Berte Bratt
Wir schaffen es gemeinsam
Kann sich ein Mädchen alleine und ohne Beruf durchs Leben boxen? Wibke muß es v...
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Berte Bratt
Wir schaffen es gemeinsam
Kann sich ein Mädchen alleine und ohne Beruf durchs Leben boxen? Wibke muß es versuchen. Denn sie hat die Erfahrung gemacht, daß die schöne und sorglose Zeit der Jugend nicht ewig dauert. Plötzlich steht sie völlig alleine da. Nur ihre Freundin Yvonne, eine junge Kunstmalerin, hilft ihr mit Rat und Tat. Wibke hat Mut und Ideen und packt jede Chance, die sich ihr bietet, beim Schopfe
Ein denkwürdiger Kaffeeklatsch Wir diskutierten, daß die Fetzen flogen. Sogar die fromme, kleine Margrethe, die „Prächtige“ in unserem Klub, wurde rot vor Eifer. Wir waren heute alle sechs zum Klubabend gekommen, sogar Yvonne, die sonst immer durch Abwesenheit glänzte. Doch merkwürdigerweise sagte sie am wenigsten. Obwohl sie die einzige war, die eine berechtigte Meinung haben konnte. Wie wir auf das Thema gekommen waren, weiß ich nicht mehr. Irgendeine machte wohl eine Bemerkung, und dann gab ein Wort das andere. Plötzlich erfüllte uns alle die brennende Frage: Kann ein junges Mädchen ohne fachliche Ausbildung, lediglich mit allgemeinem gesundem Menschenverstand und einiger Energie so viel verdienen, daß es sich ohne feste Anstellung allein durchbringen kann? „Als Köchin oder Hausmädchen vielleicht“, sagte Nini. „Dann braucht man für das Essen und die Wohnung nichts extra auszugeben.“ „Köchin – nun hör aber auf!“ rief Liese. „Eine richtige Köchin braucht weiß Gott eine fachliche Ausbildung. Außerdem hat man ja eine feste Anstellung, wenn man im Haushalt tätig ist. Nein, Bedingungen: keinerlei Ausbildung, kein Betriebskapital, keine feste Anstellung!“ „Was meinst du mit ,keinerlei Ausbildung’?“ fragte Gertie. „Daß man keine spezielle Arbeit gelernt hat. Daß man weder Maschineschreiben noch Steno, weder Massage noch Kinderpflege
oder…“ „Also, daß man nur die gewöhnliche Schulausbildung hat?“ „Eben. Meinetwegen können wir sagen, man hat das Abitur. Das haben wir alle sechs. Wer von uns würde es auf sich nehmen, sich ab morgen allein zu versorgen? Wohlgemerkt, ohne einen hilfsbereiten Onkel, ohne einen Geschäftsfreund von Papa, kurz gesagt, ganz ohne Protektion?“ „Man könnte wohl eine Arbeit als Verkäuferin bekommen…“, überlegte Margrethe. „Denkste! Als ob man dazu nicht eine Ausbildung braucht! Ja, du kannst vielleicht als Lehrling anfangen. Aber wer kann vom Lehrlingsgeld leben?“ Für eine Minute schwiegen wir alle. Gertie goß Kaffee ein und reichte die Tortenplatte in die Runde. „Wieviel müßte man eigentlich im Monat verdienen, um leben zu können?“ fragte ich. „Man kann sich besser äußern, wenn man genaue Zahlen hat, an die man sich halten kann.“ „Achtzehnhundert Kronen“, sagte Nini ohne Besinnen. „Ich meine: die unbedingte Mindestgrenze!“ schränkte ich ein. „Es ist klar, daß man sich auch mit weniger Geld am Leben erhalten kann.“ „Eine Kollegin von mir lebte in Deutschland für 325 Mark“, sagte Yvonne. „Das entspricht siebenhundert Kronen. Damit kommt man auch hier aus.“ Fünfstimmiger Protest. „Halt!“ rief Liese. „Yvonne ist die einzige von uns, die Erfahrungen hat. Yvonne hat das Wort!“ „Erfahrungen… na ja…“ Yvonne dehnte die Worte. „Ich habe immerhin meine fachliche Ausbildung als Malerin.“ „Du hast aber Erfahrungen, wieviel man monatlich unbedingt zum Leben braucht! Du bringst dich doch als einzige von uns allein durch.“ „Ja. Und ich wiederhole: siebenhundert Kronen. Man kann mit weniger auskommen, aber dann muß man das Mittagessen streichen, alle Bekannten abends um die Essenszeit besuchen und Zeitungspapier in die Schuhe stopfen, wenn man anfängt, auf der bloßen Heimaterde zu laufen.“ Nini starrte auf ihre feudalen neuen Schuhe. Das mit dem Zeitungspapier hatte sie anscheinend tief beeindruckt. „Ich mußte in Italien auch schon mit weniger auskommen, aber dort ist auch der Lebensstandard ein anderer.“ Yvonne machte eine
Kunstpause. „Auf jeden Fall: Wer weniger als siebenhundert Kronen hat, ist sehr bitter dran!“ Yvonne streifte die Asche von der Zigarette und sagte nichts mehr. Wir kannten zwar Yvonnes Schicksal, aber wir hatten uns die Einzelheiten wohl nie so richtig vorgestellt. Jetzt dachten wir sicher dasselbe, Nini und ich. Yvonne ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie machte mit achtzehn ihr Abitur. Dann wollte sie Malerin werden. Davon wollte der Vater aber nichts wissen. Yvonne ließ nicht locker. Da Papa nicht helfen wollte, ging sie nach Paris, zu ihrer französischen Mutter. Ihre Eltern waren seit Jahren geschieden – das norwegische Klima und ihr norwegischer Gatte schienen für die Mama zu hart gewesen zu sein. Yvonne brachte ihr Sparkassenbuch an sich, hob die paar tausend Kronen ab und fuhr nach Paris. Nach allerlei Mühen stöberte sie „Yvonne senior“ – ihre Mutter – auf. Sie kam ziemlich ungelegen, da sie gerade dabei war, wieder zu heiraten. Und nun begann ihr eigener Weg, welcher der vorher etwas rundlichen Yvonne eine beneidenswerte Schlankheit verschaffte, eine interessante Blässe und ein paar große, brennende Augen. Und sie in allerkürzester Zeit erwachsen und erfahren machte. So gelang es ihr doch, in Paris eine ganze Menge zu lernen. Es gelang ihr sogar, Geld zu verdienen. Es gelang ihr, sich das Geld für eine Fahrkarte nach Rom zu sparen. Und als sie vier Jahre später in die Heimat zurückkehrte, brachte sie eine Kiste mit Bildern mit und ausgezeichnete Kenntnisse im Französischen und Italienischen. Daß das väterliche Haus ihr verschlossen sein würde, hatte sie erwartet. Sie wohnte kurze Zeit in einer drittklassigen Pension. Dann stöberte sie ein Atelier auf. Es lag in einem uralten Haus, das so aussah, als sei es damals aus Versehen stehengelassen worden, als alle Häuser ringsum abgerissen wurden. Die Miete war erstaunlich gering, und Yvonne zog ein. Erst später entdeckte sie den Grund für den niedrigen Mietpreis: Es zog überall niederträchtig, und wenn man warm sitzen wollte, mußte man waggonweise Feuerung in den alten Ofen schaufeln. Aber das Licht war vortrefflich. So fand sich Yvonne denn tapfer mit den Nachteilen ab. Sie malte, stellte die Bilder aus, verkaufte auch hier und da mal eines. Die Kritiker verschwendeten nicht allzu viele Worte an sie, aber was sie schrieben, war liebenswürdig. Sie bekam Mut und kaufte sich ein
paar Möbelstücke für das große Atelier. Nach einiger Zeit wurde sie von einer Privatschule als Zeichenlehrerin angestellt – für sechs Stunden wöchentlich. Nichts zum Fettwerden, aber immerhin fast genug für die Miete. So stand es zu jener Zeit um Yvonne – als wir bei Kaffee und Kuchen über unsere Existenzmöglichkeiten diskutierten. „Ich könnte mir vorstellen, daß ich es schaffe“, sagte ich. „Ich bin gesund und kräftig, nicht dümmer als der Durchschnitt. Man müßte doch auf ehrliche Art und Weise monatlich siebenhundert Kronen zusammenkriegen können?“ „Aber womit?“ erkundigte sich Margrethe. „Was kannst du eigentlich, Wibke?“ Ja, was konnte ich eigentlich? „Stricken“, schlug ich vor. „Das kann jeder Mensch. Und außerdem kann ich dir sagen, wenn es etwas auf der Welt gibt, wovon man nicht leben kann, dann ist es Handarbeit!“ „Ich habe eine glückliche Hand mit Blumen!“ „Ja, das hast du! Aber wie könntest du damit Geld verdienen? Du hast keine Gärtnerausbildung. Du bist ein Genie wenn es darum geht, trockne Kaktusstrunke zum Blühen zu bringen, und du weißt genau, wann welche Pflanzen welchen Dünger brauchen. Aber wie in aller Welt willst du davon leben?“ „Ich weiß es!“ rief Gertie. „Du könntest von Haus zu Haus gehen, mit einem Eimer voll Erde in der einen Hand und einer Miniharke in der anderen und die Hausfrauen fragen, ob du ihre Kaktusse – ich meine teen – umpflanzen sollst!“ „Großartige Idee!“ meinte Liese. „Fünfzig Öre per Topfpflanze, ausnahmsweise siebzig wenn sie groß sind, mit besonders widerlichen Pieksern – vierzig Töpfe pro Tag ergeben 20 Kronen – dazu zehn von den Großen…“, sie kritzelte auf die Papierserviette und rechnete, „sechsundzwanzig Werktage im Monat… Mensch, ich komme auf 780 Kronen im Monat!“ „Ja, auf der Papierserviette“ sagte Nini. „Hört nun mit dem Blödsinn auf, wir können froh sein, daß wir solche Experimente nicht zu machen brauchen. Wir haben es gut, so, wie es jetzt ist!“ Nini hatte gut reden. Sie wohnte zu Hause bei ihren wohlhabenden Eltern und studierte Fremdsprachen. Gertie war gerade aus dem Ausland zurück und wollte jetzt die Handelsschule besuchen, Liese machte ihrem Vater den Haushalt, und Margrethe wollte nächstes Jahr in die Krankenpflege.
Und ich? -Ja, ich mußte zu meiner Schande gestehen, daß ich nichts anderes tat, als Pullover zu stricken, Tante Beates Zimmerpflanzen zu versorgen, Fisch für Kater Kille zu kochen (Tante Beates heißgeliebter Ersatz für die Kinder, die sie hätte haben müssen, die das Schicksal ihr aber versagt hatte) und gemütlich mit Onkel Mathias zu plaudern, wenn er abends zu Hause war. Kurz und gut, ich führte ein unwürdiges, verweichlichtes Dasein, das alle Tatkraft und Unternehmungslust, die vielleicht in mir vorhanden waren, ganz und gar untergrub. Aber später habe ich oft an diese Diskussion in unserem Mädchenklub gedacht. Wenn ich damals geahnt hätte, wie aktuell das Problem für mich werden sollte!
Betriebskapital: ein Motorrad Mein Vater war der jüngste und Tante Beate die älteste von sechs Geschwistern gewesen. So waren denn die Pflegeeltern, zu denen ich nach dem Segelunglück kam, das meinem Vater und meiner Mutter das Leben kostete, ziemlich alt. „Ich habe es deinem Vater so oft gesagt“, jammerte Tante Beate. „Es nimmt noch ein schlimmes Ende mit dieser Segelei!“ Zum erstenmal gab das Schicksal Tante Beate recht. Es nahm ein schlimmes Ende, wie es schlimmer gar nicht sein konnte. Da saß ich nun allein und ziemlich hilflos, gerade sechzehn Jahre alt. Onkel Mathias kam und holte mich. Es wurde nicht viel Federlesens gemacht. „Komm zu uns, mein Kind“, sagte Onkel Mathias. An seiner Schulter konnte ich mich ausweinen, und er half mir in meinem neuen Leben weiter. Später ist mir klargeworden, wie es zuging, daß ich zu Onkel Mathias und Tante Beate kam. „Natürlich nehmen wir das Mädel zu uns“, hat Onkel Mathias in seiner entschiedenen, aber gütigen Art gesagt. Tante Beate hatte sicher Einwände erhoben. „Es ist unsere Pflicht, Beate, das ist sonnenklar“, hat Onkel Mathias gesagt. „Alle deine anderen Geschwister haben selber Kinder und sind außerdem in alle Winde verstreut. Wir haben keine, und das Mädel ist niedlich und leicht zu gewinnen.“ (Das hat er bestimmt gesagt. Onkel Mathias und ich haben uns immer schrecklich gern gemocht.) Und dann hat Tante Beate geseufzt und eine leidende Miene aufgesetzt, und Onkel Mathias hat ihr auf die Backe geklopft und gesagt – denn er war ein großer Diplomat, dieser Onkel –: „Du mit deinem guten Herzen und deinem Pflichtgefühl, Beatchen.“ Dann hat Tante Beate gelächelt und lieb dreingeschaut, denn Onkel Mathias konnte aus allen Menschen das Liebenswerte herauslocken. Aber dann hat sie sich verschlossen, aus Angst, ihre eigenen Gefühle zu verraten, und so etwa wie „Ja, selbstverständlich, Mathias, wenn du meinst, daß wir die Pflicht haben…“ gesagt. Dann schwang Onkel Mathias sich auf sein Motorrad und fuhr davon, um mich zu holen. Natürlich gab es allerlei Klippen zu überwinden. Und es kam nicht selten vor, daß ich in mein Kopfkissen heulte und fand, Tante Beate sei so ungerecht, ach, so ungerecht. Sie verstand auch nicht
das kleinste bißchen. Alles war immer nur Pflicht und Alltag und Vorzüglichkeit und Engigkeit und noch mehr Pflicht. Mir kam es so vor, als sei Tante Beate von vornherein skeptisch gegen mich eingestellt. Onkel Mathias räumte mir viele, viele Hindernisse aus dem Wege. Er war es, der mit mir ging, wenn ich neue Kleider brauchte, und dafür sorgte, daß auch noch andere Gesichtspunkte berücksichtigt wurden als nur die Billigkeit und die Solidität. Onkel Mathias war es, der mir unvernünftige und höchst willkommene Dinge schenkte, er war es, der dafür sorgte, daß ich gleich nach dem Abitur für ein Jahr nach Deutschland fahren durfte. So allmählich ging es auch besser zwischen Tante Beate und mir. Das war hauptsächlich auf Kater Kille zurückzuführen. Wir waren in die Sommerfrische gefahren, und das teure Vieh mußte natürlich mit. Da ergab es sich denn, daß Kille – der seiner Herrin wie ein Hündchen folgte – auf den Landungssteg lief und ins Wasser fiel. Tante Beate schrie, als handelte es sich um ihr einziges Kind. Das war ja insofern auch der Fall. Ich zog mir das Kleid über den Kopf, sprang ins Wasser und fischte den Kater heraus. Er hätte es sicher auch allein geschafft, aber Tante Beate das klarzumachen…! Nach diesem Ereignis sah mich Tante Beate mit neuen Augen an. Ich hatte plötzlich Existenzberechtigung. Mein Leben wurde von Stund an leichter und angenehmer. Tante Beate fing an, mich um Rat zu fragen. Sie war begeistert, daß ich mich für Zimmerblumen interessierte, und unterwies mich mit Eifer. Und das Erstaunliche trat ein, nach kurzer Zeit war die Schülerin besser als die Lehrerin. Es ist nämlich mit der Blumenpflege wie mit dem Kochen. Ist einem der Sinn dafür nicht angeboren, dann hat alles keinen Zweck, und wenn man noch soviel lernt. Im Kochen habe ich es nie weiter gebracht, als Haferflockenkekse zu backen – das war nämlich für Onkel Mathias das höchste der Gefühle. Aber Blumen – die kann ich pflegen. Ich weiß nicht, wie ich es anstelle, ich ahne nicht, was mir sagt, wann eine Blume den oder den Dünger braucht und wieviel. Ich weiß es einfach nur, schlecht und recht. Und ich liebe es, mich mit Pflanzen zu beschäftigen. Aber zurück zu Tante Beate. Unsere gemeinsamen Blumeninteressen und meine Freundlichkeit zu dem Katzenvieh Kille brachten es zuwege, daß Tante Beate mir die Tür ihrer Herzkammer einen Spalt weit öffnete und husch, war ich auch schon
drinnen. Von dieser Zeit an lebten wir alle drei wirklich gemütlich miteinander. Oder sagen wir lieber wir vier: Onkel Mathias, Tante Beate, Kille und ich. Nachmittags durfte ich mit Onkel Mathias Motorrad fahren. Tante Beate betrachtete das Motorrad mit unverhohlenem Mißfallen. „Ein Mann in deinem Alter, Mathias!“ sagte Tante Beate. „Motorräder sind etwas für die Jugend. Es nimmt ein schlimmes Ende, Mathias!“ jammerte Tante Beate. Aber Onkel Mathias lachte und küßte Tante Beate auf die Wange – dann nahm er mich hinten drauf, fuhr an, gab Gas – und nun glitt die Landstraße unter den Rädern fort. Wenn wir die Stadt hinter uns hatten, gab Onkel Mathias mir Unterricht. Ich strengte mich an, damit ich alles verstand und lernte. Am Anfang, um Onkel Mathias eine Freude zu machen, später, weil es mir Spaß machte. „Dann mußt du aber auch die Prüfung machen, mein Kind“, sagte Onkel Mathias. „Das war doch ‘ne Sache! Es gibt haufenweise Mädchen, die Autos fahren, aber Motorrad fahren können nur wenige.“ Onkel Mathias wurde eifrig wie ein Junge, sein graues Haar war ganz strubbelig und seine Hände waren mit Öl beschmiert. Und er schwang sich aufs Rad so leicht wie ein Zwanzigjähriger. Keiner konnte es Onkel ansehen, daß er Sechsundsechzig war. Ich war allein zu Haus, als man ihn brachte. Er lag ganz still unter der Decke. Das Gesicht war weiß und schön. Ohne jede Schramme. Es waren innere Verletzungen. Ein entgegenfahrender Wagen war an dem Unfall schuld. Onkel Mathias kam kurze Zeit wieder zum Bewußtsein und versuchte, meine Hand zu drücken. Er flüsterte etwas. Dann fuhr ein Auto draußen vor. Es war Tante Beate. Ich ging aus dem Zimmer. Tante Beate hatte zum zweiten Male recht behalten. Es ist sonderbar, wie ein Mensch in allen Dingen des Haushalts geschickt und praktisch sein kann und genau das Gegenteil, sowie Probleme auftauchen, die nicht gerade das Mittagessen und die große Wäsche betreffen. Jetzt mußte ich das Heft in die Hand nehmen, mußte mit dem Rechtsanwalt sprechen, mußte Tante Beate für ihre Zukunft Ratschläge geben, mußte im Sophienstift, dem besten Damenstift der Stadt, nachfragen, ob dort etwas für Tante Beate frei war, mußte die Leute für den Umzug bestellen, die Kündigung der Wohnung mitten im Monat bewerkstelligen – ich mußte alles, aber
auch alles erledigen. Tante Beate war um zehn Jahre älter geworden. Sie saß im Sessel am Fenster mit Kille auf dem Schoß, müde und willenlos. Arme, arme Tante Beate! Wie grenzenlos abhängig kann man von einem Menschen werden, den man liebhat. Sie war mit allem, was ich vorschlug, einverstanden. Ich weiß nicht, ob sie es überhaupt begriff, als der Rechtsanwalt ihr eröffnete, daß die Witwenpension gerade ausreiche, um ihr ein großes, helles Zimmer im Sophienstift zu sichern, und daß dann 200 Kronen im Monat für Kleidung und Taschengeld übrigblieben. Die paar tausend im Sparbuch sollten für unvorhergesehene Ausgaben stehenbleiben. Tante Beate nickte und sagte „ja“. Sie unterschrieb alle Papiere, ohne Fragen zu stellen. Als die Möbelpacker kamen, um die Wohnzimmermöbel und einen Teil der Schlafzimmereinrichtung abzuholen, weinte sie. Und dann schien sie aufzuwachen. „Und du, Wibke? Was wird aus dir?“ Endlich konnte ich meine Erklärung anbringen. „Du wirst verstehen, Tante Beate, das bißchen, was die Eltern hinterlassen haben, das ist sicher längst verbraucht. Onkel Mathias hat mich immerhin die letzten drei Jahre unterhalten. Ganz und gar. Nun wird es also Zeit, daß ich anfange, auf eigenen Füßen zu stehen.“ „Ja, ja, du bist ja jung und gesund“, sagte Tante Beate. Sie war viel zu durcheinander, um sich über mich Gedanken zu machen. Ich überschlug meine Habe: ein Sparkassenbuch mit 187,35 Kronen, die Möbel, viele gute Kleider, einige Bücher, Mutters Brosche und Topasring, etwas Silber und 22 Lebensjahre. Hätte mir das Herz nicht so bleischwer in der Brust gelegen, wäre mir Tante Beates Einzug in das Sophienstift wohl vor allem komisch vorgekommen. In der linken Hand trug sie ihren Silberkasten, den Korb mit Kille in der rechten. Ich als Anhang zog hinterdrein mit Toilettenkoffer, Plaid und Regenschirm. Am Tage zuvor war ich dagewesen, um ihr Zimmer einzurichten. Als Tante Beate ihre Wohnzimmermöbel und die Hälfte ihres Schlafzimmers in der neuen Umgebung sah, weinte sie wieder. Sie sank in ihren lieben, altvertrauten Fenstersessel. Aus Killes Korb kam ein vernehmliches Miau. „Ach, mein Kille!“ rief Tante Beate und öffnete den Korb. Fröhlich hüpfte der Kater auf ihren Schoß. Die Heimvorsteherin, die dabei war, öffnete den Mund, und ich ahnte, was kommen würde.
„Bitte, jetzt nicht“, flüsterte ich. „Warten Sie bitte bis morgen! Sie ahnen nicht, was für ein Trost ihr die Katze ist!“ Am folgenden Tag besuchte ich sie. Sie saß als Mittelpunkt im roten Plüsch des Salons, und dreizehn Damen im Alter von sechzig bis neunzig saßen und standen um sie. „Er ist angora, nicht wahr?“ „Nein, persisch… die stahlblaue Farbe…“ „Mein Schwiegersohn hatte eine Burmakatze, die…“ „Es ist ein prächtiges Tier…“ „Wollten sie Ihnen die Katze wirklich wegnehmen?“ „Sie wissen, die Hausordnung…“ „Pussy, Pussy, komm, hier ist noch etwas Kaffeesahne!“ Ich zog mich erleichtert zurück. Das Wunder war geschehen. Trotz Reglement und Vorstand und Hausordnung war Kille anerkannt und aufgenommen worden und war auf samtweichen Pfötchen in die letzte und herrlichste Periode seines Lebens geschritten – ein Dasein, von so vielen Sahneresten und so vielem delikatem Tellergekratze angefüllt, wie es keiner Katze weder früher noch später in der Weltgeschichte vergönnt worden ist. Dann war die Wohnung leer. Meine letzten Sachen waren abgeholt. Die beiden Koffer, das weiße Bett, die kleinen weißen Stühle, das Bücherbord und die Stehlampe. Und ein Wald von Zimmerpflanzen. Der Umzugswagen hielt vor dem Haus wo Yvonne ihr Atelier hatte. Hinterher kam ich auf dem Motorrad. Das hatte ich bekommen. „Mach was du willst damit“, hatte Tante Beate gesagt. „Ich will es nie mehr sehen.“ Durch eine unbegreifliche Laune des Schicksals war das Motorrad sozusagen heil geblieben. Am Abend saßen Yvonne und Ich in ihrem Atelier unter dem schrägen Dach, auf der Couch zusammengekrochen, und redeten. Ab und zu schlug irgendwo eine Turmuhr. Wir merkten es kaum. Endlich räumten wir die Kaffeetassen zusammen und fingen an, die Betten zu machen. „Es wird schon gehen, Wibke“, sagte Yvonne. „Jedenfalls bist du weder leichtsinnig optimistisch noch niederschmetternd pessimistisch. Du hast Ideen, und ich glaube, du hast die Durchhaltekraft.“ „Und vergiß nicht – ein Motorrad als Startkapital!“ sagte ich.
„Wollen Sie Ihre Töpfe umpflanzen lassen?“ Onkel Mathias hatte für das Motorrad achttausendfünfhundert Kronen gegeben. Ich war dabeigewesen, als er es kaufte. Ich traf den Geschäftsführer selbst im Laden an und erklärte ihm ohne Umschweife, daß ich das Rad verkaufen wolle. Es wurde auf Herz und Nieren untersucht. Abgesehen von ein paar Beulen und Schrammen war es bestens erhalten, soviel verstand ich davon. „Tja“, sagte der Geschäftsführer und rieb das Kinn. „Ich kann 1800 dafür bieten.“ Mehr nicht?! Ich glaube, die Enttäuschung malte sich deutlich auf meinem Gesicht. Denn er fing an, alles mögliche über gebrauchte Motorräder zu sagen, und es sei immerhin vier Jahre gefahren worden und… Mein Blick schweifte in dem geräumigen Laden umher und blieb an einem Mofa haften, auf dem ein Zettel steckte: „Führerscheinfreies Liefer-Mofa! Ihr Laufjunge kann es fahren! Lassen Sie es sich von uns vorführen!“ Ich handelte mein Rad auf vierhundert in bar plus Mofa hinauf. Zwei Tage später begann ich, durch die Stadt zu knattern. Ich hatte mir einen Plan von meiner Vaterstadt angeschafft und sie in Tagesbezirke aufgeteilt. In jeden Briefshlitz oder, wenn keiner da war, Türschlitz wurde eine Reklamekarte gesteckt: Sie erhalten in einigen Tagen Besuch! Die Blumenärztin Wibke Grundt wird Sie aufsuchen und ihre Dienste anbieten. Jetzt ist es Zeit, Stecklinge zu pflanzen und den Topfpflanzen neue Erde zu geben. Lassen Sie dies von einem Fachmann machen. Preis: von 4o bis 7o öre pro Topf, je nach Größe. Außerdem erhalten Sie kostenlos Ratschläge und Hinweise. Yvonne und ich hatten den Wortlaut der Karten gemeinsam entworfen. Wir fanden, daß wir riesig erfinderisch gewesen waren. Dann schwang ich mich auf mein Führerscheinfreies und fuhr zu meinem Freund, dem Gärtner, dem ich im Laufe der Jahre allerlei abgekauft hatte. Ich erstand einen großen Kasten mit Kaktuserde und einen weiteren mit gewöhnlicher Blumenerde, die man mir auf den Gepäckträger meines Mofas stellte. Am nächsten Morgen um neun Uhr machte ich mich auf den Weg. Es war ein trüber und kalter Tag Ende März. Unter meinem
grasgrünen Overall trug ich Wollhosen und eine dicke Strickjacke. Auf dem Gepäckträger standen ein grüner und ein roter Eimer, ferner ein Korb mit kleinen Blumentöpfen für Ableger und einigen Schachteln mit Pflanzendünger. Außerdem ein Kasten mit Erde. Ich hatte das Gefühl, ich könnte mit diesem Vorrat sämtliche Zimmerpflanzen der Stadt umsetzen. Im Hof eines großen, modernen Wohnblocks parkte ich mein Gefährt. Der Block war so groß, daß man beinahe das ganze Alphabet in Anwendung gebracht hatte, um die verschiedenen Eingänge zu bezeichnen. Rrrr! Ein verschlafenes Gesicht zeigte sich im Türspalt. Ich lächelte, krampfhaft. „Guten Morgen! Könnte ich die Frau des Hauses sprechen?“ „Das bin ich. Worum handelt es sich?“ „Ich möchte nur fragen, ob Ihre Topfblumen umgepflanzt werden sollen?“ „Uff, was die Leute sich auch so alles ausdenken. Nein danke.“ Die Tür knallte zu. Ich blieb einen Augenblick still stehen. Reckte mich, ging drei Schritte weiter. Klingelte an der Tür nebenan. „Guten Tag. Könnte ich die Frau des Hauses sprechen?“ Das Gesicht eines etwa zwölf- bis vierzehnjährigen Mädchens sah mich fragend an und verschwand. Gleich darauf berichtete eine gellende Stimme nach drinnen: „Da steht so ‘ne komische Frau draußen in grünen Hosen, die will dich sprechen, Mama!“ Das Herz sank mir tief in die Grünen, als die Mama sich im Türspalt einfand. Ich zog mechanisch die Mundwinkel hoch, während ich meine wohleinstudierte Frage vorbrachte. „Können Sie nicht lesen?“ erscholl es durch den Türspalt. „Das kann ich seit fünfzehn Jahren“, entgegnete ich etwas verständnislos. „Dann lesen Sie mal“, sagte die Frau und zeigte auf ein kleines Metallschildchen am Türrahmen. „Hier wird nichts an der Tür gekauft“, stand darauf. Ehe ich noch erklären konnte, daß ich nicht die Absicht hätte, etwas an der Tür zu verkaufen, sondern am Fenster, krachte die Tür auch schon zu. Da stand ich wieder. Die zweite Niederlage. Die dritte und die vierte folgten. Als ich mit schweren Schritten und noch schwererem Herzen zum dritten Stock hinaufstieg, warf ich zufällig einen Blick
durch das Flurfenster auf den Hof. Ich entdeckte, daß die Kinder des Wohnblocks wie Fliegen über, auf, unter und um mein Führerscheinfreies schwirrten – großer Gott! Ich stürzte hinunter und trieb den Schwärm auseinander. Irgendwelcher Schaden war nicht entstanden, abgesehen von etlichen Fingerabdrücken. Die Kinder erkundigten sich aber und fragten nach technischen Einzelheiten. Welcher normale Junge zwischen vier und zwölf hätte kein Interesse für Mofas? Ein kleiner Dickwanst von ungefähr zehn Jahren war nicht abzuschütteln. Der Bengel war helle; es hatte den Anschein, als begreife er, was ich erklärte. „Warum hast du ‘n Lieferrad, du bist doch ‘n Mädel?“ fragte er zuletzt. „Weil es schneller geht, als wenn ich laufe.“ „Mußt du denn so weit laufen?“ „Ja, durch die ganze Stadt.“ „Warum mußt du denn das?“ „Weil ich alle Frauen, die in ihren Stuben Topfblumen haben, fragen muß, ob ich ihre Blumen umpflanzen soll.“ „Hast du dafür die Erde mit?“ „Ja, natürlich.“ „Kommst du denn auch zu meiner Mutti?“ Es hat seine Vorteile, wenn man in Sprichwörtern bewandert ist. Das für diesen Augenblick passende durchzuckte mich wie ein Blitz: „Wer das Kind für sich gewinnt, gewinnt der Mutter Herz.“ Warum sollte mir dieses wißbegierige und zutrauliche Kind nicht nützen? „Wenn deine Mutti es haben will, dann komme ich gern. Wo wohnst du denn?“ „Da!“ Ich folgte der Richtung seines rechten Zeigefingers, der deutliche Spuren zeigte, daß er das Mofa näher untersucht hatte! Und – oh, du Engelsgeschöpf! – er zeigte gerade auf ein Fenster, wo es von Kakteen wimmelte, wo dicke Begonien dicht vorm Aufblühen standen, wo ein übergroßer Zimmerefeu sozusagen rumkletterte. „Deine Mutter hat aber schöne Blumen“, sagte ich. „Du mußt sie mal fragen, ob ich sie ihr zurechtmachen soll.“ Der kleine Kerl war sofort bereit. Er flitzte davon – nicht zum Aufgang K, zu dem das Blumenfenster zweifellos gehörte, sondern gleich auf das Fenster zu. „Mutti – Muutiii!“ Stimme und Tonfall verrieten jahrelange Übung, in Wohnblöcken zu wohnen und sich das Treppensteigen zu
sparen, wenn das Rufen denselben Erfolg haben kann. Mutti war gut erzogen. Sie erschien sofort am Fenster. „Mutti – hier ist ‘n Mädchen, die will mit dir reden. Sie kann so gut Blumen zurechtmachen!“ „Was sagst du da, Hansi?“ Hansi war durch keinerlei Hemmungen belastet. Er wiederholte die Neuigkeit mit schallender Stimme. Jetzt tauchten eine Menge Köpfe an den verschiedenen Fenstern auf. Es war beinahe peinlich. Ich ging zu Hansi hinüber und stellte mich neben ihn unter das Fenster. In etwas deutlicheren Wendungen erklärte ich den Zusammenhang. Mutti war durchaus nicht ablehnend. „Aha – ja, habe ich nicht eine Reklamekarte von Ihnen bekommen? Bitte, kommen Sie doch rauf, da müssen wir mal sehen.“ Mein Herz machte einen Sprung aus der Tiefe der grünen Hosen bis ganz zum Hals hinauf. Ich warf einen blitzschnellen Blick über die Hausfront. Ich durfte annehmen, daß mindestens fünfundzwanzig Köpfe hinter den Fensterscheiben dem Vorgang gefolgt waren. „Hallo, Fräulein! Kommen Sie hinterher auch zu mir rauf, ja? Aufgang G, dritter Stock rechts.“ Schon an diesem ersten Tag konnte ich anfangen, psychologische Studien zu treiben. Die Frauenpsyche ist interessant. „So ein Ding muß ich auch haben“, ist einer ihrer hervorstechendsten Züge. In diesem Fall mußte man es abwandeln in „so ein Mädchen muß ich auch haben“. Denn tatsächlich war es so, daß, wenn die Dame im Aufgang G, dritter Stock rechts, ihre Pflanzen umtopfen ließ, auch die Dame im Aufgang G, dritter Stock links, es machen lassen mußte. Als die Uhr halb zwei und ich beim Aufgang H angelangt war, war meine Erde alle. Die Ablegertöpfe waren ebenfalls ausgegangen. Und an denen verdienten wir, Yvonne ebenso wie ich. Wir hatten uns die billigsten unglasierten Töpfe besorgt, die wir bekommen konnten, und dann hatte Yvonne sie verziert. Zwei Tage hatte sie gesessen und gemalt, und das Ergebnis war wirklich berückend. Wir verdienten jede fünfunddreißig Öre am Topf, und bis jetzt hatte ich dreißig Stück abgesetzt. Meine Fingerspitzen waren wund vom Graben, Pflanzen, Stecklinge abknipsen und Düngerstäbchen einstecken. Und der Hals tat mir weh von den vielen guten Ratschlägen, die ich gegeben hatte in bezug auf viel oder wenig Sonne und viel oder wenig Wasser und
Wasser in den Untersatz oder Besprühen in der Badewanne. In der letzten Wohnung mußte ich bitten, einmal telefonieren zu dürfen. Ich läutete das Milchgeschäft an, bei dem Yvonne Kunde war, und bat, ihr auszurichten, daß ich zum Essen nicht nach Hause käme. Außerdem ließ ich ihr sagen, daß sie noch mehr Blumentöpfe bemalen solle. Ich legte fünfzig Öre in die Büchse und dankte. Die Dame, bei der ich im Augenblick war – eine junge reizende Frau – , hatte mein Telefongespräch mitangehört. „Das machen Sie übrigens gut“, lächelte sie, „wirklich eine großartige Idee! Sind Sie schon lange dabei?“ Ich warfeinen Blick auf die Uhr. „Viereinhalb Stunden“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Wollen Sie damit sagen, dies sei Ihr erster Tag als – als Blumendoktor?“ Das konnte ich nicht leugnen. „Dann sind Sie aber gleich fabelhaft reingekommen! Wissen Sie, das finde ich prachtvoll. Mögen Sie sich nicht einen Augenblick setzen? Ich wollte mir gerade Tee machen, wollen Sie eine Tasse mittrinken?“ Ich konnte nicht widerstehen. Ich hatte einen Mordshunger. Die Unterhaltung ging leicht und spielend vonstatten, begleitet von dem Krachen herrlich knuspriger Semmeln. Hinterher bekam ich sogar eine Zigarette angeboten – und nun hatte sie mich gründlich ausgefragt. Aber schließlich – warum sollte ich denn nicht erzählen? Ich hatte nichts zu verbergen. Und da die Dame so viel Anteilnahme zeigte, würde sie mich vielleicht an ihre Freundinnen weiterempfehlen. Endlich stand ich auf, bedankte mich und ging. Rollte von dannen zum Gärtner und versah mich mit neuen Mengen von Erde. Dann kam ich zurück und erstürmte den Aufgang. Aber jetzt ging es langsamer voran. Die Hausfrauen waren beim Mittagkochen und hatten wenig Zeit, mich zu empfangen. Etliche baten mich aber, am nächsten Morgen wiederzukommen. Dann rollte ich beim Töpfereiwarenhändler vorbei und bestellte hundert Ablegertöpfe; beim Blumenhändler ließ ich mir neuen Blumendünger geben. Gegen vier Uhr war ich zu Haus. Yvonne stand in ihrem Malkittel am Herd und briet Eier und Speck. Pinsel, Farbtuben und Lappen auf dem Tisch wurden beiseite geschoben und Teller, ein halbes Brot und ein Milchtopf hingestellt. Ich stand einen Augenblick davor und überblickte meine neue
Lage. Mein neues Dasein in einer Nußschale, sozusagen. Hätte ich malen können, ich würde ein Stilleben von dem Brot, der Milch, den Malsachen und dem Margarinepaket gemacht haben, das Yvonne gerade auf den Tisch legte. Und das Bild hätte heißen müssen: So ist mein Leben. „Na?“ Yvonne strich sich mit dem Handrücken die Locke aus der Stirn und lächelte. Ich buddelte mit der Hand in der Tiefe meiner Tasche. „Komm, wollen mal zählen!“ Dreiundsechzig Kronen und achtzig Ore. Außerdem hatte ich schon sechs Kronen für Blumendünger und vier fünfzig für den neuen Vorrat an Erde ausgegeben. Vierundsiebzig Kronen und dreißig Ore an einem Tag. Davon bekam Yvonne zwanzig Kronen – ihren Verdienst an den Ablegertöpfen. Von den restlichen vierundfünfzig Kronen dreißig Ore ging, wie ich ausgerechnet hatte, so ziemlich die Hälfte für Benzin und andere notwendige Ausgaben drauf. Siebenundzwanzig Kronen und fünfzehn Öre hatte ich am ersten Tag verdient. Wir feierten diesen Erfolg, jeder bekam zwei Eier anstatt eines, wir hatten einen Mordshunger.
Es geht wieder bergab „Tu, wie ich sage“, meinte Yvonne. „Trag soviel wie möglich auf die Bank! Verbrauche nicht mehr als höchstens zehn Kronen täglich.“ „Ach, du Süße“, widersprach ich. „Es geht doch ganz famos. Den ersten Tag siebenundzwanzig Kronen, gestern waren es einundzwanzig und heute neunzehn. Netto. Vergiß das nicht.“ „Aber du siehst, es geht bergab“, sagte Yvonne bedenklich. „Jetzt bist du in Hansis Wohnblock fertig. Es ist nicht sicher, daß du morgen wieder auf so einen Reklamechef rechnen kannst!“ Der unmittelbare Anlaß zu dieser Auseinandersetzung waren zwei Stück Schlagsahnetorte gestern und ein Beefsteak und ein Pfund Äpfel heute. „Du darfst es dir nicht zur Gewohnheit werden lassen, Näschereien mit nach Hause zu bringen!“ erklärte Yvonne. Aha, da sollte ich also erfahren, daß Beefsteak eine Näscherei war. „Du mußt pro Tag fünfzehn für mich rausrücken für Essen und Feuerung. Das sind vierhundertfünfzig Kronen im Monat. Dazu kommen dein Anteil an der Miete und am Strom, und denk an Schuhsohlen und Steuern und alles das, was man aufzuführen vergißt, wenn man sich eine Kostenaufstellung macht. Es geht gerade auf – vorausgesetzt, du schaffst es wirklich, siebenhundert Kronen im Monat zu verdienen.“ Yvonne brachte es zuwege, mich von der Wolke der Begeisterung, auf der ich schwebte, herunterzuholen. Ich fuhr am nächsten Morgen bei der Bank vorbei und zahlte den größten Teil der Kronen ein, die ich besaß. Dann begann das Treppauf, Treppab von neuem. Der Anfang war heute gar nicht schön. An der ersten Tür machte mir ein Mann in Hemdsärmeln und mit struppigen Haaren auf. Ich fragte nach der Frau des Hauses. „Bitte treten Sie näher“, war die Antwort. Wie freundlich der ist! dachte ich. – Der Mann schloß hinter mir die Tür. Er ließ mich in eine unaufgeräumte Stube eintreten: abgestandener Tabaksgeruch und Staub auf dem polierten Nußbaum. Einen Augenblick saß ich allein. Mir war unbehaglich zumute. Dann kam er wieder. Mit einer Flasche Bier und Gläsern. „Vielleicht ein Gläschen gefällig?“
„Nein^ danke. Ich hätte gern die Frau des Hauses gesprochen.“ „Frau des Hauses, ach ja, richtig.“ Er grinste – unrasiert, wie er war und mit glasigen Augen. Trank einen Schluck, musterte mich. „Und was haben Sie denn für Wünsche, Fräulein?“ „Ich pflege Topfpflanzen… und wollte mal fragen…“ „Topf… wir ha’m keine Töpfe, wissen Sie! Is nich nötig, in den modernen Wohnungen! Hahaha!“ Ich wurde glühend rot, stand auf. Er verstellte mir den Weg zur Tür. „Na, na, warten Sie doch ‘n bißchen. Sie sind aber ‘n hübsches Ding, Fräuleinchen, hat Ihnen das schon mal einer gesagt?“ „Haben Sie Ihrer Frau Bescheid gesagt, daß sie kommt?“ „Nein, ha’m Sie’s denn noch nicht kapiert? Hier ist nichts von wegen ,Frau’. Geht’s mit mir allein denn nich auch?“ Er kam näher. Er roch nach Bier, Schweiß und altem Zigarrenrauch. „Wollen Sie mich bitte hinauslassen?“ Ich ärgerte mich, denn ich hörte selbst, wie meine Stimme bebte. „Nu, sei’n Sie doch schon ‘n bißchen friedlich, Fräuleinchen. Ich werd Ihnen schon nichts tun. Ist es denn nich viel gemütlicher, so ‘n bißchen mit mir zu plauschen, als rumzurennen und Töpfe umzupflanzen?“ Als ich die klamme Hand an meiner Wange fühlte, verlor ich meine Selbstbeherrschung. In der rechten Hand hielt ich meinen koketten grünen Eimer mit der Kaktuserde. Im nächsten Augenblick hatte der Mann die ganze Erde überm Kopf. Und während er versuchte, die Augen sauberzuwischen und die Stimme wiederzuerlangen, schlüpfte ich hinaus. Hinunter, weg – hinauf auf mein Rad – und ab zum entgegengesetzten Ende der Stadt. Dieser morgendliche Zwischenfall verdarb mir den ganzen Tag. Es wurde ein ausgesprochener „Pechtag“. Ich kam in ein Villenviertel. Im ersten Haus wurde ich eingelassen und vor eine Reihe von Hortensien und Zwiebelgewächsen geführt – ausgerechnet zwei Blumensorten, die ich gar nicht mag und auf die ich mich infolgedessen auch am wenigsten verstehe. Dazu kam, daß ich unkonzentriert und nervös war. Die Hausfrau hatte messerscharfe Augen und eine kalte, strenge Stimme, meine Antworten fielen unbestimmt aus und klangen wenig überzeugend. Zu allem Überfluß verschüttete ich Erde auf den frischgebohnerten Fußboden und den echten Buchara – nein, dieser Besuch war recht trübselig.
„Was bin ich schuldig?“ fragte die Dame kühl, als ich meinen Schmutz selber weggefegt und mich entschuldigt hatte. „Drei achtzig, bitte.“ „Wieso denn, es waren sechs Pflanzen. Sie sagten sechzig Ore fürs Stück?“ „Ach Verzeihung, ich habe mich verrechnet. Es macht natürlich drei sechzig.“ „Können Sie auf fünf Kronen herausgeben?“ „Nein, leider nicht – aber ich will gern wechseln gehen.“ Ein eisiger Blick war die Antwort. Die Hausgehilfin wurde zum Wechseln weggeschickt. Da ging mir plötzlich ein Licht auf. Sie dachte, ich wollte mit dem Fünfkronen stück durchgehen. Und sie ließ durchblicken, daß sie es auch dachte. Zwar war ich ungeschickt und nicht sehr tüchtig gewesen, aber mußte sie mich deswegen beleidigen? Ich hätte heulen können. Die Hausgehilfin kam mit fünf einzelnen Kronenstücken. Ich bekam vier davon. „Es tut mir leid – auch darauf kann ich nicht herausgeben.“ „Sehr praktisch“, murmelte die Gnädige. „Dann behalten Sie meinetwegen die vier Kronen.“ Ich öffnete den Mund und wollte antworten. Ich wollte antworten, daß sie ihr Geld behalten könne. Aber ich bezwang mich. Es konnten Zeiten kommen, da würde ich mir Vorwürfe machen, daß ich ehrlich verdientes Geld so aus dem Fenster hinauswarf. „Danke, ich berechne kein Trinkgeld. Ich werde mir erlauben, die vierzig Ore vorbeizubringen, sowie ich Wechselgeld habe.“ Fünf Minuten später brachte ich die vierzig Ore zurück. Die Hausgehilfin war an der Tür und nahm sie grinsend an. Ich hätte ihr ins Gesicht schlagen mögen. An den vier nächsten Stellen wurde ich an der Tür schon abgefertigt. An der fünften wurde ich eingelassen und vor meine Aufgabe geführt: 1. Ein Riesenstachelschwein von einem ungepflegten Kaktus. 2. Ein Ungetüm von einer Fächerpalme. 3. Eine Azalee, so groß wie ein stattlicher Weihnachtsbaum. Die Erde sollte erneuert werden. Für die Palme allein brauchte ich acht Pfund Blumenerde. Ich forderte drei Kronen für die drei Ungeheuer zusammen. „Ich meinte, Sie hätten siebzig Öre als Höchstpreis genannt“, sagte die Frau spitz.
„Ja, aber nicht bei solchen Riesenpflanzen“, setzte ich mich zur Wehr. „Ihre Pflanzen sind viel größer, als ich sie bisher gehabt habe.“ „Das sagen Sie wohl zu allen“, kam es noch spitzer aus ihrem Munde. „Was haben Sie mit der Erde vor, die Sie aus den Töpfen rausgenommen haben?“ „Ich habe vor, sie mit Ihrer gütigen Erlaubnis in Ihren Mülleimer zu schütten. Und dann möchte ich gern wissen, ob Sie auf diese kleinen Ableger da Wert legen, die ich von dem Kaktus abknipsen mußte, und wo ich sie in diesem Falle hintun soll?“ Aus unerfindlichen Gründen wurde die Dame etwas umgänglicher. Mit den kleinen Ablegern dürfte ich machen, was ich wollte. „Danke“, sagte ich und steckte sie in die Tasche. Plötzlich mußte ich trotz allem Ärger lachen. Sie hatte also geglaubt, ich würde die alte Blumenerde dem nächsten Kunden verkaufen! Ach ja, viele Menschen haben keine sonderlich hohe Meinung von ihren Zeitgenossen. Aber der Tag war, wie gesagt, ein ausgesprochener Pechtag. Ich kam mit einem Nettoverdienst von elf Kronen nach Haus. Nicht ein Ore für Yvonne. Ich war nicht einen einzigen Ablegertopf losgeworden. Dagegen hatte mir der Tag einen Gedanken eingegeben. Ich pflanzte die kleinen Stecklinge, die ich bekommen hatte, sorgsam ein. Vielleicht konnte ich damit noch eines Tages ein Geschäft machen. „Laß dich’s nicht verdrießen, mein Kind“, sagte Yvonne. „Kannst du immer elf Kronen einsäckeln, dann verhungerst du jedenfalls nicht. Ich hab heute fünfzig Kronen für eine Zeichnung in der Zeitung bekommen. Bitte, das Essen ist gerichtet. Brot und Margarine und drei Scheiben Fischpudding für jeden!“
Der Kampf ums Dasein Ich hatte eine Entdeckung gemacht, eine ganz aufschlußreiche Entdeckung, die unwahrscheinlich klang, aber nichtsdestoweniger stichhaltig war: Es hing nämlich von mir selbst ab, wie viele Aufträge ich bekam und wieviel ich verdiente. War ich heiter und gut aufgelegt und drauf eingestellt, daß man mir freundlich entgegenkam – ja, dann kam man mir auch freundlich entgegen! War ich aber müde und mißgelaunt, dann begegneten mir kalte Blicke und unfreundliche Stimmen, und ich kam mit so geringem Verdienst nach Hause, daß es mir davor grauste, Yvonne unter die Augen zu treten. Und dann wieder kamen sonnige TageNach zwei Wochen etwa war ich mit meiner Arbeit in einem Wellental. Nur an jeder sechsten, siebten Stelle wurde ich mit meinen Eimern vorgelassen. Aber dann ging es wieder bergauf. Immer öfter wurde ich mit einem „Ach ja, Sie waren doch auch bei Frau X in der Prinzenstraße?“ oder „Sagen Sie mal, haben Sie nicht den Kaktus bei Frau Y zum Blühen gebracht?“ oder „Sie sind das wohl, von der meine Freundin Frau Z erzählt hat“ empfangen. Es gibt keine bessere Reklame, als wenn die Hausfrauen der Stadt von einem reden. Das habe ich am eigenen Leib erfahren. Ich hatte einen Rekordtag hinter mir. Kam um fünf Uhr nach Haus, hungrig wie ein Wolf und mit vierundneunzig Kronen in der Tasche. Davon achtzehn Kronen für Yvonne, und die Hälfte des Restes von sechsundsiebzig war mein Reinverdienst. Könnte ich nur täglich achtunddreißig Kronen verdienen! Wir aßen in glänzender Stimmung, schmiedeten Pläne für die Zukunft, ließen unserer Phantasie die Zügel schießen über den Einkauf verschiedener notwendiger Dinge für das Atelier. Denn es sah ziemlich kahl bei uns aus. Der Raum war groß und hätte daher eine unglaubliche Menge von Möbeln brauchen können. Die kleinen weißen Schlafzimmermöbel, die ich mitgebracht hatte, standen in einer Ecke hinter einem Wandschirm und verschwanden dort fast, und der Tisch, Arbeits- und Eßtisch zugleich, die Couch, der Beistelltisch und die beiden Korbsessel genügten auch nicht, um den Raum auszufüllen. Wir hätten spielend zwei vollständige Wohnzimmereinrichtungen, einen Konzertflügel und einen Konferenztisch im UNO-Format hineinstellen können. „Werd bloß nicht übermütig, Wibke“, mahnte Yvonne. „Bring das
Geld auf die Bank – jedenfalls vorläufig. Rühr das Sparbuch nicht an, ehe du nicht zweitausend Kronen beisammen hast. Zweitausend sind das mindeste, was du für den Notfall haben mußt.“ „Du meinst, für Krankheit, Tod und Begräbnis?“ Yvonne antwortete mir nicht, wie ich erwartet hatte. Sie sagte nämlich nicht: „Ach, was redest du für ‘n Unsinn!“ Sie sagte nur ganz schlicht und vernünftig „ja“ und fügte hinzu, jeder Mensch müsse wenigstens so viel hinterlassen, daß er auf anständige Weise unter die Erde kommen könne. Ich hatte sechshundert Kronen auf der Bank. Das übrige war für die Beschaffung von Betriebsmitteln für mein „Geschäft“ und für meinen Mietanteil im ersten Monat draufgegangen. Mitten in der Nacht wachte ich auf und machte Licht. Es puckerte wie toll in meiner Hand. Ich schaute sie an. Vom rechten Zeigefinger lief ein roter Streifen am Unterarm hinauf. Es pochte und tat weh. Ob ich Yvonne wecken mußte? Nein, warum denn? Sie konnte mir ja doch nicht helfen. Ich schlüpfte leise aus dem Bett und suchte das Aspirin, nahm zwei Tabletten und legte mich wieder hin. Um sieben Uhr wachte ich auf. Jetzt waren die Schmerzen unerträglich. Ich rief nach Yvonne. Eine halbe Stunde später war der Arzt da. Im Nebenhaus wohnte einer. Er war sehr jung und sehr böse. „Was fällt Ihnen ein, so lange damit herumzulaufen?“ Er drückte meinen Finger zusammen, und ich stöhnte. „Ich hole ein Auto. Es ist das beste, Sie fahren ins Krankenhaus, in die Ambulanz, und lassen sich das schneiden. Sie kriegen eine kleine Betäubung, die wird schon nötig sein.“ Mir wurde schwarz vor den Augen – Krankenhaus – Betäubung – Arztkosten – nein, das konnten wir uns nicht leisten! Ich war ja nicht in der Krankenkasse! „Weshalb können Sie es nicht gleich hier machen, Herr Doktor?“ „Das kann ich natürlich. Aber es wird weh tun.“ „Ach…“, sagte ich nur. Ich bin immer ein fürchterlicher Angsthase gewesen, wenn es galt, Schmerzen auszuhalten. Yvonne mischte sich jetzt ein. „Ja, danke, Herr Doktor, ich werde meine Freundin wegbringen. Sie muß sich nur eben anziehen.“ „In Ordnung. Ich rufe das Krankenhaus an und sage Bescheid,
daß Sie kommen. In einer Stunde – ist das recht?“ Yvonne half mir beim Anziehen. Wir sagten beide kein Wort. „Findest du mich sehr feige?“ fragte ich schließlich, als das Schweigen zu drückend wurde. „Aber nicht doch, meine Gute.“ Wieder Schweigen. Yvonne band mir die Schnürsenkel zu. „Yvonne! Was würdest du an meiner Stelle getan haben?“ „Ich weiß nicht.“ „Bist du jemals in so einer Lage gewesen?“ „Mit Blutvergiftung nicht.“ „Was denn?“ „Ach – ich hatte nur mal in Paris eine sehr gräßliche Zahngeschichte.“ „War es schlimm?“ „Ja, ich mußte nämlich zu so ‘nem billigen Zahnarzt gehen.“ „Hat er ihn gezogen?“ Yvonne lächelte: „Du müßtest lieber fragen: Hat er ihn rausgebrochen?“ „Ohne Betäubung?“ „Ja. Steh jetzt auf, dann helfe ich dir in den Mantel.“ Ich hatte wahnsinnige Angst. Aber ich dachte an Yvonnes Zahnziehen, und ich krampfte die Hände zusammen und versuchte, tapfer zu sein, als ich sagte: „Yvonne. Ich gehe rüber zum Arzt. Er kann es in der Praxis machen.“ Yvonne sah mich kurz an. „Schön. Du bist tapfer“, sagte sie nur. „Ich komme mit.“ Sie legte ihren Arm um mich, und wir zogen ab. Nein, ich war nicht tapfer. Ich schrie laut, als ich das Messer an meiner Haut spürte. Und – ja, ich schäme mich in Grund und Boden, aber es tat so unbeschreiblich weh – ich glaube, ich schrie irgendwas, daß ich doch lieber ins Krankenhaus wolle. Aber dann war es auch schon vorbei. Leichte, geübte Hände machten einen Verband, und Yvonne ließ mich los. Erst jetzt merkte ich, daß sie mich die ganze Zeit mit beiden Armen festgehalten hatte. Dann hob sie ihre Hand und wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. Nun hörte ich auch die Stimme des Arztes. „So, es ist schon vorüber. Nun dürfen Sie die Hand aber eine Woche lang nicht gebrauchen. Kommen Sie übermorgen zur Nachuntersuchung. Da lag ich nun. Yvonne ging in einem frischgewaschenen Malkittel herum und räumte auf und machte sauber. Sie kochte Tee
für mich und strich Butterbrote. Sie sagte nicht viel. Aber die Furche zwischen ihren Augenbrauen deutete daraufhin, daß sie über etwas nachdachte. Ich konnte mir schon denken, was es war. Ich wußte, daß das Geld für die Zeichenstunden ausgegeben war, und vor dem nächsten Monat waren weitere Einnahmen nicht zu erwarten. Gestern war ein großer Brief an sie gekommen. „Großer Brief“ und „kleiner Brief“ war Yvonnes Jargon. Großer Brief bedeutete einen großen Briefumschlag mit einer zurückgesandten Zeichnung. Kleiner Brief war ein kurzes Schreiben mit der Nachricht, daß eine Zeichnung angenommen sei. „Du mußt mein Sparkassenbuch nehmen und Geld abheben, Yvonne. Das hilft nun alles nichts. Ich kann dir nicht eine ganze Woche lang auf der Tasche liegen.“ Sie murmelte etwas vor sich hin. Die Worte verstand ich nicht, konnte mir aber den Sinn denken. – In ihrer Kasse war augenblicklich völlig Ebbe. Die Zeit, die jetzt folgte, steht in meiner Erinnerung wie ein einziger Alptraum. Der Monat war zu Ende. Wir mußten für die Miete Geld von der Bank abheben. Yvonne zeichnete und zeichnete. Sie ging in die Stadt, kam zurück mit der Zeichnung in der Mappe und einem schmalen, blassen und entmutigten Gesicht. Ganz selten einmal brachte sie dreißig bis vierzig Kronen mit nach Haus. Es war unglaublich, wie lang dreißig Kronen reichen, wenn man vorsichtig damit umgeht und auf alles verzichtet, was nicht unbedingt notwendig ist. Sie gab ihre Stunden, kam nach Haus, besorgte den Haushalt, ging wieder fort. Wir sprachen wenig. Eines Tages ging es nicht mehr weiter. Ich konnte ihr ansehen, daß es jetzt ganz schlimm war, faßte mir ein Herz und sprach mich offen mit ihr aus. „Hör mal. Du mußt so was doch schon manchmal durchgemacht haben. Was hast du dann gemacht?“ „Hab meine Halskette ins Leihhaus gebracht.“ „Dann mußt du es jetzt eben auch wieder tun.“ „Die ist schon da.“ Ich ging an meine Kommode und kramte mit der heilen Hand in der obersten Schublade. „Schau her. Du mußt den Weg dann eben noch einmal machen.“ Ich reichte ihr die antike Brosche meiner Mutter. Yvonne nahm
sie an sich und ging, ohne ein Wort zu sprechen. So gab es auch an diesem Tag ein warmes Essen. Der Arzt besah sich meine Hand und ordnete an, daß ich sie noch eine Weile im Verband tragen müsse. Aber bald konnte ich nicht mehr. Ich wurde ganz krank davon, daß ich nichts tun durfte. Also pilgerte ich einfach in die Stadt, hob zwanzig Kronen in der Bank ab und kaufte mir ein Paar Gummihandschuhe. Und am nächsten Morgen machte ich mich mit dem Moped auf den Weg. Der Tag brachte nur mäßigen Erfolg. Zweiunddreißig Kronen – brutto. Am nächsten Morgen ging ich wieder auf Arbeitssuche. Aber es war verflixt unbequem, mit Gummihandschuhen zu arbeiten. Und da platzte der rechte, als ich gerade dabei war, Ableger von einem alten Großmutterkaktus abzuknipsen. Rückfall. Der Arzt war wütend. Diesmal mußte ich ins Krankenhaus, ob ich wollte oder nicht. Die ganze Geschichte mußte noch einmal geschnitten werden. Obendrein noch ein ganzes Ende am Arm hinauf. Als ich aus der Narkose erwachte und auf den dicken Verband sah, wurde mir klar, daß ich wirklich eine ausgewachsene Blutvergiftung gehabt hatte – mit allem Drum und Dran. Ich mußte zwei Tage dortbleiben, dann durfte ich wieder heimwärts ziehen. Als ich ins Krankenhaus ging, hatte ich noch etwas Geld auf der Bank. Drei Tage später war es verbraucht. Yvonne zeichnete und zeichnete. Ich holte ein und machte mich mit der heilen Hand so nützlich, wie ich irgend konnte. Viel war es nicht. Ich mußte Milch holen. Ich getraute mich nicht, in „unseren“ Milchladen zu gehen, dort hatten wir zuviel anschreiben lassen. Man hatte uns schon mehrmals eine Rechnung geschickt, und es war fast unmöglich, weitere Ausreden zu finden. In dem anderen Milchgeschäft an der Ecke hatte ich bis jetzt nur ein paarmal gekauft und dann immer bar bezahlt. Ich wollte jetzt mal sehen, ob ich es wagen durfte… Ich bekam die Milchpackung und steckte die Hand in die Manteltasche, um das Portemonnaie herauszuholen. Es war darin, ich hatte es in den Fingern. Da versuchte ich, ein verlegenes Lachen anzustimmen und sagte: „Ach, jetzt habe ich mein Geld zu Hause
liegenlassen. Ich bin aber auch zu schusselig. Darf ich später vorbeikommen und bezahlen?“ Ja, gewiß. Das ließe sich schon machen. Für Fräulein Grundt, nicht wahr? Ja, gewiß. Für Fräulein Grundt. So etwas wie ein Siegesgefühl beherrschte mich, als ich aus dem Milchladen trat. Jetzt hatte ich das Geld für morgen noch in der Tasche. Mal sehen, ob ich es beim Bäcker ebenso machen konnte? Tatsächlich, es klappte auch da, aber nicht ganz so glatt. Die Verkäuferin sagte „einen Augenblick“ und verschwand ins Hinterzimmer, zum Bäckermeister. Doch sie kam zurück und sagte, ja, es sei in Ordnung. Wenn ich heute daran zurückdenke, werde ich rot bis in die Zehen hinunter. Kleine Schwindeleien, halber Diebstahl, kleine Betrügereien, ein bißchen Komödie spielen – alles keine große Sache, aber verzweifelte Waffen in dem grauen, hilflosen, quälenden Kampf um das Dasein.
Die wahnsinnig ulkige Künstleratmosphäre Wir hörten Schritte auf der Treppe. „Pscht!“ machte Yvonne. Es klopfte. Wir saßen mucksmäuschenstill mit angehaltenem Atem. Es klopfte noch einmal. „Die Bäckerrechnung“, flüsterte Yvonne wieder. Ich nickte. Der Junge vom Milchladen klopfte ganz anders. Die Schritte verhallten unten auf der Treppe. Wir atmeten auf. Jetzt waren sie beide dagewesen, so daß wir für eine Weile Ruhe hatten. Wenn nun bloß nicht noch der Laufjunge vom Schuhmacher kam. Oder die Stromrechnung. Dann durften wir einfach nicht aufmachen. Wenn wir den Mann einließen und an den Zähler heran, dann würde er uns den Strom sperren. Yvonne ging fort. Ich wischte Staub und goß die Blumen und dachte über die Unterhaltung nach, die wir heute nacht geführt hatten. Ich hatte überlegt und überlegt, bis mein Gehirn ganz dumpf war. Alle Möglichkeiten zu prüfen versucht. Ausweg überlegt, die Gedanken gedreht und gewendet, so lange, bis das Unmögliche möglich erschien, die Tatsachen ausgeschmückt und mir ausgemalt, wie Rede und Gegenrede lauten würden. Da war zum Beispiel Nini. Sie würde es nicht im geringsten auffällig finden, wenn ich sie besuchte. Und wenn ich lustig und ausgelassen plapperte wie sonst und nach einer Weile plötzlich etwa sagte: „Du Nini, ich bin im Augenblick furchtbar klamm. Hast du zufällig Lust, mir hundert Kronen zu pumpen…?“ dann würde ich das Geld todsicher bekommen. Oder Tante Beate. Sie saß den lieben, langen Tag da und spielte mit ihren Damen Sechsundsechzig, hegte ihren Kater und war so lebensfremd und weltfern – es würde ihr nie auch nur im Traum einfallen, daß ich tatsächlich Not litte, wenn ich es so darstellte, als sei ich nur in einer vorübergehenden kleinen Bedrängnis. Ich hatte noch andere Eisen im Feuer. Aber diese beiden waren am besten. Nachdem wir abends das Licht gelöscht hatten, arbeitete ich den Plan aus. Und fragte in die Finsternis hinein: „Schläfst du, Yvonne?“ „Nein.“ Da setzte ich es ihr auseinander, wie ich es mir vorher zurechtgelegt hatte.
„Wibke!“ Die Stimme klang hart, ganz wach. „Wenn du das tust, dann ist es zwischen uns beiden aus. Hast du verstanden?“ Ich antwortete nicht. Ich lag nur ganz still da. Lange Zeit. Dann fuhr Yvonne fort. Jetzt in etwas ruhigerem Ton. Sie fragte nicht, ob ich schlafe. Sie wußte, daß ich hellwach dalag. „Man bringt die Schwierigkeiten nicht aus der Welt, indem man sie auf andere Menschen abwälzt, Wibke. Was wir nicht haben, darauf müssen wir eben verzichten. Selbstverständlich würde Nini dir die hundert Kronen leihen. Und selbstverständlich würde Tante Beate dir etwas Geld schenken. Aber das Geld würdest du viel zu teuer bezahlen. Bist du eines Tages wieder obenauf, dann bereust du es bitter, daß du dir einmal eine solche Blöße gegeben hast, daß du dich gedemütigt hast, daß andere Einblick in dein Dasein bekommen haben, als es dir gerade am allerübelsten erging. Es ist besser, mit einem leeren Magen umherzulaufen, von dem keiner eine Ahnung hat, als sich auf anderer Leute Kosten satt zu essen. Und dann noch eins. Was du tust, das ist natürlich deine eigene Sache. Aber in diesem Fall sind wir zu zweit. Wenn du dich demütigst, demütigst du mich auch. Und das lasse ich nicht zu. Jetzt, da du selbst weißt, wie das Leben aussehen kann, sollst du erfahren, daß ich manchmal so ausgehungert war, wenn wir uns im Klub trafen, daß ich es kaum abwarten konnte, bis wir zu Tisch gebeten wurden. Ich erinnere mich noch, wie wir einmal bei dir Schokolade mit Schlagrahm und belegte Butterbrote bekamen anstatt Tee und kleines Gebäck. Du ahnst nicht, wie selig ich war. Da hatte ich eine ganze Woche kein warmes Essen bekommen. Aber keine von euch hat etwas gewußt, keine hätte sich auch nur vorstellen können, daß ich buchstäblich gehungert habe. Ihr redetet von der ,wahnsinnig ulkigen Künstleratmosphäre’ und schwärmtet von einer Operette, in der poetische und verschuldete junge Künstler vorkamen, und wie aufregend so ein Leben doch sein müsse – o Gott, ich hätte euch durchprügeln können, reihum, wie ihr dasaßet und Quatsch redetet, ihr kleinen, gut gefütterten Küken! Ihr spracht auch von Atelierfesten – der Himmel mag wissen, wo ihr die komischen Vorstellungen her hattet, vielleicht aus Filmen oder schlechten Romanen – o ja, ich entsinne mich noch an Ninis Beschreibung von dem Atelier, das sie sich mal einrichten wollte, mit Decken und Schals und Kissen und Matten und türkischen Tischen und wirkungsvoller Beleuchtung und einer Bar in der einen Ecke! Eine Bar, Wibke! Mit einer Batterie von Flaschen und Gläsern und Salzmandeln in der Büchse und – weißt du das noch? Ja, ja,
natürlich gibt es Leute, die sich große, schöne, luxuriös eingerichtete Ateliers leisten können, und da werden sicher auch Feste abgehalten. Unsere kleinen Freundinnen mit ihrem Hühnerhirn wissen aber eins nicht, daß nämlich ein Atelier in erster Linie eine Arbeitsstätte ist, außerdem in der Regel eine Häuslichkeit, da man sich beides nicht leisten kann. Laß uns in Frieden, sage ich, laß uns arbeiten und schuften und hungern und hier und da auch mal ein bißchen flennen, aber bewahre uns davor, daß wir rumgehen und »interessant’ sind, und setze alles dran, damit um Himmels willen die andern Leute nicht in unser Dasein hineingezogen werden, wenn es gerade am allerschlimmsten aussieht!“ Yvonnes Stimme war dringend geworden, leidenschaftlich – jetzt brach sie ganz plötzlich ab und sagte kein Wort mehr. „Ich verstehe dich gut“, sagte ich. Und kurz darauf kam ein Gutenacht vom andern Ende des Ateliers – leise und warm, mit Yvonnes alltäglicher Stimme. Meine Hand machte Fortschritte. Aber leider nur sehr langsam. Ich ging hin und wieder zum Arzt, um mich zu zeigen. „Vorläufig nicht arbeiten“, sagte er. „Vielleicht in etwa vierzehn Tagen.“ Der Schnitt war tief, es hatte sich Eiter gebildet, und alles war wirklich scheußlich. Fieber hatte ich auch gehabt, aber das wenigstens war wieder vorüber. Unterdessen verstrich die Zeit – das kostbare Frühjahr, das meine allerbeste Arbeitszeit hätte sein sollen. Es dauerte nicht mehr lange, und dann würde es für dieses Jahr zu spät sein, Blumen umzutopfen und Stecklinge zu setzen. Na ja – noch war es Frühling. Aber Ostern stand vor der Tür, und das bedeutete wieder eine ganze Woche Arbeitsausfall. Oh, wie waren die Tage lang! Lang und kalt. Denn es war trübes Wetter, und dann war es bei uns unerträglich kalt. Nur wenn die Sonne durch das große Dachfenster fiel, hatten wir es warm. Yvonne trug eine Strickjacke unter dem Malkittel und Filzpantoffeln an den Beinen. Sie arbeitete verbissen und schweigsam. Sie hatte wenigstens ein kostenloses Modell – sie malte mich im Sessel, in eine dicke Wolldecke gewickelt. Es war keineswegs gestellt. Ich hatte mich eines Tages so hingekauert, und da hatte Yvonne gestanden und mich unentwegt angestarrt. Nach einer Weile war sie näher gekommen und hatte den Sessel ein bißchen gerückt – die Malsachen hervorgeholt und angefangen. Als ich aufstehen wollte, rief sie nur: „Bleib so sitzen!“ Die gesunde
Hand wurde blau vor Kälte. Die kranke lag gut und warm in ihrem Verband. Yvonne malte. Sie vergaß die Mahlzeiten, sie vergaß alles; wenn ich etwas fragte, gab sie keine Antwort. Und ich saß und starrte sie an und erkannte, was sie in den mühseligen Jahren im Ausland und auch später über Wasser gehalten und was sie getrieben hatte. Ich sah das magere, gespannte Gesicht, die dünnen Finger, die den Pinsel hielten, das glatte schwarze Haar, das sie ab und zu mit dem Handrücken aus der Stirn strich. So sollten sie sie einmal sehen, alle die, die über ihre Zeichnungen zu Gericht saßen und sie dann ablehnten. Die ihre Bilder betrachteten und sie „hübsch“ fanden, aber lieber Drucke von bekannten Größen kauften… Vielleicht würden sie dann verstehen, daß die „hübschen“ Bilder von einer wirklichen Künstlerin gemalt waren, von einer, die ihre ganze gequälte Seele in die Arbeit legte. Erst wenn es anfing, dunkel zu werden, legte sie den Pinsel aus der Hand und suchte etwas zu essen hervor. Wir lebten so spartanisch, wie ich mir’s nie hätte träumen lassen. Yvonne schien es überhaupt nicht anzufechten. Aber ich lief mit ständigem Hungergefühl herum. Und das, obwohl es uns gelungen war, meine Armbanduhr, den Ring meiner Mutter und das bißchen Silber, das ich von meinen Eltern geerbt hatte, aufzuessen. In der Kommodenschublade lagen jetzt nur die Leihhausscheine. Die Summe, die wir brauchten, um die Sachen wieder auszulösen, schwoll immer mehr an. „Ein wahres Glück, daß wir nur so wenig dafür kriegen“, versuchte ich eines Tages die Sache mit einem Witz abzutun. „Dann ist es nicht ganz so schwierig, alles wieder einzulösen.“ „Warte ab, bis du erst damit anfängst“, sagte Yvonne. Dann schwieg sie wieder. Der Tag kam, da wir nichts Eßbares mehr im Hause hatten. Das letzte Brot aßen wir morgens zum Frühstück. Nun war Schluß. Ich könnte dies in allen Einzelheiten schildern. Ich könnte erzählen, was es für ein Gefühl war, könnte die Bitterkeit schildern, den Kummer und dergleichen mehr. Aber das schlimmste von allem war, daß die Empfindlichkeit und der Hunger Hand in Hand mit der Scham gingen. Darum habe ich eine Scheu, näher darauf einzugehen. Als ich klein war, betete meine Mutter abends mit mir. Ich habe
es seither immer getan – ohne eigentlich viel darüber nachzudenken. Ja, ich muß gestehen, daß ich mich einfach ab und zu an den lieben Gott wende, wenn das Leben einmal gar zu schwierig ist. Mehr oder weniger mechanisch sage ich ganz für mich allein „Lieber Gott, sei so gut und hilf mir…“, und da gibt es immer eine ganze Menge, wobei ich meiner Meinung nach der Hilfe bedarf. Gerade an diesem Tag wurde es mir plötzlich bewußt, daß ich dasaß und vor mich hinflüsterte: „Lieber Gott, sei so gut und gib uns etwas zu essen.“ Pfui Kuckuck, wie ist es widerwärtig, wenn man sich sentimental vorkommt. Es klopfte an die Tür. „Hallo – seid ihr zu Hause? Kann ich Tee bei euch trinken? Kuchen habe ich mit.“ Es war Nini – Nini, die sich alle Jubeljahre mal im Atelier sehen ließ. Tee hatten wir, aber mehr auch nicht. „Ich wollte euch nur daran erinnern, daß morgen Kränzchen ist. Bei mir. Na ja, dachte ich mir’s doch, ihr habt das natürlich vergessen. Der Apfelkuchen ist für dich, Yvonne. Wibke, für dich hab ich ‘n Stück Napoleonschnitte mitgebracht. Nein, für mich ist das nichts. Ich esse höchstens so ein Stückchen mit Nuß. Ich mach zur Zeit eine Schlankheitskur durch. Acht Pfund soll ich abnehmen! Ach, wie ich euch beneide, daß ihr so schlank seid. Wie stellt ihr das bloß an?“ Yvonne und ich tauschten keinen Blick. Nini wartete auch gar keine Antwort ab. Sie begann im Atelier herumzuschnüffeln. „Ich liebe so ‘ne Atelierluft, müßt ihr wissen – aber nein, das bist ja du, Wibke! Das ist aber wahnsinnig gut getroffen!“ Nini hatte sich vor die Staffelei gestellt. „Du, Yvonne, wieviel kostet so ein Porträt bei dir?“ „Von siebenhundert Kronen an aufwärts. Weshalb fragst du?“ „Könntest du mich dann nicht mal malen? Ich möchte es Mama zum Geburtstag schenken. Wenn du es so schnell fertigbringst. Das wäre in vierzehn Tagen.“ Es entstand eine kurze Pause. Mein Herz schlug rasend. Ach lieber Gott, laß bloß jetzt Nini nicht was Dummes sagen. Lieber Gott, laß Yvonne diesen Auftrag bekommen. Lieber Gott… Nini aber sagte das Gescheiteste, was sie überhaupt hätte sagen können: „Nun bist du aber bei mir nicht zu teuer! Ich habe mich diesen Monat völlig verausgabt. Im Ernst, Yvonne, du läßt es mir
doch für den Mindestpreis, nicht? Mehr als siebenhundert Kronen kann ich auf keinen Fall lockermachen dafür, das wirst du doch einsehen?“ Ich weiß noch heute nicht, ob es damals bei Nini Diplomatie war oder ob sie wirklich bloß so daherredete, ohne nachzudenken. Aber genau das, was sie sagte, sicherte Yvonne eine Einnahme von siebenhundert Kronen. Jetzt war Yvonne die Gütige und Entgegenkommende und machte einen billigen Preis – während Nini die ganze Sache hätte kaputtmachen können, wenn sie das gesagt hätte, was in neunundneunzig von hundert Fällen gesagt worden wäre: „Du mußt mir natürlich den gleichen Preis berechnen wie allen andern – ich kann dir auch einen Vorschuß geben.“ Dann hätte Yvonne die ganze Bestellung abgelehnt, darauf wette ich meinen Kopf. Jetzt mischte ich mich ein und lachte. „Paß bloß auf, Yvonne! Nini will dich jetzt ausnützen – sag ich das nicht immer? Vor seinen Freunden soll man sich in erster Linie hüten. Du müßtest dir irgendeine Sicherheit geben lassen, daß Nini wirklich zahlt!“ „Jetzt laßt den Unsinn. Es ist abgemacht, Nini. Ich mal dich für siebenhundert Kronen, und das Format wird angemessen sein. Wann kannst du für mich Modell sitzen?“ Nini überlegte. Und erklärte darauf, daß sie gern am Flügel gemalt werden möchte. Ob Yvonne nicht morgen im Kränzchen eine Skizze machen könne? Oder, halt mal – Ninis Mutter sei morgen den ganzen Tag nicht da. Ob wir nicht zum Essen kommen wollten, dann könne Yvonne die Skizze machen, ehe sich die andern um sechs Uhr zum Kränzchen einfänden? „Doch, das können wir wohl einrichten“, sagte Yvonne so ruhig, als spiele eine Einladung zum Essen für sie nicht die geringste Rolle. Als Nini fort war, ließen wir unsere Blicke über den Kuchenteller wandern. Es waren noch zwei Stück Mürbekuchen da, ein Stück Sandtorte und eine Rumschnitte. Reichlich genug für den Rest des Tages, wenn wir morgen zum Essen eingeladen waren! „Die Miete ist also gesichert, wenn Nini bar bezahlt“, sagte Yvonne und holte tief Luft. Dann legte sie einen Teller über die Kuchenplatte und stellte sie in den Schrank. Am nächsten Abend, als wir vom Kränzchen nach Hause kamen und Licht machen wollten, stellten wir mit Betrübnis fest, daß kein Licht da war. Der Schein eines brennenden Zündholzes fiel auf die
Plombe am Zähler. Die Hauswirtin mußte den Mann von den Stadtwerken hineingelassen haben. „Nun, dann war es also nicht zu umgehen“, sagte Yvonne. „Aber darauf kannst du Gift nehmen, die Rechnung wird morgen bezahlt – und wenn ich der Redakteurin der ,Dame von Heute’ die Daumenschrauben anlegen soll. Seit zwei Monaten hat sie den Entwurf zu dem Titelblatt bei sich liegen; es wird wirklich mal Zeit, daß sie sich entschließt.“ Wir steckten eine Kerze an, und ich warf Yvonne von der Seite einen Blick zu. „Du! Komm mal eben her!“ „Was soll ich denn?“ Ich antwortete nichts. Schüttelte statt dessen meinen Handarbeitsbeutel aus. Außer dem Strickzeug kullerten drei Apfelsinen heraus, zwei belegte Brote, ein kaltes Kotelett und eine Handvoll kleiner Kuchen. „Wibke!“ „Pscht! Hast du nicht gesehen? Ich hab doch abdecken helfen. Ich war ganz bestimmt allein in der Küche. Du brauchst keine Sorge zu haben. Liebe, gute Yvonne, lach doch mal!“ Über Yvonnes Gesicht zuckten alle möglichen Ansätze zu einer Reaktion – zunächst stand Entrüstung darauf zu lesen –, das Ende war ein unbeherrschtes Gelächter. „Man kann nun sagen, was man will“, erklärte ich mit Nachdruck, „aber diese wahnsinnig ulkige Künstleratmosphäre hat doch einen gewissen Reiz! – Paß auf, Yvonne, das Licht blakt!“
Auf Regen folgt Sonnenschein „Tja“, sagte Doktor Steneng und runzelte die Stirn. „Sie müßten sich noch einige Tage Ruhe gönnen. Aber es verheilt jetzt blendend. Es war die garstigste Blutvergiftung, die mir vorgekommen ist.“ Na, na, allzuviel wirst du noch nicht gesehen haben, du Grünschnabel, dachte ich. Dr. Steneng sah aus, als habe er eben erst das Examen hinter sich. „Aber, wie gesagt, Sie wissen, es ist besser, etwas zu vorsichtig zu sein…“ Da hatte ich die Nase voll. Nach meiner eigenen Meinung hatte ich eine unwahrscheinliche, eine engelhafte Geduld an den Tag gelegt und noch dazu eine ganze Ewigkeit lang. Und dann mußte man sich das sagen lassen – man solle vorsichtig sein, obendrein mit einer soeben angenommenen, überlegenen Arztmiene! „Weiß der Himmel, Sie haben gut reden“, entfuhr es mir. „Denken Sie, ich hab nichts anderes zu tun, als rumzurennen, eine Hand in der Binde, und mich interessant zu machen? Denken Sie, ich lebe davon, daß ich Ihre Patientin bin? Ich muß arbeiten, jawohl – ich kann nicht rumlaufen und vorsichtig sein – so sicherheitshalber!“ Der Arzt sah mich voll an, sehr ruhig. „Ich muß Sie mißverstanden haben“, sagte er kühl. „Ich hatte gedacht, Sie befragten mich als Arzt. Von mir bekommen Sie ärztliche Anweisungen. Ich wußte nicht, daß Sie den Privatmenschen in mir angeredet haben. Aber wenn dem so ist, dann sage ich natürlich etwas ganz anderes. Da sage ich, daß Sie mir herzlich leid tun mit dieser Geschichte, und ich werde der erste sein, Sie zu verstehen, wenn Sie zu früh anfangen zu arbeiten. Ich hätte Ihnen übrigens als Mensch eine Menge zu sagen – aber ich bin mir durchaus nicht sicher, daß Sie Wert darauf legen, wenn ich menschlich offen bin. Sie sind zu mir gekommen, weil ich Arzt bin, und ich habe keinesfalls die Absicht, die Rolle des freundlich herablassenden Seelsorgers vor Ihnen zu spielen. Jedenfalls nicht unaufgefordert.“ Ich fühlte, daß ich knallrot wurde. Der Mann hatte ja tausendfach recht. „Ich meinte ja nur, daß – ja, ich bin es gewöhnt, daß ein Arzt auch ein bißchen menschlich ist und versucht, auf die Lage Rücksicht zu nehmen, in der sich der Patient befindet…“
Jetzt lächelte Dr. Steneng. Komischerweise machte sein Gesicht einen viel erwachseneren und auch sympathischeren Eindruck, wenn er lächelte. „Ja freilich. Man soll natürlich nicht nur Arzt sein. Man darf nicht zu einem Lungenkranken, der von der Fürsorge unterstützt wird, sagen, er müsse viel Eier und Milch zu sich nehmen und frische Luft und in ein Hochgebirgssanatorium gehen, danke, das wären dann vierzig Kronen. Aber auf der anderen Seite, sehen Sie – nun ja, ich kann es Ihnen ja jetzt erzählen, da wir schon mal davon angefangen haben –, ich war selber als ganz junger Kerl bei einem solchen Opapa von Doktor, der mir Eisenpillen verschreiben sollte. Und das war so der Typ von Seelsorger, wissen Sie. Der forschte und fragte und war höchst indiskret und mischte sich in lauter Dinge, die nicht das geringste mit meiner Bleichsucht zu tun hatten. Und als ich nun selber Arzt wurde, schwor ich mir, nie meine Patienten damit zu plagen, daß ich als Mensch auftrete. Lediglich als Arzt, ganz kühl und geschäftsmäßig, verstehen Sie? Aber vielleicht gehe ich zu weit. Es mag sein, daß Sie da recht haben.“ Mein Respekt vor dem „Grünschnabel“ stieg mit der Geschwindigkeit eines Weingeistthermometers. Seine Worte ließen mich jetzt ganz klein werden. Ich stand auf. „Gut. Ich möchte Ihnen, solange Sie noch Mensch sind, nur sagen, daß ich morgen anfange zu arbeiten – und jetzt mache ich, daß ich wegkomme, ehe Sie wieder nur Arzt sind und es mir untersagen. Auf Wiedersehen!“ In der Tür drehte ich mich ganz kurz um. Er lächelte von einem Ohr zum andern. In unserem Treppenhaus duftete es nach Kaffee. Nach wunderbarem, verlockendem Kaffee. Sollte es möglich sein… hatte Yvonne… Tatsächlich. Yvonne hatte… Der Wasserkessel summte, der Trichter stand auf der Kanne, und auf dem Tisch prangte eine große Platte mit Butterbroten. Mit Käse und Wurst und Sardinen belegt. Und eine Zehnerpackung Zigaretten lag da, und die Lampe neben der Couch glänzte und strahlte. Yvonne lächelte über das ganze Gesicht. „Der Elektrizitätsmann ist eben fort. Ich habe die Rechnung heute morgen bezahlt. Komm und iß.“ Man brauchte mich nicht zu nötigen. „Jetzt erzähl mal!“
„Es kommt von der ,Dame von Heute’. Zweihundert Kronen für die Titelseite. Eine ausgezeichnete Zeitschrift, nicht wahr? Die Redakteurin ist sympathisch. Ich habe mich lange mit ihr unterhalten. Hinterher ging ich noch in die Reklameabteilung hinüber. Vielleicht kriege ich Annoncen zum Illustrieren. Es kommt mal vor, daß die Kunden Vorschläge für die Bebilderung haben wollen. Und dann habe ich ihr die Kinderseite hingelegt – der Redakteurin. Sie wollte sie sich erst mal genauer ansehen, ich soll in ein paar Tagen Antwort kriegen.“ Die Kinderserie war eine Zeichenserie, die unendlich lange herumgelegen hatte. Ich fand sie lustig. Sie eignete sich glänzend für kleine Kinder, die noch nicht lesen können, denn die Bilder waren so anschaulich, daß sich der Text erübrigte. Yvonne hatte sie angeboten wie saures Bier, aber überall zur Antwort bekommen, die Agenturen lieferten einem leider für solche Dinge fertige Matern, und das sei viel billiger. „Aber Yvonne, das ist ja glänzend! Freust du dich nicht?“ „Doch, natürlich. Aber ich habe im Laufe der Zeit gelernt, daß man keine Freude auf Vorschuß nehmen darf. Man darf nichts glauben, ehe man nicht den unterschriebenen Vertrag in Händen hat oder den Scheck, am besten das Bargeld.“ Yvonne lächelte. „Schau her. Ich habe die letzte Nummer der Zeitschrift mitgebracht. Die, die morgen im Handel zu haben ist. Willst du sie dir ansehen, während ich aufwasche?“ „Ich kann dir abtrocknen helfen.“ „Nein, guck dir die Zeitschrift an. Ehrenwort – ich möchte am liebsten allein aufwaschen.“ Nun wohl, ich schaute mir die Zeitschrift an. „Die Dame von Heute“ ist ja unsere allervornehmste Frauenzeitschrift. Das Papier ist dick und glatt wie Wachstuch, die Klischees sehen aus wie Spezialaufnahmen von einem Hoffotografen, der Inhalt ist so vornehm, daß einem die Puste ausgeht. Da sind Fotos und Interviews mit den Gemahlinnen von Generalkonsulen, Generaldirektoren und Gutsbesitzern, von irgendeiner unerhört berühmten Schauspielerin und selbstverständlich von Ministergattinnen und dergleichen mehr. Und dann bringt sie Strickvorlagen und ganz vernünftige Sachen, aber alles so unglaublich gediegen aufgemacht, daß man das Gefühl hat, plötzlich selber furchtbar vornehm zu sein, wenn man die Zeitschrift nur in der Hand hat. Na ja – ich überflog diagonal ein Interview mit einer Frau
Minister Sowieso, erfuhr, daß ihr Liebling ein preisgekrönter Griffon sei – das Tier war abgebildet, ich vermute, es war ein Hund – daß es rohe Eidotter und Schabefleisch zu fressen bekam und daß es zu ihrem Kostüm aus bernsteinfarbenem Wollgeorgctte mit einem Besatz „Fliegender Hund“ paßte. Mir wurde ferner mitgeteilt, daß die Dame für den Skisport schwärme, daß sie leidenschaftlich gern Golf und Tennis spielte, daß ihr Boudoir mit handgestickten LouisSeize-Möbeln eingerichtet sei und daß sie Chopin liebe. Dann war meine Kraft zu Ende, ich blätterte weiter bis zum „Praktischen Skipulli“ und arbeitete mich über „Einen bezaubernden Pfingsttisch“ und „Die Berufsfrau als Hausfrau -Aussprüche von einer Reihe bekannter, beruflich tätiger Hausfrauen“ – zum vierten Artikel der Serie „Jugendlicher Unternehmungsgeist“ durch. Ach ja, von dieser Serie hatte ich schon früher einige Artikel gelesen. Sie handelte von jungen Frauen in originellen Berufen. Ich schaute mir die Bilder an und bekam einen Schrecken. Gab es wirklich noch eine, die dieselbe Idee gehabt hatte? Es dauerte etwa eine halbe Minute, ehe ich merkte, daß das Mädchen auf dem Bild ich selber war. Von oben aufgenommen, auf einen großen Hofplatz hinunter. Ich war gerade im Begriff, „das Führerscheinfreie“ zu besteigen, und von dem Gepäckträger glänzten dem Beschauer meine Eimer und andere Gerätschaften entgegen. „Yvonne!“ schrie ich. „Das hast du gemacht!“ Yvonne stand in der Tür und schaute zu mir herüber. – „Nein, ich denke nicht daran. Aber wer kann es gewesen sein? Wann in aller Welt bist du interviewt worden?“ „Überhaupt nicht!“ brüllte ich fast. „Es ist mir ein Rätsel. Wart aber mal, laß mich mal lesen.“ Ich las. Jedes Wort stimmte. Wenn ich das alles nicht gesagt habe, so hätte ich es jedenfalls sagen können. Eine unwahrscheinlich gute Reklame! Und die Schlußsumme, die der Interviewer aus dem Eindruck zog, den meine Wenigkeit gemacht hatte, und die kleinen Bemerkungen über meine Arbeit und meine „bewunderungswürdige Initiative“ und meine „geniale Idee“ mußten mir ja haufenweise neue Kunden zuführen. „Aber Yvonne… wer hat das bloß gemacht? Im Ernst… warst du’s wirklich nicht? Ehrenwort!“ „Ehrenwort! Drei Finger hoch. Ich habe nichts geahnt, bis ich die Zeitschrift durchblätterte.“ Ich schaute mir das Foto an. Wo war das denn aufgenommen?
Ach ja, vor „Hansis Wohnblock“, wo ich am ersten Tag war. Plötzlich ging mir ein Kirchenlicht auf. Die Dame, bei der ich an dem Vormittag Tee getrunken hatte! Die Dame, die mir frische Semmeln angeboten hatte und eine Zigarette und mich dann nach meinem Beruf ausgequetscht hatte. Wie hätte ich denn aber auch ahnen sollen, daß sie Mitarbeiterin von „Die Dame von Heute“ ist! Das hinterlistige Stück, hätte sie nicht ebensogut sagen können, daß sie die Absicht habe, mich drucken zu lassen?! Sie hatte ganz offensichtlich von vornherein die Absicht gehabt, da sie mich ja vom Fenster aus heimlich aufgenommen hatte. Ich ließ mir ihren Namen sagen und läutete sie an. Sie lachte und war etwas verlegen. „Im Ernst, Fräulein Grundt, Sie sind mir doch nicht böse? Nein, es ist sonst gar nicht meine Art, Leute heimlich zu interviewen. Und als ich anfing, mich mit Ihnen zu unterhalten, hatte ich auch gar keine Hintergedanken dabei. Erst nachdem Sie fort waren, kam mir die Idee, und da sauste ich mit meiner Kamera ans Fenster und kriegte Sie noch gerade zu fassen. Ich hatte aber keine Ahnung, wo Sie wohnen, sonst hätte ich mir Ihre Einwilligung geholt. Aber glauben Sie nicht, daß es für Sie eine fabelhafte Reklame ist?“ Aber ja, das glaubte ich allerdings. Es endete damit, daß ich ihr herzlich dankte: für das Interview, für das heimliche Foto, für die ganze Geschichte – und überhaupt. Am nächsten Morgen um neun Uhr war ich wieder auf der Walze. Es ging gut. In einigen Wohnungen sah ich „Die Dame von Heute“ auf dem Tisch liegen. Vielleicht würde ich morgen die Auswirkungen zu spüren bekommen. Darum änderte ich für den nächsten Tag mein Ziel. Ich fuhr in eine wohlhabendere Gegend, dorthin, wo man vermuten konnte, daß die Bewohnerinnen Leser der „Dame von Heute“ waren. Und ob man es gelesen hatte, o ja! Ich wurde in jedem Hause reizend empfangen. Und ausgefragt und bewundert und mit Kuchen und Zigaretten beglückt. Oho, das war mal was! Noch am selben Nachmittag bezahlte ich beide Milchrechnungen, den Schuhmacher und den Bäcker. Yvonne arbeitete eifrig und fleißig mit dem Porträt von Nini. Das Bild von mir, das noch eine letzte Überarbeitung haben sollte, wurde solange weggestellt. „Es ist ganz merkwürdig“, sagte Yvonne eines Tages, als Nini ihr Modell gesessen hatte. „Mit diesem Porträt geht es ausgezeichnet,
ich glaube, ich habe das Lächeln und auch den listigen Funken in den Augenwinkeln eingefangen. Aber weißt du, es wäre nie so gut vonstatten gegangen, wenn ich nicht so guter Stimmung gewesen wäre. Das Bild von dir dagegen – das mußte ich malen, als ich ganz und gar herunter war. Und ich krieg es sicher nie fertig, es sei denn, wir kriegen wieder eine düstere Zeit.“ „Ach, die kommt sicher“, sagte ich tröstend. „Das nächste Mal werde ich es aber ruhiger nehmen, jetzt hab ich ja Übung.“ Am nächsten Tag kam Yvonne nach Hause und gab mir meine Armbanduhr zurück. „Nanu?“ fragte ich. „Die Kinderserie“, lächelte Yvonne. „Angenommen. Hundert Kronen für jede Nummer. Vorschuß.“ Da bedauerten Yvonne und ich zum erstenmal, daß wir keinen Sekt hatten. Wir hatten das Verlangen, auf „Die Dame von Heute“ anzustoßen.
Eine neue Tätigkeit „Das Gute kommt nie allein“, sagte Yvonne. Sie hatte gerade Geld für Ninis Bild bekommen, das sehr gefallen hatte. Außerdem kam ein Auftrag von „Die Dame von Heute“: eine Anzeigenserie für einen Parfümgrossisten. Unsere gemeinsame Kasse hatte Geld auch bitter nötig, zu vieles war im letzten Monat vernachlässigt worden. Und dann die vielen Läpperschulden und all die Pfandscheine! Dazu meine Arztrechnung! Ich ging zu dem jungen Onkel Doktor hinüber, um die Rechnung zu begleichen. Während er meinen Namen in der Kartothek suchte, hörten wir, wie die Tür zum Wartezimmer aufgerissen wurde – und im selben Augenblick auch schon die Tür zum Sprechzimmer. Die Frau vom Milchgeschäft, die im ersten Stock dieses Hauses ihre Wohnung hatte, kam hereingestürzt. „O Gott, ich habe mich so fürchterlich verbrüht…“, die Tränen strömten ihr über das Gesicht, und sie streckte dem Arzt einen glühend roten, verbrannten Arm hin. Dr. Steneng handelte schnell und wortlos. Ich starrte mit offenem Munde auf den verbrühten Arm. Brandsalbe, Umschlag und um das Ganze dann eine Mullbinde. In drei Minuten war alles erledigt. „Eine Schande, daß die Leute so was nicht selber machen können“, murmelte er. Er schrieb eine Quittung für mich aus, nahm das Geld in Empfang – kurz und geschäftsmäßig. Heute war er offensichtlich nur wieder Arzt. Wenn ich gewußt hätte, wieviel mir der verbrühte Arm der Milchfrau bedeuten sollte! Sonnige Maitage. Ich machte die Augen zu, wenn ich an Kleidergeschäften oder Schuhläden mit den neuen leichten, flachen Sandalen vorüberging. Es war nur ein Glück, daß ich soviel aus reichen, alten Tagen anzuziehen hatte. Die Sommerkleider vom vorigen Jahr waren gar nicht so übel. Ich holte sie heraus, um sie zu untersuchen. Die Shorts und die Strandjacke packte ich mit einem Seufzer wieder ein. Für die würde ich in diesem Jahr bestimmt keine Verwendung haben, o nein. Ich war überhaupt ziemlich nervös. In kurzer Zeit war Schluß mit der Pflanzarbeit. Was sollte ich dann beginnen?
Aber ein Zufall kam mir zu Hilfe. Ich hatte bei einer freundlichen Witwe, mit der ich mich auf das lebhafteste unterhielt, dreißig Zimmerpflanzen umgetopft. Und ich ermahnte sie, ihnen reichlich Wasser zu geben, namentlich den kleinen Ablegern vom fleißigen Lieschen, die ich für sie gesetzt hatte. „Ach ja, es ist alles so schwierig“, seufzte sie. „Ich will jetzt im Sommer verreisen, und – hören Sie mal, Sie sind doch Blumendoktor. Könnten Sie nicht während meiner Ferien die Zimmerpflanzen in Pflege nehmen?“ Ich Schafskopf! Warum hatte ich daran nicht schon längst gedacht? Selbstverständlich – sie würden im Atelier mit der vielen Sonne vorzüglich gedeihen. Man brauchte nur auf jede einzelne Pflanze einen Zettel zu heften, mit Namen und Adresse des Besitzers, dann und dann übernommen, zu dem und dem Datum wieder abzuliefern. Ein ganz neuer Zweig meines Geschäfts! „Aber natürlich“, sagte ich rasch, „das tue ich gern. Ich hole und bringe sie und verpflichte mich, sie erstklassig zu pflegen.“ „Das ist ja ausgezeichnet!“ sagte die Witwe erfreut. „Könnten Sie meine nicht am – sagen wir mal am 15. Juni abholen?“ Ich notierte mir den 15. Juni und machte mich aus dem Staub, ehe ihr einfiel, daß sie mich fragen müsse, wieviel ich dafür berechnete. Das mußte ich mir nämlich selbst erst ausrechnen. Ein paar Tage darauf hatten Yvonne und ich eine umfangreiche Arbeit zu bewältigen. Sie mußte mir helfen, denn es eilte. Wir zogen durch die ganze Stadt und steckten abermals Reklamekarten in die Briefschlitze. Ihre Zimmerpflanzen werden für den Sommer in Aufbewahrung genommen. Vernachlässigen Sie Ihre Blumen nicht, während Sie in Urlaub sind! Senden Sie dem Blumendoktor Wibke Grundt, Lindenstraße 12, eine Karte. Die Pflanzen werden abgeholt und zurückgebracht. Und die Postkarten kamen, wie erhofft! Ich holte haufenweise Pflanzen ab. Es war eine mühselige Arbeit, sie zu bezeichnen und aufzustellen. Sie wurden unter das Dachfenster auf lange Bretter gestellt, die auf Klötzen ruhten. Schön sah es nicht aus, aber das war nicht zu ändern. Und lüften mußten wir den ganzen lieben, langen Tag und die Nacht dazu, sonst wären wir vom Blütenduft betäubt worden. Wir mußten das Dachfenster sperrweit öffnen, so schwierig es auch war. Das kleine Giebelfenster lag zum Hinterhof, das hielten
wir in der Sommerhitze fest verschlossen. Eines Tages besuchte ich Tante Beate. Der Liebling Kille und Tantchens Sorge um Katzen, die weniger glücklich daran waren als er, brachten mich auf eine neue Idee. „Es ist so unerhört von allen diesen Leuten, die im Sommer wegreisen und ihre Katzen allein lassen“, seufzte Tante Beate. „Die rennen dann rum und hungern… ach, da bist du ja, Kille, wir gehen jetzt zu Ingeborg und holen uns was zu fressen…“ Ingeborg war die unersetzliche Köchin des Stifts. Sie hatte immer einen Vorrat von Essenresten für Kille, und Kille nahm zu und wurde faul, wie nur die wirklichen Vielfraße faul werden können. Ich grübelte. Sagte „Auf Wiedersehen!“ zu Tante Beate und zu Kille und lief im Trab nach Hause. Vom nächsten Morgen an versuchte ich, meine Kunden auszuhorchen, ob sie Katzen hielten. Bei vielen war das der Fall. Da bot ich ihnen meine Dienste an: Ich wollte während der Ferien nach den Tieren sehen, ihnen Futter und Milch hinstellen und den Freßnapf sauberhalten. Viele waren interessiert, was ich dafür nähme? Ob ich die Katzen zu mir nach Hause nähme oder wie ich es mir gedacht hätte? Nein, ich wolle täglich hinkommen, erklärte ich. Man müsse nur dafür sorgen, daß irgendein Schlupfwinkel da war, ein Kellerloch oder ein offenstehendes Kellerfenster, wo ich das Futter hinsetzen konnte. Die Katze sollte eine reichliche Menge gekochten Fisch und ein Viertelliter Milch pro Tag bekommen. Wenn ein Korb oder eine Kiste da war, dann würde ich die Decke ausschütteln und überhaupt der Mieze die Sommerzeit lebenswert gestalten. Hierfür forderte ich vier Kronen für den Tag. Ich hatte mich nämlich erkundigt, was die Haustierklinik nahm, und erfahren, daß deren Preis fünf war. Mein Vorschlag war also nicht nur billiger, sondern auch für die Tiere besser. Yvonne und ich hatten ausgerechnet, daß bei zehn Katzen die Milch und der gekochte Kohlfisch – der billig ist, wenn man viel auf einmal einkauft – an die drei Kronen für die Tagesration ausmachen würden. Blieben also gut eine Krone für Treibstoff für das Moped und den Arbeitslohn. Ehe noch die Schulferien begonnen hatten, waren mir achtzehn Katzen und ein Wald von Pflanzen anvertraut worden. Die Hälfte der Kosten hatte man mir im voraus angezahlt. Ich war unterwegs, um in einer Wohnung am Stadtrand Pflanzen abzuholen. Während ich die Namensschildchen anbrachte, unterhielt mich die jüngste Tochter des Hauses, die mit ihrer Mutter allein
daheim war. Es war ein kleiner Lockenkopf von fünf Jahren, mit einem Minimum von Kleid, Grübchen in den rundlichen Armen und Knien. Ein liebes, niedliches Geschöpf. „Wir kriegen heute Schokolade zum zweiten Frühstück“, verkündete sie mir mit zinntellergroßen Augen und einem Strahlen über dem ganzen Gesicht. „Das ist aber herrlich“, sagte ich. Und das meinte ich auch so. „Nächstes Jahr komme ich in ‘ne Schule“, fuhr der Lockenkopf fort. „Das wird aber ein Spaß“, entgegnete ich freundlich und scheinheilig. Meine eigene Schulzeit hat mir nicht sonderlich viel Spaß gemacht. „Ich kann schon Buchstaben lesen. Ich hab ‘n Buch mit Buchstaben drin. Willst du’s sehn?“ „Ach ja, furchtbar gern“, antwortete ich. Es würde schwerlich viel Mühe kosten, ein bißchen Teilnahme für ein Buch mit Buchstaben darin zu heucheln. „Ich muß Mutti fragen, wo’s ist.“ Der Lockenkopf verschwand durch die Küchentür. Ich arbeitete weiter an meinen Pflanzen und lächelte vor mich hin. Das war ein bezauberndes, kleines Kind. Ich fuhr zusammen. Aus der Küche erscholl ein wilder, herzzerreißender Schrei. Ich raste zur Tür, hinter der das Kind verschwunden war – kam in die Küche und sah mit einem Blick, was geschehen war: Eine Kasserolle mit Schokolade war umgekippt, und die dampfende braune Flüssigkeit lief über das Bein des kleinen Kindes. Gleich hinter mir kam die Mutter aus einer anderen Tür angelaufen. „Um Gottes willen, mein Ginchen!“ Die Mutter nahm das Mädchen auf den Arm und wollte mit ihm zum Wasserhahn stürzen. „Nein“, schrie ich auf, „um Gottes willen kein Wasser! Geben Sie mir schnellstens etwas Öl.“ Ich riß ein Handtuch vom Haken und tupfte ganz behutsam die Schokolade von dem Beinchen ab. Riß die Sandale vom Fuß, zog vorsichtig den Wadenstrumpf herunter, und von dem Salatöl, das mir die Mutter reichte, goß ich etwas über das Bein. Dann umwickelte ich es mit dem Handtuch. „Beschaffen Sie sofort Brandsalbe, aber ganz schnell. Und Mullbinden. Beeilen Sie sich. Ich halte das Kind solange.“ An der Ecke war eine Apotheke. Und die Mutter hatte flinke
Beine. Aber so lang ist mir die Zeit noch nie geworden wie in diesen Minuten mit dem kleinen, schreienden Wesen in den Armen; es hatte zu allem Unglück noch furchtbare Angst vor mir bekommen, es glaubte sicher, ich würde ihm noch mehr weh tun. Dann kam die Salbe. Ich bestrich den Mull mit einer dicken Schicht und legte ihn auf die verbrühte Stelle, so wie Doktor Steneng es bei der Milchfrau getan hatte. Außen herum eine Mullbinde. Erst lange Zeit später erfuhr ich, daß man Mullbinden von unten nach oben wickeln muß, damit der Verband hält. Ich machte es also richtig, ohne es zu ahnen. Ich hatte nie in meinem Leben einen Verband angelegt, aber mein gesunder Menschenverstand oder eine Art Instinkt leiteten mich. Die Brandsalbe linderte die Schmerzen sehr schnell. Das Schreien klang nicht mehr so verzweifelt. Bald ging es in leises Wimmern über. Dann hörte auch das Wimmern auf, die Kleine saß jetzt auf meinem Schoß und sah mich mit großen, rotverweinten Augen an. „Es wird ganz schnell wieder gut sein, Ginchen“, flüsterte ich. „Und dann kannst du hinterher allen Kindern auf der Straße zeigen, wo du dich verbrüht hast. Da werden die aber staunen!“ Die Augen des Kindes wurden noch größer. „Die Kinder auf der Straße haben sich nicht verbrüht, nicht wahr?“ fragte es. Dann kam ein kleiner, schluchzender Seufzer. Es wandte den Kopf und blickte zu der Mutter hin. „Mutti, krieg ich ein Dreirad?“ Ginchen, Ginchen, du hast genau gewußt, daß deine Mutter dir gerade jetzt nichts abschlagen konnte! Es war die genialste Ausnutzung einer Situation, die ich je miterlebt hatte. Es war übrigens merkwürdig, daß die Mutter das Komische, das darin lag, gar nicht durchschaute. Sie war so überglücklich, daß sie sofort antwortete: „Ja, mein Schatz, du kriegst morgen ein Dreirad“ – und sicher bemerkte auch nur ich allein den kleinen Triumph in den verweinten Augen des Kindes. Mit der Schokolade war es nun nichts mehr, statt dessen saß ich mit Ginchens Mutter zusammen bei Tee und Kuchen, nachdem der kleine Pechvogel auf der Couch eingeschlummert war, sicherlich von Dreirädern und großen, imposanten Brandnarben süß träumend. Die Mutter war so dankbar, daß ich ganz verlegen wurde. Sie fragte, was sie als Dank für mich tun könne, denn wenn ich nicht gewesen wäre…! „Dann wäre es vermutlich gar nicht passiert“, wandte ich ein. „Denn Ginchen ging in die Küche, um nach einem Buch zu fragen,
das sie mir zeigen wollte. Ich bin nur so froh, daß ich zufällig wußte, was man bei solchen Verbrühungen tun muß. Ich habe es zufällig beim Arzt gesehen.“ Die Mutter der Kleinen war gesprächig. Sie erzählte, daß sie noch ein Kind habe, einen Jungen von sieben, er sei im ersten Schuljahr. Heute sei letzter Schultag, übermorgen wollte die Familie ins Gebirge fahren. Ihr Mann wollte auch jetzt Urlaub nehmen, und wenn er Ende Juli wieder nach Hause käme, könne ich die Pflanzen wiederbringen. Dann wollten die Mutter, Ginchen und Peter noch an die See gehen. Irgendwo im südlichen Norwegen in ein Strandhotel. „Ich habe nicht die Kraft, ohne Mädchen da oben in der Fjällhütte zu bleiben, und das Mädchen muß ja in die Stadt zurück und für meinen Mann sorgen – es macht schon Mühe genug, mit den Kindern vierzehn Tage allein an der See zu sein, aber da hat man wenigstens nichts mit dem Haushalt zu tun. Im vorigen Jahr hatte ich ein Kindermädchen mit, aber dies Jahr wollte ich so auskommen.“ „Das ist aber schade“, lachte ich. „Ich hätte mich sonst gern um die Stellung eines Ferienkindermädchens bei Ihnen beworben.“ Natürlich sagte ich es im Scherz, sagte es so hin, weil man ja irgend etwas antworten muß, aber Frau Wimmer stellte die Teetasse mit einem Ruck aus der Hand und sah mich an. „Ist das Ihr Ernst – würden Sie das tun?“ „Ja… das heißt… natürlich würde ich das tun. Aber Sie wollen ja dies Jahr keine Hilfe mitnehmen…“ „Aber wenn Sie Lust hätten, doch… Freie Reise und freien Aufenthalt und etwas Taschengeld. Sie haben ja gesehen, wie ich dastehe, wenn einem Kind etwas zustößt; ich gerate völlig aus der Fassung. Dann kommt noch hinzu… ja, es ist nämlich so… ich erwarte gegen Weihnachten das dritte Kind, und ich fühle mich nicht immer ganz wohl, deshalb… o ja, im Grunde wäre es zu schön, wenn ich für diese Zeit jemanden hätte. Sagen Sie, kann ich Ihnen nicht schreiben? Ich habe ja beobachtet, wie geschickt Sie sind, ich würde wirklich beruhigt sein, wenn die Kinder…“ Es geschah wirklich viel Seltsames. Wenn daraus etwas werden würde! Wenn ich wirklich vierzehn Tage in einem Strandhotel wohnen könnte ohne andere Beschäftigung, als auf zwei kleine Kinder aufzupassen! Yvonne müßte in den vierzehn Tagen die Versorgung der Katzen und Blumen übernehmen.
Kätzchen und Kaktusableger
Allmorgendlich um halb neun Uhr machte ich mich auf den Weg. Ich stiefelte auf den Markt, um einen Riesenfisch zu erhandeln, und ins Milchgeschäft, wo ich vier Liter Milch holte. Dann nach Hause, den Fisch gekocht und zerteilt, ihn in einen für diesen Zweck eigens vorbereiteten Eimer getan, und auf dem Mofa rollte ich dann los. Ich führte eine genaue Liste über meine Katzen. Name des Besitzers, Anschrift, Name der Katze, wo das Futter hingestellt werden sollte und bis zu welchem Datum. Es ging einfach und ohne Schwierigkeiten. Zu Anfang kamen die Katzen nicht immer, wenn ich sie lockte, aber nach ein paar Tagen kannten sie mich alle und sprangen mir mit lautem Miau entgegen. Die ersten Tage brauchte ich viel Zeit, später ging es wie am Schnürchen. Runter’vom Rad, hin mit dem Wischlappen, die Gräten vom Tage vorher weggeworfen, Freßnapf und Milchschale ausgewischt, von neuem gefüllt, die Decke in der Kiste oder im Korb ausgeschüttelt, die Katze gestreichelt und sie hinterm Ohr gekrault – und wieder aufs Rad zur nächsten Stelle. Wenn der Fischeimer und der Milcheimer leer waren und die letzte Katze satt und zufrieden, hieß es schnellstens nach Hause und die Blumen gießen. Aber du liebe Güte, das dauerte seine Zeit. Wenn es auch riesigen Spaß machte! Jeden Morgen mußte ich nachschauen, ob nicht Frau Nilsens Igelkaktus blühte – die Knospe hatte schon lange so ausgesehen, als würde sie sich jeden Augenblick öffnen – und ob der Ableger von Frau Hassings „Königin der Nacht“ anwuchs. Und von Frau Simonsens „Greisenkaktus“ mußte ich Ableger abnehmen, sonst setzte er nie Blüten an. Und ich hegte, zärtlich wie eine Mutter, Frau Finnegards armen, mißhandelten Paradiesbaum, und jedesmal, wenn ein dickes, rundes, graugrünes Blatt die Spitze herausstreckte, freute ich mich ganz besonders. O ja, es machte Spaß, die Pflanzen zu pflegen. Jeder einzelne Steckling, den ich von den Kakteen abnehmen mußte, wurde sorgsam in ein Töpfchen eingepflanzt und mit Datum versehen. Diese kleinen Stecklinge standen auf einem Bord für sich. Wenn ich festgestellt hatte, daß sie ansetzten, wollte ich sie verkaufen. Das konnte man doch schwerlich Diebstahl nennen, wenn man aus den kümmerlichen Pflanzentrieben, die sonst auf den Müllhaufen wandern würden, Nutzen zog?
Eines Morgens, als ich vom Markt kam, wäre ich an der Ecke beinahe mit Dr. Steneng zusammengeprallt. Er blieb stehen und klopfte sich die feine, hellgraue Hose ab – er’war mit einem Zwölfkilofisch ins Gedränge geraten, den ich an einem Drahtgriff trug. Dann erst bemerkte er, daß ich es war. „Ach, Sie sind es. Haben sie ein Pensionat aufgemacht, oder haben Sie inzwischen eine Familie gegründet?“ Er wies auf den Riesenfisch, mit dem ich mich abschleppte. „Nein, ich bin auf Walfang gewesen“, lachte ich. „Aber, im Ernst, mit diesem Fisch will ich achtzehn Katzen satt machen, Sie verstehen also…“ „Der Himmel bewahr mich“, lachte der Doktor. „Achtzehn Katzen! Ich bin durchaus ein Tierfreund, aber mich mit achtzehn Katzen zu umgeben, das…“ „Sie brauchen nicht an meinem Verstand zu zweifeln, Herr Doktor“, sagte ich. „Die Katzen sind über einen Bezirk von ungefähr vier Quadratkilometer verteilt. Ich fahre herum und versorge sie, da ihre Besitzer in den Sommerferien sind, verstehen Sie?“ „Ach so“, sagte der Arzt. Er stockte, als wollte er noch etwas sagen. „Sind Sie übrigens heute Arzt oder Mensch?“ erkühnte ich mich zu fragen. Er sah auf die Uhr. „Noch eine Stunde und vierzig Minuten Mensch. Die Sprechstunde fängt erst um elf Uhr an. Haben Sie Ihr Amt als Blumendoktor niedergelegt?“ „Aber ganz und gar nicht. Sie sollten mal das Atelier sehen, es ist mit Pflanzen vollgestopft, die ich in Obhut genommen habe. Wir sind halb betäubt vom Duft; eines schönen Tages müssen Sie kommen und Wiederbelebungsversuche an uns machen!“ „Hören Sie mal, was ich sagen wollte… ja, ich kann es ganz und gar nicht leiden, wenn Leute eine private Unterhaltung dazu benutzen, sich einen ärztlichen Rat zu erschleichen… aber könnten Sie mir nicht mal sagen, was ich mit einer… ja, es ist wohl eine Azalee, so ‘n üppiger Busch mit hellrosa Blüten… was ich mit der machen soll… meine verehrungswürdige Tante hat sie mir zu meinem Geburtstag geschickt, und jetzt fangen die Blüten alle an, abzufallen.“ „Tja“, sagte ich und fühlte mich ausnahmsweise einmal trotz Dr. Stenengs großem Wissen sehr überlegen, „das ist schwer zu sagen,
wenn ich das Ding nicht gesehen habe.“ „Ja, können Sie dann nicht eben mal mit raufkommen und sie sich anschauen? Sie sieht furchtbar teuer und vornehm aus, und wenn meine Tante entdeckt, daß sie schon anfängt zu verwelken, dann gibt es eine Familienkatastrophe!“ „Ja natürlich, ich kann ja gleich mal raufkommen, ich bringe nur eben diesen Walfisch nach oben.“ Ich war nur zu gern bereit. Es würde Spaß machen, einmal einen Blick hinter die Tür zu tun, auf der „Privat“ stand, da ich nur die Räumlichkeiten hinter den Schildern „Wartezimmer“ und „Sprechzimmer“ kannte. Ich rannte nach oben und schmiß – zu Yvonnes großer Entrüstung – den Fisch auf den Arbeitstisch. Ergriff meine „Arzttasche“, die Blumendünger, eine kleine Schaufel und Harke enthielt, und huschte ins Nachbarhaus hinüber. Ich konnte schnell feststellen, daß der Doktor eine Vierzimmerwohnung hatte. Außer Sprechzimmer und Wartezimmer gab es noch ein wirklich reizendes kleines Wohnzimmer mit modernen, aber nicht ausgefallenen Möbeln, vielen Büchern, einem offenen Kamin, Fernseher und Stereo-Anlage und behaglichen Lampen. Auf einem kleinen Ecktisch stand die Azalee, ein überwältigendes Gebilde, das aber die Blätter hängen ließ und recht krank aussah. „Die muß ins Wasser“, erklärte ich. „Haben Sie irgendwo eine Badewanne?“ Aber gewiß. Er ging voraus durch das Schlafzimmer. Ich warf zufällig einen Blick auf den Nachttisch. Es durchzuckte mich blitzschnell. Nie zuvor hatte ich ein so schönes Gesicht gesehen, wie das von der Frau auf der Fotografie. Ein äußerst gepflegtes kleines Badezimmer, ganz mit Fliesen ausgelegt. Die Azalee kam in die Wanne und wurde gründlich abgebraust, und der Doktor bekam Anweisungen, die er sich aufmerksam anhörte wie ein artiger und folgsamer Schuljunge. Als wir wieder ins Wohnzimmer zurückkamen, bot er mir eine Zigarette an. Ich konnte nicht widerstehen, obwohl Pussi und Maunz und Miez und Murrchen und Schnurrchen wohl schon bald anfingen, Ausschau zu halten, wo ich denn bliebe. „Das ist eine nette Arbeit, die Sie sich ausgesucht haben“, begann Dr. Steneng die Unterhaltung. Er saß auf der Armlehne eines Sessels und kaute auf einer vielgerauchten Stummelpfeife.
„Ausgesucht ist wohl nicht ganz der richtige Ausdruck. Ich kann einfach gar nichts anderes – nur Blumen pflegen.“ „Das ist nicht viel“, lächelte der Arzt. „Sie müssen doch noch ein bißchen mehr können.“ „Nichts, womit man Geld verdienen könnte. Ich kann mit Tieren und Kindern umgehen und kann Motorrad fahren und Haferflockenkekse backen und Pullover stricken und verhältnismäßig ganz gut Deutsch – und stopfen und flicken…“ „Stopp!“ rief da Dr. Steneng. „Ja… ich meine es buchstäblich. Warum in aller Welt stopfen Sie nicht Strümpfe? Für alleinstehende Junggesellen? Und für Strohwitwer?“ „Daran habe ich wahrhaftig noch nicht gedacht“, mußte ich eingestehen. „Überhaupt, wer stopft heute noch Strümpfe? Jetzt, wo alle Menschen Perlonstrümpfe tragen.“ „Haben Sie eine Ahnung! Viele Männer tragen den ganzen Winter über Wollene, so wie ich, hier im kalten Norden. Kommen Sie doch mal her“, kommandierte der Arzt. Er trat an eine kleine Kommode und zog die unterste Schublade heraus. „Bitte, langen Sie zu! Hier liegen die ungestopften Strümpfe von einem halben Jahr!“ (Das hätte die Dame auf dem Nachttisch besorgen müssen, dachte ich, sagte es aber nicht laut.) „Ich will es gern übernehmen“, sagte ich. „Aber ich weiß noch nicht, wieviel ich dafür fordern muß.“ „Setzen Sie sich hin und rechnen Sie es aus“, schlug er vor. „Und sagen Sie mir Bescheid, zu welchem Ergebnis Sie gelangt sind. Ich könnte Ihnen einen Haufen Kunden verschaffen, nichts leichter als das. Ich habe mindestens zehn Freunde, die in der gleichen Lage sind wie ich.“ „Haben Sie denn keine Haushälterin?“ fragte ich. „O nein. Ich habe ein junges Mädchen, das kommt jeden Morgen, macht mir mein Frühstück, wischt die Fußböden auf und was sonst noch so ist. Essen tue ich auswärts, abends mache ich mir selbst etwas, wenn ich nicht eingeladen bin. Meine kleine Perle hat einmal versucht, meine Strümpfe zu stopfen, wurde aber abgesetzt. Sie werden irgendwo da in dem Haufen das Ergebnis dieses Versuches wiederfinden. Es sah ziemlich trübselig aus.“ „Vielen Dank für die Anregung“, sagte ich und meinte es wirklich so. „Und für die Zigarette. Jetzt warten meine, Katzen, ich muß machen, daß ich wegkomme.“ „Halt nein, warten Sie doch eben – wieviel bin ich Ihnen
schuldig?“ „Schuldig – wofür?“ „Na, für die Azalee!“ „Ach Unsinn – dafür nehme ich doch nichts! Das hat doch Spaß gemacht.“ „Ja natürlich, ja… wenn ich zum Beispiel Ihre Hand aufschneide, dann sollte ich die Bezahlung dankend ablehnen mit der Begründung, daß es ja Spaß gemacht habe? Spaß hat es mir übrigens wirklich nicht gemacht, möchte ich Ihnen nur verraten.“ „Nun aber Schluß, Herr Doktor. Die Zigarette war vollwertiges Entgelt für das Bad, das ich Ihrer Pflanze gegeben habe. Auf Wiedersehen, jetzt muß ich aber wirklich laufen!“ „Sagen Sie Bescheid, wenn ich etwas für Sie tun kann!“ rief mir Dr. Steneng noch auf der Treppe nach. Ich war in strahlender Laune! Ich sang, während ich den Fisch aufschnitt und abkochte, ich trällerte, während ich die Treppe hinunter zum Milchladen lief, und ich jodelte, als ich. den Fisch in den Eimer tat. Aber plötzlich verstummte ich. Mir fiel die unbeschreiblich schöne Frau auf der Nachttischfotografie ein. Miau-u-u-u – das war Katze Nummer eins, die mir Vorwürfe machte, weil ich so spät kam. Arme Pussi! Sie bekam in größter Eile ihren Fisch und die Milch hingesetzt, und ich fuhr weiter zu Muuz. Und so ging es Schlag auf Schlag. Überall kam mir die Mieze entgegen und miaute – bis ich zu Studienrat Olbergs Missi kam. Missi war einer meiner Lieblinge. Ein hübsches, zärtliches, hellgraues kleines Ding, so zahm und zutraulich, daß ich immer ganz gerührt war. Missi hatte in einem leeren Holzverschlag ihr Obdach, die Kellertür stand immer offen, und ich kam täglich, schüttelte Missis Decke aus und wusch ihren Freßnapf unter dem Wasserhahn in der Waschküche sauber. Aber heute war Missi weg. Das Futter vom Tag vorher war aufgefressen, die Milchschüssel leer. Ich rief und suchte. Nein, nirgendwo eine Missi. Ich tat reichlich Futter in den Napf und goß die Milchschüssel ganz voll. Als ich gerade gehen wollte, kam ein grauer Schatten aus irgendeiner dunklen Ecke im Keller herbeigehuscht, flitzte zum Futternapf, haschte sich ein großes Stück Fisch und verschwand. Eine dünne, schlaffe, eilige Missi. Es war unschwer zu erkennen, was sich inzwischen abgespielt hatte. Missi hatte Junge geworfen und sie nach der Gewohnheit der
Katzen an irgendeinem weniger zugänglichen Ort versteckt. Ich legte ein besonders großes Stück Fisch für Missi in den Napf und zog weiter. Ich war heute so spät dran und hatte keine Zeit mehr nachzusehen, wo die Jungen wohl versteckt lagen. Sie mußten ja so schnell wie möglich getötet werden. Es dauerte eine ganze Woche, bis ich die jungen Kätzchen fand. Und da fand ich sie eigentlich gar nicht – Missi hatte sie selbst geholt und sie in den Korb im Holzverschlag gelegt. Sie fand dies ewige Hin und Her offenbar zu umständlich. Die Jungen waren wonnig. Sechs seidenweiche kleine Knäuel, hellgrau wie die Mutter. Eins von ihnen hatte schon zwei kleine offene Augenschlitze bekommen. Ach je, ach je, wie weich und warm und süß waren sie! Ich hockte mich nieder und strich vorsichtig mit einem Finger über ihr Fell und fand es ganz schrecklich, daß sie getötet werden sollten. Aber man konnte ja nun mal nicht sechs junge Kätzchen großziehen. Hätte ich sie bloß gleich gefunden! Vielleicht hätte ich es fertiggebracht, neugeborene Kätzchen zu töten, aber diese, die neun Tage alt waren, die bewußt und eifrig an die kleinen rosa „Druckknöpfchen“ der Mutter krabbelten, nein, die konnte ich nicht selbst töten. Und ein Tierarzt, das würde bestimmt teuer werden, viel zu teuer für meine Kasse. Ließe ich sie leben, bis Studienrat Olberg zurückkam – weiß der Himmel, was er dann tun würde. Er sah nicht besonders freundlich aus, der gute Studienrat, er hatte einen beinahe brutalen Zug um den Mund. Es würde mich nicht wundern, wenn er die armen Tiere in einen Sack stekken und sie ertränken würde. Ein schrecklicher Gedanke! Nein. Das barmherzigste war, sie selbst zu töten. Ob ich nachher in Ohnmacht fallen würde oder mich übergeben oder der Himmel weiß wie ich reagieren würde – die kleinen Tierchen mußten schnell und schmerzlos aus der Welt gebracht werden. Einen harten Schlag auf den Kopf, fertig. Hart und schnell. Am nächsten Morgen, als ich eben das Moped aus dem Torweg bugsierte, begegnete ich Dr. Steneng wieder. „Guten Morgen. Nun – ich warte auf das Angebot wegen der Strümpfe.“ „Ach ja, richtig! Ich habe es schon ausgerechnet, aber heute habe ich was anderes im Kopf, etwas sehr Schlimmes!“ „Nanu? Wieso denn?“
„Ich muß ein paar junge Kätzchen töten! Sechs süße kleine Dinger, die ich am liebsten mit nach Hause nehmen würde, um mit ihnen zu spielen und sie zu verwöhnen!“ „Wollen Sie sie selbst töten?“ „Ja… mit diesem…“ Ich zeigte ihm den Hammer auf dem Gepäckträger. „Nein, hören Sie mal, das kann so ein kleines Mädchen nicht tun! Wo haben Sie die armen Viecher?“ „Strandweg 7, Kellereingang.“ Dr. Steneng sah auf seine Uhr. „Fahren Sie vor und geben Sie den Katzen Futter und warten Sie fünf Minuten, dann komme ich nach.“ Damit verschwand der Arzt im Torweg, und ich fuhr los. Ich hockte mich hin und streichelte die Jungen, und Missi mummelte und fraß gekochten Fisch. Da hörte ich draußen ein Auto und gleich darauf die Stimme des Doktors. „Hallo, Fräulein Grundt, wo stecken Sie?“ Er hob die Jungen hoch, eins nach dem andern. Beim letzten zögerte er. „Sagen Sie mal, müssen wir sie wirklich alle töten?“ „Ja… es sei denn… ach nein, es ist ein Jammer wegen Missi. Eins lassen wir am Leben. Dies da…“, ich wies auf meinen Liebling, es war eins mit ganz winzigen, weißen Pfötchen und einer frechen, kleinen, weißen Blesse auf der Nase. „Na schön“, sagte der Doktor. Er ging auf den Hofplatz hinaus. Ich schaute heimlich zu – so inkonsequent und neugierig sind wir Menschen. Ich war selig, daß ich nicht Henker zu sein brauchte, aber zuschauen mußte ich doch! Er legte den kleinen Viechern einen Wattebausch, den er mit einer Flüssigkeit aus einer Flasche getränkt hatte, auf das Schnäuzchen, und es wirkte auf der Stelle. Das leise Schniefen verstummte, die winzigen Pfötchen hörten auf, in der Luft herumzufuchteln. Dann machte er ihnen eine Spritze, und alles war vorüber. Missi lag in ihrem Korb, dicht um das kleine graue Bündel geknäuelt, das sie hatte behalten dürfen. Sie wimmerte ganz leise, leckte das Junge, und als ich sie an der Kehle kraulte, schnurrte sie. Dr. Steneng hatte es eilig. Ich verabschiedete mich draußen auf der Straße von ihm und dankte ihm für die Mühe. „Nichts zu danken. Aber vergessen Sie nicht die Strümpfe. Ich habe schon vier Kunden für Sie. Ich muß jetzt rasch machen, in einer Viertelstunde höre ich auf, Mensch zu sein. Auf Wiedersehen!“
Strümpfe stopfen und Urlaubsreise „Dunkelblau – nein, das ist ja wieder zu hell. Pff, das war der Rest von den Sportstrümpfen von Buchhalter Henriksen. Aber Herr Golding hatte doch blaue Socken, da muß noch was davon dasein.“ „Was brabbelst du da vor dich hin?“ ließ Yvonne sich vernehmen. Sie saß unter der starken Lampe, über ihre Zeichnungen gebeugt, und schaute nicht auf. „Ach, das sind bloß Stenengs Strümpfe, er hat manchmal so ‘ne unmögliche Farbe, und dann läuft er immer die Hacken durch, so was ist mir auch noch nie vorgekommen.“ „Schlimmer als der Henriksen? Ich hörte, du gebrauchtest ziemlich viele garstige Ausdrücke, als du seine stopftest.“ „Ach was, das war doch an den Zehen. Wenn ich bloß den Mut gehabt hätte, ihm zu sagen, daß er sich die Nägel am großen Zehen schneiden soll. Du, Yvonne, hast du nicht ein bißchen dunkelblaues Garn?“ „Wo denkst du hin – laß doch die blauen bis morgen liegen und nimm statt dessen ein Paar graue oder braune dran.“ „Das muß ich dann wohl tun“, seufzte ich. Ich warfeinen Blick auf Yvonne. Sie hielt gerade eine fertige Zeichnung in der Hand und betrachtete sie prüfend, mit schiefgelegtem Kopf. „Zeig mal!“ Ich stellte mich neben sie. Sah mir die Zeichnung an und lachte. Die war wirklich gut. Eine lustige, schmissige Reklame für Badeanzüge. „Du, die ist prima!“ „Findest du? Du darfst sie aber nicht mit wohlwollenden Augen betrachten. Stell dir mal vor, du siehst sie in einer Zeitung – kriegst du dadurch Lust, einen dieser unvergleichlichen Badeanzüge von Eilertsen & Co. zu kaufen?“ „Wenn ich ehrlich sein soll, du – dann krieg ich mehr Lust auf den dicken Ball, mit dem das Mädchen spielt.“ „Danke. Gut, daß du das gesagt hast. Der Ball muß also weg. Der zieht die Aufmerksamkeit von dem Badeanzug ab. Schau her, und jetzt?“ „Ja, jetzt sticht mir der Badeanzug in die Augen. Ich wünschte nur, ich könnte sehen, was er für ‘ne Farbe hat.“ „Ja, ich hab dem Chef gesagt, er solle sich eine farbige Seite
leisten, aber denkst du, dieser Geizkragen macht das? Ich will es noch mal versuchen… jetzt machen wir diesen Badeanzug apfelgrün und den da rot…“ Yvonne mischte ihre Wasserfarben, und ich stopfte. Es war Abend, und wir hatten es urgemütlich. „Wie ist es, Wibke? Glaubst du, daß aus deiner Reise was wird?“ „Keine Ahnung! Vielleicht war es bloß so ein Einfall von Frau Wimmer. Sie wird es wohl allein schaffen. Ich glaube nicht, daß sie das Angebot ernst gemeint hat.“ „Nein, wahrscheinlich nicht. Es ist nur so… falls du wegfährst, muß ich ja beizeiten lernen, Moped zu fahren, damit ich alle deine Raubtiere übernehmen kann.“ „Ach, mein Täubchen, es sind ja nur noch vierzehn Raubtiere übrig. Und von denen fallen noch weitere sechs Anfang August weg. Vom 15. August an sind es dann nur vier, und am 20. gehen drei weg. Nur Missi bleibt dann noch übrig, die soll ich bis zum 22. behalten.“ „Und die Pflanzen?“ „Ungefähr ebenso. Übrigens schneidet es mir ins Herz, daß ich jetzt so viele Pflanzen, um die ich mich gemüht und gesorgt habe und die nun jetzt so gut im Schuß sind, zwei oder drei Wochen lang unfähigen Strohwitwern überantworten soll. Ich würde sie so gern kostenlos weiterpflegen, bis alle Frauen zu Hause sind, denn wie werden die Pflanzen aussehen, glaubst du, wenn ein Strohwitwer sie einen Monat unter der Fuchtel gehabt hat?!“ „Machst du dir da nicht etwas zuviel Sorgen? Schau mal, jetzt habe ich die Zeichnungen farbig angelegt. Findest du es jetzt besser?“ „Bedeutend besser. Aber ist es nicht schon zu spät im Jahr, jetzt noch für Badeanzüge Reklame zu machen?“ „Ja, das finde ich auch. Aber das ist ja Eilertsens Sache und nicht die meine. Er hat es sich offenbar in den Kopf gesetzt, sich an alle die zu wenden, die im August Urlaub nehmen. Na ja, von mir aus gern. Morgen soll ich Entwürfe für Anzeigen von Jagdproviant machen. Ich wünschte bloß, ich wüßte, wie ein Gewehr in allen Einzelheiten aussieht.“ „Deute es doch nur eben an. Du weißt doch, wenn Zeichner nicht genau wissen, wie etwas aussieht, machen sie nur drei, vier Striche, und dann sagt man von ihnen, sie zeichneten genial, elegant und künstlerisch.“
„Du solltest Prügel haben, Wibke. Es gibt eine Todsünde in dieser Weltbund das ist, wenn man von Dingen redet, von denen man nichts versteht. Du, glaubst du, Eilertsen gibt mir dreihundert Kronen für diese ganze Serie?“ „Wie kann ich denn das wissen? Ich finde übrigens, du arbeitest im Augenblick gut.“ „Ach, danke gleichfalls! Wir verdienen ja beide Geld wie Heu. Wieviel hast du im Juni geschafft?“ „Achthundertvierzig.“ „Da siehst du. Und ich hatte achthundertachtzig! Wir machen uns!“ Dann schwiegen wir und arbeiteten weiter. Ich dachte wieder, was ich so oft schon gedacht hatte: Wie sinnlos es war, daß wir in dem großen, unpraktischen Atelier saßen. Wenn wir doch zwei Zimmer von durchschnittlicher Größe bekommen könnten und eine normale kleine Küche statt dieser weißen Öde, die wir jetzt bewohnten, mit dem kleinen Verschlag zum Kochen und der Waschvorrichtung hinterm Schirm. Aber es war anderseits so, wenn Yvonne malte, dann brauchte sie gutes Licht und viel Raum um sich. Und wenn man schon ein Atelier brauchte, dann müßte man lange suchen, wenn man was Billigeres finden wollte. O ja, insofern hatte sie Glück gehabt, als sie dieses erwischte. In guter Lage, hell und schön, ein idealer Arbeitsraum! Wir mußten zufrieden sein. Ich hatte mir Frau Wimmer und Ginchen eigentlich schon aus dem Kopf geschlagen, als der Brief kam. Er war ungeheuer freundlich. Sie würde mich furchtbar gern mitnehmen. Sie fühlte sich nicht recht wohl und wollte gern einen zuverlässigen Menschen um sich haben. Ob ich am 1. August kommen könne? Ich redete mit Yvonne, „Selbstverständlich machst du das“, sagte Yvonne entschieden. „Ich schwöre dir, Katzen und Blumen werden gut behandelt. Nur das Strümpfestopfen übernehme ich nicht, das kommt gar nicht in Frage, daß du es weißt!“ „Immer mit der Ruhe, ich mache alle Strümpfe fertig, bis ich reise. Gut, dann schreibe ich, daß ich bereit sei.“ Jetzt, da es nun sicher war, freute ich mich wirklich. Mal rauszukommen, noch dazu an die See, und schwimmen zu dürfen, und es sich gutgehen zu lassen! Auch wenn ich die beiden Goldkinder zu beaufsichtigen hatte, würde mir doch immer einmal Zeit zum Baden bleiben. Ich war bester Stimmung, als ich meine Sommersachen einpackte: den Badeanzug und das Badecape, die
Strandjacke und die Shorts – und das hübsche Kleid für den Abend. Onkel Mathias war damals völlig verrückt gewesen, man stelle sich vor, mir ein Kleid für fünfhundert Kronen zu schenken! Drei Jahre lang hatte es im Schrank gehangen. Ich kramte die Abendschuhe hervor und das kleine Pelzcape, das aus Tante Beates Fehbolero für mich umgearbeitet worden war – und die Abendhandtasche – alles, was tief verpackt worden war, holte ich jetzt ans Tageslicht. Wie schon ungezählte Male früher, segnete ich Onkel Mathias, daß er mich so reich ausgestattet hatte. Ich hatte seitdem noch nicht einmal ein Taschentuch zu kaufen brauchen. Ich kam mir wirklich fein und gut angezogen vor, als ich an Bord des Küstendampfers ging, der in Sonne und sommerlicher Wärme auf und davon tuckerte. Das Strandhotel von Bakkelund war ein hübscher alter Holzbau mit einem dicht zugewachsenen Garten. Das Haus war groß und geräumig, man konnte es ihm geradezu von außen ansehen, daß es große Zimmer hatte. Da gab es einen Speisesaal, einen großen Aufenthaltsraum, Rauchzimmer, Kaminstube und Halle. Die erste Etage war umgebaut – an Stelle der wenigen und großen Schlafräume aus der Zeit, als Bakkelund noch Privathaus gewesen war, gab es jetzt hier lange, schmale Flure mit Nummern an den Türen und auf beiden Seiten zeitgemäße, kleine Zimmer. Bäder waren auch da und alle möglichen anderen Bequemlichkeiten – kurz, ein wunderhübsches Sommerpensionat. Frau Wimmer war mit beiden Kindern am Steg. Ginchen erkannte mich wieder. Große Begrüßungsszene! Süß sah sie aus mit ihrem dunkelbraun gebrannten Körper. Peterchen war im Overall und hatte das Rad mitgebracht. Wir gingen langsam durch die Buchenallee zum Hotel. „Leider war im ersten Stock kein Zimmer mehr frei“, erklärte Frau Wimmer. „Sie müssen also damit vorliebnehmen, daß Sie in der Mansarde wohnen.“ „Aber liebe Frau Wimmer, das ist doch ausgezeichnet…“ „Die Kinder schlafen beide bei mir. Wir richten es dann so ein, daß Sie ein bißchen zeitiger aufstehen, sagen wir gegen sieben, und dann kommen Sie gegen halb acht zu mir herunter und ziehen die Kinder an. Sie trinken dann zusammen um acht Uhr im Speisesaal Kaffee. Ich kann dann noch ein Weilchen liegenbleiben, ich schlafe nachts so schlecht, und da möchte ich morgens ganz gern meine Ruhe haben.“
„Aber natürlich“, ich war mit allem einverstanden. Dann wurde mir ein niedliches kleines Zimmer im Giebel angewiesen. Platz war nicht viel da, aber das hatte ja auch nichts zu sagen. Es stand ein Bett darin, eine Kommode und ein Waschtisch. Hier oben im zweiten Stock gab es kein fließendes Wasser. Ich machte mich unverzüglich an meine Aufgabe und übernahm die Kinder. Frau Wimmer sollte doch gleich sehen, daß ich für den Aufenthalt und das Geld auch etwas zu tun beabsichtigte. Ich sollte für die vierzehn Tage immerhin dreihundert Kronen als „Taschengeld“ haben. Als es zum Essen läutete, hatte Peterchen mir bereits anvertraut, daß er Autoschlosser werden wolle und daß er auf dem Fjäll einem wütenden Stier begegnet sei, aber eben jener Stier sei zu Tode erschrocken gewesen über seinen, Peterchens, beispiellosen Mut. Als ich näher in die Einzelheiten einzudringen versuchte, wurden Peterchens Schilderungen mehr schwebend. Dann wurde unser Gespräch durch das Heranrollen eines Autos unterbrochen. „Sieh mal das schöne Auto, Peterchen“, sagte ich, um ihm zu zeigen, daß ich seine Interessen teilte. „Der Chevrplet da? Den findest du schön? Das ist ein Modell neunundsechzig; Ich kenne einen Jungen, und sein Vater hat einen Peugeot mit Servolenkung. Er will ihn bald umtauschen, er kriegt nämlich einen Mercedes mit Vollautomatik!“ Nie in meinem Leben habe ich mich so klein gefühlt! An unserem Tisch war für acht Personen gedeckt. Ich wurde einer Frau Björvik mit sechsjähriger Tochter Nuni vorgestellt und einer Frau Bang-Clausen mit vierjährigem Sohn Basse. Abends badete ich die Kinder und brachte sie zu Bett; Frau Wimmer kam herein, um gute Nacht zu sagen. Sie war gerade sehr beschäftigt, spielte in der Kaminstube Bridge und benutzte eine Pause, während sie „auf dem Tisch lag“, wie sie es nannte. Ich ging zum Strand hinunter und ans Wasser. Kein Mensch war draußen – außer mir. Hinter den Fenstern erscholl gedämpfte Tanzmusik. Ich sah ein junges Mädchen im Abendkleid vorüberhuschen, mit weißen Streifen auf dem braunen Rücken von den Trägern des Badeanzugs. Am nächsten Fenster saß ein Paar beim Wein. Durch ein offenes Fenster hörte man die wilde Diskussion der Bridgespieler. „Sie müssen doch begreifen, wenn ich mit der Dame im Trumpf sitze und Sie doppeln…“, hörte ich Frau Wimmers Stimme. Dann beklagte sich jemand über Zug, und Frau
Bang-Clausen schloß das Fenster. Wie still es war. Auf dem Wasser lag die glitzernde Säule des Mondlichts. Ein paar Zeilen aus einem Gedicht fielen mir ein: Es ist wie ein Märchen, eine Fabel, erzählt von des Sternhimmels Fee. Der Silbermond baut einen Stapel von glitzernden Münzen im See. Ich hatte mir immer eingebildet, der Dichter habe das Wort Stapel gebraucht, nur weil es sich auf Fabel reimt, aber in dieser Mondscheinnacht verstand ich, wie treffend das Wort war. Denn das war es ja, was der Mond tat, genau das. Ich suchte mir einen abseits stehenden, verlassenen Strandkorb und setzte mich hinein, nachdem ich ihn etwas von Sand und Tau gesäubert hatte. Und ich mußte mit einiger Verwunderung denken, daß ich mich vor einem halben Jahr um keinen Preis der Welt hätte dazu bringen lassen, mich allein in einen taufeuchten Strandkorb zu setzen, wenn einige Meter von mir entfernt Musik gespielt und getanzt wurde. Da hätte ich mir das Kleid übergeworfen, wäre mit einem Kamm durchs Haar gefahren und hinuntergestürzt. Jetzt war mir so wohl und friedvoll zumute. Herrlich, diese Stille und die kühle Luft zu fühlen. Und den „Stapel von Münzen im Meer“ zu betrachten. Ich dachte an Yvonne und an Missi und ihr Junges und an meine Pflanzen und auch an Dr. Steneng. Allerdings nur ein wehig. Ein klein wenig. In der Nacht träumte ich von der Zeit, in der ich klein war und die Eltern noch lebten. Ich kam aus der Schule, ich hatte einen braunen Ranzen und die Butterbrotdose mit dem aufgemalten Bärchen. Ich ging zum Kaufmann an der Ecke und kaufte zwei große, rote Himbeerbonbons. Sie schmeckten nach künstlichem Süßstoff und färbten die Zunge rot. Ich kam nach Hause und sah Mutti am Fenster. Sie machte mir die Tür auf, und plötzlich war es gar nicht Mutti, sondern Yvonne. Ich hatte Angst, nun würde sie schimpfen, weil ich Himbeerbonbons gekauft hatte. Ich wachte auf, weil es so heiß im Zimmer war. Ich hatte vergessen, das Fenster aufzumachen, als ich mich schlafen legte. Ich stieg aus dem Bett und öffnete es weit. Bald mußte die Sonne
aufgehen. Es war hell, und die See streckte sich weithin und sah aus wie graublaue Seide. Aus weiter Ferne klangen Ruderschläge herüber. Ich legte mich wieder hin und träumte im wachen Zustand weiter, dachte an die Jahre bei Onkel Mathias und Tante Beate. Es hatte den Anschein, als habe jetzt die dritte Epoche meines Lebens begonnen. Und ich hatte ein deutliches Gefühl, als sollte diese dritte Epoche in einem bestimmten Sinne die entscheidende werden.
Briefe schreiben Liebe Wibke! O ja, vielen Dank, uns geht es allen miteinander gut. Missis Junges gedeiht prächtig, ich habe es Mouche getauft. Du kannst hoffentlich genug Französisch, um zu wissen, daß Mouche „Tüpfelchen“ bedeutet? Ich habe beschlossen, es zu klauen, bevor Missis Besitzer nach Hause kommen. Ist Dir’s recht? Ich zeichne Jagdreklame, daß es nur so raucht, ich strenge meine ganze Phantasie an, um die Leute davon zu überzeugen, daß eine Jagd völlig mißlingt, wenn man es versäumt, reichliche Mengen von den ausgezeichneten, eingeweckten Fleischklößen und dito Fischklößen der „AG Herma“ mitzunehmen. Habe übrigens eine Büchse von jeder Sorte als Geschenk mitbekommen, so daß ich vier Tage nichts fürs Mittagessen zu kaufen brauche. Frau Nilsens kleinster Kaktus hat eine große Knospe bekommen, Du weißt, der, der so aussieht wie ein Brötchen mit Rosinen drin. Ich pflege ihn, als wäre er mein einziges, teures Kind. Von Frau Jacobsen von der BahnhofStraße kam eine Karte, sie wollte ihre Blumen zurückhaben. Ich bin damit hingefahren und sie strahlte wie eine Sonne und bezahlte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich habe laut Verabredung die Hälfte des Geldes für mich behalten. Sonst ist es hier ziemlich heiß und im Atelier sogar glühend, ich freue mich von ganzem Herzen für Dich, daß Du Dich in den wilden Wogen tummeln kannst. Ich muß Dir übrigens etwas Komisches erzählen. Du weißt, mein Vater ist seit einem Jahr wieder verheiratet. Ich habe einen Bruder bekommen! Leider kann ich keine nennenswerte Begeisterung für die Angelegenheit aufbringen. Erhielt eine Karte von meinem Vater mit der Mitteilung, und ich habe mich wirklich dazu aufgeschwungen, eine Karte zu schreiben mit „herzlichen Glückwunsch“ drauf. Zu mehr langte es aber nicht. Ich erhebe auf das bestimmteste Einspruch gegen die Theorie, daß Blut dicker als Wasser sei. Kein Mensch kann wohl mehr allein stehen und verwaister sein als ich, obwohl ich zwei Garnituren Eltern nebst einem Bruder besitze. Ich fühle mich unendlich viel näher zum Beispiel mit Dir verbunden als mit einem einzigen meiner sogenannten nahen Verwandten. Das letzte, was ich von meinem
Vater hörte, war die Mitteilung vor einem Jahr, daß er am Vierten des nächsten Monats ein Fräulein Marianne Melling heirate – und von meinem Mamachen in Paris höre ich, wenn es hochkommt, alle zwei Monate mal oder so. Eltern sind zuweilen sonderbare Wesen, weißt Du. Möglich, daß sich meine Eltern deswegen nichts aus mir machen, weil die Ehe so ganz und gar mißglückt ist. Jeder sieht wohl bei mir nur die Fehler die ich vom anderen geerbt habe. Na ja, das wäre das, Du wirst begreifen, daß ich ziemlich allein bin, wenn ich mich schon mal hinsetze, um Dir im Brief intimere Dinge anzuvertrauen. Laß es Dir nun gutgehen, Wipps, und solltest Du mal fünf Minuten Ruhe haben, wenn die Gören schlafen und die bezaubernden Jünglinge im Hotel anderweitig in Anspruch genommen sind, dann kannst Du gerne ein paar Zeilen hinkritzeln für Deine alte Yvonne. Ich blieb mit Yvonnes Brief in der Hand sitzen, las die zweite Hälfte wieder und wieder. Es kam selten vor, daß sie von sich redete. Wir waren so nah befreundet, aber uns irgendwelche Geheimnisse anzuvertrauen, das war nicht unsere Art. Ich schätzte es sehr, wenn Yvonne sich hin und wieder einmal mir gegenüber offener aussprach. Und gerade jetzt hatte sie bestimmt Kummer. Ich merkte es an so vielem. Es war damals sicher nicht so leicht für sie gewesen, als sie sich mit ihrem Vater überwarf und beinahe auch mit der Mutter, aber allmählich war die Wunde wohl verheilt, und nun kam dieser kleine Halbbruder, und all das, was sie endlich hinter sich gelassen hatte, wurde ihr nun von neuem gegenwärtig. Yvonne hatte ihren Vater seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen, höchstens ein paarmal auf der Straße. Er wohnte ein Stück außerhalb der Stadt und fuhr täglich mit dem Wagen hinein. Es lag also in der Natur der Sache, daß seine und Yvonnes Wege sich nicht kreuzten. Yvonne hatte jetzt jemanden nötig, der gut zu ihr war. Ich merkte es unter anderem daran, daß sie anfing, mich bei meinem Spitznamen aus meiner Kindheit zu nennen. In der Schule hatten mich die Freundinnen immer „Wipps“ genannt. Liebe Yvonne. Ich hatte sie wahnsinnig gern. Als die Kinder abends ins Bett gebracht waren, setzte ich mich hin und schrieb. Liebste Yvonne!
Es freut mich ganz ungemein, daß es den Katzen und den Pflanzen gutgeht. Grüße Mouche. Meinen Segen hast Du, falls Du Ernst machst und sie unterschlägst. Ich gratuliere zum Brüderchen. Ich hoffe für ihn, daß er nach achtzehn Jahren nicht etwa erklärt, Maler werden zu wollen. O danke, mit mir geht alles ausgezeichnet. Ich bin dick befreundet mit den Gören, und das ist ja die Hauptsache. Frau Wimmer ist reizend und ist nicht schwierig. Sie überläßt mir die Kleinen ganz allein und mischt sich nicht in meine Erziehungsmaßnahmen. Es ging neulich Abend mal sogar gut, als ich auf Peterchen ärgerlich war und ihm einen Klaps auf sein bloßes Hinterteil gab, daß es knallte. (Er hatte, trotz strengstem Verbot, mit allen Kämmen, Bürsten, Tuben usw. die Frau Wimmer gehörten, in der Badewanne Schiff gespielt. Du ahnst nicht, was für eine Arbeit ich hinterher damit hatte!) Peterchen brüllte wie ein angestochenes Ferkel, aber sonderbarerweise haben weder er noch Ginchen gepetzt – ich glaube sogar, Peterchen hat jetzt noch mehr Respekt vor mir. Jedenfalls war er so niedlich, als er sich mit der einen Hand seinen Hintern rieb, mit der andern die Augen und zwischendurch halb beleidigt und halb bewundernd zu mir rüberschaute, daß ich ihn hätte knudeln mögen, was ich im Augenblick indessen doch unterließ. Frau Wimmer schläft vormittags, macht nachmittags sehr gemäßigten Schrittes einen Spaziergang und spielt abends Bridge. Ich sehe sie also äußerst wenig, abgesehen von den Mahlzeiten. Und dann erstatten die Gören Bericht über das, was wir den Vormittag getrieben haben, und alles ist eitel Glück und Sonnenschein. Abends verlangen die Kinder, daß ich mit ihnen bete, und weißt Du, ich glaube – ja, jetzt drücke ich mich bestimmt sentimental aus, Du mußt diese Sätze lieber überspringen, falls Du nicht gerade Deinen sentimentalen Tag hast –, aber ich glaube also, dies bedingungslose Vertrauen und dieser felsenfeste Glaube, den ich aus den vier blanken Kinderaugen und den kleinen Stimmen entnehme, wenn sie zuversichtlich um Radfahrpumpen, Gummitiere, neue Wadenstrümpfe und Schokolade bitten – der könnte tatsächlich einen besseren Menschen aus mir machen. Hier kannst Du nun wieder anfangen zu lesen, denn von jetzt ab bin ich nicht mehr sentimental. Im Gegenteil, ich bin geschäftsmäßig und möchte Dir einen Plan unterbreiten, den ich entworfen habe. Der Plan betrifft natürlich meine künftige Arbeit. Du weißt, was
ich bis jetzt getan habe, war alles ausgesprochen saisonbedingt, wie der Mann sagte, der davon lebte, daß er Glasscherben für Sonnenfinsternisse schwärzte. Aber jetzt sehe ich eine Möglichkeit, mir Einkünfte zu verschaffen, die nicht an die Jahreszeit gebunden sind, da sie etwas als Voraussetzung haben, das so unwandelbar ist wie der Lauf der Erde um die Sonne: die weibliche Eitelkeit. Es begann damit, daß meine Tischgenossinnen, die Damen Björvik und Bang-Clausen, mit viel Ernst und Eifer, wie ihn ein wirklich interessantes Thema bedingt, Erfahrungen über Schlankheitskuren austauschten. Sie haben beide an den hervorstechendsten Stellen eine gewisse Alterszulage bekommen und leiden jetzt an Schlankomanie. (Das Wort ist eigenes Fabrikat.) Sie reden mit viel Erfahrung über Apfelsinenkuren und Buttermilchkuren und Apfelkuren, Frau B.-C. hatte sogar fertiggebracht, mal eine Woche lang von Wasser und Karlsbader-Salz zu leben. Dann gesellte sich eine dritte Dame zu uns, eine mit Pölsterchen zwischen den beiden Teilen des Bikinis. Sie holte einen Zeitungsausschnitt aus der Badetasche: einen Abmagerungs-Speisezettel aus einer dänischen Zeitung, mit dem vielversprechenden Titel: „Zwölf Pfund leichter in achtzehn Tagen.“ Ich durfte es auch studieren und ich muß sagen, es kam mir ziemlich zufällig und komisch zusammengesetzt vor, aber wenn die Frauen daran glauben, dann meinetwegen! Zum Frühstück eine Apfelsine und eine Tasse Kaffee, abends ein hartgekochtes Ei und ungesüßter Tee. Aber die Mittagsmenüs waren sonderbar, loo Gramm Filet, drei Oliven, einen halben Becher MagerJoghurt – oder 125 Gramm gekochter Fisch, ein halber Apfel, vier Gurkenscheiben. Wie ging es nun weiter – ja, 50 Gramm Schnitzel, eine Scheibe Dosenananas – und so weiter und so fort. „Ja…“, sagte Frau Björvik. „Ich möchte es schon versuchen, aber es ist wahnsinnig schwer, die Kur durchzuführen! Wenn ich drei Oliven brauche, wohin dann mit dem ganzen Rest im Glas? Bei uns ißt kein Mensch Oliven. Und wenn ich Rinderfilet esse, kann ich Mann und Kindern keine Erbsensuppe vorsetzen. Außerdem, ich habe nicht den Mut dazu, beim Schlachter um fünfzig Gramm Schnitzel zu bitten. Und was mit der übriggebliebenen Dosenananas? Der ganzen Familie Ananas als Nachtisch geben, das erlaubt meine Haushaltskasse nicht!“ „Ich habe die Kur in Kopenhagen gemacht“, erzählte die mit den Pölsterchen. „Da gab es ein Restaurant wo man nur das Essen für den dritten Tag oder den Lunch für den achten Tag zu bestellen
brauchte, und sofort waren sie im Bilde. Wenn es bloß bei uns in Oslo ein solches Lokal gäbe, das würde vielleicht Geschäfte machen!“ Yvonne, ahnst Du schon, worauf ich hinauswill? Wir haben massenhaft Platz. Wenn wir uns einen langen Tisch beschafften oder drei, vier kleine Tische und billige Stühle oder Hocker, und zum Beispiel zwanzig Damen zum Mittagessen annähmen? Wir müßten natürlich im voraus alles genau berechnen, damit wir auch daran verdienen. Und Du weißt ja – große Mengen auf einmal einkaufen, das ist immer günstig. Ich habe die Diätliste abgeschrieben und sie genau studiert. Die Menüs bestehen hauptsächlich aus Rohkostgemüse, also nichts mit Kochen. Manchmal bekommen sie kleine Beefsteaks, ganz kurz auf beiden Seiten gebraten. Und dann Tee und Kaffee. Also kämen wir aus, wenn wir uns eine große Bratpfanne kauften, einen großen Teekessel und eine Kaffeekanne, und das wäre dann alles. Wir müßten zwanzig Tassen, Teller und Kompotteller haben, aber die leiht mir bestimmt Tante Beate – ihr großes Service steht noch auf dem Boden in der Kiste. Mit den beiden Gasflammen, die wir haben, kommen wir aus zum Kochen. Die Arbeit ist selbstverständlich meine Sache, aber da wäre ja dann die Benutzung des Ateliers. Ich habe große Lust, es damit zu versuchen, denn ich glaube wirklich, da steckt ein gutes Geschäft drin. Namentlich jetzt im Spätsommer, wenn das Gemüse billig ist und all die schlankheitswütigen Damen in den Sommerhotels und Pensionaten zu viel gefuttert haben. Weißt Du übrigens noch, wie Du immer den Turnsaal ausgemalt hast, wenn wir unsern Schulball hatten? Das könnten wir jetzt auch tun. Lange Streifen Packpapier an die Wände heften, und dann malst Du appetitanregende Salatköpfe drauf, Tomaten, Gurken und andere nützliche Gewächse. Ich habe mir schon alle Einzelheiten überlegt, z. B. weiß ich, daß man feine Papiertischdecken am Meter kaufen kann, und noch allerlei anderes auch. Man brauchte nur ganz wenig Betriebskapital dazu. Was meinst Du? Wenn Du einverstanden bist, daß wir es versuchen, dann wäre es nett, wenn Du postwendend zwei Worte auf einer Karte schriebst, ich würde dann gleich hier anfangen zu werben. Etliche Damen haben immer gesagt, daß sie, sowie sie in die Stadt zurückkommen, irgend etwas tun müssen, um die Sommerpolster loszuwerden. Mach rasch und gib mir Bescheid! Tausend Grüße – Wipps.
Es kam postwendend Antwort von Yvonne: O. K.! Die Idee ist prima!
Wie ich zu einem Startkapital kam Ach Gott, ach Gott, wie an diesem Vormittag am Strand geschnattert wurde! „Oh, haben Sie schon gehört, welch glänzende Idee Fräulein Grundt gehabt hat? Ich fange an, sowie ich nach Hause gekommen bin. Wollen Sie nicht auch? Sie ahnen gar nicht, wie hervorragend diese Kur ist. Man nimmt in achtzehn Tagen zwölf Pfund ab. Ja, ich weiß mindestens fünf meiner Bekannten, die hingerissen sein werden. Es wird auch gar nicht teuer. Nicht wahr, Frau Björvik, diese Kur ist glänzend! Was meinen Sie, Frau Jürgensen? Nein, nein, nur einmal am Tag. Das Morgenfrühstück und Abendbrot ißt man zu Hause. Eine Tasse Tee oder Kaffee und eine Apfelsine, deswegen braucht man doch nicht aus dem Haus zu gehen. Nein, aber das Mittagessen, verstehen Sie? Machen Sie mit? Das wäre zu nett. Fräulein Grundt, wann gedenken Sie anzufangen? – Das kommt drauf an? – O nein, meine Liebe, ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß Sie mit Leichtigkeit zwanzig Damen zusammenkriegen. Ich kann Ihnen ohne weiteres zehn beschaffen, wenn wir am 1. September anfangen können! Geben Sie mir mal Ihre Adresse! Haben Sie sich Fräulein Grundts Adresse aufgeschrieben, Frau Tjennerud? Sie können sie von mir haben, hier schauen Sie, Lindenstraße 12.“ Die Adresse wurde auf die Rückseite von dem letzten Brief des Ehegatten geschrieben, auf die Pappe mit den Haarklemmen, auf das Einwickelpapier von Nunis Schokolade. Ich habe schon immer gesagt, und ich wiederhole es: Dieser Nachahmungstrieb ist ein hervorstechender Zug der weiblichen Psyche. Wenn eine Frau Interesse für eine Sache bekommen hat, zieht sie unzählige nach sich. Es wird Mode, und dann ist die Sache geschmissen. Ich freute mich geradezu, wieder nach Hause zu kommen und anzufangen. Frühmorgens würde ich auf den Markt gehen und herrliches frisches Gemüse einkaufen und die spärlichen Gerichte so reizvoll und appetitlich anrichten wie nur möglich, und ich würde mit allem mir zu Gebote stehenden Zartgefühl die Damen darin unterstützen, daß sie durchhielten. Insgeheim dankte ich indes dem Schicksal, daß ich es nicht selber war, die eine solche Kur durchmachen mußte. Wenn ich mit 50 Gramm Fleisch und einer
Tomate zum Mittagessen auskommen müßte, so würde ich niemandem raten, in meine Nähe zu kommen. Und ich lächelte vor mich hin, wenn ich daran dachte, wie schön Yvonne und ich es uns machen würden, wenn die Gäste raus waren – oh, wie wir schwelgen wollten, namentlich an den Tagen, wenn die Diätliste Steak oder Schnitzel vorschrieb! Während ich überlegte und plante, spielte ich mit Ginchen, ging mit Peterchen ins Wasser und leistete Frau Wimmer Gesellschaft. Sie hatte oftmals Herzklopfen und Kopfweh und war offensichtlich sehr froh, alle Anstrengungen mit den Kindern los zu sein. Ginchen und Peterchen wuchsen mir immer mehr ans Herz. In den letzten Tagen war das Wetter nicht so gut gewesen, und wir hatten ziemlich viel drinnen sitzen müssen. Es ging ein kräftiger Wind, und der Strand lag öde und verlassen da. In der Kaminstube spielte ich mit den Kindern das Kugelspiel, und es machte mir Spaß, ihre Charaktere zu beobachten. Ginchen war unwahrscheinlich gutmütig. Wenn sie zweimal hintereinander gewann, wollte sie immer den Gewinn – die Apfelsine oder das Stück Schokolade – mit denen, die nichts gewonnen hatten, teilen. Aber Peterchen war gerecht und sehr streng. Kein Gefackel hier, danke! Wenn Ginchen die Apfelsine gewonnen hatte, dann sollte sie sie auch selber behalten. Peterchen war nüchtern und gerecht und maulte nie, wenn er verlor. Im Geiste stellte ich mir Peterchen in zehn, zwölf Jahren vor. Er würde so ein Junge werden, der überall beliebt war, beim Sport, beim Spiel und bei der Arbeit, weil er „sporty“ war. Wenn nur die Eltern ihn bloß richtig behandeln würden, wenn sie ihn nie wegen seiner Zornesausbrüche bestrafen würden – denn er hatte nie welche, ohne daß nicht ein Grund dafür vorhanden war- und wenn sie bloß nicht aus lauter Unverstand Ginchens grenzenlose Gutmütigkeit und ihr Zutrauen zunichte machen wollten! Ich sprach mal vorsichtig mit Frau Wimmer darüber, und sie hörte mir zu und zeigte auch Interesse. „Ja, die Kinder lieben Sie, Fräulein Grundt“, sagte sie freundlich, aber mir war trotzdem so, als könnte ich einen kleinen Unterton von Eifersucht heraushören. „Sie werden furchtbar traurig sein, wenn Sie uns verlassen.“ „Ich würde Ginchen und Peterchen gern ab und zu besuchen, wenn ich darf, sagte ich. Das war auch meine ehrliche Meinung. Ich hatte nie geglaubt, daß man anderer Leute Kinder so liebgewinnen
könnte.“ In der Nacht drückte mich ein Alptraum. Irgend etwas war im Begriff, mich zu erwürgen. Ich versuchte zu schreien, konnte aber nicht einen Ton hervorbringen. Dann schrie irgend jemand anderes. Immer wilder und wilder. Ich wachte auf. Die Schreie hörten nicht auf. Es war erstickend heiß, und es roch nach Rauch. Dann war ich ganz wach. Feuer! Es brannte! Das Haus brannte! Ich taumelte zur Tür und stieß sie auf, warf sie aber schleunigst wieder zu. Rauch und Flammen schlugen mir entgegen – unmöglich, hier über den Boden zur Treppe zu gelangen. Wenn ich heute daran zurückdenke, steht das Geschehen als etwas Seltsames, Unwirkliches vor mir. Es ist fast, als wäre ich das gar nicht gewesen, die das erlebt hatte, sondern jemand anderes. Es ist genauso, als ob ich an einen spannenden Film zurückdenke. Ich erinnere mich noch, daß Ginchen sagte, als alles vorbei war: „Aber hast du nicht schrecklich Angst gehabt, Tante Grundt?“ Und ob ich Angst gehabt habe! Ein Entsetzen so namenlos, so wild, so verzweifelt – ein Entsetzen, für das es keine Worte gibt – ein Entsetzen, wie man es sich unter keinen Umständen vorstellen kann, wenn man nicht selbst einmal in wahrer, richtiger Lebensgefahr gewesen ist und sekundenlang alles auf dem Spiel stand. Aber eines habe ich erfahren dürfen: Es gibt etwas, das ist stärker als das Entsetzen: der Selbsterhaltungstrieb! Der trieb mich zum Handeln, der erteilte mir seine Befehle, und der spornte jede Hirnzelle in mir an, schneller und intensiver zu handeln als je zuvor. Eine Feuerleiter war nicht da. Onkel Mathias hatte zu Hause mit uns Feuerwehrübungen abgehalten. Und mein Hirn, das so wach und so kristallklar war wie niemals früher oder später, faßte einen klaren Gedanken: Laken! Vier Streifen von einem Laken. Ich riß die Nagelschere aus dem Kasten und die Laken aus dem Bett, durchschnitt den Saum und zerriß die Wäsche in Streifen. Riß und knotete, riß und knotete. Ich glaube, ich spürte in den Augenblicken die Angst gar nicht. Das hat nichts mit Mut zu tun. Nichts mit Selbstbeherrschung, mit Vernunft oder logischem Denken. Es war einfach eine Macht, in mir oder außer mir, die so drängend war, so gebietend, daß sie für nichts anderes Platz ließ als dies eine: reißen, knoten, reißen, knoten.
Es war tatsächlich so, daß ich in diesen Minuten buchstäblich nichts sah und hörte. Ich weiß nicht, was zwischen dem Knoten der Wäschestreifen und Ginchens Schrei und Umarmung geschehen war, als ich sicher und wohlbehalten unten auf der Erde stand. Alles ist aus meinem Gedächtnis ausgelöscht. Vielleicht habe ich gehandelt wie eine Schlafwandlerin – ich weiß es nicht. Die anderen erzählten, ich hätte die Laken am Fensterkreuz festgeknotet, und die, die unten standen, hätten nur gestarrt und gestöhnt und geschrien. Sie erzählten, man habe eine Leiter geholt, die aber zu kurz war, und man habe nach einer anderen Leiter geschrien, und sie sagten, inzwischen hätte ich nur dagestanden und immer weitergeknotet. Sie hätten mir etwas zugeschrien, aber ich hätte keine Antwort gegeben. Merkwürdig. So wirkt also wahre Lebensgefahr auf gewisse Menschen. Alle Gedanken werden ausgeschaltet, sogar die Angst. Nur der Selbsterhaltungstrieb bleibt und diktiert das logische Handeln. Dann sei ich aus dem Fenster geklettert und habe mich an dem Tau herabgelassen. Ich glaube, daran erinnere ich mich noch – ganz schwach und nebelhaft – , daß mich irgendwie ein Schauder überlief, als das Tau zu Ende war und ich nur noch an den Armen baumelte. Aber nun waren es nur zwei, drei Meter bis zum Erdboden. Und als dann eine Stimme rief: „Lassen Sie los! Wir fangen Sie auf!“, da muß es in mein Bewußtsein eingedrungen sein, denn ich tat, wie man mir hieß. Dann erinnere ich mich noch an Ginchen. Als ich ihre Armchen um meinen Hals fühlte, da kam ich wieder zu mir. Ich heulte wie ein Schloßhund. Es ist möglich, daß es eine Art Hysterie war. Sicher ging mir jetzt hinterher erst das ganze Entsetzen richtig auf. Es war niemand ums Leben gekommen. Wir saßen in der großen Stube des Nachbarhofs von Bakkelund. Wir tranken Kaffee und erholten uns langsam wieder. Und mit einemmal wurde mir die Komik der ganzen Situation erst so richtig bewußt: Dort saß Frau Björvik im Perlonnachthemd, Ledermantel und mit einem Paar geliehenen Männerschuhen an den Füßen – den Schmuckkasten an sich gepreßt und Nuni neben sich, die halb schlief. Dort saß Frau Wimmer im Wollmantel mit der Reisetasche auf dem Schoß und Ginchen oben auf der Tasche, ebenfalls schlafend. Dann ich im Pyjama und Peterchen, der in eine Wolldecke
gehüllt war, in meinen Armen ganz fest an mich gepreßt. Ringsherum saßen mehr oder weniger bekleidete Damen mit mehr oder weniger schlafenden und wimmernden Kindern. Einem Hotelmädchen wurde ein Verband um den Arm gemacht. Sie hatte das andere Giebelzimmer gehabt, und als sie sich an einer Feuerleiter – sie hatte eine, der Glückspilz! – herunterließ, hatte sie sich unterwegs an einer zerschlagenen Fensterscheibe geschnitten. Allmählich beruhigten wir uns wieder einigermaßen. Es fing an zu dämmern. An Schlaf war jedenfalls für die Erwachsenen nicht mehr zu denken. Telegramme wurden abgeschickt und Telefongespräche angemeldet. Die meisten von uns besaßen nicht viel mehr als das Nachtzeug; wir mußten bleiben, wo wir waren, bis uns Sachen geschickt werden konnten. Frau Wimmer, die Kinder und ich wurden in eine Kammer mit zwei Betten gesteckt und verbrachten zwei schlaflose Nächte mit je einem Kind als Bettgenossen. Dann kamen unsere Kleider aus der Stadt, und wir konnten erleichtert und mit vielem Dank die Kleidungsstücke wieder zurückgeben, die uns die guten Leute auf dem Hof geliehen hatten. Kurz bevor wir abreisten, suchte uns der Hotelbesitzer auf. Er bat uns, genau aufzuschreiben, was für Sachen wir durch den Brand verloren hätten und wenn möglich auch ihren Anschaffungswert. Er würde uns die Summe zurückerstatten, soweit es ihm möglich war. Das war eine angenehme Überraschung! Jetzt freute ich mich gewaltig, daß ich mit gutem Gewissen ein Abendkleid zu fünfhundert Kronen aufschreiben konnte, eine Armbanduhr zu sechshundert, einen Pelzumhang zu achthundert. Hinzu kam noch all der Kleinkram, der an sich nicht gerade kostbar war, aber im ganzen doch einen Wert darstellte. Als ich einige Tage wieder in der Stadt war, erhielt ich einen höflichen Brief vom Hotelwirt. Ob ich mit zweitausendfünfhundert Kronen Schadenersatz zufrieden wäre? O ja, danke. Das war ich. Ich wußte, das Geld würde nicht für ein neues Abendkleid und eine neue Armbanduhr ausgegeben werden. Das wollte ich für Holzsessel und Kessel und Kasserollen verwenden, und was noch übrig blieb, das sollte auf die Bank gebracht werden. Ich mußte eben mit den Kleidern auskommen, die ich besaß, und statt der Armbanduhr einen Wecker zu vierzig Kronen kaufen.
Zwanzig Damen zur Schlankheitskur „Fräulein Grundt! Stimmt es wirklich, daß wir nur jede eine Tomate bekommen? Ich bin genauso hungrig wie vorhin, als ich kam. Meinen Sie, es macht etwas aus, wenn ich eine Apfelsine nebenher esse?“ „Die Diätvorschrift verbietet es“, sagte ich streng. „Lesen Sie bitte selber nach, sie hängt an der Wand!“ Frau Björvik tat es. „Puh, wie sind Sie streng! Aber sicher haben Sie recht. Es hat wohl keinen Zweck zu mogeln.“ „Trinken Sie jetzt Ihren Kaffee, Frau Björvik. Kaffee verleiht einem immer ein Gefühl von Sattheit.“ „Ja, wenn ich dann wenigstens Zucker und Sahne dazu bekommen könnte. Ich kann schwarzen Kaffee nicht ausstehen. Möchte jemand von Ihnen eine Zigarette haben?“ Die meisten mochten. Ich brachte Aschenbecher herbei. Es war der neunte Tag der Kur. Meine zwanzig Kundinnen kamen regelmäßig und gaben sich wirklich alle Mühe, die strenge Diät einzuhalten. Es waren größtenteils Damen, die viel Zeit hatten, dann noch ein paar Büroangestellte, die in ihrer Frühstückspause angerast kamen und das bißchen, das sie essen durften, herunterschlangen. – Dann waren da zwei junge Mädchen, die angaben, Schauspielerinnen zu sein; es kam aber wohl eher hin, wenn man sie unter die Revuegirls einreihte. Sie erzählten von einer Operette, die im nächsten Monat aufgeführt werden sollte, und da hieß es, gut in Form zu sein, wenn man berücksichtigt werden wollte. Dann war da eine dicke, gutmütige Hausfrau mit Apfelbacken, Schinkenarmen und abgearbeiteten Hä
9 0 0 9.96 426.69 0 0 91BT /T1_1 1 Tf 9.9539 0 0 9.96 366.48 447.83
Die Stimme des Gewissens Fast täglich läuteten unbekannte Damen an unserer Tür, die sich erkundigen wollten „Verzeihung, bin ich hier richtig wegen einer Schlankheitskur?“ Zu Anfang war ich froh und entgegenkommend. „Ja, gewiß, Sie können am 28. anfangen, dann beginnt eine neue Gruppe.“ Wir wurden schnell handelseinig, und ich trug die Dame in meine Teilnehmerliste ein. Als die Liste voll war, ja überzeichnet – ich ließ mich breitschlagen und nahm dreiundzwanzig – mußte ich die Schlankheitssüchtigen abweisen, vertröstete sie aber auf den Oktober, wo wir von neuem beginnen würden. Schließlich kam es sogar so, daß ich eine Warteliste einrichten mußte! Ich hatte wohl recht gehabt, wenn ich sagte, daß Unternehmen, die sich auf die weibliche Eitelkeit stützen, immer lohnend sind. „Es ist übrigens komisch“, sagte ich eines Tages zu Yvonne, während ich vor einem Berg von Strümpfen saß – ich stopfte nämlich abends nach wie vor Männerstrümpfe –, „alles, was ich angefangen habe, ist ein Erfolg gewesen. Glaubst du, ich bin unter einem besonderen Glücksstern geboren, oder was meinst du?“ „Aber keineswegs“, sagte Yvonne entschieden, „dich hat einfach nur die bittere Not dazu gezwungen, nicht lockerzulassen. Du hast dafür gearbeitet, daß du bekannt wurdest, erst als Blumendoktor, dann als Strümpfestopferin und jetzt – ja, ich hätte beinahe gesagt, als Kaffeehauswirtin. Weißt du eigentlich nicht, daß du jeden Anlaß benutzt, um für deine Vorhaben Reklame zu machen? Du hast eine erstaunliche Gabe, eine Bemerkung über Blumen, Strümpfe oder Schlankheitskuren an den Mann zu bringen, wann immer du mit jemandem redest. Das hat zur Folge, daß die Leute dann von dir reden. Es ist gar nicht daran zu zweifeln, daß alle diese Unternehmen ebensogut hätten totgeborene Kinder sein können. Alles hängt von der Persönlichkeit ab, die dahintersteht.“ „Zuviel des Lobes“, lachte ich. „Ich bin also eine Persönlichkeit? Ich hatte keine Ahnung, daß dir solche Komplimente so leicht von der Zunge gehen!“ „Unsinn. Es sind keine Komplimente. Oder hast du jemals gehört, daß ich etwas sage, was ich nicht meine?“ „Nein, eigentlich nicht. Du, Yvonne, da fällt mir eben etwas ein.
„Ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Es geht mich den Dreck an. Das stimmt natürlich. Entschuldigen Sie!“ Sprach’s und knallte die Tür hinter sich zu. „Ich habe Sie bewundert und Hochachtung vor Ihnen gehabt“, hatte er gesagt. Ich stand da, „eine Beute widerstreitender Gefühle“, wie es in Romanen immer heißt. Ich schämte mich, aber im Grunde meines Herzens fühlte ich eine wilde kleine Freude darüber, daß er mich bewundert und Hochachtung vor mir gehabt hatte. Ich wollte seine Bewunderung und Hochachtung zurückgewinnen! Da mußte ich lächeln. Mir fuhr es durch den Sinn, daß er jedenfalls heute Mensch gewesen war. Kein bißchen Arzt – sondern nur ein hundertprozentiger, richtig zorniger Mensch. Die fünf Tage bis zum Ende der Kur zu überstehen war für alle Teile peinlich und schlimm. Frau Lind mit Tochter war verschwunden. Das Geld schickte sie mit der Post. Einige andere blieben auch weg. Am achtzehnten Tag der Kur verabschiedeten sich alsdann neunzehn Damen mit einem matten und beherrschten Dankeschön. Da hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Ich sagte den acht Damen, die auf der Warteliste standen, ab. Ich hatte vier Paar Strümpfe von Dr. Steneng liegen. Sie mußten abgeliefert werden. Könnte ich es nur vermeiden, ihm zu begegnen. Da fiel mir ein: Zwischen neun und zehn Uhr war wohl sein Hausgeist da. Da konnte ich sie bei ihr abgeben. Ich wollte die Strümpfe abgeben, wenn er nicht zu Hause war. Aber – entgegen meinen feinen Berechnungen – machte mir Doktor Steneng selber auf. „Guten Tag! Ich… ich wollte nur eben die Strümpfe bringen. Bitte.“ Ganz rasch gab ich ihm das Paket und wollte wieder wegstürzen. „Nein, warten Sie doch mal eben, Fräulein Grundt. Haben Sie Zeit, einen Augenblick hereinzukommen? Ich habe, glaube ich, noch mehr Strümpfe für Sie, und dann sollte ich dieses Paket von Herrn Golding abgeben. Ich sollte Sie bitten, die Sportstrümpfe so bald wie möglich fertigzumachen.“ Ich war inzwischen ins Wohnzimmer gekommen. „Danke“, sagte ich und nahm das Paket in Empfang. „Ich werde sie heute vormittag gleich fertigmachen.“ „Soso. Haben Sie denn Zeit, vormittags zu stopfen?“
Kunst und Kummer Yvonne ging voraus. Sie hatte sich mit einem ihrer Malerkollegen verabredet. Und ich war allein, als Dr. Steneng kam, um mich zu holen. Ein sonniger, farbenprächtiger Oktobertag. Die Leute schlenderten langsam im Sonnenschein dahin. Es kamen viele in die Ausstellung. Sie standen in Gruppen beisammen, manche sprachen leise, zeigten und schauten in den Katalog, andere starrten interessiert auf ein bestimmtes Bild. Es gab ungemein viel Sachverständige, die in lauten Tönen wüste abstrakte Kompositionen lobten – abstrakte Bilder tragen bekanntlich immer den aufschlußreichen Titel „Komposition“ – und es gab viele Großmütter junger Maler, die zwischen all dieser modernen Kunst aussahen wie verirrte Hühner. Da waren Bilder von nackten Menschen mit grünen Gesichtern, da waren Stilleben mit schiefen Tonkrügen, die über einem unwahrscheinlichen Tisch sozusagen in der Luft schwammen, da gab es Ausblicke über gelbe und violette Dächer, da war die „Gattin des Künstlers“, die aussah, als bekomme sie nie etwas zu essen, statt dessen aber rote Sammetkleider, und da gab es Selbstporträts, die deutlich verrieten, daß Eingebildetheit nicht ein hervorstechender Zug bei Malern sein konnte. Dann waren da noch Seestücke, Fjällpartien und Gartenbilder mit blühenden Apfelbäumen. „Da ist Mouche!“ Ich war so eifrig, daß ich Dr. Steneng am Arm packte. Vor Mouche standen vier, fünf Personen. Sie lächelten alle wohlwollend. Obwohl Yvonne in gewissem Sinne modern malt, konnten selbst wir Nichtkunstverständigen die ganze Anmut der Katze erkennen, die Bewegung der kleinen Pfote, die sich nach einer großen Blütenknospe ausstreckte. Die Leute schauten in den Katalog. Ich auch. Yvonne Brünier – stand da – ist mit fünf Bildern vertreten. „Mouche“ neunhundert Kronen. „Frühstückstisch“ tausend Kronen. „Nini“ im Besitz von Frau Dr. Wenck. „Blasse Lenzsonne“ fünfzehnhundert Kronen. „Blühender Kaktus“ siebenhundert Kronen. Die blasse Lenzsonne war ich. Steneng blieb lange davor stehen. Sagte nichts.
zu ertragen. Sie trocknete sich nur die Tränen, das war alles.“ Steneng sprach leise. Es war, als rede er mit sich selber und habe ganz vergessen, daß Yvonne und ich daneben saßen. „Und das Schlimmste von allem: Als sie ihr Taschentuch wieder in ihre Handtasche zurückstecken wollte, fand sie eine Tüte. Sie nahm sie heraus und legte sie auf meinen Tisch. Sie brachte ein kleines Lächeln zustande, und dann sagte sie tatsächlich:,Es ist besser, wenn ich die gleich wegtue. Gebrannte Mandeln sind immer meine Schwäche gewesen, aber jetzt werde ich mich wohl für immer davon trennen müssen!’ Wissen Sie, Wibke, solche Augenblicke vergißt man nie. Das kleine, beherrschte Gesichtchen und die zerknautschte Tüte mit den gebrannten Mandeln werde ich so schnell nicht vergessen können.“ Wie seltsam war es, Dr. Steneng so zu sehen. Den kalten, zornigen Arzt, der damals so über meinen Kaktusdorn geschimpft hatte. Den wütenden jungen Mann, der mich am liebsten übers Knie gelegt hätte, weil ich Geld damit verdiente, daß ich andere Leute hungern ließ. Den munteren und gemütlichen Kameraden, mit dem ich am Tage vorher zu Mittag gegessen hatte. „Glauben Sie“ – jetzt war ich es, die nach einer Pause diese Frage an ihn richtete – , „glauben Sie, daß es Ihnen immer so schmerzlich sein wird, solch einen Richterspruch zu fällen? Glauben Sie nicht, daß man sich als älterer, erfahrener Arzt allmählich daran gewöhnt?“ „Nein, ich hoffe und bete, daß das nie der Fall sein möge. Ich wünschte, das bliebe mir erhalten, daß ich mich immer mit meinen Kranken zusammen freuen und mit ihnen zusammen leiden kann. Wenn man wirklich helfen soll, muß man den Leiden der andern gegenüber immer hellhörig sein! Man muß die Fähigkeit haben, sich in die Gefühle anderer hineinzuversetzen. Das sollte nach meiner Ansicht ein Arzt besser können als irgendein anderer Mensch. Vergessen Sie nicht, das Leben eines Arztes ist ja dem Helfen geweiht. Und Gott bewahre mich davor, daß meine Arbeit jemals zum reinen Handwerk wird. Sie waren einmal ärgerlich auf mich, Wibke, weil ich Ihnen kalt und gefühllos befahl, das Arbeiten zu unterlassen. Glauben Sie etwa, daß Sie mir nicht leid taten? Glauben Sie nicht, daß ich ganz genau wußte, wie wichtig Ihre Arbeit für Sie war? Und glauben Sie nicht, daß Sie mir innig leid taten, als ich Sie mit Ihrem Arm ins Krankenhaus schicken mußte? Aber man bessert eine Sache nicht immer, indem man dem Kranken zeigt, was man
fühlt. Und Sie kennen ja meine Einstellung zu der Frage Arzt und Mensch – wenn ich auch bereit bin zuzugeben, daß es immer schwieriger wird, den Menschen in mir zu unterdrücken. Heute war es jedenfalls ganz unmöglich.“ Dann verstummte er plötzlich und trank seine Tasse aus. Yvonne stand auf, um neuen Kaffee zu holen. Als sie sich umgedreht hatte, hob Dr. Steneng den Kopf und sah mich an. Er lächelte. Reichte mir die Hand quer über den Tisch. Ich gab ihm die meine, ohne zu zögern. Erhielt einen raschen, festen Händedruck. „Ich danke Ihnen“, sagte er leise. Wofür er sich bedankte, das verstand ich beim besten Willen nicht. Aber du großer Gott, wie gern hatte ich den Mann! Dann kam Yvonne mit dem Kaffee, und Dr. Steneng fragte uns, ob wir den Pasteurfilm gesehen hätten. Das konnten wir bejahen, und dann unterhielten wir uns begeistert über die Einzelheiten des Films. Es ist damit sonderbar. Man sollte meinen, es sei bei einer Diskussion über einen Gegenstand am anregendsten, wenn man ganz verschiedener Meinung ist. Aber tatsächlich ist es viel lustiger, sich über etwas zu unterhalten, worüber man sich einig ist, eine gemeinsame Begeisterung oder eine gemeinsame Ablehnung kann für Stunden oder sogar Tage reichen Unterhaltungsstoff bieten. Dann sprachen Yvonne und Steneng ein bißchen über Paris, und Steneng fragte, wie es mit meinem Französisch gehe. Ich war stolz wie ein Schulmädchen, als Yvonne versicherte, ich mache schöne Fortschritte. Es würde nicht mehr lange dauern, und ich könne in der Seinestadt mit der Sprache zurechtkommen. „Ja, Sie reisen ja sicher eines schönen Tages,“ sagte Steneng zu mir. „Ich bin überzeugt, daß Sie es irgendwie schaffen werden.“ „Sind Sie wahnsinnig… vergessen Sie denn meine Kinder? Haben Sie mir nicht selber den Gedanken mit dem Kinderparkplatz eingegeben?“ „Ach, Sie werden sich bestimmt nicht durch die Kinder an Ihrer Pariser Reise hindern lassen“, sagte Steneng ruhig. Er streckte die Hand nach Mouche aus, die sich soeben auf leichten Pfötchen dem Kaffeetisch genähert hatte. Mouche hatte so ihre Erfahrung im Hinblick auf den Kaffeetisch und das Sahnekännchen. Gerade jetzt wurde sie ärger verwöhnt als je zuvor. Wir mußten ihr ja Dankbarkeit zeigen – das kleine Tier hatte doch ein großes Verdienst an Yvonnes feinen Besprechungen, und auf alle Fälle hatten wir ihr eine Einnahme von neunhundert Kronen zu verdanken. Wir lobten und priesen Mouche in lauten Tönen, und ich erzählte
von Kille. Dann mußte ich meine Fotos herausholen, und Kille und mich auf der Verandatreppe zeigen, und Kille, der artig Männchen machte, und Tante Beate und Kille und mich am Teetisch unter dem Gartenschirm. Doktor Steneng schaute sich alles an und fand Bilder von mir als Schulmädel und hinten auf dem Motorrad mit Onkel Matthias zusammen und noch viele andere. „Sie müssen eine herrliche Jugend gehabt haben“, meinte er. „Dieser Onkel sieht ungemein gemütlich aus.“ „Er war der beste Mensch von der Welt“, versicherte ich. „Viel zu gut. Er hätte etwas von mir verlangen und mich nicht einfach nur zu Hause rumsitzen lassen sollen in lauter Wohlbehagen und Müßiggang.“ „Nun, das wird nicht so gefährlich gewesen sein. Als es nötig war, stellte sich ja heraus, daß Sie zupacken konnten. Ich denke, Ihr Onkel wäre zufrieden mit Ihnen, wenn er sähe, wie energisch Sie sein können, wenn es notwendig ist.“ Da hätte ich Doktor Steneng fast umarmen mögen! „Du mußt zusehen, daß du das Geheimnis mit der Dame auf dem Nachttisch aufklärst,“ sagte Yvonne am Abend. „Ich fange offengestanden allmählich an, doch die verstorbene Schwester in ihr zu vermuten. Der Mann ist ja so verliebt in dich, daß er nicht bis drei zählen kann. Ich kann mir einfach nicht denken, daß er zweispännig fährt.“ „Was fährt?“ „Denk nach, dann kapierst du es. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er an eine gebunden ist, so wie er sich gegen dich aufführt.“ Ich hätte so schrecklich gern geglaubt, was Yvonne sagte. Aber eben deshalb mußte ich widersprechen: „Ja, aber du mußt bedenken, so wie er heute war – das kann ja von der Stimmung kommen, in der er war. Das mit dem jungen zuckerkranken Mädchen hat offenbar einen riesigen Eindruck auf ihn gemacht.“ „Du hast nicht das Recht, das nur eine Stimmung zu nennen, Wibke. Ich glaube, es ist richtig, zu sagen, daß das Beste in ihm durch diesen Fall an die Oberfläche kam. Ich mag ihn gern, Wibke. Und meinen Segen hast du.“
Wonne „Tante Grundt, hat ein Ferkel wohl Hörner?“ – „Tante Grundt, Nelli hat mir den roten Buntstift weggenommen!“ – „Uhu, ich sag es Tante Grundt, Bubi, daß du mich geziept hast!“ – „Tante Grundt, warum hast du keine Kinder?“ – „Tante Grundt, ich hab ‘n Schiff gemalt.“ Helle Lockenköpfe, braune Ponys, dunkle Struwwelköpfe, alle saßen über Zeichnungen und Plastilin gebeugt. Nicht immer ging es friedlich ab, aber im großen und ganzen waren die Kinder gutartig. Hinter dem Wandschirm schliefen zwei kleine Wesen in ihren Kinderwagen. Das eine sollte um zwölf Uhr seine Flasche haben, die in warmem Wasser auf ganz niedriger Gasflamme stand. Das andere war ein Brustkind und würde – so hatte die Mutter gesagt – drei Stunden friedlich schlafen und rechtzeitig abgeholt werden, ehe der Hunger sich einstellte. Ich hatte meinen Kinderparkplatz seit vierzehn Tagen in Betrieb, und es ging gut. Ich hatte schon fabelhafte Übung darin, Kinderwagen die Treppe hinaufzubefördern. Das mit der Treppe war ein Nachteil, aber es war wiederum ein Glück, daß das Haus nur zwei Stockwerke hatte, so daß es also bis zum Atelier hinauf nicht allzu weit war. Wenn ich auf hundertneunzig Fragen geantwortet, den Kindern ihre Milch und Keks gegeben, Zeichnungen und seltsame Modellierarbeiten bewundert hatte, dann kam es zuweilen vor, daß ich mich einen Augenblick hinsetzen und an dem Anblick der kleinen Gäste freuen konnte. Sie waren auch des Ansehens wert. Die meisten Kinder waren sehr gepflegt und durchaus sanftmütig. Kam es zwischendurch doch einmal vor, daß mir ein weinerliches Kind gebracht wurde, dann entdeckte ich den Nutzen der „gegenseitigen Erziehung“. Es dauerte nie lange, dann nahm das Weinerliche an dem Tun und Lassen der anderen lebhaften Anteil, und bald saß es ebenfalls mit einem Klumpen Plastilin in den Händen da und strengte sich gewaltig an, um ihn in ein Miezekätzchen oder ein Pferd zu verwandeln. Im übrigen hatte ich sehr schnell herausgefunden, daß allen, die mit Kindern zu tun haben, Schweigepflicht auferlegt werden sollte. Denn was plauderten die unschuldigen Mäulchen nicht alles aus! Es dauerte nicht lange, und ich hatte ein ziemlich deutliches Bild von
den verschiedenen Familien. Ich wußte, daß Bippis Papa mitten in der Nacht nach Haus gekommen war, und dann war Mama so böse geworden, daß Bippi aufgewacht war. Ich wußte, daß Vivis Vater böse auf Mama wurde, wenn sie beim Morgenkaffee um Geld bat, und daß Hans Peters Tante gekommen war, um Papa zu versorgen, während Mama verreist war. Ach ja, es waren die absonderlichsten Dinge, die ich aus den vielen harmlosen Aussprüchen heraushören konnte. Ich schickte ein ganz großes Dankgebet zum lieben Gott hinauf, wenn ich an meine eigenen Eltern dachte. Wenig Geld hatten wir, das stimmte! Aber glücklich waren meine Eltern miteinander! Als es uns etwas besser ging und mein Vater das kleine Segelboot kaufen konnte, das er sich so sehr gewünscht hatte, und meine Mutter sich eine Putzfrau leisten konnte – und wir in eine Vierzimmerwohnung in einer etwas besseren Gegend zogen – oh, wie gut hatten wir es immer! Und ebenso bei Tante Beate und Onkel Mathias. Mir wurde klar, wie viel es für ein Kind zu bedeuten hat, wenn es in harmonischer Umgebung aufwachsen darf. Wie trostlos muß es für ein kleines Ding von sechs, sieben Jahren sein, Zeuge unerquicklicher Auftritte zu Hause zu sein! Wie bitter, seine Illusionen zu verlieren, ehe man sich bewußt geworden ist, daß man welche hat. Yvonne war jetzt vormittags oft zu Hause. Sie benutzte die Kinder als Modell. Schon mehrere Entwürfe waren entstanden, die mit der Zeit ausgeführt werden sollten. An unserer Tür hing ein köstliches Schild, das Yvonne gezeichnet hatte. „Wibke Grundt, Kinderparkplatz“ stand in großen, deutlichen Buchstaben darauf und rundherum kleine, drollige Zeichnungen von spielenden Kindern und Kinderwagen. Yvonne war heiter und zufrieden. Sie verdiente so gut an ihren Reklamezeichnungen, daß sie davon leben konnte. Die Stunden in der Schule hatte sie aufgegeben, sie nahmen ihr zu viel von ihrer jetzt kostbaren Zeit. Sie glühte vor Freude, als sie mir eines Tages erzählte, der „Blühende Kaktus“ sei verkauft. Und einige Tage, bevor die Ausstellung schloß, konnte auch der „Blassen Lenzsonne“ ein kleiner roter Zettel an den Rahmen geheftet werden. Yvonne hatte somit eine stattliche Summe verdient. Sicher hatte sie bestimmte Pläne damit, denn sie war schweigsam und nachdenklich. Ein, todsicheres Anzeichen, daß sie irgend etwas im Schilde führte. Es kam eines Abends, als ich über meinen endlosen Strümpfen saß und Yvonne vor ihren Reklamezeichnungen. Sie
strich sich das Haar aus der Stirn und seufzte mit einemmal auf. Die Arbeit wollte nicht recht vorangehen. Da legte sie den Stift aus der Hand und schaute zu mir herüber. „So geht das nicht, Wibke. Es juckt überall.“ „Es juckt dich?“ wiederholte ich verständnislos. „Ja. Ich komme nicht mehr weiter. Ich muß fort.“ Ein Teil meines Lebens stürzte zu einem wilden Chaos zusammen. Yvonne wollte wegfahren! Was sollte dann aus mir werden? „Wann… und wohin?“ „Nach Paris. So schnell wie möglich. Ich habe jetzt Geld. Und gerade jetzt würde ich unglaublich viel Vorteil von ein paar Stunden bei dem guten alten Professor haben.“ „Aber Yvonne! Sei doch vernünftig! Warte bis nach Weihnachten und beantrage ein Stipendium! Die Aussichten, daß es bewilligt wird, sind gut. Dann kannst du zum Sommer fahren.“ „Dann ist der Professor nicht in Paris. Er macht ewig lange Sommerfenen und läßt dann alles, was einer Arbeit auch nur von ferne ähnlich ist, stehen und liegen. Und ich brauche ihn jetzt, jetzt… verstehst du? Ich nehme mir wirklich nicht allzu viele Künstlerlaunen heraus, Wibke, das mußt du zugeben, und rede nicht übertrieben viel von Inspiration und Stimmung. Aber jetzt… gerade jetzt fühle ich, daß ich sehr viel weiterkommen würde, und ich glaube offengestanden, ich bin es mir selber und – lach nicht – meiner Kunst schuldig, wenn ich bald fahre.“ „Ja, ja. Ich verstehe das. Wann willst du reisen?“ „Spätestens in zwei Monaten. Ja vielleicht… vielleicht warte ich bis ins neue Jahr, so daß wir Weihnachten noch zusammen feiern können, du und ich. Und etwas Zeit kann ich gut noch brauchen. Ich hatte die Absicht, einige von meinen Skizzen in Ol auszuführen, damit ich ein paar Arbeiten zum Vorzeigen habe. Einige von den Kinderskizzen, und dann wollte ich gern noch ein Bild von Mouche machen. Du weißt, Kinder und Tiere, die male ich am allerliebsten.“ Gut. So wußte ich es denn. Von Weihnachten ab würde ich allein sein. Also würde wieder eine neue Epoche meines Lebens anbrechen. Am letzten Tag der Ausstellung versprach Yvonne, eine Stunde meine Kinder zu hüten. Ich mußte schnell mal hinlaufen und zum letztenmal die „Blasse Lenzsonne“ ansehen. Es war so voll von Erinnerungen, dies Bild – ich glaube, ich liebte es ebenso wie Yvonne. Es war ganz schrecklich, daran zu denken, daß es jetzt an
der Wand eines beliebigen Herrn Johansen hängen sollte. Aber Herr Johansens Geld war schließlich ebenso gut wie das Geld von irgend jemand anderem. Ich kam in die Ausstellung, als das Tor gerade aufgemacht wurde. Ein Her ging dicht vor mir hinein. Er und ich waren zunächst die einzigen Besucher. Ich sah ihn vor der „Blassen Lenzsonne“ wieder. Als ich sein Profil vor mir hatte, erkannte ich ihn. Es war Yvonnes Vater. Er bemerkte mich und grüßte. „Sie sind doch sicher… Yvonne ist doch sicher froh?“ „Ja, das können Sie sich vorstellen. Sie will so bald wie möglich nach Paris gehen.“ Da war es, als verschließe sich sein Gesicht noch mehr. Er sah von mir fort und auf das Bild. „Aha. Will sie… ihre Mutter besuchen?“ Uff – jetzt war ich aber dumm gewesen. Ich hätte viel drum gegeben, wenn ich das von Paris nicht erwähnt hätte. „O nein“, beeilte ich mich zu versichern. „Sie hört ja fast gar nichts von ihrer Mutter. Nein, sie will dort weiterstudieren. Es juckt ihr in den Fingern, wieder bei ihrem Professor arbeiten zu können. Gerade jetzt hat sie es so nötig, sagt sie.“ Herr Direktor Björgedal antwortete nicht gleich. Er starrte dauernd auf das Bild. Aber es war, als wolle er noch irgend etwas sagen. Wenn er es doch nur tun würde! Wenn er doch ein wenig Anteilnahme an seiner Tochter zeigen würde! Ob ich ihm nicht ein bißchen helfen konnte? Ich versuchte es. „Sie können mir glauben, ich graule mich davor, daß Yvonne weggeht. Sie ist so eine glänzende Kameradin. Ich weiß nicht, was ich ohne sie hätte machen sollen!“ War es nicht, als zucke es um den strengen, zusammengepreßten Mund, so als wolle sich ein Lächeln hervorstehlen? „Soso, Sie halten also viel von Yvonne?“ „Ja, und wie! Ich bewundere sie mehr, als ich je einen Menschen bewundert habe. Sie ist so… so… stark.“ „Ja, das weiß ich. Was sie will, das setzt sie durch.“ Ich war mir meiner Antwort nicht bewußt, als sie mir auch schon entschlüpft war: „Vielleicht hat sie das geerbt?“ Jetzt drehte sich Herr Björgedal ganz zu mir um. Er wollte zweifellos eben etwas antworten. Aber plötzlich ging etwas Seltsames mit ihm vor. Das verschlossene Gesicht öffnete sich, der
Anflug zu einem Lächeln wurde ein wirkliches Lächeln, seine Augen bekamen Wärme – er war ein neuer Mensch. Plötzlich sah ich die Ähnlichkeit zwischen ihm und Yvonne. Du lieber Himmel, wie waren sie sich gleich, wenn sie lächelten! Der Anlaß zu dieser Veränderung kam mit raschen, leichten Schritten hinter mir auf uns zu. „Bist du schon da, Herzchen?“ War das Björgedals Stimme? Konnte ein Mann in zweierlei Zungen reden? „Hallo, mein Lieber, hast du lange gewartet?“ „Aber gar nicht. Darf ich dir vorstellen… dies ist Yvonnes gute Freundin, Fräulein Grundt… und das ist meine Frau.“ Ein helles, sanftes Gesicht, eine zarte, anmutige kleine Gestalt. Blaue Augen und ein goldener Haarschopf. Einfaches, dunkles Kostüm, ein Gesicht, beinahe ohne Make-up. Sie wirkte rundherum sympathisch. Mit ihrem Mann zusammen ging sie zu Yvonnes Bildern und schaute sich eines nach dem anderen genau an. Dann kam er noch einmal zu mir und verabschiedete sich von mir und bat mich, Yvonne zu grüßen. Er mußte ins Büro. Die zierliche blonde kleine Frau blieb noch. Sie kam auf mich zu. Ihr Gesicht war ernst, sie richtete ihre blauen Augen auf mich. „Fräulein Grundt! Es ist schön, daß ich Sie getroffen habe. Ich möchte so gern mal mit Ihnen reden!“ Wir suchten uns eine kleine Bank in einer ruhigen Ecke. Dann kam es heraus – erst tastend, zögernd, dann fließender. Daß der Gedanke an Yvonne sie quäle und peinige. Daß sie von dem Wunsch beherrscht sei, Vater und Tochter wieder zusammenzubringen. Es sei so sinnlos, so ganz und gar unnatürlich, daß zwischen einem Vater und seiner einzigen Tochter ein so schlechtes Verhältnis bestehe. „Sie finden es vielleicht sonderbar, daß ich mit Ihnen darüber spreche“, sagte sie wie zur Entschuldigung und ein wenig schüchtern. „Aber Sie haben Yvonne sehr gern, und darum hoffe ich, Sie werden mich verstehen.“ „Ja“, sagte ich. „Ich verstehe Sie, und ich stimme ganz mit Ihnen überein. Aber sind Sie denn sicher, daß Ihr Mann es wünscht? Denn, um es geradeheraus zu fragen… macht er sich etwas aus Yvonne?“ Jetzt wurde sie lebhaft. Das etwas Verlegene und Hilflose war plötzlich von ihr abgefallen. „Ja, darauf können Sie sich verlassen. Er spricht nicht viel von ihr, Sie wissen, es ist menschlich und
natürlich, wenn man von dem, was einen wurmt, nicht viel redet. Jedenfalls ist es für meinen Mann natürlich. Aber Sie können mir glauben, er denkt viel an seine Tochter. Er hat sich alle Kritiken aus den Zeitungen ausgeschnitten. Ich habe es nicht gesehen, aber ich fand die Zeitungen hinterher mit großen Lücken drin! Er wartet und wartet, daß sie zu ihm kommen solle – und vielleicht wartet sie genauso darauf, daß er zu ihr kommt?“ Die Rede dieser kleinen hellhaarigen Frau gab mir mehr und mehr Aufschluß über alles – und ich begriff auch alles das, was sie nicht sagte. Ich begriff, daß es ihr gelungen war, die weichen und guten Seiten dieses strengen, verschlossenen Mannes aufzuspüren. Die erste, mißglückte Ehe hatte wohl das Ihre dazu getan, ihn noch verschlossener und härter zu machen. Mir wurde klar, was für ein furchtbarer Schlag es für ihn gewesen sein mußte, daß sein ganzer Stolz, die tüchtige, begabte Yvonne, nicht Jura oder Philologie studieren wollte, wie er gehofft hatte, sondern nach Paris fuhr, in das Milieu, das er verabscheute und fürchtete. Sicher hatte er gedacht, daß sie unter dem Einfluß ihrer Mutter gestanden und nur Bitterkeit gegen den Vater empfunden hatte. Wir sprachen lange miteinander, Frau Björgedal und ich. Und ich freute mich mächtig, daß ich mit unbedingter Sicherheit „Ja“ sagen konnte, als sie mich fragte, ob Yvonne sich wieder mit ihrem Vater aussöhnen wolle. „Und er… wie sehr er es wünschte!“ lachte sie. Dann wurde sie ernst und sagte: „Sie haben Yvonne gern, und ich habe ihren Vater gern. Sollten wir nicht die Richtigen sein, diese Dickschädel wieder zusammenzuführen?“ „Wir wollen es versuchen“, stimmte ich ihr bei. Am Abend redete ich mit Yvonne. Ich erzählte ihr, daß ich ihren Vater getroffen hatte und sie grüßen sollte. Sie strahlte. Dann wurde es leichter, als ich geglaubt hatte, ihr eine kleine Gardinenpredigt zu halten und sie zu bitten, ein ganz klein bißchen von ihrer Starrköpfigkeit abzulassen. Von der Stiefmutter sagte ich nichts. Sie kam erst in zweiter Linie. Yvonne entgegnete nicht viel. Sie war nicht besonders entgegenkommend, aber auch nicht abweisend. Ich wurde das los, was ich sagen wollte, und dann gingen wir zu den kleinen Tagesereignissen über. Sie schien lange auf dem herumzukauen, was ich gesagt hatte. Es war aber nicht ihre Art, sich auszusprechen. Sie mußte das Problem
mit sich selber abmachen. Aber eines Nachmittags war es soweit. „Du Wipps. Ich gehe jetzt.“ „Du gehst? Wohin denn?“ „Zu Vater. Mal muß es ja doch sein. Spuck dreimal hinter mir her.“ Wenn Yvonne sich zu etwas entschlossen hatte, führte sie es sofort aus. Sie zog den neuen grauen Pullover mit dem Rollkragen an und stülpte sich die Mütze über das schwarze glatte Haar. Da klopfte es an der Tür. Yvonne machte auf. Draußen stand ein hochgewachsener Herr. „Papa!“ sagte Yvonne. Ich begrüßte ihn flüchtig und verschwand von der Bildfläche. Wenn jemals ein ausgiebiger Besuch bei Tante Beate fällig sein sollte, dann mußte es jetzt sein.
Die Dame auf dem Nachttisch Natürlich hätte ich von vornherein einsehen müssen, daß ich Yvonne, wenn sie sich wieder mit ihrem Vater ausgesöhnt hätte, bis zu einem gewissen Grad verlieren würde. Aber ich gönnte es ihr aufrichtig, was sie jetzt erlebte: Sie ging oft „eben mal auf einen Sprung zu Papa“, wie sie sich ausdrückte. Sie und die Stiefmutter – die übrigens nur zwölf Jahre älter war als Yvonne – hatten sich in einer schlichten und unsentimentalen Art angefreundet. Sie hatten einen gutmütig-neckenden Ton angeschlagen, einen Ton, der Herrn Björgedal zu belustigen schien. Als sie eines Abends bei uns oben waren, redeten Yvonne und Frau Marianne fast die ganze Zeit, Björgedal saß still in einer Ecke und paffte seine Pfeife und hatte ein fröhliches kleines Lächeln um die Mundwinkel. Ich wurde mit Yvonne zusammen zu ihnen eingeladen. Man führte mir den kleinen Stiefbruder vor, einen süßen, munteren Schlingel, von dem Yvonne schon eine Menge Skizzen gezeichnet hatte. Alle waren sie reizend und kameradschaftlich zu mir. Und trotzdem – ich fühlte mich als fünftes Rad am Wagen! Ein wenig schmerzlich war es andererseits, aber genau dies hatte ich ja Yvonne gewünscht. Wie hatte sie sich verändert! Das heitere, frische, muntere junge Mädchen – es war nicht zu fassen, daß sie mit dem mageren, verbissenen, blassen Mädchen identisch sein sollte, aus dem kaum ein Wort herauszuholen gewesen war, und das fast nie lächelte. Ich redete sie eines Tages darauf an. „Glaubst du nicht, daß ich oft daran denke“, antwortete Yvonne und wurde ernst. „Entsinnst du dich noch des Tages, als du von Nini Geld leihen wolltest?“ „Erinnere mich bloß nicht daran“, sagte ich und fühlte, wie ich rot wurde. „Ich schäme mich, wenn ich daran denke!“ „Das brauchst du nicht. Aber freust du dich heute nicht, daß ich dich davon abhielt? Denk mal, wenn du jetzt herumgehen müßtest mit einem würgenden Gefühl, weil Nini Einblick in unsere Armut und unser Elend bekommen hat. Ist es nicht schön, das Dasein als ein freier Mensch genießen zu können und zu wissen, daß man keinem etwas zu verdanken hat?“ Yvonne hatte natürlich recht. Es war schön, ganz frei zu sein, ganz selbständig. Es verlieh einem ein stolzes Glücksgefühl, das mit
nichts anderem verglichen werden konnte. „Wie weit sind deine Reisepläne gediehen?“ fragte ich. „Oh, die sind fix und fertig. Ich sprach gerade gestern mit Papa darüber. Er scheint mich zu verstehen. Aber er kann sich durchaus nicht mit dem Gedanken anfreunden, daß ich wieder in solch einer Bude wohnen will wie das letztemal. Er will mich um jeden Preis in ein ausgezeichnetes und solides Pensionat schicken, das er von seinen Geschäftsreisen her kennt.“ „Nun, das ist doch aber nur nett und richtig von ihm.“ „Na, natürlich. Aber ich kann doch irgendwo am Stadtrand viel billiger wohnen, weißt du. Na, wir müssen mal sehen. Ich kann ja morgen zu Hause noch mal darüber reden.“ Zu Hause darüber reden. Und ob Yvonne sich verändert hatte! Sie hatte es wahrlich nie zuvor für nötig gehalten, mit irgendeinem Menschen über ihre Pläne zu reden. Und nun „zu Hause“! Sie machte ein merkwürdiges Gesicht, als sie von ihrem Besuch zurückkehrte. Es sah aus, als habe sie ein paar Tränen zerdrückt. Ohne ein Wort zu sagen, zog sie ein Stück Papier aus ihrer Handtasche und reichte es mir hin. Es war ein Scheck über zehntausend Kronen. Unterschrieben S. Björgedal. „Beitrag zur Reise“, sagte sie leise. „Papa sagte, da meine Ausbildung ihn nichts gekostet habe, sollte ich nun dies bekommen. Jetzt kann ich ein halbes Jahr in Paris bleiben. Noch dazu in einem Pensionat. Wenn ich ein Stipendium kriege, sogar noch länger.“ Ihr Gesicht strahlte. Und ich hatte nicht das Herz, sie an meine eigene Existenz zu erinnern. Ich schloß den Mund fest zu, damit mir nicht die Worte „ich werde schrecklich allein sein“ entschlüpften. Statt dessen fragte ich: „Fliegst du?“ „Nein, das wird zu teuer. Ich fahre mit dem Schiff nach Rotterdam, und weiter mit der Bahn.“ Aus irgendeinem Anlaß wanderten meine Gedanken ins Nachbarhaus hinüber. Gleichsam als Verbindung zu dem Alleinsein. Sie verweilten mit Glück und Behagen in einem reizenden kleinen Wohnzimmer mit Kamin und Fernseher. Dann wanderten sie weiter – machten vor einem Bild auf dem Nachttisch halt und kehrten darauf jäh wieder ins Atelier zurück. Dort wurde ich durch einen Aufschrei Yvonnes aus meinen Gedanken gerissen. „Wipps! Ich bin ja ein Schafskopf. Liebe, Gute, Süße… komm mit nach Paris! Nur für einen Monat! Wir warten
nicht bis zum neuen Jahr, wir fahren schon vor Weihnachten! Ich kann es mir leisten, dich einzuladen… ach, du ahnst gar nicht, wie herrlich das für uns werden wird. Wir feiern französische Weihnachten, und dann kannst du im Januar allein zurückfahren! Willst du nicht, Wipps?“ Ich hatte eine brennende Lust, „ja“ zu sagen. Aber ich konnte es nicht annehmen. Ich konnte nicht verantworten, daß Yvonne ihr Studiengeld für mich verbrauchte. Das sagte ich ihr auch. „Hör mal zu!“ Yvonnes Stimme klang energisch. „Du hast einen großen Anteil an meinem Erfolg. Hätte ich dich nicht gehabt, dann hätte ich nie die ,Blasse Lenzsonne’ malen können. Es ist nicht mehr als recht und billig, daß du die Hälfte der Einnahme bekommst. Wenn du dann ein paar hundert Kronen von der Bank abhebst, schaffen wir es. Dann können wir die Fahrt und einen Monat Aufenthalt ä la boheme bezahlen. Hast du nicht Lust, du Esel?“ Ich wußte es nicht, konnte keine Antwort geben. Das Angebot hätte ich wohl annehmen können. Aber von meinen Kindern wegreisen – es war nicht sicher, ob sie nach Weihnachten so bereitwillig wiederkamen. Schade war es, von einer Arbeit wegzufahren, die sich so gut eingelaufen hatte wie dieser Kinderparkplatz. Die Sache wurde indessen durch den Umstand entschieden, daß eine Masernepidemie ausbrach und meine Kinder wie durch einen Zauberschlag ausblieben. Ich sprach mit den Müttern, die meinten, es sei vielleicht das beste, die Kinder eine Weile zu Hause zu behalten. Als ich ihnen den Vorschlag machte, den „Parkplatz“ über Weihnachten zu schließen, waren sie sehr einverstanden. So kam es denn, daß ich „ja“ sagte. Ich sollte Paris kennenlernen! Ich stopfte, daß es mir vor den Augen flimmerte. Ich hatte einen Haufen Männersocken, die fertiggemacht werden mußten, bevor ich reiste. Ich nahm mein Mofa in Gnaden wieder auf und töffte herum und lieferte Strumpfpakete ab. Als ich an der letzten Stelle angekommen war und acht Kronen neunzig einkassiert hatte, schoß es mir durch den Kopf: Was in aller Welt sollte ich eigentlich noch mit dem Rad? Ich würde im nächsten Jahr wohl kaum mehr Blumendoktor sein wollen. Jetzt wollte ich den Kinderparkplatz weitermachen. Spornstreichs zog ich zum Händler.
Ich bekam sechshundertfünfzig bar auf die Hand gezählt. Am nächsten Tag verkaufte ich, was ich eigentlich erst kurz vor Weihnachten hatte tun wollen, was aber wegen der Reise jetzt schon erledigt werden mußte; alle meine kleinen Kaktusstecklinge an meinen Freund, den Gärtner. Es waren viel verschiedene und teilweise ziemlich seltene Arten. Sie brachten mir über 100 Kronen ein. Siehe da! Jetzt brauchte ich Yvonnes Geld am Ende nicht anzunehmen. Oder jedenfalls nur etwas davon. Als ich klein war, hatte ich eine ausgesprochene Schwäche dafür, das Beste bis zuletzt aufzuheben. Wenn ich Dickmilch aß, dann hatte ich eine ganz besondere Fertigkeit darin, die Milch wegzulöffeln, ohne daß die Sahne mitkam. Und zuletzt, wenn die anderen mit ein paar kümmerlichen blauweißen Milchresten dasaßen, konnte ich mit einer gewissen stillen Freude die ganze Sahneschicht hinunterschlürfen. Das fiel mir wieder ein, als ich nur noch ein einziges Strumpfpaket abzuliefern hatte. Es gehörte Steneng. Das hatte ich mir bis zuletzt aufgehoben. Als ich die Treppe hinaufstieg und vor der Tür mit der Aufschrift „Dr. med. Ivar Steneng“, stand, bekam ich fast einen Lachkrampf, als ich daran dachte, was er wohl dazu meinen würde, daß ich ihn die Sahne auf der Setzmilch meines Lebens nannte. „Nein, sind Sie es, Wibke? Das ist aber nett!“ Die Stimme klang ehrlich erfreut, daran war kein Zweifel. Und ich fand es schon längst nicht mehr sonderbar, daß er dazu übergegangen war, mich schlicht und einfach Wibke zu nennen. „Ich bringe die Strümpfe…“ „Ah danke, das ist schön. Sie haben sich doch hoffentlich nicht überanstrengt… ich finde, Sie haben sie diesmal äußerst fix gemacht.“ „Ja, das mußte ich… in vierzehn Tagen fahre ich nämlich nach Paris.“ „Was? So bald schon? Da sind Sie ja tüchtig gewesen im Wünschen!“ „Ach ja. Und im Geldzusammenkratzen. Ich bleibe aber nur sechs Wochen. Und ich freue mich wahnsinnig.“ „Ja, das glaube ich gern. Aber das müssen wir feiern! Wir wollen doch mal sehen, ob etwas im Saufschrank ist…“ Der „Saufschrank“ war ein höchst bescheidener kleiner
Echschrank. Er enthielt, so viel ich sehen konnte, nicht viel mehr als eine Flasche Sherry. Aber Sherry ist ja auch gut dazu geeignet, sich gegenseitig zuzutrinken. Stenengs Hand zitterte, als er eingoß, so daß ich mein Taschentuch hervorholen und die Tropfen von der polierten Tischplatte wegtupfen mußte. „Verzeihung. Ich bin ein Tolpatsch.“ Ich blickte auf sein Gesicht. Es war blaß und zerfurcht. „Ich glaube eher, nicht ich, sondern Sie haben sich überanstrengt, Herr Doktor!“ „Das habe ich vielleicht, ja. Diese Masernepidemie hat mir einen Haufen Arbeit gebracht. Außerdem vertrete ich jetzt noch einen Kollegen. Und mitten in diesem Wust von Arbeit bekam ich noch Besuch yon einem Freund und seiner Frau, mit denen habe ich jetzt ein paar Abende hintereinander gebummelt. Nun ja, prosit, Wibke!“ „Prosit, Herr Doktor!“ Er sah mich schräg von der Seite an. „Ich heiße übrigens Ivar“, sagte er, bevor er das Glas an den Mund setzte. Sollte das heißen, daß wir Brüderschaft trinken wollten? Ich öffnete den Mund, um es vorzuschlagen, ließ es dann aber bleiben. Ich hatte etwas entdeckt. Das Bild vom Nachttisch. Die wunderhübsche Frau war ins Wohnzimmer umgezogen. Sie stand auf dem Kaminsims neben ein paar anderen Fotos. Dann konnte ich ja das Bild anschauen und es erwähnen. „Was haben Sie da für ein wunderhübsches Foto!“ sagte ich und nickte zum Kamin hinüber. Er wußte sofort, welches ich meinte. „Ja, es ist schön, nicht wahr?“ Er stand auf, holte das Bild und reichte es mir. Jetzt sah ich, daß etwas darauf geschrieben stand: „Für Ivar Steneng von einer, die an ihn glaubt.“ Ich habe sicher ein fragendes Gesicht gemacht. Er setzte sich auf die Armlehne meines Sessels, reichte mir mein Glas und ergriff sein eigenes. „So, Wibke, jetzt trinken wir Brüderschaft. Ich finde, es ist an der Zeit. Und dann werde ich dir die Geschichte von Synnöve erzählen. Obwohl… ich kann sie nicht erzählen, ohne nicht auf meine eigene Unzulänglichkeit einzugehen.“ Er senkte den Kopf, zupfte etwas vom Fuß des Glases weg, lächelte versonnen und begann zu erzählen, leise und ohne zu stocken: „Die da“, er nickte dem Bild zu, „die war eine
Kommilitonin von mir. Sie fiel mir schon am Tag der Immatrikulation auf, ganz einfach, weil sie so blendend aussah. Später, im Seziersaal, hatte ich meinen Platz neben ihr. Hier machte ich die bitterste Entdeckung meines Lebens. Ich konnte kein Blut sehen! Kannst du dir denken, daß ein Baum von einem Kerl, wie ich, umkippte, während ein zartes kleines Mädchen keck und kühn bis zuletzt stehen blieb? Ich habe mich so geschämt, daß… na ja. Das schlimmste aber war, es geschah immer wieder. Die Jungens fingen schon an, mich aufzuziehen, aber im großen und ganzen waren sie gar nicht mal so schlimm. Und ich ließ nicht locker, denn nun hatte ich mich einmal entschlossen, Arzt zu werden, und wenn ich durch das ganze erste Semester hindurch ohnmächtig werden sollte. Da geschah es eines Tages, daß mir wieder so komisch wurde. Und wenn du gesehen hättest, was da auf dem Seziertisch vor uns lag und den Odeur gerochen hättest… na ja, also, ich fühlte plötzlich Synnöves Hand auf meinem Arm: ,Mir wird so übel, Steneng’, flüsterte sie. ,Würden Sie mich rausbringen?’ Aber gewiß… ich legte den Arm um Synnöve… ja, Synnöve war also der Name des Mädchens, weißt du… und führte sie hinaus und gab ihr Wasser, und dann schien sie sich zu erholen. Ich trottete wieder zu dem Grauen des Seziertisches hinein… und wurde nicht ohnmächtig! Du kannst glauben, da war ich aber froh! In dem Augenblick, als an mich Anforderungen gestellt wurden, konnte ich meine eigene Schwäche vergessen.“ Ich konnte es mir nicht verkneifen, dazwischenzuwerfen: „Darum hat Synnöve natürlich so getan, als würde ihr schlecht!“ „Aha, du hast es also sofort durchschaut? Ja, ihr Weibsleute! Ja, denk dir, jetzt war es aus mit meiner Empfindlichkeit. Nachdem ich es einmal geschafft hatte, wußte ich, daß ich es konnte… und so konnte ich es auch. Aber es sollte nicht das einzige Mal sein, daß Synnöve mir half. Wir lernten uns näher kennen, wir gehörten zum selben Freundeskreis und haben viele lustige Stunden zusammen verlebt. Aber dann kam eine Zeit, da war ich wieder furchtbar herunter. Ich hatte mich wahrscheinlich ziemlich überanstrengt. Da war Synnöve wieder da. Ob ich Lust hätte, mit ihr einen Sonntags-Skiausflug zu machen, sie sei so müde und habe Kopfweh. Wenn ich Einwände machte, erklärte sie, wir könnten ja unterwegs über Medizin reden;
ich würde ihr einen großen Gefallen tun. Nun ja, wir machten einen Skiausflug, und als ich abends nach Hause kam, war ich wieder munter und obenauf, und hatte viel mehr dabei gelernt, mit Synnöve über Medizin zu reden, als wenn ich mich seitenlang durchs Pensum geschleppt hätte. Synnöve ist nämlich klug, verstehst du. Ein merkwürdiges Menschenkind. Sie hat einen psychologischen Sinn, viel Verständnis und die Fähigkeit zu helfen. Sie hätte eine ausgezeichnete Ärztin abgegeben.“ „Ist sie denn nicht Arztin geworden?“ fragte ich. „Nein. Es kam nicht so weit. Ihr Vater starb, und sie mußte das Studium an den Nagel hängen. Sie verschwand eines Tages, fuhr in den Norden, in ihre Vaterstadt. Und wir kamen auseinander. Ich erfuhr dann nur mal, daß sie in die Krankenpflege gegangen sei.“ „Hast du sie denn später nie wiedergesehen?“ fragte ich. Mich fesselte die Geschichte von der schönen, klugen Synnöve sehr. „Aber natürlich. Ich habe jetzt seit mehreren Jahren wieder Verbindung mit ihr. Als ich mein Jahr als Medizinalassistent beendet hatte, ging ich als Assistenzarzt in ein großes städtisches Krankenhaus. Der erste Fall, bei dem ich assistieren mußte, war eine Hautübertragung. Ein armer Kerl hatte böse Brandwunden erlitten, und die Hautübertragung war notwendig, wenn sein Gesicht jemals wieder einigermaßen normal aussehen sollte. Eine der Krankenschwestern war bereit, ein Stück von ihrer Haut zu opfern. Ich sollte es ihr abnehmen, und der Chefarzt wollte flicken. Die Schwester kam, zur Operation bereit. Es war Synnöve. Ich betäubte sie örtlich und begann zu schneiden. Gerade jetzt hatte ich die Selbstbeherrschung arg nötig, die Synnöve mich gelehrt hatte. Hinterher, als alles vorüber und sie verbunden war, und wir ein paar private Worte miteinander wechseln konnten, da sagte sie nur, und zwar ziemlich trocken: ,Du hast dich rausgemacht, wie ich sehe, Ivar. Das kann man wohl einen Fortschritt nennen, wenn du deinen ehemaligen Kolleginnen am lebendigen Leibe ‚die Haut abziehen kannst!’“ Ivar machte eine Pause. Ich fragte gespannt: „Und später dann?“ „Ja, später heiratete sie einen Freund von mir, einen von den Studenten aus unserem Kreis. Als Synnöve mir erzählte, daß sie sich verlobt habe, fuhr es mir heraus: ,Wer ist der Kühne?’ Ich begreife bis auf den heutigen Tag nicht, daß ein Mann dazu die Traute hatte!
Er muß ja in jeder Beziehung zu ihr aufsehen. Es gibt nicht ein einziges Gebiet, auf dem er ihr überlegen wäre. Aber Synnöve ist so intelligent, daß sie das gut zu verbergen weiß! Sie sind glücklich, soviel habe ich gesehen. Es sind die Freunde, die ich gerade zu Besuch hier gehabt habe. Er ist irgendwo im Norden Landarzt, und jetzt sind sie wieder nach Hause gefahren zu ihrem kleinen Töchterchen.“ Ich schaute wieder auf das Bild. Aus Synnöves Augen leuchtete Güte. „Daß du dich nicht in sie verliebt hast!“ sagte ich. „Das kam, glaube ich, daher, weil sie sich meiner so mütterlich annahm. Sie sprach in keiner Weise meine männliche Überlegenheit an. Ich war im Verhältnis zu ihr nichts weiter als ein kläglicher, dummer kleiner Junge. Du weißt… ,die Sterne, die begehrt man nicht’. Ach, ich könnte dir eine Menge von Synnöve erzählen. Dies hier war nur in kleinen Zügen ihre Geschichte. Aber eines weiß ich bestimmt: Ich habe es Synnöve zu verdanken, wenn ich mein Studium durchgeführt habe und jetzt hier in einer guten Praxis sitze!“ Ich verstand ihn so gut. Ich begriff, daß es ihm ein Halt gewesen war, in dies gute Gesicht zu blicken und ihre überlegenen Worte zu hören. „Von einer, die an ihn glaubt“, wenn sich Schwierigkeiten meldeten. „Ein Wohlsein für Synnöve!“ sagte ich. Und Ivar leerte sein Glas bis auf die Neige. Aber da entschlüpfte es mir, ohne daß ich darüber nachdachte: „Warum hast du sie denn nicht mehr auf dem Nachttisch stehen?“ Da lächelte Ivar so schalkhaft, wie ich es ihm nie zugetraut hätte. „Aha!“ sagte er gedehnt. „Es ist dir also nicht entgangen, daß sie auf dem Nachttisch gestanden hat! Du bist also in gewisser Hinsicht ein ganz durchschnittliches kleines Weib, Wibke! Die weibliche Neugierde, weißt du – komm mal mit, dann werde ich dir zeigen wieso!“ Er legte seinen Arm um meine Schultern, schob mich auf die Schlafzimmertür zu, machte sie auf. Auf dem Nachttisch stand ein anderes Bild. Eine winzig kleine Amateurfotografie. Ich mußte ganz nahe herangehen, um sie erkennen zu können. Auf der Fotografie war ich selber abgebildet, auf unserer Verandatreppe mit Kille auf dem Arm. „Ja, es stimmt“, lachte Ivar. „Ich habe sie gestohlen. Und du
kriegst sie nicht zurück.“ Und auf einmal hatte er seine Arme ganz, ganz fest um mich geschlungen, und als er mich küßte, meinte ich, das Herz sollte mir vor Glück zerspringen. Er führte mich vor den Kamin und sprach leise und ruhig. Die ganze Zeit fühlte ich den festen Arm um meine Schultern. „Du sollst mir nichts versprechen, Wibke. Ich werde dich nichts fragen und dich um nichts bitten. Jetzt fährst du erst einmal nach Paris, du sollst frei und heiter sein und dich in keiner Weise gebunden fühlen. Lernst du nette Menschen kennen, dann vergnüge dich mit ihnen, benimm dich so, wie du es getan hättest, bevor wir uns kannten… so kannten, wie wir uns jetzt kennen. Wenn du mir ab und zu ein paar Zeilen schreibst, machst du mir damit eine sehr große Freude… das weißt du hoffentlich. Und wenn du zurückkommst, werde ich auf der Landungsbrücke stehen. Ich gönne dir diese Reise von ganzem Herzen, Wibke, aber ich müßte lügen, wollte ich behaupten, daß ich mich nicht darauf freue, dich wieder hier zu haben!“ „Ich habe jetzt keine Lust mehr zu fahren“, flüsterte ich. „Doch, das hast du. Gerade jetzt sollst du fahren. Vielleicht wirst du hin und wieder an mich denken, wenn du oben auf dem Eiffelturm stehst oder wenn due im Park von Versailles spazierengehst oder…“ „Ja, immer. Jeden, jeden Tag!“ sagte ich. „Ich werde auch an dich denken. Gibt es was Schöneres als sich wieder zu treffen, wennn man eine Zeitlang getrennt war, und die ganze Zeit aneinander gedacht hat?“ „Du scheinst Erfahrung zu haben“, lächelte ich. „Empfindest du es so, wenn du Synnöve triffst?“ Jetzt wurde Ivars Gesicht ganz ernst. „Das ist etwas anderes. Synnöve habe ich gern. Sehr gern. Aber dich…“ „Aber mich… was ist es mit mir?“ „Ach, nichts. Das sage ich dir ein andermal.“
„Aber dich.!“
Yvonne und ich hatten das Kränzchen bei uns. Wir waren an der Reihe, und gleichzeitig war es eine Abschiedsfeier. Unsere „Quasselwerkzeuge“ (wie Yvonne sagt) liefen auf Hochtouren. Jede erzählte von sich. Dann fragten sie uns kurz und klein und beneideten uns ungehemmt um unsere Reise. „Kinder!“ sagte plötzlich Margrethe. „Wißt ihr noch damals im Winter, als wir bei Gertie waren, und wir uns darüber zankten, ob man sich ohne eine feste Arbeit und ohne eine besondere Ausbildung selbst versorgen könnte?“ Doch. Sie nickten und erinnerten sich. „Wir haben uns gar nicht einigen können. Aber jetzt wissen wir es. Denn jetzt hat Wibke es ausprobiert. Es ist also möglich, Wibke?“ „Ja“, sagte ich. „Es ist möglich. Wir sprachen davon, daß man siebenhundert Kronen im Monat braucht, um leben zu können. Gut, ich habe gerade meine Einnahmen zusammengezählt. Durchschnittlich habe ich pro Monat siebenhundertvierundachtzig geschafft. Netto!“ „Aber dann hast du auch viel Glück gehabt“, meinte Liese. Da wurde Yvonne plötzlich eifrig. „Nein!“ sagte sie. „Es war kein Glück, es waren Ideen und Mut und Fleiß! Wibke hat auch Pech gehabt. Im Frühjahr war sie beinahe einen Monat krank. Aber eines möchte ich sagen, und ihr vier dürft es gern mit anhören, obwohl es wohl eigentlich nur Wibke und mich angeht: Sie ist ein prachtvoller Kamerad, und tapfer und unsentimental im Kampf ums Dasein. Nie hat sie über Müdigkeit geklagt, nie hat sie den Mut verloren. Schließlich ist das der Grund, warum sie es geschafft hat. Prost mit Zitronentee, Wibke, und danke für diese Zeit, die wir zusammen erlebt haben!“ Mir blieb die Sprache weg, und ich merkte, wie meine Wangen glühten. Diese Rede kam so ganz unerwartet. Eigentlich war es ein bißchen peinlich, so plötzlich der Mittelpunkt zu sein. Es wurde weitergeplaudert. Nur ich schwieg. Ich saß da und ließ die Gedanken zurücklaufen. Es kam mir so ewig lange vor, seit dem Morgen, als ich in meinem grünen Overall startete, um meine Laufbahn als „Blumendoktor“ anzufangen. Es war so lange her, daß es Sommer war, und ich zu meinen Katzen fuhr, während zu Hause das Atelier in ein Treibhaus für anderer Leute Topfpflanzen
umgewandelt war. Dann dachte ich an das Pensionat Bakkelund, an das Feuer und an meine Schlankheitsdamen. Dann die durchlöcherten Wollsocken, und zuletzt an das Kinderparken. Und jetzt würde ich nach Paris fahren. Himmel, war das ein inhaltsreiches Jahr gewesen! Ich hatte es geschafft, selbst, durch meine eigene Arbeit. Die Summe, die ich nach dem Brand ausgezahlt bekommen hatte, war kaum angebrochen. Für das Geld wollte ich ja jetzt nach Paris fahren. Aber das, wovon ich gelebt hatte, das, womit ich Miete und Gas und Strom und Essen bezahlt hatte, dafür hatte ich ehrlich geschuftet. Dann, zuletzt, dachte ich an etwas, das ich den anderen nicht erzählte. Etwas das so merkwürdig und so wunderbar war, daß ich es noch lange für mich allein behalten wollte. Gleich würde die Schiffsglocke zum drittenmal läuten. Ivar war gerade von Bord gegangen. Jetzt stand ich an der Reling, den Blick auf sein Gesicht gerichtet. Er lächelte. Das Lächeln und sein Blick gaben mir ein Gefühl des Gebundenseins, viel mehr als ein glatter Ring und eine offizielle Verlobungsanzeige es getan hätten. Jemand fragte etwas wegen eines Koffers. Ich mußte für einen Augenblick in unsere Kabine. Da schlug mir der Duft von einem großen Nelkenstrauß entgegen. War er wohl für mich, oder für Yvonne, oder für eine der beiden Damen, mit denen wir die Kabine teilten? Es war mein Name, der auf dem Kuvert stand. Ich riß es auf. Auf der Karte stand eine einzige Zeile: „… aber Dich liebe ich.“ Mit der Karte in der Hand winkte ich Ivar zu. Ich konnte ihn nicht mehr deutlich sehen. Zum Teil, weil die Entfernung immer größer wurde, zum Teil, weil ein Nebel mir vor den Augen lag. Plötzlich wußte ich, worauf ich mich bei dieser Reise so wahnsinnig, so unbändig freute. Ich freute mich darauf, wieder zu Hause zu sein.