinzu. Viel mehr kann ich nicht ertra gen. 308
»Aber Myc ist dort drüben!« »Ich bin für sie alle verantwortlich«, antwortete Fonn, obwohl alles in ihr danach schrie, sich direkt auf den Dämon zu stürzen, der bereits den ersten Huf aus der Lava gezogen hatte und bald ganz der Grube entstiegen sein würde. »Bring uns da hinunter. Dann kümmere ich mich um die Pfadfinder und du dich um den Dämon. »Bei drei«, sagte Jarad schließlich und schlang wieder seinen Arm um sie. »Eins. Zwei.« Er pflanzte seinen Stiefel in das Gesicht eines weiteren Goblins, der daraufhin schreiend nach unten stürzte. »Drei«, sagte Fonn.
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Kapitel 13
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Ziviler Luftverkehr im Stadtgebiet von Ravnica darf aus schließlich innerhalb der festgelegten Luftkorridore statt finden. Diese Einschränkung gilt nicht für Ordnungshüter bei Ausübung ihres Dienstes. Stadtverordnung von Ravnica
31. Cizarm 10012 Z. C. Kos war wahrscheinlich der Erste im Sitzungssaal des Senats, der den Schatten bemerkte, den das Parhelion auf die getönten Glasscheiben der Kuppel warf. Er stieß einen Warnschrei aus und unterbrach damit das flüchtige Plä neschmieden, in das er mit Teysa und Feder verwickelt war. Eine Sekunde später pflügte sich der breite Bug der fliegenden Festung in das Oberlicht. Das gefärbte Glas zerbarst mit lautem Krachen, verbogenes Metall ächzte. Dann rammte das goldene Luftschiff zwei der Dachträger, und das ganze Dach der riesigen Halle stürzte nach und nach unter lautem Getöse ein. Zu sagen, dass der Krach ohrenbetäubend war, wäre wie die Aussage, dass ein Engel Flügel habe. Alles erbebte, und der Lärm ging Kos durch Mark und Bein. Es war zwar 310
nur ein geliehener Körper, aber er mochte das Gefühl trotzdem nicht. Zu seiner Überraschung duckte er sich dann blitzschnell unter einen Tisch, als Obez Murzeddis Überlebensinstinkt den betäubten und kurzfristig in Ehr furcht erstarrten Geist des Wojeks überwältigte. Er war nicht allein unter dem Tisch. Sowohl der Dieb Capobar als auch die Baronin hatten die gleiche Idee ge habt. Alle drei – oder sollte er sich mitzählen? – krümm ten sich zusammen und hielten sich die Ohren zu, da der Krach über ihnen kein Ende nehmen wollte. Kos erwarte te, dass jede Sekunde ein Teil des Dachs oder das Parheli on selbst auf den schweren Metalltisch stürzte und sie alle platter als einen Pfannkuchen drückte. Als ob du eine bessere Idee gehabt hättest, meckerte Obez ihn mental an. Mach das nie wieder. Entweder habe ich das Kommando hier ganz – oder gar nicht. Wer sagt, dass du hier das Kommando hast? Aber nichts fiel auf den Tisch, nichts drohte sie zu erdrücken. Nach ein paar Minuten hatte sich der Krach gelegt. Der Senat war in eine unheimliche Stille gehüllt. »Bei euch alles in Ordnung?«, flüsterte Kos. »Wer will das wissen?« Das war die Stimme einer Frau, vermutlich Teysas. »Ich, Kos«, sagte er. »Sozusagen.« »Könnt ihr mal still sein? Ich versuche gerade zu hören, was da draußen vor sich geht.« Es war Capobar, dessen leichte Angetrunkenheit auf einen Schlag verschwunden zu sein schien. Er klang gleichermaßen erschreckt wie 311
ungnädig. Kos kannte das Gefühl. Sie schwiegen gemeinsam weiter, bis Kos einige Se kunden später erst ein, dann noch ein Keuchen hörte, das eindeutig von außerhalb ihrer Behelfszuflucht kam. »Ich muss nachschauen, was passiert ist«, sagte er. »Ich gehe mal raus.« Er zwängte Obez’ molligen Körper unter dem halb ein gedrückten Tisch hervor. Mehrere größere Steinbrocken hatten Dellen in die Tischplatte geschlagen, aber es hätte deutlich schlimmer kommen können. Er hätte zum Bei spiel ja auch der amtierende Boros-Gildenmeister sein können. Eine der Trägerstreben der Glaskuppel hatte sich gelöst und war in die Sitzreihen des Senats gestürzt, wo sie wie ein Speer zitternd stecken geblieben war. Der Speer hatte Nodov, den Wojek-Generalkommandeur, fast komplett unter sich begraben – nur ein einzelnes Bein schaute noch heraus. Der Große Schiedsmann hatte hinter dem Wojek ge sessen, und sein Thron musste durch den Aufprall um geworfen worden sein. Augustin, der im Moment wie ein hilfloser alter Mann wirkte, lag auf den zerbrochenen Stufen inmitten eines Meers aus Glasscherben, bemühte sich aber, seinen beinlosen Körper in eine Sitzhaltung zu hieven. Feder hatte in der Nähe des Loxodon gestanden, und der heilige Kel verdankte dem Engel sein Leben. Es schien, dass Feder ihn weggerissen hatte, bevor ein Steinbrocken von der Größe eines Dromads den Sessel des Selesnijaners zerschmetterte. Die drei Gerichtsdiener und der arme Stenograf waren 312
gar nicht zu sehen, aber ein Blick auf die Trümmer, das Wrack des Luftschiffs und die Blutspritzer ließ kaum Fra gen offen, was mit ihnen geschehen war. Die Geister der Jury der Seelen sausten immer noch nutzlos umher. Sie waren nicht in der Lage, dem obersten Azorius körperlich zu helfen, und sie konnten im Moment auch nicht ihrem normalen Zweck dienen – Augustin IV. in jeder Diskussi on zuzustimmen. Das Parhelion, der Verursacher der ganzen Zerstörung, blickte Kos entgegen, still und reuelos. Die Windschutz scheibe aus Invizomizzium war heil geblieben, aber mit einer Rußschicht überzogen. Kos konnte nicht erkennen, ob drinnen etwas vor sich ging. Die fliegende Festung hatte sich im Senat verkeilt – wie ein überdimensionaler eckiger Bauklotz, den jemand mit Gewalt durch ein run des Loch hatte stecken wollen. Die beiden Schwebekis sen, die Kos von seinem Standort aus sehen konnte, wa ren ausgebrannt. Der große Wirklichkeitsmotor stand still. Kein Engel war in Sicht. »Feder, bist du in Ordnung?« Er rief nach den anderen und bestätigte ihnen, dass es sicher war, wieder hervor zukommen. Über die am stabilsten aussehenden Trüm mer machte er sich auf den Weg zum blinden Richter. »Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Feder. »Ich bereue, dass mir meine Fesseln es unmöglich gemacht haben, den Generalkommandeur rechtzeitig zu erreichen.« »Die Fesseln sind zu entfernen«, sagte Augustin mit schwacher Stimme, in der aber immer noch der befeh 313
lende Ton des Richters mitschwang. Kos half dem weisen Gildenmeister wieder auf seinen Thron. Und kaum hatte der Azorius seinen Satz beendet, fielen die silbernen Fes seln von Feders Flügeln ab. Die Augen des Engels glühten. »Vielen Dank«, war alles, was er sagte, während er dem Loxodon wieder auf die Beine half. »Feder, hol Hilfe«, sagte Kos. »Wir müssen ...« »Du musst nach Novijen gehen«, sagte der Große Schiedsmann, und es war mehr als nur eine Feststellung. Es war eindeutig ein Befehl. »Du wirst das Gewächshaus betreten. Momir Vig hat den Dimir Zuflucht gewährt, wenn die Aussagen meines Geheimdienstes stimmen. Du hast dort einen Auftrag auszuführen, Wächter.« Kos knirschte mit den Zähnen, fühlte sich aber uner klärlicherweise gezwungen, dem Befehl zu gehorchen. »Feder, sobald du mich zum Gewächshaus geschafft hast, musst du Rettungskräfte hierher schicken.« »Der Gildenmeister wird nirgendwohin gehen«, sagte der Große Schiedsmann. Feder hatte einen Ausdruck des Bedauerns im Gesicht, nickte aber zustimmend. »Der Große Schiedsmann hat Recht, Kos. Ich muss diese Pflicht jetzt übernehmen. Meine Aufgabe wird es sein, das Parhelion zu erkunden. Du musst Szadek finden.« »Aber ich habe daraufgebaut, dass du mich dort hin bringst«, sagte Kos. »Feder – was soll ich machen, wenn ich ...« Ein Schatten zog über seinen Kopf hinweg und ließ ihn erschrocken zur Seite springen. Der Schatten stellte sich 314
als riesiger goldener Vogel heraus, der auf den Stufen des Senats landete. Auf seinem Rücken saß ein Reiter, den niemand erwartet hatte. »Ärger«, keuchte Pivlic, der ganz außer Atem war. Er rutschte müde vom Rücken des Rocs herunter. »Da kommt einiges an Ärger auf uns zu.« »Pivlic?«, sagten Teysa und Kos wie aus einem Mund. »Wer könnte es sonst sein?«, sagte der Bold und schau te dann ein zweites Mal hin. »Entschuldigung, aber wer sind Sie? Woher kennen Sie meinen Namen?« »Pivlic, ich habe jetzt keine Zeit für komische Spiel chen«, blaffte Kos ihn an. »Was für ein Ärger? Außer dem hier, meine ich.« Er zeigte auf das abgestürzte Parhelion. »Kos?«, sagte Pivlic ungläubig, als seine Erinnerung endlich den ihm so bekannten Tonfall und die leicht ver zerrte Stimme einordnen konnte. »Wie ist das möglich, mein Freund? Wie konnte das passieren? Du ...« »Später«, unterbrach ihn Kos. »Ärger. Erzähl mir alles über den Ärger.« »In Ordnung«, stimmte Pivlic zu. Er schien nicht kom plett überzeugt zu sein, aber er war lange genug Mitglied der Orzhov-Gilde, um nicht allzu überrascht zu sein, wie sich die Dinge entwickelt hatten. »Erinnert ihr euch alle an die Nephilim von Utvara?« »Diese ›unsterblichen Monster‹, von denen die Gruul behaupten, sie seien Götter?« Teysa mischte sich ein, weil dieses Thema auch sie etwas anzugehen schien. »Golozar hat sie erwähnt.« »Ich befürchte, dass Golozar tot ist. Ich habe ihn seit 315
dem Angriff nicht gesehen.« »Angriff?«, fragte Teysa mit scharfer Stimme. »Die Nephilim, Frau Baronin«, sagte der Bold. »Etwas ist mit ihnen geschehen. Sie sind jetzt viel größer. Und – es tut mir Leid, Baronin. Sehr Leid.« Er schluckte hörbar und beugte den Kopf. »Als Euer eingesetzter Stellvertreter, Euer Freund und vor allem als Euer Versicherungsvertre ter, muss ich Euch leider darüber in Kenntnis setzen, dass es gut sein kann, dass die ganze Region Utvara komplett abzuschreiben ist. Die Schäden an Gebäuden sind schlimmer als die an der Bevölkerung, soweit ich weiß, aber ...« Der Rest von dem, was Pivlic sagen wollte, ging in ei nem entsetzlichen Gebrüll unter. Die Nephilim waren in der großen Stadt angekommen.
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Crixizix merkte, dass sie gerade wieder den letzten Rest ihres Pyromanas verbraucht hatte, als sie mit der Eigen tümerin von »Giburinga’s Haushaltswaren« über den Schultern am Rand des provisorischen »Feldhospitals« landete. Das Behelfskrankenhaus war nicht viel mehr als ein offenes Gelände in der Nähe einer der unzerstörten Minen. Dort tat Dr. Nebun alles für die Verletzten, was in seiner Macht stand. Unterstützt wurde er von der Besitze rin der Mine, einer freundlichen Ogerin namens Garulsz, der einst eine Kneipe in der Innenstadt von Ravnica ge hört hatte. Dort hatte sie ausreichend Erfahrung bei der 316
Behandlung von Schrammen und anderen leichteren Wunden sammeln können. Crixizix hatte Giburinga in den Überresten ihres total zerstörten Geschäfts gefunden und sie herübergeflogen. Sie setzte sie so sanft wie mög lich ab. Giburinga war bewusstlos. Crixizix hatte keine Knochenbrüche bei ihr entdeckt, aber die Platzwunde über der Augenbraue der Frau deutete auf eine Gehirner schütterung hin. Die Meisteringenieurin wurde immer besser darin, solche Diagnosen zu stellen. Es war gleichzeitig erfreulich und angsteinflößend, so wenig Leichen unter den Trümmern zu finden. Einer der Gründe dafür konnte sein, dass die Gebäude in Utvara nicht allzu dicht beieinander standen, überlegte Crixizix. Die Flüchtenden hatten genug Platz gehabt, sich zu ver teilen. Die Bewohner waren vorgewarnt gewesen, da die Nephilim ja nicht urplötzlich erschienen waren. Und seit dem Drachenangriff ein paar Wochen zuvor war die Be völkerung ohnehin vorsichtiger gewesen. Das hatte wahr scheinlich vielen das Leben gerettet. So könnte es jedenfalls gewesen sein, sagte sie sich, um nicht in Verzweiflung zu ertrinken. Sie konnte nicht sagen, wie viele von den hungrigen Nephilim verschlun gen worden waren. Körperfetzen waren überall auf den Straßen zu finden und erinnerten sie ständig daran, dass nicht mehr allzu viel Gutes zu erwarten war. Die Mine war eine der wenigen guten Sachen gewesen. Sie stellte dem einzigen Simic-Doktor der Stadt einen Raum mit fließendem Wasser zur Verfügung, damit er seiner Arbeit nachgehen konnte, dank funktionierenden 317
Leuchtkugeln sogar bei Dunkelheit. Mehrere hundert Leute verschiedenster Herkunft lagen in relativ geordne ten Reihen auf dem Boden, wobei die schlimmsten Fälle auf Kisten und selbst gezimmerten Tragen lagen. Nebuns Labor und Praxis waren fast komplett zerstört worden, aber ein paar seiner lebenden Experimente hat ten entkommen können. Uvulung, die Froschkreatur, hüpfte neben dem Doktor einher, der Crixizix grüßte und ihr einen kurzen Überblick über den Stand der Dinge gab. »Gehirnerschütterung«, stimmte Dr. Nebun zu, nach dem er die bewusstlose Frau untersucht hatte. »Sie wird es überleben. Noch haben wir Platz. Sie kann bleiben, bis sie sich wieder erholt hat.« Der Simic holte einen kleinen Klumpen einer durchsichtigen, geleeartigen Masse her aus. »Zytoplasten?«, wunderte sich Crixizix. »Sie braucht keinen neuen Körperteil. Sie hat einfach einen Schlag auf den Kopf bekommen. Wie sollen die Zytoplasten helfen?« »Müssen wir darüber diskutieren, Goblin?«, fragte Ne bun. »Crixizix, wenn Sie so gütig wären«, sagte Crixizix. »Natürlich, Crixizix«, sagte Nebun mit der müden Stimme eines Mathemagiers, der einem Kind zum hun dertsten Mal die Grundrechenarten erklärte. »Das ist eine neue Art von Zytoplasten, die als sanfte Art der Heilung entwickelt worden ist. Vielleicht schaffen sie es eines Tages, die weit verbreiteten Heiltränen zu ersetzen.« »Sie führen hier Experimente durch?« Crixizix war er schüttert. »Doktor, als ich Sie aus den Trümmern gezogen 318
und hergebracht habe, um diesen Leuten zu helfen, ging es nicht darum, dass ich neue Zytoplasten ausprobieren wollte. Das ist jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt dafür, oder?« »Man kann jeden Augenblick zum Lernen verwenden«, sagte Nebun etwas überheblich. »Und ich finde es selt sam, dass von allen Wesen dieser Welt gerade Sie dage gen protestieren. Aber um Sie zu beruhigen, es ist kein Experiment. Es war einfach ein glücklicher Zufall, dass mein Vorrat nicht zerstört wurde. Es wird ihr nichts ge schehen – falls die Nephilim nicht zurückkommen.« Mit diesen Worten ließ er die kleine amöbenartige Masse auf Giburingas Stirn gleiten. Die Zytoplasten breiteten sich aus, wurden glatt und bildeten schon bald eine Art Helm, der in einem sanften Bläulichgrün leuchtete. Crixizix legte ihr Ohr auf die Brust der Frau. Ihr Atem ging gleichmäßig. »Nun gut«, sagte Crixizix. »Ich muss wieder an die Front«. Sie seufzte. Langsam wurde es selbst für sie schmerzhaft. Sie schlenderte zu dem Pyrogenerator, den sie damals aus dem Kessel gerettet hatte, schloss die Py romana-Schläuche an den Einfüllstutzen an ihren Sohlen an und tankte für einen weiteren Flug auf. Währenddessen schloss sie die Augen und suchte mit aller mentalen Kraft nach dem Feuerhirn. Aber der Große Drache war immer noch verschwunden und ließ Crixizix mit seinem Geheimnis allein. Der Drache hatte Angst gehabt, Angst um sein eigenes Leben. Entweder das, oder die Izzet waren ihm völlig egal. Wie auch immer – beide 319
Möglichkeiten würden das Glaubenssystem der Izzet bis
tief in die Grundfesten erschüttern. Pivlics Lösung war
wirklich elegant – jedenfalls bis der Drache zurückkehrte.
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»Was zum Teufel ist das?«, fragte Kos. »Ich glaube, das ist Stampfer«, antwortete Pivlic. »Stampfer?«, fragte Teysa. »Er stampft, deswegen habe ich ihn so genannt«, er klärte der Bold. »Er sieht wie eine Kreuzung zwischen einem Berg und einer Krabbe aus, und über seinem Kör per schwebt der Kopf einer Statue ... Wisst ihr was? Am besten schaut ihr ihn euch selbst an, meine Freunde. Und mindestens zwei weitere kommen hinter ihm her.« Nach dem er auch die Spitznamen »Glitscher« und »Hirni« er klärt hatte, machte sich Kos noch größere Sorgen. Teysa war sich dagegen nicht sicher, ob sie wütend auf Pivlic sein sollte, weil er es zugelassen hatte, dass ihre Baronie in ihrer Abwesenheit dem Erdboden gleichge macht worden war – oder ob sie geschmeichelt und dankbar sein sollte, weil der Bold loyal genug gewesen war, sie aufzusuchen, um die Nachrichten zu überbrin gen. Sie musste sich eingestehen, überrascht zu sein, dass sich der Bold auf den langen Weg gemacht hatte. Sie hat te nicht erwartet, dass Pivlic so viel Ausdauer an den Tag legen würde. Wieder ertönte das laute Brüllen, aber diesmal aus et was größerer Entfernung. »Sieht so aus, als ob er nicht 320
direkt auf uns zukäme«, sagte der Bold. »Vielleicht ist er nur auf der Durchreise.« »Kos, das ist alles nebensächlich«, mischte sich der Große Schiedsmann ein. »Du hast deinen Auftrag. Piera kor, Ihr bleibt hier bei uns, und zusammen finden wir auch eine Lösung, wie wir das Problem der Nephilim angehen.« »Ich würde gern dabei helfen, wenn Ihr gestattet, Euer Ehren«, sagte Teysa. Der Richter nickte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie uns helfen können.« »Ich glaube nicht, dass ich das allein hinbekomme«, sagte Kos – nicht zu Teysa, sondern zu Pivlic. »Was wird denn noch alles von Pivlic verlangt?«, grummelte der Bold. »Ich bringe einen Roc, ich bringe Neuigkeiten. ›Vielen Dank, Freund Pivlic.‹« Feder wandte sich an Kos. »Ich habe größtes Vertrauen, dass du das hinbekommst. Du musst nur stark sein.« »Ich zweifele ja auch nicht an mir. Ich wollte nur eins anmerken: Nichts gegen Obez hier, aber er ist kein Kämp fer. Ich bezweifele auch, dass er weiß, wie man einen Roc reitet. Wenn ich den Weg zum Gewächshaus auf dem Rücken dieses Vogels zurücklege und tatsächlich wie geplant hineinkomme, muss jemand draußen mit dem Vogel warten.« Kos warf einen Blick auf Capobar, aber der alte Dieb hob abwehrend beide Hände. »Auf keinen Fall«, brummte Capobar. »Ich war hier nur als Zeuge vorgeladen. Ich werde mich auf den Heimweg machen, solange mein Haus noch steht.« 321
»Wo hast du gewohnt?«, fragte Pivlic. »Wie bitte?« »Wo hast du gewohnt, mein Freund?«, wiederholte der Bold. »Achter Distrikt, im Parshan-Block. Warum?« »Dann steht dein Haus nicht mehr.« »Hach, das ist mir egal!«, platzte der Dieb heraus. Panik begann ihn zu überwältigen, und er stolperte über die eigenen Füße. »Ich bin nicht daran schuld! Ich habe euch gesagt, wie ihr das Schattenwesen finden könnt. Und jetzt lasst mich in Frieden. Ich habe ein ... ein ruiniertes Leben, zu dem ich zurückkehren will. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mich ins Grab saufe.« Ein paar Sekunden später drehte er sich plötzlich um, kletterte überraschend geschickt über die Trümmer und verschwand durch eines der vielen Löcher in der gegenüberliegenden Wand, be vor einer der Anwesenden ihn aufhalten konnte. »Also gut«, sagte Teysa. »Es sieht so aus, als hättest du dich gerade als Freiwilliger gemeldet, Pivlic.« Sie erlaubte sich selbst ein kurzes Grinsen, bevor sie Pivlic mit ihrem Lächeln Nummer dreiundfünfzig bedachte, einem beson deren und nur selten verwendeten Orzhov-Gesichts ausdruck: Keine gute Tat bleibt unerkannt. »Na, komm schon, Pivlic«, sagte Kos und schlug dem Bold leicht auf den Rücken. »Fast wie in alten Zeiten.« »In den alten Zeiten wäre Pivlic jetzt hinter der Theke, mein Freund«, sagte der Bold. »Ich bin kein Bold des akti ven Handelns, trotz meiner berühmten Heldentaten heute und früher. Außerdem, Kos – woher weiß ich, dass du es 322
wirklich bist?« »Er ist es wirklich«, sagte Teysa. »Du kannst mir ver trauen. Jetzt ab mit euch, und wir werden jetzt versuchen ... Was genau wollen wir unternehmen?« »Wir müssen versuchen, die Stadt geschlossen hinter uns zu versammeln«, sagte Feder. »Im Notfall müssen wir alle evakuieren.« Als ob er es geplant hatte, um sein Ar gument zu unterstützen, war wieder ein lautes Brüllen zu hören, das in den Wänden der Häuserschluchten wider hallte und bis nach Prahv drang. »Aber zuerst brauchen wir einen Plan«, sagte Teysa zum Richter, der in den letzte Minuten verdächtig still gewesen war. Der Richter hob schließlich den Kopf, um zu sehen, wie der Roc und seine Reiter das Senatsgebäude durch den eindeutigsten Ausgang verließen – durch das zerstör te Dach. Teysa folgte seinem Blick. Der Vogel wackelte anfangs noch ein wenig, aber der Bold gewann bald die Kontrolle über ihn und lenkte ihn außer Sicht. »Das stimmt«, bestätigte der Azorius. »Ein Plan wäre jetzt gut.«
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Capobar kletterte aus den Ruinen von Prahv heraus. Er war schweißüberströmt, aber gleichzeitig war ihm kalt, als wenn jemand nach seiner Seele greifen würde. Aller dings war das ein lächerlicher Gedanke, wie ihm der klü gere Teil seines Gehirns mitteilte. 323
»Hinter mir ist niemand her«, murmelte er laut und forderte das Schicksal heraus, ihn zu widerlegen. Ihn schien tatsächlich niemand zu verfolgen. Trotzdem war seine Aussage eher ein Versuch, das Unvermeidliche zu leugnen, als dass sie wirklicher Überzeugung entsprang. Seitdem er aus dem Senat geflohen war, hatte er das Gefühl, dass jemand ihm folgte. Doch jedes Mal, wenn der Meisterdieb herumwirbelte, um zu sehen, wer oder was es war, konnte er nichts entdecken. Natürlich waren dort auch Leute und die spektralen Wächter der Azorius, die sich durch die Trümmer nach innen vorkämpften, aber niemand ging in seine Richtung oder schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung. Und warum sollten sie auch? Er war doch nur ein unauffälliger alter Mann mit einem Umhang, mein Herr, genau das war er. Ein großes Unglück? Ja, da hinten. Er selbst wollte einfach nur weg. Wenn jemand Unsichtbares ihm folgte – nun, darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Aber er erlaubte sich, kurz den Verlust seiner Mana-Brille zu betrauern. Wo könnte er denn noch hingehen, wo ein Schatten gänger – wenn es denn mal ein Schattengänger war – ihn nicht finden konnte? Falls der Bold nicht gelogen hatte, war er jetzt obdachlos. Außerdem war er wahrscheinlich zu allem Unglück auch noch pleite, jedenfalls bis sein Orzhov-Versicherungsagent sein Haus und sein Innen stadtbüro neu bewertet hatte. Und die Zahlungen konn ten Wochen dauern, wahrscheinlich eher länger, wenn man die ganzen Umstände betrachtete. Und alles unter der Annahme, dass seine Versicherung den Schaden 324
überhaupt abdeckte. Und falls Ravnica überhaupt über lebte und die Bevölkerung am nächsten Morgen noch einmal aufwachen würde. Es sagte alles über Capobars verwirrten Zustand aus, dass er kopfüber gegen eine Steinmauer lief. Überrascht sprang er zurück. Nein, es war keine Mauer, eher eine umgestürzte Säule mit einem unförmigen, zusammengewürfelt erscheinen den Mauerwerk, das so seltsam gemauert war, dass es eher einem gepanzerten ... »O Krokt«, flüsterte Capobar, als er sah, wie lang die »Mauer« eigentlich war, wie sie sich leicht krümmte und in ein deutlich erkennbares Krabbenbein mündete. Der schwebende Kopf einer Statue thronte auf dem hügeligen Nephilim – das musste derjenige sein, den der Bold Stampfer genannt hatte. Der Kopf drehte sich um die eigene Achse und blickte ihn mit reiner Boshaftigkeit an. Er wandte sich um und flüchtete, nur um wieder gegen eine lebendige Mauer zu prallen, diesmal geschuppt und um das Untergeschoss eines gerade zusammenbrechen den Mietshauses gewickelt. Überall lagen Leichen, und während er den zweiten Nephilim betrachtete, landete dicht neben ihm ein schreiender Mann ziemlich plötzlich und unvorhergesehen auf den Pflastersteinen, wo er eine üble Sauerei verursachte. Das musste der Glitscher sein. Capobar ärgerte sich, dass nicht er darauf gekommen war, den verdammten Dingern Namen zu geben. Viel leicht wäre er in der Lage gewesen, wenigstens daraus noch einen Profit irgendeiner Art zu schlagen. 325
Capobar zog sich langsam zurück, um nicht von den Windungen des zweiten Nephilims erwischt zu werden. Das Wesen verharrte plötzlich, als ob es etwas hörte. Und tatsächlich durchschnitt nur eine Sekunde später ein lautes Brüllen den inzwischen nächtlichen Himmel. Das Brüllen klang nicht wie das eines Nephilims, und es schien auch von weiter unten zu kommen. Es wurde vom Stein getragen und ließ die Straße erzittern. Die nächste schreiende Menschenmasse strömte durch die Straßen und drohte ihn mitzureißen. Konnte es mögli cherweise noch mehr von diesen Dingern geben, welche, die er noch nicht gesehen hatte? Capobar hatte die Schnauze voll. Am Anfang war es so ein einfacher Auftrag gewesen. Dann war er mit jedem Schritt immer wieder von seinem Auftraggeber und sei nen Angestellten betrogen worden, und jetzt hatte man ihn sogar noch gezwungen, in den Zeugenstand zu treten. In den Zeugenstand. Seine Lizenz zum Stehlen würde eingezogen werden. Die Diebesgilde würde sie ihm ein fach sofort aberkennen, egal, unter welchen harten Um ständen es passiert war. Er war verloren. Irgendetwas klickte im Gehirn des Diebes, und er wandte sein Gesicht gen Himmel. »In Ordnung«, brüllte er. »Du willst mich holen? War es das, verdammt noch mal? Hier bin ich, ganz ohne Dek kung! Wenn du mich zerstören willst, dann mach end lich!« Der Aufprall hinterließ einen Krater von der Größe und Gestalt eines kleinen Amphitheaters. Was von Evern Ca 326
pobar übrig blieb, hätte in eine ordentliche Spritze ge passt.
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»Kos, wenn du das wirklich bist – was ist mein Lieblings getränk?«, fragte Pivlic. »Dein Lieblingsgetränkt ist zehn Jahre alter DindinWein, der in einem Bumbat-Glas serviert wird, in dem drei Zehen zerstoßener Knoblauch und eine halbe einge legte Cibuli-Zwiebel schwimmen. Die Zwiebel ist quer durch die Mitte aufgeschnitten, nicht von oben nach un ten«, sagte Kos. »Und das Zeug ist ekelhaft, falls du meine Meinung dazu hören wolltest.« »Überzeugend«, sagte Pivlic. »Aber ein Schwindler könnte das auch wissen. Wann haben wir uns das erste Mal getroffen und unter welchen Umständen?« »Wir sind uns zum ersten Mal in deinem alten Restau rant an der Schlucht begegnet, als ich deinen Barkeeper verhaftet habe, weil er den Zombies Einzelteile verkauft hat. Du warst derjenige, der Wert darauf gelegt hat, dass es nachzuweisen sei, dass er die Überreste verkauft hat, ohne die entsprechenden Gebühren zu zahlen. Und des wegen ging der Barkeeper ins Gefängnis und du nicht. Du sagtest damals, dass es ums Prinzip gehe, selbst wenn es für dich höhere Kosten verursachen würde, weil du einen neuen Mann für die Theke einstellen musstest. Mich hat das beeindruckt. Du hättest dafür sorgen können, dass er ungestraft davonkommt.« 327
»Ich mag es nicht, wenn unter meinen Angestellten Dummköpfe sind«, sagte Pivlic. »Aber es hätte damals auch ein Laurer dabei sein können, mein Freund. Man weiß nie. Du könntest jetzt ein Laurer sein.« »Pivlic, ich bin es wirklich.« Kos war leicht einge schnappt. »Glaub es mir, oder lass es bleiben. Du hast Recht, ein Hochstapler könnte das alles wissen. Aber ein Hochstapler hätte dich auch schon längst gefressen.« Der Bold brach in ein Gelächter aus, dass nach Kos’ Einschätzung zu siebzig Prozent nervös bedingt war. Trotzdem war er froh darüber. »In Ordnung, mein Freund, natürlich bist du es. Ganz sicher. Aber du siehst so schrecklich anders aus.« »Nun, wenn man stirbt, der eigene Körper auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird und man dann in den Körper eines fetten Juristen springt, dann ändert sich das Aussehen meistens ein wenig«, sagte Kos. Magiejurist, sagte die Stimme in seinem Kopf. Und Ek tomagier, vielen Dank. Wenn ich bitten darf: Kein normaler Jurist wäre in der Lage, die mystische Energie zu meistern, die nötig ist, um ... In Ordnung, dachte Kos. Ich habe das schon verstanden. Und ich bin nicht fett. Schon. Verstanden. »Aber du bist doch gerade mal vor ein paar Wochen ... gestorben«, sagte Pivlic. »Du könntest ein wenig Mitleid mit mir haben. Ich habe einen guten Freund verloren. Jedenfalls für eine Weile. Diese tiefe Wunde kann durch deine Reinkarnation nicht ganz geheilt werden ...« 328
»Ich war nie ganz weg. Ich war nicht im Jenseits. Ich musste nach Prahv. Du hättest dort nach mir suchen können. Und werde mir jetzt nicht metaphysisch.« »Werde du nicht metaphysisch«, sagte der Bold. Kos seufzte. »Eins kann ich dir sagen, Pivlic. Wenn ich das nächste Mal einen Vertrag zu unterschreiben habe, egal, welcher Art, dann lasse ich dich ihn vorher von oben bis unten ganz durchlesen.« Er legte seine Hand auf die Schulter des Bolds und zeigte mit der anderen auf eine Silhouette, die sich am Horizont abzeichnete und die untergehende Sonne verdeckte. »Ist das dort das, was ich denke, dass es das ist?« »Das ist Novijen. Das große Bauwerk obendrauf ist das Gewächshaus«, bestätigte Pivlic. »Kannst du mich ziemlich dicht heranbringen?«, fragte Kos. »Wahrscheinlich schon, mein Freund«, sagte der Bold. »Aber für viel mehr kann ich nicht garantieren. Ich ver mute außerdem, dass der Roc langsam Hunger be kommt.« »Du hast ihn nicht gefüttert?« »Woher hätte ich wissen sollen, was ich da zu tun ha be?«, beschwerte sich Pivlic. »Ich habe angenommen, dass sie sich während des Flugs ernähren.« »Eine poetische Sichtweise, aber leider nicht ganz zu treffend«, sagte Kos. Er war nie ein Luftjek gewesen, aber er hatte die gleiche Ausbildung wie jeder andere Rekrut genossen. »Nach diesem Ausflug füttern wir ihn erst ein mal. Es wäre eine Schande, ein so gut ausgebildetes Tier 329
zu belasten, bis es vor Hunger zusammenbricht.« »Das läge auch nicht in meiner Absicht.« »Wunderbar. Ich hoffe, es dauert nicht länger als eine Minute«, sagte Kos. »Zumindest, wenn es so funktioniert, wie Obez es mir versichert hat. Bring mich einfach in die Nähe.« Eigentlich könnte ich auch einfach an den Haupteingang gehen und anklopfen, teilte er dem Magiejuristen mit. Dafür haben wir keine Zeit, antwortete die Stimme sei nes Ankers. Und es ist eher unwahrscheinlich, dass du dann den Stammvater überhaupt zu sehen bekämest. Ich schätze, du hast Recht, teilte Kos der Stimme mit. Aber um ehrlich zu dir zu sein, Obez: Ich mache mir vor Angst fast in deine Hose. Denke bitte immer daran, dass du eine halbe Stunde war ten musst, bevor du wieder in einen anderen Körper springst. Wie bitte? Immer daran denken? Wie soll ich an etwas denken, was man mir nie gesagt hat? Ich bin mir sicher, dass ich es bereits erwähnt habe, schnaubte die Stimme. Auch egal. Warum?, wollte Kos wissen. Magie, antwortete Obez. So funktioniert sie halt. Kos gab diese Informationen an Pivlic weiter. »Ziem lich lästig, das Ganze«, fügte er hinzu. »Das heißt, dass ich hier für eine halbe Stunde oder noch länger in der Luft herumkreise und darauf warte, dass du wieder aufwachst?«, sagte der Bold. »Und was passiert in der Zwischenzeit mit dem fetten Magier?« 330
»Er wird ...« Kos stockte kurz. »Er meint, dass es sein kann, dass er hin und wieder das Bewusstsein verliert, also lass ihn bitte nicht vom Vogel fallen.« Und was würde passieren, wenn du doch vom Vogel fällst?, dachte Kos. Was passiert, wenn ich dann festsitze? Dann musst du erst einmal dort bleiben, wo du dich dann befindest – es sei denn, dass dir ein Blindsprung in einen anderen Wirt gelingt. Und dann muss dieser Wirt gut ge nug zu deinen spektralen und geistigen Frequenzen passen, damit du nicht gewaltsam abgestoßen wirst, antwortete Obez. Ohne Kontakt zu einem ausgebildeten – hörst du? ausgebildeten! – Ektomagier kann es sein, dass deine Per sönlichkeit mit derjenigen der Person oder Kreatur, in der du steckst, verschmilzt ... Person oder Kreatur?, sagte Kos. Vielleicht auch beides, sagte Obez. Dir wurde eine große Gabe gewährt, Wojek, ein Jenseits der besonderen Art. Und du behandelst es, als ob es eine Belastung wäre. Du könn test kooperativer sein. »Kos, wir sind beinahe da«, sagte Pivlic. »Viel näher traue ich mich nicht heran, falls du eine Garantie dafür haben willst, dass wir immer noch da sind, wenn du zu rückwillst.« »Ich bin beinahe so weit, Pivlic«, sagte Kos. »Ich versu che gerade noch zu ... Warte kurz.« Und wie finde ich nun die richtige Person zum ... wie nennt man es? Besetzen? Übernehmen?, fragte Kos. ›Besitzen‹ wäre zutreffend, antwortete Obez. Und habe noch kurz Geduld. Ich finde dir gerade einen neuen vorü 331
bergehenden Gastgeber. Kann ich mit aussuchen? Du kannst ruhig sein, damit ich mich konzentrieren kann, entgegnete Obez. Bitte! Kos versuchte, sich auf nichts zu konzentrieren und seinen Anker die Arbeit machen zu lassen. Er merkte, dass seine Aufmerksamkeit zu wandern begann. Ohne weiter darüber nachzudenken, spürte er, wie seine Füße anfingen, in einem gleichmäßigen Rhythmus zu gehen. Er marschierte aus dem Körper des Ektomagiers heraus, wurde immer schneller und stieß sich schließlich ab. Kos, jetzt ohne Körper, segelte über die Stadt. Novijen kam mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zu, dann sah er nur noch das Gewächshaus, das auf organischen Streben ruhte. Sein Verstand begleitete ihn auf der Reise. Durch Mur zeddis geistiges Auge konnte er die lebendigen Simic innerhalb des Gewächshauses sehen, wie sie ihren nor malen Geschäften nachgingen, noch bevor er mühelos durch die Außenwände des Gebäudes drang. Von außen hatten die Gestalten noch seltsam und unwirklich ausge sehen, eher wie blaugrünes Licht mit annähernd mensch licher Gestalt. Aber auch das Innere des Gewächshauses wirkte selt sam – und gleichermaßen lebendig. Das Neuroboretum, ein verdrehtes Netz aus Magie und Intelligenz, leuchtete über seinem Kopf und schien dennoch furchtbar weit entfernt zu sein. Kos und Obez bewegten sich lange Gänge hinunter 332
und blieben gelegentlich bei der einen oder anderen Ge stalt stehen. Alles erinnerte den Wojek an einen Hund, der einer Fährte folgte. Endlich fand Obez eine, die ihm gefiel, auch wenn diese Gestalt nicht ganz so hell leuchte te wie der Rest. Löse alle deine Gedanken. Ich werde dich jetzt in das Ziel verpflanzen. »Wenn ich nicht in einer halben Stunde zurück bin«, sagte Kos laut zu Pivlic und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem Hier und dem Jetzt. »Warte dann doch bitte noch eine halbe Stunde, in Ordnung?« Löse bitte deine Gedanken. »Du nutzt meine berüchtigte Großzügigkeit aus«, jam merte der Bold. »Aber ich werde es für dich tun.« Er machte eine Handbewegung in Glitschers Richtung, der sich gerade wieder um einen Turm wand und diesen dadurch zum Einsturz brachte. »Aber wenn du länger brauchst, weiß ich nicht, ob es dann noch eine Stadt gibt, um deren Rettung wir uns Gedanken machen müssen.« Löse endlich deine Gedanken!, befahl Obez. In Ordnung, in Ordnung. Ich löse sie ja schon, dachte Kos. Lösen, lösen, lösen ... Nein, das tust du nicht, schimpfte Obez. Du denkst an ... Ich versuche es, dachte Kos. Hör mal, ich zähle jetzt bis zehn. Hör mir einfach nur zu. Eins. Zwei. Drei ... Kos zählte innerlich mit ihm mit, kam aber aus dem Takt, als seine spektrale Gestalt aus Obez’ Körper gerissen und in seinen neuen Wirt gestopft wurde. 333
Das Erste, was ihm auffiel, war seine neue Hand. Sie hatte einen hässlichen grünen Farbton und hielt eine unangenehm aussehende Pike. Als Nächstes bemerkte er, dass er nicht einmal entfernt menschlich war. Auch kein Elf, Vedalken oder Loxodon. Kein Bold, kein Oger. Zum Glück auch kein Zombie. Immerhin war er am Leben – oder zumindest der Körper, in dem er steckte. Das Dritte, was er feststellen musste, war der Geruch. Sein neuer Körper roch wie ein Krankenhaus während eines Seuchenausbruchs.
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Kapitel 14
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Und da fraßen das fröhliche kleine Dromad, Mutter Dromad und Papa Dromad den Bauern und seine Familie auf, wan derten heim auf ihre Weide am brodelnden blauen Bach und lebten dort, bis sie alt waren. Dem Bauern hatten sie eine wertvolle Lehre erteilt, und sein Geist wanderte noch bis zum Ende der Welt durch die Wildnis der Unterstadt und erzählte allen, die ihm zuhörten: »Versucht nie, ein fröhli ches kleines Dromad von seinen Eltern zu trennen.« Evkala Beiott, Das fröhliche kleine Dromad (Matkas Kinderbuchverlag, 7290 Z. C.)
31. Cizarm 10012 Z. C. »Ich habe mich geirrt«, sagte Fonn. »Wir werden nicht von allen Seiten angegriffen. Nur von zwei.« »Ja.« Jarad nickte. »Und ich nehme alles zurück, was ich über dich als Jägerin gesagt habe.« »Wir wurden dort oben schon entdeckt«, sagte Fonn. »Ja, aber jetzt sorgst du dafür, dass wir noch mehr ent deckt werden«, sagte der Devkarin. »Du hast den ersten Goblin nach unten gekickt.« »Die Käfige sind dort rechts hinten. Renn hin. Ich halte 335
dir den Rücken frei.«
»Halten wir uns doch gegenseitig die Gegner vom Leib«, antwortete Fonn und zog ihr silbernes Langschwert. Sie überlegte, ob sie den Handschuh abstreifen sollte, aber auch nach all den Jahren vertraute sie dem Griff der zyto plastischen Hand immer noch nicht ganz. Und es juckte schon wieder. Jarad zog seinen Kindjal-Dolch. Er hatte seinen Bogen zurückgelassen, als sie sich abgeseilt hat ten, Weil der Langbogen einfach zu sperrig war. »Sie greifen unkoordiniert an«, sagte Jarad. »Du kannst ausnutzen, dass ...« »Ich habe schon einmal gekämpft, ehrlich«, unterbrach ihn Fonn gereizt. Sie stieß einen Kriegsschrei aus, als sie dem ersten auf sie einstürmenden Todesanbeter entge gentrat – mit einem Tritt gegen das Knie. Dieser würde den Rakdos zwar nicht töten, hatte aber genug Kraft da hinter, um zumindest ein paar schwere Brüche zu verur sachen. Der tätowierte Mensch blockte ihren Stiefel mit der flachen Seite seiner stumpfen Knochenaxt und grin ste sie an. Er hatte nur noch vier Zähne im Mund, aber diese waren spitz zurechtgefeilt. Fonn drehte ihren Fuß, sodass die Axt am Boden festgenagelt war, und trat mit dem anderen Bein zu. Diesmal traf sie das Kinn und schlug dabei alle vier Zähne aus. Der Todesanbeter war schneller, als Fonn erwartet hat te. Er griff mit beiden Händen nach ihrem Fußgelenk, riss Fonn nach oben und warf sie auf den Rücken. Sie rollte sich ab, duckte sich und trennte dem Rakdos sauber die Kniesehne durch. Der Todesanbeter sackte schreiend 336
zusammen. Ohne weitere Raffinesse tötete sie ihn auf der Stelle mit ihrem Schwert. Jarad hatte währenddessen gleich zwei weitere Todes anbeter erledigt. Zwei Trolle mit schweren Steinknüp peln, die nicht viel mehr als Ketten aus Menschenschä deln um den Hals trugen, stürzten sich von beiden Seiten auf den Devkarin. Als Fonn den nächsten Blick nach hin ten werfen konnte, steckte der Kindjal-Dolch in dem ei nen Troll, und die Nase des anderen war von seinem eigenen Knüppel eingedrückt worden. Die dicken Stirn knochen des Trolls waren zersplittert und hatten sich in seine vordere Gehirnhälfte gebohrt. Langsam kippte er nach vorn auf den Körper des anderen Trolls, über des sen Zustand es auch keine Bedenken mehr gab, als Jarad seine Klinge mit einem lauten schlürfenden Geräusch wieder herauszog. Drei brabbelnde Goblins näherten sich Fonn aus deren toten Winkel. Die schrecklich vernarbten kleinen Biester hatten blutverkrustete Stücke Schlacke in den Händen, die mit viel Wohlwollen so ähnlich wie Schwerter aussa hen. Das war genau der Winkel, den weder sie noch Jarad komplett abdecken konnten. Sie riskierte einen ausho lenden Schlag mit ihrem Schwert, der sie kurz die Balan ce kostete, aber alle drei Goblins gleichzeitig zurücktrieb. Zwei schafften es, der dritte nicht. Der Goblin stolperte und erwischte mit seiner Kehle gerade Fonns Schwertspitze. Die anderen beiden fanden das so lustig, dass sie um ihn herumhüpften und ihre improvisierten Waffen schwenkten, bis sie mit einem Timing, für das nur Krokt 337
verantwortlich sein konnte, sich gleichzeitig mit den Waf fen gegenseitig den Schädel einschlugen. Fonn hörte erneut ein Brüllen und riskierte einen Blick auf den riesigen Dämon, der ihren Sohn geraubt hatte. Myc schien am Leben zu sein, eigentlich sogar bei vollem Bewusstsein. Er hockte in der Halskette des Dämons wie ein Kind in einer Schaukel. Der Dämonengott Rakdos wuchs immer noch. Jetzt stieß er schon beinahe mit sei nen Hörnern gegen die Decke. Mit lautem Gebrüll versuchten zwei ViashinoFeuerjongleure, Fonn mit brennenden Geschossen zu treffen. Fonn hackte sie sauber aus der Luft. Ihr Versuch, einen Todesstoß zu landen, brachte jedoch keinen Erfolg. Die Viashinos schienen nicht nur Jongleure, sondern auch gute Artisten zu sein. Beide brachten sich mit einem Salto rückwärts in Sicherheit – in verschiedene Richtun gen. Sie bewegten sich so schnell, dass Fonn sich nicht ganz sicher war, welcher von beiden mit einem Krumm dolch nach ihr stieß und die Schulterkappe ihrer Lederuniform durchschnitt. Die Klinge erwischte auch einen Teil der Schulter, was begeisterte Rufe der Kultisten aus löste. Doch die Anfeuerungsrufe waren nicht laut genug, damit Fonns scharfe Ohren nicht die Bewegung der her umhüpfenden Jongleure hinter ihr mitverfolgen konnte. Sie wartetet ab, bis die beiden wie vorherzusehen wieder vor ihr auftauchten, erwischte den einen dann auf dem falschen Fuß und hieb ihm den Arm ab. Der Viashino kreischte auf, und sein Artgenosse hörte auf herumzutol 338
len und stürzte sich mit in den Kampf. Um sein Maul herum schäumte es rot, weil sich das Wesen im Blut rausch die scharfen Zähne in die dünnen Reptilienlippen gerammt hatte. Er war ganz außer Kontrolle geraten, nachdem sein Gefährte bleich und still geworden war. Reptilienblut hatte den Boden rutschig gemacht. Der Jon gleur machte seinen Ausfallschritt genau im falschen Moment. Er fiel auf die Finte der Ledev herein, sodass sie sich um ihn herumdrehen konnte, um ihn aufzuspießen. Sie verfehlte ihn zwar knapp, aber dafür erwischte Jarad ihn mit der Spitze seines Kindjal-Dolchs und machte der Tollerei ein Ende. Und so ging es weiter, während Fonns Sohn weit über ihnen thronte, nah, aber doch so fern. Wie er so dasaß, kam er Fonn wie der Pokal vor, der am Ende eines selt samen, grausamen Turniers übereicht werden würde. Und das war höchstwahrscheinlich von der Wahrheit gar nicht so weit entfernt, vermutete die Halbelfin. Die Kämpfe kamen stoßweise, aber langsam zogen sie immer größere Aufmerksamkeit auf sich. Sie kamen zwar langsam den Käfigen und ihrem Sohn immer näher, aber nach wie vor standen Jarad und Fonn Rücken an Rücken inmitten einer sich ständig bewegenden Rotte, die einen unförmigen Kreis um sie bildete. Auch wenn es strate gisch keinerlei Sinn ergab, griffen die RakdosKultanhänger immer allein, in Paaren oder höchstens kleineren Grüppchen an. Wahrscheinlich sahen sie es als eine Art Wettkampf, dachte Fonn. Sie hätten schon lange gemeinsam auf sie einstürmen können, aber sie nahmen 339
sich Zeit. Anscheinend waren die Kultanhänger der Über zeugung, dass die verzweifelten Eltern irgendwann keine Kondition mehr haben würden, aber bis dahin noch für beste Unterhaltung sorgten. »Jarad, wir müssen hier raus! Der Dämon wird Myc mitnehmen«, rief Fonn, während sie ein Skelett enthaup tete, das in einer Wojek-Uniform steckte, die bestimmt schon seit dreihundert Jahren aus der Mode war. »Ich musste den Enterhaken zurücklassen!«, rief Jarad zurück. »Er hängt noch oben in den Ketten. Fliegen kann ich nicht, und ich reiche ja noch nicht einmal bis über die Füße des kroktverdammten Dämons! Wie sollen wir dann erst an Myc herankommen?« Ich weiß es auch nicht, dachte Fonn, brachte es aber nicht übers Herz, das auch laut auszusprechen. Rakdos reckte sich zu voller Größe auf. Seine schwar zen Hörner schlugen Funken, als sie gegen die Innendek ke des ihm gewidmeten Tempels stießen. Er ließ erneut ein lautes Brüllen hören. Fonn schrie vor Wut. Sie stürzte sich mit glänzendem Schwert wie ein Thrill-Killer in die Menge, dass das Blut und abgehackte Körperteile nur so in die Gegend spritzten. Man konnte nicht sagen, ob der riesige Dämon sie überhaupt bemerkte, jedenfalls schenkte er ihr keinerlei Beachtung. Myc schien sie zu sehen, aber als sie seinen Namen brüllte, kam keine Antwort, noch nicht einmal ein Nicken. Sie war noch etwa fünfzehn Meter vom Rand der Gru be entfernt und geriet langsam in Gefahr, vom Dämon 340
zertrampelt zu werden. Aber das galt für alle, die sich in der Nähe der Grube befanden, einschließlich der Pfadfin der in ihren Käfigen am Kraterrand. Sie konnte hören, wie die Jugendlichen ihren Namen riefen. Die Wand gegenüber dem Eingang, den sie und Jarad genommen hatten, begann sich zu heben. Zumindest hatte Fonn es für eine Wand gehalten. Sie entdeckte ein halbes Dutzend Oger auf beiden Seiten der riesigen Holz tür. Die stämmigen Kreaturen zerrten an gewaltigen Ket ten, die in schattigen Wandnischen herabhingen. Der Dämonengott drehte sich langsam in Richtung des Fall gatters, wodurch Myc aus Fonns Sichtfeld verschwand. Plötzlich befand sich Jarad wieder an ihrer Seite, und gemeinsam schlugen sie eine Schneise in den Pöbel. Langsam schienen es die Kultisten aufzugeben, einzeln angreifen zu wollen, und drängten von allen Seiten auf sie zu. Doch inzwischen arbeiteten die Ledev und der Devkarin wie ein eingespieltes Team brutal und effizient und ließen den Todesanbetern keine Chance. Der Pöbel war nicht mehr als ein Pöbel, und es konnte immer nur eine begrenzte Anzahl zu der Lebensanhängerin und dem Gildenmeister vordringen, solange die beiden so dicht beisammenblieben. Noch sechs Meter bis zu den Käfigen. Das war der ein fachere Teil, aber um zu dem Dämon zu kommen, muss ten sie die Lavagrube überqueren oder sich einen Weg um sie herum bahnen. Als sie sich bis an den ersten Käfig herangekämpft hat ten, hatte Rakdos den gewölbten Durchgang schon 341
durchschritten und verschwand in den Schatten. »Zenturiadin Fonn!«, rief Orval, und auch eine zweite Stimme fiel ein. »Helfen Sie uns! Zenturiadin Fonn!« Ein riesiger Dämon – der riesige Dämon verschwand gerade mit ihrem Sohn, aber sie konnte diesen Pfadfin dern helfen. Sie hatte immer noch die Verantwortung für sie. Und sie hatten auch irgendwo Eltern. Ein Geschrei durchdrang die Dunkelheit, und ein Auf flackern zeigte an, dass irgendwo gerade etwas in Flam men aufging. Was es war, konnte Fonn nicht erkennen. »Ich kann ihn verfolgen lassen«, sagte Jarad. »Ich habe Käfer dabei.« »Käfer?« »Sie werden mir bei der Verfolgung helfen«, sagte der Devkarin. »Fonn, selbst wenn wir ihn einholen, müssen wir Myc immer noch von ihm herunterbekommen.« Er unterbrach kurz, um einen Goblin aufzuspießen und des sen Leiche anschließend mit einem Tritt in die Lava zu stoßen. »Jarad, ich werde dem Dämon meinen Sohn nicht überlassen!« Fonn war so wütend, wie sie noch niemand erlebt hatte. Darüber selbst nachzudenken war eine Sa che. Zu hören, wie Jarad es vorschlug, war eine ganz an dere. Es machte sie zornig – ihre eigene Haltung war zwar ziemlich unvernünftig, aber es machte sie trotzdem zor nig. Jarad versuchte, sie zu beruhigen. »Er ist erst einmal in Sicherheit.« »In Sicherheit?«, brüllte Fonn. »Wie sollte er ...« 342
»Er hat sich da oben so eine Art Panzerung zusammen gebastelt«, sagte Jarad so beschwichtigend, wie man es mitten in einem hitzigen, aber nicht mehr allzu enthusia stischen Schwertgefecht noch sein konnte. »Schau mal, das Maul des Dämons schützt diesen ziemlich gut. Da durch ist auch Myc geschützt. Zumindest lange genug, bis wir deine Pfadfinder befreit haben und uns gemeinsam auf die Verfolgung machen können.« Fonn dachte sorgfältig über Jarads Worte nach, bevor sie ihm antwortete. Er hatte sie überrascht. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass der Devkarin etwas getan hatte, was sie daran erinnerte, warum sie ihn da mals eigentlich geheiratet hatte. »Du hast Recht«, sagte sie und legte eine Hand auf sei ne Schulter. »Schick deine Spione los. Ich kümmere mich um den ersten Käfig.« Jarad nickte unergründlich und wandte sich seiner Aufgabe zu, seine Käfer zu instruieren und gleichzeitig den Ansturm der Kultanhänger aufzuhal ten. Zuerst gelang es Fonn, Orval zu befreien. Der Zentaur schien bei bester Gesundheit zu sein und schnappte sich sofort eine Hellebarde, die ein toter Troll fallen gelassen hatte. Mit einem wilden Zentauren-Kampfschrei rammte er sie sogleich in den Bauch des Wächters, der seinem Käfig am nächsten stand. Jarad befreite Aklechin und drückte dem jungen Pfadfinder eine Machete in die Hand. »Die Hexe«, stammelte Aklechin. »Die Hexe – sie hat Li ly fortgeschleppt. Und dann ... auch Myc.« »Ich weiß, Aklechin«, versuchte Fonn ihn zu beruhigen. 343
»Wir werden sie alle wiederfinden. Das verspreche ich dir. Aber jetzt müssen wir erst einmal kämpfen. Bleib in meiner Nähe, und denk immer daran, was dir die Ausbil der beigebracht haben.« Der junge Mann versuchte, ein grimmiges Gesicht auf zusetzen. Er nahm seinen gesamten verbliebenen Mut zusammen und beantwortete Orvals Schlachtgebrüll mit seinem eigenen Kampfschrei. Die kleine Gruppe schlug sich mit wilden Hieben ihren Weg um die Lavagrube herum in Richtung des riesigen Torbogens frei. Die Tür rasselte bereits langsam wieder nach unten. Die Zahnräder knirschten mahlend. Sie stürmten auf das Tor zu und schafften es gerade noch hindurch, ohne sich groß bücken zu müssen. Die Kultanhänger, die die Gruppe verfolgten, hatten nicht so viel Glück. Mehr als nur ein Thrill-Killer bezahlte mit seinem Leben, als die Tür sich mit lautem Krachen schloss. »Das hätten wir geschafft«, sagte Aklechin nervös. »Und was machen wir jetzt?« »Hast du Angst vor dem Dunkeln?«, fragte ihn Orval. »Nicht mehr als du«, gab der junge Mann gereizt zu rück. »Seid mal still, alle beide«, sagte Fonn. »Ich versuche, ob ich Myc hören kann.« »Heilige Mutter, Herz des Lebens, du bist in unseren Händen und wir in deinen. Heilige Mutter, Herz des Le bens, du bist in unseren Händen und wir in deinen«, flü sterte Aklechin. 344
»Pfadfinder!«, sagte Fonn. »Zu Befehl!«, sagte Aklechin. »Pfadfinder, ich bewundere deine Hingabe, aber ich benötige jetzt deine volle Konzentration.« »Ich glaube, dass ich weiter vorn ein Leuchten erken nen kann, etwa einen knappen Kilometer vor uns«, sagte Jarad. »Der Dämon legt ein gutes Tempo vor. Den Käfern fällt es nicht leicht, mit ihm mitzuhalten. Ich versuche, ein paar Grünfliegen zu finden.« »Nach dir, Jagdmeister«, sagte Fonn. »Gildenmeister«, korrigierte Jarad sie. Er zog einen Bronzezylinder aus seinem Gürtel und drehte daran. Die Bronze begann zu leuchten und nahm einen hellgrünen Glanz an, der sich weit genug erstreckte, dass sie sich gegenseitig sehen konnten, aber auch nicht viel mehr. Sie waren am Knick des Tunnels angelangt, als das Knirschen des Falltormechanismus wieder zu hören war. Es wurde von den Wänden zurückgeworfen, unterstützt von dem Geschrei der Kultanhänger, die das Tor wieder zu öffnen versuchten.
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Myc wusste innerlich, dass er eigentlich keinen Spaß dabei haben sollte, aber es fiel ihm schwer. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass er sei nen Gürtel dazu benutzt hatte, um sich anzugurten, aber er musste es wohl getan haben. Es ergab ja auch Sinn. Seine unmittelbare Vergangenheit war wie weggeblasen. 345
Myc merkte, dass ihm das nichts ausmachte. Der Pfadfinder schloss die Augen und sah stattdessen wieder durch die des Dämons. Er, oder besser gesagt, sie beide, gingen einen niedrigen Tunnel entlang – niedrig zumindest für Rakdos. Er konnte trotz der Dunkelheit, die für Mycs eigene Augen zu anstrengend war, alles voll ständig erkennen. Ein anderer Teil seines Gehirns, der noch zum ur sprünglichen Myc gehörte, verhielt sich ruhig, blieb im Verborgenen, schaute nur zu und wartete auf den richti gen Zeitpunkt, um einzugreifen und den Ablauf der Erei gnisse zu korrigieren. Der Rest seines ursprünglichen Gehirns nörgelte dagegen, so gut er konnte, gegen sein derzeitiges Bewusstsein an. »Wohin gehen wir, Rakdos?«, fragte Myc mit geschlos senen Augen. Er hatte gemerkt, dass das – und lautes Sprechen – ihm dabei half, mit dem Dämon zu kommu nizieren, ohne von dessen uraltem, riesigem Bewusstsein überwältigt zu werden. Der Dämon antwortete in einer abgehackten Folge von langsamen Schnaufern und kehligen Lauten, die Myc mit seinem Mund nie würde nachmachen können, die er aber tadellos verstand. »Meine Kinder sind ruhelos geworden«, sagte Rakdos. »Es ist die Zeit der Zwietracht. Wir werden sie anführen.« »Was werden wir tun, wenn wir dorthin gelangen?« Myc war sich nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte. »Zuerst gehen wir nach Alt-Ravnica«, sagte der Dämon. 346
»Ich glaube, dass ich uns von dort aus einen Weg an die Oberfläche frei räumen werde. Es ist zu viel Zeit vergan gen, seitdem ich zuletzt die Freuden genossen habe, die die Stadt mir bietet. Als Nächstes habe ich vor, den ver dammten Baum der Lebensanhänger abzufackeln. Und danach könnte ich vielleicht die Boros-Gesetzeshüter und ihre Spielzeugtitanen zerquetschen.« »Das ist eine gute Idee«, sagte Myc, und einen Moment lang meinte er es auch so. Dann kam er doch ins Überle gen. Er hatte viele Freunde an einigen der Orte, die der Dämonengott gerade genannt hatte. Und er war sich ziemlich sicher, dass jemand – seine Mutter? – sogar in zwei dieser Kategorien fiel. Aus irgendeinem Grund wollte er seine Freunde nicht zerstören lassen, erst recht nicht seine Mutter oder seinen Vater. Rakdos versicherte ihm, dass er genau das doch wolle. Sein ursprüngliches Gehirn protestierte wieder und behauptete das Gegenteil. So ging es hin und her. Der Dämonengott stapfte noch ein paar Schritte weiter und streckte dann eine klauenbewehrte Hand aus. Myc schloss die Augen und sah, wie die Krallen einen Hebel umfassten, der so groß wie sein Vater war. Sein Vater. Er konnte seinen Vater klar und deutlich vor seinem inneren Auge sehen, obwohl die Gestalt von Ja ... – Ja – irgendwas schnell verschmolz und sich in einen Dämon mit glühenden orangefarbenen Augen ver wandelte. Der vernunftbegabte Teil seines Gehirns arbeitete ange strengt. Der andere Teil bemühte sich um das Vergessen. 347
Myc und Rakdos zerrten den Hebel nach unten. Dies mal war es eine Tür aus grob behauenem Stein, die zur Seite glitt. Myc blickte durch die Augen des Dämonengot tes nach unten und sah Dutzende überraschter Bürger, die von dem plötzlichen Auftauchen des geflügelten Mon sters wie gelähmt erschienen. Myc stieß ein lautes, bel lendes Lachen aus, und die bereits gehetzten und er schreckten Leute rannten sich beim Fluchtversuch ge genseitig über den Haufen. »Warum hast du gebrüllt?«, wollte der Dämon wissen. »Ich bin nicht dein Spielzeug. Ich verstehe nicht, warum wir uns ein Gehirn teilen, aber bis ich herausgefunden habe, wie ich dich wieder loswerden und zerstören kann, ohne mir selbst bleibenden Schaden zuzufügen, bestim me ich, wann ich brülle.« »Du wärst auf sie draufgetreten«, sagte Myc. »Ja.« »Erst macht man ihnen doch Angst«, sagte Myc, dessen ursprüngliches Hirn gerade die Kontrolle wieder über nahm und der jetzt hastig nach einer eleganteren Lösung suchte. »Und dann drängt man sie in eine Ecke, aus der sie nicht entkommen können. Das macht doch viel mehr Spaß.« »Das finde ich nicht«, sagte der Dämon. »Aber diese Mücken machen eh noch nicht so viel Spaß. Meine Haustiere warten oben. Sie kündigen meine Rückkehr an.« »Die Ratten?« »Ja, die Ratten«, stimmte Rakdos zu. »Sie warten am El 348
fenbaum auf mich. Ich glaube, wir sollten dort anfangen, um dann weiterzuziehen, sobald ich meinen ersten Hun ger gestillt habe.« Myc musste beim Gedanken daran, was Rakdos vorhat te, einen Kälteschauer unterdrücken. Der Vitu Ghazi war das Herz des Selesnija-Konklaves. Aber es war nicht nur die abstrakte Bedrohung, die ihm zu schaffen machte, sondern die direkte Sorge um einen alten Freund der Familie. Der alte Wolf namens Biracazir war inzwischen Teil des Konklaves geworden. Myc hatte viele Tage damit verbracht, mit Bir zu kommunizieren, der ihm wertvolle Ratschläge gegeben hatte. Der Wolf hatte Myc auch bei gebracht, wie man mit der Methode der einfachen Ge danken und Bilder einzelne Lebensstränge aus dem Ge sang herausfischen konnte. Immerhin hatte er den Dämon genug abgelenkt, dass dieser sich jetzt nicht in Alt-Ravnica, Mycs zweiter Hei mat, austobte. Aber wenn ihm nichts einfiel, wie er den Dämon aufhalten konnte, bevor dieser die Oberfläche erreichte, was würde dann geschehen? Er traute sich nicht zu flüchten. Das würde bedeuten, dass Rakdos völ lig unkontrolliert wäre. Und ihre Gehirne waren immer noch verbunden. Er bezweifelte, dass sich das einfach so ändern würde, wenn er sich mir nichts, dir nichts ver drückte. Das Leben war wirklich nicht einfach, wenn man klug, elf Jahre alt und an einen blutrünstigen Dämon gebunden war – vor allem, wenn man dazu noch mit einem über großen Verantwortungsgefühl gestraft war. 349
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»Der Ausgang!«, rief Orval. »Dort oben!«
Das Licht drang nur schwach in den hohen Tunnel, aber Fonn blickte trotzdem in die Richtung, in die der Zentaur zeigte. Dort war tatsächlich und unbestreitbar ein schmaler orangefarbener Schimmer, wo das letzte Tages licht durch eine Öffnung auf eine hohe Mauer fiel. Und auf eine lange Eisenleiter, die nach oben führte. »Wir können an die Oberfläche klettern und sie war nen«, sagte Aklechin. »Frau Zenturiadin, mit allem Re spekt ...« »Ja, ich weiß, Pfadfinder.« Fonn seufzte bitter. »Du hast ja Recht. Ich muss zuerst euch beide hier herausbrin gen.« Jarad versuchte sie zu trösten. »Fonn, ich werde ihn weiter verfolgen. Ich hole Myc zurück, und ich werde dir Bescheid geben, sobald er in Sicherheit ist.« Er wog den grünen Stein, den er um den Hals trug, in der Hand. »Irgendwo ist noch einer der Pfadfinder«, sagte Fonn. »Ein Mädchen. Lily. Falls du sie findest ...« »Ich werde mein Bestes tun«, sagte der Devkarin. Bevor sie kapiert hatte, was sie gerade tat, beugte sich Fonn zu ihm hinüber und küsste ihn leicht auf die Lip pen, nur um sich dann ruckartig wieder zurückzuziehen. Sie hatte nicht vorgehabt, das zu tun, und im schwachen, grünlichen Licht war es auch unmöglich, eine Reaktion auf Jarads Gesicht abzulesen. »Viel Glück«, sagte sie schließlich. 350
Jarad grinste, was bei einem Devkarin so viel wie ein breites, offenes Lächeln bedeutete. »Fonn, wenn ich zu rück bin, werde ich ...«, sagte er. »Wir müssen uns unterhalten«, sagte Fonn. »Das stimmt«, sagte Jarad. »Wir sehen uns dann später alle zusammen.« Der Devkarin drehte sich um und eilte ohne ein weite res Wort davon. Einen Moment später, als das leichte Glimmen des Leuchtstabs von der Dunkelheit verschluckt wurde, war er nicht mehr zu sehen. »Ui«, sagte Orval. »Sie haben ihn geküsst.« Fonn ignorierte den Kommentar und war froh, dass die Dunkelheit auch die Röte verbarg, die ihr ins Gesicht gestiegen war. »Orval, schaffst du es, die Leiter hochzu klettern?« »Warum sollte ich das denn nicht schaffen?«, wollte der Zentaur wissen. »Weil du – ach, auch egal«, sagte Fonn. »Jetzt klettere schon los. Und danach du, Al.« »Ich heiße Aklechin«, beschwerte sich der junge Pfad finder und fügte dann schnell ein »Frau Zenturiadin« an. »Ich finde, Al passt zu dir«, sagte Fonn. »Ich bilde dann die Nachhut.« »Ich muss wirklich hinter ihm herklettern?«, fragte Aklechin ungläubig. »Warum willst du nicht hinter mir herklettern«, fragte der Zentaur, der einen Huf bereits auf der untersten Stufe hatte und sich mit seinen zwei starken Armen nach oben zog. 351
»Bewegt euch, Pfadfinder«, sagte Fonn. »Das ist ein Be fehl.« Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Gesang, während sich die Pfadfinder die quietschende Leiter hochhangelten. Das Krakeelen ihrer Verfolger wur de langsam immer lauter. Sie hatten höchstens noch eine oder zwei Minuten Vorsprung. Die Rakdos waren nur deshalb noch nicht so weit gekommen, weil sie unterein ander darum kämpften, wer an der Spitze des Verfolger feldes sein durfte. Sie fand Myc im Gesang, aber er war immer noch im Griff des schiefen Tons, der wohl vom Dämonengott her rührte. Der Devkarin würde keine Probleme haben, den Dämon einzuholen, wenn er sein Tempo beibehalten würde. Jarad konnte sein Tempo über Meilen halten, ohne groß in Schweiß auszubrechen. Sie suchte nach Jarads Ton und fand ihn, wie er in der Dunkelheit immer schwächer summte. Aklechins Geflü ster störte sie in ihrer Konzentration. »Frau Fonn? Ich glaube, ich sehe Fackeln. Sie kommen hinter uns her!« Fonns Konzentration verschwand ganz, als nun die Rakdos-Anhänger in den Tunnel strömten. Hinter ihnen war es zwar immer noch dunkel, aber sie konnte die Kultanhänger hören. Sie zog sich mit all ihrer verbliebe nen Kraft die Leiter hoch, Stufe um Stufe. Es ging deutlich über sechzig Meter weit nach oben, wobei die Hälfte der Strecke oberhalb des Tunnels lag, durch den sie gekom men waren, während die andere Hälfte eher ein enger 352
Schacht war, der durch die Unterstadt führte und hoffent lich an der Oberfläche endete. Das Licht, das sie gesehen hatten, war bereits verloschen, aber von oben strömte immer noch ein sanftes Licht ein, das den oberen Teil des Kletterwegs erleuchtete. Die Pfadfinder gingen erstaunlich locker damit um, be sonders der Zentaur. Sie hatte sich vorher nie gefragt, wie Zentauren wohl Leitern bewältigen würden. Die Antwort war einfach: Zentauren hatten unglaublich starke Ober körper und überraschend viel Gefühl in ihren Vorderbei nen und -hufen. Orval erklomm die Leiter schnell, ob wohl er seinen riesigen Unterkörper mit sich herum schleppen musste. Al war etwas langsamer, aber wenn man die Umstände der letzten Stunden betrachtete, hat ten beide noch eine anständige Geschwindigkeit drauf. Fonn dagegen war schon außer Atem, als sie die Geräu sche hörte, dass weit unter ihr jemand die Leiter hoch kletterte. Sie riskierte einen Blick nach unten und musste sofort husten, weil ihr eine schwarze Rauchwolke in die Nase stieg. Nach so langer Zeit im Tunnel blendeten die Rakdos-Fackeln sie beinahe, aber immerhin konnte sie erkennen, dass fast das gesamte Rakdos-Gesocks die Ver folgung aufgenommen zu haben schien. Ein paar unter nehmungslustige Goblins hatten bereits angefangen, die Leiter hochzuklettern, und mehrere Menschen folgten ihnen. »Beeilung«, rief Fonn. »Klettert schneller!« »Wir werden verfolgt, oder?«, fragte Aklechin. »Ja«, sagte Fonn. »Aber ich bin mehr über das Gesamt 353
gewicht beunruhigt, dass der Leiter abverlangt wird ...« Unter ihr kreischte Metall und verbog sich, als ob es Fonns Aussage unterstützen wollte. Orval erreichte das obere Ende der Kletterroute genau in dem Moment, an dem der schnellste Goblin versuchte, Fonns Fuß mit einem Schlag zu erwischen. Der Goblin bekam keine zweite Chance. Fonn pflanzte einen Stiefel in das Gesicht der Kreatur und drückte sie nach unten. Der Goblin konnte sich nicht festhalten und stürzte wild um sich schlagend ab. Er erwischte seinen Artgenossen, der unter ihm hochkletterte, mit allen vier Klauen hinten im Nacken. Der zweite Goblin kreischte auf und verlor nun seinerseits den Halt. Beide verfluchten einander und versuchten sich die Augen auszukratzen, bis sie gemein sam in die zusammengedrängte, anfeuernde KultistenGruppe stürzten. Der Kultanhänger, der nun die Leiter am weitesten er klommen hatte, war ein Mensch, aber nur noch gerade so. Seine Wangen waren glatt abgeschnitten, wodurch er dauerhaft das Grinsen eines Skelettes zeigte. Sein kahler Kopf war mit hunderten Narben übersät, und er trug ei nen Dolch zwischen seinen mit Silber überzogenen Zäh nen. Er zwinkerte Fonn zu, während er weiterkletterte. Das Schicksal der Goblins schien ihn nicht weiter zu stö ren. Form kletterte weiter, so gut sie konnte, und schaute nebenher noch nach den Pfadfindern. Orval hatte es bis zum Ausgang geschafft und öffnete die Klappe zur Au ßenwelt, was ein metallisches Geräusch erzeugte. Akle 354
chin klammerte sich gerade mit beiden Händen am festen Untergrund fest, als die Leiter erneut laut quietschte, diesmal schon deutlich bedrohlicher. Form spürte, wie die Eisenleiter unter ihr seltsame Ge räusche von sich gab, so als ob sich lebenswichtige Schrauben und Bolzen lösen würden. Aber zum Glück hatte sie es nicht mehr weit. Die Eisenleiter löste sich von der Wand und kippte leicht über. Form begann zu schreien, beherrschte sich aber gleich wieder. Die Leiter war nur stark verbogen. Wäre ihre zytoplastische Hand nicht so stark, hätte es gut sein kön nen, dass sie dem Rakdos nachgefolgt wäre. Dieser war von dem plötzlichen Umkippen des Klettergeräts zu über rascht gewesen und von der Leiter gerutscht. Der Todes anbeter prallte noch ein paar Mal gegen die jetzt schief stehenden Sprossen, bevor er in die Tiefe stürzte. Beinahe musste Fonn lachen. Die Leiter war die letzten Meter zum Boden hinuntergerutscht, wurde aber immer noch vom Ausstieg in der Decke gehalten. Sie war so gut wie sicher. Allerdings nur so gut wie. Sie war leider keine zwei Me ter vierzig groß. Selbst von der obersten Sprosse aus konnte sie das Ausstiegsloch nicht erreichen, auch nicht, wenn sie sprang. Der Schacht war zu eng, um die Knie entsprechend beugen zu können. Sie versuchte, das den beiden besorgten Gesichtern über ihr zu erklären. »Ihr müsst mich hier zurücklassen«, sagte sie. »Orval, 355
du hast jetzt ...« »Nein, Frau Fonn«, unterbrach sie Aklechin. »Orval, halt mal meine Beine fest.« »Al, macht, dass ihr beide hier rauskommt«, befahl Fonn. Die Leiter gab immer seltsamere Geräusche von sich, je mehr Kultanhänger hinaufstürmten. »Nein, Frau Fonn«, sagte jetzt auch Orval, der Aklechin an den Fußgelenken packte. Bevor Fonn einen weiteren Einwand erheben konnte, hing Aklechin kopfüber im Schacht. Seine ausgestreckten Arme waren genau in ihrer Reichweite, wenn sie sich ganz reckte. Sie konnte gleich beim ersten Versuch die Handgelen ke des jungen Pfadfinders greifen, und Aklechin rief Or val zu, ihn hochzuziehen. Gemeinsam zerrten die jungen Pfadfinder ihre Anfüh rerin nach oben. Zusammen purzelten die drei durch den Ausgang auf eine Straße, die Fonn erkannt hätte, wenn sie nicht den grauen Himmel angestarrt hätte, an dem einzelne Sterne blinkten. Noch einmal gab das Metall der Leiter gequälte Töne von sich, dann hörte Fonn, wie das Klettergerät endgültig nachgab und abkippte. Die Schreie der abstürzenden Kultanhänger gingen in den Anfeuerungsrufen der ande ren Todesanbeter unter, die sich über ein unerwartetes Blutvergießen freuten. Die Ledev krabbelte zum Rand des Lochs und blickte nach unten. Ein schiefes Lächeln begrüßte sie, und sie blinzelte überrascht. Die Faust des Rakdos-Kultanhängers traf sie direkt am Kinn und warf sie um. Der Mann zog sich mit 356
beiden Armen hoch und war schneller auf der Straße, als die anderen es bemerken konnten. Er nahm eine gebück te Haltung an und knurrte, während er einen gezackten Dolch zückte. Wären Fonn und die beiden Pfadfinder nur einen hal ben Meter näher an dem Thrill-Killer gewesen, wären auch sie von dem riesigen Fuß des Nephilims zerquetscht worden. Der Fuß hob sich wieder, um das nächste Mal ein paar Meter hinter ihnen aufzusetzen. Der nächste Fuß kam schon auf sie zu, aber bis dahin waren sie längst in Deckung gegangen. »Verfolgen diese Wesen uns, Frau Zenturiadin?«, fragte Orval, während sie gemeinsam beobachteten, wie das riesige Steinwesen die breite Straße hinabpolterte. »Ich weiß es nicht, Pfadfinder«, sagte Fonn. »Wenn sie hinter uns her sind, dann haben sie uns verfehlt. Aber es sieht so aus, als ob sie dieselbe Richtung wie der Dämon eingeschlagen haben. Und der Dämon wird immer größer und größer ...« Fonn geriet ins Grübeln. Was war mit den Nephilim geschehen, hing es mit dem Kult zusammen? Und was hatte die Flüssigkeit für Auswirkungen auf Myc gehabt? »Wir ändern den Plan«, sagte Fonn. »Ihr beide kommt nicht mit mir mit.« »Wie bitte?«, sagte Aklechin verwirrt. »Ich habe es inzwischen geschafft, euch in drei ver schiedenen Situationen beinahe umkommen zu lassen«, sagte Fonn. »Ich werde meinen Sohn zurückholen, oder ich werde beim Versuch dazu sterben. Ich möchte nicht 357
auch noch euch beide da mit hineinziehen.« »Wir sind Ledev-Pfadfinder, Frau Scharführerin!«, sagte Orval. »Solange Sie uns nicht aus der Ledev-Wache hi nauswerfen, bleiben wir an der Seite unserer Anführerin.« »Genau«, stimmte Aklechin zu. »Wir wollen Myc eben falls zurückhaben. Und Lily, wo auch immer sie steckt.« Fonn fiel kein gutes Gegenargument mehr ein. Außer dem – wo konnte sie Orval und Aklechin schon hinschik ken? Wo würden sie in Sicherheit sein? Die Nephilim befanden sich zwischen ihnen und dem Vitu Ghazi. Plötz lich kam ihr der Gedanke, dass die Nephilim es gar nicht auf Rakdos abgesehen haben könnten. Vielleicht war auch der Baum ihr Ziel, oder ein anderer Teil der Innen stadt. Wenn man sich mit sich selbst stritt, hatte man ir gendwann das Problem, dass man den Streit gewann, stellte Fonn fest. Sie nickte und klopfte mit der Faust auf ihr Herz. Die Pfadfinder erwiderten den Gruß. »In Ord nung, Pfadfinder«, sagte Fonn. »Folgt dem Monster!«
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Mycs eigentliches Gehirn war sich ziemlich sicher, dass es inzwischen wieder die Kontrolle über seine Aktionen übernommen hatte, aber wollte sich noch nicht zu er kennen geben. Der Dämon näherte sich immer weiter der Spitze von Rix Maadi und der Stelle, an der die Behau sung der Rakdos-Anhänger an die Oberfläche stieß. Myc überlegte fieberhaft, wie er den Dämonengott stoppen 358
könnte, bevor dieser es bis ganz nach oben geschafft hatte und direkt auf dem großen Zentralplatz durch den Boden brechen würde. Und was noch schlimmer war – wenn Mycs Abschätzung stimmte, war der improvisierte Ausgang des Dämons ganz in der Nähe des Vitu Ghazi. Und auch wenn Myc noch relativ jung und neu bei den Ledev war – auch er hatte einen Eid darauf geschworen, den Baum unter Einsatz seines Lebens zu verteidigen. Der junge Ledev suchte immer noch nach einer Lö sung, als er hörte und spürte, wie die riesige Faust des Dämons die Steinschicht zerschmetterte. »Ha! Sie denken wahrscheinlich, dass sie schon Auf stände gesehen haben!« Der Dämon lachte laut. Das gab Myc zu denken. Rakdos hatte Recht. Es hatte vorher schon Aufstände gegeben. In den letzten zehntau send Jahren war der Dämonengott oft über lange Zeit räume im Verborgenen geblieben. Es wurde angenom men, dass er sich dabei an sadistischen Vergnügungen erfreute, genau konnte es aber niemand sagen. Aber er war immer wieder zurückgekehrt, hatte seine Anhänger aufgestachelt, bis sie in einem mörderischen Blutrausch waren, und dann zugeschaut, wie sie in die Stadt ström ten und dort Chaos anrichteten. Genau konnten sie nie vorhergesagt werden, aber über längere Zeit hinweg ge sehen, konnte man sagen, dass die Intervalle zwischen den Aufständen immer ähnlich waren – anscheinend wurde es dem Dämon Rakdos immer nach einer be stimmten Zeitspanne langweilig. Aber in all den zehntausend Jahren war es nicht vorge 359
kommen, dass der Dämon selbst, durch irgendeinen Zau berspruch plötzlich von titanenhafter Gestalt, die Stadt angegriffen hätte. Myc krümmte sich zusammen, als er den nächsten Hieb spürte. Staub, Steine und Trümmer regneten von oben herab. Vielleicht war es dem Dämo nengott einfach vorher nie eingefallen, dass er sich nur bis nach oben durcharbeiten musste, um die Stadt unmit telbar angreifen zu können. Irgendetwas stimmte nicht. Vielleicht war der Gesang nicht so stark, weil Rakdos’ Gehirn sich einmischte. Viel leicht war der Gesang schwächer geworden. Oder es lag an Rakdos’ körperlicher Nähe zum Vitu Ghazi, dass der Gesang anders klang. Trotz der Bullenhitze, die der Dämon ausströmte, lief es dem jungen Pfadfinder kalt den Rücken herunter.
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Kapitel 15
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Ein dreifaches Hoch auf den Stammvater der Simic! Momir Vig ist erst seit ein paar Wochen als neuer Gildenmeister im Amt, aber seitdem sind bereits über ein Dutzend neuer Kliniken mit kostenloser medizinischer Behandlung überall dort entstanden, wo sie am meisten benötigt werden. Wir finden, dass jeder, der es ablehnt, im Gegenzug für gute Gesundheit eine kleine Verzichterklärung zu unterschrei ben, unhöflich, undankbar und misstrauisch ist. Ein dreifa ches Hoch auf Momir Vig! »Ein dreifaches Hoch«, Ravnicas Gildenbund-Zeitung (11. Tevnember 9211 Z. C.)
31. Cizarm 10012 Z. C. Kos war ein Virus. Ein Ein-Meter-achtzig-Virus, grün, mit leichter Panzerung, gehfähig und mit einer seltsamen Pike bewaffnet. Die Klinge war eine Art Metallwinkel, der von Pilzen überzogen war und auf einem langen und schmalen Oberschenkelknochen eines dünnbeinigen Riesen steckte. Das Virus lief barfuß herum, aber Kos konnte sich auch nicht gut vorstellen, wie seine Fuß stümpfe in irgendwelche Schuhe oder Stiefel passen soll 361
ten. Während Kos noch seine neuen Füße betrachtete, entdeckte er, dass auch der Fußboden aus organischem Material zu sein schien. Der Boden glühte schwach von unten, und ein wirres Netzwerk von etwas, das wie Blut adern aussah, pulsierte unter der lederigen Oberfläche. Virus Kos stand allein in einem leeren Flur, aber er hörte schmatzende Fußstapfen, die sich näherten. Aller dings konnte er sich bei diesem Untergrund keinerlei Schritte vorstellen, die nicht komische Geräusche verur sachen würden, daher verriet der Klang nichts darüber, wer auf ihn zukam. Aha, ich bin also ein Virus, dachte er an Obez gerichtet. Virusoid, sagte eine unbekannte Stimme, die so wenig nach Obez klang, wie es nur ging. Natürlich, er steckte ja nicht mehr in Obez. Oder doch? Ja, ein Virusoid. Obez vertraute Stimme meldete sich in seinem Kopf, aber sie klang etwas verzerrt, so als hätte sich ein mentales Rauschen dazwischengelagert. Ich kann dich hören. Natürlich kannst du das, ich bin ja schließlich dein An ker. Stimmt ja. Und warum bin ich ein Virus? Virusoid, wiederholte das Virusoid. Warum bin ich ein Virusoid, wollte ich fragen? Weil es stark und widerstandsfähig ist, schwer zu ver nichten und wahrscheinlich vom Stammvater nicht beach tet wird, antwortete Obez. Es hat zudem die richtigen Fre quenzen. Solange auch nur ein kleiner Teil deines Virusoi denfreunds noch lebt, brauchst du nichts zu befürchten. Sie 362
haben nicht viel, was man als Gehirn bezeichnen könnte, Vig verwendet sie hauptsächlich als Arbeitskräfte für kör perliche Arbeit. In dieser Verkleidung kannst du wahr scheinlich problemlos in das Hauptlabor vordringen, Spu ren suchen und all die anderen Sachen, die Wojeks immer tun. In kürzester Zeit fühlte sich Kos in dem ungewohnten, seltsamen Körper des Virusoids recht wohl. Er hatte den Eindruck, dass es einfacher war, eine Person – ein Virus, ein Wesen – zu übernehmen, die geistig nicht zu viel auf dem Kasten hatte. Er wusste nicht genau, ob er das wirk lich gut fand, aber seit wann bekam Agrus Kos auch das, was er wollte? Ruhig und friedlich als Rentner leben? Tut uns Leid, Kos, wir müssen da erst ein paar Dracheneier ausbrüten. Die stille Umarmung des Todes? Hättest halt die Papiere damals nicht unterschreiben sollen, alter Mann. Eine zweite Chance? Vergiss es, du bist ein Avatar und wirst Befehlen folgen. Immerhin war das Befolgen von Befehlen etwas, was er gut kannte. Und es war ja auch nicht alles schlecht: Er hatte seine Erinnerungen komplett zurück, auch wenn nicht alle darunter glücklich waren, sondern manche eher das exakte Gegenteil. Bist du langsam so weit?, wollte Obez wissen. Tut mir Leid, antwortete Kos. Ich musste kurz nachden ken. Und wo geht es jetzt zum Labor? Immer der Nase nach. Wie bitte? Nase? Immer seiner Nase nach, sagte Obez. Das Virus weiß, wo 363
es langgeht. Virusoid, protestierte das Virusoid. Virusoid, nickte Kos.
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Teysa wollte ihren Ohren nicht trauen. »Ihr ruft eine Sitzung des Senats ein?«, sagte sie un gläubig. »Haben Sie Einwände?«, sagte Augustin IV. Leichte Amüsiertheit schwang in seiner donnernden Stimme mit. »Es ist nur gerade ein Gebäude auf Prahv gestürzt«, sag te Teysa. »Als ... Gildenmeister«, begann Feder, dem das Wort noch schwer über die Lippen zu gehen schien. »Ich muss sagen, Euer Ehren, dass ich das für ungeschickt halte. Unsere erste Sorge müsste doch die Sicherheit der Stadt sein. Ich wäre überrascht, wenn Ihr überhaupt genügend Mitglieder des Senats zusammenbekommen würdet, um handlungsfähig zu sein. Müssen nicht jeweils zwei Drittel des Oberhauses und des Unterhauses anwesend sein?« »Ich rufe die Sitzung des Senats ein«, wiederholte der Große Schiedsmann. »Ich bin dazu durch die Notfallgeset ze bevollmächtigt, die im Gildenpakt niedergeschrieben sind.« »Nun, Ihr könnt einberufen, wen Ihr wollt«, sagte der heilige Kel. »Ich hingegen werde zum Vitu Ghazi zurück kehren, falls der Baum noch steht.« »Das ist Euer gutes Recht«, stimmte der Große Schieds 364
mann zu. »Seid vorsichtig.« »Euer Ehren«, sagte Feder. »Ich glaube, der Lebende Heilige ...« »Was Ihr glaubt, Gildenmeister, ist uninteressant«, sagte der Große Schiedsmann. »Bei Hesperias Flügeln, ich wer de meinen Senat einberufen, wenn und wann ich es für richtig halte. Es gibt einiges zu besprechen.« »Ihren Senat?«, sagte Teysa. »Ihr befindet Euch in einer Ruine, Euer Ehren, und bei allem Respekt, wir haben dafür jetzt wirklich keine Zeit. Feder ... Gildenmeister Pierakor hat Recht. Ich bitte Euch, Eure Entscheidung noch einmal zu überdenken.« »Ohne die gebührende Vorgehensweise werden wir im Chaos versinken«, sagte Augustin abwesend. Er schien zu niemandem im Raum direkt zu sprechen. »Die Senatoren, Minister und anderen Angehörigen des Senats mögen sich zu uns gesellen.« »Zu uns gesellen«, wiederholte die Jury der Seelen. Ihre vielen Stimmen klangen wie ein eingespielter Chor, sanft und eindringlich zustimmend. »Gesellt euch zu uns. Sie werden sich zu uns gesellen.« »Nein danke«, sagte der Loxodon und stampfte die Stu fen hinunter, um den gleichen Ausgang zu nehmen, den auch der Dieb Capobar gewählt hatte. »Der hat sie doch nicht mehr alle«, grummelte der Lebende Heilige dabei leise. Es herrschte eine lange, ungemütliche Stille im Raum, nachdem der Loxodon verschwunden war. Schließlich war es Feder, der den Azorius ansprach. »Euer Ehren, Ihr 365
müsst tun, was Ihr tun müsst. Aber das muss ich auch.« Der Engel zeigte auf das riesige Wrack, das über die Hälfte des zerstörten Senatsgebäudes einnahm. »Ich habe vor, das Parhelion zu betreten und dort Razias Körper zu ber gen.« »Und ich gehe mit ihm.« Teysa war wahrscheinlich überraschter als Feder, als sie sich das sagen hörte. Sie war sich nicht sicher, aus welcher Motivation heraus sie sich innerlich dazu entschlossen hatte – das Unbehagen, das sie gegenüber dem Großen Schiedsmann spürte, oder die starke Neugier, was sich an Bord des Parhelions be finden mochte. Es gab auch noch eine dritte Möglichkeit, und sie entschied sich, dass dies wohl die wahrschein lichste war: Sie bekam es langsam mit der Angst und fühlte sich in Gegenwart des Engels einfach sicherer. »In Ordnung.« Der Engel nickte. »Das könnte hilfreich sein.« Erst beim Ausatmen merkte Teysa, dass sie vor Span nung die Luft angehalten hatte. Die Advokatin und der Engel bahnten sich gemeinsam einen Pfad durch die Trümmer. Sie steuerten das einzige Landedeck an, das sichtbar war, auch wenn es leicht zur Seite gekippt war. Der Große Schiedsmann schwieg. Erst als das ungleiche Paar den äußeren Rand des Decks er reicht hatte, sprach er wieder, aber nicht zu ihnen. »Ihr alle, kommt heim«, sagte er. »Der Senat ist einberu fen. Die Senatoren haben sich unmittelbar einzufinden.« Feder half Teysa auf das Deck hoch, und mithilfe ihres Gehstocks, den sie im ganzen Chaos nicht verloren hatte, 366
konnte sie sogar auf der gekippten Oberfläche stehen. Plötzlich donnerte es wieder hinter ihnen, und sie sa hen einen neuen Trümmerberg, der sich außerhalb des Decks auftürmte. Ein weiterer Teil des Dachs des Senats gebäudes hatte nachgegeben – ob zufällig oder bewusst herbeigeführt, war nicht zu sagen. Jedenfalls waren Teysa und Feder nun in einem Gei sterschiff eingeschlossen. Einem Geisterschiff ohne Gei ster, wie Teysa hoffte.
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Kos brauchte nicht lange, um zu merken, dass irgendet was im Gewächshaus stank. Das Gehirn des Virusoids war einfach aufgebaut, aber es ließ sich sehr gut leiten. Und es hatte die Dauerbefehle »Halte Eindringlinge auf!« und »Bereite dich für den nächsten Schritt vor!« gespeichert. Kos hatte größere Probleme, aus dem langsam denken den Bewusstsein des Wesens herauszufiltern, was mit dem »nächsten Schritt« gemeint war. Das werde ich schon noch herauskriegen, sagte er zu sich. In seinem Gehirn befand sich niemand, der es wert war, das erzählt zu bekommen. Es hatte sich herausgestellt, dass die schmatzenden Schritte von einem anderen Virusoid stammten, das ihm entgegenkam. Dabei hatte Kos die Gelegenheit zu sehen, wie er inzwischen aussah. Wenn der Wächter, den er sich geliehen hatte, so ähn lich wie dieser Bursche aussah, hatte er nur die Andeu 367
tung eines Gesichts. Der Mund war nur ein breiter Schlitz, es gab keine Nase und nur helle Flecken eines leuchten den Grüns, wo die Augen hätten sein sollen. Nein, es mussten doch richtige Augen sein, stellte Kos fest. Sonst wäre er ja nicht in der Lage, das andere Virusoid zu se hen. Sie waren nur einfach nicht ganz so kompliziert aufgebaut. Kos war sich nicht sicher, ob er im Vorbeigehen dem anderen Virusoid zunicken sollte, und tat es dann doch ganz automatisch. Das ließ die andere Kreatur kurz anhal ten, aber Kos ging weiter und hoffte inständig, dass die einfachen Gedankenprozesse des anderen Virusoids bald wieder die Kontrolle über dessen Bewegung übernehmen würden. Einige Sekunden lang glaubte er, dass er damit durch gekommen war, aber dann stoppten die Schritte plötz lich, und Kos konnte hören, wie das Virusoid sich um drehte und hinter ihm herging. Die fremden Schritte wurden nicht schneller, um ihn etwa einzuholen, aber sicherlich auch nicht langsamer. Ich glaube, ich werde verfolgt, dachte Kos. Bleib ruhig, sagte Obez. Und denk daran, nicht zu nik ken, solange dir niemand einen Befehl gibt. Und was auch immer du tust, sprich nicht laut. Das Virusoid hat zwar die Anlage dafür, aber sie haben nicht die Fähigkeit einge pflanzt bekommen, es auch tatsächlich zu tun. Deine wahre Natur würde sofort entdeckt werden. Gut, dann halt keine langen Reden. Was soll ich machen, wenn ich das Labor erreiche?, fragte Kos. 368
Du musst improvisieren, kam als Antwort. Falls du den Vampir entdeckst, töte ihn, würde ich sagen. Wenn nicht, kommst du so schnell wie möglich wieder hierher zurück, sobald die halbe Stunde um ist. Wie viel Zeit habe ich noch? Du bist erst drei Minuten hier. Hör bitte einfach nur auf, Leuten zuzunicken, als wärst du noch ein Wojek, der auf Streife geht. In Ordnung? Alles klar. Die Schritte, die ihm folgten, hielten sein Tempo, ka men ihm aber nach wie vor nicht näher. Nach einer Wei le war sich Kos auch nicht mehr sicher, ob der andere Wächter wirklich ihm folgte. Es konnte auch ein reiner Zufall sein. Und wenn er hier etwas herausfinden wollte, musste er annehmen, dass es ein Zufall gewesen war. Trotzdem war er froh, als er hörte, wie sich die Schritte in eine andere Richtung entfernten, als er durch eine asymmetrische Membrantür geschlüpft war, die wie der Eingang zu einem riesigen Darm wirkte. Und so roch es auch. Kos wusste, dass er in die richtige Richtung ging, weil sein geliehener Körper ihm das sagte. Es war ein seltsa mes Gefühl, wenn das Bewusstsein nicht nur vom Kopf, sondern vom ganzen Körper ausging. Er war sich nicht ganz sicher, aber es fühlte sich so an, als ob das Virusoid noch nicht einmal ein Skelett besaß, geschweige denn die üblichen Organe wie Gehirn, Herz und den ganzen Rest. Aber der seltsame Körper wusste genau, wo er hingehen musste, wenn er ihm den einfachen Befehl Such den 369
Stammvater! gab. Kos musste nur seinen Beinen vertrau en. Er begegnete noch mehr Simic auf dem Weg. Es liefen nicht nur stumme Wächter herum, wie er selbst gerade einer war, sondern auch Vedalken, Menschen und ab und zu auch ein Viashino oder ein Goblin. Alle wiesen ir gendwo am Körper zytoplastische Veränderungen auf. Kos hatte in Dr. Nebuns Praxis Ähnliches gesehen, selt same Abweichungen von den einfachen künstlichen Gliedmaßen wie Fonns Hand. Ein Vedalken rempelte ihn an, der eine durchsichtige Krabbenschere als Hand hatte, die fast noch einmal so lang wie der Rest seines Arms war. Er musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbrin gen, um nicht vor Schreck zur Seite zu springen, sondern ganz normal weiterzuschlurfen. Zwei Goblins gingen schweigend an ihm vorbei. Allerdings wedelten sie wie wild mit den Armen, und ihre Lippen bewegten sich, ohne jedoch ein Wort herauszubekommen. Das Virusoid teilte ihm wortlos mit, dass die knollenförmigen Helme der Goblins sie zu Kurzstreckentelepathen machten, diese Veränderung ihnen jedoch auch das Sprachzentrum ge raubt hatte. Eine Frau in silbernen Gewändern, die ab der Hüfte aufwärts relativ normal aussah, eilte vorbei. Aller dings war ihre Haut unnatürlich blau, und ihre Beine trennten sich unterhalb der Hüfte in jeweils vier Teile, sodass sie auf acht insektoiden Gliedmaßen lief, die win zige Löcher in den lederigen Boden bohrten. Sie war nur etwa halb so groß wie Kos, dafür hatte sie an beiden Ar men eine Reihe von Augen ohne Lider. 370
Als die Silberne Witwe vorbeigehuscht war, merkte Kos, wie er automatisch die kleinen Wunden näher be trachtete, die von den Klauen der Spinnenfrau im Boden hinterlassen worden waren. Rötliches Harz war aus allen Löchern ausgetreten und verschloss die Löcher wieder innerhalb von wenigen Sekunden. Das Gewächshaus schien sich zu einem gewissen Grad selbst zu heilen. Eigentlich war es ja auch ein Riesenpilz, und für Kos sah das Harz verdammt nach Blut aus. Nun, dieses Rätsel sollte ein anderer lösen. Kos trödelte nicht länger herum, sondern machte sich wieder auf den Weg. Er hätte jedoch schwören können, dass das Harz bereits wieder abbrök kelte, als es aus seinem Sichtfeld verschwand. Seltsam, dass sich im Baugewerbe nicht mehr Simic niedergelassen hatten. Unzerstörbare Häuser konnten schnell ein Vermögen wert sein. Das erinnerte ihn an etwas. Obez, alles klar bei Pivlic und dir?, schickte er eine Nachricht los. Bis jetzt wurden wir nicht behelligt. Aber hier ist eine ganze Menge los. Was denn alles?, wollte Kos wissen. Konzentrier dich auf deinen Auftrag, in das Labor zu kommen und dir den Vampir zu schnappen. Wieso bist du dir so sicher, dass er überhaupt dort ist?, dachte Kos und bekämpfte den Drang, die zwei Virusoide zu grüßen, die gerade im Gänsemarsch wortlos an ihm vorbeikamen. Wir können uns dessen nicht sicher sein, sagte Obez. 371
Aber selbst wenn er nicht dort ist, sollte Vig dein bester Zeuge sein. Der Instinkt des Virusoids sagte Kos, dass er sich dem Eingang zu den Gemächern des Stammvaters näherte – oder zumindest dem Eingang zum Eingang. Der Instinkt konnte ihm das nicht so genau sagen. Warum, sah er, als er dort ankam. Auf beiden Seiten der Tür stand je ein schweigender, bewegungsloser Virusoid. Die Tür hatte wiederum einen anderen Grünton. In der Mitte der Membran erschien eine kleine Öffnung, die sich gleichmäßig ganz von selbst verbreiterte, je näher er kam. Kos’ geliehene Beine gingen immer weiter und machten einen großen Schritt, um nicht über die hohe Kante der Membrantür zu stolpern. Kos fand sich am unteren Ende einer Art Wendeltreppe wieder. In den schwammartigen Wänden, die ein nicht glänzendes Sonnenlicht ausstrahlten, waren drei andere Membrantüren zu erkennen. Die Stufen der Wendeltrep pe waren harte, flache Baumschwämme, die an etwas wuchsen, was ... Nun, es war kein Baumstamm, aber so etwas Ähnliches. Es hatte die Größe einer gut gewachse nen Silhana-Eiche und besaß eine Art Borke. Die Stufen, die sich rund um den Stamm wanden, führten durch die Decke, die sicherlich fünfzehn Meter über ihm war, und dann wahrscheinlich zu einem weiteren Ausgang. Das hoffte Kos zumindest. Das Virusoid erklomm die Stufen zum Labor, und Kos wunderte sich ein wenig besorgt, dass ihm niemand auf gefallen war, der in die gleiche Richtung wie er ging. 372
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Pivlic bekämpfte sein dringendes Verlangen, dem fetten Magiejuristen einen Ellenbogen in die Rippen zu ram men. Aber dafür hätte er die Zügel loslassen müssen – das wollte er lieber nicht riskieren. Also hörte er sich grummelnd weiter mit an, wie der Mann auf alles zeigte, was sich am Himmel über und unter ihnen bewegte, wie er pausenlos erzählte und erklärte. Es ging nicht darum, dass Pivlic das alles nicht wissen wollte. Im Gegenteil, Pivlic sog normalerweise alles Wissenswerte wie ein Schwamm auf. Aber tief in ihm drin hatte er das Gefühl, dass irgendjemand im Gewächshaus mithören konnte, was sie miteinander beredeten. Jemand, der nicht Kos war. Wo er schon bei Kos war: Pivlic verfluchte sich, dass er nicht geistesgegenwärtig genug gewesen war, um eine Wette anzubieten, wie lange der alte Wojek brauchen würde, um einen Weg zurück in die Welt der Lebenden zu finden. Bislang hatten die Luftjeks sie in Frieden gelassen, ob wohl das goldene Abzeichen auf der Brust des Rocs deut lich sichtbar war. Pivlic hatte nicht gewagt, es abzuneh men. Andererseits schienen die Luftjeks auch alle Hände voll zu haben. Womit, konnte er noch nicht genau bestimmen. Pivlic vermutete, dass sie damit bislang noch keinen Erfolg verzeichnen konnten. Die drei Nephilim hatten sich aufgeteilt, nachdem sie die Stadtmauern durchbrochen hatten, und bahnten sich 373
nun eigene Wege in die Stadtmitte. Wo Türme im Weg standen, wurden sie umgerissen oder zerdrückt. Pivlic wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Monster möglicherweise nur durchzogen, aber eigentlich sprach alles dagegen. Das Zentrum war nicht umsonst der Mit telpunkt der Stadt. Alle wichtigen Ereignisse in der Ge schichte von Ravnica hatten hier stattgefunden, ob es nun die Unterzeichnung des Gildenpakts vor zehn Jahr tausenden war oder das gerade noch abgewendete Ende vor zwölf Jahren. Es konnte nicht wirklich sein, dass die Nephilim ein Ziel hatten, das sich ausgerechnet direkt hinter der Innenstadt befand, da war sich Pivlic sicher. Er konnte nur nicht genau sagen, welche der großen Gil denhallen wohl das Ziel der Wesen sein würde. »Dort, sehen Sie?«, sagte Obez. Wieder musste Pivlic mit dem linken Flügel wackeln, um ihn aus der Hand des Magiejuristen zu befreien. »Die Kreaturen werden sich nicht gegenseitig angreifen. Es sieht so aus, als ob sie ein bestimmtes Ziel hätten.« »Was ich sehe – ach, und halten Sie sich doch bitte nur an meiner Hüfte fest, meine Flügel sind äußerst empfind lich –, ist, dass die schönsten Viertel der Stadt gerade in Trümmer gelegt werden.« »Aber das beweist doch meine Aussage«, sagte Obez. »Das ist alles kein Zufall. Sie haben ein gemeinsames Ziel, kommunizieren irgendwie und arbeiten wahrscheinlich in einem gewissen Sinn auch zusammen.« »Soll ich mich darüber freuen?«, sagte Pivlic und zog den Roc leicht nach links, um die nächste Schleife zu fliegen. 374
»Daraus kann man doch eindeutig folgern, dass da mehr dahinter steckt als nur ein paar Monster, die einen toten Drachen gefressen haben«, sagte Obez. »Auch wenn der Dieb uns etwas ganz anderes verkaufen wollte.« »Vielleicht ist das richtig«, sagte Pivlic. »Oder sie sind einfach nur hungrig, und die Stadtmitte liegt auf ihrem Weg.« Aber während er das sagte, musste er sich einge stehen, dass er selbst nicht daran glaubte. Der Bold verlor beinahe das Gleichgewicht, als ein Aufwind einen der Flügel des Rocs erwischte. Der Vogel ließ sich nur noch schwer lenken; sein Gewicht schien sich nicht richtig zu verlagern. Natürlich hatte der Bold immer noch so gut wie keine Erfahrung im Reiten von Rocs, aber er kannte sich mit seinen Vorahnungen aus. Und im Moment hatte er ein flaues Gefühl im Bauch. Drei Luftjeks auf Rocs jagten an ihnen vorbei. Sie zo gen so flott eine Kurve um das Gewächshaus, als würden die Schwanzfedern ihrer Vögel brennen. Pivlics Leihvogel stieß einen Roc-Schrei aus, der aber von den Luftjeks und ihren Reittieren ignoriert wurde. Pivlic folgte den Luftjeks, die direkt auf Stampfers Kopf zuflogen – falls die rundliche Steinbüste, die über dem hügeligen Rücken des Monsters schwebte, wirklich der Kopf des Nephilims war. Aus diesem Winkel sah es aus, als ob der Kopf auf einer Art Kissen aus goldener Energie schweben würde. Sicher war hier auch Magie im Spiel, doch gleichzeitig wirkte das Ganze natürlich. Mit einem lauten Kommando gab die Anführerin der Luftjeks ihren Flügelleuten den Schießbefehl. Drei Knallstäbe blitzen 375
auf, doch aus der Entfernung war der Knall nicht lauter als das Ploppen eines herausgezogenen Korkens. Die orangefarbenen Geschosse prallten vom Rücken des Nephilims ab, ohne größeren Schaden angerichtet zu haben, aber sie hatten ihn möglicherweise etwas gesto chen. Stampfer brüllte den Luftjeks jedenfalls eine Her ausforderung entgegen. Er stieg auf seine dürren steiner nen Hinterbeine und öffnete sein unterteiltes Krabbenmaul. Bevor die Luftjeks abdrehen konnten, um den nächsten Angriff zu starten, schoss Feuer aus dem geöff neten Maul. Es handelte sich nicht um reine Flammen, wie sie Pivlic zuletzt bei den Drachen hatte beobachten können, sondern eher um eine orangerote Flüssigkeit, die sich beim Kontakt mit der Luft sofort entzündete und die Roc-Reiter in ein Inferno einhüllte, das Niv-Mizzet alle Ehre gemacht hätte. Pivlic zwang seinen Roc in den Senkflug, um unter Stampfers Flammenstrahl hindurchzugleiten. »Wusste nicht, dass er dazu in der Lage ist«, brachte Pivlic heraus, als klar wurde, dass sie es geschafft hatten. »Erinnern Sie mich daran, dass wir nicht auf ihn schießen.« »Bemerkenswert«, sagte Obez. Pivlic war sich nicht si cher, ob er den ehrfürchtigen Ton in der Stimme des Magiejuristen gut finden sollte. »Es sind keine Haustiere«, sagte Pivlic. »Sie töten Leute, mein Freund. Einfach so, ganz ohne Auftrag, was dies anbelangt.« »Aber trotzdem bemerkenswert«, wiederholte Obez. »Warum greifen die Steintitanen nicht ein, um sie auf 376
zuhalten?«, sagte Pivlic, der eigentlich keine Antwort auf die Frage erwartete. »Wenn sie sich bis jetzt sich nicht gerührt haben, glau be ich nicht, dass sie noch eingreifen werden«, sagte Obez. »Schauen Sie mal dort hinüber.« Glitscher, der nur einen knappen Kilometer von ihnen entfernt war, bemühte sich gerade, die Innere Festung auseinander zu nehmen. Die Klauen des Schlangenwe sens zerrten an den Strebepfeilern des WojekHauptquartiers und zerdrückte alte und neue Teile des Gebäudes. Erst vor wenigen Jahren war es umfangreich renoviert worden, da die Festung während der Zehntau sendjahresfeier schweren Schaden genommen hatte. Worauf Obez hinweisen wollte, war der mittlere Turm, in dem die Sesselfritzen ihre Kommandozentrale in Krisen zeiten aufschlugen. Ihn hatte Glitscher bereits umgeris sen. »Wie soll es die Monster aufhalten, wenn wir Szadek töten?«, fragte Pivlic. »Kann mir jemand erklären, wie dadurch diese Menschen da unten gerettet werden sol len?« »Ich bin mir nicht sicher, ob beides zusammenhängt«, antwortete Obez gedrückt. »Aber Ravnica ist mehr als nur diese Stadt, und wir werden es neu aufbauen, mit einem starken neuen Gildenbund. Ich muss einfach daran glau ben.« »Ich muss das nicht«, sagte Pivlic. »Aber ich werde es wohl, weil die Alternativen noch bedrückender ...« Ein Schatten fiel auf den Roc, den Bold und den Magie 377
juristen. Irgendetwas Riesiges verdeckte wieder einmal kurzfristig die Sonne. Pivlic spornte den Vogel an, und der Roc schoss gerade noch rechtzeitig nach vorn, um einem Streuschuss zu entgehen, den Hirni in ihre allge meine Richtung losgelassen hatte. Es wurde zwar nie mand getroffen, aber der Vogel kam leicht ins Schlingern und zog nach oben. Obwohl Pivlic sich bemühte, im Sattel zu bleiben, merkte er hilflos, wie er sich mit seinen Beinen nicht mehr richtig festklammern konnte und herauszurutschen begann. Der Roc versuchte, wieder in ruhigere Luftschichten zu kommen, und ließ sich absacken – was zur Folge hatte, dass Pivlic in hohem Bogen über seinen Kopf abgeworfen wurde. Glücklicherweise war er geistesge genwärtig genug, die Zügel festzuhalten. Obez, der sich natürlich immer noch an Pivlics Flügel und nicht an der Hüfte festhielt, wurde mitgerissen. Als der Roc endlich wieder in seinen gewohnten Flug rhythmus zurückgefunden hatte, musste der Vogel er staunt feststellen, dass er schon wieder seinen Reiter verloren hatte. Trotzdem trug er in etwa dieselbe Last wie zuvor, da Bold und Magiejurist sich mit aller Kraft an den Zügeln festklammerten, die um den Hals des Rocs hin gen. Pivlic versuchte, einen besseren Griff zu bekommen, und der verwirrte Vogel interpretierte das Zerren am Half ter als ein Wendekommando. Es war ihr Glück, dass der Roc sich entschloss, wieder zum Gewächshaus zurückzu fliegen. Für Pivlics Verhältnisse war das sogar schon ein ausgesprochenes Glück. Aber der Bold war sich nicht 378
sicher, ob er wirklich von Glück reden konnte. Er hing an einem verwirrten Vogel, ein randalierender Stampfer befand sich direkt unter ihnen, und ein kreischender Magiejurist klammerte sich mit aller Kraft an seinen schon reichlich verdrehten Flügel. Und es wurde nicht besser. Ein dicker Kloß bildete sich in Pivlics Kehle, als er laute Klopfgeräusche hörte, die aus der Erde zu kommen schienen. Der Krach übertönte so gar den alles zerstrampelnden Nephilim unter ihnen. Ein kreisförmiger Riss zeichnete sich auf dem großen, fast leeren Zentralplatz ab. Die meisten Bürger waren schon lange geflüchtet und hatten irgendwo Unterschlupf ge sucht. Wieder tat es einen lauten Schlag, dass es krachte und bebte. Steine und Ziegel flogen durch die Gegend, als eine riesige pechschwarze Faust, die mit einer Unzahl von Hörnern besetzt war, aus dem Untergrund erschien. »Was ist denn das?«, brüllte Obez, der inzwischen seine gesamte gekünstelte Vornehmheit abgelegt hatte. »Ich glaube, es ist ein Dämon«, sagte Pivlic. »Und pas sen Sie doch etwas besser auf, was Sie mit meinem Flügel machen. Sollte ich mich nicht mehr festhalten können, wären sie das Einzige, was uns noch von einem neuen Dasein als Fleck auf der Straße bewahren könnte.« Er unterdrückte einen Ächzer, als der pummelige Mensch sein Gewicht verlagerte und mit einer Hand den Gürtel des Bolds packte. Dadurch wurde zwar viel Ge wicht vom Flügel abgezogen, doch dafür fiel ihm jetzt das Atmen nicht mehr ganz so leicht. »Beeil dich, Kos«, japste Pivlic. 379
Der Roc stieß einen Schrei aus und wackelte ein wenig in der Luft, blieb aber wie durch ein Wunder auf dem richtigen Kurs.
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Der obere Treppenabsatz verbreiterte sich tatsächlich in eine Axt Vorraum. Hier standen mehr Wachen herum, aber nur zwei der Membrantüren wurden von jeweils einem Virusoidenpaar bewacht. Welche soll ich nehmen?, dachte Kos. Er bekam keine Antwort. Obez? Kos versuchte, den Magiejuristen zu erreichen. Virusoid, antwortete das Virusoid. Auch gut, dachte Kos. Wunderbar. Kaum war er die Pilzwendeltreppe hoch gestiegen, schon meldete sich sein Lenker nicht mehr. Oder Anker. Oder Quälgeist. Nun, bislang hatten die In stinkte des Virusoids ja gut funktioniert. Kos konzentrier te sich also auf dessen Instinkte und versuchte dem Viru soid klar zu machen, wohin er gehen wollte. Kos merkte, wie seine geliehenen Beine auf eine der beiden Türen zusteuerten. Er zwang das Virusoid, ihm wieder die Kontrolle über die Bewegung zu überlassen. Die Membrantür zischte auf und ließ einen Schwall schwüler, süßlich riechender Luft frei. Vom eigenen Wil len und nicht vom Instinkt des Virusoids geleitet, trat Kos über die Schwelle in Momir Vigs Labor. Tut mir Leid, ließ sich Obez’ Stimme endlich verneh 380
men. Obwohl es nur ein Geräusch in Kos’ Bewusstsein
war, klang der Magiejurist, als wäre er außer Puste. Zu spät, dachte Kos. Ich habe es auch allein geschafft. Schau dich genau um, sagte Obez. Sag mir, dass du ... Entschuldige mich bitte kurz ... Obez? Der Magiejurist war schon wieder unerreichbar, und Kos spürte entfernt etwas von der Panik des Ektoma giers. Er konnte aber nicht sagen, was es war. Die Verbin dung schien für Kos anders zu funktionieren als für Obez. Der Magiejurist konnte durch Kos’ Augen sehen, Kos hingegen konnte nur Gefühle und Eindrücke empfangen. Immerhin wusste er, was er zu tun hatte. Er musste Szadek finden, und wenn ihm das nicht gelang, stattdes sen herausfinden, wo Szadek sich aufhielt. Diese Infor mationen musste er aus denjenigen herauslocken, die es wissen konnten. Wenn man davon ausging, dass der Wahrheitskreis tatsächlich funktioniert hatte und man dem Wort des Diebes trauen konnte, hatten Leute gestern noch den Vampir hier getroffen und mit ihm verhandelt. Der Große Schiedsmann traute der Geschichte, und Augu stin war immerhin die bedeutendste Persönlichkeit im ganzen Rechtswesen. Ob er es wollte oder nicht – Kos war zu Augustins Kreatur geworden. Er gab sich Mühe, möglichst selten daran zu denken, aber ohne großen Erfolg. Falls er Szadek fand, sollte er alles tun, was in seiner Macht stand, um den Vampir zu zerstören. Dabei war auch der Verlust des Lebens, das er sich gerade ausgelie hen habe, mit eingerechnet. Nun, dabei handelte es sich 381
im Moment auch nur um ein unterbelichtetes Virusoid. Aber er sollte auch, wenn unbedingt nötig, alles und je den aus dem Weg räumen, was ihn aufhalten wollte. Der Richter war nicht sehr hilfreich gewesen, als es darum ging, wie Kos es schaffen sollte, den Vampir anzugreifen und zu töten. Aber da Szadek durch Kos und nicht mittels einer Waffe verwundbar war, hatte der Richter entschie den, dass Kos zu improvisieren hatte. Und wenn er Szadek nicht aufstöbern konnte, musste Kos erst recht improvisieren. Sein Instinkt, den er jahrelang bei seinen Streifengän gen im Zehnten Distrikt geschult hatte, ließ Kos vermu ten, dass dies wohl der Fall sein würde. Er war froh, die sen Instinkt noch zu haben und sich nicht auf den des Virusoids verlassen zu müssen. Wahrheitskreis hin oder her, dem Dieb hatte er nicht ganz vertrauen können. Das Labor erinnerte Kos an Nebuns Haus in Utvara, und er fragte sich, ob alle Simic denselben Grundriss für ihre Bauten verwendeten. Der Boden war aus dem glei chen lederigen, von Adern durchzogenen Stoff wie die Böden im Rest des Gewächshauses. An vielen Stellen gab er nur gedämpftes Licht ab – dort, wo viel los war. Im ganzen Raum waren Tische verteilt, die mit Erlenmeyer kolben und Reagenzgläsern, aus denen es nur so brodel te, überfüllt waren. Hinter jedem Tisch stand ein junger Vedalken-Student und experimentierte. Kos konnte zu dem noch mindestens ein halbes Dutzend etwas älter wirkende Tutoren erkennen, die von Tisch zu Tisch gin gen, hier korrigierten, dort Ratschläge gaben oder jeman 382
den lobten. Weiter hinten im Raum wurden die Experi mente dann in einem größeren Maßstab durchgeführt, nicht nur was die Größe der Reagenzgläser und Kolben betraf. Gelegentlich wurden die Experimente kurz unter brochen, wenn sich eine Wolke aus grünen Staubsporen gebildet hatte und anschließend die Gefäße wieder mit einem Brenner sterilisiert werden mussten. Zu Kos’ gro ßer Erleichterung gab es noch mehr Virusoide im Labor. Die meisten standen stocksteif da, andere halfen in ver schiedenen Experimenten als Versuchskaninchen aus. Es gefiel ihm gar nicht, als er sehen musste, dass ein paar Virusoide gerade dabei waren, aus verkohlten Stümpfen neue Arme oder Beine wachsen zu lassen. Kos schlenderte langsam, aber zielgerichtet zwischen den Experimenten hindurch. Er ließ das Virusoid das Gehen übernehmen, damit es natürlicher aussah. Ganz schmeckte ihm das zwar nicht, aber es sorgte dafür, dass ihn zunächst niemand ansprach. Er hörte ein leise schmatzendes Geräusch zu seiner Rechten und sah, wie sich eine der Membrantüren öffne te, um einen Schwarm großer Insekten hereinzulassen. Vielleicht waren es auch kleine Vögel, so genau konnte Kos das nicht erkennen. Geräuschlos schloss sich die Tür wieder. Hier gab es also noch einen Weg nach draußen, falls er einen benötigte. Das Gewächshaus war so konzipiert, dass es um eine Mittelachse herum gewachsen war. Kos vermutete, dass er sich daher auch auf einem Rundweg befand. Er hatte vielleicht ein Viertel des Weges geschafft, als er Momir 383
Vig entdeckte. Der Stammvater der Simic hing in einer Art Klettergeschirr über einem der Experimentiertische. Das Geschirr wuchs in das Neuroboretum-Netz, das wie ein seltsamer Strauch aus Gehirnzellen und Nervenenden aussah und sich durch das ganze Labor zog. Vig fummelte an einem Virusoid herum, das leicht erhöht auf einem flachen Metalltisch lag. Kos fielen sofort die spargeldün nen Arme des Stammvaters auf, die eher nach Insekt als nach Elf aussahen. In Vigs Hand ruhte ein durchsichtiger kleiner Drehzylinder, aus dem eine Klinge herausragte, die aus reinem Kryomana zu sein schien. Das ManaSkalpell schnitt gerade durch den Arm des Virusoids, als wäre es ein saftiger Braten. Momir Vigs andere Hand war mit einem neuen Zytoplast beschäftigt, das er erwar tungsvoll zwischen den Fingern hin- und herschob. Kos erinnerte das an einen Koch, der nur darauf wartete, ein Stück Fleisch auf den Grill zu werfen, sobald die passende Temperatur erreicht war. Das Zytoplast sah aus, als wäre es ein Teil des Neuro boretum-Netzes gewesen. Kos hatte kein gutes Gefühl dabei. Vielleicht war aber auch das ganze Neuroboretum aus diesem Zeug gemacht. Von Szadek war nichts zu sehen, ebenso wenig von der »Zombiepriesterin«. Letzteres war ihm recht, weil er ihr nicht unbedingt begegnen wollte beziehungsweise, was noch schlimmer wäre, weil er nicht riskieren wollte, von ihr erkannt zu werden. Der Arbeitstisch war von normalen Leuchtkugeln er hellt, wie man sie auch an den Wänden des Wojek 384
Krankentrakts finden konnte. Außer dem Gildenmeister, der in seinem Geschirr über seinem Patienten schwebte, standen nur noch ein Vedalken-Forscher und drei weitere Virusoide um den Tisch herum. Der Forscher war die ganze Zeit mit verschiedensten Glasgefäßen beschäftigt, die er über eine offene Flamme hielt. Er hatte wie die drei Virusoide diverse zytoplastische Körperteile, Kopfschmuck und andere körperlichen Veränderungen, die bestimmte Funktionen verstärkten. Kos hatte so etwas Ähnliches schon bei der Goblin-Frau Crixizix gesehen, allerdings nicht aus Zytoplasten, sondern aus Metall und Magie. Und von den Izzet hergestellt, wie er zumindest annahm. Als Vig seinen glatten Schnitt durch den Arm des Viru soids beendet hatte, spürte Kos, wie sich eine Hand auf seine legte. »Bleib stehen, Virusoid, ich benötige dich«, sagte der Vedalken, dessen Hand es war. Nur bei näherem Hin schauen erkannte man, dass es sich um ein weibliches Exemplar mit silbernen Augen handelte. Sie sprach mit dem singenden Tonfall, der auf eine höhere Erziehung hinwies. »Virusoid, du hältst diese Schüssel über diese Flamme, bis der Inhalt zu kochen beginnt. Dann trinkst du sie leer«, sagte die Vedalkin. »Was soll ich machen?«, fragte Kos. Die Stimme klang in den geliehenen Ohren größtenteils wie seine eigene, aber sie war von einem heiseren Knarzen unterlegt, das wohl von ihrem ursprünglichen Eigentümer stammte. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er gerade 385
im Gegensatz zu allen anderen Virusoiden, die ihm bis lang begegnet waren ... Du hast gerade ... Ich weiß, dachte Kos. »Hat dieses Virusoid gerade gesprochen?«, sagte Momir Vig und blickte überrascht von seiner Arbeit auf.
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Der heilige Kel stapfte durch überfüllte Straßen, die wie ein Tollhaus aussahen. Überall waren Trümmer, Leichen und einzelne Körperteile zu sehen, schreiende und wei nende Leute aller Rassen und Arten – und dazwischen vereinzelt verzweifelte Wojeks, die nicht mehr wussten, wer jetzt ihr Feind war, und auf alles einprügelten, was ihnen über den Weg lief. Zuerst hatte der Lebende Heilige noch hier und dort Halt gemacht, um zu helfen, wo er konnte, aber die riesige Anzahl an Toten sowie die Bruta lität und Sorglosigkeit, mit der die Zerstörung vor sich gegangen war, hatte selbst ihn überwältigt. Jetzt wollte er nur noch im Vitu Ghazi sein, um sich mit dem Konklave zu beraten und herauszufinden, was er tun konnte, um das Ganze zu stoppen – wenn das überhaupt noch mög lich war. Und wenn nicht, dann würde der Lebende Heilige da für sorgen, dass irgendjemand dafür bezahlte: diese Mon ster, die Dimir, die Simic – ihm war fast schon egal, wen es treffen würde. Falls das Konklave eher apathisch und selbstgefällig 386
reagierte, musste er es eben selbst in die Hand nehmen. Er wusste, dass zumindest der Wolf ihn unterstützen würde, und Biracazir wiederum hatte einen großen Ein fluss auf das relativ junge Kollektiv. Alle Selesnijaner, die den Gesang annahmen, hörten ihn für den Rest ihres Lebens. Den meisten normalen Mitgliedern der Kirche war es nicht möglich, die Töne des Gesangs zu unterscheiden und einzelne Stränge heraus zufiltern; sie hörten einfach den Gesang und wussten, dass sie ein Teil davon waren. Am anderen Ende des Spektrums befanden sich die Mitglieder des Konklaves, die nicht nur den Gesang hören, sondern auch jeden ein zelnen Klang finden und den geistigen Chor wie ein Ka pellmeister leiten konnten. Dies war für die Mitglieder der Kirche eine Methode der spirituellen Heilung; zudem war es ein Führungsstil, der alle Mitglieder des Konklaves zu gemeinsamen Gildenmeistern machte. Wie man schon am Titel erkennen konnte, war der Le bende Heilige das Mitglied des Selesnija-Konklaves, das geistig am reifsten war. Er war es auch, der durch das Land streifte und das Kollektiv nach außen vertrat. Er war einerseits das unabhängigste Mitglied des Konklaves, aber gleichzeitig auch das mit der engsten Bindung an den Gesang. Der heilige Kel versuchte sich einzureden, dass er ganz ruhig heim zum Vitu Ghazi gehen würde, um dort einen Plan zu fassen. Aber in seinem Kopf spielten sich Tragö dien ab. Mit jedem Strang, jeder Saite, die riss, weil ein Anhänger der Kirche starb, wurde der Gesang unterbro 387
chen und dauerhaft gestört. Kel war kurz davor, verrückt zu werden. In ihm formte sich eine Idee, die so wahnsin nig war wie die Straßen, durch die er trampelte. Die Titanen standen leblos herum. Der Gesang war zu einem Gejammer geworden. Wojeks und Ledev starben links wie rechts gemeinsam mit den Bürgern, die sie zu beschützen versuchten. Die Stadt war in Auflösung begrif fen, und im Gesang schwang tausendfacher Schmerz mit. Auch er hatte einen Fehler gemacht. Aber der heilige Kel wusste, wie er die Dinge wieder in Ordnung bringen konnte. Es war an der Zeit, dass die Selbstjustiz der Selesnijaner das vollbrachte, woran die anderen scheiterten.
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»Virusoid«, krächzte Kos so dümmlich, wie er nur konnte. »Das glaube ich nicht«, sagte Vig. Seine seltsame Orgel stimme hallte in dem schwülen Gewächshaus. Er drehte sich nach hinten, wo ein langer Gang in einen anderen Teil des Gewächshauses führte. »Svogthir, komm doch bitte mal hierher. Ich glaube, dir wird das gefallen.« Der Wojek verfluchte sein Pech – und sich selbst, weil er es versäumt hatte, sich jeden Winkel des Gewächshau ses anzuschauen, bevor er sich in die Gefahr begab, ent deckt zu werden. Der Zombie-Gott sah überhaupt nicht wie sein altes Ich aus, trotzdem war sein Anblick Kos sofort vertraut. Der wiederbelebte Körper der Golgari-Priesterin Savra schlurfte 388
ins Labor und stellte sich neben Vig. Ihr verdrehter Hals und der zur Seite hängende Kopf konnten das teuflische Grinsen nicht verbergen, das sich auf ihren eingefallenen Zügen zeigte. Ihr Körper war in einem Zustand unterbro chener Verwesung, aber ihre Augen blitzten vor überna türlicher Energie. Als sie sprach, war es jedoch nicht die Stimme der Devkarin-Priesterin, die Kos selbst nach sei nem Lebensende nicht vergessen konnte. Nein, diese Stimme war viel älter, sie war männlich und klang, als ob sie direkt aus den Gedärmen des Todes käme. »Was ist los, Vig?«, polterte der Zombie-Gott. »Ich war gerade am Naschen.« Sie, oder er, biss einen Daumen von einer abgetrennten bläulichen Hand, schluckte ihn hin unter und warf den Rest beiseite. »Wir haben einen Besucher«, sagte Momir Vig. »Einen Diener der Azorius.« »Wirklich?«, sagte der Zombie-Gott. Er schnüffelte. »Riecht mir nicht nach Azorius. Ganz eindeutig der Ge ruch nach Boros. Ein Wojek, wenn ich nicht ganz falsch liege.« Das Savra-Wesen kicherte. »Sogar ein alter Be kannter. Zum Teufel, ich glaube sogar, dass dieser Azori us-Diener genau derselbe Wojek ist, der die Pläne der Priesterin damals verdorben hat. Sein Geist ist mir gleich ziemlich bekannt vorgekommen. Ich glaube, sein Name lautet Kos. Was für eine nette Überraschung.« »Sehr interessant«, sagte Vig in einem Ton, als ob sie sich über das Wetter unterhalten würden. »Vielleicht können wir ja noch ein wenig mehr herausfinden. Udom, reiß ihm doch bitte einen Arm ab.« 389
Kos stieß einen lauten Schrei aus, der so gar nicht die Art eines Virusoids war. Aber er blieb ihm in der Kehle stecken. Das Nervensystem seines Wirtes schien sich abzuschalten, sobald die einfache Schmerzmeldung: »He, du hast gerade einen Arm verloren«, empfangen wurde. Das war eigentlich recht wirkungsvoll, wie Kos fand, er war eben einfach nur nicht daran gewöhnt. Und er be merkte, dass sein kurzer Versuch zu schreien den Stammvater nur noch entschlossener gemacht hatte. Obez, hier ist er nicht, dachte er. Und ich wurde ertappt. Und dazu auch noch erkannt. Die Zombiepriesterin ist im mer noch hier, und ich glaube, dass sie ein ... Aber das tut gerade nichts zur Sache. Wie lange dauert es noch, bis ich zurückkommen kann? Er bekam keine Antwort. »Warum bist du hier?«, wiederholte der SimicStammvater. »Du bist eindeutig ein Azorius-Spion, Kos. Allem Anschein nach reicht es Augustin nicht, sich um seine eigenen Geschäfte zu kümmern. Aber das hier ist einfach nur plump. Und jetzt bitte eine Antwort.« »Virusoid?«, sagte Kos. Sein ganzer Plan war zusammengestürzt wie ein Kar tenhaus, weil er den Mund aufgemacht hatte. Szadek war nicht hier, dafür aber diese kalte, analytische Kreatur und eine Leiche, die von einem der mächtigsten Nekromagier, die Ravnica je gesehen hatte, besessen war – wenn seine Vermutung stimmte. Zuletzt hatte er den Zombie-Gott Svogthir gesehen, als dessen geschrumpfter Kopf oben auf Savras Zauberstab steckte. Rache war in der Gilde der 390
Wiederbelebung eine grausame Angelegenheit. Er ging seine Möglichkeiten durch. Obez schien ihn verlassen zu haben, aber der Magiejurist hatte behauptet, dass Kos auch von allein zu seinem Anker zurückkehren konnte. Sobald die halbe Stunde vergangen war. Und falls sein Geist den Magiejuristen überhaupt wiederfinden konnte. Er durfte auch nicht Svogthir unterschätzen, der das vielleicht zu verhindern wusste. Kos hatte schon viel über die Nekromagie der Golgari gehört und wie bei de ren Ausübung die Geister der Toten verwendet wurden, um ihre eigenen Körper zu reanimieren. Jedenfalls war er keinen Schritt weitergekommen, was Szadek anlangte. Und was passierte, wenn Vig ihn jetzt einfach umbrachte? Würde er noch einmal sterben? Ob er es diesmal bis in diese Geisterstadt Agyrem schaffen würde? »Ich glaube, als Nächstes kommt ein Bein an die Reihe, Udom«, sagte der Stammvater. »Azorius-Spion, bitte ge winne nicht den Eindruck, dass ich dich foltern will.« Tatsächlich fühlte Kos diesmal nur ein leichtes Zwicken, als das zweite Körperteil abgerissen wurde. »Ich nehme dich nur ein wenig auseinander, bis ich an den Kern komme. Du kannst so lange in dem Körper bleiben, wie du willst. Allerdings wirst du dann irgendwann recht zer stückelt sein. Und jetzt sag mir, warum du hier bist.« »Ich würde tun, was er sagt«, polterte der Golgari Zombie-Gott. Kos ging auf, dass die beiden eines der ältesten Befra gungsspielchen der Welt spielten: guter Wojek, böser Wojek. 391
Obez, in drei Krokts Namen, rede mit mir. Stille. Er versuchte, sich aus dem Körper des Virusoids zu zwängen, indem er sich vorstellte, wie der Körper an Ort und Stelle blieb, während sein Geist davonschwebte. Eins, zwei, drei. Drücken. Nichts passierte. »Das nächste Bein«, sagte Vig. Nur ein paar Sekunden später kam wieder ein leichtes Reißen, ein kurzes Zwicken und frische Luft dort, wo eigentlich keine zu spüren sein sollte. »Bei Krokt«, fluchte Kos. »Was war das gerade?«, fragte Vig. »Ich sagte: ›Bei Krokt‹«, antwortete Kos. »Krokt so wie in ›Heiliger Krokt, das hat aber wehgetan‹. In Ordnung, Ihr habt mich erwischt. Ich bin ein Spion der Azorius. Ich – wir wissen alles.« Die Mischung aus seiner eigenen Stimme und dem seltsamen, einfachen Mund des Viru soids ließen es wie ›iir isse allf‹ klingen, aber Vig schien kein Problem damit zu haben, ihn zu verstehen. »Ich wusste es!«, sagte Vig, und er klang beinahe ein wenig fröhlich dabei. Jedenfalls nicht sonderlich irritiert. »Und sie haben dich geschickt, um mich aufzuhalten, oder?« »Wie bitte?«, sagte Kos. »Ihr habt meine Pläne aufgedeckt. Ihr habt herausbe kommen, wofür ich die Gehirnflüssigkeit des Drachen brauchte«, sagte Vig, dessen Lächeln sich nur leicht nach unten verzog. Aber ein wenig besorgt schien er doch zu sein. Der Zombie-Gott warf dem Stammvater einen selt samen Blick zu, als dieser die Gehirnflüssigkeit des Dra 392
chen erwähnte, aber Kos konnte den Blick nicht einord nen. Dann kroch Vigs Lächeln wieder auf sein Gesicht zurück. »Aha! Ich kann an deinem Gesichtsausdruck able sen, dass ich dich überraschen konnte. Deine AzoriusMeister wussten nicht, dass es sich um Gehirnflüssigkeit eines Drachen handelte, richtig?« »Nein, das wussten sie nicht«, sagte Kos ehrlich. Dann setzte er seinem Bluff noch einen drauf. »Wir wussten, dass es irgendeine Sorte Gehirnflüssigkeit war, aber nie mand war darauf gekommen, dass es sich um die eines Drachen handeln würde.« Es war eine alte Wojek-Regel, dass man den Verdächtigen immer zum Reden ermun tern sollte. »Ihr habt also Projekt Kraj enttarnt«, sagte Momir Vig. Er schien nicht gerade großartig enttäuscht zu sein. »Man kommt heutzutage so schlecht an Gehirnflüssigkeit von Drachen heran, seit die Drachen so gut wie ausgestorben sind. Und es hat mich viel Zeit und Geld gekostet, zu ver hindern, dass die Ausbreitung von Zytoplasten zu auffäl lig wird. Monatelang konnten wir den Prozess verfeinern, bis uns endlich diese wertvolle Substanz geliefert wurde. Während ich dir das alles erzähle, strömt sie bereits durch das Neuroboretum-Netz und haucht meinem bis lang wichtigsten und großartigsten Werk Leben ein. Dem Wesen, das den armseligen Bürgern dieser Stadt zeigen wird, wer ihr wahrer Meister ist.« Als ob er das noch be tonen müsste, befreite sich Vig von seinem Kletterge schirr und ging auf und ab, während er sich weiter mit Kos unterhielt. »Wenn die Gehirnflüssigkeit des Drachen 393
durch die Adern von Projekt Kraj fließt, wird jeder Zyto plast dieser Welt zurück zu seinem Ursprung eilen, um Kraj zu unterstützen. Tausende werden verkrüppelt wer den, während Kraj immer stärker wird. Kraj und sein Gebieter werden unbesiegbar sein!« »Ich muss zugeben, Ihr habt wirklich an alles gedacht«, log Kos, so schnell er konnte. »Aber Ihr müsst doch zugeben, dass es gefährlich ist, mit den Dimir gemeinsa me Sachen zu machen, nach all dem, was bei der Zehn tausendjahresfeier geschehen ist.« »Dimir?«, sagte Vig und brach in lautes Gelächter aus. »Ach ja, das Haus Dimir. Ihr Azorius seid von den Dimir richtig besessen, oder? Ihr benötigt ein unbestätigtes, unmögliches ›Gegenstück‹, das eure Gesetze missachtet. Aber die einzigen Gesetze, die man nicht bekämpfen kann, sind die Gesetze der Natur, Avatar!« Es war an der Zeit, alles auf eine Karte zu setzen. »Wir wissen, dass er hier war. Und zwar gestern, als Ihr die Lieferung entgegengenommen habt. Wie ich schon sagte, es ist ein riskantes und gefährliches Spiel. Ihr könnt ihm nicht vertrauen.« »Oh, natürlich«, sagte der Simic. »Die Dimir. Du hast zu viel geredet, mein kleiner dummer Spion. Sag deinem Meister, dass er sich beim nächsten Mal etwas mehr an strengen soll. Wenn er es überhaupt überlebt. Wirf ihn raus, Udom. Oder hast du noch einen Einwand, Svogthir?« »Nein, im Gegenteil«, sagte der Zombie-Gott durch Sa vras eingefallene Lippen. »Leb wohl, Kos. Es war amü 394
sant, dir noch ein letztes Mal begegnet zu sein.« »Wartet!«, sagte Kos. »Er wird auch Euch betrügen. So ist er. Fragt doch den Zombie-Gott hier, wie sehr man Szadek trauen kann.« Er gab sein Bestes, sich aus dem Griff der Handlanger zu winden, aber ohne Erfolg. Es war schwer, wenn man keine Beine und nur noch einen Arm hatte. Er wurde eine spiralförmige Rampe hochge schleppt, die zu der großen Membrantür führte, die Kos zuvor entdeckt hatte. Kalte Luft strömte in das Gewächs haus und über seinen nackten virusoiden Rücken. »Sagt mir doch einfach, wo er hin ist, und dann könnt Ihr mei netwegen mit Euren Zytoplasten anstellen, was Ihr wollt! Wir wussten das mit den Zytoplasten überhaupt nicht. Ich soll nur den verdammten Vampir finden und endlich töten!« »Dir einfach sagen, wo er hin ist?«, knurrte Vig. »Sza dek? Du willst mir sagen, dass Augustin gar nicht ...« Hei terkeit überfiel den Gildenmeister, und er brach in ein schreckliches, fremd klingendes Gelächter aus. Auch wenn er von außen noch teilweise wie ein Elf aussah – das, was in seinem Inneren war, gab äußerst seltsame Geräusche von sich. »Bitte«, sagte Kos, der seinen letzten Trumpf ausspielte. »Ihr seid ein Gildenmeister. Der Gildenbund zerbricht. Könnt Ihr mir nicht helfen, ihn zu retten?« »O ja«, zischte der Zombie-Gott. »Wir müssen den Gil denbund beschützen, Vig. Denk doch an das ganze Chaos, das ausbrechen könnte. Du bist ein Dummkopf, Kos. Ein alter, toter Dummkopf.« 395
»Aber einer mit edlen Ansichten«, sagte der Simic iro nisch. »Auf seine Art und Weise. Falls du es noch nicht bemerkt hast, Kos, ich gebe keine zwei Zibs auf den Gil denbund. Es ist höchste Zeit, dass das Simic-Kombinat die Welt so regiert, wie sie regiert werden müsste.« »Wann auch immer das geschehen wird«, sagte Svogthir, in dessen Stimme eine leise Warnung mitschwang. »Natürlich«, sagte Vig, aber es war Kos klar, dass diese beiden »Verbündeten« beide einen Plan im Hinterkopf hatten, der das Überleben des Partners nicht mit einrech nete. Eine wirklich dumme Idee bildete sich in Kos’ Kopf. Wenn sein Anker nicht zur Verfügung stand, dann musste er eben irgendwohin springen ... »Die Antwort lautet also Nein?«, sagte Kos. Obez, ver suchte er es noch einmal. Obez, falls du noch einmal mit mir reden willst, wäre jetzt der richtige Augenblick dafür. »Werft ihn raus«, sagte Vig. Kos schloss die Augen und konzentrierte sich so gut, wie er konnte. Wieder stellte er sich vor, wie er aus dem Körper des Virusoids heraustrat, durch die schwüle Luft sprang und landete. Zu seiner Überraschung funktionierte es. Er öffnete für ihn neue Augen, die eigentlich schon lange tot waren, und betrachtete fasziniert, wie Udom Kos’ ehemaligen Wirt durch die Luke warf. Kos!, kam Obez’ innere Stimme endlich wieder durch. Bist du ... Mir geht es gut, dachte Kos. Stimmt doch, oder, Svogthir? 396
Das ist aber eine unerwartete Entwicklung, dachte der Zombie-Gott. Du wist nicht lange hier drinnen bleiben, Wojek. Vielleicht nicht, antwortete Kos. Aber solange ich hier bin, sollten wir uns mal kurz über die Abmachung unter halten, die du mit Momir Vig geschlossen hast.
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Kapitel 16
H
Golgariland-Insektenburger werden nur aus den feinsten Zutaten und den saftigsten Fleischkäfern hergestellt, die von ausgebildeten Arbeitern geerntet werden. Nur weil Sie jetzt nicht mehr am Leben sind, bedeutet das doch noch lange nicht, dass Sie auch wie ein Zombie essen müssen. Wenn Sie einen Hunger bekommen, der Untote aufwecken könnte, fragen Sie einfach nach den GolgarilandInsektenburgern. Werbehandzettel des Insektivoriums von Golgariland (10007 Z. C.)
31. Cizarm 10012 Z. C. Jarad hielt die Augen geschlossen, aber er sah weitaus mehr, als seine zwei Augen ihm jemals hätten zeigen können. Er teilte seine Aufmerksamkeit zwischen zwei Gruppen Insekten auf. Sowohl der Schwarm Grünfliegen als auch ein paar Dutzend verschiedener Käfer durch kämmten für ihn die Tiefen von Rix Maadi auf der Suche nach Izolda. Er hatte gegenüber Fonn wieder einmal nicht die ganze Wahrheit gesagt. Und es tat Jarad Leid, dass er es hatte 398
tun müssen. Aber wenn er ihr erzählt hätte, was die Käfer ihm berichtet und gezeigt hatten, wäre sie vielleicht auch dageblieben. Aber die Ledev-Pfadfinder und Myc mussten in Sicherheit gebracht werden, da wurde sie im Moment dringender gebraucht. Jarad hatte vollstes Vertrauen in Fonn, dass sie den Jungen retten konnte, falls er heraus finden konnte, wie die Hexe seinen Sohn mit dem Dämon verbunden hatte. Jarad hatte gesehen, wie der Dämon die Hexe wegge schlagen hatte, aber dann war sie verschwunden. Ein Wesen, das eigentlich als Rakdos-Gildenmeisterin fun gierte und das Tagesgeschäft des Kultes leitete, würde nicht so schnell aufgeben. Jetzt hatte er sie gefunden. Izolda marschierte durch einen Tunnel auf ihn zu und musste gleich um die Ecke kommen. Die RakdosKultisten, die sich in seinem Rücken befanden, entsorg ten ihre gefallenen und verwundeten Kameraden, indem sie deren Körper in Stücke rissen. Die Kultisten fraßen ihre Opfer, während diese teilweise noch schrien, aber die Schreie hielten sich nicht lange und waren irgend wann gar nicht mehr zu hören. Schon bald waren wieder die atonalen Sprechgesänge zu hören, und der Mob machte sich auf die Suche nach seinem letzten Opfer – Jarad. Sie kamen nur langsam vorwärts. Die meisten hatten seltsam verdrehte Beine, die irgendwann schon einmal gebrochen und dann geheilt waren, ohne vorher gerichtet worden zu sein. Zudem kämpften sie weiterhin unterein ander um das Recht, in der vordersten Reihe gehen zu 399
dürfen. Jeder wollte der Erste sein, der dem Devkarin eine Wunde zufügte. Jarad konnte es sich erlauben, ihnen eine Weile den Rücken zuzuwenden. Aber er musste das auch tun. Die beiden Insektengruppen ermöglichten ihm, Izol das Position genau zu bestimmen. Sie würde gleich um die Ecke kommen und direkt vor ihm stehen. Jarad unterbrach die mentale Verbindung mit den In sekten, als die Bluthexe nun tatsächlich um die Ecke bog. Sie hatte nicht gerade eine Armee mitgebracht, aber sie war auch nicht allein gekommen. Hinter ihr schlurften zwei Strauchdiebe, deren lange Arme über den Boden schleiften. Im Licht der Fackeln, die ihre Affendiener trugen, erschien die Rakdos-Hexe als weißer Fleck in einem schwarzen Gewand. Als die beiden Lakaien sich gegenseitig einen Schlag mit ihrer Fackel versetzten, konnte Jarad im Lichtschein die weißen Augen der Bluthexe erkennen. Doch Jarads Blut gefror, als er die kleinste Gestalt der vier ausmachte: ein Mädchen, das vielleicht drei oder vier Jahre älter als Myc war. Sie wurde von einem zerlumpten Umhang mit Kapuze halb verdeckt. Ihr Haar, das die Far be von schimmeligem Stroh hatte, hing ihr nass und ver filzt vom Schädel. Augen und Lippen waren mit rohen Stichen zugenäht worden. Die Wunden, die der dicke schwarze Faden hinterlassen hatte, waren frisch, bluteten aber nicht. Das Mädchen war tot, aber noch nicht lange. Aber ob tot oder nicht, die Bluthexe hatte ihr keine Pause gegönnt. Jarad freute sich nicht darauf, Fonn erzählen zu müs 400
sen, was mit ihrer vermissten Pfadfinderin passiert war. Aber er hatte vor, den schweren Schlag etwas abzumil dern, indem er sich an der Peinigerin des Mädchens räch te. »Gildenmeister«, zischte Izolda und zog das s dabei so in die Länge, dass sie schon fast wie eine der GorgonenSchwestern klang. »Es ist nett von dir, dass du geblieben bist.« »Du hast versucht, meinen Sohn zu töten«, sagte Jarad. »Nett ist vielleicht auch das falsche Wort für das, was ich vorhabe.« Er zog seinen Kindjal-Dolch, während er hörte, wie der Mob der Kultisten langsam näher kam. Er riskier te es, einen Teil seiner Aufmerksamkeit den Käfern zu schenken, die für ihn beobachten sollten, was sich hinter seinem Rücken abspielte. »Ja, dein Sohn«, sagte Izolda. »Ich habe bereits mit sei ner alten Freundin über ihn gesprochen. Ich mochte den Klang ihrer Stimme so sehr, dass ich die letzte sein woll te, die ihn zu hören bekam. Ihr ängstliches Weinen war besonders schön, man musste sie nur anschauen, damit es wieder anfing. Jetzt gehört sie mir. Und auch dein Kind wird mir gehören. Ich würde gern sagen, dass es nichts Persönliches ist, Gildenmeister, aber es ist halt so.« Jarad lief die Zeit davon. Er musste etwas unterneh men. Der Schwarm Grünfliegen war viel zu klein, um die Bluthexe mehr als nur zu ärgern, und die Käfer, die er bei sich hatte, konnten ihm auch nicht weiterhelfen, da sie von einer harmlosen Sorte waren. Also blieb er stehen. Solange Izolda mit ihm beschäftigt war, konnte sie sich 401
zumindest nicht an die Oberfläche begeben und das Le ben seines Sohnes oder seiner Exfrau in Gefahr bringen. »Ich bin mir sicher, dass ich dir irgendetwas getan ha be«, sagte Jarad. »Aber ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen sein könnte.« »Oh, es geht gar nicht um das, was du getan hast. Es geht darum, was du bist«, sagte Izolda. »Hast du dir jemals darüber Gedanken gemacht, wie lange es her ist, seit ein Gildenmeister Nachwuchs bekommen hat?« Drei der Käfer starben, weil Kultisten auf sie traten. Die Meute hatte Jarad den Fluchtweg abgeschnitten. Der Devkarin schickte die Grünfliegen los. Der kleine Schwarm stürzte sich auf die Menge, die deutlich kleiner geworden war. Immer mehr Kultanhänger bekämpften sich gegenseitig mit sakramentaler und tödlicher Gewalt. Zuerst schlug die Meute nach den schillernden Fliegen, um sie zu verscheuchen. Dann ertönten erste Schmer zensschreie, als sich die Grünfliegen auf der freien Haut oder noch lieber auf offenen Wunden niederließen. Beim Landen bissen die Grünfliegen zu. Sie hinterließen dabei ein schwaches Gift, das einen kleinen Hautfleck inner halb eines Tages verfaulen ließ. Manchmal dauerte es auch länger. Aber dieser bestimmte Schwarm übertrug zudem eine nekrobiotische Infektion, die Jarad tief in der Schlucht entdeckt und »Grünfliegen-Fäule« genannt hatte. Die Fäule verzehrte das Opfer von innen, befiel zuerst den Blutkreislauf und ließ sich so in die Organe transpor tieren. Als Letztes wurden dann die Knochen befallen. Nach dem unausweichlichen Tod des Opfers kehrte es als 402
halbintelligenter Todesgänger zurück. Hier kam dies Jarad besonders zupass, da die Seuche auch intelligente Zom bies befiel, und davon befanden sich einige in der Meute. Zombies, die mit der Fäule angesteckt wurden, zerfielen innerhalb von Minuten. Bei Lebenden dauerte es bis zu zwei Stunden, bis sie tot waren. Ein Kultist nach dem anderen fing an, auf die Fliegen zu schlagen, die sich auf sie gesetzt hatten. Das galt auch für die affenartigen Diener. Jarad hatte die Fliegen von dem Mädchen fern gehalten, auch wenn er keine große Hoffnung hatte, sie wiederbeleben zu können. Die Zom bies würden es nicht mehr lange machen, aber der Rest des Mobs bedeutete noch eine gute halbe Stunde Gefahr für ihn. Dann würden die Krankheitssymptome in aller Stärke zuschlagen. Solange der Körper noch lebte, verur sacht es unerträgliche Schmerzen, wenn untote Knochen und Gewebe in ihm wuchsen. Was auch nun dabei he rauskam, die Grünfliegen hatten ihm zu dem verholfen, wonach er gesucht hatte: ein Ablenkungsmanöver. Jarad hatte keinen Fluchtweg, jedenfalls nicht im her kömmlichen Sinn. Aber solange Wände zur Verfügung standen, konnte ein Devkarin-Jäger noch ein paar Tricks aus dem Ärmel ziehen. Er duckte sich kurz in der Mitte des Tunnels und sprang dann gegen die nächste Wand. Für jeden, bei dem die normalen Gesetze der Schwerkraft galten, hätte man von einem wilden, fliegenden Tritt gesprochen. Aber Jarad löste dazu noch mental eine ein fache Verzauberung aus, die er als Kind gelernt hatte. Er schoss die Wand hoch und stützte sich dabei mit beiden 403
Beinen und einem Arm ab, um das Gleichgewicht zu wahren. Bevor sich die Bluthexe versah, war er schon über sie hinweg und hinter ihr. Der Golgari-Gildenmeister nahm den Kindjal-Dolch mit beiden Händen und schwang die Klinge gegen Izolda, während er sich fallen ließ. Das tote Mädchen erwischte sein Bein mit einer Sichel, die es unter seiner Robe verborgen gehalten hatte und die er weder gesehen noch erwartet hatte. Sie hakte die ge schwungene Klinge um seinen Unterschenkel und zog kräftig an. Dabei erwischte sie etwas, was sich wie eine ziemlich wichtige Arterie anfühlte. Was aber schlimmer war: Der Ruck des Mädchens kostete ihn das Gleichge wicht und veränderte dadurch die Richtung seines Sto ßes. Die Spitze des Dolchs traf nur auf den Steinboden, und Jarad fiel hinterher. Izolda trat ihm mit ihrem schwarzen Lederstiefel gegen das Kinn. Jarad versuchte sich abzurollen und konnte noch einen Teil der Wucht abmildern, aber es fühlte sich trotzdem so an, als ob ein Oger zugetreten hätte. Der Tunnel drehte sich vor Jarads Augen, und er spuckte ei nen Zahn aus. »Probier das noch einmal«, sagte er. Die Bluthexe verstärkte nur ihr kaltes Lächeln und gab mit ihren gekrümmten Fingern dem toten Mädchen ein Zeichen. »Schnapp ihn dir, meine kleine Streunerin!« Ohne die Augen von ihrem neuen Spielzeug abzuwenden, rammte Izolda die Spitze ihres Stiefels in Jarads Rippen. Es war der andere Stiefel, und dieser war vorn an der 404
Stahlkappe mit einem langen Eisendorn versehen. Jarad biss die Zähne so fest zusammen, wie er nur konnte, als der Dorn zwischen zwei seiner Rippen hindurchfuhr und etwas durchlöcherte, das er lieber in einem Stück gehabt hätte – einen der Lungenflügel, so wie es sich anfühlte. Jarad gab kein verräterisches Geräusch von sich, sondern griff nach dem Fußgelenk der Bluthexe und ließ nicht wieder los. Er riss den Dorn aus seiner Seite und verdreh te den Fuß um 180 Grad. Diese ruckartige Bewegung hät te Izolda für den Rest ihres Lebens zum Krüppel machen und vielleicht sogar ihren Fuß ganz abreißen müssen, ob mit oder ohne Stiefel. Doch stattdessen drehte Izolda ihren gesamten Körper mit der Bewegung mit und lag förmlich in der Luft. Ihr zweiter Fuß traf wieder Jarads Kinn, der daraufhin den Fuß losließ. Die Bluthexe überschlug sich in der Luft nach hinten und landete sicher neben dem toten Mädchen. »Ich werde dich töten«, sagte Jarad. »Was willst du von meinem Nachkommen?« »Ach, wir hätten uns mit dir begnügt, wenn wir ge wusst hätten, dass du dich hier gefangen nehmen lässt – und sogar noch in lebendigem Zustand, Gildenmeister«, antwortete die Bluthexe. »Außerdem bezweifele ich, dass du mich töten wirst. Ich kann dir versichern, dass das ziemlich überflüssig wäre. Es ist einfach so, dass Gilden meister einen gewissen Schutz genießen, den selbst ich respektiere. Daher ist es viel einfacher, sich ein Kind zu besorgen und zu benutzen.« »Für was benutzen?«, keuchte Jarad. »Was hast du ...« 405
Das tote Mädchen schnitt mit ihrer Sichel die obere
Hälfte von Jarads linkem Ohr ab. Er knurrte und versuch te nach ihr zu treten, musste aber feststellen, dass er kaum noch die Kraft hatte, sein Bein zu bewegen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Gildenmeister, zumindest jetzt noch nicht«, sagte Izolda, als das tote Mädchen fasziniert mit dem Dreieck aus bleicher Haut und Knorpel spielte, das bis vor kurzem noch an Jarads Kopf hing. Die Welt drehte sich nicht länger, sie begann zu verschwimmen. Die offene Arterie an seinem Bein forderte ihren Tribut. Jarads Hand rutschte in einer Lache seines Bluts weg, als er sich hochstemmen wollte. Im Moment schaffte er es nur noch, sich auf die Seite zu rollen. »Ich verblute«, sagte er lächelnd. »Ich schätze mal, dass du von dem ganzen Blut keins mehr abbekommst.« »Unsinn«, sagte Izolda. »Und ihr haltet euch fern«, be fahl sie den von den Grünfliegen befallenen Kultanhän gern. Sie beugte sich über Jarad und zischte eine Be schwörungsformel. Raue schwarze Fäden sprossen aus der Haut rund um Jarads Wunden herum und trieben dann ihre scharfen Spitzen in die Haut auf der anderen Seite der Wunde. Innerhalb von Sekunden waren seine Wunden auf diese Weise geklammert. Er war sich ziem lich sicher, dass dies die schmerzhafteste Möglichkeit war, mit der man eine Blutung stillen konnte. »Und was deine Käfer und Fliegen angeht«, fügte sie hinzu. »Ich habe schon seit Jahrzehnten in dem Blut, das sie gerade saugen, ein Gegenmittel verankert. Ich beobachte dich 406
jetzt nämlich schon seit einer ganzen Weile. Du wirst den Platz deines Jungen übernehmen, denke ich mal. Sein Blut ging verloren. Der Austausch fand nicht komplett statt. Und ich hasse es, wenn ein Blutopfer nicht ordent lich bis zum Ende durchgeführt wird.« »Warum soll ich auch nur ein Wort von dem glauben, was du sagst?«, fragte Jarad. »Du hast keine andere Wahl«, sagte Izolda. »Wenn du tatsächlich glaubst, dass der Dämon den Jungen aus eige nem Willen freigeben wird, dann bist du ein Narr. Aber wenn du meinen Zwecken dienst, wird der Dämon gar keine andere Wahl haben, als dies zu tun. Leider wird das natürlich das Ende deines Lebens bedeuten. Aber ich glaube, dass dir sonst nichts anderes übrig bleibt. Nun, Gildenmeister, wie lautet deine Antwort?«
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Was glaubst du denn, warum ich hier bin?, dachte Svogthir. Weil dieser verdammte Devkarin mich um Amt und Würden gebracht hat. Er hat meine Gilde gestohlen. Und ich will sie zurück. Viel Erfolg dabei, antwortete Kos. Aber ich wollte eigent lich wissen, warum Ihr in diesem Körper steckt. Ich habe mir diesen Körper zugelegt, seitdem du damals ihre Pläne vereitelt hast. Nachdem sie ihr Leben lang mit Nekromagie zu tun gehabt hatte, war sie ohnehin schon halb tot. Ich vermisse zwar meinen alten Schädel, aber es war wichtig, in diesen Körper umzuziehen. Aber dich habe 407
dich hier nicht hereingebeten. Der Zombie-Gott schien immer noch leicht überrascht zu sein. Vielleicht ist das gerade der springende Punkt, dachte Kos. Der Körper gehört auch nicht Euch. Wir sind beides Eindringlinge im Körper einer toten Frau, soweit ich das beurteilen kann. Und jetzt erzählt mir genauer, was der Stammvater vorhat. Kos, du hast einen Auftrag zu erledigen, mischte sich Obez ein. Sei ruhig, dachte Kos. Wir befinden uns in einer Gesell schaft, in der du lieber nichts ausplappern willst. Der Körper, der einst der Devkarin-Hohepriesterin Matka Savra gehört hatte und seitdem Svogthir als Unter schlupf diente, gehörte nicht gerade zu den angenehm sten Körpern, in denen man sich aufhalten konnte, muss te Kos feststellen. Und da er schon in verschiedensten Körpern gesteckt hatte, fühlte er sich in dieser Angele genheit einigermaßen als Experte. Dieser Körper war einfach ungemütlich. Eines musste er noch herausfinden: ob die Macht der Azorius, die der Große Schiedsmann ihm verliehen hatte, ausreichend sein würde, um die Kontrolle über diesen Körper zu übernehmen. Diesmal ging es ja nicht um ein normales Wesen, sondern gegen jemanden, der bereits vorher die Kontrolle an sich geris sen hatte. Zu Kos’ großer Überraschung ging alles ganz einfach. Vielleicht war es ja die stabilisierende Hilfe seines Ankers, der er seinen Erfolg verdankte, jedenfalls hatte er den großen Zombie-Gott ohne Mühe in eine der hinteren Ek 408
ken des Gehirns der toten Devkarin verdrängt. »Zombie-Gott, es wird langsam Zeit. Der Dämon brüllt in der Nacht, die Bestien der alten Zeiten reißen die leblo se Welt aus Stein auseinander. Wir werden ihre Retter sein. Wir werden sie neu erschaffen. Möchtest du auch noch ein paar Worte sagen, bevor wir Projekt Kraj gebä ren?« Nun musste Kos nur noch Svogthir ausfragen, ohne dass Vig bemerkte, was geschehen war. Es war fast wie damals im Zehnten Distrikt. »Fangen wir doch einfach an«, blaffte Kos. Er vermute te, dass der Zombie-Gott, der von sich behauptete, das älteste Wesen in Ravnica zu sein, nur wenig Geduld mit einem hochtrabend schwafelnden Biomagier hatte. »Du bist ebenso der Erzeuger dieser wunderbaren Kreation wie ich«, sagte Vig. »Wir werden nicht nur Leben bringen, sondern auch den Tod.« Was in drei Krokts Namen soll das hier alles?, wollte Kos wissen. Willst du, dass er dir alles bis ins Detail noch einmal er klärt und mit Kreide auf den Boden schreibt, Wojek? Schau dich doch einmal um, sagte Svogthir. Schau dir dieses enorme Netzwerk in der Mitte an. Und jetzt stell dir das Ganze mal von außen vor. Warum? Weil wir, du lächerliche Pustel von einem Geist, uns mit ten im Kopf von Projekt Kraj befinden, teilte Svogthir ihm mit. Dieser Dummkopf wird es auf die Stadt loslassen, und es wird die Nephilim und den Dämon auslöschen. Das denkt 409
zumindest er. Ihr nicht?, fragte Kos. »Svogthir, du wirkst so abwesend«, sagte Vig. »Das liegt an der Bedeutsamkeit dieses Augenblicks«, antwortete Kos. »Es ist wirklich ehrfurchtgebietend, was wir erreicht haben.« »Du wirst deine Unterstadt zurückerhalten, und ich be komme die Oberfläche, um sie zu kultivieren«, sagte Vig. »Projekt Kraj wird den Dämon und die alten Bestien be siegen, und die Überlebenden werden uns Untertan sein. Aus dem Überleben erwächst die Veränderung, die Grundlage für neues Leben.« Netter Plan, dachte Kos. Da steckt ja einiges an Arbeit drin. Es ist ein guter Plan, antwortete Svogthir. Aber du warst nicht mit eingeplant. Zu spät. Jetzt bin ich mit dabei. »Wir sollten endlich anfangen«, sagte Kos durch Savras kaputten Mund. »Du kannst es kaum erwarten, was?«, sagte Vig. »Ich hätte gedacht, dass jemand in deinem Alter sich inzwi schen etwas mehr Geduld zugelegt hat.« »Vergiss nie, wer in diesem Körper steckt, mit dem du so herablassend umgehst, du Pustel von einem ...« Kos, der nur einen Moment lang nicht aufgepasst hatte, unter brach Svogthirs Ausbruch mit einem vorgetäuschten Hu stenanfall. Das Spielchen spielt Ihr nur einmal mit mir. Zur Not finde ich eine Methode, wie ich mich mitsamt diesem Körper umbringen kann, wenn Ihr das noch einmal versucht. 410
Das bezweifele ich, dachte Svogthir. Du scheinst mir nicht der Typ dafür zu sein. »Ich vergesse nie etwas«, sagte Vig. »Und du hast Recht, die Zeit ist beinahe gekommen. Schau!« Der SimicGildenmeister gab nun einem Virusoid ein Zeichen, das daraufhin zu einer der durchsichtigen Membranen ging und über eine Erhebung an der schwammartigen Wand strich. Die Membran schimmerte, und man konnte den Dämon Rakdos erkennen, der gegen das Schlangenwesen kämpfte. Der Nephilim hatte sich wieder halb aufgerich tet und war damit so groß wie der Dämon, saß aber noch auf Windungen, die sicherlich doppelt so lang waren. Der Dämon dagegen hatte ein Stück Mizzium in der Hand, das er wahrscheinlich von einem der alten Gebäude abgeris sen hatte, vielleicht sogar von Sonnenheim selbst. Kos konnte beobachten, wie der Dämon seine Flügel ausbrei tete und mit seinem Knüppel in der Hand in die Luft stieg. Ich muss zugeben, es ist ein Vergnügen, ihn wieder ein mal kämpfen zu sehen, teilte Svogthir Kos mit. Er ist ein Meister des Tötens. Es dauerte nicht lange. Der Schlangen-Nephilim war für ein Wesen seiner Größe zwar schnell, konnte aber mit seiner Würgetechnik nichts gegen Angreifer aus der Luft ausrichten. Rakdos war im Vergleich dazu nicht ganz so gewandt, aber er hatte viel Schwung und setzte sogleich zum Sturz flug an. Er verursachte eine riesige blutende Wunde, in dem eines seiner Hörner ein Stück aus dem Oberkörper 411
gesicht der Schlange riss. Der Nephilim griff nach ihm, als er einen neuen Anlauf startete, aber der Treffer hatte sein Gleichgewicht so nachhaltig gestört, dass sein Schlag völlig danebenging. Beim zweiten Sturzflug trieb Rakdos den gezackten Mizzium-Träger, der gut und gerne die Länge der Kabine eines Privatzeppelids hatte, durch das riesige gelbe Auge auf der »Brust« der Bestie. Der Dämon ließ seine Waffe dort stecken, ergriff aber auf dem Weg nach oben einen der herumfuchtelnden Arme des Nephi lims. Mit schnellen und kräftigen Flügelschlägen zerrte Rakdos das Wesen in die Luft. Der Nephilim dehnte seine Schuppen und versuchte, mit seinem Körper nach dem Dämon zu schlagen, um sich an ihm festklammern und das Leben aus ihm her ausdrücken zu können. Stattdessen zog Rakdos einen seiner Hufe an und versetzte dem Mizzium-Speer einen so kräftigen Tritt, dass die Waffe auf dem Rücken des Nephilims wieder austrat. Der zweite Huf traf das runde metallische Maul des Nephilims und schlug es ein. Schließlich ging Rakdos wieder in den Sturzflug über und ließ los. Der Schwung des Nephilims riss seinen Schlangenkör per in die Luft direkt auf den Vitu Ghazi zu, während sich der Dämon in die andere Richtung abkippen ließ. Der gesamte Körper des Schlangenwesens peitschte zuckend durch die Luft, bis er gegen den Baum prallte und dort von vielen angespitzten Ästen aufgespießt wurde. Dies war ein Teil der neuen Verteidigungsmaßnahmen des Konklaves, und hatte zumindest diesmal auch hervorra 412
gend funktioniert. Der Schlangen-Nephilim zuckte noch ein paar Mal, während sein Blut den Baum der Einheit in Sturzbächen hinabrann. Dann sackte der Körper zusammen und rutschte schlaff gegen den riesigen Stamm. Ein kleine Armee Ledev-Wächter schwärmte aus, um sich um den riesigen Kadaver zu kümmern. »Udom«, befahl Vig, und das Virusoid betätigte den Schalter erneut. Der Film über der Scheibe verschwand, und das Fenster ließ wieder ganz normal Wärme herein. Der Stammvater wandte sich an Svogthir. »Ja, die Zeit ist gekommen. Der Dämon ist das Einzige, was noch zwi schen uns steht und dem Beherrschen der wilden, neuen und natürlichen Welt, die wir erschaffen werden. Leben und Tod, zwei Seiten der gleichen Welt.« »Ja«, warf Kos ein. »Fangen wir also an«, sagte Vig. Kos brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass der Biomagier ihn finster anblickte. »Ja«, wiederholte er. Worauf wartet er?, fragte Kos. Das muss ich dir doch kaum sagen, oder?, kam die Ant wort von Svogthir. Hört Euch nur diesen Knallkopf an, dachte Kos. Glaubt Ihr wirklich, dass er teilen will? Auch wenn Ihr so alt seid, wie Ihr behauptet, der Trick ist doch noch älter. Ich kann ihn lesen wie ein aufgeschlagenes Buch. Wer hat denn gesagt, dass ich vorhatte, zu teilen?, gab Svogthir zurück. »Zombie-Gott, ich sage es noch einmal: Die Zeit ist ge 413
nau jetzt gekommen.« Vig klang inzwischen wirklich irri tiert. Was erwartet er von mir?, fragte Kos nach. In Ordnung, teilte Svogthir ihm mit. Jetzt könnte es langsam interessant werden. Er benötigt die drei Glasröhr chen, die du am Gürtel trägst. Er hat die anderen drei. Alle sechs zusammen werden das Projekt zum Leben erwecken, und dann gibt es ein weiteres riesiges Monster mehr, das da draußen frei herumrennt. Aber das neue wird ein wenig anders sein als die alten. Kos fasste so beiläufig, wie es ihm nur möglich war, an Savras Gürtel und fand die Röhrchen. »Ja«, sagte Kos. »Die Zeit ist gekommen.« Du musst die Röhrchen nacheinander hineinschieben, immer du und er gleichzeitig. Und nach dem dritten ... war te mal kurz.
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Myc stieß einen lauten Triumphschrei aus, der bis in den Himmel zu hören war, und Rakdos stimmte ein. Als Nächstes waren die Lebensanhänger dran. Der Dämonengott marschierte auf den Vitu Ghazi zu. Er schien innerlich zu kochen. »Selesnija-Konklave!«, rief er herausfordernd. »Deine Zeit ist gekommen!« Mit diesen Worten überschwemmten Ratten die Straßen. Sie kamen aus jeder Ritze und jedem Spalt. Sie umringten das Fun dament des Vitu Ghazi und schnatterten so laut, dass Myc sie von seinem Sitz unter Rakdos’ Kinn hören konnte. Die 414
Ledev hatten bereits Position hinter einer niedrigen Mau er bezogen, die sie erst vor ein paar Jahren errichtet hat ten. Rakdos zerschmetterte mit einem Huftritt die Mauer, bevor Myc ihn aufhalten konnte, und die Ratten strömten in das Gebiet des heiligen Konklaves. Weit oben im Baum der Einheit versuchte ein Leben der Heiliger alles in seiner Macht Stehende, um sicherzu stellen, dass sie nicht lange dort blieben.
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»Jarad«, meldete sich Fonn. Ihre Stimme klang dünn und entfernt, so als ob er sie durch ein Netzwerk von Röhren hören würde. »Jarad, wo bist du?« Jarad blinzelte und war erst einmal froh, dass er das noch konnte. Er hatte halb erwartet, mit zugenähten Au gen aufzuwachen, falls er jemals noch einmal aufwachen sollte. »Jarad, im Namen der heiligen Mutter, wo steckst du«, tönte die Stimme wieder, und der Devkarin spürte das Geräusch nicht nur in seinen Ohren, sondern auch auf seiner Brust. Er wollte nach dem Sprachstein greifen, merkte aber, dass er die Arme nicht mehr bewegen konn ten. Dann erst wurde ihm seine Umgebung bewusst. Jarad hing mit Seilen und rostigen Ketten gefesselt an dem gleichen Metallbaum, an dem zuvor sein Sohn ge standen hatte. Diesmal waren weniger Kultanhänger in der Nähe, aber es bestand auch weniger Hoffnung auf 415
Rettung. Und wenn das stimmte, was Izolda behauptete, dann war sich Jarad nicht sicher, ob er überhaupt gerettet werden wollte. War das Versprechen, dass sein Sohn frei sein würde, es wert, dass Rakdos unter die Kontrolle ei ner Kreatur wie dieser Bluthexe geriet und sich austoben durfte? Zudem stand die Hoffnung noch unter der Prä misse, dass es Fonn irgendwie gelang, den Jungen zu retten, sobald die Verbindung zwischen Myc und dem Dämon gerissen war. Denn das war anscheinend die Zeremonie gewesen, die sie vorhin hatte durchfüren wollen. Jede Gilde hatte ihre eigenen Rituale und Stilrichtungen, wenn es um Magie ging, wenngleich sie sich mit denen der anderen Gilden nicht selten überschnitten. Izolda hatte versucht, einen Dominationsritus zu vollenden: Magie, die den Zweck hatte, ein anderes Wesen zu beherrschen. Als Jarad das klar wurde, war es auch nur noch ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis, dass sein Pfeil den ersten Ritus gestört hatte und durch Zufall die Verbindung zwischen Myc und dem Dämon verursacht hatte. »Und wie soll das funktionieren, wenn dein Gildenmei ster da draußen herumtobt und die Innenstadt auseinan der nimmt?«, fragte er. »Ach, du hast langsam die Puzzlesteine zusammenge setzt«, sagte Izolda. »Ich hatte gehofft, dass du mich nicht enttäuschst, Gildenmeister. Aber du brauchst dich damit nicht länger zu beschäftigen, mein Bester. Es wird schon funktionieren. Das Blut eines Gildenmeisters – das deines Sohnes – hat sich mit dem brennenden Blut der Grube 416
und dem Blut des Dämons vermischt. Ich habe es mit
dem Lebenssaft eines Drachen veredelt.« »Und jetzt hast du nur eine Sorte Blut zur Verfügung«, höhnte Jarad. »Viel Erfolg.« »Es wird schon nicht vergeudet werden«, antwortete die Bluthexe. Sie zog ihre schwarzen Krallen ein und schnippte mit den Fingern. Einer der Affendiener schlurf te zu ihr und übergab ihr eine kleine Flasche. Izolda holte eine silberne Schüssel hervor und goss sorgfältig die Hälf te des Inhalts hinein. Aus dieser nahen Entfernung konn te Jarads Nase ihm genau verraten, was das für eine Sub stanz war. Bei Krokt, dachte er, sie könnte es wirklich schaffen. Und wenn es ihr gelang, dann mussten Myc, Fonn und der Rest der Welt erst einmal ein Mittel dage gen finden. Das Opfer würde nicht viel bedeuten. Er versuchte, keinerlei Emotionen zu zeigen, um nicht zu verraten, dass ihm noch eine Idee gekommen war. Er konzentrierte sich schweigend auf die gemeine Ravnica nische Säuremücke und fand tatsächlich vier Stück in nächster Nähe. Er steuerte sie mit Höchstgeschwindigkeit zu den Ketten, die um seine Hände gewickelt waren. Izolda reckte die Schüssel mit einer Hand in die Höhe und reichte die Flasche mit der Drachenhirnflüssigkeit wieder dem Strauchdieb. Sie hielt die Hand weiter ausge streckt. »Kind, gib mir das Messer.« Das tote Mädchen tauchte aus Jarads Rücken auf, wo er sie nicht hatte sehen können. Sie trug das lange Messer, mit dem auch Mycs Hand aufgeschlitzt worden war und an dem immer noch sein Blut klebte. Sie überreichte das 417
Messer wie eine Opfergabe und zog sich dann wieder in ihre Ecke zurück. Das Mädchen hatte angefangen, eine fröhliche Melodie zu summen, an der irgendetwas falsch war. Es klang wie eine Parodie auf eines der bekannteren Lieder der Selesnijaner. Izolda nickte, als sie die Klinge in der Hand hielt. Die Säuremücken ließen sich auf den Ketten und Sei len nieder, mit denen Jarad an den Armen gefesselt war. Sofort sonderten sie die Flüssigkeit ab, nach der sie be nannt worden waren. Die Säure, die sie mit sich trugen, war so stark, dass sie sich nicht nur durch die Ketten und Seile fressen würde, sondern auch durch seine Haut, wenn Jarad nicht aufpasste und sich rechtzeitig in Si cherheit brachte. Die Bluthexe schnupperte kurz und riss vor Überra schung ihre weißen Augen auf. Sie hatte es zu spät be merkt. Nachdem Jarad beide Hände frei hatte, beugte er sich vornüber. Er konnte die Ketten, die um seine Knöchel geschlungen waren, einfach wegziehen – sie waren nicht befestigt, sondern nur mehrfach herumgewickelt worden. Er machte eine Hechtrolle vorwärts und landete gebückt zu Izoldas Füßen. Doch statt nach ihm zu treten, wich die Bluthexe vorsichtig einen Schritt zurück und barg die Silberschüssel an ihrer Brust. »Worauf wartet ihr Narren noch?«, brüllte sie fordernd. »Schnappt ihn euch! Werft ihn zu Boden!« Alte Gewohnheiten waren meist schwer abzuschütteln, und für die Rakdos war der Kampf Mann gegen Mann das 418
Einzige, was sie gewohnt waren. Sie waren nur selten in der Lage, kurzfristig Allianzen zu schließen, um sich ge meinsam auf einen Gegner zu stürzen. Der breite Bund ihrer Gilde war schon das höchste ihrer Gefühle – und das war eher ein gemeinsames Glaubenssystem, das sie zusammenhielt, nicht wahre Kameradschaft. Darum musste es Jarad immer höchstens mit einem oder zwei gleichzeitig aufnehmen. Und es war wirklich Glück, denn er fühlte immer noch einen dumpfen Schmerz in seinem Unterschenkel. Er rollte sich zur Seite ab, um dem einen Affenzombie zu entkommen, und zog dabei die Beine hoch, damit endlich wieder etwas Blut in sie hineinfließen konnte. Es funktionierte. Nun hatte er statt einem dumpfen Pochen die überwältigende Empfindung, dass plötzlich alles Le ben in seine Beine zurückkehrte. Es fiel ihm schwer zu stehen, deswegen rollte er sich in die andere Richtung, als der zweite Affenzombie versuchte, nach seinen Ar men zu greifen. Mitten in der Bewegung schaffte er es, den Strauchdieb am Handgelenk zu packen. Dieser kam ins Straucheln und rammte mit dem Kopf direkt gegen den Steinboden. Die Schädeldecke gab nach, und graue Materie spritzte heraus – graue, trockene, nutzlos ausse hende Materie. Doch dieses Manöver musste Jarad teuer bezahlen, da es der Bluthexe die Gelegenheit eröffnete, ein weiteres Kommando zu geben. »Stürzt euch alle auf ihn! Sofort!« Jarad konnte gegen die Überzahl der Gegner nichts ausrichten. Er konnte kaum stehen und war komplett 419
unbewaffnet, und der Mob war hinter seinem Blut her. Trotzdem zwang er sich in eine stehende Kampfhaltung und wirbelte benommen einmal um die eigene Achse, um einen Überblick über seine Gegner zu bekommen, die von allen Seiten näher rückten und ihn umringten. Nur das tote Mädchen hatte sich noch nicht bewegt, sondern stand einfach nur da, nicht weit von der Bluthe xe entfernt, und summte seine fröhliche Melodie. Jarad konnte seine Gedanken nicht mehr von der Melodie ab wenden. Sie wurde in seinen Ohren immer lauter und strömte in sein Gehirn. Die Töne störten seine Konzentra tion. Die Säuremücken waren verschwunden, ebenso wie all die anderen Kontakte, die er aufzubauen versucht hatte. Sein Gleichgewicht kam als Nächstes. Beim Ver such, sich zurückzuziehen, stolperte er über die eigenen Füße. Die Meute stürzte sich auf ihn, sobald er auf dem Bo den lag. Knochige, knorrige Hände griffen nach seinen Armen, und eine schwere Keule zerschmetterte sein rechtes Knie. Die Kultisten zerrten den geschlagenen Gildenmeister vor die Bluthexe. »Unterhaltsam«, sagte Izolda. »Aber jetzt benötige ich dein Blut, Gildenmeister.« »Jarad, Myc sitzt immer noch da oben. Und er lebt noch. Kannst du ihn da herunterholen oder nicht?«, klang Fonns Stimme aus dem Sprachstein. Es brauchte jedes Fitzelchen übrig gebliebene Kraft in seinem Körper, damit Jarad einen Arm aus dem Griff der Rakdos reißen, den Stein berühren und losbrüllen konn 420
te: »Hol ihn da runter! Ich werde ihn befreien. Wartet
nicht auf mich ..« Izolda hakte ihr Messer unter den Lederriemen, an dem der Stein hing, und schnitt ihn durch. Der Stein fiel auf den Boden, und das Mädchen schlurfte fasziniert vor, um ihn aufzuheben. »Jarad?«, rief Fonn verzweifelt. »Was meinst du damit, dass wir nicht auf dich warten sollen? Sprich mit mir!« »Kind, sei so nett, und wirf das doch bitte in die Grube«, sagte Izolda ruhig. Das Mädchen drehte sich um und ließ den Sprachstein schweigend in den brodelnden Krater fallen, aus dem der Dämonengott auferstanden war. Dann rammte die Bluthexe das Messer in das Herz des Elfen. Jarad musste zusehen, wie sein Blut in die silberne Schüssel sprudelte. Er lebte noch lang genug, um mitzu bekommen, wie Izolda die Schüssel an ihre Lippen hielt und einen großen Schluck nahm. Zumindest ist mein Sohn jetzt frei, dachte Jarad, als sein Leben auslief.
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Mycs Gehirn fühlte sich an, als ob es plötzlich zweigeteilt worden wäre. Er konnte Rakdos nicht mehr hören, nur noch die lauten Drohungen, die der Dämon gegen die Selesnijaner ausstieß, während er seine wirren Anhänger im Kampf mit dem Baum der Einheit anführte. Er war nicht länger mit dem Dämon verbunden, aber 421
es brodelte immer noch dessen Wut in ihm. Und als Myc feststellte, dass er seinen Vater nicht länger im Gesang hören konnte, explodierte dieser Zorn. Er schrie, er fluch te, er wünschte Rakdos alles Üble auf den Hals, das er sich vorstellen konnte. Und nicht nur Rakdos, sondern auch der Bluthexe und allen anderen, die je versucht hatten, ihm oder seiner Familie Schaden zuzufügen. Doch außer dem Schänder konnte ihn keiner hören. »Halt den Mund, Junge«, sagte der Dämon. Dann griff er mit einer klauenbesetzten Hand nach dem Jungen und zog ihn von seinem Hals weg. Rakdos hielt sich den rela tiv winzigen Myc vors Gesicht. »Du warst in meinem Kopf, grollte der Dämon. »Das war keine gute Idee von dir, Insekt. Ich bin Rakdos der Schänder. Niemand ist ohne Erlaubnis in meinem .. Arrrgh!« Rakdos der Schänder griff sich mit einer Hand an seine schmerzende knochige Schläfe. Die andere Hand hatte sich gleichzeitig vor Schreck geöffnet und ließ den jungen Myc Zunich aus gewaltiger Höhe fallen.
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Kos schob das letzte Glasröhrchen in das dafür vorgese hene Loch und fütterte die dritte Portion der Gehirnflüs sigkeit des Drachen – so sah das Zeug also aus – in das Neuroboretum-Netz, das als Zentralgehirn von Projekt Kraj diente. Momir Vig drehte sich zu ihm um und lächel te. »Und nun werden wir die Welt verändern«, sagte der 422
Stammvater. Ohne dass der Simic-Gildenmeister noch eine Hand rühren musste, konnte Kos spüren, wie die Intelligenz von Kraj langsam um ihn herum zum Leben erwachte. Ich frage mich, was als Nächstes geschieht?, dachte Svogthir. Genau das hier, dachte Kos. Dann griff er nach Savras Stab und rammte das spitze Ende genau in Momir Vigs sonst so wachsames schwarzes Auge.
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Kapitel 17
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Ich bin doch kein Monster. Ich, Loxodon (Akt V, Aufzug 5, Zeile 102) von Montagon Trevis (6037 Z. C.)
31. Cizarm 10012 Z. C. »Kos hat jetzt ganz den Verstand verloren«, brüllte Obez. »Er steckt in dem Zombie-Gott. Und er hat gerade .. Sag mal, hast du überhaupt eine Ahnung, wie gefährlich … Bold, hast du schon mal etwas über ein ›Projekt Kraj‹ gehört?« »Im Zombie-Gott?«, keuchte Pivlic erschöpft. »Und was für ein Projekt bitte schön?« Der Roc hatte sie schon längst abgeschüttelt und war zu seinem Schwarm zu rückgekehrt – in diesem Fall einer vorbeifliegenden Staf fel Luftjeks. Nun hielten nur noch die müden Flügel des Bolds ihn und den Magiejuristen in der Luft. »Im Zombie-Gott«, wiederholte Obez. »Diese ›Zombie priesterin‹, von der uns der Dieb berichtet hat – das ist Svogthir. Er ist zurück. Schon wieder.« »Nun, warum auch nicht«, sagte der Bold. »Kannst du uns zum Senatsgebäude zurückfliegen?«, 424
fragte Obez. »Die Simic haben irgendetwas vor. Schau mal da hinüber.« »Ich kann nicht. Nur für den Fall, dass Sie es noch nicht bemerkt haben, mein Freund, ich schleppe gerade vier Zentner Magiejurist mit mir herum.« »Das ist eine Lüge, ich wiege ... Ach, das tut im Moment rein gar nichts zur Sache. Da geschieht etwas mit Novi jen.« »Was denn?«, keuchte Pivlic. »Es erhebt sich gerade.« »Wie bitte?« »Kos, was zum Teufel machst du da?«, fragte Obez laut. »Und, was sagt er?«, fragte Pivlic. »Wir sollen ihm vertrauen. Das ist doch lächerlich.« »Ich würde das schon tun«, warf Pivlic ein. »Sie müssen Ver... Vertrauen haben. Sie sollten versuchen ...« Er muss te keuchen. »Sie sollten versuchen, etwas abzunehmen. Pivlic ist kein Maulesel. Außerdem, müssen wir nicht in der Nähe bleiben? Und Kos auffangen, wenn er diesen ›Zombie-Gott‹ verlässt?« »Wir müssen Augustin Bericht erstatten«, sagte Obez. »Die Rückkehr einer Kreatur wie Svogthir, die mit so viel Macht ausgestattet ist, kann nur bedeuten, dass der Gil denbund noch schneller auseinander fällt, als er es be rechnet hat. Szadek und Svogthir zusammen, warum ...« Ein lautes Bellen von Stampfer brachte den fetten Ma giejuristen zum Schweigen. Am Rand eines riesigen Kra ters, der ein Viertel des ehemals riesigen Zentralplatzes verschluckt hatte, stand der Dämon Rakdos, als hätte er 425
nur darauf gewartet, dem Schrei des Nephilim ein eigenes Gebrüll entgegenzuschleudern. Die lederigen Hände des Dämons waren zu Fäusten geballt, seine Augen blitzten, seine schrecklichen Flügel waren weit ausgebreitet, und seine hervortretenden Adern pulsierten in einem glühen den Orangerot. Irgendjemand hing in der Kette, die Rakdos um seinen Hals trug. Mehr konnte Pivlic aus der Entfernung nicht erkennen – wahrscheinlich war es ein Skelett. Dann ver schwand der Dämon hinter einem der wenigen noch stehenden Türme, und der Bold konzentrierte sich dar auf, sich in der Luft zu halten. Vielleicht war er noch in der Lage, sie beide heil zu Bo den zu bringen. Allerdings fragte er sich inzwischen im mer öfter, ob am Ende des Tages überhaupt noch etwas von Ravnica übrig sein würde. »Pivlic, wir verlieren an Höhe«, teilte ihm Obez mit. »Dieses Felsmonster kommt immer näher.« »Sie verlangen zu viel von Pivlic«, antwortete der Bold. Sein Ausrutschen in die dritte Person war ein deutliches Zeichen seiner Erschöpfung. »Hat heute einfach schon zu viel geleistet. Ist zu viel geflogen. Hat nur ...« Seine Stim me verlor sich, aber die Flügel des Bolds blieben ge spreizt. Ein sanfter Aufwind füllte sie mit Luft. Der be wusstlose Bold gab immer noch einen guten Gleiter ab und ermöglichte es dadurch dem Magiejuristen, sie beide auf dem kürzesten Weg zur Oberfläche zurückzulenken. Nur war das in diesem Fall Stampfers Rücken.
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»Sie werden mich unehrenhaft aus der Wache entlassen«, jammerte Fonn leise. »Warum das denn, Frau Scharführerin?«, fragte Orval. »Weißt du das wirklich nicht, Orval?«, sagte Aklechin. »Ach, stimmt.« Der Zentaur nickte. »Das bedeutet dann aber auch, dass wir es überleben.« Alle drei standen auf dem Rücken des dreibeinigen Berg-Nephilims, der sie vor kurzem noch beinahe platt getrampelt hatte. Mit einigen sorgfältig geplanten Sprün gen und Kletterzaubern war es ihnen gelungen, das Mon ster ohne größere Probleme zu erklettern. Sie hatten im pulsiv gehandelt. Fonns Plan bestand bislang aus nicht viel mehr als dem Vorsatz, die Bestie zu stoppen, bevor sie Myc gefährlich werden konnte. Sie fühlte sich matt. Ihr kurzer Kontakt mit Jarad hatte auch nicht gerade zur Beruhigung beigetragen. Sie war jetzt auch krank vor Sorge um ihn. Sie konnte ihn nicht länger aus dem Ge sang heraushören, und sie klammerte sich daran fest, dass es Jarad möglich war, seinen Ton bei Bedarf auszu blenden. Er hatte das auch in der Vergangenheit schon ab und zu tun müssen, aber diesmal war es irgendwie an ders. Es würde eine Weile dauern, bis sie den Sprachstein wieder verwenden konnte. Und bis sie wieder etwas von ihm hören würde, musste sie sich so gut wie möglich um die beiden Pfadfinder kümmern, die ihr noch verblieben waren. Zu dritt hackten, schlugen und brüllten sie auf den 427
Stampfer ein, bis ihnen die Luft ausging. Aber das alles schien auf den Nephilim keinen größeren Eindruck zu machen als eine Mücke auf ein Dromad. Sie waren inzwi schen nahe genug am Dämon dran, dass Fonn ihren Sohn erkennen konnte, der wie in Trance unter dem Kinn des Dämons saß. Er musste einfach in einer Trance sein, denn der Gesang hätte sofort anders geklungen, wenn er ... wenn er nicht überlebt hätte. Zu ihrem größten Schrecken musste sie mit ansehen, wie Rakdos ihn auf einmal herunterpflückte und ihn sich vors Gesicht hielt. Dann zuckte der Dämon zusammen und ließ Myc fallen, als wäre er ein Stück glühender Koh le. Der Junge griff in der Luft um sich und konnte sich schließlich an einem der drahtigen Haare am linken Bein des Dämons festhalten. »Gut gemacht, mein Sohn«, flüsterte sie stolz und hoff te, dass Myc durch den Gesang spüren konnte, wie viel Sorgen sie sich um ihn machte. »Haltet euch fest! Es bewegt sich wieder!«, rief Orval, der aus offensichtlichen Gründen einen besseren Gleich gewichtssinn hatte und schon leichteste Erschütterungen sofort bemerkte. »Das Hinterteil hebt sich!« Aklechin brauchte keine zusätzliche Warnung. Er war bereits auf allen vieren und krallte sich in der harten Haut fest. Orval packte seine erbeutete Pike und rammte sie in den steinigen Rücken des Nephilims. Die Waffe drang zwar nicht tief genug ein, um überhaupt eine Wunde zu erzeugen, aber sie steckte fest genug, dass er sich daran festhalten konnte, als das Monster die Vorderbeine vom 428
Boden hochstemmte und sein unterteiltes Maul weit auf riss. »Runter«, sagte Fonn. Beide folgten Aklechins Vorbild. »Wissen Sie, was es da macht?«, fragte Aklechin. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Vielleicht will es den Dämon ja beißen?« Die Vermutung war zwar nahe liegend, aber wie sich schon bald herausstellte, absolut falsch. Der Nephilim holte tief Luft und füllte seine riesige Lunge. Gleichzeitig hörte Fonn Pfeifgeräusche, die zusammen einen wohl klingenden Akkord ergaben. Es klang fast so, als wollte jemand eine Orgel stimmen. Das Geräusch kam aus dem Nephilim heraus, und Fonn bemerkte sechs membranar tige Atemlöcher, die in zwei Reihen auf dem Rücken des Monsters verliefen und sich hoben und senkten. Es erin nerte sie an die Brachiosaurier am Südostpol, die sich damit an die kalte dünne Polarluft angepasst hatten, nur war der Nephilim viel größer. »Er singt, während er atmet«, sagte sie. »Was?«, fragte Orval. »Ich meine natürlich, wie bitte, Frau Scharführerin?« »Der Nephilim atmet«, erklärte Fonn und zeigte den beiden Pfadfindern die Reihen auf dem Rücken des Mon sters. »Anscheinend atmet er durch diese Löcher. Und er braucht wohl nicht viel Luft, sonst hätte ich es wohl schon früher bemerkt. Das ist ...« »Faszinierend?«, beendete Orval ihren Satz. »Nein – obwohl, das auch. Aber darauf wollte ich nicht hinaus. Es bedeutet, dass wir die Chance haben, es am 429
Atmen zu hindern«, sagte sie. »Das Maul ist am Glühen«, sagte Aklechin, der jetzt richtig brüllen musste, um die Geräusche der »Orgel« zu übertönen. »O Myc«, seufzte Fonn und hoffte, dass sich der Junge rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Insgeheim war sie erstaunt, dass er es bis jetzt geschafft hatte, sich im mer noch festzuhalten. Ihre Gedanken kehrten wieder zu dem Monster zurück, auf dem sie gerade ritten, und plötzlich dämmerte es Fonn, dass sich Myc in noch größerer Gefahr befand, als sie gedacht hatte. Das Glühen des Mauls. Das tiefe Einat men. Und Rakdos, der dort wie ein Pfau stand und sich brüstete. Sie wusste plötzlich genau, was geschehen wür de, sobald das Monster tief genug eingeatmet hatte. »Pfadfinder, hört mir zu«, sagte sie so ruhig und deut lich wie möglich. Panik war das Letzte, was sie jetzt brauchten. Sie wollte nicht, dass einer von ihnen vom Rücken des Nephilim purzelte. »Wir müssen alle sechs Atemlöcher verstopfen, und zwar so schnell wie möglich. Hat jemand eine Idee?« »Wir könnten uns hineinstellen«, sagte Orval sofort. »Unpraktisch«, wiegelte Fonn ab. »Wir könnten dabei ersticken. Außerdem sind wir nur zu dritt. Es sind aber sechs Löcher.« »Frau Fonn?« Aklechin öffnete seinen Mantel. Er trug zwei Patronengurte, die beide mit Knallbrocken gefüllt waren. Diese Pyromana-Granaten waren eigentlich für alle außer Boros und Izzet tabu, aber trotzdem bei den 430
Kultisten äußerst beliebt, gerade wenn es um einen Ein satz gegen Gesocks ging. »Wo hast du das denn her?«, fragte Fonn ungläubig. »Habe ich einem toten Rakdos abgenommen«, sagte Aklechin. »Hervorragende Idee, Pfadfinder.« Fonn konnte ihr Grinsen kaum zurückhalten. »Vielleicht können wir sie noch zusammenbinden oder immer mehrere zusammen hineinfallen lassen ...« »Frau Fonn!«, meldete sich Orval aufgeregt. »Ja?« »Die Geräusche haben aufgehört.« Er hatte Recht. Die lauten Orgeltöne waren nur noch ein Echo, das von den verbliebenen Türmen zurück schallte. Aus irgendeinem Grund schrie Fonn jetzt »Festhalten!«, obwohl sie sich sowieso bereits mit allem festklammer ten, was sie hatten. Sie konnte noch einen kurzen Blick auf Myc werfen und sah, dass sich ihr Junge gerade nach unten in die Trümmer fallen ließ. Er verschwand hinter einer umgefallenen Säule, sodass sie nicht sehen konnte, ob er den Sturz überlebte. Dann atmete der Stein-Nephilim aus.
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Myc schlang die Arme vor sein Gesicht und kauerte sich
so klein zusammen, wie er nur konnte. Der blendend
helle Strahl aus Feuer und Licht schlug über ihm ein. Wie
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durch ein Wunder war er in den Trümmern eines Wirts hauses auf einem Berg kaputter Möbel gelandet, die ihm zwar einige Schrammen zugefügt, aber sicherlich das Leben gerettet hatten. Der Feuerstrahl traf Rakdos, und der Dämon spreizte seine Flügel, um ihn ganz abzubekommen. Der Dämon schien die höllisch heiße Energie mit seiner Haut aufzu saugen und in sich zu sammeln. Seine Augen brannten noch wilder als zuvor. Myc ignorierte die Hitze und versuchte, seine Eltern im Gesang zu finden. Sein Vater war aus den ganzen Geräu schen immer noch nicht herauszuhören, was ihn irgend wie beunruhigte. Aber bei Fonn war es einfach. Sie konn te höchstens einen halben Kilometer entfernt sein. So schnell, wie er sich traute, kletterte Myc durch die gefähr lichen Trümmerberge der Innenstadt, um sie zu finden, bevor das nächste Unglück eintrat.
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»Myc!«, rief Fonn in den sich schnell verdunkelnden Himmel. Der helle Schein des Energiestoßes war ver blasst, aber der brodelnde und sehr wütend wirkende Dämon war immer noch gut zu erkennen. Aus ihrem Blickwinkel war unmöglich zu sagen, ob der Junge den Sturz überlebt haben konnte oder nicht. Wir werden ihn in den Trümmern schon finden, dach te sie. Das Wichtigste ist, dass er sich nicht mehr auf dem Dämon befindet. Er ist in Sicherheit. Und Jarad ... Sie 432
verbannte Jarad kurzfristig aus ihren Gedanken. Sie brauchte ihre ganze Konzentration für ihr Vorhaben. Aklechin hatte ihr eine Möglichkeit eröffnet, wie man das Steinmonster töten oder zumindest schwer verwunden konnte. Ledev verwendeten oft Sprengstoff, um durch Naturer eignisse versperrte Straßen wieder frei zu bekommen, und jeder Ledev-Wächter wusste zumindest ein wenig darüber, wie man Sprengsätze am besten anbrachte. Fonn wusste einiges mehr als die meisten. Sie schob das auf den Einfluss ihres Vaters und auf ihre Abstecher in den Bund der Wojeks. In der Bundeshalle waren immer größere Mengen Sprengstoff gelagert, und der alte Myczil Zunich hatte zu den Sprengstoffexperten seines Reviers gehört. Sie erklärte den beiden Pfadfindern schnell ihren Plan. Ab und zu warf sie kurze Blicke auf den Dämon, der aber immer noch in der Hitze zu baden schien und noch keine Anzeichen zeigte, dass er bald zurückschlagen wollte. Der Nephilim schien außer Atem zu sein, und während sie das gerade dachte, hörte sie auch schon wieder die Or gelgeräusche. »Wir haben vielleicht zwanzig Sekunden Zeit«, sagte Fonn. Sie drehte den Schalter an allen Knallbrocken, bis es zehn Mal geklickt hatte, und gab sie dann an die Pfad finder aus. »Jeder von euch nimmt zwei.« Sie bereitete auch die sechs Knallbonbons vor, die noch am Patronen gurt hingen, und sprach dann die Aktivierungsworte: »Bäng-bum-bäng!« 433
Zehn. »Und los, sie ticken schon!« Sie rannte über den steinigen Rücken des Monsters. Acht. Sie erreichte die ersten zwei Atemlöcher und warf zwei Knallbrocken in das linke Loch. Sechs. Zwei weitere rechts. Fünf. Sie dreh te sich halb und versenkte zwei weitere im rechten mitt leren Loch, während Orval auf das hinterste Loch zielte. Aklechin krabbelte bereits auf allen vieren zurück. Drei. »Weg da, Orval!« Gemeinsam mit dem Zentaur eilte sie hinter Aklechin her. Eins. Gerade noch rechtzeitig warf sich Fonn zu Boden und betrachtete das Feuerwerk. »Bum«, sagte sie. Die Knallbrocken machten ihrem Namen alle Ehre. Sechs Fontänen aus orangefarbener Flüssigkeit und röt lich grauem Gewebe schossen aus dem steinigen Rücken des Nephilims. Auch wenn er von außen wie ein wan dernder Berg ausgesehen hatte, steckte unter der dicken Haut Fleisch und Blut. Fonn und die beiden Pfadfinder klammerten sich mit aller Kraft fest, als der Körper nach den Explosionen von vielen Krämpfen und Zuckungen geschüttelt wurde. Es war schlimmer als jedes Erdbeben. Orval musste seine Hellebarde aufgeben, die aus dem Rücken des Monsters herausgeschleudert wurde. Er falte te die Beine unter seinem Körper zusammen und vertrau te darauf, dass er sich mit seinen starken Armen gut ge nug festhalten konnte. Der »Kopf« des Nephilims erwischte sie beinahe. Die Steinbüste, die vorher auf einer Art magischem Kraftfeld über dem Rücken der Kreatur geschwebt hatte, krachte auf den Rücken des Nephilims und rollte direkt auf sie zu. 434
Fonn konnte die beiden Pfadfinder gerade noch rechtzei tig beiseite reißen. Der Stein polterte haarscharf an ihnen vorbei über den Rand. Ein paar Sekunden nachdem der Steinkopf laut don nernd auf dem Boden aufgeprallt war, hörten auch die Zuckungen auf. Der Nephilim wurde für einen kurzen Moment starr und brach dann komplett zusammen. Aus dem Maul stieg noch einmal eine kleine Wolke heißer, verfaulter Luft aus, dann kam nur noch blutiger Schaum. Alle drei Beine spreizten sich zur Seite, und der Körper sackte ab. Damit hatte Fonn nicht gerechnet, und sie verlor beinahe einen ihrer Pfadfinder, als Aklechin das Gleichgewicht verlor und über den Rand zu kippen droh te. Doch Orval war geistesgegenwärtig genug, ihn am Bein zu packen und wieder hochzuziehen. Aklechin be dankte sich mit einem Lächeln, dass trotz Schmutz und Schrammen noch gut zu erkennen war. »Ich schätze, die Nephilim sind nicht gänzlich unsterb lich«, sagte Fonn, die dem Zentaur half, den jungen Mann wieder auf die Beine zustellen. »Ist er tot?«, fragte Aklechin fast gleichzeitig mit Orval. »Ich glaube schon«, sagte Fonn. »Ich vermute, die Knallbrocken sind ihm direkt ins Gehirn geflogen oder das, was er stattdessen hat. Durch die Struktur und die Enge der ...« Die Pfadfinder schauten sie mit großen Au gen an. Sie schienen immer noch Angst zu haben, ver steckten das aber hinter aller Tapferkeit, die sie aufbrin gen und vorschieben konnten. »Ich sehe, so genau wollt ihr es nicht wissen. Ja, er ist tot.« Sie stand vorsichtig auf 435
und warf einen Blick auf den Dämon, der abrupt einen Schritt zurückgegangen war, während die Explosionen ihm die Schau gestohlen hatten. Rakdos hob das Kinn und schickte einen fürchterlichen Schrei gen Himmel. Von Myc war immer noch nichts zu sehen, dafür aber ertönte ein neuer Schrei, der immer lauter und schriller wurde und sie in ihren Gedanken störte. Der Schrei hörte so plötzlich auf, wie sie ihn vernom men hatte, als ein fetter Mann und ein bewusstloser Bold Fonn auf den Kopf fielen.
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Als Fonn wieder zu sich kam, blickte sie in Mycs tränen überströmtes Gesicht. »Mama?«, sagte er. »Geht es dir ...?« »Myc!« Sie zog ihren Sohn an sich und drückte ihn mit aller Kraft. »Ich glaube schon«, sagte sie. Nach ein paar Sekunden und einem leisen Hüsteln ihres Sohns ließ sie ihn los. »Wie lange war ich bewusstlos?« »Nur ein paar Sekunden«, mischte sich Orval ein. Fonn bemerkte, dass sie sich immer noch auf dem Rücken des toten Nephilims befanden. Ein seltsamer, pummeliger Mann in den blauen Gewändern eines Azorius-Magie juristen stand vor ihr. »Wer ist der dicke Mann, Myc?«, fragte Fonn. »Ich weiß es nicht. Er scheint auch nicht groß anderes zu tun, als äußerst intensiv nachzudenken«, sagte Myc. »Aber der Bold behauptet, dass er Pivlic heißt. Der Bold, meine ich. Der Name des Bolds ist Pivlic.« 436
»Pivlic?«, sagte Fonn. »Wo kommst denn du auf einmal her?« »Ich wünschte, ich wüsste das«, antwortete der Bold. »Es ist schön, dich mal wieder zu sehen, meine Freundin, aber ich hatte einen harten Tag.« Und mit diesen Worten fiel er wieder in Ohnmacht. Bevor sie herausfinden konnte, wo Pivlic plötzlich her gekommen war, was es mit dem dicken Mann auf sich hatte und warum sie gerade hier waren, riss sich Fonns Hand von ihrem Armstumpf los und flog weg.
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Kos, funkte Obez. Kos, was geht da vor sich? Was geschieht da oben? Bei der Großen Hesperia, du hast gerade ... ... einen Wahnsinnigen umgebracht, beendete Kos den Satz. Aber da teilt sich gerade noch ein weiterer Wahnsin niger diesen Körper mit mir. Kos – Novijen scheint zum Leben erwacht zu sein, dach te Obez. Der größte Teil davon jedenfalls. Mach dir keine Sorgen, ließ Kos ihn wissen. Der Pilot dieses Monsters ist außer Gefecht gesetzt. Und ich glaube nicht, dass Rakdos es sich entgehen lassen wird, es wieder auseinander zu nehmen. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du mich wieder zurückholst, findest du nicht auch? Und was ist mit mir?, beschwerte sich Svogthir. Das Ding hier hat jetzt keinen Meister mehr. Die Zytoplasten werden bei ihrer Rückkehr keine Intelligenz vorfinden, an die sie sich ankoppeln können. Alles wird auseinander brechen! 437
Ich schätze, da hättet Ihr Euch vorher Gedanken darüber machen müssen, antwortete Kos ihm. Obez, hol mich hier raus, bitte. Mit Vergnügen, antwortete der Magiejurist.
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»Sind wir in Sicherheit?«, fragte Pivlic, als er wieder zu sich kam. »Sind wir nicht etwas zu nah am ... Krokt im Himmel, das ist doch der Dämon Rakdos!« »Ich erzähl dir später alles«, sagte Kos. Er drehte sich zurück zu Fonn. »Und daher sehe ich zurzeit so aus.« Er spreizte Obez’ Arme und drehte sich um die eigene Ach se, als wollte er eine neue Uniform vorführen. »Ist er das wirklich, Pivlic?« Fonn schien skeptisch zu sein, aber auch bereit, sich überzeugen zu lassen. »Er? Du meinst Kos? Der fette Mann dort?«, fragte Pivlic zurück. »O ja, meine Freundin, das ist er. Oder war es zumindest. Kos, du bist doch gerade da drin, oder?« »Ja, Pivlic«, antwortete Kos. »Dein Lieblingsgetränk ist ...« »Schon gut, schon gut«, beschwichtigte ihn der Bold. Er brachte ein echtes Lächeln zustande. »Es ist schön, dass du wieder da bist, alter Freund.« Nachdem alle Anwesen den einander vorgestellt worden waren, wurde das uner hoffte Wiedersehen, wie von Pivlic befürchtet, durch Rakdos unterbrochen. Der Dämon, der jetzt nicht mehr unter dem Einfluss des elfjährigen Myczil Zunich stand, hatte zu wüten begonnen. Die Geschichte mit Rakdos und 438
Myc wollte Kos gern auch noch einmal näher erklärt bekommen – eines Tages, wenn er gerade mal nicht an gelogen, auf eine hoffnungslose Mission geschickt und einem wütenden Dämon und einem außer Kontrolle ge ratenen Simic-Projekt in den Weg gestellt wurde. Bislang hatte er sich noch gar nicht wirklich klar ge macht, dass er einen Gildenmeister getötet hatte. Er fragte sich, was das wohl für Auswirkungen auf Augustins kom pliziertes Machtgleichgewicht haben würde. Und wie er Szadek jetzt noch finden sollte. Und ob Szadek wirklich die eigentliche Bedrohung war. Die riesige Masse aus Fasergewebe und Pilzwachstum, das einst Novijen gewesen war, wurde jetzt anscheinend Kraj genannt, wenn Kos das richtig mitbekommen hatte. Die Luft war voller Zytoplasten, die in riesigen Schwär men und Wolken auf das neue Monster zugeflogen ka men und sich mit ihm vereinigten. Kos überlegte sich, wie es wohl ausgesehen hätte, wenn Momir Vig lange genug gelebt hätte, um die Fertigstellung zu überwachen. Er fragte sich auch, ob es eine gute Idee gewesen war, den Zombie-Gott dort zurückzulassen. Diesen Teil der Geschichte hatte er Fonn noch nicht erzählt, und er war sich auch nicht sicher, wie er es am besten erwähnen sollte. Kraj stieß einen durchdringenden Schrei aus, den der Dämon als Herausforderung anzusehen schien. Rakdos schickte dem ökologischen Albtraum – das war zumin dest Kos’ Eindruck – ein ebenso lautes Gebrüll zurück. Das war anscheinend schon alles an Diplomatie zwischen 439
den beiden Riesen, denn ohne weitere Warnung holte der Dämon weit aus und versetzte seinem Gegner einen ge waltigen Schwinger. Rakdos Faust versank förmlich in seinem Gegner, und bald war sein ganzer Arm von schleimigen Zytoplasten und dornigen botanischen Schrecklichkeiten, aus denen Kraj sonst noch bestand, eingehüllt. Wieder brüllte der Dämon, diesmal aber ein deutig vor Schmerzen. Mit einem Ruck riss er seinen Arm wieder heraus. Das meiste Fleisch an seinen Unterarmen war verschwunden, sodass man die pulsierenden, glü henden Muskeln und die knackenden, von innen ver sengten Knochen sehen konnte. Der Dämonengott war kein Narr. Er zog sich zurück und spreizte die Flügel, um in die Luft zu steigen. Aber er kam nicht viel weiter als vielleicht fünfzehn Meter, bis die schlurfende Gestalt von Kraj ihn eingeholt hatte. Das Simic-Monster ließ einen schleimigen Tentakel hervor schnellen, der Kos beunruhigend stark an die Laurer er innerte, und wickelte ihn um ein Dämonenbein. Rakdos wurde mühelos zurückgezogen, aber er prallte nicht auf den Boden. Kraj, das von unbekannter, möglicherweise selbst entwickelter Intelligenz gesteuert wurde, seit Vig tot war, schleuderte Rakdos gegen sich selbst. Der unhei lige Gildenmeister war innerhalb von Sekunden komplett von durchsichtigen Zytoplasten, Grünzeug und – da war sich Kos sicher – einer größeren Auswahl verschiedenster dahingeschiedener Simic eingehüllt, die sich dem Plan ihres Gildenmeisters geopfert hatten. Nach ein paar Minuten Zappeln und Treten, in denen 440
auch gedämpfte Schreie aus dem Inneren von Projekt Kraj zu vernehmen waren, hörten die Beine des Dämons irgendwann auf, sich zu bewegen, und wurden schlaff. Kos wollte aber keine Wette darauf eingehen, dass Rak dos wirklich tot war. Schließlich war er einer der ur sprünglichen Parune, einer, der normalerweise in Lavagruben schlief. Aber immerhin legte er jetzt erst einmal die Stadt nicht mehr in Trümmer. Kraj, das sich keiner Gefahr mehr gegenübersah, blieb ebenfalls dort, wo es sich gerade befand. Ohne eine lenkende Intelligenz schien es nicht zu wissen, was es tun sollte. Nach ein paar Minuten stellte es ebenfalls alle Bewegungen ein. Viel leicht ruinierte es ja die Innereien, wenn man eine so bittere Pille wie den Dämon schlucken musste, egal, aus welchem Material man war. »Sollten wir nicht irgendetwas wegen dieser Monster unternehmen?«, fragte einer von Fonns Pfadfindern, ein Zentaur, der sich als Orval vorgestellt hatte. »Sie sind so verdammt dicht am Vitu Ghazi dran«, sagte der andere. »Was ist, wenn sie wieder aufwachen?« »Ich glaube, das hat sich erledigt«, sagte Fonn und zeig te auf die kleinen weißen Pünktchen am Himmel. »Das sind doch nicht ...?«, sagte Kos. »Doch, sie sind es«, antwortete Fonn mit bitterer Stim me. »Es sind Schweiger.« Die bekannten weißen Gestalten schwärmten aus dem Vitu Ghazi heraus in den Himmel. Sie sahen wie groß gewachsene, schlanke Menschen aus, waren aber von Kopf bis Fuß in weiße Seidengewänder gehüllt, die auch 441
ihre Gesichter komplett verdeckten – wenn sie überhaupt Gesichter hatten. Viele hatten die glänzende Seide bereits mit frischem Blut besudelt. Die Schweiger trugen keine Waffen. Sie waren selbst Waffen, heilige lebende Waffen, die vom SelesnijaKonklave und einem verrückt gewordenen Lebenden Heiligen ausgesandt worden waren. Die Schweiger waren allerdings alles andere als wahnsinnig. Ohne miteinander reden zu müssen, koordinierten sie ihre Angriffe. Sie flogen in dichten Formationen und pflügten mit tödlicher Präzision durch die Reihen ihrer Gegner. »Aber sollten sie nicht alle tot sein?«, sagte Kos. »Das gilt auch für dich«, antwortete Fonn. »Sieht so aus, als ob das Konklave sich entschieden hätte, ein paar für den Notfall zurückzuhalten.« »Das klingt doch nur fair«, meinte Kos. »Aber was ge schieht, falls sie gewinnen?« »Ich verlasse mich auf Biracazir. Er wird schon aufpas sen, dass sie nicht ganz außer Kontrolle geraten«, sagte Fonn. »Ich habe da vollstes Vertrauen.« »Das ist gut, dann hat das wenigstens einer von uns«, antwortete Kos. Zum ersten Mal seit einiger Zeit meldete sich Obez wieder in Kos’ Kopf – nun, genau betrachtet war es natür lich Obez’ eigener Kopf. Das ist alles nebensächlich, sagte er griesgrämig. Du musst Szadek finden. Weißt du über haupt, wie viel Zeit du vergeudet hast? Ich würde sagen, dass die Zeit gut genutzt wurde. Eine Bedrohung der Stadt wurde ausgeschaltet. 442
Und dazu auch noch ein Gildenmeister!, brüllte Obez in seinem Kopf. Du bist ein Avatar der Azorius, und du hast deine Befehle! Wir werden beide sicherlich dafür hingerich tet werden. Da wäre ich mir nicht so sicher, antwortete Kos Was soll das schon wieder heißen? Obez wurde langsam rasend. Es bedeutet, dass ich mir nicht ganz sicher bin, dachte Kos. Aber ich stehe dazu, dass es eine gute Idee war, Vig zu töten, egal, unter welchen Umständen. Und jetzt verspäten wir uns wegen dieser Ledev und ih rem Nachwuchs noch mehr, fügte Obez nörgelnd hinzu. Wir verschwenden viel zu viel Zeit mit deinen Versuchen, ein Held zu sein. Du wurdest nicht ins Leben zurückgeholt, damit du mit alten Freunden ein Schwätzchen halten kannst. Wir müssen Szadek finden. Hörst du dir überhaupt selbst zu?, fragte ihn Kos. Sza dek ist nicht hier. Allerdings habe ich eine Idee, wo er sich gerade aufhalten könnte. Und wo wäre das? Dort, wo wir mit unserer Jagd angefangen haben, sagte Kos. »Kos? Bist du immer noch da drin?«, fragte Fonn. Erst jetzt bemerkte Kos, dass ihre künstliche Hand – nein, zytoplastische Hand – verschwunden war. Fonns ur sprüngliche Hand war nicht etwa abgeschlagen oder ab gebissen worden – Savra hatte sie ihr buchstäblich abge rissen. Der Stumpf war mit Haut überwachsen, aber es war keine besonders hübsche Narbe. Sie schien ganz gut 443
über den neuerlichen Verlust hinwegzukommen, aber schließlich hatte sie ja auch ihren Sohn wieder und gute Freunde um sich herum. Die kleine Gruppe sah still zu, wie die Schweiger Pro jekt Kraj Stück für Stück auseinander rissen und dabei Rakdos freilegten, der ins Koma gefallen zu sein schien. Es dämmerte Kos, dass wahrscheinlich ziemlich viele Leute ihre Zytoplasten vermissen würden. Er konnte die jenigen nur bedauern, die, anders als Fonn, ihre Körper noch weiteren lächerlichen Veränderungen unterworfen hatten, damit das Simic-Zeug besser wirkte. Du vergeudest schon wieder Zeit.
Immer mit der Ruhe mit den jungen Dromads, blaffte
Kos ihn mental an. »Kos?« Fonn schaute ihn fragend an. »Wie bitte? Oh, tut mir Leid«, sagte Kos. »Ich bin immer noch hier. Hatte gerade ein längeres Gespräch mit mei nem Vermieter.« Kos konzentrierte sich wieder auf das, was vor seinen Augen geschah und blendete Obez’ Brüllen nach Auf merksamkeit so gut wie möglich aus. Es war nicht ganz einfach, aber Kos verfügte ja über jahrelange Erfahrung sowohl als Rausschmeißer als auch als Ordnungshüter. Von Rechtsverdrehern angebrüllt zu werden war nichts Neues für ihn. »Was hattest du gerade gesagt? Oh.« Die Schweiger griffen sowohl Rakdos als auch das Si mic-Monster gleichzeitig an, indem sie ihre aerodynami schen Körper als Geschosse verwendeten. Der Dämon war an einigen Körperteilen schwer verwundet – sein 444
Blut glühte in hellem Orangerot unter der durchsichtig schimmernden Zytoplastschicht. »Wenn das nicht günstig für mich ist«, dachte Kos laut. »Sie müssten das eigentlich unter Kontrolle bekommen, besonders wenn die Luftjeks mit eingreifen. Ich wundere mich allerdings, warum die Titanen sich nicht rühren ...« »Das weiß keiner«, sagte Fonn. »Aber wenn die Schweiger die Lage hier unter Kontrol le bekommen, kann ich mich ja wieder auf den Weg in den ... Feder, du hier?« Der Schatten des Engels fiel über sie und verdeckte den Vollmond, der gerade aufgegangen und wegen der vielen umgestürzten Türme gut sichtbar war. »Kos«, sagte Feder, »wir brauchen dich im Senatsge bäude.« »Seht ihr?«, sagte Kos zum Rest der kleinen Gruppe. »Hier haben wir endlich mal jemanden, der ganz genau weiß, was ich denke.«
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Tief unter Kos, den Schweigern, Rakdos und dem Vitu Ghazi brach Izolda unter den schweren Wunden zusam men, die sie freiwillig mit ihrem Dämonengott teilte. Ihr Atem ging flach, aber die Meute um sie herum bemerkte das kaum. Jemand war gefallen. Jeder, der fiel wurde Beute. Und Beute wurde am besten frisch verschlungen. Bevor ihre ehemalige Meisterin noch einen Ton he 445
rausbrachte, begannen die Rakdos-Kultisten mit ihrem unheiligen Festmahl der besonderen Art. Als sie im Kreis saßen und Izoldas Knochen aufbrachen, um das Mark herauszuschlürfen, knurrten alle mit der Seele eines Dä mons. Einer Seele, die in hunderte Stückchen aufgesplit tert war. Ab diesem Tag hatte das alte Rakdos-Sprichwort: »In jedem von uns steckt ein Dämon, der darum schreit, he rausgelassen zu werden«, auch eine buchstäbliche Bedeu tung.
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Irgendwo draußen in der Nacht begannen die Glocken in ganz Ravnica Mitternacht zu schlagen. Oder sie versuch ten es zumindest. Nicht mehr viele Glockentürme schie nen zu stehen, so schwach, so fern waren die Geräusche. Vom Kommandodeck des Wracks, das einst das Parhe lion gewesen war, konnte man die Klänge bestenfalls noch erahnen. Teysa hatte erwartet, sie nie wieder zu hören. Der Gedanke daran, die nächtliche fröhliche Ka kophonie der Glocken zu verpassen, machte sie trauriger als jeder Gedanke an einen bevorstehenden Tod. Sie hatte sich damit abgefunden, dass sie sterben würde, und das sogar wahrscheinlich schon bald. Aber das bedeutete ja nicht, dass sie die Hoffnung aufgeben musste. Falls sich die Gelegenheit eröffnete, würde sie schon alles tun, um dem Tod noch einmal von der Schippe zu springen. Sie konnte sich nicht mehr an all die Gänge erinnern, 446
die sie entlanggegangen waren, bis sie endlich dieses zerstörte, leicht gekippt stehende Kommandodeck der fliegenden Festung erreicht hatten. Sie hatte einen inne ren Drang verspürt, diesen schrecklichen Drang, das Parhelion zu betreten. Und das gleiche Spiel später wie der: Sie hatte den Eindruck, dass der gleiche Drang sie und Feder zu dem Deck geführt hatte – ein untrügliches Zeichen von Azorius-Magie. Dann hatten sie den verwundeten Engel gesehen. Und es war kein normaler Engel gewesen. Razia, der verwun dete Gildenmeister der Boros, war am Leben und hatte sich mühsam erhoben, um sie zu begrüßen. Die Überraschung und Freude war so groß gewesen, besonders bei Feder, dass es ein paar verhängnisvolle Sekunden zu lange dauerte, um das Zusammenspiel der Azorius-Magie, des Auftauchens des Boros-Gildenmeisters und der toten – nein, bewusstlosen, sie atmete noch leicht – Luftjek-Offizierin, die zusammengerollt in einer Ecke lag, zu verstehen. Teysa schaffte es gerade noch »Feder, das ist nicht ...« zu sagen, bevor Razia explodierte. Anders konnte sie es nicht beschreiben. Gerade noch hatte dort ein verwundeter, aber stoisch ausharrender Engel sie begrüßt, und plötzlich verwandelten sich Razias Arme in zuckende Tentakel. Andere Tentakel wuchsen aus dem Oberkörper und den Beinen des Engels, und drei davon versetzten Feder einen so harten Schlag, dass er gegen ein Bugschott geschleudert wurde. Teysa schaffte es zwar, den Tentakeln auszuweichen, die in ihre Rich 447
tung züngelten, verlor dabei aber ihren Krückstock. Dann zog das Ding, das nicht Razia war, seine Schein füßchen (oder was es sonst waren) wieder in seinen Kör per ein und sprach zu ihnen. »Das war nur eine kleine Demonstration«, sagte es. »Ihr könnt euch nicht schnell genug bewegen, um mir zu entkommen. Und ich werde euch töten, wenn ihr aufzustehen versucht.« Das Ganze war eine halbe Stunde zuvor passiert. Teysa hatte erwartet, dass Feder versuchen würde, dem Ge staltwandler zu trotzen. Aber ein besorgter Blick, den der Engel ihr zuwarf, machte ihr klar, dass Feder es nicht riskieren wollte, dass Teysa getötet wurde. Wenn sie in der Lage gewesen wäre, mit dem Engel – dem richtigen, nicht dem Schwindler – zu sprechen, hätte sie Feder mit geteilt, dass er es trotzdem versuchen solle. Aber als sie es kurz zuvor versucht hatte, hatte ihr sofort einer der Ten takel einen Schlag versetzt. Schließlich wagte sie es, eine Frage direkt an ihren Gegner zu richten. »Warum eigentlich?«, sagte sie. »Warum was?«, fragte der falsche Engel. »Warum halten Sie uns hier fest? Warum töten Sie uns nicht gleich?« »Prophezeiungen.« Der Hochstapler grinste. »Ich benö tige euch, damit sie eintreffen. Die Engel müssen ausster ben. Aber erst im richtigen Zeitpunkt.«
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Kapitel 18
H
Sage nicht, ich hätte die Flügel eines Engels,
Sage nicht, dass du fliegen willst,
Erzähle mir nichts über Engelsflügel,
Wenn du noch nicht einmal den blauen Himmel kennst.
Engelsgesicht, von Shonya Bayle, der Bänkelsängerin der Zinnstraße
1. Tevnember 10012 Z. C. Frej Ralinu, der Minister für Steuereintreibung im Siebten Distrikt, war außerdem ein Vollmitglied des AzoriusSenats und damit berechtigt, sich »Senator« zu nennen. Ralinu gehört der oberen Kammer des erhabenen Gremi ums an, daher war es ihm auch gestattet, den Lufteingang in die große Senatskuppel von Prahv zu benutzen. Er war ein Mensch, kein Vedalken, und spielte gern die Rolle als Sprachrohr seiner oft verleumdeten, bevölkerungsreichen Spezies. Wenn man ein Teil der größten Mannschaft sei, so sagte er gern, dann müsse man sich auch damit abfin den, dass die kleineren Gruppen – Elfen, Goblins, Vedal ken und so weiter – sich gern auf einen einschossen. Frej Ralinu verfügte über einen ungeheueren Erfahrungs 449
schatz, wenn es um Politik und die daraus erwachsenden Gefahren ging. Obwohl er diesmal den zerstörten Raum durch den weniger prestigeträchtigen Eingang des Unterhauses be treten musste, störte ihn das wenig. Er war viel mehr damit beschäftigt, warum der Große Schiedsmann ausge rechnet jetzt den Befehl erteilt hatte, den Senat zusam mentreten zu lassen. Er hatte das auch gerade zu Nitt Vinloskarga gesagt, einer Vedalkin, die im Sechsten Di strikt für Haushalts- und sonstige Finanzangelegenheiten zuständig war. Gemeinsam stiegen sie vorsichtig über die Trümmerteile, die im Gang verstreut waren, der in den Sitzungssaal führte. »Er ist halt der Große Schiedsmann«, sagte die Vedal kin. »Er hat den Befehl ausgegeben, und wir müssen ge horchen. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber dem Gildenbund.« Es war deutlich, dass es für sie keine andere Antwort gab, aber Ralinu ließ trotzdem nicht locker. »Aber wenn man sich mal diese Ruine anschaut!«, warf er ein. »Hier ist doch kein Stein auf dem anderen geblie ben. Wir riskieren unser Leben, indem wir herkommen.« »Aber es ist doch der Senat«, sagte die Vedalkin. »Wo sonst sollten wir zusammentreten?« »Warum überhaupt zusammentreten?«, antwortete er. »Was soll damit erreicht werden? Unsere Stadt wurde zerstört. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Schweiger wieder anfangen, Streit mit den Wojeks und dem Rest von uns zu suchen. Man muss sich doch nur an die Zehn tausendjahresfeier erinnern.« 450
»Das war, bevor ich gewählt wurde«, sagte die Vedal kin. »Ich habe die Geschichten gehört und in den Zeitun gen nachgelesen.« »Also wissen Sie, wovon ich rede«, sagte Ralinu trium phierend. »Jetzt ist einfach ein schlechter Zeitpunkt, um den Senat einzuberufen. Wir sollten uns eigentlich in unseren Häusern verrammeln, während die Engel ...« »Wie Sie gesagt haben«, entgegnete die Vedalkin, »schauen Sie sich doch diese Ruine an. Es scheint mir nicht so, als ob die Engel anwesend wären, und ihre Fe stung wirkt auf mich wie ein Wrack. Ich würde mein Vertrauen nicht auf die Engel setzen. Vertrauen Sie lieber dem Großen Schiedsmann.« Natürlich war das die richtige Antwort, und jede Faser in Ralinu drängte ihn, dem zuzustimmen. Doch ein klei ner sturköpfiger Teil von ihm behielt dann doch die Oberhand. »Es ist trotzdem ... ungebührlich.« Irgendwie fand er sich selbst nicht überzeugend. »Das ist halt der Senat«, sagte die Vedalkin. »Ich bin neugierig zu sehen, wie viele von uns noch übrig sind.« Sie gingen schweigend weiter, bis sie aus dem trüm merübersäten Gang in die Ruine traten, über der einst die stattlichste Kuppel der Stadt gethront hatte. Die Frage der Vedalkin beantwortete sich mit einem kurzen Blick über die Sitzreihen fast von selbst. Das Wrack des Parhelions überschattete alles. Leicht nach vorn geneigt, hing es immer noch so, wie es aufgeschla gen war. Wenn man die ganzen anderen Katastrophen in Betracht zog, die den Rest der Stadt gerade zerstörten, 451
wirkte das Bild hier beinahe friedlich. Von den Räumlich keiten des Senats war dagegen kaum etwas übrig geblie ben. Das Ganze erinnerte Ralinu eher an eine zerdrückte Eierschale als an ein Gebäude. Nur ungefähr ein Viertel der Stufen, auf denen die Senatoren normalerweise sa ßen, waren überhaupt noch intakt, obwohl auch hier überall Steinbrocken, Ziegel und Staub verteilt war. Auf den Stufen fanden sich gerade mal ein Dutzend Senato ren ein. Unter ihnen ruhte Augustin IV. auf seinem schwebenden Thron und verschränkte die Hände. Auf seinem blinden Gesicht lag ein finsterer Ausdruck. »Endlich sind auch die Nachzügler eingetroffen«, sagte er und nickte Ralinu und Vinloskarga zu. »Nehmen Sie Platz, Minister.« »Euer Ehren ...«, begann Ralinu, musste aber feststel len, dass er den Satz nicht beenden konnte. Er starrte den Großen Schiedsmann ungläubig an, aber die Worte woll ten sich nicht recht in seinem Mund formen. »Nehmen Sie Platz, Minister«, wiederholte der Große Schiedsmann. »Kommen Sie, Frej«, sagte die Vedalkin und zog ihn hinter sich die Stufen hoch. Sie setzten sich in die arg gelichteten Reihen des Se nats. Ralinu sah Borbin, den Steuereintreiber aus dem Achten Distrikt. Er war nicht nur ein Kollege, sondern auch ein guter Freund und einer der wenigen anderen Menschen im Senat. Dann kamen Illindivossk, Yindervac und Pollotorus. Die drei Vedalken teilten sich das Amt des Schatzkanzlers des Senats (der Senat war reich). Andere 452
kannte er nur vom Namen. Und überall flitzten zwischen ihnen Geister der Jury der Seelen herum, die flüsternd ein Lobeslieb auf den Großen Schiedsmann sangen. Wie üb lich sorgten sie dafür, dass sich in Ralinus Nacken die Haare aufstellten. »Sehr gut«, sagte Augustin IV. »Die Sitzung ist eröffnet. Ich erkläre dies hiermit zu einer beschlussfähigen Zu sammenkunft des Senats, rechtshängig eines Abgleichs mit den Überlebendenlisten. Höre ich Einsprüche?« Ralinu war alles andere als überrascht, dass es keiner lei Gegenrede gab. »Hervorragend«, sagte der Große Schiedsmann und machte ein Handzeichen nach oben. Weit über ihnen, am einzigen Querträger der Kuppel, der noch stand, hing die Senatsglocke und läutete die Sitzung ein. Als der laute Klang verebbt war, machte der Große Schiedsmann eine weitere Geste, und vor ihnen erschien ein lebendiges Bild in der Luft. Das war eine häufig ge nutzte Methode, um Beweise oder Aussagen vor Gericht oder der Versammlung des Senats zu präsentieren, wenn ein Zeuge nicht anwesend sein konnte. Die Bilder beweg ten sich in einer wirbelnden Fläche aus blauem Dunst, aber der Kontrast war scharf genug. Zuerst wurden die Monster gezeigt, die aus der Stadt ein Trümmerfeld ge macht hatten. »Versammelte Senatoren, verehrte Minister, Azorius, Ravnicaner«, begann der Große Schiedsmann, »es ist meine traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass nach zehn tausend Jahren der Gildenbund und damit die gesamte 453
Zivilisation Ravnicas kurz davor steht, auseinander zu brechen und einen totalen Krieg auszulösen.« Die Bilder, die folgten, hätten Ralinus Mund offen ste hen lassen, wenn er ihn nur aufbekommen hätte. Er hatte Zerstörung, Trümmer und Chaos gesehen, aber er hatte gleichzeitig angenommen, dass dies ein »lokales« Problem war. In diesem Fall hätte »lokal« allerdings schon für die gesamte Innenstadt von Ravnica gegolten. Mit dieser Ausbreitung hatte er nicht gerechnet, und die Nephilim aus Utvara waren noch längst nicht das einzige Anzei chen dafür, dass die Macht des Gildenpakts am Schwin den war. »Die Schweiger, durch einen Zusatz zum Gildenpakt für alle Zeiten verbannt, fliegen wieder ungehindert durch die Lüfte«, sagte der Schiedsmann. Das Bild veränderte sich. »Das Gewächshaus der Simic – nun, zumindest der größte Teil von Novijen – ist zum Leben erwacht und marschiert durch die Straßen.« Wieder wechselte das Bild. Jetzt war der neue Rakdos-Aufstand zu sehen. Rakdos selbst, wie er es wagte, zum ersten Mal seit Jahrtausenden wieder an der Oberfläche aufzutauchen. Dann kam die fliegende Festung der Boros-Engel, die wie ein riesiges zerbrochenes Spielzeug aussah. Und der geisterhafte Vam pir Szadek, Gildenmeister des Hauses Dimir, wie er Razia von den Boros mit dessen eigenem Schwert durchbohrte. Erstauntes Keuchen war aus der kleinen Gruppe der Mi nister zu hören. Nach einer kurzen, aber unendlich lang wirkenden Pause, in der die Szene immer wieder gezeigt wurde, stand Minister Borbin auf und rief: »Genug!« 454
»Ja bitte?«, sagte der Große Schiedsmann erwartungs voll. »Euer Ehren, für mich ist es klar, und es sollte auch für jeden und jede in diesem ...« Er musste kurz husten. »... in diesem erleuchteten Gremium klar sein: Ihr habt Recht. Der Gildenbund zerfällt, und ich möchte sagen, dass es jetzt an der Zeit ist zu handeln.« »Fahren Sie fort«, sagte Augustin IV. Ralinu hatte das Gefühl, dass er schon wusste, worauf Borbin hinauswollte. Er war sich nicht sicher, ob er ihm zustimmen konnte, aber etwas musste getan werden. Schließlich waren sie der Senat. »Euer Ehren«, sagte Borbin, »wir müssen anerkennen, dass der Gildenbund gescheitert ist, und das Kriegsrecht ausrufen, ohne dabei auf Hilfe der Boros oder Wojeks zurückzugreifen. Auch sie sind gescheitert und haben derzeit noch nicht einmal einen lebendigen Gildenmei ster. Aber ich kann nur hoffen, dass wir diese Lücke fül len können. Ich schlage somit vor, dass Ihr, verehrter Richter und weisester der Azorius, mit sofortiger Wirkung und auf unbestimmte Zeit das Amt des unparteiischen Diktators übernehmt, mit allen dazugehörigen Rechten. Ich schlage zudem vor, dass wir mit sofortiger Wirkung eine verpflichtende Einberufung der Bevölkerung Ravni cas und der Geister Agyrems veranlassen, um eine Azori us-Armee aufzustellen, die als Hüter des Gesetzes dienen soll. Und schließlich beantrage ich, dass wir die Abstim mung unverzüglich durchführen.« Der Große Schiedsmann nickte nachdenklich. 455
»Das ist ein tapferer Schritt«, sagte er. »Genauer gesagt, viele tapfere Schritte. Ihren Enthusiasmus in allen Ehren, Senator. Unterstützt einer der Anwesenden den ersten Teil seines Antrags?« »Ich unterstütze den ersten Teil«, sagte Illindivossk. »Ich unterstütze den zweiten Teil des Antrags meines geschätzten Kollegen«, piepste Yindervac. »Antrag zur Verfahrensregelung«, tönte eine Stimme von oben. Ralinu blickte erstaunt auf und sah einen Engel und eine gemischte Gruppe Leute, die den Senat durch die obere Tür betraten, obwohl sie keine Senatoren wa ren. Der unliebsame Sprecher war ein fetter Mann in den blauen Gewändern eines Azorius-Magiejuristen. »Und ich erhebe tatsächlich Einspruch.«
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Einer der Azorius-Minister stand auf, um eine Gegenrede zu halten, aber er erhielt nie die Gelegenheit dazu. Der Große Schiedsmann kam ihm zuvor. »Leutnant – oder soll ich dich Wojek nennen?«, sagte Augustin IV. »Ich würde dich ja mit Avatar anreden, aber in diesem Bereich hast du dich ja als Enttäuschung erwie sen.« »Oh, ich weiß nicht so genau«, sagte Kos. »Ich glaube, ich habe eine wirklich hohe Auffassungsgabe.« »Was für eine seltsame Wortwahl«, konterte der Große Schiedsmann. »Ihr alle habt so wenig gelernt. Eine echte Enttäuschung für mich. Was führt dich zur Annahme, 456
dass ich zulasse, dass du gegen irgendetwas, was in den Kammern des Senats geschieht, Einspruch erheben darfst?« Die Mundwinkel des blinden Mannes verzogen sich zu einem kalten Lächeln, das Kos selbst aus der Ent fernung deutlich genug erkennen konnte. »Ich habe dich in diesen Körper gesteckt. Ich habe dich in deinem der zeitigen Zustand erschaffen.« »Ich glaube, wenn Ihr mich hättet zerstören können, dann hättet Ihr es vor ein paar Sekunden getan, bevor ich Murzeddis fettes Maul aufgerissen habe«, sagte Kos. Er schob seinen dicklichen Körper vor sich her. Obez hatte schon vor einer ganzen Weile aufgehört, in seinem Kopf zu brüllen, und Kos vermutete schon, dass sein Anker den Widerstand ganz aufgegeben hatte. Aber als Kos’ geliehene Beine ihn immer näher an den Großen Schiedsmann herantrugen, konnte er die innere Stimme des Magiejuristen wieder vernehmen. Du wirst uns beide umbringen, warf Obez ein. Und du hast versucht, uns beide umzubringen, fauchte Kos zurück, aber er ließ seine Beine anhalten. Wir sollten die Verbindung zu den Zytoplasten untersu chen, sagte Obez. Du hättest es einfach berichten sollen und dann die Suche nach Szadek wieder aufnehmen. Es gab wirklich keinen Grund, uns in eine Situation zu manövrie ren, die uns umbringen wird. Die mich umbringen wird. Du bist ein Feigling, oder?, sagte Kos. Und du bist ein Mörder. Der Mörder eines Gildenmei sters. Eines wahnsinnigen Gildenmeisters. Das ist anscheinend 457
mein Schicksal. Und ich bin noch nicht ganz damit fertig. Du Mörder, wiederholte Obez, und Kos entschloss sich, ihm das letzte Wort zu lassen. In seinem Kopf sich mit jemand zu streiten war anstrengend. Die anderen folgten ihm die Stufen hinunter. Den Gro ßen Schiedsmann schien das alles zu amüsieren, was sich Kos gar nicht erklären konnte. Schließlich flog Feder nach vorn, landete neben Augustin und nahm dort seinen goldenen Helm ab. Er stellte ihn vor den AzoriusGildenmeister und baute sich dann zu seiner Linken auf. Das war der Moment, an dem sich die Haare in Kos’ Nacken – beziehungsweise in Obez’ Nacken – aufzurich ten begannen. Kos nahm Feder genauer unter die Lupe und war geschockt. Obwohl die Ähnlichkeit unzweifel haft war, da die Engel der Legende nach alle ein Abbild von Razia waren und daher fast identisch aussahen, konnte er doch ein paar kleine, aber feine Unterschiede entdecken. Die Art und Weise, wie der Engel stand. Der Schwung der Augenbrauen. Die unbeschreibbare Güte, die man in Feders Gesicht finden kennte, fehlte hier ganz. Kos hatte Feder mehrere Jahrzehnte lang jeden Tag gese hen, und dieser Engel war nicht Feder. Es war ein ganz und gar anderer Engel. Aber es gab keine anderen Engel mehr. Kos hatte den Beweis gesehen – zwar nicht mit den eigenen Augen, aber trotzdem deutlich genug. Er war erschüttert. »Fonn, Pivlic«, sagte er. »Schnappt euch die anderen und verschwindet von hier.« »Was redest du da?«, sagte Fonn, die aber trotzdem ihr 458
Schwert zog. »Wir sind doch gerade erst hergekommen.« Kos wirbelte herum, so schnell es ihm der fette Körper erlaubte. »Schnell!« Doch schon beim Umdrehen sah Kos, dass es zu spät war. Der Engel zerfiel in viele zuckende kleine Einzelteile. Millionen winziger blauweißer Würmer wimmelten in einer Masse, die zwar die Gestalt eines Engels angenom men hatte, aber sicherlich kein Engel war. Der Laurer – in drei Krokts Namen, Kos hatte gehofft, nie wieder das Wort zu hören oder sogar nur zu denken – gab seine Form als Engel ganz auf und verwandelte sich in eine zappelnde Mauer aus Würmern, die sich zwischen ihnen und dem einzigen noch nicht eingestürzten Eingang am Boden aufbaute, um ihnen den Fluchtweg abzuschnei den. »Nein, ihr werdet nirgendwohin gehen«, sagte Augustin IV. »Aber was ist mit Szadek?«, sagte Kos. »Ihr habt doch gesagt, dass er – dank meinem Zutun – den Gildenbund zerstört hat.« »Warum fragst du etwas, was doch so offensichtlich ist, Leutnant?« Den Richter schien die Frage zu belustigen. »Er – das heißt, sein unsterblicher Geist – steht in meinen Diensten, seit du ihn mir so hilfreich übergeben hast. Und nach all deinen glorreichen Taten bisher konnte ich mir sicher sein, dass du auch Vig eliminieren würdest, was mir auch ganz gut passte. Szadeks Körper ist seit über einem Jahrzehnt ein Staubhäufchen. Dank dir war es mir ein Leichtes, ihn in den Kerkern ganz zu erledigen. Seit 459
dem ist sein Geist mein Sklave. Er ist weiterhin ein sehr mächtiges Wesen, aber er gehört mir. Und als er den Angriff der Geisterarmee gegen die Engel geleitet hat, war es seine Abwesenheit hier, die es dem Gildenbund ermög lichte, sich von innen selbst aufzulösen. Aber jetzt gibt es keine Wahl mehr. Ravnica wird einer neuen Ordnung folgen. Einer perfekten Ordnung. Der Antrag wurde un terstützt, falls du das nicht mitbekommen hast.« »Aber warum habt Ihr mich dann überhaupt zurückge holt und mir diesen ganzen Unsinn verkauft?« »Oh, das war kein Unsinn«, sagte der Große Schieds mann. »Ich hatte die Wahrheit gesagt. Du hättest Szadek zerstören können. Außer mir könntest du wirklich der Einzige sein, dem das gelingen kann. Doch deine Rolle in dieser ganzen Geschichte – das hatte damit gar nichts zu tun. Du hast doch diese schreckliche Zwietracht ausge löst, die unsere Welt zerstört hat, indem du Szadek ver haftet und damit den Gildenpakt gebrochen hattest«, sag te Augustin mit gespieltem Erschrecken. »Als du mir Sza dek auf dem Silbertablett serviert und damit ermöglicht hast, meinen uralten Feind mit Leichtigkeit zu verskla ven.« »Aber das wird doch nie funktionieren«, sagte Kos. »Die Senatoren sitzen direkt hier. Sie hören Euer gesamtes Geständnis.« »Ach, ich kann dir versichern, dass sie etwas ganz an deres hören.« Der Große Schiedsmann lachte kalt. »Ich kann es nicht zulassen, dass dein Eigensinn meine Vision zerstört. Die Senatoren hören gerade, wie du abtrünnig 460
wurdest und dadurch diese Zerstörung verursacht hast. Was natürlich in gewissem Sinne auch wahr ist. Aber der Gildenbund war von Anfang an voller Fehler. Er war un rein, ein Mischling mit viel zu vielen Elternteilen. Er sorg te für eine Ordnung, die das Chaos erlaubte. Aber ich wusste, dass dieser Tag kommen würde, dieser eine und wichtige Tag in der Geschichte Ravnicas, an dem man mich rufen würde, um wahre Ordnung – und wahren Frieden – über Ravnica zu bringen. Und du hast mir all das gegeben, was ich für die Erfüllung meines Ziels benö tigte.« »Also wird Eure neue Ordnung auf Lügen aufgebaut sein«, sagte Kos. »Welche Ordnung ist das nicht?«, sagte der Große Schiedsmann. »Hast du denn gar nichts gelernt? Das kannst du aber nicht mir ankreiden, ich war hoffentlich ein guter Lehrer. Ihr alle hättet das inzwischen lernen müssen, besonders diejenigen, die der Boros-Gilde ange hören. Eine Ordnung beruht auf Gesetzen, und alle Geset ze sind willkürlich. Die Ordnung entsteht dadurch, dass die Gesetze existieren und dass ihre Einhaltung gnadenlos erzwungen wird. Es gibt keine abstrakte, objektive Ge rechtigkeit. Es gibt auch keine Ehrenhaftigkeit in der menschlichen Natur – oder in der Natur von Vedalken, Elfen, Viashinos oder anderen Spezies. Es gibt nur Bestra fung und die Angst vor Bestrafung, um dafür zu sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden und der Frieden herrscht.« Aus seinem kalten Lächeln wurde ein breites Grinsen. »Du hast meinen Zwecken mehr als nur gut ge 461
dient, obwohl es langsam ermüdend wird, sich mit dir zu unterhalten. Ich gebe dir und deiner Räuberbande genau zehn Sekunden, um euch auf euren Tod vorzubereiten. Dann wird mein Verbündeter anfangen, euch zu ver schlingen. Szadek wusste die Dienste Lupuls einfach zu wenig zu würdigen, und der tote Devkarin ebenfalls, ob wohl er die Gelegenheit dazu hatte. Aber ich kann dir versichern, ich weiß, wie viel er mir wert ist. »Toter Devkarin?«, sagten Myc und Fonn wie aus einem Mund. Kos hatte keine Zeit, um seine Freundin oder ihren Sohn zu trösten. Ihren Sohn! Das war für Kos kaum zu glauben. Jarads Tod war für ihn einfacher zu begreifen als die Tatsache, dass Fonn ein Kind von ihm hatte. Er blick te sich in dem vom Mond und von Leuchtkugeln erhellten Sitzungssaal um. Die Wand aus zappelnden LaurerWürmern versperrte ihnen den einfachen Weg hinaus auf den Zentralplatz. Er bezweifelte, dass er es bis zu Augu stin hin schaffte, ohne dass der Laurer ihn erwischen würde, jedenfalls solange er in diesem Körper steckte. Nur ein Ausgang blieb ihnen jetzt noch, und es roch für ihn förmlich danach, dass sie schon wieder an der Nase herumgeführt werden sollten. Augustin hatte Kos die ganze Zeit über manipuliert. Warum sollte der Große Schiedsmann jetzt seine Taktik wechseln? Wenn es nur einen einzigen Ausgang gab, dann war das auch meist die einzige Lösung. Und möglicherweise konnten sie dort Waffen finden. Der Antrieb könnte ... »Ja, der Weg ins Parhelion steht euch offen«, stachelte 462
ihn der Große Schiedsmann an. »Vielleicht wollt ihr ja noch einmal eure Freundin sehen, die Baronin? Oder den letzten Engel, dem du diesen lächerlichen Spitznamen gegeben hast? Da würde ich mal auf dem Kommandodeck nachsehen. Es gibt eine winzige Chance, dass sie noch leben. Aber nimm dich vor unserem Geisterfreund in Acht, dem Vampir.« »Was soll’s«, murmelte Kos, obwohl ihm seine ganze Erfahrung von einhundertfünfundzwanzig Jahren warnte, dass er blind in die nächste Falle tappte. Augustin hatte ihm ja gerade sogar bestätigt, dass es eine Falle war. Aber wenn es stimmte, dass Feder – der echte Feder – immer noch an Bord war, dann ... Die anderen drehten sich ebenfalls um und folgten ihm widerspruchslos. Diesmal stand er zu seinem Wort. Und Augustin IV. gab ihnen exakt zehn Sekunden Vorsprung, bevor er der Wand aus Würmern befahl, die Verfolgung aufzunehmen.
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Ich werde es nicht tun, sagte Obez innere Stimme. Ich bin loyal. Hast du ihm überhaupt zugehört?, fragte Kos gereizt. Dem ist es doch ganz egal, was mit dir passiert. Du warst ein zweckmäßiges Werkzeug für ihn. Nun, wir beide zu sammen waren es. Aber wir könnten immer noch genug Zeit haben, um ihn zu stoppen. Warum sollten wir?, sagte Obez. 463
Weil er uns benutzt hat, das habe ich dir doch gerade er klärt. Und ich mag es nicht, wenn mich jemand benutzt. Und daher willst du die einzige Quelle von Recht und Ordnung, die es auf dieser Welt noch gibt, angreifen? Ich hab keine Lust mehr auf unnütze Diskussionen, dachte Kos verärgert. Er hob das Schwert, das er sich von einem toten Engel geliehen hatte, und hielt es so, dass die Spitze genau auf Obez’ Herz zeigte. Der schwabbelige Körper des Ektomagiers drückte immer wieder gegen die Klinge, während Kos den langen Gang hinunterlief, der zum Maschinenraum führte, wenn die Wegweiser stimm ten. Na, soll ich es tun? Das würdest du nicht tun. Du wärst dann auch tot. Das hat beim ersten Mal schon nicht geklappt. Wieso sollte ich diesmal tot sein? Du im Gegensatz dazu ... Na komm, ärgere mich noch ein wenig. Kos glaubte ein stimmloses Seufzen zu hören, und ir gendwann meldete sich auch Obez’ Stimme wieder. Ich werde versuchen, die Orzhov-Baronin für dich zu finden, dachte Obez. Das ist alles, was ich hinbekomme. Ich brauche aber Feder, antwortete Kos. Du musst versuchen zu verstehen, wie das funktioniert. Engel bestehen aus purer Magie. Sie wirken, als wären sie aus Fleisch, Blut und Knochen – besonders diejenigen, die wir hier auf diesem Stockwerk schon gesehen haben. Aber eigentlich bestehen sie aus reiner Magie. Sie haben weder einen Körper noch eine Seele. Sie haben nichts, wo ich dich hineinschicken könnte. Nun gut, dann finde einen Menschen für mich, und am 464
besten sofort, dachte Kos. Sein inneres Auge nahm jetzt einen anderen Weg durch die Gänge des Parhelions als sein Körper, der wei ter in Richtung Maschinenraum trabte. Das innere Auge marschierte von Obez gelenkt durch Mizzium-Wände und über Gitterböden und durchsuchte Deck um Deck, bis es schließlich zum Kommandodeck gelangte. Der glatte weiße Boden war mit zerstörten Kontrollinstrumenten, Trümmerteilen und dem zerbrochenen Steuerrad über sät. Anders als bei seiner »Reise« durch das Gewächshaus waren diesmal nur die Umrisse der lebenden Besatzung des Kommandodecks verschwommen und verzerrt. Miz zium, Metall und Holz waren klar zu erkennen, ebenso noch mehr tote Engel. Er konnte drei lebende Seelen und eine tote ausmachen. Die tote Seele war ein Geist: ein groß gewachsener, dünner Geist, dessen Umriss aus krei selndem blauen Licht von einem Schatten überlagert war. Der Umriss der Gestalt kam ihm nur zu bekannt vor. Sza dek. Teysa Karlov saß auf dem Boden neben den Überre sten einer mit Edelstein überzogenen Konsole, deren Zweck Kos nicht einmal dann verstanden hätte, wenn sie noch funktionstüchtig gewesen wäre. Vor seinem ätheri schen Auge erschien sie in einem grellen Weiß. Ein Bein hatte sie ausgestreckt, das andere angewinkelt und bis an ihr Kinn gezogen. Feder dagegen erschien in dieser Sichtweise wie ein glühendes Inferno mit Flügeln, ähnlich einem Phönix. Er stand am leeren Steuerruder und hielt 465
die Hände so hinter dem Rücken verschränkt, als wären ihm wieder Handschellen angelegt worden. Das dritte Lebewesen leuchtete nicht, sondern war gerade noch stark genug, um eine ziemlich dumpfes, weißes Schim mern zu erzeugen, das einen rötlichen Rand hatte. Das war doch nicht etwa ... Doch! Es war Wenslauv! Was machte sie bloß hier? Sterben, so wie es aussieht, sagte Obez böswillig. Der vierte Anwesende war ein weiterer Laurer, eine er schreckend gut aussehende Masse aus glitzernden blauen Juwelen in der Gestalt eines Engels. In Ordnung, bring uns zurück, teilte Kos seinem Anker mit. Du musst dir erst jemanden aussuchen, antwortete Obez. Ich bin doch kein Transportunternehmen! »Kos, was machst du da gerade?«, fragte Fonn. Kos blinzelte, verlor die Kontrolle über Obez’ schwebendes Auge und merkte, dass er beinahe gegen eine Mauer ge laufen wäre. »Werden wir immer noch verfolgt?«, fragte er »Ich kann sie nicht hören«, sagte die Ledev. »Oder es.« »Es hat sich wahrscheinlich wieder in etwas verwan delt«, warf der Zentaur ein. »Genau, ich könnte wetten, dass es uns noch folgt, jetzt aber wie ein Vogel oder etwas anderes aussieht. Es könn te auch fliegen«, sagte Myc. »Hört mal gerade auf mit euren Vorschlägen, Pfadfin der«, sagte Fonn. »Ab sofort gelten die Regeln für einen Kampfeinsatz.« 466
»Hier entlang«, sagte Kos und verschwand um die Ecke im nächsten Gang. Ich bin gleich soweit. Zuerst müssen wir das Maschinendeck finden. Und kannst du herausfinden, wo der andere Laurer gerade ist? Stille. Obez? Nein, ich kann es nicht finden, meldete sich der Magie jurist. Es könnte sein, dass er eine Möglichkeit gefunden hat, sich mit dem anderen zu vereinigen. Er könnte uns auch überholt haben. Oder sich in etwas verwandelt haben, zum Beispiel etwas Unbelebtes. Was uns massive Probleme bereiten könnte. Oder du bist es, der uns die Probleme bereitet, antworte te Kos. Bist du ehrlich zu mir? Es ist mein Körper, den du gerade umzubringen ver suchst, sagte Obez. Wieso gerade das Maschinendeck? Zur Absicherung, sagte Kos. Dort gibt es Waffenschrän ke. Dauert keine Minute. Du versuchst, jemanden anzulügen, der sich ein Gehirn mit dir teilt, beschwerte sich Obez. Du willst also in den Maschinenraum, um ... Genau. Ich muss zugeben, dass das Ganze einen gewissen Reiz hat, vielleicht gerade weil es so einfach ist. Ich hätte es trotz dem lieber, wenn dir noch etwas anderes einfallen würde. Es ist die einzige sichere Methode. Nachdem er den vorläufigen Plan mit seinem Anker abgestimmt hatte, führte Kos die kleine Gruppe der Ledev 467
und ihrer Freunde zu einer geschützten Wandnische, die sich im Knick einer scharfen, rechtwinkligen Ecke be fand. »Hört mal kurz zu«, sagte er und nickte ihnen der Reihe nach zu. »Obez hier ...« »Obez?«, fragte Fonn. »Der nette Mensch, dem dieser Körper gehört«, sagte Kos. »Er kann lebendige Dinge sehen, und ich schaue mir gerade ein paar Tricks bei ihm ab. Ich glaube, dass der Laurer uns nicht mehr folgt. Es ist allerdings möglich, dass er sich in etwas verwandelt hat, das wir nicht sehen können.« »Du und Obez, ihr habt euch das doch gerade erst aus gedacht, oder?«, sagte Fonn. »Ja.« Kos seufzte. »Hör mal, kannst du hier auf die Kin der aufpassen, während wir kurz etwas erledigen?« »Wir sind keine Kinder«, meldete sich der Zentaur. »Doch, das seid ihr noch, Pfadfinder«, sagte Fonn so energisch, dass jeder Widerspruch ihrer Auszubildenden im Keim erstickt wurde. »Wer ist der andere Teil des ›wir‹, von dem du sprichst, mein lieber, alter, irrtümlicherweise von mir für einen Freund gehaltener Kos in der Haut eines fetten Mannes?«, sagte Pivlic. »Du hast doch ›wir‹ gesagt, oder etwa nicht?« »Wir beide«, sagte er zu Pivlic. In Kos’ Gehirn wuchs gerade ein Plan zusammen, der die Möglichkeit enthielt, dass seine Freunde überlebten, selbst wenn es ihm nicht vergönnt sein würde. »Du und ich. Wir überprüfen kurz eines der Decks, das Waffen enthalten könnte.« »Du bist ein schlechter Lügner, egal, in welchem Kör 468
per du steckst, Kos«, sagte Pivlic. Kos warf ihm einen Blick zu, der »Nicht vor den Pfad findern!« besagte oder es zumindest gut genug traf, sodass der Bold nichts weiter sagte, sondern nur nickte. »Wir bleiben hier«, sagte Myc. »Bis gleich dann. Wir werden den Durchgang hier im Auge behalten. Pfadfin der, in Formation!« Ohne dagegen zu protestieren, dass der Befehl vom Jüngsten in der Gruppe kam, folgten ihm die beiden älteren Pfadfinder in die Nische, die eher eine Art Wandschrank war – allerdings groß genug, dass Platz für alle war. Fonn nickte. »Wolltest du nicht los?« Kos legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Fonn – falls das mit Jarad wahr ist, dann möchte ich dir nur sagen, dass ich dachte ...« Fonns Gesichtsausdruck war ähnlich wie damals, als Kos ihr die Wahrheit über den Tod ihres Vaters erzählt hatte, und das irritierte den Geist des Wojeks. »Auch egal«, seufzte er. »Passt auf euch auf, wir sehen uns gleich wieder.«
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Fonn blickte Kos und Pivlic noch ein paar Sekunden nach, während die beiden den Gang entlang auf den Ma schinenraum zuliefen. Dann drehte sie sich wieder zu Myc und den Pfadfindern um. »Wir sollten uns an einer dieser Ecken postieren«, sagte sie und zeigte auf die beiden Enden des Gangs, der hier 469
ein U bildete. »Wir bleiben dicht beieinander und behal ten alles im Auge.« Im Stillen fügte sie »und jeden« hinzu. Sie spürte ein Schuldgefühl, dass sie die Pfadfinder zu sehr aus den Augen gelassen hatte. Jeder von ihnen könn te ... sogar Myc ... Nein, schimpfte sie mit sich. Daran darfst du erst gar nicht denken. Noch nicht, argumentierte ihr Ich dagegen, warten wir es ab. Doch trotz ihrer Selbstsicherheit sprang sie vor Schreck fast auf, als sie auf einmal Schritte hörte – und zwar aus der Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Schritte klangen leicht und besaßen fast schon einen tanzenden Rhythmus, waren aber noch ein kleines Stück entfernt. Fonn glaubte, auch ein leises Summen hören zu können. Das Wesen, das einst Lily gewesen war, kam um die Ecke und summte weiterhin seine grausige Melodie. Fonn verkrampfte sich der Magen. Sie war überzeugt, dass es die vermisste Pfadfinderin sein musste. Die Kleidung war zerrissen, aber noch erkennbar. Ihr Gesicht – bei allen Göttern, ihr Gesicht war entstellt, Augen und Mund waren zugenäht worden. Die Haut des Mädchens war tödlich bleich, straff und trocken. Ihr Seidenumhang, einst sma ragdgrün, war jetzt blutbesudelt und tiefschwarz. Sie hörte, wie die Pfadfinder erschrocken nach Luft schnappten, und Myc stammelte leise: »Nein! Nein! Nicht Lily!« Das tote Mädchen kam näher. Statt ihr entgegenzutre ten, wichen Fonn und die Pfadfinder, vom Schrecken überwältigt, jedoch immer weiter zurück. Dies übertraf 470
alles, was sie bislang durchgemacht hatten. Lily strahlte etwas aus, was in den anderen Furcht aus löste. Der Schreck fuhr den Ledev in Schüben, die von der mitleiderregenden Melodie getragen wurden, in die Kno chen. Forms Herz schlug immer schneller. Sie griff nach ih rem Schwert, konnte es aber nicht ziehen. Orval klapper ten die Zähne, als wäre gerade tiefster Winter, und Akle chin hatte wieder zu beten angefangen. Und Myc ... Bevor sie ihn aufhalten konnte, hatte Myc sich Fonns silbernes Schwert geschnappt. Er preschte lautlos nach vorn und rammte die Klinge dem untoten Körper von Lilyema Tylver durch das Herz. Niemand, nicht einmal seine Mutter, wagte es, Myc in den nächsten Augenblicken zu stören. Er hatte sich hin gesetzt, den Kopf des toten Dings in seinen Schoß ge nommen und schluchzte. Nach einer Weile zog ihn Fonn sanft weg, und Myc ließ den toten Körper los. Er reichte Fonn ihr Schwert zurück und gab sich Mühe, wieder ei nen kämpferischen Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Ist schon in Ordnung, Mama«, sagte er. »Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich muss uns jetzt verteidigen.« »Wir werden uns alle verteidigen«, sagte Fonn. »Wir halten zusammen.«
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»Mein lieber alter ...«, wollte Pivlic gerade anfangen, aber Kos unterbrach ihn. 471
»... Freund Kos, ich weiß. Versuch nicht, meine Frage abzuwürgen. Wird es funktionieren oder nicht?« »Wenn man von meinem Wissensstand ausgeht, den ich aber, wie ich dir schon mehrfach gesagt habe, nicht durch Erfahrung, sondern nur durch das Lesen von Fach zeitschriften erworben habe – und ich möchte noch ein mal betonen, dass sich darunter keinerlei gestohlenen Informationen befinden, die zu besitzen äußerst illegal ...« »Immer mit der Ruhe, Pivlic. Du sollst mir nicht einen gebrauchten Zeppelid verkaufen. Ich habe früher Feder jeden Tag über das Parhelion ausgequetscht, nur aus Neugier. Er hat mir über diesen Fehler in der Energiever sorgung erzählt, über die verwundbare Stelle. Ich glaube, er hat nie damit gerechnet, dass ich dieses Wissen eines Tages tatsächlich mal anwenden könnte, aber ... Nun, wir haben einfach keine andere Wahl mehr. Die Welt steht auf dem Kopf, Pivlic.« »Aber zumindest befindest du dich noch auf dieser Welt, mein Freund, und sei es auch nur in dieser körper lichen Hülle«, antwortete der Bold. Er wandte sich wieder seinen Berechnungen zu. »Nun, wenn ich die richtigen Leitungen finde und wirklich keine Sicherungen dran hängen, ob magische oder normale, was ja eigentlich bei einer so bekannten verwundbaren Stelle der Fall sein sollte – ja«. Sie betraten den Maschinenraum, der außerordentlich hohe Decken aufwies und fast wie eine Höhle wirkte. Pivlic suchte den Wirklichkeitsmotor ab, der von sechs riesigen Kupferbolzen fixiert war. Röhren und glühende 472
Metallkabel liefen in die eher einfach gehaltene zylinder förmige Ummantelung, und selbst im abgeschalteten Zustand summten und sprühten die Drähte vor magi scher Energie. »Ja?« »Ja, es wird funktionieren«, sagte Pivlic. »Wenn alles gut läuft, haben wir ungefähr zwanzig Minuten, um rauszu kommen. Wenn ich es perfekt hinbekomme, dann viel leicht sogar fünfundvierzig.« »Du willst mir damit sagen, dass du es hinbekommst?«, fragte Kos. »Wenn ich bedenke, dass ich sogar gespendet habe, damit dein Scheiterhaufen bezahlt werden konnte ...«, murrte Pivlic. »Und du hältst es noch nicht einmal für nötig, bitte zu sagen.« »Bitte, Pivlic«, sagte Kos. »Und bitte beeil dich.« Während Pivlic am Basteln war, gab es für Kos wenig zu tun. Er nutzte die Gelegenheit, eine Runde um den Wirklichkeitsmotor zu drehen. Auch hier lagen tote Engel herum, teilweise schon mumifiziert, andere in Stücken. Als er das andere Ende des Motors erreichte, sah er einen Engel, bei dem es ihm kalt den Rücken herunterlief. Einerseits war die Leiche noch nicht ganz so alt – sie zeigte noch kein Anzeichen von Verwesung, obwohl dem Engel ein Arm fehlte und er ein schrecklich verbranntes Loch im Körper hatte, wo eigentlich das Herz sitzen soll te. Der Engel war ein Ebenbild jenes Engels, der vorgege ben hatte, Feder zu sein – Kos erkannte das leicht unter 473
schiedliche Gesicht des Engels wieder, den der Lupul anscheinend als Vorbild genommen hatte. Die stark zer störte Rüstung des Engels war unverwechselbar. Als Kos sie erkannte, wurde ihm eiskalt. »Razia«, sagte er zu der Leiche. »Du wurdest getötet ... aber Feder sagte, es war vor zehn Jahren.« »Was ist los?«, rief Pivlic. »Ich habe Razia gefunden. Er ist hier gestorben.« Die glasigen Augen des Boros-Gildenmeisters starrten ihn an, allerdings nicht anklagend. Es war Kos’ Theorie, dass diejenigen, die tote Augen anklagend fanden, auch meist diejenigen waren, die den Besitzer jener Augen getötet hatten. Razias Augen drückten für ihn eher Über raschung und Bedauern aus. Er musste immer wieder zum toten Gildenmeister hin überschauen, auch als er schließlich Pivlic half, die letz ten Kabel, Kristalle und Kontrollventile an den falschen Stellen zu befestigen. An den falschen Stellen, wenn man wollte, dass der Motor ordentlich lief. An den richtigen Stellen, wenn man wusste, was Kos vorhatte. »Kriegen wir nun fünfundvierzig Minuten oder zwan zig?«, fragte er. »Pivlic schätzt immer so, dass noch etwas Luft ist«, sag te der Bold. »Aber jetzt sollten wir uns auf den Weg ma chen.« »Nein«, sagte Kos. »Du kannst hier hinausfliegen. Der Schacht dort oben sollte dich zurück zu Fonn und den Pfadfindern bringen. Schaff sie hier raus. Ich habe nicht die Zeit, um herumzurennen. Ich werde auf das Kom 474
mandodeck springen und versuche dann, die Leute dort zu retten.« Man musste es Pivlic zugestehen, er schwieg ganze drei Sekunden, bevor er mit den Schultern zuckte. »In Ordnung«, sagte er. »Wir treffen uns dann im großen Saal des Senats.« »Warte dort nicht zu lange«, sagte Kos. »Wir treffen uns am besten außerhalb des Gebäudes. Das hier gibt einen ganz großen Knall, Pivlic.« »Was ist mit dem fetten Magier?« Genau, was ist mit dem beleibten Magiejuristen? »Haben sich deine Flügel inzwischen etwas erholt?«, fragte Kos. »Als ich ihn zuletzt geschleppt habe, hat er mir fast ei nen gebrochen, mein Freund«, klagte Pivlic. »Diesmal wird er sich benehmen – nicht wahr, Obez?« Ich hasse dich. »Bring einfach Obez, Fonn und die Pfadfinder hier raus. Ich werde mit Feder und den anderen, die sich noch auf dem Kommandodeck befinden, direkt hinter dir sein. Aber ich werde andere, ahm, Klamotten anhaben.« »Viel Glück«, wünschte Pivlic. »Ich werde wie immer mein Bestes geben.« Das werde ich auch versuchen, dachte sich Kos. Aber wenn Szadek dort wartet, dann weiß ich noch nicht, was ich tun werde, Pivlic. Ich werde sterben, dachte Obez. Du bist ja schon wieder am Lauschen, schimpfte Kos.
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Pivlic wartete, bis das Gesicht des Magiejuristen aus druckslos wurde. Dann zog er den dicken Mann hoch und breitete seine immer noch schmerzenden Flügel aus. Er wünschte, dass er sich angewöhnt hätte, immer Heilträ nen mit sich zu führen, wenn er etwas mit Kos unter nahm. Es war ihm, als hätte sich weiter hinten etwas bewegt, hinter dem Magiejuristen, dem der Mund offen stand. Irgendetwas auf dem Boden. Der tote Gildenmeister der Boras bewegte sich. Nein, korrigierte sich Pivlic, er zerfloss, er schmolz in einen ... »Ist schon gut, wir sind ja schon weg«, murmelte er und erhob sich mitsamt seiner Last in die Luft, als der Laurer auf ihn zukam. Das Wesen schlug mit Tentakeln nach ihm und brüllte ihn aus verschiedensten Gesichtern an, die in der Mitte seines wimmelnden Körpers entstanden. Es war mögli cherweise der Laurer, der ihnen gefolgt war. Der sich dort positioniert hatte, wo Augustin Kos erwartet hatte. Und wenn Augustin so weit geplant hatte ... Aber Pivlic war sich ganz sicher, dass er die Maschine richtig eingestellt hatte. Es würde funktionieren. So viel Vertrauen in seine Fähigkeiten besaß er. Beim letzten Mal, als Kos den Körper seines Ankers verlassen hatte, um in einen unbekannten Körper zu springen, hatte der Magiejurist unmittelbar nach dem Sprung wieder mit dem Reden begonnen. Dadurch wuss 476
te Pivlic, dass Kos den »Sprung«, oder wie er es nannte, geschafft hatte. Aber diesmal blieb Obez still und schlaff, bis sie schon eine gewisse Strecke im Luftschacht zu rückgelegt hatten. Pivlic schaute nicht zurück. Entweder folgte Lupul ihnen oder nicht.
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Kos sauste durch das Parhelion, körperlos und auf direk tem Weg auf das Kommandodeck. Die vier Anwesenden waren mehr oder minder immer noch an den gleichen Stellen wie bei seinem ersten »Besuch«. Er entschied sich, es mit dem immer schwächer werdenden Körper von Wenslauv zu versuchen. Auch sie war eine alte Freundin, die er nie wiederzusehen geglaubt hatte. Er hoffte, dass er bald die Gelegenheit hatte, sie in besserer Verfassung zu sehen. In Feder zu springen war unmöglich, das hatte Obez ihm ja erklärt. Teysa war darin geübt, in den arkanen Künsten der Orzhov zu kämpfen, und Kos wusste nicht, ob er damit umgehen konnte. Den Laurer zu wählen war zu riskant. Außerdem vermutete Kos, dass er die besten Chancen in einem Körper hatte, der eine WojekAusbildung genossen hatte, selbst wenn er durch eine Verwundung geschwächt war. Außerdem schuldete er Wenslauv mehr als nur ein Leben. Der erste Atemzug, den er in ihren Körper fließen ließ, schmerzte stark, gab ihm aber ein wenig neue Energie. Er blinzelte mit den Augen von Luftmarschallin Wenslauv. 477
Wie erwartet lag er auf dem Kommandodeck des zerstör ten Parhelions. Als Erstes stellte er fest, dass Wenslauv schwerer verletzt war, als er angenommen hatte. Als Zweites bemerkte er, dass Teysa sein Blinzeln wahrge nommen hatte, und auch Feder warf ihm einen Blick zu. Der zweite Engel, von dem Kos wusste, dass es eigentlich ein Laurer war, stand so, dass der Körper der Luftmar schallin nicht direkt in seinem Blickfeld war. Er wollte es nicht beschwören, aber er hätte einiges darauf verwettet, dass dieser »Engel« hier genauso aussah wie der tote Gil denmeister, den er gerade noch im Maschinenraum ent deckt hatte. Seine Verbündeten hatten wahrscheinlich noch keine Ahnung, dass er hier war. Für sie sah es wahrscheinlich nur so aus, als ob Wenslauv aufwachen würde. Er zwin kerte Feder zu und machte das Wojek-Handzeichen für Situation normal, alles verpfuscht. Feder reagierte kaum ersichtlich, aber er zwinkerte zwei Mal zurück. Kos zeigte mit Wenslauvs Finger erst auf Teysa, dann auf sich. Dann von Feder zum Ausgang. Er zeigte nicht auf Lupul. Sein Plan war, aus der Tür zu sein, bevor der Laurer überhaupt reagieren konnte. Kos hatte von den Anwesenden wahr scheinlich die meiste Erfahrung mit Laurern, und mei stens verwandelten sie sich so sehr in denjenigen, den sie nachahmten, dass sie auch dessen Ohren zum Hören und dessen Augen zum Sehen verwendeten. Er war sich rela tiv sicher, dass dieser Lupul zum Beispiel kaum die Fe derspitzen von Razias Flügeln verwenden könnte, um ihn damit zu beobachten. 478
Die eine große Frage war, wie schnell sich Feder mit gefesselten Handgelenken bewegen konnte. Falls der Engel das tat, was Kos erwartete, konnte der Plan funk tionieren. Er würde Wenslauvs Körper zu Teysa hinüber wälzen, und Feder würde sich in die Luft erheben und sie beide aufsammeln, um dann durch den Ausgang zu flüch ten. Es war ein einwandfreier Plan. Natürlich würde Feder mitspielen. Er nickte einmal, dann ein zweites Mal, und beim drit ten Nicken drückte sich Kos vom Boden ab. Er spürte, wie irgendetwas in Wenslauvs Darmbereich zu reißen schien, aber die Schmerzen waren nicht stark genug, um ihn aufzuhalten. Unglücklicherweise wählte Wenslauv genau diesen Augenblick, um wieder zu Bewusstsein zu kommen. Sie war in einem komatösen Zustand gewesen, als er ihren Körper übernommen hatte. Was zum... Wenslauv, das ist eine lange Geschichte. Ich bin es, Kos. Ich bin ein Geist. Du bist sozusagen von mir besessen. Wir müssen hier raus, sonst werden wir alle sterben. Und einige von uns bereits zum zweiten Mal. Was?, sagte Wenslauvs innere Stimme. Kos? Du musst mir dabei einfach vertrauen, sagte Kos. Wir haben gerade nicht viel Zeit. In Ordnung, antwortete Wenslauv. Aber du bleibst hof fentlich lange genug zu Gast, um mir hinterher die ganze Geschichte zu erzählen. Dieser Gedankenaustausch dauerte nur den Bruchteil 479
einer Sekunde, und genauso lange brauchte Feder, um das Steuerruder zu erreichen und sich zu Teysa und Kos zu gesellen. Der Laurer benötigte nicht länger, um sich in seine normale, amöbenartige Form zurückzuverwandeln. Auch Szadek bemerkte die Bewegung und fing an, lang sam auf sie zuzuschweben. Ein teuflisches Grinsen um schmeichelte seine geisterhaften Lippen. »Baronin, ich bin es, Kos«, sagte Kos. »Szadek ist ein Geist. Ihr hattet doch gegen die Taj diesen Trick drauf ...« »Tut mir Leid, Kos«, sagte Teysa, »aber mit den Taj war es anders. Ich hatte eine Ausbildung, wie ich die Taj be herrschen konnte, und ...« »Bei Krokt«, fluchte Kos. »In Ordnung. Ihr geht vor, ich komme nach.« »Nein«, sagte Feder. »Wir gehen nur gemeinsam.« »Auch in Ordnung«, sagte Kos und schnappte sich das Schwert eines toten Engels. »Ich hoffe einfach mal, dass das so funktioniert. In diesem Punkt muss ich Augustin einfach vertrauen.« Die zuckende Wurmmasse schob sich vorsichtig um das Bugschott herum und wälzte sich auf sie zu. Szadeks Geist nahm den direkten Weg und schwebte mit ausge streckten Händen direkt durch den Laurer hindurch. Sei ne Finger leuchteten in geisterhaftem Licht. He, Kos, meldete sich Wenslauv. Ich weiß nicht, ob dir hier ein Schwert wirklich weiterhilft. Ich hab diesen Geist gesehen, wie ... Das passt schon, dachte Kos. Ich bin ein Spezialfall. Dann dachte er über diese Aussage noch einmal nach. 480
Augustin hatte angedeutet, dass Szadeks Verletzbarkeit gegenüber Kos’ körperlicher Natur bestand – aber was passierte, wenn Kos eine Waffe einsetzte, die sich gegen den Körper eines Geistes richtete? Wenslauv, funkte er, bitte sag mir, dass du an deinem Gürtel ... Dritte Tasche rechts, von der Gürtelschnalle aus gezählt, sagte Wenslauv lachend. Aber das kannst du doch nicht ernst meinen. Mir fällt sonst nichts anderes ein, sagte Kos. Aber in drei Krokts Namen. Beim letzten Geist hat das auch geholfen. Er hoffte nur, dass er sich dabei nicht auch selbst ver letzte. Doch wenn sein Plan sonst funktionierte, konnte er damit leben. Der Geist des Vampirs entdeckte die silberne Scheibe in Kos’ Hand und fing an zu lachen. Durch die wimmeln de Wurmgestalt hinter ihm wirkte die durchsichtige Ge stalt des Geistes noch verschwommener als sonst. »Kos«, mischte sich Teysa ein, »wenn du jetzt noch et was machen willst, dann solltest du langsam damit an fangen. Hör einfach mal kurz auf, mit den Stimmen in deinem Kopf zu reden.« Kos zwinkerte ihr zu und blickte dann von der silber nen Scheibe in seiner Hand auf das Gesicht des Vampirs, der in den letzten zwölf Jahren seines sterblichen Lebens für die meisten seiner Albträume verantwortlich gewesen war. Kos warf die Scheibe mit Schwung direkt vor den heranschwebenden Geist, der bis vor kurzem die größte Bedrohung von Ravnica gewesen war. In dem silbernen Arretierer blitzte blaue Energie auf, 481
als das Artefakt auf dem Boden aufprallte. Aus den klei nen Blitzen formte sich ein Wirbelsturm aus Elektrizität, der den Vampirgeist in seinen Strudel saugte. Mit jeder Sekunde wurde die Schattengestalt kleiner. Mit einem brutzelnden Geräusch, das wie ein langsamer Strom schlag klang, nahm der Arretierer, eines der einfachsten, wen auch nur selten benutzten Artefakte in der Grund ausrüstung der Wojeks, den Gildenmeister der Dimir gefangen. Oder zumindest das, was von dem Vampir übrig geblieben war. Kos bückte sich und befestigte den Arretierer wieder an Wenslauvs Gürtel. Der Laurer hatte ihn inzwischen fast erreicht. Er stolperte zurück zu den anderen, wo Fe der bereits in die Starthocke gegangen war, um lossprin ten zu können, sobald Kos mit seiner »Verhaftung« fertig war. Feders Füße berührten kaum den Boden. Er hatte be reits Teysa Karlov mit einem Arm gepackt und schnappte sich mit einer eleganten Bewegung auch noch Kos’ gelie henen Körper. Schnell breitete der Engel seine Flügel aus und schwebte auf dem Weg, den sie gekommen waren, den Korridor hinunter. Sie hätten es beinahe geschafft. Aber dieser Lupul war wohl etwas klüger als sein Artgenosse im Maschinen raum. Anstatt sich zurückzuziehen und an anderer Stelle eine neue Falle aufzubauen, schlüpfte er wieder in Razias Gestalt und eilte ihnen nach. Mit zwei starken Flügeln erreichte er ein deutlich höheres Tempo als Feder, der mit der Advokatin und der Wojek beladen war. Kos brüll 482
te noch eine Warnung, als die hinter ihnen flatternde Razia-Nachbildung plötzlich mit einem Tentakel nach ihnen schlug. Aber es war zu spät, die Scheinhand konnte Feders Knöchel packen. Der Laurer ließ seinen Tentakel zur Seite zucken. Feder wurde aus dem Gleichgewicht gebracht und krachte gegen die Wand. Irgendwie schaffte es der Engel, den Aufprall mit der Schulter abzufangen, sodass weder seine beiden Passagiere noch seine wertvol len Flügel Schaden nahmen. Der Aufprall schleuderte Kos und Teysa allerdings aus Feders Griff heraus. Sie purzel ten auf den Boden des Gangs, rutschten aber nicht ganz so weit wie ihr geflügelter Freund. Kos rollte Wenslauvs blutenden, immer schwächer werdenden Körper auf den Rücken. Der falsche Razia grinste und zog ein Schwert. Kos grinste zurück. »Was ist so lustig?«, wollte der Gestaltwandler wissen. »Ich erkenne diesen Korridor wieder«, sagte Kos. »Jetzt!«, rief Fonn. Die Pfadfinder und ihre Komman dantin sprangen aus der versteckten Nische, in der sie sich verborgen hatten. Jeder warf einen scharfgemachten Knallbrocken auf den Laurer, der wie gewöhnlich darauf reagierte, dass er sich in eine wimmelnde Masse verwan delte. Aber das verhinderte nicht, dass die Explosionen Millionen der Würmer einäscherten und den Rest gegen die Wände des Gangs spritzen ließen. Der Laurer war betäubt, konnte sich aber sicher bald wieder zusammensetzen, da hatte Kos keinen Zweifel. Er rappelte sich auf und bemerkte, dass einer von Wenslauvs Stiefeln voller Blut war. Instinktiv griff er an 483
den Gürtel der Luftmarschallin und fand eine Heilträne. Er brach die Spitze ab und drückte sie in die Wunde, die er versehentlich wieder geöffnet hatte. Der Strom heilen der Energie, den er früher öfter hatte spüren müssen, als ihm lieb gewesen war, warf ihn beinahe um. Fonn packte ihn am Ellenbogen, um ihn festzuhalten. Neben ihr übten die Pfadfinder, wie man einen grimmigen Gesichtsaus druck aufsetzte, während sie verstohlen immer wieder einen Blick auf den explodierten Laurer warfen. Fonn schnitt Feders Fesseln durch und drehte sich dann zu Kos um. »Du wirst doch überleben, oder?«, sagte sie. »Das bist doch du, Kos, oder?« »Das bin ich und eine alte Freundin«, sagte Kos. »Und jetzt raus, wir haben vielleicht noch fünf Minuten, bevor das ganze Schiff in die Luft fliegt. Und scheuch die Kin der. Auf dich hören sie vielleicht noch.« »Ich weiß«, seufzte Fonn. »Hallo?«, kam Pivlics Stimme durch das Gitter eines Lüftungsschachts direkt über ihnen. »Könnt ihr mir verra ten, wo es zum Ausgang geht? Der fette Mann hier wird mir auf die Dauer zu schwer.«
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Die Räumlichkeiten des Senats waren bereits eine Ruine gewesen, als sie das Parhelion betreten hatten. Jetzt schienen auch die Mitglieder des Senats und damit auch Augustins Pläne ruiniert zu sein. 484
Die Schweiger waren eingetroffen, um den blinden Richter seines Amtes zu entheben. Der Gildenmeister der Azorius saß zwar noch auf seinem schwebenden Thron, aber es hatte den Anschein, dass seine Zeit abgelaufen war. Sein verbliebener Laurer wehrte die Angriffe der Schweiger und der wenigen noch lebenden Minister ab. Einige Senatsmitglieder lagen tot auf den Stufen. Es war nicht zu erkennen, ob sie von den Schweigern oder vom Laurer umgebracht worden waren. Kos konnte Obez nir gendwo sehen, aber immerhin spürte er, dass sein ehe maliger Anker noch am Leben war – und weit weg von Prahv. Gut mitgedacht, funkte Kos ihm zu. Bleib, wo auch im mer du dich gerade befindest, Obez. Mit wem redest du ...?, schaltete sich Wenslauv ein. Das ist ein Teil der langen Geschichte, beruhigte Kos sie. Prahv war dem Untergang geweiht. Dafür hatte Kos ge sorgt. Aber gehörte das nicht auch mit zu Augustins Plan? Ein offener Krieg zwischen den Gilden? Er fummelte an Wenslauvs Gürtel herum und holte den Arretierer, der immer noch vor Energie knisterte, wieder aus dem Täschchen. Möglicherweise würden die Schweiger Augu stin erledigen. Vielleicht aber auch nicht. Kos bezweifelte jedoch, dass der Große Schiedsmann in seinem derzeiti gen Zustand seinem alten Erzfeind Widerstand leisten konnte. Und wenn Kos den richtigen Zeitpunkt wählte, konnte er dennoch Ravnica auch von Szadek befreien. Nenne es eine Rückversicherung, teilte Kos Wenslauv mit, als die Luftmarschallin dahinterkam, was Kos im 485
Schilde führte. Ganz aus der Ferne konnte er Obez’ men tale Stimme hören, die Einwände vorbrachte, aber er ignorierte ihn. »Euer Ehren«, brüllte Kos. Er schob mit dem Daumen den kleinen Entriegelungshebel am Boden des Arretierers zurück. »Fangt!« Kos schleuderte dem Großen Schiedsmann genau in dem Moment, als dieser zu ihm herüberschaute, die klei ne Silberscheibe vor die Füße. Für einen Sekundenbruch teil konnte man Angst auf Augustins Gesicht ausmachen, dann schnappte der Auslöser des Arretierers ein und ließ den Gefangenen frei. Szadeks Geist stieg direkt vor Augu stin IV. aus der Silberscheibe und stieß ein kreischendes Geheul aus. Der Große Schiedsmann mochte zwar blind sein, aber er erkannte zweifelsfrei die Stimme und die Gegenwart der Geistergestalt des Vampirs. »Kos, was in Krokts Namen machst du da?«, fragte Fonn. »Ich tue nur meinen Job«, gab Kos mit aller Ruhe eines erfahrenen Streifenbeamten zurück. Szadeks Geist hörte auf zu kreischen und verfestigte sich in eine etwas stabilere Gestalt. Ohne sich zu Kos umzudrehen, begann der Phantomvampir zu lachen. »Augustin, wir haben noch eine Rechnung offen«, sagte der Geist und griff mit einer Hand in die Brust des Großen Schiedsmannes. Das Paar wurde von blauen Blitzen ein gehüllt und aneinander gefesselt. Der Geist des Vampirs kicherte laut. Augustin IV. schrie bemitleidenswert, wäh rend sein ganzer Körper zuckte. Währenddessen kämpf 486
ten die Schweiger weiter verbissen gegen den Laurer und alle Azorius, die ihnen dabei in den Weg kamen. Kos, das kannst du nicht tun, brüllte Obez in Kos’ Ge hirn. Er klang immer noch weit entfernt. Du wirst alles zerstören ... Ja, ich werde alles zerstören, unterbrach ihn Kos. Aber zuerst muss ich hier herauskommen. Und dann unterhalten wir uns noch einmal über Mut in Kriegszeiten, Magiejurist. »Das sollte es gewesen sein«, sagte Kos wieder laut zu Fonn und den anderen. »Aber du hast doch gerade den ...«, wollte Teysa ein werfen, aber Kos ließ sie gar nicht erst weiterreden. »Ich weiß.« Er zwinkerte. »Und beide sind damit auf je den Fall die nächsten Minuten beschäftigt. Aber wir wol len dann nicht mehr hier sein. Raus mit euch, aber schnell.« Kos wartete noch einen Augenblick, während der Rest seiner Gruppe aus dem Gebäude rannte, so schnell ihre Beine sie trugen. Er warf einen letzten Blick auf Szadek und Augustin, die sich in einer tödlichen Umarmung be fanden: ein Geist, ein Sterblicher – beide dem Untergang geweiht. Dann entfernte auch er sich auf schnellstem Wege aus dem Gebäude. »Wie lange ist es her, dass du ›in fünf Minuten geht das Feuerwerk los‹ gesagt hast, Kos?«, fragte Teysa ihn. Die Advokatin war ganz außer Atem und schnappte nach Luft. »Das war vor ungefähr ... Oh, verdammt.« Alle schauten ihn erwartungsvoll an. Kos massierte 487
seine beziehungsweise Wenslauvs Beine und hoffte, dass sie sich weit genug entfernt hatten, um die Explosion zu überleben. »Vielleicht habe ich mich auch mit der Zeit spanne geirrt«, sagte Pivlic. »Pivlic ist ein Geschäftsmann, kein Ingenieur.« Genau in diesem Moment ließ die Explosion den Boden der gesamten Innenstadt von Ravnica erbeben. Später würde Pivlic berechnen, dass es sie alle das Leben geko stet hätte, wenn sie das Gebäude nur ein paar Sekunden später verlassen hätten. Wie zu erwarten gewesen war, ließ die Explosion Prahv einstürzen und schickte einen Feuerstoß in den Himmel, der sogar vom Nordwestpol aus gesehen werden konnte. Die Druckwelle zerstörte die wenigen Fenster, die im Zentrum noch heil geblieben waren, und warf Kos, Feder, Fonn und die Ledev-Wächter auf den Boden: verschrammt, verwundet, aber am Leben. Zurück blieb ein Krater, der die Größe der ThausstorinArena hatte.
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Kapitel 19
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Das Schisma ist verblasst wie eine schlechte Erinnerung. Und es wäre doch schön, wenn wir bald auch nicht mehr an diesen schicksalhaften Tag erinnert würden, an dem die Nephilim uns angriffen. Denn solange es uns noch gibt, liebe Mitbürger von Utvara, können uns noch nicht einmal die unsterblichen Götter aus der Vergangenheit davon ab halten, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und etwas Neues aufzubauen. Und es ist euer Schicksal, dass heute Abend alle Getränke im wieder aufgebauten Hotel und Gasthof »Zum Geflügelten Bold« nur die Hälfte kosten. Lasst uns gemeinsam auf Utvaras Zukunft anstoßen! Anzeige im Utvara-Bürgerblatt, 15. Paujal 10013 Z. C.
3. Tevnember 10012 Z. C. Fonn griff nach der Hand ihres Sohns und bückte sich, um das Labyrinth zu betreten. Sie nickte den Hippogrei fen zu, die den Eingang bewachten, und diese nickten zurück. Anscheinend wussten sie Bescheid und erwarte ten sie. Es war vorbei. Mit der Hilfe vieler Missbildungen hatte Feder Rakdos’ Körper in die Lavagrube von Rix Maadi 489
geworfen. Der Dämon war noch am Leben gewesen, hatte aber komatös gewirkt. Fonn hatte sie begleitet und ge hofft, unterwegs die Gelegenheit zu bekommen, ihre Trauer an Kultisten auslassen zu können. Aber die Kultanhänger waren zu sehr damit beschäf tigt, sich selbst zu bekämpfen, als dass sie sich noch mit den Eindringlingen beschäftigen wollten. Der Engel und die Missbildungen versenkten den Dämonengott in sei nem Lavabett, aus dem er vielleicht nie wieder aufstehen würde. Fonn hatte sich sowohl von den Ledev als auch den Wojeks vorübergehend beurlauben lassen. Sie hatte nie manden mehr, der ihr bei der Erziehung von Myc helfen konnte. Aber vielleicht würden sie es ja zu zweit schaffen, irgendwie Abschied zu nehmen. Die Nekromagie der Golgari umfasste auch die Kunst, einen Geist in seinen eigenen Körper zurückzuverpflan zen. Dies brachte zwar den Toten nicht wieder zum Le ben zurück, aber es ermöglichte, dass er einen so großen Teil seines Gehirns und seiner Erinnerungen mitnehmen konnte, wie der Nekromagier erlaubte. Und Jarad, der Gildenmeister, hatte sich seit dem Tod seiner Schwester schwerpunktmäßig mit Nekromagie beschäftigt. Fonn und Myc wanderten Hand in Hand die stillen lan gen Gänge hinunter. Beide schwiegen, bis sie in der Mitte des Labyrinths angekommen waren. »Hallo«, sagte der Gildenmeister. Jarad erhob sich. Die Wunden an seinem Körper waren immer noch sichtbar. Sie waren zwar gesäubert worden, aber sie würden trotz 490
dem nie mehr heilen. Der Devkarin hatte es fertig ge bracht, was vor ihm nur wenigen Nekromagiern gelungen war – er hatte seinen eigenen Geist gezwungen, in seinen Körper zurückzukehren, und sich dadurch selbst reani miert. »Hallo«, sagte Myc. Fonn schienen die Worte in der Kehle stecken zu bleiben. Sie nickte nur zustimmend. Sie hatte gedacht, dass sie damit umgehen konnte, aber ihn hier zu sehen, nicht tot, aber auch nicht mehr der Mann, den sie gekannt hatte ... »Wir sind gekommen, um uns zu verabschieden«, be kam sie schließlich doch heraus. »Myc wollte ...« »Mama«, unterbrach Myc sie. »Papa. Es ist alles in Ord nung.« »Myc, er ist ein ...« »Ich bin, was ich bin, Fonn«, sagte Jarad. »Ich bin trotz dem kein völlig anderer als vorher. Aber es gibt einige Sachen, die ... Nun, ich glaube, du hast Recht. Dies ist ein Abschied für dich und mich. Zumindest für einige Zeit.« »Aber nicht für uns«, sagte Myc und wandte sich an Fonn. »Er ist immer noch mein Vater. Mama, ich habe einst gesagt, dass ich von euch beiden lernen will. Und in den letzten Jahren habe ich fast meine gesamte Zeit damit verbracht zu lernen, wie man ein Ledev ist. Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit für mich, auch ein wenig mehr über die Devkarin zu wissen. Allerdings nicht über den Zom bie-Teil davon, ohne dir zu nahe treten zu wollen, Papa.« Die Tränen schossen Fonn in die Augen, aber sie igno rierte sie tapfer und nickte. 491
»Du bist dir da ganz sicher?«, fragte sie. »Ja«, bestätigte Myc. »Verstehe mich bitte nicht falsch, aber ich bin im Moment nicht gerade erpicht darauf, ein Ledev-Schwert in der Hand zu halten. Nicht nach dem, was ich damit tun musste.« Er drehte sich zu dem Gil denmeister zurück und sprach seinen Vater förmlich an. »Gildenmeister, wenn Ihr mich aufnehmt, würde ich gern die Sitten und Bräuche der Golgari erlernen. Aber ver steht, dass ich damit keine Wahl treffen will. Ich möchte beiden Gilden dienen. Ich glaube, dass es ein Teil des Problems dieser Welt ist, dass jeder so auf die Rolle fest gelegt ist, die ihm von seiner Gilde vorgeschrieben wird. Warum muss man ausschließlich in der einen oder in der anderen Gilde sein?« Fonn blickte ihren Sohn überrascht an, und die Über raschung verwandelte sich schnell in Respekt. »Er ist jetzt schon weise, oder?«, stellte Jarad fest. Seine Stimme hatte jegliche Wärme verloren, die sie je besessen hatte, aber es war immer noch seine Stimme. »In Ordnung«, sagte Fonn. »Jarad ... Gildenmeister. Pass gut auf ihn auf. Und Myc, wenn du jemals wieder bereit sein solltest, deine Ausbildung bei den Ledev fortzuset zen, werde ich für dich da sein.« Sie drehte sich um und stürmte den Gang hinunter, bevor Jarad noch einmal Augenkontakt mit ihr aufneh men konnte. Die Versuchung, zu ihm zurückzukehren, war stark, aber Fonn war nicht in der Lage, die gleiche Entscheidung zu treffen, mit der ihr Sohn sie gerade überrumpelt hatte. Sie hatte ihre Verpflichtungen bereits 492
aufgeteilt – sie diente den Ledev und den Wojeks. Myc würde seinen eigenen Weg finden müssen, und sie wollte für ihn da sein, wenn er Hilfe von ihr brauchte. Und Jarad? Manche Dinge waren nicht so schnell zu überwin den. Sie würde um den Jarad trauern, den sie gekannt und geliebt hatte – und vielleicht würde es ihr eines Ta ges gelingen, sich auch mit dem Jarad anzufreunden, der jetzt die Golgari führte. Im Augenblick genügte es ihr zu wissen, dass der Junge wieder einen Vater hatte.
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4. Tevnember 10012 Z. C. Crixizix stand allein am Rand der zerstörten Hauptsied lung von Utvara und wartete. Die Goblin-Frau hielt nun schon seit fast einem Tag Ausschau nach der Hilfe, die sie benötigte. Das Eindämmungsteam, das ihr versprochen worden war, hatte sich nicht blicken lassen, aber die Goblin-Frau hatte noch andere Trümpfe in der Hinterhand. Während sie wartete, betrachtete sie den abgeflachten Kraterkessel, den Niv-Mizzet zugeschmolzen hatte, bevor er sich an einen unbekannten Ort zurückgezogen hatte. Crixizix hatte schon tagelang keinen Kontakt mehr mit dem Feuerhirn gehabt. Wohin Niv-Mizzet auch geflüchtet sein mochte, er schien nicht gestört werden zu wollen. Utvara würde überleben, auch wenn sie das vor ein paar Tagen noch anders vorhergesagt hatte. Einige der Überlebenden hatten bereits schon wieder einfache Un 493
terkünfte errichtet, während andere damit begonnen hatten, die zerstörten Häuser leer zu räumen und nieder zureißen. Der uralte Kreislauf der Zivilisation war wieder in Gang gesetzt worden. Schon bald würden die Siedler Energie, Wasser und all die anderen Dinge benötigen, die eine Meisteringenieurin der Izzet zur Verfügung stellen und überwachen konnte. Als die Goblin-Frau den Umriss des Privatzeppelids am Horizont entdeckte, hatte sie in ihrem Kopf bereits den Kessel zur Hälfte wieder aufgebaut. Wenn Pivlic und die Baronin landeten, würde sie bereitstehen, Utvara neu aufzubauen.
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12. Cizarm 10014 Z. C. »Willkommen zurück, Kos«, sagte Feder. »Wir waren uns nicht ganz sicher, ob das so funktionieren würde.« »Feder?«, sagte Kos. »Wer bin ich – wo bin ich denn jetzt?« Der Ort kam ihm bekannt vor, aber gleichzeitig doch stark verändert. Einiges war nicht mehr dort, wo er es gewohnt war, anderes fehlte ganz. Leute zum Beispiel. Und ein Gefühl, weg gewesen zu sein, und nicht nur des wegen, weil ihn Feder mit »Willkommen zurück« begrüßt hatte. »Schau dich doch selbst an«, sagte Feder und führte ihn zu einem großen Spiegel. Das Gesicht, der Körper, die Kleidung – all das sah ver 494
dammt nach Agrus Kos aus. Alles drei war leicht durch schimmernd und glühte in einem weichen, matten Licht, wie es in der Natur eigentlich nicht vorkam – außer viel leicht in Glühkugeln, die dafür berüchtigt waren. »Das bin ja ich«, sagte er und hörte seine eigene Stim me. Sie hallte im Büro des Gildenmeisters deutlich mehr als Feders eigene Stimme. Genau, jetzt erkannte er auch den Raum wieder. Er befand sich im innersten Heiligtum des Boros-Gildenmeisters mitten in Sonnenheim, das anscheinend komplett wiedererrichtet worden war – aus Kos’ Perspektive über Nacht. »Feder, was geschieht hier gerade?« »Das ist ein Geschenk für dich«, erklärte Feder. »Der neue Gildenmeister der Azorius meinte, dir noch einen größeren Gefallen zu schulden. Er hat den Namen Leonos II. angenommen.« »Es wäre mir auch egal, wenn er den Namen Goblin Heiliger Krokt angenommen hätte – ich will all das nicht«, sagte Kos. »Verstehst du es nicht? Ich bin fertig. Ich will nicht mehr. Keine riesigen Monster mehr, keine verrück ten Wissenschaftler, keine schattigen Bösewichte. Keine Verschwörungen mehr, keine Dromads und schon gar keine Drachen. Es ist mir egal, was es diesmal ist. Ich bin damit durch. Ich bin tot. Akzeptier das bitte.« »Bist du das tatsächlich?«, fragte Feder. »Fertig mit der Welt?« »Feder, ich weiß nicht, wo ich gewesen bin, aber ich wa ge zu behaupten, dass du wortgewandter geworden bist.« »Und etwas diplomatischer«, gab der Engel zu. Dann 495
wurde sein Gesichtsausdruck wieder etwas ernster. »Hör mir erst einmal zu. Ich versuche es mal ganz undiploma tisch und grob auszudrücken. Diese Gestalt – deine der zeitige und, wenn du willst, auch dauerhafte Inkarnation – ist ein Geschenk, ganz ohne Hintergedanken und Be dingungen.« »Was hat dich auf die Idee gebracht, dass ich weiterle ben wollte?«, fragte Kos »Kannst du mir allen Ernstes behaupten, dass du das nicht willst?«, stellte Feder die Gegenfrage. »Als du nur ein Werkzeug der Azorius warst, hast du so sehr um dein Leben gekämpft wie damals, als ...« »Ich hatte mir diese Körper nur geliehen«, sagte Kos, aber während er diese Entschuldigung hervorbrachte, musste er sich schon eingestehen, dass das so nicht stimmte. Er hatte nicht versucht, Obez’ Haut zu retten und auch nicht die des Virusoids. Vielleicht die von Wenslauv, aber sie waren auch alte Freunde. Und es war ihm völlig egal gewesen, ob der Zombie-Gott überlebte oder starb. Und trotzdem ... »Nun gut, da ist etwas dran«, gab er zu. »Aber das bedeutet trotzdem nicht ... Was ich eigentlich fragen wollte, wie funktioniert das überhaupt? Wer kann mich sehen?« »Jeder kann dich sehen«, sagte Feder. Er warf ihm eine Dindin-Frucht zu, die in einer Schale auf seinem riesigen, den Raum dominierenden Schreibtisch gelegen hatte. »Du kannst alles berühren, in die Hand nehmen oder benut zen, wie du willst.« Aus reinem Reflex fing Kos die Dindin-Frucht. Er 496
schloss seine Finger um das Obst, und alles fühlte sich so an, wie er das von früher gewohnt war. Nun – außer der Tatsache, dass er die Frucht durch seine schimmernden Finger hindurch immer noch sehen konnte. Sonst fühlte sich sein ganzer Körper so an wie sonst auch. Er holte tief Luft. Auch das Gefühl kannte er nicht anders. Wenn es nur die Illusion eines Atemzugs war, dann war sie zumindest für ihn gut genug. Er warf die Frucht zurück. »Aber da ist noch etwas, von dem du mir bislang nichts erzählt hast.« Er betrachtete Feder abwägend. »Du magst einiges an Diplomatie dazugelernt haben, aber ich kenne dich einfach inzwischen lange genug.« »Nun«, druckste der Engel herum, »ich – oder besser gesagt: Wir hätten dir ein Angebot zu machen.« »Ein neuer Auftrag, wusste ich es doch«, sagte Kos. »Was ist es diesmal? Hat sich Niv-Mizzet entschlossen, den Vitu Ghazi als Kratzbaum zu verwenden?« »Wie bitte? Nein, Niv-Mizzet ist schon lange nicht mehr ... Oh. Das sollte ein Witz sein.« Der Engel hatte zu spät geschaltet. »Und noch nicht einmal ein besonders guter. Und nun spuck es schon aus«, sagte Kos. »Den Gildenbund, den du kanntest, gibt es nicht mehr«, sagte Feder. »Aber wir haben ein neues Abkommen un terzeichnet. Wir versuchen, etwas Ähnliches zu installie ren, eine neue Vereinbarung, die auf gegenseitiger Ab hängigkeit beruht, auf Verhandlungen untereinander ... 497
Kurz und gut, halt eben das, was der Gildenpakt hätte sein sollen, aber nicht mit Magie verstärkt, wie es die Parune für nötig hielten. Als deren Magie zerfiel, zerbrach daran auch die gesamte Zivilisation, die sich auf die Ma gie verlassen hatte.« »Und was ist mit den Gilden passiert?« Kos wurde lang sam neugierig. »Ihre Anzahl hat sich um eine reduziert«, berichtete Feder. »Es gab keine Notwendigkeit mehr für ein Haus Dimir, das durch Bekämpfung des Gildenbunds für einen Ausgleich sorgen musste. Die Kraft und Macht der neuen Vereinbarung liegt in ihr selbst. Ich muss sagen, dass ich ziemlich stolz daraufhin, obwohl das größte Lob der Ba ronin gebührt.« »Unserer Baronin?«, fragte Kos. »Teysa?« »Ja, sie hat die Rohfassung erstellt und mitgeholfen, den Rest zu verhandeln«, erklärte Feder. »Du hast mir aber immer noch nicht verraten, worin meine Aufgabe bestehen soll«, sagte Kos. »Das stimmt.« Feder nickte. »Aber ich muss dir vorher erst etwas erzählen.« »Noch etwas.« Kos hatte es gewusst. »Aber das ist schnell getan«, sagte Feder. »Es ist jetzt zwei Jahre her, seit das Parhelion zerstört wurde. Der Zauberspruch, mit dem dich Augustin IV. in Obez veran kert hatte, verblasste mit seinem Tod. Und in der Zwi schenzeit ist noch einiges mehr geschehen als nur das Zustandekommen des neuen Pakts. Komm mal zu mir ans Fenster.« 498
Der Engel schob einen schweren Vorhang beiseite und ließ helles Licht in den Raum. »Was ist denn das?«, fragte Kos, dem der durchsichtige Mund offen stehen geblieben war. »Das ist Agyrem«, sagte Feder. »Aber Agyrem ist doch ein ...« Kos wollte gerade »Am menmärchen« sagen, aber der Beweis befand sich vor seinen Augen. Es schien beinahe, als ob die Innenstadt von Ravnica kopiert – und ungeschickt an die Stadt ange baut worden wäre. Durchsichtige Türme und geschäftig umhereilende, blasse Geister überschnitten sich mit der richtigen Stadt, vermischten sich mit der Welt der Leben den. »Agyrem ist nicht mehr vom Rest der Welt abgeschnit ten«, erklärte Feder. »Das Schisma ist verschwunden, aber Agyrem ist geblieben. Die dortige Realität ist mit unserer verknüpft, aber in manchen Dingen anscheinend nur einseitig. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass es mit den Schweigern und deren Rückkehr zu tun hatte. Jedenfalls ist es jetzt so und scheint sich auch nicht mehr zu än dern. Um ehrlich zu sein, die meisten Leute haben sich inzwischen daran gewöhnt und es als neues Stadtviertel akzeptiert, selbst wenn die Bewohner alle etwas durch sichtig sind. Aber wir – also die Lebenden – können uns nicht richtig mit ihnen austauschen, jedenfalls nicht auf körperlicher Basis.« »Und ...?« »Und ich benötige jemanden, der die neue Bundeshalle in Agyrem leitet«, sagte Feder. »Jemanden, dem ich ver 499
trauen kann, der genug Erfahrung hat, um die Sache ins Laufen zu bringen. Jemanden, der Agyrem nicht nur se hen kann, sondern auch mit seinen Bewohnern in Kon takt treten kann.« »Das verstehst du also unter ›keine Hintergedanken‹, oder habe ich da etwas falsch in Erinnerung?« »Du kannst es jederzeit ablehnen«, antwortete der En gel. »Deine Zukunft liegt in deinen Händen. Und wenn du lieber wieder in die ... Nichtexistenz zurückkehren willst, lässt sich auch das arrangieren.« Es war ein Angebot, kei ne Drohung, so viel war auch Kos klar. Aber das Wort »Nichtexistenz« schmeckte ihm nicht. Er hatte gerade zwei Jahre verpasst, weil er nicht existiert hatte. Und je mehr er darüber nachdachte, desto weniger mochte er den Gedanken. »Und da ist trotzdem noch etwas, was du mir bislang vorenthalten hast«, sagte Kos. »Das rieche ich bis hier.« »Auch das stimmt«, sagte der Engel. »Und zwar der Grund, warum wir eine Bundeshalle in der Geisterstadt benötigen. Es gibt zwar offiziell keine zehnte Gilde mehr, aber in gewisser Weise haben Szadek und die Dimir über lebt.« »Und wahrscheinlich stecken sie irgendwo dort drin«, sagte Kos, der auf die geisterhaften Gebäude zeigte, die sich mit den Türmen seiner Heimatstadt vermischten. Feder nickte und schien sich ein wenig zu schämen. »Er – beziehungsweise sein Geist – hat die Explosion von Prahv überstanden. Möglicherweise war das die ganze Zeit sein Plan, jedenfalls ist er jetzt zwischen den Toten 500
ganz in seinem Element. Ich habe zwar den Eindruck, dass es selbst für ihn dort zu viele Tote gibt, um sie alle kontrollieren zu können, aber er wird stärker. Und er ist schwer fassbar. Meine Truppen können ihn nicht finden und erst recht nichts gegen ihn unternehmen. Um Agy rems willen, geschweige denn Ravnicas, muss jemand etwas gegen Szadek unternehmen.« »Und zwar ich.« »Irgendjemand«, sagte Feder. »Aber ich kann mir nie mand anderen vorstellen, der qualifizierter für diese Auf gabe wäre.« »Ich bin ein Geist.« »Er doch auch.« Kos warf Feder einen skeptischen Blick zu und schaute eine ganze Weile still aus dem Fenster. Agyrem war rie sig, und von hier aus konnte er nicht einmal erkennen, wo es endete und wo die »normale« Stadt begann. Viele der geisterhaften Türme waren verzerrte Nachbildungen der Originalbauwerke. Wenn er es richtig sah, stand sogar ganz in der Nähe des Vitu Ghazi ein ähnlicher geisterhaf ter Baum. »Nun gut«, sagte Kos nach einigen Minuten, in denen die Stille schwer zwischen ihnen lastete. »Es sieht so aus, als gäbe es Arbeit für mich.«
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