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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Fantasy Spezial
Zauberträume 2
'Zauberträume' ist eine kost...
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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Fantasy Spezial
Zauberträume 2
'Zauberträume' ist eine kostenlose Science Fiction Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Zauberträume 2 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
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Inhalt Cover von Sylvia Polster Kein Blick zurück
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von Sven Jeworoski Der mächtige Galactus löscht die Welt der Fantasie aus. Aber ´der Mann ohne Namen´ holt ´Sissi´ zur Hilfe!
Drachenflug
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von Waldläufer Das mächtige Wesen durcheilt die Lüfte. Im Einklang mit Natur und Erinnerungen...
Der Drachentöter
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von Waldläufer Ich hatte wohl schon alles gesehen. Aber auf diese Begegnung war ich nicht vorbereitet...
Die letzte Strafe
16
von Alexander Kaiser Eine schöne junge Frau, Pro und Contra sollen prüfen, ob die Menschheit würdig ist zu überleben.
Der hübsche Bauernjunge
19
von Irene Salzmann Als der Fremde ins Dorf kommt und einen Bauernjungen als Begleiter mit sich nimmt, ahnt er noch nicht, welche Überraschung ihm bevor steht...
Maskenspiel
31
von Christel Scheja Wie kann ich es nur erreichen, dass ein Menschen-Mann mich liebt? Schließlich bin ich in ihren Augen ein Monster, das im Wald haust. Aber ich finde einen Weg...
Viyamis Gaben
35
von Christel Scheja Die Goldschmiedegesellin wird von einem 'Gefährten', einem Wesen, die wie weiße Pferde erscheinen, erwählt, doch sie hat ihre Bestimmung bereits gefunden.
Ein Tag im Leben eines Postreiters
39
von Andrea Tillmanns Die aberwitzigen Erlebnisse aus der Arbeitswelt eines Postreiters.
Der Tanz
41
von Andrea Tillmanns Die Zauberin liest die Zeichen der Schlangenbeschwörung; und sie sprechen von großen Dingen.
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Kein Blick zurück von Sven Jeworoski
Der mächtige Galactus löscht die Welt der Fantasie aus. Aber ´der Mann ohne Namen´ holt ´Sissi´ zur Hilfe!
Gab es jetzt überhaupt noch eine Hoffnung? Der Regen prasselte auf das Schlachtfeld herab, das im Halbdunkel dalag, wie ein Friedhof. Wilde Wolken türmten sich am Himmel. Die Kälte griff unnachgiebig nach mir, obwohl ich mich an den alten rostigen Ofen kauerte, in dem das letzte Feuer der Welt loderte. Mein langer Mantel hing klitschnaß an mir herunter, meine Haare mußten mir wohl wirr vom Kopfe abstehen und meine Augen waren des Sehens müde. So hatte ich mir das Ende der Welt nicht vorgestellt! Noch vor wenigen Tagen war ich zusammen mit all den anderen durch neonhelle Korridore gestürmt - die Strahlenwaffen und Schwerter im Anschlag - und war in die ´Letzte Bibliothek´ vorgedrungen. Die Sanduhr war noch nicht abgelaufen gewesen. Sicherlich, das Schreien der Raben am Himmel und die obskuren Muster unserer Orakelknochen hätten uns Warnung genug sein müssen, aber wir waren nach Monaten zähen Ringens endlich im letzten Kapitel angelangt gewesen. Der Spannungsbogen hatte uns in das Finale getrieben, und irgend jemand wollte erfahren haben, das es jetzt nur noch 13 Seiten wären bis ENDE. Ich seufzte, und Schmerz zog quer durch meinen Leib. Auf die Beine zu kommen, das schien mir im Moment ein unmögliches Unterfangen zu sein. Also blieb ich beim Ofen hocken. „Nur noch ein paar Atemzüge!“ dachte ich. Es brausten Stürme um die verkohlten Mauern und durch die Fensterlöcher hinein zu mir. Reif begann sich auf meine Bartstoppeln zu legen. Wieder mußte ich husten. Wo mochten Willi und Peter sein, wo Lancelot und Tarzan? Wahrscheinlich waren sie längst tot. Ich hob mühsam den Kopf und spähte durch ein Loch im Mauerwerk hinaus auf die Ebene. Hier war das furchtbare Gefecht vor einer Stunde zuende gegangen. Wenn ich die Augen zusammenkniff, dann glaubte ich die Leiber meiner gefallenen Freunde gegen das Himmelsdunkel erkennen zu können. Die Heere des Galactus hatten grausam gewütet. Wir hatten zu spät erfahren, daß sich der Welten-Schänder mit Dracula, Dr. Mabuse und Rumpelstilzchen verbündet hatte, um König Artus vom Thron zu stoßen und Siegfried zu töten. Durch allerlei Heimtücke war es der Geliebten von Galactus, dieser Sue-Ellen, gelungen, den Schlüssel zur ´Letzten Bibliothek´ an sich zu bringen, bevor Pandora ihn Cassandra geben konnte, oder Commander Scott mit seinen Alpha-Mutanten zur Stelle war. So also war es Galactus möglich gewesen, uns in den Hallen der ´Letzten Bibliothek´ zu erwarten. Er hatte die Kinder aus Bullerbü als Geiseln genommen. Nie werde ich das zerfurchte Gesicht von Captain Ahab vergessen, als er die Harpune auf das Herz von Elfe Glöckchen richtete und Peter aufgab. Dieser Triumph hatte ein unheiliges Feuer in die Augen des Wahnsinnigen gezaubert und alle waren wie gelähmt gewesen. „Freunde, denkt nicht an mich! Denkt an die Welt der Gedanken und Träume! Sie darf nicht an Galactus fallen!!!“ Mit diesem wahrlich heroischen Ausruf hatte sich die Elfe direkt auf die Spitze der Waffe geworfen und war augenblicklich zu Glitzerstaub zerstoben. Dann - nach ein paar Herzschlägen, während derer sich die dunklen Schergen des Galactus und unser Bund der Heldenwesen schweratmend gegenübergestanden hatten - dann hatte der Kampf um die letzte Fantasie begonnen. „Vernichtet die Lieblinge der Träumer!“ hatte Galactus geschrien. 4
So war das gewesen. - Teufel auch! Ich hustete und zog mir den nassen Mantel enger um die Schultern, als würde das irgendeinen Nutzen haben können. Jetzt, nur wenige Stunden nach den Ereignissen in der ´Letzten Bibliothek´, hatte das Böse alles Gute ausradiert. Die Heerscharen des Dunklen, alle Vampire, Geister, Kobolde, alle bösen Königinnen und herzlose Mütter, alle verrückten Genies, alle Feinde aus den Parallel-Universen, sämtliche düsteren Zauberer, Lurche, Zecken und Waldfurien, ja, auch alle Psychopathen, alle Ketzer, Tagediebe und Trunkenbolde, und sogar die Drachen und Klabautermänner, die weißen Haie, die Mörderameisen und Godzilla, waren über uns Helden hereingebrochen, wie eine Flutwelle aus der Dichterhölle. Als Ersten hatte es Supermann davongefegt, danach Mary Poppins. Ich erinnerte mich nicht mehr genau an die Abfolge der Ereignisse, die die Schlacht bestimmt hatten - zu grauenhaft waren die Eindrücke gewesen und zu aufgewühlt mein Gemüt, um all das richtig zu erinnern - aber es wirbelten, losgelöst aus jedem Zusammenhang, Szenenfetzen durch meinen Geist und quälten mich. Winnetou hatte am Boden gelegen, Hans im Glück war aufgespießt worden, Charly Chaplin hatte bitterlich geweint. Ich erinnerte mich, daß Tante Polly und die Glücksbärchis in einer Salve gestorben waren. Captain Kirk war zu spät gekommen, ebenso wie Donald Duck und Zorro. Sie waren von Dr. Satanas erwischt und in Würmer verwandelt worden, die dann von einem Zyklopen zertreten wurden. Zwar hatten es Derrick, Urmel aus dem Eis und die gute Fee versucht, Dr. Satanas in eine Erdgrube abzudrängen, doch kurz bevor ihr Plan aufgehen konnte, war der böse Ming erschienen und hatte sie allesamt vaporisiert. Noch immer hörte ich sein schäbiges Lachen....Ah, dieser Teufel! Ich seufzte abermals und schüttelte die Bilder vom Tod all meiner Freunde mühsam ab. Nun hatte ich mich lange genug ausgeruht. Meine Mission mußte zuende gebracht werden. Dabei durfte ich auch weiterhin keine Hoffnung haben! Hoffnung konnte von Galactus aufgespürt werden. Er hatte ein Gefühl für Hoffnung und er haßte sie. Also konzentrierte ich mich weiter darauf, nicht an den Erfolg meines Unternehmens zu glauben. In der Brusttasche meines Mantels steckte der Gegenstand, den ich aus den Wirren des Massakers hatte retten können. Ihn mußte ich nun zurückbringen, zurück in die Trümmer der ´Letzten Bibliothek´. Hier galt es, das richtige Buch zu finden (hoffentlich war es noch nicht verbrannt!). Notfalls würde ich bei den Sachbüchern suchen... Also wuchtete ich mich zurück auf meine Füße und humpelte die Mauer entlang zur Türe, die in den Angeln hing und im Wind quitschte. Ich trat in den verwüsteten Vorgarten und versank augenblicklich knöcheltief im Schlamm. Der Regen peitschte mich aus. Nach wenigen Metern war ich vor Kälte taub bis auf die Knochen. Aber ich mußte zurück. Zurück! Und keine Hoffnung fühlen! Nein! Nicht!! Tarzan war tot! Die Biene Maja war tot! Santa Clause war tot! So kroch ich zitternd durch das verwüstete Land und Schritt für Schritt den Hang hinauf, auf dessen höchster Stelle die Ruine der ´Letzten Bibliothek` wie eine Klaue aus Mauerwerk in den Himmel zu greifen schien, so als wolle sie sich dort wütend festklammern und ihr Versinken in Dreck und Elend verhindern. Keine Hoffnung! Nur keine Hoffnung fühlen! Und ich begann das Böse zu preisen, um es zu täuschen. „Skelletor, Herr der Dunkelheit, verwüste die Welt!!“ „Captain Hook, Teufel der Meere, zerstöre Nimmerland!“ „Shabazza, Bringer des Chaos, vernichte Thoregon!“ Ich rutschte aus und schlug hin. Der Schlamm lief mir nun von den Haaren in den Kragen, als ich aufstand und weiterkroch. Blitze knisterten am Himmel. Endlich erreichte ich den Steinweg, der um das ehemalige Gebäude herumführte. Nun konnte ich schneller vorankommen. Eine Windboe fegte mich in das Dornengestrüpp zu meiner Linken. Verflucht, tat das weh! Ich durfte den Stab nicht verlieren! 5
„Teufel, Fürst der Hölle, breche Dr. Faust!“ Da sah ich den Eingang der Ruine. Das Tor war zwar zu Holzplanken zerschlagen, aber die Steinsäulen standen links und rechts noch immer. Auch das Dach des gewaltigen Baus schien noch weitgehend unversehrt zu sein. Ich lachte hysterisch auf und tastete instinktiv nach meiner Brusttasche. Dann erschrak ich! Ich hatte für eine Sekunde die Kontrolle verloren! Das mochte dem Bösen reichen. „Galactus, Zerstörer der Fantasie, banne die Hoffnung!“ schrie ich verzweifelt, so als könne ich meinen Fehler ungeschehen machen, aber da teilte sich schon der Himmel und ein tiefroter Blitz fuhr neben mir in den Boden. Ein Stromstoß schien mich zu packen, und trotz meiner Müdigkeit und Schmerzen jagte ich in das Gebäude hinein. Plötzlich konnte ich wieder laufen. Da ich die Hoffnung nun nicht mehr verbergen mußte, konnte ich ihr völlig nachgeben, und sie trug mich wie eine warme Welle durch die Nacht dieser Welt, die Galactus mit seinen Heeren geschaffen hatte. Wo war der Saal mit den richtigen Geschichten? Ich brauchte einen besonderen Mythos, in dem auch Wahrheit steckte. Vorbei an den Leichen von Winnie Pooh und seinen Freunden hastete ich den Hauptgang hinunter ins Zentrum des Kulturhauses. Ich ließ die Video-Ecke hinter mir und erreichte die belletristische Abteilung. Es gab einen Knall, und es roch augenblicklich nach Schwefel und saurer Sahne! Vor mir schälte sich ein Hüne aus rotem Feuer. Er hatte mächtige Schultern, einen Körper mit Beinen, wie Säulen so dick, und er trug eine Rüstung zu einem bizarren Helm, der sein Gesicht halb verdeckte: Galactus! „Ahhhhh!!!“ schrie das Überwesen und sah mich durchdringend an! „Ein Wurm ist übrig geblieben! Ein Träger von ´Hoffnung´, der klebrigen Pest!“ Mir blieben nur Sekunden! Ich schlug einen Haken, hielt dabei das Zepter fest an meine Brust gepreßt, und verschwand zwischen zwei sich hoch auftürmenden Regalen voller Bücher. „Bleib´stehen, Mißgeburt!“ dröhnte Galactus. Ich aber war ganz auf die vorbeiwehenden Buchrücken konzentriert.- Hier irgendwo mußte es doch sein... Da schlug ein weiterer Blitz ein, dessen grellrote Wucht eines der flankierenden Regale beiseite wehte. Ein Regen aus Büchern ging hernieder und begrub mich. Es mußten Dutzende von Kilos sein, die mich niederdrückten und mir fast die Rippen brachen. Wimmernd versuchte ich gleichzeitig das Zepter und meinen Kopf zu schützen. Für Sekunden war ich orientierungslos. Dann sah ich auf und begriff, daß ich noch lebte und mich bewegen konnte. Ich robbte aus dem Bücherwust hervor und mußte unvermutet auflachen: Direkt vor mit lag ein dickes Buch, und ein Blick genügte mir um zu wissen, daß es das Gesuchte war. Galactus hatte mir, ohne es zu wissen, geholfen. Als ich gerade meine Hand danach ausstrecken wollte, fiel ein Schatten auf mich. „Da bist du ja, lächerliche Kreatur des Lichts und des Glaubens!“ witzelte der Herrscher über die Welt. Galactus verzog sein Gesicht, und seine Augen schienen wie glühende Kohlen aus der Schwärze des Helms hervortreten zu wollen. Er verschränkte die Arme vor seiner gepanzerten Brust. „Was suchst du hier? Warum bist du nicht geflohen und hast dich versteckt? Warum hast du immer noch diese...ekelhafte...Hoffnung mich besiegen zu können? Ich habe alle Helden getötet! Wer soll mich jetzt noch bezwingen? Superman ist tot, Rhodan ist tot, ich habe die gute Fee zerschmettert und selbst Sailor Moon verbrannt!“ Beim Namen ´Sailor Moon´ zuckte ich zusammen. Das hatte Galactus gesehen. Er weitete seine Augen. Ungläubig starrte er zu mir herunter. Nun ging es um Sekunden! Ich warf mich nach vorne, zog gleichzeitig das Zepter hervor und packte mit der freien Hand das Buch vor mir. Ich schlug es irgendwo auf und hob die andere Hand hoch über mich in die Luft! „Sailor Moons Mondzepter!“ rief der Welten-Schänder. „Du hast das Zepter der Mondprinzessin!“ 6
„Macht des Mondes!“ schrie ich in die Nacht, „Erwecke das Gute und Reine!“ Und ehe der erzböse Galactus auch nur einen Blitz schleudern konnte, löste sich aus dem Zepter ein Schmetterling aus purem Licht und fuhr jauchzend in das Buch, das ich hielt. Eine Kaskade aus Gold und Silber sprühte aus seinen Seiten hervor, die augenblicklich Wärme verströmte und Vanille-Duft. Glöcklein erklangen und helle Stimmchen schienen zu jauchzen. Und dann schälte sich eine Frauengestalt aus dem Licht, bezaubernd und wunderlieb: Es war Sissi, die österreichische Kaiserin! „Na sowas!“ sagte sie, „Eben war ich noch beim Franzl, und nun bin ich hier. Was ist das für eine seltsame G´schicht?“ „Sissi!“ rief ich entzückt. „Sie sind es wirklich, Majestät! Dann hat die Welt noch Hoffnung, und das zu Recht!“ „Aber freilich!“ lachte die junge Kaiserin, die schon so manches Schicksalsjahr erfolgreich überwunden hatte. „Man soll immer hoffen, sagt der Pappa! Was gibt´s denn für Sorgen hier? Ist der Vertrag mit Ungarn wieder bedroht?“ „Schlimmer!“ gestand ich ungern. „Schlimmer?“ wiederholte die Kaiserin und klimperte süß mit den Wimperln. „Es wird doch nicht die Monarchie in Gefahr sein? Nein, bitt´schön, nur das nicht!“ „Sissi!“, sagte ich schnell. „Ich darf doch ´Sissi´ zu Majestät sagen..?“ „Aber freilich!“ kicherte die junge Kaiserin von Östereich, während Galactus langsam wieder zu sich kam, und Anstalten machte, sich zu räuspern. „Sissi, die Fantasie ist in Gefahr! Der große Kerl da...“, ich wies auf den Welten-Schänder, „der will die Macht an sich reißen und hat alle guten Helden getötet! Sie müssen uns helfen, Sissi! Nur Sie sind übrig. Sie und ich!“ „Und wer sind sie, wenn ich fragen darf?“ „Ich bin ´Der Mann ohne Namen`!“ „Nie gehört...“, murmelte das holde Kind nachdenklich, aber das war ja auch kein Wunder. „Ich bin ein Westernheld!“ erklärte ich, und Sissi nickte abwesend. „So, nun ist Schluß!“ dröhnte Galactus dazwischen und verdarb die zarte Stimmung! „Jetzt rotte ich euch zwei aus und gehe nach Hause!“ Der Mächtige holte zum Blitzschlag aus, da warf ich Sissi Sailor Moons Zepter hinüber, sie fing es geistesgegenwärtig. Ich rief: „Majestät! Jetzt ist es an Ihnen. Folgen Sie Ihrem Herzen, wie immer!“ Sissi, Kaiserin von Österreich und Idol der Massen hob das Mondzepter in ihren zarten Händen der Fratze des Monsterkriegers entgegen und sah ihn unnachgiebig an. Trotzig hatte sie ihr Kinn vorgereckt, ihre Augen funkelten böse, aber auch so, als wollte sie jeden Moment weinen über soviel Bosheit in der Welt, und dann sagte sie mit klarer Stimme: „Galactus, bitte schau in dein Herz. Ja, genau, das ist das Ding da links in deiner Brust, was immer so unruhig ist und voller Sehnsucht!“ Galactus sah verdutzt drein und packte sich tatsächlich an den Panzer. „Ja, genau das! Den Schmerz, den kenn´ich nur zu gut. Aber er darf uns nimmer bös´machen. Davon wird nix besser in uns´rer Welt. Wir verletzen nur all die, die uns lieben!“ „Mich liebt keiner!“ schnaubte Galactus, Zertrümmerer der Welten. „Aber nein, nicht doch!“ schalt ihn Sissi da und packte Sailor Moons Zepter noch fester. „Sowas darfst nicht sagen! Ein bisserl Liebe ist überall. Auch für dich! Schau, ich lieb´den Pappa, den Franzl und die Rehlein im Wald. Da werd´ ich dich grad mitlieben. Was sagst?“ Galactus sah verwirrt aus. „Was sagst?“ fragte Sissi ungerührt und ich brach vor Verzückung in die Knie. Nein, war sie nicht allerliebst, die Beste? Und machte sie Sailor Moons Zepter nicht endgültig zur Göttin? So sah das auch Galactus: Er sank zu Boden, wie ich, faltete die Hände und weinte plötzlich.
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„Verzeih mir meine Schlechtigkeit!“ jammerte er unvermutet, und ich hielt das noch für einen Trick, aber Sissi lächelte jetzt erleichtert, trat zu ihm, löste ihm den Helm und küßte ihn auf das zerfurchte Gesicht. „Ich bin die Schöne und du ein Biest!“ hauchte sie, „Aber das ist normal und wundert keinen Träumer!“ Galactus schluckte, verharrte für Sekunden in seiner grotesken Pose - umarmt von der leuchtenden Frauengestalt, die wie eine Sonne Leben verströmte - und begann dann einen langen Seufzer auszustoßen. Von Sekunde zu Sekunde wurde er kleiner, sackte regelrecht in sich zusammen und endete als winziges Getier in Sissis Hand. Er war zu einem Schmetterling geworden und erhob sich auf zarten Schwingen, um nun über das Land zu gaukeln. Schon hörte ich das Trappeln kleiner Füße. Dann lief mir der Pooh-Bär lachend entgegen, zusammen mit Ferkel und Mickey Maus. Als nächstes schritten Oliver Twist, Tom Sawyer und Spiderman um die Ecke, gefolgt vom Sandmännchen, Arielle, Richard Löwenherz, Robin Hood, Doktor Dolittle und Xena. Erleichtert kam ich auf die Füße, die schon nicht mehr schmerzten. Und während Sissi noch immer dastand und das Mondzepter hielt, stürmten all die Helden herbei, die schon fast verloren geglaubt worden waren. Ich sah Luke Skywalker und Kapitän Nemo, Momo und Sebastian Bux, Karlson vom Dach und Pippi Langstrumpf, Kasperle und Seppl, Gulliver, den Baron Münchhausen und natürlich auch all die anderen, die geliebt wurden. Endlich konnte die junge Kaiserin das Zepter senken. Eine schlanke Gestalt trat aus der Menge und auf Sissi zu. Ich erkannte sie sofort: Es war Bunny Sukino alias Sailor Moon. Das rehäugige Mädchen nahm der österreichischen Kaiserin den Zauberstab des Guten ab, und die beiden lächelten sich wie Schwestern zu. Dann wandte sich Sailor Moon an mich. Mit ihrer glockenklaren Stimme sagte sie: „Deine Hoffnung hat uns gerettet, ´Mann ohne Namen´. Dafür danke ich dir! - Allerdings...“ Sie stockte, und ein Schatten schien in ihren großen Augen aufzusteigen. „Was ist, Lady?“ fragte ich und zog meinen schäbigen Mantel zusammen, denn ich ahnte, was nun kommen würde. Und es kam... „Jeder Mensch braucht seinen Traum!“, sagte Sailor Moon. „Auch Helden tun das. Aber dein Traum, ´Mann ohne Namen´, dein Traum gefällt mir nicht. Du willst Kopfgeld verdienen und zuviel Zigarillos rauchen! Das ist nicht gut! Denk einmal darüber nach. Sonst muß ich dich irgendwann doch einmal bestrafen!“ „Nicht doch, Sailor Moon-Baby!“, knurrte ich cool, „Ich ziehe als Mann ohne Freunde meiner Wege. Tut ihr weiter Gutes, ich glaub an euch. Aber macht mir keine Vorschriften, okay? Schließlich habe ich gerade die Welt gerettet!“ Sissi kicherte: „Ach, nun streitets euch doch nicht! Alles ist wieder gut. Wollen wir nicht ein bisserl flanieren und ein paar Sahne-Zipferl naschen geh´n?“ Sailor Moon rollte die Augen. „Naschen..?“ Aber da war ich schon weg. Hier gab es für mich nichts mehr zu tun. Also schwang ich mich auf mein wiedergewonnenes schwarzes Pferd, setzte mir meinen Hut verwegen auf und gab die Zügel. Der Colt an meiner Hüfte vermittelte mir nun wieder ein Gefühl der Sicherheit, und als ich in den Sonnenuntergang ritt - Sissis Bild im Herzen - da sang ich ein Lied, das ich irgendwo einmal gehört hatte: „I´am a poor lonesome cowboy, far away from home!“ *** Unglaublich! Das sollte ein Teil von mir sein?
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Fassungslos hatte ich auf das Display des ´Dream-Recorder 2000´ gestarrt und all diese Sonderbarkeiten gesehen. Galactus, Sissi, Sailor Moon...Du meine Güte! Ich senkte den Blick auf die Schachtel, in der ich das Gerät gestern gekauft hatte. „Lernen Sie sich selber kennen!“ stand dort in wilder Werbe-SchriftUnd: „Sehen Sie ihr Unterbewustsein! Dream-Recorder 2000 ist der Schlüssel zu ultimativer Selbsterfahrung.“ Nun, ich hatte das alles für einen Gag gehalten, und da ich gerade ein paar Euro übergehabt hatte, mir so ein Wunderkasten besorgt. Merkwürdig, wozu einen Langeweile treiben kann... Daß mir aber gleich die erste Nacht so einen hahnebüchenden Film bescheren würde, das hätte ich nie für möglich gehalten. Sailor Moon! Wie peinlich!!! Ich stellte den Recorder ab, und beschloß augenblicklich, das teuflische Ding zu entsorgen! Das war alles Lüge! Ich war doch kein Weichei! Und so geschah es: Das widerwärtige Gerät wurde in Plastikfolie geschlagen und im hintersten Winkel meines Kellers deponiert, gleich neben klammen Kindergartenzeichnungen, Schulzeugnissen und vergilbten Liebesbriefen. Mit einem Schwung schlug ich die Lattentüre zu, knipste das Vorhängeschloß vor dem Riegel zusammen und war immer noch verärgert, als ich die Treppe zu meiner Wohnung wieder hochstieg. Oben auf dem Treppenabsatz blieb ich stehen. Irgend etwas hielt mich plötzlich davon ab, einfach die Wohnungstür hinter mir zu schließen und mir einen starken Kaffee reinzuziehen. Das Licht im Treppenhaus ging aus und ich stand im Dunklen dieses noch frühen Morgens. Draußen zwitscherten die Vögel. Mein Herz schlug kräftig, aber ich fror in meinem schäbigen Mantel. Die Kälte stieg in meinen Hosenbeinen hoch, legte sich wie ein Schleier um mich und zog sich zusammen. Ich stand also da, kerzengerade in der Finsternis dieses Treppenschachtes, und wartete darauf, daß etwas geschehen, mein Willen eine Richtung finden möge. Aber nichts geschah. Schwebte ich? Schlief ich noch? Nein, das war es nicht. Allmählich kam ich mir lächerlich vor, und ich hoffte, es würde jetzt nicht gerade ein Nachbar vorbeikommen. Ich hoffte wirklich, keiner würde mich mit diesem sonderbaren Gesichtsausdruck zu sehen kriegen, den ich unzweifelbar gerade mit mir herumtrug. Ich seufzte. Und nach ein paar Atemzügen begann ich endlich, erst noch ganz langsam und fast mechanisch, die Stufen wieder herabzusteigen. ENDE
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Drachenflug von Waldläufer
Das mächtige Wesen durcheilt die Lüfte. Im Einklang mit Natur und Erinnerungen...
Der kalte Wind stürmte den schmalen Gang entlang. Vorbei an glatten, feuchten Wänden. Von einzelnen Stellen tropfte Wasser herab und sammelte sich langsam zu schimmernden Pfützen am Boden. Der Wind zog weiter. Schon seit Ewigkeiten war nur er es gewesen, der diesem Weg folgte und auch nur er fand ihn wieder zurück. Es ging aufwärts. Immer höher hinauf. Schmale Treppen schwebte er pfeifend entlang. Sein Wesen wand sich zwischen manchen Stellen hin und her und durchdrang mit aller Kraft jeden noch so kleinen Winkel. Immer höher hinauf. Plötzlich wehte er zwischen einer Felsspalte hindurch, in einen gewaltigen, dämmernden Raum. Etwas entsandte seine leuchtende Energie. Da war ein grosses Tor zu sehen. Dunkles, schimmerndes Holz war in die steinige Wand hineingelassen. Er näherte sich dem Tor und das Licht wurde immer heller. Auf ihm war ein Abbild eines der mächtigsten, doch auch seltensten Geschöpfe dieser Welt zu sehen: ein roter Drache. Dieser schien zu fliegen, seine Schwingen den Wind dirigieren zu lassen, sich mit dem Element auf ewig zu vereinen. Für einen Moment hielt er inne. Eine Sache zog ihn an sich. Etwas, was all die Jahre, die er schon diesen Weg beschritt, noch unentdeckt von ihm gewesen blieb. Es waren die Augen dieses phantastischen Wesens. Leuchtend rot funkelten sie, als wollten sie eine Geschichte erzählen. Das Bild kam näher. Seine Neugierde überwältigte ihn. Plötzlich wurde er in einen magischen Bann gezogen und sah Dinge, die noch nie jemand vor ihm gesehen hatte. Weisse Wolken schwebten, gar sausten, vom kühlen Wind getrieben, an seinem gewaltigen Körper vorbei. Um ihn herum erstrahlte der blaue Himmel. Die goldenen Strahlen der Sonne senkten sich auf den schuppigen Panzer herab und seine Schwingen unterwarfen die rauschenden Winde. So wie sie es schon seit Ewigkeiten taten. Er flog in eine Wolke hinein und ein Schleier verhüllte seine Augen. Nur für einen Moment. Langsam wurde die Umgebung sichtbar. Ein kleiner Wald lag unter ihm und schnell flog er über diesen hinweg, während die Gegend von seinen feurigen Blicken gemustert wurde. Bäume von gewaltiger Höhe wuchsen und entfalteten sich hier. Riesen, die schon fast so alt waren wir er. Das wärmende, goldene Licht der Sonne lies den letzten Tau auf ihren grünen Blättern aufblitzen und verlieh dem Wald eine zauberhafte Atmosphäre. Zwischen all diesen Zeugen der Vergangenheit wandelten auch vielerlei Tiere umher. Im Flug erspähte er aus dem Augenwinkel ein kleines Reh. Flink tänzelte es sich zwischen dem Gestrüpp und dicken Baumstämmen umher; wahrscheinlich auf der Suche nach Nahrung. So wie er. Ein Gefühl des Hungers stieg in ihm empor. Alle Bewohner des Waldes hielten ihren Atem an, als etwas brachiales über die raschelnden Baumkronen hinweg fegte. Er war nicht an ihnen interessiert sein Flug ging weiter. Ein langer Fluss lag direkt unter ihm, als sich der Wald zu einer kargen Berglandschaft gewandelt hatte. Gewaltig die Klüfte, die sich zwischen den glänzenden, schneebedeckten Bergen auftaten. Allerlei Geröll donnerte die steilen Hänge hinab und fiel platschend in den Strom. Das eiskalte Wasser erstrahlte silbern und an vielen Stellen schäumte es wild auf. Ein Schwarm bunter Fische versuchte den Lauf hinauf zu wandern, um für Nachkommen zu sorgen. Auch an ihnen war er nicht interessiert. Sein Flug folgte dem Strom mit immer grösserer Geschwindigkeit. Plötzlich schoss er über einen Wasserfall hinweg, an dem die Berglandschaft ihr Ende gefunden hatte. Mit kräftigen Flügelschlägen durchdrang er den Wasserdampf. Eine weite Grasfläche lag direkt vor ihm und langsam liess er sich auf einen kleinen Hügel hinabgleiten. Seine weissen, messerscharfen Klauen stiessen sich in das saftige Gras und gruben die braune Erde um, die sich hilflos wehrte. Seine Schwingen lagen an seinem Körper an. Er genoss den Ausblick, der sich ihm bot. Ein endloses Feld befand sich in östlicher Richtung. Auf ihm wuchsen die verschiedensten 10
Pflanzen, die alle in einem bunten Farbenspiel wirkten, als die Sonne sie erleuchtete. Dorthin schweifte sein Blick und vor seinem geistigen Auge spielten sich Erinnerungen längst vergangener Zeiten ab. Tausende waren es gewesen, die hier aufmarschierten, um ihn mit ihren Waffen, von legendären Schmieden geschaffen, zu töten. Sie kamen alleine oder gar in Gruppen – Wesen verschiedenster Arten versuchten es. Hier stellte er sich ihnen. Es war für ihn immer wieder ein Genuss ihrem Vorhaben ein Ende zu setzen. Drachentöter gab es viele, doch ebenso gross war die Anzahl der Gefallenen. Es waren nach Hilfe flehende und von Schmerz verzerrte Gesichter, als ein feuriger Schweif ihre Körper umschloss und sie samt ihren Rüstungen verglühte. Welch modriger Geruch daraufhin in der Luft lag. Das war Teil der Vergangenheit. Heute lagen auf dem Feld einzig und allein die verwesten Gerippe. Tief begraben und von einem bunten Blumenmeer bedeckt, das jede Schlacht vergessen liess. Von dieser Welt geschieden und Teil so mancher, phantastischer Erzählungen waren diejenigen, die einst die Hoffnung in sich trugen, einen Drachen zu töten. Ein leichter, kühler Wind kam auf und voller Genuss streckte er seine Schwingen nach ihm aus. Seine schuppige Haut funkelte von der Sonne erhellt wie ein roter Rubin. Eine innere Kraft sammelte sich und mit einem Mal befand er sich wieder in den Lüften. Von seinem Unterworfenen - dem Wind getragen. Noch war das Hungergefühl in ihm nicht befriedigt. Wald und Wiesen liess er hinter sich und flog direkt hinaus auf die stürmische See. In eine dunkle Gewitterfront eingetaucht, senkten sich zuckende Blitze an seinem Körper hinab – ohne ihn zu berühren. Es war eigenartig. Kein Wind war zu spüren und auch kein Regen fiel. Seltsame Gesänge taten sich auf und drangen an das Ohr des Drachen. Sie waren sehr stürmisch, aber beruhigend für seine Gedanken. Das Gewitter war schnell verschwunden. Es war eine einfache, magische Barriere. Nun erblickte er einen gewaltigen, alleinstehenden Berg, dessen Spitze von grauem, dichtem Nebel umhüllt war. Auf ihm zeigte sich ein kleines Plateau. Um ihn herum befand sich nichts als blaues Wasser, das mit hohen Wellen und aller Gewalt gegen die Wände stürzte. Es war braunes Gestein, das dem Berg eine aussergewöhnliche Farbe gab. Durchzogen von unendlich vielen Furchen, die von der Macht des Windes und des Wassers geschaffen wurden. Mit Leichtigkeit durchdrang er den grauen Schleier und landete behutsam auf der kleinen Ebene. Es waren unzählige, bunte Mosaike, die sich auf dem Boden befanden und ebenso endlose Geschichten erzählten. Nur er verstand sie. Eine riesige Öffnung befand sich vor direkt vor ihm und führte mitten in sein Reich. Zwischen dunklen, glatten Felsen schmiegte er sich hindurch und langsam trat er in einen breiten Gang, der mit hunderten, brennenden Fackeln gesäumt war. Ein roter Teppich war auf dem kalten Boden ausgebreitet und über ihn bewegten sich seine Klauen hinweg - die Müdigkeit sass auf seinen Augenliedern. Den Weg folgend betrat er einen gewaltigen Thronsaal. Die Fackeln waren mit einem Mal erloschen. Es dämmerte leicht. Ein weiterer Zugang war zu erkennen: es war ein imposantes, dunkles Tor, das einen Spalt offen stand. Es führte zum Fusse des Berges, wo der Wind sich allmorgendlich seinen Weg nach oben bahnte. Unzählige Schätze erwarteten den Drachen. Reichtümer, die er sein eigen nannte, da die einstigen Besitzer verstorben waren. Es waren die Waffen und Kostbarkeiten der Gescheiterten. Ein unglaublich befriedigendes Gefühl überkam ihn, als er sich seinen Weg durch diese Fülle bahnte, die überall in grossen Haufen verteilt lag. Inmitten des dämmernden Raumes fand sich eine besonders auffällige Ansammlung an Edelsteinen und Goldstücken. Diese bestieg er langsam. Es war sein Thron und Schlafplatz zugleich. Der mächtige, rote Körper wand sich zusammen und langsam schloss der Drache die feurigen Augen. Längst vergangene, kriegerische Zeiten erfüllten seine Träume. Sein Hunger war gestillt. Fasziniert betrachtete er das Abbild des Drachen. Das Tor stand einen Spalt offen und durch diesen drängte er mit aller Gewalt. Ein lauter Pfeifton war zu hören. Er bewegte sich durch einen Raum voller Schätze auf ein altes Wesen zu, welches fest im Schlaf versunken war. Alles wurde mit seinem Betreten leicht erhellt - die Sonne war zu diesem Zeitpunkt über den 11
Horizont gestiegen. Reichlich Fackeln waren mit einem Mal entzündet. Ebenso erleuchteten und blitzten die vielfältigen Schätze des träumenden Drachen auf. Es war das Zeichen. Sein Lauf zum Schlafenden war schnell, doch hielt er fasziniert für einen Moment inne. Welch wunderbares, wie auch altes Geschöpf sich vor ihm befand. Die Schuppenhaut wurde durch die Strahlen der Sonne in ein einzigartiges, rotes Glitzern versetzt. Es war im Einklang mit dem Funkeln der Reichtümer, die sich um in herum befanden. Er kam näher. Plötzlich rauschte er mit aller Gewalt über den Drachen hinweg und brachte Kühle und morgendliche Frische mit sich. Ein hungriger Drache war erwacht.
©Waldläufer
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Der Drachentöter von Waldläufer
Ich hatte wohl schon alles gesehen. Aber auf diese Begegnung war ich nicht vorbereitet...
Ich will erzählen, von einer Begegnung, die mir widerfahren ist, als ich das Land nach neuen Abenteuern durchstreifte. Es war zu dieser Zeit, als scheinbar alles schlief, denn kaum etwas war geschehen, nachdem die dunklen Mächte zurückgeschlagen waren. Ganz auf mich gestellt zog ich durch ein kleines Tal, das von einer gewaltigen Bergkette umschlossen war. Hier herrschte noch der Einklang mit der Natur: keinerlei gerodete Wälder, die zum Bau von Palisaden und Waffen dienten, waren zu sehen. Alles lag in einem schillernden Grün und der Duft von tausend verschiedenen Pflanzen drang in meine Nase - es war unbeschreiblich. Ich wollte mich einer kleinen Gruppe Söldner anschliessen, die sich, nach den Informationen, die ich erhalten hatte, zwei Tagesmärsche in östlicher Richtung befand. Ich war von meiner bisherigen Route, einem trostlosen Pfad, der mich über ein endloses Schlachtfeld führte, abgewichen. Ich überlegte, vielleicht einen ganzen Tagesmarsch sparen zu können, wenn ich durch dieses Tal wanderte. Die meisten taten dies nicht, da sie die Überquerung der Berge für zu riskant hielten; feindliche Krieger könnten sich dort aufhalten – aber ich nahm es in Kauf. Meine Kleidung bestand aus einem starken, silbernen Kettenhemd und einem ledernen, braunen Waffenrock. Meine Schuhe waren Sandalen, die ich mit Fellstücken umwunden hatte; ich wusste, es konnte dort, wo ich hin musste, ziemlich kalt werden. Schwert und Schild hatte ich auf meinen Rücken gebunden, so konnte ich die Arme stets frei bewegen. Ich zog nun durch diesen Wald, der mich sehr beeindruckte. Die Sonne war gerade aufgegangen und der Tau, der sich auf den Blättern fast aller Bäume gesammelt hatte, funkelte wild auf. Zudem lag ein leichter, weisser Nebel in der Luft, und es war angenehm frisch. Ab und zu knackte ein Ast, als ich voranschritt, aber sogleich konnte ich ein kleines Tier - einen Fuchs - ausmachen, der sich wahrscheinlich auf Nahrungssuche begeben hatte. Zur Mittagsstunde hatte ich kurz gelagert und mich von verschiedenen Kräutern ernährt, die ich unterwegs gesammelt oder sogar noch vorrätig hatte. Zum Jagen war ich zu müde. Ich wollte mich ausruhen. Bis heute Abend wollte ich den Berg, einen kleinen Pass, den nur sehr wenige kannten, überquert haben. An dieser Stelle, war ich sicher, mir sehr viel Kletterarbeit ersparen zu können. Aber es musste hell sein, da ich viele tückische Felsspalten erahnte. Ich zog weiter und gerade an diesem Tag hatte ich Glück; der Himmel war wolkenlos, zeigte sich in seinem wunderbaren Blau, und es wurde sehr angenehm warm. Da ich mich um die Zeit sorgte, lief ich sehr schnell auf dem Pfad, den ich zufällig gefunden hatte und der mich direkt in die Richtung eines der Berge führte. Um einen Hinterhalt machte ich mir keine Sorgen, vielmehr darum, rechtzeitig den Pass zu überqueren, bevor die Dunkelheit herein brechen würde. Drei Stunden später hangelte ich mich schliesslich an einer Bergseite hoch, die von allen noch die angenehmste zu sein schien. Es kostete ungemein viel Kraft, mich Meter für Meter hinauf zu ziehen und ich hatte sehr viel Glück, als ich mich plötzlich nach oben zog und einen schmalen Weg ausmachen konnte. Meine Kräfte waren geschwunden, es wurde zunehmend kälter. Ich konnte schon die Schnee bedeckte Spitze erkennen - aber dort musste ich zum Glück nicht hin. Der Pass lag gar nicht weit von hier entfernt, wusste ich. Ich muss sagen, dass ich ein Mensch bin, der viel herumgekommen ist, mich zu denjenigen zählen kann, die auf der ganzen bekannten Welt in Schlachten gezogen sind und gegen die ungewöhnlichsten Wesen gekämpft haben. Aber was jetzt, als ich den Weg entlang wanderte, passierte, war unglaublich. 13
Nach wenigen Minuten nur, konnte ich den Pass erkennen. Ich lag sehr gut in der Zeit, wie ich fand. Die Sonne war noch ausreichend vom Horizont entfernt und würde vielleicht erst in zwei Stunden hinter ihm verschwunden sein. Dann verlief der Weg, den ich zwischen allerlei Geröll ungefähr erahnten konnte, in einem Bogen. Ich war erstaunt, als ich eine gewaltige Höhlenöffnung entdeckte. Vor ihr lag eine grosse, mit grauem Sand bedeckte, Ebene. War ich falsch abgebogen? fragte ich mich, obwohl es aus meiner Sicht gar keine Alternative gab. Auf der anderen Seite verlief er bereits weiter, wie ich erkennen konnte, als ich ein Stück voran lief. Diese Öffnung faszinierte mich. Sie war gewaltig in ihrer Grösse und ich wunderte mich, dass die Natur so etwas imposantes geschaffen hatte. Ich lief voran und glaubte mich schon am Bergübergang angelangt zu sein, als es plötzlich grollte. Ich dachte, ein Gewitter sei aufgezogen und bald würde ein Sturm über mich hereinbrechen, aber der Himmel war völlig wolkenlos. Es grollte erneut. Woher kam dieses Geräusch? Ich befand mich etwa in der Mitte der sandigen Fläche und lauschte neugierig. Da war es wieder zu hören und plötzlich erkannte ich, woher es kam. Ich blickte auf die Höhlenöffnung. Vielleicht zog der Wind hindurch und rief es dadurch hervor? Das musste es sein, entschied ich, und setzte bereits zum Weitergehen an, als eine dunkle Rauchfahne aus dem Höhleneingang stieg. Jetzt war ich von der Neugierde überwältigt und hatte plötzlich den Gedanken, dass jemand dort lagerte. Vielleicht hatte jemand die gleiche Absicht; war aus irgendeinem Grund jedoch aufgehalten worden. Diese Höhle bot bestimmt einen guten Schutz vor Regen und Schnee – in der Nacht konnte es sehr kalt werden, überlegte ich. Aber all diese Gedanken verwarf ich wieder, als ich ein leichtes Vibrieren des Bodens vernehmen konnte. Was war das? Was ging hier vor sich? Es war ein unbehagliches Gefühl, das mich plötzlich überkam, als es lauter wurde und erneut eine Rauchfahne aus dem Eingang hinaus stieg. Ich hatte schon viel gesehen, aber was nun geschah, war nicht mit meinen bisherigen Erfahrungen zu vereinbaren. Die Schnauze eines roten, schuppigen Wesens tauchte plötzlich aus der Dunkelheit des Eingangs auf. Zwei funkelnd feurige Augen blickten mir entgegen. Mein Körper war im Begriff zu fliehen, meine Gedanken waren gefesselt. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ein riesiges Wesen stampfte hinaus und ich überlegte, wie ich handeln sollte. Ich konnte die gewaltigen Schwingen dieses Ungetüms erkennen und die blanken, weissen Klauen, auf denen es sich über den grauen Sand bewegte. Sie hatten, so schätzte ich es auf die Entfernung ein, mindestens die Höhe meiner halben Körpergrösse. Fasziniert stand ich da und eine innere Stimme befahl mir, mein Schwert zu zücken und dieses Wesen anzugreifen oder mich hinter meinem Schild zu verstecken, um zu versuchen, unbemerkt zu fliehen. Eine innere Stimme sagte mir, dass es sinnlos wäre. Ich schaute hinauf und sah die feurigen Augen dieses Geschöpfs, die in die meinigen blickten. Ich hatte Schlachten geschlagen und Armeen zum Sieg geführt, war Teil von ihnen gewesen, hatte manche bedeutende Feinde, teils hinterlistig, bezwungen. War mit einer kleinen Truppe an Paladinen ausgezogen, um die Absichten einer gewaltigen Armee, aus hungrigen Orks bestehend, zu erfahren. Ich riskierte mein Leben, um das Land von den Horden der Finsternis, von abscheulichen Wesen wie Riesen, Goblins und Trollen, zu befreien. Es gab viele hilflose Situationen, in denen ich mein Leben dahin zu scheiden glaubte, aber konnte ich mich doch noch irgendwie, mit unglaublich grossem Glück, retten. Das hier war anderes. Ich war fasziniert obwohl ich wusste, dass ich verloren war. Ich spürte eine Macht, gegen deren Bruchteil, ich nicht aufkommen konnte. Mein Schwert und Schild waren aus besonderem Material, einst von dankbaren Zwergen, geschaffen, als ich ihnen bei der Verteidigung ihrer Minen zur Seite stand. Eine Horde wilder Goblins hatte sie überfallen. Die Stimme, die gerade zu mir gesprochen hatte, waren meine Instinkte gewesen, wusste ich. Denn meine Waffen waren stets zum Kampf bereit und trieben mich dazu an, den ersten Schritt zu tun, wenn mein Leben in Gefahr stand – nun schwiegen sie. Ich bemerkte den Schweiss, der sich auf meiner Stirn, trotz der vorherrschenden Kühle, gebildet hatte. Ich spürte das Zittern meiner Glieder, wie es meinen ganzen Körper, bis zu den innersten 14
Organen, durchzog. Und dennoch stand ich fasziniert auf der Stelle und blickte auf dieses Wesen, das sich wenige Meter vor mir befand. Ich weiss nicht, wie lange ich in dieser Position verharrte, aber ich bemerkte plötzlich, wie sich der Himmel verdunkelte. Ich versuchte mich innerlich zu beruhigen, schloss für einen kurzen Moment die Augen und dachte an den Tod – das Leben danach. Ich bedachte die Möglichkeit im Reich der Ahnen in Ewigkeit zu verweilen. Dann wurde ich aus meinen Vorstellungen gerissen. Ich vernahm einen starken Schlag und spürte einen unglaublichen Windstoss, der mich von den Füssen riss. Auf dem Boden liegend blickte ich hilflos nach oben. Der Drache hatte seine monströsen Schwingen ausgebreitet und seine gewaltigen Krallen scharrten am Boden. Er senkte seinen Körper leicht ab und dabei blickte er mir tief in die Augen. Ich erwartete Schmerz erfüllt in einem Feuerschweif zu vergehen, gerade als er sein gewaltiges Maul öffnete. Ich sah die abschreckendsten Hauer, die ich jemals zuvor gesehen hatte. Ein Brüllen folgte, das die Erde für einen kurzen Moment erbeben lies. Ich spürte bereits den Schmerz, der mich zu überkommen drohte. Dann stiess er sich ab – hoch in die Lüfte – und seine Schwingen trugen ihn dem Horizont, der untergehenden Sonne, entgegen. Ich lag immer noch auf dem harten Boden, auf meine Ellbogen gestützt. Ich spürte mein Schild und Schwert, das mir gegen den Rücken drückte - noch immer fühlte ich mich in einen Bann gezogen. Nun, nachdem meine Erzählung geendet hat, kann ich gestehen, dass ich nie wieder einem solch beeindruckenden Wesen begegnet bin. Doch fortan nannte ich mich einen Drachentöter. Ich zog durch die entlegensten Lande, fernab von Kriegen und Leid, nur um solch ein Wesen zu finden. Der Anblick hatte mich fasziniert.
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Die letzte Strafe von Alexander Kaiser
Eine schöne junge Frau, Pro und Contra sollen prüfen, ob die Menschheit würdig ist zu überleben.
Es war ein normaler Tag, hier auf Erden. Irgendwo in Afrika tobten ein Dutzend Bürgerkriege, irgendwo in Europa erfror ein Obdachloser, irgendwo in Asien starb ein Bankräuber im Kugelhagel der Polizei, in Amerika war wieder mal der Rassismus an der Tagesordnung! Alles in allem also ein ganz durchschnittlicher Tag. Doch eine höhere Macht - sie mit Gott zu bezeichnen, würde sie negieren - sandte an diesem Tag einen Boten auf Erden. Dieser Bote, vom Antlitz her eine wunderschöne junge Frau, wandelte auf dieser Welt, an ihrer Seite zwei Männer die ihr bei der Entscheidung helfen sollten. Musste die Menschheit vernichtet werden? War die Menschheit am Ende? Ihr erster Helfer war Pro. Ein vorlauter Kerl, der immer und überall eine Möglichkeit fand, seinen Standpunkt, die Menschheit gehöre vernichtet, zu stützen. Ihr zweiter Helfer war Contra, ein ruhiger Zeitgenosse, der selten etwas sagte. Ehrlich gesagt, hatte er bisher noch nichts gesagt, um die Argumente von Pro zu erschüttern... "Siehst Du, diese Frau dort!" sagte Pro und deutete auf ein Mädchen, das gerade ein Bürohochhaus verließ. "Gerade hat sie mit ihrem Chef gevögelt, um ihre Karriere voranzutreiben. Die Firma, in der sie arbeitet, produziert Waffen, die in die Dritte Welt exportiert werden, um dort Abertausende zu töten. Sie hat ihre alte Mutter ins Altenheim gesteckt um sich nicht mit ihr belasten zu müssen, unterhält zur Zeit drei sexuelle Beziehungen zu verschiedensten Kerlen, von denen sie nicht einen liebt. Und wenn sie nach Hause kommt, dann setzt sie sich vor den Fernseher und sieht sich irgendeine schwachsinnige Soap an!" Die wunderschöne junge Frau sah Pro an, der seine Worte mit einem grimmigen Nicken unterstrich. Dann sah sie zu Contra. Doch dieser schwieg, trotz der schweren Anklage. Noch immer. "Wir folgen dem Mädchen, diesem verderbten Luder! Und ich verspreche, ich werde noch mehr Beweise vorlegen können, die beweisen, wie dringend dieser Sündenpfuhl gereinigt werden muss!" Die drei folgten dem Mädchen, unsichtbar für alle die anderen, ohne jeden Hauch von Materie. Doch wer immer auf seinem Weg jenen Bereich berührte, an dem sich die schöne Frau befand, erfuhr einen Moment des Glücks. Wer jenen Bereich durcheilte, an dem sich Pro befand, musste spontan weinen. Und wer immer Contras Pfad kreuzte, der sah erstaunt auf... und lächelte.... Merkwürdig; dachte die junge, schöne Frau bei sich. Wer mich durcheilt, spürt die Harmonie des Universums, das ich präsentiere, und wer Pro berührt, spürt seinen geballten Zorn auf die Menschen, denen er nie verzeihen wird. Doch was spüren sie, wenn sie Contras Sphäre berühren? "Siehst Du?" blaffte Pro in seiner hitzigen, hasserfüllten Art. "Siehst Du, was sie gerade kauft? Schuhe aus Krokodilleder! Seit 200 Millionen Jahren gibt es diese Amphibien auf der Welt, selbst die Dinosaurier überlebten sie, doch die Menschen werden die lebenden Zeichen der Evolution ausrotten, nur, um an ihre Haut zu kommen, weil einigen von ihnen die Schuhe 16
aus den Häuten der extra dafür gezüchteten Rinder nicht mehr fein genug sind! Wie viele Arten haben die Menschen schon vom Antlitz der Erde getilgt, teils aus Gier, teils aus völliger Gleichgültigkeit? Würden sie nicht ab und an auch Exemplare ihrer eigenen Spezies so gleichgültig vernichten, würde man meinen, sie würden sich daran ergötzen, niederes Kroppzeug auszurotten!" Die junge Frau sah herüber zum Mädchen, das sich gerade die neuen Schuhe einpacken ließ. Deutlich hörte man sie den Verkäufer fragen, ob es auch echte Tierhaut war und nicht etwa Imitat. Pro grinste hämisch, er sah sich wieder einmal bestätigt, und Contra schwieg, schwieg noch immer. Wenn Contra nicht bald etwas zur Verteidigung der Menschen sagt, dachte die wunderhübsche Frau, werde ich nicht umhin können, Pro recht zu geben... Und das würde bedeuten, dass die Menschheit bald nicht mehr sein wird! Die drei verfolgten das Mädchen weiterhin auf ihrem Weg, der wohl nach Hause führen würde. Dabei kamen sie an einem Mann vorbei, der in Lumpen gehüllt an der Straße saß und um Geld bettelte. Die meisten Passanten gingen vorbei, einige wenige warfen ihm ein Geldstück zu, vermieden es aber, ihn anzusehen. Auch das Mädchen warf ein Geldstück, dabei sah sie gerade mal so weit herüber, um wenigstens in die Nähe des Mannes zu werfen. "Das brauche ich wohl nicht groß zu kommentieren, oder?" stieß Pro gehässig hervor. "Wie Zeus aus seinem Olymp wirft sie dem Wurm am Boden ein paar Krumen zu und geht weiter, ohne ihn überhaupt angesehen zu haben!" Contra schwieg, aber er schien zu lächeln. Weiter folgten sie dem Mädchen auf ihrem Heimweg. Die wunderschöne Frau wusste nicht so recht, wie Pro das gemacht hatte, aber sie war sich sehr sicher, dass er für den nächsten Zwischenfall verantwortlich war. Plötzlich sackte ein älterer Herr auf dem Pflaster zusammen, griff sich an die linke Brust. Er war kreidebleich im Gesicht und sein Atem ging japsend, stoßweise. Das Mädchen wich scheu aus und setzte ihren Weg fort, sie floh beinahe vor dem Unglücklichen. "Sie hätte ihm vielleicht helfen können!" rief Pro anklagend. "Sie hätte vielleicht auch nur einen Arzt rufen können! Aber was hat sie gemacht? Gar nichts, rein gar nichts! Nein, etwas hat sie doch gemacht, sie ist schneller gegangen, um hier fortzukommen!" Contra schwieg immer noch. "Contra!" Der Mann sah zur Frau herüber. "Contra, wenn du nicht bald ein Argument gegen die Ausführungen von Pro bringst, werde ich gezwungen sein, ihm recht zu geben. Und was das bedeutet, kannst du dir ja denken!" Contra nickte stumm. Er bedeutete den beiden, ihm zu folgen. Das Mädchen war derweil in einem der Mietshäuser hier verschwunden. Contra stieg in der Luft bis zum Dritten Stock und durchquerte die Wand, die anderen folgten ihm. Ihnen gegenüber ging die Haustür auf. Das Mädchen trat ein, schloss hinter sich ab, ließ ihre Einkäufe fallen und fiel mit dem Rücken gegen die Tür. Tränen liefen ihre Wangen herab und sie schluchzte leise. Schließlich wischte sie die Tränen mit den Händen aus dem Gesicht und lächelte bald wieder ein wenig. "So schlimm war die Welt heute gar nicht!" murmelte sie. "Vielleicht wird sie eines Tages sogar einmal besser sein!" Die wunderschöne Frau zog sich mit ihren Begleitern zurück , als das Mädchen begann, ihr 17
Abendessen zu bereiten. Sie ließ sich mit ihren Begleitern auf einer nahen Bank nieder und sah die beiden an. "Ich habe eine Entscheidung getroffen! Sie ist mir sehr schwer gefallen, aber ich denke, es ist die richtige! Dir, Contra, kann ich nicht nachgeben. Du stehst für den Fortbestand der Menschheit, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie dies auch verdient. Aber dir, Pro, kann ich auch nicht recht geben. Du stehst für die Vernichtung dieser Spezies, einer Vernichtung, die sie aber auch noch nicht verdient hat. Es gibt viel Gutes im Bösen dieser Welt, und ebenso viel Böses im Guten. Ich kann und darf heute nicht entscheiden, welches Urteil die höhere Macht fällen wird. Deshalb setze ich die Untersuchung für tausend Jahre aus. Soll einer meiner Nachfolger dereinst versuchen, eine eindeutige Antwort auf die Frage finden: Pro oder Contra!" Damit verschwand die wunderhübsche Frau, einfach so, ohne ein weiteres Wort. Doch einige Zeit standen sich Pro und Contra noch gegenüber. Schließlich sagte Contra leise: "Ich glaube, diesmal war es ganz schön knapp! Beinahe wäre eine eindeutige Entscheidung gefallen!" "Für die die Menschen noch nicht reif sind. Vielleicht sind sie es aber in tausend Jahren. Und wenn nicht werden sie in weiteren tausend Jahren geprüft werden, und vielleicht noch einmal in noch mal tausend Jahren. Und wir werden versuchen, die Antwort auf diese Frage solange hinauszuzögern, sie in einem Patt zu halten, wie dieses Patt auch in den Menschen herrscht!" Contra nickte nur. Plötzlich gingen die beiden ineinander, aus zwei wurde eins, drei Sekunden darauf konnte man als normaler Mensch einen jungen Mann aus dem Nichts entstehen sehen, der sich mit zufriedener Miene umsah und anschließend fröhlich pfeifend davon spazierte für dieses Mal!!!!
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Der hübsche Bauernjunge von Irene Salzmann
Als der Fremde ins Dorf kommt und einen Bauernjungen als Begleiter mit sich nimmt, ahnt er noch nicht, welche Überraschung ihm bevor steht...
"Ein Rei-Reiter", stammelte der Knirps und wedelte zur Betonung mit beiden Armen, "ein Reiter!" Schon war er um die Ecke geflitzt, um dem nächsten die aufregende Neuigkeit mitzuteilen. "Ein Reiter mit sooo einem großen Pferd!" war seine schrille Stimme weit zu vernehmen. Neugierig geworden, unterbrachen die Leute ihre Arbeit. Mit fleckigen Schürzen eilten sie aus ihren Häusern, mit erdigen Kitteln von der Feldarbeit und mit feuchten Stiefeln vom Fluß herbei. Fremde kamen selten in das kleine Dorf und waren auf jeden Fall interessanter als der träge köchelnde Bohneneintopf oder das schadhafte Fischnetz. Leider wußte man nie im Voraus, ob die Unbekannten einen unterhaltsamen Abend mit neuen spannenden Geschichten im Wirtshaus versprachen oder ob es Ärger geben würde und man sie besser gleich davongejagt hätte. Folglich mußte man den Reiter in Augenschein nehmen und dann entscheiden, was zu tun war. Nicht auszuschließen war, daß der dunkle Herr, dessen Namen niemand auch nur zu flüstern wagte, wieder einmal von einem unaussprechlichen Zorn erfüllt und der Reisende der Vorbote unangenehmer Ereignisse war. Sonst schickte der Fürst von der finsteren Feste vorzugsweise heftige Unwetter, doch konnte ihm das im Laufe der Generationen zu langweilig geworden sein, so daß er sich etwas Neues hatte einfallen lassen, um seinen Launen Ausdruck zu geben. Die, aus ihrem eintönigen Trott geschreckten, Priester gaben nur zögernd vieldeutige Prognosen: Ja, ein Fremder brachte Neuigkeiten und Veränderungen. Doch, die strenge Hand des dunklen Herrn mochte ihn geführt haben. Nun, die ehrwürdigen Götter und ihre nicht minder ehrwürdige Priesterschaft schauten wohlwollend auf ihre frommen Kinder und würden alles zum Guten wenden, spendete man reichlich Opfergaben - ausgenommen so sauren Wein wie letztes Mal. Und der Oberpriester wünschte sich eine wärmere Bettdecke für den kommenden Winter. Am Ziehbrunnen, der die ungefähre Mitte des Dorfes markierte und einen beliebten Treffpunkt darstellte, versammelten sich nach und nach die Leute und umringten den Neuankömmling in immer dichter werdenden Kreisen. Sie murmelten und raunten durcheinander, so daß es wie das Summen eines erregten Bienenschwarms klang. Einige kleine Kinder verbargen sich hinter den weiten, bunten Röcken ihrer Mütter und lugten verstohlen nach dem Reiter. Ein Junge im nabelkurzen Kittel fing zu weinen an und näßte den trockenen Boden vor den großen Füßen des feisten Oberpriesters. Die älteren versuchten, sich in die vorderste Reihe zu drängeln, um besser sehen und vor den Freunden ihren Mut beweisen zu können, wofür sie sich den einen Klapps oder anderen Rippenstoß von den gerempelten Erwachsenen einfingen. Manche Frauen und Mädchen im heiratsfähigen Alter reckten den Hals, glätteten die zerzausten Zöpfe und wünschten, sie hätten die schmutzige Schürze abgelegt, bevor sie aus der Küche gestürzt waren. Die Strahlen der warmen Mittagssonne schienen hell auf den gemauerten Brunnenrand, an dem ein drahtiger, dunkelhaariger Mann lehnte und seinen gepflegten, schmalen Schnurrbart zwirbelte. Seine leuchtend blauen Augen verschmälerten sich belustigt angesichts der Menge Gaffer, die im Moment keine sinnvollere Beschäftigung kannte, als ihn wie ein Wundertier zu bestaunen. Er trug bequeme Reitkleidung und führte ein hochbeiniges graues Pferd, sowie einen alten Packesel mit sich, auf dem seine Ausrüstung festgebunden war. Das große Schwert in der abgetragenen Lederscheide am Sattel und einige kleine Narben, die sein 19
gutgeschnittenes Gesicht nicht unattraktiv machten, kündeten von vielen erfolgreichen Auseinandersetzungen. Vermutlich war er ein Söldner und kam aus Zaris, wo kürzlich die Aufstände unzufriedener Gaufürsten vom Regenten niedergeschlagen worden waren, und suchte neue Arbeit. Der Fremde war noch nicht alt, zählte vielleicht fünfundzwanzig Sommer, und der verheißungsvolle Blick seiner hellen Augen veranlaßte die besorgten Mütter, sofort ihre rotwangigen Töchter und Schwiegertöchter ins Haus zu schicken, wo sie sich die Nasen um so begieriger an den Fensterscheiben platt drückten und verlegen kicherten. Ohne sich an der ihm gewidmeten Aufmerksamkeit zu stören, ließ der Söldner den leeren Holzeimer hinunter und füllte Wasser für seine Tiere in den Trog. Dann seilte er den Bottich ein weiteres Mal in die Tiefe, nahm die verbeulte Kelle und trank selbst. Zuletzt wusch er sich das verschwitzte Gesicht und die staubigen Hände. Schließlich setzte er sich auf die bemoosten Mauersteine und ließ seinen Blick abschätzend über die starrenden Leute schweifen: hauptsächlich Bauern, einige Fischer, Handwerker und etwas abseits ein kleines Grüppchen hochnäsiger Priester in armseligen Kutten. Es war nicht das erste Mal, daß man ihn begaffte wie ein jungfrauenfressendes, dreischwänziges Monster. In den abgelegenen Dörfern, die selten von Fremden in ihrer Ruhe gestört wurden, fiel jeder Reisende auf. Manchmal begegneten dem Söldner die Einheimischen freundlich und boten ihm eine Mahlzeit und ein Nachtquartier an, wofür er sich mit kleinen Geschichten bedankte, die im Laufe der Jahre immer seltsamer und mitreißender geworden waren. Er wußte, was die einfachen Menschen von ihm hören wollten, und je spannender sein Garn, um so großzügiger war die Gastfreundschaft der Zuhörer. Andere wieder begegneten ihm voller Mißtrauen und waren froh, wenn er am nächsten Morgen weiterritt, ohne daß die Milch der stillenden Mütter und der Kühe sauer geworden oder ein Götterbildnis umgefallen war. Selten war er mit Steinwürfen bedacht worden, kaum daß sein Pferd die Grenzen der Ansiedlung überschritten hatte. Natürlich konnte er sich gegen solche Angriffe verteidigen, aber ein Kampf gegen mit Mistgabeln bewaffnete Bauerntölpel brachte nur Schande über seinen Namen. Diesmal, erkannte der Söldner, konnte er seine Klinge stecken lassen und brauchte nicht ohne Rast und frischen Proviant weiterzuziehen. "Man kennt mich als Aurelian von Ivalit", stellte er sich vor, und das Summen verstummte. "Ich bin Söldner und auf dem Weg nach Siran. Mein Pferd muß neu beschlagen werden. Gibt es hier einen Schmied? Und ein Rosenhaus, wo ich etwas zu Essen und ein Zimmer für eine Nacht bekommen kann?" Als er zu Ende geredet hatte, nahmen die Dorfbewohner ihre geflüsterten Unterhaltungen wieder auf, und Aurelian ließ ihnen geduldig Zeit, sich zu beraten. Er war nicht beleidigt, daß man erst das Für und Wider seiner Wünsche erörterte und sich schließlich an die Priester wandte, die verstohlen, weil das Schwert eines Söldners möglicherweise wirkungsvoller war als der Schutz der ehrwürdigen Götter, einige unheilabwehrende Gesten machten, nachdem mehrere Zech in ihre unersättlichen Taschen gewandert waren. Nach einer Weile wurde ein älterer, untersetzter Mann in der schlichten Kleidung eines Bauern von den Umstehenden nach vorn geschoben. Etwas unsicher zupfte der Sprecher an seinem rostroten krausen Bart, bis er die richtigen Worte gefunden hatte. Er mußte vorsichtig sein, um den Söldner nicht durch eine anmaßende Äußerung zu beleidigen. Andererseits wollte er auch nicht zu untertänig klingen, nicht daß sich der Gast aufgefordert fühlte, sich auf Dauer niederzulassen und das Dorf gar zu tyrannisieren. Anderenorts sollte das schon vorgekommen sein. "Der Schmied ist dort drüben", sagte er bedächtig. "Da, hinter dem Haus mit dem flachen Dach. Seht Ihr den Rauch, Herr? Dorthin könnt Ihr Euer Pferd bringen. Er verrichtet gute Arbeit, unser Schmied." Kurz schaute er zu seinen Nachbarn, die ihm aufmunternd zunickten. "Ein ... äh ... Rosenhaus gibt es nicht." Einige Matronen stemmten die kräftigen Fäuste in die breiten Hüften und ließen keinen Zweifel, wem dieser Umstand zu verdanken war. "Doch 20
wenn es Euch nichts ausmacht, Herr, könnt Ihr die Nacht bei mir verbringen. Natürlich nur, wenn es Euch wirklich nichts ausmacht. Wir sind arme Bauern und können Euch keine so weichen Betten und erlesenen Speisen bieten, wie Ihr es gewohnt seid." Aurelian lächelte wehmütig bei dem Gedanken, wie selten er warme Betten und gutes Essen genossen hatte. Meist gab es nur steinigen, kalten Boden, hartes Brot, zähes Dörrfleisch und brackiges Regenwasser, und nicht selten waren das Schwert und die Kleidung am Leib das einzige, was nach einem Krieg blieben. Diesmal hingegen klimperten viele Zech und einige kostbare Schmuckstücke, die er als Sold erhalten hatte, in seinem prallen Beutel. Nur fehlte ihm bislang die Gelegenheit, sie für sein Wohlbefinden auszugeben. "Ich danke dir für dein freundliches Angebot, Alter, und nehme es gern an." "Ich heiße Hogan", nannte daraufhin der Bauer seinen Namen. Ihm war anzumerken, daß ihm die Ablehnung seines höflichen Angebots lieber gewesen wäre. "Ihr findet mein bescheidenes Heim am Rübenacker." Nachdem Aurelian sein Pferd in die Schmiede gebracht hatte, führte er den Packesel durch das immer noch gaffende Dorf zu Hogans Haus. Stolz thronte der Knirps auf dem schaukelnden Gepäck und wies dem Gast den Weg.
Es war ein mittelgroßes, niedriges Haus im typisch ländlichen Stil dieser Gegend: rötliche gemauerte Wände, Schindeln aus bräunlichgrauem Reedgras, davor ein kleiner Schrebergarten mit Blumen, Kräutern und Beerensträuchern. Daneben erstreckte sich die zweistöckige Scheune mit dem Saatgut, den gelagerten Feldfrüchten und dem Viehfutter. Etwas verdeckt gab es noch einen Verhau für eine Milchkuh und das Kleinvieh. Im Schatten eines knorrigen Birnbaums döste ein schwarzer Hund mit verbundener Pfote, dessen Schwanz einmal kurz zuckte, als Aurelian an ihm vorüberschlenderte. Hier lebte Hogan mit seiner Frau, den beiden Söhnen und deren Familien. Als Aurelian eintraf, waren alle auf dem Rübenacker. Nur eine verheiratete Tochter weilte gerade mit ihren beiden Kleinen zu Besuch und ging der Mutter zur Hand, um alles für den Gast herzurichten. Einige weitere Enkel Hogans hatten sich zu dem Knirps gesellt, hüpften munter hinter dem Söldner her und bewunderten seine gefährlichen Waffen und geheimnisvollen Gepäckstücke. Hogans Gattin, eine kräftige Frau mit allmählich ergrauendem Haar, betrachtete den fremden Söldner argwöhnisch und machte ähnliche Zeichen, wie Aurelian sie bei den Priestern beobachtet hatte. Offenbar hatte man nicht viel Gutes über seinesgleichen gehört oder selbst schlechte Erfahrungen gemacht. Obwohl er sich bemühte, die Bedenken der Matrone durch freundliches Auftreten zu zerstreuen, blieb sie mißtrauisch und wortkarg, zischelte nur hin und wieder einige zänkische Worte vor sich hin. Wie konnte der Alte einen Fremden ins Haus bringen, dazu noch einen Totschläger, der für eine Handvoll Zech alles tat, wehrlose Frauen schändete und kleine Kinder mit seinem Schwert aufspießte! Bestimmt hatten die Nachbarn ihren Mann dazu überredet, weil sie selber den ungebetenen Besucher nicht aufnehmen mochten. Als ob sie nicht schon genug Ärger mit dem Mickel hatten. Die Alte scheuchte die Kinder bis auf eines fort und schickte ihre Tochter in das angrenzende Zimmer. Aurelian schüttelte leicht den Kopf über diese unnötige Vorsicht. Zwar hatte er einige liebliche Gesichter in der Menge gesehen und manches kokette Zwinkern bemerkt, doch hatte er anderes im Sinn als eine kurze Nacht mit einem willigen Bauernmädchen. Der verbliebene Junge machte sich an Aurelians Gepäck zu schaffen, schulterte zwei der leichteren Bündel und führte den Gast die Stiege zum Speicher hinauf. Dort hatte man ihm in Eile aus sauberen Leintüchern über duftenden Strohsäcken ein annehmbares Lager bereitet. Auf einem Schemel stand sogar eine Waschschüssel mit frischem Wasser, und daneben lag ein sorgfältig zusammengefaltetes Handtuch. 21
"Wie heißt du, Junge?" fragte Aurelian und musterte seinen eifrigen Helfer. Dieser mochte etwa fünfzehn Sommer zählen, hatte rötliche Locken und wachsame, grüne Augen. Er war durchschnittlich groß und schlank, fast zierlich, nicht schlacksig wie seine Altersgenossen. Sein noch kindliches Gesicht mit der kleinen Nase war auffallend hübsch. In Röcken hätte sich der Junge unbemerkt unter eine Schar Mädchen mischen können. Zu schade, daß die harte Arbeit und der Stimmbruch schon bald einen Mann aus ihm machen würden. "Dietter, Herr." Die klare Stimme paßte zu seinem Aussehen. "Vielen Dank, Dietter." Aurelian schnippte ihm einen kupfernen Zech zu und schaute dem Jungen noch einen Moment lang nach, als Dietter von der Alten zur Arbeit gerufen wurde. Einen Burschen wie diesen könnte er gut gebrauchen, unterwegs und vielleicht auch später. Doch die Frage erübrigte sich; die Bauern würden einen ihrer Jungen nie mit einem rauhen Krieger ziehen lassen, egal was ihnen als Entgeld versprochen wurde. Nachdem Aurelian sich gründlich gewaschen und frische Kleidung angelegt hatte, kehrte er in die gemütliche Stube zurück. Unfreundlich schepperten die Teller mit den dampfenden Speisen, die ihm von der Alten gereicht wurden. Zu seiner Überraschung war alles aus Rüben: Rübensuppe, Rübengemüse, eingelegte Rüben, Rübenbrei ... Hogan brachte zwei Krüge Bier; wenigstens das war nicht aus Rübensaft gebraut. Abends forderte der Alte Aurelian auf, ihn und seine Söhne ins Wirtshaus zu begleiten und allen von seinen Reisen zu erzählen. Es waren unglaubliche Geschichten, die der Söldner zu berichten wußte. Sowas hatten die Leute selbst von den zungenfertigen Gitanos, die jedes Jahr zur Erntezeit ins Dorf kamen und ihren starken Branntwein gegen frisches Gemüse und Trockenfisch tauschten, nicht zu hören bekommen. Sie freuten sich an den aufregenden Abenteuern des bekannten Spielers Dorian von Tardak, spendeten den unverschämten Ränken sarmatianischer Yao-Hu, Fuchsgeistern, Beifall, schauderten angesichts der Schilderungen einer mae-mot, einer yurianischen Hexe, die in einem Haus wohnte, das auf einem Vogelfuß stand, staunten über die verschlagenen Diebesgilden Sundaris und verlangten begierig, mehr über die mächtigen Zauberer und ihre schrecklichen Monster zu erfahren. Aurelian selbst erinnerte sich schon nicht mehr genau, was davon tatsächlich geschehen und was einfach nur von ihm hinzu erfunden worden war. Wichtig war nur, daß sich sein Publikum nicht langweilten. Auch Dietter war unter den Anwesenden, nippte an einem Becher saurer Schorle und lauschte den phantastischen Erzählungen mit glänzenden Augen. Wie gern wäre er der strahlende Held solcher Geschichten! Aurelian nickte ihm zu, und der Junge erwiderte seinen freundlichen Gruß. Als der Wirt spät in der Nacht die Schankstube abschloß und jeder mehr oder weniger trunken nach Hause wankte, nahm Aurelian Hogan beiseite. "Es ist nicht meine Art, mich in die Angelegenheiten anderer einzumischen oder Gespräche zu belauschen, die nicht für meine Ohren bestimmt sind. Zufällig jedoch hörte ich, daß du Streit mit einem deiner Nachbarn hast. Darf ich erfahren, worum es geht? Vielleicht kann ein Fremder schlichten oder zumindest raten und dir damit deine Gastlichkeit vergelten." "Ach ja", Hogan kratzte sich verlegen am Kopf. "das ist nichts weiter als gemeiner Dorfklatsch. Darüber braucht Ihr Euch nicht den Kopf zu zerbrechen, Herr." Doch der Branntwein hatte ihm die Zunge gelöst, und es würde nicht schaden, wenn er davon sprach und seinem Ärger über diese Ungerechtigkeit etwas Luft verschaffte. "Es ist ein unsinniger Streit, und ich weiß schon gar nicht mehr, was ihn überhaupt ausgelöst hat. Einer von den Nachbarn, der Mickel, sonst ein ordentlicher, freundlicher Mann, fing eines Tages damit an. Ich muß etwas weiter ausholen, Herr, damit ihr versteht, wie es dazu kam. Unterbrecht mich, wenn ich Euch mit meinem Geschwätz langweile." Als Aurelian ihn bat fortzufahren, berichtete Hogan mit gedämpfter Stimme: "Es war vor zwei Sommern. Der dunkle Herr - er möge mir verzeihen, daß ich ihn erwähne 22
zürnte und sandte uns ein schreckliches Unwetter. Auf den Äckern standen die Wassermassen kniehoch, die gesamte Ernte drohte zu verfaulen, und es fehlte nicht mehr viel, daß der Fluß unser Dorf einfach weggespült hätte. Selbst die Priester waren machtlos und konnten mit ihren Gebeten nichts ausrichten. In unserer großen Not baten wir Lalene, die gnädige Herrin des Waldes, um Hilfe." "Die Herrin des Waldes?" unterbrach Aurelian neugierig Hogans Schilderung; ihren Namen hatte er nie zuvor vernommen. "Wer ist das?" "Die Beschützerin unseres Dorfs", erklärte Hogan und versuchte, den verlorenen Faden wieder aufzunehmen. "Sie erhörte uns, und unsere Ernte wurde gerettet, fiel nicht einmal schlechter aus als in anderen Jahren. Nun, unter den drei Bittstellern, die sich damals auf den Weg zu Lalene gemacht hatten, waren die alte Bethani, die jetzt fern bei einer Verwandten lebt, und ein junges Mädchen: Mickels Tochter. Nelda war nicht sonderlich hübsch und obendrein etwas dumm. Bisher hatte sie noch keinen Freier gefunden und ängstigte sich, eine alte Jungfer zu werden. Ob man ihr einen Gefallen tun wollte oder nicht, da war ein junger, schmucker Bursche aus Lalenes Gefolge, der sie schwängerte und nach der Zeit mit ihrem Kind in den Wald holte. Danach hat man sie nie mehr gesehen. Mickel und seine Familie können nicht verstehen, warum Nelda freiwillig einem Waldmann gefolgt ist und mit ihm ein Kind hat. Natürlich haben die Nachbarn Mickel deswegen verspottet und noch viel mehr alberne Gerüchte über seine Tochter verbreitet. Um dem bösen Spiel ein Ende zu setzen und den Ruf der Familie wiederherzustellen, behauptete Mickel plötzlich, daß ich der Vater seines Enkels sei. Das Leben mit der Lüge scheint für ihn erträglicher und weniger schändlich als die Wahrheit. Und warum ich? Weil ich der dritte Bittsteller und somit der einzige Mann in Neldas Nähe war, als es passierte. Ich bin der einzige, dem es Mickel anhängen konnte. Dieses Kind ist nicht ganz menschlich und hat wie sein richtiger Vater kleine ... hm ... Unterschiede, nennen wir es mal so. Mickel meint, weil ich alt bin, könne ich keine gesunden Kinder mehr zeugen. Das und der Umstand, daß ich meiner Frau die Schande ersparen wollte, hätten mich veranlaßt, Nelda mit ihrem Sohn in den Wald zu jagen, wo sie von den wilden Tieren gefressen wurden. Glaubt mir, Herr, das ist alles erlogen! Natürlich gibt es welche, die es besser wissen, die dabei waren, als Nelda und der Kleine von ihrem Bräutigam heimgeholt wurden, aber es ging so schnell, und die meisten waren betrunken, so daß keiner genau sagen kann, was sich tatsächlich ereignet hat. Jeder erzählt etwas anderes, und weil alles so verrückt klingt, zieht es der Richter vor, den Worten der Zeugen zu vertrauen, die Mickel bestochen hat. Da man jedoch nicht alle Anschuldigungen hat nachweisen können, wurde ich lediglich verurteilt, Mickel mit fünfzig Silberzech für die befleckte Ehre seiner Tochter zu entschädigen; das ist hier die übliche Brautgabe. Wenn ich die Summe nicht bis Ende des Monats aufgetrieben habe, werfen mich die Büttel fünfzig Tage in den Kerker. Nur fünfzig Zech, pah! Ich müßte einen Streifen meines Ackers verkaufen, aber dann bliebe kaum noch etwas, was ich meinen Söhnen hinterlassen kann. Also gehe ich in den Kerker; was bleibt mir anderes übrig? Da seht Ihr mal, Herr, was durch dummes Gerede angerichtet werden kann. Der Mickel, so ein guter Kerl war er früher, aber das mit Nelda hat ihm fast den Verstand geraubt. Daß er sich zu sowas hat hinreißen lassen! Und ich und die meinen müssen es büßen." Aurelian klopfte Hogan beruhigend auf den sorgenvoll gebeugten Rücken. "Noch ist die Frist nicht um. Kann eure Herrin dir nicht helfen?" Der Bauer zuckte mit den Schultern. "Es ziemt sich nicht, die Geduld der ehrwürdige Herrin auf die Probe zu stellen. Sowas müssen wir Menschen schon selber austragen. Behelligt man Lalene mit einfältigen, selbstsüchtigen Wünschen, kann das üble Folgen für den Betreffenden haben. Die alte Bethani hat ihre Habgier bestimmt schon oft bereut, und ob Nelda wirklich glücklich ist, wer kann das schon sagen." "Es ist also nicht gut, die gütigen Geister zu oft um Beistand anzuflehen", erkannte Aurelian 23
und zwirbelte die Bartenden. "Laß es mich überschlafen; vielleicht weiß ich morgen Rat." Sein Blick fiel kurz auf Dietter, der, leise ein Lied summend, vor ihm und seinem Großvater trabte und mit einer bunten Laterne den dunklen Heimweg beleuchtete.
Am nächsten Morgen holte Aurelian sein frisch beschlagenes Pferd aus der Schmiede. Der rußgeschwärzte Handwerker und seine Gesellen hatten ausgezeichnete Arbeit geleistet, so daß Aurelian sie mit einem großzügigen Betrag entlohnte. Er lud sein Gepäck auf den Esel und gab Hogan, der sich nur vorgeblich sträubte, einige kupferne Zech als Entgeld für die Bewirtung. Eine der Schwiegertöchter und Dietter brachten dem Söldner zwei Proviantbeutel voller Rüben. "Ich muß nun weiter", verabschiedete sich Aurelian, "doch will ich dir noch einen Vorschlag machen, der dich von deinem Kummer befreien kann, Alter." Er wartete einen Moment, um seine Worte wirken zu lassen. "Vermutlich wird es dir nicht gefallen, aber wenigstens anhören solltest du mein Angebot: Ich brauche auf meiner Reise einen Burschen, der sich um die Tiere kümmert und meine Sachen in Ordnung hält. Euer Dietter macht einen aufgeweckten Eindruck. Ich würde ihn gern mitnehmen." Dietter riß Mund und Augen weit auf. Nie hätte er es für möglich gehalten, daß sich der stolze Reiter auch nur an seinen Namen erinnern, geschweige denn ihn als Burschen wünschen würde. Was würden die anderen Kinder staunen, wenn er es ihnen erzählte! "Herr", Hogan wurde blaß, "Dietter ist noch sehr jung, gerade vierzehn Sommer. Er versteht nichts vom rauhen Kriegshandwerk und den Aufgaben, die er für einen Herrn wie Euch verrichten muß. Auch ist er nicht an die Strapazen weiter Reisen gewöhnt ..." "Alles Ausflüchte!" Aurelian hatte diese Einwände erwartet und winkte unwirsch ab. "Weder will ich mit dem Jungen in den Krieg ziehen, noch bin ich ein Schinder. Seine Arbeit ist nicht schwer, jeder erlernt sie schnell. Besser, als mit gekrümmtem Buckel bei sengender Hitze auf dem Feld zu stehen, ist sie allemal. Ich verlange nur, daß Dietter mich nach Siran begleitet. Dort habe ich Verwandte und Freunde. Einer von ihnen ist Goldschmied und kann immer einen geschickten Lehrbuben gebrauchen. Überleg es dir, Alter! Dietters Dienste sind mir die fünfzig Zech wert, die dich vor dem Kerker bewahren. Du hast mein Wort, daß ihm unterwegs kein Leid widerfährt und ich für eine ordentliche Ausbildung sorgen werde. Schon in zwei, drei Jahren wird der Junge Geselle sein, bald seinen Meister machen und in die Heimat zurückkehren können. Goldschmied ist ein ehrbarer Beruf, der deine Familie künftiger Geldsorgen zu entledigen vermag." "Ich weiß nicht." Hogan blickte auf Dietter und dessen Mutter, die leise jammerte, Hogan möge ihren Sohn nicht mit dem Fremden gehen lassen. Dietters Sicherheit und Wohlergehen seien mehr wert als alle Zech. Lieber würden sie auf ihren Streifen Acker verzichten. Dietters Blick war flehentlich. "Laß mich mitgehen, Großvater. Ich möchte Siran sehen, und wenn man mich als Lehrling annimmt, kann ich viel lernen." Vielleicht erlebte er an Aurelians Seite aufregende Abenteuer. Vielleicht nannte man eines Tages seinen Namen in einem Atemzug mit dem Dorians von Tardak. Vielleicht ... Gern hätte Hogan abgelehnt, doch Dietters Bitten, Aurelians Bestimmtheit und die Aussicht auf die dringend benötigten Zech ließen ihn nachgeben. Dietter jubelte, und seine Mutter weinte still. Lalene würde ihr Dorf gewiß nicht vergessen und ihre schützende Hand über Dietter halten, tröstete Hogan sein schlechtes Gewissen. Hatte sie nicht den ehrbaren Reiter geschickt, dessen Freundlichkeit ihn vor dem Kerker rettete?
Als es zu dämmern begann, hatten Aurelian und Dietter das kleine Dorf weit hinter sich 24
gelassen. Etwas wehmütig hatte der Junge einen letzten Blick zurückgeworfen, als die Häuser immer winziger wurden und schließlich ganz hinter den dicht belaubten Bäumen verschwanden, aber er würde eines Tages sein Zuhause, die Eltern, Großeltern, Geschwister und Freunde wiedersehen. Jetzt lockte das große Abenteuer! Da es in unmittelbarer Nähe keine Ortschaft gab, lagerten sie auf einer geschützten Lichtung zwischen hohen, leise flüsternden Eichen. Der von saftiggrünen Blättern umrahmte Himmel wurde rasch dunkler und die helleren Sterne begannen bereits zu funkeln. Erst in der zweiten Nachthälfte würde der fast volle Mond etwas fahles Licht spenden. Dietter rutschte vom Rücken des geduldigen Esels, dem das zusätzliche Gewicht des Jungen nichts ausgemacht hatte. Aurelian zeigte seinem neuen Burschen, wie man aus der wasserabweisenden Plane ein einfaches Zelt errichtete und aus trockenem Holz und Laub ein kleines, nicht qualmendes Feuer entzündete. Eifrig sammelte Dietter eine Armvoll geeigneter Äste und legte regelmäßig die harzig duftenden Hölzer nach, während er zuschaute, wie Aurelian aus den Rüben und unterwegs gesammelten Wildfrüchten eine schmackhafte Mahlzeit bereitete. Morgen wollten sie jagen, um ihre Fleischvorräte zu ergänzen. Weil er kaum einen Handgriff beitragen konnte, kam sich Dietter dumm und unnütz vor. Alles machte Aurelian allein und erklärte dabei ausführlich die Pflichten, die sein Bursche übernehmen sollte. Zweifellos hatte sein Herr durch ihn mehr Arbeit, als wäre er allein weitergezogen. Aufmerksam prägte sich Dietter alles ein, denn er wollte keine Last sein oder gar ungnädig nach Hause geschickt werden. Schließlich krochen sie zum Schlafen unter die Plane. Es war warm, und ein milder Wind wehte, so daß die leichten Decken genügten. Das graue Pferd und der Esel verhielten sich ruhig, und die Waldtiere schlichen im weiten Bogen um die glimmende Feuerstelle. Dietter war erschöpft von dem unbequemen Ritt auf den Gepäckstücken, die ihm einige blaue Flecken verursacht hatten, dennoch wollten ihm die Augen nicht gleich zufallen. Eine Menge war geschehen und hatte sein eintöniges Leben drastisch verändert. So viel Neues hatte er heute erfahren, und noch mehr Aufregung hielten die nächsten Tage und Wochen für ihn bereit. Die Gedanken wirbelten nur so durch seinen Kopf. Aurelian lauschte auf die gleichmäßigen Atemzüge Dietters. "Schläfst du schon, Junge?" "Nein, Herr." "Stören dich die Geräusche der Nachttiere?" "Nein, Herr." "Sie sind harmlos. Das Feuer hält sie fern." Er drehte sich auf die Seite und konnte nun Dietters schemenhafte Profil betrachten. "Du bist fünfzehn Sommer alt?" "Fast, Herr." Es entstand eine kleine Pause, dann erkundigte sich Aurelian: "Hattest du im Dorf eine Freundin?" "Nein, Herr." "Warum nicht? Du bist sehr hübsch. Die Mädchen mögen dich bestimmt." "Ich weiß nicht, Herr." Es klang verlegen. Aurelian rückte näher und fuhr leicht durch Dietters Locken, strich ihm mit zwei Fingern über die bartlose Wange. "Doch, du bist hübsch, könntest selbst fast ein Mädchen sein." Der Junge schwieg, aber Aurelian konnte spüren, wie sich Dietter unter seiner Berührung versteifte. Offenbar wußte sein Bursche nicht, was er davon halten sollte. "Hast du Angst vor mir, Dietter?" "Nein ... ich glaube nicht, Herr." Aurelian mußte behutsam vorgehen. "Du brauchst dich auch nicht vor mir zu fürchten." Er schlang dem Jungen einen Arm um die zitternden Schultern und begann, ihn sanft zu streicheln. Leise erzählte er ihm von Sehnsüchten und Zärtlichkeiten, von Liebe und all den Dingen, die ein Mann außer dem Umgang mit einem Schwert beherrschen mußte. Dietter wand sich unbehaglich in Aurelians fester Umarmung. Dieses ungewohnte Verhalten 25
seines Herrn verwirrte ihn. Auch sprach dieser von Einzelheiten, wie sie die anderen Jungen, die mit ihren Erfahrungen prahlten, niemals angedeutet hatten. Krampfhaft überlegte er, wie er Aurelians Wünsche ablehnen konnte, ohne ihn zu beleidigen. "Herr, ich verstehe nicht, was Ihr meint. Verzeiht, aber ich bin müde, ich möchte lieber schlafen. Von diesen Dingen weiß ich nichts." "Du bist mein Bursche", wurde er von Aurelian schon etwas schärfer belehrt. "Ich habe für deine Dienste bezahlt - für alle Dienste. Du brauchst dich nicht zu zieren, schließlich bist du in einem Dorf aufgewachsen, hast den Tieren zugesehen ... und verstehst sehr wohl. Was ich dir jetzt beibringe, wird dir sicher gefallen." Aurelians ungeduldiges Drängen wurde heftiger, seine Leidenschaft ließ sich nicht länger verbergen. Kräftige, schwielige Hände hatten längst die Schließen von Dietters weitgeschnittenem Hemd geöffnet und lösten nun den Strick, der seine Hose zusammenhielt. Kundige Lippen kosten das glühende Gesicht des Jungen, weckten bisher unbekannte Empfindungen, die ihn einerseits erschreckten, andererseits aufregend und angenehm waren, ihn abstießen und gleichzeitig hoffen ließen, Aurelian würde nicht aufhören. Nachdem der Söldner Dietter geschickt seiner Kleidung entledigt hatte und selbst nackt auf den weichen Decken lag, gelang es dem Jungen, seinen Herrn von sich zu stoßen. Dieser hatte nicht mit solch heftiger Gegenwehr gerechnet, so daß sich sein Griff lockerte. Dietter nutzte die Gelegenheit, rappelte sich auf und flüchtete mit langen Schritten tiefer in den finsteren Wald. "Komm zurück", bellte der Söldner ihm einen Befehl nach. "Du wirst dich in der Dunkelheit verirren. Komm wieder her. Ich werde dich nicht bestrafen!" Dietter achtete nicht auf Aurelians Worte. Fort, dachte er, weiter, nur nicht stehen bleiben. Während er rannte, schaute er nicht hinter sich, spürte nicht das Kratzen der spitzen Dornen, nicht das Peitschen der dürren Äste und nicht das Stechen der scharfkantigen Steine. Hungrige Raubtiere und bösartige Geister, die im Verborgenen auf ein hilfloses Opfer wie ihn lauerten, waren ihm gleichgültig. Schlimmer als ein verärgerter Söldner konnten selbst sie nicht sein. Unterdessen stieg Aurelian in seine Hosen und Stiefel, nahm das Schwert und eilte Dietter ein Stück den unebenen Pfad hinterher. Doch schon bald mußte er die Verfolgung aufgeben; es war zu dunkel und der Junge bereits zu weit fort von ihrem Lager. Morgen konnte er bei Tageslicht die Spur des undankbaren Burschens aufnehmen, und ein zweites Mal würde ihm Dietter nicht weglaufen!
Dietter rannte, stolperte und rannte weiter. Erst als er völlig erschöpft und sein Lauf in ein Taumeln übergegangen war, ließ er sich keuchend auf den weichen Boden sinken. In seine Seiten stachen tausend Nadeln, vom heftigen Atmen schmerzte die Brust, in seinen Ohren rauschte das Blut - er konnte nicht mehr weiter. Nachdem Dietter eine Weile bewegungslos geruht hatte, begann er zu frieren. Die Schmerzen ließen endlich nach, und da Aurelian bisher nicht schimpfend aufgetaucht war, machte sich Erleichterung in ihm breit. Für den Augenblick war er in Sicherheit, doch was sollte er anfangen, wenn die Sonne aufging? Bestimmt würde der Söldner die Spur finden und seinen Burschen suchen, für den er teuer bezahlt hatte. Dietter wußte weder, wo er war, noch wohin er fliehen sollte. Natürlich konnte er reumütig zu Aurelian zurückkehren, doch wer weiß, was der zornige Söldner machen würde, wenn er ihn fand. Vielleicht würde er Dietter schlagen, und ganz sicher war es unmöglich, Aurelians Begierde ein zweites Mal zu entwischen. Dietters Heimatdorf war weit, er hatte eine lange Strecke zu wandern, und das auch noch ohne Schuhe und Kleidung. Was würden die Nachbarn sagen, wenn sie ihn so sahen! Schadenfroh verspotten würden sie ihn und seine Familie. Nicht auszuschließen war, daß sein Herr bei den Eltern nach ihm fragte und ihnen 26
Schwierigkeiten bereitete. Wie sehr sich Dietter auch um eine Lösung bemühte, es fiel ihm keine ein. Am liebsten wäre er tot gewesen. Vielleicht kam eines der legendären Monster und fraß ihn auf, oder die Herrin des Waldes verwandelte ihn in einen Strauch, in einen dornigen hoffentlich, damit er Aurelian stechen konnte. Der Söldner war ja auch an allem schuld! Schließlich ließ die Müdigkeit Dietter einschlafen. Zwei kleine Käuzchen flatterten herab, schüttelten sich und verwandelten sich in anmutige Halbwesen mit schönen Frauenköpfen, vollen Brüsten und einem braungefiederten Vogelleib. Sie betrachteten den einsamen Schläfer neugierig, und als er sich nicht rührte, trippelten sie vorsichtig auf ihren verhornten Füßen näher. "Ein Mensch", brachte die eine ihre Überraschung mit melodischer Stimme zum Ausdruck und warf ihr nußbraunes Haar in den Nacken, "ein richtiger Mensch ist zu uns gekommen. Sie haben sich lange nicht mehr in den Wald gewagt." Die Mutigere der beiden wirbelte Dietters helle Locken mit einem Schlag ihres Flügels durcheinander, strich ihm über die kühle Haut, die so anders war als ihr dezent gemustertes Federkleid, insbesondere über sein Geschlechtsteil, wobei sie wissend kicherte, als es auf die leichte Berührung reagierte. "Ein Mann", verbesserte sie ihre Begleiterin, "ein richtiger kleiner Mann. Und niedlich ist er!" "Inanis!" rief die erste erschrocken. "Was tust du? Er könnte aufwachen!" Inanis lachte, und eine widerspenstige rote Haarsträhne fiel ihr über die glitzernden Augen. "Du bist ein Angsthase, Neptis. Der hier schläft tief und fest, und selbst wenn er aufwachen würde, so wäre er nicht fähig, uns ein Leid zu tun. Sieh nur, er ist noch ganz jung, mehr Knabe als Mann, ohne Waffen und", ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem anzüglichen Grinsen, "ohne Kleider. Die Herrin würde sich gewiß über seinen Besuch freuen." "Ja", stimmte Neptis zu, "sie hat Langeweile. Aslim, der dunkle Herr, hat sie nicht mehr belästigt, und die Menschen sind sehr ängstlich. Dieser hübsche Bursche wäre in der Tat die rechte Zerstreuung." "Dann sollten wir nicht zögern und ihn zu ihr bringen." "Vlasta!" riefen die Vogelmädchen, und noch lauter: "Vlasta!" Die dunkelgrünen Büsche teilten sich, und hervor ritt ein junger Mann auf einem mächtigen schwarzen Eber. Er mochte kaum älter als Dietter sein, hatte jedoch breite Schultern und starke Muskeln. Der milchige Mondschein glänzte auf den kleinen, gedrehten Hörnern, die aus seiner breiten Stirn wuchsen. Vlasta beugte sich herab, hob Dietter auf, als wäre er leicht wie eine Feder, und legte ihn vor sich über den speckigen Nacken seines Reittieres. Die Vogelmädchen schüttelten sich, wurden wieder zu Käuzchen und folgten Vlasta. Nach einer kurzen Wegstrecke erreichten sie Lalenes Heim, das Spinnwebschloß. Es war mit keiner menschlichen Behausung vergleichbar: Nebelig weiße Fäden waren zu einem zarten, fast transparenten Gebilde verwoben, das mehr Ähnlichkeit mit einem riesigen Zelt als mit einem Palast hatte. Auf den ersten flüchtigen Blick hätte niemand geglaubt, wieviele Gänge das Spinnwebschloß durchzogen und unzählige Zimmer miteinander verbanden. In einer der lichten Kammern bettete Vlasta Dietter auf ein bequemes Lager und zog sich zurück. Es war angenehm warm, und Dietter fror nicht mehr. Die unheimlichen Wesen waren fort, aber was oder wer würde nun erscheinen? Obwohl ihm eine innere Stimme zuflüsterte, daß er sich nicht zu fürchten brauchte, daß er in Sicherheit war und Aurelian ihn hier niemals finden würde, beunruhigte ihn dieser unwirkliche Ort, und er hätte ihn liebend gern verlassen. Er erhob sich, tastete mit den Händen an den nachgiebigen Wänden entlang und suchte nach der Tür. Wo war Vlasta hinausgegangen? Konnte es sein, daß sich auf einen stummen Befehl des Eberreiters eine Öffnung in der Wand gebildet und sich hinter ihm wieder geschlossen hatte, während Dietter, der nicht wußte, welches Wort der Schlüssel war, gefangen blieb? Plötzlich stand er einer hochgewachsenen, schlanken Frau gegenüber. Er hatte sie nicht kommen sehen, sie war einfach da gewesen. Birkengrünes Haar umrahmte in weichen Wellen 27
ein ebenmäßiges, zeitloses Gesicht, vereinte sich mit dem hauchzarten Gewand, das ihren Körper in sanften Falten mehr enthüllte als bedeckte, und floß bis zum milchigen Boden. Sie war wunderschön, fand Dietter, schöner als jede andere, die er jemals gesehen hatte. "Herrin", hauchte er und beugte sein Knie vor ihr. Sein schüchterner Blick heftete sich auf den Saum ihres nebligen Kleides. Was würde sie mit ihm anstellen, nachdem er in ihr Reich eingedrungen war? Lalene strich ihm freundlich übers Haar. "Steh auf, Dietter, und fürchte dich nicht." Ihre Stimme klang wie das liebliche Läuten einer Glockenblume. "Ich freue mich, daß du den Weg zu mir gefunden hast. Es ist einsam hier, und ich habe viel zu selten Besuch. Ich werde dir nichts tun," ein nachsichtiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als er, immer noch bebend, ihrer Aufforderung nachkam, "dir geschieht nichts Böses. Komm, setzen wir uns. Erzähle mir von dir und deinem Dorf!" Dietter gehorchte und berichtete von seinem bisherigen Leben, von den Sorgen seines Großvaters und Aurelians Auftauchen. Ohne ihn zu unterbrechen, hörte Lalene zu, nickte nur hin und wieder nachdenklich. Schließlich stoppte sie den Redefluß des Jungen mit einer kaum merklichen Geste. "Mach dir keine Gedanken, alles wird gut", versprach sie und wechselte das Thema. "Die Nacht ist bald um, dann wirst du mich wieder verlassen. Sag, schöner Jüngling, möchtest du mir noch ein Geschenk machen?" Betreten zeigte ihr Dietter seine leeren Hände, und ihm wurde wieder bewußt, daß er immer noch völlig nackt war. "Herrin, verzeiht mir ..." "Es müssen keine kostbaren Schmuckstücke, feine Stoffe oder", sie lächelte verschmitzt, "leckeren Rüben sein; man kann auch andere Dinge geben. Willst du mir nicht dein Herz schenken?" "Ihr wißt, daß es Euch gehört, Herrin", murmelte Dietter, fasziniert von ihrer fremdartigen Schönheit und Güte. Niemals konnte er ihr einen Wunsch abschlagen. Er wich nicht zurück, als Lalene ihn in ihre geschmeidigen Arme nahm. Im Gegensatz zu Aurelians Händen waren ihre weich und zart, ihre Haut war nicht haarig sondern glatt, statt nach Schweiß und herbem Rasierwasser duftete sie nach süßen Waldblumen, ihre Berührungen waren nicht begierig sondern verständnisvoll. Bei Lalene spürte Dietter keinen Drang wegzulaufen. Sie würde ihm keine Schmerzen zufügen und nicht mehr von ihm fordern, als er freiwillig zu schenken bereit war. Er gab sich Lalenes wunderbarem Zauber hin, wollte mehr von dem probieren, was Aurelian ihn hatte kosten lassen und lernte nach den einfühlsamen Unterweisungen der Herrin. Mit der Nacht schwanden Lalene und das Spinnwebschloß. Ihre letzten Worte waren kaum mehr als ein letzter Kuß. "Du hast mir alles geschenkt, was du hattest. Sag, Dietter, wer hat es im Leben leichter, die Frauen oder die Männer?" Bevor Dietter antworten konnte, verblaßte Lalene gänzlich, das Spinnwebschloß war nicht mehr da, und er erwachte fröstelnd unter einem ausladenden Baum, der ihn mit einigen herabgerieselten Blättern wie eine Mutter ihr Kind zugedeckt hatte. Was für ein sonderbarer Traum! Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und streifte dabei das welkende Laub von sich, reckte seine steifen Glieder, die von den Strapazen des vergangenen Tages schmerzten, und richtete sich schwerfällig auf. "Da bist du ja!" Er fuhr herum. Aurelian stand im Schatten, einen erlegten Hasen in der Linken. Der Söldner verlor kein Wort über die letzte Nacht und führte Dietter zurück zu ihrem Lager, das gar nicht weit von seinem Schlafplatz entfernt war. Offenbar war er die ganze Zeit im Kreis gerannt, und nur der Zufall hatte ihn davor bewahrt, daß Aurelian ihn sofort entdeckte.
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Schweigend legten sie einen Tagesritt zurück. Aurelian blieb wortkarg, und Dietter fragte sich, was am Abend passieren würde. Daß er so schnell seine Entscheidung, den Söldner zu begleiten, bereuen würde, hätte er nicht gedacht. Er wäre froh gewesen, hätte Aurelian ihn wieder nach Hause geschickt, aber Dietter war von ihm gekauft worden, wie ein Pferd, wie ein beliebiger Gegenstand, und diese Erkenntnis tat weh. Als sie am flackernden Feuer saßen, richtete Aurelian, immer noch zürnend, das Wort an den Jungen: "Warum bist du weggelaufen?" Dietter zögerte. "Ich ... ich wußte nicht, was Ihr von mir wolltet, Herr." "Bin ich dir so zuwider, daß du dich lieber von wilden Tieren fressen läßt, als meine Umarmung zu dulden?" Fahrig spielten seine schlanken Hände mit dem Schnurrbart. "N-nein, Herr." "Zum letzten Mal, Bursche: Ich bin wirklich geduldig mit dir gewesen. Leicht machen, wollte ich es dir, obwohl ich für deine Dienste bezahlt habe und dich hätte zwingen können. Du wirst mir künftig in allem gehorchen - ich bin dein Herr! Falls es dich tröstet, in wenigen Tagen erreichen wir Siran. Wie versprochen, bringe ich dich zu meinem Freund, dem Goldschmied, und du bist mich los. Bis dahin jedoch möchte ich für meine Zech auch etwas haben - oder glaubst du, ich habe dich wirklich nur mitgenommen, weil ich ein weiches Herz habe und jemanden für meine Sachen brauche?" Er wartete einen Moment. "Nun, was ist?" Dietter starrte stumm in die Flammen. Sein Herz raste, und er wünschte sich weit weg, irgendwohin, an einen Ort, an den ihm Aurelian nicht folgen konnte. Aurelian faßte das Schweigen als Zustimmung auf und drückte Dietter auf den harten Boden. Diesmal ging der Söldner grob mit ihm um, ließ ihn seine ganze Ungeduld und Verärgerung spüren. Wie schon beim ersten Mal erregte es Dietter, weckte in ihm jedoch gleichzeitig Abscheu. Aurelian war rücksichtslos und brutal. Waren alle Männer so? Er dachte an Lalene. War es nur ein herrlicher Traum gewesen oder hatte sie tatsächlich bei ihm gelegen? Ob es auch mit anderen Frauen so sein würde? Wie gern hätte er den Traum weitergeträumt und wäre im Spinnwebschloß geblieben, fern von grausamen Menschen wie Aurelian. Doch kein Traum wollte Dietter entführen. Auf ihm lag Aurelian, nicht die bezaubernde Lalene. Weshalb begehrte der Söldner ausgerechnet ihn, warum hatte er sich nicht ein hübsches Mädchen gesucht? Mehr als eine aus dem Dorf wäre sofort bereit gewesen, ihm zu Willen zu sein, doch Aurelian hatte sie alle verschmäht. Dietter hatte bei den Gesprächen im Wirtshaus aufgeschnappt, daß es Männer gab, vor allem unter den Kriegern, die sich nichts aus Frauen machten, die stattdessen die Freundschaft mit ihresgleichen pflegten. Zweifellos gehörte sein Herr zu diesen Männern. Ach, wäre er doch ein Mädchen, dann würde Aurelian ihn gewiß nie wieder voller Lüsternheit bedrängen! Plötzlich erfaßte ihn ein merkwürdiges Gefühl. Dietter bemerkte eine seltsame Leere zwischen seinen Beinen und eine Spannung an seiner Brust. Es kribbelte uns kitzelte, sein ganzer Körper wurde von diesem Unbehagen erfüllt. Ungestüm riß sich Aurelian los, stieß den Jungen von sich und starrte fassungslos auf ihn herab. Dietter hatte kleine Brüste bekommen, und sein Glied war verschwunden. Er war ein Mädchen! "Wie ist das möglich?" Aurelian fluchte zornig. "Eben warst du noch ein Junge. Ich habe genau gespürt ... ich habe gesehen ... Verdammt, wie hast du das gemacht? Bist du ein Gestaltwandler, der mich zum Narren halten wollte, nur damit ich dem Alten die Zech gebe? Hat man dich in der Nacht verhext? Los, zieh dich an. Ich kann deinen Anblick nicht mehr ertragen! Von mir aus kannst du abhauen." Er wandte sich ab und suchte seine verstreuten Kleidungsstücke zusammen. Die wilde Lust war verflogen, und geblieben war ein dumpfer Schmerz in den Lenden. "Herr", vernahm er Diettas Stimme, "Ihr habt versprochen, mich nach Siran mitzunehmen. Bricht der bekannte Aurelian von Ivalit immer so leicht sein Wort?" 29
Der Söldner preßte die Lippen zusammen und schluckte die derbe Verwünschung hinunter. "Na schön. Um meiner Ehre willen." Aurelian verschwand im Dunkeln und hackte wütend mit seinem Schwert Äste von den Bäumen, bis er erschöpft und die Waffe schartig war. Wenigstens hatte er sich und seine Gefühle wieder einigermaßen in der Gewalt. Oh, wie war er betrogen worden! Fünfzig Zech für ein Weib ... für nichts ... Diettas Verwunderung hatte sich rasch gelegt. Ein triumphierendes Lächeln ließ ihr schmales Gesicht leuchten. "Danke, Lalene", flüsterte sie, "danke für dein großartiges Geschenk!" Sie betrachtete sich eine Weile, bewunderte den verführerisch rosigen Schimmer ihrer Haut und streichelte die neuen Brüste, die warm und weich in ihre kleine Hand paßten. Ob es sich auch rückgängig machen ließ? Ja, auf Wunsch verschwanden die weiblichen Attribute, und auf Wunsch kamen sie wieder zum Vorschein. Dietter gefiel sich als Mädchen fast besser und beschloß, fürs erste eine Dietta zu bleiben, zumindest, bis Aurelian sich in Siran von ihr getrennt hatte. Nun brauchte sie keine Belästigung mehr zu fürchten und konnte sicher in der Begleitung des Söldners reisen. Zufrieden zog sie die Decke über die Schultern, streckte sich aus und schlief ein.
Nach einer knappen Woche trennte sich Dietta von Aurelian in Siran. Der Söldner hatte kein Wort mehr mit ihr gewechselt, ihr nicht einmal Glück gewünscht und war sogleich weitergeritten, nachdem er Dietter in der Goldschmiede abgeliefert hatte. Der Junge erfuhr später, daß sich Aurelian von ladonischen Seefahrern hatte anwerben lassen und mit ihnen nach Bjelmorsk gesegelt war. Dort brauchten sie erfahrene Kämpfer, um die einheimischen Nomaden in die Eiswüsten zurückzutreiben. Nach einigen Jahren schloß Dietter die Lehre erfolgreich als Meister ab und kehrte in sein Dorf zurück, um dort eine eigene florierende Goldschmiede zu eröffnen. Sein Ruf lockte reiche Händler herbei, und, trotz des Widerspruchs gewisser Matronen, wurde ein Rosenhaus zur Unterbringung der Reisenden errichtet. Hogans Familie ging es gut, und sie brauchten unter keinen Geldnöten mehr zu leiden. Mickels Angehörige hingegen wurden vom Pech verfolgt. Die fünfzig zu Unrecht erworbenen Zech weckten die Habgier der Zeugen, die immer mehr Geld für ihr Stillschweigen erpreßten, bis Mickel nichts mehr hatte. Seine Frau war längst mit einem anderen durchgebrannt, der Sohn schloß sich der berüchtigten Bande Dorians von Tardak an, seine zweite Tochter, Neldas jüngere Schwester, ließ sich von einem Priester schwängern und floh mit ihrem Geliebten aus dem Dorf, und Mickel verschwand kurz darauf ebenfalls. Niemand wußte, ob er seinem verpfuschten Leben ein Ende bereitet hatte oder unter falschem Namen untergetaucht war. In Siran blieben einige unglückliche Galane mit der Erinnerung an eine treulose Schönheit namens Dietta und mehrere ebenso unglückliche Mädchen mit mehr als nur der Erinnerung an den zärtlichen Dietter zurück. Nach der Zeit gebaren sie niedliche, rotblonde Kinder, die zum großen Schrecken ihrer Mütter beliebig Mädchen oder Knabe sein konnten. Die jungen Frauen verschwiegen das Geheimnis und kleideten die Kinder gemäß ihrem Namen. Natürlich kamen die gehässigen Nachbarn doch irgendwann dahinter - aber das ist eine andere Geschichte.
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Maskenspiel von Christel Scheja
Wie kann ich es nur erreichen, dass ein Menschen-Mann mich liebt? Schließlich bin ich in ihren Augen ein Monster, das im Wald haust. Aber ich finde einen Weg...
Ich betrachte verzückt mein Gesicht in dem Spiegel, den er mir geschenkt hat, und streiche meine Locken zurück, goldblond und lang wie die meines Prinzen. Meine Augen sind veilchenblau, meine Lippen zart. Ich habe einen langen, sanft geschwungenen Hals, und meine Brüste sind so klein, daß sie kaum meine schmalen Hände ausfüllen. Ich habe eine schmale Taille, runde Hüften und lange Beine. Ja, ich brauche mich meines Aussehens wirklich nicht zu schämen. Und nun höre ich wieder sein leises Lachen und Worte, mit denen er mich ein eitles Ding nennt; doch seine Augen verraten, daß er stolz auf sich ist, meinen Fluch gebrochen und mich damit gerettet zu haben. Ich lächle still in mich hinein und lasse ihn in diesem Glauben. Noch vor ein paar Monaten flohen die Menschen aus Angst vor mir, oder sie verfolgten mich, um mich zu jagen und zu töten. Sie nannten mich ein Monster und schrieben mir Dinge zu, die ich gar nicht getan hatte ... Warum sollte ich ihre Kinder entführen und - fressen? Ich hatte oft genug beobachtet, wie sie ihre Nachkommenschaft aussetzten, und manchmal habe ich mich der kleinen Würmer sogar erbarmt und sie zu anderen Hütten - weit weg am anderen Ende des Waldes - getragen, wo eine Menschenfrau gerade ihr Kleines verloren hatte oder gar keines bekommen konnte. Woher ich das wußte? Nun, die Bewohner dieser Gegend hatten über meinem Heim in den Blauen Steinen einen Altar errichtet und beteten die Mutter Erde an, die Göttin, wie sie sie nannten. Na ja, und ihre Gaben ernährten mich gut. So hatte ich beschlossen, ihnen das Gute zu vergelten und ihren Sorgen zu lauschen, und deshalb kamen immer wieder Frauen an diesen Ort und klagten der Göttin - oder mir - ihr Leid. Aber wann immer sie mich sahen, liefen sie schreiend davon und verzogen ihre Gesichter vor Ekel. Meine borkige, schmutziggrüne Haut mußte wohl abstoßend auf sie wirken, ebenso wie meine breite Gestalt und das vorstehende Kinn. Verfilztes Fell schützte die Teile, an denen meine Haut etwas dünner war, und meine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Am häßlichsten mußten sie wohl meine Zähne finden, von denen zwei wie Wildschweinhauer hervorragten. Doch damit konnte ich mich gegen die Raubtiere verteidigen, die mich manchmal angriffen, wenn der Hunger sie zu sehr quälte oder sie mich noch nicht kannten. Dabei lebte mein Volk seit Urzeiten in diesen Wäldern und den angrenzenden Bergen, schon bevor die Menschen hierherkamen. Doch wir waren schon immer wenige und Einzelgänger, und ich sehnte mich manchmal nach Gesellschaft. Zwar waren da die Tiergeister, mit denen ich mich verständigen konnte - aber die dachten nur in engen Bahnen, und auf Dauer langweilten sie mich. Doch woher sollte ich Gefährten nehmen, wenn nicht rauben? Das widerstrebte mir, und so genügte es mir, mit dem bißchen Magie, das mir zu eigen, so nahe an die Menschen heranzukommen, daß ich viel von ihnen beobachten konnte. Sie waren Wesen voller widersprüchlicher Gefühle: konnten hassen und lieben zugleich, wütend und sanft sein, Mordlust und Mitleid in einem Atemzug ausdrücken. Sie schlugen die, die sie im nächsten Moment in den Armen hielten, und eines der wichtigsten Dinge schien für sie zu sein, sich zu vereinen, ihre Körper aufeinanderzupressen und aneinanderzureiben. Immer wieder entdeckte ich auf meinen Streifzügen Pärchen, die sich verstohlen zwischen Büsche zurückgezogen und die Kleider abgestreift hatten. Ich konnte beobachten, wie sie es taten - manchmal lag der Mann zwischen den weit gespreizten Beinen seiner Gefährtin und
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bewegte sich heftig auf und ab, oder er kniete hinter ihr, wenn sie sich auf Hände und Knie niedergelassen hatten. Dann wieder kauerte die Frau über ihrem Gefährten ... Und irgendwie nahm ich Anteil an ihrem Seufzen und Stöhnen, jedenfalls kribbelte mein Schoß immer dann, wenn ich so etwas sah. Schließlich waren unsere Völker gar nicht so verschieden. Zwar hingen meine Brüste herab wie lederne Beutel und meine Schenkel waren breit und fleischig, aber die Männer meines Volkes wußten das zu schätzen. Wie lange es wohl her war, daß ich einen von ihnen gesehen hatte? Der letzte war in die Berge gegangen, weil er die Menschen nicht mochte. Er war nicht lange genug bei mir geblieben, als daß ich ... Jedenfalls war ich der Einsamkeit bald überdrüssig und fragte mich, was ich tun sollte. Mir einem Menschenmann einfangen und ihn zwingen, das zu tun, was er mit den Frauen seines Volkes tat? Nein, dazu war ich zu gutmütig, und irgendwie hatte ich das Gefühl, daß das auf diese Weise nicht gelingen würde. Dann erinnerte ich mich an die Geschichte, die einst ein Wanderer an einem Feuer erzählt hatte: Er hatte berichtet von einer verfluchten Prinzessin, die nur ein starker furchtloser Kämpe von einem schrecklichen Fluch hatte befreien können. Sie war von einer Hexe in ein abscheuliches Wesen verwandelt worden, und nur die Liebe eines Mannes konnte sie aus dieser Gestalt befreien, wenn dieser bereit war, sie zum Weibe zu nehmen und sich mit ihr zu vereinen. »Mutter Eule«, fragte ich einen der Tiergeister um Rat, der mir noch einen Gefallen schuldete, und schilderte meinem Wunsch. »Wie soll ich anstellen, daß ein Menschenmann zu mir kommt? Ich möchte so werden wie sie - zumindest für einige Zeit!« Natürlich musterte Mutter Eule mich streng und schüttelte tadelnd den Kopf. »Was kommst du zu mir mit diesem unsinnigen Wunsch! Du bist eine Närrin, so wie diese hastigen Wesen sein zu wollen. Schau sie dir doch an! Schon unter ihresgleichen verbreiten sie Leid, und wenn du so werden willst wie sie, dann mußt du auch die dunklen Seiten annehmen und nicht nur die deiner Träume!« »Das will ich doch!« erklärte ich. »Und ich habe sie deswegen lange genug beobachtet! Also, was rätst du mir, Mutter Eule?« »Du bist so alt wie ich, und doch willst du so töricht sein? Dummes Ding, die Menschen sind unberechenbar. Du ...« Ich wehrte die Zweifel der Eule ab und versprach ihr, achtsam zu sein. So gab sie nach und erzählte mir von einem alten Grab, in dem ein lange toter Mensch mit seinen Schätzen ruhte, denn eine Prinzessin mußte reich sein. Die holte ich und verbarg sie in meiner Höhle. Währenddessen hatte Mutter Eule mit anderen Tiergeistern dafür gesorgt, daß die Geschichte in den Köpfen der Menschen wieder wach wurde, denn manchen von ihnen konnten sie Träume senden. Ich sollte währenddessen in meiner Höhle warten und die Kraft der Steine in mich aufnehmen, denn eine Verwandlung würde mich viel Magie kosten, die ich so nicht besaß. Und auch dann würde ich den Zauber immer wieder durch ein bestimmtes Ritual erneuern müssen ... Eines Tages schreckte ich aus meinem Schlaf hoch, als ich seltsame Laute vom Eingang meiner Höhle spürte. Eine menschliche Stimme fluchte verhalten, dann zischte eine Fackel auf. Ich sah im Feuer die Gestalt eines hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes, dessen langes Haar zu Zöpfen geflochten über seine Schultern baumelte. Er war ein Kämpfer, wie ich an seiner Rüstung und seinem Schwert erkannte. »Bitte«, hauchte ich mit der sanftesten Stimme, der ich fähig war, »bitte tut mir nichts, edler Krieger!« »Dann komm hervor ins Licht und zeige dich!« knurrte er mit grober Stimme. »Ich will dich sehen.«
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Vorsichtig und wachsam folgte ich seinem Befehl und senkte den Kopf, so wie ich es bei den Menschenmädchen gesehen hatte, wenn sie sich fürchteten. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, warf einen Blick auf den Haufen schimmernden Goldes hinter mir und senkte dann die Waffe. Seine dunklen Augen zeigten keine Regung, wenngleich er auch angewidert dreinblickte. »Du bist also die Prinzessin, von der man sich hier im Alwondynn erzählt.« »Ja, Herr, ich bin Ailguna.« Diesen Namen hatte auch die Heldin der Geschichte getragen. Er grinste schief und richtete die Fackel auf mich. Ich wich erschreckt einen Schritt zurück, während mein Herz bis zum Hals pochte. »Sie haben recht mit der Widerwärtigkeit deines Aussehens. Wenigstens deine Stimme hast du behalten«, sagte er kalt und beäugte wieder das Gold hinter mir. Noch immer hielt er das Schwert in der Hand und hob es wieder. Was würde er jetzt tun? Mich angreifen? Dann steckte er das Schwert mit einem Lachen in die Scheide und die Fackel in eine Nische in der Wand. Im nächsten Moment sprang er mich an und warf mich nieder. Ich war so überrascht, daß ich mich zunächst nicht wehrte und von ihm niedergedrückt wurde. Ein Dolch berührte meine Kehle. »Versuche nicht, mich zu überlisten, Kleine, oder ich schneide dir die Kehle durch. Ich bin schon mit Hexen und Zauberern fertig geworden, da kannst du mich nicht reinlegen.« Ich japste aus wirklicher Angst, während sein Grinsen breiter wurde: »Und ich habe schon häßlichere Weiber als dich geritten.« Während er mich weiterhin mit dem Dolch in Schach hielt, setzte er sich auf. Dann nestelte er mit der Linken in seiner Lendengegend herum, hob die Hand noch einmal, um auf sie zu spucken und begann dann zu reiben. Ich vergaß meine Angst, als ich spürte, wie er sein Gewicht wieder verlagerte und sich zwischen meine Beine schob. »Ich will doch mal sehen, ob ich den Zauber brechen kann.« Mit einem harten Stoß drang er in mich ein. Ich riß die Augen weit auf und rang nach Luft, denn statt des Kribbeln durchfuhr mich ein unangenehmer Schmerz ... Aber das konnte doch nicht sein! Er bewegte sich wie die anderen Menschenmänner zwischen meinen Beinen, schnaubte und keuchte. Ich war nahe daran, ihn abzuwerfen und aufzugeben, aber dann entschied ich mich anders, atmete schneller und beschloß, die Kraft der Steine in mich fließen zu lassen. Mit jedem Stoß strömte die Magie in mich. Längst hatte der Mann den Dolch neben uns in die Erde gestoßen und seine Hände in meine Brüste gekrallt, die unter seinem Griff knisterten und knackten. Und ja, das Kribbeln erfüllte meinen Leib. Als der Krieger über mir sich anspannte und in mich verströmte, war es soweit: Die Kraft explodierte in mir, und ich spürte, wie sich mein Körper veränderte; die Haut wurde hell und glatt, mein Körper wurde schlanker und schmaler, mein Fell verwandelte sich in langes, seidiges Haar. Als ich aus meiner Benommenheit erwachte, spürte ich, wie eine warme Hand über meinen Bauch strich und eine andere mit den Haaren spielte. Ich öffnete die Augen und stellte fest, daß ich auf einer Moosbank lag. Der Mann beugte sich über mich. »Ah, du bist wieder wach«, meinte er leise und nicht mehr so grob wie vorher. »Ich hätte nicht gedacht, daß sich hinter soviel Häßlichkeit wirklich eine Schönheit versteckt«, murmelte er. Ich sah ihn überrascht an, denn er trug seine Rüstung nicht mehr. Dann betrachtete ich mich meine ungewohnt hellen und weichen Gliedmaßen, mein langes Haar. Ich staunte über meine zarten und geraden, nun nicht mehr borkigen Finger und die kleinen Brüste. »Ich ...« versuchte ich, meine Stimme wiederzufinden. Sie klang ungewohnt sanft und zart - damit würde ich keinem Raubtier mehr hinterherbrüllen können. »Ich bin ... ein Mensch geworden.«
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»Du warst lange verwandelt, wie?« meinte er gelassen und drehte mein Haar mit seinen Fingern zu einem Zopf. »Ich bin weit herumgekommen, aber du bist das erste Weib, das am Morgen schöner ist als in der Nacht!« Was, bei den Steinen, meinte er damit nun wieder? Ehe ich mich versah, beugte er sich vor und kam mit seinem Gesicht meinem sehr nahe. Neugierig sah ich ihn an. Das hatte er vorher nicht getan - jetzt griff er nach meinem Kopf und preßte seine Lippen auf die meinen. Seine Zunge drängte in meinen Mund. Zaghaft tat ich es ihm nach. Würde ich jetzt herausfinden, was die Menschen so sehr an diesem Tun begeisterte? Wie von selbst wanderten meine Hände über seinen Körper, strichen über harte Muskeln, die mich an meine Borkenhaut erinnerten, umschlossen seinen harten Schaft, der in meinen Händen noch zu wachsen schien. Er senkte seinen Kopf und knabberte an meinen Brüsten. Diesmal taten seine kleinen Bisse sogar weh - nein, sie verstärkten den Brand, der von meinen Lenden ausging. Er lachte und hob den Kopf. »Schenk mir eine kleine Belohnung, Mädchen!« forderte er mit glühenden Augen und gierigem Blick. Ich stieß kleine Seufzer aus und warf meinen Kopf zurück. War das richtig? Dann packten mich seine Hände an den Hüften. Er zog mich über seinen Leib, so daß sein Glied gegen meinem Bauch drückte. E sah mich erwartungsvoll an, bis ich verstand. Ich setzte mich auf und rutschte ein Stück nach hinten. Seine Hände waren schon längst wieder auf Wanderschaft, spielten mit meinem Haar, meinen Brüsten ... Ich hob meine Hüften und spürte, wie sein Glied die Lippen meines Geschlechtes teilten. Sein Becken begann zu zucken, doch diesmal stieß er nicht heftig und schnell in mich, sondern ließ sich Zeit. Ja, jetzt endlich verstand ich, was die Menschen an dieser Sache so begeisterte, und beschloß, sie zu genießen. So sitze ich jetzt neben meinem blonden Prinzen, der zwar kein Schloß und Königreich sein eigen nennt, aber dieses Zelt und eine Schar verwegener Männer, die er sich mit dem Gold aus dem Grab gekauft hat. Schon eine Weile ziehen wir als Söldnertrupp durch die Lande und verdingen uns bei den wirklichen Fürsten dieser Welt. Auch wenn mein Prinz jetzt wirklichen Prinzessinnen nachschaut, so hat er mich doch bei sich behalten und genießt jede Nacht mit mir; ich lasse ihn, denn noch bin ich es nicht müde, an seiner Seite zu weilen. Immer wieder erzählt er den anderen stolz die Geschichte von dem gräßlichen Geschöpf, das er mit seiner Manneskraft besiegte, nur um mich zu gewinnen; und ich lächle huldvoll dazu. Wenn er wüßte, daß das »Monster« neben ihm sitzt, und nur sein Same, der in mich strömt, meine Gestalt so erhält, wie sie ist, würde er sicher anders reden und handeln und vor Abscheu zurückweichen. Denn eine Erfahrung habe ich mit ihm gemacht: Für die Männer des Menschenvolkes zählt die äußere Hülle - das Wesen, das sich hinter ihr verbirgt, ist ihnen nicht wichtig, solange es sich ihnen nicht zeigt. Und das will ich glauben, solange mir kein anderer Mensch das Gegenteil beweist ...
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Viyamis Gaben von Christel Scheja
Die Goldschmiedegesellin wird von einem 'Gefährten', einem Wesen, die wie weiße Pferde erscheinen, erwählt, doch sie hat ihre Bestimmung bereits gefunden.
"Das Stück sieht gut aus! Du mußt nur diese Seite ein wenig mehr glätten, dann ist die Brosche ebenmäßig. Morgen kannst du sie dann in den Palast zu Lord Ashkevron bringen." Meister Vandred blickte die junge braunhaarige Frau mit einem stolzen Lächeln an und gab ihr das Schmuckstück zurück. "Wenigstens du hast das Talent unserer Familie geerbt, und einer von uns wird das Handwerk und die Werkstatt weiterführen!" sagte er dann mit einem tiefen Seufzer. "Und ich hatte nicht geglaubt, daß ich noch einmal solche Freude erleben dürfte, nachdem meine Söhne alle eine Enttäuschung waren. Übermorgen wirst du mit deinem Gesellenstück beginnen." "Vater?" Die junge Frau wurde rot. "Ist das wirklich dein Ernst? Aber ich bin doch erst sechzehn!" "Ja, es ist mein voller Ernst. Schließlich will ich es noch erleben, daß du dein Meisterstück fertigst, und ich mich zur Ruhe setzen kann, in der Gewißheit, daß auch in der nächsten Generation eine Tankhrevon diese Goldschmiedewerkstatt führen wird, Viyani!" sagte Vandred entschlossen. Die junge Frau blickte verlegen auf die Brosche, die sie immer noch in den Händen hielt. "Ich freue mich!" sagte sie leise und strich dann über die zentrale Figur des Schmuckes den sie selber gefertigt hatte. Dabei war das doch nur ein oft gewünschtes Motiv: ein Gefährte, eines der magischen, pferdeähnlichen Wesen, die zusammen mit ihren Reitern, den Herolden, Schutz und Schild von Valdemar waren. Jeder Lehrling übte sich zunächst an diesen Figuren. Ihr Vater schien zu ahnen, was sie dachte. "Ja, der Gefährte ist keine seltene Figur, aber deine Darstellung ist ungewöhnlich lebendig!" "Vater, das ist doch hier in Haven leicht! Jeden Tag kann ich einen Herold und seinen Gefährten sehen, wenn ich will, und das Collegium besuchen..." Sie verstummte, als ihr Vater abwinkte. "Ich weiß, du hattest wie alle Kinder Träume. Jetzt mache dein Werk nicht schlecht. Sie ist gut, sehr gut sogar, und ich kann das wohl besser beurteilen als du, junger Lehrling!" fügte er energisch hinzu. "Und jetzt glätte die Seite - und wehe, du verdirbst in deiner Aufregung die Arbeit!" Viyani nickte, und drehte sich wieder zu ihrem Arbeitstisch hin. Verlegen wischte sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, ehe sie wieder nach dem Sandpapier griff. Auch wenn sie sich bemühte, sich allein auf ihre Arbeit zu konzentrieren, so schweiften ihre Gedanken doch immer wieder ab. Sie würde bald Goldschmiedegeselle sein! Und ihr Vater sah sie als seine Nachfolgerin! Das machte sie stolz. Aber er hatte ganz recht: Ihre drei älteren Brüder hatten alle nicht die Liebe und das Talent für dieses Handwerk geerbt. Stefen war Soldat gewesen und war an der Grenze zu Hardorn stationiert, Ranjald hatte sich einem Kaufmann angeschlossen und arbeitete als dessen Sekretär, und Vayard ... Ihr nur um ein Jahr älterer Bruder, mit dem sie noch vor ein paar Jahren auf den Straßen von Haven herumgetollt war, wußte immer noch nicht, was er wollte. Er hatte die Goldschmiedekunst schon nach einem Jahr aufgegeben, und ein anderes Handwerk versucht, aber die Gesellen berichteten, daß er sich viel lieber in den Kneipen herumtrieb, spielte und trank. Sie seufzte und blies vorsichtig den Staub fort, ehe sie ein weiches Tuch nahm und das Silber polierte. Das Metall blitzte in einem verirrten Sonnenstrahl auf. "Stimmt", murmelte sie nun
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leise zu sich selber. "Ich habe den Gefährten ganz anders dargestellt, als es üblich ist. Er bewegt sich ja!" :Warum sollten wir das nicht tun?: Irritiert hob Viyani den Kopf und blickte sich um, aber ihr Vater saß über eine andere Arbeit gebeugt und schien nichts gesagt zu haben. Ein kühler Wind blies die stickige Luft aus den Gassen Havens fort, als Viyani zügig auf den Palast zueilte. Vielleicht blieb ihr danach noch die Zeit, ein wenig über den Markt zu streifen und mit Freunden zu plaudern. Ihr Vater würde ihr sicher eine kleine Verspätung nicht übelnehmen. Sie kam im Labyrinth der Straßen und Wege gut zurecht, denn in sorgloseren Jahren war sie wie die Kinder, die sie fast umrannten, hier herumgetollt. Dennoch tastete sie nach dem Beutel, der in einer Tasche ihrer Tunika steckte. Man wußte ja nie. Irgendeiner dieser Bengel konnte ja schließlich auch ein diebisches Straßenkind sein. Sie blieb stehen als ein Herold vorüberritt und fragte sich, wie gut sie den Gefährten getroffen hatte, aber die Brosche wollte sie jetzt nicht hervorholen und Diebe damit auf sich aufmerksam machen. Die Kinder hatten mit ihrem Toben aufgehört und bewunderten das weiße Tier, das mit keinem Pferd zu vergleichen war, auch wenn es so aussah. Die Gefährten waren mehr als das: Sie waren schneller und geschickter, und vermochten mit ihren Gedanken zu ihren Partnern zu sprechen. Jedes Kind in Haven wünschte sich mehr als einmal zu dem weißen Elitecorps der Könige von Valdemar zu gehören. Die Herolde besaßen großes Ansehen - selbst bei den Adligen. Sie vertraten den König, wenn sie herumreisten, sie sprachen Recht und lösten Streitfälle, wenn es nötig war, und die konnten Geistmagie wirken - in Gedanken sprechen, heilen, jemanden zwingen, die Wahrheit zu sagen, und noch viel mehr. Jedenfalls bedeutete es eine große Ehre, ein Herold zu sein. Dann hatte man für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Viyani riß sich aus ihren Gedanken. Und schüttelte den Kopf. Sie war kein kleines Kind mehr, das davon träumte. So eilte sie weiter. Geschickt schob sie sich an ein paar Frauen vorbei und bog in die nächste Straße ein, als sie auf einen Tumult aufmerksam wurde. Neugierig blickte sie, so gut sie konnte an den Gaffern vorbei und erstarrte, als sie eine vertraute Gestalt erkannte. "Vayard!" stieß sie entsetzt aus. Was machte ihr Bruder da bloß? Er prügelte sich mit einem Mann, der ein wenig größer und breiter als er war. Schon jetzt taumelte er unter den Schlägen, und es würde nicht mehr lange dauern, bis er reif für den Heiler war. Fieberhaft überlegte Viyani, was sie tun konnte, aber da blieb nicht viel: Die Stadtwachen würden beide verhaften, und damit war Vayard noch weniger geholfen, ebensowenig konnte sie einfach eingreifen. Ein Kribbeln durchlief ihren Körper, die Aufregung, so zur Untätigkeit verurteilt zu sein. Aber sie konnte nicht eingreifen, ohne sich selber in Gefahr zu bringen. So zuckte sie heftig zusammen, als sie plötzlich etwas an der Schulter berührte. Eine Hand? Nein ... das war viel weicher. Nüstern, ein Maul. Viyani drehte vorsichtig den Kopf und sah ihn tiefblaue Augen, die sie aufmerksam musterten. "Ich möchte ..." Ihre Stimme erstarb, als sie erkannte, daß der Gefährte weder einen Sattel noch ein Zaumzeug trug. :Ich bin Linnis! Ich habe dich erwählt.: "Nein!" Vayard war in diesem Moment vergessen. Entsetzt starrte Viyani den Gefährten an. "Das kannst du nicht machen. Ich habe schon einen Beruf ... eine Berufung!" protestierte sie. "Ich bin Goldschmiedelehrling, und ich ... ich muß jetzt endlich die Brosche abliefern, die ich ..." :Willst du nicht deinem Bruder beistehen? Mit meiner Hilfe könntest du es:, bot ihr Linnis an. :Sitz auf!:
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"Damit jeder sehen kann, daß ich erwählt bin?" Viyani schüttelte energisch den Kopf und biß sich auf die Lippen. Sie ballte die Fäuste. Verdammt, warum steckte sie so in der Klemme? Als Kind hatte sie davon geträumt, einer der Herolde zu sein, Abenteuer mit den Gefährten zu erleben, und den Geschichten um Vanyel dem letzten Herold-Magier mit glühenden Wangen gelauscht, aber jetzt? Sie wollte das doch gar nicht mehr. Und sie durfte eines nicht vergessen: Ihr Vater würde daran zerbrechen, sie zu verlieren. Viyani schüttelte wieder den Kopf. "Ich kann das nicht tun. Mein Vater setzt alle Hoffnungen in mich. Ich - verstehst du nicht - ich bin die einzige, die ihm in seinem Handwerk nachfolgen kann", murmelte sie, und ärgerte sich, daß einige Leute aufmerksam geworden waren, und sie angafften. Sie reckte den Hals, um nach Vayard zu sehen. Ihr Bruder wehrte sich immer noch tapfer, aber er würde nicht mehr lange durchhalten. :Entscheide dich!: drängte die Gefährtin, die immer noch nicht so recht begreifen konnte, warum Viyani sich so sträubte. :Dein Bruder braucht dich. Und du hast noch mehr Fähigkeiten, die verkümmern würden wenn du nicht mitkommst.: Viyani seufzte. "Jetzt hör mir mal zu: Mir ist das alles egal", sagte sie entschlossen. "Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe! Vielleicht habe ich vor ein paar Jahren davon geträumt, aber da ist keiner von euch gekommen! Jetzt bin ich stolz auf das was ich kann...", sie biß sich auf die Lippen. "Warum erwählst du nicht meinem Bruder?" :Wie?: Die Gefährtin war verwirrt. :Er schlägt sich ohne Grund, und seine Gedanken sind völlig durcheinander! Das geht nicht. Du bist es, wegen der ich kam: Offensichtlich war ein solcher Vorschlag neu, und Viyani versuchte ihn rasch zu begründen. "Natürlich siehst du jetzt, wie er sich schlägt, und bestimmt hat er wieder viel getrunken, aber Vayard ist nicht schlecht. Er hat nur kein Ziel, kein Halt in seinem Leben. Er ist nicht der Mensch, der Soldat oder Schreiberling werden will, und das Handwerk liegt ihm auch nicht. Er trudelt ziellos durch die Gegend... ich glaube er braucht dich!" Sie fühlte sich plötzlich sehr stark. In den Geschichten hieß es zwar immer, das niemand die Ehre einer Erwählung durch einen Gefährten ablehnen würde oder konnte, weil diese immer mit Bedacht nach ihren menschlichen Partnern suchte aber ihr schien es zu gelingen. "Spürst du das nicht?" Linnis blickte Viyani durchdringend mit den klaren blauen Augen an. Die junge Frau spürte kalte Schauer über ihren Rücken rinnen, als sie ein leichtes Ziehen in ihrem Kopf spürte. 'Ich muß an Vayard denken!' ermahnte sich Viyani eindringlich und erinnerte sich der schönen Tage, die sie mit dem, nur ein Jahr älteren Bruder verbracht hatte. Er war im Grunde ein netter Kerl, vielleicht manchmal zu voreilig, aber mit einem fröhlichen Wesen und... Das genügte. Sie schien die Gefährtin überzeugt zu haben. Linnis setzte sich in Bewegung. Die Menschen machten ihr bereitwillig Platz. :Du hast mich überzeugt, Viyani. Aber ich finde es trotzdem schade, wie du deine Fähigkeiten vergeudest:, übermittelte die Gefährtin der jungen Frau. :Du könntest dem Herold des Königs mit deinem Einfühlungsvermögen zur Seite stehen!: Viyani beobachtete noch, wie sich Linnis schützend vor Vayard stellte, dann wandte sie sich ab und rannte mit pochendem Herzen davon. Schließlich mußte sie noch etwas abliefern. Der Schmuck war rasch bei seinem Auftraggeber abgeliefert und Viyani dachte stolz an die zusätzlichen Münzen, die der Adlige ihr für die "wundervolle Arbeit" gegeben hatte. Sie verzichtete allerdings darauf, noch über den Markt zu streifen, zu sehr hatte sie das Erlebnis auf dem Hinweg mitgenommen. Was hatte sie da bloß getan? Mit einem Gefährten geredet, seine Gedanken so klar verstanden wie das gesprochene Wort, und seine Erwählung abgelehnt! Als ein Herold in ihr Blickfeld kam, wurden Viyani die Knie weich. Hatte Linnis nicht doch recht gehabt? Steckten da noch andere Gaben in ihr? Sie hätte so viel erreichen können, und ihre Familie... ihr Vater ... doch genau das gab ihr wieder die Kraft, weiterzugehen. 37
Für ihre Familie hatte sie das getan! Sie würde vielleicht immer eine kleine, unbedeutende Handwerkerin bleiben und nicht zu den Stellvertretern und Botschaftern König Roalds gehören, aber sie würde ihre Eltern glücklich machen. Und vielleicht war es das, was Vayard gefehlt hatte. Ihr Bruder war schließlich auch nicht dumm! Als sie ihr Zuhause erreichte herrschte dort große Aufregung. Einen Augenblick war Viyani irritiert, dann erinnerte sie sich. Die Kunde von Vayards Erwählung mußte ihre Eltern erreicht haben, und nun schienen diesen vor stolz schier zu bersten. Sie blieb im Schatten der Tür stehen und betrachtete ihren Bruder, der stolz und aufrecht und gar nicht mehr betrunken vor dem Goldschmiedemeister und seiner Frau stand und letzte Worte wechselte. :Du hast richtig gehandelt, jetzt erkenne ich das auch! Vayard ist gar nicht so schlecht, aber er hat viel von dem vergessen, was er kann!: wisperte jemand in ihrem Geist. :Ich werde den netten alten Kerl wieder aus ihm hervorlocken. Aber schade ist es um dich trotzdem!: Viyani drehte den Kopf und blickte auf die Gefährtin. Warum war ihr nie aufgefallen war, daß "Pferde" auch lächeln konnten - bei Linnis wirkte es fast menschlich. "In einem anderen Leben vielleicht. Hier werde ich jetzt gebraucht", sagte sie leise und trat in die Stube. Noch einmal hörte sie Linnis Stimme - dieses Biest mußte offensichtlich immer das letzte Wort haben. :Sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Es könnte wahr werden...: Christel Scheja 1.97
Nachbemerkung: Diese Geschichte spielt in dem, von Mercedes Lackey erdachten, Land Valdemar auf der Welt Velgarath. Die Herolde sind eine Schar besonders begabter Menschen, zusammen mit Wesen, die wie grazile weiße Pferde aussehen - den "Gefährten" - für das Wohl des Landes sorgen. Mehr ist den Romanen der Autorin zu entnehmen, von denen leider nur die "Arrows"Trilogie auf Deutsch erschien (Talia die Erwählte/die Hüterin/die Mahnerin).
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Ein Tag im Leben eines Postreiters von Andrea Tillmanns
Die aberwitzigen Erlebnisse aus der Arbeitswelt eines Postreiters.
Bin wieder viel zu früh von meinem Hahn Solo geweckt worden, das muß endlich aufhören. Ob die Kartoffeln eine bessere Beilage zu ihm abgeben werden, wenn ich sie vorher in Streifen schneide und zur Abwechslung in siedendem Fett erhitze? Mein erster Auftrag hat mich heute an den Hof König Torthurs geführt, wo ich eine äußerst geheime Depesche entgegengenommen habe, um sie dem Kommandeur der Nord-Nord-WestFront zu überbringen. Stand nichts besonderes drin, so einen spontanen Überfall am nächsten Morgen hätte ich mir auch noch ausdenken können. Vorsichtshalber habe ich alle Postreiter, die für den gegnerischen Bezirk zuständig sind, gewarnt, sich morgen früh nicht an ihrer SüdSüd-Ost-Front aufzuhalten – wo kämen wir denn da auch hin, wenn die Solidarität innerhalb unserer Gewerkschaft nicht mehr wichtiger wäre als die zu unserem momentanen König? Zumal Könige aus unerfindlichen Gründen dazu neigen, sich sofort nach Amtsantritt als strategische Volltrottel zu erweisen, die es prinzipiell niemals schaffen, einen hüschen Überraschungsangriff auf den momentan gerade angesagten Gegner zu planen und durchzuführen, weshalb sie gewöhnlich nicht allzu lange im Amt bleiben. Auf alle Fälle nicht so lange wie zum Beispiel Postreiter. Nachdem mein treuer Gaul seinen Mittagsschlaf beendet hatte, haben wir uns wieder auf die Gamaschen gemacht, um auch den unbedeutenden Leuten ihre Post zu bringen. Die erste Sendung ging an einen kürzlich zugezogenen Vampir, der sich wie immer über die unbotmäßige Störung zu tagschlafender Zeit beschwert hat. Daß ich nicht für die Rhesusfaktoren der gelieferten Blutkonserven verantwortlich bin, hat er leider nicht begriffen. Obwohl er die Lieferung abfällig als Mückennahrung bezeichnet hat, will er dieses Blut offenbar doch selber konsumieren und hat seine Haustiere auf die Jagd fliegen lassen. Schon nach einem ausgiebigen Schlammbad haben die Stiche mich aber nur noch an Stellen gejuckt, an denen ich mich kratzen kann. Auch das Monster Mantsch ist wohl neu in der Gegend, es wohnt im Haus meines Vorgängers. Nach seiner Begrüßung, die ungefähr wie „Besser, man frißt sie alle...„ geklungen hat, habe ich leider feststellen müssen, daß es schneller laufen kann als mein Gaul. Immerhin scheint es nicht allzu intelligent und ausschließlich auf Postreiteruniformen fixiert zu sein, auf alle Fälle hat es schnell von mir abgelassen, nachdem ich mein Pferd mit meiner Mütze und Jacke bekleidet hatte. Kein großer Verlust, es war sowieso schon ziemlich alt. Vielleicht kann ich das nächste Tier zumindest von der Steuer absetzen, wenn man mir schon kein Dienstpferd bewilligt. Der Geist, dem ich anschließend seine Post bringen wollte, war erwartungsgemäß nicht in seiner üblichen Gestalt anwesend. Angeblich schläft er tagsüber in Form einer Pfütze, die ungefähr so aussehen soll wie die, in der ich meine Stiefel gereinigt habe. Wenn ich ihn des Nachts einmal treffen sollte, muß ich ihm rechtzeitig erklären, daß es der neuesten Gespenstermode entspricht, Schmutzmoleküle in den Wasserdampfkörper einzulagern. Die alte Fett L. hat sich dem momentan immer häufiger beobachteten Trend angeschlossen, ihr Haus durch ein geeignetes Tier bewachen zu lassen. Leider habe ich dem Schild „Vorsicht, feuerspeiender Drache„ wohl zu wenig Achtung geschenkt, als ich ihr eine Sendung lebender Ratten überbracht habe. Sie hat daraufhin die Annahme des Paketes verweigert, da sein Inhalt angeblich nur durch meine Schuld angebrannt ist und ihr Wachdrache keine krebserregenden Futtermittel zu sich nehmen darf. Außerdem hat sie betont, ich sähe wirklich ausgesprochen abgebrannt aus, ob das an meinem Beruf liege? Den alten R5B3 hätte ich wohl nicht auf seinen leichten Quecksilberblick ansprechen dürfen, 39
als ich ihm einige neue Gelenke und Austauschchips vorbeigebracht habe. Die Legenden bezüglich der Kraft von Robotern haben sich als wahr erwiesen. Zumindest ist bei meinem Aufprall in einer netten Baumkrone meine Tasche zerrissen, so daß ich die übrige Post beim besten Willen nicht mehr habe austragen können. Am späten Abend bin ich in meiner Stammschenke dem Geist wiederbegegnet. Er hat mir nicht geglaubt. Immerhin werde ich meinen Urlaub nicht im gleichen Krankenzimmer verbringen wie der Vampir, der mit einer Blutvergiftung eingeliefert wurde, und auch die Magenverstimmung des Monsters Mantsch wurde zum Glück ambulant behandelt. Stattdessen hat für kurze Zeit der inzwischen rasch und konsequent abgesetzte Exkönig Torthur neben mir gelegen. Da auch das Pflegepersonal nicht hat verstehen können, warum er sich sofort zwecks eines Erwürgungsversuches auf mich gestürzt hat, habe ich das Zimmer nun wieder für mich allein. Gäbe es noch andere Postreiter in unserer Gegend, würde ich ihm vielleicht eine Karte zur „Klappenden Mühle„ schicken, wo er nun seine Zeit verbringt. Aber das hat noch Zeit, bis mein Urlaub hier vorüber ist.
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Der Tanz von Andrea Tillmanns
Die Zauberin liest die Zeichen der Schlangenbeschwörung; und sie sprechen von großen Dingen.
Die Schlange wand sich um ihren eigenen Leib, wirbelte um eine unsichtbare und ständig wechselnde Achse, schien sich in die Luft zu schrauben, obwohl sie am Boden lag – doch nichts geschah. „Zauberin!„ schrie der Mann aufgebracht und schien sich gerade noch davon abhalten zu können, seiner Wut durch einen heftigen Schlag in mein Gesicht Ausdruck zu verleihen. Ich war nur kurz und, wie ich hoffte, unmerklich zusammengezuckt und lächelte ihn nun möglichst freundlich an. „Gedulde dich noch ein wenig„, bat ich. „Die Zeichen bedeuten dir große Ereignisse, und die Zeichen lügen nicht. Wenn du zweifelst, so wird dich Im-Djal sicherlich bestrafen.„ Es war nur ein Schuß ins Blaue gewesen, doch an der intuitiven und nun abrupt abgebrochenen Bewegung, mit der die Im-Djalar ihrer Göttin huldigen und sie um Gnade bitten, erkannte ich ihn als Mann des Südens. Vielleicht würde es sich als Vorteil erweisen – zumal er offensichtlich seine Herkunft und seinen Glauben hatte verbergen wollen –, wenn ich momentan auch noch keinen Nutzen aus diesem Wissen ziehen konnte. „Natürlich sprechen die Zeichen von großen Dingen, das tun sie ständig!„ gab er wütend zurück. „Doch sorge endlich dafür, daß sie eintreten! Wehe dir, Zauberin, wenn du mir nicht die Wahrheit gesagt hast!„ „Ich würde dich niemals belügen„, beteuerte ich. Daß er mir glaubte, dies war der seidene Faden, an dem mein Leben hing. „Nur ich kann die Schlange so beschwören, daß sie dir den Weg weist und dich sicher zu deinem Ziel geleitet. Wenn du mir jedoch nicht vertraust, so laß mich gehen und suche dir einen anderen, der dir hilft.„ „Die Zeit ist knapp, das weißt du genau„, sagte er, jetzt schon ruhiger, „du hast die Zeichen selbst gesehen, und viele andere, mit denen ich sprach, deuteten sie ebenso wie du. Nun bereite mir meinen Weg, Frau! Bald ist es zu spät, dann werden wir beide sterben. Machst du deine Sache gut, so werde ich mir vielleicht überlegen, dich mitzunehmen. Aber beeile dich!„ Ich erhob meine Arme und ließ die Schlange tanzen. „Wieder nicht? Was tust du? Bist du nun eine Zauberin oder nur ein altes Weib? Geh beiseite, ich werde es selber versuchen!„ Der Mann starrte die Schlange wütend an, aber natürlich konnte er ihre Augen nicht trennen. Immerhin schien er davon zu wissen, denn nun hörte ich ihn murmeln „Aus Schwarz werde Rot, werde Grün, rot wie der Tod, grün wie die Hoffnung„, doch hatte er den richtigen Spruch offenbar nicht erfahren. Nach einiger Zeit, als das Grollen am Himmel stärker wurde und der Schwarze Stern des Todes schon fast so groß war wie ein kleines Boot, beschloß ich, die Schlange den Tanz tanzen zu lassen. Vielleicht würde er mich ja mitnehmen; vielleicht, wenn ich so nahe an ihm zu stehen käme, daß das grüne Auge der Schlange auch mich träfe, könnte ich ihn auch ohne seine Erlaubnis begleiten und fliehen in eine andere Zeit, eine Zeit ohne den Schwarzen Stern – und doch, er würde sein Schwert nicht niederlegen, er wußte zuviel, fast alles, und es wäre nur ein kurzer Aufschub. Ich seufzte und trat neben die Schlange. Vielleicht würde er auch nach dem nächsten mißglückten Versuch aufgeben, die Schlange nehmen und zu einer anderen Zauberin laufen – und wieder mir die Möglichkeit zur Flucht nehmen. Es gab Zeichen, an denen man nicht viel mißdeuten konnte, der niederstürzende Stern gehörte dazu, auch wenn ich normalerweise nicht viel von solchen Dingen hielt. Im Gegensatz zu dem Mann, der an Im-Djal glaubte, dem Mann aus dem Süden – Ich trennte die Augen der Schlange. Bedeutete ihm, wo genau er sich in den grünen 41
Lichtkegel stellen solle, und trat ihm gegenüber. Er zeigte kein Bedauern, kein Mitleid, als er mich vor den roten Augen, den todbringenden, zum Bleiben zwingenden Augen der Schlange stehen sah und der Schwarze Stern nun fast den ganzen Himmel bedeckte. Die Schlange tanzte den Tanz. Und ich tanzte mit ihr, zurück durch Zeit und Raum, fort von dem Stern des Todes und dem blanken Schwert des Mannes, der nicht mehr lange sein würde. Im letzten Moment war mir eingefallen, was er hatte verbergen wollen. Und doch, es war ein gefährliches Spiel gewesen, darauf zu vertrauen, daß die meisten Südmänner farbenblind sind.
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