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Xavier de Maistre Die Reise um mein Zimmer Die nächtliche Reise um mein Zimmer
Winkler Verlag München
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Xavier de Maistre Die Reise um mein Zimmer Die nächtliche Reise um mein Zimmer
Winkler Verlag München
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Vollständige Ausgabe, aus dem Französischen übertragen von Karl Bindel und mit einem Nachwort von Siegfried Schmitz. Nr. 39
Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Verlegt 1968 im Winkler Verlag München. Schutzumschlag: Else Driessen Gesamtherstellung: Graphischer Großbetrieb Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany By
n maoi 2003
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2003/III-1.0
DIE REISE UM MEIN ZIMMER
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1. KAPITEL Wie ruhmvoll ist es doch, eine neue Laufbahn zu eröffnen und plötzlich mit einem Buch voll Entdeckungen in der Hand in der gelehrten Welt zu erscheinen, wie ein unerwarteter Komet im Weltenraum erglänzt! Nein, ich will mein Buch nicht länger zurückhalten; da habt ihr's, liebe Leute, lest es! Eine zweiundvierzigtägige Reise um mein Zimmer habe ich unternommen und ausgeführt. Die interessanten Beobachtungen, die ich gemacht, und das stete Vergnügen, das ich auf meiner Reise gehabt habe, ließen den Wunsch in mir wach werden, sie zu veröffentlichen; die Gewißheit, damit Nutzen zu stiften, hat meinen Entschluß bestimmt. Mein Herz empfindet eine unsägliche Genugtuung, wenn ich an die unendlich vielen Unglücklichen denke, denen ich damit ein sicheres Mittel gegen die Langeweile und eine Linderung der Leiden verschaffe, die sie erdulden. Vor der rastlosen Mißgunst der Menschen ist das Vergnügen, das man bei einer Reise in seinem Zimmer hat, geschützt; es ist unabhängig vom Geld. Wenn du, lieber Leser, so unglücklich und verlassen bist, daß du keinen Zufluchtsort mehr hast, wohin du dich zurückziehen und vor aller Leute Augen verbergen kannst, dann sind alle Vorbereitungen zur Reise getroffen. Ich bin überzeugt, daß jeder vernünftige Mensch, welcher Sinnes- und Gemütsart er auch sein mag, meinem Vorbild folgen wird; er sei geizig oder verschwenderisch, reich oder arm, jung oder alt, in der heißen Zone oder am Pol geboren: er kann ebenso reisen wie ich. Kurz, in der ungeheuren Familie der Menschen, von denen es auf dem Erdenrund wimmelt, ist nicht einer – nein, nicht einer (ich meine von denen, die Zimmer bewohnen), der, wenn er dies Buch gelesen hat, der neuen Art zu reisen, die ich in die Welt einführe, seiner Zustimmung versagen könnte.
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2. KAPITEL Das Lob meiner Reise könnte ich damit beginnen, daß ich sagte, sie habe mich nichts gekostet. Dieser Punkt verdient Beachtung. Deswegen wird sie zunächst von den mäßig begüterten Leuten gerühmt und gepriesen. Und noch eine andere Klasse von Menschen gibt es, bei denen sie aus ebendemselben Grund, daß sie nichts kostet, eines glücklichen Erfolges sicher ist. – Bei welchen denn? Nun, ihr fragt? Bei den reichen Leuten. Und dann, wie vorteilhaft ist nicht diese Art zu reisen für die Kranken: sie brauchen die Unbilden des Wetters und der Jahreszeiten nicht zu fürchten. Und die Ängstlichen sind sicher vor den Dieben, sie geraten nicht in Abgründe und Moräste. Tausende von Leuten, die vor mir gar keine Reise gewagt hatten, andere, die keine machen konnten, noch andere, die ans Reisen nicht gedacht hatten, werden sich auf mein Beispiel hin dazu entschließen. Ja, könnte der Trägste noch Bedenken haben, sich mit mir auf den Weg zu machen, um sich ein Vergnügen zu verschaffen, das ihn weder Mühe noch Geld kostet? – Mut also, und abgereist! – Folgt mir, ihr alle, die euch gekränkte Liebe, vernachlässigte Freundschaft in eure Stube bannt, fern von der Kleinlichkeit und Treulosigkeit der Menschen. Mögen alle Unglücklichen, Kranken und Gelangweilten der Welt mir folgen! Mögen alle Faulen sich wie ein Mann erheben! Und ihr, die ihr in eurem Geist wegen irgendeiner Untreue über finsteren Plänen der Besserung und Zurückgezogenheit brütet: ihr, die ihr in einem Schmollwinkel für euer ganzes Leben der Welt entsagt; ihr liebenswürdigen Einsiedler eines Abends, kommt auch ihr! Gebt auf mein Wort diese düsteren Gedanken auf: Ihr verliert einen Augenblick für das Vergnügen, ohne für Weisheit einen zu gewinnen. Würdigt mich eurer Begleitung auf meinem Weg; wir gehen in kurzen Tagemärschen und spotten unterwegs der Reisenden, die Paris und Rom gesehen haben. Kein Hindernis kann uns aufhalten; fröhlich überlassen wir uns unserer Phantasie und folgen ihr überall, wohin es ihr beliebt uns zu führen. 8
3. KAPITEL Es gibt so viele neugierige Leute in der Welt! – Ich bin überzeugt, daß man gern wissen möchte, weshalb meine Reise um mein Zimmer zweiundvierzig Tage gedauert hat, statt dreiundvierzig oder statt jeder andern Zeit. Aber wie kann ich das dem Leser erklären, da ich es doch selber nicht weiß? Sollte das Werk seiner Meinung nach zu lang sein, so kann ich nur versichern, daß es nicht von mir abhing, es kürzer zu machen; trotz aller Eitelkeit eines Reisenden würde ich mich mit einem Kapitel begnügt haben. Freilich hatte ich in meinem Zimmer alle möglichen Freuden und Annehmlichkeiten, aber ach! es stand nicht in meiner Macht, es nach Belieben zu verlassen. Ich glaube sogar, daß ich ohne die Vermittlung gewisser einflußreicher Personen, die sich für mich interessierten und denen ich noch immer dankbar bin, genügend Zeit gehabt hätte, einen Folioband herauszugeben: so voll Wohlwollen gegen mich waren die Gönner, die es mir möglich machten, in meinem Zimmer zu reisen. Vernimm indes, verständiger Leser, wie sehr diese Leute im Unrecht waren, und erfasse, wenn du es vermagst, genau die Gedankenfolge, die ich dir jetzt entwickeln will. Gibt es etwas Natürlicheres und Gerechteres, als sich mit jemandem zu duellieren, der dir aus Unachtsamkeit auf den Fuß tritt oder sich in einem Augenblick des Ärgers, an dem deine Unklugheit schuld ist, ein spitzes Wort entschlüpfen läßt, oder endlich, der das Unglück hat, deiner Geliebten zu gefallen? Man stellt sich auf dem Kampfplatz ein und versucht dort, wie Nicole es mit dem Bürger Edelmann machte*, ihm eine Quart zu schlagen, wo er eine Terz pariert; und um die Rache sicher und vollständig zu machen, tritt man ihm mit entblößter Brust entgegen, und in der Absicht, sich an seinem Feind zu rächen, läuft man Gefahr, von ihm getötet zu werden. Nichts ist folgerichtiger, wie man sieht, und doch gibt es * In der Komödie von Molière. 9
Leute, welche diese löbliche Gewohnheit mißbilligen. Aber ebenso folgerecht wie alles übrige wäre es, wenn dieselben Personen, die sie mißbilligen und als einen schweren Fehler betrachtet wissen wollen, den, welcher sich weigerte, ihn zu begehen, noch viel schlechter behandeln würden. Mehr als ein Unglücklicher hat sich ihrer Meinung gefügt und darüber seinen guten Ruf und sein Amt verloren; so daß man, wenn man unglücklicherweise einen sogenannten Ehrenhandel hat, nicht übel daran täte, das Los zu ziehen, um zu entscheiden, ob man ihn nach dem Gesetz oder nach dem Gebrauch beilegen soll; und da das Gesetz und der Gebrauch sich widersprechen, so könnten auch die Richter ebensogut um ihr Urteil würfeln. Und wahrscheinlich muß man auch auf eine derartige Entscheidung zurückgreifen, wenn man erklären will, weshalb und wieso meine Reise gerade zweiundvierzig Tage gedauert hat. 4. KAPITEL Mein Zimmer liegt nach den Messungen des Pater Beccaria* auf dem fünfundvierzigsten Breitengrad; es erstreckt sich von Osten nach Westen und bildet ein längliches Viereck, das sechsunddreißig Schritt im Umfang mißt, wenn man ganz dicht an der Mauer hinstreift. Meine Reise wird indes mehr Schritte haben, denn ich will es in der Länge und in der Breite oder auch in diagonaler Richung durchwandern, ohne einer Regel oder Methode zu folgen. Sogar im Zickzack will ich gehen und, wenn's nötig ist, alle geometrisch möglichen Linien beschreiben. Die Leute habe ich nicht gern, die so völlig über ihre Schritte und Gedanken Herr sind, daß sie sagen: »Heute mache ich drei Besuche, schreibe vier Briefe oder vollende das Werk, das ich angefangen habe.« Meine Seele ist so empfänglich für jegliche Art von Gedanken, Geschmack und Gefühl; sie nimmt alles, was sich ihr bietet, so begierig auf … * Italienischer Physiker des 18. Jahrhunderts. 10
Und warum sollte sie die Genüsse verschmähen, die auf den mühseligen Lebensweg gestreut sind? Sie sind so selten, so dünn gesät, daß man ein Tor sein müßte, wollte man nicht stehenbleiben oder auch wohl einen Umweg machen, um alle mitzunehmen, die man erreichen kann. Nach meiner Meinung gibt es keinen anziehendem Genuß als den, der Spur seiner Gedanken zu folgen, wie der Jäger das Wild verfolgt, ohne irgendeinen bestimmten Weg einhalten zu wollen. Auch verfolge ich, wenn ich in meinem Zimmer reise, selten eine gerade Linie; ich gehe von meinem Tisch zu einem Gemälde, das in einer Ecke hängt; von da steure ich schräg hinüber auf meine Tür los; treffe ich aber, obgleich ich beim Aufbruch die Absicht hatte, mich dorthin zu begeben, unterwegs auf meinen Lehnstuhl, so mache ich es mir ohne Umstände sogleich in ihm bequem. So ein Lehnstuhl ist ein vortreffliches Möbelstück; besonders für jeden nachdenklichen Menschen ist er äußerst nützlich. An den langen Winterabenden ist es zuweilen angenehm und immer klug, sich weitab von dem Lärm zahlreicher Gesellschaften behaglich in ihm auszustrecken. Ein gutes Feuer, Bücher und Federn: was für Hilfsmittel gegen die Langeweile! Und welche Freude gewährt es gar, wenn man seine Bücher und Federn vergißt, um das Feuer zu schüren, sich dabei einem angenehmen Nachdenken überläßt und einige Reime schmiedet, um seine Freunde zu erheitern. Dann schwinden dir die Stunden dahin und sinken schweigend in die Ewigkeit, ohne daß du ihren traurigen Hingang merkst. 5. KAPITEL Wendet man sich nach Norden, so entdeckt man hinter meinem Lehnstuhl mein Bett, das im Hintergrund des Zimmers steht und den angenehmsten Anblick gewährt. Es ist überaus glücklich aufgestellt, denn die ersten Strahlen der Morgensonne spielen in seinen Vorhängen. An schönen Sommertagen sehe ich sie an der weißen Wand 11
allmählich weiterrücken, so wie die Sonne höher steigt: Die Ulmen vor meinem Fenster zerteilen sie tausendfältig und lassen sie auf meinem rosa- und weißfarbenen Bett tanzen, das durch ihren Widerschein nach allen Seiten einen reizenden Lichtschimmer verbreitet. Ich höre das bunte Gezwitscher der Schwalben, die das Hausdach für sich in Anspruch genommen haben, und der andern Vögel, die in den Ulmen wohnen. Dann beschäftigen tausend fröhliche Gedanken meinen Geist, und im ganzen Weltall hat kein Mensch ein so angenehmes, so friedliches Erwachen wie ich. Ich bekenne, daß ich diese süßen Augenblicke gerne genieße und das Vergnügen am Nachsinnen in der behaglichen Wärme meines Bettes so lange wie möglich ausdehne. Gibt es wohl einen Schauplatz, welcher der Einbildungskraft mehr Stoff bietet, welcher zärtlichere Vorstellungen wachruft als das Möbelstück, in dem ich mich zuweilen selber vergesse? – Erschrick nicht, sittsamer Leser! Aber könnte ich nicht an das Glück eines Liebenden denken, der zum erstenmal eine tugendsame Gattin in seine Arme schließt, ein unaussprechliches Glück, das mein böses Geschick mich verdammt niemals zu genießen? Vergißt nicht im Bett eine Mutter, freudetrunken über die Geburt eines Sohnes, ihre Schmerzen? In ihm ergötzen uns die phantasievollen Vergnügungen, welche die Früchte der Einbildungskraft und der Hoffnung sind. Und endlich vergessen wir in diesem köstlichen Möbelstück während der einen Hälfte des Lebens den Kummer der andern. Doch welche Fülle angenehmer und trüber Gedanken drängt sich mit einemmal in meinem Hirn! Wunderbare Verbindungen schrecklicher und entzückender Erlebnisse! Ein Bett sieht uns geboren werden und sieht uns sterben; es ist die wechselvolle Schaubühne, auf der das Menschengeschlecht bald anziehende Schauspiele, bald lächerliche Possen, bald erschütternde Trauerspiele aufführt. Es ist eine blumenumkränzte Wiege – es ist der Thron der Liebe; es ist ein Grab.
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6. KAPITEL Dies Kapitel ist ganz allein für die Metaphysiker bestimmt. Es wird über die menschliche Natur klares Licht verbreiten; es ist das Prisma, mit dem man die Fähigkeiten des Menschen zerlegen und zergliedern kann, indem man das tierische Vermögen von den reinen Strahlen der Vernunft scheidet. Es wäre mir unmöglich zu erklären, wie und warum ich mir bei den ersten Schritten, die ich zu Beginn meiner Reise tat, die Finger verbrannte, wenn ich dem Leser nicht meine Lehre von der Seele und dem Tier aufs genaueste erklärte. Zudem ist diese metaphysische Entdeckung von so großem Einfluß auf mein Denken und Tun, daß es sehr schwer wäre, dies Buch zu verstehen, wenn ich den Schlüssel dazu nicht gleich zu Anfang gäbe. Durch verschiedene Beobachtungen habe ich herausgefunden, daß der Mensch aus einer Seele und einem Tier zusammengesetzt ist. Diese beiden Wesen sind völlig verschieden, aber so ineinander- oder aufeinandergefügt, daß die Seele eine gewisse Überlegenheit über das Tier haben muß, damit man sie unterscheiden kann. Ich weiß von einem alten Professor – ich erinnere mich seiner von sehr langer Zeit her –, daß Plato die Materie »das andere« nannte. Sehr gut; noch lieber aber möchte ich diesen Namen vorzugsweise dem Tier beilegen, das mit unserer Seele verbunden ist. Denn wirklich ist das andere ebendieser Stoff, der uns in so befremdender Weise belästigt. Im allgemeinen sieht man wohl ein, daß der Mensch ein Doppelwesen ist, aber das kommt, wie man sagt, daher, daß er aus Seele und Leib zusammengesetzt ist; und diesen Leib beschuldigt man ich weiß nicht wie vieler Dinge, gewiß aber ganz ohne Grund, da er ja zu fühlen wie zu denken gleich unfähig ist. Dem Tier muß man die Schuld beimessen, diesem mit Empfindung begabten Wesen, das, ein wirkliches Individuum und völlig von der Seele verschieden, ein gesondertes Dasein führt, seinen eigenen Geschmack, seine eigenen Neigungen, seinen eigenen Willen hat und nur deshalb über den andern Tieren steht, weil es besser erzogen und mit vollkommeneren Werkzeugen ausgestattet ist. 13
Liebe Leser und Leserinnen, seid auf eure Vernunft so stolz, wie ihr wollt, aber mißtraut »dem andern« sehr, besonders wenn ihr zusammen seid! Über die Verbindung dieser beiden verschiedenartigen Geschöpfe habe ich – ich weiß nicht wie viele – Erfahrungen gesammelt. So habe ich zum Beispiel deutlich erkannt, daß die Seele das Tier zum Gehorsam zwingen kann, dieses aber aus Ärger und Rache sehr oft die Seele nötigt, gegen ihren eigenen Willen zu handeln. In der Regel ist die eine die gesetzgebende, das andere die ausführende Gewalt, aber diese beiden Gewalten stehen oft miteinander in Widerspruch. Es ist nun die große Kunst eines genialen Menschen, sein Tier gut zu erziehen, damit es allein gehen, die Seele hingegen, von der beschwerlichen Gesellschaft befreit, sich zum Himmel erheben kann. Doch ich muß das durch ein Beispiel erläutern. Wenn du ein Buch liest, lieber Leser, und eine angenehmere Vorstellung tritt plötzlich vor deine Einbildungskraft, so heftet sich deine Seele sogleich daran und vergißt das Buch, während deine Augen automatisch den Wörtern und Zeilen folgen; du liest die Seiten zu Ende, ohne sie zu verstehen und ohne dich dessen, was du gelesen hast, zu erinnern. Das kommt daher, daß deine Seele ihrem Genossen zwar befohlen hat, für sie das Lesen zu besorgen, ihm jedoch nicht kundgetan hat, daß sie ein wenig vom Wege abschweifen wollte, so daß also »das andere« das Lesen fortsetzte, während deine Seele nicht darauf hörte. 7. KAPITEL Scheint das noch nicht klar genug, so gebe ich hier noch ein anderes Beispiel : Im vergangenen Sommer begab ich mich eines Tages auf den Weg zum Hof. Ich hatte den ganzen Morgen gemalt, und während meine Seele sich an dem Nachdenken über die Malerei erfreute, überließ sie es dem Tier, mich zum Schloß des Königs zu bringen. 14
Was für eine erhabene Kunst ist doch die Malerei, dachte meine Seele. Glücklich der, den der Anblick der Natur gerührt hat, der nicht ums tägliche Brot zu malen braucht, der nicht einzig zum Zeitvertreib malt, sondern, entzückt von der Herrlichkeit eines schönen Gesichts und dem wunderbaren Spiel des Lichts, das sich in tausend Schattierungen über das menschliche Antlitz ergießt, in seinen Werken den erhabenen Gebilden der Natur nahe zu kommen sucht. Glücklich auch der Maler, den die Liebe zur Landschaftsmalerei auf einsame Spaziergänge führt, der auf der Leinwand die Empfindung der Traurigkeit auszudrücken vermag, die ein düsterer Wald oder eine öde Gegend in ihm wachruft. Seine Werke bilden die Natur nach und geben sie wieder; er schafft neue Meere und schwarze Schlünde, welche die Sonne nicht kennt; auf sein Geheiß treten grünende Haine aus dem Nichts hervor, spiegelt sich das Blau des Himmels in seinen Gemälden wider; er versteht sich auf die Kunst, die Lüfte zu erregen und die Stürme heulen zu lassen. Ein anderes Mal zeigt er dem Auge des entzückten Beschauers die köstlichen Gefilde des alten Sizilien: man sieht erschreckte Nymphen durch Rosengebüsch vor einem verfolgenden Satyr fliehen; majestätische Tempelbauten erheben ihr stolzes Haupt über den heiligen Hain, der sie umgibt. Die Einbildungskraft verliert sich in den stillen Wegen des idealen Landes; blaue Fernen fließen mit dem Himmel zusammen, und die ganze Landschaft, die sich in den Fluten eines ruhigen Flusses spiegelt, gewährt einen Anblick, den keine Sprache beschreiben kann. Während meine Seele diesen Gedanken nachhing, ging »das andere« seines Weges, und Gott weiß, wohin es ging! – Statt sich, wie ihm geboten war, zum Hof zu begeben, war es so weit nach links abgeschweift, daß es in dem Augenblick, da meine Seele es wieder einholte, vor der Tür der Frau vom Hautcastel stand, eine halbe Meile vom königlichen Schloß entfernt. Ich überlasse es dem Leser, sich vorzustellen, was sich ereignet hätte, wenn es ganz allein zu einer so schönen Dame gekommen wäre.
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8. KAPITEL Wenn es nützlich und angenehm ist, eine von der Materie so weit befreite Seele zu haben, daß man nach Belieben sie ganz allein reisen lassen kann, so hat diese Fähigkeit doch auch ihre Nachteile. Ihr verdanke ich zum Beispiel die Brandwunde, von der ich in den vorigen Kapiteln gesprochen habe. Mein Frühstück zu besorgen, überlasse ich gewöhnlich meinem Tier; es röstet mein Brot und schneidet es in Scheiben. Dazu macht es vortrefflichen Kaffee und trinkt ihn sogar oft genug, ohne daß meine Seele sich darum kümmert, wenigstens ohne daß sie sich über den Anblick seiner Tätigkeit freut. Doch das ist selten und sehr schwer auszuführen. Zwar ist es leicht, an alles andere zu denken, wenn man irgendeine mechanische Beschäftigung hat, aber es ist außerordentlich schwer, sich sozusagen bei seinem Tun zu beobachten – oder, wenn ich mich nach meinem System ausdrücken soll, die Seele das Treiben des Tieres beobachten zu lassen und es ohne Teilnahme daran arbeiten zu sehen. Es ist das erstaunlichste metaphysische Kunststück, das der Mensch ausführen kann. Ich hatte meine Zange auf die Kohlenglut gelegt, um mein Brot zu rösten; einige Zeit nachher fällt, während meine Seele auf Reisen ist, plötzlich ein brennendes Stück Holz auf den Herdrand. Mein armes Tier griff nach der Zange, und ich verbrannte mir die Finger. 9. KAPITEL In den vorstehenden Kapiteln hoffe ich meine Ansichten hinlänglich entwickelt zu haben, um dem Leser zu denken zu geben und ihn in den Stand zu setzen, in dieser glänzenden Laufbahn Entdeckungen zu machen. Er kann nur mit sich zufrieden sein, wenn er eines Tages seine Seele ganz allein reisen zu lassen vermag; die Freude, die ihm diese Fähigkeit verschafft, bietet reichlichen Ersatz für die Irrtümer, die daraus hervorgehen können. Gibt es wohl einen einschmeichelnderen Genuß als den, sein Dasein so zu erweitern, Himmel 16
und Erde zugleich zu bewohnen und sein Wesen sozusagen zu verdoppeln? – Ist es nicht das ewige und nimmer befriedigte Sehnen des Menschen, seinen Machtbereich und seine Fähigkeiten zu vergrößern, sein zu wollen, wo er nicht ist, die Vergangenheit sich zurückzurufen und in der Zukunft zu leben? – Er will über Heere gebieten und an der Spitze von Akademien stehen; von den Schönen will er angebetet werden, und wenn er alles das hat, dann sehnt er sich noch nach ländlicher Ruhe und beneidet den Hirten um dessen Hütte: unaufhörlich scheitern seine Pläne, seine Hoffnungen an dem tatsächlichen Unglück, das der menschlichen Natur anhaftet; das Glück weiß er nicht zu finden. Wenn er eine Viertelstunde mit mir reist, wird sich der Weg dazu ihm zeigen. Warum überläßt er denn nicht dem andern diese elenden Sorgen, diesen quälenden Ehrgeiz? – Komm, armer Unglücklicher, versuche deine Fesseln mit Gewalt zu sprengen, und von der Himmelshöhe, auf die ich dich führen will, von den himmlischen Mauern und dem Orte der Seligen aus sollst du das Tier sehen, wie es, in die Welt gestoßen, ganz allein des Glückes und der Ehren Bahn durchmißt; sollst sehen, mit welcher Würde es unter den Menschen einhergeht: achtungsvoll macht die Menge Platz, und glaube mir, kein Mensch merkt, daß es ganz allein ist. Zu erfahren, ob es eine Seele hat oder nicht, ob es denkt oder nicht – das ist die geringste Sorge des Volkes, in dessen Mitte es wandelt. – Ohne den Mangel zu bemerken, werden tausend sentimentale Frauen es lieben; selbst zur höchsten Gunst und zum höchsten Glück kann es ohne die Hilfe deiner Seele emporsteigen. Kurz und gut; ich würde mich gar nicht wundern, wenn nach unserer Rückkehr aus dem Ort der Seligen deine Seele beim Eintritt in ihre Wohnung sich in dem Tier eines großen Herrn wiederfände. 10. KAPITEL Man glaube nur nicht, daß ich, statt mein Wort zu halten und die Reise um mein Zimmer zu beschreiben, ablenken 17
wolle, um mich aus der Affäre zu ziehen. Das wäre ein großer Irrtum, denn mit meiner Reise geht's wirklich vorwärts. Während meine Seele in sich selbst gekehrt im vorigen Kapitel die verborgenen Irrwege der Metaphysik durchwanderte, saß ich in meinem Lehnstuhl, in den ich mich so hineingelehnt hatte, daß seine beiden Vorderfüße zwei Zoll hoch über der Erde standen. Und wie ich mich nach rechts und nach links schaukelte und immer weiter vorrückte, war ich unvermerkt bis dicht an die Wand gekommen. – Auf solche Weise pflege ich zu reisen, wenn ich es nicht eilig habe. Mechanisch hatte meine Hand dort das Bild der Frau von Hautcastel gefaßt, und »das andere« war damit beschäftigt, den darauf liegenden Staub wegzuwischen. An dieser Beschäftigung hatte es eine stille Freude, und diese Freude teilte sich meiner Seele mit, obwohl diese sich in die weiten Gefilde des Himmels verloren hatte. Denn es ist gut, wenn man darauf achtet, daß der Geist auf seinen Reisen im Weltenraum stets durch ich weiß nicht welches geheimnisvolle Band in Verbindung mit den Sinnen bleibt. Ohne sich in seiner Tätigkeit stören zu lassen, kann er an den friedlichen Genüssen des andern teilnehmen. Steigt aber dies Vergnügen bis auf einen gewissen Punkt oder bietet sich der Seele irgendein unerwarteter Anblick dar, so kehrt sie sogleich mit Blitzesschnelle an ihren Ort zurück. Genauso erging es mir, als ich das Bild abputzte. In dem Maße, wie das Leinentuch den Staub wegnahm und die blonden Locken und den Kranz von Rosen, der sie umschlingt, sichtbar werden ließ, empfand meine Seele schon auf der Sonne, wohin sie sich begeben hatte, ein leichtes Schauern und teilte mitfühlend den Genuß meines Herzens. Dieser Genuß wurde weniger unklar und lebhafter, als das Tuch plötzlich die glänzende Stirn dieses reizenden Gesichts bloßlegte; meine Seele stand im Begriff, den Himmel zu verlassen, um sich diesem Anblick hinzugeben. Aber wäre sie auch in den elyseischen Gefilden oder in einem Konzert der Cherubim gewesen, keine halbe Sekunde wäre sie länger dageblieben als ihr Gefährte, der immer mehr Interesse an seiner Arbeit fand, einen ihm dargereichten feuchten Schwamm nahm und 18
damit plötzlich über die Brauen fuhr und über die Augen – über die Nase – über die Wangen – über diesen Mund – o Gott, das Herz klopft mir – über das Kinn, über den Busen: alles das war das Werk eines Augenblicks; die ganze Gestalt schien aus dem Nichts zu erstehen und hervorzutreten. Meine Seele stürzte sich wie eine Sternschnuppe vom Himmel herab; sie fand »das andere« in einer hinreißenden Verzückung und verstärkte diese durch ihre Teilnahme. Dieser außerordentliche und unerwartete Zustand ließ mich Zeit und Raum vergessen. Einen Augenblick lebte ich in der Vergangenheit, und gegen die Ordnung der Natur wurde ich wieder jung. Ja, das ist sie, die angebetete Frau, das ist sie selbst, ich sehe ihr Lächeln; eben will sie sprechen und mir ihre Liebe gestehen. – Welcher Blick! Komm, laß dich an mein Herz drücken, du Seele meines Lebens, mein zweites Ich; komm, teile meine Trunkenheit und mein Glück! Dieser Augenblick war kurz, aber er war bezaubernd: bald gewann die kalte Vernunft ihre Macht wieder, und in einer Sekunde wurde ich ein ganzes Jahr älter. Kalt und eisig wurde mein Herz, und ich befand mich in der gleichen Lage wie die Menge der Gleichgültigen, die schwer auf der Erdkugel lasten. 11. KAPITEL Man darf den Ereignissen nicht vorgreifen: vor lauter Eifer, dem Leser mein System von der Seele und dem Tier mitzuteilen, habe ich die Beschreibung meines Bettes früher aufgegeben, als ich durfte. Wenn ich sie zu Ende gebracht habe, will ich meine Reise an der Stelle wiederaufnehmen, wo ich sie im vorigen Kapitel unterbrochen habe. Nur bitte ich, nicht zu vergessen, daß wir die eine Hälfte von mir dicht an der Wand gelassen haben, wie sie vier Schritt von meinem Schreibtisch entfernt das Bild der Frau von Hautcastel in der Hand hielt. Als ich von meinem Bett sprach, habe ich es versäumt, jedem, der es sich leisten kann, 19
zu raten, daß er sich ein Bett von rosa und weißer Farbe anschaffe; denn daß die Farben von Einfluß auf uns sind und je nach ihrer Schattierung uns heiter oder traurig stimmen, ist unzweifelhaft. Rosa und Weiß sind zwei der Freude und dem Glück geweihte Farben. Indem die Natur sie der Rose gab, hat sie dieser die Krone in Floras Reich verliehen; und wenn der Himmel der Welt einen schönen Tag verkünden will, so gibt er beim Sonnenaufgang den Wolken diese reizende Färbung. Eines Tages stiegen wir mit großer Anstrengung einen steilen Fußpfad hinauf; die liebenswürdige Rosalie war vorausgeeilt; ihr lebhaftes Wesen beflügelte ihre Schritte, so daß wir ihr nicht folgen konnten. Auf der Spitze eines Hügels angelangt, wandte sie sich plötzlich nach uns um, um Atem zu schöpfen, und lächelte über unsere Langsamkeit. – Niemals vielleicht hatten die beiden Farben, deren Lob ich singe, einen solchen Triumph gefeiert. Ihre glühenden Wangen, ihre Korallenlippen, ihre glänzenden Zähne, ihr Alabasterhals vor dem Hintergrund der grünen Landschaft zogen alle Blicke auf sich. Wir mußten stehenbleiben, um sie zu betrachten. Ich sage nichts von ihren blauen Augen, nichts von dem Blick, den sie auf uns richtete, weil ich sonst von meinem Gegenstand abschweifen würde und ich zudem auch stets nur möglichst wenig daran denke. Es genügt mir, das denkbar schönste Beispiel von der Überlegenheit dieser beiden Farben über alle anderen und von ihrem Einfluß auf das Glück der Menschen angeführt zu haben. Für heute werde ich nicht weitergehen. Welchen Gegenstand könnte ich auch behandeln, der nicht abgeschmackt wäre? Welcher Gedanke wird nicht von diesem Gedanken überstrahlt? Ich weiß nicht einmal, wann ich wieder ans Werk gehen kann. Wenn ich es fortsetze und wenn der Leser es gern zu Ende gebracht sähe, so möge er sich an den gedankenspendenden Engel wenden und ihn bitten, das Bild dieses Hügels nicht mehr unter die Masse der unzusammenhängenden Gedanken zu mengen, die dieser mir jeden Augenblick eingibt. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme ist es um meine Reise geschehen. 20
12. KAPITEL
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . der Hügel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13. KAPITEL Meine Anstrengungen sind vergeblich; ich muß die Sache aufgeben und mich wider Willen aufhalten: hier ist eine militärische Etappe. 14. KAPITEL Ich habe gesagt, daß ich außerordentlich gern in der wohligen Wärme meines Bettes nachdenke und daß seine angenehme Farbe sehr viel zu dem Vergnügen daran beiträgt. Um mir dieses Vergnügen zu verschaffen, hat mein Diener Befehl erhalten, eine halbe Stunde, bevor ich aufstehen will, in mein Zimmer zu kommen. Ich höre ihn leise gehen und vorsichtig in meinem Zimmer herumhantieren, und dieses Geräusch gewährt mir die Annehmlichkeit, zu empfinden, wie ich schlummere: ein herrliches und vielen Leuten unbekanntes Vergnügen. Man ist dann wach genug, um gewahr zu werden, daß man noch nicht völlig wach ist, und um dämmerig zu berechnen, daß die Stunde der Geschäfte und der Langeweile noch in der Sanduhr der Zeit weilt. Unmerklich macht mein Diener mehr Lärm; es ist so schwer, sich zu bezwingen! Und dann weiß er, daß der unglückselige Augenblick herankommt. Er sieht auf meine Uhr und läßt das Gehänge klingeln, um mich aufmerksam zu machen; aber ich stelle mich taub, und um diese köstliche Stunde noch zu verlängern, gibt es keine
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Tricks, die ich nicht gegen diesen armen Unglücklichen anwendete. Hundert Befehle habe ich ihm vorher noch zu geben, um Zeit zu gewinnen. Dabei weiß er ganz gut, daß diese Befehle, die ich ihm in ziemlich schlechter Laune gebe, nur ein Vorwand sind, um noch im Bett bleiben zu können, ohne daß ich diesen Wunsch eingestehen will. Er tut, als merkte er davon nichts, und dafür bin ich ihm wahrhaft dankbar. Habe ich endlich alle meine Mittel erschöpft, so geht er in die Mitte des Zimmers und pflanzt sich dort mit gekreuzten Armen in vollkommenster Unbeweglichkeit auf. Unmöglich kann man, wie man zugeben wird, meinen Plan mit mehr Geist und Verstand mißbilligen. Auch widerstehe ich dieser stillschweigenden Aufforderung nie; ich strecke meine Arme aus, um ihm zu zeigen, daß ich ihn verstanden habe – und ich sitze aufrecht. Denkt der Leser über das Benehmen meines Dieners nach, so kann er sich davon überzeugen, daß in gewissen delikaten Angelegenheiten solcher Art Einfalt und gesunder Menschenverstand unendlich viel mehr wert sind als der schärfste Verstand. Ich wage sogar zu behaupten, daß die gelehrteste Rede über die Unzuträglichkeit der Trägheit mich nicht so schnell wie der stumme Vorwurf Joannettis bestimmen würde, mein Bett zu verlassen. Joannetti ist ein wahrer Biedermann und zugleich von allen Menschen derjenige, der am besten zu einem Reisenden wie ich paßt. Er ist an die häufigen Reisen meiner Seele gewöhnt und lacht niemals über die Ungereimtheiten »des andern«; er lenkt es sogar zuweilen, wenn es allein ist. so daß man dann sagen könnte, es werde von zwei Seelen geführt. Wenn es sich ankleidet, tut er mir beispielsweise durch ein Zeichen kund, daß es seine Strümpfe verkehrt oder den Rock eher anziehen will als die Weste. Oft hat meine Seele ihr Vergnügen daran gehabt zu sehen, wie der arme Joannetti dem närrischen Ding in den Gewölben der Zitadelle nachlief, um ihm zu sagen, daß es seinen Hut und ein anderes Mal sein Taschentuch vergessen habe. Eines Tages machte sich – wenn ich es bekennen darf – das 22
leichtfüßige Wesen ohne diesen treuen Diener, der es unten an der Treppe wieder einholte, ohne Degen auf den Weg zum Hof, und zwar ging es ebenso kühn wie der Oberzeremonienmeister, wenn er den erhobenen Amtsstab trägt. 15. KAPITEL »Hier, Joannetti«, sagte ich zu ihm, »hänge dieses Bild wieder auf!« Er hatte mir beim Abwischen geholfen und ahnte von den Dingen, die das Kapitel über das Bild veranlaßt haben, nicht mehr als von den Vorgängen auf dem Monde. Er selbst hatte mir aus eigenem Antrieb den feuchten Schwamm gereicht und durch dieses scheinbar unwesentliche Tun bewirkt, daß meine Seele hundert Millionen Meilen in einem Augenblick durchflog. Statt das Bild wieder an seinen Platz zu hängen, hielt er es in der Hand und wischte es selber noch einmal ab. Irgendeine Schwierigkeit, ein Zweifel, den er lösen wollte, verlieh ihm einen Schein von Wißbegierde, den ich bemerkte. »Laß hören«, sagte ich zu ihm, »was hast du an diesem Bild auszusetzen?« »O nichts, Herr. Aber dennoch?« Er stellte es auf ein Fach meines Schreibtisches, entfernte sich einige Schritte und sagte dann: »Es wäre mir lieb, wenn der gnädige Herr mir erklärte, warum dies Bild mich immer ansieht, an welcher Stelle des Zimmers ich auch bin. Wenn ich morgens das Bett mache, wendet es mir sein Gesicht zu, und gehe ich ans Fenster, so sieht es mich wieder an und verfolgt mich mit den Augen auf meinem Weg.« »Wenn also, Joannetti«, sagte ich zu ihm, »das Zimmer voll von Leuten wäre, so würde diese schöne Dame nach allen Seiten und nach jedem zugleich blicken?« »Gewiß, Herr.« »Sie würde allen, die da kommen und gehen, genauso zulächeln wie mir?« Joannetti erwiderte nichts. 23
Ich streckte mich in meinem Lehnstuhl aus, neigte den Kopf und überließ mich den ernstesten Betrachtungen. Welcher Lichtblick! Armer Liebhaber, während du fern von deiner Geliebten, bei der du vielleicht schon ersetzt bist, deine Zeit unnütz verlierst, während du begierig deine Augen auf ihr Bild heftest und dir einbildest (wenigstens im Gemälde), allein von ihr gesehen zu werden, richtet das treulose Abbild, ebenso ungetreu wie das Urbild, seine Blicke auf alles, was es umgibt, und lächelt jedermann an. Das ist eine sittliche Ähnlichkeit zwischen gewissen Bildern und ihrem Vorbild, die noch kein Philosoph, kein Maler, kein Beobachter bemerkt hat. Ich schreite von Entdeckung zu Entdeckung. 16. KAPITEL Noch immer stand Joannetti in derselben Stellung und wartete auf die Erklärung, um die er mich gebeten hatte. Ich streckte den Kopf aus den Falten meines »Reisekleids« hervor, in das ich ihn vergraben hatte, um behaglich nachzusinnen und mich von den traurigen Gedanken zu erholen, die ich eben erst gehabt hatte. »Siehst du nicht, Joannetti«, sagte ich nach kurzem Schweigen zu ihm und drehte meinen Lehnstuhl nach seiner Seite, »siehst du nicht, daß ein Gemälde eine ebene Fläche ist und daß die Lichtstrahlen, die von jedem Punkt dieser Fläche ausgehen . ..?« Joannetti riß bei dieser Erklärung die Augen so weit auf, daß man den ganzen Augapfel sehen konnte, und obendrein hatte er den Mund halb geöffnet. Nach dem berühmten Le Brun zeigen diese beiden Bewegungen des menschlichen Gesichts die höchste Stufe des Erstaunens an. Ohne Zweifel hatte mein Tier diese gelehrte Abhandlung begonnen; meine Seele wußte ja nur zu gut, daß Joannetti überhaupt nichts von ebenen Flächen und noch weniger von Lichtstrahlen verstand. Daß er seine Augen so gewaltig aufriß, brachte mich wieder zu mir selber; abermals verbarg ich den Kopf in dem 24
Kragen meines Reisekleids und begrub ihn darin so tief, daß er fast ganz versteckt war. Ich beschloß, in dieser Gegend zu Mittag zu essen; der Morgen war schon sehr weit vorgerückt, und ein Schritt mehr in meinem Zimmer würde meine Mahlzeit bis zur Nacht verzögert haben. Ich ließ mich auf die Kante meines Lehnstuhls gleiten, setzte beide Füße auf den Kamin und wartete in Geduld auf das Mahl. Diese Stellung ist köstlich, und ich glaube, es wäre sehr schwer, eine andere zu finden, die gleich viel Vorteile böte und ebenso bequem für die auf einer langen Reise unvermeidlichen Ruhepausen wäre. Bei solchen Gelegenheiten vergißt meine treue Hündin Rosine nie, an den Schößen meines Reisekleids zu zerren, damit ich sie auf den Schoß nehmen solle. In der Spitze des Winkels, den die beiden Teile meines Körpers bilden, findet sie ein völlig fertiges und sehr bequemes Bett: der Buchstabe V stellt meine Lage wunderbar genau dar. Nehme ich Rosine nicht so schnell herauf, wie sie wünscht, so springt sie auf meinen Schoß, und oft finde ich sie dort, ohne zu wissen, wie sie hingekommen ist. Von selbst legen meine Hände sich so, wie es ihr am behaglichsten ist, sei es, daß zwischen diesem liebenswürdigen Tier und dem meinigen eine innere Verwandtschaft besteht, sei es, daß der Zufall allein darüber entscheidet. – Aber ich glaube nicht an den Zufall, an diese traurige Weltanschauung, an dies nichtssagende Wort. Eher würde ich an den Magnetismus, eher an den Martinismus* glauben. Nein, nimmermehr glaube ich daran. Beziehungen zwischen den beiden Tieren bestehen so sicher und wirklich, daß Rosine, wenn ich aus reiner Zerstreuung beide Füße auf den Kamin setze – mag auch die Mittagsstunde noch fern sein und ich gar nicht daran denken, Rast zu halten –, auf jene Bewegung achtet und ihre Freude darüber durch ein leichtes Wedeln mit dem Schwanz zu erkennen gibt. Klugheit hält sie auf ihrem Platz zurück, und »das andere«, das es bemerkt, weiß ihr Dank dafür. Vermögen * Von Louis Claude sophische Richtung.
de
Saint-Martin 25
begründete
mystisch-theo-
auch beide sich über die erzeugende Ursache nicht auszusprechen, so entwickelt sich doch auf diese Weise zwischen ihnen ein stummes Zwiegespräch, eine gegenseitige Erregung sehr angenehmer Empfindungen, die durchaus nicht dem Zufall zugeschrieben werden kann. 17. KAPITEL Man darf mir nicht den Vorwurf machen, ich sei in Nebendingen zu weitschweifig: das ist so die Art der Reisenden. Will man den Montblanc besteigen oder den großen Schlund von Empedokles' Grab* besuchen, so unterläßt man es nie, die geringsten Kleinigkeiten genau zu beschreiben: die Zahl der Personen und der Maulesel, die Beschaffenheit der Mundvorräte und den vortrefflichen Appetit der Reisenden, kurz alles; sogar jeder Fehltritt der Saumtiere wird zur Belehrung der ganzen seßhaften Menschheit sorgfältig im Tagebuch aufgezeichnet. Nach diesem Beispiel habe ich mir vorgenommen, von meiner teuren Rosine zu sprechen, von dem liebenswürdigen Tier, zu dem ich eine aufrichtige Zuneigung hege, und ihm ein ganzes Kapitel zu widmen. Seit den sechs Jahren, die wir zusammen leben, ist nicht die geringste Entfremdung zwischen uns eingetreten, und wenn wir manchmal einen kleinen Streit miteinander gehabt haben, so bekenne ich offen und ehrlich, daß das größte Unrecht stets auf meiner Seite gewesen ist und daß Rosine immer die ersten Schritte zur Versöhnung getan hat. Habe ich sie abends gescholten, so begibt sie sich traurig und ohne zu murren zur Ruhe; am andern Morgen steht sie mit Tagesanbruch in achtungsvoller Haltung vor meinem Bett, und bei der geringsten Bewegung ihres Herrn, beim geringsten Zeichen des Erwachens macht sie mich durch schnelle Schwanzschläge gegen meinen Nachttisch auf ihre Anwesenheit aufmerksam. Und warum sollte ich diesem anhänglichen Wesen meine * Ätna. 26
Zuneigung versagen, das seit dem Augenblick, wo unser Zusammenleben anfing, niemals aufgehört hat, mich zu lieben? Mein Gedächtnis würde mich im Stich lassen, wollte ich all die Leute aufzählen, die sich für mich interessiert und mich vergessen haben. Ich habe einige Freunde gehabt, mehrere Geliebte, eine Menge von Verbindungen und noch mehr Bekanntschaften – und jetzt bin ich allen diesen Leuten nichts mehr, ja sie haben sogar meinen Namen vergessen. Was versprachen sie mir nicht alles, wie oft boten sie mir nicht ihre Dienste an! Ich konnte auf ihr Vermögen, auf ihre ewige und unbegrenzte Freundschaft rechnen! Meine teure Rosine, die mir ihre Dienste niemals angeboten hat, erweist mir dennoch den größten Dienst, den man der Menschheit leisten kann: sie hat mich damals geliebt und liebt mich auch jetzt noch. Auch ich – das auszusprechen scheue ich mich durchaus nicht – liebe sie mit einem Teil desselben Gefühls, das ich für meine Freunde hege. Mag man darüber sagen, was man will! 18. KAPITEL Wir haben Joannetti in der Haltung des Staunens verlassen, wie er unbeweglich vor mir stand und auf das Ende der erhabenen Erklärung wartete, die ich angefangen hatte. Als er sah, wie ich plötzlich den Kopf in meinen Morgenrock vergrub und so meine Erklärung abbrach, zweifelte er keinen Augenblick daran, daß ich aus Mangel an guten Beweisgründen in meiner Rede steckengeblieben sei und er mich folglich durch die mir gestellte schwierige Frage aus der Fassung gebracht habe. Trotz der Überlegenheit, die er dadurch über mich erlangt hatte, fühlte er nicht die geringste Anwandlung von Stolz und suchte seinen Vorteil auch gar nicht auszunutzen. Nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte, nahm er das Bild, hängte es wieder an seinen Platz und ging leise auf den Zehenspitzen hinaus. Er hatte wohl das Gefühl, daß seine Gegenwart für mich eine Art von Demütigung war, und sein 27
Zartgefühl hieß ihn deshalb weggehen, ohne daß ich etwas davon merken sollte. Sein Benehmen bei dieser Gelegenheit rührte mich tief und wies ihm in meinem Herzen einen noch höheren Platz an. Ohne Zweifel wird er auch im Herzen des Lesers ein Plätzchen haben; und wäre ein Leser so gefühllos, daß er, wenn er das folgende Kapitel gelesen hat, es ihm noch verweigerte, so hat ihm der Himmel ohne Zweifel ein Herz von Marmor gegeben. 19. KAPITEL »Zum Henker«, sagte ich eines Tages zu ihm, »schon zum drittenmal befehl ich dir, mir eine Bürste zu kaufen! So ein Tropf! So ein Dummkopf!« Er erwiderte kein Wort; auch am Abend vorher hatte er auf einen ähnlichen Ausfall nichts erwidert. Er ist so pünktlich! sagte ich zu mir; ich begriff das gar nicht. »Hol ein Tuch und putz mir die Schuhe«, sagte ich zornig zu ihm. Während er ging, reute es mich, daß ich ihn so barsch angefahren hatte. Vollständig aber war mein Zorn verraucht, als ich sah, wie sorgfältig er sich bemühte, den Staub von meinen Schuhen zu wischen, ohne meine Strümpfe zu berühren. Zum Zeichen der Versöhnung legte ich meine Hand auf seine Schulter. Wie, sprach ich dann zu mir selber, es gibt also Leute, die für Geld anderen die Schuhe putzen? Das Wort »Geld« war ein Lichtstrahl, der mir sogleich Klarheit verschaffte. Plötzlich fiel mir nämlich ein, daß ich meinem Bedienten seit langer Zeit kein Geld mehr gegeben hatte. »Joannetti«, sagte ich zu ihm und zog ihm meinen Fuß weg, »hast du Geld?« Ein leises Lächeln der Rechtfertigung trat bei dieser Frage auf seine Lippen. »Nein, Herr, seit acht Tagen habe ich keinen Heller: alles, was mir gehörte, habe ich für kleine Einkäufe ausgegeben.« 28
»Und die Bürste? Das ist also ohne Zweifel der Grund?« Er lächelte wieder. Er hätte zu seinem Herr sagen können: »Nein, ich bin kein Hohlkopf, kein Dummkopf, wie Sie grausam genug waren Ihren treuen Diener zu nennen. Bezahlen Sie mir die 23 Pfund 10 Sous 4 Deniers, die Sie mir schuldig sind, dann will ich Ihnen Ihre Bürste kaufen!« Doch lieber ließ er sich ungerechterweise mißhandeln, als daß er seinen Herrn genötigt hätte, sich seines Zornes zu schämen. Der Himmel segne ihn! Philosophen, Christen, habt ihr's gelesen? »Hier, Joannetti, hier«, sagte ich zu ihm, »geh und kauf die Bürste.« »Aber, Herr, wollen Sie denn so bleiben, einen Schuh blank und den andern ungeputzt?« »Geh, sag ich dir, kauf die Bürste; laß doch, laß doch den Staub nur auf meinem Schuh!« Er ging; ich nahm den Lappen, putzte meinen linken Schuh spiegelblank und ließ eine Träne der Reue darauf fallen. 20. KAPITEL Die Wände meines Zimmers sind mit Kupferstichen und Gemälden behängt, die es außerordentlich verschönern. Sehr gern möchte ich sie dem Leser der Reihe nach vorführen, um ihn auf dem Weg, den wir bis zu meinem Schreibtisch noch zurücklegen müssen, zu unterhalten und zu zerstreuen, aber es ist ebenso unmöglich, ein Gemälde deutlich zu erklären, wie nach einer Beschreibung ein treffendes Abbild eines Menschen zu machen. Welche Bewegung würde ihn nicht ergreifen, wenn er zum Beispiel den ersten Kupferstich betrachtete, der sich dem Auge darbietet! Da sähe er die unglückliche Lotte, wie sie langsam und mit zitternder Hand Alberts Pistolen putzt. Düstere Ahnungen sind in ihrem Gesicht ausgeprägt und all die Angst hoffnungsloser und trostloser Liebe, während zwischen Aktenstücken und alten Papieren aller Art der kalte Albert 29
sich ruhig umwendet, um seinem Freund eine glückliche Reise zu wünschen. Wie oft bin ich nicht in Versuchung gekommen, das Glas des Bildes zu zerschlagen, diesen Albert von seinem Tisch zu zerren, ihn in Stücke zu reißen, ihn mit Füßen zu treten! Doch auf dieser Welt wird es immer noch genug Alberts geben. Welcher gefühlvolle Mensch hätte nicht seinen Albert, mit dem er leben muß, an dem jedes Oberströmen der Seele, jede süße Regung des Herzens, jeder Aufschwung der Einbildungskraft sich bricht wie die Wogen am Felsen? Glücklich, wer einen Freund findet, dessen Herz und Geist zu ihm passen; einen Freund, den gleicher Geschmack, gleiches Gefühl, gleiches Wissen mit ihm vereint; einen Freund, den nicht Ehrgeiz und Eigennutz quält – der den Schatten eines Baumes dem Glanz eines Hofes vorzieht! – Glücklich, wer einen Freund besitzt! 21. KAPITEL Ich hatte einen Freund. Der Tod hat ihn mir genommen; er hat ihn ereilt im Beginn seiner Laufbahn, in dem Augenblick, da seine Freundschaft meinem Herzen ein dringendes Bedürfnis geworden war. Wir halfen einander in den Beschwerden und Mühsalen des Krieges, wir hatten beide nur eine Pfeife, wir tranken aus einem Becher, wir lagen unter einem Zelt, und unter den unglücklichen Verhältnissen, in denen wir lebten, war der Ort, wo wir zusammen wohnten, uns ein neues Vaterland. Ich habe ihn gesehen im Kampf mit allen Gefahren des Krieges, und zwar eines unheilvollen Krieges. Der Tod schien uns füreinander aufzusparen, tausendmal verschoß er seine Pfeile rings um ihn her, ohne ihn zu treffen, aber nur, um mich seinen Verlust desto tiefer empfinden zu lassen. Der Waffenlärm, die Begeisterung, welche die Seele im Angesicht der Gefahr erfüllt, hätten seinen Ruf vielleicht nicht bis zu meinem Herzen dringen lassen. Sein Tod wäre seinem Vaterland nützlich, den Feinden verderblich gewesen; ich würde ihn weniger bedauert haben. 30
Aber mitten in den Freuden eines Winterquartiers ihn zu verlieren, in meinen Armen ihn sterben zu sehen in dem Augenblick, da er vor Gesundheit zu strotzen schien, in dem Augenblick, da unser Bund in der Ruhe und Stille sich noch fester knüpfte! Ach, nimmer werde ich mich darüber trösten! Nur in meinem Herzen lebt sein Andenken, nicht weilt es mehr bei denen, die rings um ihn waren und nun an seine Stelle getreten sind – ein Gedanke, der meinen Schmerz über seinen Verlust noch peinlicher macht. Und ebenso gleichgültig gegen den Tod des einzelnen, legt die Natur wieder ihr glänzendes Frühlingsgewand an, und rings um den Friedhof, auf dem er ruht, schmückt sie sich mit all ihrer Schönheit. Die Bäume bekleiden sich mit Blättern und schlingen ihre Zweige ineinander, die Vögel singen unter dem Laubdach, die Bienen summen um die Blumen: alles atmet Leben und Freude an der Stätte des Todes. Und wenn abends der Mond am Himmel glänzt und ich sinnend an dieser Stätte der Trauer weile, dann höre ich, wie die Grille aus ihrem Versteck in dem Gras, welches das stille Grab meines Freundes verhüllt, fröhlich ihr unermüdliches Lied singt. Im großen All wird die unmerkliche Vernichtung der Wesen und alles Unglück der Menschheit für nichts gerechnet. Der Tod eines gefühlvollen Menschen, der in der Mitte seiner trostlosen Freunde stirbt, und der Tod eines Schmetterlings, den die kalte Morgenluft im Kelch einer Blume tötet, sind im Laufe der Natur zwei ähnliche Ereignisse. Der Mensch ist nichts als ein Scheinbild, ein Schatten, ein Dunst, der in der Luft zerstiebt … Doch das Morgengrauen beginnt den Himmel zu erhellen; die düsteren Gedanken, die mich beunruhigen, schwinden mit der Nacht, und die Hoffnung erwacht wieder in meinem Herzen. – Nein, er, der den Morgenhimmel so mit Licht übergießt, hat dieses Licht vor meinen Augen nicht erglänzen lassen, um mich alsbald in die Nacht des Nichts hinabzustürzen. Er, der diesen unermeßlichen Horizont ausbreitete, der diese gewaltigen Massen auftürmte, deren eisbedeckte Spitzen die Sonne vergoldet, ist auch der, welcher meinem 31
Herzen zu schlagen und meinem Geist zu denken geboten hat. Nein, mein Freund ist nicht in das Nichts entschwunden; welche Schranke uns auch trennen mag, ich werde ihn wiedersehen. Und nicht auf einen Trugschluß gründe ich meine Hoffnung. Der Flug eines Insekts durch die Luft reicht hin, mich zu überzeugen, und oft erhebt der Anblick der Landschaft, der Duft der Lüfte und ich weiß nicht welcher rings um mich her verbreitete Zauber mein Denken so, daß ein unwiderleglicher Beweis für die Unsterblichkeit mit Macht in meine Seele dringt und sie ganz und gar erfüllt. 22. KAPITEL Schon lange schwebte mir das eben niedergeschriebene Kapitel vor der Seele, und immer hatte ich es von mir gewiesen. Ich hatte mir vorgenommen, in diesem Buch nur das lachende Antlitz meiner Seele zu zeigen, aber wie so viele andere habe ich auch diesen Vorsatz vergessen. Der gefühlvolle Leser wird es mir hoffentlich verzeihen, daß ich ihm einige Tränen entlockt habe, und sollte irgend jemand der Ansicht sein, daß ich in Wahrheit* dieses Kapitel hätte auslassen können, so kann er es ja aus seinem Exemplar herausreißen oder gar das ganze Buch ins Feuer werfen. Mir genügt es, wenn es dir aus der Seele geschrieben ist, meine teure Jenny, dir, der besten und geliebtesten Frau, dir, der besten und geliebtesten Schwester. Dir ja widme ich mein Werk; wenn du es billigst, werden alle gefühlvollen und zarten Herzen es billigen, und wenn du den Torheiten verzeihst, die ich bisweilen wider meinen Willen begehe, so trotz ich allen Rezensenten der Welt.
* Siehe den Roman »Werther«, Brief 28 vom 12. August (Anmerkung des Verfassers).
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23. KAPITEL Über den folgenden Kupferstich will ich nur ein Wort sagen: Er stellt die Familie des unglücklichen Ugolino dar, wie sie Hungers stirbt: regungslos dahingestreckt liegt einer seiner Söhne ihm zu Füßen, die andern strecken ihm die ermatteten Arme entgegen und fordern Brot von ihm, während der unglückliche Vater, an eine Säule des Gefängnisses gelehnt, mit starrem und verstörtem Blick, mit unbeweglichem Antlitz, in der gräßlichen Ruhe, die den höchsten Grad der Verzweiflung darstellt, zugleich seinen eigenen Tod und den aller seiner Kinder stirbt und alles erleidet, was die menschliche Natur erleiden kann. Tapferer Ritter von Assas, von hundert Bajonetten empfängst du da den Tod mit einem gewaltigen Mut, mit einem Heldensinn, den man in unseren Tagen nicht mehr kennt! Und die du unter dieser Palme weinst, du unglückliche Negerin, die ein Barbar, der gewiß kein Engländer war, verraten und verlassen hat – was sage ich? die er grausam genug war wie eine wertlose Sklavin zu verkaufen, trotz deiner Liebe und deiner Dienste, trotz der Frucht seiner Zärtlichkeit, die du in deinem Schoß trägst – an deinem Bild kann ich nicht vorübergehen, ohne dir die Huldigung darzubringen, die deinem gefühlvollen Wesen und deinem Unglück gebührt! Bleiben wir einen Augenblick vor diesem andern Gemälde stehen. Es stellt eine junge Hirtin dar, die ganz allein auf einem Gipfel der Alpen ihre Herde hütet; sie sitzt auf einem alten umgestürzten, von der Winterkälte gebleichten Tannenstumpf; mit den breiten Blättern eines Cacaliabusches, dessen lilafarbene Blüten über ihren Kopf emporragen, sind ihre Füße bedeckt. Lavendel, Thymian, Anemonen, Tausendgüldenkraut, alle Arten von Blumen, die mühevoll in unsern Treibhäusern und Gärten gezogen werden, auf den Alpen aber in ihrer ganzen natürlichen Schönheit gedeihen, bilden den glänzenden Teppich, auf dem ihre Schafe weiden. – Sage mir, liebenswürdige Schäferin, wo ist der glückliche Winkel der Erde, in dem du wohnst; von welcher fernen Schäferei 33
bist du heute in der Frühe, beim Aufgang der Morgenröte, aufgebrochen? Könnte ich nicht dahin gehen und mit dir dort leben? – Aber ach, die süße Ruhe, die du genießest, wird gar bald entschwinden: nicht zufrieden mit der Zerstörung der Städte, wird der Dämon des Krieges bald Unruhe und Schrecken bis in deinen einsamen Zufluchtsort tragen. Schon rücken die Soldaten heran, von Fels zu Fels seh ich sie klimmen und den Wolken sich nahen. Das Gebrüll der Kanone erschallt in der erhabenen Heimat des Donners. – Fliehe, Hirtin, treib deine Herde fort, verbirg dich in den fernsten und wildesten Höhlen: Ruhe gibt es nicht mehr auf dieser traurigen Erde. 24. KAPITEL Woher es kommt, weiß ich nicht, aber seit einiger Zeit schließen meine Kapitel immer mit einem düstern Ton. Umsonst richte ich zu Anfang meine Blicke auf irgendeinen angenehmen Gegenstand; umsonst schiffe ich mich bei Windstille ein: alsbald überfällt mich ein Sturm, der mich aus meiner Bahn wirft. Diese Aufregung zu beseitigen, die mich nicht Herr meiner Gedanken bleiben läßt, und das Klopfen meines Herzens zu beruhigen, das so viele rührende Bilder zu sehr aufgeregt haben, sehe ich kein anderes Mittel als eine Abhandlung. – Ja, ich will dies Eisstück auf mein Herz legen. Und diese Abhandlung soll die Malerei betreffen, denn einen andern Gegenstand abzuhandeln ist nicht möglich. Den Höhepunkt, bei dem ich soeben angelangt bin, kann ich nicht auf einmal verlassen. Und außerdem ist dies auch das Stekkenpferd meines Onkels Toby. Im Vorbeigehen möchte ich einige Worte über die Frage sagen, ob der köstlichen Kunst der Malerei oder der Musik der Vorrang gebührt; ja, ich will etwas in die Waagschale werfen, und wäre es auch nur ein Sandkorn, ein Atom. Zugunsten des Malers sagt man: er hinterläßt etwas, seine Gemälde überleben ihn und verewigen sein Andenken. 34
Darauf erwidert man, daß die Komponisten auch Opern und Konzertstücke hinterlassen. Aber die Musik ist der Mode unterworfen und die Malerei nicht. Die Musikstücke, die unsere Ahnen rührten, sind den Liebhabern unserer Tage lächerlich; man rechnet sie zu den komischen Opern und bringt damit die Enkel der Leute, denen sie einstmals Tränen entlockten, zum Lachen. Die Gemälde Raffaels werden unsere Nachkommen bezaubern, wie sie unsere Vorfahren entzückt haben. Das ist mein Sandkorn. 25. KAPITEL »Aber was kümmert's mich«, sagte Frau von Hautcastel eines Tages zu mir, »daß Cherubinis oder Cimarosas Musik anders ist als die ihrer Vorgänger? Was kümmert's mich, daß die alte Musik mich zum Lachen bringt, wenn nur die neue mir köstliche Freude gewährt? Ist es denn für mein Glück notwendig, daß mein Vergnügen dem meiner Urgroßmutter gleicht? Was reden Sie mir von Malerei, von einer Kunst, die nur einem sehr kleinen Teil der Menschheit Genuß bereitet, während die Musik alles entzückt, was atmet?« In diesem Augenblick weiß ich nicht recht, was man dieser Bemerkung entgegenhalten könnte, auf die ich nicht gefaßt war, als ich dieses Kapitel anfing. Hätte ich sie vorausgesehen, so würde ich mich mit dieser Abhandlung vielleicht nicht befaßt haben. Man halte dies aber nur nicht für den Kunstgriff eines Musikers. Ich bin keiner, bei meiner Ehre – nein, ich bin kein Musiker; den Himmel und alle, welche mich haben Geige spielen hören, rufe ich zu Zeugen an. Hält man aber das Verdienst beider Künste für gleich groß, so darf man sich doch nicht übereilen und von dem Verdienst der Kunst auf das Verdienst des Künstlers schließen. Man sieht Kinder wie große Meister Klavier spielen, aber einen guten Maler von zwölf Jahren hat man noch nie gesehen. Außer Geschmack und Gefühl erfordert die Malerei 35
auch einen denkenden Kopf, auf den die Musiker verzichten können. Alle Tage kann man sehen, wie Leute ohne Kopf und Herz einer Geige oder einer Harfe bezaubernde Töne entlocken. Zum Klavierspiel kann man das menschliche Tier erziehen, und wenn es von einem guten Meister erzogen worden ist, kann die Seele nach Belieben reisen, während die Finger mechanisch Töne hervorlocken, um die sie sich gar nicht bekümmert. – Dahingegen kann man nicht das einfältigste Ding von der Welt malen, ohne daß die Seele dabei alle ihre Fähigkeiten gebraucht. Ließe sich jedoch jemand einfallen, zwischen der komponierenden und der nur ausführenden Musik zu unterscheiden, so würde mich das, offen gestanden, etwas in Verlegenheit bringen. Ach, wenn alle Verfasser von Abhandlungen ehrlich wären, würden sie alle so schließen! Beginnt man die Prüfung der Frage, so spricht man gewöhnlich zuerst im lehrhaften Ton, weil man sich innerlich schon entschieden hat, wie ich mich trotz meiner erheuchelten Unparteilichkeit wirklich für die Malerei entschieden hatte. Aber die Untersuchung ruft den Widerspruch hervor – und alles endet mit dem Zweifel. 26. KAPITEL Jetzt, da ich ruhiger bin, will ich mich bemühen, ohne Erregung von den beiden Bildern zu sprechen, die auf das Gemälde »Die Alpenschäferin« folgen. Raffael, dein Porträt konntest nur du selber malen. Wer anders hätte das zu unternehmen gewagt? – Dein offenes, gefühlvolles, geistreiches Antlitz verkündet deinen Charakter und deinen Geist. Deinem Schatten zuliebe habe ich neben dich das Bild deiner Geliebten gehängt, von der alle Menschen aller Jahrhunderte ewig Rechenschaft fordern werden über die erhabenen Werke, die dein allzu früher Tod der Kunst geraubt hat. Betrachte ich Raffaels Bildnis, so fühle ich mich von einer 36
fast religiösen Ehrfurcht vor diesem großen Mann durchdrungen, der in der Blüte seines Lebens schon das ganze Altertum überholt hatte und dessen Gemälde die modernen Künstler zur Verwunderung und zur Verzweiflung bringen. Wenn ich das Bild bewundere, dann durchglüht meine Seele ein Gefühl der Entrüstung über diese Italienerin, die ihre Liebe höher schätzte als ihren Geliebten und in seinem Busen dies himmlische Licht, diesen göttlichen Geist erstickte. Wußtest du denn nicht, du Unselige, daß Raffael ein Gemälde angekündigt hatte, das noch vollkommener werden sollte als »Die Verklärung Christi«? Warst du dir nicht bewußt, den Liebling der Natur, den Vater der Begeisterung, einen erhabenen Genius, einen Gott in deinen Armen zu halten? Während meine Seele diesen Betrachtungen nachhängt, richtet ihr Begleiter das Auge aufmerksam auf die bezaubernde Gestalt dieser unheilvollen Schönheit und ist durchaus nicht abgeneigt, ihr den Tod Raffaels zu verzeihen. Umsonst wirft meine Seele ihm seine törichte Schwäche vor: sie findet gar kein Gehör. – Bei derartigen Gelegenheiten entspinnt sich zwischen den beiden Wesen ein sonderbares Zwiegespräch, das nur zu oft zugunsten des bösen Prinzips endigt und von dem ich eine Probe für ein anderes Kapitel aufspare. 27. KAPITEL Die Stiche und Gemälde, von denen ich soeben gesprochen habe, verbleichen und verschwinden beim ersten Blick auf das folgende Gemälde: die unsterblichen Werke Raffaels, Correggios und der ganzen italienischen Schule können den Vergleich mit ihm nicht aushaken. Auch hebe ich es mir immer als das letzte Schaustück, als Reservestück auf, wenn ich einigen Wißbegierigen das Vergnügen gewähre, mit mir zu reisen. Und ich kann versichern, seit ich dies erhabene Gemälde den Kennern und den Nichtkennern, den Weltleuten, den Künstlern, den Frauen und den Kindern, ja sogar den 37
Tieren zeige, habe ich immer gesehen, daß die Beschauer jeder Art, jeder auf seine Weise, Vergnügen und Erstaunen äußerten: so wunderbar getreu ist die Natur hier wiedergegeben! Nun, was für ein Gemälde könnte man euch zeigen, liebe Leser, was für ein Schauspiel könnte man euch vor Augen führen, liebe Leserinnen, das eurer Zustimmung sicherer wäre als das getreue Abbild von euch selber? Das Gemälde, von dem ich spreche, ist ein Spiegel, und bis jetzt hat noch keiner sich einfallen lassen, es zu bekritteln. Für alle, die es betrachten, ist es ein vollkommenes Gemälde, gegen das sich kein Wort einwenden läßt. Ohne Zweifel wird man mir zugeben, daß der Spiegel als eins von den Wundern der Gegend betrachtet werden muß, in der ich wandere. Mit Stillschweigen will ich das Vergnügen übergehen, das der Naturforscher empfindet, wenn er über die sonderbaren Wirkungen des Lichts nachsinnt, das alle Gegenstände der Natur auf dieser glatten Fläche abbildet. Den seßhaften Reisenden veranlaßt der Spiegel zu tausend anziehenden Betrachtungen, zu tausend Beobachtungen, die ihn zu einem nützlichen und kostbaren Besitzstück machen. Ihr Leser, welche die Liebe in ihren Bann gehalten hat oder noch hält, lernt von mir, daß sie vor einem Spiegel ihre Pfeile schärft und ihre Grausamkeiten aufdeckt; dort wiederholt sie ihre Kunstgriffe, studiert sie ihre Bewegungen ein, rüstet sie sich im voraus auf den Krieg, den sie erklären will; dort übt sie sich in den süßen Blicken, in den kleinen Mienenspielen, in dem klugen Schmollen, wie ein Schauspieler sich dort vor seinen eigenen Augen übt, bevor er öffentlich auftritt. Immer unparteiisch und wahr zeigt der Spiegel den Augen des Beschauers die Rosen der Jugend und die Runzeln des Alters, ohne jemanden zu verleumden oder ihm zu schmeicheln. Von allen Ratgebern sagt er allein den Großen dieser Welt beständig die Wahrheit. Dieser Vorzug hatte in mir den Wunsch nach der Erfindung eines moralischen Spiegels wachgerufen, in dem alle Menschen sich mit ihren Lastern und ihren Tugenden sehen könnten. Ich dachte sogar daran, irgendeiner Akademie einen 38
Preis für diese Entdeckung anzubieten, als reifliche Überlegung mir die Nutzlosigkeit meines Planes zeigte. Ach, es geschieht so selten, daß die Häßlichkeit sich erkennt und den Spiegel zerbricht! Umsonst mehren sich rings um uns die Spiegel und geben mit mathematischer Genauigkeit Licht und Wahrheit wieder: in dem Augenblick, wo die Strahlen in unser Auge dringen und uns darstellen, wie wir sind, schiebt die Eigenliebe ihr trügerisches Prisma zwischen uns und unser Bild und zeigt uns eine Gottheit. Und unter allen Prismen, von dem ersten an, das aus der Hand des unsterblichen Newton hervorgegangen ist, hat keines eine so starke Brechungskraft besessen und erzeugt keines so angenehme und lebhafte Farben wie das Prisma der Eigenliebe. Nun, da die gewöhnlichen Spiegel vergebens die Wahrheit verkünden und jeder mit seiner Gestalt zufrieden ist; da sie den Menschen ihre physischen Unvollkommenheiten nicht erkennen lassen können, wozu sollte mein moralischer Spiegel dienen? Wenig Leute würden hineinsehen und keiner sich darin wiedererkennen – ausgenommen die Philosophen. – Und selbst das bezweifle ich ein wenig. Da ich den Spiegel für das halte, was er ist, so wird, hoffe ich, niemand mich tadeln, daß ich ihn über die Gemälde der italienischen Schule gestellt habe. Die Frauen, deren Geschmack ja nicht falsch sein kann und deren Entscheidung alles regeln muß, werfen, sobald sie in ein Zimmer treten, gewöhnlich den ersten Blick auf dieses Gemälde. Tausendmal habe ich gesehen, wie Damen und selbst junge Herren auf dem Ball ihren Bräutigam oder ihre Braut, den Tanz und alle Freuden des Festes vergessen haben, um mit deutlich erkennbarem Wohlgefallen dies berückende Gemälde zu betrachten und es mitten im ausgelassensten Kontertanz von Zeit zu Zeit mit einem Blick zu beehren. Wer könnte ihm also den Rang streitig machen, den ich ihm unter den Meisterwerken der Kunst des Apelles einräume?
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28. KAPITEL Endlich war ich ganz dicht bei meinem Schreibtisch angelangt; schon konnte ich, wenn ich den Arm ausstreckte, seine mir zunächst liegende Ecke berühren, als ich beinahe die Frucht all meiner Arbeit vernichtet und selber das Leben verloren hätte. Den Unfall, der mir zustieß, sollte ich mit Stillschweigen übergehen, um die Reisenden nicht zu entmutigen; aber mit der Postkutsche, in der ich reise, umzustürzen ist so schwer, daß man zugeben wird, man müsse im höchsten Grade Pech haben – ebensoviel Pech haben wie ich, um in ähnlicher Weise in Gefahr zu geraten. Ich fand mich langgestreckt auf der Erde liegend, völlig über den Haufen geworfen, und das so schnell, so unvermutet, daß ich versucht gewesen wäre, mein Unglück in Zweifel zu ziehen, wenn nicht ein Brummen im Kopf und ein heftiger Schmerz an der linken Schulter mir nur zu deutlich die Wahrheit bewiesen hätten. Das war wieder ein schlechter Streich meiner »Hälfte«. Durch die Stimme eines Bettlers, der plötzlich an meiner Tür um ein Almosen bat, und durch Rosines Gebell erschreckt, drehte sie meinen Lehnstuhl ungestüm herum, bevor meine Seele noch Zeit fand, ihr zu sagen, daß keine Wand dahinter sei. Der Stoß war so heftig, daß meine Postkutsche vollständig ihr Gleichgewicht verlor und auf mich stürzte. Ich bekenne, daß dies einer der Fälle war, bei denen ich mich am meisten über meine Seele habe beklagen müssen. Denn statt unwillig darüber zu sein, daß sie soeben nicht zu Hause war, und ihren Gefährten wegen seiner Übereilung zu schelten, vergaß sie sich so weit, daß sie die tierischste Empfindung teilte und jenen armen unschuldigen Menschen mit Worten mißhandelte. »Taugenichts, geh und arbeite!« sagte sie zu ihm (eine abscheuliche Anrede, die der geizige und grausame Reichtum erfunden hat). »Lieber Herr«, sagte er darauf, um mich zu rühren, »ich bin aus Chambéry …« 40
»Um so schlimmer für dich.« »Ich bin Jakob; Sie haben mich ja auf dem Lande gesehen, ich habe ja die Schafe auf die Weide getrieben …« »Was willst du hier?« Meine Seele fing an, die Roheit meiner ersten Worte zu bereuen. Ich glaube sogar, sie hatte sie schon einen Augenblick, bevor sie ihr entschlüpft waren, bereut. Das ist geradeso, wie wenn man beim Laufen unvermutet auf einen Graben oder einen Sumpf stößt: man sieht ihn, aber man hat keine Zeit mehr, ihm auszuweichen. Rosine brachte mich vollständig wieder zur Vernunft und zur Reue: sie hatte Jakob, der oft sein Brot mit ihr geteilt hatte, erkannt und bewies ihm mit ihren Liebkosungen ihre dankbare Erinnerung an ihn. Unterdes hatte Joannetti die Reste meines Mittagsmahls, die für ihn selber bestimmt waren, zusammengepackt und überreichte sie ohne Zögern Jakob. Armer Joannetti! Es steht folglich so mit mir, daß ich auf meiner Reise von meinem Diener und von meinem Hund in Philosophie und Menschlichkeit unterwiesen werde. 29. KAPITEL Bevor ich weitergehe, will ich einen Zweifel lösen, der sich in den Geist meiner Leser eingeschlichen haben könnte. Um alles in der Welt möchte ich nicht in den Verdacht kommen, ich hätte diese Reise nur unternommen, weil ich nicht wußte, was ich tun sollte, und weil ich gewissermaßen von den Umständen dazu gezwungen wurde. Ich versichere hier und beschwöre es bei allem, was mir teuer ist, daß ich sie schon lange vor dem Ereignis habe unternehmen wollen, das mich zweiundvierzig Tage lang meiner Freiheit beraubt hat. Diese aufgezwungene Einsamkeit hat mich nur veranlaßt, mich früher auf den Weg zu machen. Die freiwillige Versicherung, die ich hier abgebe, wird, das weiß ich wohl, gewissen Leuten verdächtig erscheinen. Aber 41
ich weiß auch ebensogut, daß argwöhnische Leute dieses Buch nicht lesen werden: sie haben hinlänglich mit sich selber und mit ihren Freunden zu tun; sie haben genug andere Geschäfte. Doch gute Menschen werden mir glauben. Gleichwohl bekenne ich, daß ich es vorgezogen hätte, mich zu anderer Zeit mit dieser Reise zu befassen, und zu ihrer Ausführung hätte ich lieber die Fastenzeit als den Karneval gewählt: dennoch haben philosophische Betrachtungen, die mir vom Himmel eingegeben worden sind, mich in der Entbehrung der Vergnügungen sehr unterstützt, die Turin während dieser unruhigen und aufgeregten Tage in Menge bietet. Es ist freilich unzweifelhaft, sagte ich zu mir, daß die Wände meines Zimmers nicht so prächtig geschmückt sind wie ein Tanzsaal; die Ruhe meiner Kajüte entschädigt mich auch nicht für das angenehme Geräusch der Musik und des Tanzes, aber unter den glänzenden Persönlichkeiten, die man auf diesen Festen trifft, sind sicherlich Leute, die sich noch mehr langweilen als ich. Und weshalb sollte ich mich darauf versteifen, auf die Menschen zu sehen, die in einer angenehmeren Lage sind als ich, während die Welt doch von Leuten wimmelt, die unglücklicher sind, als ich es in meiner Lage bin? Statt mich von der Phantasie in das prächtige Kasino bringen zu lassen, in dem so viele Schönheiten von der jungen Eugénie überstrahlt werden, brauche ich, um mich glücklich zu fühlen, nur einen Augenblick in den Straßen zu weilen, die dorthin führen. Ein Haufen Unglücklicher, der halbnackt unter den Vorhallen jener prächtigen Gemächer liegt, scheint vor Kälte und Elend fast zu sterben. Welch ein Anblick! Ich möchte, alle Welt kennte diese Seite meines Buches; ich möchte, man wüßte, daß in dieser großen Stadt, wo alles Überfluß atmet, in den kältesten Winternächten viele Unglückliche, den Kopf auf einen Prellstein oder auf die Schwelle eines Palastes gestützt, unbedeckt schlafen. Hier liegt eine Gruppe von Kindern, die sich eines an das andere gedrängt haben, um nicht vor Kälte zu sterben. Dort steht ein zitterndes Weib, dessen Stimme nicht stark genug 42
ist, um klagen zu können. Die Vorübereilenden kommen und gehen, ohne von dem Anblick bewegt zu werden, an den sie gewöhnt sind. Das Gerassel der Wagen, die Stimme der Unmäßigkeit, die bezaubernden Töne der Musik schallen dann und wann in das Geschrei dieser Unglücklichen und geben einen schrecklichen Mißklang. 30. KAPITEL Wer nun nach dem vorstehenden Kapitel eilfertig über eine Stadt urteilen wollte, würde sich sehr täuschen. Ich habe von den Armen gesprochen, die man dort findet, von ihrem erbärmlichen Geschrei und der Gleichgültigkeit gewisser Leute bei ihrem Anblick; aber ich habe nichts von der Menge mildtätiger Menschen gesagt, die schlafen, während die andern dem Vergnügen nachgehen, die mit Tagesanbruch aufstehen, um ohne Zeugen und ohne Prahlerei den Unglücklichen zu helfen. – Nein, das will ich nicht mit Stillschweigen übergehen: ich will es auf die Rückseite des Blattes schreiben, das die ganze Welt lesen muß. Wenn sie so ihr Glück mit ihren Brüdern geteilt, wenn sie Balsam in die vom Schmerz verwundeten Herzen gegossen haben, gehen sie, während das ermüdete Laster auf weichem Kissen schläft;, in die Kirche, um ihr Gebet zu Gott emporzusenden und ihm für seine Wohltaten zu danken. In der Kirche kämpft noch das Licht der einsamen Lampe mit dem Licht des werdenden Tages, und schon liegen sie auf ihren Knien am Fuße der Altäre; und der Ewige, der erzürnt war über die Hartherzigkeit und Habgier der Menschen, hält seinen Blitz zurück, den er schon schleudern wollte. 31. KAPITEL Ich habe in meiner Reisebeschreibung etwas über diese Unglücklichen sagen wollen, weil der Gedanke an ihr Elend mich unterwegs oft abgelenkt hat. Von dem Unterschied zwi-
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sehen ihrer und meiner Lage betroffen, hielt ich bisweilen meine Kutsche plötzlich an, und dann schien mir mein Zimmer übermäßig ausgeschmückt zu sein. Was für ein unnützer Luxus! Sechs Stühle, zwei Tische, ein Schreibtisch, ein Spiegel: welcher Prunk! Mein Bett besonders, mein Bett von rosa und weißer Farbe, und meine beiden Matratzen schienen mir selbst der Pracht und Weichlichkeit der asiatischen Herrscher hohnzusprechen. Diese Gedanken machten mich gleichgültig gegen die Freuden, die mir verboten waren, und von Gedanke zu Gedanke steigerte sich mein Anfall von Philosophie so sehr, daß ich im Nebenzimmer einen Ball hätte sehen, daß ich den Ton der Geigen und Klarinetten hätte hören können, ohne mich von meinem Platz zu bewegen. Ich hätte mit meinen beiden Ohren die melodische Stimme Marchesinis*, diese Stimme, die mich so oft entzückt hat, hören können, ja ich hätte sie hören können, ohne ergriffen zu sein. Mehr noch: ich hätte die schönste Frau von Turin, Eugénie selbst, von Kopf bis Fuß von der Hand des Fräulein Rapous** geschmückt, ohne die geringste Bewegung betrachten können. Doch das ist nicht ganz sicher. 32. KAPITEL Aber mit eurer Erlaubnis, liebe Leser, frage ich euch, habt ihr euch auf dem Ball oder im Theater noch ebenso gut amüsiert wie sonst? – Ich für mein Teil bekenne, daß mir seit einiger Zeit alle zahlreichen Gesellschaften einen gewissen Schrecken einjagen. Ich werde dort von einem düstern Traum gequält. Vergeblich strenge ich mich an, ihn zu vertreiben: immer kommt er wieder wie der Traum Athalias. Das kommt vielleicht daher, daß meine Seele, die heute von schwarzen Gedanken und herzzerreißenden Gemälden erfüllt ist, überall Bilder der Trauer sieht, wie ein verdorbener Magen die gesundesten Nahrungsmittel in Gift verwandelt. * Gemeint ist offensichtlich der italienische Sopranist Marchesi. ** Berühmte Modewarenhändlerin zur Zeit der »Reise um mein Zimmer« (Anmerkung des Verfassers).
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Wie dem auch sei, ich erzähle hier meinen Traum: Wenn ich auf einem solchen Fest mitten unter der Menge von liebenswürdigen und zärtlichen Leuten bin, die tanzen, die singen, die bei Trauerspielen weinen, die nur Freude, Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit kundgeben, dann sage ich mir: Wenn in diese feine Gesellschaft plötzlich ein weißer Bär, ein Philosoph oder ein anderes derartiges Tier träte, auf das Orchester stieg und mit wütiger Stimme riefe: »Unglückliche Sterbliche, hört auf die Wahrheit, die durch meinen Mund zu euch redet! Ihr werdet unterdrückt, tyrannisiert, ihr seid unglücklich, ihr langweilt euch. Wacht auf aus dieser dumpfen Schläfrigkeit! – Ihr Musikanten, zerschlagt zuerst diese Instrumente auf eurem Kopf! Jeder bewaffne sich mit einem Dolch; denkt nicht mehr an Erholung und Feste; dringt in die Häuser, erwürgt alles; auch die Frauen sollen ihre furchtsamen Hände in Blut tauchen! – Geht, ihr seid frei: reißt euren König von seinem Thron und euren Gott aus seinem Heiligtum!« Und nun, wie viele von diesen liebenswürdigen Leuten werden tun, was das Tier gesagt hat? Wie viele dachten vielleicht daran, bevor er eintrat? Wer weiß es? – Hat man nicht auch vor fünf Jahren in Paris getanzt?* »Joannetti, mach Türen und Fenster zu. Ich will das Licht nicht mehr sehen; kein Mensch soll in mein Zimmer kommen; leg mir meinen Säbel bereit! Geh du selber hinaus und laß dich nicht wieder vor mir sehen!« 33. KAPITEL »Nein, nein, Joannetti, bleib! Bleib, armer Junge, und du auch, meine liebe Rosine, die du meine Schmerzen errätst und durch deine Liebkosungen linderst: komm, Rosine, komm! – Der Buchstabe V und Rasttag.« * Wie man sieht, wurde dieses Kapitel 1794 geschrieben. Man wird beim Lesen des Werks leicht feststellen, daß zwischen der Abfassung der einzelnen Teile größere Zwischenräume liegen (Anmerkung des Verfassers).
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34. KAPITEL Das Umstürzen meiner Postkutsche hat dem Leser einen Dienst erwiesen und meine Reise um ein gutes Dutzend Kapitel verkürzt, weil ich mich beim Aufstehen ganz in der Nähe meines Schreibtisches befand und nicht mehr in der Lage war, Betrachtungen über die Reihe von Stichen und Gemälden anzustellen, die ich noch hätte besprechen müssen und die meine Erörterungen über die Malerei hätten in die Länge ziehen können. Läßt man also die Bilder Raffaels und seiner Geliebten, den Ritter von Assas und die Alpenhirtin zur Rechten und geht zur Linken an der Fensterseite entlang, so entdeckt man meinen Schreibtisch. Er ist das erste und bedeutendste Ding, das sich dem Blick des Reisenden zeigt, wenn er dem eben angedeuteten Weg folgt. Oben auf dem Schreibtisch sind einige Fächer angebracht, die als Bibliothek dienen; das Ganze wird von einer Büste gekrönt, welche die Pyramide abschließt und am meisten zur Verschönerung der Gegend beiträgt. Öffnet man die erste Schublade rechts, so findet man Schreibzeug, Papier aller Art, ganz verschnittene Federn und Siegellack. Auch dem trägsten Wesen würden all diese Dinge Lust zum Schreiben machen. Gewiß würdest du, meine teure Jenny, wenn du zufällig diese Schublade öffnetest, den Brief beantworten, den ich dir im vergangenen Jahr geschrieben habe. In der gegenüberliegenden Schublade liegt wirr übereinander gehäuft das Material zu der anziehenden Geschichte der Gefangenen von Pignerol, die ihr, liebe Freunde, bald lesen sollt.* Zwischen diesen beiden Schubladen ist eine Vertiefung, in die ich alle Briefe hineinwerfe, wie ich sie empfange. Dort liegen noch alle Briefe, die ich seit zehn Jahren bekommen * Der Verfasser hat nicht Wort gehalten, und wenn etwas unter diesem Titel erschienen ist, so erklärt der Verfasser der »Reise um mein Zimmer«, daß er für nichts aufkommt (Anmerkung des Verfassers). 46
habe. Die ältesten sind, nach dem Empfangstag geordnet, in mehrere Päckchen gebunden, die neueren liegen bunt durcheinander; ich besitze noch einige, die aus meiner frühesten Jugend stammen. Welch ein Vergnügen, in diesen Briefen die anziehenden Verhältnisse unserer jungen Jahre wiederzufinden, sich von neuem in jene glücklichen Zeiten zu versetzen, die wir nicht mehr wiedersehen sollen! Ach, das Herz ist mir so voll! Was für eine traurige Freude empfindet es, wenn meine Augen die Zeilen wieder lesen, die ein Wesen geschrieben hat, welches nicht mehr lebt. Das ist seine Schrift, das ist sein Herz, das seine Hand führte, mir schrieb es diesen Brief, und dieser Brief ist alles, was mir von ihm geblieben ist! Bringe ich meine Hand in diese Gegend, so ziehe ich sie meistens den ganzen Tag nicht wieder weg. So durcheilt der Reisende hastig etliche Provinzen Italiens und macht in der Eile einige oberflächliche Beobachtungen, um sich dann ganze Monate lang in Rom festzusetzen. Das ist die reichste Ader der Mine, die ich ausbeute. Welche Veränderung in meinen Gedanken und Empfindungen! Welcher Unterschied bei meinen Freunden! Betrachte ich sie, damals und heute, dann sehe ich sie von Plänen mächtig bewegt, die sie jetzt nicht mehr rühren. Wir sahen irgendein Ereignis für ein großes Unglück an; aber der Schluß des Briefes fehlt, und das Ereignis ist völlig vergessen; ich kann mich nicht mehr entsinnen, wovon die Rede war. Tausend Vorurteile hielten uns gefangen; Welt und Menschen waren uns völlig fremd; aber andererseits, welche Wärme in unserem Verkehr, welche innige Verbindung, welches unbegrenzte Vertrauen! Wir waren glücklich durch unsere Irrtümer. – Und jetzt? Ach, damit ist's vorbei! Wie die andern haben auch wir im menschlichen Herzen lesen müssen, und die Wahrheit, die wie eine Bombe mitten zwischen uns fiel, hat das verzauberte Schloß unserer Träume auf ewig zerstört.
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35. KAPITEL Es stände mir völlig frei, ein Kapitel über diese trockene Rose da zu schreiben, wenn der Gegenstand der Mühe wert wäre. Es ist eine Blume vom Karneval des letzten Jahres. Ich habe sie selbst in den Treibhäusern Valentins gepflückt, und abends, eine Stunde vor dem Ball, ging ich, hoffnungsvoll und in angenehmer Aufregung, zu Frau von Hautcastel, um sie ihr zu schenken. Sie nahm sie, legte sie auf ihren Putztisch, ohne sie anzusehen, ja sogar ohne mich anzusehen. – Wie hätte sie aber auch auf mich achten können: war sie doch damit beschäftigt, sich selbst zu betrachten. Ganz geschmückt stand sie vor einem großen Spiegel und legte die letzte Hand an ihren Putz. So sehr war sie in Anspruch genommen, so völlig war ihre Aufmerksamkeit auf die vor ihr aufgehäuften Bänder, Tülltücher und kleinen Putzsachen gerichtet, daß mir nicht einmal ein Blick, ein Zeichen zuteil wurde. Ich ergab mich darein: demütig hielt ich Nadeln, in meiner Hand zurechtgelegt, stets bereit, aber ihr Nadelkissen war ihr näher zur Hand, und sie nahm sie von ihrem Nadelkissen. Und wenn ich die Hand vorstreckte, nahm sie sie gleichgültig aus meiner Hand – und wollte sie sie nehmen, so tastete sie danach, ohne den Blick von ihrem Spiegel abzuwenden, aus Furcht, sich aus dem Auge zu verlieren. Eine Zeitlang hielt ich einen zweiten Spiegel hinter sie, damit sie ihre Toilette besser mustern konnte. Und als ihr Gesicht aus einem Spiegel im andern wieder erschien, erblickte ich eine Reihe von Koketten, von denen keine mich beachtete. Kurz, wenn ich es gestehen soll: wir beide, meine Rose und ich, machten eine sehr traurige Figur. Schließlich verlor ich die Geduld und konnte dem Ärger, der mich verzehrte, nicht mehr widerstehen: ich legte den Spiegel, den ich in der Hand hatte, weg, und mit zorniger Miene ging ich, ohne Abschied zu nehmen, hinaus. »Sie gehen weg«? sagte sie zu mir und wandte sich in diese Richtung, um ihre Gestalt auch von der Seite zu sehen. Ich erwiderte nichts, aber ich lauschte einige Zeit an der Tür, um 48
zu erfahren, welche Wirkung mein barsches Weggehen hervorgebracht hatte. »Siehst du nicht«, sagte sie nach kurzem Schweigen zu ihrer Kammerzofe, »siehst du nicht, daß dieses Schoßjäckchen besonders unten viel zu weit für meine Figur ist und daß mit Nadeln eine Falte abgesteckt werden muß?« Wie und warum diese trockene Rose da in einem Fach meines Schreibtisches liegt, das werde ich gewiß nicht sagen, weil ich erklärt habe, eine Rose verdiene kein ganzes Kapitel. Beachtet es wohl, liebe Leserinnen, daß ich keine Bemerkung über das Abenteuer mit der trockenen Rose mache. Ich sage gar nichts darüber, daß Frau von Hautcastel wohl oder übel daran getan hätte, ihren Putz mir vorzuziehen, noch auch, daß ich ein Recht darauf gehabt hätte, anders aufgenommen zu werden. Noch sorgfältiger hüte ich mich auch, daraus allgemeine Schlüsse auf die Wirklichkeit, Kraft und Dauer der Zuneigung der Frauen zu ihren Freunden zu ziehen. Ich begnüge mich damit, dieses Kapitel (da es nun einmal eins ist), dieses Kapitel, sage ich, mit der übrigen Reise in die Welt zu schikken, ohne es an jemanden zu richten und ohne es jemandem zu empfehlen. Nur einen Rat für euch, liebe Leser, will ich hinzufügen: Behaltet es recht im Sinn, daß an einem Balltage eure Geliebte nicht mehr euch gehört. In dem Augenblick, da das Ankleiden anfängt, ist der Liebhaber nur ein Ehemann und der Ball allein wird der Liebhaber. Jedermann weiß zur Genüge, was ein Ehemann gewinnt, wenn er sich um jeden Preis liebenswürdig zeigen will: tragt also euer Unglück mit Geduld und mit Lachen. Und gib dich keiner Täuschung hin, lieber Leser! Sieht man dich gern auf dem Ball, so geschieht das nicht in deiner Eigenschaft als Liebhaber, denn du bist ein Ehemann; es geschieht, weil du den Ball mitmachst und folglich ein Teil ihrer neuen Eroberung, eine Liebhaberdezimale bist; oder vielleicht auch wohl, weil du gut tanzest und sie durch dich glänzen kann. Kurz, was in der guten Aufnahme, die sie dir zuteil werden läßt, Schmeichelhaftes für dich liegen kann, das ist ihre Hoff49
nung, die Eifersucht ihrer Gefährtinnen zu erwecken, wenn sie einen verdienstvollen Mann wie dich zu ihrem erklärten Liebhaber macht. Ohne diese Erwägung würde sie dich nicht einmal ansehen. Das ist also eine ausgemachte Sache; du wirst dich bescheiden und warten müssen, bis deine Rolle als Ehemann ausgespielt ist. Ich kenne mehr als einen, der so leichten Kaufs davon loskommen möchte. 36. KAPITEL Ich habe ein Zwiegespräch zwischen meiner Seele und »dem andern« versprochen. Aber es gibt gewisse Kapitel, die mir entschlüpfen, oder vielmehr es gibt manche, die mir wider Willen aus der Feder fließen und meine Pläne vereiteln. Zu diesen gehört auch das Kapitel über meine Bibliothek, das ich so kurz wie möglich halten will. Die zweiundvierzig Tage gehen zu Ende, und eine ebenso lange Zeit würde nicht hinreichen, die Beschreibung des reichen Landes zustande zu bringen, in dem ich so angenehm reise. Meine Bibliothek besteht also, da ich es euch doch einmal sagen muß, aus Romanen – ja, aus Romanen und einigen auserlesenen Dichtern. Als wenn ich nicht genug an meinem eigenen Leid hätte, teile ich noch freiwillig das Leid von tausend erdichteten Persönlichkeiten und fühle es ebenso lebhaft wie mein eigenes: wieviel Tränen habe ich nicht schon um die unglückliche Clarissa und um Lottes Liebhaber vergossen! Aber wenn ich in solcher Weise erdichtete Trübsal suche, dann finde ich zur Entschädigung dafür in dieser Welt der Einbildung Tugend, Güte, Selbstlosigkeit, die ich in der wirklichen Welt, in der ich lebe, noch nicht vereint angetroffen habe. Da finde ich eine Frau, wie ich sie mir wünsche, ohne Launen, ohne Flatterhaftigkeit, ohne Ausflüchte. Von ihrer Schönheit sage ich nichts; in diesem Punkt darf man sich auf meine Einbildungskraft verlassen: ich mache sie so schön, daß man kein Wort dagegen sagen kann. Mache ich dann das 50
Buch zu, das meiner Vorstellung nicht mehr entspricht, so nehme ich die Frau bei der Hand, und gemeinsam durchwandern wir ein Land, das tausendmal schöner ist als der Garten Eden. Welcher Maler könnte die zauberische Landschaft darstellen, in die ich die Gottheit meines Herzens versetzt habe? Und welcher Dichter wird je die lebhaften und mannigfaltigen Gefühle schildern können, die mich in diesen zauberischen Gegenden durchströmen? Wie viele Male habe ich nicht den Cleveland verwünscht, der sich jeden Augenblick in neues Unglück stürzt, das er vermeiden könnte! Ich kann dieses Buch und diese Verkettung von Unfällen nicht ausstehen, aber wenn ich es in Gedanken einmal aufschlage, so muß ich es auch vollständig bis zu Ende lesen. Wie kann ich den armen Menschen bei den Abaquis lassen? Was würde bei diesen Wilden aus ihm werden? Noch weniger wage ich, ihn auf der Reise zu verlassen, die ihn aus seiner Gefangenschaft befreien soll. Kurz, ich vertiefe mich in seine Leiden so sehr, ich interessiere mich so lebhaft für ihn und seine unglückliche Familie, daß mir das unerwartete Erscheinen der wilden Ruintons die Haare zu Berge stehen läßt: kalter Schweiß bricht mir aus, wenn ich diese Stelle lese, und mein Schrecken ist so lebendig, so wirklich, als sollte ich selber von diesem Gesindel gebraten und verspeist werden. Habe ich dann genug geweint und geliebt, so nehme ich irgendeinen Dichter zur Hand und reise wieder in eine andere Welt. 37. KAPITEL Von der Argonautenfahrt bis zur Notabelnversammlung, vom tiefsten Grunde der Hölle bis zum letzten Fixstern jenseits der Milchstraße, bis zu den Grenzen des Weltalls, bis zu den Toren des Chaos erstreckt sich das weite Gebiet, in dem ich mich in die Läge und Breite und in aller Muße ergehe, denn es fehlt mir weder an Zeit noch an Raum. Dorthin 51
versetze ich mein Dasein, im Gefolge Homers, Miltons, Vergils, Ossians usw. Alle Ereignisse, die sich zwischen jenen beiden Zeitpunkten zugetragen haben, alle Länder, alle Welten und alle Wesen, die innerhalb dieser beiden Grenzlinien vorhanden gewesen sind, alles das ist mein, alles das gehört mir ebensogut, ebenso rechtmäßig, wie die Schiffe, die in den Piräus einliefen, irgendeinem Athener gehörten. Besonders gern habe ich die Dichter, die mich in das fernste Altertum versetzen: der Tod des ehrgeizigen Agamemnon, der Wahnsinn des Orest und die ganze tragische Geschichte des vom Himmel verfolgten Atridenhauses jagen mir einen Schrecken ein, den die Ereignisse der Gegenwart nicht in mir hervorzurufen vermögen. Da ist die unselige Urne mit der Asche des Orest. Wen sollte bei diesem Anblick nicht schaudern? Beruhige dich, Elektra, du unglückliche Schwester: Orest selbst bringt die Urne, und die Asche darin ist die Asche seiner Feinde. Heutzutage findet man keine Ufer mehr wie die des Xanthos oder des Skamander; man sieht keine Ebenen mehr wie die Ebenen Hesperiens oder Arkadiens. Wo sind heute die Inseln Lemnos und Kreta? Wo ist das berühmte Labyrinth? Wo ist der Fels, den die verlassene Ariadne mit ihren Tränen benetzte? Man sieht keinen Theseus mehr, geschweige denn einen Herkules. Die Menschen, ja sogar die Helden unserer Tage sind Zwerge. Will ich mir dann ein Bild voll Begeisterung verschaffen und alle Kräfte meiner Phantasie genießen, so hänge ich mich mutig an die Falten des wallenden Gewandes des erhabenen Blinden von Albion in dem Augenblick, wo er zum Himmel emporsteigt und sich dem Thron des Ewigen zu nahen wagt. Welche Muse hat ihn bis zu dieser Höhe emporheben können, wohin vor ihm kein Mensch seinen Blick zu richten sich erkühnt hatte? Aus dem blendenden Vorhof des Himmels, den der geizige Mammon mit neidischem Auge betrachtete, steige ich mit Grausen in die gewaltigen Tiefen der Wohnung des Satans hinab; ich wohne dem höllischen Rat bei, ich mische mich unter die aufrührerischen Geister und höre ihren Reden zu. 52
Doch ich muß hier eine Schwachheit eingestehen, die ich mir oft vorgeworfen habe. Ich kann mich einer gewissen Teilnahme für den armen Satan (ich spreche von dem Satan Mutons) nicht erwehren, seit er so vom Himmel herabgestürzt ist. In dem Augenblick, wo ich den Starrsinn des empörerischen Geistes tadle, bekenne ich, daß die Festigkeit, die er im Übermaß des Unglücks beweist, und die Größe seines Mutes mich wider meinen Willen zur Bewunderung zwingen. Obgleich ich recht wohl das Unheil kenne, das aus dem frevelhaften Unternehmen entstanden ist, welches ihn die Pforten der Hölle sprengen ließ, um das Zusammenleben unserer ersten Eltern zu beunruhigen, so kann ich doch, was ich auch anfangen mag, nicht ein einziges Mal wünschen, ihn unterwegs im Wirrsal des Chaos sterben zu sehen. Ich glaube sogar, ich würde ihm gern helfen, wenn nicht die Scham mich zurückhielte. All seine Bewegungen verfolge ich und finde an einer Reise mit ihm ebensoviel Vergnügen, wie wenn ich in guter Gesellschaft wäre. Dabei weiß ich ganz gut, daß er trotz alledem ein Teufel ist, daß er auf dem Weg ist, das Menschengeschlecht zu verderben, daß er ein wahrer Demokrat ist, nicht von der Art wie die in Athen, sondern wie die in Paris – aber alles das kann mich von meiner Voreingenommenheit nicht heilen. Was für ein gewaltiger Plan und welche Kühnheit in der Ausführung! Als die weiten, dreifachen Pforten der Hölle sich plötzlich sperrweit vor ihm öffneten und der tiefe Abgrund des Nichts und der Nacht zu seinen Füßen mit all seinem Grauen sich auftat, da durcheilte er unerschrockenen Blickes das düstere Reich des Chaos; ohne Zaudern entfaltete er seine gewaltigen Flügel, die ein ganzes Heer hätten bedecken können, und stürzte sich in den Abgrund hinab. Ich rede für ihn aufs kühnste. Und meiner Meinung nach ist dies eine der schönsten Leistungen der Einbildungskraft wie auch eine der schönsten Reisen, die jemals gemacht worden sind – abgesehen von der Reise um mein Zimmer.
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38. KAPITEL Ich könnte kein Ende finden, wenn ich auch nur den tausendsten Teil der Ereignisse beschreiben wollte, die mir zustoßen, sooft ich in der Nähe meiner Bibliothek reise. Cooks Reisen und die Beobachtungen seiner Reisegefährten, der Doktoren Banks und Solander, sind nichts im Vergleich mit meinen Abenteuern in diesem einen Bezirk. Ich würde dort auch vermutlich mein Leben in einer Art von Verzückung zubringen, wenn nicht die obenerwähnte Büste wäre, auf die meine Augen und Gedanken schließlich sich immer richten, wie auch meine Seele gestimmt sein mag. Und ist sie zu heftig erregt oder gibt sie sich der Mutlosigkeit hin, so brauche ich nur die Büste anzusehen, um sie wieder in ihre natürliche Stimmung zu versetzen: diese Büste ist die Stimmgabel, mit der ich das veränderliche und disharmonische Zusammentreffen von Empfindungen und Eindrücken, das mein Dasein bildet, in Einklang bringe. Wie ähnlich sie ist! Das sind ganz die Züge, welche die Natur dem tugendhaftesten Menschen gegeben hat. Ach, wenn der Bildhauer seine vortreffliche Seele, sein Genie und seinen Charakter hätte sichtbar machen können! Doch was habe ich getan? Ist denn hier der Ort, ihm eine Lobrede zu halten? Muß ich sie an die Menschen richten, die mich umgeben? Ach, was kümmert es sie? Mir ist es genug, vor deinem geliebten Bild niederzufallen, du bester der Väter! Ach, dieses Bild ist alles, was mir von dir und meinem Vaterland übriggeblieben ist: du hast die Erde in dem Augenblick verlassen, wo das Verbrechen seinen Einzug hielt. Und so groß ist das Unglück, mit dem es uns überhäuft, daß sogar deine Familie gezwungen ist, heute deinen Verlust als eine Wohltat anzusehen. Was für Unglück hättest du bei längerem Leben noch erdulden müssen! O mein Vater, ist dir in den Stätten der Seligkeit das Los deiner zahlreichen Familie bekannt? Weißt du, daß deine Kinder aus dem Vaterland, dem du sechzig Jahre hindurch eifrig und unbescholten gedient hast, verbannt sind? Aber die Tyrannei hat ihnen das kostbare Teil deines Er54
bes nicht rauben können: das Andenken an deine Tugenden und die Kraft deines Vorbildes. Inmitten des verbrecherischen Stroms, der ihr Vaterland und ihre Habe in den Abgrund hinabriß, sind sie unveränderlich auf der Bahn vereint geblieben, die du ihnen vorgezeichnet hattest, und wenn sie noch einmal bei deiner verehrten Asche niederknien dürfen, wird diese sie jederzeit wiedererkennen. 39. KAPITEL Ich habe ein Zwiegespräch versprochen: ich halte Wort. Es war eines Morgens gegen Tagesanbruch. Die Strahlen der Sonne vergoldeten die Spitze des Monte Viso und zugleich die Gipfel der höchsten Berge auf der Insel unserer Antipoden, und schon war »das andere« wach, sei es, daß sein vorzeitiges Erwachen die Wirkung nächtlicher Traumgesichte war, die es oft in eine ebenso ermüdende wie unnütze Aufregung versetzen, sei es, daß der Karneval, der gerade zu Ende ging, die verborgene Ursache seines Erwachens war, denn diese Zeit der Freude und der Torheit ebenso wie die Veränderung des Mondes und der Stellung gewisser Planeten hat ja Einfluß auf die menschliche Maschine. Kurz, es war wach, und zwar sehr wach, als meine Seele sich von den Banden des Schlafes losmachte. Schon lange fühlte diese, wenn auch nur unklar, die Empfindungen »des andern« mit; aber sie war noch in den Schleier der Nacht und des Schlafes eingehüllt, und dieser Schleier schien ihr in Gaze, in Linon, in indische Leinwand verwandelt zu sein. In all dieses Zeug also war meine arme Seele eingepackt, und um sie in seinem Reich fester zu halten, fügte der Gott des Schlafes seinen eigenen Fesseln noch wirre blonde Locken, Bandschleifen und Perlenhalsbänder hinzu: es war ein Jammer, sie in diesen Netzen zappeln zu sehen. Die Aufregung des edelsten Teiles meines Selbst teilte sich »dem andern« mit, und dies wirkte wiederum mächtig auf meine Seele ein. Ich war ganz und gar in einen schwer zu beschreibenden Zustand geraten, als meine Seele durch Scharf55
sinn oder Zufall ein Mittel fand, sich aus der Gaze zu befreien, die sie erstickte. Ob sie eine Öffnung bemerkte oder ob sie, was natürlicher ist, sich ganz einfach einfallen ließ, sie zu beseitigen, weiß ich nicht; Tatsache ist, daß sie den Ausweg aus dem Labyrinth fand. Die wirren Locken waren zwar immer noch da, aber sie waren kein Hindernis mehr, sondern vielmehr ein Hilfsmittel: meine Seele faßte sie, wie ein Mensch, der im Begriff ist zu ertrinken, sich an dem Gras des Ufers festklammert. Aber das Perlenhalsband zerriß beim Anfassen, und die Perlen glitten von der Schnur und rollten auf das Sofa und von da auf den Fußboden der Frau von Hautcastel; denn vermöge einer Grille, deren Grund schwer anzugeben wäre, glaubte meine Seele bei dieser Frau zu sein. Ein dicker Veilchenstrauß fiel auf die Erde; meine Seele erwachte darüber, kam wieder nach Hause und brachte Vernunft und Wirklichkeit wieder mit. Wie man sich denken kann, mißbilligte sie alles sehr, was in ihrer Abwesenheit vorgefallen war, und hier beginnt nun das Zwiegespräch, das Gegenstand dieses Kapitels ist. Niemals war meine Seele übler angekommen. Die Vorwürfe, die sie in diesem bedenklichen Augenblick zu machen sich einfallen ließ, brachten das Hauswesen vollständig in Unordnung; es brach eine Empörung, ein förmlicher Aufstand aus. »So also treibst du's!« sagte meine Seele. »Statt in meiner Abwesenheit die Kräfte durch einen ruhigen Schlaf zu stärken und dich zur Ausführung meiner Befehle geeigneter zu machen, unterfängst du dich frecherweise« (der Ausdruck war etwas stark), »dir Freuden zu erlauben, die mein Wille nicht gebilligt hat.« An diesen stolzen Ton wenig gewöhnt, entgegnete ihr »das andere« zornig: »Es steht Ihnen gut, gnädige Frau« (es wollte jeden Gedanken an Vertraulichkeit von dem Wortwechsel fernhalten), »es steht Ihnen gut, sich den Schein der Züchtigkeit und der Tugend zu geben! Wie, sind denn nicht die Ausschweifungen Ihrer Einbildungskraft und Ihre ungereimten Gedanken an allem schuld, was Ihnen an mir mißfällt? Weshalb waren Sie nicht zu Hause? Weshalb soll56
ten Sie das Recht haben, sich auf den häufigen Reisen, die Sie ganz allein machen, stets ohne mich zu amüsieren? Habe ich jemals Ihren Aufenthalt am Ort der Seligen oder in den Gefilden Elysiums, Ihre Unterhaltung mit den Geistern, Ihre tiefen Spekulationen« (etwas spöttisch, wie man sieht), »Ihre Luftschlösser, ihre erhabenen Systeme mißbilligt? Und ich sollte, wenn Sie mich so im Stich lassen, nicht das Recht haben, die Wohltaten zu genießen, die mir die Natur gewährt, und die Freuden, die sie mir bietet?« Über ein solches Maß an Lebhaftigkeit und Beredsamkeit erstaunt, wußte meine Seele nicht, was sie antworten sollte. Um den Streit beizulegen, gedachte sie die Vorwürfe, die »es« sich eben erlaubt hatte, mit dem Mantel der Liebe zu bedekken, und um sich nicht den Anschein zu geben, als täte sie den ersten Schritt zur Versöhnung, ließ sie sich einfallen, auch einen förmlicheren Ton anzunehmen. »Mein Herr«, sagte sie nun mit einer erkünstelten Herzlichkeit. (Wenn der Leser den Ausdruck »gnädige Frau« nicht für passend gehalten hat, als er sich auf meine Seele bezog, was wird er dann jetzt erst sagen, besonders wenn er an den Gegenstand des Wortwechsels denkt. Meine Seele fühlte das äußerst Lächerliche dieser Redeweise gar nicht, so sehr nahm die Leidenschaft den Verstand gefangen!) Sie sagte also: »Ich versichere Ihnen, mein Herr, daß mir nichts so viel Vergnügen machen würde, wie wenn ich Sie alle Freuden, deren ihre Natur fähig ist, genießen sähe, auch wenn ich sie selber nicht teilte – wenn nur diese Freuden nicht schädlich wären und nicht die Eintracht störten, die –« Gar lebhaft wurde hier meine Seele unterbrochen: »Nein, nein, von Ihrem vermeintlichen Wohlwollen will ich nicht zum besten gehalten werden: das gezwungene Verweilen von uns beiden hier in dem Zimmer, in dem wir reisen; die mir beigebrachte Wunde, die mich fast umgebracht hätte und jetzt noch blutet – ist das nicht alles die Frucht Ihres übermäßigen Stolzes und Ihrer barbarischen Vorurteile? Mein Wohlbefinden und mein Dasein werden für nichts geachtet, wenn Ihre Leidenschaften Sie hinreißen – und Sie behaupten, daß Sie an mir Anteil nehmen und daß Ihre Vorwürfe aus Ihrer Freundschaft entspringen?« 57
Meine Seele sah wohl, daß sie bei dieser Gelegenheit nicht die beste Rolle spielte. Obendrein bemerkte sie gerade, daß die Hitze des Wortwechsels dessen Ursache nicht mehr deutlich erkennen ließ. Sie benutzte also die Gelegenheit, davon abzulenken, und sagte zu Joannetti, der eben ins Zimmer trat: »Mach Kaffee!« Das Klappern der Tassen erregte die ganze Aufmerksamkeit des aufrührerischen Wesens, und im Augenblick vergaß es alles andere. So zeigt man Kindern ein Spielzeug, um ihre Gedanken von den ungesunden Früchten abzulenken, die sie ungeduldig verlangen. Allmählich beruhigte ich mich, während das Wasser kochte. Ich genoß das reizende Vergnügen, von dem ich dem Leser erzählt habe, das Vergnügen nämlich, zu fühlen, wie ich schlief. Das angenehme Geräusch, das Joannetti machte, als er mit der Kaffeekanne an den Feuerbock stieß, hallte in meinem Gehirn wider und ließ alle empfindungsfähigen Fasern erzittern, wie die Schwingungen einer Saite auf der Harfe die Oktaven erklingen lassen. Endlich sah ich etwas wie einen Schatten vor mir, ich schlug die Augen auf, es war Joannetti. Oh, welcher Duft, was für eine angenehme Überraschung! Kaffee, Sahne, eine Pyramide gerösteten Brotes! Lieber Leser, frühstücke mit mir! 40. KAPITEL Was für einen reichen Schatz an Genüssen hat die gütige Natur dem Menschen gewährt, dessen Herz zu genießen versteht! Und welche Abwechslung in diesen Genüssen! Wer kann ihre zahllosen Abstufungen bei den verschiedenen Einzelwesen und in den verschiedenen Lebensaltern angeben? Bei der, wenn auch nur undeutlichen Erinnerung an die Genüsse meiner Kindheit zittere ich noch jetzt. Soll ich den Genuß eines Jünglings zu beschreiben versuchen, dessen Herz in der vollen Glut des Gefühls zu entbrennen beginnt? In diesem glücklichen Alter, wo man Eigennutz, Ehrgeiz, Haß und alle die schmählichen Leidenschaften, welche die Menschheit erniedri58
gen und quälen, noch nicht einmal dem Namen nach kennt, in dieser, ach, nur zu kurzen Zeit scheint die Sonne mit einem Glanz, den man im späteren Leben nicht mehr wiederfindet. Die Luft ist reiner, die Quellen sind klarer und frischer, die Natur zeigt Bilder, die Wälder haben Pfade, die man im reifen Alter nicht mehr wiederfindet. Gott, welcher Duft entströmt diesen Blumen, wie köstlich sind diese Früchte, mit welchen Farben schmückt sich die Morgenröte! Alle Frauen sind liebenswürdig und treu, alle Männer gut, edel, gefühlvoll; überall findet man Vertraulichkeit, Offenherzigkeit, Selbstlosigkeit. Es gibt in der Natur nur Blumen, Tugenden, Freuden. Die Unruhe der Liebe, die Hoffnung auf Glück – lassen sie nicht unser Herz höher schlagen in Gefühlen, die ebenso lebhaft wie mannigfaltig sind? Das Schauspiel der Natur und seine Betrachtung im ganzen und im einzelnen gewähren der Vernunft eine endlose Reihe von Genüssen. Alsbald schwebt die Phantasie über diesem Meer von Freuden und vermehrt ihre Anzahl und ihre Kraft; die verschiedenen Empfindungen vereinigen und verbinden sich und schaffen neue Empfindungen: in die Träume des Ruhms pocht das Herzklopfen der Liebe; an der Seite der Eigenliebe schreitet die Wohltätigkeit einher und reicht ihr die Hand; von Zeit zu Zeit breitet die Schwermut ihren feierlichen Schleier über uns aus und verwandelt unsere Tränen in Freude. Kurz, die Wahrnehmungen des Geistes, die Empfindungen des Herzens, sogar die Erinnerungen der Sinne sind für den Menschen unerschöpfliche Quellen der Freude und des Glückes. Darum staune man nicht, daß das Geräusch, das Joannetti machte, als er mit der Kaffeekanne an den Feuerbock stieß, und der unerwartete Anblick einer Tasse mit Sahne auf mich einen so lebhaften und angenehmen Eindruck machte.
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41. KAPITEL Alsbald legte ich mein Reisekleid an, nachdem ich es zuvor mit Wohlgefallen betrachtet hatte. In demselben beschloß ich ein Kapitel ad hoc zu schreiben, um den Leser damit bekannt zu machen. Da Form und Nutzen dieser Kleidungsstücke allgemein genug bekannt sind, so will ich eingehender ihren Einfluß auf den Geist der Reisenden behandeln. Mein Reisekleid für den Winter ist aus dem wärmsten und weichsten Stoff gemacht, den ich nur habe finden können; es hüllt mich vollständig von Kopf bis zu Fuß ein, und wenn ich in meinem Lehnstuhl sitze, die Hände in den Taschen und den Kopf in den Kragen vergraben, so gleiche ich dem fußund handlosen Standbild Wischnus, wie man es in den indischen Pagoden sieht. Wer Lust hat, kann den Einfluß, den ich den Reisekleidern auf die Reisenden zuschreibe, für ein Vorurteil halten. Was ich jedoch in dieser Hinsicht bestimmt behaupten kann, ist, daß es mir ebenso lächerlich vorkäme, in meiner Uniform und mit dem Degen an der Seite auch nur einen einzigen Schritt auf meiner Reise um mein Zimmer zu tun, wie im Hauskleid auszugehen und unter den Leuten zu erscheinen. Wenn ich mich so nach allen Regeln der Kleiderordnung angezogen sehe, dann wäre es mir nicht nur nicht möglich, meine Reise fortzusetzen, sondern ich glaube auch, daß ich nicht imstande wäre, das, was ich bis jetzt darüber geschrieben habe, zu lesen, geschweige denn zu begreifen. Aber das setzt euch in Erstaunen? Sieht man denn nicht alle Tage Leute, die sich für krank halten, weil sie einen langen Bart haben oder weil es jemandem einfällt zu finden, daß sie schlecht aussehen, und ihnen das auch zu sagen? Die Kleidung hat einen so großen Einfluß auf den Geist der Menschen, daß es kränkliche Leute gibt, die sich besser fühlen, wenn sie einen neuen Rock und eine gepuderte Perücke anhaben; ja, es gibt Menschen, welche die Leute und sich selbst durch fortgesetztes Putzen so sehr täuschen, daß sie eines schönen Morgens vollständig frisiert sterben und ihr Tod jedermann überrascht. 60
Einmal wurde es vergessen, dem Grafen von … einige Tage vorher mitzuteilen, daß er auf Wache ziehen sollte. An dem Tag, da er Wachdienst hatte, kam morgens in aller Frühe ein Korporal, der ihn weckte und ihm die traurige Nachricht brachte. Aber der Gedanke, sogleich aufzustehen, seine Gamaschen anzuziehen und so wegzugehen, ohne daß er den Abend vorher daran gedacht hatte, beunruhigte ihn so sehr, daß er lieber sagte, er sei krank, und nicht aus dem Haus ging. Er legte also sein Hauskleid an und schickte den Perükkenmacher wieder weg; dadurch bekam er ein bleiches, krankes Aussehen, das seine Frau und seine ganze Familie beunruhigte. – Er fühlte sich an diesem Tag tatsächlich selbst etwas matt. Das sagte er dann allen Leuten, teils, um seiner Aussage treu zu bleiben, teils auch, weil er es ernstlich zu sein glaubte. Unmerklich wirkte der Einfluß des Hauskleides: die Fleischbrühe, die er gutwillig oder gezwungen getrunken hatte, verursachte ihm Übelkeit; bald ließen sich Verwandte und Freunde nach seinem Befinden erkundigen; es fehlte nicht viel daran, daß er sich wirklich zu Bett gelegt hätte. Abends fand der Doktor Ranson* den Puls des Grafen sehr schwach und ordnete für den folgenden Morgen einen Aderlaß an. Hätte der Dienst noch einen Monat länger gedauert, wäre es um den Kranken geschehen gewesen. Wer könnte also an dem Einfluß der Reisekleider auf die Reisenden zweifeln, wenn man bedenkt, daß der arme Graf … mehr als einmal die Reise in die andere Welt antreten zu müssen glaubte, weil er in dieser Welt sein Hauskleid zur unrechten Zeit angezogen hatte. 42. KAPITEL Nach Tische saß ich eingehüllt in mein Reisekleid, dessen Einfluß ich mich freiwillig überließ, beim Feuer und erwartete die Stunde der Abreise, als die Dünste der Verdauung * Ein sehr bekannter Arzt in Turin zu der Zeit, als dieses Kapitel geschrieben wurde (Anmerkung des Verfassers). 61
sich auf mein Gehirn schlugen und alle Zugänge, durch welche die Gedanken von den Sinnen aus dorthin gelangen, so völlig versperrten, daß jede Verbindung abgeschnitten wurde. Und ebenso wie meine Sinne meinem Gehirn keinen Gedanken mehr zukommen ließen, konnte dieses hinwiederum das elektrische Fluidum nicht mehr entsenden, das sie belebt und mit dem der geistreiche Doktor Valli tote Frösche wieder lebendig macht. Wenn man diese Vorbemerkung gelesen hat, wird man leicht begreifen, weshalb mein Kopf auf meine Brust sank und weshalb die Muskeln des Daumens und des Zeigefingers der rechten Hand, die nicht mehr von jenem Fluidum angeregt waren, so schlaff wurden, daß ein Band von den Werken des Marquis Caraccioli, den ich mit jenen beiden Fingern festhielt, mir unbemerkt entglitt und auf den Herdrand fiel. Kurz vorher hatte ich Besuch gehabt, und meine Unterhaltung mit den inzwischen gegangenen Leuten hatte sich um den Tod des berühmten Arztes Cigna gedreht, der eben gestorben war und allgemein betrauert wurde. Er war gelehrt, fleißig, ein guter Physiker und ein berühmter Pflanzenkenner gewesen. Das Verdienst dieses geschickten Mannes beschäftigte mein Denken; aber dennoch, sagte ich zu mir, wenn es mir gestattet wäre, die Seelen aller derer wieder heraufzurufen, die er etwa in die andere Welt geschickt hat, wer weiß, ob nicht sein Ruf einigen Schaden litte? Unbemerkt fing ich eine Betrachtung an über die Heilkunde und die Fortschritte, die sie seit Hippokrates gemacht hat. Ich frage mich, ob die berühmten Persönlichkeiten des Altertums, die in ihrem Bett gestorben sind, wie Perikles, Plato, die berühmte Aspasia und Hippokrates selbst, wohl wie gewöhnliche Leute an einem Faulfieber, Entzündungsfieber oder Wurmfieber gestorben wären; ob man ihnen zur Ader gelassen und sie mit Arzneien vollgepfropft hätte. Sollte ich sagen, weshalb ich an diese vier Persönlichkeiten eher als an andere gedacht hätte, so wäre mir das unmöglich. Wer kann schon über einen Traum Rechenschaft ablegen? Ich kann nur sagen, daß meine Seele den Arzt von Kos, 62
den aus Turin und den berühmten Staatsmann herbeirief, der so schöne Sachen und so große Fehler machte. Was aber seine schöne Freundin betrifft, so bekenne ich demütig, daß »das andere« ihr ein Zeichen gegeben hat. Gleichwohl wäre ich, wenn ich daran denke, versucht, etwas wie Stolz zu empfinden; denn es ist offenbar, daß bei diesem Traum die Sache wie vier zu eins zugunsten der Vernunft stand. – Das ist viel für einen Soldaten in meinem Alter. Wie dem aber auch sei, während ich mich diesen Gedanken überließ, fielen mir die Augen vollständig zu, und ich schlief fest ein; wenn mir aber auch die Augen zufielen, blieb doch das Bild der Persönlichkeiten, an die ich gedacht hatte, auf jener feinen Leinwand zurück, die man Gedächtnis nennt, und da diese Bilder sich in meinem Gehirn mit dem Gedanken an die Auferweckung der Toten verbanden, so sah ich bald einen nach dem andern, Hippokrates, Plato, Perikles, Aspasia und den Doktor Cigna mit seiner Perücke, heraufsteigen. Ich sah, wie sie alle sich auf die Stühle setzten, die noch um das Feuer herumstanden; Perikles allein blieb stehen, um die Zeitungen zu lesen. »Wenn die Entdeckungen«, sagte Hippokrates zu dem Doktor, »von denen du mir erzählst, wahr und für die Medizin so nützlich gewesen wären, wie du behauptest, so hätte ich wohl gesehen, daß die Zahl der Menschen sich verminderte, die jeden Tag in das Schattenreich hinabsteigen und deren gewöhnliche Liste nach den von mir selbst beglaubigten Registern des Minos noch stets ebenso lang ist wie sonst.« Doktor Cigna wandte sich zu mir. »Sie haben gewiß von diesen Entdeckungen sprechen hören«, sagte er zu mir; »Sie kennen Harveys Entdeckung über den Blutkreislauf, die des unsterblichen Spallanzani über die Verdauung, deren ganzen Vorgang wir jetzt kennen?« Und dann hielt er eine lange Rede über alle Entdeckungen, die sich auf die Medizin beziehen, und über die Menge von Heilmitteln, die man der Chemie verdankt; kurz, er hielt einen akademischen Vortrag zur Verteidigung der neueren Medizin. »Wie könnte ich glauben«, erwiderte ich ihm darauf, »daß 63
diese großen Leute alles das nicht wüßten, was Sie soeben gesagt haben, und daß für ihre von den Fesseln der Materie befreite Seele irgendwo in der Natur etwas dunkel wäre?« »Ach, wie sehr du dich irrst«, rief der Generalarzt* der Peloponnes, »die Geheimnisse der Natur sind den Toten ebenso verborgen wie den Lebenden. Der alles geschaffen hat und regiert, weiß allein das große Geheimnis, das die Menschen sich umsonst zu enthüllen bemühen. Das lernen wir sicher an den Ufern des Styx; und glaube mir«, fügte er hinzu und richtete seine Worte an den Doktor, »lege diesen Rest von Korpsgeist ab, den du aus der Heimstatt der Sterblichen mitgebracht hast. Und dann, da die Arbeiten von tausend Geschlechtern und alle Entdeckungen der Menschen ihr Dasein nicht um einen Augenblick haben verlängern können, da Charon jeden Tag eine gleiche Zahl von Schatten in seinem Nachen übersetzt, so wollen wir uns nicht mehr damit plagen, eine Kunst zu verteidigen, die bei den Toten, unter denen wir weilen, nicht einmal den Ärzten nützlich sein würde.« So sprach zu meinem großen Erstaunen der berühmte Hippokrates. Der Doktor Cigna lächelte, und da die Geister sich klarer Einsicht nicht verschließen noch die Wahrheit verschweigen können, stimmte er nicht nur dem Hippokrates bei, sondern er gestand sogar – und errötete dabei nach Art der Geister –, daß er stets daran gezweifelt habe. Perikles, der ans Fenster getreten war, stieß einen tiefen Seufzer aus, dessen Ursache ich erriet. Er las eine Nummer des »Moniteur«, die von dem Verfall der Künste und Wissenschaften berichtete. Er sah, wie berühmte Gelehrte ihre erhabenen Spekulationen verließen, um neue Verbrechen zu erfinden; schaudernd vernahm er, daß eine Horde Kannibalen sich mit den Helden des hochherzigen Griechenlands verglich, ohne Scheu und Gewissensbisse ehrwürdige Greise, Frauen und Kinder auf dem Schafott tötete und mit kaltem Blut die wildesten und nutzlosesten Verbrechen beging. * Ein sehr bekannter Titel in der Gesetzgebung des Königs von Sardinien. Er ist hier als ein rein lokaler Scherz aufzufassen (Anmerkung des Verfassers). 64
Als Plato sah, daß unsere Unterhaltung, der er, ohne etwas zu sagen, zugehört hatte, plötzlich in so unerwarteter Weise abgebrochen wurde, ergriff er ebenfalls das Wort. »Ich begreife«, sagte er zu uns, »wie die Entdeckungen, die eure großen Männer in allen Zweigen der Physik gemacht haben, der Medizin, die den Lauf der Natur immer nur auf Kosten des Menschenlebens verändern kann, nichts genützt haben; aber mit den Untersuchungen, die man über die Politik angestellt hat, verhält es sich gewiß anders. Lockes Entdeckungen über die Natur des menschlichen Geistes, die Erfindung der Buchdruckerkunst, die vielfachen aus der Geschichte gewonnenen Beobachtungen, so viele grundgelehrte Bücher, welche die Wissenschaft bis unter das Volk ausgebreitet haben – kurz, so viele Wunder haben doch sicherlich dazu beigetragen, die Menschen besser zu machen und jene glückliche und weise Republik, die ich erdacht habe und die ich in dem Jahrhundert, in dem ich lebte, für einen unausführbaren Traum anzusehen lernen mußte, ist gewiß heutzutage in der Welt vorhanden?« Auf diese Frage schlug der ehrenwerte Doktor die Augen nieder und antwortete nur mit Tränen. Als er diese dann mit seinem Taschentuch trocknete, schob er, ohne es zu wollen, seine Perücke etwas zur Zeite, so daß ein Teil seines Gesichts davon verdeckt wurde. »Unsterbliche Götter!« rief Aspasia und stieß einen durchdringenden Schrei aus, »was für ein sonderbares Gesicht! Ist das auch eine Entdeckung eurer großen Männer, daß ihr euch einfallen laßt, euch so mit dem Schädel eines andern zu frisieren?« Aspasia, die sich bei den Unterhaltungen der Philosophen langweilte, hatte eine Modezeitung, die auf dem Kamin lag, zur Hand genommen und blätterte darin schon seit einiger Zeit, als die Perücke des Arztes ihr jenen Ausruf entlockte. Und da der enge und wacklige Stuhl, auf dem sie saß, für sie sehr unbequem war, hatte sie ohne weiteres ihre beiden nackten, mit Bändern geschmückten Beine auf den Strohstuhl gelegt, der zwischen ihr und mir stand, und stützte sich mit dem Ellbogen auf eine von Platos breiten Schultern. 65
»Das ist gar kein Schädel«, erwiderte ihr der Doktor, nahm seine Perücke und warf sie ins Feuer; »das ist eine Perücke, mein Fräulein, und ich weiß nicht, weshalb ich nicht diesen lächerlichen Putz in die Flammen des Tartarus geworfen habe, als ich bei euch eintraf. Aber die Lächerlichkeiten und die Vorurteile sitzen in unserer elenden Natur so fest, daß sie uns auch noch eine Zeitlang über das Grab hinaus verfolgen.« Es machte mir eine besondere Freude zu sehen, wie der Doktor so auf einmal seiner Medizin und seiner Perücke abschwor. »Du kannst mir glauben«, sagte Aspasia zu ihm, »daß die meisten Arten von Kopfputz, die in dem Heft, das ich durchblättere, dargestellt sind, dasselbe Schicksal verdienten wie der deine, so närrisch sind sie.« Der schönen Athenerin machte es ein außerordentliches Vergnügen, diese Kupferstiche zu betrachten, und mit Recht staunte sie über die Mannigfaltigkeit und Wunderlichkeit der modernen Kleidung. Eine Figur vor allem machte sie stutzig: es war das Bild einer jungen Dame mit einem äußerst eleganten Kopfputz, den Aspasia nur ein wenig zu hoch fand; aber das Gazestück, das ihren Hals bedeckte, war so außerordentlich breit, daß man kaum das halbe Gesicht sah. Da Aspasia nicht wußte, daß diese ungeheuerlichen Formen nur durch Stärke hervorgebracht wurden, so konnte sie sich nicht enthalten, ihre Verwunderung darüber auszusprechen, die sich im umgekehrten Sinne verdoppelt hätte, wenn die Gaze durchsichtig gewesen wäre. »Verstehst du denn eigentlich«, sagte sie, »warum die Frauen der heutigen Zeit eher Kleider zu tragen scheinen, um sich zu verbergen, als sich zu bekleiden? Kaum lassen sie ihr Gesicht noch sehen, an dem allein man ihr Geschlecht erkennen kann, so sehr sind die Formen ihres Körpers durch die wunderlichen Falten der Stoffe entstellt. Von allen Gestalten, die in diesen Blättern dargestellt sind, läßt keine den Hals, die Arme und die Beine unbedeckt: warum haben eure jungen Krieger noch nicht versucht, eine derartige Tracht abzuschaffen? Offenbar«, setzte sie hinzu, »übertrifft die Tugendhaf66
tigkeit der heutigen Frauen, die in ihrer ganzen Kleidung zutage tritt, bei weitem die meiner Zeitgenossinnen.« Als Aspasia diese Worte gesprochen hatte, sah sie mich an und schien eine Antwort zu verlangen. Ich tat, als merkte ich es nicht, und um mir ein vornehmes Aussehen zu geben, stieß ich mit der Zange die Überbleibsel von des Doktors Perücke, die den Flammen entgangen waren, in die Kohlenglut. Da ich sodann bemerkte, daß sich eines von den Bändern, mit denen Aspasias Halbstiefel zugeschnürt wurde, gelöst hatte, sagte ich zu ihr: »Erlaube mir, du reizendes Wesen …« Und als ich so sprach, bückte ich mich schnell und streckte die Hände nach dem Stuhl aus, auf dem ich die beiden Beine zu sehen glaubte, die vorzeiten schon große Philosophen zu Torheiten verleitet hatten. Ich bin überzeugt, daß ich in diesem Augenblick dem wahrhaftigen Somnambulismus nahe war, denn die eben bezeichnete Bewegung machte ich tatsächlich. Aber in Wahrheit lag Rosine auf dem Stuhl, und da sie diese Bewegung als eine Einladung an sie auffaßte und behende auf meine Arme sprang, so stürzte sie die berühmten, von meinem Reisekleid heraufbeschworenen Schatten in die Unterwelt zurück. Ich muß dich verlassen, du reizendes Land der Phantasie, welches der Allgütige den Menschen geschenkt hat, um sie über die Wirklichkeit zu trösten. Gerade heute gedenken gewisse Leute, von denen ich abhängig bin, mir die Freiheit wiederzugeben. Als ob sie mir sie genommen hätten! Als ob es in ihrer Macht stände, sie mir einen einzigen Augenblick zu rauben und mich zu hindern, den weiten, stets vor mir offenen Weltenraum nach meinem Belieben zu durchwandern! Sie haben mir verboten, eine Stadt, einen Ort zu besuchen, aber sie haben mir das ganze Weltall gelassen: Unendlichkeit und Ewigkeit stehen zu meinen Diensten. Heute also bin ich frei oder vielmehr werde ich wieder in Fesseln geschlagen! Das Joch der Geschäfte wird von neuem auf mir lasten; keinen Schritt werde ich mehr tun, der nicht von Anstand und Pflicht vorgeschrieben wäre. Ich bin noch 67
glücklich, wenn nicht eine launische Göttin mich das eine oder andere vergessen läßt und ich dieser neuen und gefährlichen Gefangenschaft entrinne! Ei, warum ließen sie mich denn meine Reise nicht vollenden? Hatten sie mich denn, um mich zu bestrafen, in mein Zimmer gebannt – in diese köstliche Gegend, die alle Güter und allen Reichtum der Welt in sich birgt? Ebensogut könnte man eine Maus in einen Kornspeicher einsperren. Und doch habe ich niemals deutlicher eingesehen, daß ich ein zwiefaches Wesen bin. Während ich die Genüsse meiner Phantasie ungern verlasse, werde ich doch darüber mit Gewalt getröstet: eine geheime Macht zieht mich fort; sie sagt mir, ich bedürfe der frischen Luft und die Einsamkeit gleiche dem Tode. Ich bin angekleidet – meine Tür öffnet sich: ich wandle unter den weiten Säulenhallen der Poststraße. Tausend angenehme Bilder schweben vor meinen Augen auf und ab. – Ja, das ist das Haus – die Tür, die Treppe. Ich zittere schon im voraus. So empfindet man einen herben Vorgeschmack, wenn man eine Zitrone durchschneidet, um sie zu essen. O mein Tier, mein armes Tier, habe acht auf dich!
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DIE NÄCHTLICHE REISE UM MEIN ZIMMER
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1. KAPITEL Um das neue Zimmer, in dem ich eine Nachtfahrt unternommen habe, interessant zu machen, muß ich den Wißbegierigen erzählen, wie es mir zuteil geworden ist. In dem geräuschvollen Haus, das ich bewohnte, stets bei meinen Beschäftigungen gestört, hatte ich schon lange vor, mir in der Nachbarschaft einen einsameren Zufluchtsort zu verschaffen, als ich eines Tages beim Durchfliegen einer biographischen Notiz über Herrn von Buffon las, daß dieser berühmte Mann sich in seinen Gärten ein alleinstehendes Sommerhaus ausgesucht hatte, in dem kein anderes Möbel war als ein Lehnstuhl und der Schreibtisch, an dem er schrieb, und kein anderes Werk als das Manuskript, an dem er arbeitete. Die Hirngespinste, mit denen ich mich beschäftige, sind den unsterblichen Werken Buffons so ungleich, daß der Gedanke, ihn auch nur in diesem Punkt nachzuahmen, mir gewiß nie in den Sinn gekommen wäre, wenn nicht ein Zufall mich darauf gebracht hätte. Als ein Diener den Staub von den Möbeln putzte, glaubte er auf einem Pastellgemälde, das ich erst eben vollendet hatte, viel Staub zu sehen und wischte es mit einem Tuch so gut ab, daß er es wirklich von allem Staub befreite, den ich mit großer Sorgfalt darauf angebracht hatte. Als ich ihm, solange er abwesend war, sehr gezürnt und ihm – wie es meine Gewohnheit ist – nach seiner Rückkehr nichts gesagt hatte, zog ich sogleich Erkundigungen ein und kam mit dem Schlüssel zu einem kleinen Zimmer wieder heim, das ich im fünften Stockwerk in der Vorsehungsstraße gemietet hatte. Am selben Tag noch ließ ich die Materialien für meine Lieblingsbeschäftigung dorthin schaffen, und sicher vor Bedientenlärm und Gemäldeabputzern, brachte ich seitdem dort den größten Teil meiner Zeit zu. Wie Minuten verflogen mir in diesem einsamen Winkel die Stunden, und mehr als ein-
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mal habe ich über meinen Träumereien die Stunde des Mittagessens vergessen. Süße Einsamkeit, ich habe die Reize kennengelernt, mit denen du deine Liebhaber trunken machst. Wehe dem, der nicht einen einzigen Tag seines Lebens allein sein kann, ohne die Qualen der Langeweile zu empfinden, und der, wenn es sein muß, sich lieber mit Dummköpfen als mit sich selber unterhält. Ich will es nur frei bekennen: In großen Städten liebe ich die Einsamkeit, aber wenn ich nicht durch irgendwelchen wichtigen Umstand, wie eine Reise um mein Zimmer, dazu gezwungen bin, will ich nur morgens Einsiedler sein; abends sehe ich gern wieder menschliche Gesichter. Dann heben die Unzuträglichkeiten des gesellschaftlichen Lebens und der Einsamkeit einander auf, und diese beiden Daseinsarten verschönern sich gegenseitig. Indes sind die Wandelbarkeit und das Geschick der Dinge dieser Welt so beschaffen, daß selbst das lebhafte Vernügen, das ich in meiner neuen Wohnung genoß, mich hätte voraussehen lassen müssen, wie kurze Zeit nur es dauern würde. Die Französische Revolution, die sich nach allen Seiten ausbreitete, hatte soeben die Alpen überstiegen und stürzte sich auf Italien. Von der ersten Woge wurde ich bis nach Bologna fortgerissen. Meine Einsiedelei, in die ich alle meine Möbel bringen ließ, behielt ich bis auf glücklichere Zeiten. Seit etlichen Jahren hatte ich kein Vaterland mehr; eines schönen Morgens erfuhr ich, daß ich auch kein Amt mehr hatte. Nachdem ich ein ganzes Jahr lang Menschen und Dinge, die ich gar nicht gern hatte, gesehen und mich nach den Dingen und Menschen gesehnt hatte, die ich nicht mehr sah, kam ich nach Turin zurück. Ich mußte einen Entschluß fassen. Aus dem Gasthaus »Zur guten Frau«, wo ich abgestiegen war, ging ich in der Absicht weg, das kleine Zimmer dem Eigentümer wieder zu übergeben und mich meiner Möbel zu entledigen. Als ich meine Einsiedelei wieder betrat, hatte ich Empfindungen, die schwer zu beschreiben sind. Alles war dort in der Ordnung oder vielmehr Unordnung geblieben, in der ich sie verlassen hatte. Die an den Wänden aufgestapelten Möbel 72
waren durch die hohe Lage des Zimmers gegen Staub gesichert; meine Federn staken noch in dem ausgetrockneten Tintenfaß, und auf dem Tische fand ich einen angefangenen Brief. Ich bin noch zu Hause, sagte ich mit wahrhafter Befriedigung zu mir. Jedes Ding gemahnte mich an ein Ereignis in meinem Leben, und mein Zimmer war mit Erinnerungen ausstaffiert. Statt zum Gasthaus zurückzukehren, entschloß ich mich, die Nacht inmitten meines Eigentums zuzubringen. Ich ließ mein Felleisen holen und faßte zugleich den Entschluß, am andern Morgen, ohne mich von jemandem zu verabschieden oder mir Rat zu holen, abzureisen und mich rückhaltlos der Vorsehung zu überlassen. 2. KAPITEL Während ich mit diesen Gedanken beschäftigt war und mir auf meinen wohlentworfenen Reiseplan etwas zugute tat, verfloß die Zeit, und mein Diener kam immer noch nicht wieder. Es war ein Mensch, den ich einige Wochen vorher aus Not in meinen Dienst genommen hatte und gegen dessen Treue ich mißtrauisch geworden war. Der Gedanke, er könne mir mein Felleisen gestohlen haben, war mir kaum in den Sinn gekommen, als ich auch schon zum Gasthaus lief: es war höchste Zeit. Als ich um die Ecke bog, in welcher der Gasthof »Zur guten Frau« liegt, sah ich ihn, begleitet von einem Packträger, der mein Felleisen trug, eilig aus der Tür kommen. Er selber hatte meine Kassette an sich genommen, und statt sich nach meiner Seite zu wenden, ging er links in eine Richtung, die der, welche er einschlagen mußte, gerade entgegengesetzt war. Seine Absicht wurde mir klar. Leicht holte ich ihn ein, und ohne ein Wort zu sagen, ging ich einige Zeit neben ihm her, bevor er mich bemerkte. Wollte man den im menschlichen Antlitz auf den höchsten Grad gestiegenen Ausdruck des Staunens und Schreckens malen, so wäre er das vollkommene Muster dazu gewesen, als er mich neben sich erblickte. Ich 73
hatte genügend Muße, es zu studieren, denn er wurde durch mein unerwartetes Erscheinen und den Ernst, mit dem ich ihn ansah, so verdutzt, daß er, ohne ein Wort hervorbringen zu können, einige Zeit mit mir weiterging, wie wenn wir zusammen auf einem Spaziergang gewesen wären. Endlich brachte er stotternd vor, er habe in der Großen Dorastraße etwas zu erledigen; aber ich brachte ihn wieder auf den richtigen Weg, und wir kamen nach Hause zurück, wo ich ihn verabschiedete. Da erst nahm ich mir vor, während der letzten Nacht, die ich in meinem Zimmer zubringen sollte, eine neue Reise darin zu machen, und einen Augenblick darauf beschäftigte ich mich auch schon mit den Vorbereitungen dazu. 3. KAPITEL Seit langer Zeit wünschte ich das Land wiederzusehen, das ich einst so fröhlich durchwandert hatte und dessen Beschreibung mir nicht vollständig zu sein schien. Einige Freunde, welche diese Beschreibung gelesen hatten, forderten mich öfter auf, sie fortzusetzen, und ohne Zweifel würde ich mich dazu eher entschlossen haben, wäre ich nicht von meinen Reisegefährten getrennt worden. Nur ungern betrat ich den Weg wieder. Ach, ich betrat ihn allein. Ich sollte ohne meinen lieben Joannetti und ohne die liebenswürdige Rosine reisen. Mein erstes Zimmer selbst war in der unseligen Revolution untergegangen – was sage ich? Es war nicht mehr vorhanden, seine Wände bildeten damals einen Teil eines schrecklichen, von den Flammen geschwärzten Mauerwerks, und alle mörderischen Erfindungen des Krieges hatten zusammengewirkt, um es von Grund auf zu zerstören.* Die Wand, an der das Bild der Frau von Hautcastel hing, war von einer Granate durchschossen. Kurz, hätte ich meine Reise nicht glücklicherweise vor dieser Katastrophe gemacht, * Dieses Zimmer lag in der Zitadelle von Turin, und die neue Reise wurde einige Zeit nach der Eroberung Turins durda die österreicher und Russen unternommen (Anmerkung des Verfassers). 74
so würden die Gelehrten unserer Tage niemals etwas von diesem merkwürdigen Zimmer erfahren haben. Ebenso wie sie ohne die Beobachtungen Hipparchs heutzutage nicht wüßten, daß ehemals im Siebengestirn ein Stern mehr war, der seit der Zeit dieses berühmten Astronomen verschwunden ist. Durch die Umstände gezwungen, hatte ich schon einige Zeit vorher mein Zimmer aufgegeben und meine Penaten anderswohin getragen. Das Unglück ist nicht eben groß, wird man einwenden. Aber wie Joannetti und Rosine ersetzen? Ach, das ist nicht möglich. Joannetti war mir so notwendig geworden, daß sein Verlust für mich nie wieder zu ersetzen ist. Wer kann sich übrigens schmeicheln, immer mit den Leuten zu leben, die er liebt. Ähnlich wie jene Mückenschwärme, die man an schönen Sommerabenden in der Luft tanzen sieht, begegnen sich die Menschen zufällig und auf kurze Zeit. Glücklich noch, wenn sie ebenso geschickt sind wie die Mükken und sich bei ihrer schnellen Bewegung die Köpfe nicht aneinander zerschlagen! Eines Abends legte ich mich zu Bett. Joannetti bediente mich mit seinem gewöhnlichen Eifer und schien sogar aufmerksamer als sonst zu sein. Als er das Licht wegnahm, richtete ich meine Blicke auf ihn, und ich gewahrte eine auffällige Veränderung in seinem Gesicht. Konnte ich aber ahnen, daß der gute Joannetti mich zum letztenmal bediente? Ich will den Leser nicht in einer Ungewißheit lassen, die grausamer ist als die Wahrheit. Lieber will ich ihm ohne Umschweife sagen, daß Joannetti sich an demselben Abend verheiratete und mich am andern Morgen verließ. Doch man klage ihn nicht der Undankbarkeit an, daß er seinen Herrn so barsch verließ. Ich kannte seine Absicht seit langer Zeit und tat unrecht daran, mich ihr zu widersetzen. Frühmorgens kam in seinem Auftrag jemand zu mir, um mir diese Botschaft zu überbringen, und ich hatte, bevor ich Joannetti wiedersah, Zeit, zornig zu werden und mich wieder zu beruhigen, was ihm die Vorwürfe ersparte, auf die er gefaßt war. Bevor er in mein Zimmer trat, tat er, als spräche er vom Gang her laut mit jemandem, damit ich glauben sollte, er habe keine Furcht; und indem er sich mit so viel Unver75
schämtheit wappnete, wie eine so gute Seele wie die seinige aufbringen konnte, trat er mit entschlossener Miene vor mich hin. Augenblicklich sah ich auf seinem Gesicht alles, was in seiner Seele vorging, und dafür war ich ihm nicht wenig dankbar. Die Spaßvögel unserer Tage haben die guten Leute wegen der Gefahren der Ehe so sehr in Schrecken versetzt, daß ein Neuvermählter oft einem Menschen gleicht, der, ohne sich Schaden zuzufügen, einen furchtbaren Fall getan und der, von Schrecken und Befriedigung zugleich verwirrt, ziemlich lächerlich aussieht. Es war also nicht verwunderlich, daß das Gebaren meines Dieners Spuren von der Wunderlichkeit seiner Lage an sich trug. »Also du bist verheiratet, mein lieber Joannetti?« sagte ich lachend zu ihm. Er hatte sich nur gegen meinen Zorn gerüstet, so daß nun alle seine Vorbereitungen umsonst waren. Plötzlich fiel er in sein gewöhnliches Benehmen zurück und sogar noch etwas tiefer, denn er fing an zu weinen. »Was wollen Sie, Herr?« sagte er zu mir mit erregter Stimme; »ich hatte mein Wort gegeben.« »Ei, zum Henker, daran hast du wohl getan, mein Freund. Mögest du mit deiner Frau und besonders mit dir selber zufrieden sein, mögest du Kinder bekommen, die dir gleichen! Wir müssen uns also trennen.« »Ja, Herr, wir gedenken uns in Asti niederzulassen.« »Und wann willst du mich verlassen?« Mit verlegener Miene schlug Joannetti die Augen nieder und erwiderte zwei Töne tiefer: »Meine Frau hat einen Fuhrmann aus ihrer Gegend getroffen, der heute mit leerem Wagen zurückfährt. Das wäre eine schöne Gelegenheit, aber … jedoch … das heißt, wenn es dem Herrn gefällt … wiewohl eine ähnliche Gelegenheit sich schwer wieder finden ließe.« »Wie, schon so bald?« sagte ich zu ihm. Kummer und Zuneigung in Verbindung mit einem guten Teil Ärger machten, daß ich einen Augenblick stillschwieg. »Nein, sicherlich«, fuhr ich ziemlich hart fort, »ich werde euch nicht zurückhalten. Reist diese Stunde noch ab, wenn es euch bequem ist.« 76
Joannetti wurde bleich. »Ja, geh, mein Freund, geh zu deiner Frau; sei immer so gut, so brav, wie du es bei mir gewesen bist.« Wir trafen einige Anordnungen; ich sagte ihm traurig Lebewohl; er ging davon. Dieser Mensch diente mir fünfzehn Jahre lang. Ein Augenblick hat uns getrennt. Ich habe ihn nicht mehr wiedergesehen. In meinem Zimmer auf und ab gehend, dachte ich über diese barsche Trennung nach. Rosine war Joannetti gefolgt, ohne daß er es bemerkte. Eine Viertelstunde nachher öffnete sich die Tür: Rosine kam herein. Ich sah, wie Joannettis Hand sie ins Zimmer schob; die Tür schloß sich wieder, und ich fühlte, wie mein Herz sich zusammenpreßte … Er kommt schon nicht mehr zu mir! Wenige Minuten haben genügt, um zwei alte Gefährten, die fünfzehn Jahre zusammengelebt haben, einander zu entfremden. O trauriges, trauriges Los der Menschheit, daß man niemals einen einzigen beständigen Gegenstand findet, auf den man die geringste seiner Neigungen setzen kann! 4. KAPITEL Auch Rosine lebte damals fern von mir. Ohne Zweifel ist es für dich, meine liebe Marie, von einigem Interesse, zu erfahren, daß sie im Alter von fünfzehn Jahren noch das liebenswürdigste Tier war und daß dieselbe überlegene Klugheit, die sie früher vor ihrer ganzen Gattung auszeichnete, ihr gleicherweise auch die Last des Alters tragen half. Ich hätte gewünscht, mich nie von ihr trennen zu müssen. Aber wenn es sich um das Schicksal unserer Freunde handelt, darf man dann nur sein eigenes Vergnügen oder Behagen im Auge haben? Für Rosines Wohl aber war es nötig, daß sie das Wanderleben, das sie mit mir führte, aufgab und in ihren alten Tagen endlich eine Ruhe genoß, die ihr Herr für sich nicht mehr erhoffte. Ihr hohes Alter nötigte mich, sie wegbringen zu lassen. Ich glaubte ihr eine Altersversorgung zuteil werden lassen zu 77
müssen. Eine wohltätige Nonne übernahm es, für sie während der ihr noch verbleibenden Lebenszeit zu sorgen, und ich weiß, daß sie in dieser Zurückgezogenheit alle die Vergünstigungen genossen hat, die ihre guten Eigenschaften, ihr Alter und ihr Ruf ihr so redlich verdient hatten. Und da ja die Natur des Menschen nun einmal so ist, daß das Glück nicht für ihn geschaffen zu sein scheint, da der Freund seinen Freund beleidigt, ohne es zu wollen, und sogar die Liebenden nicht leben können, ohne sich zu streiten – kurz, da von Lykurg bis auf unsere Tage alle Gesetzgeber mit ihren Bemühungen, die Menschen glücklich zu machen, gescheitert sind, so werde ich wenigstens den Trost haben, einen Hund glücklich gemacht zu haben. 5. KAPTIEL Nachdem ich so den Leser mit den letzten Ereignissen der Geschichte Joannettis und Rosines bekannt gemacht habe, bleibt mir nur noch übrig, ein Wort über die Seele und das Tier zu sagen, um ganz mit ihm im reinen zu sein. Diese beiden Persönlichkeiten, besonders die letztere, werden in meiner Reise nicht mehr eine ebenso interessante Rolle spielen. Ein liebenswürdiger Reisender, der denselben Weg wie ich verfolgt hat*, behauptet, sie müßten müde sein. Ach, er hat nur zu sehr recht. Nicht, als ob meine Seele etwas von ihrer Beweglichkeit verloren hätte – soweit sie wenigstens es bemerken kann –, aber jene Beziehungen zum »andern« haben sich verändert. Es besitzt nicht mehr dieselbe Lebhaftigkeit in seinen Entgegnungen; es besitzt nicht mehr – wie soll ich das erklären? – ich wollte sagen, dieselbe Geistesgegenwart, als wenn ein Tier die haben könnte! Wie dem auch sei und ohne mich auf eine lästige Erklärung einzulassen, will ich nur sagen, daß ich von dem Vertrauen, das die junge Alexandrine mir schenkte, hingerissen, ihr einen * »Zweite Reise um mein Zimmer«, Verfasser; Kap. l (Anmerkung des Verfassers). 78
von
einem
ungenannten
recht zärtlichen Brief geschrieben hatte, auf den ich eine höfliche, aber kalte Antwort erhielt, die genau mit diesen Worten schloß: »Seien Sie versichert, mein Herr, daß ich stets für Sie die Gefühle der aufrichtigsten Hochachtung bewahren werde.« »Gerechter Himmel!« rief ich alsbald, »ich bin verloren.« An diesem leidigen Tag entschloß ich mich, meine Lehre von der Seele und dem Tier nicht mehr in den Vordergrund zu stellen. Ohne zwischen diesen beiden Wesen zu unterscheiden und ohne sie zu trennen, werde ich sie demzufolge gehen lassen, so daß das eine das andere trägt, wie gewisse Kaufleute ihre Waren, und werde, um jede Unzuträglichkeit zu vermeiden, als Ganzes reisen. 6. KAPITEL Es würde unnütz sein, von den Größenverhältnissen meines neuen Zimmers zu sprechen. Es gleicht dem ersten so sehr, daß man beim ersten Blick getäuscht werden könnte, wenn nicht durch eine Vorsicht des Baumeisters die Decke sich schräg nach der Straßenseite neigte und dem Dach die Richtung ließe, welche die Gesetze der Hydraulik für den Abfluß des Wassers erfordern. Es bekommt sein Licht durch eine einzige zweieinhalb Fuß breite und vier Fuß hohe Öffnung, die ungefähr sechs bis sieben Fuß über dem Fußboden liegt und zu der man vermittels einer kleinen Treppe hinaufsteigt. Daß mein Fenster so viel höher als der Fußboden liegt, ist einer von jenen glücklichen Umständen, die gleicherweise dem Zufall wie dem Genie des Baumeisters zugeschrieben werden können. Das fast senkrecht einfallende Licht, das es in meiner Klause verbreitete, gab dieser ein fast geheimnisvolles Aussehen. Der antike Pantheontempel bekommt sein Licht auf fast die gleiche Weise. Außerdem konnte mich von außen her nichts ablenken. Ähnlich jenen Seefahrern, die, auf dem weiten Weltmeer verloren, nur noch Himmel und Wasser sehen, sah ich nur den Himmel und mein Zimmer, und die nächsten äußern Gegenstände, auf die mein Blick fallen konnte, waren 79
der Mond oder der Morgenstern. Das setzte mich in unmittelbare Beziehung zum Himmel und gab meinen Gedanken einen erhabenen Flug, den sie nie bekommen hätten, wenn ich mir eine Wohnung im Erdgeschoß gesucht hätte. Das eben erwähnte Fenster ragte aus dem Dach hervor und bildete die hübscheste Dachluke. Es lag so hoch über dem Horizont, daß, wenn die ersten Sonnenstrahlen es erhellten, es in den Straßen noch dunkel war. Zudem genoß ich eine der schönsten Aussichten, die man sich denken kann. Aber selbst die schönste Aussicht wird bald langweilig, wenn man sie zu oft sieht: das Auge gewöhnt sich daran, und man macht sich nichts mehr daraus. Die Lage meines Fensters bewahrte mich noch vor diesem Übelstand, weil ich das prächtige Schauspiel der Turiner Landschaft nie sehen konnte, ohne vier oder fünf Stufen emporzusteigen; das verschaffte mir Genüsse, die, weil sparsam, immer lebhaft waren. Wenn ich müde war und mir eine angenehme Erholung verschaffen wollte, so beschloß ich mein Tagewerk damit, daß ich an mein Fenster stieg. Auf der ersten Stufe sah ich nur erst den Himmel; bald wurde auch der gewaltige Supergatempel* sichtbar. Der Hügel von Turin, auf dem er steht, stieg allmählich, mit Wäldern und reichen Weinbergen bedeckt, vor mir auf und zeigte stolz der untergehenden Sonne seine Gärten und Paläste, während einfache und bescheidene Wohnungen sich in den Tälern halb zu verstecken schienen, um dem Weisen als Zufluchtsort zu dienen und seine Meditationen zu begünstigen. Reizender Hügel, du hast so oft gesehen, daß ich deine einsamen Zufluchtsorte aufsuchte und deine abgelegenen Pfade den glänzenden Spazierwegen der Hauptstadt vorzog; du hast mich so oft in deinem grünen Irrsal umherschweifen sehen, da ich dem Gesang der Morgenlerche lauschte und da * Die Superga ist eine prächtige, von König Viktor Amadeus I. im Jahre 1706 erbaute Kirche. Er erfüllte mit dem Bau ein Gelübde, das er der Heiligen Jungfrau getan hatte, wenn die Franzosen die Belagerung Turins aufhöben. Die Superga dient als Begräbnisstätte für die Fürsten aus dem Haus Savoyen (Anmerkung des Verfassers). 80
mein Herz voll war von einer unsäglichen Unruhe und dem glühenden Wunsch, mich auf immer in deinen zauberischen Tälern niederzulassen. Ich grüße dich, du reizender Hügel! Dein Bild lebt in meinem Herzen! Möchte, wenn es möglich wäre, der Tau des Himmels deine Felder fruchtbarer und deine Wälder belaubter machen; möchten deine Bewohner in Frieden ihr Glück genießen und deine Schatten ihnen freundlich und heilsam sein; möchte endlich dein glücklicher Boden stets die selige Zufluchtsstätte der wahren Lebensweisheit sein, der bescheidenen Wissenschaft, der aufrichtigen und gastlichen Freundschaft, die ich dort gefunden habe. 7. KAPITEL Ich fing meine Reise genau um acht Uhr abends an. Das Wetter war ruhig und versprach eine schöne Nacht. Ich hatte meine Vorsichtsmaßregeln getroffen, um nicht von Besuchen gestört zu werden – die in der Höhe, in der ich wohnte, und besonders bei den Verhältnissen, in denen ich damals lebte, sehr selten sind – und um bis Mitternacht allein zu bleiben. Vier Stunden genügten reichlich für die Ausführung meines Unternehmens, da ich für diesmal nur einen einfachen Gang um mein Zimmer tun wollte. Wenn die erste Reise zweiundvierzig Tage gedauert hat, so lag es nicht in meiner Macht, sie abzukürzen. Auch wollte ich mich nicht mehr wie damals dazu herbeilassen, viel im Wagen zu reisen, da ich überzeugt war, daß ein Fußgänger viele Dinge sieht, welche dem entgehen, der mit der Postkutsche fährt. Demnach entschloß ich mich, je nach den Umständen abwechselnd zu Fuß oder zu Pferde zu reisen: eine neue Methode, die ich noch nicht mitgeteilt habe und deren Nutzen man bald einsehen wird. Endlich nahm ich mir vor, meine Aufzeichnungen unterwegs zu machen und meine Beobachtungen, so wie ich sie machte, aufzuschreiben, um nichts davon zu vergessen. Um Ordnung in mein Unternehmen zu bringen und ihm eine neue Aussicht auf Erfolg zu geben, hielt ich es für not81
wendig, mit der Abfassung eines Widmungsbriefes zu beginnen und ihn in Versen zu schreiben, um ihn interessanter zu machen. Aber zwei Schwierigkeiten brachten mich in Verlegenheit und hätten mich trotz alles Vorteils, den ich daraus ziehen konnte, fast darauf verzichten lassen. Die erste war, herauszufinden, an wen ich den Brief richten, die zweite, wie ich es anfangen sollte, Verse zu machen. Nachdem ich reiflich darüber nachgedacht hatte, sah ich bald ein, daß es vernünftig wäre, zuerst meinen Brief abzufassen, so gut ich könnte, und dann jemanden zu suchen, für den er passen möchte. Sofort ging ich ans Werk und arbeitete länger als eine Stunde, ohne einen Reim zu dem ersten Vers finden zu können, den ich gemacht hatte und den ich beibehalten wollte, weil er mir sehr gut gelungen zu sein schien. Dabei fiel mir gerade zur rechten Zeit ein, irgendwo gelesen zu haben, daß der berühmte Pope niemals etwas Interessantes dichtete, ohne vorher mit lauter Stimme zu deklamieren und in seinem Zimmer sich hin und her zu bewegen, um seine Dichterglut anzufachen. Sogleich versuchte ich ihn nachzuahmen. Ich nahm die Gedichte Ossians zur Hand, las sie ganz laut und ging, um mich in Begeisterung zu versetzen, mit großen Schritten in meinem Zimmer auf und ab. In der Tat sah ich, daß dieses Verfahren unmerklich meine Phantasie erregte und mir ein geheimes Gefühl dichterischer Begabung verlieh, das ich sicherlich zur erfolgreichen Abfassung meines Widmungsbriefes in Versen verwertet haben würde, wenn ich nicht unglücklicherweise meine schräge Zimmerdecke vergessen hätte, deren starke Neigung meine Stirn daran hinderte, ebenso weit wie meine Füße in der von mir eingeschlagenen Richtung vorwärts zu gehen. Ich stieß deshalb so arg mit dem Kopf gegen diese vermaledeite Wand, daß das Dach des Hauses erschüttert wurde: die Sperlinge, die auf den Ziegeln schliefen, flatterten erschrocken von dannen, und infolge des Anpralls flog ich drei Schritt zurück.
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8. KAPITEL Während ich so auf und ab ging, um meine Dichterglut anzufachen, glaubte eine junge, hübsche Frau, die unter mir wohnte und über den Lärm, den ich machte, erstaunt war, vielleicht, ich gäbe in meinem Zimmer einen Ball, und schickte ihren Mann herauf, um sich nach der Ursache des Geräusches zu erkundigen. Ich war von dem Stoß, den ich bekommen hatte, noch ganz betäubt, als die Tür sich halb öffnete. Ein älterer Mann mit einem melancholischen Gesicht steckte den Kopf herein und musterte mit neugierigen Blicken das Zimmer. Als das Erstaunen darüber, daß er mich ganz allein sah, ihn zu Worte kommen ließ, sagte er mit verdrießlicher Miene zu mir: »Mein Herr, meine Frau hat Migräne. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß …« Sogleich unterbrach ich ihn, und mein Stil zeigte, in welchen Höhen sich meine Gedanken bewegten. »Achtungswerter Bote meiner schönen Nachbarin«, sagte ich zu ihm in der Sprache der Barden, »warum leuchten deine Augen unter deinen dichten Brauen wie zwei Meteore in dem schwarzen Walde Crombas? Deine schöne Gefährtin ist ein Strahl des Lichtes, und tausendmal lieber wollte ich sterben als ihre Ruhe stören; aber dein Anblick, o achtungswerter Bote, dein Anblick ist düster wie der tiefste Schlund der Höhle Camoras, wenn die aufgetürmten Wolken des Sturmes das Antlitz der Nacht verdunkeln und auf Morvens schweigsamen Gefilden liegen.« Der Nachbar, der die Gedichte Ossians offenbar noch nie gelesen hatte, hielt irrtümlicherweise den Anfall von Begeisterung, der mich belebte, für einen Anfall von Wahnsinn und schien sehr verlegen. Da es durchaus nicht meine Absicht war, ihn zu beleidigen, bot ich ihm einen Stuhl an und bat ihn, sich zu setzen; aber ich bemerkte, daß er leise wegging, sich bekreuzte und halblaut sagte: »Er ist verrückt!«
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9. KAPITEL Ich ließ ihn hinausgehen – ohne untersuchen zu wollen, inwieweit seine Bemerkung begründet war – und setzte mich an meinen Schreibtisch, um, wie ich das immer tue, diese Vorgänge aufzuzeichnen. Aber kaum hatte ich eine Schublade, in der ich Papier zu finden hoffte, geöffnet, als ich sie rasch wieder zustieß, denn ich wurde von einem der unangenehmsten Gefühle, die man haben kann, belästigt, dem Gefühl der gedemütigten Eigenliebe. Die Überraschung, die ich bei dieser Gelegenheit empfand, gleicht der, welche einem ermatteten Reisenden widerfährt, wenn er seine Lippen einer klaren Quelle nähert und dann auf dem Grund des Wassers einen Frosch sieht, der ihn anschaut. Es war indes nichts anderes als das Federwerk und Gestell einer künstlichen Taube, die ich früher einmal nach dem Beispiel des Archytas in der Luft fliegen lassen wollte. Länger als drei Monate hatte ich mich unermüdlich bemüht, sie zustande zu bringen. Als der Tag der Probe kam, setzte ich sie auf die Kante eines Tisches, nachdem ich zuvor sorgfältig die Tür verschlossen hatte, um die Entdeckung geheimzuhalten und meinen Freunden eine angenehme Überraschung zu bereiten. Ein Faden hielt den unbeweglichen Mechanismus. Wer könnte sich das Klopfen meines Herzens und die Beklemmung meiner Eigenliebe vorstellen, als ich mit einer Schere die unselige Fessel zerschnitt? … Possen! … Das Federwerk der Taube schnellt auf und arbeitet geräuschvoll. Ich blicke hoch, um sie vorbeifliegen zu sehen; aber nachdem sie sich einige Male um sich selbst gedreht hat, fällt sie hinunter und verbirgt sich unter dem Tisch. Rosine, die dort schlief, entfernte sich traurig. Rosine, die niemals ein Huhn oder eine Taube oder den kleinsten Vogel sah, ohne sie anzugreifen und zu verfolgen, würdigte meine Taube, die auf dem Boden zappelte, nicht einmal eines Blikkes … Das war der Gnadenstoß für meine Eigenliebe. Ich ging auf die Wälle, um frische Luft zu schöpfen.
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10. KAPITEL Das war das Schicksal meiner künstlichen Taube. Während der Geist der Mechanik sie dazu bestimmte, dem Adler zum Himmel hinan zu folgen, gab das Geschick ihr die Neigungen eines Maulwurfs. Traurig und entmutigt, wie man es immer ist, wenn man sich in einer großen Hoffnung getäuscht sieht, ging ich spazieren und bemerkte, als ich aufschaute, einen Flug Kraniche, die über meinem Kopf dahinzogen. Sie flogen in Form eines Dreiecks wie die englischen Truppen in der Schlacht von Fontenoy. Von Wolke zu Wolke sah ich sie am Himmel dahinfliegen. »O wie gut sie fliegen«, sagte ich ganz leise; »mit welcher Sicherheit scheinen sie über den unsichtbaren Pfad zu gleiten, den sie wandern!« Soll ich es gestehen? Ach, man verzeihe mir! Das schreckliche Gefühl des Neides ist einmal, ein einziges Mal in mein Herz gedrungen, und zwar gegen Kraniche. Mit meinen eifersüchtigen Blicken verfolgte ich sie bis zu den Grenzen des Horizonts. Unbeweglich inmitten der wandelnden Menge beobachtete ich lange Zeit die schnelle Bewegung der Schwalben, und voll Erstaunen sah ich sie in den Lüften schweben, als hätte ich diese Erscheinung noch nie gesehen. Das Gefühl einer tiefen Bewunderung, die mir bis dahin unbekannt gewesen war, hellte meine Seele auf. Zum erstenmal glaubte ich die Natur zu sehen. Mit Überraschung hörte ich das Summen der Fliegen, den Gesang der Vögel und jenes geheimnisvolle und unbestimmte Geräusch der lebendigen Schöpfung, die unwillkürlich ihren Urheber preist. Unaussprechliches Konzert, in das mit Tönen des Dankes einzustimmen allein der Mensch das erhabene Vorrecht hat. »Wer ist der Urheber dieses glänzenden Kunstwerks?« rief ich in dem Entzücken, das mich ergriff. »Wer ist der, welcher seine Schöpferhand öffnete und die erste Schwalbe in die Lüfte gleiten ließ? der diesen Bäumen gebot, aus der Erde hervorzusprießen und ihre Zweige zum Himmel zu erheben? Und du, der du majestätisch in ihrem Schatten einherwandelst, entzückendes Geschöpf, dessen Züge Achtung und Liebe 85
heischen, wer hat dich auf die Oberfläche der Erde gesetzt, damit du sie verschönst? Welcher Gedanke zeichnet deine göttlichen Formen und war mächtig genug, Blick und Lächeln der unschuldigen Schönheit zu schaffen? … Und ich selbst, der ich mein Herz klopfen fühle … was ist der Sinn meines Daseins? Was bin ich, und woher komme ich, ich, der Urheber der künstlichen zentripetalen Taube? …« Kaum hatte ich dieses barbarische Wort ausgesprochen, als ich gleich einem Schlafenden, dem man einen Eimer Wasser über den Kopf gießt, plötzlich wieder zu mir kam und bemerkte, daß mehrere Leute sich rings um mich aufgestellt hatten, um mich zu beobachten, während ich in meiner Begeisterung ein Selbstgespräch gehalten hatte. Damals sah ich die schöne Georgine, die mir einige Schritte voraus war. Die Hälfte ihrer geschminkten linken Wange, die ich halb durch die Locken ihres blonden Haars hindurchschimmern sah, versetzte mich völlig wieder in die Wirklichkeit dieser Welt zurück, aus der ich mich soeben ein wenig entfernt hatte. l I. KAPITEL Sobald ich mich etwas von der Aufregung erholt hatte, in die mich der Anblick meiner künstlichen Taube versetzt hatte, machte sich der Schmerz des erlittenen Stoßes lebhaft fühlbar. Ich faßte mit der Hand über meine Stirn und fühlte dort eine neue Erhebung, genau an der Stelle des Kopfes, wohin Doktor Call die dichterische Erhebung gesetzt hat. Aber damals dachte ich daran gar nicht, und die Erfahrung allein sollte mir die Wahrheit der Lehre dieses berühmten Mannes beweisen. Nachdem ich mich einige Augenblicke gesammelt hatte, um eine letzte Anstrengung für meine Widmungsepistel zu machen, nahm ich einen Bleistift und begab mich ans Werk. Wie groß war mein Erstaunen! Die Verse flössen mir wie von selbst aus der Feder; in weniger als einer Stunde schrieb ich zwei Seiten voll, und ich schloß aus diesem Umstand, daß, 86
wenn für Popes Kopf die Bewegung nötig war, um Verse zu machen, es für meinen Kopf wenigstens eines Stoßes bedurfte, um Verse daraus hervorzulocken. Indes will ich dem Leser die Verse, die ich damals gemacht habe, nicht mitteilen, weil die wunderbare Schnelligkeit, mit der die Abenteuer meiner Reise einander folgten, mich hinderte, die letzte Hand daran zu legen. Trotz dieses Verschweigens ist es nicht zweifelhaft, daß man den Zufall, der mir zugestoßen war, für eine kostbare Entdeckung halten muß, von der die Dichter nicht genug Gebrauch machen können. In der Tat bin ich von der Unfehlbarkeit dieser neuen Methode so sehr überzeugt, daß ich es bei einem Gedicht in 24 Gesängen, das ich später entworfen habe und das mit der »Gefangenen von Pignerol«* veröffentlicht werden soll, bis jetzt nicht für nötig gehalten habe, die Verse anzufangen; aber ich habe fünfhundert Seiten Anmerkungen ins reine geschrieben, die, wie man weiß, das meiste Verdienst und den wesentlichsten Bestandteil bei der Mehrzahl der neueren Dichtungen ausmachen. Als ich eben tief von meinen Entdeckungen träumte, traf ich beim Umhergehen in meinem Zimmer auf mein Bett. Ich sank sitzend darauf nieder, und da meine Hand zufällig mit meiner Nachtmütze in Berührung gekommen war, benutzte ich die Gelegenheit, sie mir aufzusetzen und mich ins Bett zu legen. 12. KAPITEL Ich lag schon eine Viertelstunde im Bett und schlief gegen meine Gewohnheit noch nicht. Dem Gedanken an meine Widmungsepistel waren die traurigsten Vorstellungen gefolgt. Meine Kerze, die zu Ende ging, warf nur noch ein unbeständiges und schwaches Licht aus der Leuchtertülle, und mein Zimmer sah aus wie ein Grab. Ein Windstoß öffnete * Der Verfasser scheint später auf die Veröffentlichung der »Gefangenen von Pignerol« verzichtet zu haben, da das Werk wiederum zu romanhaft ausgefallen ist (Anmerkung des Verfassers). 87
plötzlich das Fenster, löschte meine Kerze aus und schlug die Tür heftig zu. Die schwarze Färbung meiner Gedanken nahm mit der Dunkelheit zu. All meine früheren Freuden, all meine gegenwärtigen Leiden strömten auf einmal in mein Herz und erfüllten es mit Kummer und Bitterkeit. Trotz meiner fortwährenden Anstrengungen, meine Schmerzen zu vergessen und sie aus meinen Gedanken zu vertreiben, passiert es mir doch bisweilen, wenn ich mich nicht in acht nehme, daß sie mir alle zugleich wieder in den Sinn kommen, wie wenn man ihnen eine Schleuse öffnete. In solchen Fällen bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dem Strom, der mich fortreißt, zu überlassen, und meine Gedanken werden dann so schwarz, alle Gegenstände erscheinen mir so düster, daß ich gewöhnlich über meine Torheit schließlich lache, so daß die Heilung gerade durch die Heftigkeit des Übels bewirkt wird. Ich war noch völlig im Bann einer solchen melancholischen Krise befangen, als ein Teil des Windstoßes, der mein Fenster geöffnet und im Vorübergehen meine Tür geschlossen hatte, sich schließlich, nachdem er einige Umgänge in meinem Zimmer gehalten, meine Bücher durchgeblättert und ein fliegendes Blatt meiner Reise auf den Boden geworfen hatte, in meine Vorhänge verirrte und auf meiner Wange erstarb. Ich fühlte die angenehme Frische der Nacht, und da ich das als eine Einladung ihrerseits betrachtete, erhob ich mich sogleich und stieg auf meine Leiter, um die Stille der Natur zu genießen. 13. KAPITEL Das Wetter war heiter; wie eine leichte Wolke teilte die Milchstraße den Himmel, von jedem Stern leuchtete ein sanfter Strahl und drang bis zu mir, und als ich einen aufmerksam betrachtete, schienen seine Gefährten lebhafter zu schimmern, um meine Blicke auf sich zu ziehen. Die Betrachtung des gestirnten Himmels hat für mich einen 88
immer neuen Reiz, und ich brauche mir nicht vorzuwerfen, eine einzige Reise, ja auch nur einen einfachen nächtlichen Spaziergang gemacht zu haben, ohne daß ich den Zoll der Bewunderung entrichtet hätte, den ich den Wundern des Himmelsgewölbes schulde. Obgleich ich die ganze Ohnmacht meines Denkens bei diesen erhabenen Betrachtungen fühle, macht es mir doch eine unaussprechliche Freude, mich damit zu beschäftigen. Gern denke ich daran, daß nicht der Zufall es ist, der dieses Leuchten ferner Welten bis zu meinem Auge gelangen läßt, und mit seinem Licht gießt jeder Stern einen Hoffnungsstrahl in mein Herz. Wie, in keiner anderen Beziehung sollten diese Wunder zu mir stehen, als daß sie vor meinen Augen glänzen? Und meine Gedanken, die sich zu ihnen erheben, und mein Herz, das bei ihrem Anblick bewegt wird, sollten ihnen fremd sein? … Ein vergänglicher Zuschauer eines ewigen Schauspiels, erhebt der Mensch einen Augenblick seine Augen zum Himmel und schließt sie dann auf immer. Aber während dieses kurzen Augenblicks, der ihm gewährt wird, strömt von allen Punkten des Himmels und von den Grenzen des Weltalls her ein tröstender Strahl aus jedem Weltkörper und trifft sein Auge, um ihm zu verkünden, daß zwischen ihm und der Unendlichkeit Beziehungen bestehen und er teil hat an der Ewigkeit. 14. KAPITEL Eine ärgerliche Empfindung jedoch störte die Freude, die ich empfand, als ich mich diesen Betrachtungen hingab. Wie wenig Leute, sagte ich zu mir, genießen jetzt mit mir das erhabene Schauspiel, das der Himmel für die schläfrigen Menschen vergebens aufrollt! … Es mag noch hingehen für die Schlafenden; aber was würde es den Spaziergängern, was würde es denen, die in Scharen aus dem Theater kommen, ausmachen, wenn sie einen Augenblick aufschauten und die glänzenden Sternbilder bewunderten, die von allen Seiten auf ihr Haupt strahlen? Nein, die aufmerksamen Zuschauer Scapins oder Jocristes 89
halten es nicht für der Mühe wert, die Augen zu erheben; rohen Sinnes gehen sie nach Hause oder anderswohin, ohne daran zu denken, daß der Himmel sich über ihnen wölbt. Welche Abgeschmacktheit! Weil man ihn häufig und umsonst sehen kann, wollen sie nichts davon wissen. Wäre das Himmelsgewölbe für uns immer verschleiert, wäre das Schauspiel, daß es uns bietet, von einem Unternehmer abhängig: die ersten Logen auf den Dächern würden übermäßig teuer sein und die Damen Turins würden sich um mein Dachfenster reißen. »Oh, wenn ich Herrscher eines Landes wäre«, rief ich, von gerechtem Zorn ergriffen, aus, »ich ließe jede Nacht die Sturmglocke läuten und zwänge meine Untertanen jedes Alters, jedes Geschlechts und jedes Standes, sich ins Fenster zu legen und die Sterne zu betrachten.« Die Vernunft, die in meinem Königreich nur ein beschränktes Einspruchsrecht hat, war diesmal jedoch glücklicher als gewöhnlich in den Vorstellungen, die ich in meinen Staaten verkünden wollte. »Würden Eure Majestät«, sagte sie zu mir, »nicht geruhen, in den regnerischen Nächten eine Ausnahme zu gestatten, weil ja in diesem Falle, da der Himmel bedeckt ist …« »Sehr gut, sehr gut«, erwiderte ich, »daran hatte ich nicht gedacht; Sie werden eine Ausnahme für die regnerischen Nächte vermerken.« »Majestät«, fuhr sie fort, »ich glaube, es würde angemessen sein, auch von den heiteren Nächten diejenigen auszunehmen, in denen es übermäßig kalt ist und der Nordwind weht, weil ja die strenge Ausführung des Erlasses ihre glücklichen Untertanen mit Schnupfen und Erkältungen belästigen würde.« Ich begann bei der Ausführung meines Planes viele Schwierigkeiten zu finden, und es kostete mich Mühe, wieder auf den rechten Weg zu kommen. »Das Reichsgesundheitsamt«, sagte ich, »und die Akademie der Wissenschaften sollen beauftragt werden, den Grad des hundertteiligen Thermometers zu bestimmen, bei dem meine Untertanen es unterlassen können, sich ins Fenster zu legen. Aber ich will, ich fordere unbedingt, daß das Gebot streng befolgt wird.« 90
»Und die Kranken, Majestät?« »Das versteht sich von selbst; die sind ausgenommen: die Menschlichkeit muß über alles gehen.« »Wenn ich nicht fürchtete, Eure Majestät zu ermüden, so würde ich Ihnen noch zu bedenken geben, daß man – falls Sie es für angemessen hielten und die Sache keine großen Schwierigkeiten machte – auch noch die Blinden von dem Gesetz ausnehmen könnte, weil ja, da sie des Sehorgans beraubt sind …« »Jawohl. Ist das alles?« unterbrach ich sie ärgerlich. »Verzeihung, Majestät, aber die Verliebten? Könnte das gütige Herz Eurer Majestät auch sie zwingen, die Sterne zu betrachten?« »Schon gut, schon gut«, sagte der König, »lassen wir das, wir wollen den Gegenstand in größerer Ruhe weiter überlegen. Sie werden mir eine ausführliche Denkschrift darüber einreichen.« Guter Gott! … Guter Gott! … Wieviel muß man doch bedenken, bevor man ein Gebot der hohen Polizei erlassen kann! 15. KAPITEL Niemals habe ich gerade die glänzendsten Sterne mit der größten Freude betrachtet: die kleinsten vielmehr, die, in unermeßlicher Ferne verloren, nur wie winzige Punkte erscheinen, sind immer meine Lieblingssterne gewesen. Der Grund dafür ist ganz einfach. Man begreift leicht, daß ich, wenn ich meine Einbildungskraft von der andern Seite der Sternenwelt einen ebenso weiten Weg machen lasse, wie ihn meine Blicke von dieser Seite machen, um bis zu ihnen zu gelangen, ohne Mühe eine Entfernung erreiche, zu der wenige Reisende vor mir gelangt sind, und wenn ich mich dort sehe, so staune ich darüber, daß ich erst am Anfang dieses ungeheueren Weltalls stehe; denn ich glaube, der Gedanke würde lächerlich sein, es gäbe einen Schlagbaum, jenseits dessen das Nichts anfinge – wie wenn das Nichts leichter zu begreifen 91
wäre als das Dasein. Hinter dem letzten Stern denke ich mir noch einen andern, der auch noch nicht der letzte sein kann. Wenn man der Schöpfung Grenzen anweist, und wären sie auch noch so weit, so erscheint mir das Weltall nur noch wie ein leuchtender Punkt im Vergleich zu der Unermeßlichkeit des ihn umgebenden leeren Raumes, zu jenem abscheulichen, düsteren Nichts, in dessen Mitte es wie eine einsame Lampe aufgehängt wäre. In diesem Augenblick hielt Ich mir beide Hände vor die Augen, um jegliche Zerstreuung von mir fernzuhalten und meinen Gedanken die Tiefe zu geben, die ein derartiger Gegenstand erfordert. Dann strengte ich meinen Kopf mit übernatürlicher Kraft an und stellte ein Weltsystem auf, so vollkommen, wie bis jetzt noch keines erdacht worden ist. Hier gebe ich es in aller Ausführlichkeit wieder: »Ich glaube, daß, da der Raum …« Aber das verdient ein eigenes Kapitel, und in Anbetracht der Wichtigkeit des Gegenstandes soll es das einzige meiner Reise sein, das einen Titel trägt. 16. KAPITEL Das Weltsystem Ich glaube also, daß, da der Raum unendlich ist, die Schöpfung es auch ist und daß Gott in seiner Ewigkeit eine Unendlichkeit von Welten in der Unermeßlichkeit des Raumes geschaffen hat. 17. KAPITEL Doch ich will aufrichtig bekennen, daß ich mein eigenes System nicht besser verstehe als alle andern bis auf diesen Tag von der Einbildungskraft der alten und neuen Weltweisen ausgeheckten Systeme; aber das meinige hat den kostbaren Vorzug, in vier Zeilen enthalten zu sein, so gewaltig es auch ist. Der nachsichtige Leser wolle auch wohl darauf achten, daß es vollständig auf der Spitze einer Leiter entworfen
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worden ist. Freilich hätte ich es mit Erklärungen und Anmerkungen verziert, wenn ich nicht in dem Augenblick, da ich am eifrigsten mit meinem Gegenstand beschäftigt war, durch bezaubernde Töne abgelenkt worden wäre, die in angenehmer Weise mein Ohr trafen. Eine Stimme, wie ich sie niemals melodischer gehört hatte, selbst Zeneides Stimme nicht ausgenommen, eine jener Stimmen, die immer mit den Fasern meines Herzens im Einklang sind, sang ganz nahe bei mir eine Romanze, von der mir kein Wort entging und die mir nie aus dem Gedächtnis kommen wird. Als ich aufmerksam horchte, entdeckte ich, daß die Stimme aus einem tiefer liegenden Fenster kam; unglücklicherweise konnte ich es nicht sehen, da das äußerste Ende des Daches, aus dem mein Dachfenster hervorsprang, es meinen Augen verbarg. Das Verlangen jedoch, die Sirene zu sehen, die mich mit ihren Akkorden bezauberte, wuchs mit dem Zauber der Romanze, deren rührende Worte dem fühllosesten Wesen Tränen entlockt hätten. Sofort stieg ich, da ich meiner Neugier nicht mehr widerstehen konnte, auf die letzte Sprosse, setzte einen Fuß auf die Dachkante, hielt mich mit der einen Hand am Fensterpfosten und beugte mich so über die Straße, auf die Gefahr hin, hinabzustürzen. Darauf sah ich auf einem Balkon zu meiner Linken, etwas unter mir, eine junge Frau im weißen Nachtkleid. Mit der Hand stützte sie ihren reizenden Kopf, der hinlänglich seitwärts geneigt war, um mich im Licht der Sterne das interessanteste Profil sehen zu lassen, und ihre Stellung schien dazu ausgedacht zu sein, um einem Luftreisenden wie mir eine schlanke und wohlgestalte Figur in ihrer ganzen Schönheit zu zeigen. Einer ihrer nackten Füße, der nachlässig zurückgeschoben war, stand so, daß es mir trotz der Dunkelheit möglich war, von ihm auf die glücklichsten Proportionen zu schließen, während ein hübscher kleiner Pantoffel, der sich von dem Fuß gelöst hatte, sie meinem neugierigen Auge noch deutlicher zeigte. Ich überlasse es dir, liebe Sophie, dir vorzustellen, in was für einer qualvollen Lage ich mich befand. Nicht den geringsten Laut wagte ich von mir zu geben aus Furcht, meine 93
schöne Nachbarin aufzuschrecken, und nicht im geringsten mich zu bewegen aus Furcht, auf die Straße zu fallen. Gleichwohl entschlüpfte mir wider meinen Willen ein Seufzer, aber ich konnte noch rechtzeitig die Hälfte davon zurückhalten; das übrige wurde von einem vorüberwehenden Zéphyr davongetragen, und ich hatte, in dieser gefährlichen Stellung von der Hoffnung unterstützt, sie noch mehr singen zu hören, alle Muße, die Träumerin zu beobachten. Aber ach, ihre Romanze war zu Ende, und mein böses Schicksal ließ sie im hartnäckigsten Schweigen verharren. Nachdem ich sehr lange gewartet hatte, glaubte ich es endlich wagen zu dürfen, ein Wort an sie zu richten: es handelte sich nur noch darum, eine Artigkeit zu erfinden, die ihrer und der Gefühle würdig war, welche sie mir eingeflößt hatte. Oh, wie bedauerte ich, daß ich meine Widmungsepistel in Versen nicht fertig hatte, wie gut hätte ich sie bei dieser Gelegenheit verwenden können! Meine Geistesgegenwart verließ mich in der Not nicht. Von dem angenehmen Einfluß der Gestirne und dem noch mächtigeren Wunsche belebt, bei einer Schönen Erfolg zu haben, hustete ich erst leicht, um sie aufmerksam und den Klang meiner Stimme angenehmer zu machen, und sagte dann zu ihr in dem liebreichsten Ton, der mir möglich war: »Heute nacht haben wir sehr schönes Wetter.« 18. KAPITEL Ich glaube Frau von Hautcastel, die mir nichts durchgehen läßt, von hier aus zu hören, wie sie Rechenschaft von mir fordert über die Romanze, von der ich im vorigen Kapitel gesprochen habe. Zum erstenmal in meinem Leben sehe ich mich in die harte Notwendigkeit versetzt, ihr etwas abschlagen zu müssen. Wenn ich diese Verse in meine Reise aufnähme, würde man unfehlbar mich für den Verfasser halten, was mir hinsichtlich der Notwendigkeit des Stoßes mehr als einen schlechten Scherz einbringen würde, den ich aber vermeiden will. 94
Ich werde also den Bericht über mein Abenteuer mit meiner liebenswürdigen Nachbarin fortsetzen, ein Abenteuer, dessen unerwarteter Ausgang ebenso wie das Zartgefühl, mit dem ich es zu Ende geführt habe, dazu angetan ist, die Teilnahme aller Arten von Lesern zu erwecken. Aber bevor man erfährt, was sie mir antwortete und wie die geistreiche Artigkeit, die ich ihr gesagt hatte, aufgenommen wurde, muß ich erst noch gewissen Leuten antworten, die sich selbst für beredter halten als mich und die mich ohne Mitleid verdammen werden, weil ich die Unterhaltung auf eine nach ihrer Meinung so gewöhnliche Weise begonnen habe. Ich werde ihnen beweisen, daß ich, wenn ich bei dieser wichtigen Gelegenheit den Geistreichen gespielt hätte, offenbar gegen die Regeln der Klugheit und des guten Geschmacks gefehlt hätte. Jeder Mensch, der mit einer Schönen in ein Gespräch kommt und einen Witz macht oder eine Artigkeit sagt, läßt, so schmeichelhaft diese auch sein mag, Ansprüche durchblicken, die erst hervortreten dürfen, wenn sie anfangen begründet zu sein. Außerdem ist es, wenn er den Geistreichen spielt, klar, daß er zu glänzen sucht und folglich weniger an seine Dame als an sich selber denkt. Nun wollen aber die Damen, daß man sich mit ihnen beschäftigt, und obgleich sie nicht immer genau die gleichen Betrachtungen anstellen, die ich eben niederschreibe, so besitzen sie doch einen vortrefflichen und natürlichen Sinn, der sie lehrt, daß eine gewöhnliche Redensart, die bloß aus dem Grund, das Gespräch anzuknüpfen und sich ihnen zu nähern, gesagt wird, tausendmal mehr wert ist als ein geistreiches, von der Eitelkeit eingegebenes Wort und auch – was sehr erstaunlich scheinen wird – noch mehr als eine Widmungsepistel in Versen. Und noch viel mehr: ich behaupte – sollte auch mein Urteil für widersinnig gehalten werden – daß diese leichte und glänzende Unterhaltungsgabe nicht einmal für die längste Verbindung nötig ist, wenn wirklich das Herz sie geschlossen hat, und trotz allem, was die Leute, die nur halb geliebt haben, von langen Zwischenräumen sagen, welche die lebhaften Gefühle der Liebe und der Freundschaft offenließen, ist der Tag immer kurz, wenn man ihn bei seiner Geliebten zubringt, 95
und das Schweigen ist ebenso interessant wie die Unterhaltung. Wie es auch um meine Auseinandersetzung bestellt sein mag, es ist ganz sicher, daß ich in meiner Stellung auf dem Dachrand nichts Besseres zu sagen wußte als die erwähnten Worte. Kaum hatte ich sie vollständig ausgesprochen, als meine Seele sich ganz und gar in das Trommelfell meiner Ohren versetzte, um bis auf die kleinste Schattierung die Töne aufzufassen, die ich zu vernehmen hoffte. Die Schöne erhob ihren Kopf, um mich anzusehen; ihre langen Haare fielen herab wie ein Schleier und bildeten den Hintergrund zu ihrem reizenden Gesicht, welches das geheimnisvolle Licht der Sterne widerstrahlte. Schon öffnete sich halb ihr Mund, ihre süßen Worte traten auf ihre Lippen … Aber, o Himmel, wie groß war mein Staunen und mein Schrecken! … Ein unheilvolles Geräusch wurde vernehmbar. »Was machen Sie da, gnädige Frau? Zu dieser Stunde? Kommen Sie herein!« sprach eine männliche, klangvolle Stimme im Innern des Zimmers. Ich war wie versteinert. 19. KAPITEL So muß das Geräusch sein, das die Schuldigen erschreckt, wenn plötzlich vor ihnen die brennenden Tore des Tartarus sich öffnen, oder so auch das Geräusch, das unter den höllischen Wölbungen die sieben Wasserfälle des Styx machen, von denen die Dichter zu sprechen vergessen haben. 20. KAPITEL In diesem Augenblick zog ein Irrlicht am Himmel vorbei und verschwand fast sofort wieder. Meine Augen, welche die Klarheit des Meteors eine Zeitlang abgelenkt hatte, richteten sich wieder auf den Balkon und erblickten dort nur noch den kleinen Pantoffel. Bei ihrem schleunigen Rückzug hatte meine Nachbarin vergessen, ihn aufzuheben. Lange betrachtete ich
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diese hübsche Form für einen Fuß, der des Meißels des Praxiteles würdig gewesen wäre, mit einer Bewegung, deren ganze Heftigkeit ich nicht einzugestehen wage. Aber was sehr sonderbar scheinen kann und worüber ich mir selber noch keine Rechenschaft zu geben weiß: ein unüberwindlicher Zauber hinderte mich, meine Blicke davon abzuwenden, trotz all meiner Anstrengung, sie auf andere Gegenstände zu lenken. Man erzählt, wenn eine Schlange eine Nachtigall ansehe, so sei der arme Vogel, das Opfer eines unwiderstehlichen Zaubers, gezwungen, sich dem gefräßigen Wurm zu nähern. Seine schnellen Flügel dienen nur dazu, ihn zu seinem Untergang zu führen, und jede Anstrengung, die er macht, um sich zu entfernen, bringt ihn dem Feind näher, der ihn mit seinem unvermeidlichen Blick verfolgt. So war bei mir die Wirkung dieses Pantoffels, ohne daß ich freilich mit Gewißheit sagen könnte, wer die Schlange war, ob der Pantoffel oder ich, da ja nach den Gesetzen der Physik die Anziehung gegenseitig sein mußte. Es steht fest, daß dieser unselige Einfluß keineswegs ein Spiel meiner Phantasie war. Ich wurde so wahrhaftig und so kräftig angezogen, daß ich zweimal nahe daran war, den Griff meiner Hand zu lockern und mich auf die Straße fallen zu lassen. Da jedoch der Balkon, auf den ich gelangen wollte, nicht genau unter meinem Fenster, sondern etwas seitwärts lag, sah ich sehr wohl ein, daß ich, wenn die von Newton entdeckte Schwerkraft sich mit der schrägen Anziehung des Pantoffels verband, in meinem Fall eine Diagonale beschrieben hätte und auf ein Schilderhaus gefallen wäre, das mir in der Höhe, in der ich mich befand, nicht größer als ein Ei vorkam, so daß ich also mein Ziel verfehlt hätte … Ich klammerte mich also noch fester an das Fenster, machte eine entschlossene Kraftanstrengung, und es gelang mir, die Augen zu erheben und zum Himmel zu blicken.
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21. KAPITEL Ich würde sehr verlegen werden, wenn ich die Art von Freude, die ich unter diesen Umständen empfand, genau erklären und beschreiben sollte. Alles, was ich sagen kann, ist, daß sie nichts mit derjenigen gemein hatte, welche einige Augenblicke früher der Anblick der Milchstraße und des gestirnten Himmels in mir hervorgerufen hatte. Da ich jedoch in den unbehaglichsten Lebenslagen mir immer gern Rechenschaft über die Vorgänge in meiner Seele gegeben habe, sollte ich mir auch bei dieser Gelegenheit eine recht klare Vorstellung von der Freude verschaffen, die ein anständiger Mann empfinden kann, wenn er den Pantoffel einer Dame betrachtet, im Vergleich zu der Freude, welche die Betrachtung der Gestirne in ihm bewirkt. Zu diesem Zweck wählte ich das auffallendste Sternbild am Himmel. Es war, wenn ich mich nicht irre, der Stuhl der Kassiopeia, der gerade über meinem Kopf stand, und ich sah abwechselnd auf das Sternbild und auf den Pantoffel, auf den Pantoffel und auf das Sternbild. Da bemerkte ich, daß diese beiden Empfindungen von ganz verschiedener Art waren: die eine war in meinem Kopf, während die andere mir in der Gegend des Herzens ihren Sitz zu haben schien. Aber ich kann nicht ohne einige Scham gestehen, daß der Zauber, der mich zu dem magischen Pantoffel hinzog, alle meine Fähigkeiten in Anspruch nahm. Die Begeisterung, die mir einige Zeit vorher der Anblick des gestirnten Himmels verursacht hatte, war nur noch schwach und verlor sich bald gänzlich, als ich die Tür des Balkons sich wieder öffnen hörte und einen kleinen Fuß, weißer als Alabaster, leise hervorkommen und sich des kleinen Schuhs bemächtigen sah. Ich wollte sprechen, aber da ich nicht wie das erste Mal Zeit gehabt hatte, mich vorzubereiten, fand ich meine gewöhnliche Geistesgegenwart nicht wieder und hörte die Tür des Balkons sich wieder schließen, bevor mir irgendein passendes Wort eingefallen war.
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22. KAPITEL Die vorhergehenden Kapitel werden, hoffe ich, genügen, um einer Beschuldigung der Frau von Hautcastel siegreich entgegenzutreten, die sich nicht gescheut hat, meine erste Reise unter dem Vorwand anzuschwärzen, daß sich darin keine Gelegenheit biete, sich zu verlieben. Sie kann dieser neuen Reise nicht denselben Vorwurf machen, und obgleich das Abenteuer mit meiner liebenswürdigen Nachbarin nicht sehr weit gediehen ist, kann ich doch versichern, daß ich darin mehr Befriedigung gefunden habe als in manchem anderen Fall, wo ich sehr glücklich zu sein glaubte, da es mir an einem Gegenstand des Vergleichs fehlte. Jeder genießt das Leben auf seine Weise, aber ich würde meine Pflicht gegen das Wohlwollen des Lesers nicht für erfüllt betrachten, wenn ich ihm eine Entdeckung, die bisher mehr als alles andere zu meinem Glück beigetragen hat, nicht mitteilte – natürlich unter der Bedingung, daß es unter uns bleibt –, denn es handelt sich um nichts Geringeres als um eine neue Methode, sich zu verlieben, die viel vorteilhafter ist als die frühere, ohne irgendeinen ihrer zahlreichen Nachteile zu haben. Da diese Erfindung besonders für die Leute bestimmt ist, die sich vielleicht meine neue Art zu reisen aneignen wollen, so glaube ich ihrer Belehrung einige Kapitel widmen zu müssen. 23. KAPITEL Im Verlauf meines Lebens hatte ich bemerkt, daß, wenn ich nach der gewöhnlichen Methode verliebt war, meine Empfindungen niemals meinen Hoffnungen entsprachen und meine Einbildungskraft sich in all ihren Plänen enttäuscht sah. Als ich aufmerksam darüber nachsann, dachte ich, wenn es mir möglich wäre, das Gefühl, das mich zur Liebe zu einem einzelnen Wesen führt, auf das ganze Geschlecht, das ihr Gegenstand ist, auszudehnen, so würde ich mir neue Genüsse verschaffen, ohne mir in irgendeiner Weise Verlegenheit zu 99
bereiten. Welcher Vorwurf könnte in der Tat einem Mann gemacht werden, der sein Herz stark genug findet, alle liebenswürdigen Frauen des Weltalls zu lieben? Ja, gnädige Frau, ich liebe sie alle und nicht nur die, welche ich kenne oder denen ich zu begegnen hoffe, sondern alle, die auf dem Erdboden vorhanden sind. Ja vielmehr, ich liebe alle Frauen, die es je gegeben hat und die es je geben wird, ungerechnet eine noch viel größere Zahl, die meine Einbildungskraft aus dem Nichts hervorruft: kurz, alle möglichen Frauen sind in den weiten Kreis meiner Zuneigung eingeschlossen. Welcher ungerechten und seltsamen Laune wegen sollte ich ein Herz wie das meinige in die engen Grenzen einer Gesellschaft einsperren? Was sage ich? Weshalb soll ich seinen Aufschwung in die Grenzen eines Königreichs oder gar einer Republik einzwängen? Unter einer vom Sturm gepeitschten Eiche sitzt eine junge indische Witwe und mischt ihre Seufzer in das Brausen der entfesselten Winde. Die Waffen des Kriegers, den sie liebte, hängen über ihrem Haupt, und der traurige Klang, den sie beim Zusammenschlagen hervorbringen, weckt in ihrem Herzen die Erinnerung an ihr vergangenes Glück wieder auf. Da durchfurcht der Blitzstrahl die Wolken, und sein bläuliches Licht spiegelt sich in ihren starren Augen. Während der Scheiterhaufen, der sie verzehren soll, sich erhebt, erwartet sie einsam, trostlos, in stumpfer Verzweiflung einen schrecklichen Tod, den ein grausames Vorurteil sie dem Leben vorziehen heißt. Welchen sanften und melancholischen Genuß empfindet nicht ein gefühlvoller Mensch, wenn er sich dieser Unglücklichen naht, um sie zu trösten! Während ich neben ihr im Gras sitze und ihr von dem schrecklichen Opfertod abzuraten suche und während ich meine Seufzer mit den ihrigen und meine Tränen mit ihren Tränen mische und mich bemühe, sie ihren Schmerzen zu entreißen, läuft die ganze Stadt bei Frau von A. zusammen, deren Gatte soeben an einem Schlaganfall gestorben ist. Ebenfalls entschlossen, ihr Unglück nicht zu überleben, fühllos gegen die Tränen und Bitten ihrer Freunde, will sie Hungers sterben; und seit heute morgen, wo 100
man unklugerweise ihr diese Nachricht überbracht hat, hat die Unglückliche nur einen Zwieback gegessen und nur ein kleines Glas Malaga getrunken. Dieser untröstlichen Frau schenke ich nur die einfache Aufmerksamkeit, die notwendig ist, um nicht die Gesetze meines allgemeinen Systems zu übertreten, und entferne mich alsbald von ihr, weil ich von Natur eifersüchtig bin und mich nicht mit einer Menge von Tröstern und ebensowenig mit den Leuten einlassen will, die nur zu leicht zu trösten sind. Die unglücklichen Schönheiten haben noch besonders Anrecht auf mein Herz, und das Mitleid, das ich ihnen schulde, schwächt keineswegs die Teilnahme, die ich für die Glücklichen hege. Die Fähigkeit bringt eine unendliche Mannigfaltigkeit in meine Freuden und gestattet mir, abwechselnd von der Melancholie zur Fröhlichkeit und von sentimentaler Ruhe zur Schwärmerei überzugehen. Oft spinne ich auch Liebesintrigen in der Geschichte des Altertums und lösche ganze Zeilen in den alten Registern des Schicksals aus. Wie oft habe ich nicht die mörderische Hand des Virginius zurückgehalten und seiner unglücklichen Tochter, dem Opfer des Obermaßes sowohl des Lasters als auch der Tugend, das Leben gerettet. Dieses Ereignis erfüllt mich mit Schrecken, sooft es mir wieder in den Sinn kommt, und ich wundere mich durchaus nicht darüber, daß es der Ursprung einer Revolution war. Ich hoffe, sowohl die vernünftigen Leute als auch die mitleidigen Seelen werden mir Dank wissen, daß ich die Sache gütlich beigelegt habe; und jedermann, der die Welt in etwa kennt, wird gleich mir der Meinung sein, wenn man den Decemvir hätte gewähren lassen, so würde dieser leidenschaftliche Mensch sicherlich der Tugend Virginias haben Gerechtigkeit widerfahren lassen: die Eltern hätten sich reingemischt, der Vater Virginius hätte sich am Ende beruhigt, und die Heirat wäre in aller vom Gesetz geforderten Form erfolgt. Aber was wäre aus dem unglücklichen verlassenen Liebhaber geworden? Ei nun, was hat der Liebhaber mit diesem Mord gewonnen? Aber da du sein Los bemitleiden willst, so 101
will ich dir sagen, liebe Maria, daß er sechs Monate nach Virginias Tod nicht nur getröstet, sondern sehr glücklich verheiratet war und daß er seine Frau, nachdem er mehrere Kinder von ihr bekommen hatte, verlor und sechs Wochen später sich wieder mit der Witwe eines Volkstribunen verheiratete. Diese bisher unbekannten Nachrichten sind von einem gelehrten italienischen Altertumsforscher in einer PalimpsestHandschrift der Ambrosianischen Bibliothek gefunden und entziffert worden. Unglücklicherweise vermehren sie die abscheuliche und schon zu lange Geschichte der Römischen Republik noch um eine Seite. 24. KAPITEL Nachdem ich die interessante Virginia gerettet habe, weiche ich ihrer Dankbarkeit bescheiden aus, und immer begierig, den Schönen einen Dienst zu erweisen, benütze ich die Dunkelheit einer regnerischen Nacht und stehle mich weg, um das Grab einer jungen Vestalin zu öffnen, die der römische Senat barbarischerweise hat lebendig begraben lassen, weil sie das heilige Feuer der Vesta hatte verlöschen lassen oder vielleicht weil sie sich daran leicht verbrannt hatte. Schweigsam wandle ich durch die abgelegenen Straßen Roms mit dem Zauber in meinem Innern, der guten Taten, besonders wenn sie nicht ohne Gefahr sind, vorausgeht. Sorgfältig vermeide ich das Kapitol, aus Furcht, die Gänse aufzuwecken, schleiche mich durch die Wachen am Kollinischen Tor und gelange glücklich unbemerkt zum Grab. Bei dem Geräusch, das ich beim Aufheben des daraufliegendes Steines mache, erhebt die Unglückliche ihr zerrauftes Haupt vom feuchten Boden der Gruft. Beim Schein der Grablampe sehe ich, wie sie wirre Blicke um sich wirft. In ihrem Wahnsinn glaubt das unselige Opfer schon an den Ufern des Cocytus zu stehen. »O Minos«, ruft sie aus, »unerbitterlicher Richter, es ist wahr, ich habe auf der Erde geliebt gegen die strengen Gesetze der Vesta. Wenn die Götter ebenso barbarisch sind wie 102
die Menschen, dann öffne, öffne für mich die Abgründe des Tartarus! Ich habe geliebt und liebe noch!« »Nein, nein, du bist nicht im Totenreich. Komm, junge Unglückliche, erscheine wieder auf der Erde, werde wiedergeboren für das Licht und die Liebe!« Unterdessen ergreife ich ihre von der Grabeskälte schon erstarrte Hand, ich nehme sie in meine Arme, drücke sie an mein Herz und entreiße sie, die von Schrecken und Dankbarkeit ganz aufgeregt ist, endlich diesem schrecklichen Ort. Hüten Sie sich wohl, gnädige Frau, zu glauben, daß irgendein persönlicher Vorteil der Beweggrund dieser guten Handlung sei. Die Hoffnung, die schöne Exvestalin zu meinen Gunsten zu stimmen, hat gar keinen Einfluß auf alles, was ich für sie tue, denn dann würde ich wieder in die alte Methode verfallen. Ich kann auf mein Ehrenwort als Reisender versichern, daß, solange unser Gang gedauert hat, vom Kollinischen Tor bis zu dem Platz, wo jetzt das Grabmal der Scipionen liegt, ich trotz der tiefen Dunkelheit und sogar in den Augenblicken, wo ihre Schwäche mich nötigte, sie in meinen Armen zu halten, nicht aufgehört habe, sie mit der ihrem Unglück gebührenden Rücksicht und Achtung zu behandeln und sie gewissenhaft ihrem Geliebten, der auf der Straße auf sie wartete, wieder zugeführt habe. 25. KAPITEL Von meinen Träumereien entführt, war ich ein anderes Mal zufällig beim Raub der Sabinerinnen gegenwärtig. Mit großem Erstaunen sah ich, daß die Sabiner die Sache ganz anders auffaßten, als die Geschichte sie erzählt. Ohne mich im geringsten um das Getümmel zu kümmern, bot ich einer fliehenden Frau meinen Schutz an. Während ich sie begleitete, konnte ich mich des Lachens nicht enthalten, als ich einen wütenden Sabiner im Ton der Verzweiflung rufen hörte: »Unsterbliche Götter, weshalb habe ich denn meine Frau nicht zum Fest geführt?«
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26. KAPITEL Außer der Hälfte des Menschengeschlechts, für die ich eine lebhafte Zuneigung hege – soll ich es sagen, und wird man mir glauben? Mein Herz ist mit einer so großen Fähigkeit zu lieben begabt, daß alle lebenden Wesen und sogar die leblosen Dinge ihren guten Anteil davon besitzen. Ich liebe die Bäume, die mir ihren Schatten gewähren, und die Vögel, die im Laub zwitschern, und den Nachtschrei der Eule und das Brausen der Ströme: ich liebe alles … ich liebe den Mond! Sie lachen, mein Fräulein: es ist leicht, Gefühle, die man nicht hat, ins Lächerliche zu ziehen; aber die Herzen, die dem meinigen gleichen, werden mich verstehen. Ja, ich hänge mich mit wahrhafter Liebe an alles, was mich umgibt. Ich liebe die Wege, die ich gehe, die Quelle, aus der ich trinke. Ich trenne mich nicht ohne Schmerz von dem Zweig, den ich zufällig von einer Hecke gepflückt habe: ich betrachte ihn noch, wenn ich ihn weggeworfen habe; wir hatten schon Bekanntschaft gemacht. Ich klage um die fallenden Blätter und sogar um den vorüberwehenden Zéphyr. Wo ist jetzt derjenige, welcher mit deinen schwarzen Haaren spielte, Elisa, als du am Vorabend unserer ewigen Trennung am Ufer der Dora an meiner Seite saßest und mich mit traurigem Schweigen anblicktest? Wo sind deine Blicke? Wo ist dieser schmerzliche und teure Augenblick? O Zeit, schreckliche Gottheit, nicht deine grausame Sichel erschreckt mich; ich fürchte nur deine entsetzlichen Kinder, die Gleichgültigkeit und das Vergessen, die drei Viertel unseres Daseins zu einem grausamen Tod machen. Ach, dieser Zephyr, dieser Blick, dieses Lächeln sind ebenso fern von mir wie die Abenteuer der Ariadne. In der Tiefe meines Herzens sind nur Kummer und nichtige Erinnerungen übriggeblieben, das traurige Gemisch, auf dem mein Leben sich noch über Wasser hält, wie ein vom Sturm zerschelltes Fahrzeug noch einige Zeit auf dem unruhigen Meer schwimmt …
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27. KAPITEL … bis allmählich durch die zerbrochenen Planken das Wasser eindringt und das unglückliche Fahrzeug verschlungen im Abgrund verschwindet: die Wogen bedecken es, der Sturm legt sich, und die Seeschwalbe streicht über die einsame und ruhige Fläche des Ozeans dahin. 28. KAPITEL Ich muß die Erklärung meiner neuen Methode zu lieben hier schließen, weil ich bemerke, daß sie ins Schwarze malt. Gleichwohl wird es nicht unangemessen sein, noch einige Aufklärungen über diese Entdeckung hinzuzufügen, die nicht allgemein für jedermann noch für jedes Alter paßt. Ich möchte keinem raten, sie mit zwanzig zu gebrauchen. Der Erfinder selbst hat sie zu dieser Zeit seines Lebens nicht angewandt. Um allen möglichen Vorteil daraus zu ziehen, muß man alle Kümmernisse des Lebens erfahren haben, ohne entmutigt, und alle Genüsse durchgemacht haben, ohne übersättigt zu sein. Eine schwierige Sache! Sie ist besonders nützlich für das Alter, wo die Vernunft uns rät, auf die Gewohnheiten der Jugend zu verzichten, und kann als Vermittlung und unmerklicher Übergang zwischen dem Vergnügen und der Weisheit dienen. Wie alle Sittenlehrer bemerkt haben, ist dieser Obergang sehr schwierig. Wenige Menschen haben den edlen Mut, ihn entschieden zu überschreiten, und oft langweilen sie sich, wenn sie den Schritt getan haben, am andern Ufer und gehen mit grauen Haaren und zu ihrer großen Schande wieder über den Graben zurück. Durch meine neue Methode zu lieben werden sie das ohne Mühe vermeiden. In der Tat sind die meisten unserer Vergnügungen nichts anderes als ein Spiel der Einbildungskraft, und es ist deshalb wesentlich, ihr eine unschuldige Nahrung zu bieten, um sie von Dingen abzuwenden, auf die wir verzichten müssen, fast wie man den Kindern Spielzeug gibt, wenn man ihnen Zukkerwerk versagt. Auf diese Weise hat man Zeit, sich auf dem 105
Gebiet der Weisheit festzusetzen, ohne daß man schon dort zu sein glaubt, und man gelangt auf dem Wege der Torheit dorthin, was vielen Leuten den Zugang auffallend erleichtern wird. Ich glaube also mich in der Hoffnung, nützlich zu sein, die mir die Feder in die Hand gegeben hat, nicht getäuscht zu haben, und brauche mich nicht mehr wegen der natürlichen Regung der Eigenliebe zu verteidigen, die ich rechtmäßig haben könnte, weil ich den Menschen derartige Wahrheiten enthülle. 29. KAPITEL Alle diese vertraulichen Mitteilungen haben dich, liebe Sophie, hoffentlich die beschwerliche Stellung nicht vergessen lassen, in der du mich auf meinem Fenster stehen gelassen hast. Die Bewegung, die der Anblick des hübschen Fußes meiner Nachbarin in mir hervorgerufen hatte, dauerte noch fort, und mehr als je war ich dem gefährlichen Zauber des Pantoffels verfallen, als ein unvorhergesehenes Ereignis mich der Gefahr entriß, daß ich mich aus dem fünften Stockwerk auf die Straße hinabstürzte. Eine Fledermaus flog um das Haus herum, und da sie mich schon lange unbeweglich gesehen hatte, hielt sie mich offenbar für einen Schornstein, stürzte sich plötzlich auf mich und hängte sich an mein Ohr. Auf meiner Wange fühlte ich die schreckliche Kühle ihrer feuchten Flügel. Alle Echos von Turin gaben den wilden Schrei wieder, den ich gegen meinen Willen ausstieß. Die entfernten Schildwachen riefen ihr »Wer da?«, und in der Straße hörte ich den beschleunigten Marschschritt einer Nachtwache. Ohne große Mühe gab ich die Aussicht auf den Balkon, der keinen Reiz mehr für mich hatte, auf. Die Kälte der Nacht hatte es mir angetan. Ein leichter Schauer überlief mich von Kopf bis zu Fuß, und als ich meinen Schlafrock übereinanderschlug, um mich zu wärmen, bemerkte ich zu meinem großen Bedauern, daß diese Empfindung der Kälte im Verein mit dem Überfall der Fledermaus hingereicht hatte, um von 106
neuem die Richtung meiner Gedanken zu verändern. Der Zauberpantoffel hätte in diesem Augenblick nicht mehr Einfluß auf mich gehabt als das Haar der Berenice oder irgendein anderes Gestirn. Ich überschlug sogleich, wie unvernünftig es sei, mich während der Nacht der rauhen Luft auszusetzen, statt dem Verlangen der Natur zu folgen, die uns den Schlaf gebietet. Meine Vernunft, die in diesem Augenblick allein in mir tätig war, bewies mir das ebenso klar wie einen Satz des Euklid. Kurz, ich war plötzlich aller Phantasie und Begeisterung bar und hilflos der traurigen Wirklichkeit preisgegeben. Bejammernswertes Dasein! Ebenso gern möchte ich ein trockner Baum im Wald oder auch ein Obelisk inmitten eines Platzes sein! »Diese beiden wunderlichen Werkzeuge«, rief ich aus, »der Kopf und das Herz des Menschen! Abwechselnd von diesen beiden Triebkräften seiner Handlungen in zwei entgegengesetzte Richtungen bewegt, scheint ihm die zuletzt befolgte immer die bessere! Torheit der Begeisterung und des Gefühls, sagt die kalte Vernunft; Schwäche und Unsicherheit der Vernunft, sagt das Gefühl. Wer könnte, wer wagte jemals zwischen euch zu entscheiden?« Ich erachtete es für gut, die Frage auf der Stelle zu behandeln und ein für allemal zu entscheiden, welchem von diesen beiden Führern ich mich am besten für den Rest meines Lebens anvertrauen soll. »Soll ich künftig meinem Kopf oder meinem Herzen folgen? Prüfen wir das!« 30. KAPITEL Als ich diese Worte sprach, empfand ich einen dumpfen Schmerz in dem Fuß, der auf der Leiter stand. Außerdem war ich von der schwierigen Stellung, die ich bis dahin innegehabt hatte, sehr ermüdet. Ich ließ mich also langsam nieder, um mich zu setzen, ließ meine Beine rechts und links aus dem Fenster hängen und begann so meine Reise zu Pferde. Diese Art zu reisen habe ich immer jeder andern vorgezogen, und die Pferde liebe ich leidenschaftlich. Von allen jedoch, die ich 107
gesehen und von denen ich gehört habe, ist dasjenige, dessen Besitz ich am heißesten begehre, das hölzerne Pferd, von dem in »Tausendundeiner Nacht« gesprochen wird, auf dem man in der Luft reisen konnte und das losfuhr wie der Blitz, wenn man nur einen kleinen Zapfen zwischen seinen Ohren drehte. Nun, man wird einsehen, daß mein Reitpferd viel Ähnlichkeit mit dem aus »Tausendundeiner Nacht« hat. Infolge seiner Lage steht der Reisende, der auf seiner Fensterbank reitet, auf der einen Seite mit dem Himmel in Beziehung und genießt das gewaltige Schauspiel der Natur; die Meteore und die Gestirne liegen vor seinen Augen; auf der andern Seite führen ihn der Anblick seiner Wohnung und die Gegenstände darin wieder auf den Gedanken an sein Dasein und zur Einkehr in sich selber. Eine bloße Kopfbewegung ersetzt den Zauberzapfen und reicht hin, um in der Seele des Reisenden eine ebenso schnelle wie außerordentliche Veränderung zu bewirken. Abwechselnd Bewohner der Erde und des Himmels, durcheilen sein Geist und sein Herz alle Genüsse, die dem Menschen zu kosten vergönnt sind. Im voraus erkannte ich den ganzen Nutzen, den mir mein Reitpferd bringen konnte. Als ich mich fest im Sattel und in der besten Verfassung fühlte und gewiß war, daß ich weder von Dieben noch von den Fehltritten meines Pferdes etwas zu fürchten hatte, hielt ich die Gelegenheit für sehr günstig, mich der Prüfung der Streitfrage zu widmen, welche ich entscheiden sollte und die den Vorrang zwischen Vernunft und Gefühl betrifft. Aber schon bei dem ersten Gedanken, den ich zu diesem Thema faßte, saß ich fest. Steht es mir wohl zu, mich zum Richter in einer derartigen Angelegenheit aufzuwerfen? sagte ich zu mir, der ich in meinem Gewissen von vornherein den Prozeß zugunsten des Gefühls entscheide? Andererseits aber, wenn ich die Leute, deren Herz über den Kopf siegt, ausschließe, wen könnte ich zu Rate ziehen? Einen Geometer? Pah! Diese Leute sind an die Vernunft verkauft. Um diese Sache zu entscheiden, müßte man einen Menschen auffinden, dem die Natur Vernunft und Gefühl zu ganz gleichen Teilen verliehen hätte und bei dem im Augenblick der Entscheidung diese beiden Vermögen völ108
lig im Gleichgewicht wären … Unmöglich! Es wäre leichter, eine Republik ins Gleichgewicht zu bringen. Der einzig maßgebende Richter würde also derjenige sein, dem weder das eine noch das andere zuteil geworden wäre, mit einem Wort ein Mensch ohne Kopf und ohne Herz. Diese wunderliche Folgerung empörte meine Vernunft; mein Herz behauptete seinerseits, es habe nichts damit zu tun. Es schien mir jedoch richtig gefolgert zu haben, und ich würde bei dieser Gelegenheit eine sehr üble Vorstellung von meinen geistigen Fähigkeiten bekommen haben, wenn ich nicht bedacht hätte, daß bei den Untersuchungen in der hohen Metyphysik, wie die vorliegende eine ist, Philosophen von erstem Rang durch eine Reihe von Schlüssen oft zu abscheulichen Folgerungen gekommen sind, die auf das Glück der menschlichen Gesellschaft von Einfluß gewesen sind. Ich tröstete mich also mit dem Gedanken, daß das Ergebnis meiner Untersuchungen wenigstens keinem Menschen Schaden bringe. Ich ließ die Frage unentschieden und entschloß mich, für den Rest meines Lebens abwechselnd meinem Kopf oder meinem Herzen zu folgen, je nachdem das eine über das andere den Sieg davontrüge. Ich glaube wirklich, daß dies die beste Methode ist. Großes Glück, sagte ich zu mir, habe ich freilich bis jetzt noch nicht damit gehabt. Tut nichts, ich gehe den steilen Lebenspfad ohne Furcht und ohne große Pläne hinab, lache und weine abwechselnd und oft zugleich oder pfeife vielmehr irgendeine alte Arie, um mir unterwegs die Langeweile zu vertreiben. Ein anderes Mal pflücke ich im Winkel einer Hecke ein Maßliebchen, reiße seine Blätter eins nach dem andern aus und sage: »Sie liebt mich, ein wenig, sehr, leidenschaftlich, gar nicht.« Das letzte Blatt sagt fast immer »gar nicht«. Wahrhaftig, Elisa liebt mich nicht mehr. Während ich mich so beschäftige, zieht das ganze Geschlecht der Lebendigen an mir vorüber: gleich einer ungeheuren Woge wird es bald mit mir am Gestade der Ewigkeit zerschellen. Und als ob der Sturm des Lebens noch nicht ungestüm genug wäre, als ob er uns zu langsam an die Grenzen des Daseins triebe, erwürgen sich die Nationen massenhaft auf ihrem Weg und kommen dem von der Natur gesteckten 109
Ziel zuvor. Eroberer, die selbst von dem rasenden Wirbelwind der Zeit fortgerissen werden, haben ihre Freude daran, Tausende von Menschen totzuschlagen. Ei, ihr Herren, woran denkt ihr? Wartet! … die guten Leute waren schon im Begriff, eines ruhigen Todes zu sterben. Seht ihr nicht die Woge herankommen? Schon schäumt sie dicht am Ufer . . . Im Namen des Himmels, wartet noch einen Augenblick, und ihr und eure Feinde und ich und das Maßliebchen – alles das findet sein Ende! Kann man sich über einen derartigen Wahnsinn genug wundern? Wohlan, die Frage ist gelöst; in Zukunft werde ich selber kein Maßliebchen mehr abblättern. 31. KAPITEL Nachdem ich mir auf Grund einer, wie man in den vorhergehenden Kapiteln gesehen hat, lichtvollen Logik für die Zukunft eine kluge Lebensregel aufgestellt hatte, blieb mir hinsichtlich der Reise, die ich unternehmen wollte, nur noch ein sehr wichtiger Punkt zu entscheiden. Es ist ja nicht damit getan, daß man sich in einen Wagen oder auf ein Pferd setzt, man muß auch wissen, wohin man reisen will. Von den metaphysischen Untersuchungen, mit denen ich mich eben beschäftigt hatte, war ich so müde geworden, daß ich, bevor ich über die Gegend der Erdkugel, der ich den Vorzug geben wollte, entschied, mich einige Zeit ausruhen und an nichts denken wollte. Auch diese Daseinsform ist meine Erfindung, und sie ist mir oft von großem Vorteil gewesen, aber es ist nicht jedermann die Kunst gegeben, sie zu gebrauchen. Denn wenn es auch leicht ist, seinen Gedanken dadurch Tiefe zu verleihen, daß man sich eifrig mit einem Gegenstand beschäftigt, so ist es nicht so leicht, plötzlich seine Gedanken anzuhalten, wie man das Pendel einer Uhr anhält. Molière hat sehr zu Unrecht einen Menschen lächerlich gemacht, der seine Freude daran hatte, in das Wasser eines Brunnens Kreise zu zeichnen: ich für mein Teil bin sehr geneigt, diesen Mann für einen 110
Philosophen zu halten, der die Macht hatte, seine Verstandestätigkeit zum Stillstand zu bringen, um sich auszuruhen – eine der schwierigsten Handlungen, die der Menschengeist ausführen kann. Ich weiß, daß die Leute, welche diese Fähigkeit ohne ihren Wunsch erlangt haben und gewöhnlich an nichts denken, mich des Diebstahls anklagen und die Ehre der Erfindung für sich beanspruchen werden. Aber der Zustand der Verstandesuntätigkeit, von dem ich sprechen will, ist ganz anders als der, den sie genießen und den Herr Necker verteidigt hat*. Der meinige ist immer willkürlich und kann nur von kurzer Dauer sein. Um ihn in seiner ganzen Fülle zu genießen, schloß ich die Augen, stützte mich mit beiden Händen auf das Fenster, wie ein ermüdeter Reiter sich auf den Sattelknopf stützt, und bald verschwanden die Erinnerung an die Vergangenheit, das Gefühl der Gegenwart und der Blick in die Zukunft aus meiner Seele. Da diese Daseinsform das Eintreten des Schlafes mächtig begünstigt, fühlte ich nach einer halben Minute des Genusses, wie mir der Kopf auf die Brust sank: im selben Augenblick öffnete ich die Augen, und meine Gedanken nahmen wieder ihren Lauf. Dieser Umstand beweist deutlich, daß die Art von willkürlicher Schläfrigkeit, um die es sich hier handelt, vom Schlaf sehr verschieden ist, da ich ja durch den Schlaf selbst aufgeweckt wurde – ein Erlebnis, das gewiß noch nie jemand gehabt hat. Als ich meine Augen zum Himmel erhob, erblickte ich den Polarstern über dem Giebel des Hauses, was mir in dem Augenblick, da ich eine große Reise unternehmen wollte, ein sehr gutes Vorzeichen zu sein schien. Während der eben genossenen Ruhepause hatte meine Phantasie alle ihre Kraft wiedergewonnen, und mein Herz war bereit, die angenehmsten Eindrücke zu empfangen: so sehr kann diese zeitweilige Aufhebung des Denkens seine Stärke vergrößern! Der innerste Kummer, den meine mißliche Lage in der Welt mich * »Über Verfassers).
das
Glück
der
Dummköpfe«, 111
1782
(Anmerkung
des
dumpf empfinden ließ, wurde plötzlich durch ein lebhaftes Gefühl der Hoffnung und des Mutes ersetzt; ich fühlte mich imstande, dem Leben und allen Wechselfällen des Unglücks und Glücks, die es in seinem Gefolge hat, zu trotzen. »Glänzendes Gestirn«, rief ich in dem köstlichen Entzücken aus, das mich ergriff, »unbegreifliches Erzeugnis des ewigen Gedankens! Der du allein seit dem Tag der Schöpfung unbeweglich am Himmel über die eine Hälfte der Erde wachst; der du den Steuermann in der Wüste des Weltmeers leitest und von dem ein einziger Blick oft dem vom Sturm bedrängten Seemann Hoffnung und Leben wiedergegeben hat; wenn ich niemals, sooft eine klare Nacht mir gestattete, den Himmel zu betrachten, unterlassen habe, dich unter deinen Gefährten aufzusuchen, dann stehe mir bei, himmlisches Licht! Ach, die Erde läßt mich im Stich; sei du heute mein Ratgeber und mein Lenker, zeige mir, in welcher Gegend der Erdkugel ich mich niederlassen soll!« Während dieser Anrufung schien der Stern lebhafter zu strahlen, sich droben am Himmel zu freuen und mich einzuladen, mich seinem schützenden Einfluß anzuvertrauen. Ich glaube durchaus nicht an Ahnungen, aber ich glaube an eine göttliche Vorsehung, welche die Menschen mit unbekannten Mitteln führt. Jeder Augenblick unseres Daseins ist eine neue Schöpfung, ein Akt des allmächtigen Willens. Die veränderliche Ordnung, die stets neue Formen und die unerklärlichen Erscheinungen der Wolken hervorruft, ist in jedem Augenblick bis auf das geringste Wasserteilchen, das sie bildet, bestimmt. Die Ereignisse unseres Lebens haben keine andere Ursache, und sie dem Zufall zuschreiben hieße die Torheit auf die Spitze treiben. Ich kann sogar behaupten, daß es mir bisweilen gestattet gewesen ist, einen Blick auf die unbegreiflichen Fäden zu tun, an denen die Vorsehung die größten Männer wie Marionetten handeln läßt, obgleich sie sich einbilden, die Welt zu lenken. Eine kleine Regung des Stolzes, die sie ihnen ins Herz senkt, reicht hin, ganze Heere zu vernichten und ein Volk völlig auf den Kopf zu stellen. Wie dem auch sei: ich glaubte so fest an die Wirklichkeit der Einladung, die ich vom Polarstern bekommen hatte, daß 112
im selben Augenblick mein Entschluß gefaßt war, nach Norden zu wandern. Und obgleich ich in diesen fernen Gegenden keinen mir lieb gewordenen Punkt noch irgendein bestimmtes Ziel hatte, so ging ich doch, als ich am folgenden Tag von Turin abreiste, aus dem Palasttor, das im Norden der Stadt liegt, in der Überzeugung, daß der Polarstern mich nicht im Stich lassen werde. 32. KAPITEL So weit war ich auf meiner Reise gekommen, als ich genötigt war, schleunigst vom Pferd zu steigen. Ich hätte diese Kleinigkeit nicht erwähnt, wenn ich nicht, nachdem ich die unermeßlichen Vorteile dieser Art zu reisen dargestellt habe, die Leute, welche sie vielleicht übernehmen wollen, offen über die kleinen Übelstände unterrichten müßte, mit denen sie behaftet ist. Da im allgemeinen die Fenster ursprünglich nicht für die neue Bestimmung erfunden worden sind, die ich ihnen gegeben habe, so versäumen es die Baumeister, ihnen die bequeme und abgerundete Form eines englischen Sattels zu geben. Hoffentlich wird der einsichtige Leser ohne weitere Erklärung die schmerzhafte Ursache begreifen, die mich nötigte haltzumachen. Ziemlich mühsam stieg ich ab und machte einige Gänge zu Fuß durch mein Zimmer, um wieder gelenkig zu werden, wobei ich über den Wechsel von Freud und Leid, von dem das Leben durchdrungen ist, sowie über die Art von Verhängnis nachdachte, die die Menschen zu Sklaven der unbedeutendsten Umstände macht. Worauf ich mich, versehen mit einem Eiderdaunenkissen, beeilte, wieder aufs Pferd zu steigen. Wenige Tage zuvor hätte ich das aus Furcht, von der Kavallerie verhöhnt zu werden, noch nicht gewagt, aber da ich am Tage vorher vor den Toren Turins eine Abteilung Kosaken getroffen hatte, die auf ähnlichen Kissen von den Ufern des Asowschen und des Kaspischen Meeres gekommen waren, so glaubte ich, ohne den Gesetzen der Reitkunst, die ich sehr 113
hochachte, Abbruch zu tun, dieselbe Sitte übernehmen zu können. Von der unangenehmen Empfindung, die ich habe erraten lassen, befreit, konnte ich mich nun ohne Belästigung mit meinem Reiseplan beschäftigen. Eine Schwierigkeit, die mich am meisten quälte, weil sie mir ans Gewissen ging, war die, zu erfahren, ob ich wohl oder übel daran täte, mein Vaterland zu verlassen, dessen eine Hälfte selbst mich verlassen hat*. Ein derartiger Schritt schien mir zu wichtig, als daß ich mich leicht dazu entschlossen hätte. Als ich über das Wort Vaterland nachdachte, bemerkte ich, daß ich keine recht klare Vorstellung davon hatte. Mein Vaterland? Worin besteht mein Vaterland? Sollte es eine Gesamtheit von Häusern, Feldern, Flüssen sein? Das kann ich nicht glauben. Bilden vielleicht meine Familie und meine Freunde mein Vaterland? Aber die haben es ja schon verlassen. Ach, ich hab's: die Regierung ist es. Aber die hat sich verändert. Guter Gott, wo ist denn mein Vaterland? Ich fuhr mir in einem Zustand unsäglicher Unruhe mit der Hand über die Stirn. Die Liebe zum Vaterland ist so sehr stark! Der Kummer, den ich bei dem bloßen Gedanken, mein Vaterland zu verlassen, empfand, bewies mir dessen wirkliches Dasein so klar, daß ich lieber mein ganzes Leben zu Pferde geblieben wäre, als daß ich mich von meinem Platz entfernt hätte, ohne diese Schwierigkeit gründlich erörtert zu haben. Alsbald sah ich ein, daß die Vaterlandsliebe von der Verbindung mehrerer Elemente abhängt, das heißt, von der dem Menschen seit seiner Kindheit geläufigen Gewöhnung an Personen, örtlichkeiten und Regierung. Es handelte sich nur noch darum zu untersuchen, inwieweit diese drei Grundlagen jede für sich zur Bildung der Vaterlandsliebe beitragen. Im allgemeinen hängt die Anhänglichkeit an unsere Landsleute von der Regierung ab und ist nichts anderes als das Gefühl der Kraft und des Glücks, das sie uns insgemein gibt. * Der Verfasser diente in Piémont, als Savoyen, wo er geboren ist, mit Frankreich vereinigt wurde (Anmerkung des Verfassers). 114
Denn die wahrhafte Anhänglichkeit beschränkt sich auf die Familie und eine kleine Zahl von Leuten, die uns unmittelbar umgeben. Alles, was die Gewohnheit oder die Leichtigkeit zusammenzukommen vernichtet, macht die Menschen zu Feinden: eine Bergkette macht die Leute auf beiden Seiten zu Menschen, die sich nicht lieben; die Bewohner des rechten Ufers eines Flusses glauben sich denen des linken Ufers weit überlegen, und diese hinwiederum machen sich über ihre Nachbarn lustig. Diese Neigung zeigt sich sogar noch in großen, durch einen Fluß geteilten Städten trotz der Brücken, die seine Ufer verbinden. Der Sprachunterschied entfernt die Menschen desselben Staatsgebietes noch mehr voneinander; schließlich ist sogar die Familie, in der unsere wahre Liebe daheim ist, oft im Vaterland zerstreut; sie verändert sich beständig nach Form und Zahl; zudem kann sie den Aufenthaltsort wechseln. Also weder auf unsern Landsleuten noch auf unserer Familie beruht an und für sich die Vaterlandsliebe. Die Örtlichkeit übt wenigstens ebensoviel Einfluß auf unsere Anhänglichkeit an unser Geburtsland aus. Dabei tritt uns eine sehr interessante Frage entgegen: von jeher hat man beobachtet, daß von allen Völkern die Bergbewohner am meisten an ihrem Land hängen und daß die Nomadenvölker im allgemeinen die großen Ebenen bewohnen. Welches ist die Ursache dieser Verschiedenheit in der Anhänglichkeit dieser Völker an die Örtlichkeit? Wenn ich mich nicht irre, verhält es sich so: in den Gebirgen hat das Vaterland eine Physiognomie, in den Ebenen hat sie das nicht. Es ist eine Frau ohne Gesicht, die man trotz aller ihrer guten Eigenschaften nicht lieben kann. Was bleibt in der Tat dem Bewohner eines Walddorfes von seinem örtlichen Vaterland übrig, wenn nach einem Durchzug des Feindes das Dorf verbrannt und die Bäume abgehauen sind? Vergeblich sucht der Unglückliche in der einförmigen Linie des Horizontes irgendeinen bekannten Gegenstand, der Erinnerungen in ihm wachrufen könnte: es ist keiner da. Jeder Punkt des Raumes gewährt ihm denselben Anblick und dasselbe Interesse. Ein solcher Mensch ist in der Tat ein Nomade, wenigstens wenn die Gewöhnung an 115
die Regierung ihn nicht zurückhält. Aber seine Wohnung mag hier oder dort sein, einerlei: sein Vaterland ist überall, wo die Regierung in Tätigkeit ist; er hat nur ein Halbvaterland. Der Bergbewohner richtet seine Neigung auf die Dinge, die er von Kindesbeinen an vor Augen hat und die sichtbare und unzerstörbare Formen haben: von allen Punkten des Tales sieht und erkennt er sein Feld am Bergabhang wieder. Das Brausen des Stromes, der zwischen den Felsen schäumt, hört niemals auf; der Weg zum Dorf windet sich um einen unveränderlichen Granitblock. Im Traum sieht er die Umrisse des Gebirges, die in sein Herz gegraben sind, wie man seinen Fensterrahmen, den man lange betrachtet hat, noch sieht, wenn man die Augen schließt: das seinem Gedächtnis eingeprägte Bild ist ein Teil seines Selbst und erlischt niemals. Mit einem Wort, die Erinnerungen selbst heften sich an die örtlichkeit, aber diese muß Dinge in sich haben, deren Ursprung unbekannt ist und deren Ende man nicht voraussehen kann. Altertümliche Gebäude, alte Brücken, alles, was den Charakter der Größe und der langen Dauer hat, gewährt in der Liebe zur örtlichkeit einigen Ersatz für Berge, doch haben die Denkmäler der Natur mehr Gewalt über das Herz. Um Rom einen seiner würdigen Beinamen zu geben, nannten es die stolzen Römer die Siebenhügelstadt. Die Gewohnheit, der man nachgelebt hat, kann niemals ganz vernichtet werden. Im reifen Alter gewinnt der Bergbewohner nicht mehr die Örtlichkeit einer großen Stadt lieb und kann ein Städter nicht mehr Bergbewohner werden. Daher kommt es vielleicht, daß einer der größten Schriftsteller unserer Zeit, der die Einöden Amerikas geistvoll beschrieben hat, die Alpen dürftig und den Montblanc beträchtlich zu klein gefunden hat. Der Anteil der Regierung ist offenbar: sie ist die erste Grundlage des Vaterlands. Sie erzeugt die gegenseitige Liebe der Menschen und kräftigt die, welche sie von Natur zur örtlichkeit hegen; sie allein kann durch Erinnerungen an Glück oder Ruhm sie an den Boden ketten, auf dem sie geboren worden sind. Ist die Regierung gut, so steht das Vaterland in voller 116
Kraft; wird sie lasterhaft, so ist das Vaterland krank; wechselt sie, so stirbt es. Dann ist es ein neues Vaterland, und jeder kann für sich selbst darüber entscheiden, ob er es annehmen oder ein anderes wählen will. Als die ganze Bevölkerung Athens auf den Rat des Themistokles aus der Stadt zog, verließen da die Athener ihr Vaterland oder nahmen sie es mit sich auf ihre Schiffe? Als Koriolan … Guter Gott, auf was für eine Untersuchung habe ich mich eingelassen! Ich vergesse, daß ich auf meinem Fenster reite. 33. KAPITEL Ich hatte eine alte Tante, die viel Geist besaß und deren Unterhaltung sehr interessant war, aber ihr Gedächtnis, unsicher und fruchtbar zugleich, ließ sie oft von einer Episode zur andern, von einer Abschweifung zur andern übergehen, so daß sie schließlich genötigt war, ihre Zuhörer zu Hilfe zu bitten. »Was wollte ich euch doch erzählen?« fragte sie, und oft hatten es auch ihre Zuhörer vergessen, was die ganze Gesellschaft in unsägliche Verlegenheit setzte. Nun, man hat bemerken können, daß mir bei meinen Erzählungen oft dasselbe widerfährt, und ich muß in der Tat zugeben, daß Plan und Ordnung meiner Reise der Ordnung und dem Plan der Unterhaltungen meiner Tante genau nachgebildet sind. Aber ich fordere von niemandem Hilfeleistung, weil ich bemerkt habe, daß mein Gegenstand sich von selbst wieder zurechtfindet, und zwar in dem Augenblick, wo ich es am wenigsten erwarte. 34. KAPITEL Den Leuten, die meine Abhandlung über das Vaterland nicht billigen wollen, muß ich kundtun, daß der Schlaf, trotz meiner Bemühungen, ihn zu bekämpfen, mich schon vor einiger Zeit überwältigte. Indes bin ich mir jetzt nicht ganz sicher,
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ob ich damals nicht allen Ernstes eingeschlafen bin und ob nicht die außerordentlichen Dinge, die ich erzählen will, die Wirkung eines Traumes oder eines übernatürlichen Gesichts gewesen sind. Ich sah eine glänzende Wolke vom Himmel herniedersteigen, die sich mir allmählich näherte und wie mit einem durchsichtigen Schleier ein junges Mädchen von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren umhüllte. Vergebens suche ich nach Ausdrücken, um das Gefühl zu beschreiben, das ihr Anblick in mir erweckte. Ihr von Güte und Wohlwollen strahlendes Antlitz hatte den Zauber der Jugendschwärmereien und war sanft wie die Träume der Zukunft; ihr Blick, ihr friedliches Lächeln, kurz, alle ihre Züge verwirklichten vor meinen Augen das ideale Wesen, das mein Herz schon so lange gesucht und das je anzutreffen ich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte. Während ich sie mit köstlichem Entzücken betrachtete, sah ich den Polarstern durch die Locken ihres schwarzen, vom Nordwind bewegten Haares glänzen, und zugleich vernahm ich trostreiche Worte. Was sage ich? Worte? Es war der geheimnisvolle Ausdruck des himmlischen Gedankens, der meiner Vernunft die Zukunft enthüllte, während meine Sinne vom Schlaf gefesselt waren; es war eine prophetische Mitteilung des günstigen Gestirns, das ich angerufen hatte, und ihren Sinn will ich in einer menschlichen Sprache auszudrücken versuchen. »Dein Vertrauen in mich soll nicht getäuscht werden«, sprach eine Stimme zu mir, deren Klang dem Ton der Äolsharfen glich. »Siehe, da ist das Land, das ich dir vorbehalten habe; das ist das Gut, nach dem die Menschen vergebens trachten, die das Glück nur für ein Rechenexempel halten und von der Erde fordern, was man nur vom Himmel erlangen kann.« Mit diesen Worten trat die Erscheinung wieder in die Tiefe des Himmels zurück, und die luftige Gottheit verschwand im Nebel des Horizontes. Aber als sie sich entfernte, richtete sie Blicke auf mich, die mein Herz mit Vertrauen und Hoffnung erfüllten. 118
Brennend vor Verlangen, ihr zu folgen, mit aller Kraft beide Sporen, da ich aber wirklich Sporen anzulegen, stieß ich mit der heftig an die Kante eines Dachziegels, daß aus dem Schlaf auffuhr.
gab ich alsbald vergessen hatte, rechten Ferse so ich vor Schmerz
35. KAPITEL Dieser Zufall war für den geologischen Teil meiner Reise von wirklichem Nutzen, weil er mir Gelegenheit gab, genau zu erfahren, wie hoch mein Zimmer über den Alluvialschichten des Bodens lag, auf dem die Stadt Turin gebaut ist. Mein Herz klopfte heftig: ich hatte drei und einen halben Schlag von dem Augenblick an gezählt, wo ich mein Pferd angespornt hatte, als ich das Geräusch meines auf die Straße hinuntergefallenen Pantoffels vernahm, was, wenn man die Zeit, welche die schweren Körper bei ihrem beschleunigten Fall brauchen, sowie die Zeit rechnet, welche die Schallwellen der Luft benötigten, um von der Straße bis zu meinem Ohr zu gelangen, für mein Zimmer eine Höhe von vierundneunzig Fuß drei Zoll neun Strich über der Pflasterfläche Turins ergibt, vorausgesetzt daß mein durch den Traum aufgeregtes Herz hundertundzwanzigmal in der Minute schlug, was von der Wahrheit nicht sehr entfernt sein kann. Nur mit Rücksicht auf die Wissenschaft habe ich, nachdem ich von dem interessanten Pantoffel meiner schönen Nachbarin gesprochen habe, den meinigen zu erwähnen gewagt; auch will ich von vornherein bemerken, daß dieses Kapitel unbedingt nur für die Gelehrten geschrieben ist. 36. KAPITEL Die glänzende Erscheinung, an deren Anblick ich mich soeben erfreut hatte, ließ mich beim Erwachen das ganze Grauen der Vereinsamung, in der ich mich befand, noch lebhafter empfinden. Ich schaute mich nach allen Seiten um und
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sah nur Dächer und Schornsteine. Ach, im fünften Stockwerk zwischen Himmel und Erde schwebend, von einem Meer von Kümmernissen, Wünschen und Sorgen umgeben, war ich mit dem Dasein nur noch durch einen unsichern Hoffnungsschimmer verbunden, eine phantastische Stütze, deren Gebrechlichkeit ich nur zu oft erfahren hatte. Bald drang wieder der Zweifel in mein von den Rechenfehlern des Lebens noch ganz zermartertes Herz, und ich glaubte bestimmt, der Polarstern hätte sich über mich lustig gemacht. Ungerechtes und schuldvolles Mißtrauen, wofür das Gestirn mich mit zehn Jahren des Wartens bestraft hat. Oh, wenn ich damals hätte voraussehen können, daß all diese Verheißungen sich erfüllen würden, daß ich eines Tages auf der Erde das angebetete Wesen finden würde, dessen Bild ich nur im Himmel zu träumen gewagt hatte. Liebe Sophie, wenn ich gewußt hätte, daß mein Glück über all mein Hoffen gehen würde! … Aber man darf den Ereignissen nicht vorgreifen: ich werde auf meinen Gegenstand zurückkommen, da ich die methodische und strenge Ordnung, an die ich mich bei der Abfassung meiner Reise gebunden habe, nicht verwirren will. 37. KAPITEL Die Uhr auf dem Turm der Philippskirche schlug langsam Mitternacht. Ich zählte die Glockenschläge, einen nach dem andern, und der letzte entlockte mir einen Seufzer. Da reißt sich also, sprach ich zu mir, ein Tag von meinem Leben los, und obgleich noch die schwächer werdenden Schwingungen des ehernen Klanges in meinem Ohr zittern, so ist doch der vormitternächtliche Teil meiner Reise schon ebenso fern von mir wie die Reise des Odysseus oder des Jason. In diesem Abgrund der Vergangenheit sind Augenblicke und Jahrhunderte von gleicher Länge; und hat die Zukunft mehr Wirklichkeit? Es sind zwei Nichts, zwischen denen ich im Gleichgewicht stehe wie auf der Schneide meiner Klinge. In Wahrheit scheint mir die Zeit etwas so Unbegreifliches, daß ich versucht sein 120
könnte zu glauben, sie wäre in Wirklichkeit nicht vorhanden, und was man so nennt, wäre nichts anderes als eine Züchtigung des Gedankens. Ich freute mich, daß ich diese Erklärung für das Wort »Zeit«, die ebenso dunkel ist wie die Zeit selber, gefunden hatte, als eine andere Uhr Mitternacht schlug, was mir ein unangenehmes Gefühl verursachte. Etwas Ärger bleibt immer bei mir zurück, wenn ich mich umsonst mit einem unlösbaren Problem beschäftigt habe, und ich fand diese zweite Mitteilung der Glocke an einen Philosophen wie mich sehr unpassend. Einige Sekunden nachher aber war ich wirklich verärgert, als ich von fern eine dritte Glocke, nämlich die des Kapuzinerklosters auf dem andern Po-Ufer, auch noch wie aus Bosheit Mitternacht schlagen hörte. Wenn meine Tante eine frühere, etwas eigensinnige Kammerfrau rief, die sie jedoch sehr liebhatte, so begnügte sie sich in ihrer Ungeduld nicht damit, einmal zu schellen, sondern zog unaufhörlich am Schellenzug, bis die Zofe erschien. »Kommen Sie doch, Fräulein Branchet!« Ärgerlich darüber, sich so gedrängt zu sehen, kam diese nun ganz sachte heran und erwiderte, bevor sie in das Zimmer trat, sehr verdrießlich: »Ich komme schon, gnädige Frau, ich komme schon!« So war auch der Ärger, den ich hatte, als ich die unbescheidene Glocke der Kapuziner zum drittenmal Mitternacht schlagen hörte. »Ich weiß es«, rief ich und streckte die Arme in der Richtung der Uhr aus, »ja, ich weiß es, ich weiß, daß es Mitternacht ist; ich weiß es nur zu gut.« Unzweifelhaft haben die Menschen auf einen hinterlistigen Rat des bösen Geistes es gerade dieser Stunde zur Aufgabe gemacht, ihre Tage einzuteilen. In ihren Wohnungen eingeschlossen, schlafen oder belustigen sie sich, während jene Stunde einen von den Fäden ihres Daseins abschneidet: am andern Morgen stehen sie fröhlich auf, ohne auch nur mit geringsten Gedanken daran zu denken, daß sie um einen Tag älter geworden sind. Umsonst verkündet die prophetische Stimme des Erzes das Herannahen der Ewigkeit, umsonst wiederholt sie voll Trauer ihnen jede Stunde, die verflossen 121
ist; sie hören nichts, oder wenn sie hören, so verstehen sie nicht. O Mitternacht! … schreckliche Stunde! … Ich bin nicht abergläubisch, aber diese Stunde hat mir immer eine Art von Furcht eingeflößt, und ich habe das Gefühl, daß, wenn ich jemals sterben sollte, es um Mitternacht geschehen würde. Ich soll also eines Tages sterben? Wie? Ich soll sterben, ich, der ich rede, ich, der ich mich fühle und mich berühre, ich könnte sterben? Es kostet mich einige Mühe, das zu glauben: denn schließlich ist nichts natürlicher, als daß die andern sterben, man sieht das alle Tage, man sieht, wie sie vorbeigetragen werden, man gewöhnt sich daran; aber selber sterben, persönlich sterben – das ist etwas stark. Und ihr, liebe Leser, die ihr diese Gedanken für Geschwätz haltet, wisset, daß alle Leute so denken und ihr ebenfalls. Keiner denkt, daß er sterben muß. Wenn es ein Geschlecht von unsterblichen Menschen gäbe, würde der Gedanke an den Tod sie mehr erschrecken als uns. Es liegt in dieser Tatsache etwas, was ich mir nicht erklären kann. Woher kommt es, daß die Menschen, die unaufhörlich von der Hoffnung und den Trugbildern der Zukunft bewegt werden, sich so wenig beunruhigen um das, was ihnen diese Zukunft Sicheres und Unausbleibliches bietet? Sollte nicht die gütige Natur selbst uns diese glückliche Sorglosigkeit gegeben haben, damit wir in Frieden unser Geschick erfüllen können? Ich glaube tatsächlich, daß man ein sehr achtbarer Mensch sein kann, ohne mit den wirklichen Übeln des Lebens noch jene Gemütsverfassung zu verbinden, die über düsteren Vorstellungen brütet, und ohne sich die Phantasie mit schwarzen Hirngespinsten zu beunruhigen. Mit einem Wort, ich glaube, daß man, sooft die unschuldige Gelegenheit sich bietet, sich gestatten muß, zu lachen oder wenigstens zu lächeln. So endete die Betrachtung, die mir die Uhr der Philippskirche eingegeben hatte. Ich würde sie noch weiter fortgesetzt haben, wenn mir nicht einige Bedenken über die Strenge der von mir aufgestellten Moral gekommen wären. Da ich aber diesen Zweifel nicht ergründen wollte, pfiff ich die Melodie 122
der »Spanischen Tollheiten«, welche die Eigentümlichkeit hat, die Richtung meiner Gedanken zu verändern, wenn sie auf schlechten Wegen sind. Sie wirkte auch so schnell, daß ich auf der Stelle meinen Spazierritt beendigte. 38. KAPITEL Bevor ich in mein Zimmer zurücktrat, warf ich einen Blick auf die Stadt Turin und das noch düstere Gefilde rings um sie her, die ich im Begriff war – vielleicht auf immer – zu verlassen, und sagte ihnen zum letztenmal Lebewohl. Niemals war mir die Nacht so schön erschienen, niemals hatte mich das Schauspiel, das mir vor Augen lag, so lebhaft angezogen. Nachdem ich das Gebirge und den Supergatempel begrüßt hatte, nahm ich Abschied von den Türmen und Kirchen und allen bekannten Dingen, von denen ich nie geglaubt hätte, daß ich so sehr an ihnen hängen würde; von der Luft, vom Himmel und von dem Fluß, dessen dumpfes Gemurmel meinem Lebewohl zu antworten schien. Oh, wenn ich dieses zugleich zarte und grausame Gefühl darstellen könnte, das mein Herz erfüllte, und alle Erinnerungen an die vergangene schönere Hälfte meines Lebens, die sich wie Kobolde um mich drängten, um mich in Turin zurückzuhalten. Aber ach, die Erinnerungen an vergangenes Glück sind die Runzeln der Seele. Wenn wir unglücklich sind, müssen wir sie wie spöttische Spukgestalten, die unsere augenblickliche Lage verhöhnen wollen, aus unsern Gedanken vertreiben. Es ist dann tausendmal besser, wir geben uns den trügerischen Vorspiegelungen der Hoffnung hin. Besonders aber müssen wir gute Miene zum bösen Spiel machen und uns wohl hüten, jemanden hinsichtlich unseres Unglücks ins Vertrauen zu ziehen. Auf den gewöhnlichen Reisen, die ich unter den Menschen gemacht habe, habe ich bemerkt, daß wir uns, wenn wir mit aller Gewalt unglücklich sein wollen, schließlich nur lächerlich machen. In diesen abscheulichen Augenblicken ist nichts zweckmäßiger als die neue Art zu reisen, deren Beschreibung ich soeben gegeben habe. Das erfuhr ich damals in ganz ent123
scheidender Weise: nicht nur vergaß ich die Vergangenheit, sondern wußte mich auch noch tapfer in meine augenblicklichen Leiden zu fügen. Die Zeit wird sie wegnehmen, sagte ich mir, um mich zu trösten; sie nimmt alles weg und vergißt nichts auf ihrem Weg; und ob wir sie aufhalten oder ob wir, wie man sagt, uns durchlügen wollen – unsere Anstrengungen sind doch stets gleich vergeblich und verändern nichts an ihrem unwandelbaren Lauf. Obgleich ich mir im allgemeinen sehr wenig Sorge um ihre Schnelligkeit mache, so gibt es doch Umstände und Gedankenverbindungen, die mich in ganz auffallender Weise daran erinnern. Wenn die Menschen schweigen, wenn der Dämon des Lärms inmitten seines Tempels, inmitten einer schlafenden Stadt verstummt ist, dann erhebt die Zeit ihre Stimme und macht sich meiner Seele vernehmbar. Schweigen und Dunkel werden ihre Dolmetscher und entschleiern mir ihren geheimnisvollen Gang; sie ist kein bloßer Verstandesbegriff mehr, den mein Denken nicht fassen kann, meine Sinne sogar begreifen sie. Ich sehe sie am Himmel, der die Gestirne vor sich her gen Abend jagt. Sie treibt die Flüsse zum Meer, sie wälzt mit dem Nebel sich am Hügelzug entlang … Ich lausche: die Winde seufzen unter der Wucht ihrer eilenden Schwingen, und die ferne Glocke zittert bei ihrem schrecklichen Vorübergehen. »Benutzen wir schnell ihren Lauf«, rief ich aus. »Ich will die Augenblicke, die sie mir rauben will, nützlich verwenden!« Indem ich aus diesem guten Entschluß Nutzen ziehen wollte, beugte ich mich sogleich vor, um mich mutig in die Rennbahn zu stürzen, und erzeugte dabei mit der Zunge ein gewisses Klatschen, das von jeher bestimmt gewesen ist, die Pferde anzutreiben, das man aber unmöglich nach den Regeln der Orthographie wiedergeben kann: dz! dz! dz! und ich beendete meinen Ausritt mit einem Galopp.
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39. KAPITEL Ich hob meinen rechten Fuß, um abzusteigen, als ich einen ziemlich kräftigen Schlag auf der Schulter fühlte. Wollte ich sagen, ich wäre durch dieses Ereignis nicht erschreckt worden, so würde ich der Wahrheit ins Gesicht schlagen. Und hier ist eine Gelegenheit, dem Leser ohne allzuviel Eitelkeit zu bemerken und zu beweisen, wie schwer es jedem andern wie mir sein würde, eine derartige Reise auszuführen. Wenn man auch dem neuen Reisenden tausendmal mehr Mittel und Talente für Beobachtungen, als ich je haben kann, vorausgeben wollte, könnte er sich wohl kaum schmeicheln, so sonderbare, so zahlreiche Abenteuer zu erleben, wie sie mir in einem Zeitraum von vier Stunden zugestoßen sind und wie sie offenbar zu meinem Schicksal gehören. Wenn jemand daran zweifelt, so versuche er zu erraten, wer mich geschlagen hat. Im ersten Augenblick meiner Aufregung, als ich noch über die Lage, in der ich mich befand, nicht nachdachte, glaubte ich, mein Pferd hätte ausgeschlagen oder mich gegen einen Baum gestoßen. Gott weiß, wieviel unheilvolle Gedanken mir während der kurzen Spanne Zeit in den Sinn kamen, die ich gebrauchte, um den Kopf zu wenden und mich in meinem Zimmer umzusehen. Da sah ich, wie es oft bei Dingen geht, die am außergewöhnlichsten erscheinen, daß die Ursache meines Staunens ganz natürlich war. Derselbe Windstoß, der bei Beginn meiner Reise mein Fenster geöffnet und im Vorbeigehen meine Tür geschlossen hatte und von dem ein Teil zwischen meine Bettvorhänge geglitten war, drang nun polternd wieder in mein Zimmer ein. Barsch öffnete er die Tür, ging zum Fenster hinaus und stieß dabei den Fensterflügel gegen meine Schulter, wodurch ich in das eben erwähnte Staunen versetzt wurde. Der Leser wird sich erinnern, daß ich auf die mir von jenem Windzug zuteil gewordene Einladung hin mein Bett verlassen hatte. Der Stoß, den ich jetzt bekommen hatte, war ganz offenbar eine Einladung, wieder hineinzugehen, die zu befolgen ich mich für verpflichtet hielt. Unzweifelhaft ist es schön, so mit der Nacht, dem Himmel 125
und den Gestirnen in vertrauter Beziehung zu stehen und aus ihrem Einfluß Nutzen ziehen zu können. Ach, die Beziehungen, die man mit den Menschen haben muß, sind viel gefährlicher. Wie oft bin ich nicht durch mein Vertrauen auf diese Leute genarrt worden! Gerade hier sagte ich darüber etwas in einer Anmerkung, die ich aber unterdrückt habe, weil sie länger war als der ganze Text, und das hätte die richtigen Maßverhältnisse meiner Reise zerstört, deren größtes Verdienst ihr geringer Umfang ist.
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NACHWORT
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Wer sich über Xavier de Maistre im literarhistorischen Schrifttum informieren will, wird fast immer enttäuscht. Monographische Darstellungen von Bedeutung sind Mangelware, und selbst die großen französischen Standardwerke der Literaturgeschichte widmen ihm höchstens ein paar Zeilen, zuweilen nur eine kleingedruckte Fußnote zu der etwas ausführlicheren Behandlung seines älteren Bruders Joseph de Maistre, der als publizistischer Hauptvertreter der monarchistischen und klerikalen Strömungen und als Chefideologe der Restauration eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat. Ob diese Mißachtung Xavier de Maistres vielleicht daran liegt, daß er strenggenommen gar nicht zur französischen »Nationalliteratur« gehört und daß er erst als Greis erstmalig französischen Boden betreten hat? Wohl kaum, denn er ist diesen Äußerlichkeiten zum Trotz fest in der literarischen Tradition Frankreichs verwurzelt und hat sein gesamtes Werk französisch geschrieben, ja man darf ihn wegen der ihm immer wieder bescheinigten clarté und légèreté seines Stils ohne weiteres einen Meister französischer Prosa nennen. Es ist vermutlich eher der geringe Umfang seines Werks, der die – oft quantitativ denkenden – Literarhistoriker dazu verleitet hat, ihn nur kursorisch zu behandeln oder gar völlig zu ignorieren. Gewiß, im Vergleich zu den voluminösen Lebenswerken der professionellen französischen Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts nehmen sich de Maistres Œuvres complètes überaus bescheiden aus: ein schmaler Band von 300 bis 400 Seiten, dem E. Réaume 1877 noch einige frühe Versuche und Fragmente aus dem Nachlaß hinzugefügt hat. Es ist das Werk eines Außenseiters, eines Amateurs, dem nur die äußeren Umstände oder der Zufall zu literarischen Ehren verhalfen. Ein Blick auf seine Lebensgeschichte macht deutlich, daß wir es bei ihm eher mit einem Mann der Tat als einem Mann der Feder zu tun haben.
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Geboren wird der Comte Xavier de Maistre im Oktober 1763 (neuerdings nimmt man vielfach den 8. November als Geburtsdatum an) in Chambéry, einer kleinen Stadt in den Voralpen. Heute ist Chambéry die Hauptstadt des französischen Departements Savoie und ein Zentrum des modernen Tourismus – damals war es die Residenz des Herzogtums Savoyen, das zum Königreich Sardinien gehörte und mit Recht stolz war auf seine Eigenständigkeit und seine große Vergangenheit. Die Familie de Maistre zählte zum höchsten Adel des kleinen Herzogtums, und der in diesen Kreisen übliche Lokalpatriotismus hat Xaviers Lebensweg entscheidend bestimmt. Xaviers Kindheit und frühe Jugend bleiben im Dunkel, bis er 1781 als Achtzehnjähriger in ein Regiment der sardinischen Armee eintritt, das zu der Zeit in Chambéry in Garnison lag. Am 6. Mai 1784 unternimmt der junge Offizier eine nicht ungefährliche »Luftreise« in einer Montgolfière, der kühnen Erfindung der Brüder Montgolfier – eine Episode, die nicht nur wegen ihrer Kuriosität erwähnenswert ist, sondern auch ein bezeichnendes Licht auf de Maistres Abenteuerlust und seine im Werk nachwirkende Aufgeschlossenheit für technische und physikalische Probleme wirft: man erinnere sich nur an seine Experimente mit der selbstgebastelten künstlichen Taube, die er in der Nächtlichen Reise so humorvoll beschreibt. Als Savoyen 1792 von den Revolutionstruppen überflutet und dem französischen Staat einverleibt wird, verläßt Xavier de Maistre, der nicht in der Armee der Eroberer dienen will, seine Heimat und begibt sich zunächst nach Aosta, wo er sich mit Studien aller Art und mit der Malerei beschäftigt. 1799 tritt er in russische Dienste und kämpft unter Suwarow, dessen Expeditionskorps in Italien steht, gegen die Franzosen. Doch Suwarow fällt bald darauf in Ungnade, und der Major de Maistre muß seinen Abschied nehmen. Fortan ist Rußland seine zweite Heimat. In St. Petersburg schlägt er sich offenbar einige Zeit mit Miniaturenmalen durch, bis sein Bruder Joseph, seit 1802 sardinischer Gesandter in dieser Stadt, ihm den Posten eines Bibliotheks- und Museumsdirektors der Ad130
miralität verschafft. Doch das Soldatenhandwerk reizt Xavier de Maistre mehr; er nimmt an den Feldzügen im Kaukasus und in Persien teil, wird in Georgien schwer verwundet, zieht in den Befreiungskrieg gegen Napoleon und beschließt seine erstaunliche militärische Karriere im Rang eines russischen Generalmajors. Im Jahr 1825 sieht er als pensionierter General zum erstenmal seine Heimat wieder, und anschließend lebt er einige Jahre in Italien. Im November 1828, nachdem sich die stürmischen Wogen seiner Jugendzeit längst geglättet haben, kommt er nach Paris – »zum erstenmal und am Ende meiner Laufbahn«, wie er selber betont. Seinen Lebensabend verbringt er jedoch in St. Petersburg, wo er am 12. Juni 1852, fast neunundachtzigjährig, stirbt. In diesem langen, abenteuerlichen Soldatenleben scheint kaum Platz zu sein für geregelte schriftstellerische Betätigung. Und tatsächlich war, wie bereits angedeutet, jeweils ein autobiographischer Anstoß nötig, um in de Maistre eine literarische Arbeit reifen zu lassen. Das gilt nicht nur für seine beiden Reisen um mein Zimmer, sondern auch für seine drei restlichen Erzählungen, Le Lépreux de la cité d'Aoste (Der Aussätzige von Aosta, 1812), Les Prisonniers du Caucase (Die Gefangenen im Kaukasus, 1815) und La Jeune Sibérienne (Die junge Sibirierin, 1815), die schon im Titel verraten, daß sie auf »wahren Begebenheiten« beruhen. Literatur erscheint also bei de Maistre als sporadisches Nebenprodukt einer bewegten vita activa, als fast spielerischer Versuch, die Fülle des Erlebten und Gedachten zu erzählerischen oder essayistischen Miniaturen auszuformen, ohne große Ambitionen, unbekümmert um Moden und Stilrichtungen. Daß sich trotz solcher Absichtslosigkeit kleine und reine Kunstgebilde entwickelten, ist de Maistres sicherem Geschmack, seiner selbstironischen Bescheidenheit und seinem angeborenen Sinn für Maß und Wirkung zu danken. Xavier de Maistres Hauptwerk, Die Reise um mein Zimmer, entstand wohl im wesentlichen 1790, wurde aber erst vier Jahre später abgeschlossen. Der Verfasser überreichte dem 131
verehrten und literarisch versierten Bruder Joseph das fertige Manuskript zur Begutachtung, und der Ältere war so sehr angetan von der schriftstellerischen Arbeit Xaviers, daß er sie ohne dessen Wissen drucken ließ, und zwar mit dem mystifizierenden Titel: Voyage autour de ma chambre par M. le chev. X … O.A.S.D.S.M.S., Turin 1794. (In Wirklichkeit erschien das Werkchen 1795 in Lausanne, wo sich Joseph de Maistre im Kreis der Madame de Staël und anderer französischer Emigranten bewegte, und die geheimnisvollen Initialen bedeuten nichts anderes als: Officier au service de Sa Majesté Sarde.) Den autobiographischen Hintergrund dieses Erstlings deutet Xavier de Maistre in seinem Werk nur an: 1789 oder 1790 erhielt er wegen eines Duells einen sechswöchigen Stubenarrest. Ob das folgenreiche Duell in Turin stattfand oder in Alexandria (de la Paglia), wo de Maistre vorübergehend einquartiert war, läßt sich nicht mehr genau ausmachen – sicher ist nur, daß er den Schauplatz, wohl um des größeren Effekts willen, nach Turin verlegt. Die sechs Arrestwochen, die augenscheinlich weder das Ehrgefühl noch den gewohnten Lebensstil des gemaßregelten Offiziers sonderlich beeinträchtigt haben, verwandeln sich unter der Hand in eine zweiundvierzigtägige Zimmerreise. Der Einfall ist genial und, so scheint es, ohne unmittelbares Vorbild. Hier nimmt ein junger Dilettant ganz selbstverständlich literarische Konzeptionen vorweg, die wir einer viel späteren Zeit zuzuordnen gewohnt sind: Formauflösung, Verzicht auf epische Kontinuität, Selbstbespiegelung des Eingeschlossenen, innerer Monolog, »monologische Dichtung«. Natürlich sind alle diese Begriffe ein paar Nummern zu groß, natürlich ist es noch ein sehr weiter Weg von de Maistre zu Joyce, Sartre, Camus und Benn, aber allererste Ansätze zeichnen sich unverkennbar ab. Vor allem fehlt bei de Maistre, wie nicht anders zu erwarten, das Bedrückende, Pessimistische, Ausweglose der einschlägigen modernen Literatur; statt dessen findet man bei ihm einen menschenfreundlichen Humor, der noch nicht durch Verzweiflung zersetzt ist, eine selbstverständliche Geborgenheit in Lebenszusammenhängen, die noch 132
nicht durch bitteren Skeptizismus in Frage gestellt sind. Aber auch bei de Maistre verbergen sich schon verschämte Resignation und Desillusionierung unter der noch heilen Oberfläche. Wie de Maistres Erstling in die Zukunft zu weisen scheint, so ist er auch der Tradition verhaftet, und ein großer Anreger ist fast auf jeder Seite gegenwärtig: Laurence Sterne, der Verfasser des Tristram Shandy und – man beachte die Analogie im Sujet – der Empfindsamen Reise. Ja, man könnte so weit gehen, die Reise um mein Zimmer teilweise als eine direkte Nachahmung der Werke des englischen Dichters zu bezeichnen, obwohl de Maistre bei der Aufzählung seiner Lieblingsdichter Sternes Namen unterschlägt – er wußte wohl, warum! Die Abhängigkeit von Sterne zeigt sich nicht nur im digressiven Stil oder in äußerlichen Anspielungen (wenn de Maistre etwa von seinem »Onkel Toby« – im Original »Tobie« – spricht oder wiederholt die fiktiven Damen Jenny und Elisa anruft, die bei Sterne als irdische Musen eine ähnliche Funktion haben), sondern auch in geschlossenen Szenen. Schon Sainte-Beuve hat in einem längeren Essay von 1839 darauf hingewiesen, daß die Episoden um den Diener Joannetti und den armen Jakob den unmittelbaren Einfluß Sternes verraten, und es würde einem Kenner von Sternes Werk nicht schwerfallen, noch zahlreiche weitere formale oder inhaltliche Parallelen aufzuspüren. Der Vollständigkeit halber sei wenigstens noch ein zweiter Einfluß festgehalten: der von Goethes Werther. Die »Werther-Stimmung« war damals eine europäische Mode, und die fast unvermeidlichen Anspielungen auf Werther und Lotte in der Reise um mein Zimmer sollten deshalb nicht überbewertet werden. Trotzdem hat sich ein gewisser Wilhelm Ungewitter 1892 in einer Schrift über de Maistre bemüßigt gefühlt, dessen Buch ganz im Zeichen Goethes zu interpretieren, indem er den »moralischen« deutschen gegen den »unmoralischen« englischen Dichter ausspielt und de Maistre auf Grund unhaltbarer Thesen im Sinne deutschen Edelmenschentums für die Moral rettet – eine Manipulation, über die 133
wir heute genauso lächeln, wie der Grandseigneur de Maistre über sie gelächelt haben würde: Es ist doch nicht zu übersehen, daß er – genau wie Sterne – sein Werk genüßlich mit einer kleinen Prise Rokokofrivolität abgeschmeckt hat. (Ein originelles Beispiel dafür bietet das 12. Kapitel mit seiner Kombination von typographischem Witz und versteckter erotischer Anspielung. Das hätte Sterne nicht besser machen können.) Diese Hinweise auf die beiden wichtigsten literarischen Einflüsse sind zwar zum Verständnis des belesenen und zitierfreudigen Xavier de Maistre unerläßlich, sagen aber über sein Werk noch nicht allzuviel aus. Wir denken heute großzügiger über den Originalitätsbegriff in der Literatur als früher und sehen in der Verarbeitung von Anregungen und Einflüssen keinen Nachteil, sofern das neue Werk in sich stimmig und geschlossen ist und aus sich selber zu existieren vermag. Dies kann man der Reise um mein Zimmer nun bestimmt nicht absprechen, und wer sie unvoreingenommen liest, wird sofort eingefangen sein von den erfindungs- und empfindungsreichen Gedankenspielen des Autors, seiner Natürlichkeit in Haltung und Ausdruck, seinem weltmännischen Charme, seiner hintergründigen, kunstvoll durchgeführten Theorie von der Doppelnatur der Menschen, in der auf nonchalante Weise gleichfalls Späteres vorweggenommen scheint: Vorahnung des Unterbewußten, Präfiguration der Libido, das »Tier im Menschen«. Wahrscheinlich war auch der Autor selber nicht wenig stolz auf den Erfolg seines ersten Buches, denn schon bald, vermutlich 1799, beginnt er mit einer Fortsetzung, die allerdings erst 1825 unter dem Titel Expédition nocturne autour de ma chambre (Nächtliche Reise um mein Zimmer) in Paris erscheint. Joseph de Maistre hatte zwar seinem Bruder von diesem Vorhaben abgeraten, weil er als erfahrener Schriftsteller wohl wußte, welche Gefahren solchen Fortsetzungen gelungener Bücher drohen, aber Xavier hörte diesmal zum Glück nicht auf die Stimme des großen Bruders. Denn auch die Nächtliche Reise ist ein kleines Meisterstück, originell in Idee und Ausführung, ohne billiger Abklatsch des Vorgängers zu 134
sein. Auch die Einflüsse von außen fallen weniger ins Auge, und in einem Punkt hat de Maistre seine bisherigen formalen Erfindungen noch weiter vorangetrieben: die erste Reise dauerte immerhin 42 Tage, die zweite nur noch vier Stunden, von 8 Uhr abends bis Mitternacht. Für uns Heutige, die wir dem Zeitproblem in der Dichtung zunehmend Beachtung schenken, bleibt de Maistres früher Versuch, erlebte und erzählte Zeit weitgehend einander anzunähern, ein überraschendes Phänomen, auch wenn sich hier eher launischer Spieltrieb als bewußt arbeitender Kunstverstand kundtut. Xavier de Maistre hat sich gewiß nicht als literarischer Neuerer empfunden, und trotz allen zukunftsträchtigen Ansätzen, die in seinem schmalen Werk angelegt sind, ist er stets ein Kind seiner Zeit geblieben, erfüllt von der ironisch-zweifelnden Haltung der späten Aufklärung, tief berührt von der Empfindsamkeit und überschattet von der poetischen Melancholie der anbrechenden Romantik. Daß seine zufällig entstandenen Erzählungen einmal als kleine Kostbarkeiten der französischen Prosaliteratur und als Vorstufen späterer Experimente anerkannt würden, hätte er sich wohl kaum träumen lassen. »Er wurde«, sagt Sainte-Beuve von ihm, »ein anmutiger, feinsinniger und ergreifender Erzähler, ohne danach gestrebt zu haben; er wußte unter allen Himmeln im verborgenen seine Oliven- oder Orangenpflänzchen zu hegen und zu pflegen, ohne zu ahnen, welche seltenen Bäume sich daraus entwickeln würden.« Siegfried Schmilz
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INHALT Die Reise um mein Zimmer 5 Die nächtliche Reise um mein Zimmer 69 Nachwort 127
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