Robert Ullman �
Zum Sterben � verdammt �
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Robert Ullman �
Zum Sterben � verdammt �
Natalie Eames stand über ihren Bruder gebeugt, den ein Schuß in die linke Schulter getroffen hatte. »Los, rüber an das Fenster, Jonas!« befahl Bragg Eames seinem zweiten Sohn und wies dorthin, wo Clay noch eben gestanden hatte, bis ihn die Kugel an der Schulter erwischt hatte. »Und du, Nattie, beeil dich! Du mußt aufladen! Toby…, hol aus der Schublade noch Munitionsschachteln! Aber bück dich!« Der Beschuß von draußen hielt ununterbrochen an. Wie giftige Hummeln surrten die Geschosse durch sämtliche Fenster in den Raum, schlugen klatschend in die Rückwand der Hütte, die an eine Felswand gebaut war. Beißender Pulverqualm erfüllte die Hütte, zog in zerrissenen Schwaden aus den Fenstern. Toby war dreizehn Jahre alt. Blond, sandblond, mit blauen Augen, schmalem Antlitz, das mehr aus Sommersprossen als aus Gesicht bestand. Er war ein langaufgeschossener Junge mit breiten kräftigen Händen und einem Stimmbruch, der seine Stimme in die eines heiseren, alten Mannes verwandelte. Neben dem Vater verhielt er einen Augenblick, sah ihn von der Seite an, als wolle er sich zum ersten Male in seinem Leben das große Gesicht mit der braun-pergamenteren Haut und dem dünnen Schnauzbart für immer einprägen. »Na, was ist, Tob?« Bragg wandte den Kopf. Seine Augen waren mit warmer Freundlichkeit, aber irgendwie gehetzt auf das hagere Gesicht seines Jüngsten gerichtet. »Nichts, Vater«, stotterte Toby verlegen und rutschte zu Sydney, dessen Sharps-Gewehr gerade von Natalie aufgeladen wurde und der seinen Revolver vorsichtig aus dem unteren
Winkel seines Fensters abschoß. Natalie war groß und kräftig. Sie hatte Schultern und Hüften wie ein Mann. Sie schoß wie ein Mann, und ihr Gesicht war eckig und hart. Die Natur hatte sich einen Witz mit ihr erlaubt, als sie eine Frau aus ihr machte. Wären nicht die warmen, mütterlichen Augen und die langen braunen Haare gewesen, hätte sie nur ein Arzt als Frau erkannt. Ein Geschoß streifte Sydney ganz leicht an der Wange und zauberte dort einen langen, brennendroten Strich hervor. Sydney fluchte, faßte sich an die brennende Schmarre und fluchte wieder. Er war im Gegensatz zu seinem Vater und seinen Brüdern klein, fast schmächtig, aber von ewig loderndem Temperament erfüllt. Er war wie die anderen blond, wirkte jedoch unruhiger, impulsiver. »Sie kommen näher, Vater!« rief er. »Dann schieß ihnen die Ohrläppchen weg!« Sydney sah Toby am Boden knien, sah seine großen, erschrockenen Augen angstvoll auf sich gerichtet. Mit verlegener Bewegung streichelte er ihm übers Haar, als wolle er sagen, daß er ja nichts dafür könne, daß die Posse sie hier aufgespürt hätte und ihnen jetzt einheize. Toby schluckte unter Tränen. Dann kroch er zurück am Vater vorbei, der, wie die Wachsamkeit selber, Schuß um Schuß nach draußen feuerte und sich keine Sekunde ablenken ließ. Clay war zum Fenster zurückgekrochen. Er schoß jetzt auch wieder. Toby bemerkte, wie er bei jedem Schuß vor Schmerzen die Lippen so hart aufeinander preßte, daß sie nur noch ein Strich waren. Jones legte eine Pause ein. »Sie warten«, rief er zu Bragg hinüber.
»Dann spar Munition und laß sie herankommen! Du hast fünfzehn Yard freies Gelände vor dir. Schieß nur, wenn du auch treffen kannst.« Jones hatte Mühe, seine breite Zentaurengestalt unter dem Fensterbrett zu halten. Er sah aus wie der preisgekrönte Herausschmeißer einer Trailsmen-Bar. Aus ihm hätte man zwei machen können, und diese zwei wären immer noch Prachtgestalten geworden. Er hatte die Augen eines gutmütigen Kindes und den Mund eines Apachen. Ein Geschoß traf die Lampe an der Decke, die mit klatschendem Knall zerbarst und den penetrant riechenden Geruch des Petroleums weit im Räume verstreute. Toby erhielt einen Spritzer ins rechte Auge, das wie Feuer brannte. Die Schüsse ließen nach. Einer der letzten prellte Sydney den Colt aus der Faust. Das abprallende und plattgedrückte Stück Blei fuhr ihm tief in das Handgelenk. Als er einen gellenden Schrei ausstieß, fuhren alle Köpfe herum. »Verbinde ihn, Natalie!« »Meine Hand. Die verdammten Hunde. Sie haben meine Hand zerschossen.« »Du hast ja noch die Linke«, sagte Bragg gepreßt. »Im übrigen kommen wir hier sowieso nicht mehr heraus. Rod Hogset ist ein harter Mann.« »Drüben winken sie, Vater.« Bragg starrte Clay an. Der deutete zum Fenster. Bragg linste vorsichtig hinaus. Tatsächlich. Vor dem Fenster breitete sich die wilde, heiße und trockene
Schönheit der Sawatch Range aus. Im Hintergrund der in der heißen Luft flimmernde Kegel des Mount Harvard. Rings um die Hütte herum lagen abgerundete Felsen, die sich wie braunrote, übereinandergestülpte Hefeknödel über die leicht absteigende Geröllhalde verteilten. Dazwischen Krüppelkiefern, Warzenkakteen und Zwergzedern. Hinter einem Felsen, der wie ein umgestülpter, verbeulter Zylinder aussah, wurde ein weißer Fetzen hin und her gewedelt. »Nicht mehr schießen. Ich möchte wissen, was sie wollen.« Von drüben dröhnte eine dunkle Stimme, die weit über die Range rollte. »Eames! – Bragg Eames!« »Was willst du, Sheriff?« rief Bragg mit seiner knarrenden Stimme zurück. »Hör zu, Eames! Ihr seid in der Falle. Jeder Widerstand ist sinnlos. Kommt raus! Ich verspreche euch eine anständige Gerichtsverhandlung.« Bragg tastete sich mit seinen steingrauen Augen zu Toby, der beklommen am Boden hockte und zu ihm aufsah. Niemand merkte ihm an, was ihn in diesem Augenblick bewegte, als er in die großen, leeren Augen des Jungen blickte. Dann holte er schnaufend Atem. Er war der Vater dieses Jungen. Vater. Es war, als wisse er erst jetzt, was dieses Wort bedeutete. Vater. War er nicht auch der Vater dieser drei Männer, die schweigsam und wie gehetzte Wölfe unter den Fenstern kauerten? War er nicht auch der Vater von Natalie, die nie ein Mädchen gewesen war, weil er sie wie einen Mann erzogen hatte? Er dachte an Lucille, seine Frau. Er hatte sie beim Tanz kennengelernt. Leicht wie eine Feder war sie gewesen. Und so voll
Vertrauen in seine Kraft. Und was hatte er aus seiner Familie gemacht? Banditen, Desperados, Bankräuber, Menschen, mit deren Namen man unartige Kinder ins Bett jagte. »Hast du gehört, Eames?« dröhnte die Stimme von Sheriff Rodney Hogset. »Ich habe gehört«, murmelte Bragg leise und dann laut: »Natürlich habe ich gehört. Warum machst du mir den Vorschlag, Sheriff? Du weißt ganz genau, daß wir ihn nicht annehmen können.« Eine Weile blieb es still. Dann war wieder die Stimme des Sheriffs da. Der Stimme nach mußte Hogset ein kleiderschrankähnlicher Riese sein. »Wir wollen uns mitten zwischen uns treffen, Bragg. Bei deinem toten Sohn Billy.« »Was soll das?« »Ich halte es für wichtig, daß das Leben von braven Männern nicht noch mehr gefährdet wird.« »Hm«, machte Bragg nachdenklich und verächtlich zugleich. »Gut, Sheriff. Ich komme.« »Bleib hier, Vater«, drängten sie ihn. »Was soll diese unnütze Rederei?« »Laßt mich. Hogset ist das, was man drüben einen Ehrenmann nennt. Und wir gewinnen etwas Zeit damit. Hol inzwischen Wasser, Natalie, gieße in jede Kanne etwas Whisky und stelle sie neben deine Brüder. Ihr könnt auch etwas essen, wenn ihr Lust habt.« Dann erhob er sich, ruckte den schweren Riegel der Tür hoch und trat hinaus in das gleißende Sonnenlicht. Mit seiner hohen Gestalt, die in abgeschabtem Habit steckte, mit den starren, schleifenden Schritten und dem etwas gebeugten Rücken, paßte er in die wilde Landschaft, als sei er
mit ihr erschaffen worden. Das Blockhaus hatte ein Vordach, das auf zwei Pfählen ruhte. Davor stand ein Zügelholm. In einem Korral, der im Schatten der sich steil hochtürmenden Wand stand, drängten sich die zehn Pferde der Familie Eames mit ängstlichem Schnauben zusammen. Billy Eames lag mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen vor seinem Lieblingsplatz, einem niedrigen, sattelförmigen Stein, auf dem Gesicht. Zwei Schritte neben ihm die Gitarre. Die weiße Fahne verschwand. Hinter dem Stein kam ein kleines, dürres Männchen hervor, das gerade so groß wie Toby war, wenn er keinen Hut trug. Rodney Hogset, der Sheriff von Leadville, Colorado. Wenn man diesem kleinen Mann auf näher als zehn Schritte herankam, verlor sich das natürliche Gefühl der Überlegenheit sofort. Er hatte das Gesicht eines gutmütigen Klavierspielers. Es war glatt und seltsam blaß. Hogset hatte einen Stockschnupfen. Deshalb zog er ständig laut und vernehmlich die Nase hoch. Vor dem großen Bragg Eames wirkte er wie ein beim Waschen eingelaufener Gartenzwerg. Aber Bragg Eames fiel es nicht ein, auch nur eine Miene darüber zu verziehen, denn er wußte, daß Hogset gefährlich wie ein Büffel war. Und er wußte, daß er ihn seit zwölf Jahren jagte. Kreuz und quer durch das Felsengebirge. Aber zwölf Jahre lang war er stets für den klugen Eames zu spät gekommen. Bis auf heute. Eames suchte den Triumph dieser Stunde in des Sheriffs Augen, aber er fand nichts als Ernst in den kleinen grauen Augen, die wie wässrige Diamanten glitzerten. Vor seinem hingestreckten Sohn Billy blieb er stehen, sah, wie ein leichter Bo-
denwirbel mit seinen goldblonden Locken spielte. Er schluckte. Dann wanderte sein Blick am Sheriff hoch. »Es ist aus und vorbei, Eames«, sagte der mit seiner tiefen Baßstimme ruhig. »Das weiß ich.« »Dann ergeben Sie sich, Eames.« »Damit Sie uns hängen? Nein, Sheriff. Niemals!« »Man wird nicht wegen Bankraubes, Bahn- und Straßenraubes gehenkt. Auf das Konto der Familie Eames kommen drei Morde. Der Kutscher der Nuddle-Fargo vor fünf Jahren. Der Mailschaffner der Denver-Buenavista-Bahn vor drei Jahren und der Kassierer der Belknap-Land-Company. Ich kann mir nicht denken, daß fünf Männer, ein Junge und ein Mädchen diese Morde alle gemeinsam begangen haben.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Eames dünn. »Daß jeder nur die Suppe auslöffeln muß, die er sich selbst angebrannt hat.« »So? Hm! Sie sind sicher, daß es in allen drei Fällen Mord war?« »Absolut. Ich weiß, daß die Männer zur Waffe griffen, trotzdem sie davor gewarnt wurden. Trotzdem Mord. Sie wurden getötet, weil ihr euch bereichern wolltet. Ich verspreche Ihnen eine faire Verhandlung, Eames. Das ist alles, was ich tun kann.« »Gut. Wir bleiben hier.« »Hören Sie, einer meiner Leute wurde tödlich getroffen. Zwei andere schwer verwundet. Ich habe keine Lust, auch nur noch einen einzigen Mann zu opfern. Sie sind selbst Vater und wissen, wie es ist, wenn der Mann in einer großen Familie nicht mehr heimkommt.« »Ich kann es nicht ändern.« »Mann, wollen Sie, daß man die ganze Familie Eames zu-
sammenschießt?« »Sie wollen das, Sheriff«, grinste Bragg bissig, sah auf den toten Billy nieder, und ihm war gar nicht nach Grinsen zumute. »Ich mache Ihnen einen letzten Vorschlag«, knurrte Hogset, der wohl wußte, daß es sinnlos war, überhaupt mit Bragg Eames zusammengekommen zu sein, »die, die Morde begangen haben, bleiben drin, die anderen kommen raus.« »Das ist fair, Sheriff. Aber ich kenne meine Boys, jedes Wort ist überflüssig. Wir sind Outlaws. Wir haben im Laufe der Jahre viel Geld erbeutet, aber glauben Sie nicht, daß wir dadurch besser lebten als der schäbigste Kuhtreiber. Ehe wir auf Jahre hinter Gitter gehen, sterben wir lieber. Und die, von denen Sie sprachen, können die anderen natürlich nicht im Stich lassen, denn nach unserem Ehrenkodex haben sie sie mit den Schüssen beschützt.« »Dann lassen Sie wenigstens den Jungen und… das Mädchen heraus. Es geschieht ihnen nichts. Sie sind beide frei.« Toby, dachte Eames. Yeah, natürlich mußte Toby aus der Hütte heraus. Er nickte. »Ich schicke Toby hinaus, sagen Sie Ihren Leuten Bescheid!« »Und das Mädchen?« »Natalie? Die werden keine tausend Teufel herauskriegen. Sie ist eine Eames, Sheriff.« Er sagte es mit einem Anflug von Stolz, über den Hogset nur unbeeindruckt die Schultern zucken und die buschigen Augenbrauchen hochziehen konnte. »Wie Sie wollen, Eames. In fünf Minuten muß der Junge draußen sein. Mehr Zeit kann ich Ihnen nicht geben.« »Ist auch nicht nötig. Sagen Sie, Sheriff – wie sind Sie eigentlich dahintergekommen, daß wir hier unseren Wigwam haben?«
»Zufall, Eames. Roy Docherty fand ein frisch gewaschenes Hemd, das mitten auf dem Weg der Stage Coach lag, unten im Soapbox Canyon. Ich ging der Sache nach und fand vor vier Tagen die Hütte, das ist alles.« »Es war mein Hemd«, nickte Bragg. »Der Wind hat es von der Leine gerissen. Wir haben es gesucht, aber nicht gefunden. Pech. Sie hätten uns nie gefunden.« »Ich gebe zu, daß ich euch in den Fringes gesucht habe. Aber gefunden hätte ich euch, darauf können Sie sich verlassen. Gehen Sie jetzt, Eames! Sie können den Jungen mitnehmen, wenn Sie wollen.« Der alte Bandit hob den toten Billy auf und ging mit ihm zur Hütte zurück. Es war still. Nur das Rasseln seiner Sporen stand dünn in der Luft. Hogset trug keine. In der Hütte legte er Billy auf ein Lager, nahm einen Hut von der Wand und deckte damit sein Gesicht zu. Sie sahen ihn erwartungsvoll an. »Gefängnis«, sagte er mit hängenden Armen. »Für mich und Sydney wegen der Toten eine Grube.« »Du hast doch gesagt, daß wir hierbleiben?« keuchte Clay. Bragg nickte. Dann wanderte sein Blick zu Toby, der neben Clay stand und zwei Revolver und Munition neben sich liegen hatte. »Komm her, Toby!« Toby kam. »Geh und hol deinen guten Anzug!« Toby zögerte. »Tu, was ich dir sage. Und den neuen Hut auch.« »Ja, Vater«, schluckte Toby und ging in einen Nebenraum. Die Blicke der anderen zeigten dem Alten, daß sie verstanden.
»Du kannst auch gehen, Nattie.« »Du sprichst so leise, daß man dich kaum verstehen kann,Vater«, sagte Natalie mit eckigem Gesicht. »Schon gut Und noch eins, Boys – haltet auf die Beine und Arme, wenn es geht.« »Am besten binden wir noch um jede Kugel einen Blumenstrauß«, knurrte Sydney wütend. »Auf Beine und Arme«, hielt ihn der graue Blick des Alten fest. Toby kam zurück, den neuen Hut auf dem Kopf, den Anzug über den Arm gelegt. »Komm hierher, Toby! So, hier ist mein Revolvergurt. Du wolltest immer schon mal mit dem Patterson schießen. Nimm ihn und merk dir eins: – Schieß nie auf einen Menschen. Und wenn es dennoch sein muß, dann verwunde ihn nur! Verlaß dich auf deine Fäuste, Tob.« »Was – was bedeutet das?« stottert Toby bleich. »Daß du jetzt rübergehst.« »Niemals.« »Du wirst gehen, sonst ergebe ich mich und…« »Ich gehe, Vater.« »Hier, Kleiner, nimm meine Sporen!« Jones reichte ihm die versilberten Scheibenradsporen. »Da, mein Halstuch«, grinste Clay unter Schmerzen, »wenn du dir die Nase drin putzt, holt dich der Teufel.« Toby schluckte. Sydney hatte ein reich verziertes, indianisches Messer für ihn, und Natalie band ihm ein kleines Blechmedaillon um den Hals, in dem das Bild der Mutter war. »Noch eins, Junge: Sei dir klar darüber, daß wir Banditen waren. Alle! Es gibt kein schlechteres Geschäft auf der Welt als Bandit zu sein. Du wirst keiner, hörst du, Toby – du bleibst
drüben, auf der anderen Seite. Versprich es mir.« »Ich verspreche es, Vater«, würgte Toby. »Sie sind schlecht. Du wirst es merken. Sie sind ebenso schlecht, wie sie dumm und egoistisch sind. Man wird es dich fühlen lassen. Du wirst es schwer haben und beweisen müssen, daß ein Eames auch seinen Mann stehen kann, ohne ein Bandit zu werden. Wir konnten es nicht, Toby. Aber du wirst es, ich verlasse mich auf dich. Lasse sie reden, und tue deine Arbeit. Und wenn du für dich selbst sorgen und einstehen kannst, dann reite nach Arizona, vergiß den Namen Eames, aber vergiß nie, was ich dir gesagt habe.« Toby nickte heftig. »Dann geht jetzt!« Toby ging. Wie ein alter Mann. Müde und zerschlagen. Er ging zum Korral, sattelte umständlich sein Pony und stand dann da am Zaun, als wüßte er nicht, wohin. »Komm hierher, Junge!« winkte Sheriff Hogset. Mit verkniffenen Augen nahm er den Zügel in die Hand, ging hinüber zu den Felsblöcken. Hinter jedem lag ein Mann! »Sam und Frank – ihr bringt ihn zur Stadt! Sofort!« Zwei ältere Männer mit knittrigen Gesichtern nahmen Toby in die Mitte und gingen zu einer großen Nische, in der die Pferde der Posse standen. Es waren fast vierzig Pferde. »Sitz auf! Dort den Grat entlang«, sagte Frank Christensen, der Sattler von Leadville. Toby hörte noch, wie die Stimme des Sheriffs etwas schrie, dann belferte wieder das peitschende Stakkato der Gewehrund Revolverschüsse in wilden, rollenden Echos durch die bizarren Steinklippen. Toby ritt mit weit offenem Mund. Ein Dröhnen in den Ohren.
In seinem Schädel war ein eiserner Reif, der sich langsam ausdehnte und Platz machte für alles Blut, was er im Körper hatte. Seine Brust war ein glühender Koksofen. Die beiden Männer hingen schläfrig in den Sätteln. Für sie bedeuteten die Schüsse, daß sie ihre Haut gerettet hatten. Und das war ihnen wichtig. Beinahe freundlich musterte Sam Wagner den zusammensinkenden Rücken des Jungen. Aber er dachte nicht daran, was in ihm vorgehen könnte. Er dachte an Burl Evans, daran, wie er mit ungläubig geweiteten Augen glasig in den Himmel starrte und er dachte an das kleine, widerliche Loch in seiner Stirn und daran, was seine Frau sagen würde und die beiden Kinder. Und er dachte an Hilde, seine Frau, an den alten Großvater. Und dann war er froh, daß er hätte laut aufschreien können vor Glück, diesem mörderischen Kampf entronnen zu sein. Frank Christensen war Däne, der immer und ewig unter Sonnenbrand litt. Ständig sah sein Gesicht aus wie halbgargekocht. Seine Erregung äußerte sich dadurch, daß seine kurze Selmholzpfeife wie der Taktstock eines Dirigenten von einem Mundwinkel in den anderen sauste. Auch er war froh. Doch er ärgerte sich darüber, daß er offenbar feige war, sonst hätte er doch nicht froh sein können. Und das wurmte ihn mehr als die ewigen Gardinenpredigten seiner Frau. Für ihn war der Junge dort eine kleine Ratte, die man aus schwacher Humanitätsduselei leben ließ. Sogar einen Colt hatte sich der Junge um das geflickte blaue Flanellhemd gebunden. Einen alten Revolver. Das Ganze sah aus wie ein Revolver mit einem Jungen daran. Deutlich unterschied Toby durch das Brausen in seinen Ohren den heiser bellenden Klang von seines Vaters Revolver und das stumpfe Krachen von Jones Colt. Dazwischen das helle Peitschen von Clays Winchester und das laute Brüllen von
Sydneys altem Sharps-Gewehr, mit dem er sicher und schnell wie ein Kunstschütze schoß. Bald hatten sie sich so weit von der Hütte entfernt, daß sie die Huftritte ihrer Pferde in dem anhaltenden Schießen hören konnten. Dem Jungen war, als sei das alles ein böser, gräßlicher Traum. Als müsse er jeden Augenblick aufwachen und in das lachend besorgte Gesicht seines Vaters blicken, der sich über sein Bett beugte und »Na, du hast aber mal wieder mächtig den Kriegerischen gespielt, Toby. Komm, heute will ich dir zeigen, wie man mit der Doppelfroschschlinge einem Kalb die Hinterbeine im Lauf fesselt«, sagte. »Reite weiter, Junge«, mahnte Sam, als er plötzlich mit einem Ruck sein Pony anhielt und lauschte. Er rührte sich nicht, lauschte in das Schießen. »Herrgott«, stöhnte er, »es schießt nicht mehr.« »Was schießt nicht mehr?« »Das Sharps-Gewehr«, flüsterte Toby so erschrocken und voll Angst, daß Frank die barsche Aufforderung, er möge weiterreiten, herunterschluckte. Sam lauschte unwillkürlich auch, merkte dann, daß es verrückt war. »Wem gehört das Sharps-Gewehr?« »Syd.« »Er wird es nachladen. Ich kenne die alten Dinger. Die Patronen klemmen dauernd. Komm, Junge, wir wollen weiterreiten.« Spät in der Nacht erreichten sie Leadville. Die Stadt lag in tiefem Schlummer. Der Mond hing wie eine silberne Weihnachtskugel am wolkenlosen Himmel, tauchte die Mainstreet und die Häuser in fahles Licht, das lange Schatten warf. Unter einem Sidewalk jaulten ein paar Köter im Schlaf. Die
dunklen Schatten der Berge umgaben die Stadt wie eine düstere Bühnenkulisse. »Ich nehme ihn mit zu mir«, sagte Sam. Frank nickte nur. »Gut, aber nimm ihm den Revolver ab. Das ist nichts für einen Jungen in seinem Alter. Und schon gar nicht für einen Eames. Sei vorsichtig mit ihm!« Ehe Sam etwas darauf erwidern konnte, drehte sich der Junge im Sattel um. Er hatte jedes Wort verstanden. Trotz des fahlen Lichtes sahen sie, daß er tiefrot im Gesicht war. Toby sagte kein Wort, starrte nur Frank Christensen an und dann Sam und wieder Frank. So standen sie tief im Straßenstaub vor Franks Laden, über dessen Tür ein alter, von der Witterung zernagter Sattel hin. »Es ist der Revolver meines Vaters. Ich behalte ihn«, flüsterte Toby. Sam grinste schwach. »Frank ist ein altes Schandmaul. Aber meint es nicht so. Gute Nacht, Frank! Komm, Junge – wir haben uns beide das bißchen Nachtruhe verdient. Selbstverständlich behältst du deinen Revolver. Ist er denn überhaupt geladen?« »Vaters Waffen sind immer geladen.« »Yeah – das soll wohl so sein.« Sie ritten müde durch die Stadt. Toby hatte noch keine große Stadt wie Leadville gesehen. Er sah, daß sie sogar Querstraßen hatten. Er sah die Häuser, die Straßen, sah die Schilder und Schuppen, aber er dachte an ganz etwas anderes. An die Hütte oben in den Bergen und an das Krachen von Schüssen. An das ernste Gesicht seines Vaters und an die Worte, die er gesagt hatte. Tausendmal hatte er sich Satz für Satz, Wort für Wort wiederholt, daß er es nie mehr vergessen würde.
* � Die ganze Nacht hatte Toby im Pferdestall auf einer kleinen Tonne verbracht, die nach Teer roch. »Ich möchte hierbleiben«, hatte er auf Sams Drängen, doch mit ihm ins Haus zu kommen, geantwortet. Als schließlich Hilde Wagner, eine hagere Frau, deren scharfe Gesichtszüge ganz im Gegensatz zu ihren sanften Augen stand, in Nachthemd und Krausenhaube mit einer Lampe zu ihm in den Stall kam und fragte, ob er nicht etwas essen wolle, schüttelte er nur stumm den Kopf. Sie setzte sich zu ihm auf die Treppe, die zum Heuboden führte. Die Lampe verbreitete einen kleinen Lichtkegel, der ihre beiden Gesichter mit scharfen Schatten auszeichnete. »Ich kann verstehen, daß du allein sein willst, Toby. Ich kann auch verstehen, daß du keinen Hunger hast.« Toby antwortete nicht, wandte nicht einmal den Kopf, es war, als habe er ihre Gegenwart vergessen. »Ich will dir eine Geschichte erzählen«, sagte sie nach einer Pause. »Ich hatte einmal einen Bruder. Er ist im Krieg gefallen. Er wollte immer einen Hund haben. Wenn wir nachts zusammen im Bett lagen, erzählte er immer davon. Mein Vater war ein kleiner Schäfer, unten im San Louis Valley. Wir waren arm. Als er vierzehn Jahre alt war, brachte mein Vater eines Tages einen großen Wolfshund mit. Er war so groß wie ein Kalb. ›Hier hast du einen Hund‹, sagte er zu Carl. ›Er ist jetzt dein Hund. Sorg für ihn!‹ Carl und Arko wurden zwei unzertrennliche Freunde. Wenige Monate später lief Arko weg, als Carl bei der Herdenwache eingeschlafen war. Vater brachte ihn spät abends wieder mit. Ich war dabei. ›Er hat ein Schaf gerissen‹,
sagte mein Vater. ›Er ist ein Mörder. Du bist sein Herr. Nimm ihn, hol dein Gewehr und erledige es‹.« Sie machte eine Pause. Nur das Atmen der Pferde, das leichte Schlagen ihrer Ohren und ein Geräusch war zu hören, als sie mit den Schweifen lästige Fliegen verstrichen. »Carl brauchte eine ganze Stunde, um sein Gewehr zu holen und eine weitere, um es zu erledigen. Ich habe ihn nie wieder so unbeschwert fröhlich gesehen, seit Arko ihn so enttäuscht hatte.« Wieder trat eine Pause ein. Der Stoff ihres Nachthemdes, knisterte leise. Es erinnerte Toby an seine Mutter, die vor sechs Jahren an den Folgen eines Huftritts gestorben war. Vieles an Hilde Wagner erinnerte ihn an seine Mutter. Ihre Stimme, die sanft und ruhig war. Der Duft ihres Haares und die leicht vomübergebeugte Haltung, in der sie auf der Treppenstufe saß. »Erst später wurde es Carl klar, daß Arko ihn gar nicht enttäuscht hatte. Er war ein Wolfshund, das hatte er übersehen. Im Grunde trug er die Schuld an seinem Tod.« »Wieso? Sein Vater hat ihn ihm doch gegeben! Er mußte es doch wissen, nicht Carl.« »Er hat ihm vorher oft genug gesagt, daß er sich keinen Wolfshund wünschen dürfe, weil Wolfshunde Schafe reißen. Aber Carl glaubte ihm nicht. Carl war zu jung, um aus der Erfahrung des älteren zu lernen. Kaum ein junger Mensch kann das, und das ist auch richtig so.« »Und was soll diese Geschichte nun bedeuten?« »Daß es bei den Tieren ähnlich ist wie bei den Menschen, Toby. So wie es ganz verschiedene Rassen unter den Hunden gibt, die mehr oder weniger völlig gegenteilige Charaktereigenschaften haben, so sind auch die Menschen verschieden. Es gibt welche, die sind wie die Schafe – und es gibt welche, die
sind wie Wölfshunde. Beide können nichts dafür, daß sie so sind.« »Schafe wie – wie dieser Sattler, wie – Ihr Mann, wie der Sheriff und – und – Wolfshunde, wie – mein Vater, nicht? Wie meine Brüder – wie ich, nicht?« biß er scharf. »Wie dein Vater und wie deine Brüder, Toby. Yes, genauso.« »Und ich. Mich haben Sie vergessen, Mrs…« »Ich heiße Wagner. Toby, was uns Menschen von den Tieren unterscheidet, ist der Verstand und die Vernunft. Wir sind zwar, wie wir sind, aber wir können mit etwas Willenskraft auch als Wolfshund unter Schafen leben. Wir brauchen es nur zu wollen. Wir brauchen nur einzusehen, was Recht ist und was Unrecht. Dann wird man plötzlich feststellen, daß der Mensch das einzige Wesen ist, das sich verwandeln kann. Wer es kann, der, Toby, ist erst ein richtiger Mensch. Bleiben, was man ist, ist einfach. Das Einfachste und Bequemste.« »So ähnlich sagte mein Vater auch. Es muß wohl so sein. Ich kann es nicht verstehen.« »Das wirst du noch. Gute Nacht, mein Junge. Denk darüber nach und schlaf dich aus, wenn du müde bist.« Toby blickte ihr nach. Als sie im Schatten des Hauses untertauchte, glitt der weiße Fleck ihrer Gestalt wie ein schwebendes Gespenst auf die Tür zu. Er zog den alten Patterson-Revolver aus der Halfter, hielt ihn im Schein der Lampe, die Mrs. Wagner hängen gelassen hatte, lange vor die Augen. Es war eine unansehnliche, alte Waffe mit sechseckigem, sehr langem Lauf. Sie hatte keinen Abzugsbügel. Dafür war das Blatt am Hahn sehr breit gehämmert. Dumpf stierte er auf die mattschimmernden Geschosse, die in den Kammern der Trommel ruhten. Dann zog er mit der Linken eine Patrone aus dem Gurt, drehte und wendete sie, war ganz fasziniert von dem kleinen,
runden Stück Blei. Soviel war also ein Menschenleben wert. Mit diesem kleinen Ding da konnte man mittels einer leichten Daumenbewegung ein großes Menschenleben auslöschen. In einer Sekunde – und noch schneller. Bumms – aus. Mit diesem Ding konnte man auch einen Menschen zum Schreien bringen. Mit so einem kleinen Ding konnte man die ganze Welt eines dreizehnjährigen Jungen hinwegfegen – daß er plötzlich allein dastand, als hätte man ihn auf den Mond geschossen. Wolfshunde und Schafe. Zu dem bißchen Unterricht, den Bragg Eames hatte seinem Jüngsten geben können, gehörte auch, daß er manchmal aus der Bibel vorlas. Sehr langsam, denn er konnte nicht gut lesen. Ein paarmal war es vorgekommen, daß er im Fluß des Lesens von zehn Geboten sprach und dann nur acht vorlas. Als Toby schließlich auch die Buchstaben voneinander unterscheiden lernte und sie wieder einmal Tage von zu Hause weg waren, da hatte er in der Bibel gesucht, bis er sie fand, die zehn Gebote, von denen der Vater nur acht vorlas. Es waren zehn – nicht acht. Du sollst nicht töten, war das eine. Du sollst nicht •stehlen des Nächsten Hab und Gut, war das andere, das er nicht kennenlernte. An diese beiden Gebote dachte er jetzt. Daran, daß sein Vater sie ihm nie vorlas und an das, was man mit so einer kleinen Bleikugel alles tun konnte, dachte er. Die Morgendämmerung legte sich wie ein feuchtes, blasses Spinngewebe über die Stadt, als die Posse zurückkam. Zwei Tote lagen quer über den Sätteln ihrer Pferde. Zwei Schwerverletzte lagen auf Bahren. Viele der Männer in den Sätteln trugen Verbände. Sie alle sahen grau und verstaubt aus, müde und lustlos. Mit einem Gefühl unbeschreiblicher Leere kroch Toby auf den Heuboden und schlief erschöpft ein. Er schlief den ganzen
Tag und die darauffolgende Nacht. – »Willst du ihn behalten?« fragte Hogset am Abend, kurz bevor Sam Wagner seinen Laden schloß. Im Hintergrund saß der greise Großvater und spielte mit dem Reverend Schach. Zwischen ihnen stand eine Whiskyflasche. Hogset lehnte mit kleinen, müden Augen vor der Theke. Sam stand dahinter. »Natürlich werde ich ihn behalten.« »Ich weiß nicht, ob das gut für dich ist. Die Leute mögen keinen Banditensohn in der Stadt haben. Morgen werden Burl Evans und Hank Costa begraben. Ich fürchte, wir tun weder dem Jungen noch uns selbst einen Gefallen, wenn wir ihn hierbehalten.« »Wo soll er denn hin?« Hogset zuckte die Achseln. »Ich kann ihn nach Denver schicken. Denver ist groß. Es wird sich schon jemand finden, der ihn aufnimmt. Er ist groß und kräftig.« »Hallo, Hilde!« rief Sam seine bedeutend jüngere Frau heran, »was meinst du? Der Sheriff will Toby nach Denver schicken.« »Nein. Der Junge bleibt bei uns, Mr. Hogset.« Hogset kannte Hilde Wagner. Wenn sie etwas so bestimmt sagte, war nichts mehr daran zu rütteln. »Gut«, sagte er, »gib mir einen Doppelstöckigen mit Wasser, bitte. Well, da sind nicht nur die Familien von Evans und Costa, Mrs. Wagner. Ich denke an Anne Glowe und ihre Jungen. Es wird böses Blut geben.« »Was kann er dafür, daß seine Familie eine Bande war? Er ist gut. Ich war gestern abend bei ihm. Er ist ein guter Junge. Man muß ihm nur etwas Zeit lassen.« »Ich habe ja persönlich nichts dagegen, Mrs. Wagner. Ich verstehe Sie und Sam. Aber die anderen denken nicht so. Aber
gut, ich habe Sie beide gewarnt. Vielleicht irre ich mich auch. Am besten beschäftigst du ihn, damit er nicht soviel Zeit zum Nachdenken hat.« »Das habe ich vor, Rod«, sagte Sam. Der Sheriff ging zu Phil Gangelin, um zu sehen, wie weit man mit den Särgen war. Reverend Percy H. Arness erhob sich. »Machen wir noch eine Partie?« fragte Old Culmer grinsend. »Nein, mir genügt es, wenn ich einmal am Tag verliere«, sagte Arness mißmutig, wandte sich den beiden Wagners zu. »Ich hörte, daß ihr den Boy behalten wollt?« »Und?« »Nett von dir, Sam. Aber hast du auch bedacht, daß ein junger Puma einmal groß wird und Krallen bekommt?« »Das sagst ausgerechnet du?« »Ich – yeah. Der Junge hat völlig andere Begriffe eingeimpft bekommen als wir. Es wird Schwierigkeiten geben, glaub mir, Sam.« »Du solltest weniger Whisky trinken und mehr an deine Pflicht denken«, knurrte Sam wütend. »Wenn es nach euch ginge, würde man den unschuldigen Jungen einfach einsperren, damit man nur ja keine Mühe hat, damit man nur nicht aus dem Trott herauskommt. Und so was ist Reverend. Predigt jeden Sonntag von Nächstenliebe und Ohrfeigen, die man lächelnd empfangen muß. Der Junge bleibt, Percy. Bei mir bleibt er. Basta.« »Dein Schwiegersohn ist ein unverbesserlicher Dickschädel, Culmer«, schob der Reverend seinen alten schwarzen Gehrock hoch. »Frömmigkeit ist gut, solange man sie nicht strapaziert. Ich bin mir mit meinem Gott dort oben einig. Aber ich kenne auch meine Schäfchen. Und deshalb wollte ich dir einen guten Rat geben. Du wirst noch dein blaues Wunder mit ihm erle-
ben. Das kannst du mir glauben.« Percy H. Arness verließ den Store. Die Türglöckchen begleiteten ihn mit feierlichem Läuten. »Sie haben recht, Sam«, sprach die spröde Stimme des Alten in die Schachfiguren. »Und du weißt, daß sie recht haben. Aber ich hätte an deiner Stelle nicht anders gehandelt. Das ist übrigens der Grund, warum ich es nie zu was gebracht habe. Hihihi – aber zufrieden bin ich trotzdem, zufriedener als die anderen.« Früh am Morgen wachte Toby vom geborstenen Klang der Kirchenglocke auf. Sie hatte einen Sprung. Seit vier Jahren schon. Geld für eine neue war nicht aufzutreiben. Sam ging in den Schuppen. Toby stand an einer Tonne und wusch sich. »Hör zu, Toby. Wenn du Lust hast, bleibst du bei uns. Wir haben keine Kinder und freuen uns, daß du jetzt da bist. Ich gebe dir zehn Dollar im Monat, ein nettes, kleines Zimmer und alles, was du brauchst. Dafür hilfst du mir im Geschäft. Einverstanden?« Toby nickte kaum merklich. »Komm, ich zeige dir alles«, nahm ihn dann Sam am Arm. Toby arbeitete die ersten Tage wie verrückt, gönnte sich keine Minute Ruhe. Sam tauschte besorgte Blicke mit seiner Frau und ließ ihn gewähren. »Merkst du, daß die Evans, Glowes und Costas nicht mehr bei uns kaufen«, stellte Hilde nach fünf Tagen fest. Sam nickte. »Dafür ist aber Toby für die anderen eine Attraktion. Soviel Kiemkram haben wir noch nie verkauft«, versuchte er ein Grinsen, das aber von der Sorge eingefroren wurde. Im Laufe der kommenden Wochen riß der Besucherstrom im Store nicht ab. Toby war für die Stadt wie ein seltenes, kleines
Raubtier, das man gesehen haben mußte. Eines Tages kam der Sheriff in das Lager. Toby sah ein gesatteltes und gepacktes Pferd draußen stehen. »Sattle dein Pony, Toby. Wir reiten nach oben.« »Du hättest ihn nicht mit zu den Gräbern nehmen sollen«, knurrte Sam, als sie am anderen Tag wieder zurück waren und er Toby mit leerem Gesicht in sein Zimmer gehen sah. »Es war gut so, Sam, glaub mir.« Mit der Zeit sank das Interesse an dem Sohn von Bragg Eames. Toby verbrachte seine Zeit ausschließlich damit, Lasten im Store zu stapeln. Sam schickte ihn nicht in die Stadt. Und Toby hatte keine Lust, sie sich anzusehen. * Ein halbes Jahr verging. Jeden Samstag machten die Minenarbeiter der umliegenden Kupfer- und Bleiminen denselben Radau. Mit hundertprozentiger Sicherheit gerieten sie mit den Weidereitern in Streit und in handfeste Prügeleien, die nicht immer unblutig verliefen. Oft peitschten auch die dumpfen Detonationen von Schüssen durch die Saloons und Spielsäle, und dann fuhr man die Verwundeten auf einem extra dafür angeschafften Handkarren zu Doc Ferner Frizzle. Montags öffnete Sheriff Hogset das Jail und ließ die größten Stänkerer hinaus, die sich anschließend sinnlos betranken und die Stadt verließen. Dann war wieder für vier Tage Ruhe. Außer den Wagners kümmerte sich niemand um Toby. Ein ganzes Jahr verging und noch ein halbes. In dieser Zeit wurden zwei Männer bei den Krawallen erschossen. Toby sah vom Fenster seines Zimmers die Begräbnisse, die still verliefen, als verscharre man gestorbene Hunde.
Mit sechzehn Jahren war Toby fast sechs Fuß groß und kräftiger als mancher Mann. Er wuchtete zentnerschwere Kisten hoch, als seien es leere Papierkartons. In der ganzen Zeit hatte er einmal mit Sam, der immer runzliger wurde, eine Fuhre Drahtrollen hinaus auf die TriangleHorn gebracht, hatte die alljährlichen Rodeos nur am Rande erlebt und war bei den Haselnuß- und Erdbeerfesten zu Hause geblieben. Bei jedem Fest brachte man den sinnlos betrunkenen Sam mit dem Leichenkarren nach Hause und jedesmal war es dasselbe. Mrs. Hilde wurde bleich wie ein Leinentuch, wenn man die Karre einfach vor dem Store stehenließ. Sie seufzte erst wieder glücklich auf, wenn sie sah, daß Sam nicht erschossen, sondern nur betrunken war. Dann lud ihn sich Toby einfach über die Schulter und brachte ihn zu Bett. Ab und zu sattelte er sein Pony und ritt in die Berge. Sam war ihm einmal heimlich nachgeritten, sah, daß er die eingesunkenen Gräber mit Bergastern bepflanzt hatte. Die Gräber trugen alle Kreuze, die Toby bei dem Tischler am Mount Lincoln bestellt hatte. Eileen Evans und Lona Costa waren mit ihren Kindern eines Tages nach Nordosten gezogen, nach Denver vermutlich, weil es dort für sie bessere Verdienstmöglichkeiten gab. Miß Ogden, die hübsche Lehrerin aus Wyoming, hatte es immer noch nicht aufgegeben, Toby für die Schule zu gewinnen. »Er muß doch etwas lernen«, sagte sie. Aber Sam lachte nur. »Wozu, Miß? Rechnen kann er fast besser als ich. Meine Frau hat es ihm beigebracht. Und Lesen kann er auch leidlich. Mehr braucht der Mensch nicht.« Dafür, daß er nicht zur Kirche ging, war man Sam und dem
Reverend dankbar. Da Toby sich nicht an seinen Geburtstag erinnern konnte, wurde er jedes Jahr an dem Tag, an dem er zu ihnen gekommen war, von den Wagners beschenkt. Er war jetzt siebzehn Jahre alt. Sechs Fuß ein Zoll groß. Hatte Schultern wie ein Kleiderschrank, einen wilden, borstigen Strohmähnenkopf und Sommersprossen. Die Befürchtungen des Sheriffs und des Reverends hatten sich nicht erfüllt. Zwar hatte ihn John Costa anfänglich oft aus dem Hinterhalt mit Steinen beworfen, die auch manchmal trafen. Dann aber hatte Mrs. Wagner die Platzwunden gewaschen und gesagt: »Es war der Junge, dessen Vater bei dem Gefecht damals getötet wurde. Er ist zwar sehr ungerecht, aber man kann ihn verstehen. Im Grunde will er dir persönlich auch gar nichts. Er muß nur mit seinen Brüdern sehr schwer in den Minen arbeiten, wenn sie nicht verhungern wollen.« »Was war sein Vater?« »Gunsmith. Er verdiente ganz schön Geld, aber er hat nichts gespart.« Und kurz bevor die Evans wegzogen, war er von Jim, Henry und Tim Evans einmal abends am Brunnen überfallen worden. Sie schlugen ihn in der ersten Überraschung fast bewußtlos, aber dann faßte er sich, und zehn Minuten später stand er allein am Brunnen. Jim und Henry lagen ohne Besinnung am Boden, Tim war weggelaufen. Sam sah es sich an. Forschend ruhte sein Blick in Tobys grauen Augen. Aber nichts von Haß oder Jähzorn stand darin, nur Erstaunen und Enttäuschung. »Gehen wir«, sagte er nur, und Toby war ihm dankbar, daß er ihm keinen Vortrag hielt.
Wenige Tage später kam die Overlandcoach von Florence mit einigen Stunden Verspätung an. Auf dem Bock saß ein hochgewachsener Fremder. Der Kutscher Belley wurde erschossen hinausgetragen. Sie war überfallen worden. Von drei Männern. Die Lohngelder für die Contention Mine waren geraubt. Toby saß auf einer Treppenstufe des Sidewalks vor der Tür von Wagners Store. Immer mehr Leute strömten durcheinander. »Wenn mir nicht einer der Kerle mit gezogenem Revolver gegenübergesessen hätte«, sagte der Fremde gleichgültig, »wäre es ein teurer Spaß für sie geworden.« Hogset betrachtete prüfend das hagere, sonnenverbrannte Gesicht des Mannes, der ihn um einen ganzen Kopf überragte. Dann glitt sein Blick an ihm hinunter zu dem Revolvergurt, den er über die verstaubte Cordjacke gebunden an der Hüfte trug. Der Kolben des schweren Revolvers sah nicht so aus, als sei die Waffe eine Zierde. »Wie sahen sie aus?« »Es waren insgesamt drei. Bei Parkers-Station stieg der Dicke ein. Er hatte dort die Kutsche erwartet. Er sah wie ein CattleAgent aus. Dick, mit einer Stirnglatze und wäßrigen Triefaugen. Seine Stimme war, als käme sie aus einer verschlossenen Blechkiste.« »Ist das alles?« »Ich habe mir den Mann nicht genau angesehen. Die größte Strecke schlief ich. Ich komme von Alamosa herauf.« Hogset wandte sich an die anderen Fahrgäste: zwei ältere Minenarbeiter und ein junges Mädchen. Die Arbeiter hatten auch geschlafen. Das Mädchen war zu aufgeregt, um eine vernünftige Aussage zu machen. Hogset wandte sich wieder dem Fremden zu, der kurz das
Schild von Wagners Store betrachtete, und dann auf Toby zuging. »Ihr habt doch auch was zum Trinken, nicht?« »Selbstverständlich«, erhob sich Toby, strich seine Hände an der blauen Schürze glatt und ging voraus. Der Fremde und Hogset folgten ihm. Er stellte eine Flasche und zwei Gläser auf die Theke. »Zwei Jahre haben wir Ruhe gehabt«, preßte Hogset hervor. »Ich denke, hier hat jahrelang die Eames-Bande gehaust?« Hogset warf einen raschen Blick zu Toby, der einen Augenblick wie eine Kerze stand und sich mit verschränkten Armen gegen ein Regal lehnte. »Das ist erledigt«, sagte Hogset rasch. »Sagen Sie, Fremder…« »Ich heiße Harold Carradine.« »Well, Mr. Carradine, würden Sie den einen Banditen wiedererkennen?« »Ich denke doch«, nickte der Fremde langsam, »yeah, das würde ich bestimmt.« »Und die anderen? Sie warteten wohl auf die Kutsche?« »Yes. An dem engen Durchgang. Einer der Felsen sah wie ein Indianerkopf aus.« »Chieftains Head. Kenne ich. Idealer ging es nicht. Sie müssen die Gegend kennen. Wie sahen sie aus?« »Der eine ritt einen Apfelschimmel. Ein gutes Pferd mit starker Brust. Er war jung, schwarz und nicht besonders groß. Sie hatten die Tücher vorgebunden. Aber den Jungen würde ich an seinen Augen erkennen. Er wollte das Mädchen mitnehmen. Sein Glück, daß der andere sich weigerte – er schien der Anführer zu sein.« »Wieso sein Glück?« »Weil ich ihn sonst auf die Nase gelegt hätte.«
Carradine sagte es so beiläufig und selbstverständlich, daß Hogset ihn wieder ganz aufmerksam betrachtete. Der Fremde nippte an seinem Glas. »Guter Stoff«, nickte er. »Dann hat Ihnen also der Dicke nicht den Colt abgenommen?« »Nein, er hielt mich nur mit seinem Zerstäuber in Schach, während sie die Kiste mit dem Geld aus dem Boden holten.« »Hm. Um den Jungen zu erledigen, mußten Sie aber ziemlich fix sein.« »Bin ich auch.« »Und warum haben Sie den Überfall nicht vereitelt?« »Weil die Gelder der Mine nicht meine Haut wert sind, verehrter Ritter des Sterns. Deshalb.« »Interessant. Nun, Sie hätten sich eine Belohnung verdient.« »Ich habe, was ich brauche, Sheriff.« »Das ist auch ein Standpunkt. Bleiben Sie länger in Leadville?« »Bis zum Rodeo.« »Also drei Wochen, Mr. Carradine, wir sehen uns ja dann noch.« »Das glaube ich auch, Sheriff.« Hogset drängte sich an dem in den Laden schlurfenden Wagner vorbei hinaus auf die Straße. Carradine trank noch einen Whisky, erkundigte sich nach einem Hotel und ging dann auch. Wagner blickte ihm nach. »Was hältst du von ihm?« fragte er Toby. »Ein harter Mann, Mr. Wagner.« »Du sollst doch nicht immer Mister zu mir sagen. Ich bin kein Mister. Nenne mich Sam.« Toby lächelte.
»Sag mal, Toby«, machte Wagner einen weiten Bogen um die Theke und kam wieder zurück, schenkte sich umständlich ein Glas Whisky ein. »Ich spioniere nicht hinter dir her, das weißt du, ich sah es nur zufällig – als du deinen freien Tag hattest.« »Was?« »Daß der Revolver aus der Truhe verschwunden war. Hast du ihn mitgenommen?« »Ja, ich habe unten am Silver Brook Schießen geübt.« »Hm, habe ich mir gedacht.« Er trank wie einer, dessen letzter Whisky es war. Darm setzte er das Glas ganz vorsichtig wieder auf die Theke zurück. »Du gehst öfter an den Brook, um zu schießen?« »Ich war schon ein paarmal unten. Warum fragen Sie, Mr. Wagner? Ist etwas dabei?« »Was mich betrifft, nicht das geringste. Ich habe in deinem Alter auch geschossen. Aber ich brachte es nie zu was dabei. Wenn ein Ziel kleiner als ein Kleiderschrank war, habe ich es selbst auf einige Schritte nicht getroffen. Nein, Toby, ich habe nichts dagegen.« »Aber? Wer hat was dagegen, daß ich schieße?« Sam setzte sich auf die Theke und kratzte seinen Schädel. Dann blickte er den Jungen geradewegs an. »Frank Christensen hat dich gesehen.« »Und? Er kann mich ruhig sehen.« »Frank ist seit dieser Zeit nervös geworden, Junge.« »Der ist doch immer nervös. Warum machen Sie dabei so ein feierliches Gesicht?« »Sag mal, Toby. Gefällt es dir eigentlich hier? Ich meine, macht es dir hier im Store Spaß – Kisten zu schleppen, Bonbons für die Kinder abzuwiegen und den Ladies die Körbe an den Wagen zu tragen?«
»Sicher, warum sollte es mir nicht gefallen?« »Der Rancher Bisbee hat dir doch einmal angeboten, für ihn zu reiten. Reizt dich Weidearbeit nicht mehr, als hier den Lagerkäfer zu spielen?« »Ich habe Bisbee nein gesagt.« »Das weiß ich. Ja, das hast du. Ich habe mich darüber gefreut. Aber manchmal frage ich mich, ob es richtig ist, dich hierzubehalten.« »Wie kommen Sie darauf? Mir gefällt es.« »Und dennoch gehst du zum Brook, um Schießen zu üben. Wenn man einen Store hat, braucht man nicht zu schießen. Ich habe es ein Leben lang nicht gebraucht und bin rundgekommen.« »Es macht mir Spaß. Ich schieße ganz gut.« »Das sagte Frank auch. Er sagte sogar, daß du verteufelt gut schießt.« »Warum verkriecht er sich? Ich mag das nicht.« »Weil er Angst hat, Toby.« »Angst? Vor wem?« »Vor dir.« »Vor mir?« Der Junge trat einen Schritt zurück. »Hör einmal zu. Versetz dich in seine Lage. Denk jetzt nicht, wie du denken und handeln würdest, sondern tu einmal, als ob du Frank wärst. Es ist jetzt drei Jahre her, seit er oben an der Hütte dabei war. Du bist ein großer, starker Kerl geworden. Du bist gewandt und beginnst plötzlich, das Schießen zu üben, nachdem du jahrelang daran scheinbar kein Interesse hattest. Frank hört zufällig die Knallerei, und sieht dich auf hochgeworfene Steine schießen. Aus der Hüfte, im Stehen, im Liegen und was weiß ich, wie sonst noch. Du gehst auf kein Fest, du freundest dich mit niemandem an, du bist immer allein und beginnst plötzlich zu schießen. Was würdest du an
Frankies Stelle denken?« »Sie haben mir versprochen, nie wieder von meinem Vater zu sprechen.« »Stimmt. Aber jetzt mußte ich es, Toby! Beantworte meine Frage.« »Was ich an seiner Stelle denken würde? Nichts. Gar nichts. Alle Jungen in meinem Alter tragen längst Revolver und schießen auch damit. Keinem fällt es ein, sich darüber zu wundem, oder gar Angst zu haben.« »Frank denkt, du übst dich im Schießen, um einmal den Tod deiner Familie zu rächen.« Toby riß die Augen auf, schüttelte den Kopf, als wolle er eine Fliege auf der Nase verscheuchen. »Ich weiß, daß es verrückt ist. Ich kenne dich und weiß, daß du gar nicht daran denkst. Wir sind Freunde. Ich kann dir etwas sagen, ohne daß du es mir übelnimmst, denn ich will nichts, was dir schaden könnte. Die, die damals mit dem Sheriff oben waren, sind alle Bürger. Du kennst sie alle. Sie nehmen einmal im Jahr den Revolver in die Hand, und wenn, dann ungern. Sie haben alle Familien. Frank hat dich schießen sehen. Er hat Angst vor dir. Die anderen werden es erfahren und auch Angst haben. Und wenn Menschen Angst haben, dann sind sie ungerecht.« »Ich soll also nicht mehr schießen?« »Ich meine, wenn du es nur aus Neugierde, oder Langeweile tust, kannst du ja noch etwas warten.« »Es macht mir Freude, Mr. Wagner. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich liebe den Revolver. Nicht nur, weil er der meines Vaters ist. Ich muß schießen. Verstehen Sie das?« Sam nickte schwer. – Wenn Sam Wagner geahnt hätte, was daraus werden würde, hätte er die Sägen, das Pulver und die Stempelhaken Salomons
geschenkt. Aber er wußte es nicht… Er wußte nicht, daß Frank Christensen schon seit Tagen von einem zum anderen lief und behauptete, Toby Eames übe sich im Schießen, um sie eines Tages alle achtunddreißig, die dabei waren, als man seine ganze Familie erschoß, dafür auf die Nasen zu legen. »Ich war von Anfang an dagegen, daß er in der Stadt blieb«, ging er aufgeregt in Wessons großem Wohnzimmer umher, studierte die ernsten Gesichter der Männer wie eine Landkarte. »Aber Sam hat geglaubt, aus einem kleinen Puma eine harmlose Katze machen zu können. Beim Teufel, Gents – drei Jahre ist er nun schon hier. Und drei Jahre sondert er sich ab. Spricht mit kaum einem Menschen. Einen Freund hat er nicht. Immer sitzt er irgendwo grübelnd auf einer Kiste. Seit drei Jahren träume ich von seinen kalten Augen.« »Du bist verrückt«, wandte Leon Curties ein. »Der Boy ist harmlos.« »Noch«, gab Kelley zu bedenken. »Ich habe ihn auch beobachtet. Der Junge ist ein Tiger, sage ich euch. Siebzehn Jahre und die Figur eines Fünfundzwanzigjährigen. Es hat mir keinen Spaß gemacht, die Bande damals abzuschießen. Aber noch viel weniger Spaß macht es mir, mich eines Tages von ihm umlegen zu lassen. Frank hat recht. Der Junge muß aus der Stadt verschwinden. Wir müssen mit Rod reden. Hast du ihm von den Schießübungen erzählt?« »Ja«, gab Frank erregt zurück. »Er hat ein Gesicht geschnitten wie ein Affe, der sich zum ersten Male im Spiegel sieht.« »Und?« fragte Marc G. Sager. »Gelacht hat er. Gesagt, daß jeder junge Mann in dem Alter das Schießen übt. Ha, aber nicht jedes jungen Mannes Familie wurde von uns erschossen. Hast du ihm das auch gesagt?«
»Natürlich. Wie ein halber Liter Essig hat es auf ihn gewirkt. Aber er könne dem Jungen nicht die Stadt verbieten.« »Das braucht er ja nicht. Andere junge Leute sehen sich auch im Land um, wenn sie keine Eltern haben, die ihnen ein Geschäft vererben. Warum bleibt er bei Sam, frage ich mich? Er ist gar nicht der Typ eines Store-Keepers. Warum wird er nicht Weidereiter oder Bronco-Buster? Bisbee wollte ihn haben. Wells hat ihm ein Angebot gemacht. Nein, er bleibt hier, ausgerechnet hier.« »Frank hat recht, Gents. Diese Art von Mensch bleibt immer ein Bandit, wie seine ganze Familie. Ho, da war nicht ein einziger bei, der nicht geraubt und gemordet hat, selbst das Weib nicht. Der Junge wartet nur auf den Augenblick, wo er loslegen kann. Deshalb nimmt er auch alles auf sich und spielt den Seßhaften. Du hast ihn schießen sehen, Frank. Wie war es?« »Das habe ich schon tausendmal gesagt«, fauchte der Sattler, »wie er war? Ho, wenn es noch ein halbes Jahr weitergeht, kann er Rodney Hogset Unterricht geben.« »Was?« »Er hat es im Blut. Jeder Schuß saß, Gents. Er legte den Colt neben sich auf den Boden, warf einen Stein hoch, griff den Revolver und schon zersprang der Stein in tausend Stücke.« »Warum macht er das Wettschießen beim Rodeo nicht mit, er könnte viel Geld machen?« grinste Kelley sauer. »Das ist nicht zum Lachen«, fuhr ihn Frank an. »An allem, was er tut, sieht man System. Er bleibt für sich, zeigt keinen Menschen in der Stadt, wie er schießen kann. Aber eines Tages geht es los. Und wir sind die Dummen.« »Achtunddreißig Männer gegen einen Jungen. Du bist verrückt, Frank«, brummte Hal Wesson. »Wenn der Junge nur ein kleines bißchen Verstand hat, muß er sich sagen, daß es sinnlos ist. Da nutzt ihm selbst sein Schießen nichts mehr.«
»Darauf kannst du dich verlassen, ich nicht.« »Ich bin dafür, wir sehen uns die Sache einmal an. Man braucht ihn doch nur in drei Wochen beim Rodeo aufzustellen, als Scharfschützen, dann sehen wir, was mit ihm los ist. Danach ist immer noch Zeit, sich alles zu überlegen.« * Indessen war Toby mit seinem vierrädrigen Leiterkarren bei dem Verwaltunsgebäude der Donna-Esmeralda-Mine angekommen. »Dich schickt der Himmel, Junge«, sagte Mike, »ist alles dabei, was ich Sam aufgeschrieben habe?« »Das weiß ich nicht. Mr. Wagner stellte es aus einer Liste zusammen.« »Es ist alles da!« rief ein kleiner, untersetzter Foreman, dem bei jeder Armbewegung die Muskelstränge wie hartgekochte Eier aus den Oberarmen sprangen. »Großartig. Sag Sam, daß er sein Geld in spätestens einer Woche bekommt.« »Tut mir leid, Mr. Salomons. Ich habe Auftrag, das Geld gleich zu kassieren.« Zwischen zwei Buden drängte sich Harold Carradine auf den Platz. Er saß auf einem braunen Wallach, den er in der Stadt eben erst gekauft hatte. »Verdammt schlechter Witz«, zog Salomons die buschigen Augenbrauen zusammen und kam näher an den Wagen, auf dessen Bock der Junge sitzen geblieben war. »Das ist kein Witz, Mr. Salomons. Hier bitte, die Rechnung. Zweihundertdreiundsechzig Dollar.« Das zynische Hüsteln des dürren Contention-Mannes mit dem Kneifer würgte Salomons die Wut in den Hals.
»Ist denn Sam verrückt geworden? Ich habe ihm doch gesagt, daß ich nicht sofort zahlen kann. Mein Junge, wenn du dir einen Spaß erlaubst, schraube ich dich auseinander, darauf kannst du Gift nehmen. Uns ist nicht nach faulen Späßen zumute.« »Ich habe kein Interesse an Späßen, Mr. Salomons. Ohne das Geld kann ich die Sachen nicht hier lassen. Wenn Sie keins haben, muß ich sie wieder mitnehmen.« Die Männer begannen zu fluchen. Salomons Bulldoggengesicht lief rot wie eine Fackel an. »Was wollen Sie, deutlicher geht es doch wirklich nicht mehr«, hüstelte Kingsley, der Vertreter der Minen-Gesellschaft. »Halt's Maul, du mieser Aktendeckel«, griff Salomons mit seiner Faust, die wie eine ausgewachsene Kalbshaxe aussah, in den Kragen des Männchens, hob ihn wie ein Kind hoch und öffnete dann die Faust wieder, daß Kingsley wie eine reife Frucht auf den Boden fiel. »Jetzt hör mal zu, Junge. Ich habe gesagt, daß Sam in einer Woche sein Geld bekommt. Sam weiß, daß ich Wort halte. Ich brauche das Zeug, sonst bin ich nicht nur pleite, sondern all diese Männer auch.« Kingsley hatte Schuldscheine von ihm in der Tasche, die in acht Tagen zur Zahlung fällig waren. Hatte er bis dahin kein Geld, würde die Donna Esmeralda mit ihrem herrlichen Erz wie ein Osterei in die Hände der Contention fallen. »Das kann ich nicht ändern. Von mir aus könnten Sie alles sogar geschenkt haben. Ich habe meinen Auftrag, und den führe ich aus!« »Laden wir doch einfach ab!« schrie einer. Die Männer drängten sich an den Wagen. »Es tut mir leid«, sagte Toby mit einem Blick in die erregten Gesichter. Irgendwo in ihm fieberte alles wie eine angezupfte
Saite. Er wußte, daß es Kampf geben würde, wenn nicht etwas geschah. Er fürchtete sich nicht vor diesem Kampf, bei dem er unterliegen würde. Aber er sah den Sinn eines solchen Fights nicht ein. Er wußte nichts von der Klemme, in der Salomons steckte. Er wußte auch nicht, daß für jeden einzelnen Mann Monate harter Arbeit vergebens waren, wenn er das Eisenzeug wieder mitnahm. Carradine stützte seinen Ellenbogen auf den Sattelknopf und ließ den Wallach etwas näher traben. Der Wind trug den infernalischen Lärm der nahen Aufbereitungsanlage herüber. Gespannt hing sein Blick an dem Jungen, der jetzt die Zügel nahm und den Wagen drehen wollte. »Hör zu!« schrie Salomon. »Steig ab und sag Sam meinetwegen, wir haben dich gezwungen, die Sachen herauszugeben. Ich reite in einer Stunde zu ihm und kläre alles. Wenn du dreckige Papierwanze noch einmal grinst, drehe ich dir das Gesicht nach Westen. Verschwinde! Die Donna Esmeralda bleibt mein Eigentum, verstanden? Die Contention hat mit ihren Raubmethoden genug kleine Minen geschluckt. Ab mit dir, oder ich lasse dich tanzen.« Mit einem Ruck hielt er seinen schweren Colt in der Hand und richtete ihn auf die Absätze des Mr. Kingsley, der einlief wie ein zu heiß gekochtes Hemd. »Das werden Sie bereuen, Salomons! Ich kenne die Gesetze von Colorado. Laß dich nicht einschüchtern, Junge! Du bist im Recht. Ich werde den Sheriff holen, dann bist du deine Mine los.« Der peitschende Knall des Schusses riß Kingsley den rechten Absatz weg. Sein Körper war so ausgemergelt und schwach, daß ihn der nach vorn gerissene Fuß auf den Boden warf. Kaum war er auf den Beinen, als ein zweiter Schuß den linken Absatz vom Stiefel riß. Kingsley fiel wieder hin. Er begann
zu schreien. Aber dieses Schreien ging in grölendes Gelächter der Männer unter. Alle hielten plötzlich Revolver in den Händen. Carradine sah mit unbeweglicher Miene zu. Sah, wie Kingsley mit hochwirbelnden Armen schreiend und zeternd vor jeder Kugel, die sich haarscharf hinter seinen Fersen in den Sand bohrte, groteske Sprünge vollführte. Ein klägliches Bild. Ununterbrochen peitschten die Schüsse durch die steilen Felswände. »Lauf!« brüllte Salomons, dem die ganze Wut der letzten beiden Jahre im Halse saß. Und Kingsley lief. Jagte mit gellenden Schreien hoch, hatte kaum wieder den Boden berührt, als ihn erneute Schüsse wieder in die Luft jagten. Toby saß wie aus Stein auf dem Bock. »Lauf, lauf, du verkalkte Aktenkerze!« riefen die Männer. Kingsley schwamm in Schweiß, der sich mit dem rötlichen Staub des Bodens vermischte. Sein dunkler Anzug wurde graurot, er röchelte wie ein Sterbender. Der wild springende Adamsapfel zog breite Risse in den staubig verkrusteten Hals. Ununterbrochen rasten die Pulverwolken auf ihn zu. Er sprang und hüpfte, schrie, und dann wurde seine Stimme heiser. Der Kneifer fiel auf den Boden. Ein Männerstiefel bohrte ihn knirschend in den Staub. »Aufhören!« krächzte Kingsley mühsam, »aufhören. Mein Kneifer – ich – aufhören – ich kann nichts – nichts mehr sehen.« Die Männer schlugen sich die Bäuche vor Lachen. Toby schluckte, und Carradines Augen zogen sich ganz eng zusammen. Vier Schritte vor der Nase seines Wallachs brach Kingsley erschöpft zusammen, schluckte mit hechelnden Lungen den aufgewirbelten Staub. Er sah wie ein dürres, altes, sterbendes Ge-
spenst aus Staub und verzweifelter Angst aus. »Schluß jetzt!« befahl Salomons, der als einziger nicht gelacht hatte. Die letzten Schüsse rollten als abschwellende Echos zwischen den Wänden aus. Kingsley war fertig und halb blind. Die Männer beruhigten sich. In ihren Gesichtern stand Befriedigimg. Einer sammelte die wild verstreut liegenden Papiere, dann hielt er eins hoch. »Kontrakt«, las er. »Hier, Männer – die Contention wollte für sage und schreibe fünfzehnhundert Dollar unsere Mine schlucken.« Drei heftige Handbewegungen verwandelten die Papiere in Schnitzel, die sich wie überdimensionale Schneeflocken über den nach Atem ringenden Kingsley breiteten. »Laßt ihn in Ruhe«, grunzte die breite Stimme Salomons, »ich hätte ihn ohnehin hinausgeworfen. So, mein Junge, ich hoffe, du bist vernünftig und hältst dich jetzt ruhig, wenn wir den Wagen abladen.« »Macht Platz!« rief Toby den Männern zu, die ihm bei einer Drehung des Wagens im Wege standen. »Du nimmst also keine Vernunft an?« »Fahren Sie mit mir, Mr. Salomons. Reden Sie mit Wagner. Ich kann nichts anderes tun als fahren. Übrigens ein Heldenstück, den alten Mann so zuzurichten.« »Ladet ab!« rief Salomons. Den ersten beiden, die sich auf den Wagen schwingen wollten, jagte die schwere Peitsche quer durch die Gesichter, daß sie aufbrüllend wieder absprangen. »Platz!« schrie Toby, und schon bäumten sich die Pferde auf, wurden in einem engen Kreis herumgerissen. Während Toby mit einer Hand die Zügel hielt, schwang er in der anderen die Peitsche. Das dünne Leder zog blutrote Striemen über Gesich-
ter, Brust und Arme, riß die zerschlissenen Hemden auf und riß ganze Hautfetzen ab. Ein ungeheurer Tumult brach los. »Holt den Burschen runter!« röhrte Salomons' Stimme. Zwei der Männer schwangen sich auf den wild herumjagenden Kutschbock. Dem ersten trat ein Stiefel Tobys die ganzen Vorderzähne ein. Der zweite erhielt einen Tritt in den Hals, daß er vornüber unter den Wagen fiel. Ein gellender Schrei stand wie eine dürre Latte auf dem Platz, als ihm die beiden linken Räder des schweren Wagens über die Beine rollten. Toby sträubten sich die Haare vor Entsetzen. Als er in die wild verzerrten Gesichter der Männer sah, wußte er, daß es jetzt um sein Leben ging. Dem dritten rammte er einen Ellenbogen mit solcher Gewalt in den Magen, daß der Mann sich noch im Rückwärtsfallen übergab. Dann hingen sie wie Trauben an den Leitern des Wagens. Striemen um Striemen jagte ihnen die Peitsche über Brust und Gesicht. Einige fielen schreiend ab, aber die anderen schwangen sich in den Wagen. Wieder andere fielen den hochbäumenden Pferden in die Trensen, rissen ihnen die Mäuler auf, daß sie vor Schmerz in die Knie gingen. Carradine saß unbeweglich im Sattel. Er ließ keinen Blick von dem Jungen, der mit wildflatternden Haaren senkrecht auf dem Bock stand und die Peitsche schwang. Dann hielt einer das Ende in der Hand. Ein Ruck, und die Peitsche wurde aus der Faust des Jungen gerissen. »Schießt den Teufel nieder!« »Nicht schießen«, brüllte Salomons, dem die Ahnung kam, daß ihm diese impulsive Gewaltaktion sehr teuer zu stehen kommen würde. Aber die Männer waren nicht mehr zu halten.
Im letzten Augenblick jagte Toby mit einem weiten Satz vom Bock. Schüsse krachten. »Nicht schießen!« schrie Salomons, aber niemand hörte auf ihn. Der Wagen war plötzlich gleichgültig geworden. Den Jungen wollten sie haben. Nur den Jungen, der einen von ihnen zum Krüppel gefahren und sie fast alle mit seiner Peitsche getroffen hatte, daß ihnen die Haut in Fetzen hing. Carradine begann vor Erregung zu schnaufen, aber er rührte sich keinen Zoll, auch nicht, als sich Kingsley keuchend aufrichtete, mit eng zusammengekniffenen Augen in den Tumult blinzelte und »Mein Gott!« sagte. Toby kam wie eine Katze auf allen vieren am Boden an, haargenau neben dem Mann, der sich brüllend am Boden wand und immer wieder fassungslos auf seine Beine starrte. Eine Kugel zischte Toby durch das Hemd, haarscharf unter der linken Achsel. Eine andere fuhr wie eine glühende Stricknadel über den rechten Handrücken. Dann riß er den Revolver des Verletzten aus der Halfter, jagte im Zickzack auf einen Stapel Grubenhölzer zu und verschwand dahinter. Die heißen Geschosse fegten Späne und Splitter aus dem Grubenholz. Die Männer jagten im weiten Bogen auf den Holzstapel zu. Carradine biß die Lippen aufeinander. Das war das Ende des Jungen. Er hatte noch nie einen solchen Jungen gesehen. Schon wollte er dem Wallach die Sporen in die Weichen drücken, den Revolver hatte er bereits in der Faust, da zuckten gelbrote Flammen wie ein einziger Stich hinter dem Stapel hervor. Die Schüsse folgten so rasch, daß die einzelnen Flammen wie zu einem breiten Fächer verschmolzen, der die heranjagenden Männer anraste.
Sechs Schüsse. Sechs Männer warfen die Arme hoch. Carradine klappte den Mund auf. Sechs Männer. Sie taumelten, wurden teils wie mit einem schweren Hieb hintenüber geworfen, teils um die Achse gewirbelt, teils überschlugen sie sich im Laufen. Sechs Männer. Und sechs Schüsse. Die anderen liefen wie gegen eine unsichtbare Wand. Ehe sie sich von dem Schrecken erholten, raste Toby schon hinter dem Holzstapel hervor, schmiß einem den abgeschossenen Colt mitten ins Gesicht, war bei einem Zusammengebrochenen, riß ihm den Revolver aus der Faust, und dann stand er vor ihnen. Wild atmend. Sein Gesicht mit den Sommersprossen sah wie ein Sieb aus. Geduckt standen die Männer vor ihm. Carradine sah, daß keiner der sechs getötet worden war. Sie hatten Schulterschüsse, Kugeln in Armen und Beinen. Sechs Männer waren es noch. Und Mike Salomons, der wie angedonnert dastand, den Revolver in der schlaff herunterhängenden Hand und der keinen Blick von dem Jungen nehmen konnte. »Wollen wir weitermachen?« fragte Toby sanft und so leise, daß Carradine es eben noch verstand. »Ich kann nichts dafür, Mr. Salomons«, sah er dann an dem betretenen Gesicht eines der Männer vorbei den großen Mann an. »Ich habe es nicht gewollt. Ich hatte nicht einmal eine Waffe. Sagen Sie den Männern, sie möchten mich jetzt in Ruhe lassen. Hier sind noch sechs Schuß drin. Und jeder trifft, das verspreche ich.« »Laßt ihn in Ruhe, Leute! Der Junge ist ein Eames.« Toby jagte den Kopf hoch. Plötzlich trat ein Glanz in seine Augen, den sie selbst, als man auf ihn schoß, nicht gehabt hatten. Aber Salomons ritt der Teufel. Dieser Teufel hieß auch Angst.
Aber er wollte keine Angst haben. Er war einer der achtunddreißig gewesen, die damals Tobys Familie mit erschossen hatten. Der Anblick des feuerspeienden Jungen und die Erkenntnis der Tragweite dessen, was nun wirklich geschehen war, hatte irgendeine Saite in seinem Inneren zerspringen lassen. Mit blitzartiger Gewißheit wußte er, daß dieser Überfall auf den Jungen ihn die Mine kostete, seine Lebensarbeit, die kurz vor ihrem größten Erfolg stand. Und mehr noch würde es ihn kosten. Plötzlich sah er im Handeln des Jungen nicht mehr dessen Wunsch, allein den Befehl seines Herrn auszuführen, sondern etwas ganz anderes. Und mit dieser Version kroch eine selbstzerstörerische Wut in ihm hoch, die den sonst so gutmütigen und nüchtern denkenden Mann in einen Halbverrückten verwandelte. Seine Stimme täuschte eine Ruhe und Besonnenheit vor, die er längst in einem vor Verzweiflung kochenden Innern nicht mehr hatte. Sie war keinen Laut höher als sonst, auch nicht sichtbar erregter. Nur sein Gesicht wirkte seltsam starr, als er langsam auf die Männer zuschritt, die wie automatisch die Revolver einsteckten und ihm Platz machten. »Er ist ein Eames. Ha, wer hat nicht vom blutigen Bragg Eames gehört! Einen ganzen Tag lang haben wir ihn und seine Raubtierbrut beschossen. Sie schossen selbst mit den Zehen noch, wenn sie keine Hände mehr hatten. Dort steht der letzte Eames. Ho, du weißt, daß ich dabei war – damals – du weißt es und hast dich von uns hochpäppeln lassen, damit du uns eines Tages einmal nacheinander das Fell über die Ohren ziehen konntest. Du bist genauso ein mörderisches Raubtier wie alle, die deinen Namen trugen. Die Eisenklamotten. Pah. Darum ging es dir nicht. Mich wolltest du umlegen. Mich!« schrie er plötzlich und schlug sich mit der gebauten Faust auf die Brust,
daß es hohl bummste. Toby war es als habe man ihn in kochendheißes Wasser getaucht. Wie irr schüttelte er den Kopf. Mike Salomons stampfte mit der Grazie eines dressierten Elefanten auf ihn zu. Der Schatten es großen Mannes war wie ein Untier, das auf Toby zukroch. Immer noch hielt er den Revolver in der Faust, hörte das Wimmern und Ächzen der Verletzten, spürte die Sonne auf seinen Schädel brennen. Carradine hatte das Gefühl, als schiebe man ihm langsam ein Bügelbrett hinter das Hemd. »Yeah, starr nur. Hier stehe ich, ich – Mike Salomons, der deinem Vater die letzte Pille verabreicht hat. Ho«, keuchte er und merkte nicht, wie ihm der Speichel aus dem breitgezogenen Mund lief. »Gegenüber der Tür saß er, Bragg Eames. In einer Hand eine Flasche, in der anderen den Colt. Er war total betrunken. Alle anderen tot. Er sah wie ein Sieb aus. Hahaha – als ich mit der Tür in die Hütte donnerte, bekam er den Colt nicht einmal mehr eine Handbreit hoch, so betrunken und fertig war er. Und dann habe ich geschossen.« Toby quollen die Augen aus den Höhlen. Er begann am ganzen Körper zu zittem. »Nein. Nein!« flüsterte er. »Sagen Sie es nicht, Mr. Salomons. Bitte, sagen Sie es nicht. Ich kann es nicht hören. Ich kann nicht – ich kann nicht…« »Doch sollst du es hören, du elende Ratte!« brüllte Salomons, blieb drei Schritt vor Toby stehen. Und dann warf er plötzlich den Kopf in den Nacken, jagte ein tief aus der Brust kommendes, hysterisches Lachen in den sengenden Himmel. »Hahaha – sie haben alle keine Chance gegen dich, mein Junge. Du schießt besser als jeder Eames zuvor. Hahaha – sie werden sich
vor Angst die Hosen vollmachen. Ich darf nicht daran denken – so ein kleines Früchtchen wird achtunddreißig Männer umlegen – hahaha – einen nach dem anderen, und es wird keinen geben, der es verhindern kann. Keinen! Hahaha. Aber, Eames, du, Eames, du«, jagte er flüsternd den Kopf wieder vor, »ich habe keine Angst. Ich nicht. Alles ist futsch. Die Mine, alles. Los, mach es kurz. Schieß, aber ich, Junge, ich schieße auch.« Ehe Carradine seinen warnenden Schrei heraus hatte, riß Salomons mit einem stoßartigen, wilden Schnaufen den Revolver hoch. Aber er zeigte noch nicht einmal auf Tobys Stiefelspitzen, als ihn dessen aufbrüllender Schuß traf. Genau in das Ellenbogengelenk des rechten Armes. »Verrückt«, murmelte Toby tonlos und schrie dann, während er auf den Bock des Wagens jagte. »Verrückt! Sie sind alle verrückt geworden – Haurrh! – Haurrh! Los, zieht! Sie sind verrückt geworden – alle – haurrh!« »Warte!« rief ihm Carradine entgegen. Toby bremste, und als er in das ernste Gesicht des Fremden blickte, kam er wieder zu sich. »Warte, Junge. Du mußt sie mit in die Stadt nehmen.« »Ja, natürlich. Entschuldigen Sie – ich habe nicht daran gedacht.« »Schon gut. Wirf das Ding weg. Du brauchst es nicht mehr.« Der Revolver flog in den Staub. Direkt Kingsley vor die Füße, der sich Mühe gab, das Gesicht des Jungen zu entziffern. »Los, Männer, ladet sie auf, damit sie zum Doc kommen – alle, den Boß auch.« »Ich bleibe hier«, preßte Salomons unter heftigen Schmerzen hervor, aber da raste Carradine auf ihn zu, sprang mit einem Satz aus dem Sattel. »Sie verdammter Narr!« brüllte er. »Jetzt habe ich aber genug
von Ihrer Art, Gerätschaften einzukaufen. Raub nennt man das. Überfall und Aufwiegelung zum Mord, Sie verdammter Idiot. Die Männer dort haben Sie auf dem Gewissen. Weiß der Teufel, ich wünschte, der Junge hätte Ihnen das faule Hirn aus dem Schädel geblasen! Los, rauf auf den Wagen. Noch ein Wort, Salomons, und ich mache ein wimmerndes Knäuel Mensch aus Ihnen. Los jetzt, Männer, beeilt euch. Bindet ihm die Beine ab, damit er nicht verblutet. Ihr elenden Narren. Jeden Tag müßte man euch mit Faustschlägen wecken. Stier nicht so dämlich, du Schafsgesicht«, jagte er einem die Faust ans Kinn, daß er sich überschlug. »Jetzt habt ihr lange genug den wilden Mann gespielt – voran, packt an, oder keiner von euch steht vor drei Wochen wieder auf den Beinen.« Der große, hagere Carradine goß seinen ganzen Ärger über die verdatterten Männer aus, die sich stillschweigend daran machten, die sieben Verletzten auf den Wagen zu heben, wo sie, wie gefüllte Säcke, stumpf vor sich hin starrend, sitzen blieben. »Sie auch«, fauchte er Salomons an. Salomons kurvte seine Augen aus dem wütenden Blick des Fremden heraus und stieg ächzend auf den Wagen. – Die Stadt glaubte ernsthaft, auf der Donna Esmeralda habe es eine Explosion gegeben. Erst, als sie sahen, daß die Männer, die ins Haus des Arztes geschafft wurden, Schußwunden hatten, erhöhte sich ihre Aufmerksamkeit. Explosionsunfälle gab es in den umliegenden Minen fast taglich. Aber sieben Männer, die Schußwunden und einer, der zerquetschte Beine hatte, hatte es seit Jahren nicht mehr gegeben. Carradine, der die Menschen und ihre Art, Tatsachen zu verdrehen, kannte, schwang sich vor der Menge neben Toby auf
den Bock. »Damit keine Irrtümer vorkommen, Leute. Ich war dabei, Sie sind mit vierzehn Mann über diesen Jungen hier hergefallen. Er war unbewaffnet. Aber er hat es ihnen gezeigt. Er hätte sie alle erschießen können, aber er verwundete sie nur. Und Salomons hat ihn gereizt, daß ich ihn an seiner Stelle kaltlächelnd dafür erschossen hätte. Auch ihn hat er nur verwundet. Ich habe erfahren, daß er wenig stolz auf seine Herkunft sein kann. Schwamm drüber, Leute. Rührt die alten Geschichten nicht wieder auf, wenn ihr nicht darin ersaufen wollt. Laßt den Jungen in Frieden. Ich wäre stolz, wenn ich solchen Sohn hätte.« Damit schlug er Toby auf die Schulter, sprang in den Sattel seines Pferdes und trabte langsam die Straße hinunter, als gehe ihn die Sache nichts mehr an. Sie machten dem Jungen schweigend Platz, als er mit verschlossenem Gesicht den Wagen wandte und zum Store zurückfuhr. Alle blickten ihm nach. »Sie wollten abladen, ohne zu bezahlen«, sagte er zu Sam Wagner nur und ging hinauf in sein Zimmer. Dort blieb er den ganzen Tag. Sam tauschte mit seiner Frau einen besorgten Blick, ging dann hinaus, um zu hören, wie man in der Stadt darüber dachte. Nach zwei Stunden kam er mit Hogset zurück. »Er ist immer noch oben«, beantwortete Mrs. Wagner den Blick Sams. Hogset spitzte die Lippen, ließ genießerisch die Zungenspitze von einem Mundwinkel zum anderen fahren. »Huggins verliert beide Füße«, sagte er mit einer vagen Handbewegung. »Prizzle sagt, er müsse zwei Handbreit unter den Knien amputieren. Salomons wird einen steifen Arm behalten. Die anderen sechs sind mit dem Schrecken davonge-
kommen. Harmlose Fleischwunden. Tja, Sam – so ist das. Der Junge ist ein Tornado. Hm, kennst du die Geschichte von dem Mann, der den Teufel in der Flasche hatte?« »Wir kennen sie, Mr. Hogset – sagen Sie offen, was Sie denken. Wie ist es denn gekommen?« »Wie dieser Fremde es sagte, Hilde. Salomons ist auf eine starke Erzader gestoßen. Fündiger als alle anderen. Er mußte das Zeug haben, um weiterarbeiten zu können. Die Contention hat die Schuldscheine aufgekauft und hält ihm den Hals zu. Als Toby sich weigerte, abzuladen, ist ihm der Kragen geplatzt. Hölle, wenn ich das gewußt hätte. Mein Gott, ich bin an allem schuld.« »Blödsinn, Sam. Geben Sie mir doch bitte einen Doppelten. Du bist an nichts schuld. Ich gebe zu, daß es tragisch für Mike war. Aber deshalb darf er noch lange nicht einen Mann so lange tanzen lassen, bis er halbtot zusammenbricht.« »Er hat Toby tanzen lassen?« fragte sie mit großen Augen. »Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man das kann. Kingsley war es. Er läuft jetzt wie ein blindes Huhn herum. Ich kann den Kerl auch nicht leiden, aber jetzt tut er mir leid. Es wird eine Woche dauern, ehe er aus Denver eine neue Brille bekommt.« Die Tür öffnete sich. Harold Carradine trat ein. »Kann ich den Jungen mal sprechen?« sagte er, nachdem er Mrs. Wagner durch einen Griff an den Hut gegrüßt hatte. »Der ist oben auf seinem Zimmer. Ich glaube, Sie verschieben es besser. Sagen Sie, Sie waren doch dabei. Wie sah der Junge aus – ich meine, welchen Eindruck hatten Sie von ihm?« fragte Sam hastig. »Nun, wie soll er ausgesehen haben? Wie einer, den man in die Enge treibt und der sich seiner Haut wehrt. Hören Sie, Mr. Wagner – machen Sie um Gottes willen nicht den Fehler und
sehen Sie in ihm einen Übermenschen. Es gibt kein schnelleres Mittel, um zu vertreiben. Er ist ein Junge wie jeder andere auch.« »Na, hören Sie, Sie haben aber einen goldigen Nerv. Wo kommen Sie denn her?« schnaufte Hogset wie eine empörte Baßgeige. »Bei Ihnen ist es wohl normal, wenn ein Halbwüchsiger acht erwachsene und harte Männer in den Dreck legt und nur eine Schramme an der Hand davonträgt.« »Ich bin Texaner, Sheriff.« Hogset zog ein Gesicht, als wundere ihn jetzt nichts mehr. Carradine musterte ihn ärgerlich. »Er ist für sein Alter etwas zu groß und kräftig. Zugegeben. Das ist aber auch alles, was außergewöhnlich an ihm ist.« »Sie machen mir Spaß.« »Das ist mir egal. Er hat nur die seltene Gabe, in jeder Situation einen ganz klaren Kopf zu behalten. Die Schrecksekunde ist praktisch bei ihm nicht vorhanden. Deshalb konnte er so schnell und auch so richtig handeln. Das ist alles. Allerdings ist er auch ein Naturtalent.« »Im Schießen«, lachte Hogset hart. Es klang wie ein Husten. »Das hat er von seinem Vater.« »Egal, wo er es herhat. Ich habe seine Augen gesehen. Er hat ein Engelsgemüt, das weiß ich so sicher, wie Sie den Stern tragen.« »Sagen Sie das den Leuten mal.« Carradine wehrte ab. »Pshaw. Die Leute. Ich habe schon Pferde kotzen sehen. Die Leute. Haben Sie schon mal gesehen, daß eine Meute Bastarde einen Rassehund unter sich duldet?« »Was wollen Sie von Toby?« fragte Wagner. »Ihn veranlassen, mit mir zu reiten.« »Er bleibt hier.«
»Das glaube ich nicht.« »Wieso nicht? Er hat verschiedene Angebote abgelehnt. Bisbee wollte ihn für seine Ranch haben. Er bleibt, Mr. Carradine.« »Weidereiter spielen ist nichts für ihn. Sie meinen, er bliebe aus Dankbarkeit? Das traue ich ihm zu. Es ist auch gut, daß er dankbar ist, aber er wird nicht bleiben können.« »Das werden wir ja sehen«, knurrte Sam fast feindlich. »Wollten Sie etwas kaufen?« »Ja, einen Nagelreiniger.« »Wie bitte?« »Einen Nagelreiniger! Es gibt nämlich ziemlich viele Leute hier, die einem Dreck unter die Nägel schieben.« »Das könnte stimmen, Mister. Nur den Nagelreiniger hat man noch nicht erfunden«, grinste Hogset schlicht. »Doch«, schlug der Texaner die flache Hand an die Halfter. »Doch, Sheriff, den gibt es. Well, wenn Sie sich selbst und dem Jungen gutsein wollen, dann lassen Sie ihn gehen. Diese Stadt macht ihn sonst kaputt. Es gibt hier achtunddreißig Männer, die das Herz in der Hose tragen. Cheers, Gents. Auf Wiedersehen, Mrs. Wagner.« Ohne die graue Cordjacke wirkte sein Rücken noch breiter. * Die Bank von Mosby & Horn lag schräg gegenüber von Wagners General-Store. Es war ein Eckhaus, ein zweistöckiges Steingebäude, eins der wenigen, die es in Leadville zu dieser Zeit gab. Carradine ging hinein und sah sich um. »Bitte, kann ich Ihnen helfen?« fragte ein Clerk, worauf Carradine freundlich lächelnd den Kopf schüttelte.
»Nein«, sagte er, »ich möchte mich hier nur ein bißchen umsehen.« »Bi… bitte«, stotterte der Clerk mit einem raschen Blick auf den tiefhängenden Revolver. Wenig später wußte Rodney Hogset davon. »Komischer Mensch«, murmelte er. Als er sich am Abend hinter seinen Schreibtisch setzte und den Kopf gedankenvoll in die Hände stützte, wußte er, daß Carradine den Nachmittag damit verbracht hatte, harmlos lächelnd das Innere und Äußere der drei anderen Banken einer eingehenden Musterung zu unterziehen. Auf seinem Rundgang traf er ihn im Stampede Saloon. Er schob sich neben ihn an die Theke. Auf der Bühne sang und tanzte eine etwas vom Zahn der Zeit angenagte Schönheit. »Sie müssen eine Menge Geld haben, Mr. Carradine«, sagte Hogset harmlos. »Weil ich mich für die Banken interessiere? Nein, Sheriff, das hat andere Gründe.« »Vielleicht haben Sie dann zu wenig?« Carradine lachte. »Auch das nicht. Keine Angst, ich habe nicht die Absicht, einen Hold zu starten.« Damit mußte sich Hogset zufrieden geben. Er warf noch einen Blick über die heftig diskutierenden Miner, stellte fest, daß der Junge den Gesprächsstoff der ganzen Stadt bildete, grüßte und ging. Carradine blickte ihm mit gerunzelten Brauen nach. Unter den Minern waren auch die sechs der Donna Esmeralda. Große kräftige Burschen mit Händen wie aus Hartholz. Als die Miner der Contention begannen, sie wegen der Niederlage zu hänseln, bauten sie die Fäuste und gossen hastig einen Whisky nach dem anderen hinunter.
Carradine zahlte und verließ den Saloon. Als er bei Wagner nach Toby fragte, schüttelte der mißtrauisch den Kopf. »Er ist nicht hier.« »Schön, und wo ist er jetzt?« »Mit dem Wagen weg, er bringt einem Kunden Ware. Genügt Ihnen das?« Carradine musterte forschend das runzelige Gesicht, in dem es ärgerlich zuckte. »Sie scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, was hier gespielt wird, Mr. Wagner.« »Aber Sie, Sie wissen es, eh?« »Yeah, ich weiß es. Wenn ich mich nicht irre, warten sechs Miner der Donna darauf, Toby das Hemd nach links zu drehen. Cheers, Mr. Wagner, cheers, Opa.« Old Culmer grinste unheilvoll in seine dampfende Tasse Kaffee, während Wagner sich schnell über die Theke beugte. Die Pendeltür schwang hinter der breiten Gestalt des Texaners aus. Eine lange Pause lehnte Wagner weit vornübergebeugt über der Theke und starrte die ausschwingenden Türflügel an. »Was ist, Sam?« fragte Hilde von der Küchentür her, die im Hintergrund des Storeraumes drei Treppenstufen höher lag. »Eh? – Nichts, Hilde, nichts ist.« Sie nickte und verschwand. Sam lehnte sich zurück. Toby ist vor drei Stunden zur Circle-H gefahren, dachte er, in einer halben Stunde muß er zurückkommen. Old Culmer beobachtete ihn scharf. Sam öffnete eine Schublade, starrte lange dort hinein, schob dann die Hand hinein und zog sie mit einem Revolver wieder hervor. Den steckte er in den Hosenbund und ging hinaus.
Vor den Saloons und Hotels hingen Petroleumlampen. Mosby & Horn verrammelten die Tür. Es war still auf der Straße. Nur aus den Saloons drang Grölen, Fluchen und krächzendes Singen. Dazwischen das dünne Geklimper eines verstimmten Klaviers und der Song einer rauchigen Frauenstimme. »Lösch bitte die Lampen, Opa – ich mache den Laden dicht«, rief er über die Schwingtür ins Innere des Ladens, holte zwei große Türflügel aus einer Ecke, hängte sie in die Scharniere und verschloß sie. Dann ging er die Straße hinunter, kreuzte die Lincoln Street, die Sixth Street, kam am Vogelkäfig-Theater vorbei, das gerade zwei Betrunkene ausspuckte, und stand dann vor dem Marshal-Office. Dicht. Hogset war nicht da. Wo wollte er den Marshal jetzt finden? Einige Halbwüchsige, die er fragte, hatten ihn auch nicht gesehen. Er ging wieder zurück, trank im Trailsmens-Rest einen, im Wampum noch einen und kam schließlich in den Stampede Saloon. »Gut, daß du kommst, Sam«, rief ein Miner, der sich Beeholm nannte, ein übler Radaubruder. »Dann kannst du gleich mit uns gehen.« »Ich habe den Laden geschlossen.« »Das können wir uns denken, du knickriger Geizkragen. Deinem Banditenzögling geht es jetzt an den Kragen, und wenn du nicht schön brav bist, ziehe ich dir deinen Hals so lang, daß du im Stehen den Pacific sehen kannst.« »Wenn du Krach suchst, bist du bei mir an der falschen Adresse«, sagte Sam ruhig. Beeholm trat wie ein Denkmal auf ihn zu. Sein Kopf glühte, die Adern standen wie dicke Stränge in seinem aufgedunsenen Gesicht. Sam schlug eine üble Fuselwolke entgegen.
»Du bist von der Contention bestochen«, flüsterte Beeholm heiser. Die anderen Männer schoben sich heran. Es wurde still wie in einem Massengrab. »Mit deinem verdammten Eisenzeug hätten wir weiterarbeiten können, aber du, schmierige Krämerseele, sitzt auf deinen verdammten Nickels, egal, ob eine schöne Mine dabei vor die Hunde geht.« Mit einem Griff packte er Sam am Hemdkragen. »Laß mich los, Beeholm – Du bist betrunken.« »Betrunken?« grölte Beeholm auf, »yeah, bin ich. Und wütend bin ich auch, du elende Wanze. Mit Geld konnten wir nicht zahlen, aber damit…« Es gab ein trockenes, knirschendes Geräusch, als seine Faust Sam am Kinn traf und ihn mitten in einen Tisch warf, der splitternd seinen Geist aushauchte. »Für jeden Dollar einen Schlag, hier, du Christenmensch, der anderen den Hals zuhält.« Sams beide Augen schlossen sich unter den donnernden Fäusten. Nach kaum zwei Stunden war alles vorbei. Sam Wagner lag schwer zusammengeschlagen am Boden, blutete aus Mund und Nase. Beide Augen schlossen sich hinter aufgeplatzten Beulen. »Und wer bezahlt den Tisch?« brummte der Keeper. »Du hast uns genug Bucks abgeknöpft, du Aasgeier«, wirbelte Beeholm herum. Der Keeper hielt verbissen den Mund und schielte zu den Contention-Leuten hin, die sich merkwürdig ruhig verhielten. Und da wußte er, daß er den Mund halten mußte, wenn er seinen Laden nicht in einen Trümmerhaufen verwandeln wollte. »Wir knöpfen uns das Bürschchen vor!« schrie Beeholm, und dann war es plötzlich ganz still in der Bar. Die Miner waren nach draußen gegangen. Sie lauschten dem Stampfen der schweren Schritte. Beeholm grölte laut, aber man verstand
kein Wort. »Faßt mit an«, packte einer den bewußtlosen Sam. Sie legten ihn auf eine Stuhlreihe und standen dann wieder an der Theke, als sei nichts geschehen. Beeholm und die fünf anderen erreichten Wagners Laden. Mit einem Tritt verwandelte er die Fensterscheibe in einen Splitterhaufen. Durch das offene Fenster stiegen sie in den Laden. Mit Äxten und Spitzhacken begannen sie, wild um sich zu schlagen und alles zu zertrümmern, was ihnen zertrümmemswert erschien. Draußen, vor einem Haus, saß Carradine auf dem Sidewalk und hörte das Splittern und Krachen in Wagners Laden, dazwischen die empörten Schreie Hilde Wagners und rohes Lachen. Vor dem Laden liefen die Leute zusammen. Man schrie nach dem Sheriff. Aber der war wie vom Erdboden verschluckt. »Raus!« hörte man Hilde Wagner schreien. »Wer in zwei Sekunden noch im Laden ist, bekommt beide Ladungen ab.« Sie mußte ein Schrotgewehr in der Hand haben. Es wurde still, dann kletterten die Männer hinaus auf die Straße, blieben dort stehen. Am Ende der Straße rumpelte ein Wagen heran. »Bleibt hier stehen«, sagte Beeholm laut und ging einige Schritte die Straße hinunter. Die Zuschauer verzogen sich in die Schatten der Sidewalks. Der Wagen kam näher. Zwei Pferde zogen ihn. Es war Wagners Leiterwagen. Er war vollbeladen. Auf dem Bock saß… Toby. »Runter vom Bock!« schrie Beeholm. Er stand breitbeinig auf der Straße. Toby ließ die Pferde weitergehen. Alle sahen, wie er aus dem
Ständer die Peitsche nahm. Dann sah er das gähnende Loch des Fensters, die sechs Männer, sah die Gestalt Hilde Wagners mit der langen Parkerflinte über das Fensterbrett steigen, hörte die Scherben unter ihren Schuhen zerbersten. »Komm hierher,Toby«, sagte sie schneidend, »ihr verschwindet augenblicklich, sonst gibt es zwei Rehposten.« Sie hätte nicht so weit auf den Sidewalk hinausgehen sollen. Sie kam einem der Männer ziemlich nahe. Der warf sich zur Seite, im Herumwerfen ergriff er die Gewehrläufe, riß sie der Frau aus der Hand, aber gleichzeitig brachen zwei brüllende Flammen aus beiden Läufen, mitten in sein Gesicht hinein. Hilde schrie auf. Der Mann wurde wie von einer Riesenfaust hintenübergewirbelt und blieb regungslos liegen. Inzwischen hatte sich Toby mit einem weiten Sprung vom Bock auf Beeholm geworfen. Beide fielen zu Boden. Carradine rührte sich keinen Zoll auf seinem schattigen Platz, beobachtete regungslos, wie sich die fünf Männer aufbrüllend auf Toby stürzten, wie Hilde langsam, als habe sie keine Knochen, zusammensank. Toby wehrte sich mit der Wut der Verzweiflung. Aber gegen die harten Männermuskeln war er machtlos. Beeholm und ein anderer schlugen um wie einen Mehlsack zwischen sich her. Er fiel einem in die Arme, wurde von furchtbaren Schlägen wieder in die Arme des nächsten geworfen. Da erhob sich Carradine. »Stop! Jetzt ist genug.« Beeholm drehte sich mit angeblockten Fäusten um. »Der verdammte Sattelaffe«, sagte er. Toby lag regungslos am Boden. »Verschwindet und nehmt den Toten mit!«
Carradines Stimme war kalt und spitz wie ein Eiszapfen. »Misch dich nicht ein, sonst…« »Ich gebe euch drei Sekunden, keinen Atemzug länger.« Drei der Männer trugen Revolver. Auch Beeholm hatte einen am Gürtel, aber er wußte, daß er damit kaum eine Kiste auf drei Yard treffen konnte. Carradine aber sah aus, als sei Schießen sein Hobby. Beeholm öffnete den Mund, aber da war Carradine bis auf drei Schritt heran, und er sah seine Augen, sah den verkniffenen Mund und die gespreizte Hand über dem Kolben seines Revolvers. »Noch zwei Sekunden«, sagte Carradine freundlich. Beeholm schnaufte wild. »Noch eine Sekunde.« Und da senkte der Miner den Kopf, nickte, trottete an Carradine vorbei auf den Toten zu. Die Männer hinter ihm her. Sie nahmen ihn und gingen mitten über die Straße zum Stampede Saloon. Dort banden sie den Toten über einen Sattel, schwangen sich auf die Pferde, und dann waren die verklingenden Hufschläge das einzige Geräusch, das man in diesem Teil der Stadt hörte. Carradine trat zu Hilde, die sich seufzend aufrichtete und irr um sich blickte. »Wo ist er?« flüsterte sie hektisch. »Wo ist er – oh, entsetzlich.« »Beruhigen Sie sich, Mrs. Wagner. Wenn Sie können, gehen Sie bitte hinein. Ich muß nach Toby sehen.« »Toby? Was ist mit ihm?« »Ein paar Beulen, weiter nichts. Ich kümmere mich um ihn, gehen Sie hinein.« »Danke, Mr. Carradine, danke.«
Toby saß auf den Knien, schwer auf die immer wieder einknickenden Arme gestützt und schüttelte den Kopf. Aus seinem Gesicht tropfte es dunkel in den Straßenstaub. »Warum haben Sie sich eingemischt?« rief eine dunkle Stimme aus dem Schatten des Sidewalks. »Was geht es Sie an, was mit diesem Banditenlümmel geschieht?« »Wer mir was zu sagen hat, komme gefälligst auf die Straße, damit ich ihn sehen kann«, bohrte Carradine seinen Blick in das Dunkel, in dem es von Menschen wimmelte. Sie begannen zu murren. Aber niemand trat auf die Straße. Carradine wandte sich ab. »Na, Toby? Bist du wieder einigermaßen klar?« Vergeblich versuchte Toby, sich auf die Beine zu stellen. »Du bist wohl auch ein Satteltramp, daß du ihm so beistehst?« rief eine andere Stimme. »Er ist kein Haar besser als seine Halsabschneiderfamilie.« »Jagt ihn mit der Peitsche aus der Stadt.« »Worauf warten wir noch? Wollen wir uns eine Hyäne großziehen, die friedliche Arbeiter überfällt und zusammenschießt?« »Raus mit dem Banditen«, schrillte eine Frauenstimme auf, daß Carradine schwach den Mund verzog. Toby hörte es. Er zog sich an Carradines Arm hoch. Carradine blickte in seine blutunterlaufenen Augen, spürte den heulen Atem aus dem halb geöffneten Mund, der nach Blut roch und das Zittern, das den Jungen wie ein Krampf befiel. »Lassen Sie mich«, flüsterte er lispelnd, denn seine Oberlippe war aufgeplatzt und stark angeschwollen. »Raus aus der Stadt.« »Wir dulden keine Banditen in Leadville.«
Sie begannen zu schreien. »Geh'n Sie – geh'n Sie! Lassen Sie mich«, drängte Toby, riß sich aus dem Griff Carradines los, wankte zum Wagen, nahm die Peitsche vom Bock. »Geh'n Sie!« schrie er dann laut Carradine an, der wie ein Pfosten mitten auf der Straße stand. »Ich brauche keine Hilfe.« Carradine blieb stehen. Die Leute schwiegen plötzlich, und die Stille, die eintrat, war wie ein schweres schwarzes Tuch. Toby taumelte über die Straße auf den Sidewalk zu. Jetzt trat er in den Lichtkegel einer Laterne. Er sah grau aus. Über und über grau – vom Straßenstaub. Sein Gesicht war auch grau. Nur die dicken, geschwollenen Platzwunden glänzten feucht und dunkelrot. Von der Stirn zog sich ein breiter Blutstreifen quer durch das Gesicht. Es war, als sei es in zwei Hälften geteilt. Die lange Peitsche schleifte durch den Sand. Man hörte das knisternde Rascheln des Sandes, den seine Stiefel schaufelten. Dann hatte er den Lichtkegel durchquert, kam ins Dunkel des Häuserschattens, war nur noch drei Yard von ihnen entfernt. »Komm zurück,Toby«, sagte Carradine leise. Aber Toby ging wie ein Schlafwandler weiter. Noch zwei Yard. Die Hand mit der Peitsche hob sich. Auf dem Sidewalk begannen Füße zu scharren. Und dann brach ein Tumult los, wie man ihn in Leadville wohl selten gehört hatte. »Schießt ihn nieder!« »Abschießen, den Banditen!« »Er überfällt harmlose Bürger!« Aber da war Carradine schon mit einigen raschen Sätzen bei Toby, riß ihm die Peitsche aus der Hand, drehte ihn wie eine Puppe um. Toby ließ sich willenlos zurückführen.
»Misch dich nicht ein, du verdammter Satteltramp«, brüllten sie. Sie waren enttäuscht, daß sie nicht mehr auf Toby schießen konnten. Und dann krachte ein Schuß. Carradine riß Toby mit sich. Der aber schien wie aus einem Starrkrampf zu erwachen, wollte sich losreißen und wieder zurückfegen. »Verdammter Narr«, keuchte Carradine, »los, hinter den Wagen, sonst gebe ich dir eins auf deine verdammte Nuß.« Wieder peitschten Schüsse, die Geschosse jaulten in den Wagen, zerrissen Mehlsäcke und verbeulten Blech, sirrten als häßliche Querschläger schräg in den Himmel. Und dann schienen sie sich Mut angeschossen zu haben. Ein wildes Stakkato hämmerte in den Wagen hinein. Die Pferde wieherten erschrocken, bäumten sich auf, schlugen aus, daß der ganze Wagen in einer Staubwolke stand, dann zogen sie an und rasten mit dem Wagen davon. In der Staubwolke zerrte Carradine den sich sträubenden Toby in die Nische zwischen Haus und Schuppen. Er hörte, wie sich trippelnde Schritte entfernten. Aha, dachte er, die Frauen verziehen sich. Im Aufblitzen der Schüsse sah er, daß etwa ein Dutzend Männer sich fast rund um Wagners Store verteilt hatte und ununterbrochen schoß. »Gib den Banditen heraus, dann geschieht dir nichts!« schrie einer in einer Schußpause. »Stoß ihn einfach auf die Straße, das andere machen wir.« Dann rasten klirrende Schritte über die Bohlen heran. »Was ist denn hier wieder los?« brüllte die Stentorstimme des Sheriffs. »Wer noch einen Schuß abgibt, den hänge ich persönlich – raus aus dem Schatten!« Drei, vier Schüsse jagten unter den Sidewalk, auf dem sich die Männer hinter Balken und Kisten verschanzt hatten.
Carradine grinste. »Rauskommen, habe ich gesagt. He, Verdrücken gibt es nicht«, brüllte Hogset und rannte wie eine abgeschossene Kanonenkugel hinüber, tauchte im Schatten des Sidewalks unter. Die Männer spritzten nach allen Seiten auseinander. Nur noch einen bekam er am Wickel zu fassen. »Los, auf die Straße, du Narr.« »Stop, Rod«, keuchte der Mann erschrocken. »Es ist ihm ja nichts passiert.« »Ah, Frank«, ließ Hogset los. »Sag mal, seid ihr vom wilden Affen gebissen, was war denn hier eigentlich los? Wie könnt ihr so einfach auf den Jungen schießen? Seid ihr verrückt geworden? Wenn er einen Kratzer hat, wird es ein teurer Spaß, das verspreche ich dir.« »Nichts hat er«, preßte Frank Christensen mißmutig hervor. »Ich gehe jetzt wieder rein. Wir müssen mit dir reden.« »Wer wir?« »Wir alle – von der Posse.« »Ah, geht euch noch immer der Hintern eins zu hunderttausend? Frank, jetzt hör mal gut zu, was ich dir sage. Laßt den Jungen in Frieden, ihr macht ihn mit eurer Angst nur zu dem, was ihr unbedingt in ihm sehen wollt. Er ist harmlos, wenn er auch eine verdammt harte Nuß ist. Hau ab, Frank. Aber beherzige, was ich dir gesagt habe. Eh, habt ihr Sams Fenster in Klump geschossen?« »Nein, das waren die Miner der Donna. Wir erwarten dich, Rod.« »Diese Idioten«, schimpfte Hogset hinter ihm her und ging dann zum Schuppen hinüber. »Carradine?« Der trat mit Toby aus dem Schatten. »Gosh. Wie siehst du denn aus, Junge?«
»Geh rein, Toby, ich erkläre dem Sheriff alles.« »Ich gehe«, lispelte Toby, dessen Oberlippe immer dicker wurde. »Ich gehe, aber wenn das noch einmal geschieht, Mr. Hogset, dann schnalle ich mir den Revolver meines Vaters um, und dann – dann übe ich nicht mehr am Brook Schießen. Ich habe keinem etwas getan – keinem. Und jetzt schießen sie auf mich. Wo, wo ist denn der Wagen?« »Den hole ich, Toby – geh hinein. Mrs. Wagner macht sich Sorgen um dich, und dann – braucht sie dich auch.« Toby ging. Und dann taumelte Sam um die Ecke. »Diese verdammten Hunde«, keuchte er, sah Hogset und stürzte auf ihn zu, »ich verlange, daß du sie einsperrst, Rod. Sieh dir meinen Laden an, sieh mich an.« Es gab nicht viel zu sagen, und da wußte Hogset alles. »Schon wieder einen Toten. Damn'd! Sie sind verrückt.« »Ich hole den Wagen«, sagte Carradine und ging. »Es wäre besser, wenn der Junge mit Carradine ginge«, sagte Hogset. »Weil sie alle plötzlich verrückt spielen?« regte sich Sam auf. »Weil er sich gegen die hitzköpfigen Wühlmäuse verteidigt hat? Niemals, Toby bleibt. Wie kannst du mir als Sheriff überhaupt einen solchen Vorschlag machen? Mit der Faust mußt du dreinschlagen.« »Versprichst du dir etwas davon?« zuckte der Sheriff die Schultern. »Ich nicht. Es stimmt, daß sie verrückt sind. Kannst du es ändern? Der Junge muß für einige Zeit weg, bis sie sich beruhigt haben.« »Das kommt nicht in Frage.« »Du bist ein verdammter Dickschädel. Alle Germans sind Dickschädel. Mit dem Kopf durch die Wand. Meinst du, du tust dem Jungen einen Gefallen, wenn du ihn hierbehältst?
Das ist erst der Anfang. Wart einmal ab, was noch alles kommt.« »Das werden wir ja sehen. Ich setze ihm nicht den Stuhl vor die Tür.« »Sollst du ja gar nicht, verdammt noch einmal.« »Er bleibt.« »Dann mach doch, was du willst«, wetterte Hogset. »Du bist derselbe Narr, wie sie. Nur, daß sie stärker sind als du. Darauf kannst du dich verlassen.« * Die folgenden Tage war Reverend Percy H. Amess der einzige Mensch, der Wagners Store betrat. Er spielte seine Partie Schach, verlor, trank einen Doppelten und ging wieder. Toby und Sam sahen aus, als seien ihnen schwere Kisten auf die Gesichter gefallen. In der Stadt wurde es lauter. Es waren noch zehn Tage bis zum Rodeo. Vor der Stadt baute und hämmerte man an Buden und Tribünen. Von überallher trudelten Weidereiter und Männer ein, die Geld verdienen wollten, mit Karten, mit Wundersalben und Moritatenstorys, mit Lassos, Gewehren und Revolvern beim Scharfschießen. In allen Geschäften und Bars war Hochbetrieb, der sich von Tag zu Tag steigerte. Nur in Wagners Shop war es ruhig wie in einer Kirche. »Sie raten jedem Fremden ab, bei uns zu kaufen«, knurrte Wagner, als Toby für einen Augenblick in den Hof gegangen war. Hilde lächelte vage. »Laß nur, Sam, es wird sich legen!« Es legte sich nicht.
* Carradine schlenderte ununterbrochen durch die Straßen, sah sich jeden Fremden an, der in die Stadt kam, stand in den Bars und Saloons, wanderte von einem Hotel in das andere und schien sich Mühe zu geben, das Gesicht jedes Fremden aus dem Kopfe nachzeichnen zu kennen. Hogsets Augen wurden immer grübelnder, wenn er an den Texaner mit dem langen Revolver dachte. Er war ununterbrochen auf den Beinen. An einem Abend ging er in Halbrooks Spielhallen.' Alle Tische waren besetzt. Es roch nach Schweiß, kaltem Tabak und billigem Fusel. Über jedem Poker- und Farotisch hingen grünbeschirmte Lampen. An der langen Theke wurde gewürfelt. Es war verhältnismäßig ruhig. Er sah Carradine lässig an einem Pfeiler stehen und aufmerksam das Spiel von drei Männern beobachten, vor denen sich hohe Chipsäulen häuften. Carradine nickte ihm freundlich zu. Hogset erwiderte den Gruß mit einer halben Handbewegung. Dann sah er ganz im Hintergrund in einer Ecke ein Gesicht. Es war ein schmales bleiches Gesicht voller heller Flecken und Pickel. Der Mann hatte enge, leicht vornübergeneigte Schultern. Er trug eine schwarze Jacke. Seine Augen konnte man aus dieser Entfernung nicht sehen, weil sie hinter den zusammengekniffenen Lidern fast verschwanden. Er spielte mit drei Männern, die aussahen wie Trailsmen, die zuviel Geld hatten.
Langsam erhob er sich durch die Tischreihen an die Wand und von dort hinter den Spieler. Dort blieb er mit vorgeschobener Unterlippe stehen, sah dem Spiel eine Weile zu, dann sagte er – eben laut genug, daß die Männer am Tisch ihn hörten: »Ich habe dir doch gesagt, daß du die Stadt nicht mehr betreten sollst, Garmel.« Der blasse Spieler fuhr augenblicklich halb herum, stierte über die Schulter den kleinen Sheriff an, wurde feuerrot und dann noch blasser, als er ohnehin schon war. Seine beiden Hände blieben gespreizt auf den Tischkanten liegen. Die Weidereiter sahen überrascht und gespannt auf. Schlagartig wurde es still in dem großen Raum. Garmel antwortete nicht, saß wie auf dem Sprung. Hogsets Blick suchte einen langaufgeschossenen, tadellos gekleideten Mann mit schwarzen Pomadenhaaren, der an einer Säule stand. »Und dir habe ich gesagt, daß ich keine Falschspieler in Leadville dulde, Bisby.« Bisby schob sich heran. Das Zucken seiner Schultern konnte man unschuldig nennen. Sein Gesicht war wie eine Rolle Stacheldraht. »Ah, sieh da«, tat er erstaunt, »Lance Garmel. Den habe ich nicht kommen sehen, Sheriff. Ich habe nur zwei Augen.« »Natürlich. Letzte Warnung, Bisby, wenn das noch einmal vorkommst, schließe ich deinen Laden. Dann kannst du meinetwegen, heiße Plätzchen verkaufen. Steh auf, Garmel!« Der Spieler sagte kein Wort, erhob sich, trat etwas seitlich und blieb so stehen. Mit einem raschen Griff hatte Hogset sein linkes Handgelenk gefaßt und Jacke und Hemdärmel umgestülpt. Zwei Asse flatterten auf den Tisch.
Da jagten die Weidereiter mit hochroten Köpfen hoch. »Geh vor!« sagte Hogset leise. Da bekam Garmel einen Kurzschluß. Mit einer raschen Bewegung sauste sein rechter Arm zur Halfter, aber Hogset war schneller. Der peitschende Knall seines Schusses stand wie eine Rasierklinge im Raum. Eine Pulverwolke fegte auf den Spieler zu, zerteilte sich. Garmel wurde halb um seine eigene Achse gewirbelt und brach dann rückwärts über den Spieltisch, die Arme weit ausgebreitet. Ein Colt krachte auf den Boden, Chips rollten durcheinander. In Garmels Stirn war ein kleines kreisrundes Loch. »Schaff ihn weg, Bisby«, sagte Hogset, während er den Rauch aus der Mündung blies, die abgeschossene Patrone ergänzte und den Revolver wieder einsteckte. * Das Grinsen des Mannes, der Wagners Store betrat, wurde nur noch von seinen abstehenden Ohren gebremst. »Ich brauche Nägel und Klammern«, schnatterte er mit einer unangenehm metallisch heiseren Stimme los. »Ich habe einen Stand draußen – tolles Geschäft – Lebenselixier – der Präsident ist mein Kunde – hier«, schob er eine grüne Flasche mit einer dunklen Flüssigkeit über die Theke, »nur drei Dollar fünfzig – geschenkt – morgen sehen Sie aus wie fünfzehn. Hält mindestens drei Jahre.« »Wieviel Nägel und Klammem?« »Drei Pfund zusammen – halb und halb – und zwei Dutzend Winkeleisen. Hoffentlich hält sich das Wetter – dann wird es ein gutes Geschäft. Enormen Zulauf hat Ihr Rodeo. Ich habe gehört, daß sogar zwei Hahnenkämpfe stattfinden – großartig.«
»Zwei Dollar, bitte.« Der Gelbe schob die Flasche über den Tisch. Sam schob sie wieder zurück, schüttelte den Kopf. »Zwei Dollar.« »Aber, Mister, Sie werden aussehen wie ein Jüngling.« »Will ich gar nicht.« Widerstrebend steckte »Prof. Xephenon Jones« sein Elixier, das aus Veilchen duftendem Lakritzwasser bestand, wieder ein und zahlte die zwei Dollar. »Sie werden zu mir kommen, Mister, laufen werden Sie, aber dann werde ich ausverkauft sein«, rief er an der Tür. Draußen rieb er sich die Hände, flitzte um die Ecke zum Schuppen. Dort nähte Toby an einem Sattel. »Sie möchten mir behilflich sein«, sagte er, »kommen Sie – eine Stunde nur. Bretter für eine Tribüne nageln – ein Podest. Der Rahmen steht schon.« Toby legte den Sattel hin und ging mit. »Ich bin Prof. Xephenon Jones, mein Junge«, redete der Gelbe und rieb sich die Hände. Er hatte Toby das Paket gegeben. Sie gingen quer durch die Stadt. Draußen reihte sich Bude an Bude. Zelte waren aufgebaut und Schießstände. An einem riesigen Korral, in dem das Bronco-Bustin und Calf Roping stattfinden sollte, wurde gehämmert. Hier draußen liefen Hunderte von Männern durcheinander. Auf einem Podest wurde getanzt. In den Zelten grölten Betrunkene. An einem Wagen stand ein etwa zwei Fuß hohes Gerüst. Ein alter Neger nagelte Bretter an. »Hier«, sagte der Gelbe und drückte Toby einen Zehndollarschein in die Hand. »Wenn Sie sich beeilen, können Sie in einer Stunde fertig sein.«
Toby begann, die Bretter anzunageln. Er würde kaum eine halbe Stunde brauchen, schätzte er. Der alte weißhaarige Neger grinste bis hinter die Ohren und begann, Kisten mit kleinen Haschen im Wagen zu sortieren. Währenddessen fegte der Gelbe mit wehenden Rockstößen von Bude zu Bude, von Zelt zu Zelt. Und überall, wo er gewesen war, strömten die Männer hinaus auf den nagelnden Toby zu. Der merkte erst etwas davon, als ihn bereits eine fünffache Reihe Männer eingekreist hatte. Sie machten alle Gesichter, als erwarteten sie jeden Augenblick von ihm ein Wunder. Immer mehr Männer strömten herbei. Als er das letzte Brett des Podestbodens angenagelt hatte, standen an die hundert Personen um ihn herum. Sie tuschelten und stießen sich an. Dann erschien der scharze Hut des Gelben. »Ladies und Gentlemen«, schrie er – von Ladies keine Spur – »ich biete Ihnen die Attraktion des Jahres – ich, Prof. Xephenon Jones! Die Attraktion des Jahres!« drängte er sich schreiend durch die Männer an das Podest heran, von dem Toby herunterklettem wollte. »Wir werden Geld verdienen wie Heu«, raunte er dem Jungen zu, »ich werde dir hundert Dollar geben.« »Wofür, zum Teufel?« »Stillhalten. Nur stillhalten und stehenbleiben, das andere mache ich schon.« Toby schwante Unheil, aber da brüllte die Stimme des Gelben auch schon auf: »Hier Gentlemen, sehen Sie den leibhaftigen Sohn von Bragg Eames, dem größten Banditen von Colorado. Der letzte Sproß einer Banditenfamilie, die unsere Stadt jahrelang in Angst und Schrecken versetzt hat. Dort steht Toby Eames – siebzehn Jahre
alt.« Toby schoß das Blut in den Kopf. Einen Augenblick konnte er sich nicht rühren, er war wie festgeleimt. Dann, als der Gelbe begann, mit seinem offenen Hut Geld zu kassieren, packte ihn die Wut. Die Männer brüllten auf, als er mit einem Hechtsprung mitten in sie hineinsprang. . »Rauf auf das Podest. Wir wollen was sehen für unser Geld.« Toby wehrte sich wie ein Verrückter. Er traf die Männer ins Gesicht und in den Leib und trat nach ihren Beinen. Das machte sie wütend. Die Neugierde verwandelte sich in Wut. Sie schlugen auf Toby ein, hoben den wild um sich Schlagenden hoch, warfen ihn auf das Podest. Der Gelbe verschluckte sich vor Schreck. Aber dann begann er wieder zu schreien und Geld zu kassieren. Immer mehr Männer kamen. »Bindet ihn fest. Wir wollen Bragg Eames' Sohn sehen«, schrie die Menge. Toby blutete aus Mund und Nase. Man hatte rasch einen Pfahl geholt und ihn daran gebunden. »Der Sohn des Banditen, der jahrelang Colorado in Angst und Schrecken versetzte«, jagte der Gelbe kassierend durch die wogende Menge, die zu johlen begann. Irgendwoher kamen Tomaten und Eier, auch Steine und Pferdemist. Alles warf man auf Toby, dem die Seile tief in die Haut schnitten. »Hängen!« schrie einer, und der Ruf pflanzte sich fort. Die ersten Männer begannen, das Podest zu erklettern. Der Gelbe kniff die Ränder seines von Dollarstücken schweren Hutes zusammen und drängte sich nach außen. Dort wartete ein kleiner, pockennarbiger Mann auf ihn.
Niemand bemerkte, wie dem geschäftstüchtigen Professor ein Messer zwischen die Rippen fuhr. Niemand hörte den erstickten Seufzer, und niemand sah, wie sich der kleine Kerl mit der Pergamenthaut und dem breiten, feuchten Mund, die Taschen voll Dollars stopfte. »Hängt die Ratte!« riefen die Männer ekstatisch. Man zog Toby an den Haaren vom Podest und suchte einen Baum. Drei Männer mit Stricken waren im Handumdrehen neben ihm. Tritte und Faustschläge jagten ihn taumelnd nach vorn. Aber dann war es zu Ende. Ein Schuß peitschte in den Himmel. Die Menge stockte. Vor ihr standen Sheriff Rod Hogset und Harold Carradine mit angeschlagenen Colts. Die Rufe verstummten. Wie sie plötzlich aufgeputscht waren, so kamen sie jetzt wieder zu sich. Toby sah ziemlich zerschunden aus. »Komm hierher, Toby«, sagte Carradine und schluckte verzweifelt. Toby taumelte auf ihn zu und blieb zwischen den beiden Männern hängen. Der Sheriff suchte die Gesichter ab. Aber er sah nur Fremde. Frank, Alan und die anderen hatten sich geduckt. Man sah sie nicht. »Mitkommen«, fauchte Hogset die drei an, die die Seile in den Händen hielten. »Laßt die Waffengurte fallen«, ergänzte Carradine den Befehl. Seile und Waffengurte polterten zu Boden. Die Menge verstreute sich. Sie gingen mit Toby und den drei Lynchern zur Stadt zurück. Richter Phil Hazel verschluckte seinen Bronchialtee, als Hog-
set die drei Lyncher in sein Zimmer stieß. »Sie wollten Toby Eames hängen, Euer Ehren. Ich habe es im letzten Augenblick verhindern können.« Sie wurden vernommen und wanderten für drei Monate hinter Gitter. Für sie war das Rodeo zu Ende, ehe es begonnen hatte. Carradine brachte Toby nach Hause. Der lange Weg brachte Toby wieder etwas zu Kräften. Sie gingen über den dicht bevölkerten Sidewalk. Für Toby war es ein Spießrutenlaufen. »Recht so – totschlagen den Banditen – Schande für die Stadt«, traten die Leute zur Seite, während die Fremden den beiden Männern nachblickten. Langsam begann es auch Carradine mit seiner sprichwörtlichen Ruhe zu kochen. Als eine kleine magere Frau mit krebsrotem Gesicht und Armen wie geräucherten Würstchen, Toby sogar ins Gesicht spuckte, da fuhr er herum und es hätte nicht viel gefehlt, und seine Achtung vor der Frau wäre zum Teufel gewesen. »Komm her, Toby!« Als Toby sich umdrehte, erschrak Carradine. Das Gesicht des Jungen war starr. Blau und rot unterlaufen, blutig und zerschunden. Aber seltsam starr. Es fröstelte Carradine, als er in die engen Augen sah. Sie funkelten wie Eisstücke. Diese Augen waren für diesen Augenblick nicht mehr die eines Menschen, sondern die eines Raubtieres, das man in die Enge getrieben hat. Toby ging auf die Frau zu. Die riß nur die Augen auf, öffnete weit den Mund, um zu schreien, als sie in des Jungen Augen blickte, aber sie brachte keinen Ton heraus und konnte sich auch nicht rühren. »Wischen Sie ihm das ab«, preßte Carradine hervor. »Schnell Frau, sonst garantiere ich für nichts mehr.«
Das rote Gesicht der Frau lief violett an. Alles war auf dem Sidewalk stehengeblieben. Toby stand mit hängenden Armen, starrte immer nur die Frau an, und er hatte den Wunsch, sie für den Speichel, der an seiner linken Wange klebte, mit seinen bloßen Händen zu erwürgen. »Beeilen Sie sich«, mahnte Carradine eilig. Da holte sie ein Taschentuch aus der Tasche und wischte Toby vorsichtig den Speichel ab. »Ent… entschuldigen Sie«, sagte sie schluckend. Toby drehte sich wie ein Automat herum und ging weiter – wie ein Automat. Carradine hatte das Gefühl, als sei irgend etwas in dem Jungen zerbrochen, gestorben, ausgelöscht. Es wäre ihm viel lieber gewesen, wenn er irgendeinen Laut von sich gegeben hätte, wenigstens ein Stöhnen – er mußte furchtbare Schmerzen haben. Aber nichts. Und seine Augen waren wie festgeheftet, drangen durch die Gesichter der Männer, als seien sie aus Glas. Hilde stieß einen spitzen Schrei aus, als sie ihn sah. »Wo ist Mr. Wagner?« sagte Toby tonlos und immer noch wie automatisch, als habe man einen Nickel in ihn hineingeworfen. »Sam! Komm her, schnell.« Sam kam, sah Toby an, machte eine hilflose Bewegung, als wollte er um streicheln, erschrak aber vor dem kalten Ausdruck der starren Augen. »Warum haben Sie das getan, Mr. Wagner?« »Was?« fragte Sam erstaunt. »Mich mit dem Professor zum Platz geschickt.« »Wie bitte? Ich hätte dich, wer hat das gesagt, Toby?« »Der Professor.« »Dieser verdammte Lump. Dieser Betrüger, den werde ich nur vorknöpfen, dem werde ich seine verdammte schwarze
Seele aus dem Leibe quetschen, daß…« »… nicht mehr nötig«, trat Hogset ein. »Er ist erstochen worden. Man hat um gerade gebracht.« »Dann hat er mich belogen. Entschuldigen Sie, Mr. Wagner«, sagte Toby, und so etwas wie ein müdes Leben kam wieder in seine Augen. »Unsinn, Junge. Komm, du gehst jetzt erstmal nach oben und legst dich hin. Mrs. Wagner wird dir helfen und dich verbinden.« »Ja, danke, Sheriff.« »Yeah, mein Junge«, sagte Hogset bewegt.Toby tat ihm leid, wie nie ein Mensch zuvor. »Warum tun sie das, Sheriff?« Die Frage stand wie eine Anklage im Store. Niemand sagte ein Wort. Sie hatten wohl alle einen Wutausbruch erwartet, oder irgend etwas, aber nicht, daß Toby fast weinerlich fragte, warum sie das täten. Hogset schluckte und schickte einen halb hilflosen, halb zornsprühenden Blick zu Carradine, der sich die Lippen benagte. Dann schob er die Wangen hoch, daß es aussah, als habe er Schmerzen. Seine Schultern würden wie unter einer Last hochgehoben, fielen schwer wieder nach unten. »Ich weiß es nicht,Toby.« »Sie wissen es wohl, Sheriff.« »Möglich – aber ich verstehe es nicht.« »Sheriff?« »Yeah.« »Ab morgen werde ich den Revolver meines Vaters tragen.« Hilde preßte die Hand gegen den Mund. Sam schluckte. Carradine blinzelte und Hogset kaute nervös an seinem Daumennagel.
»Das würde ich nicht, tun, Toby. Es wird nur noch schlimmer dadurch«, sagte er endlich leise. »Ich werde ab morgen den Revolver meines Vaters tragen, Sheriff«, betonte Toby jedes Wort, aber dennoch klang es, als sei es ihm im Grunde gleichgültig. Das war es aber nicht. Sie alle wußten das. »Es gibt einen anderen Weg, Toby«, sagte Carradine. »Welchen?« »Du verläßt die Stadt. Wenn du Lust hast, mit mir. Ich reite nach dem Rodeo wieder nach Texas zurück. Zum PanhandleDistrikt. In drei Wochen können wir dort sein. Dort –«, er stockte, als müsse er sich jetzt scharf überlegen, was er sage, entschloß sich dann, weiterzusprechen, »… dort kennt man den Namen Eames nicht.« »Carradine!« wies ihn Sam erschrocken zurecht. Der winkte ab. »Man braucht ihm nichts mehr vorzumachen. Er ist alt genug, um genau zu wissen, daß sein Name ein Fluch ist. Du mußt dich entscheiden, Toby. Sie nennen dich in der ganzen Stadt ›den Jungen‹. Vergiß, daß du Toby Eames heißt.« »Ich bleibe hier«, sagte Toby nach einer Weile hart, viel zu hart für einen Jungen seines Alters. »Ich werde hierbleiben und den Revolver meines Vaters tragen. Und wehe dem, der auch nur versucht, das zu wiederholen. Wehe dem.« Am nächsten Tag verließ Toby den Laden und ging – was er nie zuvor getan hatte – langsam durch die Stadt. Keine Ecke, keine Straße ließ er aus. Sein Gesicht war so verquollen und schillerte in allen Farben, daß man ihn kaum wiedererkannte. Den breiten Waffengurt seines Vaters trug er nicht um ein Loch enger geschnallt an der Hüfte. Der Revolver hing sehr tief. Die schlaff herunterhängende Hand brauchte sich nur zu
schließen, um den Kolben zu umfassen. Der sechseckige Lauf lugte etwa einen Zoll aus dem offenen Halfterboden heraus. Den Jungen schmerzte jeder Schritt, jede Bewegung. Sein ganzer Körper war mit Blutergüssen bedeckt. Es gab nicht einen Menschen in der ganzen Stadt, der nicht die Story von Toby Eames kannte. Und wer ihn noch nicht gesehen hatte, der holte das jetzt nach – kostete nichts. In einiger Entfernung folgte Carradine. Er hatte sich etwas Ähnliches gedacht. Das stark lädierte Selbstbewußtsein des Jungen brauchte eine solche Aufmöbelung. Er mußte nach all den Augen sehen, die sich angstvoll vor ihm verkrochen. Und es war gut so. Jetzt würde es sich entscheiden, welchen Weg der Junge nahm. Alles in ihm drängte sich dahin, sich für die Prügel, für die Verleumdungen und Beschimpfungen zu revanchieren. Wenn er es bei einem stillen Triumph bleiben ließ, war alles gut. Konnte er sich aber damit nicht begnügen, was man durchaus verstehen konnte, was aber für einen Jungen in seinem Alter dennoch sehr bedenklich erschien, dann war er für das, was er mit ihm vorhatte, nicht der geeignete Mann. Er war in den Bars gewesen. Er wußte, was man in der Stadt über ihn sprach. Daß er ein Wunderschütze sei, daß man seine Rache fürchtete. Er hatte Fremde lachen sehen. Er hatte sie prahlen hören, man werde ja schon sehen, was an seiner Schießkunst dran sei. Ein siebzehnjähriger Bengel, das sei doch lachhaft. Die Stadt habe das Herz zwischen den Kniekehlen und so weiter. Jetzt aber, als Toby steif über die Gehsteige stakste, den Blick starr geradeaus, wie von mechanischen Kräften bewegt, da ging ihm alles aus dem Wege. Selbst große, rüde Männer, die noch am Abend vorher aus wilden Prügeleien siegreich hervorgegangen waren, machten
ihm Platz. Da war irgend etwas an dem Jungen, was ihnen zwar keine Gänsehaut wie gewissen Leuten über den Rücken jagte, was sie aber doch zur Vorsicht mahnte. Und nie in seinem Leben war sich der Junge einsamer vorgekommen als in diesem Augenblick, an dem er mit dem Revolver seines Vaters durch die Stadt ging. Nie hatte er diese Einsamkeit so schmerzlich empfunden, als gerade jetzt, da sie alle Furcht vor seinem großen Revolver hatten und sich diese Furcht in ihren Gesichtern ausdrückte. Gewiß gab es ein paar Menschen, die ihm halfen, auf die er sich verlassen konnte. Die Wagners. Aber sie nahmen ihm nichts ab. Sie konnten ihm nichts abnehmen. Alles mußte er allein machen, ob es richtig war oder nicht. Auch Carradine nicht, für den er viel Sympathie empfand und nicht wußte, warum. Phil Gangelin brach der Schweiß aus allen Poren, als er Toby auf seine etwas vorgebaute Werkstatt zukommen sah. »Mein Gott«, hauchte er hastig. »Was ist, Phil? Hast du dich geschnitten?« blickte seine Frau aus dem Fenster, aus dem der Duft von frischem Rosmengebäck wie eine Wolke strömte. Er konnte nur stumm die Straße hinunter zeigen und »da« sagen. Dann war ihm der Hals wie zugeschnürt. Toby blieb am Zaun stehen, ließ seinen Blick über den einschrumpfenden Tischler wandern, über die Stapel Bretter und Hölzer. »Machen Sie auch Särge, Mr. Gangelin?« fragte seine spröde Stimme. Wenn er jetzt noch eine halbe Minute bleibt, habe ich die Hosen voll, dachte der kleine Mann zitternd, aber Toby wußte selbst nicht, warum er es gefragt hatte und ging weiter.
Hal Wesson stand vor seinem Haus. Er hatte eine fleckige Lederschürze umgebunden und sah dem Jungen ruhig entgegen. Toby begann, ihn schon von weitem zu mustern. Irgendwie in seinem Innern mußte er die teuflische Lust niederkämpfen, den Männern durch drohende Worte und Gesten Angst in die Knochen zu jagen. Es begann ihn wie ein Rausch zu überfallen. Die Schmerzen in der Hüfte, in den Kniegelenken, an Brust und Schultern waren durch die gleichmäßigen Gehbewegungen auch so gleichmäßig geworden, sie schwollen so rhythmisch an und ab, daß er sie über das Hochgefühl in seiner Brust kaum noch spürte. Dort stand Hal Wesson. Ein großer Mann. Er würde genau solche Augen machen wie der Tischler. Sie hätten ihn liebend gerne in Stücke gerissen, aber sie hatten Angst vor seinem Revolver. Vor dem Revolver seines Vaters, den sie erschossen hatten. Seine Schritte pochten wie das Ticken einer überlauten Uhr. Hal Wesson sah ihm entgegen. Erstaunt merkte er, daß er stehenblieb. Warum lief er nicht ins Haus? Warum krümmte er sich nicht wie Phil Gangelin? Unmittelbar vor dem großen Mann blieb er stehen. Sie hatten beide dieselbe Größe. Nur waren Wessons Schultern bedeutend kompakter. Er wirkte ausgeruht wie ein frisch aufgewachter Stierkämpfer. »Na, Toby? Siehst du dir mal die Stadt an?« »Yeah, Mr. Wesson, ich sehe mir nur diese Stadt an und die Männer, die darin wohnen.« »Da gibt es nicht viel zu sehen, mein Junge. Wenn man sie an allen vier Ecken anzündet, bleibt nichts als ein Haufen stinkender Asche übrig, um die es nicht schade ist.« »Sie gehören auch dazu.« »Yes, ich auch. Wenn du Lust hast, kannst du mal reingehen
und dir meine Familie ansehen, dann weißt du, warum ich auch dazugehöre.« Toby hörte sich sagen: »Wie geht es Nelly?« und verstand nicht, warum er nach dem kleinen stillen Mädchen fragte, das immer krank war, solange er die Stadt kannte. Dann bog er in die First Street ein, die auf dem weiten Rodeofeld mündete. Das Gerücht, daß Toby Eames durch die Stadt gehe und jemanden suche, an dem er sich rächen könne, eilte ihm wie ein jagender Schatten voraus. Ein merkwürdig steif staksender Mann, der nur notdürftig den Staub aus der schweren Cordjacke geklopft hatte, trat mit leicht glasigen Augen mitten auf die Straße. Dort blieb er breitbeinig stehen, daß alle ihn sehen konnten. Sein Haar lugte in wilden und verklebten Strähnen unter dem ins Genick geschobenen Hut in die Stirn. Der Mann sah gefährlich aus. Ein Revolvermann. Einer derjenigen, die für gewisse Summen gewisse Leute reizen und dann kaltlächelnd niederschießen und es Notwehr nennen. Toby sah den Mann auf der Straße stehen. Und es war, als zöge ihn ein Strick von der anderen Seite vom Sidewalk in die Mitte der Straße. Dort drehte er sich und ging auf den Mann zu. Der stand wie ein alter, erfahrener Kaktus, der weiß, wie spitz seine Stacheln sind. Ein begeistertes Grinsen öffnete seine Lippen einen Spalt, daß man die großen gelben Kalbszähne sehen konnte, an denen der Zigarrenstummel wie ein brauner Pinsel entlangrutschte. »Ah, da ist ja der kleine Blutvergießer«, grölte er laut. »Na, klein bist du gerade nicht. Und einen Colt trägst du auch. Jun-
ge, Junge, soll dir Onkel Simmons zeigen, wo bei so einem Ding hinten und vorn ist? Komm her, Kleiner. Aus dir kann noch was werden, wenn du Rat annimmst.« Das also war der berüchtigte Joe Simmons. Man hatte viel von ihm gehört. Daß das diesjährige Rodeo ihn herbeigelockt hatte, war kein gutes Zeichen. Wo er auftauchte, lagen bald Männer im Staub. Carradine ging kaum zwanzig Schritt hinter Toby über den Stepwalk. Er hatte alles gehört. Simmons. Der Mann war Texaner. Er hatte viel von ihm gehört, ihn aber noch nie gesehen. Von ihm ging das Gerücht, daß er vierhundert Meilen von Waco nach Stokton geritten sei, nur, um einen Mann zu treffen, von dem man sagte, daß er ein schneller Schütze sei. Man erzählte, er habe diesen Mann in einer Bodega getroffen, sich großartig und freundschaftlich mit ihm unterhalten und ihm dann vorgeschlagen, man müsse unbedingt feststellen, wer von ihnen nun schneller, schieße. Sie gingen hinaus auf die Straße. Irgend jemand gab das Zeichen, und dann hatte man den Mann mit einem Karren weggefahren. Das also war Joe Simmons. Der Junge kannte ihn nicht. Woher auch? Er ging unentwegt auf ihn zu, bis Simmons mit einem lauten Lachen die Hand hob. »Stop, Kleiner. Bist du kurzsichtig, daß du so nahe herankommst? Zehn Schritt, näher erlaubt meine Ehre nicht. Well, du schießt also so schön, schnell, eh?« »Wollen Sie es feststellen?« sagte Toby leise und ohne eine Spur von Aufregung. »Denkst du, ich stände hier, um dein Pfannkuchengesicht zu bewundern?« lachte Simmons wieder schallend auf. »Bitte, ziehen Sie«, schluckte Toby, der stehengeblieben war.
Plötzlich überkam ihn eine wilde Lust, diesen Mann niederzuschießen. Diese Lust begann an ihm wie eine heiße Welle hochzukriechen, färbte seine Ohrläppchen glühend rot. Er suchte ein Ziel auf der Jacke des Mannes, der sich Simmons nannte. Und dann saugte sich sein Blick an dem großen Messingknopf der linken Brusttasche fest. Dort – einen Zoll von dem Knopf, der wie ein glühender Punkt war – einen Zoll waagerecht nach der Mitte des Körpers hin. Dort würde er seine Kugel hinsetzen. Das Gefühl, diesem Mann mit seiner Kugel im Leibe zusammenbrechen zu sehen, ließ ihn vor Erregung zittern. »Nein, Kleiner«, grölte Simmons mit seiner blechernen Stimme auf, »nicht so. Onkel Simmons zieht nie zuerst. Ich habe einen Ruf zu wahren. Notwehr, verstehst du, Kleiner. Komm, sei so gut und zieh du.« »Warum reden Sie so viel? Haben Sie Angst? Dann gehen Sie mir aus dem Weg.« Simmons riß die Augen auf, daß sie beinahe herausfielen. Carradine schmunzelte, ging doch rasch weiter und blieb auf dem Sidewalk – genau zwischen Toby und Simmons – stehen. Simmons holte seine Augen zurück und zog ein Gesicht, als würde er mit Glasscherben klistiert. Carradine blickte sich suchend um, dann hatte er gefunden, was er suchte. Simmons schluckte seine Entgegnung hinunter und sah voll Unwillen dem Texaner entgegen, der auf die Straße trat. Rod Hogset auf der anderen Seite blieb spannungsgeladen hinter einem Pfosten stehen. Zuerst wollte Simmons den Mann barsch abfertigen, dann glitt ein Grinsen über sein knochiges Gesicht. »Ah, gut. Sie geben das Zeichen. Einverstanden, Kleiner?« Toby nickte, aber das Erscheinen des Texaners ernüchterte ihn so, daß er plötzlich keine Lust mehr an dem Fight hatte. Es
kam ihm völlig sinnlos und überflüssig vor. Wieso sollte er sich mit einem ihm gänzlich unbekannten Mann schießen? »Wir wollen erst nach der Landessitte ein kleines Vorspiel machen«, sagte Carradine wie ein Ringrichter. »Vorspiel?« klappte Simmons den Mund auf. Der Zigarrenpinsel fiel in den Straßenstaub. »Yeah, natürlich. Dort drüben, sehen Sie die beiden Blechschilder?« Simmons warf einen Blick hinüber. »Na und?« »Sehen Sie auch die Drähte, an denen sie hängen?« »Zum Teufel, Mann, was soll der Unsinn?« »Das Vorspiel – sagte ich doch schon. Dreht euch beide mit dem Bauch zu den Schildern. Ich gebe das Zeichen. Sie nehmen den rechten Draht, Toby den linken – Sie sind doch Joe Simmons, nicht?« »Sie kennen mich – Sie haben von mir gehört nicht?« nickte ihm der Revolvermann beifallsheischend zu. Carradine nickte. Sie sind alle gleich, dachte er. Das Gehirn im Revolver, halb Kindergemüt, halb Bestie. »Auf mein Zeichen schießt ihr mit einem Schuß die Drähte so durch, daß die Schilder herunterfallen.« »Nicht schlecht. Hast du gehört, Kleiner?« Carradine zog den Revolver, richtete ihn in den Himmel. Die Straße war schwarz von Menschen. Dann peitschte der Signalschuß in den Himmel und fast gleichzeitig ein zweiter Schuß. Dann nichts mehr. Tobys Schild polterte zu Boden, von seiner Hüfte kräuselte eine dünne Rauchfahne hoch. Joe Simmons hielt den Colt in der Hand, aber der Lauf zeigte
noch senkrecht in die Halfter. Er hatte ihn noch nicht hochreißen können, da war der Schuß Tobys schon heraus. Im ganzen kam er ungefähr eine Viertelsekunde langsamer als der Junge. Das war eine Zeit so lang wie eine Bandnudel. Er konnte es nicht fassen, stand wie in den Boden gerammt und stierte zu dem Drahtstück hoch und runter zu dem am Boden hegenden rostigen Blechschild, auf dem mit Kreide »Bakers Watches« stand. Aber nicht nur Simmons war wie gelähmt. Fast eine halbe Minute behielt Carradine den Revolver oben, ehe er ihn endlich – wie unter einem Zwang – herunternahm und mechanisch in die Halfter zurückstopfte. Er traute sich zu, eine Zwanzigstelsekunde noch schneller zu sein als Simmons, vielleicht sogar eine Zehntelsekunde, wenn er besonders in Form war. Aber so etwas von Schießen hatte er noch nicht gesehen. Das war angeboren. So etwas konnte man nicht lernen. Dazu bedurfte es auch keines großartigen Trainings. Kein Training konnte einem solch ein Schießen beibringen. Sein Blick suchte Toby. Der stand da wie ein großer, verlegener Junge. Da war nichts mehr in seinen Augen, das nach Revanche schrie, nach Rache oder der Lust, sich hervorzutun. Des Texaners Stimme war wie ein Reibeisen so rauh, als er sagte. »Das war das Vorspiel, Simmons. Es kann also jetzt losgehen.« Simmons drehte sich wie ein Schlafwandler um. Der hektische Glanz in seinen kleinen Augen war wie erloschen. Sie glänzten wie kleine Samtpünktchen. Auf seiner Stirn perlten tausend winzige Schweißtropfen.
Er wußte, daß er in spätestens zwei Minuten an derselben Stelle mit der Nase im Dreck liegen würde. Und er konnte es nicht ändern. Das war das Schlimmste. Einen Augenblick war er versucht, einfach davonzulaufen, dann wieder überkam ihn das Gefühl zu lachen, alles ins Lächerliche zu ziehen, um dem mörderischen Kugelwechsel zu entgehen. Und gleichzeitig sah er ein, daß alles keinen Zweck hatte. In zwei, drei Sekunden durchlebte er eine Lebensgier, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. In dieser unendlichen kurzen Zeit sah er ein, was für ein entsetzlich kleines, lächerliches Würstchen er doch im Grunde war. Weggeblasen war seine arrogante Überlegenheit, sein breites Grinsen, das wie Sirup war, so dick und zäh. Nichts als Angst und stumpfe Auflehnung war in seinem Blick, mit dem er die lange Gestalt des Jungen flink benagte. Der drehte sich um. Sah Carradine an, als erwarte er von ihm etwas Entscheidendes, was ihm den nächsten Schuß ersparte. »All right«, legte Simmons all sein bißchen Festigkeit in seine tonlose Stimme und drehte sich um. Ich werde den Mund voll Sand bekommen, wenn ich mit dem Gesicht zuerst hineinfalle, dachte er sinnlos, und wieder war es, als müsse er die Drehung seines Körpers weiterführen, als müsse er sich ganz drehen und dann langsam und immer schneller davongehen. Aber er konnte nicht. Er wollte. Er spürte, wie er es wollte, aber er konnte nicht. Er hörte sich »all right« sagen und spürte, wie er stehenblieb. »Oder sollen wir es auf ein andermal verschieben?« räusperte sich Carradine, um seine Stimme freizubekommen. Toby atmete auf. Er hatte jetzt Angst, auf einen Menschen zu
schießen, Angst davor, den häßlichen Einschlag seiner Kugel zu hören, Angst, in ein verzerrts Gesicht sehen zu müssen. Er wollte nicht mehr. Auch er wollte sich umdrehen und gehen, auch er konnte es nicht. Simmons spürte, wie ihm der Schweiß am ganzen Körper ausbrach. An den Beinen, an den Schenkeln, am Leib. Es war, als verwandelte sich dieser Schweiß in heißen Dampf, der wie Watte zwischen Stoff und Haut lag. Ja, wollte er sagen, natürlich – verschieben, wollte er sagen, aber das Entsetzen trieb ihm fast den Hut hoch, als er sich sagen hörte: »Ausgeschlossen – nichts wird verschoben.« »Ich bin dafür«, sagte Toby leise. Und dann war der Schock in Simmons vorüber. Er sah die vielen starren Gesichter, den Jungen, den Texaner, spürte die Hitze, die über der Stadt lag und roch den süßen Geruch seines eigenen Schweißes. Dann drehte er sich steif wie eine Gliederpuppe halb um, verhielt den Schritt, als habe er es sich anders überlegt, linste noch einmal schräg über die Schulter zu Carradine und zu Toby hin, dann ging er weiter. Zuerst bis zum Rande des Sidewalks, auf dem sich die Menschen drängten, als müsse jeden Augenblick der Präsident persönlich durch die Stadt rollen. Die Stille war so vollkommen, daß man sogar das leise Knarren von Simmons' Stiefelleder hörte. Knapp fünfzig Schritt schaufelte der Revolvermann eine breite Spur in den Staub, dann band er ein kleines, geschecktes Pony von einem Holm, zog sich wie ein alter Mann in den Sattel und ritt im Schritt zur Stadt hinaus. Der wird nie wieder einen Menschen für Geld erschießen, dachte Carradine. Seit diesem Tage hörte man auch nie wieder etwas von dem Revolvermann Joe Simmons. Sein Nerv war dahin.
Toby wußte nachher nicht mehr, wie er nach Hause zurückgekommen war. Nur eines war in seinem Bewußtsein ganz deutlich haften geblieben. Der merkwürdig forschende Blick zwei dunkel bewimperter, hellblauer Augen, der Augen des Mädchens, das – als er mit Carradine vorbeikam – diesmal ohne Vater und Mutter auf dem Bock des kleinen Wagen saß. Er kannte das Mädchen. Er kannte diese Augen. Aber nicht aus der Wirklichkeit. Als er Hogset fragte, erfuhr er, daß er sie noch nie gesehen habe. »Ist sicher ein Rancher aus den Sawatch Range. Ich will mich mal erkundigen.« »Nein«, sah Toby hastig auf. »Nein, tun Sie das bitte nicht.« Er hatte Angst davor, daß sie vielleicht um das Vergnügen des Rodeos kam, wenn ihr Vater erfuhr, daß er sich für sie interessierte und dann einfach davonfuhr, als werde er von Wölfen gejagt. Carradine sah den verbitterten Zug um den verquollenen Mund des Jungen und konnte sich denken, was in ihm vorging. Deshalb gab er Hogset einen leichten Wink. Sie verabschiedeten sich vor Wagners Store. Wenig später hörten sie ihn hinter dem Haus Holz klein machen, als wolle er für die ganze Stadt einen Jahresvorrat schaffen. Die beiden Wagners waren glücklich, daß er heil zurückgekommen war. * Mr. Salmon von Mobsy & Horn trug einen versilberten Kneifer, eine wie ein Schachbrett karierte Weste und spitze Lackstiefel. Das war alles, was man über ihn sagen konnte, ohne zu gähnen.
Mit vornehmem Getue betrat er Wagners Store. Toby stand auf einer kurzen Leiter und sortierte Likörflaschen aus einer Kiste in ein Regal. Mit seinem tiefgeschnallten, schweren Revolver paßte er in den Laden wie ein Tiger hinter die Theke eines Gemüsegeschäftes. Mit einem breiten gelben Lappen wischte Sam die Theke sauber. »Hallo, Mr. Wagner«, sah sich Horace Salmon kurz um, sah nur Toby und den alten Culmer, trat an die Theke, räusperte sich und holte dann aus einer kalbsledernen Brieftasche ein Blatt Papier hervor, das er umständlich entfaltete. Sam erwiderte den Gruß mit einem Nicken, warf erst einen Blick auf das Papier, dann in das traurige Gesicht des Clerks, fegte den Lappen mit einer ärgerlichen Handbewegung zur Seite und stemmte sich auf die Theke, als erwarte er einen Angriff. Sein blaues Auge schillerte bösartig. »Wollen wir nicht – ich meine, vielleicht können wir nach hinten gehen«, sagte Salmon mit einem Stricknadelblick zu Toby. »Nicht nötig, Salmon. Was wollen Sie mit meinem Vertrag? Einen Rahmen bestellen – mit Aufhänger und Glas?« »Nein, Mr. Wagner, das Darlehen ist abgelaufen, das wissen Sie, wir – ah, ich – ich muß Sie bitten, Ihr Konto bei uns zu regulieren. Hier, bitte, noch siebenhundertzwanzig Dollar.« Als Überbringer schlechter Nachrichten war Horace Salmon der beste Mann, den man sich denken konnte. Seine Stimme senkte sich zu einem diskreten Flüstern, das verlegene Lächeln konnte jeden Augenblick in einen Tränensturz enden. Aber Sam hieb mit der Faust auf die Theke, daß Salmon erschrocken zusammenfuhr.
»Es war abgemacht, mit der Rückzahlung bis nach dem Rodeo zu warten, Salmon. Danach richte ich mich. Kommen Sie also in acht Tagen wieder.« »Sie haben recht. Ich kenne die Abmachung. Sie ist nur getroffen worden, weil Sie sich ein Geschäft von dem Fest versprachen.« Er blickte sich um. »Es ist sehr ruhig bei Ihnen. Niemand bedauert das mehr als wir, aber schließlich ist das – sagen wir – auf eine Fehlkalkulation von Ihnen zurückzuführen«, dabei sah er scharf zu Toby hin, der den Blick bemerkte. »Da sich auch während des Festes kaum Ihre Geschäfte erhöhen werden, halten wir diese Abmachung für gegenstandslos.« »So«, traf ihn ein Blick Sams, der ihm am Rücken zumindest zwei Zoll herausragte, »für gegenstandslos halten Sie das? Nichts da. Abmachung ist Abmachung. Ich werde in acht Tagen zahlen, keine Stunde früher. Denken Sie, ich lasse mich für die fetten Zinsen, die ich euch Halsabschneidern zahle, auch noch mit solchen Mätzchen drängen?« »Sie mißverstehen die Lage, Mr. Wagner. Die Abmachung zwischen Ihnen und Mr. Mosby war rein privater Natur. Sie berührt den Darlehensvertrag nicht im geringsten. Selbstverständlich wäre es bei dieser Abmachung auch geblieben, aber Sie müssen doch selbst zugeben, daß Ihnen acht Tage Aufschub nicht das mindeste mehr helfen. Wenn Sie den Rat ernes erfahrenen Bankmannes hören möchten – schaffen Sie sich die Sache jetzt vom Halse.« »Ich habe acht Tage gesagt.« »Dann muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir nach vierundzwanzig Stunden berechtigt sind, den Betrag durch eine öffentliche Versteigerung hereinzuholen.« »Ihr wollt mir also den Hals zuhalten!« brüllte Sam los, daß
Salmon sich vorsichtshaber einen Schritt von der Theke entfernte. Toby hörte mit abgewandtem Blick gespannt zu. Der alte Culmer tauchte Brot in Kaffee und führte Stück um Stück in den Mund. Sein Schmatzen stand wie das schlürfende Trinken eines Pferdes im Laden. »Entschuldigen Sie, Mr. Wagner. Sie haben bei uns Geld geliehen und sich verpflichtet, es bis zu einem gewissen Termin zurückzuzahlen. Das ist korrekt. Der Termin ist schon einmal verlängert worden, weil Sie sich von dem Rodeo gute Einnahmen versprachen. Wir sind Ihnen entgegengekommen und…« »Ja, ja – es ist gut«, resignierte Sam müde. »Ich habe das Geld nicht. Zweihundert Dollar kann ich Ihnen geben.« »Ich werde Sie Ihnen quittieren.« Sam holte das Geld und blätterte es auf die Theke. Salmon steckte es ein. »Mr. Wagner, Sie haben viele Freunde in der Stadt. Es wird doch eine Kleinigkeit für Sie sein, bis morgen früh fünfhundert Dollar aufzutreiben.« »Freunde? Hah.« Beinahe hätte er ausgespuckt. »Wenn Sie jemanden auf den Arm nehmen wollen, dann gefälligst nicht mich, Salmon. Ich habe das Geld morgen nicht. Kommt ruhig und versteigert, ihr Lumpen. Stinken vor Geld und haben nicht einmal acht Tage Zeit. So ist es richtig.« Er jagte den Oberkörper über die Theke. »Ich will Ihnen was sagen, Salmon. Hier geht es nicht um die lächerlichen paar Dollars, das wissen Sie und Mosby ganz genau. Hier geht es um Sam Wagner und darum, ihn mit aller Gewalt mit der Nase in den Dreck zu stoßen. Aber ich gebe nicht nach. Eher zündete ich den ganzen Krempel an, das kön-
nen Sie dem karierten Fettwanst bestehen. Und wenn er mir in die Quere läuft, kann er was erleben, an das er Zeit seines Lebens denkt. Raus, Sie Aktendeckel.« »Sie sind ungerecht, Mr. Wagner«, wich Salmon, bleich wie ein Mehlsack, rückwärts zur Tür. »Raus, habe ich gesagt!« Toby hatte einen Bienenschwarm im Schädel. Er kletterte die Sprossen hinunter. Sam fuhr sich erregt durch die schütteren Haare. Allmählich wurde sein dunkel angelaufenes Gesicht wieder blasser. »Mr. Wagner«, hörte er die Stimme des Jungen neben sich sagen. Er drehte sich um, als lerne er ihn jetzt erst kennen. »Na, Toby?« versuchte er ein bissiges Grinsen. »Da kannst du mal wieder sehen. Man soll nie Geld pumpen. Sobald sie merken, daß sie einem den Hals zuhalten können, dann tun sie es. Merk dir das!« »Das ist alles meinetwegen, nicht? Ich meine, daß Sie das Geld nicht zurückzahlen können, daß niemand mehr bei uns kauft.« »Du bist verrückt. Ich habe ja schon dreitausend zurückgezahlt. Sie sollen ruhig noch acht Tage warten.« »Ich werde gehen, Mr. Wagner.« »Wie – gehen?« »Weg von hier. Dann haben Sie keine Schwierigkeiten mehr.« »Jetzt fängst du auch schon an? Gehen willst du? Mich einfach im Stich lassen, eh? Nein, mein Junge. Das ist nicht deine und auch nicht meine Sache, sondern unsere, verstanden? Merk dir eins: Wenn man etwas beginnt, dann muß man es auch zu Ende führen, egal, was daraus wird.« »Ich lasse Sie nicht im Stich, das wissen Sie ganz genau. Ich sehe doch, was hier gespielt wird. Sie wollen mich nicht. Und weil Sie nicht mitmachen, ruiniert man Sie.«
»Quatsch.« »Das stimmt. Mr. Carradine hat recht. Ich muß hier weg, sonst machen sie Sie und mich kaputt, ich, ich brauche ja nur für ein paar Wochen wegzugehen – für kurze Zeit nur. Dann komme ich zurück, und dann…« Wagner ging ganz nahe auf ihn zu. »Würdest du deinem Vater auch davonlaufen, Toby? Wenn ich dein Vater und Mrs. Wagner deine Mutter wäre, würdest du dann auch gehen wollen?« Toby kratzte sich vorsichtig über die geschwollene Oberlippe. »Darüber muß ich nachdenken.« »Nein, du würdest nicht davonlaufen. Ich bin dein Vater, und sie ist deine Mutter. Du gehörst zu uns, und du bleibst hier, basta.« »Und wo ist da der Sinn?« »Sinn? – Wieso Sinn?« »Nun, was nützt ein Laden, in dem nicht gekauft wird? Man kann sich ja an den zehn Fingern ausrechnen, wann hier alles zu Ende ist. Und das alles nur meinetwegen? Ich soll zusehen, wie man Sie und Mrs. Wagner ruiniert? Das können Sie nicht verlangen. Das tue ich auch nicht. Niemals!« »Hm. Wir werden mit ihr darüber sprechen. Sie kann es dir besser erklären als ich. Ich bin zu ungeschickt. Komm, gehen wir zu ihr.« * Am Vortage des Rodeo verwandelte sich die Stadt in einen brodelnden Hexenkessel. In den Bars wimmelte es von Weidereitern, die sich in den einzelnen Wettbewerben Preise holen wollten. Die Preise schnellten schlagartig in die Höhe.
Und das war der Fehler in der Rechnung der Männer, die Wagner boykottierten. Denn Wagner behielt seine alten, niedrigen Preise. Hinzu kam die Berühmtheit Tobys. Leadville verlassen, ohne ihn gesehen zu haben, galt als Bildungslücke. Plötzlich, kurz nach dem Besuch Salmons und nachdem ein gewisser Roy Kennecott zuerst im Store gewesen war, sich umgesehen hatte und dann eine Rolle Kautabak gekauft hatte, um anschließend sein Pferd in Wagners Schuppen unterzustellen und sich etwa zwanzig Minuten mit Toby zu unterhalten, ging es los. Wagners Laden füllte sich. Sam bemerkte nicht den nachdenklichen Zug in Tobys Gesicht, als er in den Store trat und ihm half, die Wünsche der immer zahlreicher hereinströmenden Kunden zu befriedigen. Kein Mensch – Sam nicht, Toby nicht, niemand der Bürger – konnte sich erklären, wieso dieser Sturm so plötzlich und so kurz vor dem Rodeo einsetzte. Sam begann vor Anstrengung zu schwitzen, wischte sich die salzige Flüssigkeit von der Stirn und betrachtete dann immer wieder strahlend die feuchte Hand. Der Dollar rollte. Er sah wohl die neugierigen Blicke der Männer, die sie Toby zuwarfen und die hauptsächlich seinem Revolver galten. Auch Mädchen und junge Damen, die ihren Eltern wohl für einige Minuten durchgebrannt waren, um Toby zu sehen, kauften Ladenhüter, die er nie hätte mehr verkaufen können. Aber Toby merkte von alldem nichts. Er sah wohl die neugierigen Blicke, die ihn in ein seltenes Raubtier verwandelten, das hinter der Theke sozusagen wie in einem Käfig stand. Aber er grübelte über etwas anderes nach. In zwanzig Minuten hatte sich etwas in seinem Leben ereig-
net, das entscheidend für ihn sein konnte. Er wußte es ganz genau. Er wußte auch, daß es falsch war, was er vorhatte. Aber er sah keine andere Möglichkeit. Als der plötzliche Ansturm einsetzte, als der erste krummbeinige Weidereiter, der nach Rinderschweiß, Staub und Salbei roch, hineinstapfte und seine alten Sporen gegen neue tauschte; da war es für Toby zu spät. Da hatte er schon zugesagt und konnte es nicht mehr rückgängig machen. Er hätte es gekonnt – aber er glaubte, es nicht zu dürfen. Diese zwanzig lächerlichen Minuten entschieden nicht nur über Tobys künftiges Leben. Sie entschieden über das Leben der Wagners – sollten eine unvorstellebare Tragödie über sie hereinbrechen lassen. Die ganze Stadt war voll von üblen Gerüchten, die Frank Christensen und die Männer über Toby und Wagner verstreuten. Die Fremden machten den Boykott mit. Einesteils aus Bequemlichkeit, um sich nicht den Unwillen der Bürger und Miner zuzuziehen – sie waren zum Vergnügen gekommen, nicht, um sich wegen einer Rolle Tabak in Schwierigkeiten zu stürzen – andererseits aber auch aus Neugierde, wie sich der Junge und Wagner aus der Misere ziehen würden, wenn es immer ärger für sie wurde. Dann aber, als die Preise der cleveren Geschäftsleute urplötzlich nach einer Versammlung des Bürgerrates um das Doppelte in die Höhe schnellten, da interessierten sich die Fremden nur noch für ihre Dollars, die sie bei Wagner nutzbringender anlegen konnten. Zu spät sahen die Bürger ihren Fehler ein. Wagner machte das Geschäft seines Lebens. Er hätte drei, vier Verkäufer einstellen können, es wären zu wenig gewesen. Während dieser Zeit wurde Carradine immer nervöser. Hogset, der ihn eine Zeitlang im Auge behielt, beobachtete,
wie er sich eine Zigarette nach der anderen drehte und ständig die neuankommenden Fremden musterte. Aber er konnte nur immer an einem Stadteingang sein. Leadville aber besaß drei Hauptwege, die nach der Sawatchebene im Süden, nach Dillon und den White River Plains im Norden und nach dem Front Range Becken im Osten führten. Und von überallher strömte es herein. Hogset hatte keine Zeit mehr, sich um Carradine zu kümmern. Er hatte drei zuverlässige Männer als Hilfsmarshals vereidigt, ihnen Sterne angeheftet und rannte von einer Bar in die andere, um Prügeleien, Schießereien zu schlichten. Taschendiebe zum Richter zu bringen, Falschspieler zu verhaften und den anderen dunklen Existenzen auf die Finger zu sehen, die ihr Schäfchen auf die verrücktesten Arten ins Trockene zu bringen gedachten. Schließlich gab es Carradine auf, von einem Ende der Stadt zum anderen zu laufen und jedes Gesicht wie ein Extrablatt zu studieren. Er konzentrierte sein Interesse auf die drei Banken, die er von seinem Standpunkt aus dem Sidewalk gegenüber der National Colorado Bank alle drei mit einigen Schwierigkeiten im Auge behalten konnte. Er sah nicht den kleinen, leicht vornübergeneigt gehenden Mann mit der krummen Schulter und der Hühnerbrust, der aus Wagners Laden trat, eine Tabakrolle in die Tasche stopfte und sein Pferd in den Schuppen führte, in dem Toby mit einer Holzgabel sinnlos im Stroh herumstocherte und daran dachte, daß man morgen Wagners Laden versteigern würde. Der Bucklige, der einen fleckigen gelben Staubmantel und einen verschwitzten Filz trug, blieb vor der großen Schuppentür stehen und beobachtete den Jungen, der ihm den Rücken zuwandte. Um seine feuchten Mundwinkel zuckte es, als er den Waffen-
gurt und den schwarzen glatten Kolben sah. Mit Kennerblicken tastete er die schmale Hüfte, die breiten Schultern Tobys ab und dachte daran, was er alles in der einen Stunde, in der er sich umhörte, erfuhr. Fast drei Minuten stand er so da – regungslos, die Unterlippe über die Oberlippe geschoben. Den Zügel des Pferdes in der rechten Hand, die Linke mit dem Daumen hinter den Waffengurt gehakt, von dem man unter dem Mantel nur die breite Messingschnalle und einige Patronen sah. Sein kurzer, verborgener Oberkörper ruhte auf langen Beinen. Ein grotesker Anblick. Aber das Gesicht des Mannes war glatt und regelmäßig, beinahe anziehend, wenn nicht der verkniffene, lauernde Zug darin gewesen wäre. Dann machte Toby eine Drehung und sah ihn. Zuerst sah er nur einen Mann. Er sah ihn nicht einmal richtig, weil seine Gedanken weit weg waren. Dann aber erfaßte er die Erscheinung des Mannes dort an der Tür, seine Augen weiteten sich, als erkenne er ihn, dann wieder schlossen sie sich mißtrauisch, wie um sich zu vergewissern, daß er sich nicht irre. Er irrte sich nicht. Dort stand Roy Kennecott oder Cripple-Roy, wie man ihn seiner Gestalt wegen nannte. »Na, Toby?« lachte Kennecott herzlich und erfreut. Ehrliche Freude leuchtete aus seinem Gesicht und machte ihn für einen Augenblick zu einem sympathischen Menschen. »Onkel Roy?« sagte Toby leise, ließ den Stiel der Gabel fallen und ging zuerst langsam, dann immer schneller auf ihn zu. Er überragte ihn um fast einen ganzen Kopf. »Junge, Junge«, staunte Kennecott. »Als ich dich zum letztenmal sah, gingst du mir noch bis hierher.«
Er zeigte an seine Nase, an deren Spitze ein Tropfen hing. Toby lächelte. Solange er ihn gekannt hatte, hing an seiner Nase ewig ein Tropfen. »Ich freue mich,Toby, das kannst du mir glauben. Ich freue mich. Aber wie siehst du denn aus? Ah, du brauchst mir nichts zu erzählen«, verfinsterte sich sein Gesicht, »ich habe genug gehört. Schade, daß ich erst seit einer Woche wieder hier in der Gegend bin, ich hätte den Sohn von Bragg schon aus dieser muffigen Spießerbude herausgeholt.« »Wo warst du denn die vielen Jahre, Onkel Roy?« fragte Toby, weil es ihm unangenehm war, daß ihn Kennecott an das alles erinnerte. Es setzte ihn in seinen Augen irgendwie herunter, daß er sich das alles hatte gefallen lassen. Für einen Augenblick war seine Welt der letzten vier Jahre wie weggewischt, und er war wieder in der anderen Welt, aus der er stammte und aus der auch Kennecott kam. »Ich? – Ich bin damals nach der Sache in Gunnison nach Neu Mexiko geritten. Ich hatte Glück, Toby. Ich besaß eine nette Pferderanch am Rio Chama. Zuerst machten mir die Tehua-Indianer mächtig zu schaffen, aber dann klappte es. Wenn nur nicht die verdammte Dürre letztes Jahr gekommen wäre. Sie hat uns alle zwischen dem Rio Puerco und Rio Chama bis auf die Knochen ausgebrannt. Weh, ich habe alles verkauft und mich in einem Tal in den Cimmarron Range angesiedelt.« »Pferde?« Kennecott lachte. »Gar nichts.« Er machte eine reibende Bewegung zwischen Daumen und Zeigefinger. »Mir fehlt das Moos, mein Junge. Ich habe den langen Trail satt. Man hat ewig die Zunge bis auf die Steigbügel hängen
und kommt doch nie zu was.« »Und was machst du hier?« »Ich bin mit einigen zuverlässigen Männern hier. Wir wollen die Bank hochnehmen.« »Was?« jagte Toby die Hand hoch. »Natürlich – komm, gehen wir mal da rein!« Auf der Treppe, auf der vor vier Jahren Hilde Wagner mit der Lampe gesessen hatte, wollte sich Kennecott niederlassen, aber Toby trat rasch auf ihn zu. »Nicht da – bitte, dort – auf dem Faß – die Treppe – eh, die Treppe ist nicht ganz stabil.« Kennecott fand sie sehr stabil, setzte sich aber auf das Faß. »Well, Junge – das hier ist nichts für dich«, sagte er kopfschüttelnd. »Hast du dich schon mal in einem Spiegel betrachtet? Du siehst im Gesicht aus wie ein schlecht gebratenes Steak. Teufel, ich wünschte, ich wäre eher hier gewesen. Sie hätten Zunder gekriegt.« »Ja, es war schlimm, Onkel Roy.« »Pshaw – laß den Onkel jetzt sausen, dazu bist du zu alt und zu groß«, lachte er und wurde gleich wieder ernst. »Willst du mit mir reiten? Stopp, keine voreilige Entscheidung. Ich weiß, daß du vier Jahre in apostolischer Erziehung gelebt hast. Das macht was aus, das weiß ich. Ich sagte, daß ich ein herrliches Tal in den Cimmarrons besitze. Mir fehlt das Vieh. Ich brauche Geld. Geld für tausend Stück. Also fünfundzwanzigtausend Dollar. Die holen wir uns diese Nacht bei der Mosby & Horn Bank.« »Mosby & Horn? Ha, das geschieht den Halsabschneidern recht«, schnaufte Toby. Kennecott beobachtete ihn scharf. Er hatte deutlich den Umschwung seiner Freude in stille Abwehr gesehen, als er hörte,
daß ein Bankraub geplant war. Aber dann sah er die wilde Freude im Gesicht des Jungen, und er dachte, daß er Glück habe. »Sie sind alle Halsabschneider. Sie verleihen Geld zu Wucherzinsen und schneiden einem dann die Luft ab.« Er konnte nicht wissen, daß er den Nagel auf den Kopf traf, aber er sah es am Gesicht des Jungen, der ihm gleich darauf erzählte, wie es mit Wagners Store aussah und was er alles für ihn getan hatte. »Ein feiner Kerl, dieser Wagner. Yeah, den Eindruck hatte ich auch. Aber du ruinierst den Mann. Gegen die Borniertheit des Pöbels kommt er nicht an. Du hattest ganz recht, als du weg wolltest. Junge, da hast du aber Glück gehabt, daß ich gerade im geeigneten Augenblick auftauchte. Dein Vater hat mir damals gesagt, daß ich mich um dich kümmern sollte, wenn es mir möglich sei. Well, ich konnte leider nicht. Sie haben mir das – hahaha – Ehrlichwerden verdammt sauer gemacht. Dazu kam die Dürre. Du hättest sehen sollen, wie die Pferde im heißen Steppenboden verreckt sind. Teufel, ich darf gar nicht daran denken. Also hör zu: Daß der Hold up wie am Schnürchen klappt, dafür bürgt meine Erfahrung. Ich muß vierzigtausend haben, damit mir nach der Ablohnung der Männer genug für eine Herde bleibt. Dann ist Schluß mit dem Geschäft. Wir beide werden Rancher. Kinder werde ich nie haben. Wenn mich eine Frau sieht, kriegt sie Ohrensausen«, lachte er bitter auf. »Du erbst also alles, was ich habe.« »Soll das wirklich der letzte Coup sein?« fragte Toby mit erwachendem Interesse. »Natürlich. Zwanzig Jahre habe ich in einem heißen Sattel gesessen. Und was habe ich davon gehabt? Meine Rübe ist ihnen zehntausend Dollar wert – in Oklahoma, versteht sich. Hier sind es nur fünfhundert. Du reitest also mit?«
»Unter einer Bedingung, Roy.« »Raus damit.« »Daß du mir fünfhundertzwanzig Dollar gibst.« »Ah, das ist die Summe, die sie Wagner morgen aus dem Kreuz leiern wollen?« »Yeah.« »Einverstanden. Aber jetzt kann ich dir das Geld noch nicht geben. Paß auf, ich habe es mir so vorgestellt. Du machst mit…« »Nein, das – das möchte ich nicht.« »Nicht am Hold up selbst«, beruhigte ihn Kennecott. »Wenn wir es machen wie sonst, geht es ohne Knallerei und Sprengung nicht. Wir haben dann zu wenig Zeit. Ich möchte sichergehen. Es soll alles denkbar ruhig vor sich gehen. Ehe sie etwas merken, müssen wir schon am Mount Havard sein.« »Sie verrammeln die Türen mit Eisenriegeln.« »Weiß ich. Ein Mittelsmann war vor ein paar Wochen hier und hat mir einen ganz genauen Plan gezeichnet. Ohne Sprengung unmöglich. Und dann wimmelt es in der Stadt von Menschen. Das ist das einzig Positive.« »Das ist doch schlecht, denke ich.« »Im Gegenteil. Je mehr Leute in einer Stadt sind, desto kopfloser sind sie, wenn was passiert. Aber trotzdem brauchen wir jemanden, der zu Mosby geht und ihn herunterholt. Du brauchst also nur zu sagen, daß ihn unten jemand zu sprechen wünsche. Es wird uns schon noch etwas Passendes einfallen. Wenn er unten ist, halte ich ihm meinen Zerstäuber vor den Bauch, und er schließt uns alles hübsch brav auf. Einfache Sache. In zehn Minuten ist alles erledigt.« »Und wann?« »Heute nacht ist die beste Zeit. Mosby ahnt nichts, denn das Hauptgeld scheffeln die Geschäfte erst während des Festes. Sie
bringen es dann jeden Abend zur Bank, weil sie glauben, daß es zu Hause nicht sicher genug ist. Er kann also einen Hold up – wenn überhaupt – höchstens am Ende des Festes erwarten. Das ist doch logisch.« »Ich gehe also rüber zu Mosby und sage, daß ihn jemand sprechen möchte?« »Richtig. Aber dieser Jemand muß ein ganz Unverdächtiger sein. Vielleicht – ah, das ist kein schlechter Gedanke – sag, daß der Sheriff ihn sprechen möchte. Deute an, daß er Vorbereitungen zur Abwehr eines Hold ups treffen möchte. Wenn diese Dollarwanzen was von Geldraub hören, verlieren sie den Verstand vor Angst. Er wohnt über den Bankräumen. Seine Frau soll ziemlich die Nase ins Geschäft stecken. Du mußt dafür sorgen, daß sie oben bleibt. Und noch eins: Vorher mußt du dein Pferd fix und fertig satteln und es irgendwo ganz in der Nähe, am besten schräg gegenüber von Withers Speiselokal, an den Holm binden, aber ganz locker die Zügel, kein Knoten. Daran ist mancher schon eingegangen. Wir müssen mit allem rechnen.« »Und wie bekommt Wagner das Geld?« »Das muß ich mir noch überlegen. Am besten wird es wohl sein, wenn du es irgendwo hinlegst – schnell natürlich – wo er es am anderen Morgen dann auch findet.« »Hoffentlich nimmt er es an.« »Er müßte schön blöd sein, wenn er es nicht täte.« »Er ist ein ehrlicher Mann, Roy.« »Wenn schon. Ehrlichsein bedeutet noch lange nicht verrückt sein.« Sie schwiegen eine Weile. Toby spürte, daß dies die Wendung in seinem Leben war. Aber seit sie ihm alle so mitgespielt hatten und seit die Bank Wagner mit Versteigerung drohte, hatte er keine Skrupel, an
dem Raub teilzunehmen. Er hatte das Gefühl, eine Art ausgleichende Gerechtigkeit spielen zu müssen. »Punkt elf Uhr wirst du zu Mosby gehen, Toby«, sagte Kennecott. »Stör dich nicht daran, wenn du niemanden von uns sehen solltest. Wir sind da. Laß dich von dem Lärm in den Saloons .nicht beirren. Wenn irgend etwas ist, stehe ich mich betrunken und lalle das ›Run the greasiers out‹ – du kennst doch den Song, nicht?« Toby nickte. Kennecott reichte ihm die Hand und stand dann auf. Er hat sich kaum verändert, dachte Toby, als Kennecott ihm lange in die Augen sah und ihm dann eine Hand auf die Schulter legte. »Ich kann mir denken, was in dir vorgeht, Junge. Du warst schon als kleiner Kerl anders als deine Brüder. Wenn sie dich anständig behandelt hätten, würde ich mit dem Vorschlag nicht gekommen sein, das kannst du mir glauben. Es ist der beste Weg. Dir steht eine Entschädigung zu. Wir holen sie uns. Übrigens, stimmt es, daß Joe Simmons vor dir gekniffen hat?« »Ich glaube, er hatte eine Schraube locker. Er hätte mich erschossen, wenn ich nicht schneller gewesen wäre.« »Wer hat dich das Schießen gelehrt?« »Niemand, Roy. Ich weiß selbst nicht, wie es ist. Das Eisen fliegt mir von selbst in die Hand. Ich brauche nur loszudrücken, schon sitzt der Schuß, wo er hingehört.« Kennecott nickte. »Hm – wenn wir mit. dem Geld in New Mexico sind, schnallst du besser den Gurt etwas höher, Sonny. Das ist besser. Ich kenne außer Wyatt Earp keinen Mann des schnellen Eisens, der alt geworden ist.« »Ich habe noch keinen erschossen.«
»Weiß ich. Das kommt schneller, als man denkt. Zuerst reizen sie einen bis einem der Hut in die Stratosphäre jagt, und dann wundern sie sich, wenn einer von ihnen Sand frißt. Und dann schreien sie wie die Paviane nach dem Strick, und man kann sich die Hacken krumm laufen, um seinen Hals zu retten. So sind sie. Dumm, dreist und verlogen. Eine Stadt ist für unsereins der Tod. Well, elf Uhr, Toby – du weißt Bescheid.« »Ich komme, Roy.« Es gab einige gute Hotels in Leadville, eine Menge Bruchbuden, die sich in einem Anfall von Größenwahn Hotel nannten, aber es gab nur ein Cosmopolitan-Hotel. Und das war wirklich eins. Von solider Eleganz, sauber, aber ziemlich teuer. Der Gentleman, der mit ruhigen Schritten auf die Portiersloge zuging, paßte in diesen Rahmen. Mann konnte man nicht gut zu dieser blendenden Erscheinung sagen. Das war eine Gentleman. Sechs Fuß groß, schlank und sehnig, steckte er in einem ebenso sauberen wie teuren grauen Anzug mit dezentem, großem Nadelstreifenmuster. Um seine schmale Hüfte wand sich ein auf Hochglanz polierter Waffengurt, in dem keine Patronenschlaufe leer war, was auf den Ordnungssinn des Gentlemans schließen ließ. Den Revolver sah man nicht, da ihn die Jacke verbarg, aber er hing ziemlich tief, das sah man an der Beule. Der Portier legte rasch sein uraltes Harpers Magazin hin, stand auf und begrüßte ihn. »Was kann ich für Sie tun, Sir?« »Ein Zimmer, bitte.« »Bedaure, Sir, es ist alles belegt.« Der Gentleman nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Dann angelte er aus der Westentasche eine Fünfzigdollarnote und steckte sie dem Portier zu. »Räumen Sie ein Zimmer. In zwei Stunden werde ich es be-
ziehen. Draußen steht mein Pferd. Ein schwarzer Hengst, lassen Sie ihn in den Stall bringen und versorgen.« Er wartete keine Antwort ab, hörte das hastige »Sehr wohl, Sir!« eben noch und war schon wieder an der Tür. Der Portier leckte sich die Lippen. Fünfzig Dollar! Ho, ein nobler Mann. Das bekam man nicht alle Tage. Draußen wäre Carradine beinahe an dem hochbeinigen Hengst achtlos vorbeigegangen. Im letzten Augenblick bemerkte er das rassige Pferd. Er blieb wie angewurzelt stehen, rieb sich die Augen, warf einen raschen Blick zum Cosmopolitan hin und rannte dann mit weiten Sätzen quer über die Straße, stellte sich vor dem Sidewalk, direkt gegenüber dem Hoteleingang auf, zog den Revolver halb aus der Halfter und stieß ihn wieder hinein. Seine Gesichtsfarbe wechselte vom Braun in tiefes Rot, er spürte, wie es ihm plötzlich unerträglich warm wurde, rückte die Halfter etwas vor den rechten Schenkel und wurde dann ruhig, kalt und eiskalt. Nur die Tür sah er, sonst nichts – nur die Tür. Zweihundert Yard links von ihm trat gerade Hogset aus einer Bar. Er schwitzte, holte ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn, verfluchte die Stadt, das Rodeo und die ganze Menschheit, die scheinbar nur Lumpen und Bösewichte hervorgebracht hatte, die es auf seine Nerven abgesehen hatten. Der Blick über die Straße wurde von einem verhaltenen Stöhnen begleitet. In normalen Zeiten hatte Leadville etwa zweitausend Einwohner. Jetzt waren es mindestens dreimal soviel. Im Jail saßen bereits zehn Gauner, und wenn es so weiterging, hatte er Zehen zu wenig. Doc Ferner Prizzle machte Überstunden und fluchte, daß sich selbst einem hartgesottenen Sünder die Nackenhaare
sträubten. Hogset begann langsam die Beine voreinanderzusetzen und den Sidewalk hinunterzuwandern. Und Carradine stierte ein Loch nach dem anderen in die unschuldige Tür des Cosmopohtan-Hotels, aus dem jetzt der Gentleman trat, sich nach beiden Seiten umsah, mit dem Zeigefinger sein Bärtchen strich und dann im Begriff war, sich nach rechts zu entfernen. Mitten in der Bewegung nagelte ihn ein Ruf fest. Der schneidende Ruf einer Männerstimme, die weit über die Straße erscholl und alles im Umkreis von zweihundert Yard aufmerksam machte. »McGinnis!« Der Gentleman warf rasch den Kopf hemm, sah Carradine am Fuße der Sidewalks stehen, wechselte die Farbe und wurde ganz grau im Gesicht. Seine Augen weiteten sich. Hinter den sich leicht öffnenden Lippen wurde ein prächtiges falsches Gebiß sichtbar. Alles blieb stehen, und als man Carradine so geduckt und mit eisigem Gesicht stehen sah, flitzte alles aus der Schußlinie. »Carradine«, murmelten die blassen Lippen des Gentlemans, während er blitzschnell einen hilflosen Blick nach rechts und links warf und dann wieder wie verrückt den Texaner anstarrte, der jetzt langsam, Schritt für Schritt, mitten in die Straße ging. »Falls du hier auf Broyson und O'-Socket warten solltest – sie werden nicht kommen, McGinnis. Sie liegen am Las Animas River in einer Schlucht des Culebra Peaks. Los, zieh endlich, damit die Sache erledigt ist« Auf der Straße wurde es still wie in einer Kirche. Hogset begann zu rennen, den Revolver in der Hand. Da lief ein verzweifeltes Zucken durch den Gentleman, des-
sen Gesichtsfarbe jetzt ebenso grau wie sein Anzug war. Dann sauste seine Rechte hinunter und zurück, riß den Rockschoß zur Seite, ein schwerer Revolver wurde sichtbar. Eine Hand riß ihn heraus, aber er hatte ihn kaum ganz aus der Halfter, als es von der Straßenmitte grell aufflammte. In der schönen hellbraunen Weste war plötzlich ein kleines Loch. Und dann fiel der Gentleman mit einem blasigen Seufzer steif wie eine Latte vornüber in den Straßenstaub. Aus dem Revolver in Carradines Faust kräuselte ein dünner Rauchfaden. »Sind Sie verrückt?« jagte Hogset brüllend heran. »Den Revolver weg, rasch – oder, bei Gott, ich – wer ist der Mann? Antworten Sie, zum Teufel – wer ist der Mann?« Er sah, daß Carradine wie aus einem Traum erwachte, den Revolver einsteckte und die Schultern dehnte, als wolle er sich gähnend recken. Hogset trat rasch auf den hingestreckten Gentleman zu, drehte den leblosen Körper auf den Rücken, starrte ihm ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Er hatte ihn noch nie gesehen. Dann ging er wieder auf Carradine zu. »Sie kommen mit«, sagte er kurz, nahm eine kleine Holzpfeife aus der Weste und stieß einen durchdringenden Pfiff aus, der von zwei Seiten beantwortet wurde. Die Hilfssheriffs jagten heran. »Schafft ihn zum Doc. Der soll einen Totenschein ausstehen. Los, Mann, wir gehen zum Richter. Wer hat es gesehen?« fragte er die blassen Umstehenden. Eine Reihe von ihnen hob die Hand. Hogset nahm einen Rancher und einen Weidereiter mit. Der Richter lag auf einem Sofa und las die Zeitung. Er blieb hegen, als die Männer in den Raum traten.
»Was gibt es schon wieder?« sagte er gähnend. »Ist es wegen der Schüsse, die eben fielen?« »Ja, Euer Ehren. Dieser Mann hier hat einen Fremden erschossen. Bekkers wird wohl gleich die Personalien des Toten bringen.« Der Richter legte die Zeitung zur Seite, blieb aber hegen. »Geben Sie mir meine Mütze, Sheriff.« Hogset angelte das schwarze Barett von einem Haken und stülpte es dem Richter auf den Kopf. Die Zeugen begannen zu grinsen. Hogset wurde wütend, sagte aber nichts. »Wie heißen Sie?« »Harold Carradine – Erster U.S.-Hilfsmarshal von Texas, Panhandle District – hier, Euer Ehren, meine Legitimation.« Seine Ehren linste wie eine frisch geschliffene Schere über den schmächtigen Kneifer in Carradines hageres Gesicht, studierte es und nahm die Papiere, überhörte den wilden Schnaufer und das lange Nasehochziehen des kleinen Sheriffs, dem ein Dutzend Kronleuchter auf einmal aufgingen. Eine Weile war es still. Der Richter las die Papiere, reichte sie dann mit starrem Gesicht zurück. »Danke, Angeklagter. Sie sind also der Erste U.S.-Hilfsmarshal Harold Carradine. Ich habe von Ihnen gehört. Hier aber sind wir in Colorado. Ihre Vollmachten beziehen sich nur auf Texas. Wer…« Ein Hilfsmarshal trat mit einer Brieftasche ein, reichte sie dem Richter. Der faltete sie auseinander, nahm eine grüne Karte, auf die ein großer Stern gedruckt war, heraus, las. »Sylvester Paul McGinnis und so weiter – ich meine, den Namen hätte ich auch schon einmal gehört.« »Sicher, Euer Ehren. McGinnis wird in Texas seit drei Jahren wegen Bankraub und Mordes gesucht.«
»Yeah – ich erinnere mich. Wer hat zuerst geschossen, Sheriff?« »Ich habe es nicht genau gesehen, Euer Ehren. Aber hier sind die Zeugen.« »Der Erschossene, Euer Ehren«, sagte der Rancher, »er griff, nachdem ihn der Marshal angerufen hatte, zum Revolver.« »Und der Angeklagte schoß?« »Yes, Euer Ehren.« »Geben Sie mir den Hammer, Sheriff.« Hogset nahm einen schweren Holzhammer von einer Kommode und reichte ihn dem Richter. Der nahm ihn, bummste damit gegen die Wand. »Der Angeklagte Harold Carradine ist freigesprochen. Legen Sie den Hammer wieder zurück, Sheriff.« Der Hammer wanderte wieder auf die Kommode. »Sie können gehen, Mr. Carradine«, linste der Richter über den Kneifer. »Sie sind frei. Ich danke Ihnen, meine Herren.« Er nahm die Zeitung wieder in die Hände und las. Die Sitzung war beendet. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Euer Ehren«, sagte Carradine. Der Richter nickte. »Danke.« Draußen begann Hogset zu strahlen. »Mann, warum haben Sie mir das nicht eher gesagt. Der Bursche hätte einen hübschen Strick um den Hals bekommen.« »So? Weswegen? Er war in Colorado sicher wie in einer Kirche. Sie hätten mir den Spaß wahrscheinlich vermasselt.« »Spaß? Na, ich weiß nicht. Daß Sie ein harter Brocken sind, ist mir bekannt. Ich habe immer simuliert, wo ich Ihren Namen schon mal gehört habe, aber einem Mann so lange nachreiten, bis man ihn hat – fünfhundert Meilen – hm.« »Sie haben mit drei Männern die Bank von Tascosa ausge-
raubt. Vor vier Monaten. Dabei haben sie einen Jungen erschossen, der auf der Straße stand.« »Teufel.« »Es war mein Sohn«, sagte Carradine hart. Hogset schluckte erschrocken, blickte hoch in das kantige Gesicht des Texaners, sagte eine Weile gar nichts und dann leise: »Das wußte ich natürlich nicht, Carradine. Entschuldigen Sie.« »Schon gut, Hogset – schon gut.« »Was haben Sie jetzt vor?« »Ich werde morgen wieder nach Texas reiten.« »Und Toby? Werden Sie ihn mitnehmen?« »Ich hoffe es.« »Was wollen Sie mit ihm machen?« »Ihn zu meinem Nachfolger erziehen, Sheriff. Ich habe ihn jetzt drei Wochen beobachtet. Es gibt keinen besseren Nachfolger für mich als ihn.« »Ich weiß nicht. Sie wissen, wer seine Familie war. Und dann soll er ausgerechnet Marshal werden. Das ist ziemlich scharfer Tobak.« »Nicht so scharf, wie Sie glauben. Ich werde ihm zeigen, was ein Bandit mit einem Schuß für ein Unheil anrichtet. Wieviel Elend er heraufbeschwört, wenn er eine Bank ausraubt. In den meisten Fällen verliert der Bankier weniger als die kleinen Siedler, die jeden Dollar mit Schweiß bezahlt haben. Das ist das richtige für Toby. Er wird aus eigener Anschauung lernen, daß seine Familie im falschen Sattel saß und er im richtigen.« * Als Frank Christensen gegen acht Uhr die schweren Bretter-
lädchen vor das Fenster seines Ladens klemmte, trat ein junger Mann auf die Tür zu, der aussah wie tausend andere. »Geschlossen«, knurrte Frank mißmutig, der immerfort an die starren Augen denken mußte, mit denen Toby ihn bei seinem Gang durch die Stadt angesehen hatte. »Ich reite morgen früh weg – wollte nur einen Sattel kaufen«, sagte der Mann, der beim Sprechen die Luft einsog, als habe er sich die Zunge verbrannt und dabei ganz breite Lippen machte. »Einen Sattel?« sah Frank auf. Das waren achtzig Dollar mehr in der Kasse. »Gut, aber rasch«, sagte er und schob den Jungen vor sich her in den Laden, schloß hinter sich die Tür ab, damit er nach dem Sattelkauf seine Ruhe hatte. Als er sich umwandte, blickte er in die Mündung eines Revolvers. »Regen Sie sich nicht auf«, sagte der Bandit gemütlich, »es geht nicht ans Leben. Sie haben so schöne Geschäfte gemacht – was wollen Sie mit all dem Geld. Los, packen Sie die Tageskasse zusammen. Und ganz ruhig bleiben – ganz ruhig. Mit guten Nerven wird man steinalt.« Frank begann zu zittern. Er trug einen Waffengurt, aber ängstlich hütete er sich, daß er dem Revolver nicht zu nahe kam. Der Junge mit der verbrannten Zunge sah recht ungemütlich aus. Frank schlurfte hinter die Theke. Der Junge stellte sich seitlich neben ihn. Christensen spürte den Druck der Revolvermündung in der Niere. Das schöne Geld, dachte er jammernd, das schöne Geld. »Rasch«, zischte es hinter ihm. »In meinem Geschäft hat man wenig Zeit.«
Er öffnete die Schublade, was dem Jungen einen gedehnten Pfiff entlockte. Die Schublade lag voll Geld. Große und kleine Scheine. »Alles in ein Leinensäckchen. Dort – das da.« »Da sind Ziernägel drin.« »Die können Sie nachher in Ruhe vom Boden auflesen.« Frank schüttete die Nägel auf den Boden und begann, den Inhalt der Schublade in das Säckchen zu stopfen. »Auch den Cash – wer den Nickel nicht ehrt, frißt nachher Teer. Ahes hinein. Nicht so aufgeregt, es geschieht Ihnen ja nichts. Mein Gott, wenn man bedenkt, daß es Leute gibt, denen ihr Leben nicht einmal ein paar Bucks wert ist. Dort die Eagles auch. Mann, sind Sie immer so schwer von Begriff? Das macht mich nervös. Und wenn ich nervös bin, bekommen ich Fingerzucken. Das ist nicht ungefährlich, Mister. So, sehen Sie, wie geschmiert das geht. Her mit den Moneten. So, und jetzt einen soliden Strick. Ich möchte mich nämlich in Ruhe absetzen. Den dort – ja, der ist richtig. Und ein sauberes Tuch – für Ihre Klappe, nicht? Sie können auch ein dreckiges nehmen, wenn Sie nicht verwöhnt sind.« Frank angelte vorsichtig einen sauberen Lappen von einem Haken. »Setzen Sie sich dort auf den Stuhl.« Das Bandit wollte ihn vorbeilassen. Er stand mit dem Rücken gegen den Vorhang, der die kleine Tür zur Privatwohnung verdeckte. »Bleib ruhig, wo du bist, Frank«, sagte eine markige weibliche Stimme hinter dem Vorhang. Der Bandit spürte einen harten Druck im Kreuz. Er rührte sich nicht. »Wenn du eine Bewegung machst, mein Junge, hegst du zehn Minuten später schon in einem Sarg. Nimm ihm den Revolver ab, Frank!«
Der Revolver wechselte den Besitzer. Der Bandit überlegte krampfhaft, wie er sich aus dieser brenzligen Situation winden konnte, aber als er in das bissige Gesicht der Mrs. Christensen blickte, wußte er, wer in diesem Hause die Hosen anhatte. Franks rotes Gesicht verzog sich so in die Breite, daß er wie eine lachende Inkamumie aussah. Er richtete den Revolver auf den Mann. Die Mistress nahm ihm den Leinensack ab. »Hol Hogset«, sagte Frank. »Augenblick. Bevor Sie gehen, Madam, gebe ich Ihnen zu bedenken, daß ich zwar eingelocht werde, aber auch wieder herauskomme. Ich war schon einmal im Gefängnis und habe gesiebte Luft geatmet. Der, der es mir einbrockte, braucht keinen Arzt mehr.« »Wir sollen dir wohl noch ein Anerkennungsschreiben um den Hals hängen, was?« fauchte Mrs. Christensen wütend. »Nein, ich wollte Ihr Geld. Sie haben mich hereingelegt. Klare Sache. Wenn ich mich jetzt auf meinen Gaul setze, behalten Sie Ihre Möpse. Wandere ich ins Jail, behalten Sie sie auch. Nur, Sie haben solange was davon, bis ich wieder raus bin. Das ist der Haken.« »Paß auf ihn auf, Frank, ich hole den Sheriff.« Aber da fiel Frank etwas ein. »Warte!« rief er. »Willst du ihn laufen lassen?« »Wie heißt du?« fragte Frank. »Hank Titterton, seit fünfundzwanzig Jahren«, spürte der Bandit Oberwasser. »Well, es ist dir doch klar, daß du mindestens zwei Jahre eingelocht wirst, wenn ich jetzt den Sheriff holen lasse?« Titterton nickte. »Well, wenn ich das aber nicht tue, ist das doch recht nett
von mir, nicht?« »Ich würde es klug nennen.« »Du spuckst zu große Bogen, Hank. Das bringt meistens einen Strick ein. Hör zu. Es gibt hier einen gewissen Jemand. Und es gibt eine Menge Leute, die fast alle im Bürgerrat sind, die es gar nicht ungern hörten, wenn diesem gewissen Jemand etwas zustieße.« »Ah«, machte Titterton ein verschlossenes Gesicht. »Heute abend zum Beispiel. In einer Stunde. Da sitzt dieser Jemand am Tisch und wird Abendbrot essen. Es könnte ein Schuß fallen und…« »Und wer ist dieser Jemand?« »Toby Eames!« Hank fuhr wie von der Tarantel gebissen hoch. »Sie sind wohl verrückt geworden, eh?« »Moment. Ich sagte, daß er bei Wagners am Abendbrottisch sitzen wird. Ein Schuß durch die Scheibe, aus – der Fall ist erledigt.« »Ich kann mich beherrschen. Gehen Sie zum Sheriff, Madam. Hier stinkt es mir.« »Warte, mein Sohn. Du sagst selber, daß man in aher Ruhe an alles herangehen soll. Was hältst du von – sagen wir – von dreihundert Dollar?« »Nicht für 'ne Million.« »Nicht so eilig. Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Im State Prison in Denver schickt man die Gefangenen in die Steinbrüche. Eine Hitze wie im Brutofen, wenig Fressen und Prügel. Zwei Jahre lang. Und auf der anderen Seite ein rascher Schuß und dreihundert Dollar.« »Hm.« Frank warf einen raschen Blick zu seiner Frau hin. Die zog ein Gesicht, als spiele man in ihrem Magen Rugby. Aber sie
sagte nichts. War sie es doch, die Frank von Anfang an so gegen Toby aufgehetzt hatte und die schon wiederholt davon gesprochen hatte, daß man einen Mann finden müßte, einen Mann der Mut und einen guten Revolver hatte. »Man könnte deinen Besuch von heute abend vergessen«, philosophierte Frank die Decke an. »Fünfhundert«, sagte Hank plötzlich gepreßt. »Dreihundert ist viel Geld, Sonny. Und vielleicht noch einen Sattel dazu.« »Gut, ich mache es.« Frank entleerte die Kammern von Hanks Revolver, stopfte die Patronen in die Tasche und ließ sich von seiner Frau deren Waffe geben, die er in den Hosenbund schob. Dann reichte er dem Banditen den Revolver zurück. »Das Geld bekommst du, wenn die Sache erledigt ist.« »Schon faul. Wenn ich dann komme, muß ich froh sein, wenn Sie mich nicht hochgehen lassen. Nein. Jetzt das Geld und dann der Schuß.« »Hahaha – du bist nicht dumm. Geld einstecken und sich einfach davonmachen. Nein, mein Junge. Ich bin ein Ehrenmann. Wenn es erledigt ist, bekommst du deine Bucks, darauf kannst du dich verlassen. Es bleibt dir keine Wahl.« »Also gut.« »Ich koche eine Kanne Tee«, zog sich die Mistress zurück. Frank machte eine einladende Handbewegung. In der Küche setzten sie sich an den Tisch, und Frank erklärte Hank die Lage. Eine halbe Stunde später stand das Pferd des Banditen in Christensens Stall, und er selbst ging zu Wagners Store. Über der Stadt lag die Abenddämmerung wie ein roter Schleier. »Was willst du, Anne«, sagte Christensen, »und wenn es
wirklich schiefgehen sollte, was ich nicht glaube. Wer glaubt einem Fremden, der nachts durchs Fenster schießt? Wir kennen den Mann nicht. Wir haben ihn nie gesehen.« »Und wenn ihn einer beobachtet hat, wie er in den Laden kam? Und sein Pferd, das in unserem Stall steht? Die Sache ist nicht geheuer, Frank. Schaff wenigstens das Pferd weg.« »Ja, das ist richtig. Ich werde es bei Docherty an den Holm bringen.« Fank erhob sich und ging hinaus. Es war ein reiner Zufall, daß an diesem Tag bei Wagners nicht zu Abend gegessen wurde. Der Run auf den Laden war so überraschend und stark gewesen, daß sie alle Hände voll zu tun hatten, die Bestände aus dem Lager aufzufrischen. Und als das geschehen war, begann Sam die Einnahmen zu zählen. Eintausendvierhundert Dollar rund. Alles strahlte. Toby sah auf die Uhr und stellte fest, daß es zehn Uhr vorbei war. Sie merkten nicht, wie er sich davonmachte und in sein Zimmer ging. Draußen strich Hank Titterton um das Haus. Es war dunkel geworden. Hilde war hinausgegangen und hatte die Petroleumlampe entzündet. Toby packte verschiedene Kleinigkeiten in eine Decke ein, schrieb mit ungelenken Zügen einen kurzen Brief, den er auf das Kopfkissen legte, und ging dann nach unten. Es war inzwischen halb elf geworden. * Roy Kennecott und die drei Männer saßen in einer Bar in einer dunklen Ecke und mampften Steak mit Bohnen. Penny Buskow holte zwischen den Bissen dauernd seine Uhr
hervor. »Du machst mich noch verrückt mit deiner blöden Stiererei auf den Wecker«, brummte Gus Hyxes nervös. Es war sein erster Bankraub. Sonst hatte er nur Postkutschen überfallen. Das Warten zerrte an seinen Nerven. »Nur die Ruhe«, kaute Roy gemütlich. »Es wird Zeit, daß du dein Innenleben in Ordnung bringst, Gus. Ich kann nervöse Pinsel nicht gebrauchen.« Als Toby in das Wohnzimmer trat und sich ein kleines Rähmchen einsteckte, in dem ein Bild Sams und Hildes steckte, jagte Hank Titterton an das Fenster, riß den Revolver heraus und zielte auf Tobys Rücken. Aber in diesem Augenblick trabte eine Reitergruppe über die Straße. Er fluchte. Als sie endlich vorbei war, stand Toby nicht mehr an der Kommode. Er hörte ihn durch die Diele auf die Hoftür zukommen und hatte gerade noch Zeit, mit raschen Sätzen in einer Nische des Nebenhauses zu verschwinden. Carradine saß in seinem Hotelzimmer in einem hölzernen Waschzuber und badete. Vom Rodeoplatz drang Lärm in die Stadt. Die Straßen lagen verhältnismäßig still in der Nacht. Nur in den Bars rumorte ein kleines Dauererdbeben, und vereinzelte Betrunkene lahten umher, um schließlich irgendwo niederzusinken. Toby sattelte sein Pony. Roy Kennecott rief das aufgedonnerte Mädchen, das bediente, und zahlte. Zwanzig Minuten vor elf stiegen sie auf die Pferde und ritten in die Mainstreet. Eine schimpfende Frau schleppte ihren grölenden Mann über den Gehsteig. Über die Dächer fegten kreischend ein paar Katzen.
Reverend Percy H. Arness saß am Tisch im Lichtkegel einer Lampe. Sein Kopf ruhte auf der aufgeschlagenen Bibel. Daneben stand eine leere Flasche Kentucky Whisky. Sein Schnarchen klang nicht gerade wie ein Gebet. »Morgen werde ich dem Halunken das Geld geben«, sagte Sam zu seiner Frau. »Es war Toby unangenehm, daß sie ihn alle so angestarrt haben. Wir werden es morgen alleine machen.« »Ich habe den Eindruck, daß das Schlimmste überstanden ist, Sam.« »Wie kommst du darauf?« »Ein Gefühl nur. Sie haben alle gesehen, daß er zwar schnell schießt, aber keinen Streit sucht. Das war gut. Ihre Angst wird sich legen.« »Deine Zuversicht möchte ich haben.« Hogset war vom Richter eingeladen worden. Sie spielten Schach. Hogset gab sich Mühe zu verlieren, um es mit diesem nicht zu verderben. Er war ein gerechter Mann. Aber wenn er im Schach verlor, konnte er fuchsteufelswild werden. Schüsse, die auf dem Rodeogelände in die Nacht peitschten, bewahrten ihn vor der Niederlage. Mit einem bedauernden Grinsen jagte er hinaus. »Heute nacht findet keine Sitzung statt«, rief ihm der Richter ärgerlich nach. Die Bande hatte sich in eine Hausnische neben der Bank aufgestellt. Sie hörten die Schüsse und den entfernten Krawall. Es war zehn vor elf. »Besser kann es gar nicht mehr kommen«, sagte Roy, »jetzt fegt alles aus der Stadt, und wir haben jede Menge Zeit.« Hank Titterton hatte die vier Reiter kommen sehen und mit offenem Mund bemerkt, wie sie in die Nische neben der Bank
ritten. Dann war es still. Er war nicht auf den Kopf gefallen. Beinahe wäre ihm ein leiser Pfiff entfahren, als Toby jetzt sein Pony vorsichtig über den Hof hinaus auf die Straße führte, die wie tot lag, und es an den Holm vor Wagners Store band. Oha. So sah das aus. Dann war er ja alle Sorgen los. Auf einen Bankräuber konnte man mit gutem Gewissen schießen. Er würde sogar noch eine Belohnung bekommen. Geduckt schlich er sich an die seitliche Wand des Stores. Drinnen hörte er eine polternde Männerstimme lachen. Dann eine Frauenstimme. Fünf vor elf. Über der Bank brannte hinter zwei Fenstern Licht. Toby zündete sich umständlich eine Zigarette an, hustete, denn er rauchte nicht viel, ging dann langsam über die Straße auf den Nebeneingang der Bank zu. Hank zog den Revolver aus der Halfter, maß die Entfernung. Etwa fünfzehn Yard. Ein Kinderspiel. Toby würde beim ersten Schuß fallen. Ho, dann stand er als der Held da, der einen Bankraub vereitelt hatte. Beim Henker, ob man die Kerle nicht besser die Bank ausnehmen ließ, schoß, was aus dem Rohr ging, und versuchte, das geklaute Geld zu erwischen? Hank wurde es bei diesem Gedanken heiß und kalt. Jetzt hieß es, scharf überlegen und keine Fehler machen. Eh Uhr. Toby zog an der Glockenstange, hörte es hoch oben im Haus dünn klingeln. Die Straße lag wie ausgestorben. Keine Spur von Roy und seinen Männern. Auf dem Rodeoplatz hämmerten wieder Schüsse in den Himmel, verschwommenes Geschrei drang in die Stadt.
Jetzt brauchte Sam von ihm kein Geld mehr, dachte Toby befriedigt. Oben ging eine Tür. Eine Frauenstimme sagte etwas. Mosby knurrte. Dann knarrten Treppenstufen. Im Store sagte Sam: »Ich gehe schlafen. Der Tag hatte es in sich.« Als Hilde Wagner einfiel, daß draußen vor dem Haus die Petroleumlampe noch brannte, lag Sam bereits im Bett, Roy hielt dem kalkweißen Mosby den Revolver in den Bauch, Hank sah, wie er einen klirrenden Schlüsselbund aus der Hosentasche nahm und wie zwei Männer hinter Roy und Mosby ins Haus verschwanden. Toby blieb auf dem Stepwalk vor der Bank stehen. Es war ruhig. Jetzt hätte Hank schießen können, und Toby wäre ein toter Mann gewesen. Aber er dachte an die Männer, die jetzt im Innern der Bank sein mußten und an das Geld, das sie mitbringen würden. Er rechnete wie nie in seinem Leben. Sie würden dort am Nebeneingang wieder herauskommen. Drei Männer und Toby hatte er also vor sich. Und wenige Yard vor ihm stand das gesattelte Pferd des Jungen. Die der Banditen waren in dem Seitenweg. Von der Straße aus unsichtbar. Einer der Männer war bei ihnen. Sie würden den Bankier gebunden haben. Sie kämen auf den Sidewalk. Toby würde sein Pferd holen. Dabei schoß er erst ihn nieder. Dann die restlichen fünf Schuß in die drei anderen hinein, rasch hinübergehetzt, das Geld genommen, zurück auf das Pony und ab. Das Ganze durfte keine zehn Sekunden dauern. Der Gedanke an das viele Geld faszinierte ihn so, daß er ganz übersah, daß er nicht allein einen Revolver hatte und da-
mit schießen konnte. Zehn Minuten vergingen. Und noch vielleicht zwei. Ich muß die Lampe löschen, dachte Hilde Wagner und ging auf die Tür zu. Sie dachte daran, daß sich Sam ohne Essen ins Bett gelegt hatte. Das war seit Jahren nicht mehr vorgekommen. Aber sie dachte auch an das glänzende Geschäft, das sie gemacht hatten, und sie lächelte. Und wenn sie lächelte, wurde ihr hartes Gesicht weich. Sie drehte den Schlüssel des Türschlosses zweimal um. Hank fuhr der Schreck in die Knochen, als er das Geräusch hörte. Und Toby schoß den Kopf vor. Die Lampe, dachte er, die Lampe brennt ja noch. Da kamen Roy und die beiden anderen lautlos kichernd durch den dunklen Flur. »Ich schnappe über«, hörte er einen der Männer sagen. Sie mußten viel Geld erbeutet haben. Drüben öffnete sich die Tür, und Hüde Wagner trat auf den Sidewalk hinaus. Ehe Toby die Männer warnen konnte, standen sie schon alle drei mit weißen prallen Leinensäcken auf dem Sidewalk, und dann brach ganz plötzlich die Hölle los. * Eine brüllende Flamme schoß mit einem furchtbaren Knall von der Hausecke auf Toby zu. Etwas sauste mit Wucht hoch in seme linke Schulter, warf ihn krachend gegen die Hauswand. Roy aber sah nur die Gestalt im Rahmen der von innen schwach erleuchteten Tür, sah die grellgelbrote Flamme auf sich zujagen, ließ den Sack fallen und schoß. Auch die anderen schossen.
Hilde Wagner stieß einen gellenden Schrei aus, griff haltlos in die Luft und brach stöhnend zusammen. Wie rasend leerte Hank semen Colt in die Bande. Roy erwischte das heiße Blei in die Stirn. Der letzte Schuß aus Hanks Revolver bohrte sich knirschend hart neben Tobys Kopf in die Bretter der Fensterverkleidung. Da aber hatte Toby seinen Revolver heraus. Mitten in die Mündungsflammen setzte er die Schüsse. Hank fuhr kerzengerade hoch, als ihn die Geschosse trafen, wirbelte aufbrüllend einmal um seine eigene Achse und klappte dann wie ein Taschenmesser zusammen. Aus der Hausnische schoß – tief auf den Hals seines Pferdes geduckt – Gus Hyxes auf die Straße hinaus. Schüsse aus den Fenstern der umhegenden Häuser trafen ihn nicht mehr. Dann war im Handumdrehen die Straße voller Menschen. Verschlafen und halb angekleidet mit Flinten und Revolvern, sogar in Nachthemden stürzten sie auf die Szene zu. Drei prall gefüllte weiße Leinensäcke mit siebzigtausend Dollar lagen auf dem Sidewalk vor der Bank. Toby aber taumelte mit heißem Kopf auf die stille Frauengestalt vor der offenen Tür zu. Als er sah, daß Hilde Wagner tot war, ließ er sich resigniert neben ihr zusammensinken und begann schluchzend zu schlucken. Es schoß ihm heiß in die Augen. Er hörte nicht wie die Menschen durcheinander schrien, ihn einen Mörder nannten, einen Banditen und nach einem Strick verlangten. * Stumpf vor sich hinbrütend, saß Toby auf der Pritsche der Ein-
zelzelle. Die Gefangenen in der Zehe tobten, daß man nicht einmal im Jail seine Nachtruhe hätte. Vor dem Gefängnis sammelten sich immer mehr Menschen. Ihr Haß wurde von gewissen Leuten gesteigert. Man hatte es ja immer gesagt, daß er ein Bandit sei. Man hatte gewarnt und gewarnt, aber er mußte zum Mörder an seiner Pflegemutter werden, ehe man endlich kapierte, daß es nur eins für ihn geben konnte – den Strick. Und das sobald und so schnell wie möglich. Es dauerte fast zwei Stunden, ehe es Hogset, Carradine und den Hilfsmarshals gelang, die wütende Menge zu zerstreuen. Und dann kam Sam Wagner wie ein Greis über den Gehsteig geschlichen. Hogset öffnete ihm die Tür zu seiner Amtsstube. Dort saßen Carradine und die drei Hilfsmarshals. »Es tut mir leid, Sam«, preßte Hogset hervor, und er wußte, daß jedes weitere Wort sinnlos war. Das Gesicht Wagners war wie erloschen. »Kann ich mal mit ihm sprechen«, flüsterte er leise. »Natürlich, komm mit, Sam.« Sie gingen mit dem Alten in das Jail. Die zehn Gauner mucksten sich nicht mehr, seit ihnen Hogset zwei Eimer mit kaltem Wasser vor die Zelle gestellt hatte. »Toby«, sagte Sam, setzte sich neben den Jungen auf die Pritsche, »Toby, sag, daß es Unsinn ist, was die Leute reden. Sag es, und ich werde dir jedes Wort glauben.« »Die Bande hat auf sie geschossen«, sagte Toby stumpf, »ich, ich…« »Du warst doch nur rausgegangen, um die Laterne zu löschen, nicht, Toby?« baute ihm Carradine mit einem Blick auf den ernst nickenden Hogset eine goldene Brücke, aber Toby fuhr hoch. »Nein!« schrie er. »Ich habe mitgemacht. Ich war dabei. Ich
habe Mosby heruntergeläutet. Roy Kennecott war ein alter Bekannter meines Vaters. Ich hatte es satt, alles hatte ich satt. Diese verdammte Stadt, diese Lumpen, die einen aus allem einen Strick drehen wollen. Dieser Bankier, der Wagner den Hals zuhielt. Diese widerliche, mörderische Stadt hatte ich satt. Sie haben mich zum Banditen gestempelt. Sie haben mich geschlagen. Mich schlecht gemacht und hinter mir hergetuschelt. Sie haben mich mit Steinen beworfen und mir ins Gesicht gespuckt. Ich war ein Bandit. Was ich auch tat, ich war ein Bandit. Gut, dann wollte ich auch einer sein, aber ein richtiger. Mit allem Drum und Dran. Ich war bei dem Raub dabei. Roy hat sie niedergeschossen. Es war ein Irrtum. Aber jetzt ist sie tot – und ihr«, schrie er, »ihr habt sie auf dem Gewissen. Ihr alle. Ich werde bestraft werden, ich warte sogar darauf, und ich werde ins Gefängnis gehen. Aber ich komme wieder. Ich komme wieder. Und dann räche ich sie. An jedem dieser Lumpen hier räche ich sie, das verspreche ich, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist. Ich werde sie töten, Mann für Mann. Wie sie es gesagt haben. Ich werde so sein, wie sie mich gemacht haben. Ein Bandit. Ein verfluchter Bandit, vor dem sich sogar die Mädchen verkriechen.« Und so blieb er stehen, der Junge. Mit verzerrtem, verquollenem Gesicht, in dem die Spuren der Mißhandlungen grün, gelb und blau schimmerten. Mit blutgetränktem Schulterverband und einer Wunde, die so höllisch brannte wie sein Haß gegen die Menschen. Sie sahen sich alle betreten an. Keiner sprach ein Wort. Und der Junge stand heftig atmend in der Zehe, die nach Schmierfett und alten Socken, nach Schweiß und muffigen Decken roch. »Laßt mich mit ihm allein«, sagte Sam.
Sie gingen hinaus in den Orderly Room. »So weit ist es also gekommen«, ließ sich Hogset mit einem verzweifelten Schnaufer in seinen Stuhl fallen und ließ die Arme herunterhängen. »Ich glaube ihm ja«, riß er dann den Kopf hoch und bohrte den Blick in Carradines Gesicht. »Verdammt, ich glaube ihm jedes Wort. Er hat an dem verfluchten Hold Up teilgenommen – und daran ist nicht er, sondern diese dreimal verdammte Höllenstadt schuld. Niemals hat er auf sie geschossen. Höhe und Pest. Aber wie will er das beweisen? Er kann es nicht. Es ist unmöglich. Und diese elenden Moralhyänen wollen ihn hängen sehen. Und der Richter kann nicht anders entscheiden, als die Jury es bestimmt.« »Mord!« Carradines Stimme war rauh wie eine Wurzelbürste. »Ich könnte den elenden Stern in den nächsten Misthaufen schmeißen, so leid ist mir dieser Job geworden«, tobte Hogset, »ich möchte ihn nehmen, hier mit diesen meinen Händen möchte ich ihn nehmen und seine Zacken diesen bornierten Kaffern so lange durch die Gesichter ziehen, bis sie nur noch rot sehen, und zwar ihren eigenen Saft. Dieser Pöbel. Zum Teufel mit dem Gesetz. Zum Teufel mit Gerechtigkeit, wenn sie für diese verbrecherische Torheit gemacht sind und von ihr diktiert werden. Der Junge wird nicht gehenkt, das schwöre ich«, jagte er schließlich mit violett angelaufenem Gesicht hoch und raste zwische Carradine und den verlegenen Hilfsmarshals wie ein gereizter Bulle hin und her, warf die Arme hoch und brühte, daß die Wände knisterten. Der Sheriff ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen, faltete die Hände über der Weste zusammen und schwieg verbissen die Tischplatte an. »Wann wird die Verhandlung sein?« fragte Carradine end-
lich. »Morgen natürlich«, giftete Hogset. Dann lachte er auf, als habe ihm jemand mit einem Hammer ein Hühnerauge zerschlagen. »Sie werden sich in ihre besten Klamotten schmeißen, nach Pomade und frischer Seife riechen und würdevoll Fishers Saal bevölkern. Sie werden sich ihre satten Bäuche streichen und in dem Jungen den leibhaftigen Satan sehen. Ahes ehrbare und solide Bürger, die keiner Fliege eine Warze krümmen. Ahes Bürgerräte, Wichtigtuer und Quasselfritzen, die ihren eigenen Dreck zusammenfegen und ihn möglichst heimlich den Nachbarn vor die Tür laden und ihn dann durch die Zähne ziehen. Oh, Carradine, ich bin den essigsauren Job satt bis an die Nasenlöcher. Ich möchte jedem einzelnen in den Hintern treten, bis ihm sein schäbiges Dasein wie eine Pauke voll Erbsen vorkommt. Jury – hahaha – haben Sie schon mal eine Jury in Leadville erlebt? Haben Sie schon mal erlebt, wie Frank Christensen mit andächtig gefalteten Händen in seinem Konfirmationsgehrock vor die Gemeinde tritt und nächstenhebend für einen dreckigen Schweinehund eintritt, nicht, weil er ein Christ ist, sondern ein Heuchler, der hinter seiner Heuchlerfassade seinen schmierigen Charakter zu verbergen sucht. Das muß man gesehen haben. Hoh. Sie werden sie alle sehen. Alle. Gangelin, der heimlich und geldgierig aus seiner schwarzen Seele wünscht, es möchten sich mehr Leute die Hälse umdrehen, damit er an den Särgen Geld verdienen kann. Curtis, der selbst feige bis ins Mark ist, der täglich vor seiner Alten auf dem Bauch kriecht und mit glänzenden Augen erst die Leute aufeinanderhetzt und dann seinen fetten Horizont reibt, wenn sie sich vor seiner Tür im Dreck wälzen. Schuldig werden sie morgen mit Märtyrerstimmen murmeln. Schuldig. Ah, Beckers, hol mir ein Glas Wasser, sonst wächst mir der Schlund zu vor Wut.«
Er knallte die Fäuste auf den Tisch, daß die Tinte aus dem Glas sprang und eine breite Lache hinterließ. »Schuldig. Sie werden sich mit genau vor dem Spiegel trainierten, wirkungsvollen Posen zurückziehen, sich eine halbe Stunde in ihrer Moral baden und dann schuldig sagen.« In dem Augenblick trat Sam wieder ein. »Ah, Carradine, tun Sie mir einen Gefallen, schließen Sie doch die Zelle des Jungen zu und hängen Sie den Schlüssel an den Bund in den Kasten.« Carradine spitzte die Lippen, als schmecke er einen köstlichen Wein. Dann ging er in das Jail. Man hörte ein Schloß knirschen und Schlüssel rascheln. Dann kam er wieder zurück. »Er ist sehr erregt«, sagte Sam. »Wenn ich mich für ihn verbürge, können Sie ihn dann nicht freilassen?« »Nein. Es besteht Mordanklage.« »Aber das ist doch Wahnsinn.« »Das weiß ich. Geh jetzt nach Hause, Sam. Es wird schon alles in Ordnung kommen. Carradine wird dich begleiten. Hey, Marshal, First Assistant Marshal of Texas, gehen Sie mit Sam durch den Hintereingang des Jails. Wegen der Leute. Und legen Sie den Riegel so, daß er wieder einrastet, wenn Sie die Tür hinter sich schließen. Bis morgen, Mr. Carradine.« »Ist gemacht. Bis morgen, Mr. Hogset.« Unter den Bürgern der Stadt bildeten sich nach dem Bankraub zwei Parteien. Es war schon spät nach Mitternacht, aber niemand konnte sich zum Heimgehen entschließen. Neben diesen erhitzt debattierenden beiden Hauptgruppen, gab es noch die Miner, die sich abwartend verhielten und die zahlreichen Fremden, die neutral blieben und nur gespannt waren, was aus dem Wirbel werden würde. Hal Wesson war mit seiner Gruppe, in der sich sieben der
Männer befanden, die seinerzeit in der Posse die Familie Eames erschossen, im Trailsmen-Rest-Saloon. Sie hatten sich rund um den Roulettetisch versammelt. Außer ihnen befand sich noch eine Menge Fremder in dem Saal, in dem es wie bei einer Wahlversammlung aussah. Erhitzte Gesichter, erregtes Geschrei und – Durst. »Daß er Mrs. Wagner nicht erschossen hat, glaube ich«, sagte ein kleiner Mann, der ständig seine Gichtknoten an der Hüfte zärtlich betastete. »Aber es steht doch einwandfrei fest, daß der Raub von langer Hand vorbereitet wurde. Roy Kennecott hat jahrelang mit Bragg Eames zusammengearbeitet. Also hing auch Toby schon lange mit in der schmutzigen Suppe drin.« »Wer sagt dir das, Bill?« drehte sich Hal um, »wer? Es ist eine Vermutung. Es sind Zeugen dafür da, daß Kennecott erst heute morgen in die Stadt kam. Es wären aber auch garantiert Zeugen dafür da, wenn er vorher schon einmal hier gewesen wäre.« »Wieso? Schließlich haben wir uns ja so brennend nicht für Wagners Store interessiert, daß wir dort eine ständige Wache eingerichtet haben. Kennecott ist, weiß der Deubel, wann, bestimmt vorher mit Toby zusammengetroffen und hat den Überfall bis ins kleinste ausgetüftelt.« »Glaube ich nicht«, warf Hal die Schultern hoch und blickte sich um. »Der Überfall spricht zwar für eine gewisse Vorbereitung, aber daß er ausgerechnet kurz vor dem Rodeo ausgeführt wurde, beweist doch, daß Kennecott Angst hatte, sich hier sehen zu lassen, wenn normale Ruhe herrscht. Es gibt genug Leute, die ihn bestimmt erkannt hätten. Es war eine Belohnung auf ihn ausgesetzt.« »Belohnung!« hüstelte ein anderer mürrisch. »Was meinst du, wie viele Typen hier herumlaufen, deren Kürbis auch eine
schöne Stange Geld wert ist.« Einige der Fremden zogen die Schultern ein. »Der Junge sitzt jetzt, weil er sich auf dem Sidewalk von Mosbys Bank befand – und weil sein Pony gesattelt vor dem Store stand«, sagte Hal ruhig. »Und weil er Mosby heruntergeholt hat.« »Auch. Er war also bei dem Raub beteiligt. Stimmt. Nur passiv, nicht einmal aktiv. Er ist siebzehn Jahre alt. Man hat ihm hier das Leben zur Höhe gemacht. Frank mit seiner verdammten Wühlerei und die anderen…« »Stop«, drängte sich ein mittelgroßer, krummbeiniger Weidereiter an ihn heran. Sein Gesicht sah aus wie eine Kartoffel. Er hieß Scotty Sand und war Vormann der Würfel-M. Ein rauhbeiniger, aber ehrlicher Bursche. »Ich kenne den Jungen«, grollte er mit leicht angeglasten Augen in die Runde und spielte mit seinem großen Colt. »Er ist besser als ihr alle zusammen. Ich hätte ihn gern in meiner Mannschaft gehabt, und er wäre auch gern für unseren Boß geritten, aber er blieb bei Sam. Ich will euch eines sagen. Wenn ihr mir so mitgespielt hättet wie ihm, lägen von euch jetzt mindestens ein halbes Dutzend mit der Nase im Dreck. Wir sind zwölf Reiter, Gents. Toby wird morgen nicht verdonnert werden, darauf könnt ihr euch verlassen, oder wir sorgen dafür, daß es hier rundgeht wie in einem Kreisel. Ihr habt den Jungen den Banditen in die Arme getrieben. Jetzt holt ihn auch gefälligst wieder heraus. Sonst tun wir das, kapiert, Gents?« Es wurde eine Weile ruhig. Alles blickte auf den bulligen Vormann und sein rotes Gesicht. »Na, wie ist es, Mr. Wesson?« fragte Scotty. »Ich habe nichts dagegen«, meinte Hal ruhig. »Wie habt ihr euch das gedacht?«
»Rausholen. Jetzt.« »Und Hogset?« »Der ist all right.« »Schön. Aber Frank Christensen und die anderen?« »Denen machen wir Feuer unter den Hintern, bis ihnen die Spucke kocht.« Hal grinste. Und dann grinste der Kleine mit den Gichtbeulen. Schließlich grinsten sie alle. »Three cheers for Scotty!« warfen die Boys der Würfel-M die Arme hoch. »Auf zum Jail!« »Wir holen den Jungen heraus.« »Come on, Boys«, rief Scotty den eh drahtigen Weidereitern zu, »es genügt, wenn uns diese elenden Krämerseelen mit ihren Preisen das Fell über die Ohren ziehen. Den Jungen holen wir aus dem Loch raus.« »Klar!« riefen die Boys. »Aber erst wollen wir den anderen noch die Hosen anwärmen.« Der Barkeeper warf verzweifelte Blicke in den flimmernden Kronleuchter. Das Geschäft war für heute zu Ende. Die Männer verließen die Bar. Nur ein paar stark Betrunkene blieben mit langen Gesichern vor ihren Flaschen hocken und sahen dem Haufen, der sich durch die Tür wälzte, mit glasigen Blicken nach. Im Wampum stand Frank Christensen auf einem Tisch. »Aber kein Mensch hat auf unsere warnende Stimme gehört!« schrie er, und sein rotes Gesicht glänzte von Schweiß. »Wir haben immer gewarnt. Wir wußten von Anfang an, daß man aus einem Banditen keinen Christenmenschen machen kann. Jetzt ist eine Frau erschossen worden. Nur durch einen Zufall wurde der größte Bankraub, den Leadville je erlebte, verhindert. Und wer ist der Mörder? Toby Eames. Der Junge,
der von uns aufgenommen wurde, der von uns erzogen wurde. Ich frage euch: Wie viele Tote muß es noch geben, ehe man endhch begreift, daß man ein Raubtier töten, anstatt füttern muß?« Die Männer schrien wild durcheinander. Frank warf die Arme hoch. »Wir alle haben Mrs. Wagner gekannt. Sie war eine stille und fleißige Frau. Sie hat an den Jungen geglaubt. Und welchen Dank hat sie dafür bekommen? Einen Schuß ins Leben.« Ein Tumult brach los, daß die Wände zitterten. Frank warf wieder die Arme hoch. »Wir kennen Sam. Er ist ein Dickschädel. Wir haben ihn gewarnt. Nicht einmal, tausendmal. Und als es mit Worten nicht mehr ging, da haben wir es mit Gewalt versucht. Nein, Sam war nicht zu belehren. Er war bereit, für den Jungen sogar seine Existenz zu opfern. Und wie ist es ihm gedankt worden? Indem der Junge kaltblütig seine Frau erschoß!« Die letzten Worte gingen in einem unbeschreiblichen Tumult unter. Und wieder warf Frank die Arme hoch. »Ruhe, Gents«, brüllte er. »Es gibt verschiedene Leute hier in unserer Stadt, die immer noch für den Jungen sind. Die nicht wollen, daß man einen Mörder und Banditen henkt. Aber, Gents, diesen Leuten geht es dabei gar nicht um Toby, sondern um ganz andere Dinge.« »So, worum denn, du dreckiges Lügenmaul«, wurde die Tür mit einem Knall aufgerissen, und Scotty Sand mit seiner Mannschaft und dahinter Hai mit den Männern seiner Gruppe traten ein. Frank wurde tiefrot, fast violett und dann bleich. Er warf einen hastigen Blick über die Männer, die ihn umstanden. Die Miner der Donna Esmeralda waren dabei und fünfzig andere, handfeste Burschen.
Ungeachtet der wütenden Gesichter, stampfte Scotty mit verbissenem Gesicht durch die Männer, die ihm unwillkürlich Platz machten. Mit einem Satz schwang sich Scotty neben Frank auf den Tisch. Er war geladen wie eine Mondrakete. Frank machte Miene, herunterzuspringen, aber der Blick des Vormannes und seine Einsicht, daß er auf keinen Fall sein Gesicht verberen dürfe, hielten ihn davon ab. »Was willst du, Scotty?« »Damit haben die Ranches nichts zu tun.« »Sie wollen wieder stänkern kommen.« »Ihnen geht es nur um Prügeleien, egal, woher sie den Grund dafür nehmen.« Scotty dehnte seine mächtigen Schultern, daß sie knackten. »Ihr verdammten Idioten!« schrie er. »Wenn es uns um Prügel ginge, hätte jetzt schon keiner von euch mehr heile Knochen. Wir prügeln uns nicht mit kläffenden Holzwürmern, sondern nur mit Männern, die Mumm in den Knochen haben. Aber hier geht es um den Jungen. Euch zittert vor Feigheit das Herz in den Socken, weil ihr Angst vor ihm habt. Angst davor, daß er euch eines Tages heimzahlt, was ihr an ihm verbrochen habt, ihr Schmutzfinken.« »Er ist ein Mörder. Er ist ein Bandit. Willst du das etwa leugnen?« »Die Mörder seid ihr«, schrie Scotty wild. »Die Banditen auch.« »Ich habe selbst gesehen, wie er sich im Schießen übte, heimlich, um sich für den Tod seiner Familie zu rächen.« »So, hat er das gesagt?« »Das weiß doch jeder.« »Wer? Los, antworte, Frank, oder ich vertrimme dich, daß
dich deine eigene Mutter nicht mehr kennt.« »Natürlich hat er es nicht gesagt«, wehrte sich Frank, der Angst vor Scotty hatte. »Aber getan hat er es, nicht? Er hat euch der Reihe nach erschossen, nicht?« Scotty redete sich immer mehr in Zorn. »Jetzt hört einmal ganz scharf her, Gents. Wir werden jetzt hübsch brav und einträchtig zum Jail gehen und fordern, daß man Toby unverzüglich freiläßt, verstanden?« Es gab einen Tumult, der beinahe in eine wilde Schießerei ausgeartet wäre, wenn nicht Scotty oben auf dem Tisch und Hal Wesson unten rasch für die nötige Ruhe gesorgt hätten, wobei ihre Revolver eine wichtige Rolle spielten. »Wer mich nicht ausreden läßt, kriegt mein Blei in die Ohren!« schrie Scotty, daß man es bis in die letzte Ecke hören konnte. Dabei ließ er den Colt ununterbrochen in die Runde kreisen. »Toby hat Schießen gelernt. Das tun alle Boys in seinem Alter. Keinem wird daraus der Vorwurf gemacht, er wolle jemandem an den Kragen. Aber ihm habt ihr ihn gemacht. Ihr habt beinahe Sams Geschäft ruiniert, um den Jungen zu vertreiben Aber Sam war ein ganzer Kerl. Dann habt ihr keine Gelegenheit verpaßt, den Jungen zu beseitigen. Ihr habt ihn verprügelt und gesteinigt. Ihr wolltet ihn sogar hängen? Warum? Was hatte er getan? Seine Familie bestand aus Banditen. Er war fleißig und anständig. Daß er das alles nicht mit heißem Blei zurückzahlte, ist mir ein Rätsel. Ich hätte dir eine Kugel in den Schädel gejagt, Frank«, bohrte er seine stechenden braunen Augen in das bleiche Gesicht des Sattlers. »Ich hätte euch die Socken heiß gemacht, darauf könnt ihr Gift nehmen. Mit keinem von meiner Mannschaft hättet ihr ungestraft das gemacht, was Toby passierte. Mit keinem. Well, der Junge hatte die Nase
voll. Man wollte nicht, daß er ehrlich blieb. Man wollte einen Banditen aus ihm machen. Da ist ihm der Kragen geplatzt, und er wurde einer. Es blieb ihm keine andere Wahl. Damit der Junge aber nicht denkt, es gäbe in dieser elenden Stadt nur feige Schufte, die einem das Leben zur Hölle machen, holen wir ihn jetzt aus dem Jail heraus, in das ihr ihn gebracht habt. Ihr seid schuld, daß Mrs. Wagner tot ist. Du, Frank, du erbärmliche Ratte, trägst die Hauptschuld, denn du hast gestänkert wo du nur konntest. Man sollte dich hängen und aufs Rad binden. Los, Boys, ihr wißt Bescheid. Wer jetzt nicht endlich Vernunft annimmt, wird rücksichtslos zusammengeschlagen. Es soll nicht heißen, daß ein paar Ratten den Namen unserer Stadt in den Dreck ziehen können. So, Frank, und jetzt bist du noch einmal dran. Aber bedenke: Das ist das letztemal, daß du öffentlich etwas sagen kannst.« Frank begann am ganzen Leibe zu zittern. Die Gesichter seiner Männer waren nachdenklich geworden. Die feste Haltung der Weidereiter und die von Hal Wessons Männern hatten sie doch stark beeindruckt. Es trat eine Stille ein, die vor Spannung knisterte. Aber irgendwo in Frank war ein Kurzschluß. Seine Angst vor Toby war grenzenlos. Der bloße Gedanke an den Jungen und an seinen Revolver jagten ihm den kalten Schweiß aus allen Poren. Er hatte ihn schießen sehen. Er wußte, wie er den Jungen mit seiner Angst vor ihm gepeinigt hatte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß Toby ihn dafür nicht zur Rechenschaft ziehen würde. Toby mußte der Mord in die Schuhe geschoben werden, damit man endlich diese nagende Angst los wurde. Damit man endlich wieder einmal ruhig schlafen konnte. Er sah, daß viele Männer, die bei der Posse waren und die auch die Jagd auf Toby mitgemacht hatten, genauso dachten, daß sie dieselbe Angst vor dem Jungen hat-
ten. Und deshalb riß er mit dem Mut der Verzweiflung den Mund auf. »Wir denken nicht daran, einen Mörder und Banditen vor der verdienten Strafe zu schützen!« schrie er mit überschnappender Stimme, in die er vergeblich ein würdiges Pathos zu legen versuchte. »Du denkst nicht daran«, zischte Scotty. Er hatte auch die Gesichter der Umstehenden gesehen, von denen etwa die Hälfte sich hinter undurchdringlichem Ernst zu verschanzen suchten, und die andere Hälfte Frank beistimmte. Das gab den Ausschlag. Seine rechte Schulter legte sich blitzschnell zurück, und dann fegte ein wuchtiger Faustschlag mitten in des Sattlers hochrotes Gesicht hinein. Der Vormann hatte Muskeln aus Stahl, und hinter dem Schlag steckten nicht nur hundertachtzig Prozent Knochen und Muskeln, sondern eine zitternde Wut. Frank wurde im hohen Bogen vom Tisch mitten zwischen die Köpfe der Männer gerissen. »Wer will den Jungen hängen?« brüllte Scotty und hielt den Colt wieder in der Hand. Auch die Weidereiter hatten die Waffen in den Händen und Hal Wesson und seine Männer auch. Frank sank mit teuflischen Schmerzen im Gesicht zwischen die Beine und wagte nicht wieder, sich hochzuraffen. In den ersten Minuten war er dazu auch gar nicht in der Lage, denn sein Gesicht war wie mit Luft vollgeblasen. Er hörte Scotty auf dem Tisch rasen. »Jetzt ist Schluß mit der Bohrerei. Wir haben alle an Toby etwas gutzumachen, und das wird gleich geschehen, jetzt. Los, raus – zum Jail!« »Nein, zum Richter, Scotty«, rief Hal Wesson. »Zuerst muß
die Anklage aufgehoben werden.« »Quatsch – Anklage. Der Junge kommt raus – mit oder ohne Anklage.« »Das ist falsch, Scotty. Dann zwingen wir Hogset zum Handeln gegen uns. Erst muß die Anklage aufgehoben werden.« »Und die lautet auf Mord, eh?« »Nicht nur, sondern auch auf Bank Hold Up.« »Und wer klagt an?« »Der Anklagevertreter der Jury – Frank Christensen.« »Ah, Frank.« Mit einem Satz jagte Scotty mitten zwischen die Männer, unter denen Frank am Boden lag. Er zog ihn mit einem Griff hoch. Der Sattler sah gar nicht gut aus. »Du bist Anklagevertreter, wie?« schnaufte Scotty so wild, als wolle er jede Sekunde Frank die Gurgel durchschneiden. Frank kam nicht mehr zum Nicken. Wenn er nicht eine solch unglückliche Figur abgegeben hätte, wäre die Sache eventuell doch anders verlaufen, denn die Männer hatten alle Revolver in den Gurten und die Art, wie Scotty mit ihnen umsprang, ging ihnen so mächtig gegen den Strich, daß es nur einiger entschlossener Worte eines ebenso entschlossenen Führers bedurft hätte, und Scotty wäre Mittelpunkt einer wilden Schießerei geworden. So aber wirkte die Jammergestalt ihres Leaders auf sie wie eine kalte Dusche. Hinzu kam, daß man die Weidereiter der Würfel-M als eisenharte Buschen kannte. Frank wurde von dem harten Griff halb gestoßen und halb aus dem Saal getragen. Die Männer bildeten eine weite Gasse. Geschlossen marschierte man zum Hause des Richters. Immer wieder linsten Franks Augen zu Scotty und seinen Männern. Aber die machten steinerne Gesichter, in denen fins-
tere Entschlossenheit stand, die ihm einen Schauder über den Rücken jagte. »Er liegt schon im Bett«, sagte Wesson unruhig. Der Richter war eine Respektperson allerersten Ranges. »Dann muß er eben aufstehen«, sagte Scotty kurz und starrte dann in das blutende Gesicht Franks. Ganz in der Nähe stand der wassergefüllte Zuber einer Pferdetränke. Dorthin brachte Scotty den Sattler und ließ ihn los. »Wasch dein Gesicht«, befahl er ihm, und Frank machte eine schwach abwehrende Handbewegung. Da stieß ihn der Vormann einfach mit dem ganzen Oberkörper in den Zuber hinein, hielt ihn eine Weile unter Wasser und ließ ihn dann los. Prustend kam Frank hoch. Scotty riß sein Halstuch vom Nacken, schüttelte den Staub heraus und gab es ihm. »So, und jetzt marsch, zum Richter. Und, Frank – wenn dir einfallen sollte, die Anklage nicht zurückzunehmen, dann kannst du dir gleich danach einen Sarg bestehen.« Der Richter wurde von dem heftigen Läuten der Türglocke wach und erschien mit einer weißen Zipfelmütze am Fenster. »Ruhestörender Lärm – zehn Dollar Strafe«, brühte er laut. »Heraufkommen!« »Darm müssen Sie erstmal die Tür aufmachen, oder sollen wir so reinkommen?« »Sachbeschädigung – zwanzig Dollar Strafe«, wütete die heisere Stimme des Richters, der den Menschenhaufen gesehen hatte und eilig aus dem Fenster verschwand. Wenig später öffnete er die Tür. In der Hand hielt er eine brennende Petroleumlampe. Er war im Nachthemd und sah gar nicht mehr respektabel aus. Alles grinste.
»Wer hat geklingelt?« »Ich, Euer Ehren.« »Dann kommen Sie rauf, damit ich Ihnen die zehn Dollar aufbrummen kann.« »All right, aber der gute Frank ChriStensen kommt auch mit. Und Wesson auch.« »Ich brauche keine Zeugen dafür.« »Entschuldigen Sie, Euer Ehren. Es geht um die Aufhebung der Anklage gegen Toby Eames.« »Das hat Zeit bis morgen«, hob sich die empörte Lampe etwas höher. »Eben nicht, Euer Ehren. Gar keine Zeit hat das mehr.« Der Richter warf einen Blick in das Gesicht von Scotty und wußte, daß er nicht gehen würde. Auch Hal Wesson schien entschlossen zu sein. »Also gut, gehen wir nach oben.« Oben stellte er die Lampe auf den Tisch drehte den Docht höher und deutete zu Kommode. »Geben Sie mir den Hammer und da Barett, Mr.Wesson.« Hal reichte ihm die Sachen. Der Richter stülpte sich das schwarze Käppchen als Zeichen seiner Würde auf die wirren Haare, bumste mit dem Hammer auf den Tisch, daß es wie ein Schuß klang und verurteilte Scotty wegen nächtlicher Ruhestörung zunächst einmal zu zehn Dollar Strafe, die bezahlt wurde. Ein zweiter Bums, und die Sitzung war geschlossen. Dann, nach einer kurzen Erklärung von Wesson, ein dritter Bums. Die nächste Sitzung war eröffnet. »Geben Sie mir eine Zigarette, Scotty«, befahl der Richter. Dann wurden sie gefragt, was sie wünschten. Wesson erklärte es ihm. Der Richter warf einen langen Blick in das zerschundene Gesicht von Frank.
»Sie wollen also die Anklage gegen den Jungen zurückziehen?« Frank warf einen raschen Seitenblick zu Scotty. Dann nickte er. »Ja, Euer Ehren.« Der Richter betrachtete sein Gesicht eingehender, dann wanderten seine Stricknadelblicke über die betont harmlosen Gesichter der beiden Männer. »Das ist Ihr freiwilliger Entschluß, Mr. Christensen?« »Ja«, sagte Frank zögernd. »Und auch der der Jury?« Wieder zögerte Frank, erhielt einen Rippenstoß von Scotty, den der Richter mit einem sauren Zucken quittierte. »Ja, Euer Ehren.« »Sie stehen nicht unter Zwang? Ich machte Sie darauf aufmerksam, daß eine derartige Erpressung mit mindestens zwei Jahren Haft bestraft wird.« »Wir hören es, Euer Ehren«, flötete Scotty unschuldig. Der Richter wartete eine Weile. Aber Frank rührte sich nicht. Dann bumste der Hammer wieder auf die Tischkante. »Das Verfahren gegen den Toby Eames wegen Mord und Bankraub wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft geschlossen. Kosten trägt die Stadtkasse.« Ein entsprechender Entscheid wurde vom Richter geschrieben und Frank ausgehändigt. * »Was soll das merkwürdige Gebaren des Sheriffs?« fragte Sam auf dem Heimweg. Er war um Jahre gealtert, sah wie der alte Culmer aus. Seine Schultern hingen müde, und seine sonst so frische Stimme
klang gebrochen. Carradine warf ihm einen langen Blick zu. In den Saloons prallten die Meinungen geräuschvoll aufeinander. »Toby wird morgen nicht in der Verhandlung sein«, sagte er dann lakonisch. Sam warf den Kopf herum. »Wieso nicht?« »Weil Sie mir jetzt sein Pony geben und ich ihn dann heraushole. Morgen früh sind wir weit genug.« Sam war platt. »Das wollen Sie tun?« hastete er dann freudig. »Ich .denke, Sie sind Marshal?« »Yeah – aber von Texas. Es ist auch möglich, daß mich niemand sieht.« »Danke, Mr. Carradine – danke. Wenn Sie es nicht getan hätten, hätte ich es versucht. Ah, deshalb haben Sie den Riegel der Jailtür hochgeklemmt?« »Aye«, grinste Carradine. »Und deshalb hat uns Hogset durch das Jail heimgeschickt. Ach, das werde ich ihm nie vergessen.« »Er ist ein feiner Bursche, Sam.« Carradine erhielt Tobys gesatteltes Pony und ging mit ihm durch eine dunkle Nebenstraße zu seinem Hotel. Dort sattelte er in Ruhe sein Pferd, ging in sein Zimmer und kam dann wieder zurück. Das Geld für die Rechnung hinterlegte er bei dem Barkeeper. Draußen nahm er die beiden Pferde und ging wieder durch die Nebenstraßen zum Jail zurück. Dort band er die Pferde an einen Haken, öffnete vorsichtig die Hintertür des Jails. *
Rodney Hogset sah der hohen Gestalt Carradines nach. Dann suchte sein Blick die Augen seiner drei Hilfsmarshals. Aber die grinsten ihn nur an. »Wir werden eine Partie pokern«, sagte Hogset und holte ein Kartenspiel aus der Schreibtischschublade. »Es ist ruhig draußen«, sagte Beckers gähnend. »Ich glaube, wir gehen rauf und legen uns aufs Ohr.« »Es wird gepokert«, legte Hogset die Karten auf den Tisch. Er mußte die drei Hilfsmarshals als Zeugen haben, daß er ahnungslos im Oderly Room war, als Toby herausgeholt wurde. »Haben Sie auch genügend Geld, Sheriff?« grinste Henley ihn an. Es war bekannt, daß Hogset ein schlechter Spieler war. Der Sheriff zog ein saures Gesicht. Dann spielten sie. Hogset verlor. Immer wieder schielte er zur Uhr. Auch die drei sahen sich verstohlen an. Hogset verlor wieder. Wenn Carradine noch lange machte, wurde er ein armer Mann. Dann war im Jail ein Geräusch, als würde die etwas knarrende Tür der Hinterwand geöffnet. Augenblicklich begann Hogset laut zu fluchen. Verdammtes Pech. Er sei unter die Falschspieler geraten. Sie zögen ihm das Hemd aus. Die drei warfen sich verständnisvolle Blicke zu. Sie hatten auch das Knarren gehört. Und dann begann zuerst Beckers laut zu schreien. Unverschämtheit. Man habe nicht nötig, sich einen Falschspieler nennen zu lassen – auch von einem Sheriff nicht. Gemeinheit, schimpfte Henley, so laut er konnte. Wie doch so
ein schwerverdienender Beamter an seinen paar Möpsen klebe. Sie machten einen Radau, daß nicht ein Laut mehr aus dem Jail zu ihnen drang. Selbst, als Carradine die Tür zu Tobys Zehe öffnete und ihm die Schlüssel auf den Boden fielen, hörten sie drinnen im Orderly Room keinen Laut. Immer lauter wurde ihr Gezänk. Zwischendurch grinsten sie sich an. »Los, Toby – steh auf!« raunte Carradine dem Jungen zu, den die Schulter höllisch schmerzte, als er sich aufrichtete. Er hatte wach gelegen. Er konnte nicht einschlafen. Er dachte an Hilde Wagner, an Sam, an Kennecott, an seinen Vater und die Bürger dieser Stadt, die morgen seinen Kopf haben wollten. Er war bis ins Mark verbittert. Der Tod der Frau, die für vier Jahre seine Mutter gewesen war, würgte wie ein Kloß in seinem Schlund. Er hatte Fieber. »Mach schnell, Junge, ich hole dich hier raus. Wir reiten sofort nach Süden«, hastete Carradine auf ihn zu. »Wie, wie sind Sie denn hier reingekommen?« »Das spielt keine Geige. Los, steh endlich auf. Dein Pony ist draußen. Morgen früh sind wir so weit weg, daß uns niemand mehr erwischt.« »Sony, Mr. Carradine. Sie sind ein guter Kerl. Ich bin Ihnen auch dankbar dafür, daß Sie mich holen wollen. Aber – ich bleibe.« »Wie bitte?« stieß Carradine den Kopf vor. Es war dunkel in der Zelle. Durch das Gitterfenster hoch oben an der Wand fiel der Mondschein in den kleinen, muffigen Raum. Sie sahen nur die Umrisse ihrer Gestalten und Gesichter.
»Bist du verrückt? Weißt du denn nicht, was sie mit dir vorhaben?« »Ich weiß es. Aber ich möchte trotzdem bleiben.« »Sie werden dich hängen«, sagte Carradine hart, um Toby abzuschrecken. Der aber stieß nur einen knurrenden Laut aus. »Das weiß ich alles. Ich bleibe dennoch, Mr. Carradine.« »Das kommt gar nicht in Frage, du gehst mit. Aber vielleicht erklärst du mir einmal, was du davon hast, wenn sie dich morgen sechs Fuß hochziehen. Das interessiert mich nämlich.« »Was ich davon habe? Daß ich ihnen die Wahrheit ins Gesicht schreien kann, das habe ich davon. Daß ich ihnen sagen kann, daß sie die Mörder von Mrs. Wagner sind. Sie alle, diese Bestien, diese feigen Kreaturen. Wenn sie mich nicht so verfolgt hätten, wäre ich bei dem Bankraub nicht dabeigewesen. Dann wäre nicht Mrs. Wagner, sondern ich hinausgegangen, um die Lampe auszulöschen. Sie würde heute noch leben. Nein, Mr. Carradine, ich bleibe hier.« Der Junge befand sich in einem derartigen Zustand der Verbitterung, daß mit ihm kein vernünftiges Wort zu reden war. Carradine überlegte krampfhaft, was er machen solle. Vom Orderly Room klang das Schimpfen der vier Marshals in das Jail. Die Männer in den Nebenzellen begannen zu fluchen. »Hör zu, mein Junge«, schlug Carradine einen anderen Ton an, »ich habe keine Lust, meinen Hals für einen Verrückten zu riskieren. Du stehst jetzt auf und kommst mit.« »Ich bleibe. Ich habe Sie nicht gerufen. Gehen Sie wieder. Ich habe gesagt, daß es nett von Ihnen war, aber jetzt möchte ich schlafen. Wenn Sie in einer Minute noch hier sind, schlage ich Krach. Ich lasse mir nicht nehmen, sie morgen vor Gericht beim Namen zu nennen, alle – Mörder sind sie. Mörder. Keine zehn Pferde bringen mich von hier weg.«
»Gut, dann eben nicht«, tat Carradine, als drehte er sich um. Toby wollte noch eine entschuldigende Bewegung machen, aber da fuhr der große Texaner auch schon herum, und ehe Toby noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, krachte es an sein Kinn, daß er in einem Meer von Funken und Sternen versank. »Dieser verdammte Dickschädel«, murrte Carradine vor sich hin, als er den Jungen auf die Arme nahm und fachgerecht die Zelle wieder verschloß. Diesmal legte er den Innenriegel der Hintertür leicht an, daß er bei dem anschließenden Ruck in die Halterung fiel und die Tür wieder verschloß. Draußen prallte er beinahe gegen eine kleine Mädchengestalt, deren Gesicht er im Mondschein genau erkennen konnte. »Was tun Sie denn hier?« barschte er unwillkürlich wütend, denn es durfte niemand etwas zu früh von Tobys Flucht bemerken. * »Wie sie sich das eigentlich vorstellt«, wanderte Humphrey Defoe im Hinterzimmer aufgeregt vor seiner Frau auf und ab. »Als ob ich der Präsident sei. Als ob ich etwas für diesen merkwürdigen Jungen tun könnte. Ho, Humphrey Defoe, der Retter der Banditen und Revolvermänner! Ich bin doch nicht verrückt. Nein, Cinda – ich bin in Kathleen vernarrt, das weiß sie. Ich erfülle ihr jeden Wunsch, wenn ich es kann. Aber da mache ich nicht mehr mit.« Cinda Defoe war eine kleine, gepflegte Frau mit ruhigen Braunaugen und dunkelblonden Haaren. »Ich glaube nicht, daß sie sich in ihn verliebt hat«, sagte sie langsam. »Vergiß nicht, was wir alles über den jungen Mann gehört
haben. Es wurde sehr schlecht über ihn gesprochen, und es waren auch sehr viele Leute da, die ebenso gut über ihn sprachen. Ich meine, es ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der Jugend, für die wir nicht mehr das richtige Verständnis haben. Sie haben den Jungen sehr schlecht behandelt. Daß er schließlich den Bankraub mitmachte, ist nicht einmal ein Wunder.« Defoe warf mit einem verzweifelten Schrei die Arme in die Luft und klagte die Zimmerdecke an. »Tsss. Es ist also durchaus normal, daß ein junger Mann eine Bank beraubt? Cinda, ich muß doch sehr bitten. Schluß jetzt! Ich will von diesem Burschen kein Wort mehr hören. Schließlich bin ich hierher gekommen, um mit meinem Hengst das Rennen zu gewinnen und nicht, mir den Kopf über jugendliche Verbrecher zu zerbrechen, die auf meine weiblichen Familienmitglieder anziehend wirken.« »Humphy«, erhob sich die Frau und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Du hast sehr viel Geld. Du bist ein angesehener Mann. Du kannst viel erreichen, was andere nicht erreichen. Kathleen hat dich nur gebeten, dich davon zu überzeugen, daß der Junge unschuldig viele Jahre sehr schlecht behandelt wurde und ihm nach Möglichkeit zu helfen. Weiter nichts. Sie hat sich nicht in ihn verhebt, und es besteht auch keine Gefahr, daß sie es tut.« »Schön, das war also die Beruhigungspille. Und was soll ich nun tun, du kluges Mädchen? Soll ich das Jail in die Luft sprengen und mir den Jungen einrahmen lassen? Ich habe Geld. Ja, dafür habe ich auch Jahrzehnte wie ein Kuh geschuftet. Aber es gibt Dinge, die man mit Geld nicht machen kann. Ich glaube auch nicht, daß er seine Pflegemutter erschossen hat. Gut, bleibt Bankraub. Was kann ich an einem Richterspruch ändern, zum Teufel?« »Nicht fluchen, Humphy, Dir tut der Junge doch auch leid,
nicht wahr? Er ist stolz und wild wie ein Mustang. Aber er ist gut. Ich habe seine Augen gesehen, als er vor unserem Wagen stand. Zuerst hatte ich Angst vor ihm, aber dann nicht mehr. Er hat gute Augen. Du mußt ihm helfen.« »Gute Augen! Verrückt! Total verrückt! Wie soll ich ihm denn helfen? Wie?« »Überlege, Humphy. Du hast bis jetzt jede Situation gemeistert, für die du dich interessiertest.« »Wäre ich doch nie in diese verdammte Stadt gekommen!« rief der Rancher wütend. »Du mußt mit den Leuten der Jury sprechen, Hump.« »Ach!« »Ja, es sind alles Geschäftsleute…« »… die Geld brauchen, nicht?« Sie lächelte ihn an, daß seine Ohrläppchen zu glühen begannen. Dann ging sie in das Nebenzimmer, um ihre Tochter zu beruhigen. Aber Kathleen war nicht da. Ihr Zimmer war leer. * Zu jeder anderen Zeit hätte Carradine vielleicht einen interessierten Blick für das Mädchen übriggehabt. Sie war goldblond. Ihr Gesicht ebenmäßig und glatt, die Augen groß. Als sie die schlaffe Gestalt in seinen Armen sah, zuckte sie erschrocken zusammen. »Das, das ist Toby, nicht wahr?« fragte sie stockend. »Yeah, das ist Toby, und der Teufel wird Sie holen, wenn Sie sich jetzt nicht ganz still entfernen, Miß.« »Was, was haben Sie ihm getan, was wollen Sie mit ihm?« »Ich habe ihm eine geklebt, weil er morgen früh gehängt
werden wollte und was ich mit ihm tue? Verschwinden, werte Miß – so, und jetzt habe ich keine Zeit mehr für Sie. Wer sind Sie eigentlich?« »Ich heiße Kathleen Defoe, Mr. Carradine.« Carradine legte den Jungen quer über seinen Sattel und schwang sich auf sein Pferd, nahm Kids Pony an die Zügel. »Woher kennen Sie mich?« »Ich habe doch gesehen, wie Sie den Signalschuß abgaben. Ich hielt Sie für seinen Freund, habe mich nach Ihnen erkundigt.« Der Texaner nickte. »So ist das? Und was tun Sie hier an der Hintertür?« »Dort ist doch das Fenster zu seiner Zehe, nicht?« Sie deuete auf ein kleines Fenster. Carradine nickte. Sie holte einen Revolver hervor. »Hier, den wollte ich Toby geben. Damit konnte er vieheicht morgen fliehen.« »Ah – Kathleen Defoe, sagten Sie? Wo wohnen Sie?« »Mein Onkel hat eine Ranch im San Louis Tal. Ich bin bei ihm eingeladen, wohne seit ein paar Wochen dort. Aber dann fahre ich wieder nach Texas zurück.« »Sie sind Texanerin?« »Yes. Mein Vater hat eine Ranch bei Hansford.« »Im Panhandle Distrikt. – Hm. Wir reiten nach Texas. Es ist möglich, daß wir bei Hansford vorbeikommen. Aber ich kenne dort keinen Defoe.« »Nein. Es ist auch mein Pflegevater. Er heißt Olney.« »Ach nee, der große Olney? Das ist ja interessant. Wir sind sehr gut bekannt.« »Ich werde bald wieder heimfahren, Mr. Carradine. Bitte, kommen Sie uns doch besuchen.«
»Das werden wir vielleicht, Miß Kathleen, wir…« In der Stadt peitschten Schüsse durch die Nacht. Männer schrien. Ein Tumult brach los. »Das kann oben an Fourth Street sein«, sagte Carradine leise. »Mein Gott, Sie müssen fliehen – reiten Sie – man hat es entdeckt.« »Nein, das Jail liegt still. Nein, es ist etwas anderes. Leben Sie wohl, Miß. Ich werde Toby sagen, daß Sie einen Revolver für ihn hatten. Kennt er Sie?« »Ja«, rief sie ihm nach, »er hat vor unserem Wagen gestanden.« Vorsichtig lavierte Carradine sich durch die Hinterfront der Mainstreet zum Kirchplatz. Als Toby endhch das Bewußtsein wiedererlangte, ritten sie gerade an den letzten Häusern vorbei. In der Stadt war der Teufel los. Schüsse peitschten, Männer schrien. Dann saß Toby im Sattel seines Ponys, rieb das geschwollene Kinn. »Sie schreiben aber eine mächtig gute Handschrift, Mr. Carradine.« »Und wenn du Miene machst, mir auszuwischen, dann schreibe ich noch besser. Hör dir das an! Die schießen sich gegenseitig Löcher ins Fell.« »Da sehen Sie, daß meine Flucht Unsinn war. Ich muß zurück.« »Die Klappe mußt du halten, mein Sohn. Jetzt hör mal gut zu, damit wir über das Thema nicht mehr zu reden brauchen. Ich habe dich nicht aus dem Loch geholt, um meinen Posten zu verlieren. Ich bin immerhin Marshal, auch wenn dir das nicht schmecken sollte. Du bist störrisch wie ein Maulesel. Halt den Mund, Sonny, ich bin jetzt dran. Die da drinnen spie-
len verrückt. Sie wollen dich aufknüpfen, weil du für sie so etwas wie ein Spiegel bist, in den sie nicht gern reinschauen. Du bist mir zu schade, um von einer Handvoll Idioten gelyncht zu werden. Ich habe andere Sachen mit dir vor, und du parierst, sonst geht es dir schlecht. Und was die Schießerei betrifft – es gibt noch eine ganze Menge Leute, die endlich wachgeworden sind und den anderen jetzt Mores beibringen. In den Fight gehörst du nicht rein. Wir reiten jetzt nach Texas, verstanden? Und wenn du Miene machst, einen störrischen Gaul zu reiten, dann verabreiche ich dir eine zweite Bleipille – bis du wieder klar im Oberstübchen bist. Du bist schnell, mein Junge – aber ich bin cleverer als du. Los jetzt! Palaver aus! In zwei Jahren wirst du sie alle mal besuchen. Dann kannst du machen, was du willst. Jetzt wird gemacht, was ich will, und das ist – Süden! Immer nach Süden!« »Eine Flucht ist ein Eingeständnis meiner Schuld, Mr. Carradine.« »Richtig, mein Junge. Aber besser als ein Grabstein. Ich zweifle sogar, daß man dir einen setzen wird. Im übrigen soll ich dir einen Gruß von Kathleen Defoe bestellen.« Nachdem er Toby erklärt hatte, wer sie war, begann der Junge schweigend vor sich hinzubrüten. * Als Scotty und Hal Wesson im Hause des Richters verschwunden waren, machte sich Mrs. Christensen an Roy Docherty heran. »Wenn sie Frank zwingen, die Anklage zurückzunehmen, wird Toby wieder freigelassen werden«, zischte sie eindringlich. »Was uns dann allen blüht, könnt ihr euch wohl lebhaft vorstehen.«
»Und was soll ich daran ändern?« zuckte Docherty die Schultern. »Sehen Sie sich doch die Weidereiter an, sie fackeln nicht lange. Sie schießen besser und auch schneller als wir.« »Ihr seid der Bürgerrat, ihr seid die Jury. Ihr habt es nicht nötig, euch von stinkenden Kuhtreibern die Tür vor der Nase zuschlagen zu lassen. Sie werden vom Richter einen Entscheid bekommen, dann wird der Teufel los sein. Toby weiß genau, daß du es warst, der Hogset damals auf die Spur der Bande brachte. Du wirst einer der ersten sein, die er erschießt. Wer will sich gegen ihn wehren, wenn er frei ist? Er wird uns alle erschießen, glaub mir, Roy. Ihr müßt gleich etwas unternehmen. Ihr seid bald dreißig Männer, sie nur fünfzehn. Schreit es heraus, daß es eine Erpressung ist. Wenn sie dann zu den Waffen greifen, sind sie im Unrecht. Ihr könnt sie der Reihe nach abschießen, ohne daß euch das geringste passieren kann. Los, bist du ein Mann oder ein Schaf, das darauf wartet, bis es zerrissen wird?« Sie hat recht, dachte Docherty. Wie er es auch drehte, sie hatte recht. Als Roy Docherty sich genügend in Rage gedacht hatte, quetschte er sich durch die Männer und begann mit Silver Cruikhart und Henry Gloster zu tuscheln. Die schienen nur darauf gewartet zu haben. Im Handumdrehen war die Parole von Mann zu Mann gegangen. Nur die Weidereiter und die Männer Hal Wessons hatten nicht die geringste Ahnung. Ihre Wachsamkeit hatte auch schon allein aus dem Grunde nachgelassen, weh ja sowieso in einigen Minuten alles zu Ende war. »Schwindel!« gellte plötzlich eine Stimme in die erwartungsvolle Stille. »Ahes Schwindel! Frank Christensen steht unter Drohung. Keine Anklage wird zurückgezogen. Die Jury und der Bürgerrat weigern sich, einen Banditen und Mörder zu be-
freien, der an den Ast gehört.« Die Männer wurden mit jedem Schrei stärker. Ehe sich die verblüfften Weidereiter vom ersten Schreck erholen konnten, drängte schon eine drohende Mauer auf sie zu. Revolverläufe blitzten im Mondschein. In der Etage des Richters wurde das Fenster aufgerissen. Seine Ehren erschien mit dem Barett und brühte hinunter, aber inzwischen hatte sich schon eine wüste Schlägerei entwickelt. Die harten Fäuste der Weidemänner schafften sofort Platz, als schwängen sie Dreschflegel. Dann fiel der erste Schuß. Vom Sidewalk kam er. Niemand ahnte, daß Mrs. Christensen der Schütze war. Aber alle sahen, daß die Kugel einem Weidereiter in den rechten Arm fuhr. Das schien das Signal gewesen zu sein. Rasch war die Straße leer. Schüsse jaulten in die Bretterwände. Die Partei Tobys verschwand in Spalten, Ritzen und hinter Pfosten und Fässern auf der Seite des Richterhauses. Die Bürger wurden vom tiefen Schatten der anderen Seite verschlungen. Die Detonationsblitze auf beiden Seiten ließen für Sekundenbruchteile huschende Gestalten erkennen. Einer brühte getroffen auf. Wieder andere fluchten. Der Richter verschwand wie ein geölter Blitz aus dem Fenster, knallte es zu und ließ sich ächzend in einen Sessel fallen. Frank Christensens Gesicht hatte sich zuerst wie ein Sonnenaufgang erhellt, dann, als ihm Scotty unmißverständlich die Coltmündung in die Rippen stieß, war er wieder grau geworden wie ein ungewaschenes Taschentuch. Mit einer unheildro-
henden Ruhe zog sich der Richter die Hosen über das Nachthemd und wand seinen Revolvergurt darüber. Dann blieb er vor Scotty und Hal stehen. »Das wird aber diesmal ein teurer Spaß, Gents. Und jetzt haben Sie hoffentlich genug Mumm, zu erklären, was hier tatsächlich gespielt wird«, bohrte er seine Augen in Franks zuckendes Gesicht. Aber Frank sagte keinen Ton. Da brühte Seine Ehren plötzlich auf. Das erstemal seit den zehn Jahren, die er in Leadville tätig war. »Mann, unten schießen sie sich gegenseitig Löcher in den Bauch! Ich will jetzt wissen, ob die Anklage freiwillig zurückgezogen wurde oder nicht, sonst sperre ich Sie noch länger ein, als diese beiden Halunken hier!« »Ich – wir es – freiwillig, Sir«, stotterte Frank, der wie in einem Dampfbad schwitzte. »Ich habe etwas anderes gehört. Los, mitkommen. Und wenn mir einer eine Waffe anrührt, betrachte ich das als persönliche Bedrohung und werde sofort schießen. Runter mit euch Bande.« * Wenn die Schießerei nicht gewesen wäre, oder wenn sie nur eine halbe Stunde später begonnen hätte, wäre Hogset sein ganzes Geld losgeworden. Einen Schein nach dem anderen blätterte er auf den Tisch und nahm – während er Toby und Carradine wegen ihres langen Palavers, das er sehr wohl hörte, verfluchte – wehmütig Abschied von seinen sauer verdienten Dollars. Die Hands beteten inständig, Carradine möge sich drinnen im Jail noch Zeit lassen. Sie fluchten und grölten immer lauter, um das Theater im Jail mit wenigstens einigerma-
ßen gutem Gewissen zu überhören, aber das war beim besten Willen unmöglich. Dann wurde es plötzhch ruhig. »Ich habe keine Lust mehr«, sagte Hogset rasch, als eine Minute lang nichts mehr zu hören war. Aber Beckers linste ihn scheinheilig grinsend schräg von unten an, während er einen raschen Blick mit seinen Freunden tauschte. »Ist das nicht ein bißchen auffällig Sheriff?« hustete er, »ich meine, es kommen die verrücktesten Situationen im Leben vor. Man kann zum Beispiel gefragt werden, warum man nur eben so und so lange gespielt hat und nicht länger. Wir sind Ihre Freunde, Sheriff, aber wir sind auch wahrheitsliebende Männer, nicht, Boys?« Notgedrungen mußte Hogset das Spiel verlängern. Am liebsten wäre er Beckers mit einem gewissen Körperteil ins Gesicht gesprungen. Die fünf Minuten bis zum Beginn der Knallerei kostete ihn hundertfünfunddreißig Dollar, die er knirschend in den unersättlichen Taschen der Männer verschwinden sah. Dann aber ließen sie die Karten entgeistert sinken. Einen Augenblick lauschten sie. Dann jagte Hogset hoch. »Da sind ja zwei Vereine aneinandergeraten«, sagte Beckers gähnend. Hogset rückte seinen Waffengurt zurecht. Einen Moment hatte er tatsächlich gedacht, Carradine sei so verboten blöde gewesen, zum Nordende der Stadt hinauszureiten und den Bürgern in die Hände gelaufen; dann aber hörte er an den Detonationen, daß sich dort mindestens drei bis vier Dutzend Leute gegenüberlagen. Schon eilten die ersten Frauen jammernd draußen auf dem Sidewalk vorbei.
»Raus mit euch«, riß Hogset dieTür auf. »Und daß ihr mir nur ja nicht wie Schießbudenfiguren mitten auf der Straße lauft. Es wird nicht geschossen, kapiert?« Er nahm sich nicht die Zeit, sein Office abzuschließen, fegte gleich die Mainstreet entlang in die Fourth Street. Schon von weitem sah er die Blitzlichter der Schüsse, hörte das Fluchen und Schreien. Dann jagte er im Schatten des linken Sidewalks heran. Als ihn kaum noch zehn Schritt von den Grenzen der einzelnen Parteien trennten, leerte er brühend seinen Colt in den Himmel und sprang mitten auf die Straße. Es gab nicht einen, der seine Donnerstimme nicht erkannte. Augenblicklich wurde das Schießen eingesteht. »Ihr seid wohl vom wilden Affen gebissen, wie? Los, alles rauskommen, damit ich euch einzeln meine Faust in die dämlichen Visagen setzen kann. Raus, aber ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf.« Dabei lud er mechanisch seinen abgeschossenen Colt auf. Die drei Hands traten neben ihn. »Sie haben Frank gezwungen, die Anklage zurückzuziehen. Das lassen wir uns nicht bieten.« »Sie halten es mit Toby. Sie wollen ihn rausholen und auf uns hetzen. Du mußt sie einsperren, Sheriff, ahe von der Würfel-M und Hal Wesson und…« »Gut, daß Sie das sind, Sheriff«, trat der Richter würdevoll mitten auf die Straße. Hinter ihm der zitternde Frank Christensen, Scotty und Wesson. Sie machten ziemlich betretene Gesichter, waren aber dennoch fest entschlossen, sich auf jeden Fall durchzusetzen. »Wenn du nicht bei der Stange bleibst, bist du geliefert«, flüsterte Scotty blutvergießerisch dem Sattler ins Ohr, worauf sich der Richter umdrehte und mit vollendeter Höflichkeit meinte,
er möchte sein ungewaschenes Maul halten. Es stellte sich heraus, daß einige der Cowboys Schulterwunden und Armverletzungen hatten und zwei der Bürger Oberschenkel und Brustschüsse hatten. Viele hatten Kratzer erwischt. »Roy Docherty ist tot«, zerrte einer den Toten hinter einer Kiste hervor. Bunny Hesterly hatte durch einen absplitternden Holzspan ein Auge verloren. Als Frank die Verwundeten sah, begann er am ganzen Körper zu flattern. »Ich habe die Anklage zurückgezogen«, sagte er leise, nachdem der Richter Ruhe geboten hatte. Die Bürger begannen zu toben, aber da donnerte der Richter dazwischen. Mittlerweile hatte sich die ganze Stadt mit Menschen gefüllt. Und plötzlich gab es immer mehr Stimmen, die dafür waren, daß man dem Jungen eine Chance gab. Niemand sah, wie der Rancher Defoe und ein junges Mädchen verstohlen Geldscheine verteilten. Es ließ sich nicht mehr feststehen, wer den ersten Schuß abgegeben hatte. »So sieht es also aus, wenn total bornierte Idioten verrückt spielen«, begann Hogset zu toben. »Im Jail sitzt ein Junge, der keinem von euch ein Härchen gekrümmt hat und vor dem sie alle bis an die Hemdkragen die Hosen voll hatten. Und jetzt schießen sie sich gegenseitig Löcher in die Hemden. Eine Herde seid ihr. Geht heim und legt euch endlich auf die Ohren, damit morgen in Ruhe – hahaha – das Rodeo beginnen kann.« Es gab noch viel Palaver, bis sich schließlich alles zerstreute und Hogset von dem Richter den Befehl erhielt, unverzüglich den Jungen in Freiheit zu setzen und ihn vorzuführen. »Und beeilen Sie sich, Sheriff – ich möchte endlich schlafen in diesem verfluchten Irrenhaus«, hörte man seine Stimme
dröhnen und die schwere Eichentür ins Schloß fallen. Kein Mensch konnte sich erklären, warum der kleine Sheriff nicht ins Jail, sondern spornstreichs in den Stall rannte und Sekunden später auf ungesatteltem Gaul durch die Stadt flitzte, als seien die Apachen hinter ihm her. Niemand als die drei Hands und eine gewisse junge Dame erfuhren es auch je. Vier Meilen vor der Stadt holte Hogset die beiden ein. »Zurückkommen!« rief er. »Sind Sie verrückt, Sheriff?« »Nein, aber ich werde es, wenn ihr mir nicht direkt folgt. Es darf keiner etwas merken. Die Anklage ist zurückgezogen worden. Die Weidereiter und Hal Wesson haben ihnen Dampf in die Hosen gemacht. Du bist frei, Toby, aber ich muß dich dem Richter vorführen. Wenn er erfährt, daß du ausgebrochen bist, als du noch Gefangener warst, bin ich den Stern los.« »Hahaha!« lachte Carradine glücklich. »Eben habe ich ihm gesagt, er solle sie nicht alle über einen Kamm scheren. Ab Toby! Jetzt wird erst deine Kugel aus der Schulter geholt. Die Unze Gewicht kannst du entbehren.« »Aber ich war doch an dem Bankraub beteiligt«, stotterte Kid halb verlegen, halb störrisch. Da drängte Sheriff Hogset sein Pferd ganz dicht an ihn heran und hielt ihm seine Faust unter die Nase. »Wenn du vergißt, daß du nur zufällig dort gestanden hast und etwas frische Luft schnappen wolltest, schlage ich dir das Hemd in Flammen, verstanden, du Brummochse, oder denkst du etwa, ich habe drei Monatsgehälter für nichts und wieder nichts geopfert?« Sie verstanden kein Wort. ENDE