Frank Thomas Grub ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur Band 1
Frank Thomas Grub
›Wende‹ u...
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Frank Thomas Grub ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur Band 1
Frank Thomas Grub
›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur Ein Handbuch Band 1: Untersuchungen
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
P Gedruckt auf säurefreiem Papier, E das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017775-7 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
” Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt: Band 1 1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
2
„Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb des ehemaligen „Leselandes“ . . . . . . . . .
17
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8 2.2.9 2.2.10 2.3 2.4 2.5
3 3.1 3.2
Die DDR – ein „Leseland“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Situation der Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau-Verlag, Berlin / Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volk & Welt, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) / Leipzig . . . . . . . . . . . . Hinstorff-Verlag, Thuhoff-Verlag, Rostock . . . . . . . . . . . . Eulenspiegel / Das Neue Berlin, Berlin – edition ost, Berlin Neues Leben, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volk und Wissen, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neugründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der ‚Wende‘ auf westdeutsche Verlage . . . Buchhandel und Bibliothekswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Situation der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . Uneinig in die Einheit: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akademie der Künste, Schriftstellerverband und P.E.N. . . ‚Literatur der ‚Wende‘ ‘ oder ‚Wendeliteratur‘?– Versuch einer Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 23 27 31 34 35 36 37 38 39 41 46 48 52 57
68
Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einem Phantom: der ‚große Wenderoman‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs I: Anna Seghers: Der gerechte Richter (1990) . . .
71 84 90
4
Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘ . . . . . . . . . . . .
96
4.1 4.2 4.3 4.4
Zur Sprache der ‚Wende‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 110 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Sprache im ‚essayistischen Roman‘ – Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992) . . . . . . . . . . . 122
VI
Inhalt
5
Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
5.1 5.1.1
Debatten und Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . Verschlafene Beobachter? – Die Intellektuellen und die ‚Wende‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Privilegien – die Kluft zwischen Intellektuellen und restlicher Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Topos vom Schweigen“ (Helmut Peitsch) . . . . . . . . Konkret: Die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Herbst 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Illusion von der Realisierbarkeit eines demokratischen Sozialismus nach der ‚Wende‘ . . . . . . . . . Exkurs II: Geistliche Texte zu ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ . . . . Die Antipoden Grass und Walser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Das Monstrum will Großmacht sein“ – Günter Grass . . Exkurs III: Günter Grass: Ein weites Feld (1995) . . . . . . „Die sanfte Revolution in der DDR: für mich das liebste Politische, seit ich lebe […].“ – Martin Walser . . . Die Extreme versöhnen – Günter de Bruyn . . . . . . . . . . . Nation, Vereinigung und ‚Normalisierung‘ – erste Debatten nach dem Herbst ’89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlust der Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essays zum Thema Utopieverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Heins Parabel Kein Seeweg nach Indien (1990) Ein Stellvertreterkrieg: der ‚deutsch-deutsche Literaturstreit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Geist und Macht‘ – Staatssicherheit und Literatur . . . . . Eine neue Debatte: Heiner Müller und Christa Wolf . . . . Sascha Anderson und der bröckelnde Mythos vom Prenzlauer Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Fall „Mitsu“: Monika Maron . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Umgang mit Akten: Chancen und Risiken . . . . . . . . Die Stasi in der ‚Wendeliteratur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs IV: Vom „Gefühlsstau“ zum „gestürzten Volk“ – Psychologische Erkenntnisse zur ‚Wende‘ . . . . . .
5.1.1.1 5.1.1.2 5.1.1.3 5.1.1.4
5.1.2 5.1.2.1 5.1.2.2 5.1.2.3 5.1.3 5.1.4 5.1.4.1 5.1.4.2 5.1.5 5.1.6 5.1.6.1 5.1.6.2 5.1.6.3 5.1.6.4 5.1.6.5
5.2 5.2.1 5.2.1.1 5.2.1.2 5.2.1.3 5.2.1.4
‚Ich‘ und die ‚Wende‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protokolle, Porträts, Reportagen und Tagebücher . . . . . . Protokoll-Literatur und Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . Porträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reportagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagebücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130 132 136 141 147 155 159 162 163 167 171 177 179 186 187 192 196 210 218 224 230 232 239 243 248 255 255 268 270 273
Inhalt
5.2.1.5
5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.2.3 5.2.2.4 5.2.2.5 5.2.2.6 5.2.2.7 5.2.2.8 5.3 5.3.1 5.3.1.1 5.3.1.2 5.3.1.3 5.3.1.4 5.3.2 5.3.2.1 5.3.2.2 5.3.2.3 5.3.2.4 5.3.2.5 5.3.3 5.3.3.1 5.3.3.2 5.3.3.3 5.3.3.4 5.3.4 5.3.4.1 5.3.4.2
Ein literarisches Tagebuch – Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine (1990); weitere Tagebuchnotizen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern . . . . . . . . . . . . Autobiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elfriede Brüning: Und außerdem war es mein Leben (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter de Bruyn: Zwischenbilanz (1992) – Vierzig Jahre (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Kant: Abspann (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rita Kuczynski: Mauerblume (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus (1993) . . . . . Neuauflagen, Neuausgaben und Fortsetzungen . . . . . . . . Fiktionale Autobiografien und die Autobiografie in der fiktionalen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identitätssuche einer Schriftstellerin – Christa Wolf: Was bleibt (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angst, Entfremdung und Identitätssuche . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einer neuen Sprache . . . . . . . . . . . . . Was bleibt im Kontext des Wolfschen Werkes . . . . . . . . . Titel und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reden als Befreiung und gegen das Vergessen – Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck (1991) . . . . . . Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Demontage eines Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Strudel der ‚Wende‘-Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sinnbild des Birnbaums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verabschiedung eines Gründervaters – Monika Maron: Stille Zeile sechs (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Konflikt zwischen Rosalind und Beerenbaum als Generationenkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Konflikt zwischen Rosalind und Beerenbaum als Freudsche Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Realität und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freundschaft statt Utopie – Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umgang mit der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entlarvung gängiger Ost-West-Diskurse . . . . . . . . . . .
VII
289 299 308 309 312 315 318 321 323 325 328 332 333 335 339 343 345 346 348 350 352 353 354 356 362 365 368 369 370 375
VIII Inhalt 5.3.4.3 5.3.4.4 5.3.5 5.3.5.1 5.3.5.2 5.3.5.3 5.3.5.4 5.3.6 5.3.6.1 5.3.6.2 5.3.6.3 5.3.6.4 5.3.7
5.3.7.1 5.3.7.2 5.3.7.3 5.3.8 5.4 5.4.1 5.4.2
Freundschaft statt Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abendspaziergang (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der unfreiwillige Aufstieg eines ‚überzeugten Vertreters‘ – Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen (1995) . . . Hinrich Lobek – die Biografie eines Anti-Helden . . . . . . . Ost-West-Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aspekt der Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs V: Weitere ‚Wende‘-Texte von Jens Sparschuh . . . Alltag nach der ‚Wende‘ – Ingo Schulze: Simple Storys (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altenburg als Schauplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modernisierung als Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chroniken der ‚Wende‘ – Erich Loest: Nikolaikirche (1995) und Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999) . . . . . . . . . . Aufbau und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Wende‘-Legenden und ihre Demontage . . . . . . . . . . . . . . Die Einheit als Ernüchterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein ‚Nachwenderoman‘ – Uwe Timm: Johannisnacht (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4.8
Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Keine Zeit für Lyrik“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Bilanz gelebten Lebens – Schreiben über das Land unmittelbar vor dem Mauerfall . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Wende‘ und Fall der Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschied von der DDR / Ankunft in der Bundesrepublik . Grenz-Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unvollkommene Revolution und Schwierigkeiten im vereinigten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Wendegedicht‘ schlechthin: Volker Braun: Das Eigentum (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kuriose ‚Lyrik‘ – Erich Honecker: Tiefe Eindrücke (1993)
5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5
Dramatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Hein: Die Ritter der Tafelrunde (1989) . . . . . . Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten (1990) . . . Botho Strauß: Schlußchor (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Pohl: Karate-Billi kehrt zurück (1991) . . . . . . . . . . Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar (1993) . . . . . . . . . . . .
5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.4.7
381 383 384 385 387 390 393 394 399 400 402 403 404
408 409 411 413 414 417 417 427 428 433 448 452 457 463 466 479 484 491 505 513
Inhalt
IX
6
Abschied und Ankunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.3.1 6.1.3.2 6.1.3.3 6.1.4
Von IMs und Alteigentümern – Aspekte der Figurengestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der IM – das (un)erkannte Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wendehals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Typen ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Zoo-Blicke‘ aufs ‚Ossiland‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Wossis‘: ‚Wessis‘ im ‚Ossiland‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alteigentümer und westdeutscher Investor . . . . . . . . . . . .
529 529 533 538 539 540 549 555
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ostalgie‘ und Ostprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die DDR lebt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ostalgie‘ und Ost-Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
558 563 573 579
6.3 6.3.1 6.3.1.1 6.3.1.2 6.3.1.3 6.3.1.4 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.4.1 6.3.4.2
‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik . . . . ‚Verfall‘ und ‚Aufbau‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untergang: ‚Verfall‘ und Abbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neubeginn: ‚Aufbau‘ und Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Abbruch versus Aufbruch? . . . Keine Chance zum Neubeginn: Selbstmorde . . . . . . . . . . Das Eigene geht, das Fremde kommt . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinigung – sexuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Motiv der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arno Surminski: Kein schöner Land (1993) . . . . . . . . . . . ‚Zeit‘ in weiteren fiktionalen Texten und Essays . . . . . . .
592 593 593 599 603 606 610 614 619 620 623
6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.2.1 6.4.2.2 6.4.3
Die ‚Wende‘ – intertextuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Die Welt ist Text‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bezüge zur antiken Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Braun: Iphigenie in Freiheit (1992) . . . . . . . . . . . . Christa Wolf: Medea. Stimmen (1996) . . . . . . . . . . . . . . . Muttermörder Brussig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
636 636 646 647 659 663
6.5
Von Utopia nach Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
7
Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
Inhalt: Band 2 Zur Titelaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Abkürzungen / Kurztitel von Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . XIII 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
1.8 1.9 1.10
Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dramatik / Drehbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiografien / Erinnerungen / Erfahrungsberichte / Tagebücher / Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protokoll-Literatur und verwandte Formen . . . . . . . . . . . Essays / Reden / Briefe / Reportagen / Gespräche / Kommentare / Kolumnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hörspiele / Features (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildbände / Text-Bild-Bände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Dokumentationen / Sachbücher (Auswahl) . . . . . . . . . . . . 210
3
Tonträger (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
4 4.1 4.2 4.3 4.4
Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monografien / Sammelbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufsätze / Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monografien, Aufsätze und Materialien zu einzelnen Themen bzw. Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . Buchhandel / Bibliotheken / Verlagswesen / Literarisches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatssicherheit und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.6 1.7
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4
1 1 8 80 95 109 127 133 197 198 202
231 231 231 238 265 265 282 292 297
1
Einleitung
Die meisten Menschen in Ost und West dürften sich 1989 mit der staatlichen Teilung Deutschlands weit gehend abgefunden gehabt haben.1 Besonders jüngere Westdeutsche fühlten sich der DDR so gut wie nicht verbunden: Der Staat zwischen Elbe und Oder war ihnen fremder als irgendein Staat des westlichen Auslands. ‚Wende‘ und Vereinigung2 kamen also eher unvorhergesehen und überraschend. Wie – im wahrsten Sinne des Wortes – ‚unglaublich‘ der Fall der ‚Mauer‘ war, beschreibt Günter Grass sehr anschaulich in seiner Chronik Mein Jahrhundert (1999), deren Beitrag zum Jahr 1989 selbstverständlich der ‚Wende‘ gewidmet ist: Während wir [das Ehepaar Grass; F.Th.G.] uns […] Behlendorf näherten, lief im sogenannten „Berliner Zimmer“ des Bekannten meines Bekannten mit fast auf Null gedrehtem Ton das Fernsehen. Und während noch die beiden bei Korn und Bier über das Reifenproblem plauderten und der Parkettbesitzer meinte, daß an neue Reifen im Prinzip nur mit dem „richtigen Geld“ ranzukommen sei […], fiel meinem Bekannten mit kurzem Blick in Richtung tonlose Mattscheibe auf, daß dort offenbar ein Film lief, nach dessen Handlung junge Leute auf die Mauer kletterten, rittlings auf derem obersten Wulst saßen und die Grenzpolizei diesem Vergnügen tatenlos zuschaute. Auf solche Mißachtung des Schutzwalls aufmerksam gemacht, sagte der Bekannte meines Bekannten: „Typisch Westen!“ Dann kommentierten beide die laufende Geschmacklosigkeit – „Bestimmt ein Kalter-Kriegs-Film“ – und waren bald wieder bei den leidigen Sommerreifen und fehlenden Winterreifen. […] Während wir bereits im Bewußtsein der kommenden, der mauerlosen Zeit lebten und – kaum zu Hause angekommen – die Glotze in Gang setzten, dauerte es andererseits der Mauer noch ein Weilchen, bis endlich der Bekannte meines Bekannten die paar Schritte übers frischverlegte Parkett machte und den Ton des Fernsehers voll aufdrehte. Ab dann kein Wort mehr über Winterreifen.3
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Zur westdeutschen Sicht vgl. Gerhard Herdegen: Perspektiven und Begrenzungen. Eine Bestandsaufnahme der öffentlichen Meinung zur deutschen Frage. Teil 1: Nation und deutsche Teilung. In: Deutschland Archiv 20 (1987) 12, S. 1259-1273. Der Begriff ‚Vereinigung‘ ist dem – historisch falschen – der ‚Wiedervereinigung‘ vorzuziehen, denn 1990 wurden zwei Staaten vereinigt, die in dieser Form zuvor keine Einheit gebildet hatten. Günter Grass: 1989. In: G.G.: Mein Jahrhundert. Göttingen 1999; S. 332-335, S. 333f.
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Für viele Menschen, vor allem in der DDR bzw. den östlichen Bundesländern4, dürfte die ‚Wende‘ eines der wichtigsten Ereignisse, wenn nicht das einschneidendste Ereignis in ihrem Leben gewesen sein. Der 1951 in Dresden geborene Schriftsteller Michael Wüstefeld bringt dies in seiner Erzählung Grenzstreifen (1993) zum Ausdruck, die er mit den Sätzen eröffnet: Es war der Sommer nach der Grenzöffnung. Für uns, in deren Geburtsurkunden für immer DDR eingetragen bleibt, hatte eine andere Zeitrechnung begonnen. Für uns gab es ein neues Jahr Null.5
Auch Birgit Herkula (*1960) bezieht sich in Am Ende eines langen Ganges gleich im ersten Satz auf die ‚Wende‘; sie spricht nicht von neuer „Zeitrechnung“, benennt aber eine „neue Zeit“: Als die neue Zeit anbrach, kaufte sich Marie von ihren Ersparnissen ein kleines, pinkfarbenes Auto, das aussah wie eine fröhliche Kiste.6
Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass der Fall der Mauer literarisch oft zum ‚unerhörten Ereignis‘ im Goetheschen Sinne überhöht wird, etwa in Thea Herolds (*1960) Erzählung Die Augen der Malerin (1996): Das war der Anfang. Und dann ging sie auf. Nein, sie fiel um. Die Mauer fiel um. Die Mauer fiel der Länge nach um. Die Malerin konnte gerade noch die Zehen wegziehen. Immer, wenn sie sich am Anfang fühlte, fiel etwas um. Manchmal ein Bücherstapel oder ein Weinglas oder sie selbst. Diesmal also die Mauer. Der Anfang ist ein Hunger. Ein weißer Tunnel aus Nichts. Sie weiß nichts. Es geht nichts. Es hält nichts. Es zählt nichts.
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Auch der Begriff ‚neue Bundesländer‘ ist historisch nicht korrekt, denn: „Die neuen Länder sind so alt wie die alten Länder; allerdings sind die meisten der ersteren ein Stück älter als die meisten der letzteren. Sie alle sind Gründungen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die auf dem von ihnen eingenommenen deutschen Staatsgebiet, soweit es nicht an Polen und die Sowjetunion gefallen war, eine föderale Ordnung auf der Grundlage von Landesgrenzen einrichteten, die nur zum Teil […] historisch begründet waren. […] Die Bezeichnung neue Länder für die 1945 großenteils noch vor den Ländern der Westzonen gebildeten Länder der sowjetischen Besatzungszone läßt sich nicht aufrechterhalten. Richtiger wäre es, von den östlichen Ländern der neuen deutschen Republik zu sprechen […].“ (Friedrich Dieckmann: Die neuen Länder. In: Deutschland in kleinen Geschichten. Hrsg. von Hartmut von Hentig. München 1995; S. 95-99, S. 95 u. 99; Hervorhebung im Original). Michael Wüstefeld: Grenzstreifen. Warmbronn 1993 (Roter Faden 36), S. 3. Die im ersten Satz evozierte neue ‚Zeitrechnung‘ zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Text, an dessen Ende der Eingangssatz wieder aufgenommen wird. Birgit Herkula: Am Ende eines langen Ganges. In: B.H.: Das fröhliche Ende einstürzender Burgen. Kurzprosa. Mit Zeichnungen von Iris Hartmann. Magdeburg 1994; S. 100f., S. 100.
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Diesmal ging es nicht nur ihr so, sondern allen. Die ganze Stadt vergaß sich. Sie schwebte. Und soff. Und feierte. Sie grölte. Sie vergaß alles Vorher. Sie wurde blaß vor Schreck und dann rot vor Eifer. Und die Stadt tat so, als hätte sie es genauso gewollt. Als wäre ihr ganzer Irrsinn in die Mauer hineingegangen, die man nun selig davonschleppte, als hätte die Mauer alle sanktionierten Halbheiten entschuldigt, und von nun an wollte man so leben, wie es geschrieben stand. Die Mauer verschwand schnell, und eilig verschleppte man Segment für Segment mit Bulldozern und auf Lastzügen. Nachts donnerten die Tieflader an der Veranda vorbei.7
In Volker Brauns ebenfalls 1996 erschienener Erzählung Die vier Werkzeugmacher heißt es dagegen verhaltener: […] kurz nach dem Auftritt der Massen wurde die Mauer (der sogenannte Schutzwall) geöffnet – halb aus Versehen, indem der verständliche Beschluß mißverständlich voreilig vorgelesen wurde von einem unfreiwilligen Eulenspiegel, wie er im Apparat nicht zu erhoffen war; man nahm das Papier für bare Münze, und einer setzte einen Fuß hinüber und kein Schuß fiel und er zog den anderen Fuß nach, vor den fassungslos aufatmenden Wachposten. Schon dieser komische Vorgang hätte können stutzen machen, denn in dem kleinen Land, das sich eben reckte innen und in Bewegung war, war nun kein Halten mehr, und statt zu retten begann alles zu rennen.8
Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie unterschiedlich der Fall der Mauer in der Literatur dargestellt bzw. verarbeitet wird. Wie auch immer man die Ereignisse bewerten mag, die damit einhergehenden Veränderungen sind offensichtlich. Die Ereignisse der ‚Wende‘, die Vereinigung von Bundesrepublik und Deutscher Demokratischer Republik, vor allem aber die Folgen dieser Prozesse haben tiefe Spuren in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hinterlassen – und das bei weitem nicht nur in Deutschland. Zahlreiche Sondersendungen in den Medien, verstärkt im November 19999, aber auch im Oktober 2000, belegen das nicht nachlassende Interesse an ‚Wende‘ und ‚Einheit‘. Wann die Voraussetzungen für diese Ereignisse geschaffen wurden, ist nicht eindeutig festzulegen: Vieles spricht für die Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU im März 1985 und seine Politik, die mit den Schlagworten ‚glasnost‘ und ‚perestroika‘ umrissen werden kann; anderen Auffassungen zufolge ist bis zur Umsetzung des so genannten 7
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Die Augen der Malerin. Die Mauer fiel der Länge nach um. Die Malerin konnte gerade noch die Zehen wegziehen. Der Tag, an dem dies geschah, stand nicht im Kalender. Eine Erzählung von THEA HEROLD. In: Das Magazin (1996) 11; S. 43-47, S. 44. Volker Braun: Die vier Werkzeugmacher. In: Sinn und Form 48 (1996) 2; S. 165-180, S. 166; Hervorhebung im Original. Vgl. etwa das Programmheft von DeutschlandRadio – Die zwei Programme 1999 (11).
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‚NATO-Doppelbeschlusses‘ 1983 oder sogar bis zu den Ostverträgen von 1970 zurückzugehen.10 Für die Schriftstellerinnen und Schriftsteller kann mit gewissen Einschränkungen der X. Schriftstellerkongreß der DDR (1987) als Ausgangspunkt angesetzt werden; damals kam es zu mehreren Zwischenfällen: So verlangte Horst Matthies die Änderung der Tagungsordnung und „wünschte sich Plenartagungen mit Reden und freier Diskussion“11, und Christoph Hein forderte in seiner Rede innerhalb der Arbeitsgruppe IV Literatur und Wirkung die Abschaffung der Zensur12: Das Genehmigungsverfahren, die staatliche Aufsicht, kürzer und nicht weniger klar gesagt: die Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar.13
Dabei kritisierte Hein auch den Aspekt der Selbstzensur: Und der Autor, dem es nicht gelingt, aus seiner Arbeit die ihr folgende Zensur herauszuhalten, wird gegen seinen Willen und schon während des Schreibens ihr Opfer: er wird Selbstzensur üben und den Text verraten oder gegen die Zensur anschreiben und auch dann Verrat an dem Text begehen, da er seine Wahrheit unwillentlich und möglicherweise unwissentlich polemisch verändert.14
Die Tagung endete mit einem Eklat, da der für Umweltfragen zuständige Minister Hans Reichelt, der die Zuhörer eigentlich hatte beruhigen sollen, vom Podium geklatscht wurde.15 10
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Vgl. Horst Teltschik: Vorwort zu: H.T.: 329 Tage. Innenansichten der Einigung. Berlin 1991; S. 7-9, S. 7. Teltschiks Auffassung dürfte gewagt sein, zumal damit indirekt zum Ausdruck gebracht wird, die ‚Wende‘ wäre vom Westen betrieben worden. Dieter Schlenstedt: Der aus dem Ruder laufende Schriftstellerkongreß von 1987. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40); S. 16-31, S. 17; Hervorhebung im Original. Heins Rede ist zweifellos von großer Bedeutung für das An- und Aussprechen von Missständen nicht nur im Literaturbetrieb der DDR. Es ist allerdings vor einer Überschätzung zu warnen. Der Text wurde häufig wieder abgedruckt, fast immer fehlt der Hinweis, dass die Rede ‚lediglich‘ in einer Arbeitsgruppe, nicht aber im Plenum gehalten wurde. Das schmälert den Inhalt des Geäußerten sicher nicht, wohl aber dessen Wirkungsgrad. Christoph Hein: Literatur und Wirkung. In: X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppen. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988; S. 224-247, S. 228. Es mag auch Heins Verdienst gewesen sein, dass das im Wesentlichen seit der Zeit der sowjetischen Militäradministration bestehende Druckgenehmigungsverfahren im Frühjahr 1989 abgeschafft wurde. Ebd., S. 229. Vgl. zu diesem Komplex die beiden Bände X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Plenum. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988 sowie X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppen. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988.
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Im Rahmen einer in erster Linie literaturwissenschaftlich motivierten Untersuchung können die historisch-politischen Ereignisse nicht eigens in befriedigendem Umfang und mit der gebotenen Differenzierung dargestellt werden. Im Folgenden seien daher lediglich einige ‚Eckdaten‘ genannt16: im Vorfeld die Proteste der Bevölkerung nach den Aktionen der Staatssicherheit gegen die Berliner Umweltbibliothek im Herbst 1987, die Vorgänge im Umfeld der traditionellen Demonstration zum Gedenken an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1988 in Ost-Berlin, die Proteste gegen mögliche Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989, die Besetzung von Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in mittel- und osteuropäischen Staaten im Sommer und Frühherbst 1989
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Für detaillierte Informationen vgl. Hannes Bahrmann / Christoph Links: Chronik der Wende. Die DDR zwischen 7. Oktober und 18. Dezember 1989. Berlin 1994. Der Vorläuferband war noch während der eigentlichen Geschehnisse verfasst worden und erstmals 1990 in je einer ost- und einer westdeutschen Ausgabe erschienen: Hannes Bahrmann / Christoph Links: Wir sind das Volk. Die DDR zwischen 7. Oktober und 17. Dezember 1989. Eine Chronik. Berlin (DDR) / Weimar (Texte zur Zeit) bzw. Wuppertal 1990; Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt. Hrsg. von Volker Gransow und Konrad H. Jarausch. Köln 1991 (Bibliothek Wissenschaft und Politik, Band 47); Keine Gewalt! Der friedliche Weg zur Demokratie. Eine Chronik in Bildern. Hrsg. von Norbert Heber und Johannes Lehmann. 2., überarbeitete Auflage. Berlin 1991; Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989. 8. Auflage. Berlin 1999; Werner Kern: Drei letzte Jahre. Vom Sturm auf die Zionsbibliothek bis zur deutschen Einheit. Korrespondentenberichte aus Ost-Berlin vom [sic] November 1987 bis Oktober 1990. Blieskastel 2000; Bernd Lindner: Die demokratische Revolution in der DDR 1989 / 90. Bonn 1998 (Deutsche ZeitBilder); Chronik der Ereignisse in der DDR. Hrsg. von Ilse Spittmann und Gisela Helwig. 4. erweiterte Auflage. Köln 1990 (Edition Deutschland Archiv); Ulrich Mählert: Kleine Geschichte der DDR. München 1998 (Beck’sche Reihe); Hermann Weber: DDR. Grundriß der Geschichte 1945-1990. Vollständig überarbeitete und ergänzte Neuauflage. Hannover 1991 (Edition Zeitgeschehen); Werner Weidenfeld / Karl-Rudolf Korte (Hgg.): Handbuch zur deutschen Einheit. Durchgesehener Nachdruck. Bonn 1994. Unter besonderer Betonung der Rolle der protestantischen Kirche vgl. Gerhard Rein: Die protestantische Revolution 1987-1990. Ein deutsches Lesebuch. Mit Graphiken von Manfred Butzmann und Martin Hoffmann. Berlin 1990. Speziell für Leipzig vgl. Thomas Ahbe / Michael Hofmann / Volker Stiehler: Wir bleiben hier. Erinnerungen an den Herbst ’89. Mit einer Chronik von Uwe Schwabe. Leipzig 1999 (die ausführliche Chronik umfasst das Gebiet der gesamten DDR); Neues Forum Leipzig: Jetzt oder nie – Demokratie. Leipziger Herbst ’89. Mit einem Vorwort von Rolf Henrich. Leipzig 1989 / München 1990; Leipziger DEMONTAGEBUCH. DEMO. MONTAG. TAGEBUCH. DEMONTAGE. Zusammengestellt und mit einer Chronik von Wolfgang Schneider. Leipzig 1990 sowie Von Leipzig nach Deutschland. Oktober ’89 / Oktober ’90. Zeittafel und Fotografien. Mit einem Vorwort von Stadtpräsident Friedrich Magirius und einem Nachwort von Heinz Czechowski. Leipzig 1991; analog für Dresden siehe Eckhard Bahr: Sieben Tage im Oktober. Aufbruch in Dresden. Hrsg. mit freundlicher Unterstützung der „Gruppe der 20“, Dresden. Mit einem Geleitwort von Superintendent Christof Ziemer und dem Abschlußbericht der Unabhängigen Untersuchungskommission. Mitarbeit: Sven Bartnik und Elisabeth Groh. Leipzig 1990.
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sowie die Ausreisewellen aus der DDR zur gleichen Zeit. Spätestens ab Sommer überschlagen sich die Ereignisse: Am 21. / 22. August 1989 wird der Demokratische Aufbruch gegründet, am 9. September 1989 das Neue Forum. Am 7. Oktober feiert die DDR den vierzigsten Jahrestag ihrer Gründung; zwei Tage später findet in Leipzig die bisher größte Montagsdemonstration statt – an diesem Tag dürfte sich entschieden haben, dass kein Blut fließen würde. Mit der Öffnung der Berliner ‚Mauer‘ am 9. November17 endet die ‚heiße‘ Phase der ‚Wende‘. Immer häufiger erschallen bei Kundgebungen neben „Wir sind das Volk“ die Rufe „Wir sind ein Volk“ [Hervorhebung von mir; F.Th.G.] sowie die aus dem nicht mehr gesungenen Text der Becher-Hymne stammende Zeile „Deutschland, einig Vaterland“. War es zuvor vor allem darum gegangen, die DDR aus sich selbst heraus zu reformieren, werden nun – unter maßgeblichem Einfluss der Bundesrepublik – die Weichen zur Einheit gestellt; die im Oktober 1989 noch eher verdeckte Heterogenität der Demonstrantengruppen tritt immer deutlicher zu Tage.18 Am 18. März 1990 finden freie Wahlen zur (letzten) Volkskammer statt, am 1. Juli tritt der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft, am 3. Oktober wird die Vereinigung in formaler Hinsicht nach Art. 23 GG vollzogen. Auf die Euphorie folgte allerdings eine wechselseitige Ernüchterung, bisweilen ist gar von „Entfremdung“19 die Rede: Rasch stellte sich heraus, dass die Einheit nicht ‚zum Nulltarif‘ – und das bei weitem nicht nur im finanziellen Sinne – zu haben war bzw. ist. Helga Königsdorf (*1938), die den Prozess der ‚Wende‘ und der Vereinigung intensiv sowohl mit essayistischen als auch mit fiktionalen Texten literarisch begleitet hat20, unterscheidet 1990 – dieser Stimmung entsprechend – verschiedene „Phasen der Revolution“, die sie im gleichnamigen Aufsatz näher beschreibt:
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Vgl. dazu Hans-Hermann Hertle: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates. 2., durchgesehene Auflage. Opladen / Wiesbaden 1999; darin insbes. Kap. 3.4.: Schabowskis Zettel oder Warum die Mauer fiel, S. 202-240. Vgl. dazu auch Bernd Lindner / Ralph Grüneberger: Vorbemerkung. In: B.L. / R.G. (Hgg.): Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst. Bielefeld 1992; S. 7-9, S. 8. Vgl. dazu: Deutsche Entfremdung. Zum Befinden in Ost und West. Hrsg. von Wolfgang Hardtwig und Heinrich A. Winkler. München 1994 (Beck’sche Reihe). Die Beiträge dieses Sammelbandes entstanden im Rahmen einer Vortragsreihe zum Thema „Wahrnehmungen. Zum deutschen Befinden in Ost und West“, die das Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität im Wintersemester 1992 / 93 veranstaltete. Vgl. überblicksartig: Jean E. Conacher: Pressing for Change: The Case of Helga Königsdorf. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31), S. 164-176.
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Die schöne Phase der Revolution […] Die visionäre Phase […] Die Phase des Wahlkampfes […] Die Phase des ökonomischen Umbaus […] [sowie die] Konsolidierungsphase […].21
Wie diese Ereignisse, Vorgänge und Phaseneinteilungen letztendlich einzuordnen sind, sei vor allem den Historikern überlassen – ebenso die Aufgabe, möglicherweise strittige Daten innerhalb des Prozesses der ‚Wende‘ genauer zu analysieren und zu bewerten. Zu betonen ist allerdings, dass ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ nicht zwangsläufig zusammengehören. Nicht erst die Auseinandersetzungen um die Feierlichkeiten zum 9. November 1999, bei der Angehörige der Bürgerbewegung zunächst weit gehend unberücksichtigt blieben, haben die Notwendigkeit einer exakten Begriffsverwendung deutlich gemacht. ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ sind zwar durch die historischen Fakten untrennbar miteinander verbunden – die ‚Wende‘ schuf die Voraussetzungen für die Einheit –, diese Verbindung entspricht jedoch nicht unbedingt einer historischen Logik der Zwangsläufigkeit. Exemplarisch zitiert sei in diesem Zusammenhang Jens Reich (1993), der sich gegen eine „Geschichtsverdrehung“ wehrt: Alle reden davon, daß im November 1989 eine wunderbare, friedliche Revolution stattgefunden habe. Das war im September, Oktober! Da riskierten die Demonstranten Kopf und Kragen, wenn sie „Wir sind das Volk!“ riefen. […] Mit der Demonstration vom 4. November endete diese Bewegung. Danach kam die Volksbewegung zur deutschen Einheit. Sie allerdings begann im November. Ich kann sie nicht für besonders friedlich erklären – die Leipziger Demonstrationen erhielten deutlich aggressive Züge. Sie war auch nicht wunderbar – da war zu viel von der Sehnsucht nach dem Wirtschaftswunder dabei. […] Ich will den November nicht schlechtmachen. Aber die große Zeit der Befreiung war wirklich der Oktober! Bitte keine Geschichtsverdrehung!22
Revolutionäre Ereignisse und Vereinigung sind also auch im Hinblick auf ihre literarische Verarbeitung nicht unbedingt zu verbinden, auch wenn in der vorliegenden Arbeit eine gemeinsame Betrachtungsweise gewählt wurde.
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Helga Königsdorf: Die Phasen der Revolution. In: Das Argument 32 (1990) 3; S. 340f., S. 341; im Original kursiv. Jens Reich: Oktober, zum Henker! In: J.R.: Rückkehr nach Europa. Zur neuen Lage der deutschen Nation. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. München 1993; S. 171, S. 171.
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Der Begriff ‚Wende‘ wird im Folgenden für die Ereignisse von Sommer 1989 bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gebraucht; der Begriff ‚Vereinigung‘ für die Zeit danach bis zum 3. Oktober 1990. Versuche, begrifflich exaktere Festlegungen vorzunehmen, dürften zum Scheitern verurteilt sein oder sind missverständlich: So verwenden Herberg, Steffens und Tellenbach (1997) „die Wende als Bezeichnung für die politischen Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR. Für den Zeitraum vom Sommer 1989 bis zum Ende des Jahres 1990 wird von uns die Bezeichnung Wendezeit verwendet.“23 ‚Wende‘ und Vereinigung waren Anlass für zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Publizisten, Essayisten und Liedermacher, aber auch für bisher nicht mit schriftlichen Äußerungen hervorgetretene Menschen, sich literarisch mit diesen Prozessen auseinander zu setzen. Das Thema ist omnipräsent; im allerweitesten Sinne literarische Verarbeitungen finden sich mittlerweile sogar in medizinischen Fachwörterbüchern, wie folgender Auszug aus dem „Pschyrembel“ belegt; unter dem Lemma ‚Steinlaus‘ ist dort eine ganz eigene Theorie über den Fall der Mauer zu lesen: Das Ausbleiben von Beobachtungen nach 1989 (256. Auflage dieses Werkes) scheint einerseits die Theorie zu bestätigen, nach der die St. den Fall der Berliner Mauer nicht nur ausgelöst [113], sondern dadurch auch zugleich zur Vernichtung ihrer Existenzgrundlage beigetragen habe. […] Tatsächlich ist eine Species der St., unter Aussparung der Großbaustelle Berlin, 1996 in einer bayerischen Klinik aufgetreten u. als Petrophaga hospitalis Cranacensis beschrieben […].24
Die Bandbreite der Publikationen aus der Zeit der ‚Wende‘ und über die ‚Wende‘ ist riesig und mittlerweile kaum noch überschaubar. Sie reicht von Sachbüchern und Dokumentationen über Sammelbände mit mehr oder weniger polemischen Texten25, Personenlexika mit satirischem Hintergrund26 23
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Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. WörterBuch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6), S. 13; Hervorhebungen im Original. Art. ‚Steinlaus (Petrophaga lorioti)‘. In: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch. 258., neu bearbeitete Auflage mit 2052 Abbildungen und 250 Tabellen. Bearbeitet von der Wörterbuch-Redaktion des Verlages unter der Leitung von Helmut Hildebrandt. Berlin / New York 1998, S. 1500. Vgl. etwa Karl-Eduard von Schnitzlers im Hinblick auf die Form tagebuchnahe Aufzeichnungen Der rote Kanal. Armes Deutschland. Hamburg 1992 sowie Provokation. 2. Auflage. Hamburg 1994. Ähnlich, aber journalistisch schwächer, auch: Heinz Jacobi: Deutschdeutsch. Materialien gegen ein Volk. Das Anschluß-Lesebuch. München 1990 (Der Bote, Sonderband IV); Ders.: Tod und Teufel. Polemiken. München 1991 (Der Bote Nr. 12). Reinhold Andert: Unsere Besten. Die VIPs des Ostens. Fotos von Robert Michel. Berlin 1999 (vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe des 1993 erstmals erschienenen Bandes „Unsere Besten – Die VIPs der Wendezeit“).
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bis zum Höhenkammroman, -gedicht und -drama, vom Tagebuch über die Reportage zum Essay. Am Umfang der in Band 2 enthaltenen Bibliografie lässt sich leicht ablesen, dass die Zahl allein der Primärtexte so groß ist, dass die meisten Werke hier nicht ausführlich dargestellt werden können. Es ist daher unerlässlich, exemplarisch zu arbeiten. Zunächst wird daher – nach Gattungen getrennt und von einigen wenigen Texten ausgehend – zumindest ein Teil der meines Erachtens wesentlichen Werke vorgestellt. Betrachtet man den Bereich der literaturwissenschaftlichen Publikationen, so ist mittlerweile auch hier eine Vielzahl an Veröffentlichungen erschienen. Dabei überwiegt die Zahl der Sammelbände und Aufsätze diejenige der Monografien bei weitem; es dominieren die weniger umfangreichen Publikationsformen. Offenbar besteht eine gewisse Scheu, sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt ausführlich wissenschaftlich mit der Thematik zu beschäftigen. Der unleugbar fehlende historische Abstand und die bei einigen Texten sicherlich hohe politische Brisanz27 mögen nur zwei der möglichen Erklärungen für diese Tatsache sein. Im Vordergrund steht meist die Analyse und Interpretation der Texte von Autorinnen und Autoren der Höhenkammliteratur. Die meisten Sammelbände wurden von ausländischen Germanisten herausgegeben und geschrieben; offenbar fällt es aus der Fremdperspektive leichter, sich mit der Thematik auseinander zu setzen. Die niederländische, die US-amerikanische und die englische Germanistik dürften die eifrigsten Beiträger über die ‚Wendeliteratur‘ sein.28 Leider fehlen den Verfasserinnen und Verfassern nicht selten wesentliche Detailkenntnisse über die DDR; bisweilen werden deshalb heikle Thesen formuliert. Einige Sammelbände richten sich an ein spezifisches Publikum im Ausland und behandeln daher ‚Wende‘ und deutsche Einheit überblicksartig unter den verschiedensten Gesichtspunkten.29 27
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Man denke etwa an die Auseinandersetzung um Günter Grass’ Roman Ein weites Feld (Göttingen 1995), der meist weniger auf literaturwissenschaftlicher als auf politischer Ebene diskutiert wurde. Einen Eindruck hiervon gibt der Band Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Hrsg. von Oskar Negt. Göttingen 1996. Stellvertretend genannt seien die von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen herausgegebenen Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik (insbes. Band 36: Literatur und politische Aktualität. Amsterdam / Atlanta 1993) und die Sammelbände Germany Reunified. A Five- and Fifty-Year Retrospective. Edited by Peter M. Daly, Hans Walter Frischkopf, Trudis Goldsmith-Reber, Horst Richter. New York / Washington, D.C. / Baltimore / Boston / Bern / Frankfurt a.M. / Berlin / Vienna / Paris 1997, 1999 (McGill European Studies, Vol. 1) sowie German Literature at a Time of Change 1989-1990. German Unity and German Identity in Literary Perspective. Edited by Arthur Williams, Stuart Parkes and Roland Smith. Bern / Berlin / Frankfurt a.M. / New York / Paris / Wien 1991. Etwa: The German Revolution of 1989. Causes and Consequences. Edited by Gert-Joachim Glaeßner and Ian Wallace. Oxford / Providence 1992; Les conséquences de l’unification allemande. Sous la direction de Dieter Gutzen. Paris 1997 (Collection Premier Cycle); La
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Die früheste relativ umfassende Monografie zum Thema ‚Wendeliteratur‘ stammt von Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 198930; sie stellt allerdings lediglich einen ersten Versuch der Bestandsaufnahme dar, bereits die Auswahl der Primärtexte ist problematisch. Wehdekings Monografie erschien 1995, der Verfasser konnte somit viele zwischenzeitlich erschienene und für die Thematik wichtige Texte noch nicht berücksichtigen. Einen ähnlichen Anspruch wie Wehdeking erhebt Emmerich im Kapitel „Wendezeit (198995)“ der Neuausgabe seines Standardwerks Kleine Literaturgeschichte der DDR.31 Auch bei ihm sind nach 1995 erschienene Texte naturgemäß nicht berücksichtigt. Andere Monografien beschäftigen sich mit Einzelaspekten der ‚Wendeliteratur‘, dabei dominiert die Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Literatur und Staatssicherheit‘.32 Neben sich auf Texte des vergangenen Dezenniums konzentrierenden Untersuchungen gibt es auch erste literaturwissenschaftliche Versuche, Parallelen zwischen den ‚Wendezeiten‘ in der deutschen Literatur 1945 und 198933 oder auch den ‚deutschen Einheiten‘ 1870 / 71 und 1990 herzustellen.34 So äußert Katherine Roper (1993): „The literary images produced by
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mise en œuvre de l’unification allemande (1989-1990). Sous la direction de Anne Saint Sauveur-Henn et Gérard Schneilin. Asnières 1998 (Collection Publications de l’Institut d’Allemand d’Asnières No. 25); Renate Luscher: Deutschland nach der Wende. Daten, Texte, Aufgaben für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning / München 1994. Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart / Berlin / Köln 1995. Wolfgang Emmerich: Wendezeit (1989-95). In: W.E.: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 435-525. Vgl. v.a. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999; Feinderklärung. Literatur und Staatssicherheit. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold (text+kritik 120, Okt. 1993); MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Hrsg. von Peter Böthig und Klaus Michael. Leipzig 1993. Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997. Legitimiert wird der Band u.a. durch die Fixierung einer ‚Epoche‘, denn „die Jahre 1945 und 1989 bestimmen die Nachkriegsliteratur wohl überhaupt erst als faßbare ‚Epoche‘.“ (S. 3) Die Herausgeber betonen allerdings: „Mit den hier vorgestellten differenten Zugangsweisen auf eine in seinem geschichtlichen Kontext analysierte Literatur soll jede historische Etikettierung gerade verabschiedet werden – obwohl oder gerade weil die gewählten historischen Momente vorschnelle Ein- und Zuordnungen allzu schnell nahelegen mögen.“ (S. 2; Hervorhebung im Original) Daniel Fulda: Nur „frischerwachtes“ Grauen vor der Geschichte? Literarische Kommentare zur deutschen Einheit 1870 und 1990. In: WW 44 (1994) 2; S. 258-270; Daniel Fulda: Telling German History: Forms and Functions of the Historical Narrative Against the Background of the National Unifications. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1), S. 195-230; Katherine Roper: Imagining the German Capital: Berlin Writers on the Two Unification Eras. In:
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Berlin writers of the 1990s suggest numerous points of contact with their literary forebears of the 1870s.“35 Unter anderem werden Zusammenhänge gesehen zwischen Friedrich Spielhagens (1829-1911) In Reih’ und Glied (1866) und Peter Schneiders Der Mauerspringer (1982), aber auch zwischen Julius Rodenbergs (1831-1914) Die Grandidiers (1879) und Botho Strauß’ Schlußchor (1991); die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Wichtige Aufsätze erschienen nicht nur in literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen oder germanistischen Zeitschriften (wie Sinn und Form, neue deutsche literatur, Weimarer Beiträge, Wirkendes Wort, Colloquia Germanica, Germanic Notes), sondern auch in eher politisch orientierten Zeitschriften (z.B. Aus Politik und Zeitgeschichte, Die politische Meinung) sowie in Tages- und Wochenzeitungen (vor allem Freitag, Die Zeit). Einige Zeitschriften – insbesondere ausländische – widmeten dem Thema Sondernummern.36 Wesentlich sind natürlich auch Rezensionen zu einzelnen Texten. Dabei fällt auf, dass in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vergleichsweise wenige der hier interessierenden Texte besprochen worden sind bzw. werden, den Gegenpol dazu bilden aus nahe liegenden Gründen der Freitag, Die Zeit und das Neue Deutschland. Die allgemeinen germanistischen Bibliografien verzeichnen nur einen Bruchteil der relevanten Texte. Insofern war 1996 das Erscheinen der ersten umfassenden eigenständigen Bibliografie zur „Wende-Literatur“ bzw. zur „Literatur der Deutschen Einheit“37 zu begrüßen. Neben der Liste der Primärtexte enthält die Bibliografie einen Rezensionsteil, eine Fernsehbibliografie, ein Verzeichnis von Spiegel-Artikeln „zur Literatur
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1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1), S. 171-194. Katherine Roper: Imagining the German Capital: Berlin Writers on the Two Unification Eras. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 171-194, S. 171. Stellvertretend seien genannt Allemagne d’aujourd’hui. Politique, Économie, Société, Culture. Nouvelle Série No. 114 Oct.-Déc. 1990 (Numéro spécial publié avec le concours du Centre de recherche sur l’Allemagne contemporaine de l’Université de Valenciennes); New German Critique (1991) 52 (Special Issue on German Unification); The Germanic Review LXVII (1992) 3 und 4: Theme Issue: The End of GDR Literature; Colloquia Germanica 27 (1994) 1: Literarische Antworten auf die deutsche Einigung und den Untergang der DDR; Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 28 (1996) 4: Débats autour de la nation allemande et de l’identité nationale dans l’Allemagne unifiée (1989-1995): la conscience nationale introuvable? Textes réunis et publiés par Denis Goeldel; German Life and Letters 50 (1997) 2: Special East German Number. Jörg Fröhling / Reinhild Meinel / Karl Riha (Hgg.): Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Wien 1996 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte, Band 6) [2. Auflage 1997, 3. Auflage 1999].
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der Deutschen Einheit“ und eine „Chronik wichtiger Wende-Ereignisse“. Weitere Sekundärtexte werden nicht berücksichtigt. Der Spiegel ist allerdings sicher nicht die erste Adresse für literaturwissenschaftliche Untersuchungen. Das Buch stellt zweifellos ein wichtiges Arbeitsinstrument dar, vermag aber weder im Hinblick auf die Auswahl der Texte noch im Hinblick auf die Gliederung restlos zu überzeugen. Es enthält zahlreiche Fehler, häufig werden Untertitel nicht oder nicht vollständig zitiert, mal werden die Vornamen desselben Autors ausgeschrieben, dann wieder nicht (etwa im Falle von Hans Joachim Schädlich). Offensichtlich haben sich die Herausgeber auch nicht die Mühe einer konsequenten Autopsie gemacht: Mehrere der verzeichneten Texte sind nie erschienen, sondern waren lediglich angekündigt.38 Eine amerikanische Sciencefiction-Novelle aus dem Jahre 1964 und deren Fortsetzung von 1990, die den Untertitel „Ein Wendebuch“ tragen, sind wohl zu den weiteren ‚Irrläufern‘ in der Bibliografie zu zählen.39 Aufgenommen wurde auch die nach der ‚Wende‘ erschienene Taschenbuchausgabe eines Buches von Jürgen Fuchs über den Alltag in der NVA aus dem Jahr 1988.40 Naturgemäß spielt die ‚Wende‘ darin keine Rolle – auch wenn sich der Text natürlich in Kenntnis der historischen Ereignisse anders liest. Zum ‚Wendebuch‘ wird er dadurch freilich nicht. Die meisten der in der ersten Auflage befindlichen Fehler erscheinen auch noch in der dritten. Weitere Bibliografien – etwa die Internet-Bibliografie des GoetheInstitutes Bordeaux – sind zwar ausführlich kommentiert, aber höchst lückenhaft.41 38
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Etwa Kuno Schmidts Zweihundertsiebzehn Tage, das 1991 im Hildburghäuser Verlag Die Frankenschwelle erscheinen sollte (persönliche fernmündliche Auskunft des Verlagsleiters Hans-Jürgen Salier im Dezember 2000). Ebenso: Mathias Wedel: Kranke von drüben. Empirische Untersuchungen zur Typenvielfalt der Wessis unter besonderer Beachtung seiner Verschlagenheit, Antriebsschwäche und Inkontinenz. Berlin: Elefanten Press, 1992 (persönliche fernmündliche Auskunft des Espresso Verlags im März 2001). „Wendebuch“ ist hier ganz wörtlich zu nehmen: Wenn man den jeweils anderen Teil lesen möchte, muss man das Buch ‚wenden‘: Roger Zelazny: Das Friedhofsherz. Novelle. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rosemarie Hundertmarck. Ein Wendebuch. München 1993. / Walter Jon Williams: Eine Elegie für Engel und Hunde. Novelle. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Jakob Leutner. Deutsche Erstausgabe. Ein Wendebuch. München 1993. Jürgen Fuchs: Das Ende einer Feigheit. Reinbek 1992 [zuerst Reinbek 1988]. Es muss fairerweise eingeräumt werden, dass die genannte Bibliografie nur Texte versammelt, die in der Bibliothek des Instituts vorhanden sind. Um Vollständigkeit kann es also hier nicht gehen. Vgl. insbes. den Teil „Wenderomane. Literatur zur deutschen Einheit. Eine annotierte Bibliographie mit Texten und Sekundärliteratur / Le roman de la chute du Mur. La littérature de l’unification allemande. Une bibliographie annotée avec textes et études“ (http: / / www.goethe.de / fr / bor / wende / deindex.htm) in Ergänzung von „Deutschland nach dem Fall der Mauer. Eine Bibliographie / L’Allemagne après la chute du mur [sic]. Une bibliographie“ (http: / / www.goethe.de / fr / bor / frimur.htm).
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Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll ein Überblick über die Vielzahl der literarischen Verarbeitungsversuche der ‚Wende‘ 1989 / 90 in der DDR und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gegeben werden. Dabei sind auch ästhetische Fragen zu berücksichtigen sowie Fragen nach Konstanten und Entwicklungstendenzen. Das bedeutet nicht, dass im vorliegenden Band der Versuch unternommen wird, eine Literaturgeschichte der vergangenen etwa zehn Jahre zu schreiben; neben diesen Aspekten, die selbstverständlich eine Rolle spielen, soll über eine ‚Bestandsaufnahme‘ hinausgehend untersucht werden, ob in den literarischen Werken der Wendezeit und über die ‚Wende‘ neue Aspekte, beispielsweise im Bereich der Motivik, enthalten sind. Auch deshalb enthält die vorliegende Darstellung vergleichsweise viele, häufig umfangreiche Zitate. Es geht immer wieder um dieselben Ereignisse und Vorgänge; insofern interessieren vor allem Fragen der literarischen Umsetzung, die sich anhand von Zitaten am besten veranschaulichen lassen. Zudem sind die meisten der besprochenen Texte nicht mehr im Buchhandel greifbar und auch nur in wenigen Bibliotheken einsehbar. Allzu viele schwer nachvollziehbare Umschreibungen und Querverweise würden die Darstellung unverständlich machen. Es ist davon auszugehen, dass das Jahr 1989 keinen Bruch in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur darstellt, denn, so Brigitte Burmeister (1994): Genausowenig wie die Autoren, die schon früher die DDR verlassen haben, im Westen völlig neue Schreibweisen an den Tag legten, wird das bei denen aus dem „Beitrittsgebiet“ der Fall sein. Nur sind wir allesamt jetzt konfrontiert mit einem anderen Literaturbetrieb, einem anderen Umfeld der Maßstäbe, Erwartungen, Urteile, der Geschwindigkeiten und Lautstärken.42
Zudem haben sich beide deutsche Literaturen, falls es denn je zwei gegeben haben sollte, Ende der achtziger Jahre wieder einander angenähert.43 Die ‚Wende‘ wurde durchaus literarisch vorbereitet44, auch wenn man die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in diesem Prozess nicht überschätzen sollte. Aber Verlagsreihen wie Außer der Reihe (begründet 1988 bei Aufbau) oder auch Kontakte (Mitteldeutscher Verlag) zeigen bei 42 43
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Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: Sinn und Form 46 (1994) 4; S. 648-654, S. 654. Vgl. dazu auch: Günter Erbe: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR. Opladen 1993 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Band 68). Vgl. dazu etwa Heimo Schwilk: Gegen den Strich. Die andere Literatur der DDR. In: Heimo Schwilk: Wendezeit – Zeitenwende. Beiträge zur Literatur der achtziger Jahre. Bonn / Berlin 1991, S. 162-168.
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aller Ambivalenz, dass Ende der achtziger Jahre versucht wurde, jüngeren, zumindest nicht unkritischen Autoren Foren zu bieten – selbst wenn dies ein Mittel gewesen sein mag, zuvor primär im Verborgenen sich vollziehende Strömungen zu kanalisieren und damit letztendlich auch stärker kontrollieren zu können. Der nicht unproblematische Begriff ‚Wendeliteratur‘ wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit erörtert. Zuvor ist es jedoch notwendig, die schlagartig erfolgten Veränderungen im Bereich der Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur, im weiteren Sinne des Literaturbetriebs überhaupt, darzustellen. Das sich anschließende Kapitel beschäftigt sich mit der Sprache der ‚Wende‘. Die Schwerpunkte der Arbeit bilden die Darstellung der zahlreichen Debatten und Auseinandersetzungen, welche die Literatur betreffen, die Vorstellung exemplarischer Texte sowie Fragen nach einer spezifischen Motivik und Figurengestaltung. Dabei scheint es sinnvoll, die drei Hauptgattungen Epik, Lyrik und Dramatik zunächst getrennt zu betrachten, um dann in einem weiteren Schritt verbindende Elemente herauszuarbeiten. Bearbeitet wurde in diesem Zusammenhang ein Zeitraum von etwa zehn Jahren (1989-1999), wobei einige wenige Texte, beispielsweise Christoph Heins Theaterstück Die Ritter der Tafelrunde45, das 1988 uraufgeführt wurde, diesen Rahmen durchbrechen. Bei aller – völlig berechtigter – Kritik an positivistischen Ansätzen scheint es im Hinblick auf das Thema nötig, wo es sinnvoll ist, die Biografie einiger Autorinnen und Autoren in die Darstellung mit einzubeziehen. Ich halte es für wichtig, beispielsweise auf ggf. vorhandene Stasi-Akten, seien dies nun ‚Täter-‘ oder ‚Opfer‘-Akten, hinzuweisen oder im Falle von Monika Marons Roman Stille Zeile sechs (1991)46 auf Parallelen zwischen dem Stiefvater der Autorin, Karl Maron, und der Figur des Herbert Beerenbaum aufmerksam zu machen. Es ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Texte Ausdruck persönlicher ‚Wende‘-Verarbeitungs- und Bewältigungsversuche einzelner Autorinnen und Autoren ist. Um den oben angedeuteten Defiziten Rechnung zu tragen, stellt Band 2 der vorliegenden Untersuchung kein Literaturverzeichnis im herkömmlichen Sinne dar, sondern eine auch unabhängig vom Haupttext zu benutzende thematische, Primär- und Sekundärtexte verzeichnende Bibliografie. 45
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Christoph Hein: Die Ritter der Tafelrunde. In: C.H.: Die Ritter der Tafelrunde und andere Stücke. Berlin / Weimar 1990, S. 131-193. Heins Stück kann sicherlich zu denjenigen Werken gezählt werden, die die ‚Wende‘ gewissermaßen vorbereitet haben. Da aber eine solche These schwer überprüfbar sein dürfte, wird – mit der gebotenen Vorsicht – nur im Falle einzelner Texte auf eine mögliche Rolle im Zusammenhang mit der ‚Wende‘ verwiesen. Monika Maron: Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a.M. 1991.
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Aufgenommen wurden – im Sinne Gérard Genettes47 – konsequent auch die Untertitel sämtlicher Primärtexte. Diese sind meines Erachtens gerade bei der ‚Wendeliteratur‘ in besonderem Maße wichtig, man denke beispielsweise an die Gattungsbezeichnung von Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen: „Ein Heimatroman.“48 Band 2 versteht sich ausdrücklich nicht als Literaturverzeichnis zu Band 1: Nicht aufgenommen wurden zitierte Texte, die keinen wie auch immer gearteten Bezug zur ‚Wende‘ aufweisen. Eine solche Vorgehensweise ist möglich, weil aus Gründen der Benutzerfreundlichkeit ohnehin alle wesentlichen bibliografischen Angaben in den Fußnoten zu finden sind. An der vorgenommenen Auswahl der im vorliegenden Band behandelten Texte, noch stärker jedoch an der Bibliografie, wird deutlich, dass dieser Darstellung ein erweiterter Literaturbegriff zu Grunde liegt.49 Dies ist bei den Themen ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ unabdingbar. Beide Komplexe haben viel mit Alltagserfahrungen zu tun, die in zahlreichen literarischen Formen, häufig gerade nicht der Höhenkammliteratur, ihren Ausdruck finden. Dass viele der Texte gehobenen ästhetischen Ansprüchen kaum Genüge tun, versteht sich dabei von selbst, doch ein rein ästhetischer Zugang zum Thema wäre ohne Zweifel nicht sehr gewinnbringend. Das Zustandekommen einer Darstellung dieses Umfangs hängt von zahlreichen Faktoren ab, die weit über den fachlichen Bereich hinausgehen. Vielen Personen bin ich daher zu Dank verpflichtet: Für die Anregung zur Entstehung dieser Arbeit und fachliche Unterstützung danke ich Herrn Professor Dr. Gerhard Sauder; Herrn Professor Dr. Lutz Götze danke ich für kritische Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge. Für finanzielle Unterstützung danke ich meinen Eltern, Leni und Adolf Ludwig Grub, meiner Großmutter, Elli Fried, meiner Großtante, Blondina Klinger, der Landesgraduiertenförderung des Saarlandes, die mir ein zweijähriges Stipendium gewährte, sowie der Vereinigung der Freunde der Universität des Saarlandes e.V. und der Union-Stiftung e.V., Saarbrücken, die großzügig den Druck bezuschussten. Den größten Anteil am Gelingen des Projektes haben diejenigen Freundinnen und Freunde sowie Bekannten, die mir in bisweilen schwierigen Phasen der Arbeit mit Rat und Tat zur Seite standen und teilweise auch 47
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Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französichen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M. / New York 1992. Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln 1995. Vgl. dazu Thomas Grimm: Was ist Literatur? Versuch einer Explikation des erweiterten Literaturbegriffs. Neuried 2000 (Deutsche Hochschuledition, Band 102).
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beim Korrekturlesen geholfen haben: Nicole Trapp, Philipp Kiefer und Cornelia Gerhardt sowie Hanne Bode und Dr. Ose Meerbach, im Vorfeld außerdem Irmgard Schmidt. Ihnen sei besonders herzlich gedankt. Dr. Heiko Hartmann, Annelies Aurich und Katja Hermann, alle de Gruyter, sowie Wolfram Burckhardt danke ich für die kompetente Betreuung des Manuskripts und die zügige Produktion. Saarbrücken, im Juli 2003
Frank Thomas Grub
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„Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb des ehemaligen „Leselandes“ Und dann erkannte er, daß die Bücher hier im Westen nichts mehr wert waren. Es dauerte eine ganze Weile, bevor dieser Gedanke in seinem Hirn Fuß faßte, um so nachhaltiger war der Schock, den er auslöste. Die Bücher glitten ihm aus den Händen … er war ja schließlich selbst Schriftsteller, jedenfalls bildete er sich das ein! Er hatte immer ein Schriftsteller sein wollen, sein Leben lang … ein Produzent für die Ramschkiste! Zweimal im Jahr wurden, mit einem riesigen Brimborium von keifender Werbung, dem übersatten Markt eine Unmenge neuer Bücher aufgebürdet, innerhalb kürzester Frist gilbten und schimmelten sie in den Ramschkisten vor den verödeten Buchhandlungen.“1 (Wolfgang Hilbig: Das Provisorium, 2000)
2.1 Die DDR – ein „Leseland“? Auf die Verschiedenartigkeit der Literaturbetriebe von Bundesrepublik und DDR und die damit verbundenen Konsequenzen ist immer wieder hingewiesen worden. So betont Theo Buck (1990) in einem Aufsatz über Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller: „Unterschiedliche Gesellschaftssysteme führen grundsätzlich andere Strukturen des literarischen Lebens herbei.“2 Luc Lamberechts (1993) spricht von zwei ‚Kultursystemen‘: Unberücksichtigt blieb der fundamentale Unterschied zweier Kultursysteme: das Kulturmodell DDR wurde ganz einfach aus westlicher Sicht bewertet und ohne besinnende Relativierung „abgewickelt“. Dies geschah gerade in einer historisch-gesellschaftlichen Phase, wo in der BRD der Anspruch auf eine ästhetische Autonomie der Kunst wiederbelebt wurde.3 1 2 3
Wolfgang Hilbig: Das Provisorium. Roman. Frankfurt a.M. 2000, S. 180. Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni. Magazin für Kultur & Politik 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 121. Luc Lamberechts: Zwei Kulturmodelle im Widerspruch. Über den kultursoziologischen Kontext der Literatur in BRD und DDR. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 39-52, S. 40.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Trotz dieser sicher nicht falschen Feststellungen muss mit Frank Hörnigk (1992) gesehen werden, dass die DDR über ihre gesamte Geschichte hinweg als eine vorherrschend industriell bestimmte Gesellschaft immanent an die Wachstumsdynamik – und damit auch an die Informations- und Kommunikationsverhältnisse der Industriegesellschaften des Westens, besonders an die der Bundesrepublik Deutschland angekoppelt [war], auch wenn viele von deren kulturellen Ausdrucksformen ihr nur über den Bereich der Medien zugänglich waren.4
Im Vergleich zwischen Bundesrepublik und DDR wird gern betont, dass die DDR vor der ‚Wende‘ ein „Leseland“ gewesen sei. Statistiken stützen zunächst einmal diese These: Die DDR stand, „was die Pro-Kopf-Produktion von Büchern angeht, neben der Sowjetunion und Japan an der Spitze in der ganzen Welt: Auf jeden DDR-Bürger kamen pro Jahr, statistisch gesehen, zwischen sechs und neun Bücher.“5 Zahlenangaben dieser Art belegen jedoch relativ wenig. Hält man dennoch am Mythos vom „Leseland“ fest, so ist auch dessen Kehrseite zu berücksichtigen, auf die Christoph Hein bereits 1988 hinwies: Die DDR wird gelegentlich als ein Leseland bezeichnet. Und wenn man die Zahlen der Auflagen und Auflagenhöhen liest, wenn man die stets überfüllten Buchhandlungen und sich schnell leerenden Regale sieht, ist man geneigt, dieser Bezeichung zuzustimmen. Das ist, bei aller erwiesenen Qualität, jedoch nicht das Verdienst unserer Literatur, sie ist nicht besser und nicht schlechter als die anderer Länder. Auch wird bei uns nicht mehr und nicht weniger als in anderen Ländern gelesen. Es werden hier jedoch weit mehr als in anderen Ländern Bücher gelesen. Die korrekte Bezeichnung wäre also: Buchleseland. Das Verdienst dafür gebührt unserer Presse, unseren Medien. Ihre Zurückhaltung in der Berichterstattung und der verläßliche Konsens ihrer Meinungen führte dazu, daß kaum ein Bürger unseres Landes mehr als ein paar Minuten sich mit ihnen zu beschäftigen hat. Der Leser wird durch Neuigkeiten nur für kurze Zeit abgelenkt und kann sich dann wieder unseren Büchern zuwenden, von denen er nicht nur Unterhaltung und Geschichten, sondern auch Neues und Wahres erhofft.6
Im weiteren Verlauf seines Beitrags macht Hein auch auf mögliche negative Folgen dieser Situation aufmerksam, denn: 4
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Frank Hörnigk: Die Literatur bleibt zuständig: Ein Versuch über das Verhältnis von Literatur, Utopie und Politik in der DDR – am Ende der DDR. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 99-105, S. 100. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 49. Christoph Hein: Literatur und Wirkung. In: X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppen. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988; S. 224-247, S. 233.
2.1 Die DDR – ein „Leseland“?
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Für Autoren ist es durchaus eine zweischneidige Angelegenheit, in einem Land zu leben, das vor allem Bücher liest. Die schöne Seite ist bekannt, das sind vergleichsweise hohe Auflagen, ständig und schnell vergriffene Bücher, eine hohe Wertschätzung ihrer Urheber, ein – zumindest außerhalb von Presse und Medien – nicht abreißendes Gespräch über Bücher und ihre Themen. Problematischer ist die hohe und, wie ich meine, zu hohe Bedeutung, die man hierzulande Autoren beimißt. Man neigt dazu, sie – willig oder gegen ihren Willen – auf einen Sockel zu heben und dem Schriftsteller eine übergroße Autorität zu verleihen. Auf einem Sockel aber läßt sich nicht arbeiten, weil auf ihm keine Erfahrungen zu machen sind, ohne die unsere Arbeit nicht möglich ist.7
Bereits hier nimmt der Schriftsteller wesentliche Argumente vorweg, die im Zuge der Auseinandersetzung um die Rolle der Intellektuellen zur Zeit der ‚Wende‘ ausgetauscht wurden. Die besondere Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der DDR, auf die vielfach hingewiesen wurde und wird, sollte allerdings auch nicht überbewertet werden. Spätestens mit dem Inkrafttreten der Währungsunion änderten sich die Bedingungen auf der Produktions- und Distributionsseite radikal; die Bedingungen auf der Rezeptionsseite hatten sich vor allem durch eine Interessenverlagerung bereits zuvor geändert. Wie schnell diese Entwicklungen erfolgten, verdeutlicht der Nachsatz von Wulf Kirsten (1997) zu einem Buch des 1928 geborenen Dichters und Malers Armin Müller: Die in letzteres Buch eingestreuten Prosastücke stammen vorwiegend aus dem „untergegangenen“ Band „Ich sag dir den Sommer ins Ohr. Ein Tagebuch“ (1989). Wegen allzu kritischen [sic] Bemerkungen, die unmittelbare Gegenwart und Wirklichkeit betreffend, hatte die „Thüringische Landeszeitung“ den begonnenen Vorabdruck rasch abbrechen müssen. Als das Buch Monate später erschien, fand es auf Grund der unmittelbar darauf einsetzenden dramatischen Herbstereignisse, die Bücher kein Politikum mehr sein ließen, kaum noch Beachtung und verschwand im Strudel wilder Umschichtungen und Entwertungen, während dessen Bücher gleich welchen Inhalts auf Mülldeponien landeten. Außerdem verschwand der Verlag, zweifaches Opfer krimineller Energien, im Orkus der deutschen Verlagsgeschichte.8
Als Folge der staatlichen Teilung entwickelten sich zwei über Jahrzehnte weit gehend getrennte Literaturbetriebe in Ost und West: Es gab zwei Schriftstellerverbände, zwei P.E.N.-Zentren, zwei Buchmessen – in Frankfurt a.M. bzw. Leipzig –, zwei Börsenvereine – den Börsenverein des
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Ebd., S. 243. Wulf Kirsten: Nachsatz. In: Armin Müller: Klangholz. Kalendergeschichten. Rudolstadt 1997 (Thüringen-Bibliothek, Band 6); S. 81-86, S. 85f. Gemeint ist der Rudolstädter Greifenverlag.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Deutschen Buchhandels e.V. (Frankfurt a.M.) und den Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig –, zwei Bibliografien mit ‚nationalem‘ Anspruch und zwei entsprechende Bibliotheken: die Deutsche Bibliothek in Frankfurt a.M. und die Deutsche Bücherei in Leipzig. Die doppelte Existenz einiger Einrichtungen wurde in zum Teil heftigen und häufig allzu emotional geführten Auseinandersetzungen diskutiert. Manche Vereinigungen liefen eher reibungslos ab – nachdem der Leipziger Börsenverein im April 1990 Neuwahlen angesetzt hatte, wurde am 18. Dezember 1990 der Fusionsvertrag der beiden Börsenvereine unterzeichnet9 –, andere erwiesen sich als außerordentlich schwierig, etwa im Falle der Schriftstellerverbände, mehr noch im Falle der beiden P.E.N.-Zentren (vgl. 2.5). Die beiden Buchmessen blieben bestehen, obwohl man der Leipziger Buchmesse nach einem massiven Einbruch der Besuchszahlen im März 1990 schon das Aus prophezeit hatte. Die im Frühjahr stattfindende Leipziger Messe ist stärker als Publikumsmesse konzipiert, das zeigt sich auch an dem umfangreichen Rahmenprogramm Leipzig liest; seit 2003 schreibt man schwarze Zahlen. Die Deutsche Bücherei wurde zum 3. Oktober 1990 Teil der Deutschen Bibliothek mit Hauptsitz in Frankfurt am Main; mit der Vereinigung wurde die Zahl der in Leipzig Angestellten stark reduziert. Die bibliografische Erfassung der in Deutschland erscheinenden Literatur teilen Frankfurt und Leipzig sich nunmehr im Verhältnis 2 zu 1; nach wie vor sind in beiden Bibliotheken alle in Deutschland erschienenen Druckerzeugnisse vorhanden. Neben den erwähnten Aufgaben und der Fortführung der ausschließlich in Leipzig existierenden Sammlungen „Sozialistica“ und „Deutsche Exilliteratur“ sowie der Bewahrung der 4600 Bände der Reichsbibliothek der Deutschen Nationalversammlung von 1848, kamen mit der Vereinigung auch neue Aufgaben auf die Deutsche Bücherei zu. In diesem Zusammenhang ist vor allem das neu gegründete Zentrum für Bucherhaltung zu nennen, in dem unter anderem eine Anlage zur chemischen Massenentsäuerung von Büchern errichtet wurde.10 Es darf nicht vergessen werden, dass manche Institutionen überhaupt nicht vereinigt oder in andere integriert, sondern schlicht ‚abgewickelt‘ wurden, allen voran die Akademie der Wissenschaften der DDR.11 9
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Letzter Vorsitzender des Ost-Börsenvereins war Jürgen Gruner, der auch über mehr als 20 Jahre den Verlag Volk & Welt leitete. Vgl. zu diesem Thema Hans Altenhein: Spur der Bücher. Am 17. Dezember wird Jürgen Gruner, Altvorsteher des Leipziger Börsenvereins, 65 Jahre alt. Er leitete über mehr als zwei Jahrzehnte den DDR-Verlag Volk & Welt, der auf internationale Literatur spezialisiert war. In: Börsenblatt v. 15.12.1995, S. 23. Vgl. überblicksartig zur Deutschen Bücherei: M. Bechtel: „Frei statt [sic] für freies Wort“. Die Deutsche Bücherei in Leipzig. In: PZ / Wir in Europa (1993) 73, S. 22. Vgl. dazu: Wolfgang Raible: Impressionen beim Evaluieren. Zur Abwicklungder [sic] kulturwissenschaftlichen Einrichtungen der ehemaligen DDR-Akademie der Wissenschaften. In: Die Abwicklung der DDR. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau. Göttingen 1992 (Göttinger Sudelblätter), S. 54-63.
2.1 Die DDR – ein „Leseland“?
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Im Rahmen dieses Handbuchs können nicht alle Aspekte der Vereinigung zweier getrennter Literaturbetriebe betrachtet werden; besonderes Augenmerk ist aber den Verlagen als Bindegliedern zwischen Literaturproduktion und -rezeption zu widmen. In der DDR unterstanden die Verlagshäuser der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur, kurz HV. Die fertig gedruckten und gebundenen Bücher wurden in der Regel zentral nach einem festen Schlüssel über den Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) ausgeliefert: Zuerst wurden die Niederlassungen des (staatlichen) Volksbuchhandels bedient, dann die Buchhandlungen der NVA, der Parteien und (Massen-)Organisationen und schließlich die wenigen privaten Buchläden. Als Anfang 1990 die HV aufgelöst wurde, hatte diese Entscheidung drastische Konsequenzen nicht nur für die Distribution. Tonnenweise wurden Bücher entsorgt: Am 1. Mai 1991 öffneten Studenten aus Jena eine Mülldeponie bei Espenhain und entdeckten unter faulenden Kartoffeln und Bauschutt Unmengen von Büchern – man schätzt etwa 500 Tonnen (!), die der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) dorthin ‚entsorgt‘ hatte. Dabei handelte es sich nicht ‚nur‘ um politische ‚Altlasten‘, sondern auch um Werke bedeutender Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart. Viele der betroffenen Autoren reagierten entsetzt; schon bald wurde die Entsorgung der Bücher Gegenstand literarischer Texte12, fand aber vor allem Eingang in die Publizistik. Exemplarisch zitiert sei die Reaktion des in Halle lebenden Schriftstellers Dieter Mucke (*1936), der auf einer Pressekonferenz des Verbandes deutscher Schriftsteller am Rande der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1991 äußerte: Meines Erachtens handelt es sich hier wirklich um die größte Büchervernichtung in Deutschland seit der Nazizeit, und ich möchte darauf aufmerksam machen, daß der in dem bekannten Heine-Wort benannte schreckliche Kausal-Zusammenhang, wer Bücher verbrennt / vernichtet, verbrennt / vernichtet auch Menschen, keine logische Abstraktion oder historische Reminiszenz ist, sondern schon wieder deutsche Gegenwart. Deshalb fordere ich als ein in Leipzig geborener Dichter, daß dieses barbarische und faschistoide Verbrechen der Büchervernichtung endlich geahndet wird und daß nach der Absetzung des sächsischen Innenministers auch der sächsische Minister für Wissenschaft und Kultur seinen Hut zu nehmen hat.13
Das Besorgnis erregende Vorgehen des LKG hatte einen höchst pragmatischen Hintergrund: Platzmangel. Wie viele andere Waren aus DDR-Pro12 13
Vgl. etwa Johannes Mittenzweis Gedicht Die neue Freiheit. In: J.M.: Wendejahre. Gedichte. Berlin 1997, S. 22-25. Dieter Mucke; zit. nach: Dieter Mucke. In: Regine Möbius: Autoren in den neuen Bundesländern. Schriftsteller-Porträts. Hrsg. vom Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Leipzig 1995; S. 205-213, S. 211f.; Text im Original kursiv.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
duktion ließen Bücher sich nicht mehr verkaufen. Die Journalistin Karin Großmann machte bereits im April 1990 in der Sächsischen Zeitung auf die chaotischen Zustände nach dem Ende der HV aufmerksam: Zu guter Letzt kriegt die DDR noch Hochgebirgscharakter. Es wachsen die Eier- und Schweineberge. Jüngste Erhebungen: Bücher. DDR-Literatur wird in mancher Buchhandlung schon bis zu siebzig Prozent reduziert verkauft. Einige schicken Lieferungen zurück, ohne zu prüfen, ob sie verkäuflich oder nicht zu verkaufen sind.14
Detlef Stapf (1990) bestätigt diesen Eindruck; die von ihm geschilderte Situation ist repräsentativ für die gesamte DDR: Wir konnten uns überzeugen: Ein großer Teil der ohnehin knapp bemessenen Lagerkapazität der Teterower Volksbuchhandlung ist durch Buchbestände blockiert, die niemand mehr kaufen will. Kompendien der Gesellschaftswissenschaften, Pädagogik, Staats- und Rechtswissenschaften, belletristische Titel von DDR-Autoren, deren Reflexionen von DDR-Wirklichkeit eventuell noch für Historiker von Interesse sind, stapeln sich bis zur Decke. Im Wertumfang von etwa 3 Mio. Mark sind im Buchhandel des Bezirkes Neubrandenburg etwa zwei Drittel des Warenbestandes betroffen, schätzt Horst Steffen. Vier Wochen vor der Währungsunion ist unklar, wer diese Altlasten in voller Höhe bezahlen soll. Bisher entschied und finanzierte solche Abschreibungen des Ministerium für Kultur. Im Rahmen einer Ministerratsentscheidung von vergangener Woche sind für die „Abdeckung des Handelsrisikos“ für die Buchhandlungen des Bezirkes nur etwa 600 000 Mark bewilligt worden. Danach steht für die makulierten Bücher die Frage: Wohin damit? Der Altstoffhandel sitzt auf Papierbergen und nimmt diese Mengen wohl nicht ab. Die Maschinerie Planwirtschaft ist bei den Verlagen noch nicht zum Stehen gekommen. Nach wie vor treffen Titel unverkäuflicher Literatur ein. So liefert der Staatsverlag Gesetzestexte solange, bis andere beschlossen werden.“15
Einen Ausweg fand der Katlenburger Pfarrer Martin Weskott16: Mit Hilfe eines Kleinbusses, eines LKWs und freiwilliger Helfer rettete er mehrere 14
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Karin Großmann: Verlage auf Talfahrt oder: Wird Volker Braun Ladenhüter? In: Sächsische Zeitung v. 18.4.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 9 – 15.5.1990, S. 15. Detlef Stapf: Bücher, die keiner mehr kaufen will. In: Nordkurier Nr. 61 v. 16.6.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 12 – 5.7.1990; S. 14f., S. 14f. Vgl. dazu: Martin Weskott. Katlenburger Bücherpastor – Begegnungen mit deutscher „Müll-Literatur“. In: Frank Quilitzsch: Wie im Westen so auf Erden. Gespräche mit Schriftstellern und Liedermachern, Dichtern und Theaterleuten, Rocksängern und Pastoren. München 1998, S. 70-74; Jörg Magenau: Ein Narrenhaus, bedingte Nutzung weiter möglich. Auch das Unverständliche in Ehren halten: Wie Pfarrer Martin Weskott
2.2 Zur Situation der Verlage
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Tonnen Bücher und gründete in seiner Gemeinde die Lesereihe Begegnung mit Müll-Literatur, in deren Rahmen Autorinnen und Autoren, deren Bücher auf der Müllhalde gelandet waren, aus eben diesen Werken vorlesen. In einem weiteren Schritt bezog Weskott die Bücher nicht mehr ausschließlich von Deponien, sondern direkt von Verlagen, Buchhandlungen und Bibliotheken, die ihre Bestände entsorgen wollten. Die geretteten Bücher werden in Ställen in Katlenburg gelagert und im Rahmen der Aktion Brot für die Welt gegen eine Spende abgegeben oder gemeinnützigen Zwecken zugeführt. Rund fünfzig ehrenamtliche Mitarbeiter sind inzwischen mit der ‚Betreuung‘ der Bücherbestände beschäftigt.
2.2 Zur Situation der Verlage Die dargestellten Vorgänge lassen erahnen, wie schwierig die Situation auch für die einzelnen Buchverlage war und – das Beispiel vom Ende des Verlags Volk & Welt 2001 belegt dies – nach wie vor ist. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Verlagslandschaft der DDR bzw. der östlichen Bundesländer grundlegend ändern und an die neuen Bedingungen anpassen müssen. In der DDR waren die Verlage entweder „Volkseigentum“, de facto also im Besitz des Staates, oder Eigentum der Parteien oder gesellschaftlicher Organisationen wie dem Kulturbund. Die Ausgangsbedingungen waren denkbar schlecht, denn mit dem Wegfall des gelenkten Vertriebs über den erst später privatisierten LKG17 mussten die Verlage unter hohem Zeitdruck selbstständig neue Vertriebsnetze aufbauen. Zudem waren viele in der DDR renommierte Verlagshäuser im Westen einem breiten Publikum völlig unbekannt. In der Regel ohne über entsprechende finanzielle Mittel für Marketingaktionen zu verfügen und ohne Kenntnisse in diesem Bereich schien es zunächst nahezu unmöglich, im Westen Fuß zu fassen. Auf finanzielle Rücklagen konnte kaum ein Verlag bauen, denn wer Gewinne machte, musste diese an das Ministerium für Kultur abführen. Mit der Währungsunion fielen 30% des Exportes in die ehemaligen „Bruderstaaten“ weg, gleichzeitig drängten über 2000 Verlage aus den ‚alten‘ Bundesländern als Konkurrenz auf den vergleichsweise kleinen Markt. Angesichts dieser Zahlen stellte der 1990 erfolgte offizielle Ankauf von
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und der Schauspieler Peter Sodann die Bücher der DDR bewahren wollen. In: FAZ v. 26.2.2002 sowie Wilhelm Boeger: 3. Dichter im Nebel der Wendezeiten / Zu Gast in Pfarrer Weskotts Bücherscheune / Das Treffen in Katlenburg. In: W.B.: Der Leihbeamte kehrt zurück. Neue Berichte aus Deutsch-Deutschland. Halle (S.) 1999, S. 45-50. Die Privatisierung erfolgte mittels eines Management Buy-Outs, Gesellschafter wurden acht ehemalige Mitarbeiter und der bisherige Geschäftsführer Jürgen Petry.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Büchern aus Ost-Verlagen im Wert von fünf Millionen Mark18 lediglich einen Tropfen auf den heißen Stein dar. Außerdem kaufte das traditionell an Belletristik interessierte Publikum weniger Bücher. Für dieses Phänomen gibt es vor allem zwei Gründe: eine veränderte Interessenlage und Geldmangel. Immerhin stiegen mit der Währungsunion die Buchpreise schlagartig auf Westniveau – im Gegensatz zu den Einkommen. Prioritäten wurden anders gesetzt: Die Nachfrage nach belletristischer Literatur sank, denn es galt, einen Nachholbedarf insbesondere an Ratgeberliteratur (Steuerrecht, Umschulungs- und Weiterbildungsprogramme), aber auch an ‚Enthüllungsbüchern‘, etwa über die Staatssicherheit, zu befriedigen. Was für den Verlag Volk & Welt gültig war, traf im Grunde genommen für alle Verlage der ehemaligen DDR zu: Es mußte neu nachgedacht, neu gelernt, neu organisiert werden. Alles geschah in rasendem Tempo: Vertriebsstrukturen aufbauen. Den Verlag ins Bewußtsein von Feuilletonchefs, Kulturredakteuren und Rezensenten bringen. Autoren finden. Einen alten Markt nicht verlieren und einen neuen Markt gleichzeitig erschließen. Traditionen bewahren und parallel dazu neue Äcker durchpflügen.19
Ein wettbewerbsrechtliches Problem auf Ost-West-Ebene stellten die Lizenzausgaben dar; der Einigungsvertrag benachteiligte hier die Verlage aus dem Osten: Erloschen sind nämlich mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 alle Lizenzvergaben westdeutscher Verlage an Verlage der DDR, während Lizenzvergaben der DDR-Verlage an westdeutsche Verlage weiterhin Gültigkeit haben. Das wirkt sich besonders auf den auflagenstarken Taschenbuchmarkt aus. So konnte der Fischer-Taschenbuchverlag in Frankfurt am Main die zu DDR-Zeiten vom Verlag Volk & Welt erworbenen Lizenz-Rechte an deutschsprachigen Übersetzungen des japanischen Schriftstellers Kenzaburô Ôe nutzen, um im Herbst 1994 unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Auszeichnung dieses Autors mit dem Nobelpreis für Literatur preiswerte Taschenbuchausgaben auf den Markt zu bringen, während der Lizenzgeber Volk & Welt lediglich mit Neuauflagen der Hardcover-Ausgaben, die erheblich teurer sind, aufwarten durfte.20
Zahlreiche Autoren aus der DDR mussten sich nun für einen Verlag entscheiden, aus Gründen der Sicherheit entschlossen viele sich, ganz 18
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Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 30. [Anon.]: Ein bißchen abgehoben – aber längst nicht im siebten Himmel … Verlagsporträt. Redaktioneller Beitrag für BuchMarkt 1994 (10); S. 1-7, S. 2f. Dietger Pforte: Unvereint – vereint. Literarisches Leben in Deutschland. In: ndl 44 (1996) 1; S. 182-209, S. 195f. (ndl-extra).
2.2 Zur Situation der Verlage
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zu ihrem Westverlag zu wechseln, zum Beispiel Volker Braun. Christoph Hein dagegen blieb bis 2000 bei Aufbau, wechselte dann aber zu Suhrkamp. Meist schließen die Verträge der Autoren mit den West-Verlagen Nachauflagen älterer Werke in früheren Ost-Verlagen aus, so dass auch dieser Markt wegbrach. Ein weiteres rechtliches Problem stellten die so genannten „Plusauflagen“ dar: Westverlage hatten gegen einige ehemalige DDR-Verlage geklagt, weil diese – in gängiger Praxis – höhere Auflagen als die vereinbarten druckten. Das ‚gewonnene‘ Geld landete allerdings nicht in den Kassen der Verlage.21 Die Treuhandanstalt22 war für die Betreuung und Privatisierung von 54 Buch- und Zeitschriftenverlagen zuständig – ein Unterfangen, das teilweise ausgesprochen kompliziert war, da zahlreiche Verlage durch ihre indirekte Anbindung an Parteien und Organisationen in ungeklärten Rechtsverhältnissen existierten. Ein Vertreter der Treuhand, Achim Schneider, äußerte im April 1991 auf der Deutschen Literaturkonferenz in Leipzig: „Die Treuhandanstalt hält es für ihre wichtigste Aufgabe, alle Verlage in den neuen Bundesländern zu erhalten. Nicht um jeden Preis, aber um einen hohen.“23 Wesentliche Aspekte im Hinblick auf den Zuschlag für einzelne Investoren waren dabei: […] – daß die Verlage an ihren Standorten erhalten werden sollten und die neuen Eigentümer durch notwendige Investitionen für das zukünftige Verlagsprogramm Arbeitsplätze sichern. […] – daß die Weiterexistenz der Verlage nicht nur die Arbeitsplätze der Verlagsmitarbeiter sichert, sondern auch für die Existenz vieler freier Mitarbeiter, wie Autoren, Übersetzer und Grafiker notwendig ist. – Zugleich sind die Verlage Auftraggeber für weitere Unternehmen in der Region, zum Beispiel für Druckereien oder Buchbindereien.24
Im Rahmen einer Pressekonferenz am 14. November 1991 zog die Treuhand ein „positives Resümé der Buchverlags-Privatisierung“: 21 22
23
24
Vgl. dazu: [Anon.]: Ein bißchen abgehoben – aber längst nicht im siebten Himmel … Verlagsporträt. Redaktioneller Beitrag für BuchMarkt 1994 (10); S. 1-7, S. 6f. Die Anstalt selbst wurde zum Gegenstand zahlreicher – auch literarischer – Texte; vgl. etwa Günter Grass: Ein weites Feld. Roman. Göttingen 1995. Es dominieren aber eher essayistische Texte, z.B.: Christa Luft: Treuhandreport. Werden, Wachsen und Vergehen einer deutschen Behörde. Berlin / Weimar 1992 (Aufbau Sachbuch). Achim Schneider: Über die Situation der Verlage in den neuen Bundesländern. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra); S. 191-194, S. 192. Treuhand Informationen 1, Mai 1991, 8.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Von den insgesamt 54 Buch- und Zeitschriftenverlagen, für deren Betreuung und Privatisierung das Direktorat Dienstleistungen verantwortlich ist, konnten 36 in die Hände neuer unternehmerisch aktiver Eigentümer übergeben werden. Die Privatisierung der restlichen 18 Buchverlage kann noch in diesem Jahr abgeschlossen werden.25
Trotz dieser – wohl ausschließlich von der Treuhand selbst positiv bewerteten – Anstrengungen, bedeutete das Jahr 1990 für viele Verlage das ‚Aus‘. Zu den ‚Verlierern‘ der ‚Wende‘ zählt etwa der renommierte Rudolstädter Greifenverlag.26 Andere Verlage wurden auf mehr oder weniger direktem Weg ihren alten Eigentümern zurückgegeben bzw. wiedervereinigt, soweit die Sitze der Stammhäuser nach 1945 in den Westen verlagert worden waren: Beispiele sind neben dem 1992 den West-Gesellschaftern rückübertragenen ReclamVerlag (Leipzig, Stuttgart) die Musikverlage Breitkopf & Härtel (Leipzig, Wiesbaden) und Edition Peters (Leipzig, Frankfurt a.M.), der Gustav Fischer Verlag (Jena, Stuttgart), der Insel-Verlag (Leipzig, Frankfurt a.M., nun unter dem Dach von Suhrkamp), B.G. Teubner (Leipzig, Stuttgart) und Georg Thieme (Leipzig, Stuttgart). Bei Reclam hatte man ab März 1990 im Bereich des Vetriebs kooperiert. Doch bereits kurze Zeit später wurde die Schließung des Leipziger Hauses diskutiert. Erst im November 1994 sprach sich die Gesellschafterversammlung für die Erhaltung des Standorts Leipzig aus, allerdings sorgten zahlreiche Kündigungen für Unruhe.27 Im Folgenden wird die Entwicklung einiger – vor allem belletristisch ausgerichteter – Verlagshäuser28 exemplarisch dokumentiert. 25 26
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Treuhand Informationen 8 / 9, Dezember 1991, 11. Vgl. dazu Carsten Wurm / Jens Henkel / Gabriele Ballon: Der Greifenverlag zu Rudolstadt. 1919-1993. Verlagsgeschichte und Bibliographie. Wiesbaden 2001 (Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens, Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte, Band 15). Zum Stand der Dinge im April 1991 vgl. Heinfried Henniger: Ein ungeklärtes Verhältnis. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra), S. 194-196. Zum Verhältnis ‚Reclam-West‘ – ‚Reclam-Ost‘ vgl. Auskünfte über uns. Zwischen zwei Zäsuren. Reclam Leipzig 1950-1992. In: Kopfbahnhof. Almanach 5. Fünf Jahrhunderte Einsamkeit. Die europäische Kultur in der Erfahrung der anderen. Leipzig 1992, S. 115181. Zur Situation der Fachverlage vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 34; für die Zeitschriftenverlage vgl. das Kapitel 13. April 1991. Verleger kennen ihre Macht. In: Birgit Breuel (Hg.): Treuhand intern. Tagebuch. Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 232-239. Häufig wurden von einer Zeitschrift lediglich der Name und die Abonnentenkartei durch den neuen Eigentümer übernommen, nicht aber der Verlag und damit in der Regel auch nicht die
2.2 Zur Situation der Verlage
2.2.1
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Aufbau-Verlag, Berlin / Weimar
Der 1945 gegründete Aufbau-Verlag war der bedeutendste und größte Verlag für Belletristik in der DDR. Zu den Schwerpunkten zählten und zählen Werke von Autorinnen und Autoren der Exilliteratur, der Gegenwartsliteratur sowie Klassiker-Ausgaben. Bis zum Zusammenbruch der DDR hatte Aufbau 4500 Erstauflagen in 125 Millionen Exemplaren veröffentlicht, die Titel des angegliederten Verlags Rütten & Loening nicht mitgerechnet.29 Vor der ‚Wende‘ besaß Aufbau gut 5000 Autorenrechte, allerdings waren nur etwa 300 Titel lieferbar. Der Verlag beschäftigte 186 Mitarbeiterinnen
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Redakteure. Im Bereich der Zeitungen und Zeitschriften, die eine wesentliche Rolle als Kulturvermittler spielen, ist als wichtigste Neugründung die Wochenzeitung Freitag zu nennen, die aus dem 1946 vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in Berlin gegründeten Kultur-Wochenzeitung Sonntag, der 1953 in Düsseldorf gegründeten Volkszeitung (früher: Deutsche Volkszeitung) und der 1950 vom VVN in Frankfurt a.M. gegründeten Zeitung die tat hervorging. Die Ost-West-Wochenzeitung wird von Günter Gaus, Christoph Hein, Gerburg Treusch-Dieter und Wolfgang Ullmann herausgegeben und erscheint in Berlin. Andere Zeitungen und Zeitschriften überlebten kaum die ‚Wende‘ – etwa die in Ost-Berlin erschienenen Temperamente. Blätter für junge Literatur: „Die Zeitschrift geht […] sang- und klanglos ein, bevor wir überhaupt den Kampf um den Markt aufnehmen konnten. Zwei Hefte sind fertig. Von 5 / 90 lag der Umbruch vor, 6 / 90 war im Satz. Beide wurden gestoppt und ausgebucht. Schlimmer als zu Hagers Zeiten; da wurden wenigstens nur einzelne Druckbogen […] eingestampft und neu gedruckt. Nur wird diesmal … alles streng marktwirtschaftlich begründet.“ (Thomas Wieke, ehemaliges Redaktionsmitglied der Temperamente, in: Kulturelles Mosaik / Rückschritt des Monats. In: Der Literat 32 (1990) 9, S. 248). Über die Rolle der von der Akademie der Künste herausgegebenen Zeitschrift Sinn und Form in der Zeit der ‚Wende‘ informiert ein Artikel von Stephen Parker: Re-establishing an all-German identity. Sinn und Form and German unification. In: The New Germany. Literary and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 14-27. Im selben Band findet sich ein Aufsatz von Brian Keith-Smith über „Little magazines in the former GDR since 1989“, S. 28-45. Zu neuen Aufgaben des Feuilletons vgl. Leonore Brandt: Die Rolle des Feuilletons als Vermittler von Literatur. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8, S. 141-241 (ndl-extra); S. 197-204. Zur Rolle der westdeutschen Zeitschrift „Emma“ in der Wendezeit gibt es eine Untersuchung, die auch auf die Entwicklung der DDR-Frauenzeitschrift Für Dich eingeht: Margaret Stone: EMMA and the Wende. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31), S. 155-163. Vgl. Carsten Wurm: Jeden Tag ein Buch. 50 Jahre Aufbau-Verlag. 1945-1995. Berlin 1995, S. 99 bzw. S. 139. Zur Geschichte von Rütten & Loening vgl. Carsten Wurm: 150 Jahre Rütten & Loening. … mehr als eine Verlagsgeschichte. 1844-1994. Mit einem Geleitwort von Alfred Grosser. Berlin 1994.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
und Mitarbeiter, etwa ein Drittel davon arbeitete im Lektorat. Im ersten Halbjahr 1990 konnte noch ein Umsatz von 15 Millionen DDR-Mark erzielt werden, der nach Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 beinahe völlig wegbrach: Der Umsatz betrug in diesem Monat nur noch 30 000 DM.30 Nach der Vereinigung wurden dem Verlag zahlreiche Lizenzen für Titel aus dem Westen gekündigt, die ausschließlich für das Vertriebsgebiet der selbstständigen DDR galten und die – nach gängiger Praxis – jeweils nur für eine Auflage galten. Zahlreiche Autorinnen und Autoren verließen den Verlag endgültig, etwa Christa Wolf, die zu Luchterhand ging, wo ihre Bücher vor 1990 im Westen erschienen; andere ‚gingen fremd‘, beispielsweise Helga Königsdorf, die einige Titel bei Rowohlt und Rowohlt Berlin veröffentlichte. Irmtraud Morgner hatte in ihrem Testament die Rechte an ihren Texten Luchterhand übertragen; auch die Rechte an den Werken von Peter Hacks und Stephan Hermlin gingen dem Verlag verloren. Im September 1991 erwarb ein Konsortium um den Immobilienhändler Bernd F. Lunkewitz31 für 900 000 DM die Verlage Aufbau und Rütten & Loening. Bis heute sind allerdings die Eigentumsverhältnisse nicht endgültig geklärt, da der Aufbau-Verlag als Eigentum des Kulturbundes gar nicht von der Treuhand als ausschließlich für die Privatisierung von Volkseigentum zuständigen Institution hätte verkauft werden dürfen.32 Die SED hatte jedoch irrtümlicherweise geglaubt, der Verlag gehöre ihr. Deshalb konnte am 22. Februar 1990 der Vorstand der PDS beschließen, den Verlag rückwirkend zum 1. Januar in Volkseigentum zu überführen und damit de facto in die Verwaltung durch die Treuhand. Nur so ist zu erklären, dass „dem Verlag Mittel aus der Kasse der Nachfolgepartei PDS in beträchtlicher Höhe zu[flossen; F.Th.G.], die ihm erst einmal zu überleben halfen.“33 Zum 1. Juli folgte die Umwandlung in eine „GmbH i.A.“ unter Leitung der Geschäftsführer Elmar Faber, Peter Dempewolf und Gotthard Erler. 1991 wurde das Weimarer Haus geschlossen.34 Um sicherer Eigentümer des Verlages zu werden, kaufte Lunkewitz im März 30 31 32
33 34
Gotthard Erler; vgl. [Anon.]: Das Aufbau-Wunder. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 214-216, S. 214. Bernd F. Lunkewitz, Thomas Grundmann, Eberhard Kossack und Ulrich Wechsler. Vgl. „Denen brennt die Hütte“. Aufbau-Verleger Bernd F. Lunkewitz über „kriminelle Machenschaften“ der Treuhand und die Notwendigkeit einer neuen deutschen Literatur in der Berliner Republik. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 217-219, S. 217f. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 441. Weimar war wegen der 1964 erfolgten Integrierung des 1946 gegründeten Thüringer Volksverlags einschließlich des Arion Verlags zweiter Verlagsort von Aufbau geworden; vgl. dazu: Vereinigte Verlage von Berlin und Weimar. In: Carsten Wurm: Jeden Tag ein Buch. 50 Jahre Aufbau-Verlag. 1945-1995. Berlin 1995, S. 53-55.
2.2 Zur Situation der Verlage
29
1995 Aufbau ein zweites Mal, der Prozess um die damit zusammenhängende Schadensersatzklage gegen die Treuhand-Nachfolgerin BvS dauert an. 1998 wurde in diesem Zusammenhang immerhin festgestellt, dass der Verlag tatsächlich Eigentum des Kulturbundes sei, die 1955 gelöschte Eintragung in das Handelsregister wurde erneut verfügt.35 Da die Immobilie des Stammsitzes in der Französischen Straße 32 und eine weitere Immobilie von der Treuhand vor dem Verkauf an Lunkewitz aus dem Unternehmen herausgelöst worden waren, musste der traditionelle Verlagssitz aufgegeben werden und der Verlag in die Neue Promenade 6 umziehen. Parallel dazu wurde im Herbst 1996 das Kundenmagazin Neue Promenade ins Leben gerufen, in dem die Bücher der Verlagsgruppe präsentiert werden. Unklar sind die Hintergründe für die Entlassung des langjährigen Geschäftsführers Elmar Faber im September 1992; sein Nachfolger wurde Bernd F. Lunkewitz selbst. Gregor Zalkawski (1992) fasst zusammen: Der rätselhafte Thronsturz wurde weder vom Hauptgesellschafter Bernd F. Lunkewitz noch vom jetzigen Verlagsleiter und Aufbau-Programmchef Gotthard Erler hinreichend erklärt. Da ist von einer „Weggabelung“ (Lunkewitz) die Rede, an der sich der Verlag jetzt, ein Jahr nach der Privatisierung, strategisch und konzeptionell neu orientieren müsse. […] Hier habe man sich von Fabers Vorstellungen vom „prätentiösen, wertvollen Buch“ trennen müssen, um den Weg des lesbaren, preiswerten Buches zu gehen, das sich auch der ostdeutsche Leser leisten könne. Faber hatte das als „Trivialisierung des Programms“ gedeutet und seinen Abschied hingenommen.36
Der Verlag, in dem heute 35 Mitarbeiter und sieben Außendienstmitarbeiter tätig sind, wurde umstrukturiert, der Umsatz konnte kontinuierlich gesteigert werden: von sechs Millionen DM 1991, über rund 15 Millionen 199537, 17 Millionen DM 1997, auf 30 Millionen DM 1999; damit schreibt der Verlag schwarze Zahlen.38 Diese vergleichsweise positive Entwicklung erklärt sich nicht zuletzt durch den Erfolg der 1991 – vom damaligen Verlagsleiter Elmar Faber – gestarteten Taschenbuchreihe auf der einen und durch mehrere Hardcover-Titel auf der anderen Seite: Während die hohe Auflage des 1992 publizierten dritten Bandes von Erwin Strittmatters Romanzyklus „Der Laden“ (bis heute über 100 000) noch auf 35 36 37 38
Vgl. Irmtraud Gutschke: „Aufbau“ nun doch Kulturbundeigentum. Bernd F. Lunkewitz bekam Recht im Streit mit der Treuhand. In: ND v. 8.7.1998. Gregor Zalkawski: Marktwirtschaft im Leseland. „Aufbau“ und „Volk & Welt“: Zwei Ostberliner Verlage in Nöten. In: Basler Zeitung v. 29.9.1992. Vgl. Sven Boedecker: Versunkene Landschaften. Was blieb vom Leseland DDR? Die meisten Ostverlage wirtschaften auf Sparflamme. In: Die Woche v. 29.3.1996. Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 32.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
das Konto des ehemaligen DDR-Leserpublikums gehen dürfte, sind die neueren Auflagenrenner wie Victor Klemperers Tagebücher (knapp 150 000)39 und Alfred Kerrs Reportagen-Sammlung „Wo liegt Berlin?“ (fast 50 000) gesamtdeutsche Überraschungen.40
Die Backlist umfasste schon 1995 wieder gut 1000 Titel; rund 80 Prozent der Bücher werden in Westdeutschland verkauft.41 Einen nicht zu unterschätzenden Anteil an diesem Erfolg dürfte Marcel Reich-Ranicki haben, der vergleichsweise viele Bücher des Aufbau-Verlages im Literarischen Quartett besprach bzw. besprechen ließ. Auch die Vergabe von Lizenzen ins Ausland brachte dem Verlag Geld: Für eine Lizenzausgabe der Klemperer-Tagebücher erhielt Lunkewitz 550 000 Dollar.42 Mit Klassikern werden nach wie vor hohe Umsätze erzielt, an erster Stelle dürfte dabei Fontane stehen, dessen Werk in einer von Gotthard Erler herausgegebenen Neuausgabe erscheint. Zur Aufbau-Verlagsgruppe gehört neben dem Aufbau Taschenbuch Verlag und Rütten & Loening, wo man nunmehr vor allem Unterhaltungsliteratur produziert43, seit 1994 auch der Leipziger Gustav Kiepenheuer Verlag. Neueren Entwicklungen folgend wurde Der Audio Verlag (DAV) gegründet, der Hörbücher produziert. Die früher bei Aufbau und Rütten & Loening erscheinenden Zeitschriften überlebten, wenn auch nicht alle in ihren Stammhäusern: die Weimarer Beiträge wechselten nach der Übernahme durch den 1973 aus der DDR weggegangenen Peter Engelmann zu dessen Passagen Verlag nach Wien; Sinn und Form wird weiterhin von der Akademie der Künste herausgegeben, wechselte aber innerhalb der Gruppe von Rütten & Loening zu Aufbau. Die 1993 mit dem Alfred Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnete ndl erscheint seit Januar 1991 „in alleiniger Partnerschaft mit dem Aufbau-Verlag“44 und ist damit nicht 39
40 41
42 43 44
Es sei an dieser Stelle lediglich darauf verwiesen, dass die Veröffentlichung der Tagebücher selbst weniger eine Überraschung darstellte – so findet sich der Abdruck eines Tagebuchblattes bereits 1988 in der ndl (vgl. ndl 36 (1988) 10, S. 9-12) als vielmehr der dadurch ausgelöste überragende Erfolg, der sich auch in der einige Jahre später erfolgten Teilverfilmung zeigt. [Anon.]: Das Aufbau-Wunder. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 214-216, S. 215. Vgl. „Denen brennt die Hütte“. Aufbau-Verleger Bernd F. Lunkewitz über „kriminelle Machenschaften“ der Treuhand und die Notwendigkeit einer neuen deutschen Literatur in der Berliner Republik. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 217-219, S. 219. [Anon.]: Das Aufbau-Wunder. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 214-216, S. 216. So wurden allein 1997 über 50 000 Exemplare des Romans Die Päpstin von Donna W. Cross verkauft. Hausmitteilung; zit. nach Anton Krättli: Seismische Erschütterung auf dem Parnass. Verwirrungen nach der Vereinigung. In: Schweizer Monatshefte 71 (1991); S. 195-199, S. 195.
2.2 Zur Situation der Verlage
31
mehr Organ des Schriftstellerverbandes. Chefredakteur ist seit 1995 Jürgen Engler. Von 1994 bis 1996 wurde auch Sprache im technischen Zeitalter von Aufbau verlegt. 2.2.2
Volk & Welt45, Berlin46
Volk und Welt, der führende Verlag der DDR für Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, wurde am 1. März 1947 gegründet. Zu seinen ersten Autoren gehörten Stephan Hermlin mit einer Übersetzung von Gedichten Paul Eluards und Hans Mayer mit seiner berühmten Monografie über Büchner und seine Zeit. 1964 – im Zuge einer Neustrukturierung der Verlagslandschaft der DDR – wurde Volk und Welt mit Kultur und Fortschritt vereinigt, dem ebenfalls 1947 gegründeten Verlag der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Nicht zuletzt dadurch wurden die osteuropäischen Literaturen, insbesondere die der Sowjetunion, zum Programmschwerpunkt; der Verlag war aber für die gesamte ausländische Literatur zuständig. Nach 1971, als durch den Grundlagenvertrag die Bundesrepublik Deutschland zum „Ausland“ wurde, fanden deshalb auch Werke westdeutscher Schriftsteller Eingang ins Programm. In Lizenzausgaben veröffentlichte Volk und Welt Texte unter anderem von H. C. Artmann, Simone de Beauvoir, Thomas Bernhard, Luis Buñuel, Italo Calvino, Friedrich Dürrenmatt, Umberto Eco, Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried, Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer, James Joyce, Norman Mailer, Robert Musil, Nathalie Sarraute und Rabindranath Tagore. Gegen zahlreiche Widerstände konnte die erste Freud-Ausgabe der DDR durchgesetzt werden. Die meisten Lizenzrechte galten aber nur für das Gebiet der DDR und erloschen mit der Vereinigung. Weitere Autorenrechte gingen aus anderen Gründen verloren, etwa im Falle des Kirgisen Tschingis Aitmatov. Bekannt war der Verlag, der Ende der achtziger Jahre rund 150 Mitarbeiter, davon 50 (!) Lektoren beschäftigte47, außerdem durch seine exzellent gestalteten Reihen, die sämtlich über kurz oder lang eingestellt werden mussten: Erkundungen, die Weiße Reihe mit internationaler Lyrik 45 46
47
Frühere Schreibweise: Volk und Welt. Nach Abschluss des Manuskripts erschien ein Band, der ausführlich über die Geschichte des Verlags informiert: Leonhard Kossuth: Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag. 1. (korrigierte) Auflage. Berlin 2002. Dazu Dietrich Simon: „50 Lektoren bei Volk & Welt hieß, jede Sprache konnte hier gelesen werden. Wir waren ein Institut für Weltliteratur. Die besondere Funktion, die wir in der DDR hatten, wurde dann mit dem Ende des Staates aufgehoben.“ ([Anon.]: Die Zukunft beherrscht die Gegenwart. 50 Jahre Verlag Volk & Welt in Berlin. Früher hochrangiges Institut für Weltliteratur, konzentriert sich Volk & Welt heute auf Literatur aus dem Osten. Ein Interview mit Dietrich Simon. In: Börsenblatt v. 9.1.1998; S. 18f., S. 18f.).
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
des 20. Jahrhunderts, häufig in zweisprachigen Ausgaben, Spektrum, Ex libris und ad libitum. Neu eingeführt wurde nach der ‚Wende‘ die essayistisch ausgerichtete Reihe Zur Lage der Nation. Zwischen 1947 und 1986 wurden bei Volk und Welt 4780 Titel produziert, davon 3091 Erstauflagen. Der Verlag veröffentlichte Werke von 1500 Autoren aus 76 Staaten und druckte mehr als 82 Millionen Exemplare insgesamt.48 1989 erschienen noch 150 Titel in ca. drei Millionen Exemplaren. Von 1990 bis 1992 arbeitete der Verlag in der Rechtsform einer GmbH unter Verwaltung der Treuhand. Das Programm wurde auf 40 bis 50 Titel pro Jahr reduziert. Im April 1991 berief die Treuhand den Düsseldorfer Manager Ingo-Eric M. Schmidt-Braul zum Geschäftsführer, der bis 1990 bei Econ und nach der ‚Wende‘ als Unternehmensberater bei Volk und Welt tätig gewesen war. Im Juni 1992 verkaufte die Treuhand ohne Wissen der Mitarbeiter den Verlag für den symbolische Betrag von einer Mark an zwei Brüder des bayrischen Büroartikelherstellers Treuleben und Bischof. Es kam zu erheblichen Protesten der Belegschaft gegen diese Form der Privatisierung; nur wenige Tage später gaben die Käufer den Verlag zurück. Am 15. Juli 1992 wurde der Germanist und damalige Betriebsratsvorsitzende Dietrich Simon (*1939), der seit 1969 im Verlag arbeitete, zum Geschäftsführer gewählt. Im Dezember wurde Volk und Welt schließlich über ein Management-Buy-Out-Verfahren zu 35% von den Mitarbeitern und zu 65% vom Förderkreis des Verlages Volk und Welt e.V. übernommen. Vorsitzender des Förderkreises, der aus Freunden, Autoren und anderen dem Verlag nahe stehenden Personen gebildet wurde, war Fritz J. Raddatz; zu den Mitgliedern zählten außerdem Manfred Bissinger, Friedrich Dieckmann, Wieland Förster, Helmut Frielinghaus, Fritz Rudolf Fries, Günter Gaus, Günter Grass, Rolf Hochhuth, Joachim Kersten, Adolf Muschg, Dietger Pforte, Lothar Reher, Thomas Reschke und Michel Tournier. 1993 interessierte sich die französische Verlagsgruppe Albin Michel für den Verlag, erhielt aber nicht den Zuschlag. Brigitte Seebacher-Brandt polemisierte daraufhin in Unkenntnis der tatsächlichen Situation sowohl gegen Volk und Welt als auch gegen alle früheren DDRVerlage, denn: „Keiner der DDR-Verlage hatte je eine wirtschaftliche Existenzberechtigung, sie brauchten nach der Wende Liquiditätshilfen, um Löhne zu bezahlen, nicht um Investitionen zu tätigen.“49 Dieser Angriff rief zahlreiche ablehnende Reaktionen hervor. Fritz-Jochen Kopka entgegnete Seebacher-Brandt in der Wochenpost unter anderem: „Rein logisch ist dazu zu sagen, daß man einem DDR-Unternehmen, das in 48 49
Vgl. Ute Grundmann: Erfolg mit „Kassengift“. Zum „50jährigen“ von Volk & Welt: Interview mit GF Dietrich Simon. In: BuchMarkt (1997) 12, S. 18f., S. 19. Brigitte Seebacher-Brandt: Wenn die Treuhand Gutes tut. Die Aktivitäten um den Verlag Volk & Welt: Nein zu den Franzosen, ja zur Nostalgie. In: FAZ v. 2.12.1993.
2.2 Zur Situation der Verlage
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anderem ökonomischem Kontext stand, schlecht vorwerfen kann, daß es nicht marktwirtschaftlich organisiert war.“50 Zum 1. Mai 1995 kaufte der Münchner Wirtschaftsanwalt Dietrich von Boetticher, der im Jahr zuvor den Luchterhand Literaturverlag und den Limes Verlag übernommen hatte, mit der Wochenpost allerdings gescheitert war, den Verlag. Er gab eine Bestandsgarantie von fünf Jahren ab und eine Garantie über 10 Arbeitsplätze. Die drei Verlage unterhielten einen gemeinsamen Vertrieb, wobei die ‚Quasi-Zusammenlegung‘ gewisse Schwerpunktaufteilungen mit sich brachte, um Konkurrenz innerhalb der Gruppe zu vermeiden. Dietrich Simon stellte dies 1997 so dar: Wir sind in einer Eigentümer- und Vertriebsgemeinschaft mit Luchterhand und Limes; und es gibt innerhalb der Gruppe Abstimmungen: wir kümmern uns um deutsche Autoren (Luchterhand ebenfalls), ansonsten pflegen wir den Schwerpunkt Osteuropa, vor allem die russische Literatur; was Ausflüge in westliche Regionen nicht ausschließt.51
Ab dem 1. Januar 1996 kooperierte der Verlag auch mit Gerhard Wolf Janus press; auf den Buchmessen trat man gemeinsam auf. Im gleichen Jahr zog der Verlag von seinem Stammhaus in der Glinkastraße (BerlinMitte) in die Kreuzberger Oranienstraße um, da die Treuhand auch hier die verlagseigene Immobilie aus dem Verlagsvermögen herausgelöst und separat an die Bundesregierung verkauft hatte. Weil das Haus im neuen Regierungsviertel liegt, hatte der Verlag nur einen befristeten Mietvertrag erhalten können, der schließlich auslief. Mit den zehn verbliebenen Mitarbeitern, darunter zwei Lektoren, wurden jährlich rund 20 bis 30 Titel produziert. Zu den ehrgeizigsten Projekten des Verlages zählten die auf 13 Bände angelegte erste werkgetreue und nahezu vollständige deutsche Ausgabe der Werke Michail Bulgakows sowie eine dreibändige Ausgabe der Werke von Sergej Jessenin zum 100. Geburtstag und 70. Todestag des Dichters. 1997 lag der Umsatz bei drei Millionen DM; vier Fünftel der Bücher wurden in den alten, ein Fünftel in den ‚neuen‘ Bundesländern verkauft52, die Backlist umfasste rund 145 Titel53 mit Auflagen zwischen 2000 und 100 000 Exemplaren. Der größte Verkaufserfolg war Thomas 50 51 52
53
Fritz-Jochen Kopka: Linke Treuhandträume. Volk & Welt privatisiert. In: Wochenpost v. 9.12.1993. Ute Grundmann: Erfolg mit „Kassengift“. Zum „50jährigen“ von Volk & Welt: Interview mit GF Dietrich Simon. In: BuchMarkt (1997) 12; S. 18f., S. 18. Vgl. Die Zukunft beherrscht die Gegenwart. 50 Jahre Verlag Volk & Welt in Berlin. Früher hochrangiges Institut für Weltliteratur, konzentriert sich Volk & Welt heute auf Literatur aus dem Osten. Ein Interview mit Dietrich Simon. In: Börsenblatt v. 9.1.1998; S. 18f., S. 19. Vgl. Rudolf A. Schmeiser: 50 Jahre Volk & Welt. Einst der wichtigste ostdeutsche Verlag für internationale Literatur. In: Buchhändler heute (1997) 12; S. 86f., S. 87.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Brussigs Roman Helden wir wir (1996) mit bis 1998 etwa 100 000 verkauften Exemplaren; Lizenzrechte an diesem Buch wurden in zehn Länder verkauft, darunter die USA und Südkorea. Trotz dieser durchaus positiven Entwicklung musste der Verlag mit Ablauf der Bestandsgarantie 2001 die Arbeit einstellen, die Schwelle zu den schwarzen Zahlen hatte er nicht erreicht.54 2.2.3
Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) / Leipzig55
Der Mitteldeutsche Verlag wurde 1946 in Halle (Saale) als volkseigener Verlag gegründet. Seit Mitte der sechziger Jahre verstand er sich in erster Linie als „Verlag für sozialistische deutsche Gegenwartsliteratur“; mit der Moskauer Novelle (1961) und Der geteilte Himmel (1963) erschienen hier die ersten Bücher von Christa Wolf. 1990 / 91 erfolgte die Privatisierung. Von den über 100 Autorinnen und Autoren, die vor 1989 ihre Texte beim Mitteldeutschen Verlag veröffentlichten, verließen viele, u.a. Günter de Bruyn und Volker Braun, den Verlag und publizierten fortan in erster Linie bei ihren West-Verlagen (S. Fischer bzw. Suhrkamp). Unmittelbar nach der ‚Wende‘ konnte der Mitteldeutsche Verlag seine Existenz zunächst vor allem durch Behördenverzeichnisse und gedruckte Wegweiser mit Hinweisen auf neue Läden, Handwerker usw. sicherstellen. Dank der relativ späten Einführung der Gelben Seiten in den neuen Bundesländern konnte diese Marktlücke für einige Zeit genutzt werden. Mit Einführung dieses und weiterer kostenloser Branchenverzeichnisse ging der Umsatz in diesem Bereich allerdings rasch auf etwa 10% zurück. Es folgte eine Orientierung hin zur Regionalliteratur, daneben erschienen eine Reihe von Text- und Bildbänden über Sachsen-Anhalt. Dieses Marktsegment wird heute als weit gehend „gesättigt“ betrachtet. Von den früher achtzig Mitarbeitern wurden bis 1993 75% entlassen.56 1996 ging der Verlag in die Gesamtvollstreckung, da die nunmehr noch 15 vertraglich zu erhaltenden Arbeitsplätze nicht mehr gesichert werden konnten; man stand vor dem ‚Aus‘. Nach einem Monat konnte der Verlag unter Leitung des neuen Gesellschafters, einer Hallenser Druckerei, und eines neuen Geschäftsführers seine Arbeit wieder aufnehmen. Der Schwerpunkt wurde noch stärker auf den Sach- und Fachbuchbereich gelegt, so 54 55
56
Vgl. dazu Fritz J. Raddatz: Abgewickelt. Der Verlag Volk und Welt ist tot. In: Die Zeit v. 22.3.2001. Die Angaben beziehen sich auf ein persönliches Gespräch am 11.6.1999 im Verlag mit Herrn Dr. Michael Pantenius, damals zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit, und Herrn Zander, dem aus dem Westen stammenden, damals neuen Vertriebschef des Hauses. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 441.
2.2 Zur Situation der Verlage
35
dass sich jetzt drei Programmsäulen herausgebildet haben: Bildbände und Sachbücher, Behördenverzeichnisse und juristische Fachliteratur. Durch die Kooperation mit Partnern wie der Staatskanzlei Sachsen-Anhalt und der Evangelischen Akademie konnten feste Mindestabnahmezahlen erzielt werden, so dass das Risiko für den Verlag gemildert ist. Rund 80% der heute publizierten Titel besitzen einen regionalen Bezug. Der Bereich der Belletristik, für den der Verlag einmal bekannt war, ist nur noch von untergeordneter Bedeutung. 2001 erwarb der Mitteldeutsche Verlag den Namen und die Buchbestände der Anhaltischen Verlagsgesellschaft Dessau, deren Programm nunmehr als Imprint fortgeführt wird. Im Zentrum dieses Unterprogramms stehen vor allem Bücher über die Kunst- und Kulturgeschichte von Städten und Stätten in Sachsen-Anhalt sowie über bekannte Persönlichkeiten, die aus dieser Region stammen. 2.2.4 Hinstorff-Verlag, Thuhoff-Verlag, Rostock Im Gegensatz zu den drei bisher betrachteten Verlagen ist der HinstorffVerlag keine Nachkriegsgründung, sondern wurde bereits 1831 von Detlef-Karl Hinstorff ins Leben gerufen. Der Verlag war vor der ‚Wende‘ vor allem für niederdeutsche Mundartliteratur, aber auch für die Bücher von Franz Fühmann, Fritz Reuter, Rolf Schneider und teilweise auch von Klaus Schlesinger zuständig, um die Bekanntesten zu nennen. Zu DDR-Zeiten produzierte man mit 45 Angestellten jährlich rund 85 Titel mit Auflagen von je zehn- bis zwölftausend Exemplaren.57 Nach der ‚Wende‘ wurde der Verlag vom Hannoveraner Heinz Heise Verlag gekauft – einem Verlag für Telefonbücher. Ähnlich wie beim Mitteldeutschen Verlag musste ein Großteil des belletristischen Programms gestrichen werden, so dass der Schwerpunkt heute bei Bildbänden und regional auf Norddeutschland ausgerichteten Reisebüchern liegt. Betrachtet man das Verhältnis der den einzelnen Sparten gewidmeten Anzahl an Seiten im Gesamtverzeichnis 2002 / 2003 sowie die Gruppierung der einzelnen Sparten, so erkennt man leicht die verschiedenen Gewichtungen: Von 19 Seiten des Stammhauses – die 20. Seite verzeichnet die Bücher des angegliederten Thuhoff-Verlages – sind sechs der „Belletristik“ im engeren Sinne, drei ‚Niederdeutschem‘ (Mundartliteratur und Erzählliteratur im weiteren Sinne), vier dem ‚kulturhistorischen Sachbuch‘, eine ‚Maritimem‘ und Ratgebern (Reihe creaktiv), vier „Biographien / Bildbände[n]“ und eine (auch historischen) „Kochbücher[n]“ gewidmet. Traditionell steht die Bel57
Vgl. Josef Schlösser: Trotz Schwierigkeiten Optimist geblieben. In: Der Demokrat Nr. 66 v. 19.3.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 7 – 18.4.1990, S. 17.
36
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
letristik an erster Stelle des Verzeichnisses58, wenngleich der größte Teil des Gewinns aus den mittlerweile wieder rund 50 im Jahr produzierten Titeln mit Sachbüchern und Bildbänden erwirtschaftet wird. 2.2.5
Eulenspiegel / Das Neue Berlin, Berlin – edition ost, Berlin
Der 1954 gegründete Eulenspiegel Verlag und der 1946 gegründete Verlag Das Neue Berlin bildeten bereits seit Ende der 50er Jahre eine Einheit sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf personeller Ebene. Ende der 80er Jahre hatten die parteieigenen Verlage knapp 100 Mitarbeiter. Nach der ‚Wende‘ kauften Mitarbeiter die Verlage der PDS ab. Der Versuch, beide Verlage in Form einer Mitarbeiter-GmbH von etwa 20 Personen zu erhalten, scheiterte jedoch: 1993 leitete die Treuhand das Konkursverfahren ein. Die ehemalige Verlagssekretärin Jacqueline Kühne und der Literaturwissenschaftler und Kritiker Matthias Oehme kauften die Konkursmasse und gründeten die Verlage neu. 1995 wurde mit vier Mitarbeitern ein Umsatz von rund 3 Mio. DM erwirtschaftet, von denen 96% im Osten erzielt wurden; 1999 beschäftigte das Unternehmen sechs Mitarbeiter, die einen Umsatz von rund vier Millionen DM erwirtschafteten, 95% davon im Osten.59 Das Verlagsprogramm des Eulenspiegel Verlages – in erster Linie Bücher der Bereiche Humor und Satire, die zumindest im Osten hohe Verkaufszahlen versprechen60 –, wurde weit gehend beibehalten. Neu ins Programm genommen wurden neben Spielen auch Hörbücher, für die – dem allgemeinen Trend folgend – mit der Ohreule mittlerweile ein eigenes Hörbuch-Label existiert. In der ebenfalls neuen Kinderbuchreihe Die kleine Eule erscheinen Kinderbuchklassiker der DDR, beispielsweise Heinz Behlings Teddy Brumm und Alarm im Kasperletheater sowie Horst Beselers Käuzchenkuhle. Auch eine Ausgabe der Gedichte Alfred Lichtensteins ist im Programm; im Frühjahr 2003 kam die auf 15 Bände angelegte Ausgabe der Werke von Peter Hacks auf den Markt. Das Neue Berlin dürfte einer der populärsten Publikumsverlage der DDR gewesen sein. Neben der ersten Fontane-Ausgabe der DDR erschienen hier vor allem Kriminal- und Sciencefiction-Romane. 1996 konnte der Verlag 40 Neuerscheinungen auf den Markt bringen, wobei wesentliche Umstrukturierungen erkennbar sind: Mit wenigen Ausnahmen trennte 58 59
60
Hinstorff. Gesamtverzeichnis 2002 / 2003. Belletristik. Niederdeutsches. Sachbücher. Bildbände. Kochbücher. [Rostock 2002]. Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 33f. Z.B.: Heinz Jankofsky: Der Schein fürs Sein. Personalausweis für unsere Bürger der Deutschen Demolierten Republik. Berlin 1995.
2.2 Zur Situation der Verlage
37
sich Das Neue Berlin von der Sciencefiction-Literatur, der Stellenwert der Sachbücher und der Kriminalliteratur stieg deutlich an. So ist die schon zu DDR-Zeiten lancierte Taschenbuchreihe Delikte – Indizien – Ermittlungen (DIE) „nach wie vor eine erste Adresse vor allem für den deutschen Krimi, der sich durch Themen des hiesigen sozialen Umfeldes, solides Erzählen und Verzicht auf Klischees auszeichnet.“61 Einen weiteren Schwerpunkt bilden Memoiren und Biografien, die teilweise auch als Hörbücher erscheinen. Seit 1996 erscheint bei Das Neue Berlin eine Ausgabe der Werke Georg Hermanns. Mit der edition ost wurde 1991 ein Verlag gegründet, der sich versteht „als politischer und parteiunabhängiger Sachbuchverlag, als ein interessantes, notwendiges Element in der demokratischen, pluralistischen Bücherund Medienlandschaft.“62 Im Herbstprogramm 1999 heißt es weiter: Er dokumentiert mit Hartnäckigkeit und Ausdauer vornehmlich deutsche Zeitgeschichte mit Schwerpunkt Ostdeutschland. Der Name war und bleibt Programm. Selbstverständlich sollen der kritischen Auseinandersetzung keine geographischen Grenzen gesetzt werden. Doch allzu oft will man den Ostdeutschen ihre Biographien deuten und erklären. Sie sollten aber Gelegenheit haben, das selbst zu tun. Und: Obgleich die DDR-Deutschen das bis 1989 bestehende politische System selber stürzten (gewiß mit unterschiedlichen Intentionen) und eben nicht von der Bonner Republik befreit wurden, fühlen sich nicht wenige wie nach einer Niederlage. Es ist offenkundig nötig, das beschädigte Selbstbewußtsein der Ostdeutschen zu stärken – und jene Westdeutschen, die noch immer Dankbarkeit glauben einfordern und ihren Landsleuten Vorschriften erteilen zu müssen, mit deren Sicht zu konfrontieren, die alles andere als uniform ist und neben Schwarz und weiß viele Farbtöne erkennen läßt.63
Die edition ost dürfte eine nicht unwesentliche Rolle bei der Herausbildung eines eigenen ostdeutschen Selbstverständnisses gespielt haben und noch spielen. 1998 konstituierte sich der Verlag in Form einer Aktiengesellschaft neu, konnte aber nicht selbstständig erhalten werden: Seit dem Frühjahr 2001 erscheinen die Bücher bei Das Neue Berlin als Imprint unter dem Signet edition ost im Verlag Das Neue Berlin. 2.2.6
Neues Leben, Berlin
Neues Leben wurde 1946 ebenfalls als parteieigener Verlag gegründet und unterhielt ein Programm aus Abenteuer- und Sciencefiction-Büchern, die sich vor allem an ein jugendliches Publikum richteten. Daneben erschienen 61 62 63
Pressemitteilung 50 Jahre Verlag DAS NEUE BERLIN. Berlin 1996, S. 2. Hans Modrow / Peter Brandt / Lothar de Maizière: Zeitgeist und Mainstream […]. In: edition ost. Neuerscheinungen Herbst 1999, ohne Paginierung. Ebd.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
hier die Werke von Brigitte Reimann und Klassikerausgaben von Karl May und Jules Verne. Zum 1. Juli 1990 kauften einige Mitarbeiter der PDS den Verlag ab und führten ihn in Form einer GmbH weiter. Peter Walther fasst die Situation des Verlages im Jahre 1995 zusammen: Die Karl-May-Bücher, von denen früher bis zu 250.000 Exemplaren je Titel gedruckt wurden, werden heute mit 5.000 Exemplaren aufgelegt und nur schleppend verkauft. Von den einst 91 Mitarbeitern sind 4 übriggeblieben, die immerhin noch 25 Titel im Jahr produzieren.64
Heute bietet Neues Leben ein Mischprogramm aus politischen Büchern, Werken von Brigitte Reimann sowie einer Karl May- und einer Jules VerneWerkausgabe an. Im Januar 2000 starb Rudolf Chowanetz, der den Verlag seit 1975 geleitet hatte; sein Nachfolger wurde Andreas Henselmann. Im Herbst 2000 wurde das Programm weiter beschnitten, zugleich aber die neue Taschenbuchreihe Nachtfalter ins Leben gerufen. 2.2.7 Volk und Wissen, Berlin Volk und Wissen nahm als einziger Schulbuchverlag der DDR eine Sonderstellung innerhalb der Verlagslandschaft ein. Er wurde 1945 als GmbH in Berlin gegründet; Mitbegründer waren die Stadt Leipzig und die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung. Bereits vor der ‚Wende‘ dürfte Volk und Wissen zahlreichen westdeutschen Lehrern bekannt gewesen sein, da einige Lehr- und Lernmaterialien, insbesondere aus dem mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich, in Lizenzausgaben auch in der damaligen Bundesrepublik Deutschland erhältlich waren. Nach der ‚Wende‘ drohte dem Verlag die Liquidierung. 1991 übernahm die West-Berliner Cornelsen-Verlagsgruppe das Haus; seitdem ist Volk und Wissen selbstständig geführte Cornelsen-Tochter. Zum Schuljahr 1992 / 93 konnten bereits 80, teilweise neu entwickelte, zumindest aber neu bearbeitete Lehrbücher und zahlreiche Begleitmaterialien vorgestellt werden, die in fast allen Bundesländern die Zulassung erhielten. Während 1992 die Darstellung des Verlagsprogramms in nur einem Katalog Platz fand, waren es 1999 fünf verschiedene. 1995 übernahm Volk und Wissen den Bochumer Schulbuchverlag Kamp. 1997 wurden in Erfurt, Rostock und Magdeburg die ersten Förderschulen der Nachhilfeorganisation Schülerkolleg, einer weiteren Verlagstochter, eröffnet. Für den Grundschulbereich erscheint seit Oktober 1998 zweimal im Jahr das Kundenmagazin Klexer und seit Mai 1999 mit Archimedes ein weiteres Kundenmagazin, das sich an Gymnasiallehrer der mathematisch-naturwis64
Peter Walther: Von Klassik bis leptosome Kritzeleien. Bewegung im alten Leseland: Die ehemaligen DDR-Verlage in Berlin fünf Jahre nach dem Neubeginn. In: taz v. 12. / 13.8.1995.
2.2 Zur Situation der Verlage
39
senschaftlichen Fächer richtet. In den neuen Bundesländern ist Volk und Wissen der mit Abstand führende Schulbuchverlag, auf Gesamdeutschland bezogen steht er an fünfter Stelle. Schwerpunkte sind der Grundschulbereich, der Bereich der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer und der Bereich der Lehrwerke für Russisch. Im April 1997 beschäftigte Volk und Wissen 130 Mitarbeiter, das Gesamtprogramm umfasste etwa 1200 lieferbare Titel für den Unterricht an Grundschulen, Sonderschulen und beiden Sekundarstufen der weiterführenden Schulen. Pro Jahr werden ca. 5,5 Millionen Unterrichtsmaterialien verkauft.65 Neben Cornelsen engagierte sich mit dem Ernst Klett Verlag, Stuttgart, ein weiterer westdeutscher Schulbuchverlag im Osten. Bereits im Frühjahr 1990 war mit dem Ernst Klett Schulbuchverlag eine kleine Niederlassung in Leipzig gegründet worden, 1995 folgte die Gründung des Ernst Klett Grundschulverlags. Im Folgejahr verlagerte Klett seinen gesamten geisteswissenschaftlichen Sektor an die Pleiße und baute 1996 dort ein neues Verlagshaus. Der geografische Sektor der Verlagsgruppe sitzt seit Mitte 1998 in Gotha, dem Standort des renommierten Justus Perthes-Verlages, den Klett 1992 erworben hatte. 2.2.8
Weitere Verlage
Die Geschichte anderer Verlage soll hier nur angedeutet werden. Relativ unkompliziert gestaltete sich die Entwicklung der kircheneigenen oder kirchennahen Verlage: Der 1951 gegründete und bis zur ‚Wende‘ eher geduldete – da der Zensur nicht unmittelbar unterliegende – katholische St. Benno Verlag, Leipzig, wird als GmbH von den Bischöfen von DresdenMeißen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg gehalten. 1998 setzte man rund sechs Millionen DM um – primär über den eigenen Versand, die Erfurter Dombuchhandlung und einige Weltbild plus-Filialen, die St. Benno in Sachsen auf Franchise-Basis betreibt.66 Andere Verlage hatten gleichfalls zumindest etwas günstigere Ausgangsbedingungen: Die 1960 gegründete Edition Leipzig etwa war beinahe 30 Jahre lang auf Export eingerichtet. Eine ähnliche Position hatte der Verlag der Kunst, Dresden, dessen Produktion bis 1989 etwa zur Hälfte ins Ausland ging. Ab dem Frühjahr 1990 arbeitete man mit dem Münchner C.H. Beck-Verlag zusammen, bevor der Verlag von Gordon & Breach Science Publishers und Sachadae International Publishing übernommen wurde. 65 66
Vgl. Brief von Kirsten Bercker, Assistentin der Geschäftsführung des Volk und Wissen Verlags, an Frank Thomas Grub (28.5.1999). Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 35.
40
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Die Schweizer Dornier-Medienholding übernahm gleich fünf DDR-Verlage: den in Brandenburgisches Verlagshaus umbenannten Militärverlag der DDR, Berlin, die Edition Leipzig, Leipzig, Teile des Henschel Verlags Kunst und Gesellschaft, Berlin, die E.A. Seemann Kunstverlagsgesellschaft, Leipzig, und den Urania-Verlag, früher Leipzig, seit 1996 Berlin. Die alten Verlagsprofile wurden weit gehend beibehalten. Der Henschel Verlag war 1945 von Bruno Henschel gegründet worden, der vor 1933 bereits Leiter des Volksbühnenverlages war. Ab 1951 gehörte der Verlag der SED. Zu DDR-Zeiten war Henschel der wichtigste Theaterverlag. Nach der ‚Wende‘ kam es zu einer Aufsplittung: Die Bereiche Bühnenvertrieb, Zeitschriften und Buch gingen getrennte Wege. Während der Zeitschriftenverlag nicht mehr existiert – immerhin erscheinen die früher hier publizierten Druckerzeugnisse Theater heute und Neue Bildende Kunst in anderen Häusern – konnte der Bühnenvertrieb als Henschel Schauspiel weiterexistieren. Der Buchverlag wurde von 1990 bis 1992 von den Mitarbeitern getragen – mit Unterstützung durch ein Darlehen der PDS. Nachdem man 1992 Konkurs anmelden musste, erfolgte der Kauf durch Dornier. Der Verlag der Nation war 1948 in Berlin als Verlag für ehemalige Wehrmachtsoffiziere gegründet worden. Schwerpunkte bildeten Biografien, Klassikerausgaben, historische Romane, Reiseberichte, Übersetzungen mittel- und osteuropäischer Autoren, illustrierte Anthologien sowie deutschsprachige Romane der Gegenwart. Hier erschienen die beiden ersten Romane von Brigitte Burmeister.67 Zu DDR-Zeiten umfasste das Programm über 1000 Titel. Als der Verlag nach der ‚Wende‘ vor dem ‚Aus‘ stand, übernahm ihn 1992 Diethard H. Klein (Bayreuth) mit seiner Bücher GmbH und konnte so die bereits beschlossene Liquidation abwenden. 1998 führte der Verlag wieder 120 Titel und wurde zum 1. Juli in die Verlagsgruppe Husum integriert. Der Verlag für die Frau war am 1. Juli 1946, zunächst unter dem Namen VE Otto Beyer-Verlag für die Frau, in Leipzig gegründet worden. In den ersten Jahren der DDR standen Bücher mit Tipps zu Themen wie ‚Aus Alt mach Neu‘ sowie Ratgeber mit Beschäftigungsvorschlägen für Kinder während der Stromsperren im Mittelpunkt des Programms. Später traten Koch- und Backbücher hinzu, von 1950 bis 1989 erschien hier das Jahrbuch für die Frau. 1991 erfolgte die Privatisierung, der Verlag ist seitdem Teil der Nürnberger Gong-Gruppe. Den Kern bilden das umfangreiche Programm an vielfach regional orientierter Koch- und Backliteratur, Ratgeberliteratur sowie die Verbraucherzeitschrift Guter Rat! 67
Brigitte Burmeister: Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde. Ein kleiner Roman. Berlin (DDR) 1987; Liv Morten [d.i. Brigitte Burmeister]: Das Angebot. Kriminalroman. Berlin (DDR) 1990.
2.2 Zur Situation der Verlage
41
Ein Verlag, dessen Name nach wie vor Programm ist, ist der Berliner Kinderbuchverlag. Er wurde von der Münchner Meisinger-Gruppe übernommen. 2.2.9
Neugründungen
Angesichts der häufig ungeklärten Eigentumsverhältnisse und den mit der Privatisierung einhergehenden Schwierigkeiten, wie etwa im Falle des Aufbau-Verlages, entschlossen sich viele früher in der Verlagsbranche Tätige, aber auch Branchenneulinge, eigene Verlage zu gründen. Für die Zeit von November / Dezember 1989 bis Sommer / Herbst 1990 kann man von einem regelrechten ‚Verlagsgründungsboom‘ sprechen.68 Die hohe Zahl der Neugründungen darf jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es sich meist um Klein- bzw. Kleinstverlage mit bis zu drei Mitarbeitern handelt(e), deren Produkte oft Nischenexistenzen führ(t)en und allzu häufig nicht lange überlebten. Die meisten dieser Verlage wurden im Ostteil Berlins gegründet, wie aus der unten stehenden Übersicht hervorgeht. Stellvertretend für viele seien genannt: – BasisDruck, Berlin, hervorgegangen aus der Bürgerbewegung; – Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg; – der im August 1990 von Wilfried M. Bonsack als Autorenverlag gegründete BONsai-typART Verlag, Berlin; – Corvius Presse, ebenfalls Berlin, gegründet von Hendrik Liersch; – Axel Dietrich-Verlag, gegründet 1993 in Peenemünde, mit ausschließlich regionaler Ausrichtung; – Faber & Faber, Leipzig, gegründet am 6. September 1990 vom ehemaligen Geschäftsführer des Aufbau-Verlags, Elmar Faber, und dessen Sohn Michael; der Verlag ist praktisch die Wiederbelebung der bereits 1983 ins Leben gerufenen Sisyphos-Presse, wo Pressedrucke und Originalgrafiken hergestellt wurden. In verschiedenen Reihen – der auf 40 Bände angelegten DDR-Bibliothek, Die Sisyphosse, Die Graphischen Bücher. Erstlingswerke deutscher Autoren des 20. Jahrhunderts, Leipziger Liebhaber-Drucke – erscheinen belletristische Bände und Kunstbücher in bibliophiler Ausstattung; – Edition Fischerinsel, Berlin;
68
Vgl. Rolf Sprink: Zur Situation der neuen Verlage. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra); S. 188-191, S. 188.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
– Forum Verlag, Leipzig, hervorgegangen noch aus dem Herbst 1989, aber politisch unabhängig vom Neuen Forum. Der Forum Verlag versteht sich in erster Linie als Sachbuchverlag und hatte den ersten ‚offiziellen‘ Auftritt 1990 auf der Alternativen Buchmesse mit dem Buch Jetzt oder nie – Demokratie!, das kurze Zeit später auch in westdeutscher Lizenzausgabe bei C. Bertelsmann erschien; – Verlag Galerie auf Zeit von Thomas Günther, Berlin; – Galrev (Palindrom für ‚Verlag‘) mit den Editionen Galrev und Druckhaus; in der Lychener Straße (Prenzlauer Berg) gegründet von Sascha Anderson und Rainer Schedlinski.69 Pro Jahr enstehen 15 bis 20 Bücher mit vergleichsweise hohen Auflagen von bis zu 2000 Exemplaren; – die von dem Grafiker und Lyriker Christian Ewald und dem Buchbinder und Papiermacher Ralf Liersch gegründete Katzengraben-Presse in Berlin-Köpenick, wo vor allem limitierte bibliophile Ausgaben entstehen; – Klatschmohn-Verlag, Rövershagen bzw. Bentwisch / Rostock, gegründet 1995; – Kontext-Verlag, Berlin, gegründet von Torsten Metelke und Benn Roolf; – LeiV-Verlag, Leipzig, unter dem Dach des LKG; – Linden-Verlag, Leipzig, der als Autorenverlag ausschließlich die Werke von Erich Loest verlegt und mit westdeutschen Verlagen wie Steidl und Hohenheim zusammenarbeitet; – Micado Verlags- und Verwaltungsgesellschaft mbH, Köthen; hier wird vor allem satirische, im weiteren Sinne ‚ostalgische‘ Literatur verlegt, zum Beispiel Reinhard Ulbrichs Knigge für Deutsche (1998)70, Andreas Kämpers und Reinhard Ulbrichs „ostdeutsches Fahrtenbuch“ Grüner Pfeil und Ferkeltaxe (1997)71 sowie das Kleine Lexikon großer Ostprodukte (1996)72 der selben Autoren. Letzteres erreichte bis 1999 eine Gesamtauflage von über 20 000 Exemplaren.73 Ungewöhnlich ist die symbolträchtige Preisgestaltung der Bändchen: Der Knigge für Deutsche war für den „Einheizpreis“ von 19,89 DM zu haben, das „Fahrtenbuch“ kostete vor der Einführung des Euro 17,04 DM; 69
70
71 72 73
Beide mussten nach ihrer Enttarnung als Stasi-Spitzel vorübergehend aus der Verlagsleitung ausscheiden; vgl. dazu: Vorzimmer der Macht. Der Ost-Berliner Galrev-Verlag, Flaggschiff der Lyriker-Avantgarde vom Prenzlauer Berg, ist wieder in der Hand von ehemaligen Stasi-Spitzeln. In: Der Spiegel 46 (1992) 31 v. 27.7.1992, S. 147-151. Reinhard Ulbrich: Knigge für Deutsche: Über den Umgang mit Westmenschen / Knigge für Deutsche: Über den Umgang mit Ostmenschen. Ein Wendebuch. Graphiken von Axel C.A. Jirsch. Köthen 1998. Grüner Pfeil und Ferkeltaxe. Ein ostdeutsches Fahrtenbuch. Ziemlich alphabetisch geführt von Andreas Kämper (Bild) und Reinhard Ulbrich (Text). Köthen 1997. Kleines Lexikon großer Ostprodukte. Gemäß TGL Nullachtfünfzehn aufgezeichnet von Reinhard Ulbrich und fotografiert von Andreas Kämper. Köthen 1996. Neufünfländer Garten Zeitung. Nachrichten mit Buschzulage Nr. 1, Okt. 1999, ohne Paginierung.
2.2 Zur Situation der Verlage
43
– Spotless-Verlag, Berlin, gegründet 1992 als Verlag für „Linke Literatur und Tatsachenreports“. Das Programm ist relativ heterogen und reicht von Erzählungen Erik Neutschs74 bis hin zu einem Buch, das der Frage Ermordete die Stasi Marylin Monroe?75 nachgeht; – Thom-Verlag, Leipzig; – UVA (Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße), gegründet von Dorothea und Matthias Oehme. Neben Literatur im engeren Sinne wurden hier auch Schulungsbücher für Computeranwendungen verlegt. Als Oehme die Verlage Eulenspiegel und Das Neue Berlin übernahm, wurde die UVA quasi ‚geopfert‘76; – der nach seinem Gründer benannte Uwe Warnke Verlag, Berlin; – Horst Liebschers Verlag Zyankrise, gleichfalls Berlin. Viele der im Osten Berlins angesiedelten Verlage korrespondieren mit Kleinverlagen im Westteil der Stadt.77 Hervorzuheben sind zwei Neugründungen, die mittlerweile nicht mehr zu den Kleinverlagen zu zählen sind und deren Programm sich weniger an ein Nischenpublikum richtet: der Ch. Links Verlag und der Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag in Berlin. Beide Verlage verstehen sich allerdings nicht als Literaturverlage im engeren Sinne. Der Ch. Links Verlag78 wurde 1989, noch in den Wirren der ‚Wende‘-Zeit, als erster unabhängiger Verlag der DDR von Christoph Links, Marianne Greiner und Peter Richnow gegründet und am 5. Januar 1990 als LinksDruck in Form einer GmbH in das Ostberliner Handelsregister eingetragen. Aus dem Verlag, den Christoph Links, ein Sohn des Verlegers Roland Links, zunächst in seiner Privatwohnung betrieb, zog man schon im Juli 1990 in ausgebaute Verlagsräume um und konnte zur Frankfurter Buchmesse im Oktober das erste Programm vorstellen.79 Dieses besteht in erster Linie aus Sachbüchern zu Fragen der DDR-Geschichte und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten: 74 75 76 77
78
79
Neutsch, Erik: Der Hirt und Stockheim kommt. Zwei Erzählungen. [Berlin] 1998. Bernd Hoegner: Ermordete die Stasi Marylin Monroe? Tatsachenreport – nicht zuletzt über die CIA. [Berlin] 1993. Vgl. Bernd Heimberger: Zwischen Streben und Scheitern. Berliner Verlage nach der Wende. In: Berliner Lesezeichen (1997) 9, S. 14-16, S. 15. Vgl. dazu Dietger Pforte: Literatur und Politik. Zur literarischen Topographie Berlins im vierten Jahr nach der politischen Wiedervereinigung der Stadt. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 72-91, S. 84. Vgl. zur Verlagsgeschichte auch den Sammelband: Christoph Links / Christian Härtel (Hgg.): Über unsere Bücher läßt sich streiten. Zehn Jahre Ch. Links Verlag. Berlin 1999. Vgl. „Der Mauerfall war für mich das Startsignal“. Rückblende: 10 Jahre nach dem Mauerfall. Ein Erfahrungsbericht des (Ex-Ost-)Berliner Verlegers Christoph Links. In: BuchJournal (1999) 3; 10-13, 11.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Ziel war es zunächst, die „weißen Flecken“ der DDR-Geschichte aufzuarbeiten und mit Debatten-Bänden in die laufenden politischen Auseinandersetzungen einzugreifen. Diesem Grundanliegen ist der Verlag bis heute treu geblieben, auch wenn sich das Programm inzwischen erkennbar geweitet hat und wir ein Sachbuchverlag für die gesamte deutsche Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden sind.80
Der Begriff ‚Sachbuch‘ wird relativ weit aufgefasst, denn auch die Essaysammlungen von Christoph Dieckmann erscheinen bei Ch. Links. 1996 hatte der Verlag fünf feste Mitarbeiter, darunter drei Frauen. In den ersten Jahren wurden rund drei Viertel der Produktion im Westen verkauft.81 1991 hatte sich der Umsatz auf 600 000 DM verdoppelt, für 1992 strebte man 750 000 DM an82, für 1996 bereits zwei Millionen DM.83 Mit be.bra., dem Berlin-Brandenburg-Verlag, existiert bereits ein Schwesterunternehmen. Die Entwicklung des Verlages ist positiv; dennoch weist sein Gründer immer wieder darauf hin, dass es sich bei seinem Unternehmen keineswegs um einen größeren Verlag handelt: „Ich soll immer als Beispiel herhalten, um die blühende Verlagslandschaft Ost zu dokumentieren. […] Wir fünf Leute mit unseren 20 Titeln im Jahr sind das aber leider nicht.“84 Ein ähnlich ausgerichtetes Programm hat der 1994 von Oliver Schwarzkopf mit finanzieller Unterstützung seines Bruders gegründete Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag. Hier erscheinen zahlreiche Sachbücher, Bildbände und Lexika, in erster Linie zu DDR-Themen. So zählten zu den Erfolgstiteln des Jahres 1999 die Bände 50 Jahre DDR85, Messemännchen und Minol-Pirol86 sowie Sibylle87, ein Buch über die gleichnamige „Zeitschrift für Mode und Kultur“. Auch Jürgen Kuczynkis Klassiker Dialog mit meinem Urenkel wurde bei Schwarzkopf & Schwarzkopf neu herausgegeben, erstmals in der „ungekürzten und unzensierten Originalfassung“
80 81
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10 Jahre Wende. 10 Jahre Mauerfall. 10 Jahre Ch. Links Verlag. Vorschau Herbst 1999, S. 2. Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 36. Vgl. Benjamin Jakob: „Weniger Wachstum als erhofft, aber Wachstum“. In: Neues Deutschland v. 29.9.1992. Vgl. Sven Boedecker: Versunkene Landschaften. Was blieb vom Leseland DDR? Die meisten Ostverlage wirtschaften auf Sparflamme. In: Die Woche v. 29.3.1996. Zit. nach Ebd. 50 Jahre DDR. Der Alltag der DDR, erzählt in Fotografien aus dem Archiv des ADN. Mit den Original-Bildunterschriften. Mit Texten von Helga Königsdorf und Walter Heilig. Hrsg. und kommentiert von Günther Drommer. Berlin 1999. Simone Tippach-Schneider: Messemännchen und Minol-Pirol. Werbung in der DDR. Berlin 1999. Sibylle. Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR. Hrsg. von Dorothea Melis. Berlin 1998.
2.2 Zur Situation der Verlage
45
(Klappentext).88 Der Fortsetzungsband89 und weitere Bücher Kuczynskis erschienen ebenfalls hier. 1994 und 1995 konnten die Umsätze jeweils verdreifacht werden90, 1999 wurde mit 10 Mitarbeitern ein Umsatz von ca. 2,5 Millionen DM erzielt.91 Ein letztes Beispiel für Neugründungen ist der ebenfalls in Berlin ansässige Verlag Gerhard Wolf Janus press, der im Frühjahr 1990 von Gerhard und Christa Wolf gegründet wurde. Im Programm sind sowohl Bücher als auch Graphik-Editionen; Schwerpunkte bilden die Belletristik, insbesondere Lyrik, Sachbücher, Künstlerbücher und entsprechende Mischformen. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Bücher in der eigens von Otl Aicher entworfenen Schrift „rotis“ gesetzt. Bei Vertrieb, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung arbeitete Wolf zunächst mit BasisDruck, dann mit Luchterhand, mit Steidl und schließlich mit Volk & Welt / Luchterhand zusammen, seit dem Ende von Volk & Welt ausschließlich mit Luchterhand. Gestützt wird der Verlag von der im Januar 1992 gegründeten janus – Gesellschaft zur Förderung experimenteller Literatur und Kunst e.V. mit zwei ABM-Stellen. Seit 1996 erscheint auch die literarische Zeitschrift moosbrand bei Janus press. Im selben Jahr wurde ein Verlagsbüro in Kreuzberg eingerichtet. Für Wolf ist Janus press kaum ein Objekt zum Geldverdienen – er sieht den Verlag vielmehr als Produkt dieser „Wende- und Umbruchszeit“ damals, und der ganzen dazugehörenden Euphorie. Heute müßte man ja zuerst den Vertrieb organisieren und dann erst produzieren. Bei uns lief das genau umgekehrt, aber es war das, was mich eigentlich interessierte. Mein Hauptaugenmerk war und ist, daß die Autoren weiter arbeiten und publizieren können.92
88
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Jürgen Kuczynski: Dialog mit meinem Urenkel. Neunzehn Fragen und ein Tagebuch. Berlin 1996 (Schwarzkopf & Schwarzkopf POLITIK). [Erstausgabe: J.K.: Dialog mit meinem Urenkel. Neunzehn Briefe und ein Tagebuch. Berlin (DDR) / Weimar 1983]. Ders.: Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater. Berlin 1996 (Schwarzkopf & Schwarzkopf POLITIK). Vgl. Sven Boedecker: Versunkene Landschaften. Was blieb vom Leseland DDR? Die meisten Ostverlage wirtschaften auf Sparflamme. In: Die Woche v. 29.3.1996. Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 36. 7 Jahre Janus press. Gerhard Wolf im Gespräch mit Peter Böthig. In: Die Poesie hat immer recht. Gerhard Wolf. Autor, Herausgeber, Verleger. Ein Almanach zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Peter Böthig. Berlin 1998; S. 215-226, S. 224.
46
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
2.2.10 Auswirkungen der ‚Wende‘ auf westdeutsche Verlage Obwohl naturgemäß die Verlage im Osten die Hauptbetroffenen der Folgen von ‚Wende‘ und Vereinigung waren, änderte sich auch in der westdeutschen Verlagslandschaft einiges. Der Luchterhand Literaturverlag befand sich bereits seit 1987 in Schwierigkeiten, hatte mehrfach den Eigentümer gewechselt, dabei seinen Sitz von Darmstadt über Frankfurt a.M. nach Hamburg und Zürich verlagert und ist nun in München ansässig, seit kurzem als Teil der Verlagsgruppe Random House. Von der renommierten Taschenbuchreihe Sammlung Luchterhand hatte man sich vorübergehend trennen müssen. Wegen der genannten Krisen, aber auch durch den Wegfall vieler Lizenzausgaben von DDR-Verlagen – hier einmal in umgekehrter Richtung – verließen zahlreiche Autoren das Traditionshaus. Durch die veränderte Rolle Berlins siedelten sich zahlreiche Verlage in der Hauptstadt an oder gründeten Tochterunternehmen: So wurde bereits 1990, ein knappes halbes Jahr nach der Maueröffnung, innerhalb der Holzbrinck-Gruppe Rowohlt Berlin als ‚Ableger‘ von Rowohlt in Reinbek gegründet. Damit „reagiert er [der Rowohlt-Verlag; F.Th.G.] auf die historischpolitischen [sic] Veränderungen, die Berlin einmal mehr zum Schnittpunkt kultureller und intellektueller Strömungen Europas macht [sic].“93 Das erste Programm, erschienen im Frühjahr 1991, umfasste rund 20 gebundene Bücher. Während der Verlag editorisch vom Mutterhaus weit gehend unabhängig ist, befindet sich die Geschäftsführung in Reinbek. Vom Rotbuch Verlag, der von Berlin nach Hamburg umzog, also eine gegensätzliche Standortentwicklung vollzog, übernahm Rowohlt Berlin die Kultur- und Literaturzeitschrift Kursbuch. Eine weitere Neugründung ist der Berlin Verlag, der zunächst unter der Leitung des bis 1995 als Cheflektor bei S. Fischer tätigen Arnulf Conrad stand und mittlerweile zu Bertelsmann / Random House gehört. Fasst man die Situation der Verlage in den östlichen Bundesländern zusammen, so zeigt sich, dass es nach der ‚Wende‘ zu zahlreichen Neugründungen kam und zugleich viele Traditionshäuser erhalten werden konnten – wenn auch mit meist dramatisch reduzierter Mitarbeiterzahl. Die Mehrheit der Neugründungen ist zu den Klein- und Kleinstverlagen zu rechnen, die häufig ein regional begrenztes Nischendasein führen. Unbestrittene Qualität, etwa im Falle des Greifenverlags oder von Volk & Welt, war und ist in der Marktwirtschaft keine Überlebensgarantie. Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass ein oberflächlicher Vergleich der Angestelltenzahlen in den einzelnen Verlagen vor und nach 1989 nur einen bedingten Aussagewert hat: In DDR-Verlagen waren Übersetzer, Lektoren, 93
[Anon.]: Rowohlt … informiert. Verlagsgeschichte. Reinbek [o.J.], 3.
2.2 Zur Situation der Verlage
47
Korrekturleser usw. in der Regel fest angestellt und lebten nicht mehr oder weniger freiberuflich von Auftragsarbeiten, wie es im Westen meist der Fall ist. Zudem kostete die Umstellung auf Computersatz zahlreiche Arbeitsplätze – eine Entwicklung, die auch bei einem Fortbestehen der DDR über kurz oder lang stattgefunden hätte. In Deutschland existieren heute rund 2100 Verlage, die jährlich weit über 50 000 Neuerscheinungen auf den Markt bringen. Es stimmt allerdings nachdenklich, dass nur gut 4% der 1998 erschienen 57 578 Erstauflagen aus den ‚neuen‘ Ländern kommen.94 Mischprogramme sind durchaus geeignet, das unternehmerische Risiko zu mindern, ostdeutschen Leseerfahrungen und -gewohnheiten95 wird in aller Regel nur von ostdeutschen Verlagen Rechnung getragen: Kaum jemand im Westen dürfte etwa die in der DDR äußerst populäre Figur „Ottokar“96 kennen. Und welcher Westdeutsche kannte, zumindest vor Ausstrahlung der Verfilmung, Erwin Strittmatters Trilogie Der Laden97? Vierzig Jahre der Teilung dürften also auch die Leseerfahrungen maßgeblich verändert haben – eine Tatsache, die sich beispielsweise in der Zahl der Autorenlesungen widerspiegelt. Bernd Schirmer stellt in diesem Zusammenhang resigniert fest: […] ich habe meine Leser in der DDR gehabt, und im Westen nicht sehr viele dazu gewonnen, muß ich schon sagen. Wenn ich Lesungen habe, in Ost und West, ist es zehn zu eins. Also zehn Lesungen habe ich im Osten, eine habe ich im Westen, und in letzter Zeit schon keine mehr. Denn das Verhältnis zwischen Ost und West hat sich, in der Ignoranz des Westens gegenüber dem Osten, so verändert, daß sie sich überhaupt nicht für das interessieren, was im Osten passiert.98
Und Ulrike Bresch stellt 1996 fest, dass sechs Jahre nach der Vereinigung ein „wiedererwachtes Interesse weniger auf die Wirkung der Bestsellerlisten, sondern häufiger auf alte Vorlieben, manchmal auf die magische Jahreszahl 1989“99 verweise. Zu dieser Erkenntnis gelangte Bresch nach 94
95 96 97 98 99
Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 36. Vgl. dazu: Dietrich Löffler: Lektüren im „Leseland“ vor und nach der Wende. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 98 v. 20.3.1998, S. 20-30. Z.B.: Ottokar Domma sen.: Ottokar und die neuen Deutschen. Berlin 1991 (Reiher Humor). Erwin Strittmatter: Der Laden. Roman. Erster Teil / Zweiter Teil / Dritter Teil. Berlin / Weimar 1983 / 1987 / 1992. Jill Twark: So larmoyant sind sie im Osten gar nicht: Gespräch mit Bernd Schirmer. In: GDR Bulletin 26 (1999); S. 39-44, S. 41. Lese-Gründe und Eigen-Sinn. Die Bewohner des einstigen Leselandes DDR mieden im vereinten Deutschland erst einmal die bunten Bücherläden und die neu sortierten Bibliotheken. Sechs Jahre später verweist wiedererwachtes Interesse weniger auf die Wirkung
48
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Gesprächen mit Leserinnen und Lesern in Rostock, Berlin und Halle. Die Angaben halten damit lediglich eine Tendenz fest, empirisch belegt sind die Daten nicht.
2.3 Buchhandel und Bibliothekswesen Das Gros der Bücher wurde in der DDR in den Volksbuchhandlungen verkauft; viele von ihnen mussten unmittelbar nach der ‚Wende‘ schließen. Gründe hierfür waren nicht zuletzt überhöhte Mietforderungen100: Schließlich waren auch Buchhandlungen häufig in günstigen Lagen und nun um so stärker begehrten Standorten angesiedelt. Dietger Pforte, der Leiter des Referats Literatur- und Autorenförderung bei der Berliner Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten, zeigt am Beispiel Berlins die (Standort-)Probleme des Buchhandels auf: Daß die renommierte Heinrich-Heine-Buchhandlung am Bahnhof Zoo erst nach heftigen öffentlichen Protesten bleiben durfte, wo sie seit über vierzig Jahren ist, zeigt deutlich, wie gefährdet Buchhandlungen in guten Lagen sind, seitdem ganz Berlin wieder Hauptstadt werden soll und will.101
Bei der Privatisierung des Volksbuchhandels befürchtete man zudem – nach einschlägigen Erfahrungen – die Entstehung monopolartiger Strukturen auf Grund großflächiger Übernahmen durch Filialisten wie Gondrom, Hugendubel, Montanus / Phönix (jetzt: Thalia) und Bouvier.102 Mit Hilfe des Börsenvereins wurde dies allerdings verhindert, so dass letztendlich etwa 80% der Volksbuchhandlungen von den Mitarbeitern übernommen
100
101 102
der Bestsellerlisten, sondern häufiger auf alte Vorlieben, manchmal auf die magische Jahreszahl 1989. ULRIKE BRESCH sprach in Rostock, Berlin und Halle mit Lesern über anregende Lektüre nach der Wende. In: Das Magazin 1996 (10); S. 56-60, S. 56. Vgl. Dietger Pforte: Literatur und Politik. Zur literarischen Topographie Berlins im vierten Jahr nach der politischen Wiedervereinigung der Stadt. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 72-91, S. 85. Ebd., S. 86. Dietger Pforte äußerte in diesem Zusammenhang: „Sosehr ich es begrüße, daß etwa Bouvier sich auf dem Berliner Markt sehr engagiert; wenn aber plötzlich ein Unternehmen 12 oder 13 große und wichtige Buchhandlungen in der ehemaligen Hauptstadt der DDR hat, dann kann das auch zu einer Verdrängung der ganz kleinen Buchhandlungen in den einzelnen Stadtbezirken führen. Wir sind da mit den Unternehmern gottlob in einer guten Gesprächssituation; sie sehen selbst, daß das auch für sie auf Dauer nicht nützlich sein kann. Geht es doch darum, ein möglichst dichtes Netz von Buchhandlungen überall zu erhalten.“ (Ebd.)
2.3 Buchhandel und Bibliothekswesen
49
werden konnten.103 Ein Überleben war damit jedoch keineswegs gesichert: Innerhalb kürzester Zeit mussten in den Buchhandlungen Recherchemöglichkeiten auch für die nun auf den Markt drängenden westdeutschen Bücher geschaffen werden. Mit Unterstützung des Bundesinnenministeriums wurden über 250 kleinere und mittlere Sortimente kostenlos mit Computern ausgestattet.104 Bereits im Januar 1990 lud Rowohlt Buchhändler aus der DDR zu einem Fachkurs ein105, fast ebenso kurzfristig wurde das System der Bestellnummern vereinheitlicht. Zum 2. Juli 1990 wurde die Buchpreisbindung auch in der DDR eingeführt. Dieser Vorgang erwies sich als unproblematisch, da die Buchpreise auch in der DDR entsprechend planwirtschaftlicher Vorgaben festgelegt waren. Buchhandlungen in den neuen Bundesländern haben es auch zehn Jahre nach der Vereinigung nicht leicht: Das Interesse an schöner Literatur ist deutlich gesunken, von einem „Leseland“ kann nicht die Rede sein. Nach wie vor ist die Kaufkraft im Osten geringer als im Westen. Und auf das vor allem für kleinere Buchhandlungen wichtige Schulbuchgeschäft wirken sich nun die sinkenden Schülerzahlen negativ aus, da in den ersten Nachwendejahren die Geburtenraten deutlich zurückgingen. Von dieser Entwicklung betroffen sind natürlich auch die neuen Medienkaufhäuser, die in größeren Städten, vor allem aber in Berlin, angesiedelt wurden: Fnac Deutschland, Herder und Virgin Megastore hatten zunächst Existenzschwierigkeiten106; eine Ausnahme bildet das „KulturKaufhaus“ Dussmann in der Friedrichstraße.107 Heute existieren in den östlichen Bundesländern ca. 1100 Buchhandlungen, das sind rund 200 mehr als 1990 in der DDR. Neben dem traditionellen Buchhandel bildet sich verstärkt ein ‚zweiter Markt‘ für Bücher heraus: Ende September 1997 wurde auf Initiative der Rheinländerin Heidi Dehne in Mühlbeck-Friedersdorf bei Bitterfeld vom Förderverein Buchdorf Mühlbeck-Friedersdorf e.V. das erste deutsche Buchdorf gegründet. In der alten Schule, dem früheren Lebensmittelladen, der 103
104 105
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107
Vgl. dazu Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandelsund Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 31. Vgl. Ebd., S. 30. Vgl. [Anon.]: Wir sind darauf vorbereitet. In: Norddeutsche Neueste Nachrichten Nr. 69 v. 22.3.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 7 – 18.4.1990; S. 17f., S. 17. Dietger Pforte: Literatur und Politik. Zur literarischen Topographie Berlins im vierten Jahr nach der politischen Wiedervereinigung der Stadt. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 72-91, S. 86. Vgl. dazu: [Anon.]: Augen- und Ohrenschmaus im KulturKaufhaus. Vom 31. Oktober an Kultur neu erleben in der Mitte Berlins. In: Mittenmang 2 (1997) 15, S. 3; Peter Dussmann: Die Einheit ermöglichte neue Wege. In: Deutsche Einheit. Gedanken, Einsichten und Perspektiven. Hrsg. von Eberhard Diepgen. Berlin 2000, S. 79-84.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
ehemaligen Schmiede und weiteren Gebäuden haben sich mittlerweile 13 Antiquariate angesiedelt; die meisten von ihnen sind auf bestimmte Bereiche spezialisiert. Neben einem regen Buchan- und -verkaufsverkehr finden hier auch Lesungen und weitere Veranstaltungen statt. In den nächsten Jahren soll die Zahl der Antiquariate auf 30 bis 35 wachsen; die Besucherzahlen stiegen zwischen 1997 und 2001 um 50%. 1999 entstand im brandenburgischen Waldstadt Wünsdorf ein ähnliches Projekt; hier wurden die alten Kasernengebäude zur Bücherstadt mit über 100 000 Büchern. Vorbild für beide Orte ist das 1961 von Richard Booth im walisischen Hay-on-Wye gegründete erste Buchdorf der Welt, dem mittlerweile zahlreiche weitere Gründungen gefolgt sind: unter anderem 1984 in Redou (Belgien), 1993 in Breedevort (Niederlande) und 1996 in Fontenoy-la-Joûte (Frankreich). Ebenfalls in den ‚neuen Bundesländern‘, im mecklenburgischen Groß Breesen, wurde das erste und bisher einzige deutsche „Bücherhotel“ gegründet.108 Dramatische Änderungen vollzogen sich im Bereich der Bibliotheken. Aussagekräftiges Zahlenmaterial ist zu diesem Bereich allerdings kaum zu erhalten – zu wenig vergleichbar sind die Angaben sowie die Basis für deren Erhebung. 1989 gab es in der DDR 17 619 Bibliotheken mit 104 Millionen Bänden. Zumindest im Hinblick auf die Dichte des Bibliotheksnetzes schnitt die wesentlich größere Bundesrepublik mit 18 567 Bibliotheken und 259 Millionen Bänden rein quantitativ betrachtet schlechter ab. Vergleichweise ungünstig präsentierten sich die wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR, während die öffentlichen Bibliotheken überproportional gut wegkamen.109 An Stelle wenig aussagekräftiger Überblicksdaten seien im Folgenden drei Beispiele aus Bernburg (Saale), Magdeburg und Jena kurz dargestellt: In Bernburg an der Saale betrug 1989 der Gesamtbestand der Stadt- und Kreisbibliothek mit angeschlossenen Zweigstellen 113 894 „Einheiten“. Das waren 2,8 pro Einwohner. Mit 11.851 Benutzern waren 29,3% der Bernburgerinnen und Bernburger dabei. Sie entliehen im Jahr 303.033 „Einheiten“ – 7,4 pro Benutzer. Sie wurden über 48 Ausleihstellen in Wohngebieten, Schulen, Betrieben und Feierabendheimen erreicht. Ein Netz aus 15 hauptberuflich und 39 nebenberuflich geleiteten Bibliotheken zog sich über das ganze Gebiet des Kreises Bernburg.110 108 109
110
Vgl. Franz Lerchenmüller: schatzsuche im regal. Im Herzen von Mecklenburg-Vorpommern steht Deutschlands einziges Bücherhotel. In: FR v. 29.12.2001 (Magazin Reisen). Vgl. Elmar Mittler: Zur Rolle und Situation der Bibliotheken in den neuen Bundesländern. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra), S. 219224. Volker Ebersbach: Lies doch mal! Die Besonderheit der Bücher. In: LeseZeichen. Stadtbibliothek Bernburg (Saale). Hrsg. von der Stadt Bernburg (Saale) und der Bernburger Wohnstättengesellschaft mbH. Bernburg (S.) [2000]; S. 6-31, S. 28.
2.3 Buchhandel und Bibliothekswesen
51
Nach der ‚Wende‘ brach die Finanzierung zusammen; nach und nach wurden die Zweigstellen geschlossen. Zum 1. Juni 1991 wurde die Bernburger Stadtbibliothek in die Trägerschaft der Kommune überführt, von 1992-1996 erfolgte eine Umstellung des Kataloges und der Ausleihe auf Computer; zahlreiche Bücher wurden abgestoßen. 1998 wurde der Neubau des Bibliotheksgebäudes beschlossen, das 2000 eröffnet wurde. Anfang der neunziger Jahre stiegen die Nutzerzahlen wieder: „von 1991 mit 4.472 Benutzern bis 1999 auf 5.604 Benutzer. Dazu stieg die jährliche Gesamtentleihung von 1991 mit 147.085 Medieneinheiten auf 251.042 Medieneinheiten im Jahr 1999.“111 Auch in Magdeburg brachte die ‚Wende‘ einen starken Rückgang der Leihzahlen: Gertraud Walter, die stellvertretende Direktorin der Magdeburger Stadt- und Bezirksbibliothek Wilhelm Weitling stellt fest, dass bis zum Juni 1990 im Vergleich zum Vorjahr 30% weniger Bücher entliehen wurden. Zudem mussten Wege gefunden werden, die nun nachgefragte Literatur auch anbieten zu können: Bei den neuen Überlegungen, die wir uns machen [sic], stimme ich mit Ihnen bei den Inhalten überein, in Richtung Angebotserweiterung. So sehen wir uns gegenwärtig auf dem internationalen Buchmarkt um und kaufen an, was jetzt dringend gebraucht wird. Also konkret, Literatur über das neue Steuerrecht zum Beispiel, über das marktwirtschaftliche Management, aber auch Reiseliteratur, die da jetzt eine richtige Lebenshilfe ist. Wir planen, unseren Buchbestand dadurch um knapp 30 000 Titel zu erweitern.112
In der Jenaer Ernst-Abbe-Bibliothek registrierte man Anfang 1991 5000 Leser weniger als in den Jahren davor – allerdings bei wieder leicht steigenden Leihzahlen. Auch hier wurde das Programm umstrukturiert: Mehr als 3000 Bände „gesellschaftswissenschaftlicher“ Literatur und nicht gefragter Belletristik wurden ausgesondert und machten 5000 Neuankäufen Platz. Besonders groß war der Nachholbedarf an Reiseliteratur, Geschichte, Recht, Religion, Computerliteratur, deutscher Literaturgeschichte und Belletristik.113
Aus heutiger Sicht wurde bisweilen allzu radikal „ausgesondert“, denn zahlreiche Werke namhafter DDR-Autorinnen und -Autoren fielen Aktionen 111 112
113
Ebd., S. 30. Cordula Bischoff: Marx liegt wie Blei. In: Volksstimme Nr. 136 v. 14.6.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 12 – 5.7.1990, S. 14. [oke]: Hunger und Durst. In: Thüringische Landeszeitung Nr. 25 v. 30.1.1991; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen der neuen Bundesländer. Nr. 3 – 27.2.1991; S. 14f., S. 15.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
dieser Art zum Opfer. Auch bei der Zusammenlegung von Bibliotheken wurde kräftig aussortiert: So übernahm bei der Schließung des 1983 eröffneten Pariser Kulturzentrums der DDR das westdeutsche Goethe-Institut lediglich „400 der rund 8000 Bände der Bibliothek“.114 Das gut ausgebaute Bibliotheksnetz konnte bedauerlicherweise nicht erhalten werden, und mit dem Ende vieler Betriebe kam auch das Ende für die hauseigenen Werksbibliotheken. Eigenständige Kinder- und Jugendbibliotheken wurden aufgegeben, aber nicht immer durch entsprechende Abteilungen in größeren Bibliotheken ersetzt; ein ähnliches Schicksal erlitten die Patientenbibliotheken in vielen Polikliniken.115 Immerhin erhielten zahlreiche Bibliotheken in der DDR Spenden aus dem Westen von unterschiedlichen Gebern: Neben öffentlichen Geldern des Bundes, insbesondere des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, und einzelner Partnerländer im Westen, flossen auch Gelder und Sachspenden von Privatleuten und aus der Wirtschaft – so stellte die VW-Stiftung 10 Millionen DM für die ostdeutschen Universitätsbibliotheken zur Verfügung. Die Bestände der Berliner Deutschen Staatsbibliothek sind nach wie vor in zwei Häusern untergebracht: Unter den Linden bzw. am Tiergarten. Die Forderung nach einer „Deutschen Nationalbibliothek“, die in einem einzigen Gebäude, beispielsweise auf dem Schlossplatz entstehen könnte, ist immer wieder erhoben worden.116
2.4 Zur Situation der Autorinnen117 und Autoren Angesichts der instabilen Verlagslandschaft insbesondere nach der Einführung der DM am 1. Juli 1990 ist es durchaus verständlich, dass zahlreiche Autorinnen und Autoren ihren angestammten Verlegern den Rücken kehrten und vergleichsweise sichere Verträge mit westdeutschen Verlags-
114 115 116 117
Vgl. [dpa]: Kulturzentrum der DDR in Paris geschlossen. In: SZ v. 24.9.1990. Vgl. dazu Renate Preuß: Aus dem Tagebuch einer Krankenhausbibliothekarin II (6. bis 14. Februar 1990). In: WendeBlätter – werkstatt 1. Sebnitz 1991, S. 32f. Vgl. Johannes Willms: Zur Mitte, bitte! Plädoyer für eine Deutsche Nationalbibliothek in Berlin. In: SZ v. 3.5.2001. Zu den Lebensbedingungen speziell von Schriftstellerinnen nach der ‚Wende‘ vgl. Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt a.M. 1991 sowie Eva Kaufmann: Adieu Kassandra? Schriftstellerinnen aus der DDR vor, in und nach der Wende: Brigitte Burmeister, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Brigitte Struzyk, Rosemarie Zeplin. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 216-225, S. 222.
2.4 Zur Situation der Autorinnen und Autoren
53
häusern abschlossen. Viele Verlage im Osten sahen sich aus materiellen Gründen zur Kündigung bestehender Verträge gezwungen. Spätestens mit der Vereinigung kam es zu zahlreichen Veränderungen auch in juristischer Hinsicht, die sich direkt auf die Situation der Schriftsteller auswirkten. Im Zuge der Währungsunion wurden 4000 Mark übersteigende Sparbeträge lediglich zum Kurs von 1:2 umgetauscht. Die meist frei schaffenden Schriftsteller dürften davon ungleich härter betroffen gewesen sein, da sie – im Vergleich zu regelmäßig verdienenden Arbeitnehmern – in höherem Maße auf Rücklagen angewiesen sind. Die Situation war für viele Schriftsteller besonders schwierig, weil Renten- und Versicherungsansprüche aus DDR-Zeiten nicht angerechnet wurden, das in der alten Bundesrepublik geltende Künstlersozialversicherungsgesetz für sie aber erst im Januar 1992 in Kraft treten sollte118, während sie seit dem 31. März 1990 keine staatlichen Zuwendungen mehr erhielten.119 Zugleich fielen die früher in größerer Zahl vorhandenen Möglichkeiten weg, durch Lesungen in Bibliotheken und Kulturhäusern zusätzlich Geld zu verdienen. Nicht zuletzt durch drohende Existenzkrisen gerieten zahlreiche Autoren in eine Identitätskrise – eine Situation, die sich direkt auf das Schreiben ausgewirkt haben dürfte und noch auswirkt. So stellt Heinz Czechowski 1992 fest: „Alles hat sich verändert. Das Preisthermometer steigt unaufhörlich. Nur meine Einkünfte haben es aufgegeben, sich anzugleichen.“120 Mit diesen Gefühlen geht eine mangelnde Schreibmotivation einher: Ich kann mir plötzlich keinen Grund mehr vorstellen, der mich zum Schreiben veranlaßt. Ich blicke auf das Manuskript neben mir. Jeder Satz, den ich zufällig lese, scheint mir absurd, beliebig, austauschbar. Ich, ein Verfasser von Gelegenheitstexten. Einer, der nur dann schreiben sollte, wenn er den inneren Auftrag dazu spürt.121
Auch Jurek Becker (1992) sieht in den veränderten Marktbedingungen zentrale „Folgen der Wiedervereinigung für die Literatur“. Sein Blick in die Zukunft fällt düster aus:
118 119 120 121
Vgl. Dunja Welke: Deutsche Einheit: „Aus“ für die DDR-Literatur? Zur Situation der Schriftsteller nach der Wende. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 240-251, S. 242. Vgl. Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni. Magazin für Kultur & Politik 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 130. Heinz Czechowski: Ständige Vertreibung [1992]. In: H.C.: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987-1992. Zürich 1993; S. 220f., S. 220. Ders.: Schreibtage. 1 Die Klimaverschiebung. Das Ozonloch. Der Treibhauseffekt [April 1990]. In: H.C.: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987-1992. Zürich 1993; S. 188-190, S. 188.
54
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Daß DDR-Literatur der westdeutschen immer ähnlicher wird, hat nicht nur seinen Grund in dem, was ich eben erzählt habe, also im Wegfall der Institution ‚Zensor‘, sondern diese Ähnlichkeit wird auch erzwungen werden. Wissen Sie, von wem? Vom Markt. Auf die armen DDR-Autoren, die bis jetzt von ihren Einkünften in der DDR gelebt haben, also von hochsubventionierten Büchern, von Papierkontingenten, auf die wartet ja ein furchtbarer Schock. Sie werden es lernen müssen, sich unter Hyänen zu behaupten, auf dem sogenannten ‚freien Markt‘ zu behaupten; das heißt, ihre Bücher werden den Erfordernissen dieses Marktes, den Regeln dieses Marktes entsprechen müssen, oder sie werden untergehen. […] Und in der DDR werden die alten Verlage aufhören zu existieren, und es wird bald in der DDR nur noch solche Verlage geben, die so sind wie die westdeutschen Verlage. Und wenn sie nicht so sind, werden sie verschwinden.122
Am 24. und 25. April 1991 fand am Rande der Leipziger Buchmesse ein Symposion der Deutschen Literaturkonferenz statt zum Thema Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Bereits an der Tatsache, dass sich eine zweitägige Veranstaltung ausschließlich diesen Fragen widmete, ist der hohe Stellenwert der Problematik abzulesen. In der Einleitung zum Protokoll heißt es: Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller in den neuen Bundesländern ist besorgniserregend, und die Existenzbedingungen der Literatur sind nachhaltig bedroht. So ungesichert die zur Zeit diskutierten Zahlen und Fakten sind, so unzweifelhaft erscheint es, daß viele Autoren kaum Arbeitsmöglichkeiten haben und daß deshalb möglichst schnell Maßnahmen getroffen werden müssen, um ihnen Perspektiven für ihre persönliche Zukunft und ihren sozialen Status aufzuzeigen. […] Sinn der Tagung war es, bei den Verlagen und den Rundfunkanstalten sowie bei den Kulturinstitutionen und den zuständigen staatlichen und kommunalen Stellen Verständnis für die besondere Situation der Autoren zu wecken, Anregungen für ihre Integration in das literarische Leben des vereinigten Deutschland zu vermitteln und Anstöße für rasche Hilfsmaßnahmen zu geben.123
122 123
Jurek Becker in: Literarische Porträts: Jurek Becker. Begleitheft zum Videofilm. München 1992, S. 8. Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra), S. 142; Text im Original kursiv.
2.4 Zur Situation der Autorinnen und Autoren
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Die thematische Breite der Beiträge ist entsprechend groß; sie reicht von der reinen Zustandsbeschreibung bin zum pragmatisch orientierten Vortrag mit konkreten Erläuterungen etwa zu Förderungsmöglichkeiten.124 Rainer Kirsch (*1934) blickt in seinem Vortrag zunächst zurück auf die Situation der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der DDR: Mit einiger Generalisierung läßt sich sagen, ein Schriftsteller in der DDR war ein ernstgenommener Mensch. Gedruckt oder nicht gedruckt, gelobt oder getadelt, vielerwähnt oder in Zeitungen und Medien überhaupt nicht vorkommend, wurde und wußte er sich doch ernstgenommen, das heißt, er empfand sich als wichtig im Gemeinwesen und hatte ein entsprechendes Selbstbewußtsein. (Selbstbewußtsein, erinnere ich, ist der Kunst-Produktion förderlich, wenn nicht für sie unabdingbar; ohne Wette aufs Publikum, d.i. auch auf die Nachwelt, nimmt kaum jemand die Mühen und Risiken eines künstlerischen Berufs auf sich.) Ähnlich generalisierend läßt sich sagen, ein Schriftsteller in der DDR konnte sich – Begabung und Fleiß vorausgesetzt und die Schwierigkeiten mit der Zensur berücksichtigt – von den Erträgnissen seiner Arbeit in aller Regel ernähren, teils ordentlich, teils recht und schlecht, aber doch. Ein mittleres Schriftsteller-Einkommen dürfte zwischen dem eines Oberstufenlehrers und dem eines Universitätsprofessors gelegen haben; bei den niedrigen Grundkosten für Miete und Nahrungsmittel ließ sich schon von 800 oder 1000 Mark im Monat leben. (Ich rede hier von den Freiberuflichen. Von den 1000 Mitgliedern des DDR-Schriftstellerverbandes waren im Juli 1990 25 Prozent berufstätig, hatten also irgendeine Anstellung, 30 Prozent waren Rentner; zu den verbleibenden 450 Freiberuflichen zählten 250 literarische Übersetzer.) „Von den Erträgnissen sich ernähren“ soll hier heißen: ohne Stipendien und andere Zuwendungen, die zwar vorkamen, auch gelegentlich rettend gewesen sein mögen, mit denen sich aber nie fest rechnen ließ. Ich habe Statistiken studiert 124
Vgl. Ferdinand Melichar: Die Bedeutung der Verwertungsgesellschaft Wort für die Schriftsteller in den neuen Bundesländern. In: Ebd., S. 170-176; praktische Informationen zur Künstlersozialversicherung bzw. -sozialkasse finden sich bei Siegfried Heise: Die soziale Situation der Schriftsteller in den neuen Bundesländern – eine Zustandsbeschreibung. In: Ebd., S. 176-187; über Literaturförderung informieren auch Hans Altenhein: Literaturförderung. In: Ebd., S. 228-230, Dietger Pforte: Zur Literatur- und Autorenförderung in den Bundesländern. In: Ebd., S. 231-236, und Hartmut Vogel: Was der Bund für die Literatur tut. In: Ebd., S. 237-240. Informationen zur aus dem ehemaligen Kulturfonds hervorgegangenen Stiftung Kulturfonds gibt Wolfgang Patig: Eine Stiftung für die neuen Länder. In: Ebd., S. 225-228. Die Stiftung wurde am 24.9.1990 als Stiftung öffentlichen Rechts gegründet und arbeitet eng mit der Kulturstiftung der Länder, dem Deutschen Literaturfonds e.V., dem Kunstfonds e.V., dem Musikrat e.V., dem Fonds Darstellende Künste e.V., dem Fonds Soziokultur e.V. und mit der Künstlersozialkasse zusammen. Das Stiftungskapital beträgt 92 Mio. DM, daneben besitzt die Stiftung Immobilien, in erster Linie Künstlerheime wie Schloss Wiepersdorf (vgl. dazu Schloß Wiepersdorf. Künstlerhaus in der Mark Brandenburg. Hrsg. von Verena Nolte und Doris Sossenheimer. Göttingen 1997 [Veröffentlichung des Künstlerhauses Schloß Wiepersdorf der Stiftung Kulturfonds]). Eine satirische Auseinandersetzung mit der Stiftung stellt Matthias Biskupeks Roman Schloß Zockendorf. Eine Mordsgeschichte (Leipzig 1998) dar; der Stiftungsname wird hier bezeichnenderweise zu „Stiftung KulturTest e.V.“ abgewandelt. Handlungsort ist das unschwer als Schloß Wiepersdorf zu erkennende „Künstlerhaus Schloß Zockendorf“.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
und gefunden, daß ein gestandener Schriftsteller im Durchschnitt während zwanzig Berufsjahren auf drei Jahresstipendien von je 9600 Mark kam, also auf drei oder vier Monatsgehälter eines westlichen Feuilletonredakteurs.125
Die am 25. April verabschiedete Schlusserklärung enthält einen Katalog teilweise ausgesprochen konkreter Forderungen: Die Referate und Diskussionen bei diesem Symposion haben gezeigt, daß es vieler Maßnahmen bedarf, um in allen Bundesländern gerechte und gleichwertige Bedingungen für den Schutz und die Entfaltung des literarischen Lebens zu schaffen. Dies gilt vor allem für die Situation in Hörfunk und Fernsehen, in Verlagswesen und Buchhandel, in Presse und in Bibliotheken sowie für die soziale Sicherung der Autoren und Publizisten. Diese Situation ist in den neuen Bundesländern alarmierend. Deswegen fordert die Deutsche Literaturkonferenz vorrangig folgende Maßnahmen: 1. Einrichtung eines Kulturausschusses im Deutschen Bundestag, damit die dem Bund durch den Einigungsvertrag übertragenen kulturpolitischen Aufgaben zur Realisierung der Einheit schnell und verantwortungsbewußt verwirklicht werden. 2. Dem Bibliothekssterben in den neuen Bundesländern durch Bereitstellung entsprechender finanzieller Mittel Einhalt zu gebieten. 3. Wahrung des verfassungsmäßigen Kulturauftrages des öffentlich rechtlichen Rundfunks durch Ausweitung des literarischen Programms, insbesondere die Sicherung und Verbreiterung des „Deutschlandsenders (DS) Kultur“. 4. Finanzielle Unterstützung für die Unterhaltung und Schaffung von Möglichkeiten zu Begegnungen von Autoren untereinander und mit dem Publikum sowie für Verleger zur Präsentation ihrer Bücher in der Öffentlichkeit. 5. Anstrengungen der Kommunen, dem Buchhandel durch verträgliche Mietpreispolitik das Überleben zu ermöglichen. 6. Sofortige Angleichung der Portogebühren für Büchersendungen an die für die alten Bundesländer geltenden Regelungen. Die Deutsche Literaturkonferenz begrüßt die während des Symposions erklärte Absicht des Freistaates Sachsen, das Leipziger Literaturinstitut neu zu gründen.126
125
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Rainer Kirsch: Das Rad der Geschichte. Gesellschaftlicher Status und soziale Situation der Schriftsteller in den neuen Bundesländern. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra); S. 164-170, S. 164f.; Hervorhebung im Original. Schlußerklärung. In: Ebd., S. 240f.; Hervorhebung im Original.
2.5 Uneinig in die Einheit
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2.5 Uneinig in die Einheit: Akademie der Künste, Schriftstellerverband und P.E.N. Nicht nur bei der Vereinigung der beiden Akademien der Künste, sondern auch bei der Zusammenführung der beiden Schrifstellerverbände sowie der beiden seit 1951 existenten deutschen P.E.N.-Zentren spielten Fragen der Vergangenheitsbewältigung, insbesondere im Hinblick auf die Tätigkeit von Mitgliedern für den Staatssicherheitsdienst, eine zentrale Rolle. Am 16. Juli 1990 war Heiner Müller als Nachfolger von Manfred Wekwerth Präsident der Ost-Berliner Akademie der Künste127 geworden; zum 3. Oktober 1990 erfolgte die Umbenennung in Akademie der Künste zu Berlin. Für Müller war klar, dass die beiden Akademien eines Tages vereinigt werden würden, die Ost-Berliner Akademie sollte allerdings nicht einfach in der West-Akademie aufgehen. Müllers „Wunschdatum“ für eine solche Vereinigung war 1994, während der Berliner Senat die Finanzierung bereits zum 31. März 1992 einstellen wollte – eine Frist, die später bis zum 30. Juni 1992 verlängert wurde.128 Am 11. Oktober 1991 unterbreitete Heiner Müller einen Kompromissvorschlag129, in dessen Folge es am 9. Dezember 1991 zu einer so genannten „Umbildungswahl“ kam. Deren Ziel war es, die Mitgliedschaft in der Akademie auf eine strikt demokratische Prozedur zu stützen, ihr Ergebnis war die Verminderung einer Mitgliederzahl, deren Höhe (etwa hundertzwanzig) im Hinblick auf eine Vereinigung mit der West-Akademie mit ihren 270 in- und ausländischen Mitgliedern auf starke Vorbehalte gestoßen war. Bei dieser Reduktionswahl hatten sich die Mitglieder der DDR-Akademie (sie waren bis 1989 sowohl gewählt wie regierungsbestätigt) zu Wahlmännern einer neuen Mitgliedschaft ernannt, die aus der alten nach dem Kriterium hervorgehen sollte, daß jedes neue Mitglied mehr als die Hälfte der Stimmen der anwesenden alten Mitglieder erhalten müsse; wer sich der Wahl versagte, war automatisch nicht mehr Mitglied.130
Die Folge dieser Umbildungswahl war eine Reduzierung der Mitgliederzahl von 122 auf 69, also um beinahe 50%; nach einigen Austritten und Todesfällen blieben schließlich 62 Mitglieder, von denen 21 gleichzeitig 127
128 129 130
Vgl. überblicksartig Friedrich Dieckmann: Divan mit Sprungfedern – Aspekte der Berliner Akademie-Vereinigung. In: Marion Dönhoff / Peter Bender / Friedrich Dieckmann / Adam Michnik / Friedrich Schorlemmer / Richard Schröder / Uwe Wesel: Ein Manifest II. Weil das Land Versöhnung braucht. Reinbek 1993, S. 103-120. Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Bericht für eine Akademie. In: J.-C.H.: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie. Berlin 2001; S. 452-455, S. 452. Vgl. dazu Ebd., S. 454. Friedrich Dieckmann: Divan mit Sprungfedern – Aspekte der Berliner Akademie-Vereinigung. In: Marion Dönhoff / Peter Bender / Friedrich Dieckmann / Adam Michnik / Friedrich Schorlemmer / Richard Schröder / Uwe Wesel: Ein Manifest II. Weil das Land Versöhnung braucht. Reinbek 1993; S. 103-120, S. 108.
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Mitglieder der West-Akademie waren. Dennoch war keine schlichte Fusion möglich, denn Walter Jens, der Präsident der West-Akademie, verlangte die Hinzuwahl jedes einzelnen Mitglieds in selbige, vor allem, um Hermann Kant und Manfred Wekwerth, die weiterhin Mitglieder geblieben waren, nicht aufnehmen zu müssen. Nach diesem Procedere blieben, abgesehen von den Doppelmitgliedern, nur noch 30 der ‚alten‘ zuzüglich rund 20 neu hinzugewählter Mitglieder der Ost-Akademie. Jens vollzog „eine Kehrtwendung um 180 Grad“ und „warb jetzt, Warnungen von Günter Kunert und anderen Dissidenten zum Trotz, für eine Kollektivaufnahme der neugewählten 50 Mitglieder in die West-Akademie – hauptsächlich mit der Begründung, es gelte das großartige Archiv und wenigstens einige Arbeitsplätze von Akademiemitarbeitern aus dem Osten zu retten.“131 Der Wahlvorgang der am 2. Februar 1992 erfolgten en bloc-Aufnahme „war ein mehrfacher Verstoß gegen die Satzung der Akademie West, die die Einzelaufnahme von Mitgliedern in geheimer Wahl vorsah.“132 Unter Protest verließen deshalb Günter Kunert, Reiner Kunze, Peter Demetz und 23 weitere Künstler die Akademie. Reiner Kunze begründete seinen Schritt in einem Interview: Wenn man einen Autor wie Sascha Anderson, für den ich nichts Entschuldigendes vorzubringen habe – seine Verlogenheit ist erbärmlich –, zur Rechenschaft zieht, weil er Stasi-Täter war, dann darf man nicht jene en bloc, also unbesehen, in eine freie Akademie aufnehmen, die ihr Leben lang privilegiert den Staat international aufgewertet haben, zu dessen Wesen es gehörte, Wesen wie Sascha Anderson hervorzubringen. Das ist nicht gerecht.133
Die erfolgte Literarisierung der Kontroverse mag das Ausmaß der Differenzen belegen. So heißt es bei Gerhard Zwerenz (1995): Endlich lehnte er [Herr Z., eine Zwerenz nahe stehende Kunstfigur; F.Th.G.] es ab, zu wissen, ob die Akademie noch bestehe und aus welchen Mitgliedern und aus welchen nicht. Ein Trauerspiel aus unendlich vielen Akten ist mein Fall nicht, sagte er. Einen Moment erwog er noch, eine Komödie darüber zu schreiben. Was er indessen schnell unterließ. Der Komödie muß irgendeine kleine, witzige Weltläufigkeit einwohnen. Ist das nicht der Fall, reicht es selbst zur Farce nicht.134 131 132 133
134
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 452. Ebd. [Interview mit Angelika Diekmann]: „Die Akademie war das Netz …“ Gespräch mit Reiner Kunze zum Austritt aus der Akademie der Künste – Stellungnahme von Walter Jens. In: Passauer Neue Presse v. 12.2.1992. Gerhard Zwerenz: 107. In: G.Z.: Die Antworten des Herrn Z. oder Vorsicht, nur für Intellektuelle. Mit einer Dokumentation: „Freunde und Feinde über Zwerenz“. Querfurt 1997; S. 62f., S. 62f.
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1993 erfolgte nach Abschluss eines Staatsvertrages die Neugründung der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg – einer nunmehr für beide Länder zuständigen Einrichtung. Die Archive, Sammlungen und Nachlässe aus dem Besitz der beiden Berliner Akademien wurden in Form einer Stiftung unter einem Dach vereinigt.135 Die Aufsicht wechselt alle drei Jahre zwischen beiden Ländern; Präsident von 1997-2003 war der ungarische Autor György Konrád (*1933); sein Nachfolger ist der Schweizer Adolf Muschg (*1934). Trotz der nunmehr erfolgten Klärung dürfte das Ansehen der Akademie durch die Umstände der Vereinigung Schaden genommen haben. Von der Vereinigung betroffen war auch die von der Ost-Akademie herausgegebene Zeitschrift Sinn und Form. Nach langwierigen Verhandlungen und der Gründung einer „Gesellschaft für Sinn und Form“ wurden Name wie Redaktion übernommen und Autoren aus dem Westen gewonnen.136 Nach der Währungsunion, ab Heft Nr. 5 / 1990, betrug der Preis einheitlich 9,50 DM – mit der Folge, dass die Verkaufszahlen in der DDR drastisch sanken und der Verkauf in den Staaten des ehemaligen Ostblocks zusammenbrach: Wurden Mitte der achtziger Jahre 8000 Exemplare einer Nummer verkauft, waren es 1993 noch 3500.137 Seit 1994 erscheint Sinn und Form bei Aufbau, Nachfolger von Max Walter Schulz, dem Chefredakteur von 1983 bis 1990, wurde 1991 Sebastian Kleinschmidt.138 Im Hinblick auf die Vereinigung der beiden Schriftstellerverbände äußerte 1990 Uwe Friesel, der damalige Vorsitzende des (westdeutschen) Verbands deutscher Schriftsteller (VS): Wir wollen die Schriftstellerorganisation aus der ehemaligen DDR nicht einfach schlucken. Sie will ihre Existenz bis Jahresende einstellen und den Mitgliedern empfehlen, in unseren Verband und damit der IG Medien beizutreten. Die Gewerkschaft kann für sie einiges in Sachen Rechtsschutz, Künstlersozialgesetz und Urheberrecht tun. Zunächst denken wir an eine Gründung von Ortsverbänden des VS im östlichen Teil, dann an Strukturen ähnlich den ehemaligen Bezirke [sic]. Im Mai will der VS zu einem gemeinsamen Kongreß einladen. Vielleicht mit konkretem Thema.139 135 136
137 138 139
Seit Januar 2001 werden im Archiv der Akademie auch die Archivalien des P.E.N.-Zentrums der DDR aufbewahrt. Vgl. Stephen Parker: Re-establishing an all-German identity. Sinn und Form and German unification. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 14-27, S. 14f.; Hervorhebungen im Original. Vgl. Ebd. Zu Sinn und Form vgl. auch Stimme und Spiegel. Fünf Jahrzehnte Sinn und Form. Eine Auswahl. Hrsg. von Sebastian Kleinschmidt. Berlin 1998. Uwe Friesel in Thüringer Landeszeitung (treff) v. 27.10.1990, S. 2; zit. nach Reinhard Andress: DDR-Schriftsteller und die Herbst-Ereignisse 1989 in der DDR. In: Schatzkammer der deutschen Sprachlehre, Dichtung und Geschichte 17 (1991) 1; S. 26-45, S. 45.
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Vor dieser dann auch vollzogenen Vereinigung standen allerdings zahlreiche nicht nur interne Auseinandersetzungen. Am 21. Dezember 1989 trat Hermann Kant als Vorsitzender zurück.140 Auf einem „Außerordentlichen Schriftstellerkongreß“, der vom 1. bis 3. März 1990 stattfand, leitete der Verband seine Neuformierung ein.141 Markiert wurde dieser Vorgang vor allem durch die Wahl Rainer Kirschs zum neuen Verbandsvorsitzenden und die Ausarbeitung einer neuen Satzung142: Einerseits sollte der Verband nun stärker eine Interessenvertretung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller sein, zugleich aber als „Ort literarischen Gedankenaustauschs“ erhalten bleiben. Daneben wurde eine Kommission eingesetzt, deren Ziel die Aufarbeitung der Verbandsgeschichte war. Der umfangreiche Mitarbeiterstab sollte abgebaut und damit zugleich die Eigenfinanzierung betrieben werden. Die Bezirksverbände lösten sich nach und nach auf, Landesverbände wurden gegründet. Dirk von Kügelgen (1990) zufolge habe der Verband das Vertrauen der Mitglieder wahren können. Ein Beleg dafür ist, daß nur wenige Autoren den Verband verlassen haben, daß weit mehr neu hinzugekommen sind […]. Über 1100 deutsch- und sorbischsprachige Schriftsteller und Übersetzer, Lyriker, Essayisten und Herausgeber, Film- und Theaterautoren sind inzwischen im Schriftstellerverband vereint.143
Ursprünglich hatte man an eine längerfristige Vereinigung des ostdeutschen Schriftstellerverbandes mit dem westdeutschen VS gedacht144, doch es kam anders – eine Entwicklung, die von Kügelgen zutiefst bedauert: Uns wurde keine Zeit gelassen. Der Schriftstellerverband sollte im vereinten Deutschland keine Chance bekommen, sich als eigenständiger Interessenvertreter von Autoren einzubringen – nur so ist zu verstehen, daß von der Regierung selbst eine befristete Übergangsfinanzierung zwar zugesagt, dann aber verweigert wurde, ohne auch nur die Konzeption des Verbandes für sein Weiterbestehen im geeinten Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. Dem Verband wurde seine Erneuerung nicht gestattet, das war eine politische Entscheidung.145
140 141
142 143 144 145
Vgl. dazu [dpa]: DDR-Autoren-Verband: Kant zurückgetreten. In: Saarbrücker Zeitung v. 22.12.1989. Vgl. dazu: Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni. Magazin für Kultur & Politik 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 133. Den ohne Präsidium stattfindenden Schriftstellerkongress eröffnete Volker Braun; vgl. Die Vernunft ermutigen, in der Dimension der Welt zu denken. Eröffnungsworte VOLKER BRAUNS an den DDR-Schriftstellerkongreß. In: BZ v. 2.3.1990. Vgl. dazu Dirk von Kügelgen: Aus und weiter. Die Situation des Schriftsteller-Verbandes der ehemaligen DDR. In: Der Literat (1990) 11; S. 309-311, S. 309. Ebd., S. 310. Vgl. Ebd. Ebd.
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Am 12. Juli 1990 beriet der Vorstand über die Situation. Die Ergebnisse der Sitzung fasste Rainer Kirsch in einem Brief an die Mitglieder zusammen: Und daß ein Berufsstand mit einmaligen geschichtlichen Erfahrungen und etlicher professioneller Kapazität seine Interessenvertretung verliert, wird allenfalls bedauernd zur Kenntnis genommen. Was ist zu tun und zu bedenken? Ich meine, auch namens des Vorstandes: 1. Der Schriftstellerverband der DDR muß auch über den Jahreswechsel hinaus rechtsfähig gehalten werden, sollte sich also zunächst nicht auflösen. 2. Im bald einheitlichen Deutschland ist eine mitgliederstarke Autoren-Organisation durchsetzungsfähiger als mehrere zersplitterte; dies gilt insbesondere für anstehende urheberrechtliche, Versicherungs- und Steuerfragen und angesichts der Schwierigkeit, für hiesige Autoren annähernd gleiche Markt-Chancen zu erreichen. 3. Ein en-bloc-Beitritt des Verbandes zum VS in der Gewerkschaft Medien ist weder satzungsgemäß möglich noch politisch wünschenswert. Vielmehr sollte jede und jeder von uns überlegen, ob sie bzw. er dem VS beitreten will … Entschließen sich genügend Kollegen zu diesem Schritt, blieben also unsere Landesverbände vorerst bestehen und aus ihnen könnten zu einem Stichtag – etwa zum 1. Januar 1991 – Landesgruppen des VS hervorgehen.146
Das bevorstehende Ende des Schriftstellerverbandes sieht er äußerst kritisch, insbesondere im Hinblick auf den Ruf des westdeutschen VS: Ich will nicht verschweigen, daß der VS drüben keine sonderlich gute Presse hat und wichtige Autoren ihm nicht angehören; wir, milde gesagt, haben auch keine gute Presse. Der Zeitgeist … will uns vom Tisch; die Frage ist, wie schwer unsere Ärsche wiegen. Was, schließlich, wollen wir anders, als normale Schriftsteller in einem normalen Land zu sein? Und arbeiten dürfen, unter Benutzung unseres Kopfes. Gleichwohl mag die oder jene, der oder jener meinen, künftig allein, ohne Verband, besser zurechtzukommen – das zu überlegen ist ja jetzt Zeit. Wünschen freilich würde ich mir Solidarität […].147
Ende 1990 löste sich der Schriftstellerverband schließlich auf, zumal er keine Subventionen mehr erhielt. Damit blieb den Autorinnen und Autoren nur noch, in den westdeutschen VS einzutreten oder dies eben sein zu lassen. Im VS diskutierte man nun, ob sämtliche früheren Mitglieder des Schriftstellerverbandes aufgenommen werden sollten, die dies beantragten. Der Vorstand erarbeitete eine interne Liste mit 21 Namen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die nicht erwünscht seien. Diese Liste, auf der neben Hermann Kant auch Dieter Noll und Gisela Steineckert standen, 146 147
Zit. nach Ebd.; Hervorhebung im Original. Zit. nach Ebd., S. 311.
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veröffentlichte das Neue Deutschland im März 1991 – ein Vorgang, der naturgemäß für Aufregung sorgte. Allerdings hielt der (West-)Berliner Verband sich später nicht an diese Vorgaben.148 Am 27. / 28. April 1991 fand in Lübeck-Travemünde der erste Schriftstellerkongress des vereinten VS statt. Im April 1994 wurde in Aachen mit Erich Loest ein in mehrerlei Hinsicht ‚gesamtdeutscher‘ Schriftsteller zum Bundesvorsitzenden des Verbandes gewählt. Zum Vermögen des Schriftstellerverbandes149 gehörten diverse Einrichtungen: Das Schriftstellerheim Friedrich Wolf in Petzow wurde von der Stiftung Kulturfonds weitergeführt, die Zeitschrift ndl ab Januar 1991 vom Aufbau-Verlag herausgegeben, das Archiv des Verbandes vom Archiv der Akademie der Künste übernommen. Die verbandseigene Bibliothek wurde aufgelöst, die wenigen verbliebenen Mitarbeiter entließ man. Am langwierigsten gestaltete sich die Vereinigung der beiden seit 1951 in das westdeutsche P.E.N.-Zentrum mit Sitz in Darmstadt und das P.E.N.Zentrum der DDR mit Sitz in Berlin gespaltenen deutschen P.E.N.-Zentren150, die vor der ‚Wende‘ kaum miteinander korrespondierten.151 Zudem war der DDR-P.E.N., Hans Joachim Schädlich (1995) zufolge, seinem Wesen nach kein nationales Zentrum des internationalen P.E.N., sondern eine staatliche Organisation der DDR. Diese Organisation wurde aus Mitteln des DDR-Staatshaushalts finanziert und von der internen SED-Parteigruppe gelenkt. Die Charta des Internationalen P.E.N. wurde den Mitgliedern dieser Organisation vorenthalten; sie sollten und konnten sich nicht unterschriftlich zu den Zielen der P.E.N.-Charta bekennen, so daß sie gar keine Mitglieder des P.E.N. waren. Die staatliche Organisation namens DDR-P.E.N. ist vor allem durch die permanente Verletzung der Prinzipien des Internationalen P.E.N. bekannt geworden; sie hat den Namen P.E.N. gröblich mißbraucht und stellte nichts anderes als ein kulturpolitisches Instrument der DDR-Diktatur dar.152 148 149
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Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 450. Die Untersuchungen um die tatsächliche Vermögenshöhe des Schriftstellerverbandes gestalteten sich als aufwändig. Eine satirische Verarbeitung dieser Vorgänge findet sich bei Renate Holland-Moritz: Wohin flossen die Millionen? Die geheimen Reichtümer des Schriftstellerverbandes [1990]. In: R.H.-M.: Ossis, rettet die Bundesrepublik! Mit Illustrationen von Manfred Bofinger. Berlin 1993, S. 91-94. Vgl. zur Geschichte der beiden deutschen P.E.N.-Zentren: Friedrich Dieckmann: Deutsche PEN-Geschichten. Eine Akten-Lese. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13-14 / 96 v. 22.3.1996, S. 42-54; zur Diskussion um die Vereinigung beider Zentren vgl. auch Helga Schubert: Die Gute-Menschen-Falle. Helga Schubert warnt vor einer En-Bloc-Übernahme des Ost-PEN. In: Der Tagesspiegel v. 28.1.1995. Vgl. Dorothea von Törne: Vereinigung nach langer ideologischer Trennung. Schmerzhafter Prozess der Zusammenführung der deutschen PEN-Clubs. In: Das Parlament v. 8.-15.9.2000. Hans Joachim Schädlich: [o.T.]. [Berlin, 7.1.1995]. In: PEN-Stimmen. In: europäische ideen (1995) 94 (Deutschland 1945 / PEN-Stimmen); S. 37-73; S. 40-41, S. 41.
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Zu den Wendeereignissen äußerte der DDR-P.E.N. sich erst relativ spät. Am 22. September verabschiedete das Präsidium des P.E.N.-Zentrums der DDR153 eine verhalten kritische Erklärung zum 40. Jahrestag der DDR: An den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Genossen Erich Honecker Die Richtlinien des internationalen P.E.N. verlangen von uns, die Friedenspflicht der Staaten anzumahnen, sich gegen rassistische Vorurteile zu wenden, nationalen Größenwahn zurückzuweisen und die Freiheit des Wortes zu verteidigen. Wir haben die Deutsche Demokratische Republik immer als einen Ort angesehen, an dem sich unsere Grundsätze verwirklichen lassen. Das Präsidium des P.E.N.-Zentrums DDR Günther Cwojdrak, Günther Deicke, Friedrich Dieckmann, Fritz Rudolf Fries, Stephan Hermlin, Prof. Dr. Heinz Kamnitzer (Präsident), Walter Kaufmann (Generalsekretär), Rainer Kerndl, Helga Königsdorf, Werner Liersch, Prof. Dr. Dr. h.c. Rita Schober, Jean Villain154
Am 26. Oktober 1989 richteten einige Mitglieder des Ost-P.E.N. eine Erklärung an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Egon Krenz.155 Der damalige Präsident, Heinz Kamnitzer, distanzierte sich öffentlich davon und erklärte noch im selben Monat seinen Rücktritt.156 Sein Nachfolger wurde Heinz Knobloch, der sich allerdings nicht lange im Amt halten konnte und dem schließlich der Literaturwissenschaftler und Essayist Dieter Schlenstedt folgte.157 In den ersten Nachwende-Jahren hatte der Ost-P.E.N., der sich nun wieder Deutsches P.E.N.-Zentrum (Ost) nannte, durchaus zu einer angemessenen Form der Vergangenheitsbearbeitung gefunden, bei der es zudem nicht nur um das eigene Selbstverständnis ging, sondern um das literarische Leben in der DDR und unmittelbar nach der ‚Wende‘ überhaupt: 1992 fanden in der Pankower literaturWERKstatt vier in der Mehrzahl 153 154 155
156 157
Das Deutsche P.E.N.-Zentrum Ost hatte sich 1967 in P.E.N.-Zentrum der DDR umbenannt. Erklärung des Präsidiums des P.E.N.-Zentrums DDR zum 40. Jahrestag der DDR (22.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1, S. 161 [zuerst in: ND v. 22.9.1989]. Vgl. [(ADN)]: P.E.N.-Präsident stellt seine Tätigkeit ein. Auseinandersetzung um Erklärung von Präsidiumsmitgliedern des P.E.N.-Zentrums DDR an Egon Krenz. In: ND v. 28. / 29.10.1989. Vgl. Ebd. Vgl. Dorothea von Törne: Vereinigung nach langer ideologischer Trennung. Schmerzhafter Prozess der Zusammenführung der deutschen PEN-Clubs. In: Das Parlament v. 8.-15.9.2000.
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von Dieter Schlenstedt moderierte Gespräche zur Selbstaufklärung statt. Die unter den Überschriften Dageblieben – Weggegangen, Hermann Kant – Friedrich Schorlemmer158, Autor, Verleger, Zensor, Kritiker sowie Widerspruchsgeschichte des P.E.N.159 stehenden öffentlichen Diskussionsabende hatten folgendes Ziel: Unter jeweils bestimmten Themen sollten Erinnerungen und Einsichten in die Geschichte ausgetauscht werden, es galt die Hoffnung, durch Rede und Gegenrede die kritische Selbsterkenntnis der Beteiligten zu fördern, bereichernde Differenzen und notwendige Grenzziehungen zu verdeutlichen, Anregungen für die Arbeit in der Gegenwart zu vermitteln.160
Diese Bestrebungen wurden von vielen, insbesondere auf westdeutscher Seite, als nicht ausreichend betrachtet, denn, so Hans Joachim Schädlich (1995): Die Umbenennung des DDR-PEN, der Austritt einiger besonders belasteter Funktionäre (u.a. des Regierungsverantwortlichen für die Zensur) und die Aufnahme unbelasteter Schriftsteller können die Geschichte dieser Organisation nicht löschen. Sie wird vielmehr drastisch vor Augen geführt in Gestalt von SED-Literaturfunktionären, Stasi-Spitzeln und früheren Führungs-Figuren, die der Gruppe noch immer angehören. Die Vereinigung des DDR-PEN mit dem PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland wäre ein Akt zynischer Verhöhnung aller PEN-Mitglieder, die sich in Wort und Tat für die Ziele der PEN-Charta eingesetzt haben und einsetzen.161
1992 fand in Berlin eine erste gemeinsame Tagung beider Präsidien statt, auf der keine Einigung erzielt werden konnte. Nachdem der Ost-P.E.N. 1994 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, bemühte man sich von westdeutscher Seite, unter der Präsidentschaft von Gert Heidenreich, eine Vereinigung zu vollziehen. Zahlreiche Proteste, insbesondere von aus der DDR vertriebenen Schriftstellern, waren die Folge dieser Anstrengungen. Schließlich wollte man nicht mit den früheren Tätern vereint werden. Die nächste Etappe
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Hintergrund des Gesprächs stellte Friedrich Schorlemmers Forderung dar, Hermann Kant neben Honecker und Mielke vor ein Tribunal zur Bewältigung der DDR-Geschichte zu stellen. Kant war daraufhin aus dem P.E.N. ausgetreten, nach eigenen Angaben um die Situation zu entkrampfen (vgl. Gespräche zur Selbstaufklärung ’92. Dokumentation nach Tonbandkassetten. Als Manuskript vervielfältigt vom Deutschen P.E.N.-Zentrum (Ost). Berlin 1993, S. 59f. Vgl. Gespräche zur Selbstaufklärung ’92. Dokumentation nach Tonbandkassetten. Als Manuskript verfielfältigt vom Deutschen P.E.N.-Zentrum (Ost). Berlin 1993, S. 5. Dieter Schlenstedt: Vorbemerkung. In: Ebd., S. 7. Hans Joachim Schädlich: [o.T.]. (Berlin, 7.1.1995). In: europäische ideen (1995) 94 (Deutschland 1945 / PEN-Stimmen); S. 40f., S. 41.
2.5 Uneinig in die Einheit
65
der Auseinandersetzung wurde mit dem so genannten „Mainzer Beschluss“ vom Mai 1995 eingeläutet, denn auf Grund zahlreicher Proteste scheiterte bereits der Versuch einer Abstimmung über eine Vereinigung beider P.E.N.Zentren. Ingrid Bacher, die neue westdeutsche Präsidentin, „pochte darauf, dass sich die PEN-Brüder Ost unzweideutig und konsequent von der Altlast Staatsverstrickung distanzieren müssten, bevor an Gemeinsamkeiten auch nur gedacht werden könne. Sie läutete die ‚Pausen‘-Runde ein“162 und bereitete „den dahindümpelnden Annäherungsversuchen ein Ende“163: Man beschloss, „bis auf weiteres keine neuen Vereinigungsverhandlungen auf Präsidiumsebene zu führen, was den Ost-Generalsekretär Laabs zu den Kommentaren ‚Rückfall in den kalten Krieg‘ und ‚Hallstein-Doktrin auf dem Gebiet der Literatur‘ veranlaßte.“164 Es folgte eine Flut von Mitgliederbewegungen zwischen Ost und West. Jürgen Fuchs, Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Hans Joachim Schädlich und andere verließen den westdeutschen P.E.N. Günter Grass dagegen trat im Sommer 1995 aus Solidarität auch in den Ost-P.E.N. ein, wobei er betonte: „Ich werde dem West-PEN nicht mehr angehören können, wenn er den Ost-PEN weiterhin vor der Tür lässt.“165 Seinem Beispiel folgten knapp 80 Mitglieder des westdeutschen P.E.N., darunter die Gräfin Dönhoff, Walter Jens, Klaus Staeck und Peter Rühmkorf. Sie wurden fortan als Doppelmitglieder geführt. Einige Mitglieder kehrten beiden P.E.N.-Zentren den Rücken: So trat Jürgen Fuchs 1995 in das P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland (Centre of Germanspeaking Writers Abroad) mit Sitz in London ein, dem 1934 von Exil-Schriftstellern gegründeten ‚Exil-P.E.N.‘.166 Eine vermittelnde Position nahm Joochen Laabs ein, der sich gegen eine Gleichsetzung des Ost-P.E.N. mit dem DDR-P.E.N. wendete, die bereits aus statistischen Gründen nicht gerechtfertigt sei, denn [v]on den jetzigen 144 Mitgliedern des Ost-PEN sind 73 seit 1990 hinzugekommen. Andererseits hat eine Reihe Mitglieder den PEN verlassen, die zu Zeiten der DDR
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Dorothea von Törne: Vereinigung nach langer ideologischer Trennung. Schmerzhafter Prozess der Zusammenführung der deutschen PEN-Clubs. In: Das Parlament v. 8.15.9.2000. Ebd. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 455. Zit. nach Rüdiger Thomas: „Sich ein Bild machen“. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Kultur. In: Wolfgang Thierse / Ilse Spittmann-Rühle / Johannes L. Kuppe (Hgg.): Zehn Jahre Deutsche Einheit. Eine Bilanz. Opladen 2000; S. 247-272, S. 265; im Original kursiv. Vgl. Dietger Pforte: Unvereint – vereint. Literarisches Leben in Deutschland. In: ndl 44 (1996) 1; S. 182-209, S. 190 (ndl-extra).
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
dazu keine Veranlassung gehabt hätten. Im gegenwärtigen Präsidium bin ich der einzige, der überhaupt schon Mitglied des DDR-PEN war.167
Im Westen war Karl-Otto Conrady mittlerweile Nachfolger Ingrid Bachers geworden und versuchte einen neuerlichen Kurs der Wiederannäherung, zumal die Londoner Zentrale des P.E.N. gemahnt hatte, endlich zu einer Einigung zu kommen. Auf ostdeutscher Seite stimmte man – inzwischen unter der Präsidentschaft von B.K. Tragelehn – am 4. April 1998 auf der Jahrestagung in Berlin mit 60 von 62 Stimmen für den so genannten „Verschmelzungsvertrag“ mit dem westdeutschen P.E.N.168 Nach wie vor belasteten den Verband die möglichen Stasi-Verstrickungen vor allem von Hans Marquardt, des ehemaligen Leiters von Reclam (Leipzig), und des Schrifststellers Erich Köhler, der in den siebziger Jahren als IM „Heinrich“ Klaus Schlesinger bespitzelt haben soll.169 Diese und weitere Fälle wollte man mittels eines „Ehrenrates“ klären. Auf westdeutscher Seite wurde der Weg für eine Vereinigung schließlich am 15. Mai frei gemacht: 97 von 103 Mitgliedern des West-P.E.N.s stimmten für den Zusammenschluss. Doch erst am 30. Oktober 1998 konnte die Vereinigung auch juristisch besiegelt werden. Zum ersten Präsidenten des wieder vereinigten P.E.N. wurde mit großer Mehrheit Christoph Hein gewählt, dem es zumindest teilweise gelang, ausgetretene Mitglieder zurückzuholen. Er wurde im Frühjahr 2000 durch den 1947 in Teheran geborenen Schriftsteller SAID abgelöst. Angesichts der jahrelangen Selbstbespiegelungen im Zuge des Einigungsprozesses war die Wahl von SAID, der weder Ost- noch Westdeutscher ist und bereits auf Grund seiner Herkunft eine stärkere Außenperspektive auf die deutschdeutschen Verhältnisse einnimmt, sicher sinnvoll. Ihm folgte 2002 Johano Strasser. Mit dem Ende der DDR fielen meist auch die entsprechenden Trägerschaften für Gedenkstätten, Archive und Schriftstellerheime weg. Um das entstandene Vakuum auszufüllen, wurden literarische Gesellschaften gegründet, unter anderem die Hans-Fallada-Gesellschaft mit Sitz in Feldberg, die Theodor-Fontane-Gesellschaft mit Sitz in Potsdam, die Anna-SeghersGesellschaft und die Friedrich-Wolf-Gesellschaft, beide mit Sitz in Berlin.
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[Klaus Staeck / Joochen Laabs]: Wie bei den Kaninchenzüchtern? Zwei Stellungnahmen zu den Vereinigungsquerelen in den deutschen PEN-Clubs. In: SZ v. 24.2.1995. Vgl. Birgit Warnhold: Die (Fusions-)Kuh muß vom Eis. Ost-Pen stimmte bei Jahrestagung in Berlin mit klarer Mehrheit für Verschmelzung mit West-Verband. In: LVZ v. 6.4.1998 Vgl. Ebd.
2.5 Uneinig in die Einheit
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Die Fritz-Reuter-Gesellschaft zog von Lübeck nach Neubrandenburg um, die beiden Shakespeare-Gesellschaften vereinigten sich wieder.170 Aus dem Brecht-Zentrum der DDR ging das Literaturforum im BrechtHaus hervor, im Pankower Haus eines nicht-öffentlichen Schriftsteller-Clubs befindet sich nun die literaturWERKstatt berlin, und aus dem Zentrum für Kinderliteratur der DDR wurde LesArt – Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur. Als Vorbilder für die beiden erstgenannten Häuser fungierten in erster Linie das Literarische Colloquium Berlin (LCB) und das Literaturhaus Berlin im Westteil der Stadt. Das in Leipzig angesiedelte Literaturinstitut „Johannes R. Becher“, die damals einzige institutionalisierte Stätte für eine Autorenausbildung in Deutschland, sollte zunächst ersatzlos geschlossen werden. Nach Verhandlungen mit dem Freistaat Sachsen konnte diese Einrichtung aber unmittelbar nach ihrer Schließung als der Universität angegliedertes Deutsches Literaturinstitut Leipzig neu gegründet werden171; ihr erster Direktor war Bernd Jentzsch. Am DLL arbeiten zahlreiche Gastdozentinnen und -dozenten; das Studium an dieser heute aus dem Literaturbetrieb der Bundesrepublik kaum noch wegzudenkenden Institution ist auf sechs Semester angelegt.
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Vgl. Dietger Pforte: Unvereint – vereint. Literarisches Leben in Deutschland. In: ndl 44 (1996) 1; S. 182-209, S. 201f. (ndl-extra). Vgl. Ebd., S. 203 (ndl-extra); vgl. dazu auch Hans Joachim Meyer: Zur Perspektive des Instituts für Literatur in Leipzig. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra), S. 214-219.
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‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘? – Versuch einer Begriffsbestimmung Seit drei Jahren sehe ich in Deutschland die Kritiker mit den Fingern auf den Tisch trommeln: Wo ist der deutsche Einheitsroman? Das kann den armen Hund, der sich hinsetzt vor ein leeres Blatt Papier, schon lähmen. In vielen Schriftstellerzimmern schwebt die Erwartung wie eine fürchterliche giftige Wolke.1 Jurek Becker (1994) Das Aufregendste an der Forderung nach dem deutschen Roman zur deutschen Einheit ist, daß solch eine Forderung überhaupt gestellt wird.2 Friedrich Christian Delius (1994 / 95) Ich hoffe, daß die von der Literaturkritik geschaffene Kategorie des ‚Wende-Romans‘ an Entkräftung bald zugrunde geht und auch mein Buch wieder freiläßt.3 Brigitte Burmeister (1995)
Im Mündlichen wie im Schriftlichen wird mit dem Begriff ‚Wendeliteratur‘ relativ frei umgegangen. Das Kompositum erscheint sowohl in journalistischen als auch in literaturwissenschaftlichen Texten, wird jedoch selten genug problematisiert, geschweige denn definiert. Ein Grund hierfür mag der fehlende historische Abstand sein, ein anderer die Tatsache, dass jeder eine mehr oder weniger klar umrissene Vorstellung vom Inhalt dieses Begriffes haben dürfte, denn oberflächlich betrachtet scheint er sich zunächst selbst zu erklären. Im Falle der ‚Wendeliteratur‘ dürfte eine primär thematische Herangehensweise am sinnvollsten sein. Annäherungen ergeben sich aber häufig auch implizit, etwa aus dem Kanon der in Monografien und Aufsätzen be1
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[Interview mit Martin Doerry und Volker Hage]: „Zurück auf den Teppich!“ Der Schriftsteller Jurek Becker über seine neue Fernsehserie, über deutsche Dichter und die Nation. In: Der Spiegel 48 (1994) 50 v. 12.12.1994; S. 195-200, S. 197. Friedrich Christian Delius: Warum ich ein Einheitsgewinnler bin oder Die neuen alten Erwartungen an die Literatur. In: F.C.D.: Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich immer noch kein Zyniker bin. Berlin 1996; S. 58-84, S. 70. [Interview mit Dorothea von Törne]: Haben Sie noch die Mauer im Kopf, Frau Burmeister? In: Der Tagesspiegel v. 9.11.1995.
3 Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
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handelten Primärtexte. Eine andere Form der Kanonisierung auf indirektem Wege vollzieht sich über Schulbücher für den Deutschunterricht im In- und Ausland sowie die dazugehörigen Lehrwerkteile und Unterrichtsmaterialien. Volker Wehdeking (1995) nennt in seinem Buch über die literarische Verarbeitung der ‚Wende‘ vier „Portalromane zur Vereinigungsproblematik“: Martin Walsers Die Verteidigung der Kindheit (1991), Monika Marons Stille Zeile Sechs (1991), Wolfgang Hilbigs „Ich“ (1993) und Brigitte Burmeisters Unter dem Namen Norma (1994).4 Allerdings ist die ‚Wende‘ lediglich in Burmeisters Roman eines der zentralen Themen. In Hilbigs Text wird sie nur angedeutet, die Handlung von Walsers Roman endet bereits 1987, und Marons Buch spielt Mitte der achtziger Jahre. Astrid Herhoffer und Birgit Liebold (1993) gehören zu den Ersten, die den Begriff ‚Wendeliteratur‘ benutzen und eine erste Umschreibung wagen: Und wen wundert es, daß ein Ereignis von solcher Tragweite eine ganze Flut von literarischen Werken hervorgebracht hat, die im folgenden unter dem Begriff Wendeliteratur zusammengefaßt werden sollen. […] Unter Wendeliteratur sollen also alle jene Werke zusammengefaßt werden, – die sich stofflich auf die Zeit der Wende beziehen, welche – wenn man den Medien Glauben schenken darf – im Osten keineswegs und auch im Westen (hoffentlich!) lange noch nicht abgeschlossen ist, – die durch den Wegfall von Zensur und Selbstzensur oder durch intensive Materialforschung (wie zum Beispiel in alten Dokumenten und Stasiakten) erst möglich wurden. […] Die ungeheure Vielzahl der Publikationen zu diesem Thema machen [sic] einen Gesamtüberblick unmöglich, zumal das Spektrum vom Gedicht bis zum aufgearbeiteten Treuhand-Bericht reicht […].5
1996 geben Jörg Fröhling, Reinhild Meinel und Karl Riha unter dem Titel Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit die erste umfassende Bibliografie zum Thema heraus. Die Bearbeiter haben sich für den Obertitel Wende-Literatur entschieden, denn [n]icht nur im Buchhandel, sondern auch bei den Autoren selbst, in der Literaturkritik und Literaturwissenschaft zeichnet sich der Begriff ‚Wende-Literatur‘ als ein fester terminus technicus ab. 4 5
Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart / Berlin / Köln 1995, S. 14. Astrid Herhoffer / Birgit Liebold: Schwanengesang auf ein geteiltes Land. Der Herbst 1989 und seine Folgen in der Literatur. In: Buch und Bibliothek 45 (1993) 6 / 7; S. 587-604, S. 587f.; Hervorhebungen im Original.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
So unterschiedlich die Folgen auch sein mögen – allen Publikationen ist gemein, daß sie die politischen Veränderungen thematisieren: authentisch, fiktional oder reflexiv.6
Wie bei Herhoffer und Liebold steht also auch hier der thematisch-stoffliche Bezug im Vordergrund. Im Untertitel des Bandes tritt die Bezeichnung „Literatur der Deutschen Einheit“ hinzu. Eine explizite Begriffsdefinition wird nicht gegeben, die Bearbeiter legen aber ihre Kriterien für die Aufnahme der Titel offen: Kriterien für die Auswahl der aufgenommenen Titel waren […] einerseits der stoffliche Bezug zur Wende, andererseits wurden Publikationen berücksichtigt, die erst durch den Wegfall von Zensur und Selbstzensur erscheinen konnten und drittens solche Veröffentlichungen, die auf intensiven Materialaufarbeitungen, wie etwa Stasiakten, beruhen.7
Eine Einschränkung wird sinnvollerweise vorgenommen: Publikationen zum Thema Wende gibt es in den verschiedensten Bereichen, zum Beispiel Abhandlungen unter wirtschaftlichen Aspekten wie unter rechtlichen, politischen, soziologischen oder kulturellen Gesichtspunkten. Ihre Subsumierung unter dem Begriff der ‚Wende-Literatur‘ scheint daher problematisch.8
Weder bei Herhoffer und Liebold, noch bei Fröhling, Meinel und Riha werden Texte berücksichtigt, in denen gesellschaftliche Zustände dargestellt werden, die möglicherweise zur ‚Wende‘ geführt haben oder diese vorbereiteten. Nach 1989 erschienene Texte, die solche Verhältnisse darstellen, berücksichtigt also lediglich Wehdeking, wobei deren Bedeutung aber überproportional in den Vordergrund gerückt wird. In einem weiter gefassten Verständnis könnte man durchaus auch vor 1989 geschriebene oder erschienene Texte zur ‚Wendeliteratur‘ zählen. Zudem werden in vielen literarischen Texten die ‚Wende‘-Ereignisse kaum thematisiert, bilden aber die unabdingbare Voraussetzung für die Handlung. Gerhard Sauder (2000) fasst zusammen: Der Begriff ist nicht völlig zufriedenstellend, orientiert er sich doch an einem politischen und gewiß auch mentalitätsgeschichtlichen Faktum ohne Hinweis auf ein spezifisch ästhetisches Profil dieser Phase. Unter ‚Wendeliteratur‘ sollen Texte 6
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Die Herausgeber: Vorwort zur dritten Auflage. In: Jörg Fröhling / Reinhild Meinel / Karl Riha (Hgg.): Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Wien 1999 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte, Band 6); S. 7-12, S. 7. Ebd., S. 12. Ebd.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
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verstanden werden, die – in welcher Form auch immer – die Übergangszeit von 1989 / 1990 als Motiv, Allegorie, zentrale Metapher oder Plot gewählt haben.9
Mit dem Begriff spielen einige „Wendebücher“ im wörtlichen Sinne, etwa Das Wendebuch10, eine 1990 im (Ost-)Berliner Verlag Technik erschienene Sammlung vor allem von Karikaturen und Cartoons zur ‚Wende‘ und zum Umbau insbesondere des Wirtschaftssystems, oder Reinhard Ulbrichs Knigge für Deutsche (1998).11 In der Mitte müssen diese Bücher vom Leser umgedreht, also „gewendet“ werden, um den jeweils anderen Teil lesen zu können. Doch diese Tatsache kann natürlich keine Grundlage für eine wissenschaftliche Bestimmung des Begriffs abgeben.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘ ‚Wendeliteratur‘ ist ein gattungsübergreifender Begriff: Die ‚Wende‘ wird in Textsorten aller Art thematisiert, was nur folgerichtig ist, denn die Prozesse von ‚Wende‘ und Vereinigung umfassen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Gerade deshalb sind neben den drei ‚großen‘ Genres Lyrik, Epik und Dramatik auch die zahlreichen essayistischen und philosophischen Texte, Gespräche, Reden, Briefe, Tagebücher usw. in die Betrachtung miteinzubeziehen. Nicht selten stellen sie eine wichtige Ergänzung zu den im engeren Sinne literarischen Texten dar, Mischformen sind häufig.12 In 9 10 11
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Gerhard Sauder: Erzählte ‚Wende‘: Formen und Tendenzen der ‚Wendeliteratur‘. In: Studia Niemcoznawcze XIX (2000); S. 291-305, S. 291. Das Wendebuch. Eingeleitet von M. Sondermann Cartoons E. Brendel Texte. Berlin 1990. Reinhard Ulbrich: Knigge für Deutsche: Über den Umgang mit Westmenschen. / Über den Umgang mit Ostmenschen. Ein Wendebuch. Graphiken von Axel C.A. Jirsch. Köthen 1998. Zu einem ähnlichen Schluss kommen Fröhling, Meinel und Riha im Zusammenhang mit dem Versuch, eine Gliederung für die Bibliografie zu finden: „Bei einem Großteil der in dieser Bibliographie vertretenen Publikationen handelt es sich um literarische Mischformen, die eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Genre nicht zulassen. Aus diesem Grund wurde auf eine formale Kategorisierung verzichtet.“ (Die Herausgeber: Vorwort zur dritten Auflage. In: Jörg Fröhling / Reinhild Meinel / Karl Riha (Hgg.): Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Wien 1999 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte, Band 6); S. 712, S. 11.) Ein Beispiel für eine solche Mischform ist Eva-Maria Hagens (*1934) Buch Eva und der Wolf (Düsseldorf / München 1998). Hagen gehörte – bis zu ihrem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 – zu den erfolgreichsten Schauspielerinnen in der DDR. Ein Jahr nach Biermann verließ auch sie die DDR. Im Mittelpunkt der Veröffentlichung steht der Briefwechsel zwischen ihr und ihrem Freund Wolf Biermann in den
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
diesem Sinne ist das Zugrundelegen eines erweiterten Literaturbegriffs unabdingbar, will man sich den Phänomenen ‚Wende‘ und ‚Vereinigung‘ nähern.13 Explizit dokumentarische Texte können selbstverständlich auch als ‚Wendeliteratur‘ bezeichnet werden; sie finden jedoch im Rahmen der vorliegenden Darstellung kaum Berücksichtigung. Unmittelbar auf einen kleineren geografischen Raum beschränkt sind etwa die Publikationen von Hans-Gerd Adler, der sich in Wir sprengen unsere Ketten (1990)14 auf das Eichsfeld bezieht, sowie von Salier und Salier, die sich in Es ist Frühling und wir sind so frei! (2000)15 in erster Linie mit dem Kreis Hildburghausen beschäftigen. Im Hinblick auf eine Bestimmung des Begriffes sind folgende Aspekte besonders wichtig: Aspekt 1: Der thematisch-stoffliche Bezug zur ‚Wende‘ Dieser Aspekt spielt die zweifellos wichtigste Rolle. Die Hauptschwierigkeit dürfte dabei das Problem der Grenzziehung sein: Hier scheint in Zweifelsfällen eine eher großzügige Verfahrensweise angebracht; eine Grauzone des Ermessens wird aber stets bleiben. Häufig stellen die Herbstereignisse des Jahres 1989 und die Vereinigung beider deutscher Staaten lediglich die Voraussetzung beispielsweise für eine Romanhandlung dar. So hat die völlig neue Rechtssituation nach
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Jahren 1965 bis 1977. Der Band enthält jedoch auch Tagebuchaufzeichnungen, zahlreiche Dokumente, darunter Berichte des Staatssicherheitsdienstes und den Ausreiseantrag, sowie Fotografien. Relevant ist dieses Buch für die Thematik weniger wegen der dargestellten, beinahe klassisch zu nennenden, Liebesgeschichte als wegen der differenzierten Einblicke, die es in die Alltagswelt der Künstler in der DDR und die Bandbreite der Möglichkeiten staatlicher Repression auf diese Gruppe gewährt. Insofern wird hier nicht nur eine mehr oder weniger persönliche Bilanz über einen Lebensabschnitt gezogen, sondern über einen wichtigen Abschnitt der DDR-Geschichte überhaupt. Denn die Biermann-Ausbürgerung und ihre Folgen stellen zweifelsohne einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Einschnitt im Kulturleben der DDR dar und sind unabdingbar für das spätere Verständnis der ‚Wende‘. Zur Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die infolge der Biermann-Affäre die DDR verließen, vgl. Ian Wallace: Ein Leben in der Fremde? DDR-Schriftsteller im Westen, 1976-1989. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36), S. 179-192. Im weitesten Sinne sind auch Bücher, die so gut wie keinen Text, aber Zeichnungen, Cartoons und Karikaturen von Künstlern aus Ost und West mit entsprechenden Unterschriften / Kommentaren enthalten, zur ‚Wendeliteratur‘ zu zählen (vgl. etwa Alles Banane. Hrsg. von Holger Behm in Zusammenarbeit mit Werner Tammen. Berlin 1990). Hans-Gerd Adler: Wir sprengen unsere Ketten. Die friedliche Revolution im Eichsfeld. Eine Dokumentation. Leipzig 1990. Hans-Jürgen Salier / Bastian Salier: Es ist Frühling und wir sind so frei! Die 89er Revolution im Kreis Hildburghausen – eine Dokumentation. Hildburghausen 2000.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
73
der Vereinigung und die dadurch erst möglich gewordene so genannte ‚Vereinigungskriminalität‘ in den östlichen Bundesländern eine Vielzahl von Büchern hervorgebracht, die eher als ‚Kriminalliteratur‘ bzw. ‚Polit‘oder ‚Spionage-Thriller‘ bezeichnet werden sollten16, denn es handelt sich meist weniger um eine literarische Verarbeitung der ‚Wende‘ und der Folgen der deutschen Vereinigung im engeren Sinne als um Kriminalromane mit mehr oder weniger konventionellem Plot vor dem Hintergrund der ‚deutschen Einheit‘. Die Zeit der ‚Wende‘, in der viele Gesetze zumindest de facto außer Kraft gesetzt waren, und die ersten Jahre der ‚Einheit‘, die mit einer nicht unerheblichen Vereinigungskriminalität auch auf staatlicher Ebene einhergingen, mögen sich als neuer Hintergrund anbieten, bleiben aber letztlich austauschbar. Auch deshalb werden diese Texte im Rahmen der vorliegenden Darstellung kaum berücksichtigt. In anderen Texten wird die ‚Wende‘ dagegen in nur einem Satz thematisert. Dieses Faktum sagt allerdings nicht zwangsläufig etwas über den Stellenwert der ‚Wende‘ innerhalb des Textes aus, denn häufig wird durch die bewusst kurze Erwähnung ein deutlicher Einschnitt auf der Zeitebene markiert, wie das folgende Beispiel aus Wolfgang Hilbigs Erzählung Versuch über Katzen (1994) zeigt: Eines Tages fuhr ich dann doch nach L., um das Haus in der Junghanßstraße aufzusuchen. Die Verhältnisse hatten sich unterdessen geändert, die alte Staatsmacht war zusammengebrochen und hatte einer anderen Platz gemacht. Ganz L. befand sich in euphorischer Aufbruchsstimmung, überall wurden alte Gemäuer eingerissen und neue Bauten aufgepflanzt; fast fürchtete ich, die Junghanßstraße könne bereits ein Opfer der Entsorgungsarbeiten geworden sein.17
Wieder andere, wenn auch nur wenige, lange vor der ‚Wende‘ verfasste Texte, werden zur ‚Wendeliteratur‘, wenn sie durch die ‚Wende‘ einen neuen Stellenwert erhielten und deshalb eine Neuauflage gedruckt wurde, wie im Falle von Karl Jaspers’ (1883-1969) Essay über Freiheit und Wiedervereinigung (1960).18 Diese Texte sind aber sicher nicht zum Kern der ‚Wendeliteratur‘ zu zählen. Der thematische Bezug ist selbstverständlich auch bei historischen Romanen gegeben, denn diese gehen allegorisch mit ‚Wende‘ und Einheit 16
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Etwa: Frank Goyke: Der kleine Pariser. Roman. Berlin 1996; Dieter Meichsner: Abrechnung. Roman. Berlin 1998; Deutschland einig Mörderland. Hrsg. von Karen Meyer. Berlin 1995 (DIE Krimis); Barbara Riedmüller. Berlin-Krimi. Berlin 1992; Peter Zeindler: Feuerprobe. Roman. Zürich 1991. Wolfgang Hilbig: Versuch über Katzen. In: W.H.: Die Arbeit an den Öfen. Erzählungen. Berlin 1994 (Wolffs Broschuren); S. 53-100, S. 96f. Karl Jaspers: Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik. Vorwort von Willy Brandt. Mit einer Nachbemerkung zur Neuausgabe von Hans Saner. München / Zürich 1990 [Erstausgabe München 1960].
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
um. Beispiele sind Detlef Opitz’ (*1956) Roman Klio, ein Wirbel um L. (1996)19, aber auch der Alexander-Roman (1992)20 von Gisbert Haefs (*1950). Aspekt 2: ‚Wendeliteratur‘ im Sinne von Literatur, die erst nach dem Wegfall von Publikationsbeschränkungen (Zensur, Selbstzensur usw.)21 erscheinen durfte Beispiele hierfür sind Rainer Lindows Roman Trauergesellschaft22 (1990), die erste selbstständige Ausgabe von Irmtraud Morgners Roman Rumba auf einen Herbst (1992)23, aber auch die Neuausgabe von Brigitte Reimanns 19 20 21
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Detlef Opitz: Klio, ein Wirbel um L. Roman. Göttingen 1996. Gisbert Haefs: Alexander. Der Roman der Einigung Griechenlands „Hellas“. Zürich 1992. Vgl. dazu: Ausstellungsbuch ZENSUR IN DER DDR. Geschichte, Praxis und ‚Ästhetik‘ der Behinderung von Literatur. Erarbeitet und herausgegeben von Ernst Wichner und Herbert Wiesner. Berlin 1991 (Texte aus dem Literaturhaus Berlin, Band 8) sowie Walter Süß: Ein Geschäft von trostloser Borniertheit. Ausstellung „Zensur in der DDR“. In: Das Parlament v. 10.5.1991. Wiechner und Wiesner stellen fest: „Die Akten zeigen mit erschreckender Deutlichkeit, daß Zensur und Förderung von Literatur in der DDR unauflösbar zu einem Netz kulturpolitischer Lenkung verknüpft waren. […] Zensur war die selbstverständliche Voraussetzung der Förderung.“ (S. 11f.). Manfred Jäger grenzt die Zensur in der DDR von gewissermaßen ‚traditionellen‘ Formen der Zensur ab: „In früheren Zeiten hat die Zensur viel stärker über die Köpfe der Autoren hinweg gehandelt. Die Zensur in der DDR hat (dagegen) die Zustimmung der Betroffenen gewollt. Also, insofern hat die Zensur in der DDR in aller Regel ein Urheberrecht des Autors respektiert. Das hieß aber, er mußte den Streichungen, den Auslassungen, den Veränderungen immer zustimmen. Insofern wurde der Autor in den Genehmigungsprozeß mit hineingenommen, und auf diese Weise ist er an der Verstümmelung des Werkes immer mitschuldig gewesen.“ (Manfred Jäger: Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR. Vortrag anläßlich der Ausstellung „Zensur in der DDR“ (Berlin, Mai 1991); zit. nach Frank Hörnigk: Die Literatur bleibt zuständig: Ein Versuch über das Verhältnis von Literatur, Utopie und Politik in der DDR – am Ende der DDR. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 99-105, S. 102; vgl. auch Andrea Jäger: Schriftsteller-Identität und Zensur. Über die Bedingungen des Schreibens im „realen Sozialismus“. In: Kultur und Macht – Deutsche Literatur 1949-1989. Hrsg. vom Sekretariat für kulturelle Zusammenarbeit nichttheatertragender Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, Gütersloh. Bielefeld 1992, S. 71-83. Jäger wendet sich klar gegen einen weit verbreiteten Irrtum: den „unmittelbaren Rückschluß von der Tatsache, daß ein Buch in der DDR veröffentlicht wurde, darauf, daß dieses auch ‚irgendwie‘ staatstragend und parteilinientreu verfaßt sein müsse.“ (S. 71) Rainer Lindow: Trauergesellschaft. Wie Josef der Zimmermann die Geschichte erlebte. Roman. Halle(S.) / Leipzig 1990. Im Klappentext heißt es: „Wenn eine Idee zur Staatsdoktrin erstarrt und alles ausgrenzt und bekämpft, was ihr nicht dient, gerät sie früher oder später in eine Krise und kehrt sich gegen sich selbst. / Im Herbst 1989 setzt ein Volk seine Regierung gewaltlos ab. Noch nie gab es in der deutschen Geschichte einen derartigen Vorgang. Dieses Buch, sieben Jahre davor geschrieben und von Verlagen der DDR aus politischen Gründen abgelehnt, berichtet mit tragikomischen, dokumentaren und phantastischen Mitteln von Ursachen, die das Volk auf die Straße brachten. […]“ Irmtraud Morgner: Rumba auf einen Herbst. Roman. Hrsg. und mit einem Nachwort von Rudolf Bussmann. Mit einem Essay von Doris Janhsen. Hamburg 1992.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
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Roman Franziska Linkerhand (1998)24, der zu DDR-Zeiten lediglich in verstümmelter Form erscheinen durfte. Für die Zeit der frühen DDR ist die 1999 erschienene Anthologie Die Welt ist eine Schachtel25 zu nennen. Die darin enthaltenen Texte von Susanne Kerckhoff (1918-1950), Eveline Kuffel (1935-1978), Jutta Petzold (*1933) und Hannelore Becker (1951-1976) ändern das Bild der in der DDR entstandenen Literatur zwar nicht grundlegend, ergänzen es jedoch im Detail. Bisweilen werden auch aktuelle Texte in Kombination mit früheren veröffentlicht: Das Berliner Kabarett Die Distel druckte 1990 – im Anhang zu ihrem aktuellen Programm – Texte aus dem im Herbst 1988 verbotenen Programm Keine Mündigkeit vorschützen.26 Ob es in diesem Zusammenhang legitim ist, auch die Tagebücher von Brigitte Reimann zur ‚Wendeliteratur‘ zu zählen27, ist anzuzweifeln. Es ist sicher richtig, dass die Tagebücher der 1973 verstorbenen Autorin wohl kaum in der DDR hätten veröffentlicht werden dürfen, zur ‚Wendeliteratur‘ werden sie dadurch jedoch nicht. Die Veröffentlichung historischer (biografischer) Dokumente, die vor 1989 in der DDR niemals hätten erscheinen dürfen, fand in relativ großem Umfang statt. Zu nennen sind hier insbesondere die Publikationen des früheren Politbüromitgliedes Rudolf Herrnstadt (1903-1966)28, des ehemaligen Aufbau-Verlagsleiters Walter Janka (1914-1994)29 und des früheren Ers24 25
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Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Roman. Ungekürzte Neuausgabe. Bearbeitung und Nachbemerkung Angela Drescher. Nachwort von Withold Bonner. Berlin 1998. Die Welt ist eine Schachtel. Vier Autorinnen in der frühen DDR. Susanne Kerckhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold, Hannelore Becker. Hrsg. und kommentiert von Ines Geipel. Berlin 1999. Vgl.: Dokumentation des 1988 verbotenen Programms Keine Mündigkeit vorschützen. In: Gisela Oechelhaeuser (Hg.): Von der Wende bis zum Ende. Wendejahr – die Distel im Scharfen Kanal. Berlin 1990, S. 81-95. Vgl. Dieter Gutzen: Literatur zum Thema „Von einem Land und vom anderen“. Die ‚Wende‘ und die deutsche Vereinigung im Spiegel von Literatur und Literaturkritik. Literaturliste (Auswahl) zur Vorlesung am Germanistischen Seminar der Universität Bonn im Wintersemester 1997 / 98, S. 4. Rudolf Herrnstadt: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953. Hrsg., eingeleitet und bearbeitet von Nadja Stulz-Herrnstadt. Reinbek 1990 (rororo aktuell). Vgl. die neu durchgesehene Ausgabe: Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); Ders.: Spuren eines Lebens. Berlin 1991; Ders.: … bis zur Verhaftung. Erinnerungen eines deutschen Verlegers. Berlin / Weimar 1993; zu den Hintergründen des Prozesses vgl. die Dokumentation von Walter Janka mit dem – missverständlichen – Titel: Die Unterwerfung. Eine Kriminalgeschichte aus der Nachkriegszeit. Mit einem Vorwort von Günter Kunert. Hrsg. von Günter Netzeband. München / Wien 1994; vgl. in diesem Zusammenhang auch Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR. Berlin 1993. Vgl. zu Jankas Autobiografie Manfred Jäger: Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 41 / 92 v. 2.10.1992; S. 25-36, S. 27-29.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
ten Sekretärs des Deutschen Schriftstellerverbandes Gustav Just (*1921).30 Die Publikation dieser Dokumente erfüllt teilweise (selbst-)therapeutische Funktionen; so betont Rudolf Herrnstadt: Die nachstehende Erklärung ist ein Dokument, das einmal geschrieben werden mußte, weil anders die Wahrheit nicht zu erkämpfen ist, aber zugleich ein Dokument, das ich selber vergessen möchte und – ich glaube, dazu die Kraft zu haben – vergessen werde, sobald die Wahrheit erkämpft worden ist.31
Häufig wurden Werke aber auch lediglich nachgedruckt bzw. um zusätzliche Texte ergänzt, etwa im Falle der Neuausgabe von Gerhard Zwerenz’ (*1925) Großelternkind (1996).32 Früher geschriebene, aber nach der ‚Wende‘ erstmals veröffentlichte Texte wurden meist mit entsprechenden Vor- oder Nachworten versehen; beispielsweise erklärt der – fiktive – Herausgeber von Steffen Menschings Pygmalion (1991) im Nachwort: Der Autor konzipierte die Grund-Geschichte Ende 1987, begann 1988 mit der Niederschrift, im Sommer 1989 lagen zwei Drittel des Romans vor. Trotz öffentlicher Leseabende in Bibliotheken und Theatern zweifelte der Verfasser, ob er seinen Stoff jemals in Buchform der literarischen Öffentlichkeit dieses Landes würde vorstellen können. Mit den gesellschaftlichen Herbststürmen des 89er Jahrs legten sich diese Befürchtungen, um neuen zu weichen. Würde der Text, so lautete die bange Frage nun, jetzt noch Sinn machen, auf Lesererwartungen treffen, angesichts der Wirren, der Winkelzüge der alten, der Profilierungssüchte der neuen Politiker, in Anbetracht von Enthüllungen, Skandalen, Wirtschaftschaos, Supermarktschlachten, möglich gewordenen Reiseplänen, Gebrauchtwagenanzeigen und Wahlkampf? Die Zeit drängte.33
In vielen Fällen ist es schwierig, bisweilen unmöglich nachzuprüfen, weshalb ein Text in der DDR nicht erschien: Nicht immer waren mit der Zensur im Zusammenhang stehende Gründe ausschlaggebend, und häufig
30 31
32 33
Gustav Just: Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre. Mit einem Geleitwort von Christoph Hein. Berlin (DDR) 1990. Rudolf Herrnstadt: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953. Hrsg., eingeleitet und bearbeitet von Nadja Stulz-Herrnstadt. Reinbek 1990 (rororo aktuell), S. 55. Vgl. dazu auch: Gisela Kraft: Partei privat. In: G.K.: West-östliche Couch. Zweierlei Leidensweisen der Deutschen. Noten und Abhandlungen. Berlin 1991, S. 39-63. Gerhard Zwerenz: Das Großelternkind. Querfurt 1996. Steffen Mensching: Nachwort zu: Pygmalion. Ein verloren geglaubter dubioser Kolportage-Roman aus den späten 80er Jahren. Entschlüsselt und herausgegeben von Steffen Mensching. Halle (S.) 1991; S. 439-442, S. 440.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
77
dienen in der DDR nicht erschienene Texte als angebliche Beweise für ein oppositionelles Dasein der betroffenen Autorinnen und Autoren. Doch auch in der DDR konnten völlig andere Gründe das Erscheinen eines Textes verhindern. Manche ‚Wendehälse‘ innerhalb des Literaturbetriebs werden deshalb vielmehr selbst zum Gegenstand der ‚Wendeliteratur‘, zum Beispiel in Matthias Biskupeks Satirensammlung Wir Beuteldeutschen oder Wie ich zum Widerstandskämpfer wurde (1991).34 Biskupek setzt sich aber auch auf essayistischer Ebene mit dieser Problematik auseinander; in der Vorbemerkung zu seinem Text Renitenter Pfarrer (1990 / 1999) äußert er: Nachstehendes ist im Frühjahr und Sommer 1989 recherchiert worden; im September 1989 habe ich den Text geschrieben. Wieder mal zu pflichtbewußt habe ich den Abgabetermin eingehalten, wo kurz danach plötzlich eine Revolution diverse Termine hatte. Beim Schreiben vermutete ich noch, daß mein Text erneut nur ein Testballon sein könnte: wie vorsichtig muß ich die Wahrheit sagen, damit sie nicht geschluckt, sondern gedruckt wird. Inzwischen wird Wahrheit in jeder Form verbreitet; Unwahrheiten werden aber kaum seltener als früher gedruckt. Lese ich heute, im Januar 1990, den Text, sehe ich, wie vorsichtig wir uns alle auszudrücken verstanden. Keine fünf Monate sind vergangen. Ein im Text Zitierter kam sogar und wollte seine damalige Meinung gänzlich gewendet sehen. Machen wir aber aus der Vorsicht von damals plötzlich den Widerstandskampf aus heutiger Sicht, so wären wir wieder mal dabei, unsere Geschichte von heute aus, aus der Sicht von Siegern zu schreiben. […]35
Aspekt 2 betrifft auch Texte, die vor 1989 nur in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht waren, nun aber auch in Lizenzausgaben für das Vertriebsgebiet der DDR auf den Markt kamen. Ein Beispiel ist Monika Marons Roman Flugasche (1981). Nachdem das Ministerium für Kultur der DDR trotz wiederholter Streichungen die Druckgenehmigung für diesen Roman, der eigentlich im Rudolstädter Greifenverlag erscheinen sollte36, verweigert hatte, erschien die ursprüngliche Fassung des Textes in Frankfurt am Main bei S. Fischer. 1990 kündigte ihn der Mitteldeutsche Verlag in seiner „Vorschau“ an: „Neu wurden nach Redaktionsschluß noch einige Titel ins Programm aufgenommen […]: Monika Maron / Flugasche / Roman / […]. Ihr [Marons; F.Th.G.] Debütroman liegt 10 34 35
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Matthias Biskupek: Wir Beuteldeutschen oder Wie ich zum Widerstandskämpfer wurde. Satiren, Glossen und Feuilletons. Berlin 1991. Ders.: Vorbemerkung zu: Renitenter Pfarrer. In: M.B.: Die geborene Heimat. Spöttische Lobreden. Rudolstadt / Jena 1999 (Thüringen-Bibliothek, Band 8); S. 34-49, S. 34 [Erstveröffentlichung 1990]. Maron hatte 1978 ein Förderstipendium des Greifenverlages für die Arbeit an Flugasche erhalten.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Jahre zurück und wird erstmals in der DDR veröffentlicht.“37 Maron zog allerdings ihre Einwilligung zur Veröffentlichung beim Mitteldeutschen Verlag zurück, zumal die Fischer-Ausgabe kurze Zeit später auch in der DDR problemlos erhältlich war. Dennoch erschien 1990 im Berliner Union Verlag eine ausschließlich „zum Vetrieb in der Deutschen Demokratischen Republik“ bestimmte (Taschenbuch-)Ausgabe.38 Nach der ‚Wende‘ erstmals in der DDR gedruckt und zu lesen war nun auch das im Westen in kürzester Zeit zum Klassiker avancierte Buch Der vormundschaftliche Staat (1990) von Rolf Henrich (*1944).39 Weitere Beispiele sind das im Westen 1966 erschienene Theaterstück Die Plebejer proben den Aufstand40 von Günter Grass, die in der Bundesrepublik erstmals 1974 erschienene Autobiografie Der Widerspruch (1991)41 von Gerhard Zwerenz, aber auch das Buch des Liedermachers Karl („Kalle“) Winkler, der nach dreizehn Monaten Haft in den Westen abgeschoben bzw. ‚freigekauft‘ wurde. Seine Erlebnisse hat er in dem Band Zur Klärung eines Sachverhalts (1990) aufgeschrieben, der unter dem Titel Made in GDR bereits 1983 in der Bundesrepublik erschienen war. Im Vorwort der DDRAusgabe äußert er angesichts der bevorstehenden Vereinigung: Deutschland einig Vaterland – ich fühle mich so fremd, so fremd, wenn ich nach acht Jahren wieder einreise. Und sehe, wie innerlich fremd sich die Deutschen in Wirklichkeit sind. Nicht nur die von Ost und West, auch die Generationen untereinander. Nach dem Faschismus fand keine Vergangenheitsbewältigung statt. Nur Hitler wäre es gewesen, und alle anderen haben angeblich von nichts gewußt oder beriefen sich auf Befehlsnotstand. Unsere Großeltern waren es. Und in den letzten 40 Jahren waren es nicht nur die paar Honeckers, die ihr eiligst eingesperrt habt, um euch selber reinzuwaschen. Ihr, unsere Eltern, wart es auch! Durch euer Schweigen, euer Nicht-wissen-Wollen, eure Lügen, eure Zustimmung, euer Dulden. Was wäre denn gewesen, wenn ihr nicht mehr mitgemacht hättet? – Ihr hättet nicht mehr mitgemacht. Aber jetzt habt ihr angeblich von nichts gewußt, habt unter Befehl gestanden, wolltet eure Jobs nicht verlieren. Und windet und wendet und lügt und heuchelt, aufs neue. Diesmal müssen wir alles aufdecken! Diesmal müssen wir alles zur Sprache bringen! Erst dann werden wir frei sein. Und nicht nur im bunten Warenhaus. Wir Deutsche.42 37 38 39 40 41 42
[Verlagsprogramm]: Vorschau 1990. Mitteldeutscher Verlag. [Halle (S.) / Leipzig 1990]. Monika Maron: Flugasche. Roman. Berlin (DDR) 1990. Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat. Mit einem Gespräch zwischen Kurt Masur und Rolf Henrich. Leipzig / Weimar 1990 [zuvor: Reinbek 1989]. Günter Grass: Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. Mit einem Essay und einem Gespräch. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit). Gerhard Zwerenz: Der Widerspruch. Autobiographischer Bericht. Berlin 1991 (Texte zur Zeit); zuerst: Frankfurt a.M. 1974 (Fischer Format). Karl Winkler: Zur Klärung eines Sachverhalts. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
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Mit den zuvor nicht gegebenen Publikationsmöglichkeiten wird auch in Titeln gespielt. Ein Beispiel hierfür ist Werner Heiduczeks Sammlung Im gewöhnlichen Stalinismus (1991), die den Untertitel „Meine unerlaubten Texte“43 trägt. Die ‚Wende‘ brachte aber auch Wiederveröffentlichungen älterer Texte von erst nach 1989 einem breiteren Publikum bekannt gewordenen Autorinnen und Autoren. Ein prominentes Beispiel aus dem Bereich der Publizistik ist Daniela Dahn (*1949), deren erstes Buch 1980 im Mitteldeutschen Verlag erschienen war.44 Dem Neudruck von Spitzenzeit fügte sie ein „Spätes Nachwort“45 an, das sie im Sommer 2000 schrieb. Dahns nach der ‚Wende‘ erschienene Bücher46 sind äußerst erfolgreich. Aspekt 3: ‚Wendeliteratur‘ im Sinne von Texten, die das Leben in Deutschland vor und nach der ‚Wende‘ aus der Perspektive der Nachwendezeit reflektieren Die ‚Wende‘ mag hier in den seltensten Fällen zentrales Thema sein, bildet jedoch häufig sowohl Anlass für eine Beschäftigung mit sich selbst als auch mit der eigenen Vergangenheit. In den Jahren nach 1990 erschienen so viele Autobiografien und autobiografische Texte wie nie zuvor (vgl. dazu ausführlich 5.2.2), aber auch zahlreiche detaillierte Biografien, die einen verstärkten Bedarf an Informationen bedienen.47
43 44
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47
Zeit), S. 6f.; im Original durchgängig kursiv. Winklers Buch ist nicht nur interessant wegen der Darstellung seiner eigenen Geschichte, der Haft usw., sondern im Zusammenhang mit unserem Thema auch und gerade im Hinblick auf die Reflexionen über das Verfahren des „Freikaufens“ von Häftlingen durch die Bundesrepublik und auf Winklers Wahrnehmung des Westens vor dem Fall der Mauer, in den er – gegen seinen Willen und seine politische Überzeugung – abgeschoben wird. Vgl. dazu v.a. das Kapitel „Westen“, S. 179-196. Werner Heiduczek: Im gewöhnlichen Stalinismus. Meine unerlaubten Texte. Tagebücher – Briefe – Essays. Leipzig / Weimar 1991. Daniela Dahn: Spitzenzeit. Feuilletons und eine Collage. Halle (S.) / Leipzig 1980 bzw. Dies.: Spitzenzeit. Lebenszeichen aus einem gewesenen Land. Reinbek 2000 (rororo Sachbuch). Dies.: Spätes Nachwort. In: Ebd., S. 207-222. Dies.: Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten. Vom Kampf um Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern. Rechtsberatung: Barbara Erdmann. Reinbek 1994 (rororo aktuell); Dies.: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit. Berlin 1996; Dies.: Vertreibung ins Paradies. Unzeitgemäße Texte zur Zeit. Reinbek 1998 (rororo aktuell); Dies.: Wenn und Aber. Anstiftungen zum Widerspruch. Reinbek 2002 (rororo Sachbuch). Vgl. etwa Jochen von Lang: Erich Mielke. Eine deutsche Karriere. Unter Mitarbeit von Claus Sibyll. Berlin 1991; Markus Jodl: Amboß oder Hammer? Otto Grotewohl. Eine politische Biographie. Berlin 1997.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Aspekt 4: ‚Wendeliteratur‘ im Sinne von dokumentarischen Texten, deren Publikation durch das Ende der DDR erst möglich wurde, sowie Forschungsberichte über die DDR und Teilbereiche des Lebens in der DDR Nach der ‚Wende‘ wurden zahlreiche, bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich. Diese Entwicklung betrifft natürlich vor allem den historisch-politischen Bereich, doch auch die Literaturwissenschaft profitiert von der Öffnung vieler Archive, etwa in Bezug auf neue und differenziertere Erkenntnisse über die Hintergründe und Folgen der Biermann-Ausbürgerung innerhalb der DDR, insbesondere im Zusammenhang mit der so genannten ‚Biermann-Petition‘.48 Der von der Literaturwissenschaft bisher am gründlichsten ausgewertete Bereich betrifft die Akten der Staatssicherheit (vgl. dazu ausführlich 5.1.6). Ohne sie wäre etwa der von Joachim Walther und anderen herausgegebene Band Protokoll eines Tribunals (1991)49, der die Transkriptionen von Tonbandaufzeichnungen der folgenschweren Versammlung des Schriftstellerverbandes der DDR vom 7. Juni 1979 enthält, undenkbar gewesen. Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes dürften den weitaus größten Anteil dieser Publikationen stellen; doch auch Akten des FBI, beispielsweise ein fast 1000 Seiten umfassendes Dossier über Anna Seghers aus den vierziger Jahren50, wurden nun zugänglich. Die meisten Beiträge dieser Art sind nicht in Buchform, sondern in Zeitschriften publiziert worden. So hatte Klaus Höpcke 1977 seinen in Heft 37 der Weltbühne erschienenen Artikel Lust an der Wahrheit an Franz Fühmann gesandt und diesen um seine Meinung dazu gebeten. Fühmann antwortete am 20. November 1977 mit einem Offenen Brief, der damals – auch in abgewandelter Form – nicht erscheinen durfte. 1990 druckte Sinn und Form schließlich den Brief51, versehen mit einem Postscriptum Januar 1990 von Höpcke.52 48
49
50 51
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In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Hrsg. von Roland Berbig, Arne Born, Jörg Judersleben, Holger Jens Karlson, Dorit Krusche, Christoph Martinkat, Peter Wruck. Berlin 1994 (Forschungen zur DDR-Geschichte, Band 2). Zur Rolle Biermanns vgl. überblicksartig Joachim Wittkowski: Die DDR und Biermann. Über den Umgang mit kritischer Intelligenz: Ein gesamtdeutsches Resümee. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20 / 96 v. 10.5.1996, S. 37-45. Joachim Walther / Wolf Biermann / Günter de Bruyn / Jürgen Fuchs / Christoph Hein / Günter Kunert / Erich Loest / Hans-Joachim Schädlich / Christa Wolf (Hgg.): Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979. Reinbek 1991 (rororo aktuell). Alexander Stephan: Die FBI-Akte von Anna Seghers. In: Sinn und Form 42 (1990) 3, S. 502-509. Franz Fühmann: Offener Brief an den Leiter der Hauptverwaltung Buchhandel und Verlage im Ministerium für Kultur Klaus Höpcke. In: Sinn und Form 42 (1990) 3, S. 459-465. Der letzte Satz und damit das Fazit seines kurzen Textes lautet treffend: „Das Scheitern
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
Aspekt 5:
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‚Wendeliteratur‘ im Sinne von vor 1989 geschriebener Literatur, die die ‚Wende‘, etwa durch die explizite oder implizite Thematisierung von Missständen in der DDR, ‚vorbereitete‘
Eva Kaufmann (1994) stellt über die Ende der achtziger Jahre erschienenen Romane einiger Schriftstellerinnen aus der DDR fest: „All diesen Texten ist mehr oder weniger zwischen den Zeilen die Warnung eingezeichnet: wenn es weitergeht wie bisher, entsteht großer, nicht wiedergutzumachender Schaden, mit unabsehbaren Folgen.“ Sie meint: Daß Texte mit solcher Tendenz gedruckt wurden, setzte listige Schreibstrategien voraus, die an der Zensur vorbei die Leserinnen und Leser erreichten, mit denen sich die Autorinnen im Einverständnis fühlten. Sie alle hatten die Fähigkeit entwickelt, ihren Werken kunstvoll Untertexte einzuschreiben, mit den verschiedenen Spielarten des Komischen zu operieren, vor allem die Möglichkeiten der Ironie für das Verwirrspiel um Bedeutungen und Standpunkte auszunutzen.53
Ein Beispiel hierfür ist die – allerdings erst 1991 erschienene und damals kaum beachtete – Anthologie Labyrinthe.54 Der Band versammelt „Träume und Traumgeschichten“ von Autorinnen und Autoren aus der DDR aus der Zeit um 1989. Das Medium Traum dürfte sich in besonderer Weise eignen, ansonsten ‚Unsagbares‘ dennoch an- und auszusprechen. Als schwierig und wohl kaum im Interesse der Verfasser liegend erweisen sich die vielfältigen Bestrebungen, Texte aus der DDR per se als Gesellschaftskritik zu lesen. Ein solches Vorgehen birgt die Gefahr einer eindimensionalen Rezeption, die sich bereits im Zusammenhang mit der ‚DDR-Literatur‘ als heikel erwiesen hat. Der Begriff ‚Wendeliteratur‘ kann also in einem engeren wie in einem erweiterten Verständnis gebraucht werden. Problematisch an ihm ist nicht zuletzt die Tatsache, dass der wesentlichen Rolle, die die ‚Einheit‘ als Folge der ‚Wende‘-Ereignisse spielt, nicht auch auf der begrifflichen Ebene Rechnung getragen wird. Zudem erweist sich eine Abgrenzung des Begriffs der ‚Wende-‘ von dem ohnehin problematischen Begriff der ‚DDR-Literatur‘
53
54
der damaligen Publikationsversuche unterstrich, wie berechtigt die von Franz Fühmann ausgedrückten Sorgen waren.“ (Klaus Höpcke: Postscriptum Januar 1990. In: Sinn und Form 42 (1990) 3; S. 465f., S. 466). Eva Kaufmann: Adieu Kassandra? Schriftstellerinnen aus der DDR vor, in und nach der Wende: Brigitte Burmeister, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Brigitte Struzyk, Rosemarie Zeplin. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 216-225, S. 218. Labyrinthe. Träume und Traumgeschichten. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Klaus Hammer. Berlin 1991.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
als schwierig, insbesondere im Hinblick auf den Zeitraum 1989 / 90, als die DDR noch als Staat existierte. Deshalb müsste in der Diskussion um den Begriff ‚Wendeliteratur‘ verstärkt der umstrittene Begriff der ‚DDR-Literatur‘ mit einbezogen werden, zumindest jedoch dessen Inhaltsseite. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verwendeten und verwenden diesen Begriff völlig unkritisch, andere mit der gebotenen Differenzierung. Versteht man ‚DDR-Literatur‘ als ‚in der DDR entstandene Literatur‘ und fragt nach der heutigen Bedeutung dieser Texte, erhält man kaum eine fundierte Auskunft. Hans-Joachim Schädlich (1990) fragt also zu Recht: Wovon war die Rede, wenn die Rede von der „DDR-Literatur“ war? War die Rede vom Geburtsort der Autoren? Oder vom Wohnort der Autoren? Oder von dem Ort, an dem Bücher geschrieben wurden? Oder von dem Ort, an dem Bücher publiziert wurden? […] […] Zu welcher deutschen Literatur gehören jene Autoren, die im Laufe der Jahre aus dem Osten in den Westen gezogen sind, und zu welcher deutschen Literatur gehören ihre Bücher? Ich zähle mehr als 60 Autoren; meine Liste ist unvollständig. Begriffe wie „die beiden deutschen Literaturen“ können systematisch in die Irre führen, denn in Wahrheit ist die deutsche Literatur gar nicht geteilt.55
Und Brigitte Burmeister (1994) stellt fest: Die Begriffe ‚DDR-Literatur‘ und ‚DDR-Schriftsteller‘ können, sofern sie nicht als bloße Ortsangaben gebraucht werden, immer nur signifikante Teilaspekte oder Teilmengen, nicht die Heterogenität der Schreibweisen, Existenzformen, Literaturauffassungen und politischen Haltungen in der ehemaligen DDR bezeichnen.56
Ohne die Literatur der nach 1976 in den Westen gegangenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR ist die ‚DDR-Literatur‘ nicht zu denken. Ihnen kommt nach der ‚Wende‘ eine besondere Rolle zu, denn Diskussionen werden auch über die Rolle der ‚weggegangenen‘ bzw. der ‚dagebliebenen‘ Intellektuellen geführt.57 ‚DDR-Literatur‘ ist also stärker inhaltlich zu verstehen, weniger geografisch und am wenigsten rein zeitlich. Denn ob mit der staatlichen Einheit 55
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Hans Joachim Schädlich: Tanz in Ketten. Zum Mythos der DDR-Literatur. In: FAZ v. 28.6.1990. Vgl. dazu auch Günther Rüther: Nur „ein Tanz in Ketten“? DDR-Literatur zwischen Vereinnahmung und Selbstbehauptung. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 249-282, insbes. S. 252-255: II. Zum Begriff „DDR-Literatur“. Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: Sinn und Form 46 (1994) 4; S. 648-654, S. 653. Vgl. dazu auch „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.“ Über Motive von AutorInnen, in der DDR zu bleiben, und heutige Bedingungen des Schreibens. Eine Dokumentation mit Originalbeiträgen von: Brigitte Burmeister, Uwe Saeger, Jens Sparschuh. Hgg.: Heinrich Böll Stiftung, Wolfgang Gabler, Helmut Lethen. Berlin 1999.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
83
die ‚DDR-Literatur‘ zwangsläufig ihr Ende gefunden hat, ist fragwürdig, selbst wenn man sich in den Feuilletons darüber einig zu sein scheint. So meint Volker Hage 1990: „Nun ist sie also wieder vereint, die deutsche Literatur.“58 Ulrich Greiner äußert sich im selben Jahr ähnlich: „Mit dem Ende der Zweiteilung Deutschlands ist auch das Ende der literarischen Teilungen gekommen.“59 Dagegen erschien 2000 ein text+kritik-Sonderband mit dem Titel DDR-Literatur der neunziger Jahre.60 Auf jeden Fall haben die ‚Wende‘ und die Diskussionen um das Ende der ‚DDR-Literatur‘ eine neue Welle der Beschäftigung mit Werken der Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR ausgelöst. Der veränderte Blickwinkel bestätigt in vielen Fällen einmal mehr, auf welch einseitige Art und Weise man im Westen Literatur aus der DDR rezipiert hat.61 Unterdessen schreitet eine Kanonisierung der ‚DDR-Literatur‘ fort. Dieser Prozess vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: durch die Herausgabe von Reihen, etwa der „DDR-Bibliothek“ im Leipziger Verlag Faber & Faber, aber auch durch die Aufnahme bestimmter Texte in Schulbücher und Lehrwerke etwa des Deutschen als Fremdsprache. Beide Formen der Kanonisierung sind nicht unproblematisch, stehen doch immer bestimmte Absichten hinter der Aufnahme eines Textes in Reihen, Anthologien und Lehrwerke jedweder Art, ohne dass diese stets transparent gemacht würden. Man scheint sich jedoch darüber einig zu sein, dass ‚DDR-Literatur‘ weiterhin Unterrichtsgegenstand sein soll. Theo Mechtenberg (1994) stellt in einer von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages in Auftrag gegebenen Expertise fest: Aus dieser Einschätzung resultiert die Aufgabe, die DDR-Literatur […] in eine Gesamtkonzeption deutscher Nachkriegsliteratur zu integrieren und bildungspolitisch für eine entsprechende Rezeption Sorge zu tragen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die von der Konzeption einer ‚sozialistischen Nationalliteratur‘ sowie von kulturpolitischen Vorgaben bestimmten zentralen Lehrpläne die Behandlung der für den Emanzipationsprozeß bedeutsamen Autoren, Werke, Konflikte und Entwicklungen unberücksichtigt ließen. Ohne ein bildungspolitisches, die DDR-Literatur unter bestimmten Aspekten integrierendes Konzept dürfte eine umfassende Aufarbeitung der DDR-Diktatur schwerlich möglich sein und der Grundlage für ein geistiges Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands ein tragfähiges Element fehlen.62 58 59 60 61
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Volker Hage: Da war was, da bleibt was. In: Die Zeit v. 5.10.1990. Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. In: Die Zeit v. 2.11.1990. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): DDR-Literatur der neunziger Jahre (text+kritik Sonderband IX / 00). Vgl. dazu etwa die Vielzahl der Beiträge zu „wiedergelesenen“ Texten unter dem Titel „Einsichten – Verstrickungen – Nachträge“ in: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 81-224 sowie Kerstin Hensel: Ohne Angst und an allen Dummköpfen vorbei. In: K.H.: Angestaut. Aus meinem Sudelbuch. Halle (S.) 1993, S. 54-61, insbes. S. 58f. Theo Mechtenberg: Expertise, im Auftrag der Enquete-Kommission des Deutschen Bun-
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Die oben genannten Beispiele mögen belegen, dass sich die Bezeichnung ‚Wendeliteratur‘ kaum als literaturwissenschaftlich fundierter Gattungsbegriff wird etablieren lassen. Möglicherweise wird sie sich jedoch in gewissem Ausmaß nicht zuletzt wegen ihrer Kürze und der damit verbundenen leichteren Deklinierbarkeit im Sinne eines vor allem thematisch ausgerichteten Begriffes durchsetzen. Zudem mangelt es an brauchbaren Gegenvorschlägen; Julia Kormanns (1999) Versuch, den Begriff der ‚Wendeliteratur‘ von der „Literatur nach 1989“ abzugrenzen und vor allem den zuletzt genannten Begriff zu etablieren63, dürfte wenig bringen – zu breit ist zumindest das alltagssprachliche Verständnis der Bezeichnung ‚Literatur nach 1989‘.
3.2
Auf der Suche nach einem Phantom: der ‚große Wenderoman‘
Eng verbunden mit dem Begriff ‚Wendeliteratur‘ ist die primär in den Feuilletons gebrauchte Bezeichnung ‚Wenderoman‘. Dessen Erscheinen wurde vielfach eingefordert und kaum weniger häufig gefeiert. Karl-Wilhelm Schmidt stellt 1996 dennoch fest: Der berufsmäßige Leser reibt sich verwundert die Augen. Er sucht nach Texten von (ehemaligen) DDR-Autoren, vor allem fiktionalen, die jenen historischen Umbruchsprozeß in den Blick nehmen, Folgeprobleme artikulieren. Die Suche ist mühsam, das Ergebnis nicht überwältigend […].64
Über die Gründe hierfür spekuliert Schmidt: „fehlende Distanz aufgrund des geringen zeitlichen Abstandes, veränderte Strukturen und Rahmen-
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destags zur ‚Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland‘. Manuskript 1994, S. 30; zit. nach: Dietger Pforte: Literatur und Politik. Zur literarischen Topographie Berlins im vierten Jahr nach der politischen Wiedervereinigung der Stadt. In: The New Germany. Literary and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 72-91, S. 75. Vgl. Julia Kormann: Literatur und Wende. Ostdeutsche Autorinnen und Autoren nach 1989. Wiesbaden 1999 (Literaturwissenschaft / Kulturwissenschaft). Karl Wilhelm Schmidt: Geschichtsbewältigung. Über Leben und Literatur ehemaliger DDR-Autoren in der wiedervereinten Bundesrepublik. Eine Bestandsaufnahme kulturpolitischer Debatten und fiktionaler, essayistischer sowie autobiographischer Publikationen seit der Vereinigung. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Pluralismus und Postmodernismus. Zur Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland 1980-1995. Vierte, gegenüber der dritten erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1996 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 25); S. 353-395, S. 369.
3.2 Auf der Suche nach einem Phantom
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bedingungen (Erwerbssituation, Produktion, Rezeption), fehlendes Verlagsinteresse, persönliche Erfahrungen (Christa Wolf-Debatte um Was bleibt).“65 Karl-Rudolf Korte (1996) hält dagegen die Suche nach dem ‚Wenderoman‘ für grundsätzlich falsch: Sogenannte Epochenromane sollte man dabei jedoch nicht suchen […]. Den Epochenroman zwischen Wende und Einheit kann es nicht geben, wenn schon dann mindestens zwei, nämlich einen aus West- und einen aus Ostsicht. Epochenromane als Gesamtpanorama der gesellschaftlich-politischen Strömungen können angesichts unserer vieldimensionierten Wirklichkeit heute nicht mehr entstehen. Die neue Unübersichtlichkeit läßt kein Porträt der Gesellschaft als Ganzes mehr zu. Das war noch in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre anders [sic]. Nur so konnten die großen Zeitromane von Böll, Grass, Johnson, Lenz entstehen […].66
Die Forderungen nach dem ‚Wenderoman‘ lassen sich bis zum 9. November 1989 zurück verfolgen, wie ein Bericht von Hans Christoph Buch (1990) zeigt: Am 9. November 1989, dem Tag, an dem die Berliner Mauer dem Druck der ostdeutschen Bevölkerung nachgab, hielt ich einen Vortrag an einer amerikanischen Universität. Die erste Frage, die man mir stellte, nachdem ich meine spontane Freude über dieses Ereignis zum Ausdruck gebracht hatte, lautete: wann erscheint der große Roman über den Tag, an dem die Mauer fiel? Haben Sie das fertige Manuskript schon in der Tasche? Leider mußte ich meine Zuhörer enttäuschen. Der große Roman über die Berliner Mauer ist bis heute nicht geschrieben worden, genausowenig wie der große Roman über die Französische Revolution oder die Studentenrevolte von 1968. Und der große Roman über den Tag, an dem die Mauer fiel, wird vielleicht nie geschrieben werden. Solche historischen Ereignisse haben Schriftsteller als Chronisten nicht nötig; sie beschreiben sich sozusagen selbst, in Form von Augenzeugenberichten und Interviews, die im Fernsehen gesendet und in Zeitungen gedruckt oder kommentiert werden; und sie bringen ihre eigene Poesie hervor, die sich in Flugblättern, Transparenten und Slogans wie „Die Phantasie an die Macht!“ oder „Wir sind das Volk!“ ausdrückt.67
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Ebd., S. 372; Hervorhebung im Original. Karl-Rudolf Korte: Berichte zur Lage der Nation. Vom Umgang mit der erzählenden Literatur im vereinten Deutschland. In: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 28 (1996) 4; S. 551-564, S. 556. Hans Christoph Buch: Intra Muros. Die Berliner Mauer und die deutsche Literatur. In: H.C.B.: An alle! Reden, Essays und Briefe zur Lage der Nation. Frankfurt a.M. 1994; S. 11-20, S. 11 [geschrieben 1990; zuerst erschienen in Dimension (Austin / Texas) 19 (1992) 2]; vgl. auch den Beginn von H.C.B.: Die Stunde der Dichter. Die Meinungsmacher produzieren nur Sperrmüll. Und die Lyriker sind Experten für alles, was in ihren Reden nicht vorkommt. In: Die Zeit v. 4.12.1992.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Danach gefragt, was er „über diese Tage“ – gemeint sind die Tage der ‚Wende‘ – schreibt, antwortete Christoph Hein bereits am 4. November 1989 in einem Interview: Das alles ist sicher ein Stoff für Literatur, aber drei Generationen nach mir. Kunst strickt ungern mit heißer Nadel. In der Vergangenheit hatten Kunst und Literatur von einem Bonus gelebt, der sich auf einem Mißverhältnis gründete. Statt der Zeitung kauften sich die Leute ein Buch. Jetzt sehe ich Anzeichen dafür, daß sich die Zeitungen mit Politik befassen und die Kunst dadurch entlastet wird. Damit wird Kunst wieder auf ihre eigentlichen Aufgaben zurückgeführt. Langfristig wird eine Entlastung von Literatur stattfinden.68
Andreas Isenschmidt (1993) bezweifelt, dass es je einen ‚Wenderoman‘ geben wird: Wir warten, will ich sagen, auch nicht auf den Roman zur EG-Agrarpolitik. Und wir wüßten, um ein besseres Beispiel zu geben, noch nicht mal zu sagen, welches der Roman der Französischen Revolution sei. Es zeugt von einem verschrobenen Literaturverständnis, Schriftsteller für Leute zu halten, die mit leichtem Zeitverzug die politische Agenda in Romanform umgießen. Die vielen Veranstaltungen zum Thema Literatur und Wende zeugen so gesehen von einer heillosen und vulgären Politisierung der literarischen Erwartungen.69
Im gleichen Zusammenhang wagt er die Prophezeiung: Ich deutsche meine Vermutung aus: Deutschlandeinheitwende ist als literarisches Thema heute oft so lendenlahm wie Straußens Reichsadler.70 Es befruchtet kaum jemanden. Wenn wir die wirklich geglückten Bücher und die Leseerfahrungen in den Blick fassen, ist Deutschlandeinheitwende im Westen heute als literarisches Thema nicht sonderlich produktiv. Ich sagte: heute, und ich sagte: als literarisches Thema. Denn natürlich wurde über kein anderes Thema soviel geredet, debattiert, getalkt wie über dieses. Wer reisefreudig ist, kann jede zweite Woche an eine Tagung zum Thema „Literatur und Kritik im Jahre x der deutschen Einheit“ reisen, gestern Hiddensee, heute Leipzig. Aber einmal angekommen, macht man oft eine merkwürdige Erfahrung. Wenn man über Deutschlandeinheitwende spricht, spricht
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[Interview mit Dieter Krebs]: Weder das Verbot noch die Genehmigung als Geschenk. BZ sprach mit dem Schriftsteller Christoph Hein nicht vorrangig über Literatur. In: BZ v. 4. / 5.11.1989. Andreas Isenschmidt: Literatur nach der „Wende“ – die Situation im Westen. In: ndl 41 (1993) 8 (Wachsende Verstörung – florierender Betrieb? Zur Situation der deutschen Literatur im dritten Einigungsjahr. Symposion der Deutschen Literaturkonferenz, Leipzig, 4. Juni 1993; ndl extra); S. 172-178, S. 175. Isenschmid spielt hier auf den Adler in Botho Strauß’ Drama Schlußchor (1991; vgl. dazu 5.5.3) an.
3.2 Auf der Suche nach einem Phantom
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man nicht über Literatur. Und wenn man sich den intensiven literarischen Erfahrungen zuwendet, spricht man nicht über Deutschlandeinheitwende.71
Auf Seiten der Schriftsteller gibt man sich skeptisch. Günter Grass (1995) äußerte sich in diesem Zusammenhang klar: „Es wird ihn nie geben, den Roman über die deutsche Einheit, ich habe ihn nicht schreiben wollen. Das sind Suggestionen und Erwartungen, die von außen kommen.“72 Michael Rutschky (1995) fürchtet: „[…] je genauer ich mir einen solchen Roman der ‚Wende‘ […] ausdenke, um so weniger Lust bekomme ich, ihn zu schreiben. Oder auch nur zu lesen.“73 Zudem warnt er: „Ein auf nationales Hochgefühl spekulierender Roman, der Trennung und Zerrissenheit am 3. Oktober 1990 glorios in neuer Einheit enden ließe, käme uns, um das mindeste zu sagen, geschmacklos vor […].“74 Einer der wenigen Autoren, die eine literarische Verarbeitung der ‚Wende‘ geradezu einfordern, ist Friedrich Christian Delius (*1943). In seinen im Wintersemester 1994 / 95 in Paderborn gehaltenen und unter dem Titel Die Verlockungen der Wörter (1996) erschienenen Poetik-Vorlesungen bemerkt er: Selten waren die Zeiten für Schriftsteller so günstig wie heute. Nicht in jedem Jahrhundert war es den aufmerksameren Leuten vergönnt, ein Gesellschaftssystem ohne Krieg zusammensinken zu sehen und seine Vereinigung mit einer stärkeren, anders verfaßten Gesellschaft zu beobachten […]. Überall sind Nuancen zwischen eingebildeter und wirklicher Aussichtslosigkeit, zwischen Befreiung und Belastung zu erspüren, überall, ich spreche von der Literatur, wäre neues, unerhörtes Material, das buchstäblich auf der Straße liegt, zu sehen, aufzuheben und zu bearbeiten. Kurz, so viel Spannung war nie, und die Schriftsteller sind gut dran, die ihre eigenen Spannungen auf die allgemeinen Zerreißproben zu projizieren verstehen.75
Doch so plakativ wie sie zunächst scheinen mag, ist seine Forderung nicht; er stellt klar: 71
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Andreas Isenschmid: Literatur nach der „Wende“ – die Situation im Westen. In: ndl 41 (1993) 8 (Wachsende Verstörung – florierender Betrieb? Zur Situation der deutschen Literatur im dritten Einigungsjahr. Symposion der Deutschen Literaturkonferenz, Leipzig, 4. Juni 1993; ndl extra); S. 172-178, S. 173; Hervorhebungen im Original. [Interview mit Jochen Hieber]: Ich will mich nicht auf die Bank der Sieger setzen. Ein Gespräch mit Günter Grass über den Roman „Ein weites Feld“, die Reaktionen der Kritik, die deutsche Einheit und den Blick aufs eigene Leben. In: FAZ v. 7.10.1995. Michael Rutschky: Das übergroße Ereignis, die geteilten Erzähler. Mutmaßungen über den Roman der „Wende“. In: ndl 43 (1995) 4; S. 228-234, S. 230. Ebd., S. 231. Friedrich Christian Delius: Warum ich ein Einheitsgewinnler bin oder Die neuen alten Erwartungen an die Literatur. In: F.C.D.: Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich immer noch kein Zyniker bin. Berlin 1996; S. 58-84, S. 67f.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Der Roman zur deutschen Einheit? Wenn ich beklage, daß bislang wenige Autorinnen und Autoren sich den neuen Verhältnissen zu nähern scheinen, meine ich nicht, unsere Zunft sei aufgerufen, schleunigst „den Roman zur deutschen Einheit“ abzuliefern. Die Erwartung ehrt uns, aber sie ist nicht zu bedienen.76
Über die Form des ‚Romans zur deutschen Einheit‘ macht Delius sich dennoch – als einer von wenigen – Gedanken: Erwartet wird offenbar ein Werk, das die Umbrüche und Umstürze der letzten Jahre ordnet, unserer Gesellschaft auf 500 Seiten zum Ausdruck verhilft, Figuren vorstellt, welche mindestens die Erfahrungen der potentiellen Leser gemacht haben, und die beschleunigte Zeit, die wir im Rausch erlebt haben, einmal gerinnen läßt und dadurch überschaubar, konkret und wieder „wirklich“ macht und „die Epoche“ wiederspiegelt [sic]. Auch wenn dies eine eher naive Erwartung an die Literatur ist, ich freue mich, daß es sie gibt. Immerhin ist das ein deutliches Zeichen, daß nicht nur Schriftsteller den (literarischen) Wörtern eine Zukunft wünschen.77
Die trotz aller Vorbehalte nicht verstummenden Forderungen nach dem – meist mit dem Adjektiv ‚groß‘ attribuierten – Wenderoman‘ dürften ein Grund dafür sein, dass der ungeschriebene Wenderoman in der Literatur der neunziger Jahre zu einem Topos wurde. Zahlreiche Titel spielen mit diesem Aspekt: Uwe Timm veröffentlichte keinen ‚Wenderoman‘, aber immerhin Eine Wendegeschichte (1999).78 Joachim Lottmanns ironisch betitelter Roman Deutsche Einheit (1999) dürfte die umfangreichste Auseinandersetzung auf dieser Ebene darstellen: Immer wieder wird der große Einheitsroman thematisiert, den der Ich-Erzähler schreiben will, aber nicht kann.79 Die meisten Autorinnen und Autoren begegnen dem Postulat auf der satirischen Ebene: 1994 erschien bei Volk & Welt mit Fritzleben. Roman einer Wende80 von „Lutz Tilger“ ein Buch, bei dem es sich keineswegs um einen Roman handelt, sondern um die Sammlung von Rezensionen eines Romans, der sich unter mysteriösen Umständen selbst vernichtete. In der Vorbemerkung heißt es: Am 16. Juli 1994, 21.39 MESZ, vernichteten sich alle 521.612 Exemplare, die bis dahin von Lutz Tilgers Roman „Fritzleben“ verkauft worden waren. Der Katastrophe fielen überdies sämtliche Lagerbestände des Buches sowie das Manuskript
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Ebd., S. 69; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 70f. Uwe Timm: Eine Wendegeschichte. In: U.T.: Nicht morgen, nicht gestern. Erzählungen. Köln 1999; S. 130-158. Vgl. etwa Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999, S. 99f. Lutz Tilger: Fritzleben. Roman einer Wende. Berlin 1994 (Zur Lage der Nation).
3.2 Auf der Suche nach einem Phantom
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und die Druckunterlagen zum Opfer. Ein Zusammenhang mit dem Aufprall des Kometen Shoemaker-Levy 9 auf den Jupiter muß vermutet werden. […] Möglicherweise handelt es sich um einen kosmischen Witz, daß nur die Rezensionen des großen Wenderomans erhalten blieben. Immerhin haben wir dadurch die traurige Möglichkeit, ein, wenn auch widersprüchliches Bild des kometenhaft erschienenen Romans „Fritzleben“ zu bewahren.81
Die Idee zu Fritzleben geht auf Adolf Muschg zurück82, der auf einer Zusammenkunft des Förderkreises von Volk & Welt dazu aufgerufen hatte, die „real existierenden Rezensionen eines real nicht existierenden Romans“ zu schreiben, denn: „Daß es den großen deutsch-deutschen Roman noch nicht – und möglicherweise nie – gibt, darf uns wahrlich nicht hindern, ihn zu rezensieren.“83 In Fritzleben sind 17 Rezensionen des „großen Wenderomans“ enthalten, unter anderem von Thorsten Becker, Jan Philipp Reemtsma und Urs Widmer. Die Texte reagieren teilweise aufeinander, parodieren frühere Texte ihrer Autoren und gehen damit weit über eine reine Buch- und Autorenfiktion hinaus. Fritzleben ist nicht der einzige ‚verlorene‘ ‚Wenderoman‘. Auch Adolf Endler bedauert in seiner 1994 gehaltenen Jenaer Poetik-Vorlesung den Verlust des lang ersehnten Werkes: Zur Hälfte erst fertig; und dann außerdem ins Wasser gefallen, der angeblich „definitive“, wenn nicht sogar „ultimative“ WENDE-ROMAN aus der Feder meines kürzlich verstorbenen Busenfreundes Edmond „Ede“ Nordfall84; ins magnolienduftende und giftig aufschäumende Badewasser gefallen (oder geschmissen?) das an sich schon unförmige und kohlstrunkartige Konvolut, welches jetzt an einen zerfransten und strohtrocken auseinandertriefenden Basketball o.ä. erinnern will. Ja, leider, leider, dieser von vielen eher angstvoll erwartete Enthüllungsroman (oder was es auch immer geworden wäre) dürfte bis auf schmähliche, kaum praktikable Reste für alle Zeiten perdu sein; fragt sich nur, ob infolge einer Unachtsamkeit oder aber einer von Ede Nordfall bewußt eingefädelten Literatur-Katastrophe.85
Die Handlung von Jurek Beckers Roman Amanda herzlos (1992) endet am 3. Januar 1989 – eine Tatsache, in der David Rock die Weigerung Beckers 81 82 83 84 85
[Vorbemerkung]. In: Lutz Tilger: Fritzleben. Roman einer Wende. Berlin 1994 (Zur Lage der Nation); S. 7, S. 7. Vgl. Ursula Escherig: Fritzleben liegt mitten in Deutschland. Dietrich Simon, Geschäftsführer des Verlags Volk und Welt. In: Der Tagesspiegel v. 15.1.1994. Blick v. 30.5.1994; zit. nach Klappentext. Der Name spielt bezeichnenderweise mit den Buchstaben a-d-o-l-f-e-n-d-l-e-r. Adolf Endler: Ede Nordfalls „Wende-Roman“. In: Edwin Kratschmer (Hg.): Dem Erinnern eine Chance. Jenaer Poetik-Vorlesungen „Zu Beförderung der Humanität“ 1993 / 94. Köln 1995; S. 177-184, S. 178 [8. Vorlesung, gehalten am 14. Dezember 1994 im Hörsaal 24 der Friedrich-Schiller-Universität]; Hervorhebung im Original.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
sieht, den ‚Wenderoman‘ zu schreiben, der von ihm erwartet wird.86 Für Rocks These spricht zumindest die ironische Brechung im vorletzten Satz des Buches, in dem es um die Aussicht auf ein Leben in Westdeutschland geht: „Und weißt du, daß es an jeder Ecke Bananen zu kaufen gibt?“87
Exkurs I: Anna Seghers: Der gerechte Richter (1990) Mit Der gerechte Richter erschien 1990 posthum eine Novelle von Anna Seghers, die für Diskussionen sorgte. Den historischen Hintergrund im engeren Sinne bildet der im Zuge des Ungarnaufstands 1956 von Anna Seghers in Absprache mit dem damaligen Kulturminister Johannes R. Becher gefasste Plan, Georg Lukács außer Landes zu bringen. Mit der konkreten Ausführung dieses Vorhabens war Walter Janka betraut, der seit 1952 den Aufbau-Verlag leitete.88 Ulbricht untersagte die Reise jedoch, und am 6. Dezember 1956 wurde Janka „unter der Anklage der konterrevolutionären Verschwörung gegen die Regierung Ulbricht“89, kurz nach dem Philosophen Wolfgang Harich, verhaftet und in einem vom 23. bis 26. Juli 1957 stattfindenden Schauprozess zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Mitangeklagt waren der ehemalige Chefredakteur des Sonntag, Heinz Zöger, dessen Stellvertreter Gustav Just und der Rundfunkredakteur Richard Wolf. Nach vier Jahren unter schwersten Haftbedingungen wurde Janka, unter anderem auf Betreiben westdeutscher P.E.N.-Mitglieder, freigelassen. Im Laufe des Prozesses, an dem neben Anna Seghers auch Willi Bredel und Helene Weigel teilnahmen, wurde Janka beschuldigt, allein den genannten Plan geschmiedet zu haben – eine Anschuldigung, der weder Seghers noch Becher widersprachen. 1989 erschienen unter dem Titel Schwierigkeiten mit der Wahrheit90 drei Kapitel aus der zwei Jahre später erschienenen Autobiografie Jankas,
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Vgl. David Rock: Christoph Hein und Jurek Becker: Zwei kritische Autoren aus der DDR über die Wende und zum vereinten Deutschland. In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 182-200, S. 195. Jurek Becker. Amanda herzlos. Roman. Frankfurt a.M. 1992, S. 384. Die Banane spielt überhaupt eine wichtige Rolle in den ‚Wende‘-Texten. Sie steht für die Möglichkeiten des westlichen Konsums und wurde zum Symbol der ‚Wende‘ schlechthin. Vgl. dazu auch Thomas Rosenlöcher: Der Untergang der Banane. In: ndl 40 (1992) 12, S. 167-170. Vgl. Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit), S. 30-37. Michael Rohrwasser: Wer ist Walter Janka? Eine biographische Notiz. In: Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 115-124, S. 121. Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek 1989; auch: Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit). Die Auszüge las der damals Fünfundsiebzigjährige auch am
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Spuren eines Lebens.91 In seinem Text, der ein außergewöhnlich breites Echo hervorrief92, wirft Janka Anna Seghers vor, während des Prozesses gegen ihn geschwiegen zu haben: Anna Seghers sah betroffen zu Boden. Sie schwieg, als Lukács verleumdet und fälschlich beschuldigt wurde. Sie erhob sich nicht, um ihren Protest in den Saal zu rufen, zu fordern, daß sie gehört wird. Nein, sie schwieg. Und sie schwieg auch nach dem Prozeß.93
Und später heißt es: Anna Seghers […] blieb stumm. Als hätten sich die Worte des Herrn Melsheimer [Ernst Melsheimer, 1897-1960, Generalstaatsanwalt; F.Th.G.] gegen Lukács nicht auch gegen sie gerichtet. Gerade sie hätte sich der Mitverantwortung nicht entziehen dürfen. Schon deshalb nicht, weil sie die namhafteste Frau war, die es sich leisten konnte, ihre Stimme der Wahrheit zu leihen. Ein wenig Mut hätte ihrem Ruf nicht geschadet und ihre Position nicht gefährdet. Selbst Ulbricht hätte es nicht gewagt, sie verhaften oder auch nur belästigen zu lassen. All das wußte sie. Trotzdem blieb sie stumm.94
Für Janka wäre es „wissenswert, was Anna Seghers auf die Frage antworten könnte, wie sie mit ihrem Schweigen zurechtkam.“95 Nur wenige verteidigten Anna Seghers oder suchten Erklärungsversuche für deren Verhalten. Steffie Spira, die eng mit der Seghers befreundet war, berichtet in ihren 1990 veröffentlichten „Tagebuch-Notizen“ Rote Fahne mit Trauerflor: „Ich habe Anna gefragt, warum sie dem Walter nicht hilft oder warum sie nichts sagt. Und damals hat sie, ohne sich zu genieren, geantwortet: ‚Nein, ich will nicht, ich mag nicht.‘“96 Jürgen Kuczynksi nimmt die Autorin dagegen in Schutz97, ebenso Erich Loest 2000 in seiner Festrede anlässlich ihres 100. Geburtstages:
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28. Oktober 1989 im Deutschen Theater. Zitiert wird nach der DDR-Ausgabe, deren Text „vom Autor neu durchgesehen“ wurde. Ders.: Spuren eines Lebens. Berlin 1991. Vgl. Nach langem SCHWEIGEN endlich SPRECHEN. Briefe an Walter Janka. Hrsg. von Alfred Eichhorn und Andreas Reinhardt. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit). Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin (DDR) / Weimar (Texte zur Zeit), S. 39f. Ebd., S. 93. Ebd., S. 40. Steffie Spira: Rote Fahne mit Trauerflor. Tagebuch-Notizen. Freiburg i.B. 1990, S. 134. Jürgen Kuczynski: Für Anna Seghers. In: europäische ideen (1991) 76 (StasiSachen), S. 54-59 [Vortrag, gehalten 1990 in Nürnberg anlässlich des 90. Geburtstages von Anna Seghers; gekürzte Fassung].
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Die Präsidentin hatte sich eingemischt, still und wirkungsvoll. Das geschah natürlich ohne Protokoll und Zugluft. Anna Seghers hat gegen die Verhaftung und Verurteilung von Walter Janka nicht öffentlich protestiert, sich aber im Innenministerium und bei Ulbricht für ihn verwendet. Auch das kann niemand schwarz auf weiß nach Hause tragen.98
Christiane Zehl Romero schreibt in ihrer 2003 erschienenen SeghersBiografie über die Vorgänge: Seghers machte sich während der Gerichtsverhandlungen ausführliche Notizen in ihre [sic] Taschenkalender, hält darin aber in erster Linie das Gesagte fest und versieht es mit gelegentlichen Fragezeichen. Aus diesen Notizen geht meines Erachtens hervor, daß ihr nichts klar war und daß sie sich darum bemühte, Anklage und Verteidigung erst einmal zu verstehen. Was sie wirklich dachte, schrieb sie nicht nieder. […] Das Urteil gegen Janka scheint sie aber trotz aller Versuche, sie und andere die Staatsfeindlichkeit und Gefährlichkeit des Mannes einsehen zu lassen, erschüttert zu haben. Sie soll noch einmal – vergeblich – bei Ulbricht vorgesprochen und dann bei einer Freundin geweint haben, obwohl das sonst nicht ihre Art war. […] Auch an Erich Wendts Schulter soll sie in Tränen ausgebrochen sein, was er mit männlicher Herablassung registrierte. […] Dann allerdings gab sie auf. Bemühungen um eine Freilassung Jankas, wie sie vom Westen aus unternommen wurden, machte sie nicht.99
1990 druckte Sinn und Form das Novellenfragment Der gerechte Richter von Anna Seghers100; im gleichen Jahr erschien bei Aufbau eine Buchfassung.101 Der Text kann als bisher unbekannte Reaktion der Dichterin auf den Prozess gegen Janka gedeutet werden.
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Erich Loest: Genossin Anna. Zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Anna Seghers. In: E.L.: Träumereien eines Grenzgängers. Respektlose Bemerkungen über Kultur und Politik. Stuttgart / Leipzig 2001; S. 216-226, S. 222 [Festrede in der Staatskanzlei von Rheinland-Pfalz in Mainz am 24. November 2000]. Auf Forderungen, die Literaturgeschichte umzuschreiben und Texte von Anna Seghers nicht mehr in der Schule zu lesen, äußerte Erich Loest schon 1990: „Die Literaturgeschichte muß nicht umgeschrieben, sie sollte ergänzt werden.“ (Erich Loest: Plädoyer für eine Tote. In: E.L.: Zwiebeln für den Landesvater. Bemerkungen zu Jahr und Tag. Mit einem Nachwort von Heinz Klunker. Göttingen / Leipzig 1994; S. 89-93, S. 93 [zuerst in: Sonntag v. 15.7.1990, mehrfach nachgedruckt, u.a. in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft 1992]). Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1947-1983. Berlin 2003, S. 174f. Anna Seghers: Der gerechte Richter. In: Sinn und Form 42 (1990) 3, S. 479-501. Bisher war man davon ausgegangen, dass der Text 1957 / 58 entstand (vgl. u.a. den entsprechenden Hinweis beim Erstdruck); Christiane Zehl Romero vermutet jedoch eine spätere Entstehungszeit (vgl. dazu C.Z.R.: Anna Seghers. Eine Biographie 1947-1983. Berlin 2003, S. 183-185). Dies.: Der gerechte Richter. Eine Novelle. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit).
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Die Hauptfigur Viktor Gasko – Vor- und Nachnahme bestehen wie Jankas Name aus zwei Silben – hat eine ähnliche Biografie wie der damalige Leiter des Aufbau-Verlags: Äußerlich betrachtet ist auch er jemand, „der bald vierzig Jahre alt war, mit starken, dunklen Brauen und dunklem Haar, von aufrechter, stolzer Haltung“.102 Auch er hatte im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, war danach in Frankreich interniert worden, nach der Besetzung Frankreichs in deutsche Gefangenschaft geraten und am Ende des Krieges nach Deutschland zurückgekehrt. Gasko wird verhaftet, weil er jahrelang Berichte ins Ausland geliefert haben soll. Er wird dem jungen Untersuchungsrichter Jan vorgeführt, der als „gerecht“, „erfahren und zuverlässig über seine Jahre hinaus“103 gilt und dessen Ziel es ist, „durch seinen Beruf Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen, nach einer Zeit voll Gewalt und Gemeinheit.“104 Für eine Schuld Gaskos kann Jan keinerlei Beweise finden, zudem streitet Gasko die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ab. Professor Kalam, Jans Lehrer, ein wie Gasko von den Faschisten Verfolgter, befiehlt Jan regelrecht, den Unschuldigen für schuldig zu erklären. Gasko soll zum Geständnis gezwungen werden, doch dieser äußert „ein ums andere Mal, daß nichts und niemand ihn dazu bringen könne, etwas zu bekennen, was er niemals begangen hatte.“105 Im Laufe des Prozesses wirft der Angeklagte dem Untersuchungsrichter vor, die sozialistische Idee zu pervertieren: Was macht ihr aus dieser Idee, ihr? Sie waren auch noch ein anderer vor drei Jahren! […] Hat denn das bißchen Macht Sie so schnell verdorben? Hat man Ihnen befohlen, mich schuldig zu finden? Was hat man aus Ihnen gemacht, in drei Jahren! Wollen Sie Ihren Posten nicht verlieren?106
Jan gerät dadurch in einen unlösbaren Konflikt mit sich selbst: Ich aber, ich hab von der ersten Minute an seiner Schuld gezweifelt. Doch hab ich auch nur den geringsten Grund, an Kalams Urteil zu zweifeln? An diesem alten, treuen, ergebenen Mann? Der zehn Jahre und länger in faschistischen Kerkern gesessen hat? – Warum bin ich meinen Zweifel niemals ganz losgeworden, obwohl Kalam mir sagte, Gaskos Schuld steht unwiderlegbar fest?107
Kalam warnt Jan, der sich in seinem Gewissenskonflikt weigert, die Anklage zu formulieren: 102 103 104 105 106 107
Anna Seghers: Der gerechte Richter. In: Sinn und Form 42 (1990) 3; S. 479-501, S. 481. Ebd., S. 480. Ebd., S. 479. Ebd., S. 494. Ebd., S. 485. Ebd., S. 487.
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Sie scheinen sich da ein seltsames Bild von unserer Arbeit zu machen. […] Wie oft hab’ ich Ihnen schon versichert, daß die Schuldfrage feststeht durch die Einsicht einiger Menschen, die so hoch über mir stehen, wie –“ Er suchte einen Vergleich, darum kam Jan ihm zuvor. „Wie Sie über mir.“108
Bereits zuvor hatte Kalam geäußert: Was man dem Gasko vorwirft, kommt von einer Seite, die über jeden Zweifel erhaben ist. An der Beschuldigung, darüber mußt du dir klar sein, von vornherein, ist gar kein Zweifel möglich. Darauf stell dich ein, wenn du mit dem Mann sprichst.109
Jan überprüft seine Haltung, doch die „Verhöre in seinem Innern“110 lassen ihn immer wieder zu der Erkenntnis kommen, dass Gasko unschuldig sei. Er wird schließlich selbst verhaftet, der Prozess einem anderen Untersuchungsrichter übertragen. Als Angeklagter befindet er sich nun in der gleichen Situation wie Gasko: Er gilt als „tückischer Mensch“, „der das Recht, das ihm anvertraut worden war, hatte drehen wollen, Saboteure schützen, Verräter freisprechen.“111 Auch der für ihn zuständige Untersuchungsrichter versucht mehrfach, ihn zum Eingestehen einer Schuld zu zwingen, er leugnet jedoch und wird in ein Straflager gesteckt, wo er Gasko wiedertrifft, der einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Beide Angeklagte bleiben konsequent und durchbrechen damit die ihnen zugedachte Rolle. Die Erzählung endet verhalten optimistisch: Jahre später treffen Gasko und Jan sich in der Freiheit wieder und bestätigen einander, dass sie im Recht seien: „Sie waren fest geblieben für sich und für alle, wenn sie dafür auch nicht gefeiert wurden, es blieb ein Sieg, ein ungefeierter […].“112 Diese Erkenntnis kann durchaus als Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus gedeutet werden. Seghers’ Text bringt letztlich vor allem die eigene Erkenntnis zum Ausdruck, dass ein Eingreifen ihrerseits in den Prozess sinnlos gewesen wäre und sie Janka ohnehin nicht hätte helfen können – eine Einschätzung, die aus heutiger Sicht fragwürdig scheint. Die Autorin hatte sich aber zumindest innerlich mit dem Prozess auseinander gesetzt, den Text jedoch nie einem Verlag angeboten: Bis 1989 befand er sich in einer Mappe, auf der „Wichtig“ und „Durcharbeiten“ stand.113 Nachdem Janka den Text zur Kenntnis genommen hatte, zeigte er sich betroffen: 108 109 110 111 112 113
Ebd., S. 489. Ebd., S. 482. Ebd., S. 491. Ebd., S. 495. Ebd., S. 501. Vgl. dazu Carola Opitz-Wiemers Michael Opitz: „Die DDR ist die Summe dessen, was vermeidbar gewesen wäre“. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 252-263, S. 258f.
3.2 Auf der Suche nach einem Phantom
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Diese Erzählung […] hat mich zutiefst erschüttert. Deshalb, weil mir immer wieder der Vorwurf gemacht wird, ich hätte Frau Seghers durch meine Kritik in eine schwierige Situation versetzt. Und ich erkläre hier wiederholt, meine Kritik richtet sich nicht gegen die Schriftstellerin. Sie richtet sich nur gegen die Genossin, die zur falschen Zeit eine falsche Parteidisziplin geübt hat. Sie hätte damals nicht mehr schweigen dürfen. Sie hätte sich auch den Luxus des Sprechens leisten können, weil sie zu den Persönlichkeiten zählte, die Ulbricht ganz bestimmt nicht angerührt hätte. […] Diese Erzählung ist für mich ein ganz furchtbares Problem. Denn sie ist mit das Beste, was Anna Seghers nach meinem Prozeß geschrieben hat. […] Diese Erzählung ist nicht nur gut geschrieben, sondern sie ist vom Inhalt her so bedeutsam, daß ich glaube, sie ist weit schwerwiegender als die letzten Romane, die Frau Seghers hier in der DDR geschrieben hat […].114
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[Interview mit Horst Lange]: Nach Tiananmen mußten wir unser Schweigen brechen. BZ mit Walter Janka im Gespräch. In: BZ v. 14. / 15.4.1990.
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Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘ Und als […] so gut wie Schluß war mit der DDR, wurde ihr Einfluß auf Sprache erst recht thematisiert, und heute ist die Zahl der Äußerungen über Sprache und Sprachlosigkeit in der DDR, über Befreiung der Sprache mit der Wende, über alte und neue Sprache kaum noch zu überblicken. Es muß was auf sich gehabt haben mit der Sprache.1 (Peter Porsch: DDR: Alltag und Sprache. Was bleibt nach der „Wende“?, 1990)
Die vorliegende Darstellung kann und will nicht den Anspruch einer linguistischen Untersuchung der ‚Wende‘-Sprache erheben.2 Sprache war und ist aber ein wichtiger und – auch in fiktionalen Texten – häufig thematisierter Aspekt der ‚Wende‘, der hier nicht außer Acht gelassen werden darf. Wolf Oschlies hält bereits 1990 fest: „Westliche wie östliche Kommentare stimmten darin überein, daß diese Revolutionen, speziell die in der DDR, durch die Sprache vorbereitet, ausgelöst, umgesetzt und fortgeführt wurden“.3 Im Folgenden soll es um grundlegende Erkenntnisse über die Sprache der ‚Wende‘-Zeit, um auf sprachlicher Ebene vorgenommene Abgrenzungen zwischen Ost und West sowie um die Rolle von Sprache in die ‚Wende‘ thematisierenden Texten gehen.
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Peter Porsch: DDR: Alltag und Sprache. Was bleibt nach der „Wende“? In: Deutsch – Eine Sprache? Wie viele Kulturen? Vorträge des Symposions abgehalten am 12. und 13. November 1990 an der Universität Kopenhagen. Hrsg. von Bjørn Ekmann, Hubert Hauser, Peter Porsch und Wolf Wucherpfennig. Kopenhagen / München 1991 (Kopenhagener Kolloquien zur deutschen Literatur, hrsg. von Klaus Bohnen und Bjørn Ekmann, Band 15 / Text & Kontext Sonderreihe, Band 30); S. 127-140, S. 127. Siehe hierzu die unter 4.4.3 in der Bibliografie genannten Titel. Wolf Oschlies: „Wir sind das Volk“. Zur Rolle der Sprache bei den Revolutionen in der DDR, Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien. Köln / Wien 1990, S. 9; Hervorhebung im Original.
4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘
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4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘ Vor der ‚Wende‘ war die Sprache in der DDR häufig Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Insofern verwundert es, dass die Rolle der Sprache im Zuge der Herbstereignisse 1989, der Vereinigung 1990, insbesondere aber in den Folgejahren, tendenziell unterschätzt wurde.4 Während bis in die siebziger Jahre hinein Linguisten in Ost wie West die umstrittene Auffassung vertraten, dass sich in der DDR eine eigene deutsche Sprache herausbilde5, wurde am Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre im Hinblick auf die Unterschiede zwischen der deutschen Sprache in der Bundesrepublik und der DDR festgestellt, dass diese sich „ausschließlich im Wortschatz nachweisen“ lassen: „Rechtschreibung, Aussprache und Grammatik bleiben von gesellschaftlichen Umwälzungen oder staatlichen Beeinflussungen schon deshalb verschont, weil sie für Parteiideologen uninteressant sind.“6 Trotzdem muss von der Existenz zweier „Kommunikationssysteme“ ausgegangen werden, in denen die selben Begriffe sich inhaltlich unterschieden, denn, so Horst Dieter Schlosser (1993): Nicht wenige Mißverständnisse beruhten auf der Unterstellung, daß die WendeProgramme wenn nicht politisch, so doch sprachlich von Ost wie West differenzlos verstanden werden könnten. Darin wurde die nach langem Hin und Her noch vor der Wende erzielte Übereinstimmung von Linguisten aus Ost und West mißachtet, wonach die deutsche Sprachgemeinschaft zwar noch bestehe, inzwischen aber verschiedene Kommunikationsgemeinschaften entstanden seien. Nur unter Rücksicht auf diese Differenzierung sind eben auch die Wende-Parolen angemessen zu verstehen.“7 4
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Vgl. auch Norbert Dittmar / Ursula Bredel: Vorwort. In: N.D. / U.B.: Die Sprachmauer. Die Verarbeitung der Wende und ihrer Folgen in Gesprächen mit Ost- und WestberlinerInnen. Berlin 1999; S. 5f., S. 5. Vgl. Dagmar Blei: Ist die ‚Sprache der Wende‘ eine ‚gewendete Sprache‘? Bemerkungen zum Sprachgebrauch in der (ehemaligen) DDR. In: InfoDaF 17 (1990) 4; S. 391-401, S. 393. Günther Drosdowski: Geteilte Sprache im geeinten Land? Beobachtungen zum Gebrauch des Deutschen in Ost und West zwischen 1945 und 1990. In: Allgemeine Zeitung (Mainz) v. 27.10.1990 (Wochenend-Journal); vgl. auch Zweierlei Deutsch? Über Sprachentwicklungen im geteilten Land berichtet Horst Taubmann (Süddeutscher Rundfunk, Studio Heidelberg, Wissenschaftsredaktion, Wissenschaft im Gespräch, Redaktion: Frank Niess, Sendung: 19.5.1990, SDR 2; Sendemanuskript, 21 S.). Eva-Maria Tschurenev geht heute allerdings von der Existenz einiger „Sprachgewohnheiten“ aus, „die zwar nicht überall in Ostdeutschland gebraucht, aber als selbstverständlich empfunden werden, während ein westdeutscher Gesprächsteilnehmer nicht recht weiß, wie er sie deuten soll, und gewiß auch umgekehrt.“ Für den Osten nennt sie u.a. die „passive Verbkonstruktion“ und die „[s]ubstantivische Rede“ und weist eine spezifische Verwendung des Lexems ‚man‘ nach (Eva-Maria Tschurenev: Ostdeutscher Sprachgebrauch. Was jeder kennt, muß noch einmal betont werden: Über Eigenheit und Eigenständigkeit. In: FAZ v. 2.2.2001). Horst Dieter Schlosser: Die ins Leere befreite Sprache. Wende-Texte zwischen Euphorie
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Eine Bilanz hinsichtlich DDR-spezifischer Lexeme zieht das 2000 erschienene Wörterbuch zur Sprache in der DDR8, dessen „Anliegen [...] die Darstellung des in 40 Jahren gewachsenen spezifischen DDR-Wortschatzes einschließlich seines Gebrauches“ ist.9 Das von Birgit Wolf erstellte Wörterbuch ist allerdings aus linguistischer Perspektive nicht immer ernst zu nehmen; es enthält Lexeme wie ‚Ballast der Republik‘, ‚BAM‘ und ‚Banane‘, wobei die Bearbeiterin starke Wertungen vornimmt: ‚Banane‘ etwa wird einleitend erklärt mit der Aussage „Symbol für die in allen Bereichen herrschende Mangelwirtschaft.“10 Durch solche Aussagen dürften Klischeevorstellungen eher noch verstärkt werden. Dagmar Blei (1990) weist darauf hin, dass Transparenttexte bei Demonstrationen Zeugnisse einer „kritischen Auseinandersetzung mit der administrativen Bevormundung des Volkes sowie mit den Verschleierungspraktiken des SED-Parteiapparates“ darstellen: „Auffallend ist dabei die Ausnutzung stilistischer, besonders emotional-expressiver sprachlicher Mittel und Strukturen zur Verdeutlichung des Volkswillens“.11 Zur Sprache der ‚Wende‘ und den sprachlichen Veränderungen in der Folgezeit sind mittlerweile zahlreiche Untersuchungen erschienen; die ausführlichste, sich nicht nur auf Eindrücke, sondern umfangreiches empirisches Material stützende, stammt von Norbert Dittmar und Ursula Bredel (1999).12 Die meisten Arbeiten zur Thematik erschienen jedoch zunächst in Form von Sammelbänden, die sich häufig nicht nur an ein Fachpublikum richten.13 Einen überzeugenden Überblick zur Thematik
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und bundesdeutscher Wirklichkeit. In: Muttersprache 103 (1993) 3; S. 219-230, S. 221. Birgit Wolf: Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin / New York 2000. Hinweise zur Benutzung. In: Birgit Wolf: Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin / New York 2000; S. X-XVII, S. X. Art. ‚Banane‘. In: Birgit Wolf: Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin / New York 2000, S. 16. Dagmar Blei: Ist die ‚Sprache der Wende‘ eine ‚gewendete Sprache‘? Bemerkungen zum Sprachgebrauch in der (ehemaligen) DDR. In: InfoDaf 17 (1990) 4, S. 391-401, S. 397. Norbert Dittmar / Ursula Bredel: Die Sprachmauer. Die Verarbeitung der Wende und ihrer Folgen in Gesprächen mit Ost- und WestberlinerInnen. Berlin 1999. Grundlage der primär auf Methoden der Sprachsoziologie und der Diskursanalyse basierenden Studie sind Interviews mit 39 Informantinnen und Informanten aus dem früheren Ostteil Berlins und 38 aus dem früheren Westteil. Die Gespräche wurden zwischen Herbst 1993 und Frühjahr 1996 geführt, also mit vergleichsweise großem Abstand zu den historischen Ereignissen. Vgl. Von „Buschzulage“ und „Ossinachweis“. Ost-West-Deutsch in der Diskussion. Hrsg. von Ruth Reiher und Rüdiger Läzer. Berlin 1996; darin v.a.: Undine Kramer: Von Ossi-Nachweisen und Buschzulagen. Nachwendewörter – sprachliche Ausrutscher oder bewußte Etikettierung? (S. 55-69), Reinhard Hopfer: Wessianisch für Ossis. Vorschläge für eine soziolinguistische deutsch-deutsche Enzyklopädie (S. 94-109); Klaus-Dieter Ludwig:
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nebst einer umfassenden Bibliografie liefert Peter von Polenz (1993)14, wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der von Gotthard Lerchner herausgegebene Sammelband Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende (1992).15 Über so genannte Schlüsselwörter der Wendezeit informiert der gleichnamige Band, herausgegeben 1997 von Dieter Herberg, Doris Steffens und Elke Tellenbach.16 Die Verfasser weisen nach, dass die ‚Wendezeit 1989 / 90‘ über 1000 neue Wörter hervorbrachte; über die Entstehung und Bedeutung dieser Wörter wird ausführlich informiert, zahlreiche kontextualisierte Beispiele geben Aufschluss über Gebrauch und Entwicklung. Von Polenz, der in seiner Darstellung zunächst auf die „Sprachlichkeit in der Revolution“ und die „Voraussetzungen der Sprachrevolte“ eingeht, differenziert unter anderem sechs „lexikalische Formen der Sprachrevolte“: ‚Wortvermeidung / -tabuisierung‘, ‚Bezeichnungswandel‘, ‚sprachkritischer Wortersatz‘, ‚neue Feindwörter‘, ‚Bedeutungswandel / Begriffsbesetzung‘ und ‚Wortimport aus dem Westen‘.17 Daneben sieht er sechs „sprachpragmatische Formen der Sprachrevolte“: ‚alltagssprachliche und vulgäre Ausdrucksformen‘, ‚graphemische Wortspiele‘, ‚Reimsprüche‘, ‚Wortspiele mit Personennamen‘, ‚Wortspiele mit semantischer Ambiguität‘ sowie ‚variierte Sprichwörter und Redensarten‘.18 Diese Formen bilden einen ‚neuen Diskurs‘. „Dem […] Zweck der Konsolidierung des neuen Diskurses dienen interdiskursive Zitierungen und Umformulierungen von Textfragmenten aus dem alten Diskurs […].“19 Ein Beleg hierfür ist Christa Wolfs am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gehaltene Rede: Darin heißt
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Der „Einheitsduden“ oder: Was ist geblieben? DDR-spezifischer Wortschatz im DUDEN von 1991 (S. 110-134). Als ‚Nachfolgeband‘: Mit gespaltener Zunge? Die deutsche Sprache nach dem Fall der Mauer. Hrsg. von Ruth Reiher und Antje Baumann. Berlin 2000; darin zusammenfassend Ruth Reiher / Antje Baumann: Vorwort. Vom „Wendedeutsch“ zum „Gesamtdeutsch“ (S. 7-15). Peter von Polenz: Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2, S. 127149. Gotthard Lerchner (Hg.): Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1992 (Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte, Band 1). Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. WörterBuch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6). Peter von Polenz: Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2; S. 127-149 S. 132f. Ebd., S. 133-135. Ebd., S. 136; Hervorhebung im Original.
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es: „[…] wir drehen alte Losungen um, die uns gedrückt und verletzt haben, und geben sie postwendend zurück.“20 Sie selbst tut dies mit einer Redewendung, die auf Marx bzw. Hegel zurückgeht – „[…] dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße“21 – und mit zwei Lenin variierenden Zitaten: „‚Mißtrauen ist gut, Kontrolle noch besser‘“22 sowie „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg! Sehen aber die Bilder der immer noch Weggehenden, fragen uns: Was tun? Und hören als Echo die Antwort: Was tun!“23 Die ‚Wende‘ hat mehrere Phraseologismen hervorgebracht, die mittlerweile feste Bestandteile der deutschen Sprache sind, beispielsweise Gorbatschows Ausspruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, die Losung „Wir sind das Volk“ und Willy Brandts Äußerung „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“.24 „Wir sind das Volk“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum „Satz des Jahres“ 1989 gewählt.25 Hervorzuheben ist die Vielzahl der ‚Losungen‘ der Demonstrierenden: „Wir sind das Volk“, „Wir bleiben hier“, „Keine Gewalt“, „Mit dem Fahrrad durch Europa, aber nicht als alter Opa“, „Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei“, „40 Jahre DDR: Ruinen schaffen ohne Waffen“.26 Peter von Polenz schränkt jedoch ein: Die DDR-Sprachrevolte dauerte nur einen Herbst lang. Schon im Dezember wurde auf Demonstrationen und Kundgebungen immer mehr von Fahnenschwenkern
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Christa Wolf: Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz. In: C.W.: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 119-121, S. 120. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120. Ebd. Hier bezieht sich Christa Wolf auf Lenin und dessen Schrift Was tun? von 1902. Deren Titel ist wiederum von Nikolaj Tschernyschewskijs gleichnamigem Roman von 1863 abgeleitet. Willy Brandt: … und Berlin wird leben. Berlin, John-F.-Kennedy-Platz, 10. November 1989. In: W.B.: „… was zusammengehört“. Über Deutschland. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bonn 1993; S. 33-38, S. 36. „Wort des Jahres“ 1989 wurde ebenfalls ein ‚Wendewort‘: ‚Reisefreiheit‘; 1990 folgten ‚die neuen Bundesländer‘, 1991 ‚Besserwessi‘. Vgl. dazu auch: Losungen auf den Transparenten während der Protestdemonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin am 4. November und der Montagsdemonstrationen in Leipzig. In: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990, S. 205f.; Leo Hoppert: Egon reiß [sic] die Mauer ein … Leipziger DEMO-Sprüche. Münster 1990; Ewald Lang: Wendehals & Stasi-Laus. Demo-Sprüche vor der Wende. München 1999 (Heyne Mini Nr. 33 / 1451) sowie Ruth Reiher: „Wir sind das Volk“. Sprachwissenschaftliche Überlegungen zu den Losungen des Herbstes 1989. In: Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“. Hrsg. von Armin Burkhardt, K. Peter Fritzsche. Berlin / New York 1992 (Sprache, Politik, Öffentlichkeit, Band 1), S. 45-57.
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„Deutschland – einig Vaterland“ gerufen, und die witzigen, sprachkreativen Sprüche wurden immer seltener.27
Im Zusammenhang mit den Stasi-Akten ist zu betonen, dass die spezifische Sprache, in der die zahllosen Berichte und anderen Aufzeichnungen gehalten sind, ein nahezu unerschöpfliches Forschungsgebiet für Linguisten darstellt.28 In der Zeit der ‚Wende‘ gingen zudem Lexeme, die zuvor ausschließlich dem internen Sprachgebrauch des Ministeriums für Staatssicherheit zuzurechnen waren, von einem Tag auf den anderen in den öffentlichen Sprachgebrauch über.29 Frank Schirrmacher (1995) schlägt einen Bogen zum Jahr 1945, indem er feststellt: „Das Vokabular der Wende, das wird eine spätere Philologie detailliert erweisen, war in weiten Teilen und nicht ohne demagogischen Unterton dem Jahr 1945 entnommen.“ Denn „[n]och einmal, wenn auch auf zivilere Weise, schien eine Stunde Null zu schlagen. Von Siegern und Besiegten war die Rede, von einer westdeutschen ‚Besatzungsmacht‘, von neuen Persilscheinen und alten Kollaborationen.“30 Das ist zweifellos richtig, greift aber nicht weit genug, da Vokabeln wie ‚Anschluss‘ nicht in Schirrmachers Konzept passen. Im Hinblick auf andere Schlagworte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die nun wieder aufleben, ist ihm allerdings Recht zu geben, etwa im Falle von: ‚verlorene Jahre‘, ‚Nachholbedarf‘, ‚Normalisierung‘, ‚Vergangenheitsbewältigung‘. Die Forderungen der an der ‚Wende‘ aktiv Beteiligten fasst Horst Dieter Schlosser (1993) in sechs Punkten zusammen: 1. Zielpunkt der Reformforderungen ist die DDR, der sich die Dissidenten trotz aller Kritik emotional verbunden fühlen (unser Land, unser Staat). 2. Die DDR ist reformierbar und muß im Sinne von Ideen und Idealen reformiert werden, die unter dem Namen der SED nur deformiert waren. […] 27
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Peter von Polenz: Die Sprachrevolte der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2; 127-149 S. 137; Hervorhebung im Original. Die bisher erschienenen Analysen tragen allerdings kaum der Tatsache Rechnung, dass mit dem Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit ein eigenes „Wörterbuch der Stasi“ mit normativem Anspruch existierte; vgl. Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“. Hrsg. von Siegfried Suckut. 3. Auflage. Berlin 2001 (Analysen und Dokumente, Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; 5). Vgl. dazu auch Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6); S. 276-291, insbesondere S. 276. Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit: In: Die politische Meinung 40 (1995) 311, S. 55-63, S. 55.
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3. Insbesondere die Normen des sozialen Miteinanders, die in der antikapitalistischen Wendung der DDR begünstigt schienen, müssen bewahrt oder – in Anlehnung an Gorbatschows Umgestaltungsprogramm – reformuliert werden. Dafür taugt zumindest nach Meinung einiger Gruppen immer noch der Begriff Sozialismus (eigentlicher Sozialismus). 4. Auch in sächlicher Hinsicht ist Bewährtes zu erhalten; aber es muß aus den einschnürenden Bedingungen des SED-Machtmonopols befreit werden. Ökologische Erfordernisse dürfen nicht weiter verdrängt werden. 5. Von westlichen Demokratien sind jene Elemente politischer Ordnung zu übernehmen, welche die Freiheit für alle erweitern und sichern. 6. Das Verhältnis der Deutschen in Ost und West kann nur bei einer Reform der beiden Staaten auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die marktwirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik kann nur bedingt Anregungen geben, da sie Risiken für den Zusammenhalt der Gesellschaft in sich birgt (Ellenbogengesellschaft).31
Für das Scheitern dieser Forderungen macht er auch sprachliche Schwierigkeiten verantwortlich; er erkennt eine „allmähliche Auflösung der Wende und ihrer Sprache“32: 1. Die Reflexionen und Aufrufe der Dissidenten befreiten sich zwar in wichtigen Punkten von der Gängelung durch die SED-Sprachlenkung, konnten aber die Lücke, die das SED-Offizialidiom nach seiner Verdrängung hinterließ, nicht wirksam füllen. Dafür fehlte der ‚neuen Sprache‘ schlicht die Bewährung im politischen Alltag. 2. Die Sprache der Dissidenten war in wesentlichen Bereichen noch weit von einer terminologischen Fixierung der programmatischen Aussagen entfernt, die eine Anwendung in politischer Praxis erlaubt hätte. Darin ähnelt sie (anders als die verschwommene Rhetorik westdeutscher Prägung) auf sympathische Weise der semantischen Offenheit alltagssprachlicher und literarischer Gepflogenheiten in der DDR. 3. Damit fehlte aber der bis dahin weitgehend auf Nichtoffizielles beschränkten Alltagskommunikation ein Halt, den das SED-Offizialidiom für alle überindividuellen Regelungen auf seine Weise durchaus geboten hatte. 4. Die Auseinandersetzung mit den sich schon unter der Modrow-Regierung deutlich wandelnden äußeren Lebensumständen, erst recht mit den radikal neuen Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie und der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion […] konnte nun weder in der oft noch zu allgemeinen Programmsprache der Wende-Akteure noch in der für den offiziellen Bereich untauglich gemachten Alltagssprache geleistet werden.
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Horst Dieter Schlosser: Die ins Leere befreite Sprache. Wende-Texte zwischen Euphorie und bundesdeutscher Wirklichkeit. In: Muttersprache 103 (1993) 3; S. 219-230, S. 228; Hervorhebungen im Original. Ebd.; im Original kursiv.
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5. Die DDR-Bevölkerung mußte ab 1990 eine ihr zutiefst fremde ‚Sprache‘, die Spezialcodes einer neuen Bürokratie, neuer Wirtschafts- und Sozialstrukturen lernen. Schon dadurch wurde dem weitverbreiteten Gefühl, es sei alles nur übergestülpt worden, der Boden bereitet.“33
Peter Porsch (1990) sieht in der Sprache der Wendezeit einen jetzt unübersehbaren Nachteil. Mit ihr waren keine wirklichen Programme zum Aufbau der Alternative zu formulieren. Die in den Losungen enthaltenen Handlungsaufforderungen wirkten durch ihre Paradoxie, wurden aber nicht wörtlich genommen. […] Den Sieg im Bereich der Programmatik trug hingegen mehr und mehr die ‚Sprache‘ der bundesdeutschen Alt-Parteien davon.34
Nach der ‚Wende‘ war also gewissermaßen ein ‚Sprachvakuum‘ entstanden: Die ‚alte‘, offizielle Sprache der DDR galt nicht mehr, vor allem durch den Zusammenbruch der entsprechenden Institutionen. Eine ‚neue‘ Sprache, wie sie immer wieder eingefordert wurde, konnte sich nicht etablieren, da – parallel zum Vormarsch des Westens auch auf anderen Gebieten – die westliche bzw. westdeutsche offizielle Sprache an die Stelle des Vakuums trat.35 Peter von Polenz (1993) bestätigt diese Entwicklung; nach der Vereinigung sah „es so aus, als würde der bisherige westdeutsche Sprachgebrauch nun ganz selbstverständlich als gesamtdeutscher aufgefaßt.“36 Denn [n]ach der vorübergehenden Phase spontaner, sprachkreativer Befreiung von hochgradig ideologisierter, institutionalisierter und ritualisierter Sprache gerieten die neuen Bundesbürger also in die beispiellose sprachpolitische Situation, sich sehr rasch ein bisher nur oberflächlich rezipiertes oder imitiertes System öffentlicher Kommunikation total aneignen zu müssen, ohne in diesen Prozeß viel Eigenes einbringen zu können. Die daraus entstandene Ratlosigkeit drückt sich in dem zu diesem Thema ‚wohl häufigsten Satz von Schülern, Eltern und Kollegen‘ einer Schule hart an der ehemaligen Grenze aus: Es ist nicht alles schlecht gewesen in der DDR […].37
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Ebd., S. 230; Hervorhebung im Original. Peter Porsch: DDR: Alltag und Sprache. Was bleibt nach der „Wende“? In: Deutsch – Eine Sprache? Wie viele Kulturen? Vorträge des Symposions abgehalten am 12. und 13. November 1990 an der Universität Kopenhagen. Hrsg. von Bjørn Ekmann, Hubert Hauser, Peter Porsch und Wolf Wucherpfennig. Kopenhagen / München 1991 (Text & Kontext Sonderreihe, Band 30); S. 127-140, S. 136. Vgl. auch Dagmar Blei: Ist die ‚Sprache der Wende‘ eine ‚gewendete Sprache‘? Bemerkungen zum Sprachgebrauch in der (ehemaligen) DDR. In: InfoDaF 17 (1990) 4; S. 391-401, S. 391. Peter von Polenz: Die Sprachrevolte der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2; S. 127-149, S. 139. Ebd., S. 139f.; Hervorhebung im Original.
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Von der oben erwähnten ‚neuen‘ Sprache ist immer wieder die Rede. Helga Königsdorf äußert sich 1990 ironisch zu diesem Thema: Überhaupt muß ich nun noch einmal eine neue Sprache lernen. Und das ist gut so. Denn die alte war, weiß Gott, nicht hübsch. Die neue Sprache ist feiner, wie alles jetzt ein bißchen feiner wird. Wie schön das doch klingt: Liberalisierung der Preise. Da wären wir früher nie drauf gekommen.38
Peter Schneider (*1940) gibt in seinem Essay Man kann sogar ein Erbeben verpassen (1990) Beispiele für die Bedeutungsverschiebungen von Wörtern durch die ‚Wende‘: Die gesprochene und geschriebene Sprache hat sich fast über Nacht verändert. Ganze Territorien der politischen Umgangssprache stehen plötzlich verlassen da, andere, längst vergessene werden wiederentdeckt und neu besiedelt. Zum Beispiel ist das Wort „Kommunismus“ entweder gar nicht mehr oder nur noch in Verbindung mit dem Wort „Katastrophe“ zu hören. Der Begriff „Sozialismus“ wird, wenn überhaupt, nur noch mit dem hastig vorgehaltenen Adjektiv „demokratisch“ verwendet. Eine rätselhafte Variante dazu liefert die Rede vom „sozialistischen Sozialismus“ oder auch von „sozialistischer Marktwirtschaft“. Und was ist aus dem bis dato vielgebrauchten Begriff „Antikommunist“ geworden? Wenn nicht alles täuscht, ist das ehrwürdige Schimpfwort auf dem besten Weg, ein Ehrentitel zu werden.39
Der Prozess des Sprachwandels lässt sich anhand verschiedener Ereignisse verdeutlichen: Im Laufe des Jahres 1989 wurde immer häufiger ein Kommunikationsproblem innerhalb der DDR thematisiert. Welchen Stellenwert diese Problematik in der zweiten Jahreshälfte gewonnen hat, belegt der Gründungsaufruf des Neuen Forums vom 10. September 1989: „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“40 Ähnliche Forumlierungen finden sich in den Gründungsaufrufen weiterer Gruppen, etwa des Demokratischen Aufbruchs am 1. Oktober 1989.41 Bemerkenswert ist an dem oben zitierten Satz nicht nur das offene
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Helga Königsdorf: Es lebe der Kapitalismus! In: ND v. 21. / 22.7.1990. Peter Schneider: Man kann sogar ein Erdbeben verpassen. Plädoyer für eine Vergangenheitsbewältigung der Linken. In: Die Zeit v. 27.4.1990. „Aufbruch 89 – Neues Forum“. Gründungsaufruf des Neuen Forum vom 10. September 1989. In: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990; S. 29-31, S. 29. Vgl. dazu Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993, S. 337ff.
4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘
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Ansprechen eines Kommunikationsproblems, sondern das Negieren der von der DDR offiziell propagierten Einheit von Staat und Gesellschaft. Vor allem nach Überschreiten des Höhepunkts der Bürgerbewegung rückt die Sprache immer stärker ins Zentrum von Ansprachen und Predigttexten. So auch im Rahmen der Demonstration der Berliner Kulturschaffenden auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989. Sprache ist in mehreren Beiträgen das wesentliche Thema.42 Das belegen die folgenden Ausschnitte aus Reden, die mit rund einer Million Menschen ein außerordentlich großes Publikum fanden.43 Stefan Heym wendet sich vor allem gegen die offizielle Sprache in der DDR: Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen. Den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung!44
Christa Wolf macht die Sprache zum Hauptgegenstand ihrer Rede. Sie beginnt: Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen: Demokratie – jetzt oder nie! Und wir meinen Volksherrschaft […].45
Statt von „Wende“ würde sie allerdings lieber von „revolutionärer Erneuerung“ sprechen.46 Sie bemerkt:
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Vgl. dazu auch Johannes Volmert: Auf der Suche nach einer neuen Rhetorik. Ansprachen auf den Massendemonstrationen Anfang November ’89. In: Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“. Hrsg. von Armin Burkhardt, K. Peter Fritzsche. Berlin / New York 1992 (Sprache, Politik, Öffentlichkeit, Band 1), S. 59-110 sowie Reinhard Hopfer: Christa Wolfs Streit mit dem „großen Bruder“. Politische Diskurse der DDR im Herbst 1989. In: Ebd., S. 111-133. Bei Volmert, der auch ausführlich auf die Ansprachen auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 6. November 1989 eingeht, finden sich zudem Transkriptionen der Ansprachen von Stefan Heym, Christoph Hein, Friedrich Schorlemmer und Christa Wolf. Eine erzählerische Verarbeitung dieser Veranstaltung findet sich bei Volker Braun; vgl. V.B.: Das Nichtgelebte. Eine Erzählung. Leipzig 1995 (Die Sisyphosse, Eine Bücherreihe), S. 14. Beitrag von Stefan Heym zu: Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin. In: ndl 38 (1990) 3; S. 173-177; S. 176f., S. 176. Christa Wolf: Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz. In: C.W.: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 119-121, S. 119. Ebd.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist „Traum“. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft.47
Als wichtigster Satz der zurückliegenden Wochen gilt für sie „der tausendfache Ruf: Wir – sind – das – Volk! Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen.“48 Vergleichsweise früh bezieht sich Wolf auch auf die Wörter ‚Dialog‘ und ‚Wendehälse‘.49 Bereits im Oktober hatte sie in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die Bedeutung der Sprache für eine Umsetzung der Forderungen der Bürgerbewegung hervorgehoben: Was ich verstehe, ist, daß das Gespräch, das in der DDR an der Basis im weitesten Umfang begonnen hat, öffentlich werden muß. Das bedeutet, daß die Medien – das ist meiner Ansicht nach der erste Schritt – sich für dieses Gespräch öffnen müssen. Wenn in den Medien eine andere Sprache gesprochen wird, eine Sprache der Vernunft und eine Sprache der Mäßigung, so bin ich ganz sicher, daß ein großer Teil der Bevölkerung, der auf diese Sprache wartet, bereit ist zuzuhören, auch zuzuhören den Argumenten, die meinetwegen anderen Argumenten dann entgegengestellt werden – können und müssen. Aber es müssen Argumente sein. Es dürfen nicht Verhöhnungen sein.50
Sprache erscheint ihr letztlich als einziges Mittel, etwas zu bewegen51: Im Namen von Künstlern und Vertretern von Bürgerinititativen erklärt Wolf am 8. November 1989 im DDR-Fernsehen, unter besonderem Hinweis darauf, „kein anderes Mittel als unsere Worte“ zu haben: […] wir alle sind tief beunruhigt. Wir sehen die Tausende, die täglich unser Land verlassen. Wir wissen, daß eine verfehlte Politik bis in die letzten Tage hinein ihr [sic] Mißtrauen in die Erneuerung dieses Gemeinwesens bestärkt hat. Wir sind uns der Ohnmacht der Worte gegenüber Massenbewegungen bewußt, aber wir haben kein anderes Mittel als unsere Worte. Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung. Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns!52 47 48 49 50
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Ebd., S. 120. Ebd., S. 121. Ebd., S. 119 bzw. S. 120. Interview des Deutschlandfunks mit Christa Wolf [8.10.1989]. In: ndl 38 (1990) 1; S. 168-172, S. 171; Hervorhebung im Original [zuerst in: Deutsche Volkszeitung / die tat v. 13.10.1989]. Auch und gerade im zeitlichen Umfeld der ‚Wende‘ thematisiert sie immer wieder die Sprache; vgl. dazu die zahlreichen in Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994 (Köln 1994) abgedruckten Beiträge. Appell Christa Wolfs an DDR-Bürger: Fassen Sie Vertrauen! Erklärung von Künstlern und Vertretern von fünf Bürgerinitiativen im DDR-Fernsehen. In: ND v. 9.11.1989.
4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘
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Almuth Berger, Pfarrerin an der St. Bartholomäuskirche in Berlin, erhebt in ihrer am 13. November 1989 gehaltenen Ansprache die Sprachlosigkeit vor der ‚Wende‘ zum Thema und setzt diese ins Verhältnis zur aktuellen Situation: Wir waren lange sprachlos, und unsere Zunge war gefesselt. Wir haben geschwiegen in der Elternversammlung und im Betrieb, in der Volkskammer und auf der Straße. Wir haben höchstens hinter vorgehaltener Hand geredet oder in unseren vier Wänden oder vielleicht noch in kirchlichen Räumen. Wir haben unsere Kinder gelehrt zu schweigen und vieles zu verschweigen. Wir haben es viele Jahre lang immer wieder aufgeschoben zu reden, mancher hat es dabei fast ganz verlernt, andere – viele andere – sind gegangen, weil sie nicht länger schweigen wollten. […] Aber das Wunder ist geschehen: Hunderttausende sind auf die Straße gegangen – in Leipzig und Dresden und Berlin, in Plauen oder Magdeburg oder Eisenach … Sie sind nicht mehr stumm, sondern sie reden und rufen und veschaffen sich Gehör: „Wir sind das Volk!“ Wir haben endlich eine Sprache gefunden für unsere Wünsche und Sorgen, unsere Hoffnungen und Nöte, und wir müssen dafür sorgen, daß wir auch in Zukunft nicht mehr zu überhören sind, daß wir das Sprechen nicht wieder verlernen und daß wir es unsere Kinder richtig lehren. Es ist wunderbar zu merken, wie Menschen reden können und befreit sind, wie sie aufleben, die Journalisten z.B., wie da etwas heil wird, was lange kaputt war.53
Peter Stahl (1990) hebt kurz nach Inkrafttreten der Währungsunion die Verluste auch im Bereich der Sprache hervor, die das Ende der DDR-Mark mit sich bringt. Denn mit dem Verlust der Währung geht der Verlust vieler DDR-spezifischer Geschäfte, Waren und Gepflogenheiten einher – und damit zugleich der entsprechenden Ausdrücke und Wendungen: Nun ist sie tot! Unsere, ach, so oft zu leicht verdiente Begleiterin in HO, WtB und FZR, in die Komplexannahmestellen, die Getränkestützpunkte und neuerschlossenen Erlebnisbereiche. Sie, die uns dazu verhalf, die Höhen der Kultur zu erstürmen, Nationalpreisträger zu bezahlen und Ehekredite zu tilgen, sie, die nicht müßig war, Füllhörner zu füllen wie den Kulturfonds der DDR, das Konto junger Sozialisten, den Jahresendprämienfonds. Sie, die in klingender (oder scheppernder) Münze so großartige Orden und Ehren begleitete wie Aktivist der ersten Stunde, Held der sozialistischen Arbeit, Kollektiv der sozialistischen Arbeit, Karl-Marx- und Orden der Völkerfreundschaft, sie ist nicht mehr!
53
Almuth Berger: Wir waren zu lange stumm. Ansprache in der Gethsemanekirche OstBerlin bei der Andacht am 13. November. In: Räumt die Steine hinweg. DDR Herbst 1989. Geistliche Reden im politischen Aufbruch. Mit einem Geleitwort von Heinrich Albertz. Hrsg. von Andreas Ebert, Johanna Haberer und Friedrich Kraft. München 1989 (Sonntagsblatt-Taschenbuch); S. 71-75, S. 72f.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Wie werden wir nun weiterleben ohne sie? So liebgewordene Sätze wie „Sie werden placiert!“, werden wir sie noch vernehmen? Werden wir uns in Beschwerdebüchern noch über Sättigungsbeilagen, Beratungsmuster und Behelfsverpackungen für Vierfruchtmarmelade äußern dürfen? Werden wir uns noch wundern können über Mitteilungen wie: Reserviert! Zur Zeit keine Bedienung! Wegen Warenannahme geschlossen! Aus technischen Gründen geschlossen! […] Die teure Tote regierte nach Plan. Unser und der Weg der Wirtschaft ward vorgezeichnet. Wir wollten überholen, ohne einzuholen, wir wurden berufsgelenkt und jugendgeweiht. Wir hatten unsere Hausgemeinschaft und unseren Vertrauensmann, den sozialistischen Wettbewerb, die Fahrt zum Ettersberg, unsere Pfingsttreffen mit Winkelementen, Traditionskabinette und Fahnenappelle, wir schlenderten durch die Straßen der Besten, wir hatten Erntekapitäne, Kombinate und PGH, LPG, BHG, VdgB, VEB und VEG.54
Fasst man den Inhalt der oben zitierten Redeausschnitte, Kommentare und Stellungnahmen zusammen, so lässt sich erkennen, dass der Sprache eine Indikatorfunktion für den jeweiligen Status quo von ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ zukommt: Ihre Veränderung im Sinne einer Befreiung ist eines der nicht zu unterschätzenden Ergebnisse der Bürgerbewegung. Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten tritt dagegen die Diskussion um ein deutsch-deutsches Sprach- bzw. Kommunikationsproblem in den Vordergrund. Insofern verwundert es nicht, dass Horst Drescher folgende „Literaturfrage ’91“ stellt: „Die schicksalsschwangere bange Frage für den ehemaligen DDR-Schriftsteller heute, sie lautet: Ist von Ihnen schon etwas ins Westdeutsche übersetzt worden?!“55 Doch hinter dem scheinbaren Sprachproblem verbergen sich vielmehr die unterschiedlichen Erfahrungen der Ost- und der Westdeutschen. Vor allem im Zusammenhang mit der so genannten ‚Protokoll-Literatur‘ (vgl. 5.2.1.1) gewinnt dieser Aspekt an Bedeutung: Angelika Behnk und Ruth Westerwelle bringen in Die Frauen von ORWO (1995) mehrfach die Verständigungsschwierigkeiten zum Ausdruck, die sie als Frauen aus dem Westen in Gesprächen mit Frauen aus dem Osten hatten. Im Vorwort heißt es: „Die ‚Film‘ war unser Leben“, wie oft hörten wir diesen Satz. Wir verstanden die Verbundenheit, wenn wir z.B. an das Leben im ‚Kohlenpott‘-Revier in Westdeutschland dachten. Immer wieder suchten wir nach ‚Übersetzungsbeispielen‘ aus dem Westen, um zu verstehen. Manchmal lieferten die Frauen selbst die Übersetzungen; sie kannten sich bereits im Westterminus [sic] aus, während wir oft ratlos nach Begriffen suchten. Diese ‚Übersetzungen‘ brachten uns aber auch zu einem neuen Nachdenken über unser Leben im Westen.56 54 55 56
Peter Stahl: Ostgeld. In: Sonntag v. 22.7.1990 (Rücksichten). Horst Drescher: Literaturfrage ’91. In: Nie wieder Ismus! Neue deutsche Satire. Hrsg. von Manfred und Christine Wolter. Berlin 1992; S. 99, S. 99. Angelika Behnk / Ruth Westerwelle: Vorwort / Zwei Westfrauen machen sich auf den Weg,
4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘
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Noch Jahre nach der ‚Wende‘ bestehen diese Unterschiede. Wendelin Szalai (1998) weist im Zusammenhang mit seinen Überlegungen über ‚Wossis‘ im Rahmen der „Dresdner Erzählwerkstatt“ auf die Notwendigkeit einer „mentale[n] Dolmetscherleistung“ hin: Die Wessis, die hier sind, sind ja „Wossis“, das ist eine besondere Spezies. Westdeutsche, die hierher gekommen sind, leben zwei Perspektiven in sich. Und die braucht man noch sehr lange. Die mentale Dolmetscherleistung, die hat man am Anfang unterschätzt. Gelegenheiten wie diese, wo man sich in Gruppen Zeit nimmt, um miteinander zu reden, sind ein Weg, um innere Vereinigung – wenn man schon dieses abgedroschene Wort nimmt – zu erreichen. Das ist ein Langzeitprozeß. Die Enttäuschung […] hängt damit zusammen, daß die politische und juristische Vereinigung nach sieben Jahren die eine Sache ist, die äußerliche. Aber die mentale, die innere Vereinigung, die dauert sehr lange.57
In diesem Zusammenhang sei auf Ursula Bredels 1999 erschienene umfassende „Studie zur narrativen Verarbeitung der ‚Wende‘ 1989“58 verwiesen. Erzählen ist für sie „das prominente sprachliche Alltagsmuster zur Bearbeitung von Bruchstellen im individuellen Erleben“59 und „keine Ad-hoc-Konstruktion des Alltags, sondern eine regelhafte kommunikative Ressource zur interaktivem Darstellung und Bewältigung vergangener Wirklichkeit.“60 Das Erzählen besitzt damit einen zentralen Stellenwert auch und gerade für die – eben nicht nur sprachliche – Bewältigung der Ereignisse im Herbst 1989 und danach. Basis für Bredels Untersuchungen ist ein umfangreiches Korpus zwischen 1991 und 1996 entstandener narrativer Interviews. Ziel der Linguistin ist es, die ‚Sprache in Umbruchsituationen‘ zu charakterisieren und damit auch zu ergründen, inwieweit das ‚Erzählen im Umbruch‘ Veränderungen unterliegt. Sie erstellt deshalb in ihrer Untersuchung unter anderem eine struktur-funktionale Erzähltypologie des Umbruchs61, deren Adaption allerdings im Rahmen einer primär literaturwissenschaftlichen Untersuchung wenig hilfreich scheint, an dieser Stelle jedoch nicht unerwähnt bleiben soll.
57
58 59 60 61
Ostfrauen zu einem Stück Industriegeschichte zu befragen. In: A.B. / R.W.: Die Frauen von ORWO. 13 Lebensbilder. Leipzig 1995; S. 6-13, S. 7. Standpunkte austauschen: Motivationen, sich anzunähern. Neugier auf andere und sich selbst. In: Dreizehn deutsche Geschichten. Erzähltes Leben aus Ost und West. Hrsg. von Winfried Ripp und Wendelin Szalai. Hamburg 1998; S. 11-39, S. 24f. Ursula Bredel: Erzählen im Umbruch. Studie zur narrativen Verarbeitung der „Wende“ 1989. Tübingen 1999 (Stauffenburg-Linguistik). Ebd., S. 13. Ebd., S. 13f. Vgl. zusammenfassend: VI. Schlußbetrachtung. In: Ebd., S. 183-186.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
4.2 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘ Der rasante Wandel der Sprache, insbesondere im Bereich der Lexik, wird auch in zahlreichen fiktionalen Texten beschrieben, beispielsweise in Bernd Schirmers (*1940) Roman Schlehweins Giraffe (1992). Das titelgebende Tier hat Carl-Ernst Schlehwein, ein Freund des Ich-Erzählers, für 50 DM bei der Abwicklung eines volkseigenen Tierparks62 erstanden, gibt es aber schließlich in die Obhut des Ich-Erzählers. Dieser schreibt alle Wörter auf, die er nach der ‚Wende‘ für bemerkenswert hält. Dabei stellt er fest, dass viele Wörter einen neuen Stellenwert erhalten, aber auch einen Bedeutungswandel erfahren haben: „Umdenken, einklagen, Seilschaft, Altlast, Warteschleife, Wendehals, herunterfahren, abwickeln, abschmelzen, Treuhand, filetieren.“63 Andere Wörter haben nun „Konjunktur“: „Wende. Wendehals. Mauerspecht. Wahnsinn. […] Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Marketing. Holding. Outfit. Stasisyndrom. Wegbrechen. Wohlstandsmauer.“64 Da er selbst mit seiner Wortsammlung „nichts anfangen“ kann, schenkt der Ich-Erzähler sie dem Schriftsteller Ralph B. Schneiderheinze, mit dem er des Öfteren verwechselt wird. In dieser Sammlung enthalten sind auch folgende Wörter: Blockflöte, Begrüßungsgeld, Wahlfälscher, Mahnwache, Seilschaft, Mauerspecht, Altlast, Devisenbeschaffer, flächendeckend, Talsohle, Warteschleife, plattwalzen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Schnäppchen, Evaluierung, runder Tisch, unterpflügen, überführen, überstülpen, Wohngeld, Schnupperpreis, sich rechnen, Superossi, Verbraucherzentrale, abschmelzen, Filetstück, Koko-Imperium.65
Eine ähnliche, allerdings weniger umfangreiche Aufzählung findet sich in Peter F. Müllers (*1954) und Wolfgang Sabaths (*1937) „Realsatire“ Peanuts aus Halle (1998): „Neue Vokabeln wie ‚Fashion‘, ‚Center‘ und ‚Discount‘ kamen auf. Die Alten verstanden erst nur Bahnhof, dafür waren die Jüngeren um so fixer.“66
62
63 64 65 66
Schirmers Roman stellt nicht die einzige literarische Verarbeitung der Abwicklung eines Tierparks dar. Rolf Liebold macht die Schließung des Tierparks Friedrichsfelde, der vermutlich auch Schirmer Pate stand, zum Gegenstand einer seiner „Ossi“-Satiren. Vgl. Rolf Liebold: Ossi im Tierpark. Oder: In dieser verrückten Zeit braucht man eben ein dickes Fell. In: R.L.: Geschichten vom kleinen Ossi. Alte und neue Abenteuer im Ländchen der Wendehälse. Mit 27 Zeichnungen von Heinz Jankofsky. Berlin 1991, S. 117-121. Bernd Schirmer: Schlehweins Giraffe. Roman. Frankfurt a.M. 1992, S. 18. Ebd., S. 28. Ebd., S. 141. Peter F. Müller / Wolfgang Sabath: Prolog zu: P.F.M. / W.S.: Peanuts aus Halle. Eine Realsatire zur Vereinigungskriminalität. Berlin 1998; S. 9-12, S. 9.
4.2 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘
111
Dass ein Teil dieser Wörter bereits nach wenigen Jahren vergessen war, zeigt sich an folgendem Beispiel aus Brigitte Burmeisters (*1940) Roman Pollok und die Attentäterin (1999). Die Ich-Erzählerin meint rückblickend: Zur Wendezeit in aller Munde hier, eine plötzlich populäre Zauberformel, sogar Herr Reim hatte eines Tages, während er mir ein Kotelettstück auslöste, beschwingt von Beziehungen zu einem potentiellen Geschäftspartner in Westfalen gesprochen, dann nicht mehr, mit der gescheiterten Unternehmensgemeinschaft auch das Wort aufgegeben. Wer setzte noch auf joint ventures, einen Hoffnungsträger an runden Tischen von damals, ein zurückgetretenes, inzwischen belächeltes Wort. Komisch, daß es mir jetzt einfiel […].67
Das im essayistischen Bereich am häufigsten diskutierte Wort dürfte der Ausruf „Wahnsinn!“ sein. So betont Roger Willemsen (*1955) in Gehe nicht über Los! (1991): „Wahnsinn“, immer wieder „Wahnsinn“, „das ist Wahnsinn“, jedenfalls „unbeschreiblich“ oder „unbegreiflich“, aber am ehesten doch „Wahnsinn“. Das Überschreiten der Grenze zeigte die neuen Deutschen in einem sprachkritischen Delirium, sie konnten es einfach nicht ausdrücken, und wie im Liebeslied die Worte immer zu schwach sind, all die Leidenschaft zu fassen, liebten sich Westdeutsche und Ostdeutsche erst einmal sprachlos und hemmungslos mit der ganzen Kraft ihres „Wahnsinns“.68
Peter Bender (1994) beginnt seinen Essay zum 9. November 1989 mit dem Satz: „Das Wort des Tages hieß ‚Wahnsinn‘.“69 Eine satirische Annäherung an die Problematik einer ‚deutschen Identität‘ liefert Martin Buchholz (*1942) in Wir sind, was volkt, untertitelt mit Vom Ur-Sprung in der deutschen Schüssel – ein satirisches Schizogramm.70 Im Hinblick auf die Verwendung des Ausrufs „Wahnsinn!“ stellt er fest: 67 68
69
70
Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 69f.; Hervorhebung von mir; F.Th.G. Roger Willemsen: Gehe nicht über Los! In: Klaus Bittermann (Hg.): Der rasende Mob. Die Ossis zwischen Selbstmitleid und Barbarei. Mit Beiträgen von: Henryk M. Broder, Wiglaf Droste, Roger Willemsen, Gabriele Goettle, Christian Schmidt, Peter Schneider, Michael O.R. Kröher, Gerhard Henschel, Klaus Bittermann. Berlin 1993 (Edition Tiamat, Critica Diabolis 37); S. 44-54, S. 44 [zuerst erschienen unter dem Titel Delirium Germanicum in: ZEITmagazin Nr. 1 / 1991 v. 28.12.1990]. Peter Bender: Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989. In: Der 9. November. Fünf Essays zur deutschen Geschichte. Von Peter Bender, Wolfgang Benz, Hans Mommsen, Fritz Stern, Heinrich August Winkler. Hrsg. von Johannes Willms. München 1994; S. 66-82, S. 66. Martin Buchholz: Wir sind, was volkt. Vom Ur-Sprung in der deutschen Schüssel – ein satirisches Schizogramm. Berlin 1993.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Alle Irren waren los. Da war irre was los. Und wahrscheinlich haben auch Sie gedacht, was damals alle gestammelt haben: „Waaahnsinn!“ Das ist die sauberste Diagnose, die sich das deutsche Volk jemals gestellt hat.71
Hans Arnfried Astel (*1933) ‚diagnostiziert‘ in seinem gleichnamigen Gedicht die Doppelbödigkeit des Wortes bzw. seines Verwendungszusammenhangs: WAHNSINN „Wahnsinn!“, rufen die Irren beim Verlassen ihrer Anstalt.72
Der Ausruf „Wahnsinn!“ wurde im Übrigen keineswegs mit der ‚Wende‘ geboren. Bereits 1987 geht Peter Schneider auf Wort und Ausruf in seinem Essay Berliner Geschichten73 ein. Nach der ‚Wende‘ betont er: Was in Berlin seit vier Wochen „Wahnsinn“, „irre“, „nicht zu fassen“ heißt, bezeichnet in Wahrheit nur den Zustand vor der Öffnung der Mauer. Denn daß man von einem Ende einer Straße zum anderen laufen kann, ist eigentlich das Normalste auf der Welt. Offensichtlich haben wir uns an den verrückten Zustand derart gewöhnt, daß wir die Normalisierung nun als verrückt empfinden.74
Neben der Hervorhebung neuer Lexeme oder solcher, die einen Bedeutungswandel durchliefen, ist die Sprache auf übergeordneter Ebene vor allem Thema satirischer Texte. Ihr kommt dabei die Rolle als Ausdrucksmedium von Charaktereigenschaften zu, die nicht zuletzt auf die Herkunft ihrer 71 72 73
74
Ders.: 8. Wie das deutsche Wesen west in West und Ost als so’nes und solches. In: Ebd.; S. 85-93, S. 93. Hans Arnfried Astel: Wahnsinn. In: H.A.A.: Wohin der Hase läuft. Epigramme und ein Vortrag. Mit einem Essay von Hubert Fichte. Leipzig [1992], S. 61. Peter Schneider: Berlin, Berlin … Wo der „Wahnsinn“ eine natürliche Heimat hat. Ein Bericht vom Schnittpunkt zweier Welten. In: Natur (1987) 9, S. 72-75 (Auskunft über Deutschland). Schneider geht davon aus, dass das Wort „Ende der siebziger Jahre“ „die Berliner Kneipen und Partys eroberte.“ (S. 72) Schneider ist im Übrigen einer der wenigen westdeutschen Autoren, die sich vor der ‚Wende‘ mit der deutschen Teilung beschäftigt haben (vgl. v.a. seine Erzählung Der Mauerspringer aus dem Jahre 1982). Eine ähnliche Rolle kommt Hans Christoph Buch (vgl. die älteren Texte in H.C.B.: An alle! Reden, Essays und Briefe zur Lage der Nation. Frankfurt a.M. 1994, z.B. das 1988 geschriebene Selbstporträt mit eisernem Vorhang, S. 7f.), Botho Strauß (vgl. 5.5.3) und natürlich Martin Walser (vgl. 5.1.2.2) zu. Ders.: West-Östliche Passagen. In: P.S.: Extreme Mittellage. Eine Reise durch das deutsche Nationalgefühl. Reinbek 1990; S. 13-32, S. 28f. [geschrieben im Dezember 1989; zuerst erschienen in leicht veränderter Form in Die Zeit v. 9.2.1990].
4.2 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘
113
Benutzer schließen lassen. Matthias Biskupek (1992) betont in der Satire Wie ein DDRler jetzt sprechen lernen sollen müßte (1992) die Rolle der veränderten Sprache in der veränderten Gesellschaft: Wenn wir bald mitten drin in der Wiedereinheit stehen, soll man uns doch nicht mehr anhören können, wo wir herkommen. Wer sagt schon gleich jedem, daß er aus der Baracke stammt. Also dürfen wir nicht mehr mittelelbisch singen, lausitzisch rrrollen oder eine hallesche Kleeje machen, sondern müssen neutral sprechen. Bißchen anheben den gesamten Tonfall, keine Wortabsenkungen, bißchen durch die Nase, etwas unbeteiligt, und ganz weenich sprechen. Wissend schauen. Klug nicken. Hin und wieder „Ähm“ machen. Das ist gesamtdeutsch. Was gesamtdeutsch ist, wirkt. Was wirkt, ist effizient.75
Biskupek weist auch auf die Bedeutung der korrekten Aussprache hin: „Daß wir statt Kaufhalle Supermarkt (nicht Suhbermargd – ßjuppermarrkitt), statt Kollektiv Team und statt Kaderunterlagen Personalbögen sagen, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben.“76 Vor der allzu häufigen Verwendung bestimmter Wörter warnt er: „Folgende Wörter benutzen wir sparsam, aber durchaus hartnäckig-wiederkehrend: Marktchancen. Exorbitant. Leasing-Modell. Branche.“77 Es besteht also ein enormer Anpassungsdruck. Rolf Liebold thematisiert die gleiche Problematik wie Biskupek in der Satire Ossi muß westdeutsch lernen. Oder: Beim Sprechen kommt es immer auf die kleinen, feinen Unterschiede an (1991).78 Nicht nur an dem Ausschnitt aus Matthias Biskupeks oben zitierter Satire wird deutlich, wie wichtig der Aspekt der zumindest äußerlichen – und damit oberflächlichen – Anpassung via Sprache ist. In Annett Gröschners (*1964) Debütroman Moskauer Eis (2000) findet Annja Kobe, Ich-Erzählerin und Tochter eines Gefrierforschers, im Geldbeutel ihres aus ungeklärten Gründen schockgefrosteten Vaters ein Rezept für „Die ideale Eiskrem“: Mir fällt sofort auf, daß Vater das Wort Feinfrost nicht mehr benutzt und statt dessen das im Westen übliche Wort Tiefkühlen verwendet. Vielleicht war die ideale Eiskrem sein letztes Forschungsprojekt, mit dem er gehofft hatte, das Institut in die neue Zeit hinüberzuretten.79 75
76 77 78
79
Matthias Biskupek: Wie ein DDRler jetzt sprechen lernen sollen müßte. In: Nie wieder Ismus! Neue deutsche Satire. Hrsg. von Manfred und Christine Wolter. Berlin 1992; S. 81-83, S. 81. Ebd., S. 81f. Ebd., S. 82. Rolf Liebold: Ossi muß westdeutsch lernen. Oder: Beim Sprechen kommt es immer auf die kleinen, feinen Unterschiede an. In: R.L.: Geschichten vom kleinen Ossi. Alte und neue Abenteuer im Ländchen der Wendehälse. Mit 27 Zeichnungen von Heinz Jankofsky. Berlin 1991, S. 95-99. Annett Gröschner: Moskauer Eis. Roman. Leipzig 2000, S. 153.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Kobes Antrag hat also nur Chancen, wenn er auch sprachlich auf der Höhe der Zeit ist. Weitaus seltener als die Einführung oder der Bedeutungswandel einzelner Lexeme wird die Verwendung von DDR-spezifischen Ausdrücken in literarischen Texten problematisiert. In Joachim Lottmanns Roman Deutsche Einheit (1999) heißt es: Es war „Schau“, womit sie nicht „Show“ meinte (gemacht, unecht), sondern das Gegenteil: Es machte was her, war aufregend, geil. Alles, was „schau“ war (groß oder klein geschrieben), bedeutete „toll“. Sie hatte eine Schau-Lehrerin, war auf eine Schau-Schule gegangen, trug ein Halstuch, das schau war. Sie verwendete das Wort für ihr Leben gern. Es war wohl ein Ost-Berliner Slang-Wort, an das ich mich erst gewöhnen mußte. DDR war schau. Aber die neuen Verhältnisse waren auch nicht schlecht (wenn auch nicht schau): Reisen zu können bedeutete Maren mehr als der ganze SED-Plunder.80
Authentische Vorbilder für die oben angeführten Beispiele existieren in großer Zahl. Die Treuhandanstalt unternahm mehrere Versuche, das ihr anhaftende Negativ-Image wenigstens zu relativieren. So heißt es zu Beginn von Treuhand intern (1993): Dieses Buch ist all denen gewidmet, die von unserer Arbeit betroffen sind, die hinter den Vorhang schauen wollen. Es wird den Argwohn nicht beseitigen, der uns immer noch entgegenschlägt. Aber es soll einladen zur Auseinandersetzung mit uns, mit den Dingen, mit der Zukunft.81
Der Aspekt der Sprache ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil die Treuhand 1992 einen mit 1000 DM dotierten Wettbewerb ‚ausschrieb‘, um das Wort ‚abwickeln‘ zu ersetzen. Zu den Hintergründen dieser Aktion erklären die Autoren: Seit Frühjahr 1990 verbreiteten die deutschen Medien nur Spott und Häme über dies Wort. „Und weil die Menschen bei Abwicklung eher an die Massenentlassung als an die neue Struktur denken, die manchmal ja auch in der Liquidation entsteht, hält Tränkner82 seine Berufsbezeichnung inwischen für das häßlichste Wort der Welt“, schreibt die „tageszeitung“ am 8. Januar 1992. Tränkner bietet spaßeshalber 500 Mark für denjenigen, der eine bessere Bezeichnung findet. Durch Zufall hat davon ein Redakteur der „Berliner Zeitung“ erfahren und die Nachricht veröffentlicht. Presse, Rundfunk und Fernsehen reagie80
81 82
Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999, S. 199; zur Verwendung des Lexems „schau“ vgl. auch Friedrich Kröhnke: P 14. Roman. Zürich 1992, S. 138. Der Vorstand der Treuhandanstalt: Einleitung. In: Birgit Breuel (Hg.): Treuhand intern. Tagebuch. Frankfurt a.M. / Berlin 1993; S. 9-23, S. 23. Ludwig M. Tränkner, damals Leiter des Direktorats Abwicklung der Treuhandanstalt.
4.2 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘
115
ren positiv. Nur ein Tagesschau-Moderator und das „Neue Deutschland“ bringen einen negativen Unterton in die Meldung. Überrascht ist das Direktorat Abwicklung über die Reaktion im Lande. Briefe und Postkarten laufen körbeweise ein, die Schreiber schlagen generell positive Begriffe vor: Vermögens-Recycling, Abbauregulierung, Refusion, Wertschätzung, Neutralisation, Neukonzeption, Neustrukturierung. Eine Anruferin aus Holland empfiehlt der Treuhand gar, nicht nur das Direktorat Abwicklung, sondern gleich die Anstalt umzubenennen. Ihr Tip: statt Treuhand künftig Neuhand. Eine Gruppe Berliner Wirtschaftsjournalisten entscheidet sich nach eingehender Debatte schließlich für den Begriff „Rekonstruktion“, den eine Leipziger Kauffrau eingesandt hat. „Rekonstruktion“ setzt sich letztlich nicht durch, weil das Wort Abwicklung tatsächlich keineswegs das häßlichste Wort der Welt ist, wie der Chef der Abteilung meint.83
Außer ‚abwickeln‘ im Bereich der Treuhand, das einen Bedeutungswandel durchgemacht hat, sind vor allem im Zusammenhang mit der Arbeit der Gauck- bzw. Birthler-Behörde Neologismen entstanden. Exemplarisch genannt sei das Verb ‚gaucken‘; das bedeutet, jemanden daraufhin überprüfen, ob sich in den Akten der Gauck-Behörde Hinweise auf Stasimitarbeit finden. Besonders unglücklich funktionierte das „Gaucken“ beim Umbau der ostdeutschen Universitäten; es erschien als sehr praktikables, zugleich hinterlistiges Verfahren der Personalplanung […].84
Neben der ‚neuen‘ Sprache der Nachwendezeit wird auch die Sprache von Reden über die Themen ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ literarisch verarbeitet. In Pollok und die Attentäterin (1999) führt Brigitte Burmeister sprachliche Versatzstücke vor, die in zahlreichen Reden zu finden waren und zum Teil noch sind. Karl Innozenz Weiss, der seine Autobiografie durch einen Ghostwriter schreiben lässt, hat in der DDR einen kometenhaften Aufstieg erlebt, floh dann aber in den Westen. Zurückgekehrt in die alte Heimat, hält er eine Rede: „Wer von uns“, rief er aus, „hätte noch vor einem Jahrzehnt eine Zusammenkunft wie diese hier in der Messestadt für möglich gehalten? Aber gehofft haben wir, hüben wie drüben, und die Hoffnung auf Taten gegründet. Es schmälert nicht die Leistung der Politiker, wenn des Beitrages all jener gedacht wird, die mit aufopferndem Fleiß und wirtschaftlichem Können den freien Teil unseres Vaterlandes aus einem Trümmerfeld in blühende Landschaften verwandelt haben. Sie schufen damit die Voraussetzung, die Schäden der Diktatur zu beheben, unter der unsere 83 84
8. Januar 1992. Abwicklung – ein Wort des Jahres. In: Birgit Breuel (Hg.): Treuhand intern. Tagebuch. Frankfurt a.M. / Berlin 1993; S. 296-301, S. 297. Michael Rutschky: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen. In: Merkur 49 (1995) 9 / 10; S. 851-864, S. 859.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Landsleute drüben und, wie sie wissen, eine Zeitlang auch ich selbst unverschuldet zu leiden hatten.“85
In Wortwahl und Satzbau erinnert dieser Auszug an zahllose Reden, wie sie etwa der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hielt. Doch das ist lediglich eine Parallele. Eine weitere – diesmal zu Reden der Gründerväter der DDR, etwa Walter Ulbricht – zeigt sich an anderer Stelle. Weiss versteht sein Buch als ein Vermächtnis an die junge Generation. Möge sie begreifen, daß sie den Wohlstand, in den sie hineingeboren wurde, der Ausrichtung am Gemeinwohl und der Selbstlosigkeit derer zu verdanken hat, die ihr vorangingen. Wenn das Beispiel meines Lebens dazu beiträgt, den Sinn für Verantwortung zu stärken, den Egoismus einzudämmen und den rechten Umgang mit dem Erbe zu befördern, habe ich meine Dankesschuld gegenüber den Vätern abgetragen. Man gibt ja immer nach vorne. Dann ist mir auch um die Zukunft unserer Republik nicht bange.86
Wenigstens der letzte Satz ist typisch für die Diktion Ulbrichts. Fast wörtlich spricht er ihn in einem Propagandafilm aus, dessen Gegenstand ein Treffen zwischen ihm und Jugendlichen ist.87
4.3 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘? Für die im Rahmen der vorliegenden Arbeit meist mit den Begriffen ‚Wende‘ und ‚Vereinigung‘ der beiden deutschen Staaten bezeichneten Vorgänge gibt es zahlreiche Benennungsversuche, von denen Friedemann Spicker (1990) einige zusammengestellt hat: […] Wandel, Wende, Auflösung, Revolution, Sturz- oder Zangengeburt einerseits zu (Wieder-) Vereinigung, Vereinnahmung, Einheit, Beitritt, Eintritt, Aufnahme, Anschluß, Zusammenschluß, Einverleibung, Unterwerfung andererseits.88
85 86 87
88
Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 118f. Ebd., S. 119. Ein Ausschnitt findet sich auf der Videokassette Kinder, Kader, Kommandeure (atlas film 7445; Produktion: Defa-Studio für Dokumentarfilme GmbH Berlin, Wesnigk / Kissel Filmproduktion Hamburg; Buch und Regie: Wolfgang Kissel; Deutschland 1992). Friedemann Spicker: Wie gehört zusammen, was zusammenwächst? Deutsche Schriftsteller zur deutschen Einheit Oktober 1989 – Oktober 1990. In: Dokilmunhak. Koreanische Zeitschrift für Germanistik 31 (1990) 45; S. 377-406, S. 386; zum Begriff ‚Anschluss‘ vgl. Ernst Ullrich-Pinkert: Zeitenwende, Zeichenwende. Zur Symbolik der Wende in Deutschland – 1989 / 91. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 272-284, S. 281.
4.3 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘?
117
Mit den Bezeichnungen ‚Wende‘, ‚Revolution‘, ‚Umwälzung‘, ‚Umbruch‘, ‚Umsturz‘, ‚Veränderung‘, ‚Wandlung‘, ‚Wandel‘, ‚Erneuerung‘ und ‚Reform‘ haben sich die Linguisten Herberg, Steffens und Tellenbach ausführlich auseinander gesetzt.89 Der Literaturwissenschaftler Hannes Krauss fragt 1993: Wie nennen, was im Spätsommer und Herbst 1989 die DDR aufgebrodelt, durchgeschüttelt und schließlich von der Landkarte gewischt hat? Wende? Revolution? Wiedervereinigung? Keines der Wörter faßt, daß damals in wenigen Wochen ein Staat sich aufgelöst hat, die Lebensplanungen und -lügen von Millionen Menschen umgestoßen, Opfer- und Täterrollen zur Unkenntlichkeit vermischt und alle möglichen Gesellschaftstheorien über Nacht zur Makulatur wurden.90
Der Begriff ‚Wende‘ war vor 1989 / 90 in beiden deutschen Staaten unterschiedlich belegt und hat einen Bedeutungswandel erfahren: In der Bundesrepublik bezeichnete er den Regierungswechsel 1982 und den damit verbundenen Amtsantritt von Helmut Kohl als Bundeskanzler; in der DDR wurde der Begriff „im Juni 1953 benutzt, als die SED den Versuch fingierte, mit diesem Wort einen neuen, liberaleren Kurs zu bezeichnen.“91 Im Herbst 1989 wurde er erneut für den Wechsel der SED zu einem liberaleren Kurs verwendet und geht vermutlich auf Egon Krenz zurück, der ihn in seiner Antrittsrede als Nachfolger Erich Honeckers vom 18. Oktober 1989 verwendete: Der neue Staats- und Parteichef kündigte damals an, eine „Wende“ einleiten zu wollen.92 Dennoch unterliegt der ‚Wende‘-Begriff einem eher unkritischen Gebrauch; zumindest im Alltag dürfte er sich durchgesetzt haben. Während Anfang Februar 1990 Rainer Schedlinski, übrigens mit ähnlichen Worten wie die eingangs zitierte Helga Königsdorf, feststellt:
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Vgl. Kapitel 1. Bezeichnungen für die politischen Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR und für damit zusammenhängende gesellschaftliche Veränderungen. In: Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6), S. 10-23 sowie 80-90. Hannes Krauss: Verschwundenes Land? Verschwundene Literatur? Neue Bücher – alte Themen. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 273-278, S. 273. Wolfgang Bergsdorf: Deutsch wieder attraktiv. In: Die politische Meinung 36 (1991) 260; S. 29-37, S. 34; vgl. auch Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6), S. 17. Vgl. dazu auch Ludger Kühnhardt: Umbruch – Wende – Revolution. Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40-41 / 97 v. 26.9.1997; S. 12-18, S. 13.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
denn die phase der schönen revolution ist vorbei, und einige ihrer kinder, nämlich die, die im oktober und november noch in keiner nachrichtensendung fehlten und die jetzt auf der bildfläche kaum mehr zu sehen sind, hat die revolution schon gefressen93,
weist Heiner Müller im Herbst 1990 in einem Interview mit dem Spiegel die Anwendung des Revolutionsbegriffs zurück: Aber zurück zur Revolution. Man darf das, glaube ich, nicht so pathetisch nehmen, so heroisieren. Was da wirklich passiert ist, war ein Staatsbankrott. […] die Substanz dieser DDR-Gesellschaft war schon ausgehöhlt. Das war nur noch ein Zombie.94
Sein „Traum wäre gewesen, daß man sich Zeit läßt für diese Vereinigung und sie allmählich angeht.“95 Auch Günter de Bruyn (1990) hat Vorbehalte gegenüber der Verwendung des Revolutionsbegriffs, diese liegen aber vor allem auf der Ebene des historischen Vergleichs: Auch der Begriff Revolution ist historisch beladen. Benutzt man ihn für die Ereignisse vom Herbst 1989, liegt der Verdacht der Heroisierung nahe, zumindest aber der der Einseitigkeit. Denn der Aufruhr der Straße (nach Feierabend) war nur Glied einer längeren Ursachenkette, die sich durch Stichworte wie Gorbatschow, Massenausreise, Ungarn und Polen grob andeuten läßt. Vielleicht sogar waren die Aktionen der Menge nicht Ursache, sondern schon Folge. Da das System bereits ökonomisch und politisch bankrott war, ließ es sie zu.96
Uwe Kolbe (*1957) fragt 1991 etwas vorsichtiger im Freitag: Mag es denn Revolution genannt werden, wenn der verfaulte, immer wieder ausbetonierte Baumstamm von den hungrigsten Scharen der ihm einwohnenden Kerbtiere verlassen wird und letztlich fällt. Wenn dann die restliche Rinde abplatzt, kommt
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94
95 96
Rainer Schedlinski: die phase der schönen revolution ist vorbei. In: r.s.: die arroganz der ohnmacht. aufsätze und zeitungsbeiträge 1989 und 1990. Berlin / Weimar 1991; S. 47-56, S. 56; Hervorhebung im Original [zuerst erschienen in der woz (Zürich) und in der taz, gekürzt in Elsevier (Amsterdam)]. [Interview mit Hellmuth Karasek, Matthias Matussek und Ulrich Schwarz]: „Jetzt ist da eine Einheitssoße“. Der Dramatiker Heiner Müller über die Intellektuellen und den Untergang der DDR. In: Der Spiegel 44 (1990) 31 v. 30.7.1990; S. 136-141, S. 139. Ebd. Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge. Die Nachwirkungen der Zensur führen zu einer literarischen Klimavergiftung – in beiden Teilen Deutschlands. Verbotene Bücher verlieren den Heiligenschein des Märtyrertums. Denn so war es doch: Wer ein schlechtes verbotenes Buch auch schlecht nannte, wurde zum Komplizen des Zensors; wer ein gutes verbotenes Buch lobte, geriet in den Verdacht, es nur wegen des Verbots zu tun. In: Die Zeit v. 7.9.1990.
4.3 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘?
119
das darunter nahrungsuchende Gewimmel zum Vorschein. Der optische Effekt ist, daß der tote Baum zu leben scheint: Konvulsionen, Paroxysmen, Rotation, Revolution – mag einer darin erkennen, was er will.97
Stefan Heym (1913-2001) und Werner Heiduczek (*1926) bedienen sich dagegen konsequent des Begriffs ‚Revolution‘, allerdings versehen mit den Attributen „sanft“, oder auch „sonderbar“.98 Heym ist einer der wenigen Autoren, die sich vom Begriff ‚Wende‘ distanzieren: „Nach den vom Volke mit einem Schuß Ironie als Wende bezeichneten Ereignissen des Oktober und November […].“99 Dass zahlreiche Begriffe einem wertenden Gebrauch unterliegen, steht außer Frage. In der Regel wird eher der Versuch einer Distanzierung von bestimmten Begriffen unternommen, konstruktive Vorschläge sind seltener. Nicht nur am Beispiel Heyms wird deutlich, dass diejenigen Autorinnen und Autoren, die den Begriff der ‚Revolution‘ für die Ereignisse von 1989 verwenden möchten, ihn auffallend häufig in Verbindung mit Attributen benutzen: Peter Glotz spricht 1990 von einer „mitteleuropäischen Revolution“100, Erich Loest 1992 von einer „Kerzenrevolution“101 und HansDietrich Genscher 2000 von einer „Freiheitsrevolution“. Diese betrachtet er „als ein stolzes Kapitel deutscher Freiheitsgeschichte […]. Es vollendete sich, was 1848 / 49 gewagt und 1918 erneut versucht wurde.“102 Wie Glotz betont Genscher den über Deutschland hinausgehenden Aspekt, er sieht eine „europäische Freiheitsrevolution in verschiedenen Ländern des sowjetischen Machtbereichs“.103 Peter Neckermann (1991) nimmt eine Unterscheidung innerhalb der ‚Wende‘-Ereignisse vor; er spricht erstaunlicherweise von „Reform Movement in September and October of 1989“ sowie von „Revolution in 97 98
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Uwe Kolbe: Die Heimat der Dissidenten. Nachbemerkungen zum Phantom der DDROpposition. In: Freitag v. 27.9.1991. Stefan Heym / Werner Heiduczek: Nachwort. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990; S. 421-423, S. 421 bzw. 422. Stefan Heym: Außenstelle. In: S.H.: Auf Sand gebaut. Sieben Geschichten aus der unmittelbaren Vergangenheit. München 1990; S. 16-25, S. 21. Peter Glotz: Erste Rede. Europa nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. In: P.G.: Der Irrweg des Nationalstaats. Europäische Reden an ein deutsches Publikum. Stuttgart 1990; S. 17-40, S. 17. Erich Loest: Diese Schule, diese Stadt. In: E.L.: Zwiebeln für den Landesvater. Bemerkungen zu Jahr und Tag. Mit einem Nachwort von Heinz Klunker. Göttingen / Leipzig 1994; S. 101-108, S. 106 [Dankrede zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt Mittweida / Sa. am 25.9.1992]. Hans-Dietrich Genscher: Geleitwort. In: Hans-Jürgen Salier / Bastian Salier: Es ist Frühling und wir sind so frei! Die 89er Revolution im Kreis Hildburghausen – eine Dokumentation. Hildburghausen 2000; S. 6-8, S. 6. Ebd., S. 7.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Winter 1989 / 1990“.104 Der 1936 in Bautzen geborene und in Leipzig lehrende Historiker Hartmut Zwahr (1993) setzt ebenfalls beide Begriffe in ein Verhältnis zueinander: Wende oder Revolution? Die friedliche Revolution brachte die Wende! Sie führte den Machtwechsel und über diesen schließlich auch den Systemwechsel herbei. Daß es ein bloßer Zusammenbruch war, kann ich aus dem Erleben heraus nicht bestätigen. Wer die Wucht der Demonstrationen nicht gespürt und deren langen Rhythmus nicht verarbeitet hat, dem ist Wesentliches entgangen.105
Während Erich Kuby (*1910) das erste Kapitel seines Essays Der Preis der Einheit (1990) plakativ mit „Wieder keine Revolution“106 überschreibt, wehrt Klaus Hartung sich im selben Jahr gegen Tendenzen, den Titel Revolution den Ereignissen in der DDR abzusprechen. Ich glaube aber, daß niemand das Recht hat, einer geschichtlichen Bewegung, die selbst mit diesem Begriff gearbeitet hat, solchermaßen nachträglich Zensuren zu erteilen. Außerdem wird sich – das ist die These des Buches – der widersprüchliche und oft deprimierende Gang der Vereinigung nicht erklären lassen, wenn man den Herbst 1989 nicht als Revolution betrachtet.107
Auch an anderer Stelle betont Hartung: Es ist weder Zeit für Nostalgie der friedlichen Revolution, noch Zeit, um jetzt, wie es viele bundesdeutsche Linke tun, die Revolution mit einem gehässigen Fragezeichen zu versehen, weil die Revolutionäre mit den schwarzrotgoldenen Fahnen nicht zur klassischen Ikonographie passen. Es war eine Revolution, und die Tatsache, daß eine hochgerüstete Zentralgewalt ohne Blutvergießen zusammenstürzte, berechtigt zur Vermutung, daß vierzig Jahre Realsozialismus nicht nur gesellschaftlichen Rückschritt bedeutet haben.108
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Peter Neckermann bereits im Inhaltsverzeichnis zu seiner Monografie: The Unification of Germany or The Anatomy of a Peaceful Revolution. New York 1991 (East European Monographs, No. CCCIII), ohne Seitenangabe. Hartmut Zwahr in der Einleitung zu: H.Z.: Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR. 2. Auflage. Göttingen 1993 (Sammlung Vandenhoeck); S. 7-10, S. 9. Erich Kuby: Wieder keine Revolution. In: E.K.: Der Preis der Einheit. Ein deutsches Europa formt sein Gesicht. Hamburg 1990; S. 9-40, S. 9. Klaus Hartung: Postscriptum. In: K.H.: Neunzehnhundertneunundachtzig. Ortsbesichtigungen nach einer Epochenwende. Frankfurt a.M. 1990 (Luchterhand Essay); S. 218f., S. 218; Hervorhebungen im Original. Ders.: Der große Radwechsel oder Die Revolution ohne Utopie. In: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Hrsg. von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg. Leipzig 1990; S. 164-186, S. 179.
4.3 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘?
121
Dieser Auffassung widerspricht die amerikanische Journalistin Jane Kramer. Im Mai 1992 äußert sie – die tatsächlichen Verhältnisse ignorierend – in einer Reportage über die Stasi-Verbindungen mit der Prenzlauer Berg-Szene: Eine Revolution jedenfalls hat in Ostdeutschland nicht stattgefunden. Die Leute sprechen zwar von der „Revolution“, und die Malerin Bärbel Bohley, die in der ostdeutschen Friedensbewegung aktiv war, wird manchmal als „die Mutter der Revolution“ bezeichnet, doch die Mauer in Ostdeutschland brach deshalb zusammen, weil das Land buchstäblich in Stücke fiel – und das hatte sehr wenig mit den Dichtern vom Prenzlauer Berg oder mit den tausenden von politischen Häftlingen zu tun oder gar mit den Massen, die in Leipzig, Dresden und Berlin mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ auf den Straßen marschierten. Ostdeutschland brach zusammen, weil der Staat bankrott war, weil die Industrie und die Landwirtschaft bankrott waren, weil kein Geld mehr da war und weil nur noch ein Massaker die Ostdeutschen davon hätte abhalten können, abzuhauen.109
Die oben genannten Beispiele stammen aus dem essayistischen Bereich. Die dahinter stehende Diskussion um die Begriffe ‚Wende‘ und ‚Revolution‘ fand aber auch Eingang in den Bereich der fiktionalen Literatur. Matthias Zwarg (*1958) legt sich in seinem Brief an K. Marx (1992) nicht fest, weist aber auf die unterschiedlichen Begriffe und Attribuierungen hin: Denn, muß [sic] Du wissen, wir hatten neulich etwas, das die einen eine „Veränderung“, andere eine „Wende“, dritte wiederum eine „Revolution“, manche schließlich am liebsten gar nicht beim Namen nenne [sic]. Zu den Substantiven gehören natürlich auch Attribute – Du darfst Dir selbst eins raussuchen. Anzubieten habe ich: „demokratisch“, „historisch“, „erstaunlich“, „sanft“, „bemerkenswert“, „überraschend“ und „friedlich“. Ach, K., das hättest Du sehen sollen, es wäre Dir eine Augenweide gewesen. Was waren wir für ein „das Volk“, was haben wir gewendet und gewendet und verändert und verändert und revoltiert und revoltiert! Ein einzig Volk von Wenderinnen und Wendern, Veränderinnen und Veränderern, Revoltierern und Revolutionärinnen waren wir! Du solltest sehen, wie die Mäntelchen nun mit der Innenseite nach außen im Winde hängen!110
In Brigitte Burmeisters Roman Pollok und die Attentäterin (1999) wird die Fragestellung am Rande gestreift: Hier heißt es über Wolfgang Dichsner,
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Jane Kramer: Die Stasi auf dem Prenzlauer Berg [Mai 1992]. In: J.K.: Unter Deutschen. Briefe aus einem kleinen Land in Europa. Aus dem Amerikanischen von Elke und Gundolf S. Freyermuth. „Die Stasi auf dem Prenzlauer Berg“ wurde von Eike Geisel übersetzt. Berlin 1996 (Edition Tiamat, Critica Diabolis 63); S. 219-303, S. 227f. Matthias Zwarg: Brief an K. Marx. Halle (S.) 1992, S. 8f.
122
4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
einen ehemaligen Studenten der Ich-Erzählerin: „Eine Wende würdest du überstehen, doch das hier ist eine Revolution!“111 Die Entscheidung, ob es sich nun um eine ‚Wende‘ oder eine ‚Revolution‘ gehandelt hat, sei den Historikern überlassen – die sich freilich auch nicht einig sind. Die lebhaft geführte Diskussion um die Begriffe zeigt jedenfalls, welchen Stellenwert diese Frage Anfang der neunziger Jahre besaß. Anhand der Begriffe lässt sich zumindest tendenziell das Gewicht ablesen, das die jeweiligen Autorinnen und Autoren den Ereignissen beimessen: der ‚Revolution‘ kommt dabei in der Regel die höhere Wertschätzung zu. Der Philosoph Manfred Riedel (*1936) schlägt statt ‚Revolution‘ übrigens den Begriff der „Zeitkehre“ vor; dieser ist bereits im Titel seines Buches – Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land (1991) – enthalten: Daß sich die Zeit kehrt, ist eine Erfahrung im Augenblick. Sie kommt plötzlich: wenn politische Ruhe in Bewegung umschlägt und in diesem Umschlag Vergangenheit mit Zukunft so zusammenprallt, daß die für dauerhaft gehaltene Ordnung eines Landes mit einem Mal zerspringt. Nach innen, was soziologischen Beobachtern des Zeitgeschehens als Implosion erscheint, wie nach außen: was wir mit der umfassenderen Bezeichnung von Innen- und Außenaspekten des Gesamtgeschehens unserer Tage eine Revolution nennen. Wir verstehen darunter, was wir erfahren haben, die Umdrehung des Geschehens am Grunde der Zeit, eine Umkehr. Und wir möchten beschreiben, daß es sich dabei nicht um eine Rückkehr handelt (was das Wort Revolution ursprünglich besagt, das gewöhnlich für Umsturz und Aufbruch steht), sondern um eine Zeitkehre: womit die Geschichte in Deutschland und Europa einen anderen Anfang nimmt.112
Verbunden mit diesem „Anfang“ findet sich bei Riedel eine ausführliche Reflexion der gegenwärtigen und möglichen künftigen Rolle des vereinten Deutschland.113
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘ – Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992) Kurt Drawert wurde 1956 als Sohn eines SED-Funktionärs geboren und lebt in Leipzig. In der DDR wurde er vor allem bekannt durch den sich im
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Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 14. Einleitung. In: Manfred Riedel: Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land. Berlin 1991; S. 9-17, S. 9; Hervorhebungen im Original. Vgl. Epilog. Kehre der Zeit als „Zeitkehr“ oder: das Tragische in der Geschichte. In: Manfred Riedel: Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land. Berlin 1991, S. 209-224.
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘
123
Titel an Günter Eich anlehnenden Lyrikband Zweite Inventur (1987).114 1989 erhielt er den Leonce-und-Lena-Preis, vier Jahre später den IngeborgBachmann-Preis; für Spiegelland wurde ihm der Förderpreis der JürgenPonto-Stiftung verliehen. Spiegelland entstand 1990 / 91 in Schleswig-Holstein, also mit zumindest geografischem Abstand zu den Ereignissen in der DDR bzw. den östlichen Bundesländern. Es handelt sich um einen Text, in dem Clemens Murath (1995) zufolge konsequent „die Referenzunsicherheit des sprachlichen Zeichens reflektiert und damit der Wahrheitsanspruch von Sprache dekonstruiert“115 wird. Dieser Anspruch schlägt sich auch in der Form nieder: In 19 Monologen werden Teile der (Familien-)Geschichte des Ich-Erzählers wiedergegeben. Es handelt sich weder um Essays noch um reine Prosatexte mit linearer Handlung; Spiegelland ist eine „Sammlung von thematisch locker miteinander verbundenen Skizzen“116, die im Klappentext vorgeschlagene Klassifikation lautet „essayistischer Roman“. Im Zentrum des Textes steht die Sprache; sie wird bereits im titellosen Gedicht erwähnt, das dem Haupttext vorangestellt ist: … doch es muß auch eine Hinterlassenschaft geben, die die Geschichte, auf die ich selbst einmal, denn das Vergessen wird über die Erinnerung herrschen, zurückgreifen kann wie auf eine Sammlung fotografierten Empfindens, und die die Geschichte, denn das innere Land wird eine verfallene Burg sein und keinen Namen mehr haben und betreten sein von dir als einem Fremden mit anderer Sprache, erklärt.117
In diesem Gedicht werden bereits die Hauptthemen des folgenden Textes benannt: der Wandel der Sprache und das Anschreiben zunächst gegen das Vergessen, schließlich aber, um vergessen zu können. Im letzten Kapitel heißt es:
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Kurt Drawert: Zweite Inventur. Gedichte. Berlin (DDR) / Weimar 1987 (Edition Neue Texte). Clemens Murath: Beschädigtes Sprechen und eloquentes Schweigen – Anmerkungen zu Kurt Drawerts deutschem Monolog Spiegelland. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 381-394, S. 389; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 383. Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog. Frankfurt a.M. 1992, S. 8.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
[…] ich wollte meine Herkunft vergessen, die Bilder meiner Kindheit wollte ich entschieden vergessen, die Geschichte meines Vaters und die Geschichte meines Großvaters, einmal aufschreiben und dann für immer vergessen […].118
Zu dieser Ebene des Vergessens tritt eine Ebene der Rechtfertigung: zum einen findet sich dies im Gedicht angedeutet durch das erste Wort „… doch“, dem eine ganze Zeile eingeräumt wird, zum anderen außerhalb des Haupttextes in der Widmung zu Beginn des Buches: „Meinen Söhnen Lars und Tilman im Sinne einer Erklärung“.119 Den größten Raum in Drawerts Text nimmt die Darstellung eines über Generationengrenzen hinweg gestörten Vater-Sohn-Verhältnisses ein. Im Mittelpunkt steht dabei der Prozess der Weigerung eines Sohnes, die Sprache seines Vaters zu sprechen. Die Mutter spielt praktisch keine Rolle, wohl aber der Großvater. Die männlichen Ahnen verkörpern für den Ich-Erzähler ein äußerst negatives Deutschlandbild: Beide verhielten und verhalten sich opportunistisch. Der Großvater, der sich als Widerstandskämpfer ausgab120, steht dabei nicht nur für die DDR, sondern auch für das ‚Dritte Reich‘. Zufällig findet der Erzähler beim Blättern in der „Familienchronik“ des Großvaters eine angeschimmelte Fotografie, die eigentlich hätte vernichtet werden sollen: Großvater in der Mitte seiner jungen, blonden Familie unter dem Christbaum, stolze Geste, Modebart, in Uniform, herausgeputzte, zum siegreichen Vater emporschauende Söhne, und auf der Rückseite die Notiz: „Für Führer, Volk und Vaterland – Weihnachten 1941“.121
Der Großvater ist damit als Lügner entlarvt, die Familienchronik als Farce: Alles, aber auch alles Lüge, dachte ich, nicht nur die zur Familienchronik gewordene Geschichte der Ehe war bloße Erfindung, sondern auch die gesamte Biografie war eine zur Wahrheit ernannte Wunschbiografie und bloße Erfindung, deren trauriger Schatten auf sieben mal zehn Zentimetern zu sehen war.122
Der Erzähler begreift: „Ich hatte nur in die andere Richtung zu denken und die Erzählungen, Behauptungen und Aussagen meines Großvaters umzukehren und sie zu verstehen als das, was sie waren: eine spiegelbildliche Projektion.“123 Dabei überlegt er durchaus: 118 119 120 121 122 123
Ebd., S. 154. Ebd., S. 7. Vgl. Ebd., S. 60. Ebd., S. 59; vgl. auch Ebd., S. 42 sowie S. 65. Ebd., S. 59f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 63.
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘
125
Vielleicht war ich auf eine seitenverkehrte Weise ebenso intolerant und kompromißlos geworden wie er oder wie mein Vater. […] Vielleicht tönten ihre Behauptungen in meinen Behauptungen mit, hat sich ihre Sprache in meine Sprache gemischt, so wie sich die Sprache der Macht in ihre Sprache gemischt hat […]. Aber das glaube ich nicht.124
Der Enkel versucht, sich von der Vergangenheit bzw. deren Verleugnung und den damit verbundenen Lügen zu befreien. Das Foto veranlasst ihn, einen Text mit dem Titel „Beschreibung einer Fotografie“ zu verfassen, in dem er einen radikalen Gegenentwurf zum früheren Bild des Großvaters zeichnet. Dieser erscheint nun als verlogener und opportunistischer Nazi. Kontinuierlich habe er sich angepasst – sein Enkel drückt dies aus mit dem Bild der „braune[n] Unterwäsche […], auf der die rote Kleidung getragen wurde“.125 Die versuchte Demontage des Mythos vom konsequenten Antifaschismus, eines der Haupt-Gründungsmythen der DDR also, hat Folgen: Als der Großvater den Text zu lesen bekommt, will er eine Klage anstrengen, spricht ständig von „Ehrabschneidung“ und setzt die Familie unter Druck126; der Vater erleidet einen Herzinfarkt (von dem er sich jedoch rasch wieder erholt). Vater und Großvater waren beide lediglich „Repräsentanten der gerade gültigen Verhältnisse“127; der Erzähler spürt, dass nicht sie es sind, die sprechen, „sondern daß etwas Fernes, Fremdes, Äußeres gesprochen hatte, etwas, das sich lediglich seiner (oder ihrer) Stimme bediente.“128 Der Vater verfügte nicht über ein Wort eigene Sprache […], durch die er ein aufgeklärter, an die Kraft der Vernunft glaubender Mensch hatte sein können, er ist derart sprachlos gewesen und hat die ganze Sprachlosigkeit der Gesellschaft wiederholt, daß er tatsächlich immer nur auf Überführungen hinauslaufende Aussprachen führen konnte […].129
Protest scheint aussichtslos, zumal die Bande zur Macht nicht zerschnitten werden, denn dieses Wahngebäude ist so fest, dachte ich, daß es keine Korrektur und kein Gespräch mehr zuläßt, so daß jede versuchte Korrektur und jedes versuchte Gespräch, das nur in der Grammatik der Macht hätte durchgeführt werden können, schon 124 125 126 127 128 129
Ebd., S. 40f. Ebd., S. 69. Vgl. Ebd., S. 64-73. Ebd., S. 70. Ebd., S. 26. Ebd., S. 120.
126
4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
eine Verführung gewesen wäre, im Wahngebäude sich zu verlieren. Man redet ihre Sprache und hat verloren […].130
Dennoch rebelliert der Sohn gegen die Herrschaftsstrukturen und versucht, der Zwangslage zu entkommen – durch Rückzug: Das Sprechen wie auch das Hören wurde mir zum Erlebnis der Angst, denn hatte Vater gesprochen, so schien es zunächst ein vertrautes, verbindliches und bekanntes Sprechen gewesen zu sein, denn es war ein aus vertrauten, verbindlichen und bekannten Wörtern zusammengesetztes Sprechen, das vorgab, identische Inhalte zu vermitteln, um schließlich nichts als Täuschung und Leere zu hinterlassen und zu zeigen, daß das Sprechen keinen gesicherten Sinn gibt.131
Sprache ist für den Protagonisten untrennbar mit Herrschaft verbunden, denn über den Wörtern lag ein Schatten empfundener Ungültigkeit und der Herrschaftsanspruch des Vaters (oder des Großvaters, beispielsweise), und diese Sprache zu benutzen wäre zugleich eine Form der Unterwerfung gewesen […].132
Folgerichtig verweigert er das Sprechen: Ich verlernte das Sprechen und stürzte vor allen meinen Vater in Sorgen, in eine von mir bezweckte Kränkung: der Sohn, ein Ebenbild seiner selbst ohne Sprache, ein blinder Spiegel, eine Wasserfläche, die kein Bildnis zurückwirft […].133
Ziel war der Tod der Herrschaftssprache, wie „W.“, ein Jugendfreund des Erzählers, ausführt: […] und so haben wir die Sprache unserer hochbeamteten Väter […] verweigert mit aller Entschiedenheit und gewußt, daß sie sterben würde eines Tages wie ein krankes, sieches Tier, Nur [sic] der Zeitpunkt […] war niemandem klar.134
Die DDR erscheint als Staat, der eine Scheinwirklichkeit auch mit Hilfe der Sprache vorspiegelte: […] alle Menschen waren durch Sendungen und Bücher und sanfte Versprechen in eine Realität hineingezogen worden, vor der die Realität der Verbrechen und Kriege und Verfallenheiten unwirklich wurde, sie waren mit einer Geborgenheit bestraft, die
130 131 132 133 134
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,
S. 71. S. 27. S. 25. S. 14.
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘
127
eine Illusionsgeborgenheit war, das ganze Land lebte in einer Illusionsgeborgenheit und mit Illusionsbegriffen und in einer Illusionsrealität […].135
Diese „Illusionsrealität“ brach mit der ‚Wende‘ zusammen. Letztere wird allerdings in ihrem Ablauf vom Ich-Erzähler eher kritisch beurteilt, denn „diese Revolution“ ist eine von Anfang an zum Scheitern verurteilte Revolution gewesen, da sie die Sprache des Systems nicht verließ und lediglich versuchte, sie umzukehren, so daß das System kein gestürztes System, sondern ein lediglich umgekehrtes System geworden ist.136
Nach Ansicht des Erzählers ist „[d]er arrogant als Revolution vermerkte Herbst 89 […] nichts als der unvermeidliche Steinschlag in den Spiegel gewesen […].“137 Auch deshalb ist die ‚Wende‘ kritisch zu betrachten, wie der Protagonist zu „W.“ sagt: … doch mit dem Land sterben die Begriffe noch nicht, die es hervorgebracht hat, wir haben, sagte ich zu W., den ich zufällig, nach fast 10 Jahren, wiedertraf, mit Begriffen gelebt und mit einer Sprache gelebt, die über Existenzen entschied und über Biografien, ritualisierte Verständigungssätze, magische Verkürzungen, Formeln der Anpassung oder der Verneinung, auswendig gelernt, dahingesagt, die Verformung der Innenwelt durch die Beschaffenheit der Wörter […].138
Von der neuen Sprache, die allmählich an die Stelle der alten tritt, grenzt der Ich-Erzähler sich radikal ab; es ist eine Sprache, die so wenig wie irgendwas mit der Sprache zu tun hat, die ich suchte, auf die ich wartete oder die ich wieder herstellen wollte, die ich schon einmal besessen haben mußte und nun wieder herstellen wollte und die das ganze Gegenteil war einer Sprache, die mir stündlich abverlangt wurde und auf schon irrationale Weise mit Modeanzügen und Aktenkoffern, Geldanleihen und Unterarmsprays usw. in Verbindung zu bringen war.139
Sein Versuch, die „bis dahin unmöglich gebliebene Erfahrung zu machen, aus dem Westen in den Osten zu kommen“140, führt zu einer Identitätskrise: „ich fuhr, es war ein Spiegellabyrinth, in dem ich mich bewegte, ich war ein anderer, ich war kein anderer, ich wollte ein anderer sein, und ich bin 135 136 137 138 139 140
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S. S.
88. 23. 67. 12. 138. 122; Hervorhebungen im Original.
128
4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
kein anderer gewesen, ich fuhr und ich haßte.“141 Über der DDR nach der ‚Wende‘ schwebt eine apokalyptische Stimmung; was er sieht, beschreibt der Protagonist als öde[n], zerrissene[n] Landschaft, die voll war von toter oder sterbender Gesellschaft, voll von toter oder sterbender Sprache, die von einer anderen toten oder sterbenden Sprache ersetzt werden würde oder bereits ersetzt worden war, hastig hingeklebte Reklameschilder, wo vorher Losungen standen, deren über den farbigen Bildrand hinausreichende Endungen mit dem Putz der Wände zerbrachen, Frittenbuden und Plunderkisten, Billigartikel, vergoldeter Ramsch, Prostituierte, die sich ficken ließen in Containern und Bussen, die auf Parkplätzen standen. Autowracks, ohne Nummernschild, in Seitenstraßen gestellt, als wären sie die Vergangenheit selbst, die man eilig verließ, provisorische Zeltunterkünfte für Banken, Firmen und Warenketten […], um mich her schien es nur noch Idioten, Spekulanten und Verbrecher zu geben […].142
Im Hinblick auf die Sprache gelangt der Protagonist im Sinne einer Summe seiner Überlegungen zu der Feststellung: Durch die Sprache haben wir uns aus der Wirklichkeit entfernt, und wir leben in ihr als in einer Ersatzwirklichkeit, so empfand ich, der genaue Gedanke müsse sich semantisch zerstören und zur Unsprechbarkeit oder Unhörbarkeit oder Unschreibbarkeit oder Unlesbarkeit führen, und so war der gültige, brauchbare Satz, von dem ich in rhetorischer Weise sprach, genaugenommen das Schweigen, in das ich gestürzt war, der gültige Satz war der verschwiegene Satz in dieser Zeit, die ausgesprochenen oder niedergeschriebenen Sätze waren Verneinungen der gültigen Sätze […].143
Die Rezeption des Buches war gespalten: Christine Cosentino (1994) sieht in Drawerts Text den „Ausdruck eines erschütternden Alleinseins und einer fundamentalen Identitätslosigkeit, ein Dokument über Sprachlosigkeit im kranken Raum ‚eines paranoischen Diskurses der Macht‘ […].“144 Hannes Krauss (1993) zufolge mache Drawert – ganz ohne Pathos – deutlich, warum nicht nur die in ihren zum Mythos erstarrten Bildern lebenden Gerontokraten davon nicht loskommen, sondern auch ihre jun-
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Ebd., S. 124. Ebd., S. 139f. Ebd., S. 136. Diese Erkenntnis findet sich als Grundannahme in Gert Neumanns (*1942) Roman Anschlag (Köln 1999) wieder. Christine Cosentino: Der „blinde Spiegel“ der Sprachnot: Kurt Drawerts Essayband Spiegelland: Ein deutscher Monolog. In: Germanic Notes and Reviews 25 (1994) 2; S. 1-3, S. 1.
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘
129
gen Opfer. Offenbar hat man sie mit anderswo untauglichen Wahrnehmungs- und Lebensmustern ausgestattet.145
Clemens Murath (1995) kritisiert dagegen: Spiegelland […] gerät in Widerspruch zu sich selbst: Einerseits handelt es sich um eine schonungslose Abrechnung mit der DDR, andererseits betont der Autor durchgängig, wohl unter dem Einfluß poststrukturalistischer Theorien, die Rhetorizität des Textes, die die Möglichkeit eindeutiger Aussagen unterläuft und letztendlich gar das erzählende Subjekt zur rhetorischen Fiktion werden läßt. Damit stellt der Text sich selbst in Frage und unterminiert sein eigenes Anliegen, nämlich die Gültigkeit eines ‚anderen Sprechens‘ zu bezeugen und die Schuldigen zu benennen.146
Mit diesem Einwand hat Murath sicher nicht Unrecht. Dennoch bleibt Drawerts Text eines der eindrucksvollsten literarischen Zeugnisse zum Thema Sprache aus der Perspektive der unmittelbaren Nachwendezeit.
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Hannes Krauss: Verschwundenes Land? Verschwundene Literatur? Neue Bücher – alte Themen. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 273-278, S. 278. Clemens Murath: Beschädigtes Sprechen und eloquentes Schweigen – Anmerkungen zu Kurt Drawerts deutschem Monolog Spiegelland. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 381-394, S. 380; Hervorhebung im Original.
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Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen Die Wendezeit ist eine Blütezeit der Essayistik und Publizistik. Die Fülle der Beiträge gerade in diesem Bereich ist kaum zu überschauen. Essays in einem weiten Verständnis des Begriffs dürften den größten Anteil von Texten der so genannten ‚Wendeliteratur‘ stellen. Brigitte Burmeister (1991) erklärt diese Dominanz aus der Tatsache, dass in den Zeiten, in denen „eine neue Möglichkeit gesellschaftlicher Verständigung zum Vorschein kam“, „[k]ein Gedanke an Schriftstellerei“ blieb.1 Mit diesem Ungleichgewicht ist durchaus auch eine Gefahr verbunden, auf die Andreas Isenschmidt (1993) aufmerksam macht: All das ist jetzt schon schön für die Leser. Und wenn der zweite Band von de Bruyns Memoiren und, wer weiß, vielleicht ein Werk namens „Erwachsenenmuster“ von Christa Wolf erschienen sein werden, wird sich unser Vergnügen vertiefen. Aber was schön für die Leser ist, ist zugleich problematisch für die Literatur. Sie bekundet, wie mir scheint, einige Mühe, sich aus dem Schatten der Essayistik und Publizistik zu befreien.2
In den vergangenen zehn Jahren wurden selbst Politiker häufig zu Autoren und umgekehrt. So griff die letzte Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl, einmalig zur Feder um ihre Eindrücke des Wandels festzuhalten (vgl. 5.2.2). Die Oppositionsgruppe Demokratie jetzt schlug Christa Wolf gar für das Amt der Staatspräsidentin vor.3 Auch wenn es dazu nicht kam und auch wenn die Volkskammer den Verfassungsentwurf des Runden
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Brigitte Burmeister / Gerti Tetzner: Keine Macht, aber Spielraum. In: Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt a.M. 1991; S. 30-59, S. 32. Andreas Isenschmidt: Literatur nach der „Wende“ – die Situation im Westen. In: ndl 41 (1993) 8; S. 172-178, S. 173. Vgl. dazu Anton Krättli: Schwierigkeiten mit der „Wende“. Die Schriftsteller in der DDR. In: Schweizer Monatshefte 70 (1990); S. 26-29, S. 28f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Tisches ablehnte, zu dem Christa Wolf die Präambel geschrieben hatte4, so zeigen sich hieran doch die engen Verbindungen zwischen Literatur und Politik in dieser Zeit. Die ‚Wendeliteratur‘ ist damit zum größten Teil zwangsläufig eine politische Literatur – was die meist breit geführten Kontroversen um die Enttäuschung über den Verlauf der ‚Revolution‘, den Verlust der sozialistischen Utopie, den Abschied von der DDR, die Art und Weise der ‚Vereinigung‘, aber auch um Fragen der Nation und ein neues deutsches Selbstverständnis5 erklären mag. Im Folgenden soll es darum gehen, Hauptstränge der Diskussion aufzuzeigen, Postionen zu verdeutlichen und die Hintergründe für bestimmte, aus heutiger Sicht möglicherweise bereits kaum mehr nachvollziehbarer Kontroversen darzustellen. Zu diesen in einem weiter gefassten Verständnis als ‚kulturpolitisch‘ zu bezeichnenden Debatten treten natürlich auch im engeren Sinne politische wie die für das Selbstverständnis der nun größer gewordenen Bundesrepublik wichtige Diskussion über den zukünftigen Regierungssitz.6 Karl-Wilhelm Schmidt (1996) unterscheidet vier größere kulturpolitsche Debatten seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten: Mit der Veröffentlichung ihrer Erzählung Was bleibt im Frühsommer 1990 löste Christa Wolf eine erste Debatte aus, die schon bald zu einem beispiellosen deutschdeutschen Literaturstreit um ‚Linksintellektualismus‘ und ‚Gesinnungsästhetik‘ eskalierte. […] Wenig später schloß sich eine zweite Diskussion an, die Wolf Biermann im Herbst 1991 mit seiner Büchner-Preis-Rede eröffnete, indem er einen der Protagonisten der Prenzlauer-Berg-Szene, Sascha Anderson, bezichtigte, Kontakte zur Staatssicherheit gehabt zu haben. […] Der bereits in einem ersten Zugriff überaus kontrovers geführte Feuilleton-Streit um Literatur und Staatssicherheit eskalierte im Januar 1993 erneut. Die Enttarnung Christa Wolfs und Heiner Müllers als Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit läutete eine weitere Runde in der Auseinandersetzung um den Zusammenhang von Literatur und Staatsmacht und zugleich einen dritten deutsch-deutschen Literaturstreit ein […]. 4
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Vgl. dazu Ulrich K. Preuß: Auf der Suche nach der Zivilgesellschaft. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches. In: FAZ v. 28.4.1990 sowie Hans Kügler: Positionen – Schriftsteller zur deutschen Einheit (1989-1990). Über die Verarbeitung negativer politischer Erfahrungen. In: Kultureller Wandel und die Germanistik der Bundesrepublik. Hrsg. von Georg Behütuns und Jürgen Wolff. Stuttgart 1992; S. 194-216, S. 206. Vgl. dazu auch Astrid Herhoffer / Birgit Liebold: Schwanengesang auf ein geteiltes Land. Der Herbst 1989 und seine Folgen in der Literatur. In: Buch und Bibliothek 45 (1993) 6 / 7; S. 587-604, S. 590. Vgl. Berlin – Bonn. Die Debatte. Alle Bundestagsreden vom 20. Juni 1991. Hrsg. vom Deutschen Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit. Köln 1991. Zum durch die ‚Wende‘ veränderten Berlin vgl. Klaus Schütz: Über eine veränderte Stadt. In: Deutsche Einheit. Gedanken, Einsichten und Perspektiven. Hrsg. von Eberhard Diepgen. Berlin 2000, S. 212-222. Auf rein politische Debatten wird im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Die vierte – (kultur-)politisch ebenfalls höchst brisante – Auseinandersetzung nahm ihren Anfang im Diskurs der Fachdisziplin. In diversen Publikationen erhob vor allem der Berliner Germanist Richard Herzinger7 den Vorwurf, Heiner Müller – und mit ihm Volker Braun, Christa Wolf oder Christoph Hein – betreibe ‚Zivilisationskritik,‘ [sic] mache sich des ‚Antiwestlertums‘ schuldig und sei der ‚Neuen Rechten‘ zuzuschlagen.8
Von der vierten Auseinandersetzung soll hier nicht die Rede sein. Stellvertretend für viele Kritiker von Herzingers Ansatz sei Frank Hörnigk (1997) zitiert, der mit Recht feststellt: In der Verteidigungspose selbsternannter Verteidiger der Werte westlicher Demokratie erinnern die Positionen Herzingers oder Domdeys in ihrer diametralen Entgegensetzung komischerweise nicht selten an die Gralshütermentalität der orthodoxen Verteidiger des sozialistischen Realismus.9
5.1.1 Verschlafene Beobachter? – Die Intellektuellen und die ‚Wende‘ Wir, die Schriftsteller, die Mitglieder der Künstlerverbände und der Akademien, die Intellektuellen des Landes, wir werden eines Tages die Frage zu beantworten haben: „Wo wart ihr [sic] eigentlich damals? Wo zeigte sich eure [sic] Haltung? Wo blieb euer – und sei’s noch so ohnmächtiges – Wort?“ Und dann wird uns keine noch so kluge und geschickte Antwort vor der Scham schützen können, wenn wir heute noch immer schweigen.10 (Christoph Hein, 1989)
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Vgl. Richard Herzinger: Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München 1992; Ders.: Die obskuren Inseln der kultivierten Gemeinschaft. Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun – deutsche Zivilisationskritik und das neue Antiwestlertum. In: Die Zeit v. 4.6.1993 (Literatur); ergänzend dazu: Iris Radisch: Dichter in Halbtrauer. Junge Autoren nach dem Ende der DDR. In: Die Zeit v. 4.6.1993 (Literatur); dagegen Thomas Assheuer: Im PartisanenNest der „Neuen Rechten“? Richard Herzingers Attacken gegen die Schriftsteller Heiner Müller, Christa Wolf und Volker Braun. In: FR v. 9. / 10.6.1993. Karl-Wilhelm Schmidt: Literaturdebatten des westlichen Feuilletons um Heiner Müller. Vom ‚IM‘ zum ‚Neuen Rechten‘. In: Monteath, Peter / Alter, Reinhard (Hgg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38), S. 51-73, S. 51f.; Hervorhebung im Original; vgl. dazu auch Thomas Anz: Der Streit um Christa Wolf und die Intellektuellen im vereinten Deutschland. In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the Wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38); S. 1-17, S. 14. Frank Hörnigk: Heiner Müllers ‚Endspiele‘. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40); S. 315-327, S. 320. Christoph Hein: Rede auf der Versammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR (14.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1; S. 146-153, S. 152.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Und alle Intellektuellen, hüben wie drüben, sehen mit schreckensweit geöffneten Augen: In Deutschland findet eine Revolution statt, und sie können sagen, sie sind nicht dabeigewesen.11 (Ulrich Greiner: Keiner weiß mehr. Was passiert, wenn was passiert, 1989) Die Literatur hat seit Jahren Vorarbeit geleistet auf ihrem, dem geistigen Feld. Die Stärke ihrer Wirkung ist natürlich schwer meßbar, aber sie war da. Daß bei dem eigentlichen Geschehen im Oktober, November anderes auslösend wirkte, spricht doch nicht gegen diese vielleicht notwendige Bodenbereitung.12 (Günter de Bruyn, 1990) Vor allem aber sind es ihre literarischen Werke, die dazu beigetragen haben, daß die Maßstäbe nicht verlorengingen, trotz all der Brüche und Inkonsequenzen in manchem dieser Bücher. Und so haben diese Schriftsteller selbstverständlich auch dazu beigetragen, daß es zu den gesellschaftlichen Veränderungen gekommen ist.13 (Reiner Kunze, 1991)
Obige Zitate verdeutlichen, wie kontrovers die Positionen über die ‚Beteiligung‘ insbesondere von Schriftstellerinnen und Schriftstellern an der ‚Wende‘ waren und sind. Diese Positionen sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. Dabei gehe ich von einem weit gefassten Publizistik-Begriff aus, der auch Reden, Gespräche und Interviews einschließt. Einige Texte sind wegen ihres hohen Bekanntheitsgrades geradezu klassisch geworden, etwa Günter Grass’ Ein Schnäppchen namens DDR (1990).14 Fasst man das sich bietende Bild zusammen, so erkennt man, dass viele prominente Intellektuelle die ‚Wende‘ zwar durchaus mit vorbereitet haben, im Herbst 1989 aber in den seltensten Fällen die Hauptakteure gewesen sind, sondern eher eine Funktion der kritischen Begleitung wahrnahmen. Reinhard Andress (1991) weist darauf hin, dass sie
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Ulrich Greiner: Keiner weiß mehr. Was passiert, wenn was passiert. In: Die Zeit v. 10.11.1989; ähnlich auch Michael Schneider: Wenn die Welt sich schneller ändert als die Weltbilder. In: M.S.: Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DMKolonie. Berlin 1990; S. 7-16. [Interview mit Regina General]: Stimme einer Stimmung. Gespräch mit Günter de Bruyn über die Frage, ob die Revolution ohne die Schrifsteller stattgefunden hat. In: Die Zeit v. 9.3.1990. [Interview mit Wolfgang Kraus]: Gegenseitig überfordert? Reiner Kunze antwortet. In: Die politische Meinung 36 (1991) 265; S. 37-44, S. 38. Günter Grass: Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut. Göttingen 1990. Der titelgebende Essay erschien erstmals in der Zeit v. 5.10.1990.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
auch praktische Arbeit [leisteten]: Daniela Dahn, Jürgen Rennert, Christoph Hein und Christa Wolf wirkten z.B. bei Untersuchungsausschüssen zu den polizeilichen Übergriffen am 7. / 8. Oktober in Leipzig und Berlin mit, und Helga Schubert fungierte beispielsweise als Pressesprecherin des Runden Tisches, der bei den Umwälzungen das gemeinsame Forum für die verschiedenen Erneuerungskräfte in der DDR bildete und in Verhandlungen mit der DDR-Regierung trat.15
Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Essayisten und Publizisten haben die Ereignisse des Herbstes 1989, vor allem aber den Einigungsprozess kontinuierlich beobachtet, kommentiert und analysiert. Übergreifende Tendenzen im Hinblick auf ihre Positionen zur Zeit der ‚Wende‘ zu beschreiben ist schwierig – zu zahlreich und vielfältig sind die Stimmen, als dass man Einzelpersonen gerecht werden könnte. An dieser Stelle muss kurz auf die Bezeichnung ‚Intellektuelle‘ eingegangen werden.16 Gerade im DDR-spezifischen Kontext ist die Verwendung des Begriffs problematisch; im offiziellen Sprachgebrauch war in der DDR meist von ‚Intelligenz‘ die Rede. Der Mediziner und Molekularbiologe Jens Reich (*1939), einer der führenden Köpfe des Neuen Forums, hat 1992 bereits relativ früh eine umfassende Analyse der Rolle der ‚Intelligenz‘ in der DDR vor, während und nach der ‚Wende‘ vorgelegt.17 Reich, der – nach eigener Aussage – selbst 30 Jahre lang zur Intelligenz gehörte, liefert eine ausführliche Bestimmung des mehrdeutigen Begriffs. Dabei geht er von der in der DDR am häufigsten intendierten Bedeutung aus, einer Rückübersetzung des russischen Wortes „Intelligentsia“, und meint somit eine soziale Schicht.18 Reich stellt fest: 15
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Reinhard Andress: DDR-Schriftsteller und die Herbst-Ereignisse 1989 in der DDR. In: Schatzkammer der deutschen Sprachlehre, Dichtung und Geschichte 17 (1991) 1; S. 26-45, S. 31. Zur Rolle der Intellektuellen in der SBZ / DDR bzw. den östlichen Bundesländern vgl. ausführlich Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000. Leipzig 2001. Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin 1992. Vgl. Ebd., S. 28ff. Zum Begriff der ‚Intelligenz‘ vgl. ausführlich Jürgen Kuczynski: Die Intelligenz. Studien zur Soziologie und Geschichte ihrer Großen. Köln 1987 (Kleine Bibliothek Geschichte, 468), insbes. Kap. I: „Der Begriff der Intelligenz“ (S. 11-54). Einleitend definiert Kuczynski knapp: „Unter Intelligenz verstehen wir zweierlei. Einmal die Intelligenz als Inbegriff ausgeprägter Fähigkeit, das Wesen einer Sache richtig zu erfassen. Und sodann die Gesamtheit der geistig Schaffenden. Natürlich ist Intelligenz im ersten Sinne absolute Voraussetzung für die Intelligenz im zweiten.“ (S. 11). Zur Rolle der ‚Intelligenz‘ vgl. auch Dieter Geulen: Politische Sozialisation der staatsnahen Intelligenz in der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 12 / 99 v. 19.3.1999, S. 3-14 sowie Ders.: Politische Sozialisation in der DDR. Autobiographische Gruppengespräche mit Angehörigen der Intelligenz. Opladen 1998. Siehe darin v.a. Kapitel 2.3 „Reflexionen über die DDR und ihr Scheitern“ (S. 248-273). Ausführlich wird in diesem Zusammen-
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Die Position der Intelligenz krankte daran, daß sie objektiv Systemstabilisator war, obwohl die Individuen besonders in der Spätzeit den Glauben an das System verloren hatten und sich für Proletariat hielten. Auch in der Intelligenz spiegelte sich also eine Umkehr der Wahrheitsfunktion, mit entsprechenden Spannungen im inneren Weltbild, aushaltbar nur noch durch Spaltung der äußeren Welt in die Anpassungswelt und die warme eigene (unmittelbare berufliche Tätigkeit, Familie).19
Die Frage, ob die Intellektuellen in der DDR überhaupt konstruktive Beiträge zur ‚Wende‘ geleistet haben bzw. leisten konnten, ist oft gestellt worden. Versucht man, die nach der ‚Wende‘ erhobenen Anschuldigungen zusammenzufassen, so wirft man den Intellektuellen insbesondere vor, sie hätten sich Privilegien verschafft, Konflikte mit der Macht vermieden, Themen wie Staatssicherheit und Umweltzerstörung konsequent gemieden und sich im Großen und Ganzen linientreu verhalten. Zwei Aspekte spielen dabei vor allem eine Rolle: die Frage nach den Privilegien und die Frage nach der Existenz einer intellektuellen Opposition, denn, so der Schriftsteller Uwe Kolbe 1991: „Im deutlichen Gegensatz zur damaligen Lage in den sozialistischen Staaten Polen, CˇSSR, Ungarn, UdSSR gab es in der Deutschen Demokratischen Republik keine antisozialistische Opposition.“20 Dieser Äußerung ist zumindest in Bezug auf die Intellektuellen zuzustimmen. Als problematisch erweist sich jedoch die in der Regel damit verbundene Abwertung, denn es wird oft übersehen, dass von Seiten der Intellektuellen zahlreiche Reformvorschläge gemacht wurden. Andererseits sind auch die mit einer systemimmanenten Kritik verbundenen Schwierigkeiten zu sehen, auf die Hans Joachim Schädlich (1990) hinweist: Manche Schriftsteller unter der kommunistischen Diktatur haben sich als Kritiker von Erscheinungsformen der Diktatur verstanden, ohne die Diktatur selbst in Frage zu stellen. Ihre systemimmanente Kritik war den Unterdrückten gewiß von partiellem Nutzen. Die Feststellung, daß systemimmanente Kritik auch den Unterdrückern von Nutzen war, weil sie die Grenzen des Systems fraglos voraussetzte, wird als unfein empfunden.21
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hang auf das so genannte „Theorem der falschen Leute an der Spitze“ eingegangen (vgl. insbesondere S. 254-264; für die ‚künstlerische Intelligenz‘ siehe Frank Hörnigk: Die künstlerische Intelligenz und der Umbruch in der DDR. In: Die DDR auf dem Weg zur Deutschen Einheit. Probleme, Perspektiven, Offene Fragen. Dreiundzwanzigste Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 5. bis 8. Juni 1990. Köln 1990 (Edition Deutschland Archiv), S. 139-145. Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin 1992, S. 81. Uwe Kolbe: Die Heimat der Dissidenten. Nachbemerkungen zum Phantom der DDROpposition. In: Freitag v. 27.9.1991. Hans Joachim Schädlich: Über Dreck, Politik und Literatur [1990]. In: H.J.S.: Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze, Reden, Gespräche, Kurzprosa. Berlin 1992; S. 25-29, S. 27; vgl. dazu auch: Ders.: Literatur und Widerstand [1985]. In: Ebd., S. 62-66.
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Insofern lässt Schädlich auch das Argument nicht gelten, Literatur in der DDR sei „eine Art Lebenshilfe für Unterdrückte“ gewesen.22 5.1.1.1 Privilegien – die Kluft zwischen Intellektuellen und restlicher Bevölkerung Die Problematik der Privilegien ist breit diskutiert worden – meist im Rahmen von Selbstbefragungen oder autobiografischen Schriften. Schon 1988 hatte Christoph Hein die Fragwürdigkeit der Privilegien im Rahmen seines Arbeitsgruppen-Beitrags über Literatur und Wirkung auf dem X. Schrifstellerkongreß der DDR dargestellt: Die bislang erreichten, gewährten oder erkämpften Ausnahmen – etwa für Künstler, für Schriftsteller – sind, was immer sie auch sonst bedeuten, Privilegien. Und Privilegien sind Krebsgeschwüre einer sozialistischen Gesellschaft, denn sie schaffen Klassen, die sich durch Vorrechte unterscheiden, die durch Ausnahmen voneinander getrennt sind, denen durch Sonderrechte eine Verständigung erschwert wird.23
Ein Jahr später konstatiert Helga Königsdorf (*1936) in einem Brief an den Genossen „K.B.“ eine „Intellektuellenfeindlichkeit“, die sie hauptsächlich auf diese Privilegien zurückführt, aber zugleich auch in einen umfassenderen Kontext stellt: Natürlich hatten sie [die Intellektuellen; F.Th.G.] Privilegien. In diesem Feudalsystem wurde ja nur mit Privilegien regiert. Jeder hatte praktisch irgendwelche Privilegien. Das wichtigste Privileg aber war, daß die Intellektuellen mit ihrer Arbeit voll identifiziert waren. Unsere Ängste und der Zwang zur Selbstzensur, das alles zählt nicht mehr. […] Nicht vergessen wird man, daß einige von uns ihr Produkt auf dem Weltmarkt anbieten durften. Das ist gerade der neuralgische Punkt. Die Arbeiter waren ihrer Arbeit total entfremdet. Ihr Produkt wurde billig verhökert. Sie bekamen dafür schlechtes Geld. Nun haben sie es einfach satt. Und man kann ihnen nicht mehr kommen mit „unser Land“. Worauf sollen sie auch stolz sein. Dieses Land hat sie jahrelang durch seine schlechte ökonomische Strategie im Vergleich mit den „Brüdern und Schwestern“ zu Menschen zweiter Klasse gemacht.24
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Ders.: Über Dreck, Politik und Literatur [1990]. In: Ebd.; S. 25-29, S. 28. Christoph Hein: Literatur und Wirkung. In: X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppen. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988; S. 224-247, S. 245. Helga Königsdorf: Lieber Genosse K.B.! [18.12.1989]. In: H.K.: 1989 oder Ein Moment Schönheit. Eine Collage aus Briefen, Gedichten, Texten. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 117-119, S. 119.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Wie Königsdorf bezieht auch Bernd Wagner (*1948) sich in der letzten seiner Reden „an die Kreuzberger Sperlinge“ (1989 / 1990) auf den Aufruf Für unser Land (vgl. 5.1.1.3): Und sie fragen sich nicht ohne Recht, wenn sie einen Aufruf der Künstler „Für unser Land“ lesen, welches Land meint ihr eigentlich, das Land eurer Mecklenburger Bauernhäuser oder das der Braunkohlegruben? Die jetzt beklagte Intellektuellenfeindlichkeit haben die Intellektuellen und Künstler selbst zu verantworten: Es war nicht der Staat, der die Künstler vom Volk getrennt hat, sie mußten ihre Privilegien schon selbst annehmen. Es reicht eben nicht, über Jahre hin, zu den existentiellen Problemen des Landes zu schweigen oder sie in Geheimsprache verpackt unter dem Ladentisch zu handeln und dann, wenn der Damm gebrochen ist, eine Demonstration zu organisieren, an deren Spitze man zusammen mit Stasichef Markus Wolf auftritt, während der Bautzenhäftling Janka zehn Meter weiter unten vor der Bühne steht – auch wenn man an diesem Damm gebohrt hat. Es reicht eben nicht, das alte stalinistische Vokabular neu anzuwenden und Leipzig den Titel „Heldenstadt“ zu verleihen. Und es reicht nicht einmal, in einer Kommission zur Untersuchung der Gewalt gegen Demonstranten zu arbeiten – nicht um eine wirkliche Autorität zu bewahren oder zu erlangen. Revolutionen bringen es mit sich, daß Autoritäten gestürzt werden, eine nach der anderen – es ist ihr Ziel. Und sie machen nicht vor geistigen Autoritäten halt, wenn diese, auf welch gut gemeinte Weise auch immer, an der Macht partizipierten. Sperlinge, findet ihr nicht auch, daß das Duo Wolf / Müller mit zunehmendem Alter immer mehr wie eine Reinkarnation des Duos Seghers / Brecht erscheint, wobei der eine Teil die mehr hausfraulichen Aufgaben erfüllt, während der andere seine Funktion als göttlicher Stellvertreter ausübt? Das heißt nichts anderes, als daß nie wirklich mit der Tradition gebrochen wurde, in der Bekenntnis an erster und Kritik an zweiter Stelle kommt. […] Die Intellektuellen müssen sich fragen lassen, worum es ihnen bei der Forderung nach Erneuerung des Sozialismus in der DDR wirklich geht: Hier im Westen, ob um mehr als das Festhalten an einer Utopie unter der Voraussetzung, daß sie andere realisieren, im Osten, ob um mehr als das Bedürfnis, weiter geschützt an den Realitäten dieser Welt vorbeileben zu können.25
Geradezu leitmotivisch zieht sich die Frage der Privilegien durch Rita Kuczynskis (*1944) Autobiografie Mauerblume (1999). Dabei reflektiert
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Bernd Wagner: Blitzschlag, Angst und Vaterlandsliebe. Rede an die Kreuzberger Sperlinge. In: B.W.: Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-9. Berlin 1991; S. 5-34, S. 26f.; Hervorhebung im Original. Geschrieben im Dezember 1989; erstmals veröffentlicht unter dem Titel Blitzschlag, Angst und Vaterlandsliebe. Letzte Rede an die Kreuzberger Sperlinge. In: Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Hrsg. von Françoise Barthélemy und Lutz Winckler. Frankfurt a.M. 1990; S. 101-125, S. 116f.; Hervorhebung im Original.
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die zeitweilige Schwiegertochter des Wirtschaftswissenschaftlers Jürgen Kuczynski (1904-1997) immer wieder die eigene Position: Über den Grund der zahlreichen Privilegien von namhaften Schriftstellern und Künstlern in der DDR hatte ich mir bis zu meinem Abgang aus der Akademie kaum Gedanken gemacht. Ich begriff erst jetzt ihre politische Rolle. Da es in den Medien nur eine fiktive Öffentlichkeit gab, waren die Schriftsteller und Künstler als freiberufliche Individuen eine personifizierte Möglichkeit, Mißstände auszusprechen bzw. Mißstände zu vertuschen. Auch sie konnten eine Mittlerfunktion zwischen Regierung und Regierten innerhalb des DDR-Staatsvolks einnehmen und waren daher von enormer politischer Bedeutung. Diese Mittlerfunktion konnte in doppelter Weise wahrgenommen werden. Von den kritischen Künstlern, indem sie in und mit ihren Werken versuchten, Mißstände und Unzulänglichkeiten auszusprechen, um sie in der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen. Von den Staatskünstlern und Hofdichtern, indem sie in ihren Werken die bestehenden sozialistischen Zustände als die glücklichsten Zustände der Menschheit überhaupt priesen. In politisch ausgeglichenen Zeiten hielten sich linientreue und kritische Künstler die Waage und trugen somit zum Interessenausgleich, innerhalb des von der Parteiführung überwachten Meinungsbildungsprozesses, bei. In politisch angespannten Zeiten gewannen die Künstler, die sich als Propagandisten der herrschenden Orthodoxie verstanden, die Oberhand. Inhalt und Maß des Gesprächs im Volksstaat wurden durch die Zensurbehörde im Kulturministerium oder durch die Zensur der Literatur- und Tageszeitungen bestimmt. Je größer die tatsächlichen Differenzen zwischen Volk und Staatsmacht, desto wichtiger wurden für die DDR-Bürger die Schriftsteller und Künstler, die aussprachen, was alle wußten. Kritische Künstler und Schriftsteller, die mehr sagten, als sie sagen durften, wurden gemaßregelt. […]26
Später heißt es: Ja, die Privilegien – an der Geschichte ihrer demokratischen Aufweichung könnte die Geschichte des Niederganges der DDR beschrieben werden, die auch ein Kampf um die Gleichheit der Privilegien war. Das heißt, in dem Maße, da die DDR wirtschaftlich und politisch in die Knie ging, in dem Maße versuchte die herrschende Politbürokratie über die breitere Streuung der Privilegien zu steuern, was auf Dauer nicht mehr zu steuern war. Mit der immer differenzierteren Bewilligung von Sonderrechten, das heißt Sonderfreiheiten, versuchte sie, die einzelnen Berufsstände und sozialen Schichten voneinander zu isolieren, um sie gegeneinander auszuspielen und zu disziplinieren.27
Die oben wiedergegebenen Äußerungen belegen, in welchem Ausmaß die Privilegien nicht nur die Kluft zwischen ‚Intellektuellen‘ und ‚normaler‘ Be26 27
Rita Kuczynski: Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze. München 1999, S. 188f. Ebd., S. 248.
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völkerung vergrößerten, sondern auch Kommunikationsbarrieren schufen. Relevant ist in diesem Zusammenhang auch die Frage der verschiedenen ‚Öffentlichkeiten‘, auf die Peter Uwe Hohendahl (1994) hinweist. Er vertritt folgende These: Im Herbst 1989 meinten die Schriftsteller, daß die Stunde gekommen sei, in der sie zum erstenmal das Volk gegenüber der Partei wirksam vertreten könnten. Das Forum hierfür sollte allerdings nicht die Parteiöffentlichkeit sein; stattdessen stellte man sich eine im freien Austausch der Bürger begründete sozialistisch-demokratische Öffentlichkeit vor. Jedoch war den Schriftstellern die Tatsache nicht hinreichend klar, daß ihre eigene Position genau durch die Ereignisse, die sie selbst mitherbeigeführt hatten, untergraben worden war, und zwar durch Dekonstruktion der Parteiöffentlichkeit. Sie hatten, sozusagen, ihr Mandat verloren, für das Volk zu sprechen.28
Auch für Helga Schubert (*1940) spielt diese Frage eine Rolle; sie bestreitet die Existenz eines Gegensatzes zwischen der „Kulturbürokratie“ und „den meisten Schriftstellern“: Die Legende existiert, die Schriftsteller und Künstler hätten zum Zusammenbruch der DDR beigetragen, weil sie trotz Zensur zwischen den Zeilen zu ihren Lesern und Leserinnen sprachen, wie sozusagen die Sklavensprache die dummen Zensoren überwand. Bei dieser These geht man von einem Gegensatz zwischen Kulturbürokratie in den Ministerien und im Zentralkomitee auf der einen und den meisten Schriftstellern in der DDR auf der anderen Seite aus.29
Monika Maron (*1941) veröffentlichte 1990 einen Essay mit dem Titel Die Schriftsteller und das Volk30, in dem sie den großen Abstand zwischen vielen Intellektuellen und dem Volk beklagt. Beide Gruppen verfolgten unterschiedliche Ziele: Während es der breiten Bevölkerung um eine schnelle Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse gegangen sei, kämpften die Intellektuellen um den „Erhalt ihrer Utopie“.31 Maron kritisiert die Rolle insbesondere der privilegierten Intellektuellen (zu denen sie freilich zeitweise selbst gehörte), die „16 Millionen Menschen auch für die 28
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Peter Uwe Hohendahl: Wandel der Öffentlichkeit. Kulturelle und politische Identität im heutigen Deutschland. In: Claudia Mayer-Iswandy (Hg.): Zwischen Traum und Trauma – Die Nation. Transatlantsiche Perspektiven zur Geschichte eines Problems. Tübingen 1994 (Stauffenburg Colloquium, Band 32); S. 129-146, S. 136. Helga Schubert: Bücherverbrennung einmal anders. In: H.S.: Das gesprungene Herz. Leben im Gegensatz. München 1995; S. 60-66, S. 64 [zuerst in: Neue Zeit (Berlin) v. 10.3.1993]. Monika Maron: Die Schriftsteller und das Volk. In: Der Spiegel 44 (1990) 7 v. 12.2.1990, S. 68-70. Ebd., S. 70.
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Zukunft zum Objekt einer Idee degradieren“32 wollten und damit einen „Labortest an unfreiwilligen Versuchspersonen“33 anstrebten. Insofern hat sie zunächst durchaus Verständnis für den gesteigerten Konsumbedarf der Ostdeutschen. Enger gefasst bezieht sich Marons Kritik auf einen Anfang Dezember 1989 unter dem Titel Aschermittwoch in der DDR im Spiegel und in der jungen Welt veröffentlichten Beitrag von Stefan Heym: Danach, Aschermittwoch. Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch, edlen Blicks, einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie, mit kannibalischer Lust, in den Grabbeltischen, von den westlichen Krämern ihnen absichtsvoll in den Weg plaziert, wühlten; und welch geduldige Demut vorher, da sie, ordentlich und folgsam, wie’s ihnen beigebracht worden war zu Hause, Schlange standen um das Almosen, das mit List und psychologischer Tücke Begrüßungsgeld geheißen war von den Strategen des Kalten Krieges.34
Die DDR hätte seines Erachtens eine Vorreiterrolle übernehmen können, wie er bereits im Oktober geäußert hatte: Eine Deutsche Demokratische Republik, aber eine bessere als die real existierende, ist notwendig, schon als Gegengewicht gegen die Daimler-Messerschmitt-BölkowBlohm-BASF-Höchst [sic] -Deutsche-Bank-Republik auf der anderen Seite der Elbe; notwendig ist ein sozialistischer Staat auf deutschem Boden, der seinen Bürgern wahre Freiheit und alle Rechte garantiert, die freien Bürgern zustehen. Und nicht nur um der Menschen willen, die in der DDR leben und in ihr auch ausharren möchten; ein vernünftig funktionierender DDR-Sozialismus wäre vonnöten auch für die außerhalb der Republik, denn überall in der Welt leidet die Linke unter dem Fiasko des SED-Staates, überall höhnen die Reaktionäre: was, Sozialismus! Schaut ihn euch doch an, diesen Sozialismus, dem das eigene Volk in Scharen davonläuft!35
Maron greift Heym scharf an; ihrer Auffassung nach „denunziert“ er sich in diesen Sätzen selbst, indem er seinen idealischen Anspruch als das erkennen läßt, was er ist: die Arroganz des Satten, der sich vor den Tischmanieren eines Ausgehungerten ekelt. Wäre Heym ein Einzelfall, könnte ich diese Entgleisung ertragen
32 33 34 35
Ebd. Ebd. Stefan Heym: Aschermittwoch in der DDR. In: Der Spiegel 43 (1989) 49 v. 4.12.1989 (Spiegel-Essay); S. 55-58, S. 55. Ders.: Ist die DDR noch zu retten? Ein Schriftsteller und sein Staat. Aus dem real existierenden muß ein wirklicher Sozialismus werden. In: Die Zeit v. 13.10.1989.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
141
und darüber schweigen. Aber er ist kein Einzelfall. Er wagt in seinem patriarchalischen Selbstverständnis und geschützt durch seine achtenswerte Biographie nur einen besonders harschen Ton. Diesmal ist nicht die Regierung vom Volk enttäuscht, diesmal sind es die Dichter.36
Sie betont ausdrücklich, dass sie sich lieber auf die Seite der Intellektuellen schlagen würde, es aber für wichtig halte, „eine Diskussion um die Zukunft der Menschen in der DDR“ zu führen. Mit dieser Perspektivübernahme steht sie weit gehend alleine da. Zudem zitiert sie Heym sinnentstellend, weil unvollständig, denn bei ihm heißt es im Anschluss an die oben zitierten Sätze: Aber es ist ja verständlich. […] Nicht sie sind schuld, diese Vergierten, an ihrer Entwürdigung; schuld sind die, die da in dem Land hinter der Mauer eine Wirtschaft führten, in welcher Mangel an Logik zu Mangel an Gütern führte und selbst der beste Wille und die beste Arbeit zu Ineffizienz und schäbiger Frucht verkamen.37
5.1.1.2 Der „Topos vom Schweigen“ (Helmut Peitsch) Häufig ist die Auffassung zu lesen, dass die Intellektuellen in Ost wie West keinerlei konstruktive Beiträge zur ‚Wende‘ geleistet, sondern mehr oder weniger ‚geschlafen‘ hätten. Joachim Fest (1989) meint: „Das kritische Bewußtsein ist in Sprachlosigkeit versunken und desavouiert noch im nachhinein das Pathos der moralisch-politischen Instanz, die es für sich reklamiert.“38 Er kritisiert „[d]ie ungeheure Entfernung zwischen denen, die herkömmlicherweise das Wort führen, und den Akteuren auf den Straßen […].“39 In anderen Staaten Mittel- und Osteuropas sei dies anders gewesen: In Deutschland, Ost wie West, waren es […], im Unterschied zu Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien, gerade nicht die Intellektuellen, die den 9. November oder was ihm voraufging [sic] und folgte, vorbereitet und herbeigeführt haben.40
36 37 38 39 40
Monika Maron: Die Schriftsteller und das Volk. In: Der Spiegel 44 (1990) 7 v. 12.2.1990; S. 68-70, S. 68. Stefan Heym: Aschermittwoch in der DDR. In: Der Spiegel 43 (1989) 49 v. 4.12.1989 (Spiegel-Essay); S. 55-58, S. 55. Joachim Fest: Schweigende Wortführer. Überlegungen zu einer Revolution ohne Vorbild. In: FAZ v. 30.12.1989. Ebd. Ebd.
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Wolf Lepenies äußert 1992: „Die Geschichte raste, und die Intellektuellen traten auf der Stelle; als die Nacht des Mauerdurchbruchs zum Tage wurde, war die Avantgarde der deutschen Intellektuellen zur Nachhut geworden.“41 Er stellt fest: Das Schicksal der Intellektuellen in der untergegangenen Republik, die so deutsch und so wenig demokratisch war, hat etwas Tragisches an sich. […] Wir haben im östlichen Deutschland aus nächster Ferne eine Tragödie in fünf Akten miterlebt. Fünf Tage lang konnten sich die Intellektuellen des Landes als Helden fühlen. Dieser kurzlebige Heroismus wird zunächst einmal die Situation der deutschen Geistesarbeiter beeinflussen. Daraus werden sich aber auch Konsequenzen für das Zusammenwachsen der europäischen Kulturen ergeben.42
Vor einem bereits entstandenen Mythos warnt er eindringlich: Unter Komponisten und Poeten, Regisseuren, Schriftstellern und Malern aus der Deutschen Demokratischen Republik überlebt hartnäckig ein Mythos der verpaßten Gelegenheit. Es ist der Mythos, der die fünf Tage vom 4. bis zum 9. November 1989 zur heroischen Epoche der einzigen gelungenen deutschen Revolution verklärt. Am 4. November kündete die von Künstlern und Schriftstellern in Ost-Berlin organisierte Großdemonstration den Fall des Ancien régime an. Am 9. November führte die überstürzte, ungeplante und auch auf eine Konspiration innerhalb der Nomenklatura zurückgehende Öffnung der Berliner Mauer zum Kollaps der Deutschen Demokratischen Republik. Wäre es nur gelungen, die Anarchie und das Chaos des 9. November zu verhindern, hätte man unverzüglich damit begonnen, endlich den wahren Sozialismus aufzubauen! So aber degenerierte, was eine wirkliche Revolution unter Anleitung der intellektuellen Avantgarde hätte werden können, zur Implosion eines Regimes.43
Die These, die ‚Wende‘ sei durch die Intellektuellen vorbereitet worden, lässt er nicht gelten, denn: Die Revolution in der DDR wurde weder von einer Gewerkschaft erkämpft noch von Intellektuellen vorbedacht [sic]. […] Die Helden dieser Revolution waren, mit wenigen Ausnahmen in Kirchenkreisen, keine Intellektuellen. Im Gegensatz etwa zur Tschechoslowakei waren Künstler und Studenten in der Deutschen Demokratischen Republik keineswegs die Speerspitzen der Revolte.44 41 42
43 44
Wolf Lepenies: Folgen einer unerhörten Begebenheit. Die Deutschen nach der Vereinigung. Berlin 1992 (Corso bei Siedler), S. 35. Ders.: Helden für fünf Tage: Das Drama der Intellektuellen in der Deutschen Demokratischen Republik. In: W.L.: Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa. Frankfurt a.M. / New York / Paris 1992 (Edition Pandora, Band 10, Europäische Vorlesungen I); S. 56-61, S. 56f. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Ein Grund hierfür liege darin, dass die DDR „zum einzigen Land in Mittel- und Osteuropa“ geworden sei, „in dem sich die Intelligenz von der Masse der Bevölkerung weitgehend entfremdete.“45 In diesem Zusammenhang betont er noch einmal das Fehlen einer intellektuellen Opposition in der DDR: Im Unterschied zu Ländern wie Polen und Ungarn gab es in der Deutschen Demokratischen Republik weder einen wirklichen Samizdat noch eine Katakombenkultur – abgesehen von einigen oppositionellen Kirchengemeinden. Auch brachte das Land keinen Kreis engagierter Emigranten hervor wie etwa Ungarn. Intellektuelle, die das Land verließen oder die verjagt und ihrer Staatsbürgerschaft beraubt wurden, gingen in der Regel in die Bundesrepublik, wo sie weiter in ihrer Muttersprache publizieren konnten. Diejenigen, die blieben, fanden in der Regel Mittel und Wege, um sich mit der Nomenklatura zur [sic] arrangieren. Gewiß: nicht alle Intellektuellen waren fellow travellers, aber fast alle genossen die soziale Sicherheit und die Subsidien, die der literarischen und der wissenschaftlichen Intelligenz von einem autoritären Regime zugeteilt wurden.46
Der Münchner Philosoph Dieter Henrich (*1927) stellt 1990 resigniert fest: Eine Entwicklung, die Aussichten wie diese verspricht, hätte eigentlich die deutschen Intellektuellen beredt werden lassen müssen. So hätte man erwarten können, daß sie das revolutionäre Geschehen in Deutschland mit einer Bemühung um Verständigung und um Klarheit über seine Perspektiven begleiten würden, die Rang und Gewicht des Geschehens entspricht. Doch zunächst herrschte Stummheit. Und noch immer ist die Zahl der Beiträge klein, die auf das Geschehen ein Licht fallen lassen, das mehr erfaßt als die Probleme, welche gerade die größte Dringlichkeit haben in dem politischen Prozeß, der aus der deutschen Teilung herausführen soll. […] In der Reaktionsschwäche der deutschen Intellektuellen wird man wohl auch eine Folge der Anpassung an die Außenperspektive auf die Lage in Deutschland und der bloßen Eingewöhnung in die Teilung zu erkennen haben. Die Reaktionen im westlichen Ausland waren jedenfalls über Monate weit spontaner und von grundsätzlicherem Gewicht. Inzwischen versiegen sie auch dort; und man rätselt nun vor allem über die Stummheit der Deutschen und über die Syndrome von Gedanken und Motiven, die sich halb entwickelt hinter ihr verbergen möchten.47
Theo Buck (1992) sieht die „Schriftsteller als Wegbereiter einer ‚Revolution‘ ohne Schriftsteller“.48 Und Gert Ueding (1992) vertritt die Meinung, es sei 45 46 47 48
Ebd., S. 59. Ebd.; Hervorhebung im Original. Dieter Henrich: Einleitung zu D.H.: Eine Republik Deutschland. Reflexionen auf dem Weg aus der deutschen Teilung. Frankfurt a.M. 1990; S. 7-15, S. 12f. Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 125.
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„nicht mehr zweifelhaft, welche Rolle sich die Schriftsteller selber bei den Herbstereignissen 1989 in der DDR haben spielen sehen, nämlich allenfalls die von überraschten Zaungästen, die nicht für möglich hielten, was da vor ihren Augen passierte.“49 Für ihn steht fest: Jeder, der über den Tag hinaussah und nur ein wenig weiter zurück, konnte sehen und erlebte es täglich, daß die spektakulären Demonstrationen in Leipzig, Berlin oder Dresden gar nicht die Wirkursachen der politischen Erschütterungen, sondern bereits deren Folgeerscheinungen waren.50
Uedings Auffassung ist nicht falsch, sie verkennt jedoch den Stellenwert der Demonstrationen. Zudem fehlt bei ihm eine Differenzierung in verschiedene Phasen des Umbruchs, die genauer betrachtet werden müssten. Diejenigen, welche die DDR von innen heraus reformierten wollten, verurteilt Ueding: Das [Ueding bezieht sich auf Ausführungen von Rolf Schneider; F.Th.G.] wurde im Februar 1990 geschrieben, als viele Kollegen Schneiders ihre Landsleute vom weiteren Exodus abbringen (den Motor also stillegen), die „Hierbleiber“ von den „Ausreißern“ wie die Guten von den Schlechten geschieden wissen wollten und sich womöglich „höhere sozialistische Entwicklungsstrukturen“ an der Stelle eines administrativ zentralistischen Systems wünschten.51
Dagegen finden sich in der Anthologie Die Geschichte ist offen (1990) Antworten auf die Frage: „Brauchen wir eine neue Republik? Alternativen für die DDR“.52 Für Michael Naumann, den Herausgeber des Bandes, steht fest: Revolutionen werden von Dichtern angemeldet. Wenn jene ausbrechen, sind die Poeten am meisten überrascht. Daß sie so mächtig wären, hätten sie nie geglaubt. Nur die Politiker haben es immer gewußt. Sonst gäbe es keine Zensur. Nun ist sie abgeschafft, und in der DDR entsteht – langsam, langsam – eine offene Gesellschaft.53
49 50 51
52
53
Gert Ueding: Revolution ohne Intellektuelle. In: Die politische Meinung 37 (1992) 271; S. 79-88, S. 83f. Ebd., S. 82. Ebd. Weniger polemisch formuliert, findet sich diese These auch bei Friedemann Spicker; Vgl. F.S.: Wie gehört zusammen, was zusammenwächst? Deutsche Schriftsteller zur deutschen Einheit Oktober 1989 – Oktober 1990. In: Dokilmunhak. Koreanische Zeitschrift für Germanistik 31 (1990) 45; S. 377-406, S. 382. Michael Naumann: Vorwort. In: M.N. (Hg.): Die Geschichte ist offen. DDR 1990: Hoffnung auf eine neue Republik. Schriftsteller aus der DDR über die Zukunftschancen ihres Landes. Reinbek 1990 (rororo aktuell); S. 9-13, S. 10. Ebd., S. 13.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Eine der wenigen Äußerungen über das Verhalten auch der westdeutschen Intellektuellen stammt von Karl-Rudolf Korte (1996). Vor allem mit Blick auf sie erklärt er: Die deutsche Teilung wies den Literaten Rolle und Themen zu. Seit der staatlichen Einheit haben die Literaten als Intellektuelle in Deutschland ihre Funktion gänzlich eingebüßt. Ihre Marktnische als Repräsentanten und gutes Gewissen der bundesrepublikanischen Identität ging mit der deutschen Einheit verloren.54
Dabei führt Korte allerdings nicht aus, was denn die ‚bundesrepublikanische Identität‘ ausmache, deren Existenz er ohne weiteres unterstellt. Nur wenige widersprachen den oben zitierten Auffassungen; zu nennen sind hier vor allem Helmuth Kiesel55, Helmut Peitsch56 und Dunja Welke.57 Kiesel (1991) meint, dass ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ den Intellektuellen keineswegs die Sprache verschlagen hätten: Einfach geschwiegen haben die Intellektuellen […] nicht. Aber ihre Stimmen gingen unter, weil sie – zum größten Teil – getragen waren von Bedenken und Befürchtungen, die quer zur Dynamik des geschichtlichen Prozesses standen und oft nicht nachvollziehbar waren.58
Seine Auffassung über die Rolle der Intellektuellen zu jener Zeit fasst er in zehn Thesen zusammen: These 1: Die Vorbehalte vieler Intellektueller gegenüber einem vereinigten Deutschland sind zu verstehen als Spätfolgen einer entsprechenden deutschlandpolitischen Festlegung in den sechziger Jahren. […] These 2: Haupthindernis für die angemessene Beurteilung der deutschlandpolitischen Möglichkeiten und Fälligkeiten von 1989 / 90 war die These von der einen „Kulturnation“ in zwei Staaten mit zwei komplementären Gesellschaftssystemen. […] 54
55 56 57 58
Karl-Rudolf Korte: Berichte zur Lage der Nation. Vom Umgang mit der erzählenden Literatur im vereinten Deutschland. In: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 28 (1996) 4; S. 551-564, S.554. Helmuth Kiesel: Die Intellektuellen und die deutsche Einheit. In: Die politische Meinung 36 (1991) 264, S. 49-62. Helmut Peitsch: Wider den Topos vom „Schweigen“. Westdeutsche Schriftsteller zur ‚Einheit‘. In: Das Argument 33 (1991) 6, S. 893-901. Dunja Welke: Deutsche Einheit: „Aus“ für die DDR-Literatur? Zur Situation der Schriftsteller nach der Wende. In: Der Ginkgobaum 11 (1992), S. 240-251. Helmuth Kiesel: Die Intellektuellen und die deutsche Einheit. In: Die politische Meinung 36 (1991) 264; S. 49-62, S. 50.
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These 3: Die deutsche Literatur insgesamt hat sich indessen mit der politischen Teilung Deutschlands nie abgefunden, sondern hat die Teilung und ihre negativen Effekte für die Politik und Kultur in ganz Deutschland immer wieder beklagt. […] These 4: In der 1989 aufflammenden Diskussion meldeten sich vor allem und mit besonderer Vehemenz die Befürworter der Zweistaatlichkeit zu Wort und hielten an der Zweistaatentheorie länger fest als die meisten Politiker. […] These 5: Die Hauptargumente der Befürworter einer zu bewahrenden Zweistaatlichkeit Deutschlands waren realitätsfremd, denunziatorisch und wenig stichhaltig. […] These 6: Einzuräumen ist, daß die Vereinigung Deutschlands möglicherweise durch ein normatives Defizit gekennzeichnet ist, das die gesellschaftliche Kommunikation und die politische Identitätsbildung auf lange wie kurze Sicht belasten könnte und deswegen möglichst rasch behoben werden sollte. […] These 7 [bezieht sich auf] [d]as Verhältnis von Theorie und Praxis […] These 8: Die Diskussion über die deutsche Vereinigung hat unter Intellektuellen und Schriftstellern zu einer Rehabilitierung der politischen Entwicklung und Kultur der Bundesrepublik geführt, allerdings auf Kosten einer wohlwollenden politischen Entwicklung des vereinigten Deutschland. […] These 9: Die intellektuellen und schriftstellerischen tätigen [sic] Befürworter der Vereinigung artikulierten sich mit einer großen und historisch signifikanten Moderatheit. […] These 10: So wenig wie zu einer intellektuellen „Mobilmachung“ für die Wiedervereinigung ist es zu einer poetischen Feier der neuen deutschen Einheit gekommen. […].59
Helmut Peitsch (1991) erkennt speziell im Hinblick auf die Schriftstellerinnen und Schriftsteller einen „Topos vom Schweigen“, der sich mittlerweile etabliert habe:
59
Ebd., S. 50-59; Hervorhebungen im Original.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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In dem Topos vom Schweigen lassen sich […] drei Bedeutungen unterscheiden: Erstens seien die Schriftsteller von den Ereignissen überrascht worden; zweitens sollen sie keine positive Stellung bezogen haben; drittens kennzeichne diese Reaktion einheitlich die Schriftsteller in der Bundesrepublik wie in der DDR. Ich möchte zunächst belegen, daß alle drei Behauptungen falsch sind, und anschließend fragen, weshalb dieses verzerrte Bild von der Reaktion der westdeutschen Schriftsteller auf den 9. November bis heute vorherrscht.60
In der Tat belegen zahlreiche Beispiele, dass viele Intellektuelle sich bereits Jahre zuvor engagiert haben. So etwas wie einen Gradmesser für dieses Verhalten kann es natürlich nicht geben. Dass Intellektuelle die ‚Wende‘ konsequent begleitet haben, ist allerdings sicher und sei im Folgenden dargestellt. 5.1.1.3 Konkret: Die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Herbst 1989 Über die Aktivitäten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Herbst 1989 gibt die in drei Teilen Anfang 1990 in der ndl erschienene Dokumentation Für notwendige Erneuerung Aufschluss.61 Teil 1 ist die Bemerkung vorangestellt: Auch die Schriftsteller der DDR haben zum demokratischen Dialog aufgerufen und im Prozeß der gesellschaftlichen Erneuerung in unserem Land ihre Stimme erhoben. NDL dokumentiert in diesem und in folgenden Heften Äußerungen in chronologischer Folge.62
Am 14. September 1989 bezeichnen die Schriftstellerinnen Daniela Dahn, Siegrid [sic] Damm, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Gerti Tetzner, Christa Wolf und Rosemarie Zeplin in einer Erklärung des Berliner Schriftstellerverbandes die Ausreisewelle aus der DDR als „ein Zeichen für angestaute grundsätzliche Probleme in allen Bereichen der Gesellschaft“ und fordern den sofortigen Beginn eines „demokratische[n] Dialog[s] auf allen Ebenen“.63 60 61
62 63
Helmut Peitsch: Wider den Topos vom „Schweigen“. Westdeutsche Schriftsteller zur ‚Einheit‘. In: Das Argument 33 (1991) 6; S. 893-901, S. 893. Für notwendige Erneuerung. In: ndl 38 (1990) 1-3; S. 145-175; S. 152-189; S. 163-191; vgl. in diesem Zusammenhang auch die beiden Bände Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Berlin 1990 / 1989 [sic] (Temperamente 1) sowie Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990. Für notwendige Erneuerung. In: ndl 38 (1990) 1; S. 145-175, S. 145; im Original kursiv. Erklärung des Berliner Schriftstellerverbandes. In: Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Berlin 1990 / 1989 [sic] (Temperamente 1); S. 30, S. 30.
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Am selben Tag, also drei Tage nachdem Ungarn seine Grenze zu Österreich offiziell geöffnet hat und bereits 15 000 Menschen geflüchtet sind, hält Christoph Hein eine viel beachtete Rede auf der Versammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR. Der Gustav Just gewidmete Text darf in der DDR zunächst nicht gedruckt werden. Versehen mit einer Erklärung des Bedauerns, veröffentlicht Hein ihn schließlich am 6. Oktober in der Zeit.64 Am 29. Oktober erscheint die Rede schließlich doch in der DDR: unter dem Titel Gutgemeint ist das Gegenteil von wahr im Sonntag65, später auch in der ndl.66 Bekannt wird der Text unter dem Titel des Erstdrucks: Die fünfte Grundrechenart. Diese besteht darin, daß zuerst der Schlußstrich gezogen und das erforderliche und gewünschte Ergebnis darunter geschrieben wird. Das gibt dann einen festen Halt für die waghalsigen Operationen, die anschließend und über dem Schlußstrich erfolgen. Dort nämlich wird dann addiert und summiert, dividiert und abstrahiert, multipliziert und negiert, subtrahiert und geschönt, groß- und kleingeschrieben nach Bedarf, wird die Wurzel gezogen und gelegentlich auch schlicht gelogen. Diese fünfte Grundrechenart dient dazu, den Vorschriften und Anordnungen zu genügen und dennoch der Strafe und Isolierung zu entgehen. Anwendung findet diese Rechenkunst im Privaten wie im Volkswirtschaftlichen, und auch diese Kunst kennt ihre Lehrlinge, Stümper und großen Meister.67
Das Prinzip der ‚fünften Grundrechenart‘ führt Hein an zahlreichen Beispielen in erster Linie aus der Geschichte des Stalinismus auch in der DDR aus.68 Enger auf die Situation in der DDR bezogen stellt er fest: Unter dem Schlußstrich unserer, uns aus Schule und Zeitung sattsam bekannten Geschichtsbetrachtung, unter dem Schlußstrich, über den sich dann das als wissenschaftlich, objektiv und gesetzmäßig bezeichnete Gebäude von Fakten, Folgerungen
64 65 66 67 68
Christoph Hein: Die fünfte Grundrechenart. Rede zur Geschichte im Ostberliner Schriftstellerverband am 14. September. In: Die Zeit v. 6.10.1989. Ders.: Gutgemeint ist das Gegenteil von wahr. In: Sonntag v. 29.10.1989. Ders.: Rede auf der Versammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR (14.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1, S. 146-153. Ders.: Die fünfte Grundrechenart. Rede zur Geschichte im Ostberliner Schriftstellerverband am 14. September. In: Die Zeit v. 6.10.1989. Auf dieses Problem kam und kommt Hein immer wieder zurück; vgl. Christoph Hein: Ein Berliner Traum im Oktober 1989, der bereits im August 1968 von deutschen Panzern auf dem Wenzelsplatz überrollt wurde. Zur Podiumsdiskussion „DDR – wie ich sie träume“. 24. Oktober 89. In: C.H.: Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden 1987-1990. Frankfurt a.M. 1990; S. 182-183, S. 182: „Ich fürchte, wir haben – wie auch andere sozialistische Länder – noch nicht den entscheidenden Schritt zur Überwindung des Stalinismus getan, nämlich eine Veränderung der Struktur.“; vgl. auch Christoph Heins Beitrag zu: Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin [4. November 1989]. In: ndl 38 (1990) 3; S. 173-177, S. 175f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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und Bewertungen aufbaut, um den endgültigen und bereits zuvor gezogenen Schluß zu beweisen, stand und steht das kräftige Wort vom „Sieger der Geschichte“.69
Eine solche Vorgehensweise ist seines Erachtens ausgeprochen problematisch, denn: In einer Geschichtsbetrachtung, die dieser Grundrechenart huldigt, wird mit Auslassungen, Vernachlässigungen und scholastischen Rösselsprüngen gearbeitet, es wird verschwiegen und geglättet, um aus dem Labyrinth der Geschichte möglichst fleckenlos und schnell zu jenem Ausgang in die Gegenwart zu gelangen, der dem gewünschten Selbstverständnis am nächsten kommt.70
Hein macht auch auf die schwer wiegenden gesundheitlichen Folgen dieser Vorgehensweise aufmerksam: Es macht mich krank, es macht mich physisch und psychisch krank, in einem Land und in einer Stadt zu wohnen, in denen fortwährend Bürger Ausreiseanträge stellen und ausreisen. Es macht mich krank, die besorgten oder hämischen Kommentare der westlichen Medien zu hören. Oder die Kommentare in unseren Zeitungen zu lesen, die den Vorgang zu banalisieren und zu erklären versuchen, indem sie nicht die Ursachen nennen, sondern die Folgen. Oder wenn im staatlichen Fernsehen eine Prozent-Rechnerei angestellt wird, mit der man die Bedeutungslosigkeit dieser Auswanderungswelle beweisen will. Wenn eine Mutter ein Kind verliert, so ist es schlimm, zynisch und unverzeihlich, ihr vorzurechnen, sie habe nur einen kleinen Prozentsatz ihrer Kinder verloren. Und die aus unserem Land gegangen sind und gehen, sind unsere Kinder, sind unsere Kollegen, Freunde, Mitbürger. Dieser Verlust ist nicht zu entschuldigen und ist unersetzlich.71
Deshalb fordert Hein: Der Staat und die Gesellschaft müssen die tatsächlichen Ursachen dieses Verlustes bekämpfen. Es gibt Möglichkeiten, diesen Aderlaß ohne Gewalt oder Zwang oder neue beschränkende Gesetze zu stoppen. Dafür gibt es sogar mehrere Möglichkeiten, allerdings gibt es keinen Weg, bevor nicht ein offener Dialog zwischen Regierung und Regierten darüber stattfindet.72
69 70 71 72
Ders.: Die fünfte Grundrechenart. Rede zur Geschichte im Ostberliner Schriftstellerverband am 14. September. In: Die Zeit v. 6.10.1989. Ebd. Ebd. Ebd.
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Am 11. Oktober 1989 verabschiedet das Präsidium des Schriftstellerverbandes eine Mitteilung, in der festgestellt wird: Ideologische, ökonomische und soziale Stagnation gefährden zunehmend das bisher Erreichte. Die Ignoranz der Medien ist unerträglich. Der öffentliche demokratische Dialog auf allen gesellschaftlichen Ebenen über Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit, Mißwirtschaft und Bevormundung muß sofort beginnen. Besorgte Haltungen und Äußerungen dürfen nicht unterdrückt und kriminalisiert werden.73
Am 2. November folgt eine weitere Resolution, unterzeichnet von 28 Mitgliedern des Verbandes. Unter der Formel „Kontinuität und Veränderung“ wird festgestellt: „Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es um ein neues Deutschland. Heute geht es um eine neue Deutsche Demokratische Republik.“74 Höhepunkt der Ereignisse des Herbstes 1989 im Hinblick auf die Rolle der Intellektuellen ist die Demonstration für Pressefreiheit auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November.75 Christa Wolf bezeichnet diese Veranstaltung am 31. Januar 1990 in ihrer Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Hildesheim als den „Punkt der größtmöglichen Annäherung zwischen Künstlern, Intellektuellen und den anderen Volksschichten“.76 Christoph Hein geht in seiner Rede auf den Stellenwert der bisherigen Demonstrationen ein: Ohne diese Demonstrationen wäre die Regierung nicht verändert worden, könnte die Arbeit, die gerade erst beginnt, nicht erfolgen. Und da ist an erster Stelle
73 74
75
76
Mitteilung des Präsidiums des Schriftstellerverbandes der DDR. In: ndl 38 (1990) 1; S. 174, S. 174. Entschließung von 28 Mitgliedern des Schriftstellerverbandes vom 2. November 1989. In: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990; S. 200-202, S. 202. Vgl. 4. November ’89. Der Protest. Die Menschen. Die Reden. Hrsg. von Annegret Hahn, Gisela Pucher, Henning Schaller, Lothar Scharsich. Berlin (DDR) 1990 sowie die Beiträge, die unter dem Titel Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin abgedruckt sind in: ndl 38 (1990) 3, S. 173-177; unter der Überschrift 4. November 1989. Protestdemonstration Berlin-Alexanderplatz: Tonbandprotokolle der Reden von Stefan Heym, Christoph Hein, Friedrich Schorlemmer und Christa Wolf auch in: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990, S. 207-215. Veröffentlicht sind Teile der Kundgebung auch auf 2 CDs: Berlin Alexanderplatz 4.11.’89. Die Kundgebung am Vorabend des Mauerfalls. Mit den Reden von Stefan Heym, Gregor Gysi, Friedrich Schorlemmer, Christa Wolf, Heiner Müller, Christoph Hein, Steffi [sic] Spira, Markus Wolf, Jens Reich, Lothar Bisky u.a. Berlin 1999 (Amiga / BMG). Christa Wolf: Zwischenbilanz. Rede in Hildesheim. In: FR v. 8.2.1990.
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Leipzig zu nennen. Ich meine, der Oberbürgermeister unserer Stadt sollte im Namen der Bürger Berlins – da wir alle gerade mal hier zusammenstehen – dem Staatsrat und der Volkskammer vorschlagen, die Stadt Leipzig zur „Heldenstadt der DDR“ zu ernennen. Wir haben uns an den langen Titel „Berlin – Hauptstadt der DDR“ gewöhnt. Ich denke, es wird leichter sein, uns an ein Straßenschild „Leipzig – Heldenstadt der DDR“ zu gewöhnen. Der Titel wird unseren Dank bekunden. Er wird uns helfen, die Reform unumkehrbar zu machen. Er wird uns an unsere Versäumnisse und Fehler in der Vergangenheit erinnern. Und er wird die Regierung an die Vernunft der Straße mahnen, die stets wach blieb und sich, wenn es notwendig ist, wieder zu Wort meldet.77
Er fordert: Verfilzung, Korruption, Amtsmißbrauch, Diebstahl von Volkseigentum – das muß aufgeklärt werden, und diese Aufklärung muß auch bei den Spitzen des Staates erfolgen. […] Von Bürokratie, Demagogie, Bespitzelung, Machtmißbrauch, Entmündigung und auch Verbrechen war und ist diese Gesellschaft gezeichnet. […] Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist. Einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht.78
Stefan Heym betont in seiner Ansprache die Abgrenzung vom Stalinismus; zugleich gibt auch er seiner Hoffnung auf eine sozialistische DDR Ausdruck: Der Sozialismus, nicht der Stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes. Freunde, Mitbürger, üben wir sie aus, diese Herrschaft.79
Vier Tage später, am 8. November, verliest Christa Wolf in der Aktuellen Kamera, der Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens, einen Appell von Künstlern und Bürgerinitiativen. Darin fordert sie die Bürgerinnen und Bürger zum Bleiben auf: Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, wir alle sind tief beunruhigt. Wir sehen die Tausende, die täglich unser Land verlassen. Wir wissen, daß eine verfehlte Politik bis in die letzten Tage hinein ihr [sic] Mißtrauen in die Erneuerung dieses Gemeinwesens bestärkt hat. Wir sind uns der Ohnmacht der Worte gegenüber Massenbewegungen bewußt, aber wir haben kein 77 78 79
Beitrag von Christoph Hein zu: Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin. In: ndl 38 (1990) 3; S. 173-177; S. 175f., S. 176. Ebd. Beitrag von Stefan Heym zu: Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin. In: ndl 38 (1990) 3; S. 173-177; S. 176f., S. 177.
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anderes Mittel als unsere Worte. Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung. Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns! […] Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, daß er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hierbleiben wollen, Vertrauen.80
Nach wie vor hält man also am Sozialismus fest. Am 20. November 1989 schreibt Christoph Hein an Michael Naumann beim Rowohlt-Verlag: Ich denke, die Intellektuellen haben in den vergangenen Jahren einen kleinen Beitrag geleistet, um zu diesen Veränderungen zu gelangen. Und ich denke, derzeit ist praktische Arbeit wichtiger als die Abgabe von Erklärungen. Ich jedenfalls bin durch verschiedene „beruftsfremde“ Arbeiten verhindert, für Ihren Band einen Aufsatz zu schreiben. (Meine Tätigkeit z.B. in der Untersuchungskommission, die die Vorgänge und Hintergründe der Übergriffe staatlicher Sicherheitskräfte zwischen dem 7. und 9. Oktober aufhellen will, wird – hoffe ich – für diese neue Republik mehr leisten als Resolutionen oder Absichtserklärungen.) Wir haben ein sehr gewagtes Experiment in unserem Land vor: Wir versuchen seit ein paar Wochen, hier eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Die könnte dann für die vom Westen derzeit gewünschte Wiedervereinigung eine brauchbare und zukunftsweisende Grundlage abgeben. Es gibt eine Chance für unsere Hoffnung, allerdings ist es die erste und gleichzeitig die letzte. Wenn wir scheitern, frißt uns McDonald.81
Am 23. November 1989 nimmt der Bezirksverband der Berliner Schriftsteller endlich auch die im Juni 1979 erfolgten Ausschlüsse zurück und rehabilitiert die betroffenen Mitglieder.82 Der Aufruf Für unser Land vom 26. November 1989, dessen Endfassung Christa Wolf überarbeitete, wird am 28. November von Stefan Heym im Internationalen Pressezentrum verlesen und erscheint am 29. November – hier tritt die Überschrift hinzu – auf Seite zwei des Neuen Deutschland83, kurz darauf auch in der Wochenpost.84 Kern des Aufrufes ist die Forderung nach einer weiterhin
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Appell Christa Wolfs an DDR-Bürger: Fassen Sie Vertrauen! Erklärung von Künstlern und Vertretern von fünf Bürgerinitiativen im DDR-Fernsehen. In: ND v. 9.11.1989. Christoph Hein: Brief an den Rowohlt-Verlag, Reinbek. In: C.H.: Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden 1987-1990. Frankfurt a.M. 1990; S. 210, S. 210. Vgl. Beschluß des Bezirksverbandes der Berliner Schriftsteller (23.11.1989). In: ndl 38 (1990) 3, S. 191. Für unser Land. In: ND v. 29.11.1989. Für unser Land. In: Wochenpost v. 8.12.1989.
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eigenständigen DDR bei gleichzeitiger Warnung vor einem „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“85: Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die verschiedenen Möglichkeiten Einfluß zu nehmen, die sich als Auswege aus der Krise anbieten.
Entweder können wir auf die Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.
Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird. Laßt uns den ersten Weg gehen. N o c h haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. N o c h können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.86
Doch zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller weigern sich zu unterschreiben. Günter de Bruyn begründet diesen Schritt für seine Person „by indicating that writers must give up their role as spokesmen for the people because newspapers and parliament could now tackle taboo themes.“87 Christoph Hein und Ulrich Plenzdorf argumentieren ähnlich. Plenzdorf nimmt zudem Anstoß an der Vokabel „sozialistisch“. Seine Vokabeln seien „umweltfreundlich, antifaschistisch, demokratisch, sozial und gerecht“.88 85 86
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88
Für unser Land. In: ND v. 29.11.1989. Ebd.; Hervorhebungen im Original; „Entweder“ / „Oder“ im Druck einander gegenübergestellt; vgl. zu dem Appell auch: Arno Widmann: Unter Linden. Unfreundliche Bemerkungen zum Aufruf „Für unser Land“, den DDR-Autoren im November 1989 lancierten. In: taz v. 7.4.1990. Hartmut Steinecke: From two german literatures to one literature? Reflections on German Unity and certain literary developments from 1976 to 1990. In: London German Studies 14 (1993) 5; S. 187-203, S. 201. Anton Krättli: Schwierigkeiten mit der „Wende“. Die Schriftsteller in der DDR. In: Schweizer Monatshefte 70 (1990); S. 26-29, S. 27; im Original kursiv.
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Kritisiert wird der Aufruf außerdem von Manfred Bierwisch89, aber auch von Seiten vieler Bürgerinnen und Bürger.90 Die meisten von ihnen reiben sich an der Tatsache, dass der Sozialismus als Ziel festgelegt und damit ein fester Weg vorgegeben werde.91 Ad absurdum geführt wird der Aufruf aber durch die Unterschrift von Egon Krenz, der in einem Artikel im Neuen Deutschland Beifall spendet.92 Zudem richtet der Appell sich im Grunde genommen nur noch an eine vergleichsweise kleine Gruppe von Intellektuellen – die Mehrheit stimmt längst ‚mit den Füßen‘ ab. Reinhard Andress (1991) gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken: Außerdem war dieser Aufruf unter den damaligen emotionalen Umständen einfach fehl am Platz; denn er fiel in die Zeit, wo das wahre Ausmaß der desolaten Wirtschaftssituation, der Umweltzerstörung und des Amtsmißbrauchs aufgedeckt wurde, und auch in die Zeit, wo das Nachholbedürfnis der Bevölkerung seinen Höhepunkt im zum erstenmal möglichen Zugang zu den Konsummöglichkeiten des Westens erreichte.93
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Vgl. Manfred Bierwisch: Ausgrenzung ist nicht akzeptabel. Noch einmal zum Aufruf „Für unser Land“. In: BZ v. 4.1.1990 (Standpunkt). Vgl. etwa den unter der Überschrift „Haben nur ein Leben“ veröffentlichten Leserbrief von Frank Schmidt aus Döbeln in der LVZ v. 16. / 17.12.1989. Vgl. dazu: II. Der Aufruf „Für unser Land“. In: Gerhart Maier: Die Wende in der DDR. Zweite, aktualisierte Auflage. Bonn 1991 (Bundeszentrale für politische Bildung; Kontrovers), S. 53-56. Egon Krenz an Initiatoren des Appells: Meine Unterschrift unter den Aufruf „Für unser Land“. In: ND v. 30.11.1989. Die Rolle von Egon Krenz ist überhaupt schwierig. Noch am 1. November 1989 hatte er sich an die Berliner Schriftsteller in Reaktion auf deren Erklärung vom 14. September 1989 gewandt (vgl. Erklärung – beschlossen auf der Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR (14.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1, S. 145). Das neue Staatsoberhaupt hing offenbar einem bereits lange vor der ‚Wende‘ über weite Strecken überholten Schriftsteller-Bild nach, demzufolge Autoren im Sinne des Staates ohne weiteres funktionalisiert werden könnten: „Die eingeleitete Wende, die es durch konkrete Taten weiter zu untermauern gilt, braucht auch fürderhin und jetzt erst recht das Wort der Autoren unseres Landes. Die notwendige Erneuerung unserer Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie von den breitesten Schichten des Volkes getragen wird. Das diesem Ziel dienende umfassende, offene Gespräch muß fester Bestandteil unserer politischen Kultur werden. Dabei werden Wort und Tat auch der Schriftsteller gebraucht, damit wir gemeinsam der Verantwortung gegenüber unserem Volk für ein sinnerfülltes Leben in Frieden und in einem stetig attraktiver werdenden Sozialismus gerecht werden. Ich möchte die Hoffnung ausdrücken, daß Ihr unserer Politik der Wende Eure ganze Unterstützung angedeihen laßt.“ (Die Wende benötigt das Wort der Autoren. Brief von Egon Krenz an Berliner Schriftsteller. In: BZ v. 1.11.1989). Reinhard Andress: DDR-Schriftsteller und die Herbst-Ereignisse 1989 in der DDR. In: Schatzkammer der deutschen Sprachlehre, Dichtung und Geschichte 17 (1991) 1; S. 26-45, S. 35.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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5.1.1.4 Die Illusion von der Realisierbarkeit eines demokratischen Sozialismus nach der ‚Wende‘ Die größte Illusion vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller dürfte die Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus gewesen sein, für den man im Zuge der ‚Wende‘ eintrat. So bekennt Christa Wolf Ende Oktober 1989 im DDR-Fernsehen: Ich setze schon immer, und bleibe auch dabei, auf die Alternative Sozialismus, wobei diese Alternative natürlich, und das wird eine ganze Zeit dauern, neu zu definieren ist. Es kann sogar sein, daß in unserem Land, das ein ziemlich großes Potential von nicht nur klugen, sondern auch gut ausgebildeten Leuten hat, wie sich jetzt zeigt, die zur Überraschung vieler bereit sind, sich neu zu engagieren, daß da vielleicht eine Alternative entwickelt werden könnte. Ich meine das in einem ganz bescheidenen Sinn. Aber ich sehe eigentlich nicht, was dem wirklich entgegenstehen sollte, wenn die bis jetzt noch sehr harten destruktiven Strukturen umgeändert sind.94
Im Februar 1990 erkennt sie allerdings eklatante Irrtümer und Fehleinschätzungen: zum Beispiel die, daß das neue, im Widerstand entwickelte Selbstbewußtsein der DDR-Bürger in Zukunft dem einschüchternden Selbstbewußtsein vieler Bundesbürger standhalten könnte; da hatte ich vorschnell von den Menschen, die ich kannte und in jenen Wochen in großer Zahl neu kennenlernte, auf alle anderen geschlossen, und ich hatte auch die Breite der bewußten Widerstandsbewegung überschätzt. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, was eigentlich vor und nach der sogenannten Wende vielen Bürgern in der DDR das Selbstwertgefühl, ihren Stolz, ihre Würde reduziert oder genommen hat. „Wir sind das Volk“ – ein kurzer geschichtlicher Augenblick, in dem das Volk, seiner Identität anscheinend gewiß, Souverän und Subjekt seiner eigenen Geschichte war. „Wir sind ein Volk!“ – wäre das wirklich die Steigerungsform?95
Auf dem Außerordentlichen Kongress des Schriftstellerverbandes der DDR erklärt Wolf am 3. März 1990, dass eine der Aufgaben der Schriftsteller darin bestehe, „der Restauration, die vorrückt, für unser Teil zu widerstehen.“96 Christoph Hein erklärt am 4. Dezember 1989 im Vorwort zu Gustav Justs Memoiren Zeuge in eigener Sache (1990):
94 95 96
[Interview mit Alfried Nehring]: Leben oder gelebt werden. Christa Wolf im Gespräch mit Alfried Nehring. In: Film und Fernsehen 18 (1990) 2; S. 14-20, S. 20. Dies.: Nachtrag zu einem Herbst. In: C.W.: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 7-17, S. 10; Hervorhebung im Original. Dies.: Heine, die Zensur und wir. Rede auf dem Außerordentlichen Schriftstellerkongreß der DDR. In: Ebd.; S. 163-168, S. 168.
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Verzagen wir nicht! Vier Jahrzehnte gab es Gründe genug zum Verzagen. Verzweifeln wir nicht angesichts des Sumpfes! Geben wir uns nicht auf! Denn daß dieser Sumpf sichtbar wurde, ist ein Zeichen unseres Erfolges. Endlich haben wir eine Chance. Wir haben sie erst jetzt. Und wir sollten sie – da wir sie endlich erkämpft haben – für uns nutzen und sie nicht vertun. Diese Chance ist nach dreizehn Jahren Faschismus und vierzig Jahren Stalinismus sehr klein. Aber sie ist vorhanden. Sie ist erst jetzt vorhanden. Wir sollten noch heute unser Bäumchen pflanzen.97
Und einen Monat später äußert er in einem Gespräch mit dem Spiegel: Die Intellektuellen haben, ein bißchen, ihre Arbeit schon getan. Ein bißchen, sage ich; sie haben zuwenig getan. Intellektuelle sind bedauerlicherweise nicht immer die mutigsten Leute. Die Kirche allerdings hat sich erstaunlich entwickelt. Sie hat sich verantwortlicher, handlungsfähiger als andere Kräfte im Staat erwiesen – und zwar auch für eine sozialistische Gesellschaft.98
Doch nach den Volkskammerwahlen im März 1990 äußert schließlich auch er auf die Frage „Welche politische Prognose stellen Sie der DDR?“: Die Selbständigkeit der DDR ist hier verludert und vertan worden – und nicht durch die Schuld Westdeutschlands. Dieses marode System hier hat keine Chance, aufrecht und mit Würde eine Vereinigung herbeizuführen. Es wird deshalb auch kein Agreement geben, sondern eine Übernahme durch die BRD.99
Stefan Heym geht im Oktober 1989 auf die Möglichkeiten ein, „den Versuch unter neuen, demokratischen Bedingungen noch einmal zu unternehmen.“100 Er stellt fest: Und die Gegner höhnen, Marx ist tot; und weisen, mit Recht übrigens, auf die Rückständigkeit und den Verfall im Land und die geistige Öde, den Schmutz in den Städten und Flüssen, den Mangel, außer an Schnaps, an so gut wie allem, was das Leben bunt und vergnüglich macht, und auf die tagtäglichen Rechtswidrigkeiten, die Vettern- und Privilegienwirtschaft und die Willkür der Mächtigen, mit welcher diese den Leuten vorschreiben, was sie zu tun und zu denken haben und wohin sie sich bewegen dürfen und wann. […] 97
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99 100
Christoph Hein: „… und andere“ (Für Gustav Just). In: Gustav Just: Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre. Mit einem Geleitwort von Christoph Hein. Berlin (DDR) 1990; S. 5-11, S. 10f. [Interview mit Ulrich Schwarz und Hartmut Palmer]: „Die DDR ist nicht China“. SPIEGEL-Gespräch mit dem DDR-Schriftsteller Christoph Hein. In: Der Spiegel 43 (1989) 43 v. 23.10.1989; S. 29-31, S. 31. [Interview mit Sigrid Löffler]: Die Idee des europäischen Hauses ist gestorben. In: profil (Wien) v. 11. / 12.3.1990. Stefan Heym: Ist die DDR noch zu retten? Ein Schriftsteller und sein Staat. Aus dem real existierenden muß ein wirklicher Sozialismus werden. In: Die Zeit v. 13.10.1989.
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In Wahrheit aber ist nicht Marx tot, sondern Stalin, und fehlgeschlagen ist nicht der Sozialismus, sondern nur dieser besondere, real existierende; der andere, bessere, in dessen Namen so viele tapfere Menschen ihre Ideen gaben und ihr Blut, steht noch aus. Und der Gedanke liegt nahe, jetzt, da sich der Wandel anbahnt im Umfeld der Republik, dem wirklichen Sozialismus, in dem die Menschen Brüder werden und Hand in Hand, in Freiheit und Gerechtigkeit, ihr Leben gestalten, auch hier zum Durchbruch zu verhelfen und dem Staate DDR einen neuen Inhalt zu geben.101
Ähnlich stellt er die Situation auch in seiner Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 dar (vgl. 5.1.1.3). Noch im Dezember glaubt er zu erkennen: „[…] eine Hoffnung ist da, gegen alle Wahrscheinlichkeit […].“102 Er begründet seine Sicht mit der Feststellung: […] zwei kapitalistische deutsche Staaten sind nicht vonnöten. Die Raison d’être der Deutschen Demokratischen Republik ist der Sozialismus, ganz gleich in welcher Form, ist, eine Alternative zu bieten zu dem Freibeuterstaat mit dem harmlosen Namen Bundesrepublik.103
Später appelliert er an die Menschen in der DDR: „Sie alle – achten Sie darauf – wo und wie Sie manipuliert werden.“104 Am 18. März, dem Tag der Volkskammerwahlen, äußert aber auch er resigniert: „Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte.“105 Der 18. März bzw. die Wahlergebnisse bedeuten damit das Ende aller Hoffnungen, nicht nur auf einen reformierten Sozialismus, sondern auf ein Weiterbestehen der DDR überhaupt. Die Eigenstaatlichkeit der DDR wurde zunächst keineswegs in Frage gestellt.106 In der Einleitung zu dem noch im Dezember 1989 erschienenen Band Aufbruch in eine andere DDR betont der Herausgeber Hubertus Knabe: 101 102 103 104
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Ebd.; Hervorhebung im Original. Stefan Heym: Aschermittwoch in der DDR. In: Der Spiegel 43 (1989) 49 v. 4.12.1989 (Spiegel-Essay); S. 55-58, S. 58. Ebd. Zit. nach Karin Freitag: Denken ist gefragt und nicht zuletzt Zivilcourage. DEUTSCH in einem anderen LAND – Abend mit Stefan Heym in der Freien Volksbühne. In: ND v. 12. / 13.1.1991. Stefan Heym am 18.3.1990; zit. nach Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 121; im Original kursiv. Vgl. u.a. Wolfgang Herzberg: Rede auf der Versammlung des Bezirksverbandes Berlin (14.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1; S. 153-160, v.a. S. 158-160; Brief des Bezirksverbandes Potsdam an das Präsidium der Volkskammer der DDR (10.10.1989). In: ndl 38 (1990) 1; S. 172-174; Podiumsdiskussion „DDR – wie ich sie träume“ im Berliner Haus der Jungen Talente (24.10.1989). In: ndl 38 (1990) 2; S. 156-160; „Wider den Schlaf der Vernunft“ – Gemeinschaftsaktion Berliner Künstler in der Erlöserkirche (28.10.1989). In: ndl 38 (1990) 2; S. 164-189.
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Auffällig ist, daß die meisten der hier versammelten Beiträge in einem Punkt weitgehend Übereinstimmung zeigen: Die DDR soll entgegen den Wünschen manches Bonner Politikers nicht von der Landkarte verschwinden und sie sollte eine sozialistisch inspirierte Alternative zur Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik bilden. Daraus folgt ein stark empfundenes Verwantwortungsbewußtsein für eine stabile DDR, das selbst vor unpopulärer Kritik wie der an der überstürzten Öffnung der Grenzen nicht zurückschreckt. Anders als in den anderen Warschauer-Pakt-Staaten ist bei vielen DDR-Oppositionellen die antikapitalistische, linke Orientierung so stark, daß man sich manchmal wundert, warum die SED diese so hartnäckig bekämpft hat. Nimmt man diese Gemeinsamkeit zum Ausgangspunkt, dürften die Chancen für einen „runden Tisch“ zwischen einer erneuerten Führung und einer institutionalisierten Opposition, mit dem Ziel, eine konsensfähige, zukunftsweisende Politik für die DDR zu formulieren, gar nicht so schlecht stehen.107
Auch in dem 1990 erschienenen Sammelband Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas108 sprach sich niemand unter den Beiträgerinnen und Beiträger für eine Vereinigung aus. Der häufig geäußerte Vorwurf, es habe keine konkreten Vorschläge zur Realisierung eines ‚dritten Weges‘ gegeben, ist freilich nicht haltbar. Dokumentiert sind in diesem Zusammenhang wichtige Beiträge beispielsweise in der 1989 / 90 erschienen Anthologie Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft109 sowie in der von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg herausgegebenen Anthologie Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Der 1990 als Gemeinschaftsausgabe der Verlage Reclam (Leipzig) und Luchterhand (Frankfurt a.M.) erschienene Band versammelt Texte von Autorinnen und Autoren aus Ost und West, die in erster Linie aus den Reihen der Politik und der Wissenschaft kommen. Frank Blohm thematisiert in der Einleitung den bei Erscheinen des Buches bereits nicht mehr zu realisierenden ‚dritten Weg‘: Wer wollte, durfte hoffen: auf eine DDR, die sich befreit von 40 Jahren pseudosozialistischem Parteifeudalismus und menschenverachtender Staatssicherheit, von Staatlichkeitswahn und der Herrschaft einiger weniger alter Männer. Hoffen auf
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Hubertus Knabe: Die deutsche Oktoberrevolution. In: H.K. (Hg.): Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes. Reinbek 1989 (rororo aktuell); S. 9-20, S. 19. Vgl. Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Hrsg. von Françoise Barthélemy und Lutz Winckler. Frankfurt a.M. 1990, S. 9f. Vgl. André Brie / Michael Brie / Wilfried Ette: Diskussionsmaterial zu einer Konzeption des modernen Sozialismus vom 8.10.89. In: Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Berlin 1990 / 1989 [sic] (Temperamente 1), S. 106-115.
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eine DDR, in der die verstaatlichten Produktionsmittel wirklich in Volkes Hände gelangen: genossenschaftlich organisiert oder im Aktienbesitz der Belegschaft, was nicht nur Mitbesitz, sondern auch Mitverantwortung bedeuten würde. Gehofft werden durfte auf eine DDR, bei der Demokratie nicht am Arbeitsplatz aufhört, bei der Pressefreiheit nicht die Freiheit einiger weniger Medienkonzerne ist, die Bevölkerung Tag und Nacht mit entpolitisierender Unterhaltung zu narkotisieren; bei der das Recht auf Eigentum nicht das Recht von Spekulanten meint, sich legal, aber in verbrecherischer Weise Grundbesitz anzueignen. Zu hoffen war auf eine Gesellschaft, die nicht systematisch Verantwortungslosigkeit produziert, die Freude an der Arbeit nicht abwürgt, die aber andererseits nicht das Konkurrenzprinzip um jeden Preis einführt und Menschen zu einer Ware macht; im Bereich des Möglichen schien eine Gesellschaft, in der Solidarität mit den Schwachen nicht zu einem Schlagwort gerinnt, in der nicht Millionen von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Drogenabhängigen und psychisch Kranken achselzuckend in Kauf genommen werden. Konkrete Utopie war angesagt, eine Mehrheit schien für diese Alternative gewinnbar – unerläßliche Vorbedingung jeder neuen Gesellschaft. Das „Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch, den die Stalinisten aus der DDR getrieben hatten, war vom Leben rehabilitiert worden, wie es Hans Mayer sinngemäß formulierte. Und so hieß der Arbeitstitel für das vorliegende Buch: „Hoffnung DDR“.110
Exkurs II: Geistliche Texte zu ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ Die wohl klarsten in der Öffentlichkeit ausgesprochenen Worte im Herbst 1989 stammen von – in der Regel protestantischen – Geistlichen. Predigt-, Andachts- und Gebetstexte mit deutlichem Zeitbezug wurden allerdings selten gesammelt und veröffentlicht. Ausnahmen bilden der Band Räumt die Steine hinweg, erschienen noch Ende 1989111 und die Anthologie Dona nobis pacem112 aus dem Folgejahr. Wie emotional und politisch die Predigten zur Zeit der ‚Wende‘ geprägt waren und wie streitbar die Pfarrer waren und sind, die diese Texte verfassten, sei kurz an Friedrich Schorlemmers Predigt zum Reformationstag 1989 in der Wittenberger Schlosskirche gezeigt. Schorlemmer (*1944) war 110
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Frank Blohm: Einleitung. In: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Hrsg. von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg. Leipzig 1990; S. 7-17, S. 7f; Hervorhebung im Original. Siehe in diesem Band v.a. den Beitrag von Ernest Mandel (*1923): Unter welchen Bedingungen die DDR tatsächlich zu einer neuen Hoffnung werden kann (S. 150-163). Räumt die Steine hinweg. DDR Herbst 1989. Geistliche Reden im politischen Aufbruch. Mit einem Geleitwort von Heinrich Albertz. Hrsg. v. Andreas Ebert, Johanna Haberer und Friedrich Kraft. München 1989 (Sonntagsblatt-Taschenbuch). Dona nobis pacem. Herbst ’89 in Leipzig. Friedensgebete, Predigten und Fürbitten. Hrsg. von Günter Hanisch, Gottfried Hänisch, Friedrich Magirius und Johannes Richter. 2. korrigierte Auflage. Berlin 1996 [zuerst Berlin (DDR) 1990].
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damals Dozent am Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg. Mit Bezug auf Jesaja 62, 6-12 erklärt er: Nicht mehr sollen die Fremden, ja unsere Feinde das bekommen. An die soll nicht verschleudert werden, was hier erarbeitet wurde. Also nicht mehr die Schweine zu Dumpingpreisen in den Westen, und die Gülle bleibt bei uns. Nicht mehr Blumen, Gemüse und Pfirsiche aus den Gewächshäusern und Plantagen rund um die Stadt in die übersättigte Stadt West-Berlin. Nicht mehr das Beste ins Töpfchen des Westens und das Schlechtere in das Kröpfchen des Ostens. Keine Privilegien mehr, keine japanischen Keller für die neuen „Könige“, aber auch keine westlich-fürstlichen Häuser für Bischöfe auf Hiddensee. Keine Jagdreviere mehr für die hohen Herren, die doch ganz die Diener des Volkes sein wollen und – ich darf es sagen, da es im Text um Wein ging – keinen Freyburger Wein mehr für die „Imperialisten“ in den Devisenhotels, sondern in unseren Läden. […] Wir wollen uns auch nicht auf morgen vertrösten lassen, sondern die Früchte unserer Arbeit und dieses schönen Landes und dieses reichen Landes und dieses fruchtbaren Landes jetzt ernten können.113
Schorlemmer vertritt – und das mag in diesem Kontext sinnvoll und gerechtfertigt sein – bedingt die Diktion der Machthaber, selbst wenn er das Wort „Imperialisten“ in Anführungszeichen setzt. Seine Predigt stellt das System nicht in Frage, spricht Missstände aber unmittelbar an. Gottfried Keller, Pfarrer ebenfalls in Wittenberg, heftet am selben Tag seine Sieben Thesen zum Dialog an die Tür des Wittenberger Rathauses: 1. Im Dialog wird der Gegner nicht als Feind, sondern als andersdenkender Partner angenommen. 2. Im Dialog wird keine Machtfrage entschieden, sondern die Beziehungen der Dialogpartner werden neu geklärt. 3. Ziel des Dialogs ist nicht, seine Meinung zum Sieg zu bringen, sondern zu einer gemeinsam akzeptierten neuen Lösung zu kommen, bei der es weder Sieger noch Verlierer gibt. 4. Dialog ist der Verzicht auf Gewaltanwendung, der Verzicht auf Warnungen, Drohungen und Abschreckungen, um so die Menschenwürde des anderen zu bewahren. 5. Dialog ermöglicht, Schwächen, Fehler, Versagen und Schuld einzugestehen, ohne die eigene Menschenwürde zu verlieren. 6. Im Dialog werden eigene und gesellschaftliche Tabu-Grenzen überschritten, die bisher anderen angelastet und bei ihnen bekämpft wurden, um sie in die eigene Verantwortung hineinzunehmen. 113
Friedrich Schorlemmer: Laßt euch aufrichten. Predigt in der Schloßkirche der Lutherstadt Wittenberg zum Reformationstag am 31. Oktober. In: Räumt die Steine hinweg. DDR Herbst 1989. Geistliche Reden im politischen Aufbruch. Mit einem Geleitwort von Heinrich Albertz. Hrsg. v. Andreas Ebert, Johanna Haberer und Friedrich Kraft. München 1989 (Sonntagsblatt-Taschenbuch); S. 35-40, S. 38.
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7. Dialog führt zu größerer Ganzheit im persönlichen und gesellschaftlichen Leben, hilft, widersprüchliche Impulse zu integrieren und ihre Potenzen für die Weiterentwicklung zu gewinnen.114
Kellers Thesen schließen in formaler Hinsicht an die Lutherschen an. Dabei stellt der Pfarrer eines der Schlagworte der ‚Wende‘ in den Vordergrund: „Dialog“. Oberflächlich betrachtet sind die Thesen allerdings nicht sonderlich kritisch, weil sie sich auf allgemeiner Ebene bewegen und zunächst keinen unmittelbaren Zeitbezug erkennen lassen. Sieht man jedoch genauer hin, ändert sich dies schnell. Der prominenteste Geistliche des Herbstes ’89 dürfte Christian Führer sein, Pfarrer an der Leipziger Stadtkirche St. Nikolai. Rückblickend schreibt er: Wir werden immer wieder gefragt, warum die Erneuerung in Leipzig begann, warum es nicht auf der Straße, sondern in der Kirche begann. Ich habe dafür die Antwort hier gefunden; die Menschen hatten von sich aus nicht die Kraft, sie hatten zu lange resigniert am Boden gehockt, um sich selbst zu erheben. Es reichte allenfalls zur Flucht. Das ewige Licht, das Licht des Evangeliums mußte erst ihre Herzen und Sinne erreichen, daß sie wieder innere Kraft bekamen, daß sie diese sinnlose, namenlose Angst verloren, daß sie die hingeworfenen Körner kleiner Vergünstigungen erkannten als das, was sie waren: armselige Almosen. Und es erwuchs zu unser aller Erstaunen die Kraft.115
Anfang 1990, spätestens jedoch mit der Vereinigung, tritt der Stellenwert der Predigttexte zurück, denn ihre Bedeutung liegt nicht zuletzt in der Verknüpfung mit den Protestkundgebungen und Massenbewegungen. Heute besitzen die Texte in erster Linie dokumentarischen Charakter. An ihre Stelle traten andere von kirchlichen Funktionsträgern verfasste Texte, die ebenfalls nur selten publiziert wurden: Texte, in denen die Schwierigkeiten des Einigungsprozesses angesprochen werden. Neben den zahlreichen Büchern von Friedrich Schorlemmer (vgl. v.a. die in der Bibliografie unter 1.7 aufgeführten Titel) gehört Hans Zinnows (*1937) Eine Wende für uns. Hoffnungstexte für ein neues Land116 zu den wenigen Vertretern dieses Genres. Zinnow ist seit 1990 als Referent für missionarische Verkündigung in der Arbeitsgemeinschaft Missionarische 114
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Gottfried Keller: Sieben Thesen zum Dialog. An die Wittenberger Rathaustür geheftet vor etwa 15000 Bürgern am Reformationsgedenktag, 31. Oktober. In: Ebd.; S. 41f., S. 41f. Christian Führer: Kraft den Müden. Ansprache während der Friedensdekade in der St.Nikolai-Kirche Leipzig beim „Abend für den Frieden“ am 17. November. In: Ebd.; S. 76-81, S. 80. Hans Zinnow: Eine Wende für uns. Hoffnungstexte für ein neues Land. NeukirchenVluyn 1992.
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Dienste (AMD) tätig und war zuvor langjähriger Leiter des Missionarischdiakonischen Gemeindedienstes in Berlin-Brandenburg. Seine Texte greifen jeweils einen oder mehrere Aspekte der Vereinigung auf – beispielsweise die Währungsunion oder die häufig erhobene Frage nach den angeblich ‚verlorenen Jahren‘ der DDR-Zeit. Zinnow verbindet so die unmittelbare Gegenwart mit den Worten der Bibel. Während im Osten der Höhepunkt des politischen Engagements von Geistlichen in der unmittelbaren Zeit der ‚Wende‘ liegt, analysierte und kommentierte man im Westen seitens der Kirchen vor allem den Einigungsprozess. Peter Beier, der damalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, geht bei weitem nicht nur kirchlichen Fragestellungen nach. Im Vorwort zu seiner „Streitschrift“ Am Morgen der Freiheit (1995) stellt er fest: Längst nämlich wuchs nicht zusammen, was zusammengehört, und längst sind die Gründe für mißglückte Wendemanöver – bei aller Freude über Gelungenes und Erreichtes – nicht am Tage. Der Westen unseres Landes unterschätzt den Osten, der Osten überschätzt den Westen. Wir können nicht sagen, daß wir uns kennen. Die während und nach der Wende aufgebrochenen Wunden heilen schwer. Und sicher nicht von selbst. Mein Beitrag als Beitrag eines Grenzgängers aus Leidenschaft will innerkirchlich und womöglich öffentlich um Verständnis werben für das Notwendige: die vorsichtige und fürsorgliche Annäherung von Vorurteilen, um sie zum Verschwinden zu bringen. Dieser wichtige Dienst der Kirche ist noch zu leisten. Auch gilt wohl: Nur wo um Mittel und Wege gestritten wird, läßt sich der gemeinsame Weg finden. Frei heraus sage ich, daß ich auch in diesem Essay nach der Devise verfahre: Im Zweifel immer für den Osten. Die Menschen haben genug für eine Zeche bezahlt, die wir alle machten. Vor mehr als fünfzig Jahren.117
5.1.2 Die Antipoden Grass und Walser Diejenigen Germanisten, die die These vertreten, dass die Intellektuellen keineswegs geschwiegen hätten, stellen vor allem Günter Grass und Martin Walser als Antipoden heraus. Hans Kügler (1992) unterscheidet folgende Positionen und bringt diese mit den entsprechenden Vertretern bzw. der entsprechenden Vertreterin in Verbindung: 1. „Die Einheit als ‚gelingende deutsche Geschichte‘ (M. Walser)“ 2. „ ‚Häßlich sieht diese Einheit aus‘ (G. Grass). Die deutsche Einheit als ‚Spottgeburt‘ (G. Grass)“ 117
Peter Beier: Vorwort zu: P.B.: Am Morgen der Freiheit. Eine Streitschrift. NeukirchenVluyn 1995, S. 7f.
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3. „Die Zurücknahme. ‚Schon wahr: Die da mitgegangen sind, haben Geschichte gemacht. Doch deutsche Geschichte geht anders, ich hatte es fast vergessen.‘ (Chr. Wolf)“.118 In der Tat können Grass und Walser als Vertreter der jeweiligen Extremposition angesehen werden. Deshalb seien die wesentlichen Thesen beider Schriftsteller etwas ausführlicher dargestellt. Die gewählte Vorgehensweise darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbstverständlich eine Vielzahl von Auffassungen existiert, die zwischen diesen Extremen liegen. 5.1.2.1 „Das Monstrum will Großmacht sein“ – Günter Grass Der häufig vorgenommene Vergleich zwischen Grass und Walser lässt sich bis in die sechziger Jahre zurückverfolgen, wie Helmut Peitsch (1993) ebenso ausführlich wie überzeugend darstellt.119 Dabei kann er nachweisen, dass „sich der Stellenwert der ‚deutschen Frage‘ in den Jahrzehnten zwischen Mauerbau und Maueröffnung“ in den publizistischen Schriften beider Autoren „erheblich“ veränderte; „beide haben zugleich wesentlich zur Veränderung des Feldes beigetragen, auf dem über das Verhältnis der BRD zu ihrem ‚real-sozialistischen‘ Nachbarland geredet wurde.“120 Günter Grass, der sich selbst immer wieder als Gegner der staatlichen Einheit bezeichnet, sieht in der Vereinigung nahezu ausschließlich negative Aspekte. Als staatsübergreifende Klammer war für ihn stets das Konzept der ‚Kulturnation‘ leitend. Nach eigener Aussage hatte er den „Begriff der Kulturnation zum erstenmal“ in den Kopfgeburten (1980) „vorformuliert.“121 Darin heißt es: Im Reisegepäck hatte ich ein anderes Thema. Auf vierzehn Seiten Manuskript ausgebreitet, lag es obendrein in englischer Fassung bereit: „Die beiden deutschen Literaturen“ – oder wie der Untertitel hätte heißen können: „Deutschland – ein literarischer Begriff“. Denn meine These, die ich in Peking, Shanghai und andernorts vortragen wollte, sagt: Als etwas Gesamtdeutsches läßt sich in beiden deutschen
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Hans Kügler: Positionen – Schriftsteller zur deutschen Einheit (1989-1990). Über die Verarbeitung negativer politischer Erfahrungen. In: Kultureller Wandel und die Germanistik der Bundesrepublik. Hrsg. von Georg Behütuns und Jürgen Wolff. Stuttgart 1992; S. 194-216, S. 197ff., 202ff., 207ff. Vgl. Helmut Peitsch: ‚Antipoden‘ im ‚Gewissen der Nation‘? Günter Grass’ und Martin Walsers ‚deutsche Fragen‘. In: Dichter und ihre Nation. Hrsg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a.M. 1993, S. 459-489. Ebd., S. 460. [Interview mit Bernd Kühnl und Willi Winkler]: Viel Gefühl, wenig Bewußtsein. Der Schriftsteller Günter Graß [sic] über eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands. In: Der Spiegel 43 (1989) 47 v. 20.11.1989; S. 75-80, S. 80.
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Staaten nur noch die Literatur nachweisen; sie hält sich nicht an die Grenze, so hemmend besonders ihr die Grenze gezogen wurde. Die Deutschen wollen oder dürfen das nicht wissen. Da sie politisch, ideologisch, wirtschaftlich und militärisch mehr gegen- als nebeneinander leben, gelingt es ihnen wieder einmal nicht, sich ohne Krampf als Nation zu begreifen: als zwei Staaten einer Nation. Weil sich die beiden Staaten einzig materialistisch hier ausleben, dort definieren, ist ihnen die andere Möglichkeit, Kulturnation zu sein, versperrt.122
Später stellt er im selben Werk fest: Einzig die Literatur (und ihr Unterfutter: Geschichte, Mythen, Schuld und andere Rückstände) überwölbt die beiden sich grämlich abgrenzenden Staaten. Laßt sie gegeneinander bestehen – sie können nicht anders –, doch zwingt ihnen, damit wir nicht weiterhin blöde im Regen stehen, dieses gemeinsame Dach, unsere nicht teilbare Kultur auf.123
So heikel die hier von Grass vorgenommene Reduzierung des Kulturbegriffs auf die Literatur sein mag, in der damaligen Situation dürfte seine Auffassung eine realistische Einschätzung der Verhältnisse gewesen sein. Neben Jürgen Habermas, Christoph Hein, Walter Jens, Friedrich Schorlemmer und anderen war Grass Mitglied des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, das sich gegen einen Einheitsstaat und für eine Konföderation aussprach. Für die Vorzüge eines Konföderationsmodells plädiert er am 18. Dezember 1989 auf dem Berliner Parteitag der SPD und spricht sich für einen „Lastenausgleich“ der Bundesrepublik an die DDR aus.124 Vor einer „Vereinigung als Einverleibung der DDR“ warnt er; diese hätte Verluste zur Folge, die nicht auszugleichen wären: denn nichts bliebe den Bürgern des anderen, nunmehr verreinnahmten Staates von ihrer leidvollen, zum Schluß beispiellos erkämpften Identität; ihre Geschichte unterläge dem dumpfen Einheitsgebot.125
Seine Vorbehalte gegenüber einer Vereinigung von Bundesrepublik und DDR bzw. einem „Einheitsstaat“, der für ihn eine „Spottgeburt“126 wäre, begründet Grass vor allem mit Auschwitz. In der Kurzen Rede eines vaterlandslosen Gesellen führt er im Februar 1990 aus: 122 123 124 125 126
Günter Grass: Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Darmstadt / Neuwied 1980, S. 8. Ebd., S. 154. Ders.: Lastenausgleich: Fällig sofort und ohne Vorbedingungen. Plädoyer für politischen Gestaltungswillen auf dem SPD-Parteitag. In: FR v. 19.12.1989. Ebd. Ders.: Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen. In: Die Zeit v. 9.2.1990.
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Den deutschen Einheitsstaat hat es in wechselnder Größe nur knappe fünfundsiebzig Jahre lang gegeben: als Deutsches Reich unter preußischer Vorherrschaft; als von Anbeginn vom Scheitern bedrohte Weimarer Republik; schließlich, bis zur bedingungslosen Kapitulation, als Großdeutsches Reich. Uns sollte bewußt sein, unseren Nachbarn ist bewußt, wieviel Leid dieser Einheitsstaat verursacht, welch Ausmaß Unglück er anderen und uns gebracht hat. Das unter dem Begriff Auschwitz summierte und durch nichts zu relativierende Verbrechen Völkermord lastet auf diesem Einheitsstaat.127
Dieser war die früh geschaffene Voraussetzung für Auschwitz. Er wurde latentem, auch anderswo üblichem Antisemitismus zur Machtbasis. Der deutsche Einheitsstaat verhalf der nationalsozialistischen Rassenideologie zu einer entsetzlich tauglichen Grundlage. An dieser Erkenntnis führt nichts vorbei. Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die Deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken. Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus. Sollte er, was zu befürchten bleibt, dennoch ertrotzt werden, wird ihm das Scheitern vorgeschrieben sein.128
In seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung Schreiben nach Auschwitz, die er einige Tage später hält, greift er diesen Gedanken erneut auf: Auschwitz spreche „gegen ein Selbstbestimmungsrecht, das anderen Völkern ungeteilt zusteht […].“129 Später bekennt er: Nicht Preußen, nicht Bayern, selbst Österreich nicht, hätten, einzig aus sich heraus, die Methode und den Willen des organisierten Völkermordes entwickeln und vollstrecken können; das ganze Deutschland mußte es sein. […] Wir kommen an Auschwitz nicht vorbei.130
Im Mai 1990 – die Vereinigung zeichnet sich bereits ab – stellt er fest: „Geld muß die fehlende, übergreifende Idee ersetzen. Harte Währung soll mangelnden Geist wettmachen.“131 Er kritisiert: „Die bisherige Entwicklung im Prozeß deutscher Markterweiterung hat bewiesen, daß meine ärgsten Übertreibungen von der Wirklichkeit überboten worden sind. Ich erlaube 127 128 129
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Ebd. Ebd. Ders.: Schreiben nach Auschwitz. Nachdenken über Deutschland: ein Schriftsteller zieht Bilanz aus 35 Jahren. Die Frankfurter Poetik-Vorlesung [13.2.1990]. In: Die Zeit v. 23.2.1990. Ebd. Ders.: Was rede ich. Wer hört noch zu. Die deutsche Einigung hat sich auf Mark und Pfennig verkürzt, die Revolutionäre von Leipzig, Dresden und Berlin sind die Angeschmierten. In: Die Zeit v. 11.5.1990.
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mir, weiterhin schwarzzusehen.“132 Ende Juni 1990 – Grass erstattet Bericht aus Altdöbern – sieht er Artikel 23 GG als „Ermächtigungsgesetz“133 missbraucht. Würde die Einheit nach Artikel 23 und nicht wenigstens nach Artikel 146134 vollzogen, läge ein „Verfassungbruch“ vor: Denn Verfassungsbruch ist es, wenn der Artikel 146 mißachtet und nicht angewendet wird. Vorbeugend sollte jetzt schon die Verfassungsklage vorbereitet und gegebenenfalls eingereicht werden. Ich jedenfalls will keinem Deutschland meine Stimme geben, das auf Verfassungsbruch beruht.135
In seiner Rede Gegen den Haß, gehalten am 27. August 1990 in Oslo, formuliert er: Denn nicht eine Einigung findet statt, vielmehr erweitert der größere Teil Deutschlands seinen Markt. Der kleinere Teil jedoch, dessen Bewohner soeben noch froh waren, sich endlich frei von staatlicher Bevormundung begreifen zu dürfen, erfährt nun das Diktat profitorientierter Kolonialherren, die hier zugreifen, dort abwarten und erst dann zu investieren bereit sind, wenn ihnen die Konkursmasse DDR zum Schleuderpreis zugefallen sein wird; möglichst frei von Altlasten.136
Damit ist die DDR zum „Schnäppchen“ degradiert worden.137 In seiner Rede Ein Schnäppchen namens DDR, die er am 2. Oktober 1990 im Berliner Reichstag vor den damals gerade noch getrennten Fraktionen der Grünen und Bündnis 90 hält, stellt Grass fest, dass die Einheit sich vor allem als „Prozeß deutscher Markterweiterung“138 vollziehe. Zudem meint er: Häßlich sieht diese Einheit aus. Das ohnehin Ungeschlachte des Kanzlers aller Deutschen hat sich zur Überlebensgröße ausgewachsen und wirft seinen Schatten. Ihm ist es gelungen, der Teilung Deutschlands, wenngleich die Mauer gefallen ist, Bestand zu sichern. Die Einheit nach seinem Maß spaltet. Den ohnehin Verletzten kränkt sie, dem Schwachen zeigt sie Härte. Nicht nur um sich greifende Arbeitslosigkeit, auch die wachsende Erkenntnis, daß später, wenn für Billiglohn Arbeit wieder angeboten sein wird, die Besitzverhältnisse eindeutig zugunsten des westdeutschen Kapitals geregelt sein werden. Diese schon jetzt festgeklopfte Gewißheit
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Ebd. Ders.: Bericht aus Altdöbern. In: FR v. 30.6.1990. Art. 146 GG lautet(e): „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Günter Grass: Bericht aus Altdöbern. In: FR v. 30.6.1990. Ders.: Gegen den Haß. Osloer Rede. In: ndl 38 (1990) 11; S. 5-8, S. 6. Ders.: Ein Schnäppchen namens DDR. Warnung vor Deutschland: Das Monstrum will Großmacht sein. In: Die Zeit v. 5.10.1990. Ebd.
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legt Treibbeete an für sozialen Neid, der sich in der Regel zu Haß auswächst. Den wieder einmal Zukurzgekommenen, den abermals Angeschmierten, den ewigen Underdogs verspricht Haß in emotionalen Schüben immerhin Stärke. Schon haben sich die soeben noch zerstrittenen westdeutschen Rechtsradikalen mit den ostdeutschen vereinigt: Ihnen ist Konjunktur angesagt.139
Das vereinigte Deutschland sieht er als „Monstrum“, das „Großmacht sein“ wolle.140 In seiner Rede vom Verlust spricht er zwei Jahre später vom „nationalen Unglück der verpfuschten Einheit“.141
Exkurs III:
Günter Grass: Ein weites Feld (1995)
Die Auffassungen von Günter Grass zur deutschen Einheit finden auch Niederschlag in seinen fiktionalen Texten aus dieser Zeit: So äußert sich der Held in der langen Erzählung Unkenrufe (1992) beunruhigt angesichts der „Ballung von immerhin achtzig Millionen Menschen seiner strebsamen Staatsangehörigkeit […].“142 Und dem Gedichtzyklus Novemberland (1993) ist ein tiefer Pessimismus eingeschrieben; exemplarisch zitiert sei hier die letzte Strophe des dritten Gedichtes, Späte Sonnenblumen: Geschieden sind wie Mann und Frau nach kurzer Ehe Land und Leute. Karg war die Ernte, reich die Beute. Ach, Treuhand hat uns abgeschöpft. Wer bei Verdacht schon Sonnenblumen köpft, dem werden Zeugen fehlen, den erwischt die Meute.143
Entsprechend ablehnend war die Rezeption dieser Gedichte. Heinrich Detering (1993) etwa kritisierte in der FAZ: „Günter Grass, der auch als Lyriker einmal zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur gehört hat, ist mit seiner öffentlichen Selbstdemontage erstaunlich weit gekommen.“144 Den Höhepunkt ablehnender Kritik stellte jedoch der Roman Ein weites Feld (1995) dar. Das groß angelegte Werk wurde so stark beworben wie kaum ein belletristisches Werk zuvor in Deutschland: 139 140 141 142 143 144
Ebd. Ebd. Ders.: Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland. In: SZ v. 21. / 22.11.1992. Ders.: Unkenrufe. Eine Erzählung. Göttingen 1992, S. 47. Ders.: Novemberland. 13 Sonette. Göttingen 1993, S. 11. Heinrich Detering: Nur der Orkan ist ohne Grenzen. Günter Grass hat dreizehn lyrische Leitartikel verfaßt. In: FAZ v. 30.4.1993.
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[…] Ein weites Feld darf erst nach dem 24.8.1995 […] verkauft und rezensiert werden, ist aber schon vorher, auch durch öffentliche Lesungen des Autors, zum Gegenstand des literarischen Gesprächs und des süffisanten Party Talks im Fernsehen geworden.145
Durch dieses Vorgehen wurde eine ‚Fallhöhe‘ geschaffen, ohne die die folgenden ‚Verrisse‘ kaum eine so große Tragweite hätten erhalten können. Ein weites Feld setzt die deutsche Einheit 1990 mit der von 1871 in Parallele.146 Die Rahmenhandlung beginnt am 30. Dezember 1989, dem 70. Geburtstag des Protagonisten Theo Wuttke, genannt „Fonty“. Dieser kann mit Helmuth Kiesel (1997) gesehen werden als „eine Reflektorfigur, die es erlaubte, die Wiedervereinigung mit der Reichsgründung von 1871 zu parallelisieren und im Licht einer sogar noch früher einsetzenden und kontinuierlich anwachsenden historischen Erfahrung zu sehen.“147 Fontys Gegenspieler ist der Spitzel Hoftaller.148 Nahezu sämtliche Figuren tragen den Charakter des Typenhaften: Der westdeutsche Bauunternehmer Grundmann beispielsweise ist bereits durch seinen Namen hinreichend charakterisiert. Mittels Rückblenden nachgetragen werden die Großkundgebung auf dem Alexanderplatz vom 4. November 1989 und die Öffnung der Mauer am 9. November; immer wieder wird auch die Zeit der DDR heraufbeschworen, insbesondere auf der Hochzeitsfeier von Fontys Tochter Martha mit Grundmann. Im Zentrum des Romans steht jedoch die Treuhandanstalt – der Arbeitstitel von Ein weites Feld war zunächst auch schlicht „Treuhand“.149 Diese wird mit dem Wohlfahrtsausschuss der Französischen Revolution verglichen:
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Helmut Kreuzer: Zur literarischen Kultur im vereinigten Deutschland: Ein Überblick. In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Edited by Peter Monteath and Reinhard Alter Amsterdam / Atlanta: Rodopi, 1996 (German Monitor 38); S. 75-92, S. 87; Hervorhebung im Original. Diese Parallelisierung wurde immer wieder kritisiert. So stellt Helmuth Kiesel fest: „Das Vergleichen von Gründerzeit und Wiedervereinigungszeit liegt zweifellos nahe, dürfte aber angesichts einer doch sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Problemlage nur sehr begrenzten diagnostischen und prognostischen Wert haben.“ (Helmuth Kiesel: Drei Ansichten des Wiedervereinigungsprozesses: Heiner Müller, Günter Grass, Volker Braun. In: Gerd Langguth (Hg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage. Frankfurt a.M. / New York 1997; S. 210-229, S. 222). Helmuth Kiesel: Drei Ansichten des Wiedervereinigungsprozesses: Heiner Müller, Günter Grass, Volker Braun. In: Gerd Langguth (Hg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage. Frankfurt a.M. / New York 1997; S. 210-229, S. 217. Im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis findet sich der Hinweis: „Die Gestalt des Tallhover, die in dem vorliegenden Roman als Hoftaller fortlebt, entstammt dem 1986 bei Rowohlt / Reinbek erschienenen Roman ‚Tallhover‘ von Hans Joachim Schädlich.“ (Ebd., S. 784) Vgl. Günter Grass: Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht. Hrsg. von G. Fritze Margull. Göttingen 2001 (editionWelttag), S. 107.
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Millionen Arbeiter und Angestellte sind einem Enthauptungsprozeß unterworfen, dem zufolge zwar nicht der einzelne um einen Kopf kürzer gemacht wird, doch kappt das Fallbeil seinen Erwerb, seinen bis gestern noch sicheren Arbeitsplatz, ohne den er, jedenfalls hierzulande, wie kopflos ist.150
Bereits zuvor heißt es: Für Milliardenbeträge bürgte die Treuhandanstalt. Ihr Schatten fiel auf vieltausend einst volkseigene Betriebe, Liegenschaften, Parteibesitztümer, reformbelastetes Junkerland in unermeßlicher Hektargröße, auf siebentausend geplante Privatisierungen und zweieinhalb Millionen gefährdete Arbeitsplätze.151
Die Ermordung des Treuhand-Chefs, Detlef Karsten Rohwedder, wird in erster Linie als Folge des Hasses dargestellt152, wobei Rohwedder selbst keineswegs negativ dargestellt wird153; sein Tod ist belastend für Fonty. Immer wieder bezieht Grass sich auch auf den wieder aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland154 – eine der schlimmsten Folgen des Einigungsprozesses. Am Ende des Romans heißt es in einer Äußerung von Martha Grundmann – in Anspielung auf den berühmt gewordenen Brandt-Ausspruch –, dass wieder „geschieden“ werde, „was nicht zusammenhält“.155 Fonty stellt für sich fest, dass „für alle Zeit Buchenwald nahe Weimar liegt“156 und dass es Zeit für ihn ist „[d]as Weite [zu] suchen“157, Deutschland also zu verlassen, wie er seine Familie auf einem Zettel wissen lässt. Zuvor wird allerdings neben diesem Fluchtgedanken auch der gewalttätige Widerstand in Betracht gezogen, wenn nicht gar gutgeheißen.158 Lediglich darauf hingewiesen sei, dass sich Grass in seinem Roman auch über andere Autoren äußert, insbesondere über Wolf Biermann, Christa Wolf159 und Heiner Müller.160
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Ders.: Ein weites Feld. Roman. Göttingen 1995, S. 626. Ebd., S. 558. Vgl. Ebd., S. 615. Vgl. Ebd., S. 613, 629f. Vgl. Ebd., S. 365f., 671f. Ebd., S. 651. Ebd., S. 671. Ebd., S. 769. Vgl. v.a. die Äußerungen in Zusammenhang mit dem Brand des Gebäudes, in dem die Treuhandanstalt untergebracht ist: Ebd., S. 757f. Vgl. Ebd., S. 259, 600. Vgl. Ebd., S. 94, 258f. Der späte Müller kommt – im Gegensatz zum frühen Müller – nicht gerade positiv weg, ersterer biete „verwursteten Shakespeare und Grausamkeiten als Dutzendware.“ (Ebd., S. 94) Fonty fragt sich: „Was will man mit Müller groß reden? Außer, daß er seinen Whisky zelebriert und sich via Zigarre über seinen Meister Brecht mokiert, kommt da nicht viel, allenfalls ein paar niedliche Zynismen.“ (Ebd., S. 258f.)
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Schon die in Zusammenhang mit der Treuhandanstalt stehenden Beispiele belegen, dass sich in Ein weites Feld zahlreiche Ansichten wiederfinden, die Grass auch in seinen essayistischen Texten und Reden über die ‚Wende‘ und die Vereinigung, insbesondere deren Form, zum Ausdruck gebracht hat. Die Parallelen gehen jedoch über den Bereich der Treuhand hinaus. So stellt Fonty fest, in der DDR habe man trotz allem in einer „kommoden Diktatur“161 gelebt; seine Tochter Martha äußert, „daß in unserer Republik nicht alles nur schlecht gewesen ist“.162 Die Vereinigung erscheint als „Schummelpackung“163, als Werk eines „Mogelanten“164, und das Ergebnis der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl wird vor allem als Folge von Geld-Transferleistungen dargestellt.165 Grass wurde und wird immer wieder vorgeworfen, dass er in seinem Roman eine einseitig ablehnende Haltung der deutschen Einheit gegenüber einnehme. Es ist richtig, dass die Figuren mit den weitaus größten Redeanteilen, Theo Wuttke und Hoftaller, die Einheit ablehnen und insbesondere die Verfahrensweise ihres Vollzugs scharf kritisieren. Dennoch gibt es eine Gegenfigur zu den beiden: Madeleine Aubron, Fontys uneheliche Tochter. Und bei aller Sympathie für die DDR sieht Grass neben den durch die Einheit bedingten Belastungen auch negative Seiten des anderen deutschen Staates: Am 9. November begeben sich Fonty und Hoftaller nach Schwarze Pumpe, dem einstigen Renommierprojekt, und müssen angesichts der Braunkohlemondlandschaften feststellen, auf welchem Weg die DDR war: „Abgrund war überall.“166 In der Nähe zwischen den Auffassungen des Autors Grass, die einen hohen Verbreitungsgrad genossen, und den im Roman dominierenden Negativauffassungen zur deutschen Einheit mag zugleich die zentrale Problematik der Rezeption des Buches liegen. Die Diskussion entzündete sich vor allem an den tagespolitischen Bezügen und wurde – nach dem wörtlich zu nehmenden Verriss durch Marcel Reich-Ranicki auf der Titelseite einer Spiegel-Ausgabe – außerordentlich breit geführt.167 Wie bereits zuvor bei Christa Wolfs Erzählung Was bleibt wurden dabei Autorinstanz und Erzählinstanz bzw. Realität und Fiktion gleichgesetzt. Auch im engeren
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Ebd., S. 325. Ebd., S. 768. Ebd., S. 279. Ebd., S. 333. Vgl. Ebd., S. 534. Ebd., S. 512. Vgl. Der Spiegel 49 (1995) 34 v. 21.8.1995; zur Diskussion siehe Oskar Negt (Hg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Redaktion: Daniela Hermes. Göttingen 1996.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Sinne literaturwissenschaftliche Untersuchungen des Romans sind nicht frei von dieser Haltung. Hartmut Eggert (1996) fasst zusammen: Als historisches Dokument wird der Grass-Roman ein Archiv der Klischees und Befindlichkeiten der Jahre 1990-1995 für spätere Generationen sein; die werden sich vielleicht weniger dafür interessieren, wieviele Fontane-Zitate der Autor (unter Assistenz eines jungen Berliner Germanisten, der Grass’ Zettelkästen auffüllen half) verarbeitet hat und welche Funktion der epischen Integration ihnen zukommt; sondern sie werden Bewußtseinsinhalte und Sprachformeln der Wendezeit aufsuchen wollen, aber auch Aufschluß darüber, wie Literaten Orientierung suchten und geben wollten.168
Grass dagegen verwahrt sich gegen solch einseitige Interpretationsansätze: Sie kappen eine Dimension dieses Romans, wenn Sie nur auf die Tagespolitik abstellen. Aus meinem Geschichtsverständnis und meiner Geschichtserfahrung in Deutschland gehört das Unterfutter dazu. Das neunzehnte Jahrhundert ist immer präsent: aus meiner Sicht bis zur Revolution von 1848, bis zum Vormärz.169
Und so mag Peter Wapnewski (1995) Recht behalten, der seinen Deutungsansatz weiter fasst und Ein weites Feld liest als „eine ehrgeizige Allegorie auf das utopische Einheitsstreben der deutschen Nation und dessen allemal üblen Folgen – von 1848 über 1871 bis heute.“170 5.1.2.2 „Die sanfte Revolution in der DDR: für mich das liebste Politische, seit ich lebe […].“ – Martin Walser Im Gegensatz zu Günter Grass und vielen anderen gehört Martin Walser zu den wenigen westdeutschen Autoren, die sich nicht mit der Teilung abgefunden haben. 1988 führten seine diesbezüglichen Äußerungen in der am 30. Oktober in den Münchner Kammerspielen in der Reihe Reden über unser Land gehaltenen Rede Über Deutschland reden zum Eklat. Die Wurzeln dieser Auseinandersetzung liegen jedoch weit früher, denn Walser rekurriert in seinem Text auf eine bereits 1977 in Bergen-Enkheim gehaltene Rede: 168 169
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Hartmut Eggert: Mehr als Zitate. Werke literarischer Tradition in der Prosa zur deutschen Vereinigung (1990-1995). In: Triangulum (1996) 3; S. 203-216, S. 215. [Interview mit Jochen Hieber]: Ich will mich nicht auf die Bank der Sieger setzen. Ein Gespräch mit Günter Grass über den Roman „Ein weites Feld“, die Reaktionen der Kritik, die deutsche Einheit und den Blick aufs eigene Leben. In: FAZ v. 7.10.1995. Peter Wapnewski: Ein Wörtersack. Der neue Roman von Günter Grass „Ein weites Feld“: Erwartung und Enttäuschung. In: Focus (1995) 35 v. 28.8.1995; S. 100-104, S. 104.
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Daß es diese zwei Länder gibt, ist das Produkt einer Katastrophe, deren Ursachen man kennen kann. Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte – so schlimm sie zuletzt verlief – in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen … […] Sie können neue Landkarten drucken, aber sie können mein Bewußtsein nicht neu herstellen. Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen. In mir hat ein anderes Deutschland immer noch eine Chance. […] Wir alle haben auf dem Rücken den Vaterlandsleichnam, den schönen, den schmutzigen, den sie zerschnitten haben, daß wir jetzt in zwei Abkürzungen leben sollen. In denen dürfen wir nicht leben wollen. Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.171
1979 bekräftigt Walser diese Auffassung und erklärt, er „habe ein Bedürfnis nach geschichtlicher Überwindung des Zustands Bundesrepublik.“172 Und 1986 bekennt er in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt über die deutsche Teilung: „Ich werde mich nie an diese deutsche Teilung gewöhnen.“173 Seine Meinung steht damit im Gegensatz zu den Auffassungen vieler westdeutscher Intellektueller, auf die er sich 1988 in seiner Rede bezieht: „In der FAZ (17.12.86) wurde ein Satz von F.X. Kroetz mitgeteilt: ‚Mir ist die DDR so fremd wie die Mongolei.‘ Dazu Marcel Reich-Ranicki […]: ‚Das gefällt mir außerordentlich.‘ […].“174 Für Walser ist die Teilung aber „das Gegenteil von Entwicklung. […] Teilung ist Eingriff, Machtausübung, Strafaktion.“175 Eine „Rückfallgefahr“ in die Verbrechen des Nationalsozialismus hält er für ausgeschlossen: „Also: Wenn die Rückfallgefahr ausgeschlossen ist – und wer das nicht sieht, der verneint schlicht unsere letzten 40 Jahre –, dann gibt es nur noch ein Motiv für die Fortsetzung der Teilung: das Interesse des Auslands.“176 Der Aspekt der „Strafaktion“ steht für Walser also weniger im Vordergrund als ein Verständnis der Teilung als Konsequenz des Kalten Krieges. Eine Strafe sei nie auf ewig zu sehen177, denn „Strafe dient nicht der Sühne, sondern doch wohl der Resozialisierung.“178 Walser trennt insofern die Frage nach Teilung oder Einheit von der nationalsozialistischen Vergangenheit 171 172
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Martin Walser: Über Deutschland reden. In: Die Zeit v. 4.11.1988. Ders.: Händedruck mit Gespenstern. In: Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘. Hrsg. v. Jürgen Habermas. 1. Band: Nation und Republik. Frankfurt a.M. 1979; S. 3950, S. 50. „Ich werde mich nie an diese deutsche Teilung gewöhnen“. Die Welt im Gespräch: Martin Walser. In: Die Welt v. 29. / 30.9.1986. Martin Walser: Über Deutschland reden. In: Die Zeit v. 4.11.1988; Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd.
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Deutschlands. In diesem Zusammenhang greift er auch andere Intellektuelle an: „Viele kommen sich fortschrittlich vor, wenn sie diese letzte Kriegsfrucht für vernünftig halten. Sie ziehen, je nach Fach, einschlägig behäkelte Trostdeckchen über den Trennungsspalt: Geschichtsnation; Kulturnation; Sportnation […].“179 Zur Fundierung seiner Ausführungen kann er sich allerdings lediglich auf ein „Geschichtsgefühl“ berufen: „Man kann am Ende damit nicht viel mehr anfangen, als zu bezeugen, daß es existiere. Aber das kann man. Ein Gefühl ist auch nicht vorschreibbar. Man hat es oder hat es nicht.“180 Grass wirft ihm dementsprechend „zuviel Gefühl und zuwenig Bewußtsein“ vor.181 Obwohl die Perestroika „eines Tages auch die DDR erreichen“182 und dort Veränderungen bewegen werde, schließt Walser pessimistisch: Es gibt also nicht die geringste konkrete Aussicht auf einen Anfang der Überwindung der Teilung. Deutschland bleibt also ein Wort, brauchbar für den Wetterbericht. Ich wundere mich selber darüber, daß diese konkrete Aussichtslosigkeit bei mir nicht umschlägt in Hoffnungslosigkeit. Vielleicht kommt das von diesem Geschichtsgefühl.183
Mit seinem Beitrag löste Walser eine stark polarisierte Diskussion aus. Stein des Anstoßes bildete vor allem sein Versuch der Trennung von objektiven, aber später erlangten Kenntnissen über die Zeit des Nationalsozialismus und subjektiver Erinnerung: „Das erworbene Wissen über die mordende Diktatur ist eins, meine Erinnerung ist ein anderes.“184 Als heftigster Kritiker dieser Auffassung sei Jurek Becker genannt, der Walser in einem Zeit-Artikel antwortete: Tut mir leid, aber von meiner Familie sind an die zwanzig Personen vergast oder erschlagen oder verhungert worden, irgendwie spielt das für mich noch eine Rolle. Ich habe nicht so kuschelige Kindheitserinnerungen wie Walser. Sollte das der Grund sein, warum Deutschland eher seinesgleichen gehört als meinesgleichen?185 179 180 181
182 183 184 185
Ebd. Ebd. [Interview mit Bernd Kühnl und Willi Winkler]: Viel Gefühl, wenig Bewußtsein. Der Schriftsteller Günter Graß [sic] über eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands. In: Der Spiegel 43 (1989) 47 v. 20.11.1989; S. 75-80, S. 80. Martin Walser: Über Deutschland reden. In: Die Zeit v. 4.11.1988. Ebd. Ebd. Jurek Becker: Gedächtnis verloren – Verstand verloren. Jurek Becker antwortet auf Martin Walser. In: Die Zeit v. 18.11.1988; in der DDR in: ndl 37 (1989) 5, S. 164-170. Etwas später Peter Glotz: Ein Deutscher kann man überall sein. Peter Glotz antwortet auf Martin Walser. In: Die Zeit v. 2.12.1988. Zur Debatte insgesamt vgl. Helmut Peitsch: ‚Antipoden‘ im ‚Gewissen‘ der Nation? Günter Grass’ und Martin Walsers ‚deutsche Fragen‘. In: Dichter und ihre Nation. Hrsg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a.M. 1993, S. 459-489.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Die ‚Wende‘ begrüßt Walser geradezu euphorisch: „Die sanfte Revolution in der DDR: für mich das liebste Politische, seit ich lebe […].“186 Nach dem 9. November 1989 stellt er fest: „[…] diese sanfte Revolution hat es fertiggebracht: Der Stand der deutschen Dinge ist offenbar geworden.“187 Entsprechend seiner früheren Auffassungen mahnt er, die Gelegenheit zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten jetzt nicht zu versäumen. Unmittelbar vor deren Vollzug hofft er auf eine Rückkehr zur „Normalität“: Vielleicht sollten wir jetzt bald einmal aufhören, dieses Land wie etwas auf einem Prüfstand zu beobachten. Diese Beobachtungshaltung produziert Phänomene. Von Deutschland ist nichts anderes zu erwarten, als von jedem anderen Land.188
Und im Hinblick auf die Gefahr eines Großmachtstrebens des vereinigten Deutschland, wie es von Grass befürchtet und prophezeit wurde, äußert er: „Solche Stärkevorstellungen sind doch ein alter Hut, seit jedes technisch ungewiefte Zehnmillionenvolk, wenn es brav arbeitet, sich eine Atombombe zusammensparen kann.“189 Ähnlich wie Grass verarbeitete Walser seine Auffassungen auch literarisch: vor allem in der 1987 erschienenen Novelle Dorle und Wolf und dem vier Jahre später veröffentlichten Roman Die Verteidigung der Kindheit. In Dorle und Wolf lässt Walser seinen Protagonisten Wolf Zieger feststellen: Die anderen Reisenden auf dem Bahnsteig in ihrer Kompaktheit, Adrettheit, Gepflegtheit, Zielgerichtetheit kamen ihm plötzlich vor wie halbe Menschen. Lauter Halbierte strebten da hin und her. Die anderen Hälften liefen in Leipzig hin und her. 186
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189
Martin Walser: Vormittag eines Schriftstellers. Über Deutschland reden – und die Folgen: Warum einer keine Lust mehr hat, am Streit der Meinungen teilzunehmen. In: Die Zeit v. 14.12.1990. Ders.: Zum Stand der deutschen Dinge. Gesten des Wiedersehens: Vom schwierigen Umgang mit der sanften Revolution und von den Schreckbildern der geschichtlichen Vorstellungskraft. In: FAZ v. 5.12.1989. Martin Walser; zit. nach: Was erwarten Sie von Deutschland, was wünschen Sie dem vereinten Land? „Einen König für die Bayern, einen König für die Sachsen!“ ZEIT-Umfrage unter Schriftstellern deutscher Sprache. In: Die Zeit v. 5.10.1990. Im Zusammenhang mit Diskussionen und Kommentaren zu ‚Wende‘ und Vereinigung konstatiert und kritisiert Klaus Bittermann eine „Walserisierung der Intellektuellen“: Vgl. K.B.: Die Walserisierung der Intellektuellen. In: Gemeinsam sind wir unausstehlich. Die Wiedervereinigung und ihre Folgen. Mit Beiträgen von: Wolfgang Pohrt, Roger Willemsen, Wolfgang Schneider, Klaus Bittermann, Charlotte Wiedemann, Werner Kopp, Stefan Gandler, Robert Kurz. Hrsg. von Klaus Bittermann. Berlin 1990 (Edition TIAMAT, Critica Diabolis 27), S. 61-79. Martin Walser: Vormittag eines Schriftstellers. Über Deutschland reden – und die Folgen: Warum einer keine Lust mehr hat, am Streit der Meinungen teilzunehmen. In: Die Zeit v. 14.12.1990.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Die hier leuchteten, gleißten geradezu in ihrer Entwickeltheit und Fortgerissenheit. Er fühlte sich hingezogen zu allen. Wie richtig machten die alles, was sie machten! Aber wie wenig waren sie bei sich. Alle leuchteten vor Gelungenheit, aber keiner schien zufrieden zu sein. Sie wissen nicht, was ihnen fehlt. Und keiner würde, fragte man ihn, sagen, ihm fehle seine Leipziger Hälfte, sein Dresdener Teil, seine mecklenburgische Erstreckung, seine thüringische Tiefe. Aber sie sind wie verloren in ein Extrem. Und die drüben sind verrannt ins andere Extrem. Das teilt mehr als der böse Strich durch die Geographie. Man sollte es auf einem Bahnsteig laut sagen. Aber er traute sich nicht. Aber er wunderte sich, warum es keiner ausrief: Wir sind Halbierte. Und er am meisten.190
Hinter Ziegers Engagement als Spion für die DDR steht das Konzept eines geeinten ‚Deutschlands‘. Das wird vor allem im letzten Satz der folgenden Passage deutlich: Mitarbeiter des MfS, und das im Westen, eine bessere, schönere Lösung gab’s überhaupt nicht. Erst als er herüben war, suchte er nach Gründen für das, was er tun sollte. Er erlebte, wie die zwei deutschen Teile auseinanderstrebten, immer bösartiger wurden gegeneinander. Immer verständnisloser, empfindungsloser, wahrnehmungsloser. Den einen Teil über den anderen informieren hieß Landesverrat. In beiden Teilen. Welches Land verriet man denn da? Deutschland nicht …191
Die Verteidigung der Kindheit (1991) wurde in der FAZ vorabgedruckt und nach Erscheinen der Buchfassung als der große Deutschlandroman gefeiert.192 Erzählt wird die Geschichte von Alfred Dorn, dessen berufliche Laufbahn ein Abstieg vom Klassenbesten zum eher schwachen Juristen ist. Die ‚Wende‘ erlebt Dorn freilich nicht mehr – für Georg Braungart (1997) durchaus schlüssig: Dieser ‚Held‘ durfte die Wende zur Einheit Deutschlands auf keinen Fall mehr erleben, ganz gleich, wann sein Vorbild in der Wirklichkeit gestorben ist. Die Er190 191
192
Ders.: Dorle und Wolf. Eine Novelle. Frankfurt a.M. 1987, S. 54f. Ebd., S. 44; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Heimo Schwilk: In der Brandung deutscher Seelenstürme. Martin Walsers Agentennovelle: Über das Dilemma einer geteilten Nation. In: Rheinischer Merkur v. 20.3.1987. Vgl. Volker Hage: Walsers Deutsches Requiem. In: Die Zeit v. 9.8.1991; Hajo Steinert: Die Geschichte lässt sich nicht einfrieren. „Die Verteidigung der Kindheit“ von Martin Walser: Ein Glücksfall für die deutsche Literatur. In: Die Weltwoche v. 12.9.1991; Klaus Lüderssen: Juristsein im Nichts. Zu Martin Walsers „Die Verteidigung der Kindheit“. In: Merkur 46 (1992) 516, S. 265-270; Reinold Schmücker: Der Abgesang auf eine große Liebe. Martin Walser und „Die Verteidigung der Kindheit“ – ein Roman über einen Außenseiter, der nicht erwachsen werden will. Eine sensible Chronik, die den deutschen Alltag zwischen 1929 und 1987 ausleuchtet. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt v. 23.8.1991; Ein deutsches Muttersöhnchen. Joseph von Westphalen über Martin Walsers neuen Roman „Die Verteidigung der Kindheit“. In: Der Spiegel 45 (1991) 33 v. 12.8.1991, S. 171-174.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
lösung Alfred Dorns, sein persönlicher Triumph über die sein Leben zerstörenden Machthaber wäre – gemessen an der Poetik des Mangels, die konstitutiv für Walsers Gesamtwerk ist – zugleich das Scheitern des Romans gewesen. Dieser Roman ist gerade deshalb der große Roman der Einheit, weil er – in provozierender Vergeblichkeit – die Wunde namens Deutschland offen hält.193
Walsers Roman stellt also die literarische Ausformung seines Bedürfnisses nach der Unteilbarkeit Deutschlands oder doch zumindest von dessen Kultur dar. Daniel Fulda (1994) kritisiert aber mit Recht: Zwar leidet die Hauptfigur, Alfred Dorn, ein Jurist mit pathologischer Mutterbindung, unter der deutschen Teilung, und die alltäglichen Unannehmlichkeiten, die sie für den einzelnen mit sich bringen konnte, werden eingehend geschildert. Doch ein Kommentar zur Nationalstaatsfrage von politischem Gewicht ist das kaum: Den teilungsbedingten Nöten des Alfred Dorn hätte schon ein unbeschränkter Reiseverkehr abgeholfen. Obwohl Walser Die Verteidigung der Kindheit als „historischen Roman“ bezeichnet, bleibt die eigentlich historische Dimension der deutschen Frage, ihre Verankerung in der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und in der Weltpolitik seit 1945, außerhalb des Romanhorizontes.194
Axel Schalk äußert 1993 zusammenfassend: „Walser bleibt im Tagespolitisch-Unliterarischen stecken, jenseits der Avantgarde, jenseits einer poetischen Verarbeitung des Themas.“195 Volker Wehdeking (1995) dagegen liest den Roman als „Hohlform der überwundenen Teilung“.196 Und KarlRudolf Korte (1992/1996) sieht ihn als den „Epochenroman zur deutschen Teilung“197, der „wohl für längere Zeit der chronologisch angelegte Überblicksroman zur deutschen Teilung“ bleibt.198 In Walsers Roman werden so bedeutende Ereignisse wie die Bombardierung Dresdens in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945, die Viermächte-Konferenzen, der 17. Juni 193
194
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198
Georg Braungart: „Ich habe nicht das Gefühl, daß ich mich bewegt hätte“. Martin Walsers ‚Wende‘ zwischen Heimatkunde und Geschichtsgefühl. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 93-114, S. 113; Hervorhebung im Original. Daniel Fulda: Nur „frischerwachtes Grauen vor der Geschichte“? Literarische Kommentare zur deutschen Einheit 1870 und 1990. In: WW 44 (1994) 2; S. 258-270, S. 261; Hervorhebung im Original. Axel Schalk: Coitus germaniae interruptus. Die deutsche Wiedervereinigung im Spiegel von Prosa und Dramatik. In: WB 39 (1993) 4; S. 552-566, S. 555. Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart / Berlin / Köln 1995, S. 111. Karl-Rudolf Korte: Über Deutschland schreiben. Schriftsteller sehen ihren Staat. München 1992 (Perspektiven und Orientierungen, Schriftenreihe des Bundeskanzleramtes, Band 12), S. 57. Ders.: Berichte zur Lage der Nation. Vom Umgang mit der erzählenden Literatur im vereinten Deutschland. In: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 28 (1996) 4; S. 551-564, S. 558.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
177
1953 und der 13. August 1961 konsequent mit der Biografie Alfred Dorns verknüpft. Insofern mag er tatsächlich als „Epochenroman zur deutschen Teilung“ gelten – als ‚Wenderoman‘ jedoch meines Erachtens nicht. 5.1.2.3 Die Extreme versöhnen – Günter de Bruyn Günter Grass und Martin Walser stehen für die jeweils extremen Pole innerhalb des Meinungsspektrums über ‚Wende‘ und ‚Einheit‘. Gemäßigter äußerte sich etwa Günter de Bruyn (*1926). Er hatte zunächst Vorbehalte gegenüber der staatlichen Einheit: Erstens sprechen […] die alliierten Sieger des letzten Krieges, die Militärblöcke, die europäische Stabilität und die Rücksichtnahme auf die Nachbarn dagegen, zweitens soziale Probleme, die sich des Wohlstandsgefälles wegen nicht übers Knie brechen lassen, und drittens eine deutsche kulturelle Erfahrung, die ich Gewinn durch Vielfalt oder das föderative Prinzip nennen will.199
Ähnlich wie Grass sieht er in der „Kulturnation“ ein „theoretisches Gegengewicht“ zur „Zwei-Nationen- und Zwei-Kulturen-Theorie“.200 Die „Kulturnation“ beginne nicht erst beim „ersten deutschen Nationalstaat, dem Bismarck-Reich“, sondern reiche „viel weiter, vielleicht bis zu Luther, ganz deutlich aber in die Zeiten der Aufklärung zurück“: Als Gottsched in Leipzig seine „Deutsche Gesellschaft“ gründete, Lessing sich in Hamburg um ein Theater bemühte, das der ganzen Nation gehören sollte, […] und Herder erkannte, daß die Kulturen im weitesten Sinne (also Sprachen, Lieder, Dichtungen, Gebräuche) es sind, die die Nationen bilden – war es schon da, dieses doch langlebige Band, das in klassischer Zeit, die eine Zeit politischer Zerrissenheit war, ein nationales Zusamengehörigkeitsgefühl schuf.201
Dabei versteht de Bruyn „Kulturnation“ „nicht als Gegensatz zur Staatsnation, sondern als ihr kritisches Korrektiv; die Kulturnation vermag zu bewahren, was die Staatsnation gefährdet: das europäische Gleichgewicht und die regionale Kulturvielfalt.“202 Versuche, die DDR zu reformieren und damit „als Nationalpark für ein gesellschaftspolitisches Experiment zu erhalten“, erscheinen dem brandenburgischen Schriftsteller später als 199 200 201 202
Günter de Bruyn: So viele Länder, Ströme und Sitten. Geschichte und künftige Möglichkeiten einer deutschen Kulturnation. In: FAZ v. 3.2.1990. Ebd. Ebd. Michael Braun: „Kein Deutschland gekannt zeit meines Lebens“. Grass, Walser, Enzensberger und die nationale Frage. In: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 50 (1995) 11; S. 1090-1101, S. 1099.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
abwegig.203 Die mit der ‚Wende‘ und erst recht mit der staatlichen Einheit einhergehenden Umstellungen bilden für ihn den Hintergrund, der bei Bewertung dieser Vorgänge keinesfalls außer Acht gelassen werden darf, denn: „‚Ohne daß die Ostdeutschen ihren Wohnort verändert hätten, leben sie plötzlich in einer völlig anderen Welt.‘“204 Auf die in der Zeit gestellte Frage „Was erwarten Sie von Deutschland, was wünschen Sie dem vereinten Land?“ antwortete de Bruyn: Ich wünsche dem vereinten Land, daß es ein guter Nachbar ist und daß es gute Nachbarn hat, daß das Bewußtsein seiner Größe Verantwortungsgefühl, nicht Größenwahn erzeugt und daß Vernunft und Toleranz und Mitgefühl regieren mögen nach innen und nach außen hin.205
Nach dem Vollzug der staatlichen Einheit und ersten Unmutsbezeigungen auf beiden Seiten mahnt er im Herbst 1991 auf der Tagung des westdeutschen P.E.N. zur Besonnenheit: Es gibt Fehlleistungen, Dummheiten, Ungeschicklichkeiten und Borniertheiten; es gibt Zorn, Mißtrauen und Aversionen, aber die können nur Voreilige zu dem Fehlschluß verführen, die Deutschen seien nicht willens, wieder eine Nation zu werden. Bei allen Klagen über die Kosten und die Folgen der Einheit, will wohl kaum einer sie rückgängig machen; aber jeder will, daß er durch sie nichts verliert. Die nationalen Probleme, die uns heute besorgt sein lassen, sind wohl vorwiegend sozial bedingt.206
Im Juni 1993 hebt er in seiner auf dem Münchner Kirchentag gehaltenen Rede noch einmal hervor: Obwohl ich mich davor hüte, das Nationale, das seine Stärke mit der Vereinigung noch einmal unter Beweis stellte, geringzuachten, hat die deutsche Einheit für mich in erster Linie Befreiung bedeutet; und wenn auch der Jubel durch neue Sorgen, politische Fehler, Dummheiten und Borniertheiten gedämpft und erstickt wurde, so wird doch die Erleichterung darüber, mich frei bewegen und zensurlos schreiben und reden zu können, noch lange andauern […].207 203 204
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206 207
Günter de Bruyn: So viele Länder, Ströme und Sitten. Geschichte und künftige Möglichkeiten einer deutschen Kulturnation. In: FAZ v. 3.2.1990. [Interview mit Helmut L. Müller]: Eine Zwischenbilanz. Günter de Bruyn äußert sich im Gespräch mit dem außenpolitischen Redakteur der Salzburger Nachrichten, Helmut L. Müller, zur Seelenlage der DDR-Autoren. In: Die politische Meinung 37 (1992) 276; S. 70-72, S. 72. Ders.; zit. nach: Was erwarten Sie von Deutschland, was wünschen Sie dem vereinten Land? „Einen König für die Bayern, einen König für die Sachsen!“ ZEIT-Umfrage unter Schriftstellern deutscher Sprache. In: Die Zeit v. 5.10.1990. Ders.: Der Riß und die Literatur. Auch eine Antwort an Heiner Müller. In: FAZ v. 23.10.1991. Ders.: Fremd im eignen Land. In: Über Deutschland. Schriftsteller geben Auskunft. Hrsg. von Thomas Rietzschel. Leipzig 1993; S. 154-173, S. 169f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
179
Der ihm mittlerweile zugeschriebenen Rolle des Optimisten ist er sich durchaus bewusst; so betont er im Januar 1995 in seinem anlässlich der Eröffnung der Katholischen Akademie Berlin gehaltenen Vortrag: Sie sind mir nicht fremd, die deutschen Probleme, aber darüber das deutsche Glück zu vergessen, scheint mir doch sündhaft zu sein. Auch auf die Gefahr hin, langsam komisch zu wirken, möchte ich zur Bewahrung der Einheitsfreude immer wieder ermuntern. Wo ich gehe und stehe springen [sic] mir Gründe dafür in die Augen.208
5.1.3
Nation, Vereinigung und ‚Normalisierung‘ – erste Debatten nach dem Herbst ’89
Die erste, nicht zuletzt im Hinblick auf ein potenziell bald vereinigtes Deutschland geführte Debatte nach den Herbstereignissen von 1989 wird in den ersten Monaten des Jahres 1990 vor allem in den Feuilletons westdeutscher Zeitungen und Zeitschriften ausgetragen. Dabei geht es um die Frage der Nation im weiteren und die Vereinigung beider deutscher Staaten im engeren Sinne. Eröffnet wird die Kontroverse von Karl Heinz Bohrer mit dem am 13. Januar 1990 in der FAZ erschienenen Beitrag Warum wir keine Nation sind. Warum wir eine werden sollten.209 Bohrer versteht seinen Beitrag als „Plädoyer für den Begriff Nation“. Er vertritt ähnliche Argumente wie vor ihm bereits Walser; auch er betont, dass von einem vereinigten Deutschland keine Bedrohung ausgehe. Wie Walser lehnt er den Habermasschen Begriff des „Verfassungspatriotismus“ ab; seines Erachtens handele es sich dabei um „die sublimste Variante einer Tabuisierung der Nation“. Zudem behauptet Bohrer: Mit dem Verlust der für die deutsche Identität zweifellos zentral wichtigen einstigen preußischen Provinzen Ostpreußen und Schlesien – eine Bewandtnis, die nur deshalb nicht angemessen gesehen wird, weil sich das politische Machtzentrum des verbliebenen Rheinstaats um fünfhundert Kilometer nach Westen verschoben und seine führenden Politiker und Parteien an diesen Verlust aus guten Gründen keine Erinnerung mehr knüpfen können – ist eine Schuld de facto beglichen und eine Wiedergutmachung erfolgt, die von der „moralischen“ Argumentation übersehen wird.210
208 209 210
Ders.: Ostdeutsche Irritationen. Ein Vortrag (europäische ideen (1995) (Sonderheft)), S. 4. Karl Heinz Bohrer: Warum wir keine Nation sind. Warum wir eine werden sollten. In: FAZ v. 13.1.1990. Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Auf Bohrers Aufsatz antworten Peter Glotz, Ulrich Greiner und Friedrich Christian Delius. Glotz legt in seiner Reaktion Warum wir eine Nation sind. Warum wir uns jedoch nicht abermals vom „deutschen Hunde“ beißen lassen sollten211 dar, dass er Bohrers Argumentation, die deutsche Kriegsschuld sei mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze beglichen, für „waghalsig“212 hält. Zudem ist es ihm „unerfindlich“, wie die Fragestellung „sich zu der These verdichten kann, die Deutschen seien keine Nation.“ Zwar seien sie „keine Staatsnation, sie haben es (fast) nie zu einem einheitlichen Nationalstaat gebracht.“ Doch seien sie „selbstverständlich“ eine „Kulturnation“.213 Zu diesem ‚geistesgeschichtlichen Mißverständnis‘ trete ein – als noch schlimmer zu bewertendes – ‚politisches‘, denn angesichts des heutigen Verhältnisses von „Macht und Geld“ sei „[n]icht der souveräne Territorialstaat […] unsere Zukunft, sondern die intelligente Aufteilung der Souveränität.“214 Ulrich Greiner wendet sich ebenfalls gegen Bohrers Auschwitz-Argumentation. In Das Phantom der Nation. Warum wir keine Nation sind und warum wir keine werden müssen215 unterstellt er Bohrer den Irrtum, „die Größe eines staatlichen Territoriums in Beziehung zu seiner geistigen und kulturellen Größe zu setzen.“216 Walsers „Geschichtsgefühl“ habe er nicht, zudem sei Walsers Begriff der Nation – wie auch die Begriffe „Volk“ und „Staat“ – einer der „Tarnbegriffe für kollektive Emotionen.“ Greiner kritisiert, dass sämtliche Befürworter der Einheit „auf scheinbar rationale und vernünftige Weise argumentieren, in Wahrheit aber an den entscheidenden Stellen gänzlich unklar und irrational sind.“217 Friedrich Christian Delius kritisiert in seiner Entgegnung Der Westen wird wilder218 unter anderem, dass „unter der Hand ein neues Kriterium für intellektuelle Glaubwürdigkeit aufgetaucht [sei; F.Th.G.]: das Bekenntnis zur deutschen Einheit.“219 Damit geht es auf übergeordneter Ebene auch um die Positionsbestimmung und Rolle der Intellektuellen in einem vereinten Deutschland. Bohrer verweist in diesem Zusammenhang
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Peter Glotz: Warum wir eine Nation sind. Warum wir uns jedoch nicht abermals vom „deutschen Hunde“ beißen lassen sollten: Eine Antwort auf Karl Heinz Bohrer. In: FAZ v. 9.2.1990. Ebd. Ebd. Ebd. Ulrich Greiner: Das Phantom der Nation. Warum wir keine Nation sind und warum wir keine werden müssen – ein vergeblicher Zwischenruf im Intellektuellen-Streit um die deutsche Einheit. In: Die Zeit v. 16.3.1990. Ebd. Ebd. Friedrich Christian Delius: Der Westen wird wilder. Die Intellektuellen und die deutsche Frage: Die Claims werden abgesteckt. In: Die Zeit v. 2.2.1990. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
181
auf „die durchsichtige Interessenlage dieser älteren linken Literaten, denen über Nacht alle Felle wegschwimmen, im Osten sogar mit ernsten sozialen Konsequenzen, im Westen zumindest den Status ihres Prestiges betreffend.“220 Schließlich bedeute die Einheit für sie, „auf dramatische Weise endgültig einen linksutopischen Horizont zu verlieren […].“221 Günter de Bruyn äußert sich in seinem am 1. Februar 1990 an der Evangelischen Akademie in Tutzing gehaltenen Vortrag So viele Länder, Ströme und Sitten. Geschichte und künftige Möglichkeiten einer deutschen Kulturnation zu dieser Fragestellung. Dabei betont er die Bedeutung der deutschen „Kulturnation“. De Bruyn legt dar, dass er ein forciertes Streben nach der staatlichen Einheit ablehne, die Einheit an sich jedoch nicht, „vorausgesetzt, sie gereicht letzten Endes allen sozialen Schichten zum Nutzen und nichts erinnert dabei an unseliges Altes, weder die Jahreszahl 1937 noch Stellung und Stärke des Militärs.“ Für ihn gilt: „Aus der Geschichte zu lernen heißt erst einmal: sie sich gefügig zu machen – was nicht unbedingt verfälschend geschehen muß.“222 Im April 1990 veröffentlicht Dieter E. Zimmer in der Zeit einen Beitrag mit dem Titel Den Völkern Gespött oder Furcht. Die Deutschen und das Nationalgefühl.223 Für ihn steht fest: Fanatischer Nationalismus und fanatischer Anti-Nationalismus […] bedingen einander nicht nur in dem Sinne, daß der eine regelmäßig den anderen provoziert; sie sind darüber hinaus die beiden Seiten ein und derselben Medaille: eines gestörten Selbstwertgefühls.224
Zimmer erklärt: „Supranational zu denken und zu fühlen wird erst einer Bevölkerung möglich, die nicht zwangsweise im Zustand des Infranationalismus gehalten wird.“225 Er schließt seinen Artikel mit der Feststellung: Ein unbesorgtes, ungebrochenes nationales Identitätsgefühl wird Deutschen nie wieder beschieden sein. Die deutsche Geschichte, die jüngere zumal, steht dem für alle Zeit entgegen. Der Vorschlag, auch ihre allerschlimmsten Kapitel irgendwie vielleicht doch in die Zustimmung mit einzubeziehen, wie ihn einige Positionen im „Historikerstreit“ zu suggerieren schienen, ist nur eine neuerliche Einladung zur Unehrlichkeit, zur bequemen Augenwischerei. Es gibt überhaupt nur einen 220 221 222 223 224 225
Karl Heinz Bohrer: Warum wir keine Nation sind. Warum wir eine werden sollten. In: FAZ v. 13.1.1990. Ebd. Günter de Bruyn: So viele Länder, Ströme und Sitten. Geschichte und künftige Möglichkeiten einer deutschen Kulturnation. In: FAZ v. 3.2.1990. Dieter E. Zimmer: Den Völkern Gespött oder Furcht. Die Deutschen und das Nationalgefühl. In: Die Zeit v. 6.4.1990. Ebd. Ebd.
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ehrlichen Weg: nichts ableugnen, nichts wegschieben, fest und unverbrämt im Auge zu behalten, womit Deutschland einmal bewirkt hat, „daß [es] unter den Völkern sitzet / Ein Gespött oder eine Furcht“ (das schrieb Brecht), zu verstehen, wie es dahin kam, und nichts zu verzeihen. Alles andere wäre Lüge, das Lügengebäude bräche eines Tages zusammen, und dieser Kollaps wäre für uns selber nicht weniger gefährlich als für unsere Nachbarn.226
Zwei Jahre später plädiert Hans Magnus Enzensberger für die Verabschiedung der Nation, denn „[d]ie abstrakte Idee der Nation konnte […] nur dort ein selbstverständliches Leben gewinnen, wo der Staat sich organisch aus älteren Zuständen entwickeln durfte. Je artifizieller seine Entstehung, desto prekärer und hysterischer das Nationalgefühl.“227 Weitere Autoren distanzieren sich im Hinblick auf Fragen des Nationalen und der Nation vollkommen von den damit verbundenen Inhalten. Uwe Kolbe etwa bringt in den letzten Zeilen von Daheim II (Kopfstudie aus dem August ’92) eine gewisse Müdigkeit im Hinblick auf Nationales und dessen Diskussion zum Ausdruck: Aus Landschaften kommen und schöntun, das taugt für die nächste Inkarnation. Das deutsche Idiom ist Klinge im Hals, symmetrische Kotze, röchelnder Schlund. Darüber dies Pumpen und Saugen, davor das Schmatzen, das Kondensat, das spülichte Fähnchen, Dunst, der röhrt und reihert, brüllt und sich überschlägt, Salto bestiale im Turnvaterland. Ich bins satt, Landsmann zu sein.228
Doch 1994 wirft Martin Walser erneut die Frage auf, ob man denn bereits politisch als ‚rechts‘ einzuordnen sei, wenn man die Frage nach der nationalen Einheit stelle bzw. ein Nationalgefühl empfinde – und ob es nicht gefährlich sei, diese Themen zu ignorieren. Er „glaube, die Entwicklung rechtsextremer Gruppierungen sei eine Antwort auf die Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle.“229 Es folgen mit diesen Fragen verbundene Auseinandersetzungen über die neue Rolle des vereinigten Deutschland. Vor allem in diesem Zusammen226 227
228 229
Ebd. Hans Magnus Enzensberger: Die Große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen. Mit einer Fußnote ‚Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd‘. Frankfurt a.M. 1992, S. 16. Uwe Kolbe: Daheim II (Kopfstudie aus dem August ’92). In: U.K.: Nicht wirklich platonisch. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, S. 14. Martin Walser: Deutsche Sorgen. In: Der Spiegel 47 (1993) 26 v. 28.6.1993; S. 40-47, S. 43.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
183
hang entstanden zahlreiche politische Essays bzw. Essays von Politikern. Hervorzuheben ist Peter Glotz’ (*1939) Die falsche Normalisierung (1994). In diesem Band sind zwischen 1990 und 1994 entstandene publizistische Arbeiten gesammelt. Sein „Buch bemüht sich um die Analyse eines neuen Schlüsselbegriffs der Deutschen, der zuerst im Golfkrieg auftrat: der „Normalisierung“. Warum können wir nicht sein wie Engländer und Franzosen?“230 Glotz befürchtet, dass die „Normalisierungstheorie“ „zum Instrument der „Nationalisierung“ werde.231 Er steht den Versuchen, „das weder besonders erhobene noch besonders aufgestörte deutsche Volk zu ‚normalisieren‘, mit Skepsis“232 gegenüber: Die Wiedervereinigung erzeugt in Deutschland, das ist sozusagen „natürlich“, neue Grundstellungen des Zeitgeists, neue oder neu drapierte Ideologiebildungen. Ein gerade zur Formel erstarrender Gedanke lautet: Deutschland müsse jetzt, nachdem es seine volle Souveränität Schritt für Schritt zurückerhalte, eine Rückkehr zur Normalität der deutschen und europäischen Üblichkeiten vollziehen. Die zweite Hälfte dieser Denkfigur benutzt den Topos des „Sonderwegs“: eine allzu erkennbare Abweichung von der „Norm“ des europäischen Nationalstaats sei eine neue Variante eben jenes verderblichen „Sonderwegs“, den die verspätete Nation der Deutschen im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert gegenüber dem Westen kultiviert hatte. Das Normalisierungs-Paradigma wurde erstmals mit besonderer Wirkung im Golfkrieg verwendet, als Deutschland eine Beteiligung an den militärischen Aktionen der Anti-Saddam-Koalition unter Hinweis auf das Grundgesetz von 1949 verweigerte. Seitdem sickert die Normalisierungs-These scheinbar unaufhaltsam in unsere Sprache ein.233
Glotz warnt jedoch vor einer Fehlinterpretation dieser These: In Wirklichkeit zeigt die Suggestion einer „Rückkehr zur Normalität“, daß in Deutschland der Historismus und der Relativismus des neunzehnten Jahrhunderts in einer neoaristotelischen oder neokonservativen Fassung erneut zur Hegemonie gekommen ist. Üblichkeiten entscheiden von vornherein über den möglichen Sinn moralischer Normen und Prinzipien; alles was darüber hinausgeht, wird zu gefährlichem Utopismus gestempelt. Die Idee einer universalen, intersubjektiven Konsensfähigkeit von Gültigkeitsansprüchen gilt als überspannt, unpraktisch, verführerisch.234 230 231 232 233
234
Peter Glotz: Vorbemerkung. In: P.G.: Die falsche Normalisierung. Die unmerkliche Verwandlung der Deutschen 1989 bis 1994. Essays. Frankfurt a.M. 1994; S. 9f., S. 9. Ebd. Ebd., S. 10. Ders.: Deutscher Sonderweg? Aus dem Wörterbuch des wiedervereinigten Deutschland. In: P.G.: Die falsche Normalisierung. Die unmerkliche Verwandlung der Deutschen 1989 bis 1994. Essays. Frankfurt a.M. 1994; S. 33-41, S. 33 [zuerst unter dem Titel Normalisierung – Sonderweg. Aus dem Wörterbuch des wiedervereinigten Deutschland in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 38 (1991) 9, S. 823-826]. Ebd., S. 37f.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Für ihn ist die „Normalisierung“ eine Philosophie der Abwiegelung. Der Schock von 1945 soll überwunden werden: durch Rückgriff auf hergebrachte Institutionen und gelebtes Ethos. Die Rechte – gerade die demokratische – kann damit gut leben. Sie kann den ganzen Hokuspokus der Begründungen – ob Heidegger oder Gadamer, Richard Rorty oder J.F. Lyotard – ignorieren; das „gesunde“, „gewachsene“ Vertrauen auf konventionelle, erwartbare Verhaltensweisen genügt ihr. Aber die Linke? Überlebt sie als irgendwie „sozialere“ Fraktion der europäischen Postmoderne? Oder verliert sie ihren Halt, wenn sie in die groben Gesänge einstimmt, die derzeit das Scheitern der Idee einer Universalgeschichte der menschlichen Emanzipation besiegeln sollen?235
Er warnt: Die seit der Wiedervereinigung Deutschlands am häufigsten herumgereichte Weisheit lautet: Deutschland müsse wieder mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Diese Maxime ist richtig, aber gleichzeitig leer, weil in aller Regel undefiniert bleibt, was der schöne und auf eine wunderbar allgemeine Art „ethische“ Begriff „Verantwortung“ eigentlich meint. In der Periode des Kalten Krieges wußten die Deutschen, was ihre Mission war: Als Grenzland am Eisernen Vorhang mußten sie all ihre Kraft dafür einsetzen, nicht zum Schlachtfeld der Supermächte zu werden. Also entwickelten sie die „Entspannungspolitik“. Nach dem Zusammenbruch der amerikanisch-sowjetischen Doppelhegemonie schwankt die politische Klasse des größten europäischen Volkes nervös zwischen zwei unvereinbaren und allzu ehrgeizigen Großzielen – die einen wollen Deutschland zum „normalen Nationalstaat“ und wenn nicht zur Großmacht, so doch zur „großen Macht“ – machen, die anderen träumen von Deutschland als dem Weltgewissen, dem Anwalt der Menschenrechte, der Interventionsmacht gegen Völkermord. Im Streit zwischen diesen (ideal-typisch zugespitzten) Maximalpositionen, kann der gute Ruf, den das von Adenauer oder Brandt repräsentierte Deutschland von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren erworben hat, leicht ruiniert werden.236
Eng verbunden mit der Diskussion um die ‚neue‘ Rolle des vereinigten Deutschland ist die verstärkt unternommene Einschätzung des historischen Stellenwertes der DDR nach deren Ende. Einen überzeugenden Versuch dazu hat Peter Bender vorgelegt, einer der Vordenker der westdeutschen Ostpolitik. Ausgehend von Betrachtungen, die um die Frage „Was war die DDR?“237 kreisen, fragt er: „Was bleibt von den vierzig Jahren kommunistisch-deutschen Eigenlebens – an Lasten und vielleicht auch an 235 236
237
Ebd., S. 41. Ders.: Rokokosaalpolitik. Notizen zur deutschen Außenpolitik nach 1989. In: Ebd.; S. 137-148, S. 137 [zuerst unter dem Titel Rokoko-Saal-Politik in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 40 (1993) 8, S. 604-611]. Peter Bender: Unsere Erbschaft. Was war die DDR – was bleibt von ihr? Hamburg / Zürich 1992 (Luchterhand Essay), S. 13.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
185
Gewinn?“238 Hierzu entwirft er „acht Gesichter der DDR“ („Der Satellit“, „Der sozialistische Traum“, „Die Parteidespotie“, „Der Sozialstaat“, „Die Erziehungsdiktatur“, „Der Großbetrieb“, „Die Notgemeinschaft“, „Ein deutsches Land“)239 und stellt wesentliche Aspekte aus der Geschichte der DDR dar240, um schließlich vor allem Aspekte der zuvor entworfenen „Gesichter“ auf die Frage nach dem „Was bleibt“ hin zu überprüfen.241 Dabei bemängelt er: Die öffentliche Diskussion über die DDR-Vergangenheit beschränkt sich bis jetzt weitgehend auf das „Stasi-System“ und auf peinliche politische Belastung. Doch man wird schon das ganze Phänomen DDR in den Blick nehmen müssen, um Fragen stellen zu können, die für das Verständnis Ostdeutschlands und der Ostdeutschen wichtig erscheinen.242
Deshalb wendet er sich gegen „[d]ie schreckliche Vereinfachung“ nach der ‚Wende‘: Jetzt lernt man einander kennen und spürt, daß der andere auch sehr unangenehm werden kann. Jetzt weiß man zwar immer noch nicht viel voneinander, aber meint, alles zu wissen; und das Halbwissen festigt sich zur Überzeugung, je mehr sich die gängigen Vorurteile zu bestätigen scheinen. Die Westdeutschen haben den Eindruck, daß die Ostdeutschen eben doch von ihrem Kommunismus verdorben worden seien; und den Ostdeutschen scheint es, als hätten die SED-Propagandisten eigentlich nicht so unrecht gehabt, denn die Westdeutschen seien tatsächlich vom Kapitalismus menschlich ruiniert worden.243
Diese „schreckliche Vereinfachung“ betreffe allerdings nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit, denn [f]ast zwanzig Jahre lang erschien die DDR den Westdeutschen als halbe Hölle; seit Mitte der sechziger Jahre begannen nicht nur die Fachleute zu differenzieren, doch im Gefolge der neuen Ostpolitik geriet die DDR manchen Politikern und einigen Beobachtern wieder zu schön; Linksnaive sahen in ihr sogar einen Fortschritt mit kleinen Schönheitsfehlern. Seit der Staat der Kommunisten ruhmlos untergegangen ist, kehrt die westliche Vorstellung von der DDR nun zum Bild der fünfziger Jahre zurück.244
238 239 240 241 242 243 244
Ebd., S. 13. Ders.: Die acht Gesichter der DDR. In: Ebd., S. 15-54. Ders.: Die Geschichte. In: Ebd., S. 55-88. Ders.: Die Hinterlassenschaft – Was bleibt? In: Ebd., S. 89-155. Ebd., S. 12. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Bender prophezeit: Die Ostdeutschen werden für die Zukunft erst offen werden können, wenn sie Klarheit über ihre Vergangenheit gewinnen. Die Westdeutschen werden zur Vereinigung mit ihren Landsleuten erst fähig werden, wenn sie lernen, was deren Leben in der Zeit der Trennung bestimmte. Seit Deutschland wieder ein Staat ist, gehört die DDR zur Vergangenheit aller Deutschen, sie wurde unser aller Erbe.245
Sein Fazit im Hinblick auf den historischen Stellenwert der DDR fällt hart aus: Spätere Zeiten werden die sowjetisch-russische Herrschaft in Mitteleuropa beachten, von der DDR werden sie wenig im Gedächtnis behalten. Was vor allem Aussicht hat zu bleiben, ist die Erinnerung an die einzige gelungene Revolution der neueren deutschen Geschichte; wichtiger als die Existenz der DDR wird wahrscheinlich die Form sein, in der sie unterging. Sonst aber bleibt die kommunistisch-deutsche Republik eine Episode. Sie wird in die lange Reihe der Staaten eingehen, die im Laufe der deutschen Geschichte entstanden, vergingen und vergessen wurden.246
5.1.4 Verlust der Utopie Wir akzeptierten es nicht, das System, das uns umgab, aber wir liebten die Utopie, die es einst auf seine Fahnen geschrieben hatte. Und wir hatten immer noch die Hoffnung, wir könnten irgendwie dahin gelangen. Dafür schrieben wir, waren wir listig, verbündeten uns zeitweilig sogar mit den Gegnern unserer Hoffnung. Das war die Wurzel unserer inneren Zensur. Die Grenze fiel bei jedem anders aus. Den einen war das Soforteinflußnehmen, also gedruckt zu werden, wichtig, die anderen hatten einen längeren Atem. Wir wollten das System erschüttern, um es zu verändern, aber nicht das Land, mit dem sich unsere Utopie verbunden hatte, preisgeben. Je schmerzhafter die Differenz zwischen Traum und Realität wurde, um so stärker wurde die Verpflichtung, sich einzumischen. Gerade dieser Leidensdruck wurde die Quelle für unsere Arbeit. In der die Trauer zunahm. Kaum noch Übermut. Und diesen Kummer teilten wir mit unseren Lesern. Nicht allein die Ersatzfunktion, die Literatur hatte, erklärt ihre Rolle in diesem Land, sondern genau diese Verbundenheit.247 (Helga Königsdorf: Der Schmerz über das eigene Versagen. Was bleibt von der DDR-Literatur?, 1990) 245 246 247
Ebd., S. 13. Ebd., S. 155. Helga Königsdorf: Der Schmerz über das eigene Versagen. Was bleibt von der DDRLiteratur? In: Die Zeit v. 1.6.1990.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
187
Nicht das Verschwinden des sogenannten Sozialismus, sondern der Untergang der Banane ist mein eigentlicher Utopieverlust.248 (Thomas Rosenlöcher: Der Untergang der Banane, 1992)
Die Bandbreite der Äußerungen zum Thema ‚Utopieverlust‘ ist unüberschaubar groß. In Kapitel 5.1.1.4 wurde bereits dargelegt, dass viele Intellektuelle in der DDR ihren Staat von innen heraus reformieren und als sozialistische Alternative etwa zur Bundesrepublik Deutschland aufbauen wollten. Die Vereinigung brachte das Ende dieser Hoffnungen, der sozialistischen Utopie doch noch ein Stück weit näher zu kommen. Der spätestens mit dem 18. März 1990 nicht mehr zu leugnende Verlust der Utopie mag eher Brüche im Schreiben vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller verursacht haben als die Wendeereignisse selbst. So besteht nach Auffassung von Brigitte Burmeister (1994) der „eigentliche Einschnitt für viele Autoren aus der ehemaligen DDR“ im „Wegfall des Sozialismus als geschichtlicher Alternative.“249 Nach der Vereinigung fand das Schlagwort vom ‚Utopieverlust‘ Eingang in die Mottos zahlreicher Veranstaltungen; die wichtigste dürfte das deutsch-deutsche Schriftstellertreffen Ende Oktober 1990 im Weimarer Klub der Intelligenz auf Einladung des Schriftstellerverbandes der DDR und des Verbandes deutscher Schriftseller (VS) gewesen sein. Es stand unter dem Motto „Ende der Utopie“ und war die erste größere offizielle Begegnung von Schriftstellern aus Ost und West nach der ‚Wende‘.250 5.1.4.1 Essays zum Thema Utopieverlust Bereits im Motto des oben erwähnten Schriftstellertreffens drückt sich die – ersatzlose – Verabschiedung der Utopie aus. Im Juni 1991 stellt Helga Königsdorf rückschauend fest: Der Traum von einer gerechteren Gesellschaft, die sozialistische Utopie, ist bei dem Versuch seiner Verwirklichung so sehr diskreditiert worden, daß man ihm heute nur schwer Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Man sollte jedoch nicht
248 249 250
Thomas Rosenlöcher: Der Untergang der Banane. In: ndl 40 (1992) 12; S. 167-170, S. 170. Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: Sinn und Form 46 (1994) 4; S. 648-654, S. 651. Vgl. dazu Wulf Kirsten: Exkursion im Wiederholungsfalle. Auf den Spuren Friedrich Nietzsches. In: W.K.: Textur. Reden und Aufsätze. Zürich 1998, S. 137-157 [zuerst in: Zwielicht. Nietzsche-Stätten 1990. Weimar 1995]. Eine – kritische – lyrische Betrachtung dieses Treffens aus explizit weiblicher Perspektive findet sich bei Gisela Kraft: Dichterherrentreffen in Weimar. In: G.K.: West-östliche Couch. Zweierlei Leidensweisen der Deutschen. Noten und Abhandlungen. Berlin 1991, S. 106.
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vergessen, daß er historisch auch eine positive Funktion hatte. Denn auch eine Vision, die an sich nicht realisierbar ist, kann unter bestimmten Bedingungen eine Zugkraft in eine erwünschte Richtung haben. Und diese Utopie hatte großen Anteil am Widerstand gegen Faschismus und an der Entwicklung des Frühkapitalismus zu den sozialen Marktwirtschaften. Insbesondere an dem, was mit dem Wort „sozial“ ausgedrückt wird. Seine Überzeugungskraft gewann er unter anderem auch durch die Einfachheit des Vorgestellten. Gerade dies macht ihn aber für die Organisation einer modernen Gesellschaft ungeeignet.251
Das Problem des Utopieverlusts ist letztlich ein gesamtdeutsches, denn es stellt sich gleichermaßen für die ‚linken‘ Schriftsteller in der Bundesrepublik Deutschland. Peter Schneider hält Ende April 1990 fest: „Die politische Gestalt einer Menschheitsutopie […] erwies sich als nicht lebensfähig.“ Denn: „Wenn ein Experiment mit siebzig Jahren Laufzeit immer wieder scheitert, kommt als Fehlerquelle unvermeidlich beides in Betracht: die Durchführung des Experiments und die Ausgangshypothese.“252 Hans Magnus Enzensberger freut sich in Gangarten – Ein Nachtrag zur Utopie (1990), dass „der fliegende Teppich der Utopie“ denjenigen „unter den Füßen weggezogen“ wird, „die sich häuslich auf ihm eingerichtet haben“.253 Er konstatiert damit einen Abschied von der Utopie, der ihm jedoch schwer fällt. Seines Erachtens sei es „den Deutschen nicht um den geistigen Raum der Nation und nicht um die Idee des Sozialismus“ gegangen, „sondern um Arbeit, Wohnung, Rente, Lohn, Umsatz, Steuern, Konsum, Schmutz, Luft, Müll.“ Er vermisse „den aufrechten Gang“. Nun müsse man sich wohl in einem neuen Alltag einrichten, „der ohne Propheten auskommt.“254 Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen der Intellektuellen über die deutsche Einheit äußerte er: „Was diese Diskussion bemerkenswert macht, ist gerade ihr Mangel an produktiver Substanz, ihr regressiver Zug, ihr ressentimentgeladener Ton, ihr Unvermögen, auf eine neue Situation einzugehen. Brauchbare Vorschläge hat sie nicht zu bieten.“255 Diese Haltung bringt Enzensberger auch in seiner Lyrik zum Ausdruck. In dem Band Zukunftsmusik (1991) ist die Aufbruchsstimmung nicht etwa mit einem politischen Programm verbunden, wie in dem gleichnamigen Gedicht deutlich wird: 251
252 253 254 255
Helga Königsdorf: Identität auf der Waage. In: H.K.: Aus dem Dilemma eine Chance machen. Aufsätze und Reden. Hamburg / Zürich 1991; S. 89-99, S. 97 [Rede in der Berliner Außenstelle der Stanford University, Juli 1991]. Peter Schneider: Man kann sogar ein Erdbeben verpassen. Plädoyer für eine Vergangenheitsbewältigung der Linken. In: Die Zeit v. 27.4.1990. Hans Magnus Enzensberger: Gangarten – Ein Nachtrag zur Utopie. Wenn ein Alltag anbricht, der ohne Propheten auskommt. In: FAZ v. 19.5.1990. Ebd. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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[…] Pilgerscharen in der Fußgängerzone auf der Suche nach Identität und Südfrüchten. […]256
Der Dichter sitzt unterdessen „im Keller“: […] Nur im Keller der Dichter dichtet bei fünfzehn Watt nach wie vor vor sich hin, „um der Menschwerdung aufzuhelfen“. […]257
Fritz J. Raddatz beschäftigt sich im September 1990 in der Zeit unter dem Titel Die linke Krücke Hoffnung. Das Ende der Trierer Eschatologie oder: Die Angst der Intellektuellen vorm Utopie-Verlust258 mit dem „– eigenen? – Trotz, mit dem eine Utopie bewahrt werden soll.“ Er stellt fest: „Links war zumeist – eine Haltung; Resultat einer radikalen Analyse war es nicht“, um dann die Frage zu stellen: „Müssen wir diese wie immer benannte Utopieverordnung nicht als eine zum Gaukelbild zerronnene Illusion verabschieden?“ Dies bejaht er letztlich: Zwar „ging es sich besser“ „[m]it der linken Krücke Hoffnung“, doch sie habe sich schließlich als „Blindenstock“ erwiesen. Der nun zu verabschiedende Traum „wächst auf zum Alptraum – der ungebremsten, unkorrigierten Warengesellschaft, die sich selber frißt […].“259 Wie schwierig es war und ist, die durch den weit gehenden Verlust der sozialistischen Utopie entstandene Leerstelle auszufüllen, hat nicht erst die später so genannte „Ruck“-Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog gezeigt. In dem bereits 1992 auf Initiative von Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002) entstandenen Manifest. Weil das Land sich ändern muß, stellen die Autoren fest: Nein und abermals nein: So haben wir uns weder die Bundesrepublik nach vier Jahrzehnten noch das befreite, endlich wiedervereinigte Deutschland vorgestellt. Wir hatten gehofft, das Ende der DDR, dieser lange ersehnte, einzigartige Mo-
256 257 258 259
Ders.: Aufbruchsstimmung. In: H.M.E.: Zukunftsmusik. Frankfurt a.M. 1991; S. 42f., S. 42. Ebd., S. 43. Fritz J. Raddatz: Die linke Krücke Hoffnung. Das Ende der Trierer Eschatologie oder: Die Angst der Intellektuellen vorm Utopie-Verlust. In: Die Zeit v. 14.9.1990. Ebd.
190
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ment, werde eine allgemeine Aufbruchstimmung zeitigen. Statt dessen macht sich resignierende Unlust breit. Die Bürger sind frustriert, Regierung wie Opposition ohne Elan und ohne Vision. […] Wir haben es satt, in einer Raffgesellschaft zu leben, in der Korruption nicht mehr die Ausnahme ist und in der sich allzu vieles nur ums Geldverdienen dreht. Es gibt Wichtigeres im Leben des einzelnen wie auch im Leben der Nation.260
Dieser schonungslosen Situationsbeschreibung folgen im Kapitel „Weil das Land sich ändern muß“ Ausführungen zu unterschiedlichen Bereichen und deren wechselseitigen Verbindungen. Hervorzuheben sind dabei Ökologie, Politik, Wirtschaft und deutsches Selbstverständnis – auch im Hinblick auf die Stellung Deutschlands in der Welt. Ein Jahr später erschien, abermals auf Initiative von Marion Gräfin Dönhoff, unter dem Titel Weil das Land Versöhnung braucht ein zweites Manifest, dessen Autoren sich vor allem mit der Frage des Umgangs mit den Akten des ehemaligen MfS auseinander setzen. Mit Hilfe dieser Akten werde primär die ‚Vergangenheitsbewältigung‘ betrieben – ein Vorgang, den die Gräfin Dönhoff in ihrem Vorwort als „Ent-Stasifizierung“261 bezeichnet. Weitere wichtige Essays über den Utopieverlust bzw. das Leben ohne sozialistische Utopie stammen von Peter Glotz (*1939): Der Irrweg des Nationalstaats (1990)262, Klaus Hartung (*1940): Neunzehnhundertneunundachtzig (1990)263, Thomas Schmid (*1945): Staatsbegräbnis (1990)264, Michael Schneider (*1943): Die abgetriebene Revolution (1990)265, Johano Strasser (*1939): Leben ohne Utopie? (1990)266, Joachim Fest (*1926): Der zerstörte Traum (1991)267, Bernd Giesen / Claus Leggewie (*1950): Experi260
261
262 263
264 265 266 267
Marion Dönhoff / Meinhard Miegel / Wilhelm Nölling / Edzard Reuter / Helmut Schmidt / Richard Schröder / Wolfgang Thierse / Ernst Ulrich von Weizsäcker: Ein Manifest. Weil das Land sich ändern muß. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek 1992; S. 9-17, S. 9 u. 16f. Marion Gräfin Dönhoff: Vorwort. In: Marion Dönhoff / Peter Bender / Friedrich Dieckmann / Adam Michnik / Friedrich Schorlemmer / Richard Schröder / Uwe Wesel: Ein Manifest II. Weil das Land Versöhnung braucht. Reinbek 1993; S. 7-14, S. 9. Peter Glotz: Der Irrweg des Nationalstaats. Europäische Reden an ein deutsches Publikum. Stuttgart 1990. Klaus Hartung: Neunzehnhundertneunundachtzig. Ortsbesichtigungen nach einer Epochenwende. Frankfurt a.M. 1990 (Luchterhand Essay); vgl. vom selben Autor auch: Der große Radwechsel oder Die Revolution ohne Utopie. In: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Hrsg. von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg. Leipzig 1990, S. 164-186. Thomas Schmid: Staatsbegräbnis. Von ziviler Gesellschaft. Berlin 1990. Michael Schneider: Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie. Berlin 1990. Johano Strasser: Leben ohne Utopie? Frankfurt a.M. 1990 (Luchterhand Essay). Joachim Fest: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters. Berlin 1991 (Corso bei Siedler).
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
191
ment Vereinigung (1991)268, Brigitte Seebacher-Brandt (*1946): Die Linke und die Einheit (1991)269, Friedrich Schorlemmer (*1944): Versöhnung mit der Wahrheit (1992)270 und Uwe Kolbe (*1957): Renegatentermine (1996).271 Zu nennen ist auch der von Thomas Grimm herausgegebene Sammelband Was von den Träumen blieb (1993)272. Die Mehrheit der Autoren sieht vor allem ein Vakuum, das an die Stelle der Utopie getreten sei. Friedrich Dieckmann (*1937) bildet hier die Ausnahme; in Unser Leben in der Utopie (1993) schreibt er: Zu einem Zeitpunkt, da einige meinungsbildende Feuilletons sich in schöner Einmütigkeit darauf verständigt hatten, daß es mit der Utopie, dieser fahrlässigen Gedankenhelferin zu allen möglichen Bankrotten, nun zu Ende sei, stieg mit aurorischer Verheißung ein neues Utopia aus dem umgepflügten Boden der Geschichte auf; in blühende Landschaft, so die Kundgabe, werde sich das geschundene und deformierte Ost-Land binnen weniger Jahre verwandeln, kraft neuer Ordnung und mit nachhelfender Magie eines Sparstrumpfs, den die Fee der Konjunktur goldprall gefüllt hatte. An dieser konkreten Verheißung zu deuteln, ihr gar zu mißtrauen, bedeutete jene Miesmacherei, die die Sache selbst in Gefahr brachte – eine Zukunft, die zum guten Gelingen nichts so sehr wie den guten Glauben brauchte, jene zuversichtliche Stimmung, die, wie die erstaunten Bewohner eines neuen Erdkreises vernahmen, den Wert des Geldes und die Höhe der Kurse mehr als alle Tatsachen bestimmte. Aus einem Traumreich waren diese Neubürger in ein anderes getreten; ein Utopia hatte dem andern die Klinke in die Hand gegeben. Es machte sich kenntlich dadurch, daß es sich als Nicht-Utopie setzte, als das Schlechthin-Wirkliche und außerdem wissenschaftlich Begründete, und auf die Utopie in dem kritisch insistierenden Sinn, der das Wesen echten utopischen Denkens ausmacht, einen Preis aussetzte, den der Verdächtigung. Nun ist auch diese andere Utopie schon verwelkt wie einst der Glaube an den Anbruch einer neuen Weltordnung, falls nur die Eigentumsverhältnisse geändert würden.273
Weiter heißt es bei ihm: 268 269 270
271
272 273
Bernd Giesen / Claus Leggewie (Hgg.): Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch. Berlin 1991. Brigitte Seebacher-Brandt: Die Linke und die Einheit. Berlin 1991 (Corso bei Siedler). Siehe v.a. Friedrich Schorlemmer: V. Auf der Suche nach der Welt von morgen. In: F.S.: Versöhnung mit der Wahrheit. Nachschläge und Vorschläge eines Ostdeutschen. München 1992, S. 279-351. Uwe Kolbe: Renegatentermine. Der individuelle Abschied von der sozialistischen Utopie. In: Das Vergängliche überlisten. Selbstbefragungen deutscher Autoren. Hrsg. von Ingrid Czechowski. Leipzig 1996, S. 13-37. Thomas Grimm: Was von den Träumen blieb. Eine Bilanz der sozialistischen Utopie. Vorwort von Heiner Müller. Berlin 1993. Friedrich Dieckmann: Unser Leben in der Utopie. Von der Niederlage der Projekte zum Prozeß der Vermittlung. In: Politik ohne Projekt? Nachdenken über Deutschland. Hrsg. von Siegfried Unseld. Frankfurt a.M. 1993; S. 175-199, S. 182f.; Hervorhebung im Original.
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Im Schoß des jonasgleich im Schlunde des Walfischs verschwundenen Landes verbirgt sich noch ein drittes Utopicum. Es ist das kühnste und fragilste aller denkbaren Elemente einer verborgenen Zukünftigkeit und untersteht von seiten der affirmativen Utopie denselben Warn- und Verbotstafeln: das Prinzip Volkssouveränität. Alle, die es erlebten, wissen: Die DDR war nie schöner als in ihrem Untergang. Das war nicht der Effekt, der sich dem Durstigen einstellt, wenn er die Quelle endlich erreicht hat, oder dem im Stau gefangenen Autofahrer, wenn die Normalität des Fahrens sich wiederherstellt. Sondern vergehend gelang dem monarchiegewordenen Sozialismus, zu realisieren, was ihm zu Gründerzeiten programmatisch vorgeschwebt war: das Absterben des Staates. Der wie ein eigenwilliges Kunstwerk von allen Wirklichkeitsbezügen abgelöste Staat verflüchtigte sich wie ein seinen Halteseilen entschwebender Luftballon; das erstaunt auf dem Boden der Tatsachen zurückbleibende Volk fand sich, ehe neue Mächte sich der Staatswaise annahmen, auf einem von Gewaltausübung phantastisch befreiten Plan. Nicht dieser chaosfreie Zustand wirklicher Anarchie aktivierte das Gewaltpotential der Asozialität, sondern erst der ihm folgende neuer Machtergreifung.274
5.1.4.2 Christoph Heins Parabel Kein Seeweg nach Indien (1990) Nicht erst aus der Vielzahl der oben erwähnten Essays wird deutlich, dass der Utopieverlust in Ost wie West eines der zentralen Themen der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist. Schon früh wird das Thema auch im Bereich der fiktionalen Literatur aufgegriffen, etwa von Christoph Hein (*1944) in dessen Erzählung Kein Seeweg nach Indien (1990).275 Eine Flotte ist unter der Führung des ‚Großen Kapitäns‘ unterwegs, um einen Seeweg in das als Paradies dargestellte Indien zu finden, doch, so der Anfang des Textes: Das Unternehmen stand von Beginn an unter einem schlechten Stern. Nur der kleinste Teil der Mannschaft war von der Vision des Großen Kapitäns überzeugt und erwartete tatsächlich, einen Weg nach Indien über das Meer zu finden. Dem Rest der Mannschaft blieb nach dem großen Krieg kaum eine andere Wahl: das Land war verwüstet, und wer nicht verhungern wollte, mußte anheuern. Und wer sich trotzdem sträubte, wurde gegen seinen Willen angeheuert. Er wurde überzeugt, wie der Große Kapitän sagte. In den Hafenspelunken sagte man, er wurde gepreßt.276
274 275
276
Ebd., S. 194. Christoph Hein: Kein Seeweg nach Indien. In: Freitag v. 30.11.1990, S. 3. Der Titel bezieht sich auf die Erzählung Der Seeweg nach Indien (1975) von Fritz Rudolf Fries; vgl. F.R.F.: Der Seeweg nach Indien. In: F.R.F.: Der Seeweg nach Indien. Erzählungen. Leipzig 1978, S. 7-19. Christoph Hein: Kein Seeweg nach Indien. In: Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hrsg. von Lothar Baier. Frankfurt a.M. 1990; S. 13-19, S. 13.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
193
Im Lauf der ‚endlosen‘ Fahrt zeigt sich, dass der Kurs offensichtlich falsch ist: „Wut und Hoffnunglosigkeit griff um sich und erfaßte schließlich auch die Geduldigsten. Es kam zu Meutereien, erst auf einem der Schiffe, bald auch auf allen anderen.“277 Der Große Kapitän weigert sich jedoch, Kurskorrekturen vorzunehmen und lässt „die Aufstände rasch und hart beenden.“278 Ein Klima des Misstrauens macht sich breit: Einige Leute verschwanden pltözlich [sic] spurlos. An Bord kreisten die Gerüchte, und bald bestätigte es sich, daß der Kapitän einen Teil der Mannschaft damit beschäftigte, den anderen Teil zu überwachen. Schließlich mißtraute man einander, und mit dem Mißtrauen wuchs die Verzweiflung. Bei Nacht und Nebel flüchtete man von Bord. Der Große Kapiän ließ daraufhin die Schiffswachen verstärken und mit Waffen ausrüsten.279
Eines Morgens erschrickt der Große Kapitän, denn [a]uch er hielt nicht mehr Ausschau nach jenem Festland, das mit allen Schätzen dieser Welt gesegnet sein soll. Auch er, auch der Große Kapitän hatte – ohne es zu bemerken oder sich einzugestehen – es längst aufgegeben, danach zu suchen.280
In der Nacht darauf bricht ein Aufstand los, der erfolgreich ist; es kommt zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse, und die sofortige Rückkehr der Schiffe in den Heimathafen wird eingeleitet. Bei der Ankunft erkennen die reichen Bürger in der alten Heimat, „wie kaputt die Schiffe und wie ärmlich die Heimkehrer“281 sind. Furcht macht sich auf beiden Seiten breit; lediglich die Kaufleute jubelten noch und stiegen an Bord und verkauften dem Schiffsvolk lange entbehrte Waren zu Preisen, die kaum einer bezahlen konnte, und den billigen Tand, den in der Stadt keiner mehr haben wollte.282
Die Unterhändler der Stadt verhandeln mit den Kapitänen über die Bedingen [sic] der Übergabe. Die unerfahrenen Kapitäne verlangten, daß der Kampfruf jener Nacht, in der die Schiffe zur Wende klargemacht wurden, zu dem Artikel Nr. I des Vertrages gemacht wird: Wir sind das Volk. Aber die Unterhändler der Stadt rechneten ihnen vor, daß diese Forderung unbezahlbar sei, und so einigten sie sich schließlich darauf, den Artikel etwas zu verändern. Die Freiheit 277 278 279 280 281 282
Ebd., S. 14. Ebd. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd.
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und die Würde des Menschen, hieß nun der Artikel Nr. I, sind unantastbar, aber wer die Schiffe verläßt, verliert jeden Anspruch auf Suppe.283
Die Losung lautet nun: „Hinter dem Ozean liegt nicht das Paradies, sondern der Tod.“284 Im letzten Teil des Textes wird die Frage nach den ‚Schreibern an Bord‘ erhoben.285 Ihnen kam auf den Schiffen eine besondere Rolle zu; sie wurden „gelobt und geschätzt und auch überschätzt.“286 Neben als eher unbedeutend eingestuften linientreuen Schreibern gab es solche, die genötigt wurden, das Schiff unterwegs zu verlassen. Andere wurden für verrückt erklärt und eingesperrt, und viele bekamen ein Schreibverbot. Aber dennoch schrieben die Schreiber weiter. Sie beschrieben den tatsächlichen Zustand der Schiffe und die wirkliche Stimmung an Bord. […] So hielten sie die Unruhe wach und das Mißtrauen. […] Als die Mannschaft endlich die Schiffe wenden konnte, wurden auch die Schreiber eine ganze Nacht lang gefeiert als die unerschrockenen Chronisten der Narrenschiffe.287
Danach interessiert sich zunächst niemand mehr für die Schreiber. Einige von ihnen glauben fest daran, nur der Kurs der Schiffe sei falsch gewesen und hinter dem Ozean warte noch immer ein reiches Land auf seine Entdeckung. Und sie nannten es weiterhin Indien oder Amerika oder auch Utopia. Andere hielten dagegen, daß man so lange unterwegs war und nichts gefunden habe und daß hinter dem Ozean nichts anderes liege als die verzweifelte Hoffnung.288
Am Ende steht die Frage an die Schreiber, ob die Zeit auf den Schiffen nicht „eine verlorene“ war: […] dann lächelten sie und sagten, wir wurden gebraucht auf den Schiffen, und wir haben eine Erfahrung gemacht. Wir sind also reicher geworden. Denn alles, was man braucht, zum Leben und zum Schreiben, sind Liebe und Erfahrungen.289
Heins Text, den er als Antwort auf eine Umfrage der Time (New York) unter Schriftstellern aus der DDR über deren Rolle schrieb290, enthält 283 284 285 286 287 288 289 290
Ebd., S. 17. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 19. Christoph Hein: No Sea Route to India. In: Time v. 25.6.1990, S. 68; vgl. Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hrsg. von Lothar Baier. Frankfurt a.M. 1990, S. 200.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
195
zahlreiche Parallelen zu den Verhältnissen in der DDR vor, während und nach der ‚Wende‘ und der Vereinigung. Die in diesem Zusammenhang relevanten Textpassagen wurden oben zitiert und bedürfen wohl kaum eines weiteren Kommentars. Der weitaus größere Teil des Textes setzt sich mit dem Verlust der Utopie auseinander und dient dabei zugleich der Hinführung auf die Frage nach der Rolle der „Schreiber“. Ihnen gilt Heins besonderes Augenmerk. Als große Widerstandskämpfer erscheinen sie hier freilich nicht – womit auch die oben erwähnte Umfrage beantwortet wäre.291 Die Schriftsteller sind in erster Linie „Chronisten“; sie erscheinen abgegrenzt von der „Mannschaft“, die den Hauptanteil am Umsturz trägt. Zudem sind vor allem sie es, die der Utopie nachtrauern bzw. diese aufrechterhalten wollen. Auch Wolfgang Hilbig (*1941) beschäftigt sich in zahlreichen Texten mit dem Utopieverlust. In Die elfte These über Feuerbach (1992) reist der Schriftsteller W. zu einer Podiumsdiskussion über das Thema „Utopie“ nach Leipzig. Eine Taxifahrt zum Veranstaltungsort bietet ihm Zeit zum Nachdenken. Dabei entfremdet sich der Protagonist zunehmend der Stadt, die er kaum wiedererkennt. Die Erzählung beginnt mit den Worten: Immer wieder abgelenkt von Umleitungsschildern, die vor den immer dichter sich reihenden Straßenaufrissen aufgestellt waren und auf verwirrende Umwege wiesen… vom Westen her wurde die Stadt von Baustellen förmlich aufgerollt, so schien es […].292
Mit der Entfremdung von der Stadt geht der Verlust der Utopie und damit auch des Diskussionsthemas einher. W. erkennt seine Situation und verlangt sich in der Nacht ab, einen Satz über Utopie zu formulieren. Die Lösung stellt die Marxsche elfte These über Feuerbach dar: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“293 Zu just diesen Veränderungen kommt es nun, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Folglich kann die Utopie nur in der Negation ‚stattfinden‘. W. gelangt deshalb schließlich zu der Erkenntnis, „daß 291
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Erstaunliche Parallelen zu Heins Erzählung weist ein Gedicht von Harald Gerlach (19402001) auf: In Flaschenpost (1984) ist ebenfalls eine Metaphorik des Wassers von zentraler Bedeutung; mindestens ebenso wichtig ist der Aspekt der Irrfahrt. Vgl. Harald Gerlach: Flaschenpost. In: H.G.: Nachricht aus Grimmelshausen. Gedichte. Berlin (DDR) / Weimar 1984, S. 79. Ähnlich auch Joachim Walthers kurzer Text Das Floß der Utopia. In: Nie wieder Ismus! Neue deutsche Satire. Hrsg. von Manfred und Christine Wolter. Berlin 1992, S. 126. Wolfgang Hilbig: Die elfte These über Feuerbach. In: W.H.: Grünes grünes Grab. Erzählungen. Frankfurt a.M. 1993; S. 125-149, S. 125. Karl Marx: [Thesen über Feuerbach]. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Band 3. Berlin (DDR) 1962 (MEW, 3); S. 533-535, S. 535; Hervorhebungen im Original.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
die Verneinung die notwendigste Form einer funktionierenden Sprache ist…“294 Letztlich bestimmt er damit indirekt auch die Aufgabe eines Schriftstellers. 5.1.5 Ein Stellvertreterkrieg: der ‚deutsch-deutsche Literaturstreit‘ Das Erscheinen von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt löste einen in der Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur nahezu beispiellosen Literaturstreit aus.295 Die Zahl der ‚Beiträge‘ zu dieser Auseinandersetzung ist so hoch, dass im Rahmen dieser Darstellung nur die wichtigsten Grundzüge umrissen werden können. Die zum Teil umfangreichen Originaltexte sind in zwei Dokumentenbänden gut zugänglich; sie wurden herausgegeben von Thomas Anz (1991 / 1995) bzw. von Karl Deiritz und Hannes Krauss (1991).296 Anz bedauert, dass Christa Wolf nicht bereit war, Stellung zu nehmen: „Das Vorhaben, den Streit zu dokumentieren, erschien ihr geradezu als feindlicher Akt. Suspekt war ihr erst recht ein Band, der nicht in ihrem Verlag erscheinen sollte.“297 Auch Karl Deiritz und Hannes Krauss hatten nicht mehr ‚Glück‘. In beiden Bänden fehlt zudem ein Beitrag von Karl Heinz Bohrer, weil dieser darauf bestanden hatte, seinen Aufsatz „in der Exclusivität meiner Zeitschrift“ zu belassen.298 Während Deiritz und Krauss 294 295
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Wolfgang Hilbig: Die elfte These über Feuerbach. In: W.H.: Grünes grünes Grab. Erzählungen. Frankfurt a.M. 1993; S. 125-149, S. 146. Andreas Huyssen sieht den Literaturstreit gar als zweiten ‚Historikerstreit‘; vgl. A.H.: After the Wall: The Failure of German Intellectuals. In: New German Critique (1991) 52 (Special Issue on German Unification); S. 109-143, S. 125. Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1995; Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge“. Analysen und Materialien. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Hamburg / Zürich 1991; ferner: Thomas Anz: Der Streit um Christa Wolf und die Intellektuellen im vereinten Deutschland. In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the Wall. Edited by Peter Monteath and Reinhard Alter. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38), S. 1-17; Werner Biechele: Das alles ist unsere Geschichte. Der deutsch-deutsche Literaturstreit und die Autoren. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40), S. 32-45; Wolfgang Schemme: „Das Großwild steht zum Abschuß frei“. Ein gesamtdeutscher Literaturstreit. In: Deutschunterricht 47 (1994) 5, S. 257-267; die wichtigsten Artikel finden sich auch in der Rubrik „Überblick und Debatte“ in: Deutsche Literatur 1990. Jahresüberblick. Hrsg. von Franz Josef Görtz, Volker Hage und Uwe Wittstock unter Mitarbeit von Katharina Frühe. Stuttgart 1991, S. 228-314. Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland. In: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1995; S. 7-28, S. 26. Karl Deiritz / Hannes Krauss: Ein deutsches Familiendrama. In: Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge“. Analysen und Materialien. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Hamburg / Zürich 1991; S. 7-12, S. 11.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
197
eine stärker wertende Vorgehensweise gewählt haben, steht bei Anz der dokumentarische Aspekt im Vordergrund; der von ihm herausgegebene Band enthält auch eine umfangreiche kommentierte Bibliografie. Mittlerweile liegen mehrere Versuche vor, den ‚Literaturstreit‘ in verschiedene Phasen einzuteilen; diese Ansätze unterscheiden sich allerdings stark voneinander.299 Das vorliegende Kapitel stellt den Versuch einer eigenen Einteilung dar, der den ‚deutsch-deutschen Literaturstreit‘ im engeren Sinne von späteren deutsch-deutschen Auseinandersetzungen, etwa der ‚Stasi-Debatte‘, abgrenzt. Die Wurzeln des ‚deutsch-deutschen Literaturstreits‘ liegen noch vor der ‚Wende‘: Im Juni 1987 greift Hans Noll Christa Wolf mit den Worten an: „Die große Lebenslüge der Christa Wolf besteht darin, daß sie sich einem politischen System zur Verfügung stellte, dessen Amoralität ihr bewußt ist.“300 Einige Monate später hält die Autorin eine Laudatio auf Thomas Brasch, der in jenem Jahr den Kleist-Preis erhält. Der Text wird von Marcel Reich-Ranicki scharf kritisiert, der in der FAZ unter der Überschrift Macht Verfolgung kreativ? vor einer Überschätzung der „DDRStaatsdichterin“ warnt und ihr zudem Unglaubwürdigkeit und Heuchelei vorwirft. Reich-Ranicki behauptet: „Mut und Charakterfestigkeit gehören nicht zu den hervorstechenden Tugenden der geschätzten Autorin Christa Wolf.“301 Eine infolge dieses Artikels begonnene Diskussion findet ihre
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Vgl. z.B. Paul Konrad Kurz: Es geht um mehr als Christa Wolf. In: P.K.K.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur. Frankfurt a.M 1993, S. 280-289. Kurz unterscheidet vier „Stufen“ des Literaturstreits: „Erste Stufe: Der Streit um Christa Wolf“, „Zweite Stufe: Der Streit über den Wert der ehemaligen DDR-Literatur“, „Dritte Stufe: Das Reizwort: ‚Gesinnungsästhetik‘“, „Vierte Stufe: Kritik an den Intellektuellen“. Wolfgang Emmerich geht dagegen von „drei Etappen“ aus, die völlig anders gesetzt werden; vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 462-477: „Die erste (und wichtigste) Etappe war die Kontroverse um Christa Wolfs Erzählung ‚Was bleibt‘, die im Juni 1990 begann und sich, durch den Titel von Wolfs Text erleichtert, zu einer Debatte um die Frage, was denn von der DDRLiteratur überhaupt bleibe und wodurch sie moralisch legitimiert sei, ausweitete. Den zweiten Schritt markiert die Enthüllung von Sascha Andersons Spitzeldiensten für das Staatssicherheitsministerium durch Wolf Biermann im Oktober 1991 – und der Streit um die moralische Glaubwürdigkeit der Prenzlauer-Berg-Szene […]. Die dritte Etappe, ein reichliches Jahr später, knüpfte an beide voraufgegangenen Kontroversen an, insofern es einerseits um zwei reformsozialistische Autoren der älteren Generation, nämlich Christa Wolf und Heiner Müller, zum andern um die ‚Stasi‘-Problematik ging. Ein weiteres Mal, und diesmal noch pointierter, wurde die Autormoral auf den Prüfstand gestellt.“ (Ebd., S. 464; Hervorhebungen im Original) Hans Noll: Die Dimension der Heuchelei. Ernüchternd und entlarvend: Aufsätze und Reden der „DDR“-Autorin Christa Wolf. In: Die Welt v. 4.7.1987. Marcel Reich-Ranicki: Macht Verfolgung kreativ? Polemische Anmerkungen aus aktuellem Anlaß: Christa Wolf und Thomas Brasch. In: FAZ v. 12.11.1987.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Fortsetzung in der Fernsehsendung Das literarische Quartett vom 30. November 1989.302 Zu einer ersten Phase der Eskalation kommt es auf Grund der Rezensionen von Wolfs Erzählung Was bleibt303 durch Volker Hage und Ulrich Greiner in der Zeit vom 1. Juni 1990 sowie von Frank Schirrmacher in der FAZ vom 2. Juni 1990. Während Volker Hage Wolfs erzählerische Leistung würdigt und den Text als „wunderbare, kunstvolle Prosa“304 bezeichnet, äußert sich Greiner vernichtend: Für ihn ist da nur „dieser angenehme Christa-Wolf-Sound, diese flaue Unverbindlichkeits-Melodie in der apart formulierten Sprache“. Greiners Text ist von Beginn an polemisch: Das ist ja ein Ding: Die Staatsdichterin der DDR soll vom Staatssicherheitsdienst der DDR überwacht worden sein? Christa Wolf, die Nationalpreisträgerin, die prominenteste Autorin ihres Landes, SED-Mitglied bis zum letzten Augenblick, ein Opfer der Stasi?305
Er deutet den Text als Wichtigtuerei Christa Wolfs: Was will die Dichterin uns damit sagen? […] will sie sagen: Seht her, ihr armen, von der Stasi um Ansehen und Zukunft gebrachten Mitbürger und ehemaligen Genossen, auch ich wurde überwacht, auch ich war ein Opfer, ich bin keine Staatsdichterin, ich bin eine von euch?306
Vor allem jedoch wendet Greiner sich gegen den Zeitpunkt der Veröffentlichung: Daß Christa Wolf diesen Text in der Schublade behielt, ist ihr gutes Recht. Daß sie ihn jetzt veröffentlicht, verrät einen Mangel nicht an Mut, denn Gefahren drohen keine mehr, sondern an Aufrichtigkeit gegen sich selbst und die eigene Geschichte, einen Mangel an Feingefühl gegenüber jenen, deren Leben der SEDStaat zerstört hat.307
Vor dem 9. November 1989 „wäre die Publikation dieses Textes eine Sensation gewesen, die sicherlich das Ende der Staatsdichterin Christa Wolf und vermutlich ihre Emigration zur Folge gehabt hätte. Danach
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Vgl. dazu Thomas Anz (Hg.): Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München 1991, S. 46-51. Der Text war ab dem 5. Juni 1990 im Buchhandel erhältlich. Volker Hage: Kunstvolle Prosa. In: Die Zeit v. 1.6.1990. Ulrich Greiner. Mangel an Feingefühl. In: Die Zeit v. 1.6.1990. Ebd. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
199
ist die Veröffentlichung nur noch peinlich.“308 Solche Überlegungen sind jedoch reine Spekulation: Selbst wenn Wolf den Text hätte veröffentlichen wollen – das Druckgenehmigungsverfahren hätte er wohl kaum erfolgreich passiert. Zudem stellt sich die Frage, ob die politische Lesart nicht wesentliche ästhetische Dimensionen des Textes ausklammert, denn weshalb sollte ein Text mit dem Ende der dargestellten Zustände per se bedeutungslos werden? Die zahlreichen Anschuldigungen, mit denen sich die Autorin plötzlich konfrontiert sieht, beziehen sich in den seltensten Fällen auf eine detaillierte Kenntnis des Textes oder legen diesen höchst polemisch aus. Heimo Schwilk (1991) glaubt im Sinne eines Resümees formulieren zu können: „Was bleibt“ ist eine ganz und gar unprätentiöse Konfession, Bekenntnis und Beichte zugleich, Klartext einer Autorin, die ihr eigenes, beredtes Schweigen nicht mehr ertragen kann: „So sprachen wir immer, am wahren Text vorbei.“309
Matthias Altenburg bezeichnet Wolf als „[g]esamtdeutsche Heulsuse“310, Marcel Reich-Ranicki bereits früher abwertend als „heilige Kuh“.311 Frank Schirrmacher zufolge werde „ihr schriftstellerischer Rang weit überschätzt“.312 Er behauptet: Tatsächlich spricht denn auch alles dafür, daß sie unfähig war, die moderne Gesellschaft als kompliziertes System konkurrierender Gruppen zu verstehen. Sie hat die Gesellschaft, in der sie lebte, allem Anschein nach immer nur als größere Variante der kleinbürgerlichen, autoritär aufgebauten Familie verstanden.313
Auch Schirrmacher vertritt die Auffassung, dass der Publikationszeitpunkt des Buches unangemessen sei. Wäre es vor der ‚Wende‘ veröffentlicht worden, hätte es „der Staatssicherheit wohl Schaden zufügen können. Jetzt ist
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Ebd.; Hervorhebung im Original; ähnlich argumentiert auch Hajo Steinert: Vermeintliche Atmosphäre der Bedrohung. „Was bleibt“, die neue Erzählung der DDR-Autorin Christa Wolf: Für diese Prosa ist alles zu spät. In: Die Weltwoche v. 14.6.1990. Heimo Schwilk: Nachdenken über Christa W. Staatsdichterin, Staatssicherheit, Staatsverdruß: Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ ist das schonungslose Protokoll einer späten Einsicht. In: Rheinischer Merkur v. 22.6.1990. Matthias Altenburg: Gesamtdeutsche Heulsuse. In: Stern Nr. 26 v. 21.6.1990. Marcel Reich-Ranicki; zit. nach Hajo Steinert: Vermeintliche Atmosphäre der Bedrohung. „Was bleibt“, die neue Erzählung der DDR-Autorin Christa Wolf: Für diese Prosa ist alles zu spät. In: Die Weltwoche v. 14.6.1990. Frank Schirrmacher: „Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten“. Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung Was bleibt. In: FAZ v. 2.6.1990. Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
es bedeutungslos, anachronistisch und hat Züge des Lächerlichen.“314 Die Antwort auf die Frage, weshalb das Buch der Staatssicherheit eigentlich Schaden hätte zufügen können, bleibt Schirrmacher schuldig. Offenbar waren mit einem Schlag sämtliche Verdienste Christa Wolfs vergessen. Man warf der Autorin erneut vor, sie habe die Unterzeichnung der Biermann-Petition später zurückgezogen, was definitiv falsch ist. Vielmehr geht diese von Marcel Reich-Ranicki bereits 1987 erhobene Anschuldigung auf ein von der Staatssicherheit gestreutes Gerücht zurück, demzufolge Christa Wolf sich „in geheimer Aussprache“ von ihrer Unterschrift distanziert hätte.315 Sowohl Reich-Ranicki als auch Frank Schirrmacher machten sich damit im Nachhinein zu Gehilfen einer von der Staatssicherheit ausgehenden Zersetzungstaktik, zumal Christa Wolf und ihr Mann Gerhard von 1968 bis mindestens zum 11. Oktober 1989 vom Staatssicherheitsdienst überwacht wurden.316 Im Zusammenhang mit den Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband vom 7. Juni 1979317 war Wolf unter den 50 Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich gegen die Ausschlüsse aussprachen: Am 10. Juli hatte sie „einen ernstgemeinten, von schwerer Sorge diktierten Appell“318 verfasst, in dem sie darum bittet, „diese Ausschlüsse nicht zu bestätigen“319, denn: „Ein solcher Ausschluß so vieler Kollegen – ohne Beispiel in der Geschichte des Verbandes – wird verhängnisvolle Folgen haben: nicht nur für die Betroffenen, auch für den Verband, für unser kulturelles Leben, für jeden einzelnen von uns.“320 In ihrem Brief fordert sie den Dialog mit den ausgeschlossenen Kollegen und weist zudem auf Probleme im Bereich der Kulturpolitik hin: In den letzten Jahren hat eine Reihe von Kollegen – auch ich – Briefe oder andere Schriftstücke an verschiedene Redaktionen, Organisationen, Partei- und Staats314 315
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Ebd. Christa Wolf: Eine Auskunft. In: BZ v. 21.1.1993. Schon damals hatte Hans Altenhein, der damalige Leiter des Luchterhand-Verlages, dieser Falschaussage Marcel Reich-Ranickis widersprochen: „Christa Wolf hat zu keiner Zeit ihre Unterschrift unter die Biermann-Petition von 1976 zurückgezogen.“ (zit. nach Wolfram Schütte: Aufgemerkt, also! Prügel für Christa Wolf & Sicherheitsverwahrung für Brasch. In: FR v. 14.11.1987). Vgl. Christa Wolf: Eine Auskunft. In: BZ v. 21.1.1993; vgl. auch Judith M. Sallis: The Search for Permanence in a Disintegrating World: Christa Wolf’s Was bleibt. In: Monteath, Peter / Alter, Reinhard (Hgg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38); S. 109-123, S. 111. Vgl. dazu Joachim Walther / Wolf Biermann / Günter de Bruyn / Jürgen Fuchs / Christoph Hein / Günter Kunert / Erich Loest / Hans-Joachim Schädlich / Christa Wolf (Hgg.): Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979. Reinbek 1991 (rororo aktuell). Christa Wolf: Brief vom 10. Juni 1979; zit. nach Ebd.; S. 116f., S. 117. Ebd., S. 116. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
201
stellen gerichtet, um ihre Bedenken über bestimmte Entwicklungstendenzen in der Kulturpolitik zu äußern. Nie wurde auch nur eine Seite eines solchen Schriftstückes – sofern es zur Veröffentlichung bestimmt war – in unserer Presse gedruckt, nie die Richtigstellung oder Verteidigung eines Autors auf öffentliche Angriffe gebracht, nie aus einem dieser Briefe öffentlich zitiert.321
Die negativen Äußerungen, denen Wolf sich ausgesetzt sieht, zeichnen sich vielfach durch einen ausgesprochen verletzenden Stil aus. Häufig liegen auf dieser Ebene auch Ansatzpunkte derjenigen, die sie verteidigen. Stellvertretend seien genannt: Günter Grass322, Walter Janka323, Lew Kopelew324, der damalige Minister für Bildung und Wissenschaft der DDR, Hans Joachim Meyer, Paul Parin325, Wolfram Schütte326 und – mit Blick auf die Künstler in der DDR insgesamt – Walter Jens.327 In seiner Rede zur Verleihung des Titels Officier des Arts et des Lettres an Christa Wolf am 12. September 1990 äußert sich auch der französische Kulturminister Jack Lang zum Thema:
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Ebd. Vgl. Günter Grass: Bericht aus Altdöbern. In: FR v. 30.6.1990; [Interview mit Hellmuth Karasek und Rolf Becker]: Nötige Kritik oder Hinrichtung? SPIEGEL-Gespräch mit Günter Graß [sic] über die Debatte um Christa Wolf und die DDR-Literatur. In: Der Spiegel 44 (1990) 29 v. 16.7.1990, S. 138-143. Walter Janka fragt in einem offenen Brief: „[…] warum verschweigen alle ihre ‚Kritiker‘, daß Frau Wolf schon scharfe Kritik an dem mißbrauchten SED-Staat übte, als noch Herr Kohl dem Herrn Honecker einen aufwendigen Staatsempfang bereitet hat – und die SPD-Führung mit den miserabelsten SED-Politbüro-Mitgliedern über Verständigung und Zusammenarbeit in schöner Harmonie konferierte?“ (Walter Janka über Christa Wolf [Brief an die Red., Kleinmachnow, 24.8.90]. In: europäische ideen (1990) 74, S. 11). Vgl. Für Christa Wolf. Ein Brief von Lew Kopelew an die Zeit, die FAZ und die Welt. In: taz v. 14.6.1990. Vgl. Paul Parin: Die Vernichtung einer Schriftstellerin. Zur Medienkampagne gegen Christa Wolf. In: Wochenzeitung v. 6.7.1990. Vgl. Wolfram Schütte: Reiß:Wolf. Zu einem Eil-Verfahren beim Umgang mit der DDRLiteratur. In: FR v. 8.6.1990. Vgl. Walter Jens: Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft. Plädoyer gegen die Preisgabe der DDR-Kultur. Fünf Forderungen an die Intellektuellen im geeinten Deutschland. In: SZ v. 16. / 17.6.1990 [Eröffnungsrede zum 3. Bertelsmann-Colloquium in Potsdam am 11.6.1990]. Jens fordert: „Nein, Freunde, nicht diese Töne: Ein wenig mehr Sensibilität statt des Spruchkammer-Denkens […]; ein Anflug von Behutsamkeit […]. Bedachtsamkeit ist angezeigt […].“ Die Angriffe bezeichnet er als „große Treibjagd, das Halali von Kritikern, die auftreten, als seien sie zugleich bewährte Widerstandskämpfer und Moraltheologen!“ Er wendet sich gegen „[d]ie Hatz, vom West-Sessel aus, auf Künstler in der DDR mit ihrem vermeintlichen Opportunismus, ihren Träumen von unverzichtbaren Traditionen im eigenen Land und ihrem Bekenntnis zu einer Geschichte, die nicht nur von Niedertracht, sondern auch von Würde bestimmt sei.“ Die Jagdmetaphorik findet ihren Höhepunkt in der Erkenntnis: „[…] das Großwild steht zum Abschuß frei […].“
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Die Veröffentlichung Ihres letzten Buches, „Was bleibt“, hat in einigen Zeitungen zu einer Polemik geführt, deren Echo bis nach Frankreich gedrungen ist. Ich möchte Ihnen heute abend sagen, daß uns diese Kampagne als ungerechtfertigt erscheint, ungerechtfertigt, weil dieses Buch, ein sehr schönes Werk der Erinnerung, des Schmerzes und der Ironie, nicht wie ein Leitartikel beurteilt werden kann, wie eine Petition oder ein Pamphlet. Ungerechtfertigt auch, weil die Neunmalklugen von heute leichtes Spiel haben, wenn sie die denunzieren, die, obwohl sie das Schlimmste erdulden, ihre Jugendideale nicht aufgeben; aber diese Neunmalklugen, was wissen die von der täglichen Wirklichkeit im realen Sozialismus, was wissen sie von der Schwierigkeit zu schreiben, was wissen sie von der Gefahr, die in den Worten liegt? […] und wir wissen, daß wir auf Sie zählen können, liebe Christa Wolf, wenn wir das Schweigen zurückweisen, das Ihnen gewisse Leute vielleicht auferlegen wollen …328
Um den Text selbst geht es im weiteren Verlauf der Debatte kaum mehr. In erschreckender Konsequenz wird die in der DDR entstandene Literatur für wertlos erklärt, in der Regel bar aller Differenzierungsversuche, denn betroffen waren „fast alle Bücher und Autoren aus der DDR: Exilanten und Antifaschisten der ersten Stunde ebenso wie die Systemreformer der mittleren Jahre, die Ewig-Gestrigen unter den Ausgebürgerten und die grün eingefärbten Alternativen vom Prenzlauer Berg.“329 Hans Noll meint, es sei falsch gewesen, die „Literatur der privilegierten DDR-Schriftsteller […] in der Bundesrepublik für eine glaubhafte, authentische Quelle“ zu halten.330 Und Hellmuth Karasek und Rolf Becker geben in einem Spiegel-Gespräch mit Günter Grass im Juli 1990 zu: Wir alle, das heißt die westdeutsche Kritik, haben jahrelang auf DDR-Bücher einen Bonus angewandt, wir sagten uns, Literatur dort entsteht unter bestimmten schwierigen Voraussetzungen, die Autoren können das meiste nicht direkt sagen, sie müssen Umwege wählen.331
Auf der zweiten Stufe der Auseinandersetzung wird also gefragt: „Ist die DDR-Literatur im Westen vorab mit Blick auf systemkritische Inhalte
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Jack Lang: Rede zur Verleihung des Titels „Officier des Arts et des Lettres“ an Christa Wolf. In: ndl 38 (1990) 12; S. 146-148, S. 147f. Alexander Stephan: Ein deutscher Forschungsbericht 1990 / 91: Zur Debatte um das Ende der DDR-Literatur und den Anfang einer gesamtdeutschen Kultur. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 126-134, S. 129. Hans Noll: Das lächerliche Pathos alter Schwärmer. In den Köpfen der prominenten DDR-Literaten ist die Mauer noch immer nicht gefallen. In: Die Welt v. 12.5.1990. [Interview mit Hellmuth Karasek und Rolf Becker]: Nötige Kritik oder Hinrichtung? SPIEGEL-Gespräch mit Günter Graß [sic] über die Debatte um Christa Wolf und die DDR-Literatur. In: Der Spiegel 44 (1990) 29 v. 16.7.1990; S. 138-143, S. 141.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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gelesen worden, d.h. unter Überbewertung moralischer Kategorien und Unterbewertung ästhetischer Maßstäbe.“332 Waren es in der ersten Phase vor allem moralische Argumente, die auf die vermeintlich mangelnde Integrität Christa Wolfs und anderer abzielten, treten nun zumindest auf den ersten Blick auf ästhetische bzw. stilistische Aspekte zielende Argumente in den Vordergrund. Die dritte Phase des Streits wird von Frank Schirrmacher eingeläutet, der in der FAZ vom 2. Oktober 1990 einen Artikel mit dem Titel Abschied von der Literatur der Bundesrepublik veröffentlicht. Darin heißt es zu Beginn: „Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland wurde dreiundvierzig Jahre alt. Wie jener in der DDR steht auch ihr das Ende bevor. Nicht heute vielleicht, aber morgen.“ Schirrmachers Hauptthese lautet: „Nicht nur die Literatur der DDR sollte eine Gesellschaft legitimieren und ihr neue Traditionen zuweisen; auch die Literatur der Bundesrepublik empfand diesen Auftrag und führte ihn gewissenhaft aus.“333 Gemeint sind damit zunächst vor allem die Autoren der Gruppe 47. Fortgeführt wird die Debatte durch Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau vom 20. Oktober 1990334, Ulrich Greiner in der Zeit vom 2. November 1990335 sowie Karl Heinz Bohrer im Merkur.336 Wie bereits am Titel von Schirrmachers Artikel deutlich wird, erfolgt nun die Einbeziehung der westdeutschen Literatur; der Streit entwickelt sich zu einer Grundsatzdiskussion über die gesamte deutschsprachige Nachkriegsliteratur. Ulrich Greiner bringt im November den in Analogie zu Max Webers „Gesinnungsethik“ gebildeten Begriff der „Gesinnungsästhetik“ in die Diskussion ein, diese „Gesinnungsästhetik“ soll für beinahe alle westdeutschen Texte der fünfziger bis achtziger Jahre gegolten haben – also gleichermaßen für Alfred Andersch, Heinrich Böll, Erich Fried, Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser und andere. Er bezeichnet sie als das gemeinsame Dritte der glücklicherweise zu Ende gegangenen Literatur von BRD und DDR. Glücklicherweise: Denn allzu sehr waren die Schriftsteller in bei-
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Paul Konrad Kurz: Es geht um mehr als Christa Wolf. In: P.K.K.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur. Frankfurt a.M. 1993; S. 280-289, S. 282. Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe, neue Identitäten, neue Lebensläufe: Über die Kündigung einiger Mythen des westdeutschen Bewußtseins. In: FAZ v. 2.10.1990. Wolfram Schütte: Auf dem Schrotthaufen der Geschichte. Zu einer denkwürdig-voreiligen Verabschiedung der „bundesdeutschen Literatur“. In: FR v. 20.10.1990. Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: Die Zeit v. 2.11.1990. Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit. In: Merkur 44 (1990) 10 / 11 (Sonderheft 500), S. 851-865; Ders.: Kulturschutzgebiet DDR? In: Ebd., S. 10151018.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
den deutschen Hälften mit außerliterarischen Themen beauftragt, mit dem Kampf gegen Restauration, Faschismus, Klerikalismus, Stalinismus et cetera. Diejenigen, die ihnen diesen Auftrag gaben, hatten verschiedene Namen: das Gewissen, die Partei, die Politik, die Moral, die Vergangenheit.337
Die Gesinnungsästhetik „läßt der Kunst nicht ihr Eigenes, sondern sie verpflichtet sie (wahlweise) auf die bürgerliche Moral, auf den Klassenstandpunkt, auf humanitäre Ziele oder neuerdings auf die ökologische Apokalypse.“338 An Realsatire grenzt in diesem Zusammenhang Jürgen Mantheys Behauptung, Bertolt Brecht sei ein ‚infantiler Staatsdichter‘ gewesen339; ebenfalls in der Zeit unterstellt Klaus Harpprecht Heinrich Mann in einer Rezension von dessen erstmals erschienener Essaysammlung Mut „erzdeutsch-unpolitische Naivität“.340 Sowohl Schirrmacher als auch Greiner berufen sich auf neuere ästhetische Theorieansätze zur Moderne, etwa von Karl Heinz Bohrer341, und postulieren die Notwendigkeit einer ausschließlich ästhetischen Begründung von Literatur: eine Auffassung, die unter anderem Sartres Konzept der ‚littérature engagée‘ und verwandten Formen zuwiderläuft. Konkret auf den ‚Wende‘-Kontext bezogen stellt Bohrer in einer Glosse die titelgebende – rhetorische – Frage nach einem „Kulturschutzgebiet DDR?“342, dessen Einrichtung mit Unterstützung der westdeutschen Intellektuellen er zu befürchten scheint und die er selbstverständlich ablehnt. Den westdeutschen Intellektuellen, allen voran Günter Grass und Walter Jens, wirft er vor, dass bei ihnen künstlerische Kreativität und intellektuell wissenschaftliche Originalität ersetzt wurden durch die politische Rhetorik eines um seinen Einfluß bangenden kulturellen Milieus aus den fünfziger und sechziger Jahren, das außerhalb der ihm
337 338 339
340
341
342
Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: Die Zeit v. 2.11.1990. Ebd. Vgl. Jürgen Manthey: Staatsdichter im Kinderland. Über den Infantilismus in Bertolt Brechts Brot- und Suppen-Theater. Aus Lebensangst verschrieb sich Brecht einem System, in dem alles ein für alle Mal festgelegt war. In: Die Zeit v. 6.3.1992. Klaus Harpprecht: Bruder Heinrich. Lange Zeit galt er als der politisch wachere Kopf der Gebrüder Mann – nicht allein die Essaysammlung „Mut“ belegt, daß das ein Irrtum ist: Er überließ sich der Sprache der Agitation. In: Die Zeit v. 21.2.1992. Vgl. v.a. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981; aber auch die mittlerweile erschienenen Schriften zur Thematik: Ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a.M. 1994; Ders.: Das Ethische am Ästhetischen. In: Merkur 54 (2000) 12, S. 1149-1162. Ders.: Kulturschutzgebiet DDR? In: Merkur 44 (1990) 10 / 11 (Sonderheft 500), S. 10151018.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
205
nahestehenden Institutionen zwischen PEN-Club und einigen Kulturinstitutionen intellektuell langweilt.343
Zudem greift er die gesamte DDR-Intelligenz scharf an: Ich glaube nicht, daß die verlorenen Leben und Karrieren der DDR-Intelligenz zu mehr ausreichen als einer schmerzvollen und notwendigen psychologischen Einzel- oder Gruppenanalyse.344
Bei Christa Wolfs Erzählung handele es sich schlicht um „Gesinnungskitsch“345; „[e]ine aufgeklärte Gesellschaft kennt keine Priester-Schriftsteller.“346 Deshalb werde auch Wolf sich daran gewöhnen müssen, was Literatur in einer säkularisierten Gesellschaft darstellt: keine Droge für Unterdrückte, kein quietistisches Labsal. Vielmehr verschärfter Anspruch an die imaginative Potenz […].347
Hans Joachim Schädlich (1990) fasst zusammen: Die literarische Debatte der jüngsten Zeit scheint sich letzten Endes wieder einmal um das Verhältnis von Politik und Literatur zu drehen. Nicht gerade selten taucht die Frage nach den Aufgaben der Literatur auf. Weniger vorsichtige Fachleute zählen die Aufgaben der Literatur einfach auf. Dabei rangiert die politische Aufgabe der Literatur auf den vorderen Plätzen. Es fragt sich nur – wieder einmal –, ob die Literatur tatsächlich eine politische Aufgabe hat.348
Ziel dieser groß angelegten, im Übrigen nicht nur die Literatur betreffenden349, Rundumschläge war es offenbar, den Weg frei zu machen für eine neue, gesamtdeutsche Literatur, „die wieder mehr Wert auf sich selbst als 343 344 345 346 347 348
349
Ebd., S. 1015. Ebd. Ebd., S. 1016. Ebd. Ebd., S. 1017. Hans Joachim Schädlich: Über Dreck, Politik und Literatur [1990]. In: H.J.S.: Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze, Reden, Gespräche, Kurzprosa. Berlin 1992; S. 25-29, S. 28. „For example, Siegfried Gohr, director of the Ludwig Museum in Cologne, refused to display any paintings from the GDR because he did not consider them art, and the former East German painter Georg Baselitz replied when asked about East German painters such as Bernhard Heisig or Wolfgang Mattheuer: ‚No artists, no painters. None of them have ever painted a picture.‘“ (Karl-Heinz J. Schoeps: Intellectuals, Unification, and Political Change 1990: The Case of Christa Wolf. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 251277, S. 274).
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
auf irgendwelche humanistischen oder aufklärerischen Traditionen legt.“350 Um Christa Wolf und Was bleibt ging und geht es also – aus heutiger Perspektive und im Wissen um die Dimension des Streits – letztlich nur am Rande. Es mag zunächst verwundern, dass ausgerechnet sie und nicht etwa in politischer Hinsicht weitaus verdächtigere Autoren als ‚Opfer‘ herhalten mussten.351 Bereits relativ früh wird deutlich, dass es sich beim Literaturstreit nicht zuletzt um eine Art Stellvertreterkrieg handelt, wie Uwe Wittstock (1990) ausführt: Der Literaturbetrieb ist also geradezu prädestiniert dazu, die aufgebrochenen moralischen Konflikte der Allgemeinheit auszufechten. Er dient als Modell, an dem vor aller Augen und bei geringem Risiko durchgespielt werden kann, was an der ganzen Bevölkerung zu exekutieren sich niemand leisten kann und will. Dies vor allem rechtfertigt den deutsch-deutschen Schriftstellerstreit, auch wenn er mitunter lächerliche, peinliche, inquisitorische Züge annimmt […].352
350
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352
Alexander Stephan: Ein deutscher Forschungsbericht 1990 / 91: Zur Debatte um das Ende der DDR-Literatur und den Anfang einer gesamtdeutschen Kultur. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 126-134, S. 130. Vgl. Ernst Keller: Fallen idols – German intellectuals and writers facing the demise of the GDR. In: Monteath, Peter / Alter, Reinhard (Hgg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38); S. 35-50, S. 41; vgl. dazu auch die dargestellte Auffassung Hermann Kants in: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1995, S. 108f. Günter de Bruyn stellt in diesem Kontext fest: „Daß ausgerechnet Christa Wolf als böses Beispiel herhalten mußte, entbehrt jeder Gerechtigkeit und jeder Logik und ist nur als Folge ihres großen Erfolgs zu begreifen, der zum Denkmalssturz reizt.“ (Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge. Die Nachwirkungen der Zensur führen zu einer literarischen Klimavergiftung – in beiden Teilen Deutschlands. Verbotene Bücher verlieren den Heiligenschein des Märtyrertums. Denn so war es doch: Wer ein schlechtes verbotenes Buch auch schlecht nannte, wurde zum Komplizen des Zensors; wer ein gutes verbotenes Buch lobte, geriet in den Verdacht, es nur wegen des Verbots zu tun. In: Die Zeit v. 7.9.1990) Und Helga Königsdorf äußerte auf einer Tagung dazu: „Eine Königin köpfen ist effektiver als einen König köpfen“ (Helga Königsdorf auf der Women in German Studies Conference (23.-26.10.1990 in Minneapolis / Minnesota); zit. nach Anna K. Kuhn: ‚Eine Königin köpfen ist effektiver als einen König köpfen‘: The Gender Politics of the Christa Wolf Controversy. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 200-215, S. 205). Uwe Wittstock: Die Dichter und ihre Richter. Literaturstreit im Namen der Moral: Warum die Schriftsteller aus der DDR als Sündenböcke herhalten müssen. In: SZ v. 13. / 14.10.1990 (Feuilleton-Beilage).
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
207
Wittstock schließt mit der Feststellung: „Es geht nicht um die Literatur, sondern um eine exemplarische Abrechnung mit exemplarischen Lebensläufen. Die Dichter sind Stellvertreter.“353 Auch wenn er mit dem Attribut ‚deutsch-deutsch‘ versehen wurde, war der Literaturstreit in erster Linie eine westdeutsche Angelegenheit, die – zumindest in der Anfangsphase – an ostdeutschen Autorinnen und Autoren ausgetragen wurde. Ostdeutsche Zeitungen hielten sich mit eigenen Kommentaren weit gehend zurück. Frauke Meyer-Gosau (1999) sieht die Debatte auch als Versuch der Modernisierung und des Generationswechsels, dem sich in den westdeutschen Feuilletons nicht viel mehr als eine nur mühsam und argumentationsschwach hinhaltende Gegenbewegung der Befürworter eines seit den fünfziger Jahren tradierten Literaturkonzeptes entgegenstellte.354
Damit ist eine weitere Ebene des Stellvertreterdaseins angesprochen. Eine literarische Reaktion auf ihre Behandlung im Zuge des Literaturstreits könnte Christa Wolfs Erzählung Nagelprobe (1991) sein355, die sie für den Katalog zu der Ausstellung Aufbruch (1991 / 92) von Günther Uecker schrieb.356 Der Text beginnt mit einem Traumbild, das unter anderem mittelalterliche Foltermethoden heraufbeschwört: Ich habe in einem Raum gesessen, denke ich, oder erzähle ich jemandem, den ich noch nicht kenne, da sind von beiden Seiten, genau genommen auch von vorn und von hinten, also von allen vier Seiten, Nägel auf mich zugewachsen, ob Sie es glauben oder nicht, es waren Leute da, hundert vielleicht, also ein Auditorium, dem ich etwas vortragen mußte, während ich mich insgeheim fragte, wie weit
353 354
355
356
Ebd.; Hervorhebung im Original. Frauke Meyer-Gosau: Modernisierung, Generationswechsel, Erleichterung. Zehn Jahre Literatur und literarische Debatten seit der Wende. In: Heinrich-Böll-Stiftung / Lothar Probst (Hgg.): Differenz in der Einheit. Über die kulturellen Unterschiede der Deutschen in Ost und West. 20 Essays, Reden und Gespräche. Berlin 1999; S. 197-207, S. 200. Vgl. dazu auch: Karl-Heinz J. Schoeps: Intellectuals, Unification, and Political Change 1990: The Case of Christa Wolf. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 251-277, S. 268f.; Barbara Sørensen: 3.5. Nagelprobe als Reaktion Christa Wolfs auf den deutsch-deutschen Literaturstreit. In: B.S.: Sprachkrise und Utopie in Christa Wolfs Texten nach der Wende. Die Krise der Intellektuellen im wiedervereinigten Deutschland. Kopenhagen / München 1996 (Publications of the Department of Languages and Intercultural Studies, Aalborg University, Vol. 16 / Text & Kontext, Sonderreihe, Band 38), S. 84-94 sowie Claire Baldwin: „Nagelprobe“: On German Trials. In: Colloquia Germanica 27 (1994) 1, S. 1-11. Christa Wolf: Nagelprobe. In: Günther Uecker: Aufbruch. Werke 1986-1991. St. Gallen [1992], S. 30-36.
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diese Nägel, da sie nun einmal die Lein-Wände durchbrochen hatten, also durch sie hindurchgeschlagen worden waren, sich noch herauswagen würden.357
Die evozierte Atmosphäre ist also die einer außerordentlichen und zugleich unkalkulierbaren Bedrohung, der sich die Ich-Erzählerin ausgesetzt sieht. Zu ihren „frühesten Schreckensvorstellungen“ gehören die Nageltonne, in der die böse Frau den Abhang hinuntergerollt wird, in den Fluß hinein […]; oder etwa jene menschlichen Formen nachgebildete eiserne Mulde, in die das Opfer oder eben der zu Verhörende hineingezwungen wurde, so daß vom Deckel her durch eine sinnreiche Vorrichtung nagelspitze Spieße allmählich auf ihn zubewegt werden konnten […], bis er aussagewillig war und sich schuldig bekannte, oder die Frau, die nun endlich bereit war einzugestehen, daß sie es als Hexe mit dem Bösen getrieben hatte […].358
Es dürfte nicht sonderlich ergiebig sein, die Ich-Erzählerin vordergründig mit Christa Wolf zu identifizieren. Zu berücksichtigen ist auch, dass Ueckers Ausdrucksform Nagelbilder sind und der Text damit einen thematischen Bezug zu Ueckers Kunstwerken aufweist. Dennoch mag die Atmosphäre der Bedrohung literarischer Ausdruck der Gefühlswelt einer Autorin sein, die mit irrationalen Argumenten angegriffen wird. Für diese Lesart sprechen auch die Überlegungen der Erzählerin über Formen von Nägeln und über deren Zugehörigkeit zu bestimmten ‚Köpfen‘: Manche Nägel aber haben keinen Kopf. Oder manche, sicher auch ich, gebe ich zu, haben einen hohen Nagel im Kopf. Nämlich man lernt nie aus über die Formen von Dünkel und Selbstdünkel, sage ich. Ich lerne nie aus. Oder manche treffen den Nagel auf den Kopf. Manche treffen immer jeden Nagel auf den Kopf. Oder sie treffen unfehlbar jeden Kopf. Unfehlbar immer jeden anderen Kopf, denke ich. Manche sind unfehlbar, sage ich.359
Im Mittelpunkt stehen damit auch Attacken, gegen die eine Verteidigung kaum möglich ist, schon gar nicht auf rationaler Ebene. Wesentlich ist dabei weniger die Frage nach der Basis für diese Angriffe als die Frage der stets zurückbleibenden, vor allem psychischen Folgen für die Angegriffene. Der Text schließt mit einem Gedicht, das in geringfügiger Abweichung bereits
357 358 359
Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 31.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
209
am 26. Mai 1990 – also vor dem Erscheinen von Was bleibt – niedergeschrieben wurde360 und die mangelnde Ausweglosigkeit den Angriffen gegenüber zum Ausdruck bringt. Der Titel spielt auf die gleichnamige Schrift von Ernst Bloch an: Prinzip Hoffnung Genagelt ans Kreuz Vergangenheit. Jede Bewegung treibt die Nägel ins Fleisch.361
Lediglich verwiesen sei darauf, dass Bildwahl, Stimmung und Veröffentlichungsort – eine 1994 anlässlich des 65. Geburtstages von Christa Wolf erschienene Anthologie – die Vermutung nahe legen, dass Jürgen Rennert sich in seinem Akrostichon auf den oben zitierten Text bezieht: Charismatisch festgenagelt. Hosianna. Steinigt sie. Res integra. Alles hagelt In die Gärten. Vormärzfrüh Singen, Sagen und Soufflieren, Textlos leben, widerstehn Aus dem Wieder. Retardieren, Wachen, schlafen, Menschen sehn, Ortend, wortend, ohne Trauer, Liebe, Hoffnung, Haß und Furcht, Frei und kontrovers auf Dauer …362
Im Hinblick auf Wolf ist mit Ursula Homann (1990) zusammenfassend zu fragen: Woher nehmen Kritiker eigentlich das Recht, über die politischen und persönlichen Entscheidungen eines Menschen in einer schwierigen Zeit zu Gericht zu sitzen und von gesicherten Positionen aus, andere aufzufordern, mutig zu sein, und ihnen
360
361 362
Christa Wolf / Helga Schröder: [ohne Titel]. In: C.W. / H.S.: Was nicht in den Tagebüchern steht. Berlin 1995, ohne Seitenangabe. Hier heißt es: „Angenagelt / ans Kreuz Vergangenheit“; diese Fassung enthält auch keine Satzzeichen. Christa Wolf: Nagelprobe. In: Günther Uecker: Aufbruch. Werke 1986-1991. St. Gallen [1992]; S. 30-36, S. 36. Jürgen Rennert: Akrostichon. In: Ein Text für C.W. Berlin 1994, S. 171; Hervorhebungen im Original.
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Verlogenheit vorzuwerfen, wenn sie es nicht sind? Dem Blick von außen entgeht manches.363
Homann gibt weiterhin zu bedenken: Jedoch auch die Schriftsteller und Intellekktuellen [sic] der Bundesrepublik kommen nicht umhin, ihre eigenen Defizite zu bedenken und sich mit ihren bisherigen Einstellungen, Versäumnissen und Irrtümern zu befassen, vor allem dann, wenn sie mit dem Projekt des Sozialismus geliebäugelt und infolgedessen die DDR nie so gesehen haben, wie sie wirklich war, nämlich als eine Karikatur marxistischer Ideale. Man wird sich also auch bei westdeutschen Autoren erkundigen müssen, wie hoch ihr Anteil bei der Erhaltung und Stabilisierung der DDR gewesen sei. Ganz unschuldig dürften sie ebenfalls nicht sein an der langen Dauer des zweiten deutschen totalitären Sündenfalls.364
Stattgefunden haben diese Selbstbefragungen im Westen jedoch kaum; man hielt sich zurück und schwieg und / oder lenkte von den mit der eigenen Person verbundenen Schwierigkeiten ab. 5.1.6 ‚Geist und Macht‘ – Staatssicherheit und Literatur Das dichterische Wort besaß im offiziellen Verständnis gesellschaftliche Wirkungsmacht – hätte man es sonst überwacht?365 (Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen, 1994)
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gehört zu den dunkelsten Einrichtungen der DDR – nicht zuletzt, weil es noch weit über deren formales Ende hinaus Wirkungen zeitigt: Jürgen Fuchs zufolge hat die Stasi ein „Auschwitz in den Seelen“ verursacht366; eine ähnliche Auffassung formuliert die Psychologin Ursula Plog: „Am Ende der DDR standen zwar keine Bilder von Massengräbern und Internierungslagern, wohl aber Hunderttausende von zerstörten Seelen.“367
363 364 365 366 367
Ursula Homann: So bitte nicht! Ab- und Aufrechnungen in Ost und West. In: Der Literat 32 (1990) 9; S. 245-248, S. 246. Ebd. Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: Sinn und Form 46 (1994) 4; S. 648-654, S. 652. Jürgen Fuchs; zit. nach Frank Schirrmacher: Verdacht und Verrat. Die Stasi-Vergangenheit verändert die literarische Szene. In: FAZ v. 5.11.1991. „Immer auf der richtigen Seite stehen“. Psychologin Ursula Plog über die Verhaltensmuster von Stasi-Zuträgern. In: Der Spiegel 49 (1995) 33 v. 14.8.1995 (SPIEGEL-Gespräch); S. 62-64, S. 62.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
211
Dem MfS unterstanden 15 Bezirksverwaltungen; diesen waren wiederum 219 Kreis- und Objektdienststellen untergeordnet. Schwer zu überblicken ist weniger die Zahl der Hauptamtlichen Mitarbeiter, die für 1989 / 90 auf über 90 000 geschätzt wird, sondern die der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM): 1988 soll sie bei rund 173 000 gelegen haben.368 Es ist kaum verwunderlich, dass der Staatssicherheitsdienst schon bald nach der ‚Wende‘ zur am intensivsten erforschten Institution der DDR wurde. Mittlerweile sind mehrere Einzeluntersuchungen, auch von Schriftstellern, erschienen – meist unter besonderer Berücksichtigung spezieller Aspekte dieses Forschungsgebietes.369 Die ausführlichste Darstellung über das Verhältnis und die Verbindungen von Staatssicherheit und Literatur stammt von Joachim Walther und kam 1996 erstmals heraus.370 Walther ist Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der Gauck- bzw. Birthler-Behörde und dort zuständig für das Gebiet Literatur und Staatssicherheit. Von ihm stammen auch einige literarische Texte zum Thema Staatssicherheit, stellvertretend genannt sei der 1990 geschriebene Text Woyzeck in Amerika.371 Weitere Publikationen zum Thema ‚Staatssicherheit und Literatur‘ von anderen Autoren sind in großer Zahl erschienen372, können hier aber nicht erschöpfend referiert werden. Walther (1997 / 1999) teilt die „Geschichte der Überwachung, Beeinflussung und Unterwanderung der DDR-Literatur“373 durch das MfS in drei Phasen ein: 368
369
370 371 372
373
Vgl. dazu: David Gill / Dieter Sailer: Jeder Nachbar ein Spitzel? Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. In: Informationen für die Truppe 38 (1994) 6; S. 30-37, S. 32. Vgl. Jürgen Fuchs: „… und wann kommt der Hammer?“ Psychologie, Opposition und Staatssicherheit. Berlin 1990; Klaus Behnke / Jürgen Fuchs (Hgg.): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Mit Beiträgen von: Mitchell G. Ash, Wanda von Baeyer-Katte, Klaus Behnke, Karin Elmer, Jürgen Fuchs, Halldór Hauksson, Edwin Kratschmer, Herbert Loos, Hans-Joachim Maaz, Helmut Müller-Enbergs, RudiKarl Pahnke, Ursula Plog, Christian Pross, Andreas Schmidt, Annette Simon, Sonja Süß, Edith Wolf. Hamburg 1995. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999. Ders.: Woyzeck in Amerika [1990]. In: J.W.: Verlassenes Ufer. Prosa. Leipzig 1994; S. 189-213. Z.B.: Wolfgang Bergsdorf: Literaten und Denunzianten. In: Die politische Meinung 37 (1992) 271, S. 89-95; diplomatisch getreue Auszüge aus den Akten von Christa Wolf (S. 18-22) und Hans Joachim Schädlich (S. 23-26) sind auch veröffentlicht in: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993. Joachim Walther: „Kosmonauten der stillen Erkundung“. Schriftsteller und Staatssicherheit. In: Günther Rüther: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 283-302, S. 286.
212 – – –
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eine frühe Phase von 1950-1963, eine mittlere Phase von 1963-1976 und eine letzte Phase von 1976-1989.374
In der frühen Phase war noch keine eigene Abteilung oder Diensteinheit für den Kulturbetrieb im Allgemeinen bzw. den Literaturbetrieb im Besonderen zuständig. 1969 änderte sich dies mit der Einrichtung der Hauptabteilung (HA) XX / 7 und der ensprechenden Referate in den Bezirksverwaltungen des MfS; dieser Bereich, in dem 1989 40 Hauptamtliche und 350 Inoffizielle Mitarbeiter arbeiteten375, steht heute im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Frank Schirrmacher (1995) vertritt die Auffassung, „daß sich die Enttarnung und Entlarvung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern vorwiegend auf den Bereich der Künste konzentriert hat.“376 Mit dieser Angabe dürfte Schirmacher allerdings lediglich im Hinblick auf eine breite Öffentlichkeitswirkung Recht haben; schließlich sind in der Politik Enttarnungen nach wie vor an der Tagesordnung. Die letzte Phase setzte mit den Auswirkungen des Entspannungsprozesses ein und kulminierte nach der Biermann-Ausbürgerung, in deren Folge 1978 bei der HA XX / 7 erstmals ein Referat eingerichtet wurde, das bis 1982 die beiden Schwerpunktaufgaben „Verlagswesen“ und „Zentraler Schriftstellerverband“ der DDR bearbeitete. Im Verlauf der achtziger Jahre nahmen das Referat IV der HA XX / 7 und die Referate 7 bei den Bezirksverwaltungen sowie die Hauptabteilung XX / 9 den Kampf gegen die „politische Untergrundtätigkeit“ (Stasi-Kürzel: PUT) im Literaturbereich auf.377
An Methoden der Staatssicherheit hebt Walther (1997) vor allem hervor: – „[d]as ‚Besetzen von Schlüsselpositionen‘ mit Inoffiziellen Mitarbeitern oder offiziellen Kontaktpersonen“, – das „‚Zurückdrängen des öffentlichkeitswirksamen Einflusses‘“; konkret bedeutete dies Eingriffe in die Kontakte zwischen Produzent und Rezipient, also zwischen Autor und Leser, etwa durch das Verhindern von Publikationen oder Auftritten, aber auch das Steuern oder Verhindern von Rezensionen378, 374
375
376 377
378
Vgl. Ebd., S. 286f.; vgl. dazu detailliert Ders.: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999, S. 169-220. Vgl. Ders.: „Kosmonauten der stillen Erkundung“. Schriftsteller und Staatssicherheit. In: Günther Rüther: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 283-302, S. 287. Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit. In: Die politische Meinung 40 (1995) 311, S. 55-63, S. 60. Joachim Walther: „Kosmonauten der stillen Erkundung“. Schriftsteller und Staatssicherheit. In: Günther Rüther: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 283-302, S. 286f. Ebd., S. 287.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
213
– „[d]ie Methode des Zersetzens“ als „eine der wichtigsten und am häufigsten angewandten MfS-Methoden der siebziger und achtziger Jahre.“379 Die Richtlinie Nr. 1 / 76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (1976) verzeichnet unter Punkt 2.6.2. die „Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung“ im Einzelnen: Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind: – systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; – systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; – zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; – Erzeugen von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder.380
Hinzu traten: – die Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme, Telefonanrufe usw.; kompromittierende Fotos, z.B. von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen; – die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation; – gezielte Indiskretionen bzw. das Vortäuschen einer Dekonspiration von Abwehrmaßnahmen des MfS; – die Vorladung von Personen zu staatlichen Dienststellen oder gesellschaftlichen Organisationen mit glaubhafter oder unglaubhafter Begründung.381
Das Spektrum der „Bearbeitungsmöglichkeiten“ eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin reichte dabei von einer Sicherheitsüberprüfung bis zur Anlage eines Operativen Vorgangs (OV), der letzten Stufe vor einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren mit oder ohne Inhaftierung des oder der Betroffenen.382 Eine besondere Rolle spielten die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM)383, 1985 offiziell definiert als Bürger der DDR oder Ausländer, der sich aus positiver gesellschaftlicher Überzeugung oder anderen Beweggründen bereit erklärt hat, konspirativ mit dem MfS zusammenzuarbeiten, um die gesellschaftliche Entwicklung vor allen subversiven Angriffen des Feindes zuverlässig zu schützen, die innere Sicherheit der DDR 379 380 381 382 383
Ebd., S. 288. Richtlinie 1 / 76, S. 47f.; zit. nach Ebd., S. 289. Ebd., S. 48; zit. nach Ebd. Vgl. dazu Ebd., S. 289-293. Der Begriff Inoffizieller Mitarbeiter löste 1968 den Begriff Geheimer Informator (GI) ab.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
allseitig zu gewährleisten und zur weiteren Stärkung der sozialistischen Staatengemeinschaft beizutragen. Die IM sind die Hauptkräfte des MfS im Kampf gegen den Feind.384
Der Stellenwert der IM für das Funktionieren des Apparates lässt sich bereits an dem oben erwähnten Zahlenverhältnis zwischen ihnen und den Hauptamtlichen Mitarbeitern ablesen. Die Motive, als IM tätig zu werden, können nach Walther (1997) vor allem mit folgenden Schlagwörtern umrissen werden: – „Utopismus / Idealismus“ – Walther zufolge „das häufigste Motiv der Selbstverführung“, – „Einsicht in die Notwendigkeit“, – „Streben nach Anerkennung“, – „Spiel, Lust und ‚revolutionäre Ungeduld‘“, – „Macht über Menschen“, – „Karrierestreben“ und – „Angst“.385 Bei aller Widersprüchlichkeit des umfangreichen Aktenmaterials lässt sich erkennen, dass viele Autorinnen und Autoren, Künstler und Intellektuelle als Unsicherheitsfaktoren galten: Sie waren in besonderem Maße von Kontrollmaßnahmen des Staates im weiteren und der Staatssicherheit im engeren Sinne betroffen. Veröffentlicht sind mittlerweile zahlreiche Auszüge aus den Stasi-Akten einzelner Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Basis auch für diese Publikationen ist das am 29. Dezember 1991 in Kraft getretene Stasi-UnterlagenGesetz (StUG)386, das unter anderem die Möglichkeit der Akteneinsicht regelt. Grob zu unterscheiden sind ‚Täter-‘ und ‚Opfer-Akten‘; einige Beispiele werden im Folgenden vorgestellt. 384
385
386
Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“. Hrsg. von Siegfrid Suckut. 3. Auflage. Berlin 2001 (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; 5), S. 196. Zu den „Besonderheiten ‚literarischer‘ IM“ vgl. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999, S. 564-659. Joachim Walther: „Kosmonauten der stillen Erkundung“. Schriftsteller und Staatssicherheit. In: Günther Rüther: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 283-302, S. 295-299; vgl. dazu ausführlicher Ders.: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999, S. 608-618. Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Deomokratischen Republik vom 20. Dezember 1991. In: Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1991, Teil I, Nr. 67, S. 2272ff.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Eine der ersten veröffentlichten ‚Opfer‘-Akten war die unter der ArchivNr. 1434 / 77 abgelegte Akte X / 514 / 68 von Reiner Kunze, erschienen 1990 in Auszügen unter dem Titel Deckname „Lyrik“.387 ‚Zuständig‘ für Kunze war die Bezirksverwaltung Gera des Ministeriums für Staatssicherheit, wo eine zwölfbändige Akte mit 3491 Blatt geführt wurde. Angelegt wurde diese am 16. September 1968, beendet am 19. Dezember 1977. Hauptziel der Observationen war es offensichtlich, ‚Beweise‘ zu sammeln, um den Autor wegen „staatsgefährdender Hetze“ (§106 StGB der DDR), „Spionage“ (§97 StGB), „Sammlung von Nachrichten“ (§98 StGB), „staatsfeindlicher Verbindungen“ (§100 StGB) und „Staatsverleumdung“ (§220 StGB) überführen zu können. Die in erster Linie dazu eingeleiteten Maßnahmen waren die des Psychoterrors durch Rufmord, die Ablehnung von Lesungen, das Abhören von Telefongesprächen sowie die Kontrolle der Post.388 Um entsprechend gezielt vorzugehen, beschaffte sich die Stasi sogar Kunzes Krankenunterlagen im Schleizer Kreiskrankenhaus.389 An Kunzes Akte wird auch deutlich, wie die Stasi versuchte, Freunde und Bekannte als Spitzel anzuwerben: Die Ehefrau des GMS [Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit; F.Th.G.] „K.“ [in diesem Fall der Hausvertrauensmann] brachte zum Ausdruck, daß ihr das etwas peinlich sei, einen Menschen, den sie bisher hochgeschätzt habe, zu „bespitzeln“, und daß sie ihm (Kunze) nicht mehr ehrlich in die Augen schauen könnte.390
Der Anwerber äußerte dazu: Mit Unterstützung ihres Ehemannes wurde ihr klargemacht, daß die Maßnahmen, die wir zur Abwehr von Angriffen gegen unsere humanistische Gesellschaftsordnung treffen, doch nichts mit der im Kapitalismus praktizierten Bespitzelung fortschrittlicher Kräfte zu tun habe. K. stelle sich mit seinen antisozialistischen Machwerken gegen unsere sozialistische Gesellschaft und verdiene es nicht, von ihr geschätzt und geachtet zu werden. Ihr Mann sagte: „Mutti, wir dürfen uns an dem, was Kunze tut, nicht mitschuldig machen. Er ist kein Mensch unserer Gesellschaft, bei dem dürfen wir keine Skrupel haben.“ Man merkte, daß die Frau des GMS innerlich mit sich rang … Beide gaben ihre Zustimmung, ihre Wohnung uns zur Verfügung zu stellen und die vorgesehenen Maßnahmen zu unterstützen.391
Einer der Informanten über Kunze war übrigens dessen langjähriger Freund Manfred (heute: Ibrahim M.) Böhme – eine für Kunze verständlicherweise 387
388 389 390 391
Deckname „Lyrik“. Eine Dokumentation von Reiner Kunze. Frankfurt a.M. 1990. Zum ‚Fall‘ Kunze vgl. auch Peter Graves: White poems and black days. The case of Reiner Kunze. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995, S. 274-285. Vgl. Ebd., S. 24, 30-32, 47, 67-69, 91, 94f. Vgl. Ebd., S. 55-58. Ebd., S. 74; Hervorhebung im Original. Ebd.; Hervorhebung im Original.
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schwer zu ertragende Erkenntnis; vielleicht auch deshalb enthält der Band ein gesondertes Dossier über Böhme.392 Einen vergleichbaren Vertrauensbruch erlebte Hans Joachim Schädlich, der erfuhr, dass er von seinem Bruder bespitzelt wurde. Aus Hermann Kants (IM „Martin“) 2254 Blatt in acht Bänden umfassender ‚Täter‘-Akte veröffentlichte 1995 Karl Corino (*1942) einige Auszüge. Corinos Nachforschungen zufolge wurde Kant seit Sommer 1957 als Kontaktperson im Ministerium für Staatssicherheit geführt, seit 1963 als Geheimer Informator (GI).393 Nach 1976 wurde er nicht mehr als IM geführt, da er aufgrund seines Aufstiegs in die Berliner Bezirksleitung der SED, der schon zwei Jahre zuvor erfolgt war, nicht länger inoffizieller Mitarbeiter des MfS sein konnte. Von Genossen, die in der Hierarchie so hoch kletterten, durfte die Truppe des Generals Mielke keine IM-Berichte mehr anfordern, sie durfte sie nicht mehr zu Treffs in konspirative Wohnungen bestellen, die Benutzung von Decknamen war zu unterlassen.394
Seine Akte wurde aber bis mindestens 1984 weiter geführt. Die tendenziöse Darstellung Corinos relativiert sich in der vergleichenden Lektüre mit anderen Texten. So enthält Klaus Schlesingers Essay Die Akte (1993) eine Passage, die im Zusammenhang mit den 1979 erfolgten Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband der DDR (von denen Schlesinger selbst betroffen war) aufschlussreich ist: Eine Notiz, die die umstrittene Rolle Hermann Kants betrifft, möchte ich der Öffentlichkeit allerdings nicht vorenthalten. Da berichtet der IM „Herz“ über Kants Reaktion auf Hermlins Rede, der gegen die Ausschlüsse plädiert und die Versammlung danach verlassen hatte. Zitat: „In der Pause der Versammlung gab es Schwierigkeiten durch Hermann Kant. Er fühlte sich vom Beitrag Hermlins beeindruckt und machte zwei Vorschläge: 1. nicht abstimmen zu lassen, weil das Kräfteverhältnis im Saal angeblich nicht zu ihren Gunsten stünde oder 2. um Mehrheit zu erreichen, wollte er damit Zwang ausüben, daß er sein Amt zur Verfügung stellt.“ Schon damals hatten wir den Eindruck, daß Kant sich in seiner Rolle als Versammlungsleiter nicht gerade wohl fühlte, und das taktische Pausengeplänkel, das hier festgehalten ist, korrespondiert mit unserem damaligen Urteil: daß er zwar die Regie geführt, das Stück aber nicht angesetzt hatte.395 392 393 394
395
Vgl. Ebd., Anhang: „Ich tue meine Arbeit wie bisher“, S. 113-124. Bezeichnung für die späteren Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Karl Corino: Zuverlässig, verschwiegen, einsatzbereit. IM Martin alias Hermann Kant als Mitarbeiter der Stasi. In: K.C. (Hg.): Die Akte Kant. IM „Martin“, die Stasi und die Literatur in Ost und West. Reinbek 1995 (rororo aktuell); S. 9-53, S. 45. Klaus Schlesinger: Die Akte. In: ndl 41 (1993) 8; S. 103-123, S. 122.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
217
Im gleichen Jahr wie Reiner Kunze veröffentlichte Erich Loest in Der Zorn des Schafes396 Teile seiner Akten, im Jahr darauf folgten in Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze397 weitere Auszüge. Loest gelangte auf ungewöhnlichem Weg an die in dem zuletzt genannten Band veröffentlichten Akten: Bei einem Besuch in Leipzig wurden ihm von ehemaligen Mitarbeiterinnen der Stasi rund 300 Seiten Aktenkopien angeboten, die sich als echt erwiesen. Der gesamte Umfang beträgt 31 Heftmappen à 300 Blatt, die zwischen 1975 und 1981 entstandene Aufzeichnungen beinthalten. Zu Beginn von Der Zorn des Schafes stellt Loest seine Heimat und seine Familie vor, dann werden Stasi-Akten einmontiert – ein Vorgehen, das dem Buch dokumentarischen Charakter verleiht: Loests private Geschichte wird zum Dokument. Der Band geht aber weit über den Rahmen einer kommentierten Dokumentation hinaus, denn der Autor reflektiert die Stasi-Recherchen genau und stellt auch Fragen, etwa nach der eigenen Identität: […] was war ich denn nun, ehemaliger Leipziger oder neuer Bundesdeutscher, Deutsch-Deutscher oder Gesamtdeutscher, ging der Riß mitten durch mich hindurch oder hatte in mir die Vereinigung schon stattgefunden?398
So aufschlussreich die in Auszügen veröffentlichten Stasi-Akten sind, so sehr provoziert auch die getroffene Auswahl immer wieder Einspruch. Margarete Hannsmann etwa wendet sich gegen Reiner Kunzes Buch Deckname „Lyrik“; sie gibt – im Zusammenhang mit einem sie selbst betreffenden Beispiel – zu bedenken: Aus 12 Bänden mit insgesamt 3 491 Blatt hat Kunze ein Büchlein mit 144 Seiten gemacht. Mit Bedacht ausgewählt; selektiert: geschont, wen er schonen wollte, „in die Pfanne gehauen“ (Corinosche Diktion), wen er treffen wollte.399
Eine Auswahl birgt immer gewisse Risiken in sich. Das mag einer der Gründe sein, weshalb zahlreiche Autorinnen und Autoren es vorziehen, sich in meist kürzeren essayistischen Einzeltexten mit ihren Spitzeln auseinander zu setzen: Hans Joachim Schädlich tut dies in Literaturwissenschaft und Staatssicherheitsdienst (1992)400, Uwe Kolbe in Willkommen der neuen 396 397 398 399 400
Erich Loest: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk. Künzelsau / Leipzig 1990. Ders.: Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze. Göttingen / Leipzig 1991. Ders.: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk. Künzelsau / Leipzig 1990, S. 335f. Margarete Hannsmann: Ein Brief. In: ndl 39 (1991) 11; S. 154-159, S. 158 (ndl-Tagebuch). Hans Joachim Schädlich: Literaturwissenschaft und Staatssicherheitsdienst. In: Die Abwicklung der DDR. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau. Göttingen 1992 (Göttinger Sudelblätter), S. 92-95.
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Vergangenheit und Abschied von einem früheren Freund (1995)401, Volker Ebersbach in Der Schnaps des Spitzels – Eine Danksagung (1999).402 Meist wird in diesen Texten auf groteske Aspekte der eigenen Akten verwiesen, dazu zählt stets auch die ungeheure Flut letztlich nutzloser Informationen. Nicht selten werden bei der Einsicht in die Akten ganze Biografien oder immerhin Teile davon ‚durchgearbeitet‘: So schildert Timothy Garton Ash in Die Akte „Romeo“ (1997)403 die Sichtung seiner Akte und die damit verbundenen Wechselwirkungen sowie seinen Umgang mit den aufsteigenden Erinnerungen. 5.1.6.1 Eine neue Debatte: Heiner Müller und Christa Wolf Anfang der neunziger Jahre kam es zu zahlreichen Enttarnungen, die – in Einzelfällen – geradezu als journalistische Sensationen gefeiert wurden. Aus den Reaktionen um die Enttarnungen insbesondere von IMs entwickelte sich eine Debatte um das Verhältnis von Schriftstellern zur Staatssicherheit, die den ‚deutsch-deutschen Literaturstreit‘ gewissermaßen ablöste. Wieder wurde die Auseinandersetzung beinahe ausschließlich im westdeutschen Feuilleton geführt. Den Auftakt bildete dabei die ‚Enttarnung‘ Heiner Müllers. Der ‚Fall Müller‘ nahm seinen Ausgang Ende 1992, als der Berliner Autor Dieter Schulze einen offenen Brief verbreitete, der Müller als IM belastete. Diesem als Flugblatt bei öffentlichen Anlässen verbreiteten Brief folgte am 5. Januar 1993 eine Pressemitteilung Schulzes.404 In einem Interview in der Spiegel TV-Sendung vom 11. Januar 1993 gab Müller zu, „Kontakte mit der Staatssicherheit“ gehabt zu haben: In seiner Position sei das „unvermeidlich“ gewesen.405 Müller überraschte die Öffentlichkeit
401
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403 404
405
Uwe Kolbe: Willkommen der neuen Vergangenheit und Abschied von einem früheren Freund. In: U.K.: Renegatentermine. 30 Versuche, die eigene Erfahrung zu behaupten. Frankfurt a.M. 1998, S. 159-164 [zuerst unter dem Titel Meine Biographie, geschrieben von fremder Hand in Märkische Allgemeine Zeitung v. 17.3.1995]. Volker Ebersbach: Der Schnaps des Spitzels – Eine Danksagung. In: Landschaft mit Leuchtspuren. Neue Texte aus Sachsen. Hrsg. vom Sächsischen Literaturrat e.V. Leipzig 1999, S. 121-125. Timothy Garton Ash: Die Akte „Romeo“. Persönliche Geschichte. Aus dem Englischen von Udo Rennert. München / Wien 1997. Vgl. Helge Malchow: Einleitung zum Dossier-Teil. In: Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994; S. 431-434, S. 431. Spiegel TV, Fax vom 10.1.1993, S. 1. In: Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994; S. 435f., S. 435.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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vor allem damit, dass er seine Kontakte nicht leugnete, mehr noch, diese keineswegs als per se verurteilenswert ansah: Und ich habe versucht zu beraten und Einfluß zu nehmen auf Dinge, weil es war ab einem bestimmten Zeitpunkt ab [sic] nicht mehr möglich, mit Parteifunktionären vernünftig zu reden, gerade in den letzten Jahren. Und da war es möglich, mit Stasi-Offizieren vernünftig zu reden, weil der mehr Informationen hatte [sic] und mehr wußte über die wirkliche Lage als ein Parteifunktionär […]. Ich habe da überhaupt nie ein moralisches Problem drin gesehen, sehe ich auch heute nicht. Man wußte, man sprach mit Paranoikern, und das war ganz klar.406
Im Mai 1993 bekräftigte Müller im Gespräch mit Thomas Assheuer auf dessen Einwand hin „Aber man mußte ja nicht mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten“407: „Ich mußte gar nicht. […] Ich habe es bewußt getan. Ich dachte, da kann ich etwas erreichen in konkreten Dingen, wenn es um ein Visum geht oder um die Verhinderung einer Verhaftung.“408 Auf die Frage, warum er in seiner Autobiografie nichts von diesen Vorgängen erwähnt habe, beruft er sich auf „ein Menschenrecht auf ‚Feigheit vor dem Feind‘, von dem habe ich Gebrauch gemacht in der Situation, in der Atmosphäre damals. Und daß das Feindbild stimmt, hat ja dann die Journaille bewiesen.“409 Er bekennt: Ich rede mit jedem, wenn ich es für notwendig und für praktisch halte. Ich bin immer davon ausgegangen, daß ich erwachsen genug bin. Man konnte viel mehr Schaden anrichten, wenn man indirekt mit der Staatssicherheit geredet hat. In der Theaterkantine, wo man unkontrolliert über Kollegen redet. Die direkten Gespräche waren kontrollierte Gespräche.410
406
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408 409 410
Spiegel TV, Fax vom 10.1.1993, S. 2. In: Ebd.; S. 435f., S. 436. Vgl. zu diesem Komplex Cornelia Geißler: Nachrichten aus der Gerüchteküche. StasiVorwürfe nun auch gegen Heiner Müller. In: BZ v. 12.1.1993; Thomas Groß: Heiner Müller und die Staatssicherheit. War der Dramatiker aus der DDR Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi? Müller bestätigt Kontakte. „Ich wußte, ich rede nicht mit der Heilsarmee“. Kratzen an einer Kultfigur. In: taz v. 12.1.1993; Elke Schmitter: Ein Mann für gewisse Stunden. Heiner Müllers Stasi-Gespräche: Ein Anarchist paktiert. In: taz v. 12.1.1993 sowie Karl-Wilhelm Schmidt: Literaturdebatten des westlichen Feuilletons um Heiner Müller. Vom ‚IM‘ zum ‚Neuen Rechten‘. In: Monteath, Peter / Alter, Reinhard (Hgg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38), S. 51-73. [Interview mit Thomas Asseuer]: „Es gibt ein Menschenrecht auf Feigheit“. Ein Gespräch mit dem Dramatiker Heiner Müller über seine Kontakte mit der Staatssicherheit. In: FR v. 22.5.1993 (Sonderbeilage zur Leipziger Buchmesse 1993); im Original kursiv. Ebd. Ebd. Ebd.
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In ‚Opferakten‘ finden sich keine von ‚IM Heiner‘ verfassten Berichte; die Beweise sind damit vergleichsweise spärlich.411 Iris Radisch stellt am 22.1.1993 fest: Es gibt wieder eine Debatte. Und keiner weiß, worum sie geht. Heiner Müller vergleicht die ZEIT, die Müllers Stasi-Verwicklungen belegt hat, mit dem Neuen Deutschland. Ein FAZ-Kolumnist sekundiert Müller in einem grandios nichtrecherchierten Kommentar voller Fehler und falscher Behauptungen. Die Leitung des Berliner Ensembles denunziert die Berichterstattung der ZEIT als „widerlich“, der Ostberliner Freitag bezichtigt die Westmedien der „Unfähigkeit, sich auf die Geschichte einzulassen“, und unterstellt ihnen „auflagensteigernde Urteile“. Der Osten mauert. Das Feuilleton kämpft Hahnenkämpfe.412
Beinahe zeitgleich mit Heiner Müller wurde Christa Wolf ‚enttarnt‘, die damit erneut ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Es ergibt zweifellos wenig Sinn, ‚Täter-‘ und ‚Opfer‘-Akten gegeneinander ‚aufzurechnen‘ – im Falle Christa Wolfs seien diese aber zumindest einander gegenübergestellt: Zwischen 1959 und 1962 hatte die Schriftstellerin einige wenige Begegnungen mit der Stasi, zunächst als Geheimer Informator, dann als IM, doch ihre Tätigkeit wurde bald wieder beendet, weil sie offenbar als Informantin wenig geeignet schien: Die Genossin Wolf wurde am 24.3.1959 als GI „Margarete“ […] geworben, jedoch nicht schriftlich verpflichtet. […] Zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit der Genossin Wolf ist einzuschätzen, daß sie die gestellten Aufträge zwar erfüllte, ihre Berichte jedoch nur informatorischen Charakter trugen. An op. Material oder Vorgängen arbeitete sie nicht. Auffallend an der inoffiziellen Zusammenarbeit war ihre überbetonte Vorsicht und größere Zurückhaltung, die auf einer gewissen intellektuellen Ängstlichkeit basieren. Die Genossin Wolf wird zwar als parteiverbunden eingeschätzt, jedoch scheint ihr Verhältnis zur Partei mehr intellektuell-verstandesmäßig und weniger klassenmäßig fundiert zu sein. In Halle lehnte sie den Besuch einer KW [Konspirativen Wohnung; F.Th.G.] „ab. Nach ihrer Übersiedlung in den Bezirk Potsdam wurde die IM-Akte im Archiv abgelegt.413
In einem Schreiben vom 29.11.1962 heißt es: 411
412 413
Vgl. Iris Radisch: Krieg der Köpfe. Heiner Müller und die Stasi: Die Westdeutschen zählen Quittungen, die Ostdeutschen verteidigen ihre Geschichte. Der Dichter liest Kafka, und die Akten schweigen. In: Die Zeit v. 22.1.1993. Ebd.; Hervorhebungen im Original. Auskunftsbericht v. 21.12.1965; gez. Roscher, Oberleutnant, S. 5; zit. nach Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation. Hrsg. von Hermann Vinke. Hamburg 1993; S. 19-25, S. 24.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Im August dieses Jahres verzog die IM von Halle nach Kleinmachnow (Bezirk Potsdam). Nach Rücksprache mit dem Referatsleiter der Abt. V / 1, Gen [sic] Untat, ist die BV [Bezirksverwaltung; F.Th.G.] Potsdam an einer Übernahme der IM nicht interessiert. Der IM-Vorgang wird abgelegt.414
Das zwei Aktenmappen mit insgesamt 130 Blättern umfassende Material ist eher Ausdruck der gescheiterten Versuche, Christa Wolf als Informelle Mitarbeiterin zu gewinnen, denn Zeugnis einer Spitzeltätigkeit der Schriftstellerin.415 Dagegen wurden sie und ihr Mann Gerhard zwischen 1969 und 1989 nahezu lückenlos überwacht416, auch vor ihrer Anwerbung war sie von 1955 bis 1959 beobachtet worden.417 Am 21. Januar 1993 tritt Christa Wolf im Zuge der ‚Stasi-Debatte‘ von sich aus an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel Eine Auskunft gibt sie in der Berliner Zeitung Detailinformationen zu den oben erwähnten Vorgängen: Die Vorgänge um Heiner Müller sind der letzte Anstoß für mich, diesen Artikel zu schreiben, über den ich seit einigen Monaten nachdenke: seit dem Mai vorigen Jahres, als mein Mann und ich unsere Stasi-Akten einsehen konnten. Wir sahen uns mit 42 Bänden konfrontiert, allein für die Zeit zwischen 1968 und 1980 – die Akten über die letzten zehn Jahre scheinen vernichtet zu sein. Wir erfuhren, daß wir seit 1968 als „Operativer Vorgang“ „Doppelzüngler“ minutiös observiert wurden, daß wir von einem Netz von „IM“ umgeben waren, was wir erwartet hatten, darunter enge Freunde, was wir so nicht erwartet hatten; daß natürlich unser Telefon, zeitweilig auch die Wohnung, abgehört, die Post ausnahmslos geöffnet und zum Teil abgelichtet wurde; daß man „Legenden“ für Informelle Mitarbeiter erfand, um sie bei uns einzuschleusen, Skizzen von unserer Wohnung und der Lage unseres Hauses anfertigte, mich zeitweilig für Auslandsreisen „sperrte“ und auch einmal ein Fahndungsblatt über uns ausgab; daß man jedes einzelne meiner Bücher von anscheinend germanistisch gebildeten IM „begutachten“ ließ, die in grotesken „Analysen“ eine ständig wachsende Staatsfeindlichkeit konstatierten.418
414
415 416 417 418
Schreiben v. 29.11.1962; gez. Beck, Major, Richter, Leutnant, [unleserlich], Oberleutnant; zit. nach Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation. Hrsg. von Hermann Vinke. Hamburg 1993, S. 101. Vgl. dazu auch: Wolfgang Paulsen: Akteneinsicht Christa Wolf. Ein Plädoyer aus amerikanischer Sicht. In: WW 44 (1994) 1, S. 147-149. Vgl. den OV ‚Doppelzüngler‘. Vgl. Hermann Vinke: Vorwort. In: Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation. Hrsg. von H.V. Hamburg 1993; S. 9-13, S. 12. Christa Wolf: Eine Auskunft. In: BZ v. 21.1.1993.
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Die oben erwähnte Tätigkeit für die Stasi verschweigt sie nicht, hatte diese aber offenbar verdrängt: Ich fand aber bei meinen Akten, zu einem „Auskunftsbericht“, auch ein dünnes Faszikel, aus dem ich erfuhr, daß die Stasi mich von 59 bis 62 zunächst als „GI“ […], dann als „IM“ geführt hat. Das traf mich völlig unvorbereitet. Ich erinnerte mich nur, 1959, als ich Redakteurin der NDL war, von zwei Herren der „Behörde“ aufgesucht worden zu sein, die über meine Beziehungen zu einem westdeutschen Autor unterrichtet waren, welcher sich gerade scharf gegen die DDR geäußert hatte. Dadurch eingeschüchtert, erklärte ich mich bereit, mich wieder mit ihnen zu treffen. Ich erhielt einen Decknamen, woran ich keine Erinnerung habe, man hat aber, laut Akte, keine schriftliche Verpflichtungserklärung von mir verlangt.419
Nach dem Umzug der Wolfs nach Halle wurde diese Akte weitergeführt. Christa Wolf erhielt mehrfach Besuch von einem hauptamtlichen StasiMitarbeiter, der als „Genosse R.“ geführt wurde. Als die Wolfs drei Jahre später „in den Bezirk Potsdam zogen, hat die dortige Stasi sich ‚nicht daran interessiert‘ gezeigt, mich zu ‚übernehmen‘. Die Akte wurde am 13.10.1962 geschlossen und im Archiv abgelegt.“420 Danach wurde die Schriftstellerin selbst observiert. Wolf erklärt: Es hat seitdem keinen Kontakt mehr mit einer Person gegeben, die sich als Mitarbeiter der Stasi ausgewiesen hätte, man hat nie wieder versucht, Informationen von mir zu bekommen. Deshalb hielt ich es nicht für notwendig, diesen alten, verjährten Vorgang öffentlich zu machen. Ich hatte gar keine Hoffnung – angesichts der Hysterie, die allein durch die zwei magischen Buchstaben „IM“ ausgelöst wird –, daß eine solche Veröffentlichung eine Aufnahme finden könnte, die den wirklichen Relationen dieses Vorgangs in meinem Leben auch nur einigermaßen entsprechen würde. Ich mußte fürchten, auf diese zwei Buchstaben reduziert zu werden. Ich stand noch unter dem Eindruck der Kampagne gegen mich und fühlte mich neuen Angriffen nicht gewachsen. […] Heute sehe ich, daß diese Zurückhaltung falsch war.421
Eine Woche später nimmt sie in einem Interview mit der Wochenpost erneut Stellung zu diesem Thema: Ich mußte, um mir mein Verhalten erklären zu können, mich noch einmal jener Person aussetzen, die ich damals war: ideologiegläubig, eine brave Genossin, von der eigenen Vergangenheit her [Wolf bezieht sich auf ihre Mitgliedschaft im BDM;
419 420 421
Ebd. Ebd. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
223
F.Th.G.] mit einem tiefen Minderwertigkeitsgefühl behaftet gegenüber denen, die durch ihre Vergangenheit legitimiert, im historischen Recht zu sein schienen.422
Im selben Interview kritisiert sie nochmals den Umgang mit den Akten: „Da aber in der Öffentlichkeit alles, was mit der Stasi zusammenhängt, dämonisiert worden ist, hat sich der perverse Aktenberg unterderhand zu einer Art negativen Gral gemausert, zu dem man pilgert, um die Wahrheit, um Urteil oder Absolution zu erfahren.“423 Später gibt sie einmal mehr zu bedenken: „Diese Akten enthalten nicht ‚die Wahrheit‘, weder über den, zu dessen Observation sie angelegt wurden, noch über diejenigen, die sie mit ihren Berichten füllten.“424 Ihren Höhepunkt erreicht die ‚Stasi-Debatte‘ mit einem am 29. Januar 1993 in der Zeit erschienenen Artikel von Fritz J. Raddatz. Raddatz gibt dabei stellenweise jegliche Distanz auf, indem er Heiner Müller und Christa Wolf in direkter Anrede nicht mehr siezt, sondern duzt: Ihr habt euch doch zu Aufbau-Helfern eines Verfolgungssystems gemacht – dem die eigenen Kollegen, ob Fuchs oder Loest, zum Opfer fielen; einem Walter Kempowski haben eure Wirte acht Jahre seines Lebens gestohlen. Das berät man bei Kaffee und Kuchen?425
Ulrich Greiner plädiert in der Zeit vom 5. Februar 1993 schließlich für einen „Schluß der Stasi-Debatte“, da diese gescheitert sei: Der Mythos vom Antifaschismus entledigt sich der kompromittierenden Realität, indem er die Reinheit der ursprünglichen Idee gegen alle Erfahrung verteidigt. […] Der Mythos vom Antifaschismus hindert sie [viele ostdeutsche Autoren; F.Th.G.] daran, die Notwendigkeit einer zweiten deutschen Vergangenheitsbewältigung zu akzeptieren. Die Arbeit der Erinnerung würde zu der schmerzlichen Erkenntnis führen, daß die Reinheit der Idee nicht mehr existiert.426
In diesem Zusammenhang verfolgt Greiner drei Leitgedanken: „Was die Debatte hätte nützen können“, „Weshalb die Debatte gescheitert ist“ und „Weshalb die Debatte beendet werden sollte“. Er meint:
422
423 424 425 426
[Interview mit Fritz-Jochen Kopka]: Margarete in Santa Monica. Wie fremd kann die Vergangenheit sein? Fritz-Jochen Kopka sprach in Kalifornien mit Christa Wolf. In: Wochenpost v. 28.1.1993; Hervorhebung im Original. Ebd. Christa Wolf: Berlin, Montag, der 27. September 1993. In: C.W.: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. Köln 1994; S. 281-298, S. 294f. Fritz J. Raddatz: Von der Beschädigung der Literatur durch ihre Urheber. Bemerkungen zu Heiner Müller und Christa Wolf. In: Die Zeit v. 29.1.1993. Ulrich Greiner: Plädoyer für Schluß der Stasi-Debatte. In: Die Zeit v. 5.2.1993.
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Das Feuilleton hat Fragen gestellt. Die Befragten sahen darin einen Angriff. Sie parierten ihn mit der Verteidigung des Mythos. Über den Mythos aber läßt sich nicht diskutieren. Man kann ihn nur zur Kenntnis nehmen. Deshalb ist die Debatte über die Vergangenheit der DDR gescheitert. […] Sie [die Debatte; F.Th.G.] könnte nur dann halbwegs gelingen, wenn Übereinkunft herrschte über zwei Voraussetzungen […]: daß erstens der Sozialismus verdientermaßen gescheitert ist und daß zweitens die reale DDR nichts war, dem man ein längeres Leben hätte wünschen dürfen. Dieser Konsens herrscht weder unter den Intellektuellen des Westens noch unter denen des Ostens und schon gar nicht zwischen Ost und West.427
5.1.6.2 Sascha Anderson und der bröckelnde Mythos vom Prenzlauer Berg Noch vor Beginn der eigentlichen ‚Stasi-Debatte‘ lag die Enttarnung des Prenzlauer Berg-Dichters Sascha Anderson als Stasi-Spitzel. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises am 19. Oktober 1991 bezeichnete Wolf Biermann Anderson als „Sascha Arschloch“ und warf ihm vor, für die Stasi gespitzelt zu haben: Aber alle Oppositionsgruppen waren von Stasimetastasen zerfressen. Rechtsanwalt Schnur, Waisenkind Böhme, Jutta Braband, Heimkind Monika Haeger, der hochbegabte Poet Heinz Kahlau, der sich nun entblößt und beknirscht hat, der unbegabte Schwätzer Sascha Arschloch, ein Stasispitzel, der immer noch cool den Musensohn spielt und hofft, daß seine Akten nie auftauchen.428
Anderson hatte bis dahin offenbar tatsächlich in dem festen Glauben gelebt, dass die ihn belastenden Akten vollständig vernichtet seien.429 Nachdem auch Rainer Schedlinski und andere als Spitzel enttarnt worden waren430,
427 428 429 430
Ebd. Wolf Biermann: Der Lichtblick im gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: Die Zeit v. 25.10.1991. Vgl. Paul Gerhard Klussmann: Der Stasi-Komplex in der deutschen Literatur. In: Die politische Meinung 37 (1992) 275; S. 56-67, S. 57. Vgl. dazu die unter dem Titel Landschaften der Lüge im Spiegel erschienene Serie von Jürgen Fuchs: Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (I): Der „Operative Vorgang“ Fuchs. In: Der Spiegel 45 (1991) 47 v. 18.11.1991, S. 280-291; Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (II): Pegasus, Spinne, Qualle, Apostel. In: Der Spiegel 45 (1991) 48 v. 25.11.1991, S. 72-91; Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (III): „Zersetzung“ bis in den Tod. In: Der Spiegel 45 (1991) 49 v. 2.12.1991, S. 94-108; Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (IV): „Aktion Gegenschlag“ im Namen des Friedens. In: Der Spiegel 45 (1991) 50 v. 9.12.1991, S. 103-121; Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (V): Gegen die „Konterrevolution“ in Polen. In: Der Spiegel 45 (1991) 51 v. 16.12.1991, S. 118-130.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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geriet der Mythos vom Prenzlauer Berg erheblich ins Wanken431, zumal Biermann in seiner Mörike-Preis-Rede vom 13. November 1991 seine Angriffe auf die gesamte Prenzlauer Berg-Szene ausdehnte – und damit auf so unterschiedliche Autoren wie Jan Faktor (*1951), Andreas Koziol (*1957), Rainer Schedlinski (*1956), „Matthias“ BAADER Holst (19621990)432 und Johannes Jansen (*1966)433: Nun erfahren wir, daß die bunte Kulturszene am Prenzlauer Berg ein blühender Schrebergarten der Stasi war. Jedes Radieschen numeriert an seinem Platz. Spätdadaistische Gartenzwerge mit Bleistift und Pinsel. Die angestrengt unpolitische Pose am Prenzelberg war eine Flucht vor der Wirklichkeit, sie war eine Stasizüchtung aus den Gewächshäusern der Hauptabteilungen HA-XX / 9 und HA-XX / 7. Die Stasigärtner mendelten dort einen manierierten Stil für demoralisierte Genies und eingeschüchterte junge Leute, die vor sich hinblödelnd dadaistisch entschliefen, als der große Streit mit der Obrigkeit drohte, endlich ernst zu werden.434
Biermann, selbst jahrelang und noch nach seiner unfreiwilligen Rückübersiedlung nach Hamburg von der Stasi oberviert435, gibt zwar in seinem offenen Brief an Lew Kopelew (1992) zu, „daß es dort auch echt anarchisches Unkraut und ein paar ehrliche Kaninchen und talentierte Maulwürfe gab.“436 Doch mit Hajo Steinert ist in diesem Zusammenhang zu fragen: Wenn sie doch nur alle „Gartenzwerge“ waren, warum dann so riesige Worte? Hätte der Liedermacher nur ein Buch von Bert Papenfuß-Gorek, Jan Faktor, Stefan Döring, Andreas Koziol, Detlev [sic] Opitz, Durs Grünbein oder Johannes Jansen gelesen, so hätte ihm auffallen müssen, daß deren Texte keineswegs „angestrengt unpolitisch“ sind, sondern verspielt politisch. […] Biermanns Haß auf Anderson ist eine Sache. Aber warum gleich die ganze Szene in die Pfanne hauen? 431
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Es bestand und besteht die Gefahr, dass die gesamte Literatur des Untergrunds diskreditiert wurde; vgl. dazu auch: Reinhard Heinritz: „Prenzlauer Berg“. Über experimentelle Literatur und Politik. In: Literatur für Leser (1992) 3, S. 181-193. Zum Thema ‚Prenzlauer Berg‘ vgl. auch Helmut Böttiger: Untergrund Kneipengrund. Der Mythos vom Prenzlauer Berg und seine Verwandlungen. In: H.B.: Ostzeit / Westzeit. Aufbrüche einer neuen Kultur. München 1996, S. 85-104. „Matthias“ BAADER Holst: traurig wie hans moser im sperma weinholds. texte. Berlin 1990. johannes jansen: prost neuland. spottklagen und wegzeug. Berlin / Weimar 1990. Wolf Biermann: Laß, o Welt, o laß mich sein! Eduard-Mörike-Preis-Rede am 13. November 1991. In: W.B.: Der Sturz des Dädalus oder Eizes für die Eingeborenen der Fidschi-Inseln über den IM Judas Ischaroit und den Kuddelmuddel in Deutschland seit dem Golfkrieg. Köln 1992; S. 64-79, S. 71. Vgl. Ders. / Klaus Trende: Schmerz der Freiheit. Ein Gespräch. Cottbus 1997 (Einblicke), S. 13f. Wolf Biermann: Ein öffentliches Geschwür. Wolf Biermann antwortet seinen Kritikern in einem offenen Brief an Lew Kopelew. In: Der Spiegel 46 (1992) 3; S. 158-167, S. 159.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
[…] Die Prenzlpoeten machten sich zwar alle irgendwelche sprachexperimentellen, sprachreflektorischen Gedanken. Doch sind ihre Bücher im einzelnen so unterschiedlich, daß man die Autoren kaum über einen Kamm scheren kann.437
Die Zitate belegen, dass die Diskussion zeitweise mit größter Heftigkeit geführt wurde. Karl Wilhelm Schmidt (1996) erklärt die Kontroverse mit der „Diskrepanz zwischen dem sich politisch verstehenden Dissidentenkreis der 70er Jahre, dem Biermann angehörte, und der Generation der jüngeren Kunst- und Literaturszene.“438 Während Biermann seine Argumentation meist nicht auf gesicherte Informationen stützen kann, geben Peter Böthig und Klaus Michael in ihrem Sammelband MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg (1993)439 den ausführlichsten Überblick zur Thematik. Nimmt man die Einzelbeiträge zusammen, so ist mit Peter Geist zu erkennen, dass die These von der umgreifenden Stasisteuerung der literarischen Szene durch die widersprüchliche Korrespondenz vieler Debattenbeiträge ziemlich schlüssig widerlegt [wird]. Die im Sinne der Freund-Feind, Ost-West-, Überbau-Untergrund-Dualektik [sic] apolitische Verweigerungshaltung vieler junger Künstler basierte auf der Lebenseinstellung, sich auf die simplen Machtdiskurse der Ausschließung nicht länger einzulassen und statt dessen eine quertreiberische Kreativität freizusetzen, die sich nicht so leicht einfangen und politisch infantilisieren läßt […].440
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Hajo Steinert: Die Szene und die Stasi. Muß man die literarischen Texte der Dichter vom Prenzlauer Berg jetzt anders lesen? In: Die Zeit v. 29.11.1991; vgl. insgesamt zu den Dichtern des Prenzlauer Berges: Philip Brady: „Wir hausen im Prenzlauer Berg“: On the Very Last Generation of GDR Poetes. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1), S. 278-301; Birgit Dahlke: „Temporäre autonome Zone“. Mythos und Alltag der inoffiziell publizierenden Literaturszene im letzten Jahrzehnt der DDR. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997, S. 463-478 sowie – aus persönlicher Sicht – Uwe Kolbe: Die Situation. Göttingen 1994 (Göttinger Sudelblätter). Karl Wilhelm Schmidt: Geschichtsbewältigung. Über Leben und Literatur ehemaliger DDR-Autoren in der wiedervereinten Bundesrepublik. Eine Bestandsaufnahme kulturpolitischer Debatten und fiktionaler, essayistischer sowie autobiographischer Publikationen seit der Vereinigung. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Pluralismus und Postmodernismus. Zur Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland 1980-1995. Vierte, gegenüber der dritten erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1996 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 25); S. 353-395, S. 368. MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Hrsg. von Peter Böthig und Klaus Michael. Leipzig 1993. Peter Geist: Nachspiele oder „halten sie mich bitte nicht für schizophren“. „MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg“ herausgegeben von Peter Böthig und Klaus Michael, Reclam Leipzig. In: ndl 41 (1993) 8; S. 145-149, S. 147f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
227
Mit Recht warnt Geist an anderer Stelle vor einer neuerlichen „Überkonzentration auf das Berliner Geschehen“.441 Gerade Andersons Fall ist differenzierter zu betrachten, als Biermann dies tut. Anderson wurde von mehreren Menschen verteidigt, die unverdächtig sind, mit der Staatssicherheit zu sympathisieren. Günter Kunert (1991) etwa beschreibt die Umstände, die zu Andersons Tätigkeit für die Stasi geführt haben: Zur Sache: Sascha Anderson, ein offenkundig labiler Zeitgenosse, wurde bereits im Alter von zwanzig Jahren von der Staatssicherheit „zur Brust genommen“. Er hat sich dem Machtapparat nicht entziehen können, ein namenloser, in der Provinz lebender Bursche ohne mitmenschliche Stütze, ohne den möglichen Halt durch eine Gruppe. Ihm ist Angst eingejagt worden, physisch und psychisch. Er wurde verprügelt und in Panik versetzt. Er wurde in einen psychopathologischen Zustand getrieben. Das alles war in jenem linksseitig gelobten Land leicht möglich. Denn der Kitt des Systems war die Angst. Und wie diese Angstfülle erzeugt worden ist, zählt zu den Ursachen, welche im Falle Anderson kaum Erwähnung finden. Das kriminelle System nämlich hat jeden seiner Untertanen zu einem potentiellen Mittäter gemacht, indem es ihn in einen potentiellen Kriminellen verwandelte.442
Für ihn ist klar: Wir wollen und müssen differenzieren: Ein Sascha Anderson ist anders zu betrachten als einer, der für Geld oder Karriere „tätig“ wurde. Es gilt zu unterscheiden zwischen den armen Schweinen und den Schweinehunden.443
Elke Erb (1993) plädiert für eine differenzierte und zumindest bedingt getrennte Betrachtung von ‚Autor‘ und ‚Denunziant‘. Sie stellt fest: Klare Denunziationen sind insbesonders seine Berichte über die politische Opposition, über Kreise und Leute also, zu denen er nicht gehörte. Er hat sowohl im Auftrag wie auch selbständig ermittelt, und zwar wie ein Knecht. Das war nicht von Anfang an so. Aus dem Jahr 1982 existiert ein 43-seitiges Strategie-Papier zur Integration der sogenannten Untergrundliteratur in den offiziellen Kulturbetrieb, Erwägungen, welche Autoren bereit wären, sich in den Schrifstellerverband aufnehmen zu lassen, und zwar als „aktive gleichberechtigte Mitglieder“, wie er schreibt. Es ist zu erkennen, daß er die Genossen dazu bringen wollte, die junge Generation anzuerkennen. Er bestätigte ihnen nicht ihre Version,
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Ders.: Lyrik aus der Lychener Straße, Karl-Chemnitz-Stadt und NiemandsLand. Weniger ein Rückblick. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 233-254, S. 238. Günter Kunert: Zur Staatssicherheit. Poesie und Verbrechen. In: FAZ v. 6.11.1991. Ebd.
228
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
nach der sich in der DDR niemand von den Genossen unterscheiden konnte, es sei denn, er stehe unter dem Einfluß des Feindes.444
Sie verteidigt Andersons literarisches Werk, denn [a]uch nach der Entdeckung Andersons als Denunziant wurden seine Texte, wenn man wieder in sie hineinsah, nicht zu haltlosen Lügen. Sie scheinen eher an Bedeutung zuzunehmen, der verwerfliche Hintergrund fand sich mannigfach behandelt.445
Auch Volker Braun (1998) spricht sich für eine differenzierte Diskussion fernab jeder Schwarz-weiß-Malerei aus. Mit Blick auf Biermann bemerkt er: Und es gibt, nebenbei gesagt, Scharfmacher unter den Opfern, die blindlings urteilen, von einem hohen aber blinden Roß herab. Nach einem Schema: Weggehen war Widerstand, Hierbleiben Anpassung. […] Sie sollten sich davor bewahren, aus den Opfern von gestern zu den Tätern von heute zu werden.446
Biermanns Verhalten nach der ‚Wende‘ wird im Übrigen von zahlreichen seiner Kolleginnen und Kollegen kritisiert, denn er schreckte auch vor Radikaläußerungen nicht zurück. So meint er 1992 im Hinblick auf das Schicksal der alten Machthaber in der DDR: Falls im Grauen des Morgengrauens, wenn die Diktatur gestürzt ist und das neue demokratischen Recht [sic] noch nicht gilt, der Pöbel schreit: Hängt das Pack auf! – dann gehöre ich zum Pöbel. Und wenn dann die empörten Menschen in ihrem Zorn ein paar besonders verächtliche Menschenquäler töten, will ich ihnen nicht in den Arm fallen. Im Gegenteil, ich würde sie umarmen.447
Aus nahe liegenden Gründen bekennt er, sich spätestens nach 1976 keine Hoffnungen mehr auf eine Reformierbarkeit des Systems gemacht zu haben. 444
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Elke Erb: Dichter und Denunziant. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Stasi, KGB und Literatur. Beiträge und Erfahrungen aus Rußland und Deutschland. Mit Beiträgen von Matthias Braun, György Dalos, Alexander Daniel u.a. Köln 1993; S. 185-195, S. 189. Der zitierte Text ist einer von drei Texten Elke Erbs über Anderson: Vgl. Elke Erb: Na, was dachtest denn du? Drei Texte zu den Themen Anderson und Staatssicherheit. In: E.E.: Der wilde Forst, der tiefe Wald. Auskünfte in Prosa. Göttingen 1995, S. 168-186; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 193. Volker Braun: Monströse Banalität. In: Die Zeit v. 22.11.1991 [Einleitung einer Diskussion in der LiteraturWERKstatt Berlin am 11. November 1991]. Braun verschiebt dabei allerdings das eigentliche Problem auf eine andere Ebene. „à la lanterne! à la lanterne!“ Wolf Biermann über die Stasi-Debatte, Judas Ischariot und die Feigheit vor dem Verräter. In: Der Spiegel 46 (1992) 39 v. 21.9.1992; S. 81-92, S. 85 / 89.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
229
Für ihn gilt Anfang März 1990: „Sozialismus ist kein Ziel mehr. […] Das großangelegte Tierexperiment an lebendigen Menschen ist beendet.“448 Für viele überraschend stellt er fest: „Sogar der ordinärste Anschluß an die Bundesrepublik ist immer noch besser als alles, was vorher war. Ich hatte freilich andres im Sinn.“449 Denn: „Elftens ärgert mich, daß es in Deutschland anders anders wurde, als ich dachte. Aber erstens bis zehntens freue ich mich, daß die verfluchte Tyrannei zerbröselt ist.“450 Biermanns Ton ist stellenweise extrem populistisch: „[…] ich mag keine stasiversifften Nutten, die nun auf Gretchen machen.“451 Als Kritiker seines Diskurses sei zunächst Peter Rühmkorf (1993) zitiert: Er hat sich als einer der ersten auf seine Stasiakten gestürzt, als ob sich daraus eine höhere Bedeutung erschnüffeln ließe. Er hat sich aus unrechtmäßig angesammelten Geheimdaten ein eigenes Drohwissen angeeignet und ist zynisch genug, seiner Mitwelt die Instrumente zu zeigen: „Alle Namen beteiligter Dritter werden von den Mitarbeitern des zweckentfremdeten Seelenhirten aus christlicher Nächstenliebe vorsorglich eingeschwärzt. Aber das ist Augenwischerei, denn im Original liest man ja alles. Man kann sich die Namen notieren und dann wieder einfügen. So haben wir es gemacht.“ Er hat sich aus der lange nicht jedem zugänglichen Grabbelkiste genug rote Karten herausgefischt, um nach Lust und Gelegenheit seine Stiche anzubringen; denn das wissen wir ja alle zur Genüge: „Die Kartei, die Kartei, die hat immer recht.“ Man muß sich nur wundern, wie ein erkennbarer Krisengewinnler des Einigungsprozesses in das dauerhafte Ansehen eines Opfers gelangen konnte.452
Gegen Biermanns Äußerungen, nicht nur im Zusammenhang mit der Anderson-Enttarnung, wehren sich auch Christoph Dieckmann (1992)453 und Peter Ensikat (1998): Übrigens ist der Anlaß für des Liedermachers Wortausbrüche inzwischen ganz beliebig. Worum immer es gehen mag, er spricht von sich. Wenn er gerade mal in Geberlaune ist, dann gibt er sogar zu, daß ihm ein Heiner Müller einst in der oder
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Ders.: Das wars. Klappe zu. Affe lebt. Ein Nachruf auf die DDR, ein Abschied von der Chausseestraße 131 und ein paar Deutlichkeiten über die Täter, die sich nun als Opfer sehen. In: Die Zeit v. 2.3.1990. Ebd. Ders.: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Der Streit um Christa Wolf, das Ende der DDR, das Elend der Intellektuellen: Das alles ist auch komisch. In: Die Zeit v. 24.8.1990. Wolf Biermann: Auch ich war bei der Stasi. In: Die Zeit v. 4.5.1990. Peter und der Wolf. Der Liedermacher und Autor Wolf Biermann ist der ausgebuffteste Selbstdarsteller auf allen denkbaren Bühnen. Eine Abrechnung von Peter Rühmkorf. In: Die Woche v. 1.4.1993. Vgl. Christoph Dieckmann: Der Pyromane. Wolf Biermanns gewaltiges Schreiben für das Gute und gegen das Böse. In: Die Zeit v. 9.10.1992.
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jener Beziehung durchaus das Wasser reichen konnte. Manche seiner Sätze muß ich mehrmals lesen, weil ich an so viel Selbstüberhebung einfach nicht glauben mag. Wie oft bleibt mir die Spucke weg, wo ihm der Schaum vor den Mund tritt. Doch leider gehöre ich nicht zu denen, die jetzt schon über ihn lachen können oder nur noch gelangweilt mit der Schulter zucken, wenn die Rede auf ihn kommt. Selbst in der dümmsten Polemik – ich wage nicht zu sagen, welche ich am dümmsten fand, aber dumm fand ich die meisten in den letzten Jahren –, also selbst die dümmste seiner Polemiken enthält noch Sätze von einer Kraft, die ich so gern einem lohnenderen Anlaß wünschte als beispielsweise seinem nicht weniger eitlen Spiegelbild im munteren Rundumpolemisieren Reich-Ranicki.454
5.1.6.3 Der Fall „Mitsu“: Monika Maron Auch nach dem in der Zeit ausgerufenen Ende der ‚Stasi-Debatte‘ wurden weitere Schriftstellerinnen und Schriftsteller ‚enttarnt‘: 1995 enthüllte der Spiegel, dass Monika Maron, die 1988 nach Ablauf ihres Dreijahresvisums nicht mehr in die DDR zurückgekehrt war, sondern sich in Hamburg niedergelassen hatte, zwischen 1976 und 1978 unter dem Decknamen „Mitsu“ Berichte für die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) des MfS verfasst hatte.455 Auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe reagiert die Autorin zunächst mit einem Artikel, der unter dem Titel Heuchelei und Niedertracht in der FAZ erschien. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit ihren Kritikern, allen voran mit Bärbel Bohley. Maron äußert zunächst schlicht: „Ich habe niemanden bespitzelt, ich habe niemanden verraten, und ich habe über niemanden Berichte verfaßt.“456 Die Hintergründe ihrer Tätigkeit stellt sie einige Jahre später in Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte (1999)457 dar. Sie leitet in die Thematik mit einem Perspektivwechsel ein, auf den sie eigens hinweist: Zwanzig Jahre später wird die Öffentlichkeit über die Person, die ich damals war, ihr Urteil fällen, über mich, meinen Charakter und meine Motive spekulieren, weil ich in dieser Zeit Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit hatte. Also
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Peter Ensikat: Der Liedermacher. In: P.E.: Hat es die DDR überhaupt gegeben? Berlin 1998; S. 64-70, S. 69. Vgl. [Anon.]: Stasi-Deckname „Mitsu“. Auch die streitbare Autorin Monika Maron aus Ost-Berlin, die seit der Wende unermüdlich die feige Duckmäuserei ihrer Landsleute zu DDR-Zeiten anprangert, hatte in den siebziger Jahren eine Affäre mit der Stasi. Fast zwei Jahre lang war sie auf Diplomaten und Journalisten aus dem Westen angesetzt. In: Der Spiegel 49 (1995) 32 v. 7.8.1995, S. 146-149. Vgl. in diesem Zusammenhang: Das Herz der Stasi. Bärbel Bohley über den Fall Monika Maron. In: Der Spiegel 49 (1995) 35 v. 28.8.1995, S. 68-72. Monika Maron: Heuchelei und Niedertracht. In: FAZ v. 14.10.1995. Vgl. Dies.: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt a.M. 1999, S. 195-200.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
231
verlasse ich mich lieber nicht auf meine Erinnerung an mich selbst, sondern frage meine Freundinnen, wie sie mich wahrgenommen haben, damals […].458
Durch den Perspektivwechsel erspart Maron sich allerdings auch die Konfrontation mit sich selbst. In wohl bewusst naiv gehaltenem Ton heißt es weiter: So und so ähnlich war ich in den Augen meiner Freunde, als sich eines Tages ein Herr vom Ministerrat telefonisch bei mir ankündigte, was mich nicht verwunderte, weil unser Haus dem Ministerrat gehörte und jeder Klempner, der gerufen wurde, ein Angestellter des Ministerrats war. Dieser Herr aber erwies sich als ein Offizier der Hauptverwaltung Aufklärung beim Ministerium für Staatssicherheit, der das Interesse seiner Behörde an meiner Mitarbeit bekundete. Die Hauptverwaltung Aufklärung war zuständig für das Ausland, und ihren Chef Markus Wolf umgab das Gerücht, er sei intelligent und undogmatisch, vor allem aber ein Gegner von Erich Mielke, dem der gigantische interne Spitzelapparat unterstand. Was immer mich bewog – Neugier, Abenteuerlust, der Traum von einer sinnvollen Tat –, ich sagte nicht nein, sondern erkundigte mich nach einem spanischen Sprachkurs, weil ich an Chile dachte oder Nicaragua oder Kolumbien und den toten Che Guevara. Nichts von allem folgte der Vernunft. […] Ich nahm dem Offizier das Versprechen ab, mich nie nach meinen Freunden und Bekannten zu befragen, woran er sich insofern hielt, als er mein Schweigen auf solche Fragen akzeptierte. Als nach einem halben Jahr von einem Sprachkurs immer noch nicht die Rede war, statt dessen aber von einer Reise an den Mittelrhein, sagte Hella: Wenn du erst einmal einen Kontaktmann kennst, kommst du aus der Sache nicht mehr raus. Hör auf. Ich sagte dem Offizier, meine Mutter hätte gesagt, wenn ich erst einmal einen Kontaktmann kennte, käme ich aus der Sache nicht mehr raus. Das stimmt, sagte er, und ich sagte: Dann hören wir jetzt auf. Eigentlich war nichts passiert. Ich hatte zwei Berichte geschrieben, von denen Hella befürchtete, sie könnten zu meiner Verhaftung führen. Ich hingegen hielt es für unmöglich, daß man mich für die Wahrheit verhaften könnte, wenn man sie ausdrücklich von mir verlangt hatte. Und ich hatte ein zehntägiges Visum für Westberlin bekommen, das mir, als ich es für die Recherche meines Buches beantragt hatte, kurz zuvor abgelehnt worden war. […] Vor den Behelligungen durch die Staatssicherheit schützte mich die Staatssicherheit, vor Erich Mielke Markus Wolf. Als ich nach etwa acht Monaten meine mangelnde Eignung für eine Agentenkarriere eingestand, fragte ich den Offizier, ob er mich nicht weiterhin in seiner Kartei führen könne, um meine gerade gewonnene Freiheit, die ich auf keinen Fall wieder aufgeben wollte, noch eine Weile zu beschützen.459 458 459
Ebd., S. 195. Ebd., S. 196-198.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Über ihre Enttarnung äußert sie verbittert: Als der „Spiegel“ 1995 diese Geschichte […] enthüllte, schuf sich die Öffentlichkeit gerade nachträglich ihr Gedächtnis für die Vergangenheit, für die Schuld, Verdrängung und Lüge der vierzig Jahre DDR. Zum zweiten Mal mußte eine Vergangenheit bewältigt werden. Aber ich hatte die Konsequenz aus meinen Irrtümern schon siebzehn Jahre vorher gezogen, ich hatte nichts mehr zu bewältigen, ich hatte auch nichts vergessen, auch nicht meine Stasi-Affäre, an die ich mich immer als eine kuriose und komische Episode erinnert habe, auf die ich nicht sonderlich stolz war, für die ich mich aber auch nicht schämte, weil sie eben keine Spitzel-Affäre war. Aber das öffentliche Gedächtnis, schien es, brauchte anderes Futter. Es stellte meine Biographie ab 1976 auf den Kopf, damit sie in eine allgemeine Biographie paßte. Die Bedeutung des Vorfalls wurde nicht aus ihm selbst abgeleitet, sondern aus dem Bedürfnis nach Umdeutung. Acht Monate, in denen ich weder etwas anderes gedacht, noch gesagt, noch getan hatte als sonst, deuteten nachträglich sogar meine Bücher um. Ich hatte die Geschichte nie vergessen, trotzdem wurde mir Vergessen suggeriert.460
Die beiden 1976 verfassten Berichte ließ die Autorin in ihrem Sammelband quer über die Gleise (2000)461 abdrucken. Später wurde Maron selbst innerhalb des Operativen Vorgangs „Wildsau“ vom Staatssicherheitsdienst überwacht; bis 1989 waren „acht dicke Bände“ mit Akten über die Schriftstellerin angelegt worden.462 5.1.6.4 Vom Umgang mit Akten: Chancen und Risiken Schon vor der ‚Stasi-Debatte‘ wurden Fragen nach Möglichkeiten und Beschränkungen des Aktenzugangs gestellt. Jürgen Fuchs (1993) sieht eine Chance darin, die Akten den Opfern zugänglich zu machen, ist sich dabei aber durchaus der damit verbundenen Risiken bewusst: Und insofern plädiere ich sehr nachdrücklich für den Respekt gegenüber den Grenzen, gegenüber dem Schutz auch der Person, einschließlich der Täter, aber noch nachdrücklicher möchte ich sagen: Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Wann ist es schon mal so, daß diejenigen, die dort hergenommen wurden, ein wenig hinter die Kulissen sehen können. Und diese – auch historische – Chance, sollten wir nicht verpassen.463 460 461 462 463
Ebd., S. 199. Monika Maron: Zwei Berichte an die Stasi, 1976. In: M.M.: quer über die Gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe. Frankfurt a.M. 2000, S. 24-33. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 476. Jürgen Fuchs: Bericht eines Benutzers. In: Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Die Debatte über die Stasi-Akten und die DDR-Geschichte auf dem 39. Historikertag 1992. Hrsg. von Klaus-Dietmar Henke. München 1993; S. 76-81, S. 78f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
233
Rolf Schneider (1992) warnt davor, die Stasi zum Sündenbock zu funktionalisieren: Die inzwischen getroffene Übereinkunft, Mielkes Stasi zur einzigen und ausschließlichen Schuldadresse der alten DDR zu erklären, ist so bequem wie falsch und gefährlich. Sie operiert mit Vermutung und Heimtücke. Sie hat den unterhaltsamen Effekt von Hexenjagd, Schlüssellochenthüllung und Geheimdienstroman. Sie exkulpiert völlig die Spitzbuben aus den anderen Offizialbereichen, die auf solche Weise unangefochten in den höchsten Behörden und Parlamenten wirken dürfen, während ein einst bei der Stasi angestellter Handwerker es nicht einmal zum Straßenkehrer im öffentlichen Dienst bringen kann.464
Ähnlich argumentiert auch Jurek Becker (1992), der 1977 aus der DDR in den Westen gekommen war. Für ihn gilt: Zum Bespitzeln gehören zwei465: Der besondere Eifer, mit dem die Stasi-Schikanen nun angeprangert und verfolgt werden, scheint mir für viele ein Versuch, die eigene Unterwürfigkeit ungeschehen zu machen. […] Das könnte den Opportunisten so gefallen, daß ihre Fügsamkeit über Nacht vergessen ist, daß sie als Opfer dastehen, denen eine unüberwindliche Macht im Nacken gesessen hat. Im Nacken saß ihnen diese Macht wohl, und stark war sie auch, aber unüberwindlich? […] Der real existierende Sozialismus war ein Gemeinschaftswerk der Parteiführung, ihrer Handlanger und der vielen Gehorsamen.466
Klaus Schlesinger (1937-2001), war ab 1974 von der Staatssicherheit im Rahmen der Operativen Vorgänge „Schreiberling“ und „Selbstverlag“ observiert worden. Sein Bericht Die Akte (1993) ist einer der wichtigsten Texte über eine Akteneinsicht und die damit verbundenen Implikationen. Schlesinger hatte sich zunächst einmal vorgenommen, mich zu keiner schriftlichen Äußerung über jenes Ministerium hinreißen zu lassen, das wir die Firma nannten. Noch kurz vor der Drucklegung eines autobiographischen Buches, das vor drei Jahren erschien und die Zeit meines Überganges von Ost nach West beschrieb, habe ich eine Passage entfernt, die über die Umstände der Post- und Telefonüberwachung, der sichtbaren und unsichtbaren Beschattungen berichtete.467
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Rolf Schneider: Statt eines Vorworts. In: R.S.: Volk ohne Trauer. Notizen nach dem Untergang der DDR. Göttingen 1992; S. 7-16, S. 13f. Jurek Becker: Zum Bespitzeln gehören zwei. Über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit. In: Die Zeit v. 3.8.1990. Ebd.; Hervorhebung im Original. Klaus Schlesinger: Die Akte. In: ndl 41 (1993) 8; S. 103-123, S. 103; Hervorhebung im Original.
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Seine Meinung änderte er aber, denn seit jenem Montag im letzten Oktober, an dem ich in den Augen einiger Freunde und einer zwar begrenzten, doch einflußreichen Öffentlichkeit vom Objekt der Staatssicherheit zu deren geheimen [sic] Verbündeten, zum Spitzel, gemacht wurde, habe ich die Tage bis zu meiner Akteneinsicht gezählt und, als ich endlich den Termin bekam, auch die Stunden.468
Schlesingers Eindrücke sind äußerst aufschlussreich, geben sie doch Einblicke in die direkten Auswirkungen einer Akteneinsicht: Am Abend des vierten Tages ging ich zu einem Interview mit Hans-Georg Soldat in den RIAS. Er fragte mich nach meinen ersten Eindrücken, und ich gab, schon ganz sicher, zur Antwort, ich fühlte mich wie einer, der einen Roman läse, dessen Hauptfigur er selbst sei. Ich sagte auch noch, daß die Struktur dieses Romans der europäischen Moderne entlehnt sei, in dem die Figuren aus Blicken entstehen, die andere Figuren auf sie werfen.469
Wie viele andere, sieht auch Schlesinger sich mit kuriosen Details aus seinem Leben konfrontiert: Ein paar Seiten weiter, bei einem Bericht der IM „Frau Lucas“, habe ich so ungebührlich laut gelacht, daß die Aufsichtsperson den Kopf von der Zeitung hob. Ob vor Schreck oder aus Mißbilligung, weiß ich nicht. Jedenfalls las ich, daß „Bettina Wegner im Herbst vergangenen Jahres über Prof. Harich sehr verärgert gewesen sei. Prof. Harich hätte Klaus Schlesinger wegen seines älteren Buches über Umweltfragen angerufen und anderthalb Stunden gesprochen, während das Mittagessen auf dem Tisch stand.“ – Mir soll mal einer vormachen, wie er dabei ernst bleiben kann, zumal wenn er weiß, daß diese „Frau Lucas“ eine gestandene Doktorin der Medizin ist.470
Der Schwierigkeiten, mit dem nun gewonnenen Wissen umzugehen, ist sich der Autor durchaus bewusst; Schlesinger zeigt hier ein hohes Maß an Selbstreflexion: Außerdem bin ich mir gegenüber mißtrauisch geworden. Ich habe mich dabei ertappt, daß ich, nachdem ich kreuz und quer telefoniert hatte, um die Identität der IM „André“ und „Adler“ festzustellen, die in meiner Akte eine nicht unwesentliche Rolle spielen, ein Gefühl entwickelte, wie es Jäger auf der Pirsch haben müssen, und als ich wußte, wer der eine war, wurde mir klar, daß ich Macht besaß – wenig, gewiß, aber doch genug, um in das Leben eines Menschen so eingreifen 468 469 470
Ebd., S. 104f. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107.
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zu können, wie Menschen, die ich verurteile, in mein Leben eingegriffen haben. Mit einem Mal kam ich von der Frage nicht mehr los: Ist, wer einen Denunzianten anzeigt, ein Denunziant?471
Wesentlich sind seines Erachtens auch die äußeren Umstände, unter denen ein IM spitzelte: Ein Kapitel für sich ist die Psychologie der IM. Sie nehmen meist nur wahr, was sie wahrnehmen wollen. […] „André“ […] stand unter literarischem Anerkennungsdruck. Wenn er es endlich geschafft hatte, an unserem Tisch in der Kneipe Platz zu nehmen, belegten ihm all die nebensächlichen Gespräche, daß wir literarisch und „politisch niveaulos“ und für eine organisierte Opposition „ungeeignet und auch unfähig“ seien. Ich denke, daß jeder Bericht, den so ein IM ins Tonband gesprochen oder selbst geschrieben hat, beinahe mehr über ihn selbst als über sein Objekt erzählt.472
Damit relativiert er in gewisser Hinsicht auch die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Staatssicherheit; Schlesinger gibt zu bedenken: Stimmt, die Staatssicherheit hat viel von uns gewußt. […] Aber sie hinkte mindestens ein halbes – ach, ein Jahr hinterher. Und als es für sie wirklich einmal darauf angekommen wäre, etwas zu verhindern – als wir im Mai 79 durchs Land fuhren, um Unterschriften zu sammeln für einen Protestbrief wegen Heyms Verurteilung, der dann Anlaß wurde für die große Ausschlußaktion aus dem Schriftstellerverband –, hat sie jämmerlich versagt und mußte eine Woche nach dem Eklat, mehr schlecht als recht, rekonstruieren, wer denn nun wann bei wem war. […] Womit die Staatssicherheit nicht gerechnet hatte: daß wir einmal so handeln würden, wie wir vorher nie gehandelt hatten: konspirativ … […] Als wir zu Erich Loest fuhren, parkten wir das Auto ein paar Straßen weiter, und als er uns die Tür öffnete, zogen wir ihn gleich auf den Balkon. So nützte die „eingeleitete Maßnahme – B –“, durch die, wie wir heute wissen, Loests Wohnzimmer mit Abhörgeräten gespickt wurde, der Stasi gar nichts.473
Schlesinger schließt seine Eindrücke mit einem persönlichen Fazit: Ich habe einen Roman gelesen, dessen Hauptfigur ich bin. Warum habe ich mich nicht gefunden? Ich nehme an, es liegt daran, daß seine Autoren – der Oberleutnant Holm, der Hauptmann Pahl, der Oberst Häbler und die vielen anonymen Mitarbeiter – ihr Material, das mein Leben war, mit handwerklich unzureichenden, kolportagehaften Mitteln bearbeitet und dabei den Gegenstand, die lebendige Figur, ebenso grandios verfehlt haben, wie es in jedem Trivialroman geschieht.474 471 472 473 474
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
110. 118. 120f. 123.
236
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Einer der Hauptaspekte nahezu aller Texte, in denen ‚Opfer‘ sich mit ihren Akten auseinander setzen, ist die Frage nach der in den zusammengetragenen Papieren enthaltenen Wahrheit. Peter Ensikat (*1941), der in den achtziger Jahren meistgespielte Theater- und Kabarettautor der DDR, warnt 1993: So wie gewiß nicht alles wahr ist, was die Stasi von uns aufgeschrieben hat, war und ist nicht alles wahr, was wir von der Stasi erzählten und erzählen. Die Wahrheit ausgerechnet bei einem Geheimdienst zu suchen, erscheint mir mehr und mehr fragwürdig. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ausgerechnet die Stasi anders funktioniert haben soll als der Rest dieses Systems. Hier wurden doch Berichte über alles und alle zusammengeschrieben, die mit der Wirklichkeit so wenig zu tun hatten, wie eben Dichtung mit Wahrheit zu tun hat. Auch bei der Stasi machte man doch wohl Karriere, indem man von Leistungen berichtete, die buchstäblich nur auf dem Papier standen. Ich weiß von einem guten Freund, der bei der Stasi ohne sein Wissen als IM geführt wurde. Er hat es mir sofort erzählt, als er davon erfuhr. Denn er war zutiefst erschrocken. Ich war’s auch. Nicht weil ich meinem Freund mißtraue. Dazu kenne ich ihn zu gut. Aber auch der unsinnigste Verdacht reicht heute und hier aus, um wieder Leben zu zerstören.475
Das ‚Gift‘ der Stasi wirke bis in die Gegenwart fort, denn dass
475
Peter Ensikat: Wieso ich meine Stasi-Akte nicht sehen will. In: P.E.: Ab jetzt geb’ ich nichts mehr zu. Nachrichten aus den neuen Ostprovinzen. München 1993; S. 47-50, S. 49f. In der Tat wurden mehrere Autorinnen und Autoren ohne ihr Wissen als IMs geführt. So berichtet Matthias Biskupek (1999): „Leider war ich nie richtig informiert. Erst seit 1991 weiß ich – und habe es interessierten Medien beflissen und schuldbewußt mitgeteilt –, daß die Stasi mich 1980 als IM in ihren Unterlagen führte. Meine Führungsoffiziere waren wohl vor allem Führungsunterlagenführer. Böse macht mich bis heute deren Einschätzung, man habe wegen „Unzuverlässigkeit“ von weiterer Zusammenarbeit abgesehen. Wer mich kennt, weiß, daß ich oberflächlich, großschnäuzig und versöhnlerisch sein mag, keinesfalls aber unzuverlässig. Auch für die Stasi wäre ich als Mitarbeiter zuverlässig gewesen. Ich hörte mir damals die von den Offizieren verkündeten Einschätzungen meiner „unklar ausgedrückten Eulenspiegeleien“ interessiert an. Die Eitelkeit des unverstandenen Poeten. Das Ansinnen, zu berichten, lehnte ich freundlich (meine Schuld, ich weiß, meine Freundlichkeit, doch bin ich in dieser Rede anders?) ab. Aber ich habe gesprochen. Hugh. Mit der Stasi. Hugh. Somit denke ich von mir als einem Täter. Täter paßt in mein Bild von mir. Leider aber erforschte die Stasi, 1974 beginnend, am 4. November 1989 endend, mich umfassend in operativen Vorgängen, operativen Personenkontrollen und operativen Ausgangsmaterialien. Jahrelang wurden Telefon und Post überwacht.“ (Matthias Biskupek: Wie haben wir Dichter gesungen? Eine freie Heraus-Rede. In: M.B.: Die geborene Heimat. Spöttische Lobreden. Rudolstadt / Jena 1999 (Thüringen-Bibliothek, Band 8); S. 78-81, S. 79f.)
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
237
ein Beschuldigter seine Unschuld beweisen muß, wenn die Staatssicherheit im Spiel ist, das gehörte auch schon zu den Methoden der Staatssicherheit. Die Saat ist aufgegangen, wir ernten alle noch mal, was die Stasi gesät hat.476
Ähnlich argumentiert Kurt Drawert (1993): […] nicht die Stasi ist das Problem, sondern ihr Erfolg. Und dieser Erfolg ist zugleich das Lehrstück, das uns der historische Stoff vor die Füße geworfen hat. Die Anhäufung von Material, das Auskunft gibt über den Grad an Machtteilhabe und Verlogenheit einer Intelligenz, ist nur eine äußere Tatsache, die das Krisenzentrum des Denkens allenfalls streift und es zur Episode erklärt. Vielmehr gilt es nun, wo diese Einsichtnahme erfolgt ist, die inneren Kontaktstellen herauszufinden, durch die der deformierende Eingriff passieren konnte. Eines aber kann dabei sehr klar sein: die Akten sagen zwar nicht die Wahrheit über das Wesen des Austauschs zwischen Macht und Mitarbeiter der Macht, aber sie sagen die Wahrheit darüber, daß er stattgefunden hat.477
Drawert wendet sich gegen die „allgegenwärtige Forderung nach einer Differenz zwischen Vergehen und Schuld“, denn diese sei schon der funktionierende Trick, mit dem jene, die ihr Geheimnis in die Zukunft verschleppen, die Tatsachen eskamotieren. Mit den Forderungen nach Differenzierung bekommen sie uns am empfindlichen Nerv zu fassen, dort nämlich, wo wir eine Moral vertreten. Sie argumentieren mit unseren Argumenten und machen sie damit unbrauchbar. In diesen Koordinaten drohen alle Bewertungskriterien sich aufzulösen.478
Auch Jens Reich (1992) unterscheidet zwischen einer Perspektive der Vergangenheit und einer Perspektive der Gegenwart; beide Sichtweisen sollten nicht voneinander getrennt werden: Sieht man dutzendseitenweise Stasimaterial durch, dann fällt vor allem die abgeschmackte Fadheit des Informationsmaterials auf. Wie durch eine schlechte Brille ist alles Lebendige in einen Schmierschleier der Langeweile getaucht. Das war ganz anders, als der Apparat noch in Funktion war. Er hatte die Aura des Allwissenden, Allmächtigen. Man kam sich vor wie ein Kind, das Angst hat vor der übermächtigen Gewalt des Erziehers, des strengen Vaters. Waisenkinder,
476 477
478
Ebd., S. 50. Kurt Drawert: Die Stasi. Eine dauernde Realität. Anmerkungen zu einer Debatte aus Anlaß der Anthologie MachtSpiele, hg. von Peter Böthig und Klaus Michael, Reclam Verlag Leipzig, 1993. In: K.D.: Fraktur. Lyrik, Prosa, Essay. Leipzig 1994; S. 49-53, S. 52; Hervorhebung im Original [zuerst: Radio Bremen, 4.7.1993]. Ebd., S. 52f.
238
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Heimkinder, im wörtlichen Sinne wie auch im weiteren Verständnis, Menschen, die früher und bis in die Gegenwart reichend an Unsicherheit, Ichschwäche litten, waren für die magische Gewalt der Lossprechung von begangenen Sünden besonders empfänglich.479
Der Stellenwert der Stasi-Akten ist also zu relativieren, zumal, wie Ernst Hannemann (1996) schreibt, „der ideologische Waffenstillstand im Innern des DDR-Staates nicht nur durch die Staatssicherheit, sondern ebenfalls durch SED, Gewerkschaft, Polizei, Schule, Jugendverband, Kader- und Personalabteilungen der Betriebe überwacht wurde […].“480 Aus dieser Erkenntnis leitet Hannemann einige Thesen für die Literaturgeschichtsschreibung ab; wesentlich sind dabei folgende Ergebnisse: Die in Frage stehenden Stasi-Akten sammeln Berichte aus der Sicht dritter [sic], deren Motivationen im Dunkeln bleiben, und sind zudem geleitet durch Machtinteressen der Staatssicherheit.“481
und Will man der Gesinnung eines Autors auf die Spur kommen, so sollte dies in erster Linie aus seinen eigenen Äußerungen und Texten geschehen, nicht aus denen eines Geheimdienstes.482
Für diese Einsicht spricht seines Erachtens auch der Stil der Akten, denn [s]ie spiegeln […] durch ihren protokollhaften Stil eine Objektivität vor, die nur ihre eigene Parteilichkeit verschleiert. Aus diesen Gründen sollte der gewiß großen Versuchung widerstanden werden, bei der Rekonstruktion der DDR-Wirklichkeit der Aktenlage der Staatssicherheit zu großes Gewicht einzuräumen.483
Stimmen wie Hannemanns, die sich ausdrücklich für eine Relativierung der Bedeutung von Stasi-Akten aussprechen, vor allem im Hinblick auf eine ‚Vergangenheitsbewältigung‘, wurden und werden meist kaum zur Kenntnis genommen. Bereits Ende 1992 weist Manfred Hättich in seinem 479 480
481 482 483
Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin 1992, S. 107. Ernst Hannemann: Geschichtsschreibung nach Aktenlage? Bemerkungen anläßlich der Debatte um die Stasikontakte von Christa Wolf und Heiner Müller. In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Edited by Peter Monteath and Reinhard Alter. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38); S. 19-34, S. 27. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 31.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
239
Vorwort zu Lothar Fritzes Innenansicht eines Ruins (1993) auf eine positive Eigenschaft von dessen Buch hin: „Einen wichtigen Beitrag der Schrift für die ‚Aufarbeitungsdiskussion‘ sehen wir auch darin, daß sie von der modischen STASI-Fixierung frei ist.“484 Nach Auffassung Matthias Wagners (*1950) werden mittels der StasiAkten völlig andere Interessen verhandelt. Der Archivar gehörte zu denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die im Februar 1990 mit der Sicherstellung der Stasi-Akten begannen. Seines Erachtens machte die Gauck-Behörde einen Wandel vom Archiv zum ‚politischen Herrschaftsinstrument‘ durch. Der Umgang mit den Akten löste ein „Stasi-Syndrom“ aus. Damit meint er [e]ine diffuse Mischung von Vorurteil, Berechnung, Dummheit, Raffinesse, Schuldzuweisung, Entschuldung und Selbstdarstellung, ein jämmerlicher Kampfplatz von Opportunismus und Beschränktheit. Unter der Losung der vorgeblichen Aufdeckung von Strukturen und Mechanismen eines Unterdrückungsapparates ging es allerdings um etwas anderes. Zum einen sollte damit der gesamte Staat, der solches hervorgebracht hatte, und seine Diener kriminalisiert werden. Das erleichterte deren Abwicklung. Zum anderen bekam man mit den Akten ein Herrschaftsinstrument in die Hand: Bei Bedarf ließen sich Biographien offenlegen und die auf diese Weise Bloßgestellten an den Pranger stellen. So bekam Unmut eine konkrete Adresse.485
Abschließend sei darauf verwiesen, dass es auch auf westdeutscher Seite Bedarf gibt, Kontakte zwischen Schriftstellern und der Staatssicherheit aufzuarbeiten. Stellvertretend seien hier die Namen Bernt Engelmann (*1921) und Günter Walraff (*1942) genannt, die sich, so Wolfgang Bergsdorf, „der Hilfsdienste der Stasi bedient“ haben, „um ihre politische Agitationsliteratur zu produzieren.“486 5.1.6.5 Die Stasi in der ‚Wendeliteratur‘ In fiktionalen Texten der Nachwendezeit ist der Staatssicherheitsdienst immer wieder Thema – meist im Zusammenhang mit der Enttarnung von IMs und damit verbundenen Fragen nach ‚Täter‘ und ‚Opfer‘. Peter O. Chotjewitz’ (*1934) lässt in seiner Erzählung Die Rückkkehr des Hausherrn (1991) Monika in einem inneren Monolog Walter gegenüber äußern:
484
485 486
Manfred Hättich: Vorwort. In: Lothar Fritze: Innenansicht eines Ruins. Gedanken zum Untergang der DDR. München 1993 (Akademiebeiträge zur politischen Bildung, Band 25); S. 7, S. 7; Hervorhebung im Original. Matthias Wagner: Vorwort. In: M.W.: Das Stasi-Syndrom. Über den Umgang mit den Akten des MfS in den 90er Jahren. Berlin 2001; S. 7-9, S. 7. Wolfgang Bergsdorf: Literaten und Denunzianten. In: Die politische Meinung 37 (1992) 271; S. 89-95, S. 91.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Die ganzen Stasi-Geschichten, die jetzt hochkommen, das ist alles Augenwischerei. In diesem Land war jeder beim Stasi. Jeder ein kleiner Stasi-Agent, der auf sich selber aufgepaßt hat, daß er immer hübsch auf der Linie blieb, und jetzt will es keiner gewesen sein. Jetzt waren es nur die paar da oben.487
In Wolfgang Hegewalds (*1952) Novelle Der Saalkandidat (1993 / 94) tritt Roland Hector, einer der beiden Protagonisten, in einer Wettshow mit folgender Saalwette auf: Als Saalkandidat werde ich mich in einen Spürhund verwandeln und wenigstens zehn haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiter der angeblich verendeten Staatssicherheit ausfindig machen, die sich im Moment hier unter den Zuschauern der Stadthalle aufhalten.488
Parallel zu Hectors Geschichte wird die Geschichte von Sigmund Wenz erzählt, der Hector zu DDR-Zeiten bespitzelte und als Gast vor Ort im Publikum sitzt. Der Text endet offen, Hector muss jedoch feststellen, dass zunächst einmal er es ist, der Schwierigkeiten bekommt, denn der Showmaster fragt ihn ungeniert aus und stellt ihn bloß. Hector erlebt deshalb eine Retraumatisierung, denn die entwürdigende Form der Befragung und das Offenlegen teilweise intimer Details aus seinem Leben hatte er bereits in vergleichbarer Form durch die Staatssicherheit erfahren. Ähnlich wie bereits vor ihm Hans Joachim Schädlich (*1935) in Tallhover (1986)489, lässt Hans Christoph Buch (*1944) in Der Burgwart der Wartburg (1994) den ‚ewigen Spitzel‘ durch die Jahrhunderte wandern; die Staatssicherheit spielt dabei eine zentrale Rolle, die in ihrer Bedeutung lediglich durch die Einordnung in größere historische Zusammenhänge der deutschen Geschichte relativiert wird. Buchs Text enthält zahlreiche intertextuelle Anspielungen, zumal der Spitzel häufig Schriftsteller observierte, darunter auch Goethe. Von den Sowjets wird der Erzähler gar zur Frau umoperiert, um ausgerechnet unter dem Decknamen „Christa T.“ Bertolt Brecht zu verführen.490 Im Prolog stellt er sich vor als Burgwart der Wartburg, mein Name ist Hase, und ich weiß von nichts. Ich bin ehemaliger Mitarbeiter der ehemaligen Staatssicherheit der ehemaligen DDR, und 487
488 489 490
Peter O. Chotjewitz: Die Rückkehr des Hausherrn. Monolog einer Fünfzigjährigen. Mit Original-Offsetlithographien von Sabine Koch. Düsseldorf 1991 (Broschur 165), S. 49. Wolfgang Hegewald: Der Saalkandidat. Novelle. In: W.H.: Der Saalkandidat. Leipzig 1995; S. 9-117, S. 111. Hans Joachim Schädlich: Tallhover. Roman. Reinbek 1986. Vgl. Hans Christoph Buch: Der Burgwart der Wartburg. Eine deutsche Geschichte. Frankfurt a.M. 1994, S. 119ff. Der Band ist im Übrigen Schädlich gewidmet. In Buchs Text fällt der Name „Tallhover“ mehrfach: vgl. Ebd., S. 99, 113, 142.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
241
ich habe es im Laufe meiner Karriere vom Tschekisten im Wachbataillon Feliks Dserschinskij [sic] zum Führungsoffizier mit Feindberührung in der Abteilung XX 4 gebracht; zuletzt, im November 1989, war ich als Angestellter der nationalen Forschungs- und Gedenkstätten und Sekretär der Goethe-Gesellschaft in Weimar zuständig für die Abwehr ideologischer Diversion. Nach der Wende wurde ich von einem Bürgerkomitee unter Leitung des Schriftstellers Wulf K., dessen konterrevolutionäre Wühlarbeit ich leider nicht früh genug erkannt und rechtzeitig unterbunden hatte, enttarnt und als Burgwart auf die Wartburg strafversetzt, wo meine Karriere als Staatsschützer 500 Jahre zuvor begonnen hatte. Ähnlich wie die Institution, für die ich arbeite, bin ich unsterblich; Leute wie mich hat es zu allen Zeiten gegeben, denn sie werden und wurden zu allen Zeiten gebraucht. Ich gehöre zu den ältesten Ureinwohnern Deutschlands, und ich habe die hiesige Gegend, in der sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, schon unsicher oder vielmehr sicherer gemacht, bevor der homo sapiens erectus ohne Visum und ohne Einreiseerlaubnis die Grenze von Sachsen nach Thüringen überschritt. Ich bin Grenzwächter von Beruf; vielleicht haben meine langen Ohren oder Löffel, die ich bei Bedarf wie Richtfunkantennen ausfahren und dann wieder wie Taschenmesser zusammenklappen und unter meinem Fell verschwinden lassen kann, mich für dieses Metier prädestiniert.491
Am konsequentesten führt Wolfgang Hilbig das Thema Staatssicherheit in seinen Texten aus. Im Herbst 1989 erschien sein Roman Eine Übertragung492, der in mancherlei Hinsicht die ‚Wende‘ oder doch zumindest die Notwendigkeit zu Veränderungen in der DDR vorwegnimmt.493 Höhepunkt von Hilbigs Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit ist der Roman „Ich“ (1993)494, den Wolfgang Emmerich „ein eindrucksvolles Panorama der untergegangenen DDR im Banne der Dauerobservation“495 nennt. Die Unterschiede zwischen Bewachern und Bewachten, ‚Tätern‘ und ‚Opfern‘, werden dabei stellenweise bis zur Unkenntlichkeit nivelliert. Der Ich-Erzähler erscheint als „C.“, „W.“, „M.W.“, „Cambert“, „‚Ich‘“ oder einfach „ich“. Er hält sich die meiste Zeit in labyrinthartig miteinander verbundenen Kellern unter Berlin auf. Hilbig geht es vor allem „um die strukturelle Nähe dessen, was Schriftsteller und Spitzel auszeichnet, nämlich die beiden gemeinsamen konstitutionellen Eigenschaften Neugier, Wahrnehmungstrieb, Forscherdrang und Aufschreibesucht.“496 Vorstufen
491 492 493
494 495 496
Ebd., S. 9f.; Hervorhebung im Original. Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung. Roman. Frankfurt a.M. 1989. Vgl. dazu J.H. Reid: Territories of the Soul. ‚Sujet‘ and ‚Geschichte‘ in Wolfgang Hilbig’s Eine Übertragung. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40), S. 92-107. Wolfgang Hilbig: „Ich“. Roman. Frankfurt a.M. 1993. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 494. Ebd.
242
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
zu „Ich“ stellen unter anderem die vier Erzählungen des ebenfalls 1993 erschienenen Bandes Grünes grünes Grab dar: Fester Grund (1984), Er, nicht ich (1981, überarbeitet 1991), die Titelgeschichte (1992) und Die elfte These über Feuerbach (1992).497 Die Form, in der die Debatte über die Stasi-Akten geführt wurde, forderte zahlreiche Autoren zu teilweise ausgesprochen makabren satirischen Texten heraus. So sucht Peter Maiwald in Jeder hat eine – bloß ich nicht! (1992) geradezu verzweifelt nach (s)einer Akte: Hast du nicht eine Akte für mich, Bodo? Nein? Mein Gott, jeder hat heute eine Akte über jemanden, von jemanden [sic], durch jemanden, nur ich nicht! Wie soll man da als Schriftsteller groß herauskommen? Nicht mal über mich gibt es eine! Weißt du keine, Bodo? Ich wäre auch schon mit einer klitzekleinen zufrieden. Ohne Akte ist nämlich derzeit in Deutschland nichts mehr zu machen. Nicht einmal Literatur.498
Die Akten erhalten den Status von Aktien, mit denen gehandelt wird: Lutz tauscht vier Sascha-Anderson-Akten gegen eine von Christa Wolf oder Volker Braun. Erich soll ein umgekehrtes Angebot gemacht haben. Franziska soll ihre Hermann-Kant-Akten abgestoßen haben und investiert jetzt stark in Günter-Grassund-die-SED-Papiere.499
Maiwald bezieht auch das Erscheinen der zahlreichen Dokumentationen in seine Satiren mit ein: Uwe hat schon vier Dokumentationsbände über seine Akten herausgegeben, dabei hat er bislang nur einen Lyrikband veröffentlicht (32 Seiten). Holger veröffentlicht im Akten-Werkverhältnis von drei zu eins, Else zwei zu eins.500
Mit Akte gilt man seiner Auffassung nach nichts, ohne erst recht – der Inhalt der Papiere spielt also kaum noch eine Rolle: Mein Gott, Bodo, unsereins wäre doch schon mit einem Irrtum zufrieden, einer kleinen Anschuldigung, einem mittleren Verdächtlein! Wie soll man sich denn sonst einen Namen machen, geschweige denn ins Gespräch bringen?501
Auch die heute zum Teil banal erscheinende Qualität der erhobenen Informationen wird zum Gegenstand von Satiren. So möchte Rolf Liebolds als 497 498
499 500 501
Wolfgang Hilbig: Grünes grünes Grab. Erzählungen. Frankfurt a.M. 1993. Peter Maiwald: Jeder hat eine – bloß ich nicht! Peter Maiwald kann ohne eine Personalakte über ihn nicht groß rauskommen. In: Nie wieder Ismus! Neue deutsche Satire. Hrsg. von Manfred und Christine Wolter. Berlin 1992; S. 196f., S. 196. Ebd. Ebd. Ebd., S. 197.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
243
Typ angelegte Figur „Ossi“ Einsicht in seine Akte nehmen. Die Befragung, auf Grund derer die richtige Akte ermittelt wird, gestaltet sich vollkommen anders als erwartet: Ossi erklärte, daß er seine möglicherweise vorhandene Akte suche. „Wenn Sie kein berühmter Politiker sind, ist Ihre Akte bestimmt noch da“, murmelte der Operator. „Wir werden sie finden. Sie müssen mir nur ein paar Fragen beantworten. Geschlecht?“ – „Adlig bin ich nicht, ich bin der kleine Ossi aus Friedrichshain.“ – „Ich meine: männlich oder weiblich?“ Ossi entgegnete, er habe sich eigentlich immer für einen Mann gehalten. „Sehr gut!“ entgegnete der andere. „Das vermindert die Zahl der in Frage kommenden Akten schon um 56,7 Prozent. Ihr Sternbild?“ – „Jungfrau.“ – „Ihre Lieblingsspeise?“ – „Aprikosenpudding mit Karamelsoße.“ – „Verehren Sie einen bestimmten literarischen Helden?“ – „Dracula.“ „Das ist ja alles prima“, freute sich der Computermensch und gab Ossis Angaben in seinen Kasten ein. Auf dem Bildschirm blitzte und zuckte es, der Drucker ratterte und spucke [sic] einen Papierstreifen aus. „Na also“, meinte der Operator. „Es gibt in unserer Sammlung nur sieben Akten von männlichen Jungfrauen, die gern Aprikosenpudding mit Karamelsoße essen und Dracula verehren. Gleich werden wir fündig!“ Und tatsächlich! Er brachte ein abgegriffenes und offensichtlich häufig gebrauchtes Bündel Papier angeschleppt und forderte Ossi auf, sich hinzusetzen: „Nehmen Sie sich ruhig Zeit beim Durchblättern!“ Die Akte wußte alles! Zum Beispiel, daß Ossi neunmal vor langer, langer Zeit im FDJ-Studienjahr eingeschlafen war. Sie berichtete auch über alle seine sexuellen Auffälligkeiten seit der Jugendweihe. […]502
Die Satire dürfte das ideale Ausdrucksmedium für Inhalte dieser Art sein, wie sich vielleicht am deutlichsten in Thomas Brussigs an dieser Stelle nicht weiter interessierenden Roman Helden wie wir (1996; vgl. 6.4.3)503 zeigt.
Exkurs IV: Vom „Gefühlsstau“ zum „gestürzten Volk“ – Psychologische Erkenntnisse zur ‚Wende‘ auffallend ist nur, daß dieses land ganz eigene, unvergleichliche verhaltensmuster, mentalitäten und eigenschaften inspiriert hat, von denen eine gewisse bitterkeit vielleicht die hervorstechendste ist. psy-
502
503
Rolf Liebold: Ossi sucht seine Akte. Oder: Wie man unverhofft zum inoffiziellen Mitarbeiter werden kann. In: R.L.: Geschichten vom kleinen Ossi. Alte und neue Abenteuer im Ländchen der Wendehälse. Mit 27 Zeichnungen von Heinz Jankofsky. Berlin 1991; S. 147-151, S. 148. Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
chologisierend würde ich vermuten, dieser allgemeine, nicht näher bestimmbare, weil zur gewohnheit gewordene beigeschmack, den man allenthalben wahrnimmt, will in etwa bedeuten: sie wissen doch, wo wir leben. vielleicht eine art latenter sabotage und wohl auch selbstverachtung für verhaltensweisen, mit denen sich niemand identifizieren mag, obgleich er ihnen gerade dann zu verfallen scheint, wenn er sie von sich weist.504 (Rainer Schedlinski: gibt es die ddr überhaupt?, August / September 1989)
Zahlreiche Untersuchungen und Gespräche setzen sich mit den psychischen Implikationen von ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ auseinander; dabei dominiert die Ost-Perspektive, bedingt insbesondere durch die Arbeiten des Hallenser Psychologen und Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz (*1943) und seines Kollegen Michael Haller. Aus westdeutscher Sicht gibt es mit Ausnahme der Besuche bei Brüdern und Schwestern (1992)505 des Psychoanalytikers Tilmann Moser (*1938) kaum relevante Texte. Nahezu gleichberechtigt vertreten sind beide Perspektiven in Margarete Mitscherlischs (*1917) und Brigitte Burmeisters (*1940) Gespräch Wir haben ein Berührungstabu (1991).506 Hans-Joachim Maaz ist seit 1980 Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk in Halle (Saale). In Der Gefühlsstau (1990) entwirft Maaz, so er selbst, ein typisches Bild des durchschnittlichen DDR-Bürgers: Er ist autoritätsgläubig, ängstlich und gefühlsblockiert, vor allem aggressiv gehemmt. Seine Bereitschaft, wirkliche Konflikte offen auszutragen, ist gering; seine Realitätswahrnehmung ist verzerrt und eingeengt. Er zeigt einen deutlichen Mangel an Direktheit und spontaner Lebensfreude – alles ist verhalten, gebremst, abgesichert und kontrolliert. Doch unter dieser Oberfläche, die nur unter großem Druck aufbricht, brodeln heftigste Gefühle: mörderische Wut, ohnmächtige Angst, auch tiefer Schmerz und lähmende Traurigkeit. Das allerdings bleibt meist verdeckt, weil es als bedrohlich und belastend empfunden wird.507
504
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Rainer Schedlinski: gibt es die DDR überhaupt? In: r.s.: die arroganz der ohnmacht. aufsätze und zeitungsbeiträge 1989 und 1990. Berlin / Weimar 1991; S. 27-35, S. 27; Hervorhebung im Original [zuerst gekürzt erschienen in der taz]. Tilmann Moser: Besuche bei Brüdern und Schwestern. Frankfurt a.M. 1992. Margarete Mitscherlich / Brigitte Burmeister: Wir haben ein Berührungstabu. Hamburg 1991. Hans-Joachim Maaz: „Stalinismus als Lebensform“. Der DDR-Psychiater Hans-Joachim Maaz über die Psychologie der Wende. In: Der Spiegel 44 (1990) 8; S. 216-218, S. 216; vgl. auch H.-J.M.: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Berlin 1990.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
245
Nach der ‚Wende‘ zeichneten sich neue psychische Probleme ab, die man als „Angst vor der Freiheit und Selbstbestimmung“508 bezeichnen könne: Die Mauer fiel, bevor sie zum Ziel des politischen Kampfes werden konnte. Seither beherrscht zunehmend nur noch ein einziges Thema die „Revolution“: Deutschland, einig Vaterland. Damit werden alle tieferen Erkenntnisprozesse und die notwendige Trauerarbeit durch eine Flucht nach vorn vermieden: Der kollektive Mangel, die kollektive Schuld sollen als kollektive Erlösung in der Einheit Deutschlands getilgt werden. Doch die Charakterverformung der Massen bleibt unangetastet und stellt eine Gefahr für die Zukunft dar.509
Maaz beurteilt die „jetzt stattfindende, schnelle Orientierung auf den Westen“ außerordentlich kritisch, denn sie geschieht unter dem Druck der eigenen, inneren Unsicherheit und der Sehnsucht nach neuer kräftiger Führung, die das überkommene Autoritätsbedürfnis befriedigen soll. Nirgendwo wird die Frage nach den menschlichen Grundbedürfnissen diskutiert, die bislang unterdrückt waren.510
Mit Das gestürzte Volk (1991) legte Maaz eine Fortsetzung von Der Gefühlsstau vor – nun mit ausführlichem Bezug auf die seines Erachtens missglückte Einheit. Der Band enthält neben Informationen über die Rezeption von Der Gefühlsstau eine Darstellung der sich aus der ‚unglücklichen Einheit‘ (Untertitel) ergebenden Folgen für die Psyche. Eigene Erfahrungen berücksichtigend erkennt er: Ich stecke mitten in einem Verlust-Syndrom, das ich nicht annehmen wollte, solange ich es als DDR-Verlust-Syndrom diagnostizierte. Da hatte ich meinen Stolz: Das konnte doch nicht wahr sein, daß der Untergang dieses verachteten Systems, wenn ich es auch längst als ambivalent besetztes, gehaßt-geliebtes Objekt angenommen hatte, mich so zu irritieren vermochte. Erst die persönlichere Perspektive, der ich bei meiner Arbeit als Psychotherapeut nicht entgehen konnte, konfrontierte mich mit den Begriffen „Trennung“ und „Orientierungsverlust“. Da liegen sehr viele Affekte drin, die ich erst allmählich zulassen und integrieren kann, und längst bin ich damit noch nicht fertig.511
Im Zentrum des Buches stehen die Analyse dieses ‚Verlust-Syndroms‘, des Stellenwertes der Arbeit für die zuvor nicht mit Arbeitslosigkeit kon508 509 510 511
Ebd., S. 218. Ebd. Ebd. Hans-Joachim Maaz: Vorwort. In: H.-J.M.: Das gestürzte Volk oder die unglückliche Einheit. Berlin 1991; S. 9-24, S. 10; Text im Original kursiv.
246
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frontierte Bevölkerung in den östlichen Ländern und der ungeeigneten Versuche, mit diesen und weiteren Problemen fertig zu werden. Maaz interessieren auch die „dritten Deutschen“, also jene DDR-Bürger, die vor der ‚Wende‘ in den Westen geflohen waren. Ihnen komme eine besondere Rolle zu, denn [e]s war immer wieder eine Menge Zorn und Traurigkeit spürbar und eine dreifache Last: die Bewältigung der Vergangenheit DDR, die Bewältigung der Flucht und schließlich auch die Klärung der neuen West-Identität. Die Vereinigung vereitelt endgültig den Abwehrversuch „Flucht“. Alles was damit zurückgelassen und vergessen werden sollte, ist wieder da. Die unbewältigte Vergangenheit fordert ihren Tribut.512
Als im Osten problematisch gestalte sich auch das bittere Erwachen aus einem schönen Traum. Die bisher verdrängte Kehrseite des schönen Scheins schiebt sich unaufhaltsam in die Lebenswirklichkeit: Der Wohlstand hat seinen Preis! Und im Westen empfinden die Menschen zunehmend eine psychologische, ökonomische und moralische Bedrohung ihrer bisherigen Lebensart als dem zentralen Mittel, sich den inneren Mangel erträglicher zu machen.513
Ein eigenes Kapitel widmet Maaz der „‚Therapie‘ der unglücklichen Einheit“514, wobei Formen des Gesprächs, teilweise in therapeutischem Rahmen, also institutionalisiertem Kontext, im Vordergrund stehen. In seinem „Resümee“ prophezeit Maaz: Solange der Osten nur verwestlicht werden will und soll, werden diese Probleme zunehmen. Demgegenüber will ich eine Humanisierung einklagen, die die Möglichkeiten verbessert, unser Leben wieder an wesentlichen Grundbedürfnissen zu orientieren. Nicht der Leistungsanspruch und wachsender Wohlstand sollten die Maximen unseres Lebens sein, sondern die Verbesserung unserer menschlichen Beziehungen.515
Ausgehend von seinen Analysen und Therapievorschlägen fordert Maaz, die Chancen des Einigungsprozesses auf beiden Seiten zu nutzen. Er plädiert nachdrücklich für einen Paradigmenwechsel innerhalb der Gesellschaft.516 512 513 514 515 516
Ebd., S. 78. Ebd., S. 96f. Ebd., S. 123-149. Ebd., S. 152. Vgl. auch Hans-Joachim Maaz: Für andere Maßstäbe. Eine Flugschrift. Leipzig 1993. Im Vordergrund dieses Textes stehen die Formeln „Fühlen statt kämpfen“, „Beziehung statt Konsum“, „Schwingung statt Leistung“, „Gemeinschaft statt Konkurrenz“ und „Kommunikation statt Krieg“.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
247
Zu ähnlichen Erkenntnissen wie Maaz gelangt der Psychologe Michael Haller, der zusammenfassend feststellt: Vierzig Jahre Sozialismus haben bei vielen DDR-Bürgern lähmende Beklemmung hinterlassen. Verunsichert erleben sie nun, wie mit dem Staatsvertrag der Westen einrückt. Plötzliche Leere und das Gefühl, immer alles falsch gemacht zu haben, lösen eine neue Fluchtwelle aus – in die Welt des Konsums und in die Arme neuer Autoritäten.517
Die „siegreiche Novemberrevolution“ habe „zunächst wie eine Therapie“ gewirkt518; der Ostberliner Psychologe Michael Froese erklärt: „Das Erlebnis der Kraft eines gemeinsamen Aufstehens und die Überraschung über die Kreativität des Protests“ hätten eine „schwer zu beschreibende heilsame Befreiung“ dargestellt.519 Umso problematischer dürfte der weitere Verlauf der Geschichte sich ausgewirkt haben, denn auch das Tempo, in dem die Einheit auf formaler Ebene vollzogen wurde, habe psychische Deformationen ausgelöst. Maaz zufolge verhindert eben diese Geschwindigkeit die Bearbeitung der „kollektiven Diktaturschäden“. Das wiederum lasse die Wahrnehmung für Stress- und Suchtkrankheiten, Depressionen und weitere Probleme in westlichen Gesellschaften in den Hintergrund treten. Das groß angelegte Gespräch zwischen Brigitte Burmeister und Margarete Mitscherlich (1991) kann hier nicht im Detail referiert werden. Wichtig ist die gleich zu Beginn angesprochene Familienebene, mit der das Ost-West-Verhältnis verglichen wird: Burmeister: Die deutsch-deutschen Verhältnisse wurden immer ganz gerne familiarisiert. Die armen Brüder und Schwestern im Osten, der reiche Onkel im Westen … Und für die Vereinigung gab es das Bild der Ehe, wobei selbstverständlich war … Mitscherlich: … daß die DDR die Frau ist.520
Burmeister wendet sich in dem Gespräch zumindest implizit gegen die oben erwähnten Thesen von Maaz; sie wehrt sich gegen eine Art der Kritik, die schon wieder kritiklos ist, weil sie in Bausch und Bogen alles für schlecht erklärt, was war. Und in diesem Zusammenhang ärgert
517 518 519 520
Michael Haller: Zwei deutsche Seelen im Konflikt. Gerade befreit und schon wieder gedemütigt – DDR-Bürger in der Krise. In: Die Zeit v. 29.6.1990. Ebd. Michael Froese; zit. nach Ebd. Margarete Mitscherlich / Brigitte Burmeister: Wir haben ein Berührungstabu. Hamburg 1991, S. 14; Hervorhebungen im Original.
248
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
mich auch, wenn eine ganze Gesellschaft sozusagen psychiatrisiert wird – allesamt deformiert, alles Insassen einer geschlossenen Anstalt.521
Psychologische Inhalte werden auch über fiktionale Texte transportiert. In diesem Zusammenhang sei vor allem auf die längere Erzählung Unbekannter Verlust (1994)522 der 1953 in Lichtenwalde bei Chemnitz geborenen Journalistin und Schriftstellerin Marion Titze verwiesen: Während der Entstehung eines Films über Novalis kommt es zum Bruch der Ich-Erzählerin mit ihrem Freund, dem jungen Regisseur Daniel, weil dieser sich den westlichen Produktionsbedingungen beugt. Das Verhalten des jungen Mannes ist allerdings vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass er in der DDR Arbeitsverbot hatte. Hauptthema der stark psychologisierenden Erzählung ist die Problematik der Trauerarbeit und des Abschiednehmens auf der Partnerebene, übergeordnet schließlich auch von der DDR. Bereits der Titel verweist auf die hohe Bedeutung dieses Aspekts: „[u]nbekannter Verlust“ ist Freuds knappe Definition von ‚Melancholie‘.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘ Wer sind wir eigentlich? Wir sind nicht die, die wir zu sein glaubten. Wir sind aber auch nicht die, zu denen man uns abstempeln will. Vielleicht aus Gründen, die wir nicht durchschauen. Wer bin ich? Was meint heute noch mein „Wir“? Diese schöne, schreckliche Welt erlaubt kein langes Grübeln. Wir müssen uns ihr stellen, und während wir das tun, begreifen wir zugleich, daß dies der Weg ist, Identität zurückzugewinnen.523 (Helga Königsdorf: Das Recht auf Identität und die Lust zur Intoleranz, 1991) Jetzt, wo die Malerin alles tun konnte, wußte sie nicht mehr, was zu tun ist.524 (Thea Herold: Die Augen der Malerin, 1996)
521 522 523
524
Ebd., S. 49. Marion Titze: Unbekannter Verlust. Berlin 1994. Helga Königsdorf: Das Recht auf Identität und die Lust zur Intoleranz [Rede auf dem Evangelischen Kirchentag 1991 in der Westfalenhalle in Dortmund, Juni 1991]. In: H.K.: Aus dem Dilemma eine Chance machen. Aufsätze und Reden. Hamburg / Zürich 1991; S. 83-88, S. 83. Die Augen der Malerin. Die Mauer fiel der Länge nach um. Die Malerin konnte gerade noch die Zehen wegziehen. Der Tag, an dem dies geschah, stand nicht im Kalender. Eine Erzählung von THEA HEROLD. In: Das Magazin (1996) 11; S. 43-47, S. 44.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
249
Im engeren Sinne persönliche Texte gehören zu den frühesten Zeugnissen der ‚Wendeliteratur‘. Ihr verstärktes Erscheinen wurde von Brigitte Burmeister bereits im November 1989 prophezeit: Zugleich oder vielleicht als erstes werden wir, glaube ich, eine lebendige operative Literatur haben, Dokumentationen, Reportagen, Erlebnisberichte, Erinnerungsbücher. Eine Literatur insgesamt, die sich der durch die Generationen laufenden Frage, nun im Hinblick auf uns selbst und unsere eigene Geschichte, stellen muß: Und was habt ihr getan? Was tut ihr jetzt?525
Mit ihrer Prophezeiung behielt Burmeister Recht: Vor allem in den Jahren zwischen 1990 und 1995 erschienen zahlreiche Tagebücher, persönliche Chroniken, Notizen, Briefe, Reden, Sammlungen mit Texten einzelner Autorinnen und Autoren sowie Reflexionen der jüngsten Ereignisse, ganz zu schweigen von den nach wie vor zahlreich im Erscheinen begriffenen Autobiografien. Wesentlich ist bei allen Texten der Aspekt der Auswahl, denn oft liegt im Ungesagten mehr als in dem, was gesagt wird.526 Es muss dabei nicht eigens betont werden, dass vielfach versucht wird, eine ‚objektive Wahrheit‘ zu etablieren, die es selbstverständlich nicht geben kann. Insbesondere im Zusammenhang mit Rechtfertigungen oder dem Eingestehen von Schuld zeigt sich deutlich die Ich-Gebundenheit der Aussagen. Viele Texte, vor allem aus dem Bereich der Autobiografien, lassen sich wechselseitig als Korrektiv lesen. Es verwundert dabei nicht, dass nach der ‚Wende‘ eine Fülle von ‚Rechtfertigungsliteratur‘ entstand, die kaum mehr zu überschauen und mittlerweile selbst zum Gegenstand von Texten geworden ist. So äußert Lothar Kusche (*1929) in seinem satirisch gefärbten Essay Wenn der Reiter nichts taugt … (1991): Wir werden von diesen Bekenner- und Rechthaber-Büchern dermaßen überschwemmt, daß man kaum noch zum Lesen kommt, weil man ständig gegen das Ertrinken ankämpfen muß. Auch ich muß zugeben, daß ich mich in all dem autobiographischen Zeug nicht mehr so recht auskenne.527
525
526
527
Brigitte Burmeister: Deutschland: kein Wort, das mein Herz schneller schlagen läßt. In: Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Hrsg. von Françoise Barthélemy und Lutz Winckler. Frankfurt a.M. 1990; S. 56-63, S. 62. Vgl. auch Julian Preece: Damaged lives? (East) German memoirs and autobiographies, 1989-1994. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 349-364, S. 349f. Lothar Kusche: Wenn der Reiter nichts taugt … In: ndl 39 (1991) 11; S. 171-172, S. 171 (Post-Skriptum).
250
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Unabhängig von Qualitätsurteilen jedweder Art ist zu berücksichtigen, dass die selbsttherapeutische Funktion des Schreibens von Tagebüchern und autobiografischen Texten nicht zu unterschätzen ist. Thomas Rosenlöcher zufolge waren große Teile der Biografien in der DDR „verstaatlicht“. Schreiben konnte ein Refugium gegen diese Form der ‚Verstaatlichung‘ bilden, wie er in Abschnitt 33 („Ein-Nicken“) von Der Nickmechanismus. Ein Selbstbefragungsversuch (1996) ausführt: Und doch verdanke ich – denn immer kann der Mensch nicht schlafen – gerade dem tonnenweise auf die Studentenköpfe herabgewälzten Sprachmüll, daß ich mich zu wehren begann; unbewußt eine Gegensprache suchte; Individuation. Las, meist Sachen außerhalb jeder Politik; Mörike, Eichendorff, den Anti-Becher Bobrowski, Rilke natürlich und Hölderlin. Schwänzte wochenlang die Uni, versuchte Gedichte zu schreiben. Setzte damit jenen Teil meiner Biographie fort, der nicht zu verstaatlichen ist, nicht einmal nachträglich und auch nicht durch mich selbst.528
Einmal abgesehen von explizit nicht-fiktionalen Texten wie den oben beschriebenen, fällt auf, dass – über die autobiografischen Texte hinaus – in der ‚Wendeliteratur‘ Ich-Erzähler bzw. lyrisches Ich und Autorin bzw. Autor häufig nahezu deckungsgleich sind oder zumindest zu sein scheinen. Mitunter wird dieses Phänomen auch thematisiert, wie sich am Beginn von Hermann Kants Roman Kormoran (1994) zeigt: Falls Sie wissen möchten, lieber Leser, wer Ihnen dies erzählt: Ich mache das. Ich bin der Autor und Urheber, ein erfinderisches Wesen, das sich zu Zwecken der Unterhaltung und Belehrung etwas ausdenkt. Oder in Abwehr übergroßer Ängste wie übergroßer Freude. Zugegeben, als Einrichtung kam ich ein bißchen aus der Mode. Aber es gibt mich. Nicht nur im Prinzip, sondern mit fester Anschrift. Wenn Sie nicht ahnen, wie ich heiße, müssen Sie an ein Buch ohne Einband und ohne Schmutz- und Haupttitel geraten sein. Da steht nämlich überall mein Name. Besorgen Sie sich ein vollständiges Exemplar, falls Ihnen wichtig ist, von wem diese fabelhafte Geschichte geliefert wird. Und zwar ohne Hinzuziehung irgendwelcher Gehilfen sowie unter Ausschluß von Mittelspersonen oder Konstruktionen, auf die sich Glaubhaftigkeit stützen soll. Ich sehe nicht, warum ich anderen in den Mund schieben muß, was sich aussprechbar in meinem Kopfe findet. So leiste ich leicht Verzicht auf den Freund, welcher stockend vom Freunde berichtet, pfeife auf den Archivar, der aus verschollen geglaubten Folianten liest, verkneife mir alle Umbögen über Psychiatrie, Polizeistation oder frisch geschaufeltes Grab und schaffe die Sache auf kürzestem Wege heran: direkt vom Autor an den Leser. 528
Thomas Rosenlöcher: Der Nickmechanismus. Ein Selbstbefragungsversuch. In: Das Vergängliche überlisten. Selbstbefragungen deutscher Autoren. Hrsg. von Ingrid Czechowski. Leipzig 1996; S. 114-142, S. 132; in erweiterter Fassung auch in: T.R.: Ostgezeter. Beiträge zur Schimpfkultur. Frankfurt a.M. 1997, S. 97-145; hier Abschnitt 37; S. 125f., S. 126.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
251
In einer Weise also, die ebenfalls ein wenig aus der Mode ist. Ohne Furcht vor der Frage: Woher weiß der Verfasser das? Ohne Angst, man könnte ihn Doktor Allwissend heißen. Mit dem Mut zur Erklärung vielmehr: Ich weiß es, denn ich habe es mir ausgedacht. Ich bin die Quelle der Nachricht, wie sollte ich da nicht ihr Überbringer sein?529
Folgerichtig weist die Hauptfigur, Paul-Martin Kormoran, bis hin zu dem operativ behandelten Herzfehler, zahlreiche Übereinstimmungen mit ihrem Verfasser auf. So äußerte Hermann Kant 1991 in einem Interview mit Artur Arndt: Im übrigen ist es aber auch so, um es so undramatisch wie möglich auszudrücken: Ich weiß ziemlich genau, wie abgezählt, nicht nur wie gezählt meine Tage sind. Seit meinem vierundsechzigsten Geburtstag, das war der vierzehnte Juni dieses Jahres, trage ich zwei künstliche Herzklappen im Leib, bin also jemand, der auf das Funktionieren einer Mechanik angewiesen ist und der wissen muß, daß das eine Weile gut gehen, aber auch mit einem letzten Klapp ganz plötzlich aufhören kann.530
Die relativ große Nähe von Ich-Erzähler und Autor mag die häufig vorgenommenen unzulässigen Gleichsetzungen beider Instanzen bzw. Verwechslungen von Fiktion und Realität im Zusammenhang mit der ‚Wendeliteratur‘ erklären. Weder der ‚deutsch-deutsche Literaturstreit‘ noch Karl Corinos unsägliches Buch über Stephan Hermlin (1996)531 wären ohne solche Fehlleistungen denkbar gewesen oder hätten, zumindest im Falle der ersten Phase des Literaturstreits, einen sachlicheren Verlauf genommen. Die beschriebene Nähe dürfte in vielen Fällen mit einem politischen Verständnis von Literatur zusammenzuhängen. So schließt Klaus Huhns (*1928) ironisch betitelte Textsammlung Briefe aus den blühenden Ländern (1997) mit einem Appell: Hier enden die Briefe aus den blühenden Ländern. Vorerst. Sie haben – zum Beispiel bei künftigen Wahlen – ausreichend Gelegenheiten, die Voraussetzungen für endlose Fortsetzungen zu schaffen. Oder auch nicht …532
Zudem machen Autorinnen und Autoren auffallend häufig implizit auf die Realitätsnähe ihrer fiktionalen Texte aufmerksam, insbesondere in Form von der Norm abweichender juristischer Schutzklauseln zu Beginn oder am 529 530 531 532
Hermann Kant: Kormoran. Roman. Berlin / Weimar 1994, S. 5. [Interview mit Artur Arndt]: Artur Arndt: Gespräch mit Hermann Kant. In: Sinn und Form 43 (1991) 5; S. 853-878, S. 870. Karl Corino: „Aussen [sic] Marmor, innen Gips“. Die Legenden des Stephan Hermlin. Düsseldorf 1996. Klaus Huhn: Briefe aus den blühenden Ländern. [Berlin] 1997 (Spotless-Reihe Nr. 74), S. 96.
252
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ende von Texten. Im Folgenden sei eine Auswahl an Beispielen gegeben. In der Vorbemerkung zu Gottfried Kunkels (*1934) Roman Wendezeiten im Eichsfeld (1993) heißt es eher traditionell: Die Handlung dieses Romans ist nicht frei erfunden. Begebenheiten und Ereignisse haben sich so oder ähnlich zugetragen. Die genannten Namen stimmen jedoch mit den wirklichen nicht überein. Ebenso die Orte, soweit sie nicht heute noch unter dem genannten Namen existieren. Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen sind rein zufällig.533
Ebenfalls vergleichsweise konventionell gehen Mathias Wedel (*1953) und Thomas Wieczorek (*1953) vor, die ihrem Buch Mama, was ist ein Wessi? / Papa, was ist ein Ossi? die Bemerkung voranstellen: Ähnlichkeiten mit Personen, Ereignissen und Stimmungen sind, mögen sie vom Autor beabsichtigt oder ihm unterlaufen sein, unleugbar.534
Hier wird lediglich mit der Erwartenshaltung des Lesers gespielt, zugleich aber auf die durchaus vorhandene Realitätsebene des folgenden Textes explizit aufmerksam gemacht. Aufgabe des Hinweises ist also weniger der Schutz im juristischen Sinne und die damit verbundene Hervorhebung der Fiktion, sondern der Verweis auf den Wahrheitsgehalt des Textes. Brigitte Burmeister dagegen sichert sich in Pollok und die Attentäterin (1999) ausdrücklich auch juristisch ab: Alle Figuren des Romans sind erfunden. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person, auch dort nicht, wo sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen decken.535
Burmeisters Klausel zählt zu den kürzesten. Im Gegensatz zu ihr weist Helmut Sakowski (*1924) nicht in Form einer knappen Be- oder Anmerkung, sondern ausführlich im Vorwort zu seinem Roman Wendenburg (1995) auf das Verhältnis von Realität und Fiktion hin:
533 534 535
Gottfried Kunkel: Wendezeiten im Eichsfeld. Eichsfeldroman. Duderstadt 1993, S. 5. Mathias Wedel / Thomas Wieczorek: Mama, was ist ein Wessi? / Papa, was ist ein Ossi? Ein Dreh- und Wendebuch. Berlin [o.J.], S. 4 / S. 4. Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 306; im Original kursiv.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
253
Wendenburg liegt in Ostdeutschland, und der Roman handelt in der Gegenwart. Soviel ist gewiß. Wer eine Spürnase hat, mag sogar den Turmstumpf der alten Burg Werle lokalisieren. Daß aber Frauenlob seinerzeit auf dem Hügel gehaust und gesungen hat, ist so wenig verbürgt, wie es die erstaunlichen Begebenheiten sind, die der Leser erfährt. Es ist wahr, daß sich viele Menschen in den neuen Ländern mit den Konflikten der Nachwendezeit herumschlagen müssen und dies oft auf merkwürdige, mitunter groteske Weise tun. Vielleicht gleichen manche Lebensgeschichten des Romans sogar jenen, die der eine oder andere Leser aus der Wirklichkeit kennt, dennoch sind alle Erzählungen märchenhaft und erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Persönlichkeiten muß zufällig sein.536
Ähnlich ausführlich geht Jürgen Petschull in seinem Spionagethriller Der Herbst der Amateure (1991) vor. Die Haupthandlung des Textes spielt an wenigen Tagen zwischen dem 28. September und dem 10. November 1989. Die Passagen über den Fall der Mauer enthalten so gut wie keine Reflexionen, sie besitzen dokumentarischen Charakter; auf diese Tatsache weist der Verfasser am Ende seiner Vorbemerkung explizit hin: Die Handlung dieses Romans ist nicht frei erfunden. Sie ist der Wirklichkeit nachempfunden. Die Hauptpersonen existieren tatsächlich. Sie heißen anders. Ihre Schicksale habe ich zum Teil verändert und aus dramaturgischen Gründen Lebenswege miteinander verbunden, die sich nicht gekreuzt haben. Mit den Männern, die mir als Vorbild für Tasarow, Dillon und Lohmer dienten, habe ich gesprochen, und die Geschichte von Rosenblatt ist in den USA recherchiert – denn der Mann, der Rosenblatt ist, darf wegen Gefährdung nationaler Sicherheitsinteressen noch immer nicht reden. Die historischen Hintergründe und die politischen Ereignisse im Herbst 1989 in Deutschland entsprechen der Realität.537
Abschließend sei kurz auf das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion in dem 1998 erschienenen Roman Peanuts aus Halle538 eingegangen, der den Untertitel „Realsatire zur Vereinigungskriminalität“ trägt. Thema ist der wohl größte Bankenskandal der Nachkriegsgeschichte, kurz nach der Währungsunion ausgelöst von der Stadt- und Saalkreis-Sparkasse Halle (Saale), deren Angestellte rund 700 Millionen DM an westdeutsche Kreditnehmer verliehen. Diese sollten sich jedoch als zahlungsunfähig erweisen; der Schaden betrug rund 434 Millionen DM. Das diesen authentischen Fall aufgreifende Buch ist ein Gemeinschaftswerk des Journalisten und Fern-
536 537 538
Helmut Sakowski: Vorwort. In: H.S.: Wendenburg. Roman. Berlin 1995; S. 5, S. 5. Jürgen Petschull: Der Herbst der Amateure. Roman. München / Zürich 1991, S. 6. Peter F. Müller / Wolfgang Sabath: Peanuts aus Halle. Eine Realsatire zur Vereinigungskriminalität. Berlin 1998.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
sehproduzenten Peter F. Müller (*1954) und des Journalisten und Autors Wolfgang Sabath (*1937), der aus den von Müller zusammengetragenen Dokumenten eine Satire schrieb. Handlungsträger sind neben Erna Bläss, einer „Klofrau im Interhotel Halle / Saale“, auch die Gebrüder Grimm mit einem „Märchen aus unseren Tagen“. Im Anhang ist auszugsweise der „Bericht über eine Sonderprüfung des Sparkassen- und Giroverbandes gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über das Kreditwesen (KW) bei der Stadt- und Saalkreis-Sparkasse Halle“ abgedruckt.539 Am Ende des Prologs heißt es: Die Autoren und der Verlag garantieren, daß beinahe sämtliche Namen sowie dreieinhalb bis vier Figuren in der vorliegenden Geschichte fast völlig frei erfunden sind; die Vorkommnisse, geschäftlichen Transaktionen und Abläufe sowie das Verhalten und etliche Lebensumstände handelnder Personen und die Dokumente im Anhang hingegen nicht. Kurzum: die authentische Kolportage! Dabei hatte sich alles so gut angelassen in Teutschenthal. Von Halle gar nicht zu reden. Doch verzagt wird nicht: Wie einst schon der Genosse Minimalsekretär selig angedroht hatte: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“540
Einerseits wird im Prolog also auf die Authentizität des Falles verwiesen, andererseits schützen sich die Autoren durch den Hinweis auf geänderte Namen. Über die jeweiligen Anteile von Realität und Fiktion wird nichts ausgesagt. Zudem wird vor allem durch den ersten und die beiden letzten Sätze der Wahrheitsgehalt des gesamten Textes in Frage gestellt, denn diese lassen die Glaubwürdigkeit des Prologs insgesamt als fragwürdig erscheinen. Am engsten der Realität verhaftet sind die zahlreich erschienenen autobiografischen Berichte. Therese Fischer schildert in Mit dem Trabi in den Westen (1999) ihre Flucht aus der DDR und den schwierigen Aufbau einer neuen Existenz in der Bundesrepublik. Dem Haupttext ist die Bemerkung vorangestellt: Diese Geschichte ist nicht erfunden, sie beinhaltet einen Abschnitt in meinem Leben. Ich habe ihn aufgeschrieben, weil es für mich wichtig ist, Geschehenes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Namen der Personen sind frei erfunden. Wer sich dennoch mit einer meiner Figuren in dieser Geschichte identifiziert, möchte dies bitte mit seinem Gewissen abmachen.541 539 540 541
Ebd., S. 149-155. Dies.: Prolog zu: Ebd.; S. 9-12, S. 12; Hervorhebung im Original. Therese Fischer: Mit dem Trabi in den Westen. Geschichte eines schweren Neubeginns. Berlin 1999, S. 4.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
255
5.2.1 Protokolle, Porträts, Reportagen und Tagebücher Protokolle, Tagebücher, natürlich auch Briefe, dürften – falls sie nicht allzu stark für den Druck bearbeitet wurden – die authentischsten persönlichen Zeugnisse aus der Zeit der ‚Wende‘ sein. Zum einen halten sie historische Ereignisse fest, die die Verfasserin oder der Verfasser für wichtig erachten, zum anderen werden diese Ereignisse meist spontan und unmittelbar kommentiert. 5.2.1.1 Protokoll-Literatur und Gespräche Die so genannte Protokoll-Literatur dürfte eine der wenigen im weiteren Sinne literarischen Gattungen, wenn nicht die einzige Gattung gewesen sein, die in der DDR entscheidend geprägt wurde, in der Bundesrepublik jedoch vergleichsweise unbedeutend war. Reinhard Andress (1994), der Verfasser der wohl umfangreichsten Monografie zum Thema542, erklärt den Begriff wie folgt: Ausgangspunkt der Protokolliteratur sind Gespräche, die Autoren mit Mitbürgern führen und zunächst auf Tonband festhalten, um sie dann später zu Prosa umzuarbeiten. Indem sich die Schriftsteller als sichtbaren Bestandteil des Textes weitgehend ausschalten, enstehen scheinbare Monologe, die erlebte und erzählte, öffentliche und private und vergangene und gegenwärtige Wirklichkeiten zum Inhalt haben. Biographie, Erinnerung und Kommentar bilden die Formen. Mit dem Anspruch auf Authentizität sind Protokolltexte zwar allgemein der Dokumentarliteratur zuzuordnen, erweitern sie jedoch, indem nicht Faktenmaterial im Vordergrund steht, sondern hauptsächlich aus dem subjektiven Blickwinkel eines Individuums erzählt wird.543
Abzugrenzen ist die Protokoll-Literatur von der Autobiografie und der Biografie sowie vom literarischen Porträt und dem verschrifteten Interview, wobei vor allem im zuletzt genannten Fall die Grenzen fließend sind. Die Nähe zur aus dem anglo-amerikanischen Raum stammenden Oral History, aber auch zur Dokumentarliteratur, liegt auf der Hand. Wesentlich ist dabei, dass im Rahmen der Protokoll-Literatur auch und vor allem nicht-prominente Menschen zu Wort kommen. Gerade deshalb hat sie eine wichtige Funktion im Zuge der viel beschworenen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ – vorausgesetzt, sie stößt auf kritische Leser. Denn kaum ein 542
543
Reinhard Andress: Protokolliteratur in der DDR. Der dokumentierte Alltag. New York / Washington, D.C. / Baltimore / Boston /Bern /Frankfurt a.M. /Berlin /Brussels /Vienna / Oxford 2000 (DDR-Studien / East German Studies, Vol. 14). Problematisch an Andress’ Darstellung ist allerdings die immer wieder von ihm vorgenommene Bewertung der Gesprächsbeiträge der interviewten Personen. Ders.: „das Gefühl, mitten in einem riesigen Ozean auf einem kleinen Schiff zu sein“. Zur DDR-Protokolliteratur während und nach der Wende-Zeit. In: Colloquia Germanica 27 (1994) 1; S. 49-62, S. 49.
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anderes Genre dürfte spontan so viel Widerspruch hervorrufen und damit den Rezipienten auffordern, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese argumentativ zu fundieren. In der DDR erreichte die Protokoll-Literatur hohe Auflagen; frühestes Beispiel sind Sarah Kirschs (*1935) „Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder“ Die Pantherfrau (1973)544, wichtigstes Beispiel dürfte der beiderseits der innerdeutschen Grenze zum Klassiker avancierte Band Guten Morgen, du Schöne (1977)545 von Maxie Wander (1933-1977) sein, in dem 19 Frauen aus der DDR zu Wort kommen. Von zentraler Bedeutung waren vor allem Frauenfragen, explizite ‚Männerprotokolle‘ traten erst später hinzu und blieben Einzelfälle.546 Im Westen spielte die Protokoll-Literatur eine untergeordnete Rolle; auf Grund der Veröffentlichungsbedingungen entstand hier der bedeutendste Text aber bereits früher als in der DDR: Erika Runges (*1939) gattungskonstituierende Bottroper Protokolle (1968).547 Die meisten Protokoll-Bände zum Thema ‚Wende‘ sind zwischen 1990 und 1992 entstanden und nach kurzer Bearbeitungszeit erschienen. Bei den späteren Publikationen stellt sich das grundsätzliche Problem der Zuverlässigkeit. Unverfälschte Informationen über die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 sind zunehmend schwer zu erhalten; mit wachsendem historischen Abstand fließen verstärkt Kenntnisse aus der Nachwendezeit mit in die Äußerungen ein und es kommt zu Vermischungen, mitunter auch zur Verklärung der Vorwendezeit. In der Protokoll-Literatur aus der Wendezeit sind sämtliche Alters- und Berufsgruppen vertreten. Die frühesten Texte dürften die von Stefan und Inge Heym am 29. und 30. September 1989 im Aufnahmelager für DDRFlüchtlinge in Gießen geführten Gespräche mit kurz zuvor angekommenen Flüchtlingen sein.548 Die transkribierten und in Ausschnitten unter dem auf Brecht verweisenden Titel Flüchtlingsgespräche herausgegebenen Texte er544
545
546
547 548
Sarah Kirsch: Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder. Berlin (DDR) / Weimar 1973 (Edition Neue Texte); in der Bundesrepublik erschienen unter dem Titel Die Pantherfrau – Fünf Frauen in der DDR. Reinbek 1978. Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne. Protokolle nach Tonband. Berlin (DDR) 1977; in der Bundesrepublik unter dem Titel Guten Morgen, du Schöne. Frauen in der DDR. Protokolle. Mit einem Vorwort von Christa Wolf. Darmstadt / Neuwied 1978. Vgl. Christine Müller: Männerprotokolle. Berlin (DDR) 1985, in der Bundesrepublik erschienen unter dem Titel James Dean lernt kochen. Männer in der DDR. Frankfurt a.M. 1986; Jürgen Lemke: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männner. Berlin (DDR) / Weimar 1989; in der Bundesrepublik mit geringfügig abweichendem Titel: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männner aus der DDR. Frankfurt a.M. 1989. Bottroper Protokolle. Aufgezeichnet von Erika Runge. Vorwort von Martin Walser. Frankfurt a.M. 1968. Stefan und Inge Heym: Flüchtlingsgespräche. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 52-78.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
257
teilen vor allem Auskunft über die Motivation der Flüchtlinge, die DDR zu verlassen, und die Art und Weise, wie dieser Entschluss umgesetzt wurde. Der erste umfangreichere, Gespräche über die ‚Wende‘ dokumentierende Band ist Jean Villains (*1928) Die Revolution verstösst ihre Väter (1990)549, in dem unter anderem auch Stephan Hermlin und Klaus Höpcke zu Wort kommen. Nur wenige Bände setzen sich mit einem weit gestreuten Personenkreis ohne engere thematische Vorgabe auseinander. Zu nennen sind hier die ebenfalls noch 1989 geführten Gespräche des 1984 aus der DDR weggegangenen Schauspielers und Autors Clement Wroblewsky (*1943), erschienen 1990 unter dem Titel „Da wachste eines Morgens uff und hast ’nen Bundeskanzler“. Wie DDR-Bürger über ihre Zukunft denken550, sowie Gisela Karaus zwischen 1990 und 1993 geführte Interviews mit einem Personenspektrum, das von Schauspielerinnen und Schauspielern aus Ost und West über einen Zoodirektor bis hin zu einem Unternehmensberater reicht – allerdings stets mit Bezug auf Berlin und unter besonderer Berücksichtigung des künstlerischen Bereichs. Entstanden sind ihre unter dem Titel Ach, wissen Se … (1993)551 gesammelt veröffentlichten „Berliner Dialoge“ zunächst fast alle für das Neue Deutschland und die Berliner Zeitung. Wroblewsky dagegen wählte seine Gesprächspartner im persönlichen Umfeld aus: Er sprach mit langjährigen Freunden und Bekannten in der DDR, darunter so prominente wie die Schauspielerin Johanna Schall und der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczynski: Ein Arbeiter, ein privater Handwerker, zwei Angestellte – eine kirchlich, eine staatlich –, eine Schauspielerin, ein Journalist und drei Wissenschaftler eröffnen eine Themenvielfalt, projizieren eine gedankliche Tiefe der gesellschaftlichen Betrachtung, wie sie uns bisher nicht begegnet ist. Ein graues Land ist keine graue Masse. Im Gegenteil.552
Allen von Wroblewsky geführten Gesprächen gemein ist die Distanzierung von der Bundesrepublik und ein daraus resultierendes Rückzugsverhalten in den privaten Bereich. Helga Königsdorfs Band Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds (1990) enthält 18 zwischen dem 20. März und dem 30. August 1990 geführte Gespräche. Das Ende der DDR ist bereits besiegelt, aber noch existiert 549 550 551 552
Jean Villain: Die Revolution verstösst ihre Väter. Aussagen und Gespräche zum Untergang der DDR. Bern 1990. Clement Wroblewsky: „Da wachste eines Morgens uff und hast ’nen Bundeskanzler“. Wie DDR-Bürger über ihre Zukunft denken. Hamburg 1990. Gisela Karau: Ach, wissen Se … Berliner Dialoge. Frankfurt a.M. 1993. Clement Wroblewsky: Vorwort. In: C.W. (Hg.): „Da wachste eines Morgens uff und hast ’nen Bundeskanzler“. Wie DDR-Bürger über ihre Zukunft denken. Hamburg 1990; S. 7-9, S. 7.
258
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
der Staat. Königsdorfs Band besitzt damit einen stark bilanzierenden Charakter im Hinblick auf eine ‚Gesamtbeurteilung‘ der DDR; eingangs stellt sie fest: Was bleiben wird, sind wir, die Menschen in diesem Territorium. Ohne den Ort zu verändern, gehen wir in die Fremde. Heimat aufgeben kann eine lebenswichtige Operation sein. Doch immer, wenn das Wetter umschlägt, werden wir einander ansehen, lange noch, und diesen Schmerz empfinden, diese Vertrautheit, die keiner sonst versteht.553
Die Gesprächspartner der Autorin sind überwiegend im politischen Spektrum ‚links‘ einzuordnen, fünf von ihnen sind eher konservativ, ein Schüler eindeutig rechtsradikal.554 1995 setzte Königsdorf sieben der Gespräche aus Adieu DDR fort und erweiterte zugleich den Kreis der Gesprächspartnerinnen und -partner um 13 Personen, diesmal aus Ost und West. Alle Befragten wohnen im Raum Berlin. Die in Unterwegs nach Deutschland ausgewerteten Gespräche wurden zwischen August 1993 und März 1995 geführt. Im Vorwort stellt die Herausgeberin fest: Ein Volk zu sein ist schwieriger, als eins zu werden. Die meisten hatten sich ein Zusammenwachsen leichter vorgestellt. Nicht so bürokratisch, so geschäftlich. „Wir sind schließlich alle Deutsche!“ hatten sie gesagt. Doch war seit der Trennung viel Wasser den Rhein und die Elbe hinuntergeflossen. Man hatte verschiedenen Weltsystemen angehört. War sogar deren Vorposten gewesen. Das hatte stärker geprägt, als man sich eingestehen wollte. Den einen rückten die armen Verwandten plötzlich unerträglich nahe. Die anderen erlebten in kürzester Zeit eine soziale Umordnung und Auffächerung von unvorstellbarem Ausmaß, mit allen damit zusammenhängenden Verunsicherungen und Ängsten.555
Immer wieder wird auf die Arbeitslosigkeit und deren Auswirkungen auf die Psyche verwiesen: Viele alte Bekannte melden sich nicht mehr. Man ist etwas Unangenehmes. Arbeitslose sind nichts Aufheiterndes. Arbeitslose ängstigen, weil sie an soziales Elend erinnern. Arbeitslose sind fast wie Krebskranke. Keiner weiß ein Gegenmittel. Arbeitslosigkeit ist Unglück, und Unglück steckt an. Arbeitslose machen ein schlechtes Gewissen. Vielleicht muß man ihnen etwas zustecken. Man hat Angst 553 554
555
Helga Königsdorf: Vorwort. In: H.K.: Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds. Reinbek 1990 (rororo aktuell); S. 9, S. 9. Vgl. auch Reinhard Andress: Protokolliteratur in der DDR. Der dokumentierte Alltag. New York / Washington, D.C. / Baltimore u.a. 2000 (DDR-Studien / East German Studies, Vol. 14), S. 148. Helga Königsdorf: Vorwort. In: H.K.: Unterwegs nach Deutschland. Über die Schwierigkeit, ein Volk zu sein: Protokolle eines Aufbruchs. Reinbek 1995 (rororo aktuell); S. 7-9, S. 7.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
259
vor der Auseinandersetzung, weil man dem anderen keine Antwort geben kann. Wo immer alles machbar erscheint, weiß man mit so etwas nicht umzugehen. Man hat kein Mittel dagegen, und da fragt man auch nicht mehr: Wie geht’s. Ein blödes Grinsen, nach dem Motto: Kopf hoch, ist alles, was bleibt. Da ist totale Hilflosigkeit. Solche, die sehen, daß man Pech hat, und die einem im Rahmen ihrer Möglichkeiten beistehen, sind die totale Ausnahme. Wenn man jemandem begegnet, der sich so verhält, ist es so etwas wie Glück.556
Viele der Interviewpartnerinnen und -partner aus dem Osten können sich mit der gesamtdeutschen Regierung nicht identifizieren. Sie empfinden diese als westdeutsch dominiert und sehen sich in diesem Sinne einer starken Fremdbestimmung ausgesetzt: In den drei Jahren, die wir in der Marktwirtschaft leben, hat man die Erfahrung gemacht, daß Politiker nie das meinen, was sie sagen. […] Da gibt’s schöne Sprüche, die Stimmen bringen, die aber ansonsten Schall und Rauch bleiben. Davon bin ich eigentlich grundsätzlich enttäuscht.557
An anderer Stelle heißt es: „Was die Politiker erzählen, ist nur Makulatur. Es spielt sich alles hinter den Kulissen ab.“558 Doch nicht nur die Politik, der gesamte Westen wird als „Verkleidungsgesellschaft“ gesehen: Jeder verkleidet sich. Jeder versteckt sein Inneres hinter Wunscherscheinungsbildern nach außen. Das geht bei der Schminke los, geht beim Friseur weiter, beim Anzug. Bei den antrainierten Verhaltensweisen. Das geht bei den Autos weiter. Bei den Häusern. Sie verkleiden die alten Häuser. Sie bekommen die Tür neu bezogen. Das Dach wird neu gedeckt, die Hauswände werden neu verkleidet. Nur Verkleidung.559
Der Prozess des ‚Ankommens‘ in der Bundesrepublik gestaltet sich als langwierig und komplex: Ich habe jetzt das Gefühl, daß ich allmählich in diesem Land ankomme, in dem Sinne, daß ich die Spielregeln verstehe. Aber nicht im Sinne einer Identifikation, sondern mit einem Gefühl von Distanz, das mir auch ein Gefühl von Freiheit gibt. Ich sehne mich nach bescheidenen Verhältnissen. Ich brauche diese übervollen Regale nicht. Dieser ganze Konsumterror, das hat überhaupt nichts mit mir zu tun.560
Auch positive Aspekte der ‚Einheit‘ werden zur Sprache gebracht, beispielsweise die Reisefreiheit: „Allein das Gefühl, frei zu sein. Toll. Reisen 556 557 558 559 560
Etwas wie Glück. In: Ebd.; S. 140-146, S. 142f. Ein bißchen treppauf. In: Ebd.; S. 17-22, S. 19. Der Apfel, nach dem alle springen. In: Ebd.; S. 106-114, S. 112f. Ebd., S. 113. Lachen, das aus dem Körper kommt. In: Ebd.; S. 64-70, S. 68.
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zu können, wohin man will.“561 Die Schwierigkeiten und Probleme des Einigungsprozesses stehen allerdings eindeutig im Vordergrund. Ein Gesprächspartner aus dem Westen erkennt im Sinne eines Resümees „zwei Kardinalfehler“, die bei der Vereinigung gemacht wurden: Der erste war, den Leuten in den alten Bundesländern die Sache so darzustellen, als ob sie für die Vereinigung keine Opfer zu bringen brauchten, weil dadurch die Opferbereitschaft, die zunächst durchaus vorhanden war, nicht genutzt wurde. Jetzt müssen die Opfer gebracht werden, und das führt zu Mißmut. Jetzt hat man sich daran gewöhnt, daß Deutschland vereint ist, und man fragt sich: Warum müssen wir eigentlich da noch Geld hinschicken. Der zweite Fehler war, daß man den Menschen in den neuen Bundesländern gesagt hat, in fünf Jahren habt ihr Westniveau. Man hat das getan, weil man befürchet hat, daß eine Völkerwanderung einsetzt. Daran glaube ich persönlich gar nicht. Sieht man davon ab, bin ich der Meinung, die Wiedervereinigung ist gut gelaufen. Es war sogar ein riesiges Glück.“562
Ein gewisser Schwerpunkt der Protokoll-Literatur aus der Nachwendezeit liegt auf Frauenfragen. 1991 gab Anna Mudry den im Titel auf Maxie Wander anspielenden Band Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück563 heraus. Die sich äußernden Frauen betonen fast alle die Vorteile des Frauseins in der DDR, insbesondere die damit verbundene ökonomische Unabhängigkeit. Immer wieder wird die Hoffnung auf einen ‚dritten Weg‘ spürbar, die sich nicht erfüllen sollte. In den von Erica Fischer und Petra Lux geführten Gesprächen Ohne uns ist kein Staat zu machen (1990) ist dagegen eine kritische Distanz zu den vor allem Frauen betreffenden ‚sozialistischen Errungenschaften‘ zu spüren. Das Buch ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der Journalistin und Übersetzerin Erica Fischer (*1943; West), Mitbegründerin der autonomen Frauenbewegung Österreichs, und der Journalistin Petra Lux (*1956; Ost), im Herbst 1989 Sprecherin des Neuen Forums in Leipzig. Beide führten zwischen Jahresbeginn 1990 und dem 18. März 1990 siebzehn Gespräche mit verschiedenen Frauen aus der DDR quer durch Alters- und Berufsgruppen. Den Texten vorangestellt sind kurze Beschreibungen der Lebenssituation der Gesprächspartnerinnen bzw. der Umstände, unter denen das Gespräch geführt wurde. Im Mittelpunkt stehen dabei die ‚Wende‘-Erlebnisse und deren Verarbeitung aus der spezifisch weiblichen Perspektive in der damals noch existenten DDR. Verbunden
561 562 563
Ein bißchen treppauf. In: Ebd.; S. 17-22, S. 17; vgl. auch: Eher ein bißchen zu peacy. In: Ebd.; S. 49-54, S. 54 sowie Hochzeitsreise nach Amerika. In: Ebd., S. 182-186, 184. Alles im Griff. In: Ebd.; S. 135-139, S. 137. Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt a.M. 1991.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
261
sind die in den Gesprächen gewonnenen Eindrücke mit den persönlichen Eindrücken der beiden Herausgeberinnen. Viele Frauen reflektierten offenbar ihr Frausein in der DDR zunächst einmal gar nicht; so bekennt die 27-jährige Claudia B.: Ich habe vorher nie einen Blick auf die Frau geworfen. Ich hielt mich für gleichberechtigt, habe auch nicht gespürt, das [sic] es nicht so ist. Fragen wie Quotenregelung wurden ja bei uns nie aufgeworfen. Frauen waren für mich in den Lehrgängen immer gleichberechtigt, wir waren immer halbe halbe. Unser Kollektiv besteht aus zwei Drittel Frauen. Oder Gewalt gegen Frauen, das war für mich kein Thema. Ich bin richtig erschrocken, als ihr darüber gesprochen habt.564
Andere Frauen hinterfragen in diesem Zusammenhang kritisch den Mythos von der angeblich realisierten Gleichberechtigung der Frauen in der DDR; dies tut etwa Silvia E.: Für mich bedeutete die Gleichberechtigung, daß ich das Geld mit rangeschafft habe und nicht wenig, dafür aber auch dementsprechend aussehe. In der BRD haben die Frauen ein ganz anderes Auftreten, viel selbstbewußter. Ich denke immer, man sieht es mir auf zehn Meter an, woher ich komme. […] Die Frauen bei uns sind mehr oder weniger ein Neutrum. Junge Mädchen nicht, aber Frauen ab dreißig. Nur als Arbeitsbiene ist man gefragt. Das eigentliche Glück der Frau sollte darin bestehen, ihren Mann zu stehen. Man konnte nichts Besseres von einer Frau sagen, als daß sie ihren Mann steht.565
Die Herausgeberinnen werfen allerdings nicht ausschließlich Frauen betreffende Fragen auf, sondern beispielsweise auch solche nach der Täter / OpferProblematik unter der SED-Herrschaft. In diesem Zusammenhang bekennt die 75-jährige Journalistin Ilse M.: Ich finde, jeder muß die Schuld mit auf sich nehmen und nicht irgendwelchen zehn Leuten an der Spitze die Schuld geben und sagen: „Ich bin Opfer, ich bin unschuldig.“ Stimmt überhaupt nicht. Wir haben das alles mitgemacht und trotz der ganzen Darstellungen jetzt, daß wir ewig geknechtet waren und es uns furchtbar schlecht ging … Also mir und vielen anderen ging es nicht schlecht. Und es war auch nicht so, daß wir nicht informiert waren.566 564
565 566
Ich bin ein richtiges Wendekind [Claudia B., 27, Kantinenkraft, Leipzig]. In: Erica Fischer / Petra Lux: Ohne uns ist kein Staat zu machen. DDR-Frauen nach der Wende. Köln 1990; S. 17-30, S. 28. Mein Leben ist versaut [Silvia E., 45, Sachbearbeiterin, Berlin]. In: Ebd.; S. 31-41, S. 39f. Ich bin der beste Verdränger, den ich kenne [Ilse M., 75, Journalistin, Berlin]. In: Ebd.; S. 197-230, S. 201.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ebenfalls mit Frauenthemen setzt sich der von der Sozialwissenschaftlerin Angelika Behnk (*1950) und der Fotografin und Journalistin Ruth Westerwelle (*1951) herausgegebene Band Die Frauen von ORWO (1995) auseinander. Hier kommen 13 Frauen aus der Filmfabrik Wolfen zu Wort und berichten über ihr Leben. Für die Herausgeberinnen gibt es keinen Zweifel: „Längst war klar, daß die Frauen die Verliererinnen der Wiedervereinigung waren.“567 Wie in kaum einem anderen Band werden hier die persönlichen Folgen der ‚Abwicklung‘ eines Kombinats im weiteren und der Filmfabrik im engeren Sinne und die daraus resultierenden Brüche in den Biografien verdeutlicht. Dabei zeigt sich auch, dass die Wolfener Filmfabrik ein Mikrokosmos war, der exemplarisch für das Leben in vergleichbaren Großbetrieben der DDR gesehen werden kann: Ganze Familien arbeiteten für ein Unternehmen, zum Teil über Generationengrenzen hinweg. Das Areal der Fabrik war wie eine kleine Stadt angelegt – mit Kulturhaus, Buchhandlung, Lebensmittelgeschäft, Arztpraxen usw. Ähnlich wie Behnk und Westerwelle geht Annett Gröschner (*1964) in ihrem Text „Wir haben unsere Kittel noch im Schrank hängen lassen“ Die ehemalige Stieleisherstellerin Margot Siedow erzählt (1996)568 vor. Von der Konzeption her eher dem von Fischer und Lux herausgegebenen Werk vergleichbar sind die Bände Schmerzgrenze. 11 Porträts im Gespräch (1991)569, zusammengestellt von Holde-Barbara Ulrich, sowie Der springende Spiegel (1991)570, herausgegeben von Karen Margolis (*1952). Ob die Gespräche – wie bei Margolis – in Ost-Berlin, Leipzig oder Erfurt geführt wurden oder in anderen Städten, in allen Bänden zeigt sich immer wieder, dass der Mythos von der per se und in jeder Hinsicht emanzipierten DDR-Frau nicht aufrechtzuerhalten ist, da die Ost-Frauen durch Beruf und Familie doppelt belastet waren.571 567
568
569
570 571
Angelika Behnk / Ruth Westerwelle: Vorwort / Zwei Westfrauen machen sich auf den Weg, Ostfrauen zu einem Stück Industriegeschichte zu befragen. In: A.B. / R.W.: Die Frauen von ORWO. 13 Lebensbilder. Leipzig 1995; S. 6-13, S. 6. Annett Gröschner: „Wir haben unsere Kittel noch im Schrank hängen lassen“ Die ehemalige Stieleisherstellerin Margot Siedow erzählt. In: A.G.: ÿbbotaprag. heute. geschenke. schupo. schimpfen. hetze. sprüche. demonstrativ. sex. DDRbürg. gthierkatt. ausgewählte essays, fließ- & endnotentexte 1989-98. Berlin / Zepernick 1999, S. 119-130. Der 1996 geschriebene Text dürfte der Magdeburger Jorunalistin und Schrifstellerin als Hintergund für ihren vier Jahre später erschienenen ersten Roman Moskauer Eis gedient haben; vgl. A.G.: Moskauer Eis. Roman. Leipzig 2000. Holde-Barbara Ulrich: Schmerzgrenze. 11 Porträts im Gespräch. Bärbel Bohley, Sabina Hager, Heidrun Hegewald … Berlin 1991 (Zeitthemen / dietz berlin). Die Texte sind allerdings stärker beabeitet als bei Fischer / Lux. Karen Margolis: Der springende Spiegel. Begegnungen mit Frauen zwischen Oder und Elbe. Frankfurt a.M. 1991. Zu diesem Schluss gelangen auch Rita Süßmuth (*1937) und Helga Schubert (*1940) in dem von Michael Haller geleiteten Gespräch zum Thema Bezahlen die Frauen die Wiedervereinigung? (vgl. Rita Süßmuth / Helga Schubert: Bezahlen die Frauen die Wieder-
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
263
Eine weitere Gruppe von Protokollen setzt sich mit den Trägern der Demonstrationen des Herbstes 1989 auseinander. Zu nennen ist hier vor allem der von Bernd Lindner (*1952) und Ralph Grüneberger (*1951) herausgegebene Band Demonteure (1992).572 Häufiger anzutreffen sind dagegen Protokolle von Gesprächen mit ehemaligen Funktionsträgern der DDR. Gisela Karaus (*1932) Grenzerprotokolle573 (1992) enthalten „Gespräche mit ehemaligen DDR-Offizieren“, die an der Staatsgrenze eingesetzt waren. Ein anderer Schwerpunkt liegt auf Gesprächen mit früheren Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit: Unter dem Titel Staat im Staate (1990)574 veröffentlichte Christina Wilkening „Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter“. Basis des Bandes sind zwölf Tonbandprotokolle, die zwischen dem 20. Januar und dem 5. März 1990 entstanden – also unmittelbar nach der ‚Wende‘ und teilweise nach der beschlossenen Abschaffung des MfS durch den Runden Tisch im Dezember 1989. Wilkenings Gesprächspartner waren alle in höheren Diensträngen: vom Oberfeldwebel bis zum Oberst. Vergleichbar sind die „Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen“, die im selben Jahr unter dem Titel Stasi intim (1990)575 von Ariane Riecker, Annett Schwarz und Dirk Schneider herausgegeben wurden; zwei Jahre später erschienen Gisela Karaus Stasiprotokolle.576 Der Anspruch der Herausgeberinnen und Herausgeber ist dabei vor allem dokumentarischer Natur; man möchte einen Beitrag zur ‚Vergangenheitsbewältigung‘ leisten. Christina Wilkening (1990) formuliert über den Anspruch des von ihr herausgegebenen Bandes: Ich wollte wissen, wer diese Stasi-Leute waren, die im Volke so gefürchtet und so verhaßt waren. Was sie dachten und wie sie sich heute fühlen. Allen im Land hat man die Möglichkeit gegeben zu reden, sich zu rechtfertigen – ihnen nicht. Ich möchte es mit diesem Buch nachholen.577
Ariane Riecker, Annett Schwarz und Dirk Schneider (1990) betonen:
572 573 574 575 576 577
vereinigung? Mit einer aktualisierten Einführung von Monika Jaeckel. Hrsg von Michael Haller. München / Zürich 1992 [zuerst Zürich 1990]). Bernd Lindner / Ralph Grüneberger (Hgg.): Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst. Bielefeld 1992. Gisela Karau: Grenzerprotokolle. Gespräche mit ehemaligen DDR-Offizieren. Frankfurt a.M. 1992. Christina Wilkening: Staat im Staate. Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit). Ariane Riecker / Annett Schwarz / Dirk Schneider: Stasi intim. Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen. Leipzig 1990. Gisela Karau: Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des „Ministeriums für Staatssicherheit“ der DDR. Frankfurt a.M. 1992. Christina Wilkening: Vorwort. In: C.W.: Staat im Staate. Auskünfte ehemaliger StasiMitarbeiter. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 5f., S. 6.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Dennoch: Es wurde Wahrheit gesprochen. Wahrheit aus der Perspektive ehemaliger MfS-Mitarbeiter. MfS-Betroffene haben andere Wahrheiten. Objektivität, so schwer dieses Wort hier auch fällt, Objektivität setzt sich wohl aus diesen beiden Welten zusammen. Wir leben in der Hoffnung, daß wir den Anspruch auf gepachtete Wahrheiten hinter uns lassen. Um g e m e i n s a m herauszufinden, wie es war.578
Und Gisela Karau (1992) betont in der Einleitung zu ihren Protokollen: Ein Heer von Ausgestoßenen existiert in unserer Mitte. Ihre Biographien sind umso aufregender, je genauer man hinsieht und je weniger man den Warenwert der Stories auf dem Medienmarkt durch abstruse Überspitzungen zu erhöhen trachtet. Altem Unrecht wird dadurch täglich neues Unrecht hinzugefügt. Meine Aufgabe war nicht, zu rechten und zu richten. Ich habe Fragen gestellt und Antworten bekommen, und ich hoffe auf Leser, die an die Stelle von Pauschalurteilen Kenntnisse zu setzen bereit sind. […] Bewältigung findet in Schüben statt. Auf enttäuschte Hoffnungen folgt Trotz oder Depression, auf Depression Selbstbesinnung. Darum sagt Ex-Oberst Kurt Zeiseweis, einer der ersten, die sich der Auseinandersetzung auch in Begegnungen mit der ehemaligen DDR-Opposition stellten: „Die Staatssicherheit muß erlebbar werden. Wir müssen uns zeigen. Wer Vorwürfe hat, muß wissen, an wen er sich halten kann. Ich stehe für meine Mitarbeiter ein, wer etwas von ihnen will, soll zu mir kommen.“579
Ein letzter Komplex der Protokoll-Literatur beschäftigt sich mit der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Zeit der ‚Wende‘, der Vereinigung und danach sowie mit den unterschiedlichen Lebensentwürfen der jungen Gesprächspartnerinnen und -partner. In diesem Zusammenhang zu nennen ist einer der wenigen Protokollbände, die auf westdeutsche Initiative zurückgehen: Helga Moerickes Wir sind verschieden (1991). Moericke, zur Zeit der Entstehung des Buches Leiterin eines Deutsch-Leistungskurses des West-Berliner Friedrich-Engels-Gymnasiums, nahm mit ihren Schülerinnen und Schülern Kontakt zu einer Ost-Berliner EOS gleichen Namens auf und führte im Mai / Juni 1990 intensive Gespräche mit je zehn Schülern und einer Lehrerin bzw. einem Lehrer. Gemeinsam war den Ost- und den West-Berliner Schülern, dass sie 1990 ihr Abitur ablegten. Über ihre Vorgehensweise berichtet Moericke: Im folgenden halben Jahr fand ein reger Austausch statt; viele Diskussionen wurden geführt, Klassen besuchten sich im Unterricht, gemeinsam wurden sportliche 578
579
Ariane Riecker / Annett Schwarz / Dirk Schneider: Vorwort. In: A.R. / A.S. / D.S.: Stasi intim. Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen. Leipzig 1990; S. 7, S. 7; Hervorhebung im Original. Gisela Karau: Einleitung. In: G.K.: Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des „Ministeriums für Staatssicherheit“ der DDR. Frankfurt a.M. 1992; S. 7f., S. 8.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
265
Wettkämpfe organisiert, Feten gefeiert. Fasziniert konnte ich miterleben, wie die unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler aus Ost und West aufeinanderprallten. In mir entstand das Bedürfnis, genauer zu ergründen, warum sie so verschieden waren. Mit den einzelnen habe ich intensive Gespräche geführt und sie auf Kassette aufgenommen. Dabei ging es mir nicht um allgemeinpolitische Statements, sondern darum, herauszufinden, wie von jedem und jeder die Wende erlebt wurde, welchen Einfluß sie auf die persönliche Lebensgestaltung hatte. Es gab keine vorbereiteten Fragen; entsprechend der Persönlichkeit des Schülers oder der Schülerin ergaben sich die Schwerpunkte des Gesprächs.580
Unterwegs nach Deutschland. Kinder im Niemandsland581, herausgegeben 1992 von Annegret Hofmann, umfasst zwischen August 1990 und Dezember 1991 geführte, meist kürzere Gespräche mit 37 Neun- bis Sechzehnjährigen aus Ost und West. Damit wird das erste Nachwendejahr, teilweise auch das erste Jahr der Einheit bilanziert. Hoffmann hatte zunächst nur Gesprächspartner im Osten gesucht, dehnte aber schon bald den Kreis auf die ‚alten‘ Bundesländer aus: 20 Gesprächspartner stammen aus dem Osten, 13 aus dem Westen, vier haben Erfahrungen mit bzw. in beiden Teilen Deutschlands. Das Fazit der Ost-Berliner Journalistin fällt erschreckend aus: Ich mußte bei meinen Gesprächen auch feststellen, was ich schmerzhaft geahnt hatte: Ein Jahr deutsche Einheit hat die Deutschen, auch die jungen, einander nicht nähergebracht. Dieselben Klischees, dieselben Vorurteile im Herbst 1990 wie im Herbst 1991. Manches ist noch mehr verhärtet, so daß man Angst haben muß. Angst, daß die Vorurteile, die Fremdheit auch diese Generation noch überdauern werden.582
Traten bei Moericke vor allem die Unterschiede zwischen Ost und West und die mit der Einheit verbundenen Herausforderungen zu Tage, ist bei Hofmann eine deutlich pessimistischere Sicht der Dinge spürbar. Im Zentrum steht die Orientierungslosigkeit vieler Kinder und Jugendlicher – in Ost wie in West. Ebenfalls thematisch ausgerichtet sind Gisela Karaus und Jens Vetters Gauck-Opfer (1995), Eberhard Panitz’ und Klaus Huhns Protokollband Mein Chef ist ein Wessi (1992)583 sowie Ich, Prinzessin Viola (1995)584 von
580 581 582 583 584
Helga Moericke: Vorbemerkung. In: H.M.: Wir sind verschieden. Lebensentwürfe von Schülern aus Ost und West. Frankfurt a.M. 1991; S. 5f., S. 5f. Annegret Hofmann: Unterwegs nach Deutschland. Kinder im Niemandsland. Protokolle nach Gesprächen. Berlin / Weimar 1992. Dies.: Kinder im Niemandsland. Ein Nachwort. In: Ebd., S. 154. Eberhard Panitz / Klaus Huhn: Mein Chef ist ein Wessi. Gedächtnisprotokolle 1992. Berlin 1992. Claudia von Zglinicki: Ich, Prinzessin Viola. Ein altes Haus und seine Besetzer. Berlin 1995.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Claudia von Zglinicki. Der von Karau und Vetter herausgegebene Band enthält 14 Gesprächsprotokolle mit Menschen, die nach der ‚Enthüllung‘ einer angeblichen Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst in die Isolation gerieten. Die sich in diesem Zusammenhang deutlich manifestierende Kritik an der Arbeit der Gauck-Behörde fällt hart aus: „Sie alle [die Interviewten; F.Th.G.] sind Gauck-Opfer geworden, weil die Behörde des Ex-Pfarrers zum Partyservice verkam – sie liefert auf Bestellung und zwar a [sic] la Karte [sic] … “585 Bei Panitz und Huhn stehen 13 Menschen im Vordergrund, deren Vorgesetzte Westdeutsche sind. In der zwei Jahre später veröffentlichten Protokollsammlung Ossiland ist abgebrannt586 derselben Herausgeber berichten verschiedene Menschen – darunter ein 14-jähriger Gymnasiast, ein Elektromeister und eine Prostituierte – über ihre Erfahrungen nach der ‚Wende‘. Während Panitz die Menschen frei erzählen ließ, arbeitete Huhn mit Fragebögen, deren Ergebnisse er in seinen Beiträgen zusammenfasst. Die Journalistin Claudia von Zglinicki sprach mit acht jungen Hausbesetzern auf dem Prenzlauer Berg über ihren Alltag und ihr Leben jenseits der gesellschaftlichen ‚Normalität‘. 2002 veröffentlichete Rita Kuczynski unter dem Titel Die Rache der Ostdeutschen587 einen Band, in dem PDS-Wähler über ihre Zeit vor der ‚Wende‘, den Mauerfall, ihre Erfahrungen mit der deutschen ‚Einheit‘ und ihre Motivation, sich bei der Berliner Wahl 2001 für die PDS zu entscheiden, Auskunft geben. Am Rande der Protokoll-Literatur angesiedelt sind die Erinnerungen der Politikerinnen und Politiker sowie anderer – mehr oder weniger prominenter – Zeitzeugen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, die in Christiane Landgrebes Buch Der Tag, an dem die Mauer fiel (1999)588 zu Wort kommen: Walter Momper, Lutz Rathenow, Jutta Limbach, Lothar de Maizière, Gisela Oechelhaeuser, Sabine Christiansen und andere erinnern sich aus Anlass des zehnten Jahrestages des Falls der Mauer an den 9. November 1989. Landgrebes Buch enthält aber keine Wortlautinterviews oder Gesprächsprotokolle, sondern freiere Texte, die auf Grundlage von Gesprächen mit den entsprechenden Personen verfasst wurden. Zur Protokoll-Literatur im allerweitesten Sinne sind auch Berichte und Geschichten zu zählen, die in den meisten Fällen – zunächst – überhaupt nicht in schriftlicher Form fixiert und dafür an sich auch nicht vorgesehen waren. 1988 fingen die Volkskundler Andreas Hartmann und Sabine 585 586 587 588
Gisela Karau / Jens Vetter: Gauck-Opfer. Nachwort: Rechtsanwalt Johannes Eisenberg. [Berlin] 1995, Klappentext. Eberhard Panitz / Klaus Huhn: Ossiland ist abgebrannt. Nachwort: Heinrich Heine. Berlin 1994. Rita Kuczynski: Die Rache der Ostdeutschen. Berlin 2002. Christiane Landgrebe: Der Tag, an dem die Mauer fiel. Prominente Zeitzeugen erinnern sich. Berlin 1999.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
267
Künsting an, Berichte über das Leben im westdeutschen Zonenrandgebiet zu sammeln: Wir fragten uns, ob durch die Grenze ein spezifischer Erfahrungsraum hervorgebracht worden sei und ob dieser Erfahrungsraum in Gestalt überlieferter Geschichten sichtbar würde. Diese Frage bewog uns zu Beginn des Jahres 1988 dazu, einen Schreibaufruf zu verfassen, den wir mit der Bitte um Abdruck an die Redaktionen aller Regionalzeitungen versandten, die im grenznahen Raum erscheinen – auf westlicher Seite, versteht sich.589
Später kam es zu weiteren Aufrufen, auch im Rundfunk. Die Sammlung wurde schließlich von der ‚Wende‘ eingeholt, auch Schilderungen der Grenzöffnungen und subjektive Erfahrungsberichte fanden deshalb Aufnahme. Dabei wird deutlich, dass [d]ie meisten Autoren […] ihre eigene Person in den Mittelpunkt der Beschreibung [stellen]. Sie führen in allen Einzelheiten auf, wie sie die weltbewegenden Stunden verbrachten, wie ihre ersten Begegnungen mit den Menschen aus dem anderen Deutschland verliefen und wie sie sich von den Ereignissen so sehr verzaubern ließen, daß „nicht einmal der schönste RTL-Plus-Heimatfilm“ so ergreifend hätte sein können.590
In den nach 1995 erschienenen Protokoll-Bänden werden stärker vergleichende Aspekte mit einbezogen. So dokumentiert der Band Dreizehn deutsche Geschichten (1998)591 „erzähltes Leben“ von Deutschen, zweier Russen und einer gebürtigen Japanerin in Ost- und Westdeutschland. Den Rahmen für die Entstehung des Buches bildete die Dresdner Erzählwerkstatt der Körber-Stiftung zwischen Sommer 1996 und Winter 1997, deren Mitglieder sich einmal im Monat trafen, um einander ihre Biografien zu erzählen: Der Dokumentation geht es nicht um eine Anhäufung scheinbar objektiver historischer Fakten. In der Erzählwerkstatt zusammengetragen wurde mit den individuellen Lebensrekonstruktionen ein Quellenmaterial, das Reflexionen über persönliche sowie gesellschaftliche Brüche und Kontinuitäten transparent macht. Die Texte belegen beispielhaft Wege von der erlebten zur erzählten Geschichte
589 590 591
Grenzgeschichten. Berichte aus dem deutschen Niemandsland. Hrsg. von Andreas Hartmann und Sabine Künsting. Frankfurt a.M. 1990, S. 10. Ebd., S. 361f. Dreizehn deutsche Geschichten. Erzähltes Leben aus Ost und West. Hrsg. von Winfried Ripp und Wendelin Szalai. Hamburg 1998.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
und regen damit Historiker und interessierte Zeitgenossen zum Nachfragen und Nachdenken an.592
Ähnlich aufgebaut, aber nicht auf der Basis wechselseitiger Gespräche in institutionalisierten Zusammenhängen entstanden, ist der von Andreas Maus und Burkhard Peter herausgegebene Band Drüben (1999).593 In sechs Doppelporträts kommen zwölf Menschen aus Ost und West zu Wort, die – weit gehend innerhalb bestimmter Themenkreise (Sport, Kirche, Leben in Neubauvierteln, Landwirtschaft, Theater und Arbeitskämpfe) – aus ihrem Leben erzählen und berichten. Wie in Dreizehn deutsche Geschichten tritt die eigentliche ‚Wende‘-Thematik zu Gunsten unter historischem Blickwinkel weiter gefasster Zusammenhänge zurück. 5.2.1.2
Porträts
Eine Randstellung nehmen die zahlreichen Porträtbände ein – allen voran die mehrfach aufgelegten, auf einer Fernseh-Reihe basierenden, Porträts Zur Person (1991-1993 / 1998 / 1999 / 2001)594 von Günter Gaus sowie der Band Sie waren dabei. Ost-deutsche Profile von Bärbel Bohley zu Lothar de Maizière (1991) des Fernsehjournalisten Ernst Elitz. Elitz porträtiert „Menschen hinter den Schlagzeilen“, darunter Markus Wolf, Bärbel Bohley, Sabine Bergmann-Pohl und Gregor Gysi – in erster Linie also Politiker. Im Vorwort zu seinem Buch bekennt er: Ich war neugierig auf sie alle – die Charakterköpfe und die Charaktermasken – und habe die Helden der ersten Stunde besucht und mich mit den Vorsichtigen und Abwartenden unterhalten. Ich wollte wissen, warum die einen mutig waren, während die anderen sich noch zurückhielten. Mich interessierten das Leben und die Gewissensentscheidung von Menschen, die mir in Zeitungen und abendlichen Fernsehnachrichten begegnen. Es sind Lebensläufe voller Widersprüche. Und bei jedem habe ich mich gefragt: Wie hättest du in ihrer Situation gehandelt? Diese 592
593 594
Von der erlebten zur erzählten Geschichte. Vorwort von Winfried Ripp zu Dreizehn deutsche Geschichten. Erzähltes Leben aus Ost und West. Hrsg. von Winfried Ripp und Wendelin Szalai. Hamburg 1998; S. 7-10, S. 9f. Andreas Maus: Drüben. Alltagsgeschichten aus Ost und West. Mit Fotografien von Burkhard Peter. München 1999. Günter Gaus: Zur Person. Band 1. Gespräche mit Schriftstellern. Jurek Becker, Daniela Dahn, Walter Jens, Hermann Kant, Helga Königsdorf, Christa Wolf. Berlin 1998; Ders.: Zur Person. Band 2. Gespräche mit Ministerpräsidenten. Reinhard Höppner, Oskar Lafontaine, Johannes Rau, Berndt Seite, Heide Simonis, Bernhard Vogel, Wolfgang Clement. Berlin 1998; Ders.: Zur Person. [Band 3]. Gespräche mit bildenden und darstellenden Künstlern. Kurt Böwe, Albert Hetterle, Dieter Hildebrandt, Thomas Langhoff, Kurt Maetzig, Wolfgang Mattheuer, Claus Peymann, Willi Sitte, Katharina Thalbach. Berlin 1999; Ders.: Zur Person. [Band 4]. Gespräche mit Frauen. Katarina Witt, Inge Vieth, Barbara Thalheim, Hildegard Hamm-Brücher, Gisela Oechelhaeuser, Antje Vollmer, Ellen Brombacher. Berlin 1999; Ders.: Zur Person. [Band 5]. Gisela May, Harald Schmidt, Inge Keller, Heinz Berggruen, Johannes Mario Simmel, Egon Bahr, Klaus Schlesinger. Berlin 2001.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
269
Frage muß sich wohl jeder stellen, bevor er verteidigt oder verurteilt. Wichtig ist es erst einmal, die Menschen hinter den Schlagzeilen kennenzulernen.595
Im Hinblick auf den Kreis der porträtierten Personen weitaus breiter angelegt sind die Porträts von Günter Gaus. Während Elitz seine Gespräche in einen Text einbettet, behält Gaus die ursprüngliche Dialogform bei; seine Porträtbände folgen somit einem höheren Authentizitätsanspruch. Eine Sonderstellung zwischen Protokoll-Literatur, Porträt und Reportage nehmen die Bücher Landolf Scherzers (*1941) ein, der mit Der Zweite (1997)596 an sein 1988 erschienenes Buch Der Erste597 anknüpfte, das auch in der Bundesrepublik viel beachtet wurde und eine Gesamtauflage von über 100 000 Exemplaren erreichte. In Der Erste hatte Scherzer vier Wochen lang Hans-Dieter Fritschler begleitet, den Ersten SED-Kreissekretär von Bad Salzungen; dabei scheute er auch nicht die explizite Darstellung von Problemen. Er schrieb damit die wohl erste differenzierte ‚Innenansicht‘ eines Funktionsträgers in der DDR. Nach der ‚Wende‘ brachte der Aufbau-Verlag eine Neuausgabe mit einem Anhang heraus, in dem Scherzer seine Erfahrungen mit dem „Ersten“ Ende 1989 dokumentiert.598 In Der Zweite setzte Scherzer seine ‚Langzeitreportage‘ fort und begleitete nun Stefan Baldus, den neuen Landrat von Bad Salzungen, einen ehemaligen hohen Offizier der Bundeswehr. In diesem Fortsetzungsband stellt Scherzer nicht nur die Probleme in den östlichen Bundesländern – Schließung von Betrieben, Arbeitslosigkeit, Investitionsprojekte, Grundstückspekulationen, Schwierigkeiten bei der Rückgabe von Alteigentum, Landkreisreform – exemplarisch dar, sondern geht auch auf die Probleme eines aus Westdeutschland stammenden Funktionsträgers im Osten und die daraus resultierende Auseinandersetzung mit wechselseitigen Vorurteilen ein. Baldus’ Fazit, das zugleich als Fazit des gesamten Buches gelten kann, lautet: „Die Wiedervereinigung über die Identifikation mit dem BRD-Staat ist nicht gelungen. Es gibt noch kein neues gemeinsames Staatsbewußtsein.“599 2000 erschien mit Der Letzte600 ein dritter Band ähnlicher Machart. Dieser beruht nicht auf der Beobachtung einer einzelnen Person: Im Mittelpunkt stehen mehrere 595
596 597 598
599 600
Ernst Elitz: Vorwort: Menschen hinter den Schlagzeilen. In: E.E.: Sie waren dabei. Ostdeutsche Profile von Bärbel Bohley zu Lothar de Maizière. Stuttgart 1991; S. 7-10, S. 10. Landolf Scherzer: Der Zweite. Berlin 1997. Ders.: Der Erste. Protokoll einer Begegnung. Rudolstadt 1988 bzw. Der Erste. Eine Reportage aus der DDR. Köln 1989. Ders.: Der Erste. Mit einem weiterführenden Bericht „Der letzte Erste“. Berlin 1997. „Der letzte Erste“ findet sich bereits in: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 345-365. Ders.: Der Zweite. Berlin 1997, S. 85. Ders.: Der Letzte. Berlin 2000.
270
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Abgeordnete des Thüringer Landtages, die Scherzer bei ihrer täglichen Arbeit und im Wahlkampf begleitete. Zu diesem Zweck hatte er sich beim Landtag im Januar 1999 als Berichterstatter akkreditieren lassen. 5.2.1.3
Reportagen
Reportagen erschienen meist in Form von Zeitungskolumnen. Hervorzuheben sind insbesondere die Texte der Ostdeutschen Christoph Dieckmann (*1956)601, Alexander Osang (*1962)602, Jutta Voigt (*1941)603 und Landolf Scherzer (*1941)604 sowie der aus Westdeutschland stammenden Gabriele Goettle (*1946).605 In Christoph Dieckmanns Texten, die mittlerweile nahezu vollständig auch in Form von Sammelbänden vorliegen, stehen meist alltägliche Probleme in den östlichen Bundesländern im Vordergrund; ihm geht es um die Auswirkungen der ‚Einheit‘ auf den Einzelnen. Der zweite große ‚Reporter‘ der ‚Wende‘ und Nachwendezeit neben Dieckmann ist Alexander Osang. Profiliert hat sich der studierte Journalist vor allem mit dem Band Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen (1992).606 Seine Themen sind vielfältig: In Karls Enkel berichtet er über die Rückbenennung des brandenburgischen Dorfes Marxwalde in Neuhardenberg607; er interessiert sich auch für die ‚neuen‘ Montagsdemonstrationen in Leipzig608 601
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Vgl. v.a.: Christoph Dieckmann: Oh! Great! Wonderful! Anfänger in Amerika. Berlin 1992; Ders.: Time is on my side. Ein deutsches Heimatbuch. Berlin 1995; Ders.: Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität. Berlin 1998; Ders.: Hinter den sieben Bergen. Geschichten aus der deutschen Murkelei. München 2000; Ders.: Die Liebe in den Zeiten des Landfilms. Eigens erlebte Geschichten. Berlin 2002. Alexander Osang: Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen. Berlin 1991 (VWV Report); Ders.: Hannelore auf Kaffeefahrt. Reportagen und Porträts. Frankfurt a.M. 1998; Ders.: Ankunft in der neuen Mitte. Reportagen und Porträts. Berlin 1999; Ders.: Schöne neue Welt. 50 Kolumnen aus Berlin und New York. Berlin 2001; Ders.: 89. Heldengeschichten. Berlin 2002. Jutta Voigt: Der Tiger weint. Echte Stories. Berlin 1997; Dies. / Rolf Zöllner: Der Spleen von Berlin. Berlin 1999. Landolf Scherzer: Mitleid ist umsonst, Neid mußt du dir erarbeiten. Reportagen. Mit einem Vorwort von Günter Wallraff. Berlin 1997 (Rote Reihe). Gabriele Goettle: Deutsche Sitten. Erkundungen in Ost und West. Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger. Frankfurt a.M. 1991 (Die andere Bibliothek, Band 78); Dies.: Deutsche Bräuche. Ermittlungen in Ost und West. Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger. Frankfurt a.M. 1994 (Die andere Bibliothek, Band 111); Dies.: Deutsche Spuren. Erkenntnisse aus Ost und West. Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger. Frankfurt a.M. 1997 (Die andere Bibliothek, Band 152). Alexander Osang: Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen. Berlin 1992 (VWV Report). Ders.: Karls Enkel. Das Dorf Marxwalde versucht, mit seinem Namen auch seine Probleme loszuwerden. In: Ebd., S. 14-25. Ders.: Die Helden sind müde. Ein Jahr danach gibt es wieder Montagsdemos in Leipzig – doch die Wut der Straßengänger hat kein Ziel mehr. In: Ebd., S. 62-65.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
271
und für die Vereinigung von bundesdeutscher Polizei und Volkspolizei.609 Häufig setzt er sich mit dem Wandel des Lebens im Osten, dem Umgang mit symbolträchtigen Monumenten der DDR oder mit deren Beseitigung auseinander.610 Im Zentrum seiner Texte stehen jedoch nicht ausschließlich die neuen Bundesländer und der Ostteil Berlins, sondern auch der Westen: beispielsweise ist die Feinschmeckeretage des West-Berliner KaDeWe (Kaufhaus des Westens) Gegenstand von Aufzug ins Schlaraffenland.611 Demgegenüber stehen Reportagensammlungen, die aus verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften zusammengestellt wurden, etwa die beiden von den Journalisten Dieter Golombek (Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn) und Dietrich Ratzke (FAZ, Frankfurt a.M.) herausgegebenen Bände mit „Reportagen über eine deutsche Revolution“.612 Dabei formulieren die Herausgeber explizit einen ‚Bewahrungsanspruch‘: Die gesammelten Reportagen sollen auch dazu dienen, daß nicht zu schnell vergessen wird. Denn je rascher es in der DDR aufwärts geht, desto stärker wird der Hang zum Verdrängen der Vergangenheit werden. Die Reportagen als Merkposten also auch für die Generationen, die danach kommen.613
Im Vorwort zum zweiten Band heißt es: „Wir tun gut daran, nicht zu vergessen. Dieser Band soll Vergessen verhindern.“614 Band I umfasst im Wesentlichen die Zeitspanne zwischen Herbst 1989 und den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990, Band II die Zeit vom 18. März 1990 bis zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. Der Reportage verwandte Texte ‚von außen‘, das heißt aus der Feder ausländischer Journalisten, finden sich ebenfalls in großer Zahl: Eines der frühesten Beispiele ist das essayistische Tagebuch des amerikanischen Historikers Robert Darnton (*1939) Der letzte Tanz auf der Mauer
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Ders.: 0 / 1 / 12 / 6. Probleme im gemischten Polizistendoppel. In: Ebd., S. 72-77. Vgl. Ders.: Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Wie das Thüringer Städtchen Bad Frankenhausen mit Tübkes Monumentalgemälde zurechtkommt. In: Ebd., S. 83-91 bzw. A.O.: Sorgfältig, umgehend, schnellstmöglich. Friedrichshain erträgt Lenins Anblick nicht mehr. In: Ebd., S. 150-154. Ders.: Aufzug ins Schlaraffenland. In der Freßetage des KaDeWe kann der feinnervige Völler sein Gewissen beruhigen. In: Ebd., S. 26-33. Dagewesen und aufgeschrieben. Reportagen über eine deutsche Revolution. Hrsg. von Dieter Golombek und Dietrich Ratzke. Frankfurt a.M. 1990; Facetten der Wende. Reportagen über eine deutsche Revolution. Band II. Hrsg. von D.G. und D.R. Frankfurt a.M. 1991. Dieter Golombek / Dietrich Ratzke: Zu diesem Buch. In: Dagewesen und aufgeschrieben. Reportagen über eine deutsche Revolution. Hrsg. von D.G. und D.R. Frankfurt a.M. 1990; S. 11f., S. 12. Dies.: Zu diesem Buch. In: Facetten der Wende. Reportagen über eine deutsche Revolution. Band II. Hrsg. von D.G. und D.R. Frankfurt a.M. 1991; S. 13f., S. 14.
272
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
(1991).615 Darnton war im September 1989 im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes nach Berlin gekommen, um die deutsche Revolutionsgeschichte zu erforschen; in die Entwicklungen des Herbstes ’89 geriet er eher zufällig hinein. Sein Buch stellt mit seinen fünf Teilen bzw. 27 Episoden eine Mischung aus Reportage, Augenzeugenbericht, Essay, historischer Analyse und Protokoll dar. Allerdings darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass der Verfasser zahlreichen Vorurteilen nachhängt und das Buch nicht wenige scheinbar neutrale Informationen enthält, die schlicht falsch sind oder deren Darstellung grob vereinfacht ausfällt.616 Er umreißt sein Anliegen wie folgt: In diesem Buch schildere ich die deutsche Revolution 1989-1990, von den Bürgern der DDR manchmal etwas bescheidener „Wende“ genannt. […] Verdienen es diese Vorgänge überhaupt, revolutionär genannt zu werden? […] Statt eine akademische Analyse zu schreiben, in der ich theoretisch hätte begründen können, was eine Revolution wirklich ist, versuchte ich, die Ereignisse in ihrer Abfolge journalistisch darzustellen.617
Eine ‚Reisereportage‘ aus der – auch in diesem Bereich eher selten anzutreffenden – westdeutschen Perspektive ist Michael Rutschkys (*1943) Unterwegs im Beitrittsgebiet (1994).618 Der Band versammelt Berichte dreier Reisen, von denen die erste im November 1989, die zweite im November 1991 und die dritte im Sommer 1993 stattfand. Rutschky gelingt es so, ein differenziertes Bild der Veränderungen zu zeichnen, zumal in seinen schlicht mit „Eins“, „Zwei“, „Drei“ überschriebenen Reportagen nicht nur eigene Erfahrungen, sondern auch zahlreiche Gespräche verarbeitet wurden. Klaus Pohls (*1952) Das Deutschlandgefühl (1999)619 stellt dagegen eine Mischung aus Reisebericht und Porträtliteratur dar. Der in New York lebende Schauspieler und Schriftsteller unternahm im Sommer 1994 und im Winter 1998 Reisen durch die östlichen Bundesländer, jeweils mit der gleichen Route. Es entstand ein Reisebericht in zwei großen Teilen, die wiederum aus kurzen Kapiteln zusammengesetzt sind. Im Mittelpunkt
615 616
617 618 619
Robert Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989-1990. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. München 1991. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa seine Ausführungen über den 9. Oktober 1989 in Leipzig und den Mauerfall am 9. November 1989; Vorwort. In: R. D.: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989-1990. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. München / Wien 1991; S. 9-17, S. 10f. Ebd., S. 9. Michael Rutschky: Unterwegs im Beitrittsgebiet. Göttingen 1994. Klaus Pohl: Das Deutschlandgefühl. Reinbek 1999.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
273
stehen dabei stets die Menschen und ihre Erfahrungen nach der ‚Wende‘. Ihnen hat Pohl sein Buch auch gewidmet. 5.2.1.4
Tagebücher
Tagebücher können mit unterschiedlichem Anspruch geführt werden. Handelt es sich nicht um später für den Druck überarbeitete literarische Tagebücher, wie im Falle von Thomas Rosenlöchers (*1947) Die verkauften Pflastersteine (1990), wohnt ihnen zunächst ein in erster Linie persönliches Interesse inne, häufig verbunden mit einem chronistischen Anspruch. Das Tagebuch ist also „wesentlich ein Mittel zur Kommunikation mit sich selbst.“620 Im Zentrum steht meist der Ort, an dem sein Verfasser zu Hause ist oder sich gerade aufhält. Sonderformen von Tagebüchern621, aber auch tagebuchähnliche Aufzeichnungen wie Notizen, gehören zu den frühesten und authentischsten Formen der schriftlichen, wenn auch nicht unbedingt im engeren Sinne literarischen Auseinandersetzung mit ‚Wende‘ und ‚Einheit‘. Für viele Menschen waren die Ereignisse des Herbstes 1989 Anlass, mit dem Tagebuchschreiben zu beginnen oder das Tagebuchführen wieder aufzunehmen. Prominentestes Beispiel dürfte Günter Grass sein, der in seinem „Werkstattbericht“ Fünf Jahrzehnte (2001) bekennt: Dann aber brachte ein sich überstürzender Prozeß, bündig „Deutsche Einheit“ genannt, die östlichen und westlichen Wirklichkeiten und mit ihnen auch meine Gewißheiten ins Wanken. Was ich seit dem Aufenthalt in Calcutta mangels Dringlichkeit nicht mehr getan hatte, ich schrieb Tagebuch, reiste mit meiner Kladde durch die sich neu gründenden ostdeutschen Länder, erlebte, welche Folgen es hat, wenn der revolutionäre Ruf „Wir sind das Volk!“ in die Behauptung „Wir sind ein Volk“ regelrecht umgemünzt wird und sodann als rechtskräftige Enteignung sogar die Biographien der Neubürger erfaßt.622
Bisweilen ist der dargestellte Zeitraum bzw. der Zeitraum, aus dem Eintragungen veröffentlicht werden, außerordentlich kurz: Die „Bekenntnisse 620 621
622
Rüdiger Görner: Das Tagebuch. Eine Einführung. München / Zürich 1986, S. 11 (Artemis Einführungen, Band 26). So liegen für die Zeit des Herbstes 1990, also der Wochen um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, acht von Frauen geführte Tagebücher vor, die gewissermaßen ‚im Auftrag‘ – nach Aufforderung über einen Zeitungsartikel – geschrieben wurden. Es handelt sich also nicht um Tagebücher im ganz eng gefassten Sinn. Dennoch geben auch diese Aufzeichnungen aufschlussreiche Einblicke in alltägliche Veränderungen und die Brüche von Biografien in der Zeit der ‚Wende‘ bzw. unmittelbar danach – einmal mehr aus weiblicher, nicht aber explizit feministischer Perspektive: Unsere Haut. Tagebücher von Frauen aus dem Herbst 1990. Hrsg. von Irene Dölling, Adelheid Kuhlmey-Oehlert, Gabriela Seibt. Berlin 1992. Günter Grass: Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht. Hrsg. von G. Fritze Margull. Göttingen 2001 (editionWelttag), S. 104.
274
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
und Einsichten“ des DDR-Spionagechefs Markus Wolf, veröffentlicht 1991 unter dem Titel In eigenem Auftrag623, umfassen das ganze Jahr 1989, Mario Göpferts (*1957) Tagebuchblätter624 dagegen den Zeitraum vom 7. bis zum 10. Oktober 1989: Gegenstand ist die Festnahme des Autors am Rande von Protestkundgebungen in Dresden (die er lediglich beobachtete) und seine anschließende Inhaftierung. Die Aufnahme exakter Uhrzeitangaben legt den Schluss nahe, dass die Blätter für Göpfert eine schriftliche Rekonstruktion der Ereignisse darstellen, die zunächst einmal vor allem für ihn selbst wichtig sind und somit (selbst-)therapeutische Funktion besitzen. Andere Tagebücher besitzen keinen umfassenden Anspruch im Hinblick auf das Festhalten gelebten Lebens und von Gedanken, sondern bezeugen lediglich Teilaspekte davon. Ein Beispiel ist Christina Wilkenings Ich wollte Klarheit (1992)625: Die Autorin dokumentiert darin ihre journalistische Recherche in Sachen Staatssicherheit zwischen dem 9. Februar 1990 und dem 1. Oktober 1991. Das Tagebuch des Philosophen Reiner Tetzner (*1936), erschienen 1990 unter dem Titel Leipziger Ring, gehört zu den frühesten selbstständig erschienenen Publikationen des Genres. Tetzner versteht sich als Zeitzeuge626, der seine Glaubwürdigkeit vor allem darauf stützt, unmittelbar an den Ereignissen beteiligt gewesen zu sein: „Ich bin bei den Leipziger Montagsdemonstrationen mitgegangen und habe aufgeschrieben, was ich gesehen und gehört habe.“627 Folglich konzentriert sich seine Darstellung auf den Leipziger Raum. Tetzner berichtet subjektive Erlebnisse, ordnet diese aber in einen umfassenderen Kontext ein. Die Subjektivität tritt durch diese Vorgehensweise an zahlreichen Stellen zu Gunsten eines Objektivitätsanspruchs zurück, etwa wenn historische Ereignisse nachgetragen werden. Tetzners Aufzeichnungen lassen – nicht zuletzt durch die dominierende Verwendung des historischen Präsens – eine Atmosphäre des Unmittelbaren entstehen; so schreibt er am 2. Oktober 1989:
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Markus Wolf: In eigenem Auftrag. Bekenntnisse und Einsichten. München 1991 (Schneekluth, Zeitzeugen sprechen). Mario Göpfert: Blätter aus dem Dresdner Herbst 89. Ein Stundentagebuch. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 200-214. Christina Wilkening: Ich wollte Klarheit. Tagebuch einer Recherche. Berlin / Weimar 1992. Vgl. zu diesem Anspruch auch Dr. Reiner Tetzner – Schriftsteller: „Als Schriftsteller möchte ich festhalten, was während der Wende geschehen ist.“ In: Bernd Lindner / Ralph Grüneberger (Hgg.): Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst. Bielefeld 1992, S. 243-250. Reiner Tetzner: Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten Oktober 1989 bis 1. Mai 1990. Mit 42 Fotos. Frankfurt a.M. 1990, S. 5.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
275
Bereitschaftspolizisten sperren die Straßen und schließen einen Ring um die Nikolaikirche. Ich fordere an der Reichsstraße Durchlaß, werde abgewiesen und stehe mit vielen hundert Zuschauern und Neugierigen vor den Grünuniformierten. Polizeihunde bellen gegen die eingekesselten Menschen, in deren Pfiffe und Sprechchöre viele der Sympathisanten vor dem grünen Spalier einstimmen.628
Häufig stellt der Verfasser seine Sicht der Dinge offiziellen Zeitungsmeldungen aus der Leipziger Volkszeitung und dem Neuen Deutschland gegenüber. Das Buch enthält zahlreiche Passagen, in denen die aktuellen Ereignisse reflektiert und in einen größeren historischen Rahmen eingeordnet werden: Am Ring stehen neue oder renovierte Hotels, moderne Wohnbauten, neben Grünanlagen das 1981 eingeweihte Gewandhaus, restaurierte Kirchen. Außerhalb des Rings verfallen ganze Stadtviertel. Zur Messe wird die Innenstadt glänzend aufpoliert; die Berliner SED-Führung präsentiert Leipzig weltstädtisch. Einheimische schmerzt um so mehr der Kontrast zwischen diesem Anspruch und dem Verfall in den alten Außenvierteln und Vororten, den stinkenden Flüssen, der oft vergifteten Luft in der Stadt. […] In Leipzig, der weltoffensten Stadt der DDR nach Berlin, wuchs früh Protest gegen die stalinistischen Strukturen, nicht zuletzt bereits in den fünfziger Jahren an der Universität, durch den Philosophen Ernst Bloch und den Germanisten Hans Mayer. Die Proteste gegen die Sprengung der Universitätskirche gehörten dazu. In den achtziger Jahren war es die Friedensbewegung. Im Schutz der Leipziger Kirchen arbeiten seit Jahren Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensgruppen. Zur Tradition wurden die seit sieben Jahren an jedem Montag abgehaltenen Friedensandachten in der Nikolaikirche – aus ihr zogen schließlich die Demonstranten auf den Ring.629
Tetzners Aufzeichnungen enden am 6. Mai 1990 mit der Wiedergabe eines Gespräches, in dem die Montagsdemonstrationen bereits mit historischem Abstand betrachtet werden: „Haben wir zu Recht demonstriert?“ frage ich Klaus B. „Es wurde Zeit. Drei Jahre länger, und die Katastrophe wäre noch größer gewesen“, erwidert er. „Wenn ich sehe, was in unseren Betrieben los ist, sage ich mir: Es war höchste Zeit! Aus eigener Kraft würden wir aus der Misere nicht rauskommen.“ „Durchziehen“, sagt Christel. Ich telefoniere mit dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, einem Unterzeichner des Aufrufs der Sechs.
628 629
Ebd., S. 7. Ebd., S. 30-32.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
„Das Wichtigste ist die geistige Freiheit, das Leben ohne Mielke und Mittag“, meint er über unsere Lage. „Wir müssen das Beste draus machen. Nun erlebe ich den Kapitalismus wenigstens in meiner Heimat. Nach den Jahren des Mangels verstehe ich das Bedürfnis der Massen nach Konsum. Die Revolution endet im Kaufhaus.“ „Alles geht ziemlich schnell“, sage ich. „Nicht nur die SED ist Trittbrettfahrer der Revolution. Auch die Leute hinter den Gardinen, die herauskommen, wenn’s nicht mehr gefährlich ist. Aber die Gewinner der Revolution wohnen nicht in Leipzig.“ „Du meinst drüben?“630
Das Fragezeichen am Ende der Aufzeichnungen lässt dem Leser Raum für eigene Überlegungen, das oben zitierte Gespräch erhält dadurch nahezu den Charakter eines ‚Lehrstücks‘. Die unter dem Titel Ade, DDR! (1990) veröffentlichten „Tagebuchblätter“ von Heinz Kallabis (*1930) umfassen praktisch den gleichen historischen Abschnitt wie Reiner Tetzners Aufzeichnungen. Kallabis waren 1969 seine Professur für Soziologie an der Hochschule der Gewerkschaften in Bernau und die Lehrberechtigung an Hoch- und Fachschulen der DDR entzogen worden, weil er angeblich revisionistische Konzeptionen vertreten hatte. Anfang 1990 wurde er politisch und wissenschaftlich rehabilitiert. Zu Beginn des Bandes stellt Kallabis relativ ausführlich seine Gründe dar, überhaupt Tagebuch zu führen: Die Tagebuchblätter entstanden seit Anfang Oktober 1989 aus dem persönlichen Bedürfnis, Ereignisse, Probleme und eigene Erlebnisse, persönliche Meinungen und Befindlichkeiten in dieser bewegten Zeit festzuhalten, in der Absicht, später einmal bei einer gründlicheren Analyse und Wertung des im Oktober vergangenen Jahres begonnenen gesellschaftlichen Wandels Dinge, die sonst in Vergessenheit geraten könnten, zu reflektieren. Sie stellen in gewissem Sinne eine persönliche Materialsammlung dar, um die eigenen Einschätzungen, Haltungen, auch die Irrtümer und möglichen Illusionen auf ihre Gründe befragen zu können. Aus diesem Grunde wurden diese Tagebuchblätter auch immer in der Sicht des Augenblicks geschrieben, ohne dabei vorher Geschriebenes nochmals zu prüfen und zu berücksichtigen. Sie haben daher eigentlich nur eine Bedeutung für mich selbst, meine Selbstauseinandersetzung. Sie sind sehr subjektiv und zeitgebunden, ohne jeden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. […] Die Veröffentlichung endet mit dem 8. Mai 1990. Ich glaube, daß bis zu diesem Datum wichtige Wandlungen ihren relativen Abschluß gefunden haben. Die „Revolution“ des Oktober ist in die „Restauration“ des Mai übergegangen. Ein neuer Abschnitt beginnt.631 630 631
Ebd., S. 117. Heinz Kallabis: Ade, DDR! Tagebuchblätter 7. Oktober 1989 bis 8. Mai 1990. Berlin (DDR) 1990, S. 6.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
277
Kallabis’ Aufzeichnungen lassen den Impetus des Wissenschaftlers erkennen, der die Fähigkeit und den Willen zu einer gewissen Distanzierung besitzt. Seine am 16. Oktober 1989 festgehaltenen sprachkritischen Bemerkungen belegen diese Haltung: Das neue Schlagwort ist gefunden! Hurra! Wir machen alle in „Dialog“. Überall wird jetzt dialogisiert. Ein Schelm, wer Übles dabei denkt. […] Den „Dialog“ des Echos brauchen wir nicht. Wir brauchen auch keinen einer „Führung“ mit dem Volk, den „Geführten“. Wir brauchen das Gespräch unter Gleichen und Gleichberechtigten, das Gespräch des Volkes mit sich selbst, über seine eigenen Probleme, seine eigenen Interessen, seine eigene Zukunft.632
Drei Tage später, am 19. Oktober, erkennt er die ersten ‚Wendehälse‘: Da sitzen sie wieder, wie gehabt, vor den Kameras des DDR-Fernsehens. Alte Bekannte! Buchstäblich gestern und vorgestern saßen sie auch schon da und verkündeten die unbezweifelbaren Wahrheiten der gestrigen Politik und Ideologie, ganz im Sinne der Lobpreisung der Erfolge und Errungenschaften, wie noch am 6. Oktober gesehen. Das ging ihnen gut über die Lippen! Anschaulich malten sie auch das Bild vom Klassenfeind, dem eigentlichen Übel und Ursache, wenn mal nicht alles so klappte. Auch dafür, daß manche nicht so recht glauben wollten und konnten, daß wir über eine „wissenschaftlich begründete und vom Leben bestätigte Gesellschaftskonzeption“ verfügen, „die weit in das nächste Jahrtausend reicht“, daß „Ideale und Werte des Sozialismus in unserem Lande lebendige Wirklichkeit“ sind, daß „unsere sozialistische Demokratie breit entfaltet und unersetzbar“ ist. Nun präsentieren sich dieselben Leute als Apostel der gerade verkündeten „Wende“! Sind sie wirklich so vermessen zu glauben, daß man ihnen glaubt? Oder betrachten sie das ganze als das alte Spiel, nur in einer etwas abgewandelten Form und dies nur solange, wie man nicht in alter Weise spielen kann? Also etwas zur Ermunterung des bisher gelangweilten Publikums?633
Ab dem 9. November 1989 thematisiert Kallabis zunehmend das Tempo der ‚Wende‘-Ereignisse. Dabei beschränkt er sich im Gegensatz zu den meisten anderen Chronisten nicht auf die Öffnung der Mauer am Abend, sondern geht auch auf weitere Ereignisse des Tages ein: Man kann plötzlich die Ereignisse kaum noch verarbeiten. Was gestern noch mühsam angeregt, gefordert, erstritten werden mußte, ist heute Entscheidung, plötzlich ohne volle Sicht auf die Konsequenzen.
632 633
Ebd., S. 13. Ebd., S. 15.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Früh die Forderung von „Blockparteien“ nach freien Wahlen für alle Volksvertretungen auf der Grundlage eines Wahlgesetzes, das durch Volksentscheid bestätigt werden soll. Mittags die Entscheidung des Zentralkomitees über die Einberufung einer Parteikonferenz noch Mitte Dezember zur Beratung der Lage, zur Neubestimmung der Aufgaben der Partei und zu Veränderungen im Zentralkomitee. Dazu die Proteste von Parteiorganisationen gegen eben erst gewählte Mitglieder und Kandidaten des Politbüros mit der Forderung ihrer Abwahl. Abends schließlich die Öffnung der Grenzen zur BRD und Westberlin. In wenigen Augenblicken der Geschichte mehr Einschnitte in die Entwicklung der Partei, der DDR-Gesellschaft und in die Geschichte Europas und der Weltpolitik als in Jahrzehnten. Hier ist ein Prozeß in Gang gekommen, dessen weitreichende Wirkungen überhaupt nicht zu überschauen sind. Jetzt muß durch die Partei entschlossen ein neuer Anfang gemacht werden. […] Lassen wir uns durch die Ereignisse nicht überrollen, werden wir nicht kopflos, besinnen wir uns auf unsere Möglichkeiten. Nutzen wir die historische Chance!634
Am 12. November bestätigt er seine Auffassung vom Tempo der Ereignisse nochmals: Die hohe Dynamik der politischen Prozesse überholt alle gestern noch als hinreichend und für eine längere Perspektive gedachten Überlegungen und Vorschläge. Die Entwicklung der Ereignisse nach Öffnung der Grenzen bringt eine neue politische Lage.635
Vergleichsweise spät – am 15. November – begibt sich Kallabis erstmals nach West-Berlin. Deutlich ist die Rolle des zumindest innerlich, nicht aber räumlich distanzierten Beobachters zu erkennen; einmal mehr zeigt sich der dokumentarische Anspruch des Bandes. Dieser Anspruch lässt sich nicht zuletzt an der häufigen Verwendung von Begriffen wie „Beobachtungen“ ablesen: Heute konnte ich selbst erste Beobachtungen in Westberlin machen. Die vielen DDR-Bürger sind an verschiedenem erkennbar. Zunächst an vielen Plastik-Einkaufsbeuteln, mit allem möglichen, mit Bananen, Apfelsinen. Dann die Leute, die sich an den Banken und Sparkassen drängen, um ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld zu bekommen. Mitunter sind das Familien mit 2 und mehr Kindern, die sie vorzeigen, um auch für sie das Geld zu bekommen. Verständlich, aber nicht alles hat mit menschlicher Würde zu tun. Da sind auch 634 635
Ebd., S. 34f. Ebd., S. 37.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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die Betrüger am Werke, die sich sowohl auf Personalausweis als auch auf Reisepaß zweimal in den Besitz des Geldes bringen wollen. Manche haben sogar die bereits abgestempelte Seite aus ihrem Personalausweis gerissen, um es ein zweites Mal zu versuchen. Peinlich! Da gibt es Schlangen vor den Billigläden, vor den Sex-Shops – alles DDR-Bürger! Elektronik scheint besonders anziehend zu sein. Das ist angesichts des Mangels auf diesem Gebiet und der weit überhöhten Preise dafür bei uns einzusehen. Überhaupt betreiben die DDR-Bürger eine Art Wirtschaftsstudium.636
Am 11. Dezember erkennt er einen Wandel innerhalb der ‚Wende‘: Der politische und ideologische Schwerpunkt der Leipziger Demonstrationen ist ein anderer geworden. Nicht mehr die demokratische Reform und Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR steht im Zentrum, sondern die Frage, ob Vereinigung der DDR mit der BRD oder Selbständigkeit der DDR. „Deutschland einig Vaterland“, „Wir sind ein Volk“ wird heute von der Mehrheit der Demonstranten gerufen. Und nicht nur das. Immer lauter werden offen nationalistische und rechtsradikale Töne hörbar. […] Die Gefahr der Gewalttätigeit wird immer drohender.637
Im März 1990 – die Einheit zeichnet sich immer klarer ab – macht Kallabis sich Gedanken über den juristischen Weg dorthin; seine Vorbehalte gegenüber dem Verhalten der Bundesregierung treten dabei deutlich zu Tage: Der Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD hat es den Kohls angetan. Sie preisen ihn uns als das am schnellsten und am sichersten wirkende Allheilmittel für all unsere Beschwerden. Beschließt den Beitritt zur BRD nach Artikel 23, und alles ist in Ordnung! Das ist natürlich eine einfache Anschlußstrategie, die früher schon unter der Losung „Heim ins Reich“ praktiziert wurde. Die DDR-Bürger sollen einfach das Bonner Grundgesetz und alle anderen Ordnungsformen der BRD übernehmen und nicht einen Augenblick darüber nachdenken, ob denn die heutige Verfassung und Verfassungswirklichkeit tatsächlich das Nonplusultra aller möglichen Gesellschaftszustände ist; sie sollen keinen Augenblick prüfen, ob es nicht diese oder jene Erfahung ihres eigenen Lebens in 40 Jahren DDR gibt, besonders der letzten Monate des revolutionären demokratischen Umbruchs, die es wert wäre, mit hinübergebracht zu werden in ein neues einheitliches Deutschland. […] Darum kann es nur nach Artikel 146 gehen, d. h., um die Ausarbeitung einer neuen Verfassung für eine deutsche Republik, um das gleichberechtigte Aufeinanderzugehen […].638
Vom Ergebnis der Volkskammerwahl am 18. März zeigt er sich überrascht. Am Tag danach stellt er jedoch fest: 636 637 638
Ebd., S. 43. Ebd., S. 75f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 172.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Gesiegt haben wohl mehr die CDU und CSU, also das Kapital, das Geld. Die Leute wollen schnell und ohne Umwege die D-Mark, sie wollen die vollen Schaufenster, und die versprechen sie sich von der CDU, von der Bundesregierung, von Kohl. D-Mark, D-Mark über alles!639
Seine ohnehin stark ausgeprägte Distanz zur Bundesrepublik Deutschland nimmt weiter zu; am 4. April 1990 warnt er vor den „Folgen der Währungs- und Wirtschaftsunion nach Bonner Muster“: Entgegen aller ökonomischen und sozialen Vernunft, entgegen den Ratschlägen vieler Wirtschafts- und Finanzexperten, entgegen den Forderungen der Gewerkschaften in beiden deutschen Staaten hat sich die Bonner Regierung aus machtpolitischen Gründen vorgenommen, nicht eine allmähliche Reform und Anpassung der DDR-Wirtschaft an marktwirtschaftliche Verhältnisse mit einer stufenweisen Regulierung auch der Währungsverhältnisse abzuwarten, sondern der DDR auf einen Schlag die D-Mark und mit ihr die entscheidenden marktwirtschaftlichen Regelungen der BRD überzustülpen. Der Tag X, an dem die D-Mark in der DDR eingeführt werden soll, steht vor der Tür. An diesem Tage ist die Souveränität der DDR und ihrer Regierung weitgehend dahin, die wirtschaftliche, soziale und politische Lage in der Noch-DDR wird sich radikal wandeln. Die plötzliche Währungs- und Wirtschaftsunion wird tiefgreifende, ja katastrophale wirtschaftliche und soziale Folgen haben. Darauf müssen sich alle, vor allem die Gewerkschaften, einstellen. […] Was wird passieren? Unmittelbar nach dem Tag X der Währungsunion wird der Markt von guten und wohlfeilen Waren der BRD-Betriebe und des Weltmarktes überschwemmt werden. Dem können die Produkte vieler DDR-Betriebe nicht nur aus Preisgründen, bedingt durch Produktivitäts- und Effektivitätsrückstände, sondern mehrheitlich auch qualitativ und auf Grund der Käuferpsychologie nicht standhalten. Viele Betriebe werden ihre Produkte nicht mehr los werden. Beispiele dafür gibt es bereits jetzt. Konkurse sind also angesagt. Arbeitslosigkeit ist die Folge.640
Kallabis’ Einschätzungen sollten sich als richtig erweisen. Seine Aufzeichnungen enden mit den Einträgen vom 8. Mai 1990 eher resignativ: Die Agonie des alten Systems ist zu Ende, die Restauration läuft auf vollen Touren. […] Mit dem bevorstehenden Staatsvertrag und den Ergebnissen der ersten 2-plus-4Beratung der Außenminister, die die staatliche Vereinigung der Deutschen in Form und Tempo zur Sache der Deutschen selbst erklärten und von dem Problem der außenpolitischen Einordnung des geeinten Deutschlands abkoppelten, ist der Weg endgültig frei für die volle Restauration der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse 639 640
Ebd., S. 183. Ebd., S. 199-201.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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auf dem Gebiet der bisherigen DDR. Und das wird schneller geschehen als [sic] manche sich das heute noch vorstellen. […] Nach dem April 1985 mußte dieser Isolierungsversuch [der DDR dem Westen gegenüber durch den Mauerbau; F.Th.G.] auch nach Osten hin fortgesetzt werden. Das System des „realen Sozialismus“ zeigte seine Reformunfähigkeit. Im Herbst 1989 war es dann soweit. Die Agonie des Systems begann. Mit dem Staatsstreich vom 9. November wurde die Tür zu einer demokratischen, sozialistischen Alternative endgültig geschlossen. Es zeigte sich, daß die Masse des Volkes keine sozialistische Alternative, keine neuen sozialistischen Experimente mehr wollte. Die „Revolution“ gegen die Machtstrukturen des „realen Sozialismus“ ging in die Restauration der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse über. Jetzt haben sich die Hoffnungen vieler aus der Zeit vom Oktober 1989 endgültig zerschlagen. Der Restaurationsprozeß ist in vollem Gange. Dieser Prozeß ist nicht mehr aufzuhalten. Für ihn gibt es keine reale, praktischmachbare Alternative. Auch keinen dritten Weg. Mag dies bitter sein, aber die Wirklichkeit ist halt so. Wir müssen uns auf diese Wirklichkeit einstellen und ihre Bedingungen als Ausgangspunkt für das Bemühen um eine humanistische, demokratische und sozial gerechte Gesellschaft akzeptieren. Man darf nicht aufgeben, für eine solche Gesellschaft zu kämpfen.641
Die Aufzeichnungen von Kallabis zeigen einmal mehr, wie herb die Hoffungen auf eine Reformierbarkeit der DDR enttäuscht wurden; betrachtet man die veröffentlichten Tagebücher und Tagebuchauszüge der meisten Ostdeutschen, so dominiert ein melancholischer Ton. In den ebenfalls 1990 erschienenen „Tagebuch-Notizen“ der Schauspielerin Steffie Spira-Ruschin (1908-1995) wird dies bereits im Titel deutlich: Der Band Rote Fahne mit Trauerflor (1990) enthält neben den Tagebuchfragmenten von 1954 bis 1971 und aufgezeichneten Gesprächen ein Kapitel (das zugleich dem Buch den Titel gab) mit Spiras Aufzeichnungen aus den Jahren 1988 bis 1990. Spira reflektiert viele Ereignisse erst in der Rückschau. An den Tagen selbst oder einige Tage nach ‚großen Ereignissen‘ finden sich häufig nur knappe Bemerkungen. Am 10. Oktober 1989, drei Tage nach dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, hält sie fest: „Der 40. Jahrestag ist vergangen. Hoffen wir, daß der 50. besser ausfällt.“642 Die Massenflucht und die offiziellen Verlautbarungen dazu nimmt sie mit Bestürzung zur Kenntnis, denn 35.000 Menschen, groß und klein, haben uns verlassen. Ihre Schuld? Unsere Schuld! auch [sic] wenn Honecker ihnen „keine Träne“ nachweint. 641 642
Ebd., S. 251-253. Steffie Spira: Rote Fahne mit Trauerflor. Tagebuch-Notizen. Freiburg i.B. 1990, S. 103.
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Das habe ich begriffen. Schon am 6. und 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, habe ich aus meinem Küchenfenster, das zur Straße geht, meine rote Fahne mit langem Trauerflor aus dem 7. Stock herausgehangen.643
Am 27. Oktober 1989, einige Tage nach dem Amtsantritt von Egon Krenz, äußert sie sich eher skeptisch: Krenz sprach bei der Antrittsrede von „Wende“. Nachdem er gerade von einer Reise aus Peking zum 40. Jahrestag zurückgekommen war. Dort hatte er das „weise Eingreifen“ der chinesischen Partei gegen die Studenten gelobt. Soll man da an eine wirkliche „Wende“ glauben? Ich bin skeptisch.“644
Folgerichtig zieht sie den Begriff „Aufbruch“645 vor. Rote Fahne mit Trauerflor enthält auch Spiras kurze Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, in der sie vorschlägt, aus Wandlitz ein Altersheim zu machen.646 Die Schauspielerin bekennt: Ich gebe selber zu, daß ich von dem Ausmaß, mit dem in der DDR die Menschen wirklich in einer gräßlichen Weise an ihrem eigenen Sein gehindert wurden, nicht nur geistig, sondern auch körperlich, ganz real, daß ich davon wenig gewußt habe. Mir ist kein einziger Fall bekannt geworden, außer dem von Walter Janka – später oder noch während –, aber ich habe nicht gewußt, was und wieviel ihm alles angetan wurde […].647
Hier mag die späte Einsicht einer in der DDR Privilegierten liegen. Spiras Bekenntnis ist aber zugleich ein Beleg für die Distanz zwischen dem Volk und eben diesen Privilegierten. Am Kommunismus hält sie jedoch weiterhin fest, denn [n]ur so ungeduldige Menschen wie ich verstehen nicht, wie man auf so brutale Weise die Welt zurückdrehen kann, unsere Welt, unsere kleine Welt zurückdrehen auf die armselige Welt des kapitalistischen Lebens, auf die Seite des Habens.648
Theodor Schübels (*1925) „Journal vom 10. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990“ ist eines der wenigen veröffentlichten Tagebuchzeugnisse aus westdeutscher Perspektive. Seine Aufzeichnungen aus Schwarzenbach an der Saale im Zonenrandgebiet setzen später ein, enden aber auch spä-
643 644 645 646 647 648
Ebd., S. 104. Ebd., S. 106. Ebd. Vgl. Ebd., S. 107. Ebd., S. 133. Ebd., S. 140.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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ter als die von Tetzner und Kallabis. Der anders gewählte Zeitraum führt zwangsläufig zur Verlagerung des Akzents von der ‚Wende‘ zur ‚Einheit‘. Schübel bietet insgesamt weniger detaillierte Reflexionen des Geschehens – seine Perspektive ist die des in mehrerlei Hinsicht distanzierten Beobachters. Dagegen finden sich bei keinem anderen Autor ausführlichere Schilderungen der Grenzöffnung und des Verhaltens der das Zonenrandgebiet geradezu überflutenden DDR-Bürger. Häufig hält der Verfasser Gespräche fest, die er offenbar in großer Zahl geführt hat. So notiert er am 11. November 1989: Besucher aus Jena erzählen, sie hätten für die hundert Kilometer Autobahn bis Hof zehn Stunden gebraucht; wer aus Leipzig kommt, sei noch zwei oder drei Stunden länger unterwegs gewesen. Die Fahrzeuge stauen sich auf der Autobahn bis zu sechzig Kilometer, berichtet eine junge Frau aus Weimar. Ihre beiden Kinder haben vor Übermüdung gerötete Augen. Alle wußten, wie verstopft die Straßen sind, doch sie hielt es nicht zu Hause, sie wollten dabeisein. Wer nicht schon in der Nacht, sondern erst am Morgen losgefahren ist, kam erst am späten Nachmittag über die Grenze. Die Grenzsoldaten am Kontrollpunkt Hirschberg haben vor diesem Ansturm längst kapituliert. Sie sitzen stumm in ihren Kontrollhäusern, wollen keine Pässe sehen, fordern die Fahrzeuge mit einem Wink zum Weiterfahren auf. An manchen Haustüren in Hof hängt ein Zettel: „Liebe Gäste aus der DDR! Läuten Sie bitte, wenn Sie bei uns Kaffee trinken wollen.“ Auf den Straßen werden heißer Tee und Glühwein ausgeschenkt.649
Am selben Tag trifft Schübel eine Krankenschwester aus Dresden, die berichtet, daß in einem Bezirkskrankenhaus vier von sechs chirurgischen Stationen haben geschlossen werden müssen. Ähnliches höre ich aus Leipzig. Dort seien in den Krankenhäusern Ärzte und Schwestern beschworen worden, die Kranken nicht im Stich zu lassen. Bei jedem Schichtwechsel werde ängstlich geprüft, ob jemand fehlt, und immer wieder fehle jemand.650
Am 17. Dezember hält er fest: „Die Züge aus der DDR sind bis zu 300 Prozent überbelegt, sie dürfen teilweise nur mit 40 Stundenkilometer [sic] fahren. Als Ursache des Andrangs gilt ein in der DDR verbreitetes Gerücht, daß ab Freitag kein Begrüßungsgeld mehr gezahlt würde.“651 Ähnlich wie Kallabis analysiert auch Schübel den Ausgang der Volkskammerwahl; am Abend des 18. März 1990 gibt er zu: „Wir richteten uns auf einen langen
649 650 651
Theodor Schübel: Vom Ufer der Saale. Geschichten aus der Zwischenzeit. Ein Journal vom 10. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990. Berlin 1992, S. 7f. Ebd., S. 9. Ebd., S. 44.
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Wahlabend ein, doch schon um sieben Uhr stand der Gewinner fest, um acht war das Rennen gelaufen.“652 Am Tag danach folgt eine ausführlichere Bilanz: Zur Wahl der Volkskammer: Die Entscheidung ist eindeutig. Wer es bislang nicht glauben oder wahrhaben wollte, hat es jetzt schriftlich: Vermutlich wird es schon bald zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen. Vorüber die Zeit, da unsere Politiker wie Gunther in der ‚Götterdämmerung‘ fragen konnten: „Sitz ich selig am Rhein?“ Gestern abend traten im Fernsehen vom Wahlausgang enttäuschte Leute auf, die sich nicht scheuten, die Wähler zu beschimpfen und zu verunglimpfen. Warfen ihnen Gedankenlosigkeit, Unverstand und „materielles Denken“ vor. Ein sonderbares Verständnis von Demokratie: Wenn sich die Mehrheit nicht im gewünschten Sinn entscheidet, so ist das der Beweis, daß das Volk unwissend, also noch nicht reif für die Demokratie ist.653
Hier wird die von Schübel konsequent durchgehaltene Distanz deutlich, denn gerade an den Reaktionen auf den Ausgang der Volkskammerwahl zeigt sich die Enttäuschung vieler Schriftsteller und Intellektueller, die sich gegen das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger im eigenen Land richtet.654 Anlässlich des Inkrafttretens der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 bemerkt Schübel mit subtilem Humor: Von heute an gibt es in Deutschland nur noch eine Währung. Auch die in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten erhalten fortan ihren Sold in D-Mark. Das Losungswort der evangelischen Christen für diesen Sonntag: „Der Herr macht arm und macht reich.“655
Auch die 1921 geborene Schauspielerin und Schriftstellerin Margarete Hannsmann schreibt aus westdeutscher Perspektive. Im Tagebuch meines Alterns (1991) veröffentlichte die damals beinahe Siebzigjährige ihre Tagebucheinträge zwischen dem 1. Januar 1989 und dem Neujahrstag 1990. Über ihren Antrieb zum Schreiben erklärt sie: 652 653 654
655
Ebd., S. 131. Ebd. Zahlreiche Spontanreaktionen sind dokumentiert; Jurek Becker etwa schreibt am 19. März 1990 an Manfred Krugs Frau Ottilie: „Unvergleichliche Ottilie, / Chicago ist ein böser kalter Wind, gegen / den Du Dich den ganzen Tag zu den / Sehenswürdigkeiten durchkämpfen / mußt. Die Augen tränen Dir, Du bist / viel zu dünn angezogen, doch Du / hältst durch bis zur Grenze der / Lungenentzündung. Dann kommst / Du halb erfroren ins Hotelzim- / mer, machst den Fernseher an / und hörst die Wahlergebnisse / aus der DDR, und die geben Dir / den Rest. / Dein fix und fertiger Jurek“ (Jurek Becker: USA, 19.3.1990. In: Jurek Beckers Neuigkeiten an Manfred Krug & Otti. München 1999, S. 152 [zuerst Düsseldorf / München 1997]). Ebd., S. 186.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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Es ist keine Lust. Kaum ein Trieb. Eher schon Angst. Ja doch, die Angst vor dem Sumpf des „Nicht-mehr“ treibt mich, aus Wörtern Balken zu machen, an die allein ich mich klammern kann. Tagebuch als Überlebenstraining. Angsttriebe von sterbenden Pflanzen. Schreiben gegen die würgende Einsamkeit, gegen die zunehmende Sinnentleerung, gegen den Tod, der meinen Lebensraum schon fast ganz besetzt hat.656
Auch bei Hannsmann steht damit der selbsttherapeutische Aspekt des Schreibens im Vordergrund. Ihre Distanz ist noch größer als die Schübels; die ‚Wende‘ verfolgt sie ausschließlich im Fernsehen. Dabei wehrt sie sich zunächst gegen die Entwicklungen in der DDR. So notiert sie am 24. Oktober: In Leipzig gehen 300 000 Menschen auf die Straße. Steht in der Zeitung. Für Reformen. Für freie Wahlen. Und daß sie einen Nachfolger für Honecker haben. Egon Krenz. Staatsratsvorsitzender. Ich verbiete mir Fernsehen. Ich laß mich nicht ein. Ich fang nicht mehr an. Nicht noch einmal Deutschland. Nein. Nein!657
Am 11. November schildert sie den Fall der Berliner Mauer: Den Rest der Nacht verbrachte ich vor dem Fernseher: Seid umschlungen, Millionen / So ein Tag, so wunderschön wie heute, Gesichter, Gesichter, junge, alte, Männer, Frauen, vom Lachen ins Weinen umkippende Gesichter, Fernsehen: woran immer es uns teilnehmen ließ, niemals zuvor riß es Millionen so in den Strudel. Menschen sagten ins Mikrofon: Ich bin heute früh in Dresden, in München, in Paris, in Amsterdam weggefahren, um dabeizusein. Leibhaftig. Wörterohnmacht. Vor einem halben Jahr kein Augenblick davon träumbar. Ich möchte jetzt endlich schreien. Keinen gibt es mehr, der mein Glück, Trauer, Angst, Hilflosigkeit teilt, der mir antworten, der mich schütteln könnte: Mädchen, altes, Geschichte, wach auf, schrei ruhig über das, was passiert, nimm es getrost in die Arme heut nacht, Vaterland, Mutterland, das gerühmte, das verhöhnte, mißbrauchte, verdrängte, abgenutzte Wort Volk. Unser Liebeswort. Unser Haßwort. Menschen in Leipzig, Dresden, Ostberlin haben es gereinigt: Wir sind das Volk, und Europa paßt auf, daß alles gut geht dieses Mal.658
In die Freude über und Bewunderung für diese Ereignisse mischen sich sogleich Zweifel: Würden meine Toten so mit mir reden? Oder würden sie sagen: erinnere dich. Du hast nicht „die Gnade der späten Geburt“. Keine Ausrede Deutschland. Erzähltest du nicht von einem 9. Novem656 657 658
Margarete Hannsmann: Tagebuch meines Alterns. München 1991, S. 7. Ebd., S. 264. Ebd., S. 279.
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ber, als du in München am Straßenrand standst, mit erhobenem Arm, eingekeilt in dein Volk, während Hitler und seine Paladine in breiten Reihen vorüberzogen auf ihrem alljährlichen stummen Marsch zur Feldherrenhalle, morgens um elf, den Blutzeugen der Partei zum Gedächtnis? Hast du vergessen: es war jener 9. November 1938? Während du ahnungslos mit dem Fahrrad nach Hause fuhrst, brannten die Synagogen. Wurden deutsche Juden erschlagen und weggeschleppt. Nicht im Verborgenen. Mitten im Volk. In deinem Volk, das diese Nacht erhob zur Reichskristallnacht.659
Am 22. Dezember berichtet sie von der Öffnung des Brandenburger Tors: Das Brandenburger Tor in Berlin wird aufgemacht. Unser Kanzler schreitet hindurch inmitten seiner Deutschen. Der Regierungschef der DDR ist auch dabei. Ja, ich begreife die historische Stunde: Deutschland soll wieder vereinigt werden dürfen. Müssen. Aber nicht so. Doch nicht so.660
Wie die gesamten Wendeereignisse, erlebt Hannsmann auch die Silvesterfeierlichkeiten 1989 via Fernseher: Wir einigten uns, das Fernsehgerät trotz aller Vorbehalte nicht auszuknipsen, um diese Nacht an der Mauer mitzuerleben, die Schaltungen zwischen dem Tingeltangel im Nobelhotel und den unübersehbaren Menschenmassen, die sich da durch die Mauer ergossen und über die Mauer, hinüber, herüber, um Berlins größtes Silvesterfest aller Zeiten zu feiern. Nachtkulisse, Scheinwerfer, Feuerwerk, Millionen sind unterwegs in der Stadt und zwischen der Ostsee, dem Frankenwald, westwärts.661
Noch lange vor der Vereinigung ‚verabschiedet‘ sie das „DDR-Volk“: Adieu, DDR-Volk, das sich selbst befreite von der Diktatur des Proletariats, die von diktierenden Machthabern ausgeübt wurde. Trotzdem mußt du bald wieder regiert werden. Ein halbes Leben lang brauchte ich, einzusehen, daß nichts ohne Gesetze geht. Dann mußte ich auch noch begreifen lernen: jedem Gesetz wohnt von vornherein der Mißbrauch inne. Adieu, meine Freunde, Schriftsteller, Maler, Musiker, Schauspieler, ihr Atheisten, Christen, Juden, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, macht weiter, wie ihr könnt. Wie ihr müßt. Ich muß nicht mehr. Vierzig Jahre Geschichte, mein Leben, werden in dieser Nacht auf den Müll gekippt. Millionen Wegwerfleben. Nichts als eine Schande diese sogenannte Deutsche Demokratische Republik. Schande dem, der sie erhalten will. Der nicht einstimmt: „Einig Vaterland“ … „in Gefahren / deine Söhne sich …“ Aus vieltausend Kehlen klang es zu Hitlers Tribüne empor. Keiner wird dieses Beben vergessen, der ein Teil 659 660 661
Ebd., S. 279f. Ebd., S. 330. Ebd., S. 346.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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davon war, der es entfesselte mit einer Inbrunst ohnegleichen 1939 – keine Sorge, ihr Lieben, wir alle, die sangen, damals, sind in Bälde tot. […] Das verbogene Rückgrat der Ostkinder wird von den Westhebammen seit einer Weile passend zurechtgebogen. Prokrustesbett. Adieu DDR. Machs gut.662
Abschließend sei auf die Tagebuchaufzeichnungen von Rainer B. Jogschies (*1954) hingewiesen. Diese fallen in zeitlicher Hinsicht aus dem Rahmen, denn sie stammen nicht aus der unmittelbaren Wendezeit, sondern reflektieren die Ereignisse Jahre später, in der Zeit vom 17. Juni 1993 bis zum 17. Juni 1994 – dem früheren bundesdeutschen ‚Nationalfeiertag‘. Die Stimmung hat sich deutlich ins Negative verschoben, was bereits zu Beginn des Buches deutlich wird. Am 17. Juni 1993 schreibt Jogschies: Heut war wieder der „Tag der deutschen Einheit“. Es ist allerdings kein Feiertag mehr, seit wir die deutsche „Einheit“ alle Tage haben. Darüber trauern die meisten Deutschen – im Westen jedenfalls – mehr als vorher über die Opfer des „Volksaufstandes“ vom 17. Juni 1953.663
Folgerichtig stellt er am 3. Oktober 1993 fest: Tag der deutschen Einheit. Der zweite in diesem Jahr nach dem 17. Juni. Für den gibt es noch nicht die eingefleischte Gewohnheit, ihn mit Picknicken und Verwandtenbesuchen zu überbrücken. Es ist ja auch erst das dritte Mal. Aber den Festtagsansprachen hört schon keiner mehr zu.664
Am 9. Oktober 1993 erinnert der Verfasser an die Leipziger Montagsdemonstration vier Jahre zuvor. Resigniert muss er erkennen: In Leipzig wird müde an die erste Montagsdemonstration vor vier Jahren erinnert, als erstmals siebzigtausend Menschen auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk“ riefen. Aber die längst in „Wir sind ein Volk“ geänderte Parole klingt schwach, nicht nur, weil nur wenige Demonstranten rufen.665
Vor den Zuständen im vereinigten Deutschland fürchtet sich Jogschies. Immer wieder betont er die Gefahr durch Neonazis und fragt sich am Ende seines Tagebuches: Ist das noch mein Land? Ich habe Angst vor einem Deutschland, das sich nicht mehr schämt, für nichts, für niemand, sondern selbstgerecht durch die Welt poltert wie seine gefräßigen und 662 663 664 665
Ebd., S. 347f. Rainer B. Jogschies: Ist das noch mein Land? Ein deutsches Tagebuch. Hamburg 1994, S. 7. Ebd., S. 89. Ebd., S. 95; Hervorhebungen im Original.
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geschwätzigen Führer, all die selbstgerechten Außersichnichtse. […] Allenfalls die Deutschen können sich derzeit übernehmen in ihrem gleichzeitigen Selbstmitleid und der Selbstüberheblichkeit, in ihrem Augenverschließen vor der Wirklichkeit, in der ihnen wieder Vergangenes als Rezept für die Gegenwart angemessen scheint. Es ist der alltäglich gewordene Faschismus, der sich mit „Witzen“, Wörtern, Brandsätzen und einer autistischen Weltsicht inzwischen durch alle Lebensbereiche zieht und selbst in den von Parteien nicht vollends kontrollierten Medien totaler funktioniert als in Orwells Schreckensvisionen. Vor allem mit so nettem Antlitz. Da brüllt nicht der Televisor ins Wohnzimmer, man solle gefälligst den Rumpf ordentlich beugen beim Frühsport, sondern die Sendeanstalten bringen hüpfende Mädchen vor Südseekulisse zu treibender Pop-Musik, Aerobic statt „Ertüchtigung“, dieses wundersame deutsche Wort.666
Auf die Sonderform des politischen Tagebuchs kann hier nur verwiesen werden: Markantestes Beispiel dürfte Horst Teltschiks Band 329 Tage (1991) sein, der die Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 vor allem aus der Perspektive der Kohl-Regierung dokumentiert, denn Teltschik war zu jener Zeit außenpolitischer Berater des Bundeskanzlers. Der Aspekt der Selbstreflexion tritt dabei nahezu vollständig zurück. Über die Problematik der dargestellten historischen Kontinuität und des immer wieder durchscheinenden politischen Anspruchs soll hier nicht geurteilt werden. Teltschik geht es in erster Linie um die Aufzeichnung der politischen Ereignisse, die zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führten – unter besonderer Berücksichtigung der Verdienste Helmut Kohls. Den 3. Oktober erlebt er folgerichtig in Berlin: Kurz vor Mitternacht treten Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt, Oskar Lafontaine und andere auf die Freitreppe hinaus. Fahnen werden geschwenkt, Helmut-Rufe durchdringen die Nacht. Feierlichkeit liegt über dem Platz. Ein Chor singt, geht aber im Lärm der Menschen unter. Auch die Freiheitsglocke ist kaum mehr zu hören. Die Stimmung steigert sich noch, als um Mitternacht die Bundesflagge aufgezogen wird. Wir singen das Deutschlandlied. Der Jubel der Menschen ist unbeschreiblich. Sie durchbrechen die Absperrungen. Chaos scheint auszubrechen: aber das verhindern gleichermaßen die Polizeikräfte und die Vernunft der Menschen. Der Bundeskanzler schüttelt Hunderten von Menschen die Hand.667
Die vorgestellten Tagebücher belegen, wie unterschiedlich Akzente durch die Auswahl des Zeitraums sowie der festgehaltenen und kommentierten Ereignisse gesetzt werden können; an den Textauszügen zeigt sich zudem deutlich, wie stark die jeweiligen Verfasser – insbesondere hinsichtlich 666 667
Ebd., S. 383f. Horst Teltschik: 329 Tage. Innenansichten der Einigung. Berlin 1991, S. 374.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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ihres politischen Standpunktes – wertend in den Texten präsent sind. Von den historischen Ereignissen unmittelbar Betroffene, in der Regel sind es Ostdeutsche, haben zwangsläufig eine andere Sicht auf die Dinge als Westdeutsche, bei denen die Beobachterrolle dominiert. Zwar handelt es sich bei den Tagebüchern in erster Linie um subjektive Zeugnisse; die Aufzeichnungen der einzelnen Verfasser dürften aber wesentliche Quellen vor allem für Soziologen und Historiker darstellen. 5.2.1.5 Ein literarisches Tagebuch – Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine (1990); weitere Tagebuchnotizen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern Das bedeutendste Tagebuch eines Schriftstellers ist Thomas Rosenlöchers „Dresdener Tagebuch“ Die verkauften Pflastersteine. Auszüge wurden bereits 1989 von der Dresdner Tageszeitung Die Union an Stelle des Fortsetzungsromans gedruckt, später erschienen einige Blätter in Schöne Aussichten (1990)668 und in Die sanfte Revolution (1990).669 Der vollständige Text wurde 1990 bei Suhrkamp veröffentlicht. Das Dresdener Tagebuch umfasst Rosenlöchers persönliche Aufzeichnungen aus der Zeit zwischen dem 8. September 1989 und dem 19. März 1990; im Zentrum stehen damit die Ereignisse zwischen den immer wichtiger werdenden Massenprotesten und der Volkskammerwahl. Der Autor bekundet die Absicht, alles erst aufzuschreiben, „wenn es einigermaßen verbürgt ist.“670 Über das Genre ‚Tagebuch‘ und die damit verbundenen Einschränkungen äußert er: Solche Unbestimmtheiten das Eigentliche des Erlebens, unaussprechbar. Hier eben der Irrtum aller Tagebuchschreiberei. Das Tagebuch reiht Fakten, je nachdem wie das Leben so spielt und behauptet damit, daß das Leben so spiele. Das ist vorsätzliche Täuschung. Alle Schriftstellerei vergröbert auf geradezu kriminelle Weise, aber das Gedicht behauptet wenigstens nicht gleich, das Leben selbst zu sein.671
Für den Dresdner Lyriker war die ‚Wende‘ entscheidender Auslöser für das Führen des Tagebuchs; auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, antwortete Rosenlöcher auf einer Lesung in Bochum: „Weil ich ni glei 668
669
670 671
Dresdner Tagebuch – Achter September bis zehnter Oktober. In: Schöne Aussichten. Neue Prosa aus der DDR. Hrsg. von Christian Döring und Hajo Steinert. Frankfurt a.M. 1990, S. 311-325. Thomas Rosenlöcher: Dresdener Tagebuch. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 183-199. Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch. Frankfurt a.M. 1990, S. 25. Ebd., S. 35.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
wußte, was ich noch schreim sollte, vor Schreck […].“672 Der zunächst ungewöhnlich scheinende Buchtitel bezieht sich auf einen von Rosenlöcher im Dezember 1989 geschriebenen gleichnamigen Artikel, in dem es um den Verkauf der Pflastersteine der Pirnaer Landstraße geht, die zwecks Beschaffung von Devisen nach Westdeutschland exportiert wurden. Der Volksmund reimte daraufhin: „Ach wäre ich ein Pflasterstein, / Ich könnte längst im Westen sein.“673 Auf die Öffnung der Grenzen reagiert Rosenlöcher zunächst mit uneingeschränkter Euphorie; am 10. November notiert er: „Die Grenzen sind offen! Liebes Tagebuch, mir fehlen die Worte. Mir fehlen wirklich die Worte. Mit tränennassen Augen in der Küche auf und ab gehen und keine Zwiebel zur Hand haben, auf die der plötzliche Tränenfluß zu schieben wäre.“674
Immer wieder hält Rosenlöcher inne und reflektiert seine eigene Rolle in der Zeit der ‚Wende‘ und davor. Er bekennt sich durchaus dazu, keineswegs immer systemkritisch gehandelt zu haben.675 Als Grund hierfür nennt er unter anderem seine „verteufelte sächsische Höflichkeit“676, an anderer Stelle betont er sein „Harmoniebedürfnis“.677 Insofern kostet es ihn bisweilen auch einige Überwindung, sich an Demonstrationen zu beteiligen: „Ich rufe gegen die Barrieren in mir an. Meine Ängstlichkeit, mein Duckmäusertum“.678 Schon früh stellt er die Frage nach Schuld und Verantwortung: Alles auf das System oder die Funktionäre zu schieben, entläßt den einzelnen, mich, aus der Schuld, der sich keiner entziehen kann, und schon gar nicht durch das Davonlaufen nach drüben. Immerhin war es doch eine verhältnismäßig geringe Dosis an Zwang, die zu dieser Zwangsgesellschaft geführt hat. Manchmal war es aber auch der pure Irrtum: so hielt ich Idiot die Enteignungen in der Kleinindustrie Anfang der siebziger Jahre für ökonomisch sinnvoll! […] Andere Formen der Mitläuferei: 672 673
674 675
676 677 678
Matthias Biskupek: Familiendichter Rosenlöcher. Warum ein Dichter Tagebücher schreibt. In: Wochenpost v. 26.3.1992. Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch. Frankfurt a.M. 1990, S. 71f. Eine weitere literarische Verarbeitung dieser Geschichte findet sich in Wolfgang Hegewalds Roman Ein obskures Nest: vgl. W.H.: Ein obskures Nest. Roman. Leipzig 1997, S. 154. Ebd., S. 45. Vgl. etwa die Eintragungen vom 12.9.1989 (Ebd., S. 13) und vom 5.12.1989 (Ebd., S. 69). Am 19.9. beobachtet er seinen Sohn beim Erledigen der Hausaufgaben: „‚Begründe die Notwendigkeit eines immer stärkeren sozialistischen Staates‘ – Moritz macht Schularbeiten. Schreibt seine Lügen rasch hin, ‚nur ehm ma‘, aber so fängt es an und so geht es weiter, und dann bist du vierzig und hast es schon zur Hälfte verpaßt, einmal in deinem Leben geradegestanden zu haben.“ (Ebd., S. 16) Ebd., S. 13. Ebd., S. 33. Ebd., S. 42.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
291
Kritisches Denken, das gerade in der Art des sich kritisch Äußerns gegenüber dem Gesprächspartner Übereinstimmung signalisiert, ein Für-den-Sozialismus-Sein, das sich nicht vollständig vom Stalinismus abzusetzen wußte.679
Als er im November 1989 in den Westen reist, bemerkt er an sich einen „Kaufhausekel“. In diesem Zusammenhang stellt er fest: „Das Hochgefühl, das Westgeld verleiht, übersteigt noch die Anziehungskraft der Dinge.“680 Der westdeutschen Gesellschaft gegenüber verhält er sich skeptisch, im Straßenbild erkennt er [e]in allgemein freimütigeres Dreinschaun und lässigeres Gehn. Vielleicht spielt da auch Kosmetik und Gutangezogensein eine Rolle, ja überhaupt ein gewisser, systembedingter Zug zu positiver Selbstdarstellung. Andererseits aber zwingt die hier viel stärkere Fixierung auf den rasch verbrauchten und immer wieder neu angelieferten Augenblick, wenigstens diesen Augenblick einigermaßen zu leben. Freilich geht damit der hiesige Augenblicksmensch ziemlich nahtlos in sein System ein, das er schon von daher das freiheitliche zu nennen pflegt.681
Die Bundesrepublik und ihre Bewohner sieht Rosenlöcher zunächst vergleichsweise undifferenziert: Er spricht von „Schicki-Micki-Land“682, hinter der Grenze erblickt er „die ersten Sauberkeitsdörfer“.683 Den über die DDR geradezu hereinbrechenden Westen, der sich vor allem durch Geld und eine unbekannte Warenwelt auszeichnet, sieht er äußerst kritisch: „Das bißchen DDR-Selbstwertgefühl: Bankrott gegangen mit den Bankrotteuren und aufgesogen vom Glanz der Kaufhäuser.“684 Manche nun erhältlichen Produkte sind ihm völlig fremd. So notiert er am 6. März: „Am Obststand eiförmige Früchte, sogenannte Kiwis, 1,80 M das Stück.“685 Sehr genau beobachtet Rosenlöcher die Auftritte westdeutscher Politiker im Osten, insbesondere die des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Vor der Volkskammerwahl hält er, die Verhältnisse ironisierend, fest: Der Wahlkampf äußert sich im fortwährenden Ankleben, Überkleben und wieder Abreißen von Plakaten. Plakatsieger bleibt die Allianz. Wer sie wählt, glaubt mit den Roten am ehesten nie etwas zu tun gehabt zu haben. Selbst die umliegenden Ehemalsgenossen lassen sich Allianz-versichern. Die Wahl als Akt kollektiver Selbstreinigung. Das Glanzpapier auf den grauen, bröckelnden Häuserwänden erscheint als vorweggenommene Einlösung aller Versprechen.686 679 680 681 682 683 684 685 686
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S. S. S. S.
16f. 56. 59. 15. 51. 77. 98. 98f.
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Schon bald scheinen die Ideale der friedlichen Revolution nicht mehr gefragt zu sein: Und die kerzentragende Menge? Offenbar kann sich auch eine Masse taktisch verhalten. Angetrieben durch die Ereignisse, waltete in ihr noch einmal die alte Mischung aus Opportunismus und Schläue, indem der Zeitgeist Woche für Woche mehr und doch nur immer gerade das Nächstliegende verlangte. Für die meisten ist diese Revolution ohne Revolutionäre damit gar nicht gescheitert. Sie kommen bei sich selbst an, wenn sie nun wählen werden, was sie eigentlich schon immer wollten, den Westen im Osten, oder, wie ich vor Karlis Bierbude sagen hörte: „Ni mehr minderwertsch sein.“ Nur unsereins […] reibt sich noch immer die Augen und fragt: War das alles?687
Rückblickend stellt er fest: „Schon bald werden wir Mühe haben, uns die DDR selber zu erklären. An die neuen Verhältnisse angepaßt, werden wir uns fragen, wieso wir uns damals derart anpassen konnten.“688 Gerade diese vom Autor als vorschnell betrachtete Anpassung an den Westen und die dort üblichen Verhaltensweisen dürfte einer der Gründe für die Entstehung einer – so noch nicht explizit benannten – ‚Ostalgie‘ sein; die Vergangenheit wird verklärt: Nach außen hin werden wir tun, als ob wir schon immer Westler gewesen wären und nur ein bißchen mehr als nötig zusammenfahren, wenn ein Uniformierter kommt, um unsere Fahrkarten zu kontrollieren. Insgeheim aber werden wir beginnen, das Unerklärliche zu verklären und jede Gelegenheit nutzen, im Kreise der Dabeigewesenen die fachmännischsten Gesichter zu schneiden: „Weißt Du noch, wie wir beim Bäcker anstehn mußten? Fünf Pfennig das Brötchen! Hahahahaha.“ Schon jetzt beginnt die Erinnerung an einen verregneten Sonntag samt Dorfkonsum und immerwährender Losung: „ARBEITE MIT, PLANE MIT, REGIERE MIT“, bei mir ein Gefühl von verlorener Heimat zu erzeugen.689
Noch vor dem Ende des Staates DDR bildet sich also eine ‚Erinnerungsgemeinschaft‘, denn, so Rosenlöcher am 4. März, „[g]erade Mangelerfahrung kann Identität stiften.“690 Neben Rosenlöchers Verkauften Pflastersteinen sind im Bereich der Tagebücher mit literarischem Anspruch die Aufzeichnungen Hanns Cibulkas (*1920) zu nennen. In seinem Tagebuch einer späten Liebe (1998) thematisiert er die ‚Wende‘ selten explizit, ihre Folgen sind jedoch stets präsent: 687 688 689 690
Ebd., S. 100. Ebd., S. 96. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
293
Das Arbeitsamt hat Hochkonjunktur, die halbe Stadt scheint auf den Füßen zu sein. Am Domplatz steigen nachts die Kirchenglocken vom Turm, torkeln die Domstufen hinab in die nächste Kneipe. An manchen Tagen wird auf dem Domplatz Theater gespielt, kein Hofmannsthal, kein Jedermann, nein, kleines Welttheater, Geschichten aus dem Thüringer Landtag. Der Mut der Bürger scheint vorbei zu sein, da ist keiner mehr, der sein Zeitalter in die Schranken fordert. An der Straßenkreuzung Bahnhofstraße / Gagarinring, wo die Deutsche und die Dresdner Bank sich die Hände reichen, stellt keiner mehr eine brennende Kerze ins Fenster.691
In seinem ebenfalls tagebuchartig angelegten Text Am Brückenwehr (1994) stellt er die Frage: „Ab wann begann die Wende zu changieren?“692 Eine explizite Antwort gibt Cibulka nicht, er kritisiert in diesem Zusammenhang aber eine seines Erachtens bereits früh einsetzende Legendenbildung im Hinblick auf die historische Einmaligkeit der Situation: „‚Nur einen Wimpernschlag lang war die Vereinigung möglich‘ werde ich später einmal lesen. Will man dem deutschen Volk von neuem eine Legende mit auf den Weg geben?“693 Sein Text gerät zur Abrechnung: … nur selten war in der deutschen Geschichte das Menschenbild dem Ebenbild Gottes so nahe gewesen wie in den Tagen der Wende, doch die unscharfen Ränder nahmen zu, die ersten Verknotungen wurden sichtbar, der Augenblick war gekommen, in dem sich die Woge überschlug. Einem Land mit sechzehn Millionen wurde über Nacht die Deutsche Mark übergestülpt, schlagartig brach der gesamte Osthandel in sich zusammen, Millionen gingen in die Arbeitslosigkeit, die Menschen waren wie gelähmt. Das Maß lag nicht mehr in den Dingen selbst, viel zu spät dämmerten die Einsichten, die Auslichtungen. Geschichte ist immer auch ein Indiz dafür, was die Politiker versäumt haben. Millionen Bürger glaubten noch im Sommer 1990 an die „Wiedervereinigung des Getrennten“, an die Möglichkeit, den Weltriß zwischen West und Ost für immer zu schließen, doch die Sieger des kalten Krieges schickten die Besiegten wie eh und je ins Sperrfeuer der Abwicklung, der Verfemung. Was auf die Menschen zukam, war der Übergang in eine andere einseitige Existenz. Nach dem Beitritt gingen in den Kirchen die Lichter aus, der Weihrauch der deutschen Einheit verflog, die Straßen und Plätze in Leipzig, Dresden und Magdeburg wurden wieder leer, eine bedrückende Stille brach über die Menschen herein. Eine jahrelange Konföderation auf Zeit wäre notwendig gewesen, um das langsame Hineinwachsen zu gewährleisten, aber jeder Bürger, der in diesen Tagen für eine Konföderation eintrat, wurde wie ein vaterlandsloser Geselle behandelt. Wie oft hatte der Bundeskanzler vor der Wende noch von den Brüdern und Schwestern im
691 692 693
Hanns Cibulka: Tagebuch einer späten Liebe. Leipzig 1998, S. 80. Ders.: Am Brückenwehr. Zwischen Kindheit und Wende. Leipzig 1994, S. 37. Ebd.
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Osten gesprochen, heute erinnern wir uns, daß auch Kain und Abel Brüder waren. Wahrhaftig, wir leben in einer gnadenlosen Zeit.694
Cibulka ist einer der wenigen Intellektuellen, die auf eine „Ironie der Wende“ aufmerksam machen, denn „die Ostdeutschen haben sich einer Gesellschaft angeschlossen, die selbst einer Wende bedarf.“695 Abschließend sei auf einige Publikationen eingegangen, die keine Tagebücher im engeren Sinne sind, sondern eher Notizen, die ähnliche Funktionen erfüllen, und meist der Selbstvergewisserung dienen. Sarah Kirschs Aufzeichnungen beispielsweise haben zum größten Teil Tagebuchcharakter. Zudem ist die Perspektive der von Ost nach West gegangenen Schriftstellerin besonders interessant, da sie beide Seiten kennt. Über die ‚Wende‘ äußert Kirsch sich selten und meist knapp in Form kommentierender Einwürfe. Längere Abschnitte setzen sich indirekt mit der Thematik auseinander; so schildert die Schriftstellerin in Das simple Leben (1994) ihre Eindrücke bei der Lektüre von Reiner Kunzes Stasi-Dokumenten (vgl. 5.1.6): Gestern noch die Dokumentatione von Kunzes Stasi-Akten gelesen. Er ist an sie durch verrückte Zufälle gelangt. Die Willfährigkeit der Menschen aber zur Denunziation haut einem die Füße glatt weg. Ohne nachzudenken sagen sie nicht nur ja! sondern ja! gerne. Gottverfluchte verwurmte Seelen. Die Hausbewohner bei Kunze waren sehr eifrig. Dort wo ich wohnte auf der Fischerinsel geschah die Verteilung der Wohnungen gleich durch die Stasi da es sich um einen Neubau gehandelt hat. War ne moderne Methode. Die Idee: auf einen Hasen kommen drei Jäger. Meine Wohnung lag der von Hennigers Sekretärin gleich gegenüber und Henniger war Generalsekretär des Schriftstellerverbandes. Vielleicht gibt es meine Akten ja auch noch daß [sic] ich zu tiefer Einsicht gelange. Ibrahim Böhme jedenfalls hat über Kunze fleißig geradezu [sic] fanatisch berichtet. Und sich bis gestern als RegimeGegner verstanden. Es kann einer das Gruseln heut lernen.696
Ein Ausflug in den Ostteil Berlins lässt sie zuvor nicht gekannte Beobachtungen machen: Ostberlin ist besonders anstößig zu der Zeit. Unter den Linden wenn man da geht – aller zweihundert Meter ein zu Schrott gefahrenes Auto aufm Mittelstreifen. Man kann auch getrost darauf warten ein solches entstehen zu sehn. In knapper Zeit kam ich auf vier.697
694 695 696 697
Ebd., S. 52f. Ebd., S. 89. Sarah Kirsch: Das simple Leben. Stuttgart 1994, S. 34f. Später kann Kirsch tatsächlich in ihren eigenen Akten lesen; vgl. Ebd., S. 88-90. Ebd., S. 51.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
295
Ebenfalls aus der Perspektive der Weggegangenen schreibt Helga Lippelt (*1943 in Insterburg), die ursprünglich in Leipzig lebte. Die mit ihrem Weggang verbundenen Umstände und Reflexionen hatte sie in Good bye [sic] Leipzig (1985)698 niedergelegt. Nun erlebt sie im Westen die ‚Wende‘: In Der Geschmack der Freiheit (1991) schildert sie unter anderem die Eindrücke eines Besuchs in Leipzig, nachdem sie wieder in die DDR einreisen darf. In diesem Sinne ist das Buch ergänzend zu Good bye [sic] Leipzig zu lesen. Wie die meisten Autorinnen und Autoren thematisiert auch Lippelt zunächst den Eindruck der Unwirklichkeit der Ereignisse: Die Welt steht kopf in diesem heißen Herbst. Was gestern und die vierzig Jahre davor ehernes Gesetz war, gilt nicht mehr. Man könnte schreien vor Ungläubigkeit, da rennen sie durchs Brandenburger Tor, durch die Mauer hindurch, einfach so in den Westen, ohne Antrag, ohne Stasi, ohne Schüsse. Hat diese Bilder mein Fernseher erfunden – diesen Sony-Japanern ist das zuzutrauen – oder sind sie tatsächlich das Abbild einer Wirklichkeit? Sie demonstrieren, gehen ohne Angst auf die Straße, werden zu Helden, Tausende von Helden, die sich das trauen, was ich mir [sic] nicht traute und was die heutigen Helden sich vor einem Jahr auch nicht trauten.699
Auch sie bezieht sich auf den Ausruf „Wahnsinn!“: Jeden Tag gibt es neue Umwälzungen. Man könnte nur immer am Fernseher sitzen und Wahnsinn, Wahnsinn schreien. Jeden Tag gibt es Ereignisse, die einen zum Heulen bringen. Und ihr tut so, als wär das schon normal, als wären achtundzwanzig Jahre Mauer nicht gewesen.700
Später wagt sie eine Bilanz hinsichtlich ihrer Jahre in der DDR. Dabei kommt sie zu einem zumindest für die eigene Person deprimierenden Ergebnis: Keiner will mehr etwas davon wissen. Dreißig, vierzig Jahre fallen ins Loch der Geschichte, und doch war es unser Leben, das sich hier abspielte, unsere dreißig Jahre, unsere Jugend, die hier mit ins Loch fällt. Wir waren die Lückenbüßer, die Betrogenen, die man für dumm verkaufte, denen man die Welt vorenthielt, denen Weintrinker Wasser predigten. Oh, sie ist noch da, die Wut über die vertane Zeit, das unwiederbringlich versäumte Leben, die nicht wiedergutzumachenden Schmerzen.701
Rolf Schneiders (*1932) in zwei Büchern erschienene Tagebuchnotizen sind aus einer ähnlichen Perspektive verfasst: Nach seinem Ausschluss aus dem 698 699 700 701
Helga Lippelt: Good bye [sic] Leipzig. Roman. Düsseldorf 1985. Dies.: Der Geschmack der Freiheit. Ein Liebesfall. Halle (S.) 1991, S. 182. Ebd., S. 187. Ebd., S. 193.
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Schriftstellerverband der DDR 1979 war Schneider in den Westen gegangen und ist, wie Sarah Kirsch und Helga Lippelt, mit beiden Seiten vertraut. Der Titel des ersten Bandes, Frühling im Herbst. Notizen vom Untergang der DDR (1991), zeugt von der positiven Einstellung des Autors zu den Herbstereignissen. Eine eigenständige – entsprechend reformierte – DDR wäre ihm lieber gewesen als die Vereinigung, er wollte stets „die Korrektur des politischen Systems, nicht dessen Abschaffung.“702 Den Auftakt des die Zeit zwischen Spätsommer 1989 und Spätsommer 1990 umfassenden Bandes bildet eine makabre Geschichte aus dem Sommer 1989: Eines Mittags im Sommer gingen mehrere Schulkinder des Ost-Berliner Stadtbezirks Lichtenberg über die Straße und hielten jedes im Arm einen Totenkopf. Auf Fragen von Erwachsenen, woher ihr Mitbringsel stamme, wiesen die Kinder hin auf eine Baugrube, wo, bei Erdarbeiten für eine neue Linie der Untergrundbahn, sich unvermutet ein Massengrab aufgetan hatte. Hier waren gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Zigeuner getötet und verscharrt worden. Die DDR hatte sich in ihrer antifaschistischen Überzeugung zunächst der von Hitler verfolgten Sozialisten und Kommunisten erinnert, später der verfolgten Juden, Christen, Liberalen, der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944. Daß auch das Volk der Zigeuner hierunter zu rechnen sei, war in der DDR nirgends zu lesen. Da es sich so verhielt, sammelte man die Totenschädel wieder ein, schaufelte das Massengrab wortlos zu und fuhr mit den Bauarbeiten für die neue Untergrundbahn fort.703
Schneider ist damit einer der Ersten, die den in der DDR offiziell nicht existenten Ausländer- und Fremdenhass zur Sprache bringen und damit auch den immer wieder beschworenen Mythos vom konsequenten Antifaschismus in Frage stellen – eine später häufiger formulierte Einsicht. Seine Schilderungen der unmittelbaren Wendeereignisse lesen sich geradezu grotesk: Die Zahl der am 9. Oktober 1989 im Tageblatt Neues Deutschland abgedruckten Bildnisse von Erich Honecker betrug achtundzwanzig. Die Zahl der an diesem Tage aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland geflüchteten Menschen betrug eintausendachthundertsechsundvierzig.704
Formulierungen dieser Art sind typisch für den Autor; die dargestellten Vorgänge werden meist knapp, häufig überhaupt nicht kommentiert und erhalten bisweilen einen Charakter, der sich im Grenzbereich zum
702 703 704
Rolf Schneider: Frühling im Herbst. Notizen vom Untergang der DDR. Göttingen 1991, S. 10. Ebd., S. 27. Ebd., S. 30.
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Aphorismus bewegt. Neben vielen anderen Institutionen wird auch der Schriftstellerverband zur Zielscheibe von Schneiders Kritik: Für das Verhältnis von Geist und Macht auf deutschem Boden steht die vom Präsidium des DDR-Schriftstellerverbandes einstimmig verabschiedete Resolution, in welcher der DDR dringlich revolutionäre Reformen anempfohlen wurden genau zu jenem Augenblick, da sich diese zu ereignen begannen.705
Auch für Schneider steht fest, dass es sich bei der Vereinigung weit gehend um einen ‚Anschluss‘ handelte: Das westdeutsche System werde den Ostdeutschen im Eiltempo übergestülpt. Mit Volk ohne Trauer (1992), ebenfalls eine Mischung aus Essayband und persönlichen Aufzeichnungen, veröffentlichte er eine Fortsetzung von Frühling im Herbst – die inhaltliche Nähe wird auch hergestellt über den als Parallele formulierten Untertitel: Notizen nach dem Untergang der DDR. Im Zentrum stehen nun die Folgen der ‚Wende‘ und der rasante Umbau in den neuen Ländern. Der Titel spielt auf Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu trauern (1967) an, denn eine solche Unfähigkeit erkennt Schneider erneut nach der ‚Wende‘.706 Der Autor zeigt Kontinuitäten auf, etwa in einem Essay über die Entwicklung seiner Heimatstadt Wernigerode.707 Trotz aller Vorbehalte gilt für ihn, dass „[d]er Herbstaufstand 1989 in der DDR […] die erste wirklich geglückte Emeute dieses Umfangs in der deutschen Geschichte [wurde].“708 Den Tourismus am nun wieder frei zugänglichen Brocken beurteilt er dagegen kritisch: Dergleichen macht dann auch den Brockentourismus zu einer eher gespenstischen Veranstaltung. Daß dieser Berg zu einem förmlichen deutschen Trennungs- und Wiedervereinigungssymbol geworden ist, wie sonst nur noch das Brandenburger Tor in Berlin, läßt sich ohnehin rational nicht erklären. Tag um Tag lockt er die Menschen an, Kraxler, Benutzer von Kremsern, in unaufhörlichem Strome bewegen sie sich teils vom Torfhaus, teils von Oberschierke her und die aufgelassenen DDR-Grenzbefestigungsanlagen entlang. Die Marschsäulen vereinigen sich an der Bahnstation Goetheweg.709
Die westdeutsche Journalistin Marlies Menge (*1934) berichtete ab 1977 dreizehn Jahre lang von Ostberlin aus für Die Zeit über die DDR und 705 706 707 708 709
Ebd., S. 42. Vgl. Rolf Schneider: Volk ohne Trauer. In: R.S.: Volk ohne Trauer. Notizen nach dem Untergang der DDR. Göttingen 1992, S. 195-206. Rolf Schneider: Grenzgebiet. In: Ebd., S. 143-160. Ders.: Statt eines Vorworts. In: Ebd.; S. 7-16, S. 10. Rolf Schneider: Grenzgebiet. In: Ebd., S. 143-160, S. 154f. Der Brocken dürfte einer der symbolträchtigsten Orte der deutsch-deutschen Geschichte sein. Insofern verwundert es, dass er in nur wenigen literarischen Texten aus der Wendezeit eine Rolle spielt. Eine Ausnahme stellt Thomas Rosenlöchers „Harzreise“ Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern (Frankfurt a.M. 1991) dar (vgl. dazu 6.3.4.2).
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publizierte mehrere Bücher über den anderen deutschen Staat.710 In Menges Notizen sind vor allem die dargestellten Alltagserfahrungen interessant: Im Hausbriefkasten steckt neuerdings eine Menge Werbung, die ihn oft über Gebühr vollstopft. Da sind Angebote, wie man schnell und fast ohne Zeitaufwand sehr viel Geld verdienen kann. Wenn man genauer hinsieht oder sich bei der angegebenen Adresse meldet, ist es jedes Mal dasselbe, was gesucht wird: Vertreter, die von Tür zu Tür gehen, um irgend etwas anzubieten, und das viele Geld ist nur zu holen, wenn man sehr viele Leute davon überzeugen kann, daß sie unbedingt diese oder jene Zeitschrift abonnieren oder unbedingt den neuen Staubsauger kaufen müssen.711
Erwin Strittmatter (1912-1994) streift in seinem letzten Werk, den Fragment gebliebenen „Aufzeichnungen“ Vor der Verwandlung (1995), die ‚Wende‘ und ihre Folgen nur knapp. Er bekennt, dass er diese Ereignisse in seinem literarischen Werk absichtlich kaum beschrieben oder kommentiert habe und dies auch heute nicht tun wolle: Mein letztes Buch erschien vor fünf Jahren. Kanns nicht sein, daß jetzt, gerade jetzt, der Punkt erreicht ist, an dem man mich mit meiner Art zu erzählen zum Verstauben in die Ecke stellt? In der Zwischenzeit hat auch ein Umsturz stattgefunden, eine Wende hat man ihn genannt, man habe uns einen heiligen Wunsch erfüllt, wie es heißt, habe uns zu einem einig Volk von Brüdern gemacht, nachdem uns fremde Mächte jahrzehntelang trennten, schützten und auf unser Gutes aus waren. Nichts davon oder nur ganz wenig ist in meinem Roman zu lesen. Ich war stets mißtrauisch, wenn mir abverlangt wurde, die neuesten Regierungsverordnungen möchten, noch ehe man ihre Wirkung in der Praxis erlebt und ausgelotet hatte, positiv aus meinen Büchern herauszulesen sein. Und eben das wird, wie ich den Auslassungen beflissener Tageszeitungs-Kritiker entnehme, unter anderen Vorzeichen wieder verlangt. Aber sich nur nicht verärgern und verbittern lassen von Zuständen und Ereignissen, die noch nicht eingetreten sind. Hast du nicht die Wälder und die Wiesen und das Getier in ihnen, bist du nicht nach hier hinausgezogen, damit sie dich im Gleichgewicht halten helfen?712
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Marlies Menge: Tips für Reisen in die DDR. Von Rostock nach Klingenthal. Berlin 1974; Städte, die keiner mehr kennt. Reportagen aus der DDR. Texte von Marlies Menge und Fotos von Rudi Meisel. Mit einem Vorwort von Günter Kunert. München 1979; Dies.: Die Sachsen – Das Staatsvolk der DDR. 30 Fotos von Rudi Meisel. München / Zürich 1985; Dies.: Mecklenburg. Reisebilder aus der DDR. Köln 1989; Dies.: „Ohne uns läuft nichts mehr“. Die Revolution in der DDR. Mit einem Vorwort von Christa Wolf. Stuttgart 1990. Dies.: Zurück nach Babelsberg. Blick auf ein vereintes Land. Köln 1992, S. 24f. Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen. Hrsg. von Eva Strittmatter. Mit einem Nachwort von Eva Strittmatter. Berlin 1995, S. 42f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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Als Einschnitt erlebt er die ‚Wende‘ durchaus, wie sich an anderer Stelle bei der Reflexion über die Auflagenhöhe des dritten Teils seiner Trilogie Der Laden (1983 / 1987 / 1992) zeigt: Ich höre wieder einmal etwas vom dritten Teil des Laden-Romans, dessen Signalexemplar zwar bei uns ist, […] aber draußen ist er noch nicht bekannt, das heißt im Buchhandel. Er wurde noch nicht ausgeliefert, aber vom Verlag wurde mir mitgeteilt, daß die Buchhändler ihre September-Bestellungen vorgezogen hätten und daß sich die Möglichkeit abzeichne, die erste Auflage (zwanzigtausend Exemplare) könnte auf Anhieb verkauft werden. Ich quittierte die Nachricht mit einem leisen Dankeschön. Vielleicht hat man beim Verlag ein heftigeres Danke erwartet, aber früher, das heißt, in einer Zeit, in der fast nichts mehr etwas getaugt haben soll, fingen wir mit sechzigtausend Erstauflage an, kletterten eins, zwei, drei auf hunderttausend. Trotzdem bin ich über die Nachricht vom Verlag erfreut, aber nur ganz hinten irgendwo.713
Vermischungen aus Realität und Fiktion sind auch beim Tagebuch keine Seltenheit: 1991 erscheint mit Grenzspuren714 ein fiktives Tagebuch. Traute Gundlach, die von 1982-1990 Leiterin der Interessengemeinschaft Zirkel schreibender Arbeiter von Apolda war und seit 1983 freie Schriftstellerin ist, orientiert sich dabei lediglich an den historischen Tatsachen. Der Berichtszeitraum beginnt am 30. März 1987 – mehr als zweieinhalb Jahre vor der ‚Wende‘ – und endet mit einer Darstellung der Ereignisse vom 9. November 1989. Zentraler Schauplatz ist ein Dorf im Kreis Erfurt. 5.2.2
Autobiografien Wir hatten Parteitag, den letzten der SED […]. Jeder schrie jeden an, und aus einer Nische schrie Krenz mir zu: „Ja, du, du kannst wenigstens noch ein Buch schreiben, aber ich, was kann ich? Ich bin arbeitslos!“ – Er machte es klingen, als handle es sich um etwas Besonderes, und zu dieser Stunde war es das auch noch. „Kannst du doch genauso“, schrie ich zurück, „du brauchst ja nur über dein glorioses Jahr 89 zu berichten!“, und ich hörte mir zu wie einem, der einen bedeutenden Fehler macht. Prompt begehrte der künftige Kollege zu wissen, wie er das anstellen solle. Da sich in dem Gedränge auch andere für die Antwort interessierten, gab ich einen Rat, mit dem schon viele etwas anzufangen wußten, und verwies auf das einfachste aller Erzählordnungsmittel. „Denke dir, deine Tante
713 714
Ebd., S. 66; Hervorhebung im Original. Traute Gundlach: Grenzspuren. Tagebuch einer deutsch-deutschen Teilung. Berlin 1991.
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Veronika aus Neuseeland hat geschrieben, sie hat dich im Fernsehen erkannt und will nun wissen, wie du in diese Lage geraten bist. Da fängst du an: Liebe Tante, Silvester war noch alles gut, aber dann ging es plötzlich los …“715 (Hermann Kant: Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart, 1991)
Seit der ‚Wende‘ sind in Deutschland unzählige Autobiografien und autobiografische Texte erschienen, die ein gesamtes bisheriges Leben, ausgewählte Lebensabschnitte oder Einzelaspekte der eigenen Biografie zum zentralen Thema erheben. Offenbar war es zahlreichen Menschen ein Bedürfnis, nach der ‚Wende‘ ‚Bilanz‘ zu ziehen.716 Nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller717, Liedermacherinnen718, Schauspielerinnen und Schauspieler719, Regisseure720, Schlagersänger721, Politiker722 und deren Gattinnen bzw. Witwen723,
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723
Hermann Kant: Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart. Berlin / Weimar 1991, S. 512f. Vgl. zum Komplex der Autobiografie nach der ‚Wende‘: Manfred Jäger: Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 41 / 92 v. 2.10.1992, S. 25-36. Außer den im Folgenden näher betrachteten Texten z.B.: Lothar Kusche: Aus dem Leben eines Scheintoten. Zerstreute Erinnerungen. Berlin 1997; Joachim Seyppel: Schlesischer Bahnhof. Erinnerungen. München 1998. Barbara Thalheim: Mugge. 25 Jahre on the road. Erinnerungen. Mit einem Vorwort von Konstantin Wecker. Berlin 2000. Angelica Domröse: Ich fang mich selbst ein. Mein Leben. Aufgeschrieben von Kerstin Decker. Bergisch Gladbach 2003; Gisela May: Es wechseln die Zeiten. Erinnerungen. Leipzig 2002; Armin Mueller-Stahl: Unterwegs nach Hause. Erinnerungen. Düsseldorf 1997. Frank Beyer: Wenn der Wind sich dreht. Meine Filme, mein Leben. München 2001. Frank Schöbel: Frank und frei. Die Autobiographie. Berlin 1998. Hermann Axen: Ich war ein Diener der Partei. Autobiographische Gespräche mit Harald Neubert. Berlin 1996; Egon Bahr: Zu meiner Zeit. München 1996; Sabine Bergmann-Pohl: Abschied ohne Tränen. Rückblick auf das Jahr der Einheit. Aufgezeichnet von Dietrich von Thadden. Berlin / Frankfurt a.M. 1991; Gregor Gysi: Das war’s. Noch lange nicht! Aktualisierte Neuausgabe. München 2001; Ders.: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn. Hamburg 2001; Hans Modrow: Aufbruch und Ende. Hamburg 1991; Ders.: Ich wollte ein neues Deutschland. Mit Hans-Dieter Schütt. Berlin 1998; Ders.: Von Schwerin bis Strasbourg. Erinnerungen an ein halbes Jahrhundert Parlamentsarbeit. Berlin 2001; Günter Schabowski: Der Absturz. Berlin 1991; Wolfgang Schäuble: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte. Hrsg. und mit einem Vorwort von Dirk Koch und Klaus Wirtgen. Stuttgart 1991; Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben. Erinnerungen und Visionen. Autobiographie. Berlin 1998. Erich Honecker hatte seine Autobiografie bereits 1980 veröffentlicht: Erich Honecker: Aus meinem Leben. Oxford / Berlin (DDR) 1980 (Leaders of the World, Biographische Reihe). Lotte Ulbricht: Mein Leben. Selbstzeugnisse, Briefe und Dokumente. Mit über 200 meist unveröffentlichten Fotos. Hrsg. von Frank Schumann. Berlin 2003.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
301
Spioninnen und Spione724, Sportlerinnen und Sportler725, Wissenschaftler726 und Juristen727 legten Autobiografien und Erinnerungstexte vor, sondern auch und gerade weniger oder überhaupt nicht prominente Menschen.728 Zudem erschienen einige Autobiografien von Zeitgenossen, die in besonderer Weise mit der ‚Wende‘ und den Veränderungen in den neuen Ländern zu tun hatten: Der „Baulöwe“ Jürgen Schneider (*1934) veröffentlichte nicht nur seine Autobiografie729, sondern überdies einen Bildband, der seine sämtlichen Bauprojekte und damit über weite Strecken auch sein Engagement im Osten dokumentiert.730 Mischformen sind häufig anzutreffen. In literarischer Hinsicht sind die meisten Autobiografien nahezu unbedeutend. Sie enthalten jedoch wertvolle Informationen, die als Schlüssel zum Verständnis von DDR, ‚Wende‘ und deutscher ‚Einheit‘ unentbehrlich sind. Karl Wilhelm Schmidt
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Am prominentesten wohl Markus Wolf: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen. München 1997; Gabriele Gast: Kundschafterin des Friedens. 17 Jahre Topspionin der DDR beim BND. Frankfurt a.M. 1999. Gustav-Adolf Schur: Täve. Die Autobiographie. Gustav-Adolf Schur erzählt sein Leben. Berlin 2001; Katarina Witt: Meine Jahre zwischen Pflicht und Kür. München 1994. Spitzensportler zählten in der DDR zweifellos zu den Privilegierten. Die ‚Wende‘ bewerten sie – wohl auch deshalb – meist nicht unbedingt positiv; der Befreiungsaspekt der Grenzöffnung wird oft schlicht ignoriert. Hier zeigt sich, dass trotz der Idolwirkung und angeblichen Volksnähe der Sportler eine große Distanz zwischen ihnen und der ‚restlichen‘ Bevölkerung herrschte. Wolfgang Jacobeit: Von West nach Ost – und zurück. Autobiographisches eines Grenzgängers zwischen Tradition und Novation. Münster 2000; Fritz Klein: Drinnen und Draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen. Durchgesehene Ausgabe. Frankfurt a.M. 2001 [zuerst: Frankfurt a.M. 2000]. Darin insbes. das Kapitel „VIII Umbruch (1985-1992)“, S. 315-365; Jürgen Kuczynski: „Ein linientreuer Dissident“. Memoiren 1945-1989. Berlin / Weimar 1992; Ders.: Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus? Memoiren 1989-1994. Berlin 1994; Ders.: Ein treuer Rebell. Memoiren 1994-1997. Berlin 1998. Auskunft über die unmittelbare Wendezeit geben auch Kuczynkis Aufzeichnungen Schwierige Jahre – mit einem besseren Ende? Tagebuchblätter 1987 bis 1989. Berlin 1990 sowie seine Kurze Bilanz eines langen Lebens. Berlin 1991. Hier ein Westdeutscher: Heinrich Hannover: Die Republik vor Gericht. Für die Zeit der ‚Wende‘ ist der zweite Band relevant: 1975-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Berlin 1999. Auch hier ist die Bandbreite groß. Sie reicht von Erfahrungen in der politischen Haft in der DDR (Beate Messerschmidt: Hinter doppelten Mauern. Eine deutsche Geschichte. Frankfurt a.M. / Wien 1999) bis zu Zeugnissen ehemaliger Funktionsträger, etwa der Grenztruppen (Hans Fricke: Davor – Dabei – Danach. Ein ehemaliger Kommandeur der Grenztruppen der DDR berichtet. Köln [o.J.]) oder der NVA (Erich Hasemann: Soldat der DDR. Erinnerungen aus über dreißigjähriger Dienstzeit in den bewaffneten Organen der DDR. Berlin 1997). Jürgen Schneider: Bekenntnisse eines Baulöwen. Unter Mitarbeit von Ulf Mailänder und Josef Hrycyk. München 1999. Siehe darin v.a. die für die ‚Wende‘-Thematik aufschlussreichen Kapitel „Auf nach Leipzig“ (S. 141-153), „Berlin“ (S. 154-161) und „Mein Reich“ (S. 162-165) sowie die entsprechenden Passagen aus den „Prozess“-Kapiteln. Ders.: „Alle meine Häuser“. Moderne Denkmale in Deutschland. Bad Homburg / Leipzig 2000.
302
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
(1996) geht sogar davon aus, „daß ‚Geschichtsbewältigung‘ nach 1989 primär in Form von Autobiographien bekannter ehemaliger DDR-Autoren erfolgte.“731 Es bleibt in diesem Zusammenhang allerdings festzuhalten, dass autobiografische Texte nicht unbedingt einen größeren Wahrheitsanspruch besitzen müssen als fiktive.732 Einen eigenen Komplex bilden diejenigen autobiografischen Texte, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind, als Form der persönlichen Vergangenheitsbewältigung niedergeschrieben wurden, aber erst jetzt, unter den geänderten politischen Bedingungen, veröffentlicht werden können. Ein Beispiel hierfür ist Uwe Saegers Die Nacht danach und der Morgen (1991). Der Verfasser berichtet darin von seinem Wehrdienst bei der NVA: Am 4. Mai 1972 begann mein eineinhalbjähriger Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee der DDR. Ich wurde zu den Grenztruppen eingezogen. Nach halbjähriger Ausbildung wurde ich zu einem in Berlin-Treptow stationierten Linienregiment versetzt, das die Staatsgrenze der DDR zu Berlin-West vom Brandenburger Tor bis nach Lübars zu sichern hatte. Es war Dienst an der Mauer, Aug in Aug mit dem Klassenfeind, dem sogenannten. Dieses Jahr war ein Bruch in meinem Leben.733
Diesen „Bruch“ und die damit einhergehenden psychischen Belastungen versucht Saeger schreibend zu bewältigen. Kernstück seines Buches ist ein „Filmszenarium“ desselben Titels. Zweifellos ist die Gattung der Autobiografie in erster Linie „eine Zweckform, die nur gelegentlich auch einen literarischen Charakter haben kann“.734 Doch enthalten gerade diese Texte wichtige Inhalte über die subjektive Rezeption der ‚Wende‘. In diesem Sinne stellt Manfred Jäger (1992) fest:
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Karl Wilhelm Schmidt: Geschichtsbewältigung. Über Leben und Literatur ehemaliger DDR-Autoren in der wiedervereinten Bundesrepublik. Eine Bestandsaufnahme kulturpolitischer Debatten und fiktionaler, essayistischer sowie autobiographischer Publikationen seit der Vereinigung. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Pluralismus und Postmodernismus. Zur Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland 1980-1995. Vierte, gegenüber der dritten erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1996 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 25); S. 353-395, S. 354. Vgl. Leslie A. Adelson: Ränderberichtigung: Ruth Klüger und Botho Strauß. In: Claudia Mayer-Iswandy (Hg.): Zwischen Traum und Trauma – Die Nation. Transatlantische Perspektiven zur Geschichte eines Problems. Tübingen 1994 (Stauffenburg Colloquium, Band 32); S. 85-97, S. 94. Uwe Saeger: Die Nacht danach und der Morgen. München / Zürich 1991, S. 5. Gerhard Sauder: Suchbilder. Literarische Autobiographien der neunziger Jahre. In: Peter Winterhoff-Spurk / Konrad Hilpert (Hgg.): Die Lust am öffentlichen Bekenntnis. Persönliche Probleme in den Medien. St. Ingbert 1999 (Annales Universitatis Saraviensis, Philosophische Fakultät, Band 11); S. 103-128, S. 104.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
303
Vor allem in Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs empfinden viele das Bedürfnis, über sich selbst und über die unvorhergesehene neue Lage Klarheit zu gewinnen. Das läßt sich gegenwärtig im Bereich der einstigen DDR gut beobachten. Es ist die Zeit der Rechtfertigungen und Anklagen, der Absagen und Selbstvergewisserungen, der Treuebekundungen und der Umorientierungen.735
Auch und gerade in autobiografischen Texten von Politikerinnen und Politikern ist dies der Fall. Interessant ist dabei naturgemäß weniger die literarische Qualität – die wenigsten Politiker dürften auch einen solchen Anspruch erheben – als die Anlage zahlreicher Werke als Rechtfertigung früheren Verhaltens. So bekennt Günter Schabowski in Der Absturz (1991): Ich will keinen Abstrich davon erfeilschen, daß ich zu lange und exponiert eine falsche Politik vertreten habe. Die Marxschen Ideen der Gesellschaftsentwicklung und Veränderung wurden zu Mittelmaß und Dogma verballhornt. Nicht zu entschuldigen ist, daß wir Unrecht an Menschen begingen, um recht zu behalten. […] Kurzum, ich will mich dem Schuldkonto dieser Politik stellen, weil es das Nützliche ist, das mir bleibt. Sei es nur, um eine glaubwürdige Warnung abzugeben. Wir haben zu lange gebraucht, um uns elementare Fehler einzugestehen. Der Politik, deren Fragwürdigkeit heute so vielen sonnenklar ist, habe ich irrend, wenn auch subjektiv ehrlich, meine Arbeit gegeben.736
Für Schabowski ist die Autobiografie zugleich ein wesentliches Medium der Selbstvergewisserung, nicht zuletzt im Hinblick auf die wenigen in seinem Leben noch verbliebenen Konstanten. So heißt es zu Beginn: Als ich diese Niederschrift begann, war ich 61 Jahre alt. Meine Körperlänge beträgt 184 Zentimeter. Mein Gewicht schwankt zwischen 86 und 88 Kilogramm. Nach Meinung des Arztes ist meine Gesundheit nicht die allerbeste. Ungeachtet medizinischer Unkenrufe wähne ich mich in guter Verfassung. Ein Diplom der KarlMarx-Universität Leipzig aus dem Jahre 1962 bescheinigt mir, daß ich Fertigkeiten erworben habe, die mich zu journalistischer Arbeit befähigen. Zur Zeit gehe ich keiner geregelten Tätigkeit nach. […] Für die Rente bin ich noch nicht alt genug. Dazu müßte ich in unserem Land 65 sein. Doch ich bin wohl nicht mehr jung genug, um mich mit Aussicht auf Erfolg an das Abenteuer einer neuen Profession zu wagen. Die Chancen sind für mich in der DDR ohnehin gleich Null; denn ich war ein roter Bonze.737
Häufig wird die Motivation zum Schreiben von Autobiografien eingangs knapp dargestellt. Alexander Schalck-Golodkowski (*1932), der von 1966 735
736 737
Manfred Jäger: Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 41 / 92 v. 2.10.1992; S. 25-36, S. 25. Günter Schabowski: Der Absturz. Berlin 1991, S. 102f. Ebd., S. 12.
304
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
bis 1989 Leiter des beinahe sagenumwobenen Bereichs „Kommerzielle Koordinierung“, kurz „KoKo“, war, in dem Devisen erwirtschaftet wurden, erklärt zu Beginn seiner Deutsch-deutschen Erinnerungen (2000): Ich habe mich dazu entschieden, dieses Buch zu schreiben, um in der Öffentlichkeit meine Sicht der Dinge darzustellen. Mein Lebensweg war in vielerlei Hinsicht typisch für den Werdegang eines Funktionärs in der DDR. Jedoch gelangte ich im Laufe meiner Karriere in eine eigenartige, ja einzigartige Stellung im Staats- und Parteiapparat. Einerseits stand ich ganz hoch oben in der Machthierarchie. Andererseits waren meine Funktionen mit großen Einflussmöglichkeiten und hoher Verantwortung, doch nicht mit politischer Entscheidungsmacht verknüpft.738
Für viele Beiträge von Politikerinnen und Politikern aus der DDR dürfte gelten, was die Lungenfachärztin und letzte Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl, im Hinblick auf ihr Buch Abschied ohne Tränen (1991)739 formuliert: Es war eine große Zeit. Sie ließ uns persönlich überhaupt keine Möglichkeit eines vertieften Nachdenkens und schon gar nicht der Muße. Erst Monate nach dem 3. Oktober 1990 begann sich die Spannung zu lösen. Dann habe auch ich Zeit gefunden, den Lauf der Dinge zu überschauen und gedanklich zu ordnen. Mit „Abschied ohne Tränen“ wollte ich einige wesentliche Ereignisse und Erlebnisse dieses Jahres 1990, insbesondere das parlamentarische Leben betreffend, aus persönlicher Sicht darstellen und so den offiziellen Dokumenten und Materialien etwas Anschaulichkeit geben. Das Buch ist aus der Erinnerung geschrieben. Natürlich konnte nicht alles, was in der Volkskammer und im Bereich des Amtierenden Staatsoberhauptes tatsächlich geschehen ist, aufgenommen werden. Es sollte aber ein unmittelbarer, sehr persönlicher Beitrag sein, der helfen kann, manche unserer Gedanken und Handlungen besser zu verstehen. Die Historiker werden es sicher dankbar vermerken.740
Es ist hier nicht der Ort, detailliert auf die Geschichte der Gattung ‚Autobiografie‘ einzugehen, mit der spätestens seit Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811-1814 / 1833) ein auch einem breiteren Publikum bekannt gewordenes Modell vorliegt. Für die Thematik interessanter
738
739 740
Alexander Schalck-Golodkowski: Einleitung zu: A.S.-G.: Deutsch-deutsche Erinnerungen. Reinbek 2000; S. 7-14, S. 7; ergänzend vgl. die Dokumentation von Wolfgang Seiffert und Norbert Treutwein: Die Schalck-Papiere. DDR-Mafia zwischen Ost und West. Die Beweise. Rastatt / München / Wien 1991. Sabine Bergmann-Pohl: Abschied ohne Tränen. Rückblick auf das Jahr der Einheit. Aufgezeichnet von Dietrich von Thadden. Berlin / Frankfurt a.M. 1991. Dr. med. Sabine Bergmann-Pohl an Frank Thomas Grub; Brief v. 22.3.2001, S. 2.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
305
dürfte es sein, einen Blick auf Günter de Bruyns Essay Das erzählte Ich (1995)741 zu werfen. Darin greift der Autor unter anderem die seines Erachtens wesentlichen Schwierigkeiten und Probleme beim Schreiben von Autobiografien auf. Die Gattung begreift de Bruyn als „Kunstform“742, bei der sich zunächst das Problem der Auswahl stellt: Aus den Lebenstatsachen absichtsvoll eine Auswahl zu treffen, weil man Teile nicht wahrhaben will, für unwichtig hält oder dem Zweck nicht gemäß erachtet, kann also auch Verschweigen oder Irreführen bedeuten, so daß man den Schluß daraus ziehen könnte, daß bei jeder Auswahl Vorsicht geboten ist. Damit aber zieht man den Wahrheitsgehalt jeder Autobiographie in Zweifel. Denn da das Wissen über das eigne Leben so groß ist, daß Tausende von Seiten damit gefüllt werden könnten, kommt kein autobiographischer Schreiber ohne das Auswählen aus. Er muß, will er sein Leben erzählen, die großen und kleinen Teilchen desselben sondern und wägen, Wichtiges von Unwichtigem trennen, einen Aussonderungsprozeß also vollziehen.743
Für de Bruyn existieren vor allem zwei ‚Motivationsstränge‘: Der erste und dickste der Stränge ist der der Selbstauseinandersetzung, der Selbsterforschung und Selbsterklärung, auch der der Rechenschaftslegung vor einer nur mir bekannten Instanz. Es ist der Versuch, mich über mich selbst aufzuklären, Grundlinien meines Lebens zu finden, mir auf die Frage zu antworten, wer eigentlich ich sei.744
Demgegenüber steht der zweite Motivationsstrang. Dieser ist weniger selbstisch. Er betrifft die Geschichte, und zwar nicht nur die eigne; es ist der Chronist im Schreiber, der sich hier regt. Hier gilt es, das Ich in die historischen Geschehnisse einzuordnen, es aus ihnen erklären, durch sie vielleicht auch bewerten zu können. Das Ich und die Zeitläufte müssen aufeinander bezogen werden, in der Hoffnung, daß beide dadurch Konturen gewinnen und daß aus dem Einzelfall so etwas wie eine Geschichtsschreibung von unten entsteht.745
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742 743 744 745
Günter de Bruyn: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Frankfurt a.M. 1995 (Fischer Bibliothek). Grundlage des Essays sind Vorlesungen, die de Bruyn im Dezember 1993 auf Einladung des Kunstvereins Wien an der Universität Wien hielt. Der Text entstand also zwischen den beiden Teilen seiner Autobiografie Zwischenbilanz (1992) und Vierzig Jahre (1996). Ebd., S. 60. Ebd., S. 12f. Ebd., S. 18f. Ebd., S. 19f.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
De Bruyn betont, dass die Autobiografie „nur teilweise“ zur „Literatur im engeren Sinne“ gehört: Ihre großen Werke wurden nicht nur von Literaten geschrieben […]. Sie erzählt literarisch, aber das Fiktive der Literatur fehlt ihr – oder fehlt ihr angeblich. Sie überschreitet Grenzen, vor allem die zur Geschichtsschreibung, manchmal auch zur Reisebeschreibung oder zu anderen Wissenschaften, zur Theologie zum Beispiel […]. Aber auch ihre innerliterarischen Grenzen sind fließend, sei es, weil der autobiographische Roman es mit dem Romanhaften nicht so genau nimmt, oder weil die Autobiographie auch Fiktives nicht scheut.746
So etwas wie eine ‚objektive Wahrheit‘ kann es nach de Bruyns Auffassung nicht geben, denn „[d]as Schwierige an der Wahrheit ist, daß es viele gibt, weil jeder die seine hat. Jede Selbstdarstellung ist zeitbezogen und voreingenommen.“747 Im Hinblick auf Autobiografien, die sich auf ein zumindest teilweise in der DDR geführtes Leben beziehen, stellt der Schriftsteller fest: Da aber in Diktaturen fast alle Begegnungen mit Menschen auch politische Dimensionen haben, wird die Abwägung in Zweifelsfällen nicht einfach sein. Zwangsläufig wird das Politische dominieren, und die DDR wird auch dann sichtbar werden, wenn es um Freundschaft, Liebe, Beruf oder Lektüre geht. In dieser Hinsicht aber macht sich der Mangel an Distanz besonders deutlich bemerkbar. Noch sind die Erlebnisse zu nah, um die wesentlichen von den unwesentlichen trennen zu können. Die politischen Zustände von gestern sind noch nicht zur Historie geworden; die Flut der Geschehnisse hat sich noch nicht zur Geschichte geklärt und geformt. Man kennt Daten und Fakten, ist sich aber über die Höhe- und Wendepunkte nicht einig. Man weiß, wann die DDR endete, aber nicht wann und wie das Ende begann.748
Nicht zuletzt durch den fehlenden historischen Abstand sind die Grenzen zur bloßen Rechtfertigungsliteratur mitunter fließend; zahlreiche Texte dürften deshalb eher als ‚Momentaufnahmen‘ zu begreifen sein. Für den Schreibenden stellt das Festhalten gelebten Lebens eine wichtige Funktion im Hinblick auf einen Selbstfindungsprozess dar. So schreibt Hans Fricke (*1931), ein ehemaliger Kommandeur der DDR-Grenztruppen, im Vorwort zu seiner 1992 erschienenen Autobiografie Davor – Dabei – Danach: Ich dachte zum ersten Mal daran, für unsere Enkel aufzuschreiben, wie mein Leben bisher verlaufen ist, als ich achtundfünfzig Jahre alt war. Und bei mir gab es 746 747 748
Ebd., S. 21. Ebd., S. 33. Ebd., S. 58f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
307
einen aktuellen Anlaß, nämlich die gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR im Herbst 1989. Ich wollte unseren Enkeln erzählen, wie ich in den vergangenen sechs Jahrzehnten gelebt, was ich erlebt, gewollt und erhofft habe. […] Ich hatte aber auch selbst das Bedürfnis, mich an Vergangenes zu erinnern. Dabei wollte ich versuchen, die Fragen zu beantworten: Hast du richtig gelebt? Bist du einverstanden damit, wie du gelebt hast? Wie würdest du dich heute in dieser oder jener Situation verhalten? Schwierige Fragen.749
Häufig sind mit autobiografischen Texten auch Versuche der Verständigung bzw. Vermittlung zwischen Ost und West verbunden. So schreibt die ehemalige Lehrerin Gisela Weber 1997 im Vorwort zu ihrer Rückschau auf die DDR mit Schwerpunkt Schule: Die Leser östlich der Elbe werden sich hier und da in diesen Geschichten wiederfinden, werden dieses oder jenes Problem vielleicht ähnlich erlebt haben und, sich erinnernd, mit einem weinenden und einem lachenden Auge zurückblicken. Meine Erzählungen sind aber auch für die Leser westlich der Elbe geschrieben. Viele von ihnen haben die Geschehnisse und das ganz alltägliche Leben in dem anderen deutschen Staat nur von weitem – meist beeinflußt von den Medien – betrachtet. Ihnen möchte ich hiermit Gelegenheit geben, uns „Ossis“ besser zu verstehen. Ich knüpfe damit den Wunsch an, daß wir Deutsche uns näher kommen und unserer Vergangenheit gegenüber mehr Toleranz zeigen.750
Im Folgenden werden die Autobiografien einiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller etwas genauer betrachtet. Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Darstellung des gesamten (bisherigen) Lebens, sondern in erster Linie um die der ‚Wende‘ und / oder Vereinigung in den entsprechenden Texten. Hervorzuheben sind: Und außerdem war es mein Leben. Aufzeichnungen einer Schriftstellerin (1994) von Elfriede Brüning (*1910), Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992) und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996) von Günter de Bruyn (*1926), Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart (1991) von Hermann Kant (*1925), Erwachsenenspiele (1997) von Günter Kunert (*1929), Mauerblume (1999) von Rita Kuczynski (*1944) sowie Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992 / 1994) von Heiner Müller (1929-1995). Mit Ausnahme von Elfriede Brüning und Rita Kuczynski gehören die genannten Autoren derselben Generation an, werfen aber höchst unterschiedliche Blicke auf ihr Leben, die DDR 749 750
Hans Fricke: Zuvor. In: H.F.: Davor – Dabei – Danach. Ein ehemaliger Kommandeur der Grenztruppen der DDR berichtet. Köln [o.J.]; S. 8-11, S. 8. Gisela Weber: Vorwort. In: G.W.: Von normal bis verrückt. Rückschau einer DDR-Lehrerin mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Schkeuditz 1997; S. 7f., S. 8.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
und die ‚Wende‘. Meist nimmt letztere nicht viel Raum in den Texten ein – wohl in erster Linie aus Gründen der Proportionalität. Günter Kunerts Erinnerungen Erwachsensenspiele751 enden bereits 1979 mit der Darstellung seines Weggangs aus der DDR. Das Buch erhält seine Relevanz für die Thematik in erster Linie aus der Darstellung der Verhältnisse in der DDR aus der Nachwende-Perspektive. Zudem bezieht Kunert sich immer wieder auf seine Stasi-Akten, die sein Erinnern und die Auswahl des Dargestellten mitbestimmten. 5.2.2.1
Elfriede Brüning: Und außerdem war es mein Leben (1994)
Am Anfang der meisten Autobiografien stehen kurze Erläuterungen, in denen die Motivation, Memoiren zu schreiben, dargelegt wird; zudem wird häufig das Verhältnis von ‚Dichtung‘ und ‚Wahrheit‘ thematisiert. Elfriede Brüning äußert dazu in Und außerdem war es mein Leben: Ich will alles so aufschreiben, wie es in meiner Erinnerung lebt. Vielleicht hat sich nicht jede Begebenheit so abgespielt, wie ich sie in diesem Buch schildern werde. Ich bin Romanautorin, und oft geht meine Phantasie mit mir durch. Aber ich werde mich bemühen, nahe an der Wahrheit zu bleiben. Ich habe vier Staatsformen durchlebt: Als Kind noch das Kaiserreich, als Halbwüchsige die Weimarer Republik, als Erwachsene den Faschismus und danach den versuchten Sozialismus in der DDR. In meiner Jugend träumte ich vom Sozialismus, dessen weltweiten Zusammenbruch ich jetzt im Alter erlebe; und ich finde mich wieder in den Kapitalismus zurückgeworfen. Habe ich meine Träume für immer ausgeträumt?752
Wie viele Kolleginnen und Kollegen blickt auch Brüning selbstkritisch zurück und setzt sich mit der viel diskutierten Frage nach den Privilegien von Schriftstellern auseinander: Waren wir privilegiert? Ja, ich denke in dem Sinne, daß wir, im Gegensatz zu unseren westdeutschen KollegInnen, von den Erträgen unserer Arbeit leben konnten. Unsere Bücher erschienen in relativ hohen Auflagen und wurden immer wieder aufgelegt, obwohl man um jede Auflage kämpfen mußte, denn die Anzahl der gefragten Titel wurde immer größer. Man hatte als Autorin in der DDR das sichere Gefühl, wirklich gebraucht zu werden. Viele LeserInnen holten sich bei ihren SchriftstellerInnen Lebenshilfen. In den Diskussionen, die sich nach Lesungen ergaben, ging es oft gar nicht mehr um die Literatur, sondern um Fragen, die die ZuhörerInnen unmittelbar bedrängten und auf die sie eine Antwort von uns erhofften. – Und wir durften ins Ausland fahren. Ja, das war tatsächlich ein Privileg, das wir, ebenso
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Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen. München / Wien 1997. Elfriede Brüning: Zur Einstimmung. In: E.B.: Und außerdem war es mein Leben. Aufzeichnungen einer Schriftstellerin. Berlin 1994; S. 7f., S. 7.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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wie die WissenschaftlerInnen, die zu internationalen Tagungen reisten, genossen und das uns sicherlich von Teilen der Bevölkerung geneidet wurde.753
Der von Beginn an präsente melancholische Grundton setzt sich fort; den formaljuristischen Vollzug der deutschen Einheit erlebt Brüning mit gemischten Gefühlen in ihrem Wochenendhaus bei Bad Saarow. Die resignative Schilderung des letzten Abends der DDR beschließt zugleich das Buch: Wir Älteren ziehen uns zurück, obwohl noch lange nicht Mitternacht ist. Bevor wir in unseren Bungalow gehen, treten wir noch einmal auf den Bootssteg hinaus und blicken auf den See, auf dessen leicht bewegter Oberfläche ein paar Sterne tanzen. Aber es ist kühl, wir frösteln, und wir gehen hinein, um uns schlafen zu legen. Als wir am nächsten Morgen erwachen, ist nichts mehr so, wie es vorher war. Wir gleichen Waisen, die ihre Eltern durch Unfall verloren haben. Und die großspurige Bundesrepublik hat uns zwangsadoptiert. ENDE754
5.2.2.2 Günter de Bruyn: Zwischenbilanz (1992) – Vierzig Jahre (1996) Günter de Bruyn beschäftigt sich nicht nur in dem bereits oben angesprochenen Essay Das erzählte Ich mit Fragen des Erinnerns und Bilanzierens im Hinblick auf die eigene Person, sondern auch in einem „Brief an alle, die es angeht“ (Untertitel), der unter der Überschrift Zur Erinnerung zuerst in der Zeitschrift Sinn und Form erschien. Gleich zu Beginn trägt der Autor sein Anliegen vor: Dieser Brief, sehr geehrte Herren, möchte Sie dazu bringen, die Arbeit des Umwälzens, mit der Sie beschäftigt sind, für einige Minuten ruhen zu lassen und den stetig nach vorn, in die Zukunft, gerichteten Blick kurz zurück oder nach innen zu wenden – sich also zu erinnern, bevor das Vergessen beginnt.755
Dieser Anspruch ist für ihn auch beim Verfassen seiner Autobiografie leitend gewesen. Der vorläufige Bilanzcharakter des ersten Teils drückt sich bereits im Titel aus: Zwischenbilanz. Der Band entstand weit gehend
753 754
755
Dies.: Freundinnen. In: Ebd.; S. 311-325, S. 325. Dies.: Verlust der Illusionen. In: Ebd.; S. 327-345, S. 345; Hervorhebung im Original. Eine Fortsetzung der Aufzeichungen stellen Brünings „Nachwende-Notizen“ Jeder lebt für sich allein dar. Verbittert registriert die Schriftstellerin darin etwa die Lethargie ihrer Landsleute nach der Vereinigung (vgl. insbes.: Sehnsucht nach Utopia. In: E.B.: Jeder lebt für sich allein. Nachwende-Notizen. Berlin 1999 (edition reiher), S. 152-155). Günter de Bruyn: Zur Erinnerung. Brief an alle, die es angeht. In: Sinn und Form 42 (1990) 3; S. 453-458, S. 453.
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noch zu DDR-Zeiten: „Aus dem Schlußkapitel geht hervor, daß ich das Buch fertiggestellt habe, als die DDR gerade zu Ende gegangen ist.“756 Insofern ist der erste Teil für die vorliegende Darstellung weniger interessant. Wesentlich ist aber die darin umrissene Motivation de Bruyns, überhaupt eine Autobiografie zu schreiben. Zu dieser Frage äußert er sich zu Beginn des Textes: Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben herumgeschrieben habe, versuche ich jetzt, es direkt darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen. Er verspricht, was er sagt, ehrlich zu sagen; alles zu sagen, verspricht er nicht.757
Im Zentrum des ersten Teils stehen de Bruyns Kindheit in der untergehenden Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und die bitteren Kriegserfahrungen des Autors. Das Buch endet 1950, in der Frühzeit der DDR also. Der zweite Band schließt am 10. November 1989 mit dem Kapitel „Martinstag“ und umfasst die Jahre der DDR. Der Fall der Mauer „erzeugte“ in de Bruyn ein Konglomerat von Gefühlen, in dem allerdings der Jubel vorherrschend war. Zwar ließ ich keine Sektkorken knallen und umarmte auch keine fremden Straßenpassanten, aber ich sah an den gerade geöffneten Grenzübergängen doch mit Freuden zu, wie andere das taten, und auch in mir ertönten Siegesfanfaren, doch wurden sie leise von dunkleren Melodien untermalt. So wie im Glück oft Tränen geweint werden müssen, kam die unerwartete Freude mit einer Trauer zusammen, die ich mir erst mit dem Gedanken erklären wollte: Es ist zu spät für dich, nun bist du zu alt.758
Zu dieser Erklärung tritt hier ein Aspekt kritischer Selbstreflexion, denn
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[Interview mit Helmut L. Müller]: Eine Zwischenbilanz. Günter de Bruyn äußert sich im Gespräch mit dem außenpolitischen Redakteur der Salzburger Nachrichten, Helmut L. Müller, zur Seelenlage der DDR-Autoren. In: Die politische Meinung 37 (1992) 276; S. 70-72, S. 70. Günter de Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt a.M. 1992, S. 7; bei der Bezeichnung „berufsmäßiger Lügner“ handelt es sich um eine Anspielung auf Nietzsche (vgl. Paul Gerhard Klussmann: Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung / Kurt-Schumacher-Akademie (Hgg.): Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen. Bad Münstereifel 1993; S. 188-205, S. 199). Ders.: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt a.M. 1996, S. 255.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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[w]as sich da störend unter dem Jubel regte, nährte sich auch aus Selbstvorwürfen, mangelnde Aktivität im Befreiungsprozeß betreffend, aus der Sorge, daß mit der Freiheit auch Dummheit und Bosheit freigesetzt würden, und aus einer Art Abschiedsschmerz. Dieser galt nicht etwa dem Staat, der uns eingesperrt und gedemütigt hatte, sondern einem Kreis von Freunden, der sich unter dem Druck von Bedrohung und Einschränkung gebildet hatte und nun zerfiel. Er war einer jener Gemeinschaften, die im Westen den Eindruck von einem menschlicheren und gemütvolleren Zusammenleben im Osten erweckt hatten. Falsch war der Eindruck nicht, aber kurzsichtig. Denn es handelte sich um Notgemeinschaften, die mit dem Ende der Not ihr Ende finden.759
Unter dem Eindruck des Mauerfalls äußert der Autor, der „nicht an die Möglichkeit einer baldigen Wiedervereinigung, wohl aber an die Beständigkeit einer nationalen Kultur“760 geglaubt hatte: Zum zweiten Mal in meinem Leben genoß ich das Glück, den Zusammenbruch einer Macht erleben zu können, die sich selbst weisgemacht hatte, auf Dauer gegründet zu sein. […] Und wenn auch der Zauber des Neubeginns nicht so mächtig war wie mit neunzehn Jahren, so war doch die Neugierde auf das Kommende und auf die Enthüllungen des Vergangenen nicht weniger groß.761
Vierzig Jahre endet mit einer Darstellung des Treibens am Grenzübergang Oberbaumbrücke. Gerade hier wird auch der chronistische Anspruch des Schriftstellers deutlich; sehr genau beobachtet er die Szenerie: Vor den Grenzbaracken konnte man Bockwürste kaufen. In den winkligen Gängen, wo man früher, vor Aufregung schwitzend, Gepäckkontrollen und Leibesvisitationen hatte erdulden müssen, wurde niemand mehr aufgehalten. Die Schalter waren geschlossen worden, die Grenzwächter dahinter aber noch immer vorhanden. Mit Türmen von Bierdosen hatten sie ein Plakat befestigt: Betriebsfeier, bitte nicht stören! war in großen Buchstaben darauf gemalt.762
Seine persönliche Bilanz zieht de Bruyn bereits zu Beginn des Bandes: Insgesamt bliebe für ihn nur ein geringes Klagebedürfnis; es könnte die Lebenszwischenbilanz als zufriedenstellend bezeichnet werden; und da die politische Macht, die dauernd in mein Leben hineinregierte, nach Ablauf der vierzig Jahre das Zeitliche segnete, wäre, könnte man alles so sehen, auch ein Happy-End garantiert.763
759 760 761 762 763
Ebd. Ebd., S. 256. Ebd, S. 260f. Ebd., S. 265. Ebd., S. 8.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Nach der ‚Wende‘ erfuhr Günter de Bruyn eine deutliche Aufwertung insbesondere in Westdeutschland, aber auch im Osten der Republik.764 Seine Rolle als ‚gesamtdeutsche Konsensfigur‘ (Dennis Tate) ist von zahlreichen Literaturwissenschaftlern und Kritikern immer wieder hervorgehoben worden. Es gibt allerdings auch Gegenstimmen, die in diesem Zusammenhang fragen, ob de Bruyn nicht etwa „beneficiary of a concerted media campaign“ geworden sei.765 Diese Auffassung ist im Sinne eines von de Bruyn mitbetriebenen Vorgangs sicher zurückzuweisen. Dass er sich für die Rolle einer ‚Konsensfigur‘ durchaus eignet, mag richtig sein, führt im Übrigen jedoch kaum zu weiteren Erkenntnissen. 5.2.2.3
Hermann Kant: Abspann (1991)
Hermann Kants Autobiografie wurde – ähnlich wie der erste Band von de Bruyns Erinnerungen – gewissermaßen von der ‚Wende‘ ‚eingeholt‘: Die Einleitung wurde am 6. Februar 1989 geschrieben, der Band 1991 zum Teil neu bearbeitet und ergänzt.766 Kant hat auf Grund seines Lebenswegs eine grundsätzlich andere Sicht auf die Verhältnisse als etwa de Bruyn oder Kunert. Der Text ist von eher pessimistischem Ton gekennzeichnet, immer wieder wird eine Atmosphäre des Verlusts heraufbeschworen. Diese Haltung zeigt sich bereits an der Wahl des Titels: Ein ‚Abspann‘ steht am Ende eines Films, zudem bezeichnet das Verb ‚abspannen‘ das Abschirren der Pferde nach getaner Arbeit. Der Untertitel heißt nicht etwa „Erinnerungen“, sondern ironisch „Erinnerung an meine Gegenwart“. Der Haupttext beginnt mit einer Anekdote: Kants Mutter habe über ihn im Fernsehen gesagt, er sei „ihr regierbarstes Kind gewesen.“767 Um die eigene ‚Regierbarkeit‘ geht es immer wieder im Text – zahlreiche Ereignisse, Entscheidungen und Handlungen seines Lebens erklärt Kant aus seiner politischen Überzeugung heraus: Weil ich für eine Arbeiter-und-Bauern-Republik war, muß ich dem Problem, wofür ich hätte streiten sollen, kaum nachhängen. Die Frage ist nur: wie streiten, gegen
764
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766 767
Vgl. dazu auch Michael Braun: Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Günter de Bruyns literarische Auseinandersetzung mit der Diktatur. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997, S. 391-403; zur Frage der „Aufwertung“ vgl. insbes. S. 391. Dennis Tate: Günter de Bruyn: The ‚gesamtdeutsche Konsensfigur‘ of post-unification literature? In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 201-213, S. 201. Zwischenbilanz war ein ausgesprochen erfolgreicher Titel: Zwischen dem Erscheinen des Bandes 1992 und September 1996 wurden allein 220 000 Exemplare verkauft (vgl. Ebd., S. 207). Vgl. Jan Bekasin´ski: Kommt eine neue DDR-Literatur? (Neue Bücher der ehemaligen DDRSchriftsteller). In: Colloquia Germanica Stetinensia 148 (1995) 4; S. 65-80, S. 67. Hermann Kant: Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart. Berlin / Weimar 1991, S. 5.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
313
wen, an wessen Seite, mit welchen Mitteln, bis zu welchem Risiko, mit welcher Regierbarkeit und mit welcher Konsequenz? Ich habe vieles unterlassen, weil ich fürchtete, es werde der anderen Seite dienen – wozu also, fragt sich heute, habe ich es unterlassen? Ich übte Disziplin, weil ich weder Anarchie noch Gelddiktat wollte, und womit habe ich es nunmehr zu tun?768
Im Mittelpunkt des Buches stehen die Schilderung der Kindheit und Jugend des Autors in Hamburg und Parchim, die Zeit des Zweiten Weltkriegs und sein Aufenthalt in einem polnischen Kriegsgefangenenlager, seine Ausbildung an der Greifswalder Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) und seine Rolle innerhalb des Literaturbetriebs der DDR, insbesondere als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes. Immer wieder rechtfertigt sich der Autor, wohlweislich mit besonderem Nachdruck auf die eigene Wahrnehmung verweisend: Ich berichte nicht von einem Leben, das ich hätte führen sollen, führen müssen, sondern von dem einen, das ich führte. Alles soll nach Möglichkeit nur so auf dieses Papier, wie ich es wahrgenommen habe. Gedächtnistäuschung, Ideologie und Erzählerübermut werden ohnehin das Ihre tun. Doch halte ich für gesichert, daß manches Ereignis einfach nicht den Eindruck bei mir hinterließ, den es bei richtiger, gar historisch richtiger Betrachtungsweise hätte machen müssen. Das ist eben etwas, was man meistens erst später haben kann.769
Kants Buch ist nicht zuletzt als Schlüssel zu seinem literarischen Werk zu lesen: Die zentralen Ereignisse in seinem Lebens stellen zugleich die zentralen Themen seiner Bücher dar; zu nennen sind hier insbesondere die Romane Die Aula (1965)770 über die Zeit an der ABF sowie Der Aufenthalt (1977)771 und Okarina (2002)772 über die Zeit in Polen. In diesem Sinne ließe sich anhand von Abspann nachweisen, dass Kants Schreiben möglicherweise stärker autobiografisch motiviert ist als bisher angenommen. Abspann gehört zu den am schärfsten kritisierten Büchern der unmittelbaren Nachwendezeit. Eine der wesentlichen Rezensionen stammt von Günter de Bruyn, der zunächst die Authentizität der Darstellung von Kants Kindheit und Jugend lobt, allerdings kritisiert, dass dem Autor die Fähigkeit zur Selbstkritik völlig abgehe, insbesondere im Hinblick auf die Darstellung der Zeit als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der
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Ebd., S. 531. Ebd., S. 129. Hermann Kant: Die Aula. Roman. Berlin (DDR) 1965. Ders.: Der Aufenthalt. Roman. Berlin (DDR) 1977. Ders.: Okarina. Roman. Berlin 2002.
314
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
DDR (1978-1990). De Bruyn sieht in Kants Buch eher eines der „schnell verfertigte[n] Rechtfertigungsbücher“773. Paul Gerhard Klussmann (1992) formuliert seine Kritik wesentlich schärfer: „Überall – auf Schritt und Tritt – verrät die Sprache den Lügner Kant.“774 Die Sprache ist für ihn denn auch zentraler Angriffspunkt: Es sei an dieser Stelle nur auf das gescheite und raffinierte Spiel von Hermann Kant hingewiesen, der in seiner so rasch geschriebenen Autobiographie Abspann die harte Wirklichkeit der DDR ganz einfach dadurch zum Verschwinden bringt, daß er alle Funktionsbezeichnungen der Machtorgane und Funktionäre und Institutionen poetisierend, goethisierend und verallgemeinernd verändert. So tritt an die Stelle von Staatsrat, Staatsratsvorsitzendem, Politbüro oder ZK das einfache und schöne deutsche Wort Obrigkeit, nur durch das Possessivpronomen ein wenig präzisiert und auf den Autor bezogen, vielleicht auch verharmlosend intimisiert: also meine Obrigkeit.775
Klussmann fasst zusammen: Kant schreibt als routinierter Erzähler, der auch über moderne Erzähltechniken verfügt, ein zugleich unterhaltsames und ärgerliches Buch, eine Autobiographie mit zu vielen Gedächtnislücken, mit einer auffälligen sprachlichen Verharmlosungstendenz, mit unpräzisen politischen Aussagen ohne jede gedankliche oder zeithistorische Tiefe. Das Ich erweist sich als idealtypisches Untertanensubjekt.776
Monika Maron erklärte noch vor Erscheinen des Bandes 1991 – „in bekennender Ignoranz des Werkes“777 – gleich alle Äußerungen Kants zur Lüge: „Ich vermute, selbst wenn Kant wollte, könnte er die Wahrheit nicht mehr von der Lüge trennen, in die er Jahrzehnte verstrickt war, die seine Lebenslüge ist.“778 An diesem Umgang mit Kants Autobiografie zeigt sich, dass oft weniger der Text als die Person des Autors im Mittelpunkt des Interesses steht. Reaktionen dieser Art mögen im Falle Hermann Kants nachvollziehbar sein, akzeptabel sind sie trotzdem nicht. 773 774
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778
Günter de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans: Der „Abspann“ des Hermann Kant. In: Die Zeit v. 19.9.1991. Paul Gerhard Klussmann: Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung / Kurt-Schumacher-Akademie (Hgg.): Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen. Bad Münstereifel 1993; S. 188-205, S. 202. Ders.: Der Stasi-Komplex in der deutschen Literatur. In: Die politische Meinung 37 (1992) 275; S. 56-67, S. 60; Hervorhebungen im Original. Ders.: Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung / Kurt-Schumacher-Akademie (Hgg.): Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen. Bad Münstereifel 1993; S. 188-205, S. 203. Fettaugen auf der Brühe. Die Schriftstellerin Monika Maron über ehemalige DDR-Größen und ihre Auftritte in den Medien. In: Der Spiegel 45 (1991) 38 v. 16.9.1991; S. 244-246, S. 244. Ebd., S. 244f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
315
5.2.2.4 Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992) 1992, drei Jahre nach seinem sechzigsten Geburtstag, erscheint Heiner Müllers Autobiografie Krieg ohne Schlacht, die ebenfalls zahlreiche Kritiker auf den Plan rief.779 Das Werk fällt durch seine ungewöhnliche Form aus dem Rahmen: Neben eher traditionellen Kapitelüberschriften wie „Kindheit in Eppendorf und Bräunsdorf, 1929-39“ sind durchgehend Fragen in den Text eingebettet, die im jeweils folgenden Abschnitt beantwortet werden. Diese dialogische Form hängt mit der Entstehungsgeschichte des Textes zusammen, die Müller in dem Kapitel „Erinnerung an einen Staat“ erläutert: Mein Interesse an meiner Person reicht zum Schreiben einer Autobiographie nicht aus. Mein Interesse an mir ist am heftigsten, wenn ich über andre rede. Ich brauche meine Zeit, um über andres zu schreiben als über meine Person. Deshalb der vorliegende disparate Text, der problematisch bleibt. Die Kunst des Erzählens ist verlorengegangen, auch mir seit dem Verschwinden des Erzählers in den Medien, der Erzählung in der Schrift. […] Ich danke Katja Lange-Müller, Helge Malchow, Renate Ziemer und Stephan Suschke für ihre Arbeit. Sie haben mehr als tausend Seiten Gespräch, das über weite Strecken auch Geschwätz war, auf einen Text reduziert, den ich überarbeiten, wenn auch in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu Literatur machen konnte.780
Krieg ohne Schlacht wurde also eher ‚gesprochen‘ denn geschrieben. Deshalb, so Paul Gerhard Klussmann (1993), sei es kaum verwunderlich, daß bei dieser Art der Erinnerungsproduktion manche Fehler entstehen und vieles auch trotz der redaktionellen Nacharbeit stehengeblieben ist, so daß die Kritiker von Müllers Autobiographie ein reiches Feld für das Aufzeigen von Fehlern haben.781
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Vgl. Gregor Edelmann: Gift der Rache tropft aus dem Buch. In: BZ v. 31.7.1992; Fritz J. Raddatz: Ich ist ein anderer. Heiner Müller hat ein Buch gesprochen – voll von ärgerlicher Geschwätzigkeit und anrührenden Werkstattberichten: „Krieg ohne Schlacht“. In: Die Zeit v. 3.7.1992; Frank Schirrmacher: Kommunismus als Rollenspiel. Geschwätzig, unentbehrlich: Heiner Müller erzählt aus seinem Leben. In: FAZ v. 11.7.1992. Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994, S. 366f. Paul Gerhard Klussmann: Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung / Kurt-Schumacher-Akademie (Hgg.): Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen. Bad Münstereifel 1993; S. 188-205, S. 194.
316
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Das erste Wort des Haupttextes lautet „Ich“.782 Stets folgt Müller seinem – von Rimbaud abgeleiteten783 – Motto: Soll ich von mir reden Ich wer von wem ist die Rede wenn von mir die Rede geht Ich wer ist das784.
Später äußert er: „Mein Interesse an den mich betreffenden Akten der Staatssicherheit ist gering. Wenn ich über die Person, die sie beschreiben, einen Roman schreiben will, werden sie ein gutes Material sein. Ich ist ein anderer.“785 Trotz der Länge des Textes erfährt der Leser relativ wenig über den ‚Menschen‘ Müller. Zahlreiche Aussagen werden mit einer gewissen Radikalität getroffen: „Die Geschichte der DDR ist auch eine Geschichte der Dummheit, der Inkompetenz von Personen. […] Viele [Funktionäre; F.Th.G.] waren primitiv, dumm, brutal, verkommen, gierig nach bürgerlichem Standard, überfordert alle.786 – Oder, noch knapper ausgedrückt: „Die Intelligenz war bei der Staatssicherheit, die Blindheit bei der Parteiführung.“787 Auf die Frage „Was hast Du für Erinnerungen an die letzten Jahre vor dem Ende der DDR?“ antwortet Müller: 782
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Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994, S. 13. Arthur Rimbaud: „Je est un autre.“ [„Ich ist ein anderer.“]. In: Rimbaud à Georges Izambard. Charleville, [13] mai 1871. In: A.R.: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972 (Bibliothèque de la Pléiade 68); S. 248f., S. 249. Das Diktum erscheint auch in Heiner Müllers Preisrede auf Durs Grünbein Porträt des Künstlers als junger Grenzhund (vgl. Walter Erhart: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 141-165, S. 158. Ein Bezug auf Brechts Gedicht Der 4. Psalm (1922) ist ebenfalls möglich: „Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht.“ (In: B.B.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, KlausDetlef Müller. Band 11. Gedichte I. Sammlungen 1918-1938. Bearbeitet von Jan Knopf und Gabriele Knopf. Berlin (DDR) / Weimar / Frankfurt a.M. 1988; S. 32f., S. 33.). Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994, S. 9; im Original kursiv. Ebd., S. 218; Hervorhebung von mir; F.Th.G. Ähnliche Formulierungen in Bezug auf die Problematik des „Ich“-Sagens finden sich bei Andreas Lehmann (*1964). Sein Gedicht Drunter und drüber gipfelt mit den Fragen bzw. Feststellungen „[…] Was heißt hier Wir / ICH bin Wer bin ICH Oder was“ (Andreas Lehmann: Drunter und drüber. In: Fluchtfreuden Bierdurst. Letzte Gedichte aus der DDR. Hrsg. von Dorothea Oehme. Mit einer Vorbemerkung von Fritz Rudolf Fries. Berlin 1990; S. 45f., S. 46; Hervorhebungen im Original.) Ebd., S. 213. Ebd., S. 219.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
317
In den letzten Jahren der DDR kam der Widerstand gegen die Politik aus der Partei.788 Allerdings gab es immer ein Beruhigungsargument, das Warten auf „die biologische Lösung“, die Hoffnung, daß Honecker stirbt und ein paar andere auch. […] Ich habe auf den Untergang gewartet, habe ihn aber nicht befördert. Nur die Funktionäre glaubten das von meinen Texten. Man kann mir und andern vorwerfen, daß wir mit „kritischer Solidarität“ – der Akzent verschob sich auf die Kritik, als das Regime zur repressiven Toleranz überging – in unsern Lesern die Illusion genährt haben, daß eine Reform des Systems möglich ist.789
In dem im Anhang der Neuausgabe abgedruckten Gespräch mit dem ZeitRedakteur Thomas Assheuer bestätigt er diese Auffassung und betont, er sei „nicht für das Aufgeben der DDR oder für die Wiedervereinigung“ gewesen.790 Aus seiner Sicht war das Problem dabei „die Alternativlosigkeit der Alternative. […] Die Identität der Deutschen war und ist die Deutschmark. Der Entzug der Deutschmark bedeutete für die DDR-Bevölkerung die Verweigerung der Identität.“791 Über das neue System bemerkt er schlicht: Das neue Netz hat von oben gesehn weitere Maschen, von unten gesehn sind sie enger. Der ökonomische Druck sorgt dafür, daß niemandem schwindlig wird, weil ihm der ideologische Druck fehlt. In der DDR war Geld für die Mehrheit der Bevölkerung kein Problem.792
Die Existenz der DDR rechtfertigt Müller auf zweifellos unerwartete, für ihn aber typische Weise – gefragt nach der Bedeutung von Shakespeare für die DDR, antwortet er: Deutschland war ein gutes Material für Dramatik, bis zur Wiedervereinigung. Es ist zu befürchten, daß mit dem Ende der DDR das Ende der Shakespeare-Rezeption in Deutschland gekommen ist. Ich wüßte nicht, warum man in der Bundesrepublik Shakespeare inszenieren sollte, es sei denn die Komödien.793
Über seine Erfahrungen mit dem Staatssicherheitsdienst berichtet Müller: „Offene „Beschattung“ habe ich erst 1976 kennengelernt, nach der Austreibung Biermanns. Man sollte es damals merken. Am Telefon wußte man, es wird abgehört. […]
788
789 790 791 792 793
Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung darf angezweifelt werden. Es stellt sich in diesem Zusammenhang vielmehr die Frage, inwieweit Müller bewusst provokative Antworten auf die Fragen gab und – in diesem Sinne – seine Autobiografie als Spiel versteht. Ebd., S. 359. Ebd., S. 485. Ebd., S. 359f. Ebd., S. 360f. Ebd., S. 267.
318
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Das Netz wurde mit den Jahren immer dichter und gleichzeitig auch immer poröser. Ich habe von einigen Leuten gehört, die zu Verhören in Stasi-Büros waren, daß da schon früh Gorbatschow-Porträts hingen. Die DDR ist im Grunde mehr von der Staatssicherheit aufgelöst worden, durch Überproduktion von Staatsfeinden, als von den Demonstrationen. Die waren Schaum auf der Welle, ein Fernseh-Ereignis. Ihr politischer Wille wurde sehr schnell zum Marktfaktor deformiert. Seit Gorbatschow muß die Staatssicherheit auf Grund ihres Informationsstandes gewußt haben, daß die Festung DDR militärisch und ökonomisch nicht mehr zu halten ist.794
Seine eigenen Kontakte zur Staatssicherheit verschwieg Müller zunächst bewusst, ein Verhalten, das ihm nach Bekanntwerden dieser Kontakte viel Kritik eintrug (vgl. 5.1.6.1). Die Aufnahme des „Dossier[s] von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR“ in die erweiterte Neuausgabe von Krieg ohne Schlacht (1994) ist insofern auch als Reaktion auf diese Vorgänge zu verstehen. Assheuers Frage, ob die Stasi für ihn „ein legitimer Bestandteil der DDR“ gewesen sei, bejaht Müller795, seine Integrität sehe er „nicht angegriffen durch die Kontakte zur Staatssicherheit“.796 5.2.2.5
Rita Kuczynski: Mauerblume (1999)
Rita Kuczynskis (*1944) Autobiografie Mauerblume (1999) enthält zahlreiche Informationen über den abrupten Wandel im Bereich des Alltags und entsprechende Reaktionen der DDR-Bürgerinnen und -Bürger in der Zeit des Umbruchs. Dies ist im gesamten Text spürbar und soll im Folgenden anhand eines Auszugs verdeutlicht werden. Dem Mauerfall begegnete die zeitweilige Schwiegertochter des Wirtschaftswissenschaftlers und -philosophen Jürgen Kuczynski – trotz aller Schwierigkeiten, die sie in der DDR hatte – äußerst verhalten: Am 9. November saß sie gebannt vor dem Fernseher, irgendwann kam Emanuel [ihr damaliger Ehemann; F.Th.G.] dazu. Aus sehr unterschiedlichen Beweggründen kam nicht gerade Freude über die Nachricht unter uns auf. Emanuel wiederholte mehrmals den Satz: „Solch einen politischen Schwachsinn, die Mauer aufzumachen, kann man sich doch nicht ausdenken!“ Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Fernseher hockte, bevor ich das Testbild vom Ersten Deutschen Fernsehen abschaltete. Irgendwann fing ich an, bitterlich zu weinen. Ich wußte mit seltener Klarheit, ab jetzt waren die Tage der DDR gezählt, denn ohne Mauer wäre die DDR schon vor 28 Jahren kaputtgegangen. Ich begriff, mein Leben in den Gärten der Nomenklatura war zu Ende. Eine unbeschreibliche Wut überkam mich, denn gerade war ich dabei794 795 796
Ebd., S. 217. Differenziertere Äußerungen zu den Wendeereignissen fehlen in Krieg ohne Schlacht nahezu vollständig. Ebd., S. 485f. Ebd., S. 490.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
319
gewesen, mich mit mir selbst in der DDR häuslich einzurichten. Gerade hatte ich aufgehört, mit Gott und der Welt zu hadern. Ich hatte mich nach 28 Jahren DDR endlich schreibend in den Irrsinn hineingefunden und wollte alles tun, um bei mir zu bleiben. Der Gedanke, daß die Mauer mit mir schon wieder Schicksal spielte, erboste mich zutiefst. Ich würde nicht die Energie haben, zum drittenmal mein Leben neu zu beginnen.797
Ihre Begründung für die Ablehnung der Grenzöffnung mag erstaunen, lässt sich aber mit den schweren Traumatisierungen erklären, die Kuczynski in der DDR erlitt. Die Situation zwischen ‚Wende‘ und Vereinigung schildert sie so detailgetreu wie wenige: Es war eine eigenwillige Stimmung im Land. Der Schwarzhandel mit Autos, Farbfernsehern und Videorecordern blühte. Man spürte von Woche zu Woche, wie die DDR aus den Fugen geriet. Die Unsicherheit und Angst vor dem Kommenden trieben groteske und traurige Blüten. […] Es waren Monate der Hamsterkäufe. Auch ich kaufte in jenen Wochen allerhand Zeug, von guten Wollstoffen angefangen, die noch heute in der Truhe liegen, weil ich kein Geld für die Schneiderin habe, über Schuhe, die ich nie trug, weil sie nicht bequem genug und im vereinten Deutschland schon nicht mehr modern waren. […] Mein sommerlicher Superkauf im Jahre 1990 war ein Eimer voller Ohropax aus der Apotheke, in der weisen Voraussicht, daß es in den nächsten Jahren laut werden könnte. […] Aber es war nicht nur die Zeit des Schlußverkaufs der DDR, es war auch schon die Zeit des Einkaufs. Der ostdeutsche Markt wurde von Bananen und Apfelsinen überschwemmt und auch von unbekanntem Obst wie Kiwis und Mangos oder Gemüse wie Auberginen und Zucchini, von dem auch ich nicht recht wußte, wie es zuzubereiten war. Verdauungsstörungen in Sachen Obst und Gemüse wurden eine Übergangskrankheit vieler DDR-Bürger.798
Die Zeit nach der Währungsunion empfindet sie als „Vakuum“; immer wieder werden Überforderungen deutlich: Was dann kam, kam so schnell, ich hatte Mühe zu verstehen. Zwischen Benommenheit und Hilflossein hörte ich, wie die Zeit wegbrach, eine in die andere. Ich hörte, wie sie ihr Maß aufgab, weil ihre Strukturen zerbrachen. Ich war gespannt in einen Rhythmus, der von Bruch zu Bruch sein Tempo beschleunigte. Die Zeit davor und die Zeit danach, in einer Gegenwart, von der ich nicht verstand, daß sie nur im Verschwinden war. Da war ein Vakuum und zugleich ein Überdruck. Ich hing in der Luft. Da schien kein Boden mehr, ich wußte nicht, wie und wo aufzutreten war. Wie sollte ich Balance halten?799
797 798 799
Rita Kuczynski: Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze. München 1999, S. 257f. Ebd., S. 266-268. Ebd., S. 272.
320
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Aus der Sicht des Jahres 1999, also mit weitaus größerem Abstand als Müller und andere, betont Kuczynski, daß zehn Jahre nach dem Niedergang der DDR von einigen ihrer Intellektuellen noch immer nicht konstatiert wird, daß die DDR-Bürger bei ihrer ersten freien Wahl über die „Allianz für Deutschland“ die D-Mark als Zahlungsmittel wählten, eben weil die D-Mark Geld ist, wofür sie auch etwas kaufen konnten. Und eben für Geld, das etwas wert ist, ließen die DDR-Bürger 1989 die Vorschläge zur Weltverbesserung im Regen stehen. Sie ignorierten den zweiten, dritten und den vierten Weg für eine bessere Zukunft und nahmen das historische Tagesangebot wahr, die heißersehnte Deutsche Mark. Natürlich zeigten sich viele Intellektuelle enttäuscht vom Volk. In den großen deutschen Nachrichtenmagazinen bekamen sie Gelegenheit, ihr Mißfallen über das DDR-Volk kundzutun, das sich für Bananen und Gebrauchtwagen entschieden hatte, anstatt den dritten Weg in eine „wahre Zukunft“ suchen zu gehen. Bei aller Entrüstung über die irdischen Bedürfnisse des DDR-Volkes vergaßen zumindest sehr viele Künstler und hervorragende Persönlichkeiten der DDR oft die Kleinigkeit, daß sie zumeist, wenn nicht ein Dauervisum, dann ein zeitlich begrenztes Visum, auf jeden Fall ein Visum hatten und daß sie ihren Westwagen schon lange fuhren, eben weil sie staatstreue Künstler waren, für die anderes galt als für die meisten Bürger der DDR. […] Für diese Arroganz gegenüber den Bedürfnissen breiter Schichten der Bevölkerung haben sie die Quittung bekommen. Das Volk kümmerte sich nicht mehr um ihre Pläne zur Weltverbesserung. Die Kluft zwischen Intellektuellen und Volk, die in den Novembertagen des Jahres 1989 verschwunden zu sein schien, wurde von Jahr zu Jahr größer. Heute ist der überwiegende Teil der DDR-Intellektuellen verschwunden, und kaum einer vermißt sie.800
Wie viele andere, empfindet sie seit der ‚Wende‘ eine extreme Beschleunigung des Lebenstempos (vgl. dazu auch 6.3.4): Die Zeit beschleunigte sich in einer mir bis dahin nicht bekannten Weise. Ich weigerte mich, ihr Tempo anzunehmen. Ich versuchte, ihr ein Maß entgegenzusetzen. Ich versuchte, einen Rhythmus zu finden, damit mich diese Geschwindigkeit, in der alles um mich herum ablief, nicht zerrieb. Ja, nicht zerrieben zu werden, von dem, was ich „Ereignissturz“ nannte, war mein Problem. Mit aller Kraft versuchte ich anzugehen gegen den Sog, in den ich geraten war, da Zeit in Zeit wegbrach.801
Erst einige Jahre später lässt dieser Beschleunigungsdruck nach und macht einer „Normalisierung“ Platz; das Verhältnis zu den früheren Freunden in Westdeutschland kühlt sich jedoch merklich ab:
800 801
Ebd., S. 276f. Ebd., S. 288f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
321
Auch in den deutsch-deutschen Alltag fand die erste Normalisierung Eingang. Der historische Abbruch hatte an Geschwindigkeit verloren. Drei, vier Jahre deutsche Einheit waren durch das Land gegangen. Nicht nur unter meinen westdeutschen Freunden hatte sich die Idee festgesetzt, sie hätten einen persönlichen Anteil an dem, was da historisch auch über sie gekommen war. Sie hätten irgend etwas zur deutschen Einheit beigetragen. Eine Religionsphilosophin brachte es auf den Punkt, indem sie sagte: „Wir haben den Krieg gewonnen.“ Als ich etwas erstaunt nachfragte, welchen, stellte sich heraus, sie meinte den kalten. Es hatte sich also auch unter den 68er Freunden ein nationales „Wir-Gefühl“ in Sachen Sieg gegenüber den Ostdeutschen herausgebildet. Auch meine 68er Freunde verstanden sich unerwarteterweise als Gewinner in einem historischen Prozeß, der ohne sie abgelaufen war, für den sie nichts, überhaupt nichts getan hatten. Denn sie waren nicht nur höchst verwundert, daß hinter ihrem Rücken das sozialistische Weltsystem zusammengebrochen war. Sie waren bestürzt, daß ihre sozialistischen Ideale jenseits der Mauer wegbrachen […]. Nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatten, daß in der wirklichen Welt wieder etwas geschehen war, das sie nicht vorausgesehen hatten – der reale Niedergang der DDR als fiktiver Ort ihrer sozialistischen Utopien –, nutzten sie die historische Gunst der Stunde. Sie stilisierten sich zu Siegern. […] Die Verständigung wurde schwieriger. Ich erfuhr in den Diskussionen, die bei solch verstiegenen Ideen nicht ausbleiben konnten, daß ich ab jetzt zu den Verlierern gehörte und daher von ihnen zu lernen hätte. Und ich lernte, daß unsere freundschaftlichen Beziehungen ortsgebunden waren. Die Mauer war ihr Fundament gewesen. Sie dort, ich hier, das war der freundschaftliche Zement.802
5.2.2.6
Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus (1993)
Als exemplarisch für die Biografie eines aus Kirchenkreisen hervorgegangenen Politikers kann Rainer Eppelmanns (*1943) autobiografische Rückschau auf die DDR und die ‚Wende‘ gelten, die 1993 unter dem Titel Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland803 erschien. Eppelmann fügt seinem Text häufig Ausschnitte aus Reden und weitere Dokumente bei, die vermutlich bis zu einem gewissen Grad Objektivität suggerieren sollen. Seinem Buch ist deutlich die Perspektive der Nachwendezeit anzumerken, weite Teile des Dargestellten erwecken den Eindruck einer Selbstinszenierung. Interessant im Zusammenhang mit dem Thema ‚Wende‘ sind vor allem die beiden letzten Kapitel, „Die Wende“ und „Die Abwicklung“. Das erste der beiden genannten Kapitel beginnt mit einer zeitlichen Festlegung der Anfänge einer ‚Wende‘ in der DDR:
802 803
Ebd., S. 297-299. Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993.
322
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Im nachhinein betrachtet, begann für den Friedenskreis in der Samaritergemeinde die Wende im Mai 1987. Der offenkundig gewordene Betrug bei den Kommunalwahlen 24 Monate später sollte der Glaubwürdigkeit der SED-Herren den Rest geben. Der „Probelauf“ für die umfassende Wahlkontrolle von unten begann aber mehr als zwei Jahre zuvor. In der Gruppe „Christen und Sozialismus“ wurde die Idee geboren, die Stimmenauszählung bei den für Mai 1987 angesetzten Volkskammerwahlen zu überprüfen. Wir waren überzeugt davon, daß es bei keiner Wahl in unserer Republik mit rechten Dingen zuging.804
Im letzten Kapitel der Erinnerungen äußert sich Eppelmann auch über seine Rolle als letzter Verteidigungsminister der DDR – die offizielle Amtsbezeichnung lautete Minister für Abrüstung und Verteidigung. Den 3. Oktober 1990 schildert er aus sehr persönlicher Sicht: Den Abend verbrachte ich zu Hause bei meiner Familie – meine Frau und ich hatten nach zwei Jahren Trennung im Juni wieder geheiratet. Zusammen mit Freunden wollten wir das Ende der Deutschen Demokratischen Republik und die Geburt einer neuen Heimat feiern. Aber das Zusammensein empfand ich als enttäuschend. Jedenfalls wollte bei mir die richtige Stimmung nicht entstehen. Für mich war der 3. Oktober nicht der entscheidende Tag, sondern der Schlußpunkt einer Entwicklung, die ihren Höhepunkt bereits am 9. November 1989 gefunden hatte: am Tag, als die Mauer fiel.805
Am Ende des Buches beschreibt Eppelmann das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen im Jahr 1993, um mit einem Appell zur Besonnenheit zu schließen: Die Enttäuschung ist so groß, wie die Illusionen es waren. Heute belasten Mißverständnisse die Beziehungen der Menschen aus Dresden und Düsseldorf, Rostock und Hamburg. Dabei sind die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, die natürliche Folge dieses gewaltigen Projekts „Deutsche Einheit“. Wir verhalten uns nur wie Kinder, die sich zehn Geschenke zu Weihnachten gewünscht haben, aber nur fünf bekommen, und sich über diese nicht freuen können, weil sie die anderen nicht auch erhalten haben. Ich wünsche mir, daß wir unser Gedächtnis nicht nur benutzen, um zu forschen und zu experimentieren, um zu bitten und zu fordern, sondern auch, um uns zu erinnern und zu danken. Wir würden manches an Zufriedenheit und Zuversicht zurückgewinnen.806
804 805 806
Ebd., S. 319. Ebd., S. 415f. Ebd., S. 417.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
5.2.2.7
323
Neuauflagen, Neuausgaben und Fortsetzungen
Die ‚Wende‘ bildete nicht nur den Entstehungshintergrund bzw. -anlass für zahlreiche Autobiografien, sondern auch für Neuauflagen, erweiterte Neuausgaben und Fortsetzungen zuvor erschienener Autobiografien. Ein Beispiel hierfür ist die Autobiografie des Wissenschaftlers Manfred von Ardenne (1907-1997), der in der DDR zweifellos eine exponierte Stellung innehatte. Seine Erinnerungen tragen den Vermerk Neuschrift 1990 (10. Gesamtauflage) der zuletzt 1984 bei der nymphenburger / München und 1988 beim Verlag der Nation / Ostberlin erschienenen Autobiographie „Mein Leben für Fortschritt und Forschung“, bzw. „Sechzig Jahre für Forschung und Fortschritt“.807
Insbesondere im „4. Buch. Dresden (1955-1990)“ nahm der Verfasser Erweiterungen vor und erinnert im 9. Kapitel vor allem an eigene „Reformvorschläge und andere Beiträge zur politischen Wende in der DDR“.808 1997 erschien unter dem Titel Erinnerungen, fortgeschrieben der zweite Band seiner Autobiografie.809 Der Germanist Hans Mayer (1907-2001) schrieb nach der ‚Wende‘, anknüpfend an seine in zwei Bänden erschienene Autobiografie Ein Deutscher auf Widerruf (1982 / 1984)810, Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik (1991).811 Bereits in einem SpiegelArtikel hatte er geäußert: Ich wende mich […] gegen die westliche Sprachregelung ‚Ende schlecht, alles schlecht‘. Das ist eine Lüge. In der DDR, in der frühen DDR zumal, gab es doch eine große Hoffnung. […] wir haben eines nicht gesehen: Daß der Versuch vieler gutwilliger Menschen, auf deutschem Boden eine alternative Gesellschaft zu errichten, deswegen hinfällig wurde, weil die DDR eine Kronkolonie der Sowjetunion war. […] Dennoch war die DDR nicht von Anfang an verloren. […] Tausende junger Menschen in der Partei, in der FDJ, in der Volksarmee wollten aus diesem Staat etwas anderes machen.812
807 808 809 810 811 812
Manfred von Ardenne: Die Erinnerungen. München 1990, ohne Seitenangabe. Ders.: Kapitel 9. Reformvorschläge und andere Beiträge zur politischen Wende in der DDR. Erinnerungen und Episoden. In: Ebd., S. 479-504. Ders.: Erinnerungen, fortgeschrieben. Ein Forscherleben im Jahrhundert des Wandels der Wissenschaften und politischen Systeme. Düsseldorf 1997. Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I. Frankfurt a.M. 1982; Ders.: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen II. Frankfurt a.M. 1984. Ders.: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Frankfurt a.M. 1991. Ders.: „Ich bin unbelehrbar“. In: Der Spiegel 47 (1993) 28; S. 166-169, S. 167.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ausgehend von der oben angedeuteten Frage „Ende schlecht, alles schlecht?“813 beurteilt Mayer in Der Turm von Babel die DDR aus sehr persönlicher Sicht und geht dabei insbesondere auf die Vorgründungs- und Gründungsphase bis in die Mitte der sechziger Jahre und seinen Weggang aus Leipzig ein. Mayer verurteilt die DDR nicht pauschal, sondern nimmt differenziert Stellung. Der Titel ist auf die sich leitmotivisch durch das Buch ziehende Ballade Turm zu Babel von Johannes R. Becher bezogen. Der darin erwähnte Kampf zwischen Kain und Abel kann als Kampf zwischen Stalin und Lenin verstanden werden: Mit Stalins Aufstieg war der Untergang der DDR vorbestimmt. Insofern liest sich Bechers Gedicht aus heutiger Perspektive wie eine negative Prophezeiung. Mayer ist im Übrigen einer der wenigen Autoren, die sich gegen Vergleiche der DDR mit dem Nationalsozialismus bzw. Faschismus verwahren: „Das Volk der DDR hat weder Synagogen angezündet, noch den totalen Krieg gewollt, noch Walter Ulbrich [sic] als Geschenk der Vorsehung verehrt. Es hat sich immer wieder gewehrt und am Ende auch befreit.“814 Andere Texte des Genres ‚Autobiografie‘ wurden lediglich um ein Vor- oder Nachwort erweitert. So erschien Meine Schlösser (1995), die Autobiografie des Chefkommentators beim Fernsehen der DDR, Karl-Eduard von Schnitzler (1918-2001), dessen bekannteste Sendung Der Schwarze Kanal gewesen sein dürfte, sechs Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung erneut. Im Vorwort erläutert von Schnitzler: „Meine Schlösser“ schrieb ich 1988 / 89. Die erste Ausgabe kam im letzten Lebensjahr der Deutschen Demokratischen Republik heraus. Bei der Vorstellung in der Karl Marx-Buchhandlung bildeten viele hundert Berliner eine lange Schlange in der Karl-Marx-Allee. Der Verlag „Neues Leben“ mußte Bücher nachliefern, damit der Wunsch nach Signierung befriedigt werden konnte. Die Autobiographie wurde zur „Bückware“, die erste Auflage war umgehend vergriffen. Die zweite Auflage geriet in die sogenannte „Wende“, in die freiheitlich-demokratische Grundordnung, ins christliche Abendland und folglich in den Reißwolf.815
Der Untergang der zweiten Auflage ist nach Schnitzlers Auffassung jedoch nicht der einzige Grund für eine Neuausgabe:
813 814 815
Vgl. Ders.: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Frankfurt a.M. 1991, S. 15ff. Hans Mayer in Antwort auf eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung. In: SZ v. 25.6.1990. Vorwort zur Neuauflage. In: Karl-Eduard von Schnitzler: MEINE SCHLÖSSER oder Wie ich mein Vaterland fand. Hamburg 1995; S. 5f., S. 5.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
325
Eine Neuauflage ist geboten, nicht weil über mich seither ganze Sudeleimer ausgeschüttet worden sind, sondern weil der Geschichtsabschnitt, über den ich zu berichten habe, in die Fälscherwerkstatt derer geraten ist, die das Elend unseres Jahrhunderts verschuldet haben und sich – bis zum Hals in Schuld und Blut watend – als Befreier aus Krieg, Unfreiheit und Unterdrückung aufspielen und ihr „Reich“, ihre Herrschaft in Europa wiedererrichten.816
Das der Neuausgabe beigegebene „Nachwort 1995“ besteht in erster Linie aus episodenartigen Nachträgen zur eigenen Biografie, stellt aber zugleich von Schnitzlers Bilanz über die DDR dar: Die Deutsche Demokratische Republik bietet – bei aller Unvollkommenheit und manchem Fehlerhaften – uns Deutschen ungleich mehr als die BRD. Seit sie nicht mehr besteht, herrschen Begriffe und Fakten, die in der Deutschen Demokratischen Republik überwunden und vergessen waren und nur in der BRD bekannt: Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, Hunger und Armut, Wohnungslosigkeit und soziale Unsicherheit, Futterneid und verfallende Solidarität, Konsumterror, Kulturzerfall und Kalter Krieg.817
Der gesamte Text zeugt von der Unverbesserlichkeit seines Verfassers, der nach wie vor nicht bereit ist, auch die Schattenseiten der DDR genauer zu betrachten. 5.2.2.8 Fiktionale Autobiografien und die Autobiografie in der fiktionalen Literatur Neben den ‚traditionellen‘ Autobiografien entstanden gänzlich fiktive Autobiografien bzw. Biografien, die exemplarische DDR-Lebensläufe zum Gegenstand haben. Die beiden in diesem Zusammenhang wichtigsten Texte sind die Romane Helden wie wir (1996)818 von Thomas Brussig (*1965; vgl. auch 6.4.3) und Der Quotensachse (ebenfalls 1996)819 von Matthias Biskupek (*1950). Beide Texte wurden häufig miteinander verglichen820, wobei im Falle Biskupeks der Anspruch des Exemplarischen stärker im Vordergrund steht: Der Held seines Romans, Mario Claudius Zwintzscher, wird am 7. Oktober 1949 geboren, dem Gründungstag der DDR, Brussigs Held Klaus Uhltzscht erst 1968.821 Letzterer sieht sich als Schlüsselfigur im Prozess der ‚Wende‘ und behauptet am Ende: „Wer meine Geschichte 816 817 818 819 820 821
Ebd., S. 5. Nachwort 1995. In: Ebd.; S. 213-238, S. 235. Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996. Matthias Biskupek: Der Quotensachse. Vom unaufhaltsamen Aufstieg eines Staatsbürgers sächsischer Nationalität. Roman. Leipzig 1996. Vgl. dazu Jill Twark: Satireschrieben [sic] vor und nach der Wende: Interview mit Matthias Biskupek. In: GDR Bulletin 26 (1999); S. 45-53, S. 46. Vgl. auch Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
nicht glaubt, wird nicht verstehen, was mit Deutschland los ist! Ohne mich ergibt alles keinen Sinn! Denn ich bin das Missing link der jüngsten deutschen Geschichte!“822 Er gibt sich ausgesprochen unbescheiden, denn, so Uhltzscht am Ende des vorletzen Kapitels: „Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch, dem die Wende nicht die Spur eines Rätsels aufgibt – schließlich habe ich sie gemacht.“823 Autobiografien und ihre Entstehung werden zunehmend auch Gegenstand fiktionaler Texte. So ist die Reflexion über Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken von Autobiografien zentraler Aspekt in Brigitte Burmeisters Roman Pollok und die Attentäterin (1999). Diskutiert werden diese Probleme in einem Gespräch Martin Polloks, der sich als Ghostwriter der Autobiografie des Industriellen Karl Innozenz Weiss betätigt, mit Roswita Sander. Diese wird später ein Attentat auf Weiss verüben: – Klar, sagte Roswita, damit muß Weiss rechnen. Sonst könnte er dir seine Biographie gleich diktieren. Aber er will ja, daß du sie schreibst. – Seine Biographie, nicht meine Erfindung. Und mit sparsamen Verbindungsstrichen. Rekonstruktion, darum geht es. – Und da fügt sich nun alles zusammen? – Im Gegenteil. Die Lücken kommen zum Vorschein, sagte Pollok, und die Ungereimtheiten. Weiss hat mir empfohlen, ihn anzurufen, wenn ich Unklarheiten habe – sie entdeckt habe, wäre der richtige Ausdruck. Anrufen werde ich, aber erst einmal feststellen, wie weit ich mit dem Schreiben komme. Es ist ja eine Art Materialprüfung. Außerdem, ein interessantes Kapitel. Nur der Anfang erinnert an die „Planjahre“, sagte Pollok und erzählte Roswita in großen Zügen von der „Flucht in die Freiheit“. – Und wie willst du prüfen, ob wahr ist, was er dich schreiben läßt? – Dafür, sagte Pollok, bin ich nicht zuständig. Aber verlaß dich drauf, wenn ich den Eindruck habe, irgendwas stimmt nicht, hake ich nach. Mehr kann ich nicht tun: das Material, das er mir gegeben hat, genau nehmen und Unstimmigkeiten klären. – Und dieses Material, beharrte Roswita, hältst du für echt? – Allerdings. Wie sollte Weiss seine Briefe und Tagebücher, Zeitungsausschnitte, Fotos undsoweiter gefälscht haben? Und warum auch? Weil er sich eine Zeitlang hinter falschem Namen versteckt hat? Das war eine Vorsichtsmaßnahme. Vielleicht ist er beschädigt durch das System, dem er diente. Daß er unterschlägt und beschönigt, nehme ich an. Aber Dokumente fälschen, seine Biographie fingieren und einem anderen dieses Machwerk anvertrauen, damit er ein Buch daraus macht? Paßt ganz und gar nicht zu Weiss. Dazu müßte er ein wirklich großer Spieler sein, so perfekt im Lügen, daß man ihm nicht auf die Schliche kommt, jemand, den ich bewundern würde.824 822 823 824
Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996, S. 323; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 276. Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 225f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
327
Auf eine Sonderfom der (auto-)biografischen Darstellung sei abschließend verwiesen: Porträtbände von Fotografen. Der bedeutendste Band dieser Art ist Bernd Lasdins (*1951) Zeitenwende (1998).825 Mitte der achtziger Jahre fotografierte Lasdin erstmals Menschen aus dem Raum Neubrandenburg in ihrer Wohnung an ihrem jeweiligen Lieblingsplatz.826 Auf diese Weise konnten sich die Porträtierten in begrenztem Maße selbst in Szene setzen. Sie sollten anschließend handschriftlich eine Art ‚Kommentar‘ über sich bzw. ihre Fotografien schreiben, nach Möglichkeit aber keine Bildbeschreibung liefern. Zehn Jahre später wiederholte Lasdin seine Porträtaufnahmen nach demselben Konzept. Die Ergebnisse dokumentieren eindrucksvoll den 825
826
Zeitenwende. Portraits aus Ostdeustchland 1986-1998. Photographien von Bernd Lasdin. Bremen 1998. Vom Konzept her vergleichbar, jedoch kleiner angelegt und ohne Selbstkommentare, ist der zweite Teil des Bandes Bild Begegnung. Fotografien von Werner Lieberknecht, Christine Starke, Günter Starke. Texte von Ernst Jandl, Jens Wonneberger, Alexander Lange. Dresden 1993 (Edition DD – Bild-Begegnung, Heft 1 / 1993): Christine und Günter Starke: Handwerker und Geschäftsleute in Dresden vor und nach 1989; ohne Paginierung. Ein in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtiger Fotoband ist das einen viel größeren Zeitrahmen umfassende Buch: Wendezeiten. Deutsche Lebensläufe in fünf politischen Systemen. Hrsg. von Franziska Schlotterer und Isabella Knoesel. Fotografien von Markus Schädel. Berlin 1997. Im Hinblick auf in erster Linie bauliche / architektonische Veränderungen vgl. Leipzig. Den Wandel zeigen. Zur Entwicklung des Stadtbildes von 1990 bis 2000. Text: Niels Gormsen. Mit einem Geleitwort von Hinrich Lehmann-Grube und Beiträgen von Klaus Eberhard, Ines Gillner, Silke Heit, Peter Lang, Jens Müller, Heike Scheller. Fotografien: Armin Kühne u.a. Leipzig 2000. Viele Fotografen dokumentieren die ‚Wende‘- bzw. Umbruchszeit im engeren Sinne, beschränken sich also auf die Jahre 1989 / 90. Die Bilder sind häufig gekoppelt mit literarischen, auch essayistischen Texten: Vgl. Wolfgang Korall: Wende gut, alles gut? Bilder aus Ostdeutschland. Mit Texten von Lutz Rathenow. München 1995; Leipzig im Umbruch. Fotografien von Ralf Schuhmann. Texte von Angela Krauß, Ingo Andreas Wolf. Dresden 1999; Stefan Moses: DDR – ende mit wende. 200 Photographien 1989-1990. Mit Essays der Erinnerung von Rita Kuczynski und Harald Eggebrecht. Ostfildern-Ruit 1999; Rainer Lehmann / Hannes Sieber: DDR. Die Stunde Null. Ausstellung im Foyer des Asamtheater [sic] Freising vom 7. bis 17. Juni 1990. [Freising] 1990. Dass die Annahme einer historischen „Stunde Null“ für die DDR absurd ist, sei lediglich am Rande bemerkt. Einen ähnlichen ‚Stand der Dinge‘ dokumentiert der Band Was bleibt? Die letzten Tage der DDR. Hrsg. von Thomas Schröder. Gestaltet von Hans-Georg Pospischil. München 1990 (Edition Frankfurter Allgemeine Magazin). Die genannten Bücher besitzen weit mehr als einen rein dokumentarischen Wert: Ihnen kommt zugleich eine Funktion des Abschiednehmens von der DDR bzw. des ‚aktiven‘ Verabschiedens der DDR zu, zumal die Bilder häufig als ‚Auslöser‘ für Erinnerungen fungieren. Auf allgemeiner Ebene sind natürlich auch Foto-Bildbände von Interesse, die das Werkschaffen einzelner Fotografen über mehrere Jahrzehnte hinweg dokumentieren. Wenn auch der fotografische Blick sich nicht grundlegend ändert, so ist die ‚Wende‘ meist deutlich in den Bildern präsent: Vgl. Thomas Billhardt: Alexanderplatz in Berlin-Mitte. Fotos aus fünf Jahrzehnten. Berlin 2000; Gerhard Gäbler: Fotografien 1978 bis 1999. Dresden 2000; Harald Hauswald: Seitenwechsel. Fotografien 1979-1999. Berlin 1999. Vgl. „So sind wir – Bilder aus einem Projekt“. In: Fotografie 42 (1988) 10, S. 376-381; Berd Lasdin: „So sind wir“. In: Niemandsland 2 (1988) 7, S. 94-102.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
gegebenenfalls erfolgten Wandel vor allem im Selbstverständnis und in der Selbstwahrnehmung. Lasdins Arbeiten sind meines Erachtens gerade deshalb so wichtig, weil sie auch Menschen einschließen, die sich in rein schriftlicher Form sicher nicht zum Thema ‚Wende‘ geäußert hätten bzw. dies – in Einzelfällen – auch gar nicht gekonnt hätten. Nicht nur für die Fotobände gilt, was Kerstin Hensel im Vorwort zu dem Text-Bild-Band Alles war so. Alles war anders (1999) schreibt: Es geht bei dem vorliegenden Buch also nicht darum, „die DDR wie sie war“ darzustellen. Eine Foto-Auswahl läßt dem Betrachter Raum, zu sehen, auch wo scheinbar nicht viel zu sehen ist, und sich zu erinnern. Die Wahrheit steckt hinter den Fassaden. Letztendlich aber ist sie in den Menschen, und man kann sagen: Es gab so viele Deutsche Demokratische Republiken, wie es Menschen gab, die dort gelebt haben. Wenn Typisches vorzuweisen ist, so kristallisiert es sich über Millionen einzelner Biographien heraus. […] Auch in der DDR ging nicht alles in Staatlichkeit auf. Die Menschen in diesem Land waren keine gleichgeschalteten Protagonisten, die historische Fakten oder Parteiprogramme bedienten. Von jedem wurde die Zeit anders erlebt, und die Sturheit der eigenen Erinnerungen siegt immer über die scheinbar kollektive Wahrnehmung.827
5.3
Epik
Die ersten in Buchform erschienenen und damit bereits auf dem Weg der Kanonisierung befindlichen ‚Wendetexte‘ füllten Anthologien; zuvor erschienen wichtige kürzere Texte in Zeitungen (zu nennen ist hier vor allem der Sonntag) und literarisch orientierten Zeitschriften (insbesondere Sinn und Form sowie ndl), die schneller auf die Ereignisse reagieren konnten als der Buchmarkt. Als früheste ‚Wendeanthologie‘ ist der Band Urkunde. 40 Jahre! zu nennen, der um den 40. Jahrestag der Staatsgründung in 700 hektografierten Exemplaren in der DDR erschienen war, kurz darauf unter dem Titel 40 Jahre DDR … und die Bürger melden sich zu Wort828 auch in der Bundesrepublik. Das Buch nimmt nicht zuletzt deshalb eine Sonderstellung ein, weil es neben essayistischen Texten von Bürgerrechtlerinnen und -rechtlern vor allem Texte von Bürgerinnen und Bürgern enthält, die mehr oder weniger 827 828
Kerstin Hensel: Vorspann: Einstellungen. In: Thomas Billhardt / K.H.: Alles war so. Alles war anders. Bilder aus der DDR. Leipzig 1999; S. 5-7 bzw. 31, S. 5f. 40 Jahre DDR … und die Bürger melden sich zu Wort. Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs, Katja Havemann, Rolf Henrich, Ralf Hirsch, Reinhard Weißhuhn u.a. Frankfurt a.M. 1989.
5.3 Epik
329
klar formuliert Bilanz ziehen und vorsichtige Blicke in die Zukunft wagen. Es ging leider kaum beachtet in den Wendewirren unter. 1990 erschien mit der von Stefan Heym und Werner Heiduczek herausgegebenen Anthologie Die sanfte Revolution die nach wie vor bedeutendste Sammlung von Texten aus der unmittelbaren Wendezeit. In ihrem Nachwort betonen die beiden Herausgeber: Die vorliegende Sammlung ist etwas breiter gefächert als manche andere Zusammenstellung und mag daher ein umfassenderes Bild geben über die Ursachen, Erscheinungen und Auswirkungen der Geschehnisse; auf jeden Fall, so glauben wir, ist sie in ihrer Buntheit und Verschiedenartigkeit der Formen auch literarisch interessant und dürfte als Dokument den Späteren einiges an Atmosphäre vermitteln, womöglich ein Aha-Erlebnis: So war das also im Herbst 1989 und in den ersten Monaten des Jahres 1990 in dem DDR genannten Drittel von Deutschland.829
Mit Gute Nacht, du Schöne – der Titel spielt auf Maxie Wanders Protokollband Guten Morgen, du Schöne (1977) an – erschien 1991 ein Band, in dem ausschließlich Autorinnen aus der DDR Rückschau halten, darunter Brigitte Burmeister, Kerstin Hensel, Helga Königsdorf, Angela Krauß und Brigitte Struzyk. Die ‚Wende‘ spielt dabei zwar auch eine Rolle, doch das Hauptanliegen der Herausgeberin ist es, „Unausgelebtes, Verschwiegenes, Verdrängtes, zu Klärendes […] in ungekannter Offenheit öffentlich zu machen.“830 Dabei betont sie ausdrücklich: Spezifisch weiblich-männliche Konflikte in der einstigen DDR spielen in diesen Beiträgen keine wesentliche Rolle. Die Gründe sind darin zu suchen, daß die Autorinnen Leistungen der westlichen Frauenbewegungen teils in ihr Leben integriert haben. Zum anderen haben sie sich in dieser Phase des gesellschaftlichen und biographischen Umbruchs andere Prioritäten gesetzt.831
Die Zeit danach (1991)832 ist die erste Sammlung neuer literarischer Texte nach dem Ende der Zweistaatlichkeit; die Herausgeber nehmen bereits im Titel Bezug auf ‚Wende‘ und ‚Einheit‘: Ihnen geht es darum, das Spektrum der neuen deutschen Literatur nach dem Ende der Teilung, „danach“ also, aufzuzeigen. Die ‚Wende‘ ist damit präsent, auch wenn sie nicht in jedem der versammelten Texte eine zentrale Rolle einnimmt. 829
830 831 832
Stefan Heym / Werner Heiduczek: Nachwort. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990; S. 421-423, S. 421f. Anna Mudry: Vorwort. In: Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt a.M. 1991; S. 7-13, S. 8. Ebd., S. 13. Die Zeit danach. Neue deutsche Literatur. Hrsg. von Helge Malchow und Hubert Winkels. Köln 1991.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Neben dem Erscheinen von Anthologien mit ‚Wendetexten‘ im engeren Sinne kamen nach der Vereinigung zahlreiche Sammelbände über deutsche Identität und deutsches Selbstverständnis auf den Markt.833 Fasst man das darin vermittelte Bild zusammen, so lassen sich diese Textsammlungen durchweg als Belege dafür lesen, dass es eine einheitliche ‚deutsche Identität‘ nicht gibt, geschweige denn eine gesamtdeutsche. Weit gehend ausgeklammert ist in der vorliegenden Arbeit die Kinder- und Jugendliteratur mit thematischem Bezug zur ‚Wende‘, zumal Carsten Gansel834 (1996) plausibel nachweist, dass nur wenige Texte aus diesem Bereich zu überzeugen vermögen. Er konstatiert eine Dominanz grober Vereinfachungen: Es hängt damit zusammen, daß ost- wie westdeutsche Autoren über die Bildung von Stereotypen schon jetzt vereinfachte Bilder von der DDR liefern, die, gewollt oder ungewollt, an der Neu-Konstitution eines historischen deutschen Bewußtseins mitwirken und sich in ein solches auch widerstandslos werden einpassen lassen.835
Als besonders problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang folgende Beobachtung: 833
834
835
Z.B.: Michel ohne Mütze. Deutschland in Geschichten. Hrsg. von Hinrich Matthiesen und Ulrich Steinmetzger. [Halle (S.) / Leipzig] 1991; Was ist des Deutschen Vaterland. Ein deutsch-deutsches Lesebuch. Hrsg. von Ursula Höntsch und Olav Münzberg. Berlin 1993. Auf eher essayistischer Ebene: Über Deutschland. Schriftsteller geben Auskunft. Hrsg. von Thomas Rietzschel. Leipzig 1993. Gattungsübergreifend: Beiträge aus Deutschland in kleinen Geschichten. Hrsg. von Hartmut von Hentig. München 1995; Die Mauer fiel, die Mauer steht. Ein deutsches Lesebuch 1989-1999. Hrsg. von Hermann Glaser. München 1999. Für die Lyrik: Einigkeit und aus Ruinen. Eine deutsche Anthologie. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt a.M. 1999. Carsten Gansel: Zwischen Wirklichkeitserkundung und Stereotypenbildung. Vom Dilemma einer Jugendliteratur zur „Wende“. In: Der Deutschunterricht 48 (1996) 4; S. 32-43; Gansel bezieht sich auf folgende Texte: Elisabeth Ahrendt: Hauptsache zusammen! München 1994; Lutz van Dijk: Von Skinheads keine Spur. Düsseldorf 1995; Herbert Günther: Ein Sommer, ein Anfang. Hamburg 1995; Karin König: Ich fühl mich so fiftyfifty. München 1991 (dtv junior / pocket); Henning Pawel: Wie ich Großvater einschloß, um die deutsche Einheit zu retten. Die Enkel packen aus. Berlin 1991; Gunter Preuß: Vertauschte Bilder. München 1991; Ders.: Stein in meiner Faust. Ravensburg 1993 (Ravensburger junge Reihe); Günter Saalmann: Zu keinem ein Wort. Berlin 1993; Uwe Saeger: Landschaft mit Dornen. Erzählung zum gleichnamigen Film. Halle (S.) 1993; Helmut Sakowski: Katja Henkelpott. Illustrationen von Erhard Dietl. Stuttgart / Wien / Bern 1992; Ders.: Katja Henkelpott und die Schlangenkönigin. Illustrationen von Erhard Dietl. Stuttgart / Wien 1995; Ders.: Prinzessin, wir machen die Fliege. Stuttgart / Wien 1993; Karsten Stollwerck: Du bist also der Meik? Wien / München 1995; Elisabeth Zöller: Alex – belogen. Mit Collagen von Anne Kolloch. Recklinghausen 1991. Weitere Jugendbücher zur ‚Wende‘ sind: Klaus Möckel: Bennys Bluff oder Ein unheimlicher Fall. Reinbek 1991 (rororo rotfuchs); Helmut Sakowski: Katja Henkelpott kommt in die Schule. Illustrationen von Erhard Dietl. Stuttgart / Wien 1998. Carsten Gansel: Zwischen Wirklichkeitserkundung und Stereotypenbildung. Vom Dilemma einer Jugendliteratur zur „Wende“. In: Der Deutschunterricht 48 (1996) 4; S. 32-43, S. 36; Hervorhebung im Original.
5.3 Epik
331
Was schon für einen großen Teil der Jugendliteratur zum ‚Dritten Reich‘ kennzeichnend war, wiederholt sich jugendliterarisch bei der Darstellung der Vor-Wende-Zeit: Die DDR-Bevölkerung wird als Opfer einer kriminellen Führung dargestellt. Der Funktionärskorps gerät durch die betriebene Dämonisierung – wie es schon bei Hitler und seinem Regime der Fall war – zu einem deus ex machina.836
Der Prozess der ‚Vorbereitung‘ einer ‚Wende‘ wird in der Epik schon früh angesprochen – etwa von Angela Krauß (*1950) in Leipzig und Selbst (1991): In meinen Schränken liegen Zettel, abgerissene Zeitungsränder, herausgetrennte und halbierte Heftseiten, auf denen in meiner eigenen, auffallend unterschiedlichen Handschrift etwas geschrieben steht. Es kommt vor, daß mir etwas davon in die Hände fällt, dann lese ich es und lege es wieder dorthin, wo ich es gefunden habe. Es sind Notizen von Beobachtungen. Manchen ist ein Sinn unterstellt, andere sind nur sie selbst. Sie knüpfen scheinbar nirgends an und weisen nirgends hin. Ich kann sie in diesem Augenblick mit nichts in einen Zusammenhang bringen, der irgendetwas erklärt. Sie führen ihre Art Leben, ein Leben neben mir. Sie haben sich in Jahren über Fächer, Schachteln, Bücher verteilt und tun es weiter. Abfallendes Laub, das langsam durch immer tiefer werdendes Wasser segelt und schließlich irgendwo auf dem Grund liegenbleibt. Dort geht es allmählich von einem Zustand in den anderen über und dann in den nächsten, bis es zuletzt von tief unten herauf als Aroma seine Umgebung ganz und gar durchdringt.837
Der Text bringt deutlich den prozesshaften Charakter der Ereignisse zum Ausdruck. Dinge werden registriert, beobachtet, notiert und scheinbar folgenlos ‚abgelegt‘. Das, was „auf dem Grund liegenbleibt“, bleibt jedoch nicht folgenlos, sondern „durchdringt“ die Umgebung schließlich wieder. Damit ist auch klar, dass es so etwas wie eine wenn / dann-Kausalität nicht geben kann: Die ‚Wende‘ wurde weniger durch bestimmte Einzelereignisse ausgelöst als allmählich durch die Summe zahlreicher Ereignisse und Erlebnisse im Leben vieler – wenn auch nicht aller – Bürgerinnen und Bürger der DDR. Im Vordergrund des vorliegenden Kapitels steht die Betrachtung einzelner Texte. Es sind dies: Christa Wolfs Erzählung Was bleibt (1990), Friedrich Christian Delius’ Erzählung Die Birnen von Ribbeck (1991), Monika Marons Roman Stille Zeile sechs (1991), Brigitte Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma (1994), Jens Sparschuhs „Heimatroman“ Der Zimmerspringbrunnen (1995), Ingo Schulzes Roman Simple Storys (1998), die Romane Nikolaikirche (1995) von Erich Loest und Rabet (1999) von 836 837
Ebd., S. 38. Angela Krauß: Leipzig und Selbst. In: Supplement Literatur im technischen Zeitalter. LCB DAAD II / 1990. Hrsg. von Walter Höllerer, Norbert Miller, Joachim Sartorius; S. 51-54, S. 54.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Martin Jankowski sowie – in aller Kürze – Uwe Timms Roman Johannisnacht (1996). Die Auswahl erfolgte sowohl nach ästhetischen Kriterien als auch und vor allem nach einer gewissen Repräsentativität der Werke hinsichtlich verschiedener Aspekte der ‚Wendeliteratur‘. Was bleibt und Stille Zeile sechs wurden ausgesucht als Texte, in denen Zustände dargestellt werden, die zu den Ereignissen des Herbstes 1989 führten. In Nikolaikirche und Rabet werden diese Ereignisse in stellenweise dokumentarischer Form festgehalten und reflektiert; in Die Birnen von Ribbeck sind die Grenzen gerade geöffnet worden, Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sowie die Vereinigung liegen aber noch in relativ weiter Ferne. Unter dem Namen Norma, Der Zimmerspringbrunnen und Simple Storys sind Romane, in denen die Schwierigkeiten des Alltags nach ‚Wende‘ und ‚Vereinigung‘ in überzeugender Weise dargestellt werden. Johannisnacht wurde schließlich als exemplarischer ‚Nachwenderoman‘ gewählt. Die Analyse der einzelnen Texte erfolgt weit gehend chronologisch nach Erscheinungsdaten; Angaben zu Biografien und bisherigem Werkschaffen wurden lediglich im Falle weniger bekannter Autorinnen und Autoren aufgenommen. 5.3.1
Identitätssuche einer Schriftstellerin – Christa Wolf: Was bleibt (1990)
Christa Wolfs erste nach der ‚Wende‘ erschienene Erzählung, Was bleibt, wurde im „Juni / Juli 1979“ geschrieben und im „November 1989“ überarbeitet.838 Die nicht zuletzt damit zusammenhängende problematische Wirkungsgeschichte des Textes wurde bereits ausführlich dargestellt (vgl. 5.1.5). Es sei nochmals betont, dass eine Ineinssetzung von Autorin und Protagonistin des Textes, wie dies häufig von Seiten der Kritik geschah, unzulässig ist. Im Zentrum des vorliegenden Kapitels sollen der Text selbst und seine Situierung im Werkschaffen Christa Wolfs stehen. Schauplätze bzw. Stationen sind die Wohnung der Ich-Erzählerin, einer Schriftstellerin, in einer Stadt, die unschwer als Ost-Berlin zu erkennen ist, sodann ein Gang durch die Straßen, ein Krankenbesuch bei ihrem Mann und abschließend eine Lesung in einem Kulturhaus. Entscheidend sind weniger diese Schauplätze und der Plot an sich als diejenigen Passagen, in denen die Denkprozesse und Reflexionen der Ich-Erzählerin geschildert werden. Dabei dominieren innere Monologe, in denen die Erzählerin sich mit sich selbst und mit ihrer Situation auseinander setzt. Die ‚Wende‘-Ereignisse werden in Was bleibt nicht thematisiert, wohl aber Entwicklungen und Prozesse, welche die Notwendigkeit von Veränderungen deutlich machen.
838
Christa Wolf: Was bleibt. Berlin (DDR) / Weimar 1990, S. 76.
5.3 Epik
333
5.3.1.1 Angst, Entfremdung und Identitätssuche Die Protagonistin befindet sich in einem Zustand der Angst und Verunsicherung. Nahezu täglich sieht sie sich der Observierung durch mehrere junge Männer in einem Auto vor ihrer Wohnung ausgesetzt. Sie begreift, dass die Observierung bewusst nicht heimlich stattfindet, sondern sie die Maßnahmen durchaus mitbekommen soll: […] mindestens ein-, wahrscheinlich aber zweimal hatten im vorigen Sommer jene jungen Herren oder deren Kollegen mit einer Spezialausbildung im Türenöffnen unserere Wohnung in unserer Abwesenheit aufgesucht, ohne allerdings mit dem Sauberkeitsfimmel von Frau C. zu rechnen, die, wenn sie nach getaner Arbeit die Wohnung verläßt, ihre eigenen Fußstapfen mit einem weichen Tuch hinter sich wegwischt, so daß es ihren Verdacht erregen mußte, als sich am nächsten Tag die Profilsohle eines Männerschuhs, Größe 41 / 42, deutlich auf einigen Türschwellen und auf dem dunklen Parkett im Mittelzimmer abgedrückt hatte. […] Außerdem haben im Bad die Scherben des Wandspiegels im Waschbecken gelegen, ohne daß sich für diesen Tatbestand eine natürliche Erklärung hätte finden lassen. Wir mußten also davon ausgehen, daß die jungen Herren ihren Besuch in unserer Wohnung gar nicht verheimlichen wollten.839
Die Erzählerin findet keine adäquate Strategie, mit dieser Situation umzugehen – auch die bewusst von ihr herbeigeführte direkte Begegnung mit den Spitzeln verschafft keine Erleichterung: […] unzufrieden mit mir und ohne billigen zu können, was ich jetzt vorhatte, ging ich über den Parkplatz, steuerte auf das flaschengrüne Auto zu (sie standen noch da, was hatte ich denn gedacht?), es war elf Uhr fünfzehn, ich strich ganz nahe am Auto vorbei und ertappte die drei jungen Herren just beim Frühstück. Der hinterm Lenkrad saß, hatte seine Brotbüchse auf den Knien, der neben ihm biß in einen Apfel, und der hinten im Fond trank hingegeben aus einer Bitterlemon-Flasche. Er verschluckte sich nicht, als mein Gesicht vor ihm erschien, ungerührt trank er weiter, aber alle drei bekamen sie wie auf Kommando diesen gläsernen Blick. Mag sein, sagte ich mir, während ich anstandshalber quer über den Parkplatz zum Briefkasten ging, als hätte ich irgendwelche Postsachen einzuwerfen, und es sogar so weit trieb, die Geste des Einwerfens vorzutäuschen – mag ja sein, sie lernen diesen gläsernen Blick auf ihrer Schule.840
Die ‚praktischen‘ Maßnahmen, die sie gegen die Bespitzelung ergreift, ändern ebenso wenig etwas an ihrer Verunsicherung: Selbstverständlich redeten wir in der Wohnung mit anderen sehr leise, wenn bestimmte Themen aufkamen (und sie kamen immer auf), ich stellte das Radio laut 839 840
Ebd., S. 19f. Ebd., S. 36.
334
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
bei gewissen Gesprächen, und manchmal zogen wir den Telefonstecker aus der Steckdose, wenn Gäste da waren, doch blieb uns bewußt, daß die Maßnahmen der anderen und unsere Reaktionen darauf ineinandergriffen wie die Zähne eines gut funktionierenden Reißverschlusses. Hoffnung ließ sich nicht daraus ableiten.841
Eines der Hauptthemen des Textes ist damit die Darstellung der psychischen Folgen einer Überwachung durch den Staatssicherheitsdienst. Die immer wieder aufgegriffene Angst ist allgegenwärtig und betrifft nicht nur die Erzählerin, sondern auch zahlreiche Figuren in ihrem Umkreis. Entscheidend ist dabei, dass kaum eine der Personen über die Angst sprechen kann, diese jedoch stets latent vorhanden ist. Eine Ausnahme bildet hier Jürgen M., ein Bekannter der Protagonistin. Ihm gelingt es, in einem kurzen Moment zuzugeben: „Ich – habe – Angst.“842 Gleich darauf spielt er wieder den Betrunkenen. Allerdings hat die Protagonistin auch den Verdacht, dass Jürgen M. der für sie Hauptzuständige bei der Staatssicherheit ist: Da war sie wieder, meine fixe Idee, ich erkannte sie sofort, mußte mich aber doch genußvoll in sie hineinbohren: daß es jemanden geben mußte, der außer dem wirklich Wichtigen alles über mich wußte. Auf irgendeinem Schreibtisch, in irgendeinem Kopf mußten schließlich alle Informationen über mich – die der jungen Herren, die der Telefonüberwacher, die der Postkontrolleure – zusammenlaufen. Wie, wenn es der Schädel von Jürgen M. wäre?843
M.s Angstbekenntnis könnte insofern zugleich Ausdruck bzw. Begründung seiner Arbeit für den Staatssicherheitsdienst sein, oder aber, allerdings im zitierten Kontext unwahrscheinlicher, als gezielte Verunsicherungsstrategie gegenüber der Protagonistin gedeutet werden. Angst und Verunsicherung der Ich-Erzählerin sind derart weit reichend, dass sie zu einer Persönlichkeitsaufspaltung führen. So fragt sie sich: Ich selbst. Wer war das. Welches der multiplen Wesen, aus denen „ich selbst“ mich zusammensetzte. Das, das sich kennen wollte? Das, das sich schonen wollte? Oder jenes dritte, das immer noch versucht war, nach derselben Pfeife zu tanzen wie die jungen Herren da draußen vor meiner Tür?844
Diese Aufspaltung ist Teil einer Bewältigungsstrategie, mittels derer sie zudem versucht, ein „nie sich abnutzendes Schuldgefühl“845 zu überwinden. In diesem Zusammenhang erkennt die Erzählerin an sich selbst ein unterwürfiges Verhältnis zur Macht; problematisch ist dabei auch ihr „be841 842 843 844 845
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
20. 34. 31f. 40. 9.
5.3 Epik
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schämendes Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen.“846 Die damit verbundene masochistische, weil der Instanz der Selbstzensur nahezu gleichkommende Komponente, die sie „jenen Dritten“ nennt, will sie bekämpfen; sie hofft, „glauben zu können, daß ich jenen Dritten eines nahen Tages ganz und gar von mir abgelöst und aus mir hinausgestoßen haben würde […].“847 Jürgen M. bezeichnet den Zustand der Erzählerin als „Traumtänzerei“848; er beobachtet an ihr „dieses Gehabe auf dem Seil, ohne abzustürzen.“849 Und so sieht die Protagonistin das Leben in der DDR auch getreu ihrer Feststellung „[…] Artisten wir alle.“850 Der Stadt, in der sie lebt, fühlt sie sich entfremdet. Sie ist zu einer „verlorenen Stadt“ geworden, zu einer unerlösten, erbarmungslosen Stadt, versenkt auf den Grund von Nichtswürdigkeit […]. Aus einem Ort war die Stadt zu einem Nicht-Ort geworden, ohne Geschichte, ohne Vision, ohne Zauber, verdorben durch Gier, Macht und Gewalt.851
An anderer Stelle äußert sie: „Ich war in der Fremde. Viele Wochen lang lief ich durch namenlose Straßen einer namenlosen Stadt.“852 Angesichts der instabilen psychischen Verfassung der Ich-Erzählerin ist Was bleibt vor allem als Text der Identitätssuche zu deuten. Die Erzählerin sucht letztlich nach einer neuen Identität in einer sich verändernden politischen Welt, wobei sie – im Bewustsein ihrer besonderen Rolle als Schriftstellerin – durchaus auch bereit ist mit sich selbst abzurechnen: Eine reine Charakterfrage also, ob er [Galilei; F.Th.G.] gegen die Lüge antrat. Wir, angstvoll doch auch, dazu noch ungläubig, traten immer gegen uns selber an, denn es log und katzbuckelte und geiferte und verleumdete aus uns heraus, und es gierte nach Unterwerfung und nach Genuß. Nur: Die einen wußten es, und die anderen wußten es nicht.853
5.3.1.2 Auf der Suche nach einer neuen Sprache Sprache bzw. die Reflexion über Sprache ist spätestens seit Nachdenken über Christa T. (1968)854 eines der Hauptthemen der Werke von Christa Wolf, 846 847 848 849 850 851 852 853 854
Ebd., S. 14. Ebd., S. 40. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 42. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22. Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Halle (S.) 1968. In diesem Text wird immer wieder die „Schwierigkeit, ich zu sagen“ dargestellt.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
insofern knüpft sie in Was bleibt auch thematisch an frühere Texte an. Die Protagonistin der Erzählung ist noch nicht fähig, sich so zu äußern, wie sie es gerne täte. Über diesen Zustand ist sie sich völlig im Klaren; sie kann darüber sprechen bzw. schreiben. Ihre oben dargestellte Identitätssuche vollzieht sich demnach auch und vor allem auf der Ebene der Sprache. Insofern ist es logisch, dass gleich zu Beginn des Textes die Elemente ‚Angst‘ und ‚Sprache‘ miteinander verknüpft werden. Die ersten Sätze lauten: Nur keine Angst. In jener anderen Sprache, die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe, werde ich eines Tages auch darüber reden. Heute, das wußte ich, wäre es noch zu früh. Aber würde ich spüren, wenn es an der Zeit ist? Würde ich meine Sprache je finden?855
Die Sprache dient somit auch als Mittel zur Bewältigung der Angst; zu Beginn des Textes ist sich die Erzählerin allerdings nicht sicher, ob ihr dieses Mittel je zur Verfügung stehen wird. Die ‚alte‘ Sprache ist jedenfalls untauglich für ihre Zwecke: […] die richtigen Wörter hatte ich immer noch nicht, immer noch waren es Wörter aus dem äußeren Kreis, sie trafen zu, aber sie trafen nicht, sie griffen Tatsachen auf, um das Tatsächliche zu vertuschen […].856
Folglich hofft sie auf eine neue „Sprache, die härter sein würde als die, in der ich immer noch denken mußte.“857 Diese Sprache ist seit unbestimmter Zeit in der Entstehung begriffen: Meine andere Sprache, dachte ich, […] die in mir zu wachsen begonnen hatte, zu ihrer vollen Ausbildung aber noch nicht gekommen war, würde gelassen das Sichtbare dem Unsichtbaren opfern, würde aufhören, die Gegenstände durch ihr Aussehen zu beschreiben […] – und würde, mehr und mehr, das unsichtbare Wesentliche aufscheinen lassen. Zupackend würde diese Sprache sein, soviel glaubte ich immerhin zu ahnen, schonend und liebevoll.858
Andererseits schreckt sie die potenzielle Banalität des Auszudrückenden: Einmal, in meiner neuen freien Sprache, würde ich auch darüber reden können, was aber schwierig werden würde, weil es so banal war: Die Unruhe. Die Schlaflosigkeit. Der Gewichtsverlust. Die Tabletten. Die Träume. Das ließe sich wohl schildern, doch wozu? Es gab ganz andere Ängste auf der Welt.859 855 856 857 858 859
Dies.: Was bleibt. Berlin (DDR) / Weimar 1990, S. 5. Ebd., S. 12. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd., S. 15.
5.3 Epik
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In diesem Zusammenhang führt sich die Protagonistin einmal mehr ihre besondere Rolle als Schriftstellerin vor Augen. Ihr Leben ist ein privilegiertes – im Gegenzug fühlt sie sich verpflichtet, auch öffentlich Position zu beziehen, selbst wenn sie dadurch möglicherweise Nachteile erfährt: Jeden Tag sagte ich mir, ein bevorzugtes Leben wie das meine ließe sich nur durch den Versuch rechtfertigen, hin und wieder die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten, der Tatsache eingedenk, daß Grenzverletzungen aller Art geahndet werden.860
Voraussetzung für die Entstehung der ‚neuen‘ Sprache ist allerdings die Bewältigung der Angst: Doch, sagte ich mir, während mir bewußt wurde, daß ich seit Minuten schon auf den Fernsehturm starrte, der sich halbrechts in meinem Gesichtsfeld über dem Häusermassiv von Augen- und Frauenklinik erhob, doch der Sprachgrenze würde ich mich erst nähern, wenn ich mir zutraute zu erklären, warum an jenen Tagen, an denen die Autos nicht in Wirklichkeit, nur als Phantombild auf meiner Netzhaut vorhanden waren, die Angst nicht von mir wich, nicht einmal geringer war als an Tagen der offensichtlichen Observation. Dazu, dachte ich, müßte ich mir mal was einfallen lassen, egal in welcher Sprache.861
Während Inhalt und Zweck der ‚neuen‘ Sprache relativ klar bestimmt sind, weiß die Protagonistin kaum etwas über deren Form: Eine Geschichte des schlechten Gewissens, dachte ich, wäre einzubeziehen in das Nachdenken über die Grenzen des Sagbaren; mit welchen Wörtern beschreibt man die Sprachlosigkeit des Gewissenlosen, wie geht […] Sprache mit nicht Vorhandenem um, das keine Eigenschaftswörter, keine Substantive an sich duldet, denn es ist eingenschaftslos [sic], und das Subjekt fehlt ihm durchaus, so wie das gewissenlose Subjekt sich selber fehlt, dachte ich weiter, doch stimmte das überhaupt?862
860 861 862
Ebd., S. 15f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 21f. Das Thema der Suche nach einer ‚neuen‘ Sprache wird zu dieser Zeit selbstverständlich nicht nur von Christa Wolf aufgegriffen. So sucht Gabriele Kachold (*1953) in mein erfurt mein mittel-alter „eine neue sprache für die seelenräume die wir meinen wenn wir ums bleiben kämpfen wollen“ (Gabriele Kachold: mein erfurt mein mittel-alter. In: Schöne Aussichten. Neue Prosa aus der DDR. Hrsg. von Christian Döring und Hajo Steinert. Frankfurt a.M. 1990; S. 273-288, S. 285.) Die Autorin musste 1976 u.a. wegen ihrer Beteiligung an Protestaktionen gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns die Pädagogische Hochschule Erfurt verlassen und wurde inhaftiert. Bei der jungen Schriftstellerin, die in Was bleibt die Ich-Erzählerin besucht, um ihr ihre Texte zu zeigen (vgl. S. 52ff.), könnte es sich um sie handeln (vgl. auch Paul Konrad Kurz: Was war, erinnern die Dichter. Literarische Befunde der DDR-Gesellschaft. In: P.K.K.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur. Frankfurt a.M. 1993; S. 211-289, S. 228; zu Gabriele
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Ebenso wenig bestimmt ist der zeitliche Rahmen. So sieht die Erzählerin ihre Lebenszeit verrinnen, ohne dass sie mit diesem Leben zufrieden wäre. Sie fragt sich: „Wieviel Zeit wollte ich mir eigentlich noch geben?“863 Ihr eigenes Verhältnis zur Zeit setzt sie in Beziehung zu dem der jungen Männer, die sie observieren: Zeit war eines meiner Stichworte. Eines Tages war mir klar geworden, daß es vielleicht mehr als alles andere ein gründlich anderes Verhältnis zur Zeit war, das mich von jenen jungen Herren da draußen – sie standen noch dort, ja doch! – unterschied. Jenen nämlich war ihre Zeit wertlos, sie vergeudeten sie in einem unsinnigen, gewiß aber kostspieligen Müßiggang, der sie doch auf die Dauer demoralisieren mußte, aber das schien ihnen ja nichts auszumachen oder ihnen, im Gegenteil, die Vermutung kam mir plötzlich, gerade recht zu sein. Mit beiden Händen, lustvoll geradezu, warfen sie ihre Zeit zum Fenster hinaus; oder nannten sie das womöglich Arbeit, was sie taten? Vorstellbar war sogar das.864
Dass die Zeit insbesondere für die Jüngeren drängt, kommt vor allem in der sich an die Lesung im Kulturhaus anschließenden Diskussion zum Ausdruck. Eine junge Frau erhebt sich und brachte das Wort „Zukunft“ ins Spiel – ein Wort, gegen das wir alle wehrlos sind und das imstande ist, die Atmosphäre eines jeden Raumes zu verändern und eine jede Menschenansammlung zu bewegen. Die junge Frau […] hätte sich nie das Herz gefaßt, öffentlich zu sprechen, wenn sie nicht extra gekommen wäre, um die für sie unaufschiebbare Frage zu stellen: auf welche Weise aus dieser Gegenwart für uns und unsere Kinder eine lebbare Zukunft herauswachsen solle.865
Diese und weitere Fragen sieht die Erzählerin als „die wirklichen Fragen […], von denen wir leben und durch deren Entzug wir sterben können.“866 Insofern fungiert die Frage der jungen Frau als Auslöser für einen offenen Dialog; der Verlauf des Abends nimmt damit eine unerwartete Wendung und verlässt die institutionell gelenkten Bahnen: Ein Fieber erfaßte die meisten, als könnten sie es nie wieder gutmachen, wenn sie nicht sofort, bei dieser vielleicht letzten Gelegenheit, ihr Scherflein beisteuerten für jenes merkwürdig nahe, immer wieder sich entziehende Zukunftswesen. Jemand
863 864 865 866
Kachold vgl. auch Gerhard Wolf: IV Gabriele Kachold: zügel los (1988). In: Gerhard Wolf: SPRACHBLÄTTER WORTWECHSEL. Im Dialog mit Dichtern. Leipzig 1992, S. 153-158). Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 67. Ebd.
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sagte leise „Brüderlichkeit“. […] Als stehe man vor einem Fest, wurde die Stimmung im Saal immer lockerer. Buchtitel wurden durch den Raum gerufen, manche notierten sie sich, andere fingen an, mit ihren Nachbarn zu reden, um die junge Frau, die zuerst gesprochen hatte, bildete sich ein Kreis.867
Auch wenn dieser Abend ein „Nachspiel“ hatte868, ist die Protagonistin am Ende der Erzählung ihrem Ziel näher gekommen. Sie betont: „Eines Tages, dachte ich, werde ich sprechen können, ganz leicht und frei.“869 Der zeitliche Rahmen ist damit nicht festgelegt, doch aus der Unsicherheit ist eine Gewissheit der Veränderung geworden. Zudem zeichnet sich ein Generationenwechsel ab: Am Nachmittag vor der Lesung wird die Erzählerin von einer jungen Schriftstellerin besucht, die ihr ihre Texte zeigen möchte. Mit der jungen Frau „trat etwas mir vom Ursprung her Verwandtes und zugleich ganz und gar Fremdes über meine Schwelle.“870 Die Erzählerin gesteht sich ein: „Es ist soweit. Die Jungen schreiben es auf.“871 Teile der jungen (Autoren-)Generation haben also ihre eigene Sprache gefunden und sind auch bereit, um der Wahrheit willen Opfer zu bringen, denn das „Mädchen“ war bereits inhaftiert gewesen. Der nach Meinung der Erzählerin gelungene Text und die Biografie der jungen Frau lösen einen Prozess des Nachdenkens aus: Das Mädchen, dachte ich, ist nicht zu halten. Wir können sie nicht retten, nicht verderben. Sie soll tun, was sie tun muß, und uns unserem Gewissen überlassen. […] Das Mädchen fragte nicht krämerisch: Was bleibt. Es fragte auch nicht danach, woran es sich erinnern würde, wenn es einst alt wäre.872
5.3.1.3 Was bleibt im Kontext des Wolfschen Werkes Es ist nicht bekannt, welche Passagen Christa Wolf unmittelbar vor der Veröffentlichung ihres Textes änderte. Der Hauptteil der Erzählung dürfte jedoch Ende der siebziger Jahre bereits fertiggestellt gewesen sein. Insofern scheint es sinnvoll, die Erzählung kurz mit den parallel entstandenen, aber zumindest in einem Fall wesentlich früher erschienenen Werken Christa Wolfs zu vergleichen. Eine solche Lektüre erschließt zudem neue Ebenen der Bedeutung.873 867 868 869 870 871 872 873
Ebd., S. 68. Ebd., S. 69ff. Ebd., S. 76. Ebd., S. 52. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55f. Vgl. etwa Anna K. Kuhn: ‚Zweige vom selben Stamm‘? Christa Wolf’s Was bleibt, Kein Ort. Nirgends, and Sommerstück. In: Christa Wolf in Perspective. Edited by Ian Wallace.
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Die im Kontext der Fragestellung relevanten Werke sind Kindheitsmuster (1976)874 und Sommerstück (erschienen 1989)875, die längere Erzählung Kein Ort. Nirgends (erschienen 1979)876, am Rande auch Störfall (1987).877 In ihnen spielt, wie letztlich auch in Was bleibt, das Thema Utopieverlust eine wichtige Rolle878, in Kein Ort. Nirgends zudem durchgängig das Motiv der Entfremdung. Das verwundert nicht weiter, wenn man sich vor Augen führt, dass die Texte zumindest teilweise unter dem Eindruck der Biermann-Affäre geschrieben wurden.879 Das Erscheinungsjahr von Sommerstück darf also nicht über die wesentlich länger zurückliegende Entstehung hinwegtäuschen. Eine entsprechende Bemerkung weist darauf hin: Dieser Text wurde in seinen frühen Fassungen bis 1982 / 83 niedergeschrieben, Teile davon parallel zu „Kein Ort. Nirgends“. Er wurde 1987 für den Druck überarbeitet. […]. C.W.880
874 875 876 877 878
879
880
Amsterdam / Atlanta: Rodopi, 1994 (German Monitor 30), S. 187-205 sowie Manfred Jurgensen: Rehearsing the end: Christa Wolf’s Störfall. Nachrichten eines Tages, Sommerstück and Was bleibt – a kind of trilogy? In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Edited by Peter Monteath and Reinhard Alter. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38), S. 93-107. Christa Wolf: Kindheitsmuster. Berlin (DDR) / Weimar 1976 sowie Darmstadt / Neuwied 1977. Dies.: Sommerstück. Berlin (DDR) / Weimar 1989 sowie Frankfurt a.M. 1989. Dies.: Kein Ort. Nirgends. Berlin (DDR) / Weimar 1979 sowie Darmstadt / Neuwied 1979. Dies.: Störfall. Nachrichten eines Tages. Berlin (DDR) / Weimar 1987 sowie Frankfurt a.M. 1988. Vgl. dazu Karl-Heinz J. Schoeps: Intellectuals, Unification, and Political Change 1990: The Case of Christa Wolf. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 251-277, S. 262f. Hannes Krauss hat überdies die Rezeption von Virgina Woolf durch Christa Wolf in den hier interessierenden Texten nachgewiesen. Vgl. dazu: Hannes Krauss: Rückzug in die Moderne. Christa Wolf und Virginia Woolf. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40), S. 164-175. Krauss schränkt jedoch ein: „Versuche, Sommerstück nur als oberflächlich verrätselte Metapher für ein untergehendes Land und eine abhanden gekommene Idee zu deuten, greifen zu kurz. Gewiß hat Christa Wolf ein melancholisches Bild vom Verblassen der Hoffnung gezeichnet. Ihr Verfahren, Anleihen bei jener Schreibweise zu machen, in der Virginia Woolf einst die Chronik des untergehenden englischen Bildungsbürgertums geschrieben hat, erzeugt indes merkwürdige Ambivalenzen.“ (S. 172; Hervorhebung im Original) Christa Wolf: Sommerstück. Frankfurt a.M. 1989, S. 219.
5.3 Epik
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Vor diesem Hintergrund ist die späte Veröffentlichung von Was bleibt durchaus kein Novum, selbst wenn die Umstände andere gewesen sein mögen. Nicola Kaminski (1997) stellt in diesem Zusammenhang fest: Aus der Perspektive der Erscheinungsdaten, mithin der Rezeption, ist Sommerstück die ursprüngliche Stimme, als deren Echo Was bleibt erklingt; aus der Perspektive der Entstehungszeiten hingegen, und damit der Produktion, erscheint umgekehrt Sommerstück als Echo von Was bleibt.881
Bei der vergleichenden Lektüre geht die ‚Wende‘-Lesart des Textes keineswegs verloren, vielmehr ist Was bleibt ein Beleg dafür, dass Christa Wolf nicht nur bereits viel früher über notwendige Veränderungen in der DDR nachdachte, sondern diese Erwägungen auch literarisch verarbeitete. Sie selbst ist sich dieser Tatsache durchaus bewusst; im Dezember 1989 äußerte sie in einem Interview mit Aafke Steenhuis über Sommerstück: Das Buch ist für viele ein Stück Beschreibung ihres eigenen Lebens, wie ich jetzt weiß. Ich glaube auch, daß es sogar eine Vorankündigung der späteren Ereignisse ist, denn es schildert, warum es so nicht weitergehen konnte.882
Das Thema des Utopieverlusts kommt noch deutlicher in Störfall (1987) zum Ausdruck – hier auch verbunden mit einer Reflexion über den Mut, öffentlich Kritik zu üben. Die Erzählerin stellt selbstkritisch fest: Nicht zuviel – zuwenig haben wir gesagt, und das Wenige zu zaghaft und zu spät. Und warum? Aus banalen Gründen. Aus Unsicherheit. Aus Angst. Aus Mangel an Hoffnung. Und, so merkwürdig die Behauptung ist: auch aus Hoffnung. Trügerische Hoffnung, welche das gleiche Ergebnis zeitigt wie lähmende Verzweiflung.883
Schon zuvor hatte sie sich gefragt:
881
882
883
Nicola Kaminski: Sommerstück – Was bleibt – Medea. Stimmen. Wende-Seismographien bei Christa Wolf. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 115-139, S. 122; Hervorhebungen im Original; vgl. dazu auch: Gail Finney: The Christa Wolf Controversy: Wolf’s Sommerstück as Chekhovian Commentary. In: The Germanic Review LXVII (1992) 1, S. 106-111. [Interview mit Aafke Steenhuis]: Schreiben im Zeitbezug. Gespräch mit Aafke Steenhuis. In: Christa Wolf: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 131-157, S. 149; vgl. dazu auch William H. Rey: Vor dem Durchbruch zur Freiheit. Christa Wolfs Sommerstück als prärevolutionärer Text. In: Colloquia Germanica 23 (1990) 1, S. 116. Christa Wolf: Störfall. Nachrichten eines Tages. Darmstadt / Neuwied 1987, S. 68.
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Treiben die Utopien unserer Zeit notwendig Monster heraus? Waren wir Monster, als wir um einer Utopie willen – Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschlichkeit für alle –, die wir nicht aufschieben wollten, diejenigen bekämpften, in deren Interesse diese Utopie nicht lag (nicht liegt), und, mit unseren eigenen Zweifeln, diejenigen, die zu bezweifeln wagten, daß der Zweck die Mittel heiligt?884
Bereits in Sommerstück fällt im Dialog zwischen Ellen und der todkranken Steffi die bilanzierende Frage „Was bleibt“ – hier ebenfalls ohne Fragezeichen, jedoch deutlicher als Frage erkennbar als dies in Was bleibt der Fall sein mag: – Manche sagen, einem jeden sei nur ein bestimmter Energievorrat mitgegeben, den kann er schnell verzehren, oder er kann haushälterisch damit umgehn und länger reichen. Und wenn der Vorrat zu Ende geht, erfindet der Körper einen Vorwand, um abzutreten. – Spekulation. Sparsam bist du jedenfalls nicht gewesen, Steffi. Eher verschwenderisch. – Was dich gestört hat. – Manchmal. Manchmal hat es mich gestört, wie du dich verzettelt hast. – Weil du, immer schon, insgeheim gefragt hast: Was bleibt. – Was bleibt, Steffi. Was bleibt. Ich seh uns dahinschmelzen wie unter zu starker Strahlung, ein zeitgemäßes Bild, ich weiß. Die Umrisse unserer Großeltern scheinen mir, verglichen mit unseren, dauerhafter zu sein. Ich sehe unsere Umrisse sich auflösen. Es scheint uns nicht bestimmt zu sein, Konturen zu gewinnen. Was alles haben wir ausprobiert, uns zu befestigen, in wie viele Häute sind wir geschlüpft, in wie vielen Räumen haben wir Schutz gesucht. Unser alter Trieb nach Höhlen, Wärme, Miteinandersein ist zu schwach gegen die Weltraumkälte, die hereinströmt. Und all die vielen Fotos, die wir von unseren vielen Gesichtern machen lassen, sind weniger haltbar als das eine steife Hochzeitsfoto unserer Großeltern. – Ich habe, das weißt du, gerade mit Fotos die Löcher in unseren Höhlenwänden verdecken wollen. Aufgeregt, mit dem größten Entzücken habe ich immer im Entwicklerbad das Bild kommen sehen. Manchmal habe ich an die Leute gedacht, die diese Fotos betrachten werden, wenn ich tot bin. – Was bleibt, sind Bilder. […]885
Die Frage des bilanzierenden „Was bleibt“ ist eng mit der Untergangsthematik verknüpft. Diese bezieht sich keineswegs nur im engeren Sinne auf Steffi, sondern auf die gesamte Gesellschaft; die Künstler auf dem Land 884 885
Ebd., S. 37. Christa Wolf: Sommerstück. Frankfurt a.M. 1989, S. 202f.; Hervorhebungen von mir; F.Th.G. Vgl. zu diesem intertextuellen Bezug: Karl-Heinz Schoeps: Intellectuals, Unification and Political Change 1990. The Case of Christa Wolf. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 251277, S. 263.
5.3 Epik
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sehen im Morgengrauen nach Osten: „Und der rote Saum am östlichen Himmel war eben nicht das erste Licht der aufgehenden Sonne, sondern der Widerschein des Feuers, aus dem eine mächtige schwarze Rauchwolke kerzengerade aufstieg.“886 5.3.1.4 Titel und Inhalt Was bleibt ist einer derjenigen Texte, die sich gerade nach den ‚Wende‘Ereignissen anders lesen, als es zuvor der Fall gewesen sein dürfte. Allzu deutlich scheint der Bezugsrahmen der Frage nun von der sozialistischen Utopie auf die DDR insgesamt übertragen werden zu können. Der Titel ist jedoch zunächst einmal ein verknapptes Zitat des Schlussverses aus Hölderlins vermutlich 1803 entstandenem Gedicht Andenken: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“887 Im Falle der Wolf-Erzählung ist dies gerade im Hinblick auf die besondere Rolle wesentlich, in der die Schriftstellerin sich sieht. Doch auch auf der textimmanenten Ebene spielt die Frage eine zentrale Rolle. Wie bereits erwähnt, fallen die beiden Worte zuerst in Zusammenhang mit der jungen Schriftstellerin: „Das Mädchen fragte nicht krämerisch: Was bleibt. Es fragte auch nicht danach, woran es sich erinnern würde, wenn es einst alt wäre.“888 Im Zusammenhang mit der Lesung im Kulturhaus erscheinen die beiden Worte „Was bleibt“ in Reaktion auf die Frage, „[o]b es eine gute Diskussion gewesen sei“: O doch. Es ging um Zukunft, wissen Sie. Was bleibt. Was bleibt.889
Die zentrale Erwähnung findet sich jedoch am Ende der Erzählung: Diesmal haben sie, ob sie es nun darauf angelegt hatten oder nicht, den Punkt getroffen. Den ich eines Tages, in meiner neuen Sprache, benennen würde. Eines Tages, dachte ich, werde ich sprechen können, ganz leicht und frei. Es ist noch zu früh, aber ist es nicht immer zu früh. Sollte ich mich nicht einfach hinsetzen an diesen Tisch, unter diese Lampe, das Papier zurechtrücken, den Stift nehmen und 886 887
888 889
Ebd., S. 192. Friedrich Hölderlin: Mein Eigentum. In: F.H. Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände. Hrsg. von Jochen Schmidt. Band I. Gedichte. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 80); S. 360-362, S. 362; vgl. dazu Nicola Kaminski: Sommerstück – Was bleibt – Medea. Stimmen. Wende-Seismographien bei Christa Wolf. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 115-139, S. 123 u.a. Christa Wolf: Was bleibt. Berlin (DDR) / Weimar 1990, S. 55f.; Hervorhebung von mir; F.Th.G. Ebd., S. 73; Hervorhebungen von mir; F.Th.G.
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anfangen. Was bleibt. Was meiner Sprache zugrunde liegt und woran sie zugrunde geht. Daß es kein Unglück gibt außer dem, nicht zu leben. Und am Ende keine Verzweiflung außer der, nicht gelebt zu haben.890
Dieses Ende kann verhalten optimistisch gedeutet werden, ein Gefühl der Hoffnung keimt auf, von dem auch die Erzählerin erfasst wird. Hinzu tritt das bereits oben erwähnte Moment der Gewissheit, die ‚neue‘ Sprache tatsächlich finden zu können. An keiner Stelle ist „was bleibt“ mit einem Fragezeichen versehen. Insofern können die beiden Wörter als Frage, als Antwort, oder auch als einfache Aussage verstanden werden.891 Im Text finden sich zwar Aussagen über die Verwendung von Satzzeichen, Lösungen im Hinblick auf die Fragestellung im engeren Sinne bieten sie jedoch nicht: Fragezeichen. Die Zeichensetzung in Zukunft gefälligst ernster nehmen, sagte ich mir. Überhaupt: sich mehr an die harmlosen Übereinkünfte halten. Das ging doch, früher. Wann? Als hinter den Sätzen mehr Ausrufezeichen als Fragezeichen standen?892
Karl-Heinz J. Schoeps (1993) stellt in diesem Zusammenhang fest: „Thus, the missing question mark is much more than a mere linguistic game; the ambiguity caused by its absence signifies a world that has been shaken to its foundations.“893 Diese These überzeugt nur bedingt, denn gerade die von Schoeps unterstellte fundamentale Erschütterung spräche für die Auflösung scheinbar unerschütterlicher ‚Gewissheiten‘ und damit tendenziell für die Setzung eines Fragezeichens. Misst man trotz der oben dargestellten Bedingungen dem Erscheinungstermin des Buches die entscheidende Bedeutung zu, so liegt der Schluss nahe, dass mit „Was bleibt“ dasjenige gemeint ist, was vom SED-Regime bzw. der DDR überhaupt nach der ‚Wende‘ übrig bleibt bzw. geblieben ist. Der unvollständige Satz ließe sich dann zugleich als Aufforderung an den Leser verstehen, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen.
890 891 892 893
Ebd., S. 76; Hervorhebung von mir; F.Th.G. In den Übersetzungen in fremde Sprachen entfällt diese Mehrdeutigkeit des Titels: Der Titel der französischen Ausgabe beispielsweise heißt Ce qui reste. Ebd., S. 8. Karl-Heinz J. Schoeps: Intellectuals, Unification, and Political Change 1990: The Case of Christa Wolf. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 251-277, S. 262.
5.3 Epik
5.3.2
345
Reden als Befreiung und gegen das Vergessen – Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck (1991)
Friedrich Christian Delius’ 1991 erschienene Erzählung ist einer der ersten differenzierten literarischen Versuche der Auseinandersetzung mit der ‚Wende‘ und ihren unmittelbaren Folgen. Der Ich-Erzähler gibt darin ein Zusammentreffen zu einer Zeit wieder, in der „alles sich öffnet und wendet und kippt“.894 Anhand der Geschichte des Dorfes Ribbeck und derer von Ribbeck werden Kontinuitäten zwischen alter und neuer Herrschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart der unmittelbaren Nachwendezeit verdeutlicht. Entstehungsanlass für Die Birnen von Ribbeck war ein Sonntagsausflug, den der 1943 geborene Autor im Januar 1990 unternahm: Nachdem West-Berliner endlich mit dem bloßen Ausweis in der Hand, ohne die vielfach bestempelten Tagesvisa, in die DDR hineinfahren konnten, führte ein erster Sonntagsausflug im Januar 1990 die Familie in das Dörfchen Ribbeck, keine dreißig Kilometer von der Stadtgrenze entfernt, berühmt durch das Lesebuchgedicht „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ von Theodor Fontane. Früher, als die Autobahn Berlin-Hamburg noch nicht gebaut war, fuhr man auf der Fernstraße 5 durch das Dorf, durfte aber nicht anhalten, es waren immer nur kurze Blicke erlaubt, „ist da ein Schloß? Ist da ein Birnbaum?“, so waren Ribbeck und der Fontanesche Birnbaum Ort eines Tabus geworden. An jenem Sonntagnachmittag trafen wir nun, dicht am berühmten Birnbaum, auf einen LPG-Bauern, Traktorfahrer, der nach kurzem Gruß von sich aus zu reden begann, vom Birnbaum, vom Dorf, von den alten Ribbecks, von der Partei, von den Schikanen, von seinen Erwartungen. Was er erzählte, war in keiner Weise geordnet, chronologisch schon gar nicht, sondern alle Geschichten, längere oder kürzere und die Kommentare dazu, wurden durcheinander, ineinander, assoziativ erzählt, daß ich zunächst nie genau verstand, ob das Erzählte vor drei Jahren, vor dreißig Jahren oder zu Zeiten des letzten Herrn von Ribbeck oder seiner Vorväter spielte.895
Delius kehrte danach mehrfach nach Ribbeck zurück – zunächst, um ein Originaltonfeature für den Rundfunk zu produzieren. Parallel zu den damit verbundenen Interviews auch mit anderen Dorfbewohnern entstanden die ersten Teile der Erzählung.896 Wie obiges Zitat belegt, gibt es für die vergleichsweise unkonventionelle Form der Erzählung – der Text besteht aus einem einzigen langen Satz – ein reales Vorbild. In Ergänzung durchziehen 894 895
896
Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991, S. 52. Ders.: Warum ich ein Einheitsgewinnler bin oder Die neuen alten Erwartungen an die Literatur. In: F.C.D.: Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich immer noch kein Zyniker bin. Berlin 1996; S. 58-84, S. 59f.; vgl. auch Keith Bullivant: „Bewundernswert, was Sie alles schon damals …“ Gespräch mit Friedrich Christian Delius. In: Literatur für Leser (1995) 1; S. 1-10, S. 5f. Vgl. Ebd., S. 61.
346
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Zitate, vor allem aus der berühmt gewordenen Fontane-Ballade (1889)897, den Nationalhymnen von DDR und Bundesrepublik898 sowie Volksweisheiten, Floskeln und weitere Liedzitate899, leitmotivisch den gesamten Text. Das Gedicht über den Gutsherrn von Ribbeck, der sich eine Birne ins Grab legen lässt, um seinen geizigen Sohn zu überlisten und über seinen eigenen Tod hinaus noch Früchte ‚verschenken‘ zu können, wurde der Erstausgabe separat beigelegt; in den beiden Taschenbuchausgaben900 findet es sich dem Text unmittelbar vorangestellt. 5.3.2.1
Formale Aspekte
Die Birnen von Ribbeck wird im Untertitel als „Erzählung“ bezeichnet. „Erzählung“ ist dabei weniger gattungsspezifisch zu verstehen als wörtlich zu nehmen: Der Text besteht aus dem sturzbachartigen Monolog eines alten Ribbecker Bauern. Nachdem er aus Angst, bespitzelt zu werden und etwaige negative Konsequenzen tragen zu müssen, jahrelang geschwiegen hat901, ist sein Mitteilungsbedürfnis besonders groß: […] nun laßt mich mal meckern, das muß man doch sagen dürfen, ich laß mir nicht mehr die Schnauze, vierzig Jahre lang hab ich die Schnauze gehalten […]902
Bereits relativ früh zeichnet sich ab, dass ein Stoppen des Redeflusses von außen unmöglich sein wird.903 Durch die Unstrukturiertheit der Rede, die 897
898 899 900 901 902 903
Vgl. Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991, S. 8, 11, 16, 42, 64, 70, 71, 72, 78, 79. Der Stoff findet sich in „Teil 1: Sagen“ der 1887 in Neuruppin erschienenen Sammlung Volkstümliches aus der Grafschaft Ruppin und Umgebung von Karl Eduard Haase. Die Sage ist dort unter dem Titel Der Birnbaum an der Kirche zu Ribbeck veröffentlicht. Fontanes Quelle dürfte allerdings der zwei Jahre später anonym unter dem Titel GroßGlienicke und die Ribbecks erschienene Beitrag in der Zeitschrift Der Bär gewesen sein, deren Mitherausgeber er war (vgl. Der Bär, Jg. 15, Nr. 32 v. 12.5.1889, S. 399f.). Seine Ballade ist nicht die erste literarische Verarbeitung des Stoffes, wie auch aus der Erzählung hervorgeht: Bereits 1875 hatte Hertha von Wiedebach (1851-1927), eine Verwandte derer von Ribbeck, anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Familie ein thematisch ähnliches Gedicht verfasst (vgl. F.C.D.: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991, S. 54f.; bei Delius ist die Rede von einem „Fräulein von Witzleben“). Dass Fontane diesen Text gekannt hat, lässt sich jedoch nicht nachweisen (vgl. zu diesem Komplex Theodor Fontane: Gedichte. I. Gedichte (Sammlung 1898). Aus den Sammlungen ausgeschiedene Gedichte. Hrsg. von Joachim Krueger und Anita Golz. Berlin (DDR) / Weimar 1989, S. 602). Vgl. Ebd., S. 72, 74. Vgl. Ebd., S. 13, 20, 42, 74, 76. Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1993 bzw. 1996. Vgl. Ders.: Dass. Reinbek 1991, S. 10, 14, 39. Ebd., S. 53. Vgl. Ebd., S. 27.
5.3 Epik
347
Vermischung der Erinnerungen und das Einfügen von Assoziationen in Verbindung mit Aufzählungen, Satzfetzen und weiteren Formen der Ellipse kann die Erzählweise als dem Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) verwandt bezeichnet werden. Der Monolog ist dabei kein innerer, sondern ein ‚äußerer‘, denn ein Adressat ist klar erkennbar. Unter dem zunehmenden Einfluss von Bier und Schnaps fühlt der Erzähler sich beflügelt904, sein Ton wird aggressiv.905 Seine Sprache ist rhythmisch, innerhalb dieses Rhythmus ist eine Steigerung zu erkennen, die gegen Ende zu immer knapperen Formulierungen führt: […] und ich, wo bin ich, ich komm nicht los von meinem Ribbeck und komm nicht hoch heute, schwer was in der Glocke, ich komm schon nicht mehr mit […]906
Der lange Satz, aus dem die Erzählung besteht, ist in Absätze gegliedert. Diese entsprechen jedoch nicht einer Gliederung nach traditionellem Muster: Themenbehandlung und Reflexionen erfolgen vielmehr absatzübergreifend. Die Absätze dürften damit meist eher Atempausen entsprechen. Manfred Durzak (1997) bezeichnet den Text denn auch als rhythmisch gegliederte Prosa, die sich ohne weiteres in Verse brechen läßt und die gleichsam zu strophischen Einheiten geordnet ist. Das frei gehandhabte daktylische Grundmuster weist also auf ein anderes erzählerisches Gattungsmodell zurück, das Epos […].907
Das Epos bezieht sich jedoch in der Regel auf ein geschlossenes Weltbild. Hans-Christoph Graf von Nayhauss (1997) stellt in diesem Zusammenhang fest, daß Delius in diesem unendlichen Wortschwall, der alle Grenzen der bisher geschlossenen Welt des Epos überspült, auch strukturell ins Bild gebracht hat, wie das Private, das Volk in der DDR, das Öffentliche, die festgefügte totale Welt des DDR-Staates hinwegschwemmte.908
Wie bereits angedeutet, wechselt der Erzähler nicht nur abrupt die Themen, sondern durchbricht ständig die Chronologie: Im Wesentlichen wechselt 904 905 906 907
908
Vgl. Ebd., S. 16, 19, 52, 54, 57, 59f., 63, 70, 73. Vgl. Ebd., S. 53, 71, 76. Ebd., S. 70. Manfred Durzak: Die Früchte der Wende? Zu Delius’ Erzähl-Poem Die Birnen von Ribbeck. In: Manfred Durzak / Hartmut Steinecke (Hgg.): F.C. Delius: Studien über sein literarisches Werk. Tübingen 1997 (Stauffenburg Colloquium, Band 43); S. 181-192, S. 183. Hans-Christoph Graf von Nayhauss: Zu Delius’ Die Birnen von Ribbeck aus literaturdidaktischer Sicht. In: Ebd.; S. 193-206, S. 200.
348
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
der Bauer zwischen Wilhelminismus909, Nationalsozialismus und beiden Weltkriegen910, Sozialismus911 und einer ungewissen Zukunft.912 Mit dem Wechsel der dargestellten Zeiten geht ein Wechsel einher zwischen den Personalpronomen „wir“ und „ihr“913, „uns“ und „euch“914, „wir“ und „sie“915 sowie „ich“ und „du“916 bzw. entsprechenden Kombinationen. Je nach Zeit bezeichnet „wir“ die Dorfbewohner, die DDR oder das ganze Dorf.917 Klare Abgrenzungen erfolgen gegen die mit „sie“ bezeichneten jeweiligen Inhaber der Macht: die Gutsherren von Ribbeck, nach ihnen die Nazis, noch später die Repräsentanten der DDR, insbesondere der Partei oder des Staatssicherheitsdienstes, schließlich auch die Westdeutschen; letztere werden zudem häufig direkt mit „ihr“ angesprochen. Der Bauer übernimmt damit nicht nur die eigene, sondern zugleich weitere Sprecherrollen und erfüllt auf diese Weise die Rolle eines kollektiven Ichs: […] egal, was ihr denkt, ob einer spricht oder zehn oder fünfzig Leute, ihr hört lauter Überlebende reden, vom Schweigen befreit, jeder übt noch, was zu sagen und die letzten Sorgen auseinanderzustoßen […]918
Während des Erzählens reagiert der Erzähler auf Reaktionen wie Einwürfe oder Handlungen des Zuhörers: „[…] mußt mir ja nicht zuhörn, wenn du das nur für Gejammer hältst […]“.919 Indirekt werden also Hörersignale mitgeteilt. Dadurch wird letztlich auch der Leser zum ‚Zuhörer‘ und somit zum direkten Adressaten des Bauern. 5.3.2.2 Die Demontage eines Mythos Delius konfrontiert in seiner Erzählung – im Gegensatz zu Fontane – den legendären Herrn von Ribbeck mit der historischen Realität. Diese sah 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918
919
Vgl. Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991, S. 20. Vgl. Ebd., S. 34f., 37, 61. Vgl. Ebd., S. 38f., 50-52. Vgl. Ebd., S. 11, 22. Vgl. Ebd., S. 14, 17, 26, 32, 33, 34, 43, 54, 59, 60, 63, 76. Vgl. Ebd., S. 34, 54. Vgl. Ebd., S. 17, 32, 33. Vgl. Ebd., S. 14, 16. Vgl. auch Reinhard Baumgart: Deutsch-deutsche Sprechblasen: Friedrich Christian Delius’ Beitrag zur deutschen Einheit. In: Die Zeit v. 22.3.1991. Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991, S. 43. Reinhard Baumgart spricht von einem „Ich in der Wir-Rolle, ein kollektives Ich stimmt einen Beschwerde- und Klagegesang an.“ (Reinhard Baumgart: Deutsch-deutsche Sprechblasen. Friedrich Christian Delius’ Beitrag zur deutschen Einheit. In: Die Zeit v. 22.3.1991) Ebd., S. 67.
5.3 Epik
349
keineswegs so harmonisch aus, wie die Fontanesche Ballade glauben machen könnte: Die Ribbecks knechteten ihre leibeigenen Bauern, zahlten zunächst gar keinen, später 15 Pfennige Lohn pro Stunde und waren zugleich Polizisten, Richter, Kirchenherren und Offiziere.920 Die harte Feldarbeit von fünf Uhr am Morgen bis sieben Uhr am Abend wurde durch Prügel, Schikanen und Willkür921 zusätzlich erschwert: […] als wüßten wir nicht, was alle wissen, daß auch der gnädigste Ribbeck kein Zauberer war, der Schlösser und Pferdeställe aus Kuhscheiße macht, sondern aus Bücklingen und Schweigen und gesenkten Blicken und Mützeziehn, bis alle aus der Hand ihm fraßen […]922
Zudem mussten dem jeweiligen Herrn von Ribbeck die Frauen auch sexuell zu Willen sein923, so dass er „außer seinem Samen und dem Kontingent an Schlägen, Kartoffeln und Weizen aus reiner Freundlichkeit Birnen austeilte an Kinder, an seine Kinder […]“.924 Gerade vor diesem Hintergrund ist die Mildtätigkeit des Herrn von Ribbeck stark zu relativieren, denn für seine unehelichen Kinder übernahm er keinerlei Verantwortung. Insofern demontiert Delius schrittweise den in der Fontaneschen Ballade evozierten Mythos, um diesen am Ende vollends aufzulösen mit der Forderung: […] alter Ribbeck, jetzt kannst du zugeben, daß du eine Erfindung bist, denn wenn an der Sage was stimmt, dann war es ein Ribbecker Bauer, der gern Birnen aß und nach dessen Tod eine Birne in der Jacke blieb, so wuchs der Baum und so weiter, jetzt kommt es raus […]925
Auf einer übergeordneten Ebene wird nicht nur der Fontanesche Mythos systematisch demontiert, sondern jeglicher Ansatz der Sehnsucht nach einer wie auch immer gearteten, jedenfalls aber ‚guten alten Zeit‘. Diese hat es, wie die Erzählung belegt, niemals gegeben und wird es auch nicht geben.926 Im Verhalten nahezu aller von Ribbecks ist eine historische Kontinuität erkennbar; diese lässt die Herren letztendlich als austauschbar erscheinen. Durchbrochen wird diese Kontinuität lediglich durch den Tod eines von 920 921 922 923 924 925 926
Vgl. Ebd., S. Vgl. Ebd., S. Ebd., S. 13. Vgl. Ebd., S. Ebd., S. 17. Ebd., S. 72f. Vgl. Ebd., S.
15. 13, 16, 17, 24, 25, 49. 20f.
17.
350
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ribbeck im Konzentrationslager Sachsenhausen927 sowie durch die Enteignung und Vertreibung der Gutsherren nach dem Zweiten Weltkrieg. Diesem folgen die Zeit der sowjetischen Besatzung und – im Text sprachparodistisch durch die Verarbeitung bekannter Zitate dargestellt – die Gründung der DDR: „[…] ein neues Leben vorwärts, aufwärts, brüderlich, was des Volkes Hände schaffen, und deine Hände kräftig dabei, Anpacken, Mitmachen, Aufbauen […]“.928 Trotz der Enteignung derer von Ribbeck und vom Erzähler durchaus positiv bewerteter Ansätze929 gestaltete die DDRZeit sich als schwierig: Die Leiter der LPG im Kleinen und des Staates im Großen erwiesen sich als unfähig930, beispielsweise seien die Kühe nicht artgerecht gehalten worden.931 5.3.2.3 Im Strudel der ‚Wende‘-Folgen Während der Bauer noch über die unfähigen DDR-Funktionäre nachdenkt, die den Staat in den Ruin trieben, muss er sich neuen Problemen stellen: die früheren Eigentümer von Land und Häusern kehren zurück nach Ribbeck und stellen ihre Forderungen.932 Auch deshalb sieht er sich vom Schicksal der Arbeitslosigkeit bedroht.933 Auf Grund der historischen Erfahrungen ist seine Angst vor einer Rückkehr derer von Ribbeck berechtigt.934 Von Beginn an wird kein Zweifel daran gelassen, dass es sich beim Eintreffen der Westdeutschen in Ribbeck um eine regelrechte Invasion handelt: Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiß und blau lackierten Autos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starken Motoren, und mit den breitachsigen, herrischen Fahrzeugen das Dorf besetzten, wie es seit den russischen Panzern, dem Luftwaffengebell und den Ribbeckschen Jagdfesten nicht mehr besetzt war, fünfzig oder sechzig glänzende, frisch gewaschene Autos auf den drei Straßen, und ausstiegen wie Millionäre mit Hallo und Fotoapparaten und Sonnenschirmen und zuerst die Kinder, dann uns nach und nach aus Stuben und Gärten lockten und Bier und Faßbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten und nach einer kurzen Rede […]935 927
928 929 930 931 932 933 934 935
Vgl. Manfred Durzak: Die Früchte der Wende? Zu Delius’ Erzähl-Poem Die Birnen von Ribbeck. In: Manfred Durzak / Hartmut Steinecke: F.C. Delius: Studien über sein literarisches Werk. Tübingen 1997 (Stauffenburg Colloquium, Band 43); S. 181-192, S. 188. Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991, S. 38. Vgl. Ebd., S. 50, 51, 64. Vgl. Ebd., S. 50-52, 64. Vgl. Ebd., S. 51. Vgl. Ebd., S. 11, 45f. Vgl. Ebd., S. 46, 74. Vgl. Ebd., S. 75. Ebd., S. 7; vgl. auch Ebd., S. 16, 61.
5.3 Epik
351
Der Vergleich mit Militärs wird später wieder aufgenommen: „[…] kaum geht die Grenze auf, da hupt es, und ihr steht mitten auf dem Hof, latscht durch unsere Gärten wie Besatzer […].“936 Damit kommt den Westdeutschen die Rolle der früheren Feudalherren zu. Konsequenterweise spricht der Erzähler gegen Ende seines Monologs den westdeutschen Zuhörer direkt als ‚alten Ribbeck‘ an: „[…] komm du noch mit rüber in die Kneipe, alter Ribbeck […]“.937 Nach dem Ende der DDR droht dem Dorf die Vereinnahmung durch den Kapitalismus: […] ganz Ribbeck lebt von der Birne, Touristen kaufen Birnen zum Mitnahmepreis, Exportschlager Ribbecker Birnengeist mit und ohne Birne in der Flasche, Aschenbecher, Hemden, Schnapsgläser, Schallplatten, das unerschöpfliche Birnenmotiv überall, bis uns die Birnen zum Hals, aber wir leben davon, und Fernsehleute, Dichter, Werbemenschen veredeln uns Ribbeck, so spendet Segen noch immer Fontane […]938
Mit diesem Aspekt schließt die Erzählung. Wichtig ist dabei der Wechsel vom Ich-Erzähler zum auktorialen Erzähler; der Monolog klingt also aus, ohne zum Dialog zu werden: […] der Platz rund um den jungen Birnbaum verlassen, von den Ställen oben schrien die Kühe, alles wartete auf die goldene Herbsteszeit, es roch wieder wie immer nach Gärfutter und nicht mehr nach Bratwurst, hinter den Fenstern verlosch das Fernsehlicht, still wurde es rund um die Leninstraße, die bald benannt wird nach dem, dem das ganze Fest und alles zu verdanken ist, Fontane, ja, das Neue recht eigentlich leben, damit die Fremden den Weg schneller finden zu den Birnbäumen, mit denen Ribbeck wuchern wird und springen in die Wünsche von frommer Herrschaft, freundlichen Kunden und fruchtbaren Zitaten: so spendet Segen noch immer, und einer kämpfte, als alle andern abgerückt, weggetorkelt oder fortgeschlichen waren in die verschiedenen Lichtungen der Nacht, aus dem Gras sich hoch, mühsam aufrecht, und lallte im Takt seiner wackligen Schritte: noch immer, die Hand, noch immer, die Finger, noch immer, fing alles, noch immer, fängt an, im Land, im Land, im Havelland.939 936
937 938 939
Ebd., S. 32. Diese Haltung benennt Helga Königsdorf in einem Essay: „Sie [die Westdeutschen; F.Th.G.] fallen ein in ‚unser Land‘, mit teilnehmender Miene und Fotoapparaten, unsere letzten Zuckungen unter die Leute zu bringen. Oder sie bleiben bequem im Medienkanapee und haben eh schon alles gewußt.“ (Helga Königsdorf: Das Spektakel ist zu Ende. Und die Künstler werden wieder gebraucht. In: FAZ v. 26.2.1990) Ebd., S. 72. Ebd., S. 41. Ebd., S. 78f.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
5.3.2.4 Das Sinnbild des Birnbaums Über das Bild des legendären Birnbaums werden die verschiedenen vom Erzähler angesprochenen Zeiten auf einer weiteren Ebene heraufbeschworen. Der in Fontanes Ballade erwähnte Birnbaum wurde 1911 „von einem Sturm gefällt“.940 Vom damaligen Herrn von Ribbeck wurde der Stumpf als „Zigarrenaschenbecher“941 genutzt, nach den beiden Weltkriegen allgemein „bestaunt als Reliquie“942, die jedoch allmählich in Vergessenheit geriet. Ein Jahre später neu gepflanzter zweiter Baum wurde „vom Russen abgehackt […] aus bösem Willen gegen Ribbeck, wie manche sagen“943 – eine Handlung, die als Zeichen der Ausrottung des Feudalismus in der Sowjetischen Besatzungszone gedeutet werden kann. Mitte der fünfziger Jahre wurde heimlich der Plan gefasst, „aus Protest gegen die Leere zwischen Hühnern und Spatzen, gegen das Verschwinden zwischen Plan und Verdacht, gegen das Kriechen vor den Lügen“944 einen neuen Birnbaum zu pflanzen. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde ein junger Birnbaum, „der an der Grenze nach Berge hin am Feldrand wuchs, ein Wildling, nicht gezüchtet oder veredelt in der Baumschule“945 ausgegraben und an die Stelle des alten Baumes versetzt; über ihn heißt es: „da steht er jetzt, Birnbaum Nummer drei, spendet wenig Schatten und keine Birnen, nicht schön gewachsen, aber ein Birnbaum aus Ribbeck“.946 Bis zu diesem Zeitpunkt steht der Birnbaum also für eine nach wie vor nicht vollständig durchbrochene geschichtliche Kontinuität, auf einer weiteren Ebene ist er zum Sinnbild eines – wenn auch geringen – Widerstandes gegen die sowjetischen Besatzer und das Regime überhaupt geworden. Birnbaum „Nummer vier“947 wird von den Westdeutschen in das Dorf gebracht. Ohne die Ribbecker um Einverständnis oder gar nach einem geeigneten Ort zu fragen, wird er an einem selbst gewählten Platz in die Erde gerammt948, der bereits vorhandene Birnbaum interessiert sie nicht.949 Die „Gräfin von Paris“, deren Früchte „bekanntlich nach Rüben“950 schmecken, ist fremd und für Ribbeck völlig unpassend, denn sie harmoniert nicht mit den klimatischen Bedingungen vor Ort, da sie einen 940 941 942 943 944 945 946 947 948 949 950
Ebd., S. 28. Ebd. Ebd., S. 31. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 39f. Ebd., S. 40. Ebd. Vgl. Ebd., S. 8, 22. Vgl. Ebd., S. 40. Ebd.
5.3 Epik
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warmen Standort benötigt und die Birnen erst im Dezember reifen.951 Der aus der Perspektive der Westdeutschen die Aufbruchstimmung nach der ‚Wende‘ symbolisierende Baum und der vor Ort mittels der Einpflanzung des 500 DM teuren Gewächses zelebrierte Gemeinschaftssinn geht damit völlig an den Bedürfnissen der Ribbecker vorbei. Ribbeck hat nun zwei Birnbäume. Dem Bild der beiden getrennten Bäume setzt Delius den utopischen Entwurf einer Vereinigung entgegen: Der Ribbecker „Wildling“ könnte „als Unterlage“ für die „Gräfin von Paris“ dienen, aber da müßte ein Experte anreisen und klären, ob die beiden Pfropfpartner einander vertragen, müßte beiden Bäumen Wunden zufügen mit Kopuliermesser und Kopulierhippe, und bei der Stärke unseres Baumes müßte er die Kopulation mit Gegenzungen vornehmen, damit wegen der größeren Festigkeit, der größeren Berührungsflächen eine innigere Verwachsung erreicht wird, alles mit selbstklebendem Veredelungsband umschließen, mit Baumwachs verstreichen, und dann hätten wir vielleicht eines Tages fette Birnen der Sorte „Gräfin von Paris“, an der alten Stelle […]952
Erst auf der Basis dieser Symbiose könnte etwas Neues entstehen. Der Weg zur Einheit wäre demnach für beide Seiten schmerzhaft und nicht ausschließlich für die unterdrückte ostdeutsche. Das Ergebnis könnten immerhin „fette“953, wenn auch nicht unbedingt wohlschmeckende Früchte sein. 5.3.2.5
Rezeption
Die Rezeption der Erzählung war keineswegs einhellig positiv. Für Reinhard Baumgart (1991) besteht der Text lediglich aus „Klischeematerial“, das ausschließlich das „längst Bekannte heranzitiert“. Dieser Vorwurf mag bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigt sein, denn Delius vergröbert in der Tat die Vorstellung von Ost- und Westdeutschen bis hin zum Typenhaften. Seine Vorgehensweise ist jedoch eine so übliche wie legitime Form der literarischen Darstellung. Baumgart erhebt zudem den Vorwurf, Delius bediene sich einer „geliehenen Sprache“, deren Autor Ribbeck und die Ribbecker abermals sich selbst entfremdet, weil er sie braucht und einsetzt in seinem Lehrstück, in der Rolle der leitenden Unschuld. So daß der Text, obwohl strotzend vor Harmlosigkeit, am Ende doch einen subtilen Verdacht provoziert: Betreibt nicht auch er, wie seine negativen Helden, die feiernd in Ribbeck einmarschierenden Westberliner, eine falsche Verbrüderung 951 952 953
Vgl. Ebd., S. 63. Ebd., S. 40. Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
mit den dortigen „Eingeborenen“? Er nimmt ihnen das Wort aus dem Mund. Auch das ist, wenn auch gut, ja bestens gemeint, ein Akt der Kolonisierung, für den es von den ersten Missionaren bis zu den neuesten Anthropologen genügend Vorläufer gibt.954
In eine ähnliche Richtung zielt Paul Konrad Kurz (1993); er bemängelt: „Das ist journalistische Westler-Rede, nicht ostdeutsche Bauernzunge.“955 1992 wurde am Theater Stendal die Dramenfassung uraufgeführt; sie erhielt ausschließlich negative Kritiken.956 Delius erklärt das Scheitern damit, dass der umfassende Erzählerblick des epischen Ichs wieder aufgelöst wurde in die Vielzahl der einzelnen Zeugen-Stimmen, deren Position jeweils ideologisch identifizierbar wurde im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung zum Wiedervereinigungsprozeß mit allen Nuancen dazwischen.957
Delius ist einer der ersten, insbesondere westdeutschen Autoren, die Zweifel an der bundesrepublikanischen Besatzermentalität anmelden. Die in Erzählung wie Drama dargestellte Fiktion wurde nur unwesentlich später von der Realität eingeholt bzw. noch übertroffen: Der Ribbeck-Erbe Friedrich-Carl erhielt im zweiten Anlauf sein Land zurück: „Schon sieht der neue Herr Scharen von Ausflüglern aus dem nahen Berlin anreisen: ‚Wir können das Dorf vergolden.‘ Ein Reiterhof soll her, eine Käserei und natürlich eine Birnenschnaps-Brennerei.“958 5.3.3
Verabschiedung eines Gründervaters – Monika Maron: Stille Zeile sechs (1991)
Die 1941 in Berlin geborene Schriftstellerin Monika Maron ist einem breiteren Publikum in der Bundesrepublik vor allem durch die Publikation 954 955
956 957
958
Reinhard Baumgart: Deutsch-deutsche Sprechblasen. Friedrich Christian Delius’ Beitrag zur deutschen Einheit. In: Die Zeit v. 22.3.1991. Paul Konrad Kurz: Was war, erinnern die Dichter. Literarische Befunde der DDR-Gesellschaft. In: P.K.K.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur. Frankfurt a.M. 1993; S. 211-289, S. 239. Vgl. z.B. Meike Scheffel: Volkes Stimme versöhnt. In: taz v. 29.1.1992. Friedrich Christian Delius am 30.1.1995 in einem Werkstatt-Seminar an der Universität Paderborn; zit. nach Manfred Durzak: Die Früchte der Wende? Zu Delius’ Erzähl-Poem Die Birnen von Ribbeck. In: Manfred Durzak / Hartmut Steinecke: F.C. Delius: Studien über sein literarisches Werk. Tübingen 1997 (Stauffenburg Colloquium, Band 43); S. 181-192, S. 187. Peter Schmalz: Herr von Ribbeck kehrt zurück. Und auch sein Birnbaum steht wieder im Havelland. In: Die Welt v. 31.1.1995; vgl. auch [Anon.]: Bei meinen Ahnen. Ein brandenburgisches Dorf in Aufruhr: Herr von Ribbeck kehrt nach Ribbeck im Havelland zurück. In: Der Spiegel 49 (1995) 6 v. 6.2.1995, S. 87f.
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ihres Romans Flugasche (1981)959 bekannt geworden, der in der DDR nicht erscheinen durfte. Vom 3. Juli 1987 bis zum 11. März 1988 erschien im ZEITmagazin ihr viel beachteter Briefwechsel mit Joseph von Westphalen.960 In beiden Werken geht es neben grundsätzlichen Fragen des Lebens in der DDR auch immer wieder um die Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens unter den Bedingungen der Zensur. 1988 übersiedelte Maron mit einem Dreijahresvisum nach Hamburg und kennt insofern beide deutsche Staaten aus eigenem Erleben. Ihr 1991 erschienener Roman Stille Zeile sechs spielt Mitte der achtziger Jahre; die ‚Wende‘ selbst wird darin nicht thematisiert. Wenn der Text dennoch als ‚Wenderoman‘ gelesen werden kann, so hängt dies in erster Linie mit den dargestellten Machtverhältnissen in der DDR Mitte der achtziger Jahre zusammen, in denen zumindest eine mögliche Erklärung für den Zusammenbruch des Staates liegt. Die Rahmenhandlung bildet die Beerdigung des hohen Parteifunktionärs Herbert Beerenbaum aus der Perspektive der zweiundvierzigjährigen IchErzählerin Rosalind Polkowski.961 Das Buch endet mit dem Verlassen des Friedhofsgeländes durch die Erzählerin, die während der Trauerfeier auf ihre Vergangenheit zurückblickt, sich aber auch mit der Gegenwart auseinander setzt. Polkowski, die früher in einem historischen Institut beschäftigt war, hat sich entschlossen, nicht mehr für Geld zu denken962, nachdem sie feststellen musste: „Nichts an meinem Leben erschien mir noch vernünftig.“963 Ihr Beruf hatte sie in keinerlei Hinsicht ausgefüllt, denn: „Nicht mir wurde das Sachgebiet zugeteilt, sondern ich dem Sachgebiet und auch dem Zimmer. Stürbe ich, würde es das Sachgebiet und das Zimmer immer noch geben, so wie es sie vor mir gegeben hatte […].“964 Beerenbaum, der im Pankower 959 960 961
962 963 964
Monika Maron: Flugasche. Roman. Frankfurt a.M. 1981. Dies. / Joseph von Westphalen: Trotzdem herzliche Grüße. Ein deutsch-deutscher Briefwechsel. Mit einem Nachwort von Antonia Grunenberg. Frankfurt a.M. 1988. Diese Figur erscheint bereits in Monika Marons Roman Die Überläuferin (Frankfurt a.M. 1986), in der ebenfalls die Figuren Bruno und Karl-Heinz Baron vorkommen; vgl. dazu auch Ricarda Schmidt: From Surrealism to Realism: Monika Maron’s Die Überläuferin and Stille Zeile sechs. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 247-255 sowie Sylvia Kloetzer: Perspektivenwechsel: Ich-Verlust bei Monika Maron. In: Zwischen gestern und morgen. Schriftstellerinnen der DDR aus amerikanischer Sicht. Hrsg. von Ute Brandes. Berlin / Bern / Frankfurt a.M. / New York / Paris / Wien 1992, S. 249-262. In der Rahmenhandlung liegt übrigens eine Parallele zu Christoph Heins Novelle Der fremde Freund (Berlin (DDR) / Weimar 1982; in der Bundesrepublik im selben Jahr erschienen unter dem Titel Drachenblut). Vgl. Monika Maron: Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a.M. 1991, S. 19. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22.
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Funktionärsviertel in der Stillen Zeile Nummer 6 lebt, lernt sie in einem Café kennen. Da seine rechte Hand gelähmt ist, er aber seine Memoiren verfassen möchte, bittet Beerenbaum Rosalind, für ihn als Schreibkraft tätig zu werden.965 Sie sagt zu – entgegen ihrer ursprünglichen Absicht. Im Laufe des Schreibprozesses ist sie zunehmend dem Konflikt ausgesetzt, sich mit inhaltlichen Fragen auseinander setzen zu müssen, weil sie nicht in der Lage ist, ohne weiteres die von Beerenbaum diktierten Sätze zu Papier zu bringen, das heißt ohne nachzudenken bzw. einen Kommentar abzugeben. Ihre Abneigung gegen Beerenbaum wächst, zumal ihr die Umsetzung des Vorsatzes, nicht mehr für Geld zu denken, misslingt. 5.3.3.1 Der Konflikt zwischen Rosalind und Beerenbaum als Generationenkonflikt Beerenbaums Biografie ist geradezu mustergültig.966 Seine Memoiren verfasst er aus der „Pflicht, künftigen Generationen ein Zeugnis zu hinterlassen“.967 Er ist Jahrgang 1907 und stammt aus dem Ruhrgebiet, einer klassischen Arbeiterregion also. Vater und Großvater waren Bergarbeiter. Beerenbaum war schon früh in der kommunistischen Jugendbewegung aktiv, wurde im Dritten Reich verfolgt und emigrierte in die Sowjetunion. Nach dem Krieg ging er in die Sowjetische Besatzungszone und brachte es dort bis zum Professor, obwohl er nur einen Volksschulabschluss besaß. Seine Rückkehr nach Deutschland kam der Erfüllung eines Traumes gleich: Der Augenblick, in dem unser Zug über die Grenze nach Deutschland fuhr, gehört zu den glücklichsten meines Lebens. Heim ins befreite Deutschland, befreit durch die Sowjetarmee. Weinend lagen alle Genossen im Zug sich in den Armen. In dieser Stunde wußten wir: Es würde unser Deutschland werden, auf ewig befreit von kriegslüsternen Imperialisten und mordgierigen Faschisten.968
Er war maßgeblich an der ‚Umerziehung‘ der Deutschen in der Sowjetischen Besatzungszone beteiligt; die geistige Situation im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit beschreibt er als Herausforderung: 965
966
967 968
Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass hier ein außerordentlich unrealistisches Moment des Romans liegt: Kein Funktionär der DDR hätte eine fremde Frau in einem Café darum gebeten, ihn beim Niederschreiben seiner Memoiren zu unterstützen. Dass Beerenbaums Biografie mustergültig ist, wird nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf sprachlicher Ebene verdeutlicht. Selbst als er seine Frau im völlig zerbombten Berlin wiedertrifft, hält Beerenbaum eine authentische Sprache nicht lange durch; bald gleitet er in den angelernten Duktus ab, hier den Text der DDR-Nationalhymne zitierend: „Und wir, eine Handvoll halbverhungerter und zerschlagener Kommunisten und Antifaschisten, hatten den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, ja, so war es.“ (S. 152) Ebd., S. 47. Ebd., S. 200.
5.3 Epik
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Es war erschreckend, wie es ideologisch in den Köpfen der Menschen aussah. Noch immer standen sie den Mördern näher als den Opfern. Bis tief in die Arbeiterklasse hinein hatte die antisowjetische Hetze ihr Werk getan. Diese Menschen zu erziehen war eine gigantische Aufgabe.969
Nahezu das gesamte Selbstverständnis Beerenbaums beruht auf seiner Haltung des konsequenten Antifaschismus. Diese Haltung ist in ihrer Ausschließlichkeit jedoch nicht für die Gegenwart tauglich und muss einen Generationenkonflikt geradezu heraufbeschwören.970 Im Roman wird eben diese Problematik anhand von Rosalinds Auseinandersetzung mit Beerenbaum verdeutlicht. Ihr Konflikt mit dem nach wie vor einflussreichen Altfunktionär kommt in drei Situationen besonders deutlich zum Ausdruck; diese stellen zugleich Eskalationsstufen dar: – Situation 1: das Gespräch zwischen Beerenbaum und dem Schriftsteller Victor Sensmann über den Bau der Berliner Mauer, – Situation 2: Beerenbaum stellt die Situation im Moskauer (Emigranten-)Hotel Lux so einseitig wie unkritisch dar, – Situation 3: das Gespräch über die Verhaftung des Sinologen KarlHeinz Baron, eines Freundes von Rosalind. Diese Situationen sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. Der Schriftsteller Victor Sensmann arbeitet an einem Roman über das Berliner Universitätsleben Anfang der sechziger Jahre und sucht Beerenbaum im Zuge seiner Recherchen auf, um mit ihm über diese Zeit zu sprechen. Beerenbaum erzählt bereitwillig im bereits bekannten Duktus: „Das war eine aufregende Zeit, wie Sie sich denken können, so kurz nach dem Bau unseres Antifaschistischen Schutzwalls […].“971 Vor dem 13. August habe er, wenn er morgens beim Betreten der Universität die Linden hinunterblickte, oft die Vision gehabt, Ströme des Lebenssaftes der jungen Republik, rot und pulsierend, durch das Brandenburger Tor geradewegs in den gierigen Körper des Feindes fließen zu sehen.972
Rosalind ist nicht in der Lage sich zurückzuhalten und äußert deshalb: „Da haben Sie das Blut lieber selbst zum Fließen gebracht und eine Mauer gebaut, an der Sie den Leuten die nötigen Öffnungen in die Körper schießen konnten […].“973 Beerenbaum rechtfertigt sich daraufhin: „Ja, 969 970
971 972 973
Ebd., S. 202. Literarisch verarbeitet wurde diese Problematik schon lange vor der ‚Wende‘ – ein Faktum, das nahezu alle Kritiker von Marons Text ignorieren. Exemplarisch genannt sei hier Thomas Braschs (1945-2001) Erzählband Vor den Vätern sterben die Söhne (Hamburg 1977). Monika Maron: Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a.M. 1991, S. 107. Ebd., S. 107f. Ebd., S. 108.
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Frau Polkowski, auch mit Ansichten wie der Ihren hatten wir damals an der Universität zu kämpfen.“974 Sensmann, von dem Rosalind eigentlich Rückendeckung erwartet hatte, stimmt ihm zu: „Ich glaube auch, daß es eine notwendige Entscheidung war.“975 Sensmanns Charakterisierung durch die Protagonistin fällt ausgesprochen negativ aus: Ich hatte zwei Bücher von ihm gelesen, politische Unterhaltungsromane, die ihren Erfolg dem Mißverständnis verdankten, wagemutig zu sein. Weltbekannte Geheimnisse erzählte Sensmann so gewichtig, daß man denken mußte, er hätte darunter ein anderes, das wirkliche Geheimnis versteckt.976
Für Rosalind ist er „kein Aufrührer“, seine Werke seien ohne literarischen Wert: Man mußte Sensmann nicht erleben, um zu wissen, daß er kein Aufrührer war. Auch in seinen Büchern gab es keine Aufrührer, nur wehrlose Geschöpfe mit vertrockneten Seelen, so daß ich mich bei der Lektüre gefragt hatte, wie er auch nur für die Dauer des Schreibens die Gesellschaft dieser Leute freiwillig ertragen hatte, ohne sich einen Aufrührer für sie oder gegen sie zu erschaffen.977
974 975
976 977
Ebd. Ebd., S. 109. In zwei Aufsätzen versucht Ricarda Schmidt nachzuweisen, dass es sich bei Viktor Sensmann um Christoph Hein handele (Ricarda Schmidt: Erlaubte und unerlaubte Schreibweisen in Honeckers DDR. Christoph Hein und Monika Maron. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40), S. 176-196; Dies.: From Surrealism to Realism: Monika Maron’s Die Überläuferin and Stille Zeile sechs. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31), S. 247-255). Sie stellt fest: „Der Name Sensmann assoziiert den Sensenmann, als der der Tod, auch Freund Hein genannt, dargestellt wird. In der polemischen Beschreibung der beiden veröffentlichten Romane sowie der Recherche für den dritten Roman lassen sich Heins Der fremde Freund, Horns Ende und Der Tangospieler wiedererkennen […].“ (Ricarda Schmidt: Erlaubte und unerlaubte Schreibweisen in Honeckers DDR. Christoph Hein und Monika Maron. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40); S. 176-196, S. 176.) In keinem der zitierten Aufsätze tritt Schmidt jedoch einen exakten Beweis ihrer These an, sie nimmt diese vielmehr zum Ausgangspunkt ihrer weiteren Ausführungen. Die Gleichsetzung Sensmann / Hein mag zwar möglich sein, greift aber zu kurz. Sensmann dürfte exemplarisch für zahlreiche linientreue Autorinnen und Autoren stehen, die gewissermaßen den Tod jeglicher Literatur bedeuten. Ebd., S. 103. Ebd., S. 105.
5.3 Epik
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Spätestens aus dieser ersten Eskalationsstufe des Konflikts entwickelt sich eine Tribunalsituation, mit der das Verhältnis zwischen Rosalind und Beerenbaum auch insgesamt beschrieben werden kann. Im Zuge dieses Tribunals inszeniert Rosalind ein regelrechtes Verhör978, in dem es unter anderem um die Ereignisse im Moskauer Hotel Lux geht. Hierzu äußert Beerenbaum lediglich: „Man hat nichts gewußt. Er sah mich an. Er wollte, daß ich ihm glaubte. / Und geahnt?“979 Beerenbaum weicht aus und erklärt: „Wir haben gegen Hitler gekämpft. […] / Und als Hitler besiegt war? / Haben wir einen Staat aufgebaut. Gelernt, gelernt und nochmals gelernt.“980 Rosalind insistiert: „Und haben Sie nicht Ihre Genossen vermißt, mit denen Sie im Hotel Lux Tür an Tür gewohnt haben?“981 Obwohl Beerenbaum Nasenbluten bekommt, er die Befragungssituation also offenbar somatisiert, insistiert sie: Wollten Sie nicht wissen, was aus Ihren Genossen geworden ist, nachdem man sie nachts aus den Betten gezerrt hat im Hotel Lux. […] Fürchteten Sie nicht, daß man eines Tages auch Sie holen würde? Oder Ihre Frau? […] Haben Sie Ihre Genossin Alice Abramowitz seitdem wiedergesehen? […]982
Beerenbaum kann zu seiner ‚Verteidigung‘ ausschließlich seinen Widerstand gegen den Faschismus anführen. Deshalb berichtet er in der darauf folgenden Woche auch von der Inhaftierung seiner Frau Grete; er diktiert als ersten Satz: „‚Meine Frau Grete wurde im Herbst 39 verhaftet.‘ […] ‚Sie kam in das Konzentrationslager Ravensbrück.‘“ Schreiend fügt er hinzu: „Und das liegt nicht in Sibirien […].“983 Rosalind notiert aber in Reaktion auf diesen rhetorischen Kniff: „Grete wurde im Herbst 39 verhaftet. Sie kam in das Konzentrationslager Ravensbrück. Sibirien liegt bei Ravensbrück.“984 Damit nimmt sie eine näherungsweise Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus vor. Im Zentrum der dritten Eskalationsstufe steht der ‚Fall‘ des Sinologen Karl-Heinz Baron, genannt „der Graf“. Baron war „als ein reaktionäres, den hohen Zielen der neuen Ordnung feindlich gesonnenes Subjekt“985 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er versucht hatte, einem 978
979 980 981 982 983 984 985
So heißt es später auch: „Rosalind verhörte ihn. Woher nahmen Sie das Recht? Glaubten Sie an seine Schuld? Anfangs noch ruhig, thronte sie wie eine Rachegöttin hinter der Schreibmaschine.“ (Ebd., S. 205) Ebd., S. 138. Ebd. Ebd. Ebd., S. 139f. Ebd., S. 141. Ebd., S. 142. Ebd., S. 181.
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über Prag nach Westberlin geflohenen Kollegen ein Päckchen mit dem Manuskript von dessen Doktorarbeit nach Westdeutschland zu schicken. Beerenbaum hatte damals die maßgebliche Stellungnahme der Universität verfasst. Auch in diesem Zusammenhang verteidigt er sich Rosalind gegenüber mit seinem Status als Verfolgter des Naziregimes: Wir durften nicht studieren. Wir haben bezahlt, daß andere studieren durften, immer, zuerst als Proleten mit unserem Schweiß, dann mit dem Geld unseres Staates. Arbeitergroschen. Diese Bildung war unser Eigentum, wer damit weglief, ein Räuber, Ihr Sinologe ein Dieb, jawohl. Ein Dieb gehört ins Gefängnis.986
Damit wird der individuelle Fall Barons zum exemplarischen für das problematische Verhältnis der Gründerväter zur so genannten ‚Intelligenz‘ (vgl. 5.1.1). Obwohl Beerenbaums Gesundheit angegriffen ist, bleibt Polkowski unnachgiebig. Sie fährt in ihrer Anklage fort: Euer eigenes Leben hat euch nicht gereicht, es war euch zu schäbig, ihr habt auch noch unsere Leben verbraucht, Menschenfresser seid ihr, Sklavenhalter mit einem Heer von Folterknechten.987
Beerenbaum erleidet schließlich einen Herzanfall. In diesem Zusammenhang verschiebt sich die Erzählperspektive von der ersten Person (Rosalind als Ich-Erzählerin) zur dritten (Rosalind als Betrachterin des Geschehens); Rosalinds verschiedene Anteile spalten sich auf: Die Erinnerung an das folgende Geschehen fällt mir schwer, nicht, weil ich nicht wüßte, was vorgefallen ist. Ich weiß es so genau, als hätte ich diese Minuten zweifach erlebt, als Zuschauerin und als Akteurin. Und eigentlich war ich sogar dreifach dabei, denn auch als Akteurin war ich geteilt, in eine, die etwas tat, und eine andere, die etwas zu tun wünschte.988
Im Zentrum der Szene steht eine Gewaltphantasie Beerenbaum gegenüber, zu deren Realisierung Rosalind jedoch unfähig ist: Das Schlimmste sah ich in ihren Augen, wo sich spiegelte, was sie nicht tat: Rosalind stehend vor Beerenbaum, die Faust erhoben zum Schlag, die andere Hand an Beerenbaums Hals zwischen Kinn und Kehlkopf. Die Faust traf sein Gesicht. Das Gebiß fiel ihm aus dem Mund. Sie schlug ihn wieder, bis er vom Stuhl stürzte. Der wollene Hausmantel öffnete sich über den Beinen, und Beerenbaums schlaffes Schenkelfleisch lag nackt auf dem Boden, unter der weißen Wäsche sichtbar das 986 987 988
Ebd., S. 206. Ebd., S. 207. Ebd., S. 204f.
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weiche Genital. Sie trat ihn gegen die Rippen, den Kopf, in die Hoden, beidbeinig sprang sie auf seinen Brustkorb. Er rührte sich nicht. Als das Blut aus seinem Ohr lief, gab sie erschöpft auf.989
Gegen seinen drohenden Tod unternimmt sie zunächst nichts: Rosalind sah die ihr entgegengestreckte Hand, sah den sterbenden Beerenbaum und wartete auf seinen Tod. Als ich endlich verstand, daß sie nichts tun würde, um ihn zu retten, fand ich meine Stimme wieder.990
Offenbar trägt sie den Konflikt innerlich aus; am Ende ruft sie aber doch den Notarzt. Die im Hinblick auf Rosalind zu stellende Schuldfrage ist in einem übergeordneten Kontext zu betrachten, denn weit über die Thematik der ‚Wende‘ hinausgehend, stellt die Erzählerin die Tollersche Frage aus dem Jahr 1933: „Muß der Handelnde schuldig werden, immer und immer? Oder, wenn er nicht schuldig werden will, untergehen?“991 Am Ende wird diese Frage, die den Text leitmotivisch durchzieht, zwar zustimmend beantwortet: „Ja, der Handelnde muß schuldig werden, immer und immer, oder, wenn er nicht schuldig werden will, untergehn“992, doch Rosalind erkennt, dass die Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann.993 Ihre Freundin, die Klavierlehrerin Thekla Fleischer, tröstet sie später mit der Bemerkung: „Wenn jemand in seinem Leben […] so schreckliche Dinge tut, daß er stirbt, weil man ihn danach fragt, ist er selbst schuld.“994 Die Schuldfrage wird jedoch nicht ausschließlich im Hinblick auf Beerenbaum im Rahmen der dargestellten Tribunalsituation verhandelt. Gefragt wird auch nach einer (Mit-)Schuld Rosalinds auf Grund ihrer Bereitschaft, für Beerenbaum zu arbeiten. Bereits relativ früh stellt sie sich „immer öfter“ die Frage: […] ob ich mich nicht zum Mittäter machte, ob ich nicht sein Komplize wurde, indem ich ihm half, das eigene Denkmal in Lettern zu gießen. Daß Beerenbaum sich an mich gewöhnte, daß er sich auf die Dienstage und Freitage mit mir sogar
989 990 991
992 993
994
Ebd., S. 207f. Ebd., S. 208f. Ebd., S. 41. Die Frage ist eines der zentralen Themen in Ernst Tollers Autobiografie Eine Jugend in Deutschland. Vgl. Ernst Toller: Gesammelte Werke. Band 4. Eine Jugend in Deutschland. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und John M. Spalek. [München / Wien] 1978 (Reihe Hanser). Ebd., S. 210. Vgl. dazu Jan Bekasin´ski: Kommt eine neue DDR-Literatur? (Neue Bücher der ehemaligen DDR-Schriftsteller). In: Colloquia Germanica Stetinensia 148 (1995) 4; S. 65-80, S. 74. Monika Maron: Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a.M. 1991, S. 213.
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zu freuen schien, machte die Sache noch schlimmer, zumal ich mich, um meine Handlangerdienste für ihn zu rechtfertigen, als Spion verstehen mußte […].995
5.3.3.2 Der Konflikt zwischen Rosalind und Beerenbaum als Freudsche Übertragung Rosalind trägt den Konflikt mit Beerenbaum nicht nur auf der Realitätsebene aus, sondern auch auf einer Ebene der Übertragung im Sinne Freuds996: Zwischen Beerenbaum und ihrem Vater, Fritz Polkowski, gibt es zahlreiche Parallelen bis hin zu Äußerlichkeiten: Rosalind fällt „ein, daß mein Vater eine ähnliche Strickjacke getragen hatte und auch ähnliche Hausschuhe, bordeauxrote Lederpantoffeln […].“997 Auch sein Gang ist ähnlich998, und sein Gesicht „war auch das letzte Gesicht meines Vaters.“999 Am deutlichsten tritt diese Ähnlichkeit auf der Ebene der Sprache zu Tage. Rosalind missfällt vor allem die „Selbstgewißheit seiner Sprache, in der Rührseligkeit und einfältige Metaphorik oft so dicht beieinanderlagen […]“1000 und die kaum mehr ist als ein „hochtrabende[s] Kauderwelsch“.1001 Beide haben „Angst vor der Bildung“.1002 So sagte ihrem Vater sein „Klasseninstinkt“, dass „Kafkas Bücher, von denen er vermutlich keine Zeile gelesen hatte, dekadente und schädliche Literatur, wenn überhaupt Literatur seien“; Jazz ist für ihn „eine dem sozialistischen Lebensgefühl unangemessene Musik, weil Sklavenmusik“.1003 Zu der oben dargestellten Tribunalsituation existiert eine Parallelsituation in Rosalinds Kindheit. Sie besuchte die Schule, an der ihr Vater Direktor war und konnte sich nicht wehren gegen „das strikte Einhalten der aus Interessen erwachsenen Spielregeln. Diesmal war ich die Dienstmagd solcher Einigkeit, nicht ihr Opfer. Und wieder stand ich plötzlich zwischen Schrankwand und Polstermöbeln und schrie.“1004 Am letzten Teilsatz lässt sich ablesen, dass Rosalind sich dieser Parallele durchaus bewusst ist. Fritz
995 996
997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004
Ebd., S. 77. Zum Begriff der Übertragung vgl. überblicksartig: Art. ‚Übertragung‘. In: J. Laplanche / J.B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. 15. Auflage. Frankfurt a.M. 1999, S. 550-559. Monika Maron: Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a.M. 1991, S. 46f. Vgl. Ebd., S. 15. Ebd., S. 26. Ebd., S. 61. Ebd., S. 62. Ebd., S. 194. Ebd., S. 58. Ebd., S. 117.
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Polkowski konnte zudem keine angemessenen Antworten auf die Fragen seiner Tochter geben1005: Er hat nicht nur die verfänglichen und verbotenen Fragen gefürchtet. Hinter jeder Frage witterte er eine Bedrohung, die ihm, dem ehemaligen Arbeiter, seine Untauglichkeit für diesen Beruf beweisen sollte. Sein Lehrerdasein war ihm eine einzige, dreißig Jahre währende Prüfung, bei der er jeden Tag durchfallen konnte.1006
Ihre Versuche, Anerkennung beim Vater zu finden, scheitern, zumal er sie kaum wahrnimmt. Einmal bereitet sie ihm Zitronencreme zu – seine Lieblingsspeise –, doch der Vater schlingt das Dessert einfach hinunter. Auch dieses Ereignis trägt zu ihrem Negativbild von Kommunisten bei; ein Kommunist ist für sie fortan definiert als „jemand, der sich bei einem Kind, das ihm eine große Schüssel Zitronencreme schenkt, nicht bedankt, weil er gerade mit der Weltrevolution beschäftigt ist.“1007 Unter anderem auf Grund dieses Erlebnisses geht die Vorbildfunktion des Vaters verloren. Rosalind gelangt zu der Auffassung, dass „der Kommunismus […] nicht besser sein [kann] als die Kommunisten, nicht besser als Herbert Beerenbaum und Fritz Polkowski.“1008 An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, dass beide Figuren exemplarisch für die Generation der Gründerväter stehen. Problemlos kann Rosalind Beerenbaums Biografie ‚erraten‘, noch bevor sie diese tatsächlich kennen lernt: […] wahrscheinlich Kind eines Arbeiters, Mutter Hausfrau. Volksschule. Erlernter Beruf Dreher oder Maurer, vielleicht Zimmermann. Mit achtzehn oder neunzehn in die kommunistische Partei eingetreten. Nach 33 Emigration oder KZ. Nein, KZ nicht, dachte ich, seinem Gesicht fehlte die endgültige Irritation, die ich an anderen Überlebenden gefunden hatte. […] Emigration in die Sowjetunion, sagte ich, zeitweilig untergebracht im Hotel Lux. 1945 Rückkehr. Danach wichtige Funktionen, wo immer die Partei Sie brauchte.1009
Sie hasst Beerenbaum, wie sie ihren Vater hasst: Anfangs habe ich ihn nur nicht gemocht, mit der Zeit fand ich heraus, daß ich ihn hasse. Ich muß an ihn denken, obwohl ich nicht an ihn denken will. Ich träume von ihm. Bevor ich sein Haus betrete, schlägt mein Herz, als sollte ich auf einen treffen, den ich liebe. Wenn er schlecht aussieht, triumphiere ich, und mir fällt 1005
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Beispielsweise: „Wenn die Arbeiterklasse die fortschrittlichste Klasse sei, sagte ich, hätte sie auch als einzige Klasse den Faschismus verhindern können; warum die Arbeiterklasse das nicht getan habe.“ (Ebd., S. 111). Ebd., S. 168. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Ebd., S. 26f.
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ein, er könnte, während ich danebenstehe, einen plötzlichen Herztod sterben. Er hat mir nichts getan. Er zahlt mir fünfhundert Mark im Monat. Er ist das, was ich hasse, aber was hasse ich so.1010
Doch sie gibt auch zu: „Ich hätte Beerenbaum nicht hassen müssen, wenn ich ihn nicht gefürchtet hätte. […] Sogar den sterbenden Beerenbaum hatte ich zu fürchten, und wirklich besiegt war er erst, als er tot war.“1011 Die Leidtragenden der starren und zunehmend verfehlten Politik der Gründerväter sind Rosalinds Generation und deren Kinder. Rosalind fühlt sich um ihr Leben betrogen, „weil Sie jedes Haus, jedes Stück Papier, jede Straße, jeden Gedanken, weil Sie alles, was ich zum Leben brauche, gestohlen haben und nicht wieder rausrücken.“1012 In ihrem bisherigen Leben sei sie nicht in der Lage gewesen, etwas hervorzubringen, „was zu verteidigen gelohnt hätte.“1013 Erst eine Ablösung der Gründergeneration kann ihrer Meinung nach den Weg frei machen für Reformen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Rosalind als einzige Möglichkeit der Ablösung den Tod der Angehörigen der Gründergeneration sieht – nicht etwa eine wie auch immer geartete Form des Umbruchs: Er [Bruno; F.Th.G.] verteidigte sich selbst. Ich hatte nichts zu verteidigen als mich, während Beerenbaum einen ganzen Radschwung der Geschichte als sein Werk ansah, das er zu beschützen hatte, wenn nötig, mit der Waffe in der Hand, wie mein Vater oft gesagt hat und vermutlich auch Beerenbaum sagen würde. In dieser Minute begriff ich, daß alles von Beerenbaums Tod abhing, von seinem und dem seiner Generation. Erst wenn ihr Werk niemandem mehr heilig war, wenn nur noch seine Brauchbarkeit entscheiden würde über seinen Bestand oder Untergang, würde ich herausfinden, was ich im Leben gern getan hätte. Und dann würde es zu spät sein. […] Alle diese Sätze begannen mit: übermorgen. Übermorgen vereist die Wüste. Übermorgen trommeln die Kakerlaken das Himmelreich ein. Übermorgen stürzen die Wasser himmelwärts – Vorsicht für Nichtschwimmer. Niemals hieß es morgen. Morgen war noch nicht mein Tag. Was morgen geschehen würde, stand schon in Beerenbaums Terminkalender. Übermorgen war der Tag nach Beerenbaums Tod.1014
In diesem Zusammenhang wird klar, dass der Einzelne in der Gegenwart letztlich keine Chance hat – selbst wenn eine Gegenwelt angedeutet wird: Mit Thekla Fleischer hat Monika Maron eine Figur geschaffen, die einen mehr oder weniger starken Gegenentwurf zu allen anderen Figuren darstellt: 1010 1011 1012 1013 1014
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
134. 123f. 156. 154. 154f.
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Sie ist vollkommen unpolitisch und schöpft ihre Ausgeglichenheit aus der Musik.1015 Hinzu tritt der Kreis um den „Grafen“ und die anderen Freunde aus der Kneipe, denn diese liegt außerhalb des Einflussbereiches von Beerenbaum Sie gilt deshalb „als Hort der Freiheit schlechthin“1016, als Einrichtung, die „dem Leben zu einer höheren Gerechtigkeit“ verhilft1017: Die Kneipe war, profan und geheimnisvoll zugleich, eine Gegenwelt, ein Orkus, wo andere Gesetze galten und ein urbanes Naturrecht herrschte. Wer das Kneipenreich betrat, entzog sich der Schwerkraft der Oberwelt und fügte sich einer anderen Ordnung.1018
Erst im Rahmen der Beerdigungsfeier schließt Rosalind mit Beerenbaum ab: „[…] ich verabschiedete ihn aus meinem Leben, in dem er, lange, bevor wir uns begegnet waren, Platz genommen hatte, als wäre es sein eigenes.“1019 Nach der Trauerfeier übergibt Beerenbaums Sohn, ein Offizier des MfS, Rosalind auf Wunsch des Vaters das Manuskript. Hatte Beerenbaum es zunächst als Verpflichtung empfunden, seine Erinnerungen zu veröffentlichen, ist am Ende seines Lebens ein Wandel eingetreten: Die Übergabe des Manuskriptes an Rosalind stellt in diesem Sinne sicher weniger einen letzten sadistischen Akt des Funktionärs dar als zumindest den Ansatz eines Eingeständnisses von Schuld: Seine Memoiren werden nicht mehr veröffentlicht, eine gängige Praxis findet damit ihr Ende. 5.3.3.3 Realität und Fiktion Die Auseinandersetzung mit der Generation der Gründerväter dürfte eines der zentralen Themen der Zeit unmittelbar vor der ‚Wende‘ sein und damit zugleich einer der Hauptgründe für die Demonstrationen gegen die überalterte Staatsführung der DDR1020 – selbst wenn diese in der Realität 1015
1016 1017 1018 1019 1020
Bereits in Die Überläuferin erscheint eine – allerdings wesentlich negativer dargestellte – Figur, die ähnliche Eigenschaften besitzt: „Die Frau mit der hohen Stimme“ bemerkt wie Thekla Fleischer: „Aber Mami war so ein starker Mensch.“ (Die Überläuferin. Roman. Frankfurt a.M. 1986, S. 35f.; vgl. Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a.M. 1991, S. 128: „Mami war auch so ein starker Mensch.“). Ebd., S. 171. Ebd., S. 173. Ebd., S. 172. Ebd., S. 57. Vgl. dazu auch Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit. In: Die politische Meinung 40 (1995) 311, S. 55-63, S. 57f. sowie S. 60: „In der DDR hingegen sah sich die Generation der Kriegsteilnehmer zuweilen geradezu lebensbedrohend dem moralischen Verdikt ausgesetzt. Da half nur das Prädikat ‚antifaschistisch‘. Die Väter der DDR waren emigrierte oder untergetauchte KP-Funktionäre, die plötzlich als Sieger der Geschichte heimkehrten. Der autoritäre Druck, den diese Generation, vermeintlich moralisch legitimiert, auf die Jüngeren ausübte, ist bis heute nicht beschrieben worden.
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eingetretene Möglichkeit, wie oben gezeigt, für die Protagonistin des Romans nicht in Frage kommt. In diesem Zusammenhang soll in aller Kürze Äußerungen von Schriftstellern nachgegangen werden, weshalb es in der DDR nicht zu einem Generationenwechsel kam. Die Gründe hierfür erläuterte Christa Wolf bereits 1987 / 88 in einem Gespräch mit Therese Hörnigk; sie sieht ein Versagen auch auf der Ebene ihrer eigenen Generation, die während der Zeit des Dritten Reiches groß wurde: Meine Generation hat früh eine Ideologie gegen eine andere ausgetauscht, sie ist spät, zögernd, teilweise gar nicht erwachsen geworden, will sagen: reif, autonom. Daher kommen ihre – unsere Schwierigkeiten mit den Jüngeren. Da ist eine große Unsicherheit, weil die eigene Ablösung von ideologischen Setzungen, intensiven Bindungen an festgelegte Strukturen so wenig gelungen ist, die Jungen so wenig selbständiges Denken und Handeln sehen und daher keine Leitfiguren finden, auf die sie sich verlassen können. So holt uns, im Verhältnis zu den Jungen, unsere nicht genügend verarbeitete Kindheit wieder ein.1021
Im Oktober 1989 kritisiert sie: „Eine kleine Gruppe von Antifaschisten, die das Land regierte, hat ihr Siegesbewußtsein zu irgendeinem nicht genau zu bestimmenden Zeitpunkt aus pragmatischen Gründen auf die ganze Bevölkerung übertragen.“1022 Und am 11. Dezember 1989 bekennt Wolf: „Wir fühlten eine starke Hemmung, gegen Menschen Widerstand zu leisten, die in der Nazizeit im KZ gesessen hatten.“1023 Ähnlich wie Christa Wolf argumentiert Hans Joachim Schädlich (1992); er betont zudem: Aber diese früheren Antifaschisten, die Kommunisten waren und eine andere Diktatur errichtet haben, die kommunistische Diktatur, die haben meines Erachtens den Antifaschismus mißbraucht, sozusagen als Label, zur Rechtfertigung ihrer eigenen Herrschaft vor der Bevölkerung und vor den gescheiten-dummen Schrift-
1021
1022 1023
Jedenfalls konnten die östlichen Flakhelfer, anders als ihre Altersgenossen im Westen, ein stabiles bürgerliches Selbstbewußtsein nicht mehr entwickeln. Wenn es nach dem Ende des Krieges je eine ‚verlorene Generation‘ gegeben hat, dann war es diese. Sie wuchs unter den argwöhnischen Augen einer durch Überväter legitimierten Autorität heran, die, zumal in den Anfangsjahren der DDR, auch vor Mord und Totschlag, vor der Vernichtung des Individuums im Namen der Totalität nicht haltmachte.“ Christa Wolf: Gespräch mit Therese Hörnigk [Juni 1987 / Oktober 1988]. In: Therese Hörnigk: Christa Wolf. Berlin (DDR) 1989 (Schriftsteller der Gegenwart, 26); S. 7-47, S. 9. Vgl. dazu auch Frauke Meyer-Gosau: In bester Absicht. Bewußte und unbewußte Folgen der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur in Christa Wolfs Prosa. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997, S. 405-420. Dies.: „Das haben wir nicht gelernt“ [21. Oktober 1989]. In: Wochenpost v. 27.10. 1989. Dies.: Schreiben im Zeitbezug. Gespräch mit Aafke Steenhuis [11. Dezember 1989]. In: C.W.: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 131-157, S. 136.
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stellern. Ich finde, dieser Gedanke wurde nicht zu Ende gedacht, weil man hätte sehen müssen, daß es eben nicht genügt, Antifaschist zu sein. Antifaschisten haben selbst eine Diktatur errichtet, eine kommunistische, die sich in ihren Mitteln wenig unterschied von den Mitteln der faschistischen Diktatur.1024
Und Heiner Müller stellt 1991 fest: Die einzige Legitimation der DDR kam aus dem Antifaschismus, aus den Toten, aus den Opfern. Das war eine Zeitlang ehrbar, aber an einem gewissen Punkt fing es an, zu Lasten der Lebenden zu gehen. Es kam zu einer Diktatur der Toten über die Lebenden – mit allen ökonomischen Konsequenzen.1025
Für Rosalind in Stille Zeile sechs ist an Beerenbaum vor allem die „Legende seines Lebens, an die er inzwischen selbst glaubte“1026 belastend, seine ständige Rechtfertigung also, Unrecht im Namen der ‚großen Sache‘ bzw. um einer Art ‚höherer Moral‘ willen zu tun. Unabhängig davon lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen der Autorin Monika Maron und ihrer Protagonistin Rosalind Polkowski finden: Auf autobiografische Einflüsse ihres Romans war Maron bereits 1991 in einem Interview eingegangen.1027 Liest man Schriften ihres Stiefvaters Karl Maron1028, der von 1950 bis 1955 Chef der Deutschen Volkspolizei und von 1955-1963 als Nachfolger von Willi Stoph Innenminister der DDR war, drängen sich die Parallelen zu Herbert Beerenbaum geradezu auf. Bereits in der im Dezember 1989 in den Münchner Kammerspielen gehaltenen Rede Ich war ein antifaschistisches Kind1029, in der sie ihre private Familiengeschichte mit der deutschen Geschichte insgesamt verschränkt, hatte Maron auf die Täter / Opfer-Problematik hingewiesen. In Pawels Briefe (1999) gibt sie einige Jahre später detailliert Auskunft über ihr Verhältnis zu ihrem Stiefvater.1030 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein 1024
1025 1026 1027 1028 1029 1030
Hans Joachim Schädlich: Jeder hatte eine Aktie. Gespräch mit Robert von Hallberg. In: H.J.S.: Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze, Reden, Gespräche, Kurzprosa. Berlin 1992; S. 126-132, S. 127. Heiner Müller: Das Böse ist die Zukunft. Heiner Müller im Gespräch mit Frank Raddatz. Siebte Folge. In: TransAtlantik (1991) 3; S. 34-37, S. 35. Monika Maron: Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a.M. 1991, S. 148. Vgl. [Interview mit Gerhard Richter]: Verschüttete Kultur – Ein Gespräch mit Monika Maron. In: GDR-Bulletin 18 (1992) 1, S. 2-7. Vgl. v.a. das vermutlich am weitesten verbreitete Buch von Karl Maron: Von Charkow bis Berlin. Frontberichte aus dem Zweiten Weltkrieg. Berlin (DDR) 1960. Monika Maron: Ich war ein antifaschistisches Kind. In: Die Zeit v. 1.12.1989. Vgl. Dies.: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt a.M. 1999, S. 152ff. Die Anfangsabschnitte des Romans (S. 7-37) – von Kapiteln im engeren Sinne kann man hier nicht sprechen – erschienen bereits unter dem Titel „Schillerpromenade 41“ in: Berlin zum Beispiel. Geschichten aus der Stadt. Erzählt von Jurek Becker, Monika Maron, Bodo Morshäuser, Katja Lange-Müller, Ingo Schulze u.v.a. Hrsg. von Sven Arnold und Ulrich Janetzki. München 1997, S. 82-105.
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Auszug aus den in den Text integrierten Notizen von Monika Marons Mutter Hella, die 1975, nach dem Tode ihres Mannes, schreibt: Monika, Jonas und ich standen in der Tür, als mein Mann hinausgetragen wurde, jeder mit anderen Gefühlen. Ich mit dem des schmerzlichen Verlusts; Monika, davon war ich überzeugt, mit dem der Befreiung, der Befreiung von einem Menschen, mit dem sie zwar seit vierundzwanzig Jahren familiär verbunden war, zu dem sie aber in all den Jahren keinen Zugang fand, wie es auch umgekehrt gewesen sein muß.1031
Monika Maron erlebte den Tod ihres Stiefvaters „wirklich als Befreiung“1032; sie bekennt: „Ich schlief in dem Zimmer, in dem Karl gestorben war, und jeden Abend vor dem Einschlafen gab ich mich dem niedrigen Triumph der Überlebenden hin.“1033 5.3.3.4
Rezeption
Die Aufnahme des Buches unmittelbar nach seinem Erscheinen war überwiegend positiv. Iris Radisch stellte in der Zeit fest: Wider Willen glaubt man schließlich, was man liest. Der gebändigte Haß der gebändigten Tochter, der unter diesen stillen Zeilen kokelt, ist bedrückender, als es eine virtuose Vaterschlachtung je sein könnte. Die Enge und Aufgeräumtheit des Buches, in dem es für alles einen Platz und eine Erklärung gibt, trifft die Enge und Aufgeräumtheit seines Gegenstandes. So mucksmäusig, still und übersichtlich muß es in Beerenbaums DDR zugegangen sein.1034
Ricarda Schmidt (1994) richtet den Blick vor allem auf ästhetische und stilistische Fragen. Sie meint, im Vergleich zum surrealistischen Roman Die Überläuferin (1986) sei Stille Zeile sechs eher realistisch erzählt und deshalb insgesamt weniger anspruchsvoll: It is entertaining, even witty in parts, but its realistic style […] does not make demands on the reader’s aesthetic perception. Rather the message of the novel is very much on the surface: the victims of fascism have turned into oppressors who quash every attempt to question their power with reference to their former status of victims; their present-day victims in turn are tied to them through hatred,
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Monika Maron: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt a.M. 1999, S. 192. Ebd., S. 193. Ebd., S. 194. Iris Radisch: Der Lurch muß sterben. „Stille Zeile Sechs“ – Monika Marons Abrechnung mit den Vätern der DDR. In: Die Zeit vom 11.10.1991.
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because their lives have been diminished by these oppressors (to some of whom, moreover, they have been bound by unrequited love).1035
5.3.4
Freundschaft statt Utopie – Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma (1994)
Brigitte Burmeister wurde 1940 in Posen geboren. Sie studierte von 1960 bis 1965 Romanistik in Leipzig und wurde 1973 zur Dr. phil. promoviert. Zwischen 1966 und 1983 war sie an der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig, seither lebt sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin. Ihr literarisches Debüt gab sie 1987 mit dem Roman Anders oder vom Aufenthalt in der Fremde1036 – einem Buch, das zahlreiche Elemente des ‚nouveau roman‘ aufweist, mit dem die Autorin sich auch wissenschaftlich auseinander gesetzt hat.1037 1990 folgte unter dem Pseudonym Liv Morten der in der unmittelbaren Nachwendezeit völlig untergegangene Kriminalrom Das Angebot.1038 Unter dem Namen Norma ist damit Burmeisters dritter Roman. Mit ihm wurde sie einem breiteren, auch westdeutschen Publikum bekannt. Unter dem Namen Norma besteht formal aus zwei großen Kapiteln, die mit historischen Daten überschrieben sind: „Am 17. Juni“1039 und „Am 14. Juli“.1040 Beide Daten verweisen auf je unterschiedliche Aspekte des Revolutionären: den Arbeiteraufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 und den Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789, zugleich dienen sie der Schaffung zeitlicher Distanz. Die Rahmenhandlung bilden eben diese zwei Tage Anfang der neunziger Jahre im Leben der Ich-Erzählerin Marianne Arends, 1035
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1038 1039 1040
Ricarda Schmidt: From Surrealism to Realism: Monika Maron’s Die Überläuferin and Stille Zeile sechs. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 247-255, S. 255. Brigitte Burmeister: Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde. Ein kleiner Roman. Berlin (DDR) 1987 bzw. Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde. Roman. Darmstadt 1988. Vgl. dazu: Colin Grant: Brigitte Burmeister’s Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde. Tracing the texts in a ‚new novel‘. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40), S. 75-91. Brigitte Burmeister: Streit um den Nouveau Roman. Eine andere Literatur und ihre Leser. Berlin (DDR) 1983 (Literatur und Gesellschaft) sowie Dies.: Art. ‚Nouveau Roman‘. In: Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Claus Träger. 2. Auflage. Leipzig 1989, S. 377f. Liv Morten [d.i. Brigitte Burmeister]: Das Angebot. Kriminalroman. Berlin (DDR) 1990. Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994, S. 5-171. Ebd., S. 173-286.
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die als Übersetzerin arbeitet. Im Vordergrund stehen dabei nicht die wenigen real vollzogenen Handlungen, sondern Marianne Arends’ zahlreiche Erinnerungen und Reflexionen. Im Zentrum des ersten Kapitels dominieren Milieuschilderungen des Hauses, in dem die Protagonistin wohnt. Im Hintergrund präsent ist stets die Übersetzungsarbeit an einer Biografie des Revolutionärs Saint-Just, insbesondere der ersten Kapitel über die Anfänge der Französischen Revolution. Im zweiten Teil reflektiert Marianne den Besuch bei ihrem Ehemann Johannes, der sich in Mannheim einen neuen Lebensmittelpunkt aufgebaut hat und sich weit gehend widerstandslos den westdeutschen Verhältnissen anpasst; beide entfremden sich einander zusehends. Auf einer Party erzählt sie einem Gast eine Lügengeschichte: Unter anderem habe sie als IM für die Stasi gespitzelt. In der Folge dieses Geschehens kommt es zum Bruch mit Johannes. Marianne kehrt nach Berlin zurück und schließt einen Freundschaftsbund mit „Norma Edith Scholz geborene [sic] Niebergall“.1041 Unter dem Aspekt der Namensgebung der Hauptfigur ist Unter dem Namen Norma Teil einer ‚Trilogie‘: In Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde heißt der Protagonist „Anders“. Stellt man die Buchstaben a-n-d-e-r-s um, so ergibt sich a-r-e-n-d-s, der Name der Protagonistin von Unter dem Namen Norma. Die ‚Dritte im Bunde‘ ist „Roswita Sander“ in Burmeisters Roman Pollok und die Attentäterin (1999).1042 Bei den Namen handelt sich also um Anagramme – ebenso im Falle von „Norma“, deren Buchstaben sich zu r-o-m-a-n umstellen lassen. Auf die Parallelen zwischen Autorin und Ich-Erzählerin sei lediglich verwiesen: Wie Brigitte Burmeister ist Marianne Arends Übersetzerin aus dem Französischen; das im Roman dargestellte Mietshaus ist das frühere Wohnhaus Brigitte Burmeisters in der Luisenstraße 32. Es steht auch im Mittelpunkt eines den Roman ergänzenden Textes, der 1998 in der Frankfurter Rundschau erschien: Und Norma geht durch die Wand.1043 5.3.4.1 Der Umgang mit der Vergangenheit Die ‚Wende‘-Ereignisse werden in Unter dem Namen Norma lediglich am Rande dargestellt und vergleichsweise spät nachgetragen.1044 Dies geschieht kaum über die Darstellung enzyklopädischen Wissens, sondern vielmehr 1041 1042 1043
1044
Ebd., S. 191. Dies.: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999. Dies.: Und Norma geht durch die Wand. Ein Haus in Berlin-Mitte oder: Wenn ein Roman mit der Wirklichkeit flüstert. In: FR v. 2.10.1998. In diesem Text begibt sich die Autorin noch einmal zum Schauplatz des Romans, sprich: in ihre alte Wohngegend, und beschreibt die sich dort vollziehenden Veränderungen. Vgl. Dies.: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994, S. 196-200.
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über die Schilderung von Eindrücken, etwa des Verkaufs von Mauerstücken.1045 Die historischen Ereignisse bilden allerdings die Grundlage für die Handlung, zumal Marianne und Norma sich in der Nacht des 9. November 1989 kennen gelernt haben. Um die Ereignisse nicht zu vergessen, aber auch im Sinne einer Selbstvergewisserung, zwang die Protagonistin sich, diese aufzuschreiben: Vom Anbruch einer neuen Zeit, von zwei Jahren Tumult in meiner Erinnerung wäre [sic] mir nichts geblieben als das Gefühl, geträumt zu haben und niemandem sagen zu können, was im einzelnen und in welcher Reihenfolge, so daß mir diese Lebensjahre fraglicher erscheinen würden als alle zuvor, hätte ich nicht im letzten November, an meinem Geburtstag, mich abends noch hingesetzt und eine Art Chronik verfaßt, mir schwarz auf weiß bestätigt, daß bestimmte Ereignisse sich zugetragen hatten von einem Herbst bis zum übernächsten und ich davon berichten konnte, weil ich dabeigewesen war. Die beschriebenen Blätter liegen zuoberst in einer Schublade mit Dokumenten. Wenn ich dort etwas suche, lese ich die eine ode [sic] andere Stelle aus diesem Bericht über eine fene [sic] Epoche. Fremd ist sein Ton, geborgt von irgendwo, vielleicht als Mittel, Überblick und Abstand zu gewinnen. Als hätte ich üben wollen, von Veränderungen zu erzählen, die mir unvorstellbar erschienen waren.1046
Den Kampf gegen das Vergessen führt Marianne Arends als einzige Figur im Roman systematisch. Sie bekennt: Schon weiß ich kaum noch, wie das Geld aussah, das wir hatten, bevor wir richtiges Geld bekamen, wie die Etiketten auf den Konservendosen, Gläsern und Flaschen aussahen, die Briefmarken und Fahrscheine, die Zahnpastatuben, Hautcremedosen, Haarbürsten, Nagelfeilen, Papierservietten, die tausend kleinen Dinge, die es in den Geschäften 1000 kleine Dinge gab oder wieder einmal nicht gab. Wie also die Dinge aussahen, die ich nicht vermisse, nur jetzt nicht mehr sehe, und wie es war, als ich sie häufig sah und häufig vermißte, weil es sie wieder einmal nicht gab, und wie es in bestimmten Momenten war, wenn fehlte, was ich brauchte oder mir wünschte oder zu kaufen mir vorgenommen hatte, wie das war, in ganz bestimmten Momenten, und wie auf die Dauer, also im Zusammenhang mit wiederum anderen Erlebnissen, an die ich mich erinnern müßte, einzeln und auf die Dauer und im Zusammenhang.1047
An den Beispielen wird deutlich, dass es hier weniger um ein Vergessen bestimmter Ereignisse geht als um ein Vergessen der Alltagswelt, deren Gegenständen und Gewohnheiten. Marianne Arends geht es, wie sie in anderem Zusammenhang erklärt, um eine 1045 1046 1047
Vgl. Ebd., S. 32. Ebd., S. 196f. Ebd., S. 165f.; Hervorhebung im Original.
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Erinnerung, von der kein Wort in unseren Lebensläufen stand, weder in den selbstverfaßten, noch in denen, die später das Sicherheitsministerium zusammentrug, weitab von der Frage, die wirkliche Biographen antreibt: Was kann man heute von einem Menschen wissen?1048
Um systematisch gegen das Vergessen vorzugehen, will Marianne Arends weitere Mitglieder der Hausgemeinschaft einbeziehen: Oder ich gehe zum Mitteilungsbrett und befestige einen Zettel. Wer hilft mir beim Sammeln von Erinnerungen? Suche Tagebücher, Briefe, Dokumente aus vierzig Jahren. Marianne Arends, Aufgang B, vier Treppen.1049
Diese und eine weitere Möglichkeit verwirft sie: Oder ich schreibe auf den Zettel eine Einladung. Ich lade ein in meine Wohnung zu einem Gesprächskreis mit dem Thema: Unsere Biografien.1050
Sie erkennt, dass sie mit ihrem Wunsch nach Nicht-Vergessen weit gehend allein dasteht. Dies zeigt sich insbesondere an der Tribunalsituation, in die der alte Genosse Bärwald gerät, der für die Volkssolidarität sammelt.1051 Bärwald ist der DDR auch in sprachlicher Hinsicht noch verhaftet. So äußert er: – Niemand ist gekommen, sagt Herr Bärwald wieder, da habe ich an eine Versammlung im Freien gedacht, denn ohne Beteiligung des Kollektivs kann Kritik und Selbstkritik nicht gedeihen.1052
Bärwald ist seinen politischen Überzeugungen treu geblieben; er ist kein ‚Wendehals‘ und in seiner Haltung durchaus glaubwürdig. Doch gerade weil er weiterhin nach seinen alten Überzeugungen handelt, wird er von anderen Hausbewohnern als Repräsentant der ‚alten Ordnung‘ schlechthin angesehen. In einer Hausversammlung, die er selbst einberufen hat, rechnen mehrere Nachbarn mit ihm ab. Als Marianne ihn als jemanden verteidigt, „der überzeugt war, einem guten Zweck zu dienen“1053, wird auch sie persönlich angegriffen; sie verlässt die Versammlung. Ungleich schlimmer als Bärwald trifft es die nach der ‚Wende‘ arbeitslos gewordene Nachbarin Margarete Bauer. Unbestätigten Gerüchten zufolge war sie für den Staatssicherheitsdienst tätig. In diesem Zusammenhang 1048 1049 1050 1051 1052 1053
Ebd., S. 14. Ebd., S. 167; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 168. Vgl. Ebd., S. 144-153. Ebd., S. 151. Ebd., S. 150.
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wehrt Marianne sich gegen allzu schnelle Urteile und gerät darüber in Konflikt mit Norma: Das Gerücht über Margarete Bauer. Norma hatte es mir erzählt wie eine wahre Geschichte, keine Spur von Zweifel oder Abstand. Das störte mich, ich sagte es ihr, sie blieb dabei, ich ich [sic] war gereizt, schließlich wütend. Daß sie so etwas mitmachte! Ein mieses Gesellschaftsspiel, jawohl, wobei Spiel wahrlich das falsche Wort sei, angesichts der verheerenden Folgen für die Betroffenen und letztlich für alle, in einem Klima öffentlicher Verdächtigungen und Denunziationen, und daß ausgerechnet sie … Nun war Norma empört. Wie ich dazu käme, die Enthüllung von Tatsachen, das Verbreiten der Wahrheit Denunziation zu nennen! Mies waren die Spitzel, verheerend die Machenschaften eines Überwachungsapparates ohnegleichen, und wer da die Fronten verwischte, stellte sich auf die falsche Seite, schützte die Täter und verfolgte die Opfer, das sollte mir eigentlich klar sein […].1054
Margarete Bauer hält dem Druck nicht stand: Sie bringt sich um1055, die Hausgemeinschaft hat sie regelrecht in den Tod getrieben. Auf der Suche nach Alltagszeugnissen durchsucht Marianne den auf dem Innenhof des Hauses stehenden Müllcontainer1056 – ein Prozess, der sich gegen das Wegwerfen von Geschichte richtet, der sie allerdings in Konfrontation mit dem Hausmeister bringt. Bereits zuvor hatte sie sein Tun lediglich ironisch kommentieren können: – Aber sauber ist es jetzt, sagte Herr Behr, das muß man ihm lassen. – Ja, sagte ich. Seit Kühne amtiert, sind wir ein Bereich vorbildlicher Ordnung und Sauberkeit. – Bloß, ne Prämie gibts dafür nicht mehr, sagte Frau Müller. – Nicht mal einen Orden, sagte Herr Behr.1057
Ihr Bedürfnis nach dem ‚Bewahren‘ von Geschichte zeigt sich auch in ihrer Beschäftigung mit der Korrespondenz1058 der ehemaligen Hausbewohnerin Clara Lentz. Diese war 1927 nach Kalifornien ausgewandert, hieß fortan Claire Griffith und stand im Briefwechsel mit ihrer in Berlin gebliebenen Freundin Minna König. Minna hatte gemeinsam mit ihren Schwestern Erna und Ella im selben Haus wie Marianne Arends gewohnt, alle drei erlebten den Fall der Mauer nicht mehr. Durch die Einbeziehung der Briefe und Postkarten wird zum einen die Geschichte des Kalten Krieges evoziert. Burmeisters Roman stellt hinsichtlich der Form der Evokation dieser Ereignisse einen Einzelfall dar, denn sie beschränkt sich nicht auf die Darstellung des 1054 1055 1056 1057 1058
Ebd., S. 58f.; vgl. auch Ebd., S. 56, S. 58-61. Vgl. Ebd., S. 40-47. Vgl. Ebd., S. 133-137. Ebd., S. 17; Hervorhebung im Original. Vgl. Ebd., S. 129-133, 137-144, 154-171.
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Verhältnisses beider deutscher Staaten. Zum anderen wird am Schicksal der Clara Lentz der Aspekt der Entfremdung thematisiert: Nahezu alle Briefe zeugen von einer Entwurzelung der nach Amerika Gegangenen, die sich in Kalifornien fremd fühlt. Mehrfach bekennt sie, Heimweh nach Deutschland zu haben, doch das ihr vertraute Deutschland existiert nicht mehr. Diese Entwurzelungsprozesse sind durchaus denjenigen der Ostdeutschen nach der ‚Wende‘ vergleichbar, denn auch diese Prozesse erfolgten im Hinblick auf den Wandel des Alltags nahezu schlagartig. Das ‚Ankommen‘ in einer von westdeutschen Maßstäben geprägten Welt ist vielfach nicht gelungen. Wie noch gezeigt werden wird, bringt insbesondere Marianne Arends dem Westen ähnliche Fremdheitsgefühle entgegen wie Clara Lentz Jahrzehnte zuvor den USA.1059 Wie bei Lentz gehen diese Gefühle einher mit dem Wunsch nach einem Festhalten des Vergangenen. Das nicht immer gelingende Erinnern glückt Marianne an anderer Stelle zumindest teilweise. Sehr genau beobachtet sie die Veränderungen und zieht häufig Vergleiche zwischen ‚früher‘ und ‚heute‘. Dies zeigt sich bereits am ersten Satz des Romans: Es ist ein großes Haus, hundert Jahre alt. Der Stadtteil, in dem das Haus steht, hieß weiter Mitte, als er längst Rand war, dahinter Niemandsland, von der Schußwaffe wurde Gebrauch gemacht.1060
An anderer Stelle vergleicht sie explizit: Ich konnte die Straße zuendegehen, nicht mehr auf eine eiserne Wand zu. Erleichterung spürte ich immer noch, inzwischen ohne ein Gefühl des Unwirklichen. Das hatte sich verlagert, es durchzog die Vergangenheit. Kaum noch vorzustellen, die Mauern, Türme, Drähte, Verhaue, Gräben, Wachposten, Hunde, die Grenze im Fluß, die Blenden am Brückengeländer, so daß man nicht ins Wasser sehen konnte, ein Bahnhof voller Soldaten, sogar auf einem Laufsteg an der Stirnseite des Daches patroullierten sie, hätten in die Menge zielen, den Feind an der Bahnsteigkante abschießen können, wo die weiße Sperrlinie war, die die Reisenden erst nach Erlaubniskommando übertreten durften, wirklich, kaum vorzustellen, aber noch da, verblassendes Erinnerungszeichen an einen Zustand permanenter Abwehr, Kriegsersatz. Vielleicht hatte ich ihn schon irrealisiert, als er real existierte, ihn soweit wie möglich ausgesperrt, damit ich unter seinen Bedingungen leben konnte. Wie wären die auf Dauer bei vollem Bewußtsein ertragbar gewesen. Eine Stadt der Weltmeister im Verdrängen, zu beiden Seiten der Mauer, die eher zusammenbrach als unser Verstand, unsere Gesundheit, unsere Fähigkeit zu überleben, dachte ich.1061 1059
1060 1061
Vgl. etwa ihre Äußerungen über die Tagespost: „Gar nicht zu reden vom Geschrei der Verheißungen all dieser Erlebnishäuser, Tiefkühlvergnügen, Knabberspäße für die ganze Familie, wahrhaft unerträglich.“ (Ebd., S. 188) Ebd., S. 7. Ebd., S. 111f. Auch hatte sie vor dem Mauerfall nie den „Waldgeruch“ wahrgenommen, der aus dem Westen kommt (Ebd., S. 25).
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Die Landschaft um sich herum nimmt sie sehr genau wahr: Der Zug fährt, als verließe er die Stadt, durch weitläufiges Gelände, das spärlich bewachsen ist, bestückt mit bemalten Ruinen aus Beton und Eisen. Keine Deckung weit und breit, ein flaches Terrain, unschwer einzusehen vom hohen Bahndamm aus, der im Bogen wieder dicht an Wohnhäuser heranführt, wie streckenweise in den belebten, den unversehrt wirkenden Stadtteilen, die der Zug hinter sich gelassen hat, um nun, am Ende seiner Fahrt, in eine Gegend vorzudringen, bei deren Anblick ein Fremder an Erdbeben, Krieg und marodierende Banden denken, sich fürchten könnte auszusteigen.1062
Auch vergleichsweise langsam erfolgende Veränderungen registriert die Protagonistin und setzt diese in Beziehung zum ‚Unveränderten‘: Um die Mittagszeit erreichten wir den neuen Landesteil. Ich sah Bauten, die ganz neu, andere, die erneuert waren, frisch gedeckte Dächer, helle Farben, hervorstechend aus dem Unveränderten, Vorstöße einer Erneuerung, die um sich greifen würde, das war absehbar, das Ende nicht. Vielleicht schneeweiße Dörfer in der Magdeburger Börde und auf Potsdam zu, geleckte Ortschaften nach naheliegenden Vorbildern.1063
5.3.4.2 Die Entlarvung gängiger Ost-West-Diskurse In Burmeisters Roman begegnen sich Ost- und Westdeutsche kaum zufällig, sie werden stets explizit miteinander konfrontiert. Am Beispiel dieser Begegnungen werden zugleich wechselseitige Klischeevorstellungen deutlich gemacht und als solche entlarvt. Auch hier spielt der Aspekt der ‚Fremdheit‘ eine wesentliche Rolle. So heißt es über ein westdeutsches Paar: Die Frau blätterte in einer Broschüre, der Mann studierte den Stadtplan, zwischendurch griffen sie nach den Gläsern mit Mineralwasser, wechselten ein paar Worte, lasen weiter, waren ganz unbefangen in einer Umgebung, die ihnen fremder sein mußte als ihr Hotel in Kenia oder auf den Malediven oder wo immer sie die Ferien verbracht hatten, geübte Reisende und als solche im Osten unterwegs, vielleicht absichtlich von der Touristenroute abgewichen auf der Suche nach Authentischem, dann erschöpft in das erstbeste Lokal eingekehrt, für einen Schluck Wasser und um den Rückweg zu planen […].1064
Max, ein Freund Mariannes, spult dem Paar gegenüber die Geschichte der ‚Wende‘-Ereignisse ab. Er „erzählte. Stasigebäude, Bürgerkomitees, Mahn-
1062 1063 1064
Ebd., S. 176f. Ebd., S. 183. Ebd., S. 83; vgl. auch Ebd., S. 86f.
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wache, Hungerstreik.“1065 Sie selbst distanziert sich von diesen „hölzernen Heldengeschichten. Warum konnte er nicht still sein, mich allein lassen.“1066 Das Gespräch des Paares mit einem Ostdeutschen muss Marianne akustisch nicht genau verstehen, um seinen Inhalt zu kennen: Ich saß an der Wand, mit Blick zum Eingang, konnte, ohne mich umzudrehen, das touristische Paar und bei geringer Drehung dessen Gegner am Nebentisch beobachten, inzwischen einträchtig auf der Lauer, angeglichen die Trinkbewegungen, kein übermäßiger Schwung mehr und keine Apathie, ein ruhiges Schlucken, in den Pausen einvernehmliches Vergleichen und Summieren der geschichtlichen Erträge: Unterm Strich plusminus Null für ihresgleichen, früher betrogen und heute wieder und jedesmal von den eigenen, erst den Klassenbrüdern, nun den Landsleuten, mit denen man unbedingt vereinigt sein wollte, war ja das einzig Richtige, aber wer konnte ahnen, wie die sich dann aufführen würden, vorbei die Mauerpartys, der ganze Jubel und die Geschenke, das Leben war wieder, was es immer gewesen, Anschiß, also mußte man gegenhalten, damit der sich in Grenzen hielt, und denen von drüben zeigen, daß sie es hier nicht mit Bimbos zu tun hatten, die sich alles bieten ließen, verstand ich, auch ohne genau zu hören, was die beiden sagten.1067
Sie kennt also die Muster, nach denen Gespräche zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen häufig ablaufen. Ihre Abneigung richtet sich vor allem gegen die Oberflächlichkeit der Westdeutschen. Als sie nach Mannheim reist, erkennt sie: „Hier sehe ich Menschen mit einer Glasur über den Gesichtern, vielleicht zum Schutz gegen die Zeit oder als Visier im Nahkampf, abweisende Gesichter jedenfalls.“1068 Außerdem wüssten die Westdeutschen „immer schon Bescheid, diese aufgeblasenen Originale, für die der Osten bevölkert ist von Stereotypen!“1069 Doch nicht nur die Westdeutschen sind ihr fremd, sondern der gesamte Westen. Ihre ersten Eindrücke verdeutlichen dies: Vornehme Bahnhöfe, Wohlstandsgeruch tief aus den Poren. Bauten und Gegenstände waren gediegen, geschmackvoll, gemacht für lange Dauer und fürs Auge auch, sogar Plastik sah besser aus als bei uns. Es gab Rolltreppen, Transportbänder, Aufzüge, Gepäckkarren, alles kostenlos. Niemand mußte sich quälen mit Traglasten, auch nicht mit Hunger oder Durst. Essen und trinken, nichts leichter als das, schwierig höchstens die Entscheidung, wo am besten.1070
Dieser Fremdheit begegnet sie mit Unsicherheit; es fällt ihr schwer, Einschätzungen vorzunehmen: 1065 1066 1067 1068 1069 1070
Ebd., S. 84. Ebd. Ebd, S. 85. Ebd., S. 211. Ebd., S. 252. Ebd., S. 206f.
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In die Grundstücke reichte meine Vorstellung noch, in die Häuser nicht mehr. Aus den Fronten auf die Innenräume, die Ausstattung zu schließen, hätte mich im Spiel mit Norma gereizt. Allein gab ich auf und begnügte mich mit zufälligen Einblicken. Was verstand ich denn von echt oder unecht, von Stilen, in und out.1071
In Mannheim hat sie Kontaktschwierigkeiten; ihre Fremdheitsgefühle angesichts der neuen Nachbarn1072 steigern sich bis zu Phantasien, in denen sie sich den Westdeutschen gegenüber als vollkommen minderwertig empfindet: Hallo, meine Liebe, Sie müssen noch eine Menge lernen, man merkt doch gleich, wo Sie herkommen, Schaumwein und Sättigungsbeilagen, sagten sie lächelnd, zogen die Dauerwellen ein und die Köpfe zurück durch die beiden Löcher in der Decke, die sich über mir schlossen wie Augenlider.1073
Auf der Party, die sie gemeinsam mit ihrem Mann gibt, werden die stereotypen Vorstellungen der Westdeutschen von den Ostdeutschen besonders augenfällig. So kennt Marianne keinen Rucola-Salat. Corinna Kling, ein Gast, äußert daraufhin: – Und ich dachte, sagte Corinna, bei Ihnen im Osten hätten sich die alten Eßgewohnheiten erhalten, wo doch alles rückständiger war. Nicht immer ein Mangel. Zum Beispiel die wundervollen – – Alleen, sagte ich. – Genau. Die habe ich selbst gesehen, bei einer Autofahrt durch Mecklenburg, im Sommer nach der Wende. Ein Ausflug in die fünfziger Jahre. Traumhaft, zumindest aus der Touristenperspektive. Für die Einheimischen war es gewiß ganz anders. Hart. Da gebe ich mich keinen Illusionen hin und will mir auch kein Urteil anmaßen. Halten Sie mich nicht –, ich verabscheue das arrogante Auftreten all dieser – – Besserwessis, sagte ich. – Sie sagen es. Die Ratschläge von oben herab, derart peinlich. Und die Vorurteile. Seit dem Wochenende in Mecklenburg habe ich die neuen Länder nicht mehr betreten. Man ist auch mit dem eigenen Leben viel zu sehr beschäftigt.1074
Mühelos gelingt es Marianne also, die Repliken der Westdeutschen vorwegzunehmen. Sie wird zunehmend aggressiv, zumal ihr die Partygespräche zuwider sind. Im Gespräch mit Corinna Kling erfindet sie sich schließlich eine Biografie, die ihres Erachtens einen aus Westperspektive typischen DDR-Lebenslauf darstellt. Taktisch geschickt leitet sie ihre Geschichte mit Komplimenten an die Zuhörerin ein: 1071 1072 1073 1074
Ebd., S. 209. Vgl. Ebd., S. 210-214. Ebd., S. 215. Ebd., S. 218f.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
- [sic] Es ist an der Zeit, daß Sie die Wahrheit über mich erfahren, sagte ich. Oder anders gesagt, ich möchte Ihnen von meinem Leben erzählen. – Aber gern. Als Sie anfingen, klang es so, ich weiß nicht recht, irgendwie drohend, ja, ich war ein bißchen erschrocken, ein Mißverständnis, natürlich ist es an der Zeit, daß auch Sie – ich habe Sie vorhin ausgiebig mit meinen Geschichten gelangweilt. – Tief beeindruckt, sagte ich. Mir ging es wie früher beim Ansehen der Bildbände über ferne Länder. Ich dachte, als ich Ihnen so zuhörte, daß wir nicht weit voneinander gelebt haben, Sie allerdings in einer blühenden Oase, ich im Wüstensand. – Aber - [sic], sagte Corinna Kling. – Oh doch, sagte ich. Sie haben den Osten nicht kennengelernt! Wüste in den Seelen, Sie wissen schon.“1075
Anlässlich des Todes von Stalin habe ihr Bruder als Pionier zu dessen Totenwächtern gehört und bei der Wache entsetzlich gefroren1076, wie nebenbei beklagt sie sich über die mangelhafte Versorgung in der DDR.1077 Ihr Elternhaus sei ein halbes Reihenhaus in einer Arbeitersiedlung gewesen: „Alle Wohnungen einheitlich eng, klein aber mein, hieß es, auch wenn die Häuser nicht den Bewohnern gehörten, sondern dem Werk, das dem Volk gehörte, also uns allen und keinem allein, folglich, sagte mein Vater, bestiehlt ein Werksdieb nur sich selbst.“1078 Der Vater sei Kriegsheimkehrer gewesen1079, die Kontakte zur Verwandtschaft im Westen habe er mit der Begründung abgebrochen: „Von Faschisten nehmen wir nichts, auch keine Weihnachtsgeschenke […].“1080 Er „vertrat die Linie der herrschenden Partei von Anfang bis Ende unbedingt und hätte sie uns gegenüber verteidigt, wären wir auf die Idee gekommen, sie zu kritisieren. […] Wir waren eine friedliche Familie mit einem Klassenkämpfer an der Spitze.“1081 Richtige Freundschaften habe sie als Kind nicht gekannt. Den Zusammenbruch der DDR habe der Vater zum Glück nicht mehr erlebt.1082 Sie bekennt: – Wir hielten das Mitmachen für selbstverständlich. Worüber hätten wir diskutieren sollen? Der Vater gab Ratschläge für die Überzeugungsarbeit. Unermüdlich im Kampf um die Herzen und Hirne unserer Menschen: so sah er sich selbst, und so wünschte er sich den Einsatz der jungen Generation.1083
1075 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083
Ebd., S. 224f. Vgl. Ebd., S. 225f. Vgl. Ebd., S. 226. Ebd., S. 227. Vgl. Ebd. Ebd., S. 228. Ebd. Vgl. Ebd., S. 230. Ebd., S. 232.
5.3 Epik
379
In ihre Erzählung integriert sie sogar den Hausmeister Kühne, der in ihrer Lügengeschichte als ihr Bruder erscheint: Als Berufsoffizier sei er zur Volksarmee gegangen1084 und arbeite heute als „Wachmann oder Hausmeister irgendwo.“1085 Höhepunkt ist die Darstellung ihrer Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst unter dem Decknamen „Norma“.1086 Hauptmotiv ihres Handelns sei die Liebesbeziehung zu ihrem Führungsoffizier gewesen, den sie als Studentin kennen gelernt und nach dem sie sich verzehrt habe1087: „Ich habe gespitzelt und verraten. Aus Liebe. So war das.“1088 Später habe sie ein gemeinsames Kind abgetrieben.1089 Auf Klings Frage: „Wem haben Sie geschadet?“ antwortet sie: – Niemandem, könnte ich sagen. Ich weiß von keiner Verhaftung, keinem Verhör der Bekannten, über die ich berichtet habe. Es war ja nicht meine Absicht, irgendwem zu schaden. Einige von ihnen mochte ich ausgesprochen gern. Wir waren nicht befreundet, aber selbst dann hätte ich für den Geliebten und den Frieden sorgfältig gesammelt und es Unbekannten überlassen, ihre Schlüsse zu ziehen und Maßnahmen zu ergreifen.1090
Ihre Lügengeschichte erzählt Marianne absolut bewusst und mit einer gewissen Berechnung. Sie unterbricht ihre Darstellung an bestimmten Stellen, um Corinna die Möglichkeit zum Nachfragen zu geben: „Ich hielt an, damit Corinna fragen konnte: nach dem Alter damals, dem Namen dieses Bruders und was denn Pioniere waren, schließlich: wozu das Stillstehen in der Kälte.“1091 Mit diesem Verhalten offenbart sie allerdings indirekt auch ihre eigenen stereotypen Vorstellungen von den Westdeutschen. Aus dem Unbehagen ihrer Zuhörerin zieht sie einen Lustgewinn: Ich sah, daß ihr unbehaglich zumute war. Sie blickte zur Seite, wohl in der Hoffnung, jemanden zu entdecken, der ihren Blick auffangen, herkommen und sie erlösen würde. Aber die anderen saßen in einiger Entfernung, unterhielten sich gut, wie es schien, und nahmen keine Notiz von uns. Mir konnte es nur recht sein. Von sich aus fortgehen würde Corinna nicht. Solange niemand sie befreite, hatte ich sie für mich. Ich brauchte sie. Auf ihrem Gesicht sah ich meine Geschichte umgesetzt in Mienenspiel. Ich sprach und wollte weitersprechen, ganz versessen auf diesen schönen Spiegel.1092 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092
Vgl. Ebd., S. 233. Ebd., S. 234. Ebd., S. 244. Vgl. Ebd., S. 240. Ebd., S. 238. Vgl. Ebd., S. 241f. Ebd., S. 243. Ebd., S. 225. Ebd., S. 231.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Corinna Kling nimmt Mariannes Geschichte zur Kenntnis und verteidigt sogar ihre Tätigkeit für die Stasi.1093 Sie berichtet die Geschichte jedoch ihrem Mann. Dieser erzählt sie wiederum Johannes, der daraufhin seine Frau zur Rede stellt.1094 Marianne bekennt, von Corinna „inspiriert“ worden zu sein1095 und erklärt zudem: Daß ich es schon lange satt hatte, als Abladeplatz für Mitleid und Belehrungen zu dienen, daß es mir zum Hals heraushing, eine Vertreterin des Typischen zu sein oder eine Randerscheinung, daß mir dieser Musterkoffer gestohlen bleiben konnte, den ich, je nachdem, gegen einen neuen eintauschen oder um alles in der Welt behalten soll.1096
Johannes zeigt kein Verständnis für das Verhalten seiner Frau; es kommt zum Bruch. Dieser findet allerdings auch nicht gänzlich unerwartet statt, denn [k]aum eines der gemeinsamen Wochenenden verging ohne Enttäuschung und Mißverständnisse. Unsere Streitigkeiten wogen nun schwerer, weil für Aussöhnung meist keine Zeit mehr blieb. Unsere Körper drängten zueinander in verzweifelter Heftigkeit, als könnten sie retten, was mit der Entfernung verloren ging. Erschöpft trennten wir uns, bis zum nächsten Mal, und schöpften Hoffnung in den Zwischenzeiten und verloren sie immer leichter über einem ausgebliebenen Wort, einer vermißten Geste während dieser kurzen, erwartungsgeladenen Begegnungen alle vierzehn Tage. Und wenn eine gut war von Anfang bis Ende, wenn es mir gelang, an den Abschied nicht zu denken, traf er mich dann wie eine absichtliche Verletzung, eine Zurückweisung durch Johannes, dem die Arbeit wichtiger war als ich.1097
Dass Marianne die Lügengeschichte erzählen kann, ist Zeichen einer Entwicklung: Zu Beginn des Romans hatte sie noch geäußert: „Du mit deiner verdammten Freundlichkeit, nur nicht anecken, nicht wahr? Du mußt Rücksichtslosigkeit lernen […].“1098 Brigitte Burmeister dürfte diejenige Schriftstellerin sein, die die Existenz auf stereotypen Vorstellungen beruhender Gesprächsmuster in der Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen am ausführlichsten in literarischer Form aufgegriffen hat. Ein ähnlicher Dialog wird in Jens Sparschuhs Roman Lavaters Maske (1999) angedeutet. Der Protagonist, ein 1093 1094 1095 1096 1097
1098
Vgl. Ebd., S. 242. Vgl. Ebd., S. 248f. Ebd., S. 251. Ebd., S. 251f. Ebd., S. 201. Zudem ging Johannes wie selbstverständlich davon aus, dass seine Frau ihm in den Westen folgen würde (vgl. Ebd., S. 202). Ebd., S. 8.
5.3 Epik
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Schriftsteller, schildert darin unter anderem seine Erlebnisse auf Lesungen. Während einer Veranstaltung in Westdeutschland kommt es zum Gespräch zwischen dem ostdeutschen Autor und dem westdeutschen Publikum, in dessen Rahmen in erster Linie Vorurteile seitens der Westdeutschen spürbar werden. Der routinierte Autor ist der Situation durchaus gewachsen, überlegt aber, welche Rolle er einnehmen soll: Sollte ich jetzt vielleicht besser auf die Ost-West-Schiene einschwenken? Den geistig verwirrten Spätheimkehrer aus der Ex-DDR mimen? Damit konnte man sicher allzu speziellen Fangfragen aus dem Wege gehen. Aber deutsch-deutscher Einheitsdackel, Ost-West-Befindlichkeitsschwuchtel – das alles waren nicht die Rollen, für die ich irgendeine innere Berufung verspürte.1099
5.3.4.3 Freundschaft statt Utopie Am Ende des Buches, nach Mariannes Rückkehr aus Mannheim, schließen sie und Norma einen Freundschaftsbund, der unter der Zeugenschaft von Max vollzogen wird: Norma und ich reichten uns die Hände. – Freundschaft, sagte ich, geht von freier Wahl aus. Einmal geknüpft, soll sie durch eine feierliche Erklärung offiziell besiegelt werden. Du bist unser Offizieller, Max. – Ein Traumposten. Was habe ich zu tun? – Besiegeln. Durch eine feierliche Erklärung, wiederholte Norma.“1100
Diese Besiegelung erfolgt „unter dem Namen Norma“.1101 In die „feierliche Erklärung“ bezieht Max die aktuellen Ereignisse mit ein. Dabei fordert er: Und wir selbst, liebe Freundinnen, sind so unschuldig nicht, daß wir den ersten Stein werfen dürften. Von denen, die bereits umhersausen, werden wir freilich mitgetroffen. Halten wir dennoch den Besen fest, mit dem wir vor der eignen Tür zu kehren haben! Lassen wir uns nicht beirren, nach dem eigenen Platz in der großen Verstrickung zu fragen, nach der Mitschuld unseres Formats!1102
Vorbild für den Freundschaftsbund sind Ideen von Saint-Just, denn:
1099 1100 1101 1102
Jens Sparschuh: Lavaters Maske. Roman. Köln 1999, S. 127. Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994, S. 278. Vgl. Ebd., S. 281-283 bzw. Ebd., S. 283. Ebd., S. 282.
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– Sehr viel mehr als die Liebe mit ihren Hindernissen hat die Freundschaft sein kurzes Leben erhellt, sagte ich. Er stellte sich sogar vor, aus ihr einen Pfeiler der neuen Gesellschaft zu machen. Freundschaftsbeziehungen sollten durch eine feierliche Erklärung, ihr Bruch durch ein öffentliches Protokoll besiegelt werden. Bei Vertragsabschlüssen, in Schiedsfällen und Streitigkeiten mit Dritten sollten die Freunde füreinander bürgen […]. Die Freundschaft sollte, indem sie nach Besitz und Geistesvermögen ungleiche Männer verband, die sozialen Unterschiede überwinden, ein Mittel der Integration und Eintracht werden.1103
Saint-Just kommt hier also die Funktion eines Hoffnungsträgers zu. Seine Ideen aufgreifend, betont Max: „Freundschaft ist nicht die schlechteste Art, mitzuwirken an der gesellschaftlichen Vereinigung, diesem Knäuel aus Hoffnungen, Mängeln und Mißverständnissen […].“1104 In diesem Sinne kann Freundschaft zugleich als stabilisierendes Element der Gesellschaftsordnung verstanden werden – ein Modell, das zumindest für die beiden Frauen stimmig ist, denn mit der Schließung des Bundes stabilisiert sich Mariannes Identität wieder: Nach ihrer Rückkehr aus Mannheim hat sie sich vollständig von ihrem Mann gelöst und zugleich mit der Freundschaft zu Norma wieder eine Basis für ihr Leben gefunden. Im weitesten Sinne tritt der Freundschaftsbund an die durch den Verlust der Utopie im Öffentlichen wie im Privaten entstandene Leerstelle. Der Roman endet tendenziell optimistisch: Die Protagonistin wünscht sich, dass Emilia, ihre – imaginäre – Tochter1105, erscheinen möge, um ihr mitzuteilen: „anscheinend sei mir doch noch zu helfen.“1106 Vergleicht man Burmeisters Debütroman mit Unter dem Namen Norma, so ist festzustellen, dass Unter dem Namen Norma – im Gegensatz zu Anders – kaum noch Elemente des ‚nouveau roman‘ aufweist. Zwar ist Norma sicher kein breit angelegter Roman ‚à la Balzac‘, doch das Postulat vom ‚Antiroman‘ bzw. einem ‚neuen Erzählen‘ findet sich hier weniger konsequent umgesetzt als in Anders. Allenfalls hat, wenn auch im übertragenen Sinne, die Forderung nach einem ‚Neu-sehen-Lehren‘ der Leser auch für Norma Gültigkeit, denn die Autorin bietet einen Blick auf die Ereignisse, der sich bei der Lektüre zwangsläufig auch auf den Leser 1103
1104 1105 1106
Ebd., S. 270f. Über Saint-Just heißt es auch: „Er wollte die politische durch eine soziale Revolution vollenden, an die Besitzlosen Land verteilen, eine Gesellschaft errichten, in der es keine Unterdrücker und keine Unterdrückten mehr gäbe: Das Glück, erklärte er, ist ein neuer Gedanke in Europa. Er wollte Staatsbürger heranbilden, die einander Freunde, Gastgeber und Brüder wären, und glaubte wie sein Freund Maximilien Robespierre an die vorläufige Notwendigkeit des Terrors im Dienste der Tugend.“ (Ebd., S. 270) Ebd., S. 283. Emilia fungiert als Über-Ich der Protagonistin; vgl. Ebd., S. 116-126, 152, 177-183, 224, 286. Ebd., S. 286.
5.3 Epik
383
überträgt. Eine etwa durch die Doktrin des sozialistischen Realismus ausgelöste ‚Krise des Romans‘ in der DDR scheint also spätestens mit der ‚Wende‘ überwunden; betrachtet man jedoch in den letzten Jahren des Bestehens der DDR auch dort erschienene Romane, so halten sich deren Autorinnen und Autoren in der Regel schon lange nicht mehr an diese überkommenen Normen. 5.3.4.4
Abendspaziergang (1995)
Ergänzend zu Unter dem Namen Norma ist Abendspaziergang (1995) zu lesen – ein Text, der sich vor allem mit den Figuren Ella und Minna König und im Zusammenhang mit deren Tod auch mit dem ‚Entsorgen‘ von Geschichte auseinander setzt. Die Situation der Wohnungsauflösung der beiden Schwestern kann dabei in Parallele gesetzt werden zur ‚Abwicklung‘ der DDR. Der folgende, längere Textauszug sei hier lediglich wiedergegeben, um die Bezüge zu Unter dem Namen Norma deutlich zu machen. Die Erzählerin, die den Haushalt der beiden Schwestern auflösen muss, berichtet: Mit der Zeit verlor die Erinnerung an Schrecken, konnte ich „Auflösung“ denken oder sagen, ohne hinter dem Ausdruck die Gewalttätigkeit, die Zerstörung, die er zu verwässern suchte, mit derselben Wehrlosigkeit und Abwehr zu spüren wie damals. Mir war, als der buchstäblich Nächsten, der Auftrag zugefallen, ich hatte mich während Ellas Krankheit schon darauf eingestellt, vergeblich nach konkreten Anweisungen gefragt, nur eine pauschale Vollmacht erhalten, das Thema willig wieder fallen lassen – wie auch Ella sich nicht mit dem befassen mochte, was nach ihrem Tod zu geschehen hätte – und dann, als er hinterrücks eintrat, vor einer Aufgabe gestanden, deren Bewältigung zum Alptraum wurde, im Wachen erst, später noch lange im Schlaf. Hätten sie ein Konto hinterlassen, Bündel von Banknoten an den verschiedensten Stellen versteckt, es wäre, selbst im Fall entnervender Skrupel oder Streitigkeiten, ein Kinderspiel gewesen, verglichen mit diesem Vernichtungsfeldzug gegen die Dinge. Die waren, wie altersschwach auch immer, zähe Gegner und hielten zusammen. Sie waren erdrückend zahlreich. Wurden sie auch haufenweise zu Schrott, Gerümpel, Lumpen, Müll erklärt, mußte die Erklärung doch an jedem einzeln vollstreckt werden, durch Ansehen und Anfassen. Sie wehrten sich mit allen Mitteln, mit ihrem Gewicht, unvermuteter Festigkeit, Ecken, Nägeln, Splittern ebenso wie mit plötzlicher Zartheit, den Geräuschen des Zerreißens und Zerbrechens, mit dem Geruch, der, unwiederholbar, nur ihnen, in dieser Wohnung, in ihrem Zusammensein mit den Frauen eingewachsen war, auch bei den Ausgewählten blieb, die, in einen anderen Haushalt versetzt, ihr Fremdsein dort hartnäckig ausdünsteten. Die schlimmste Waffe der Dinge war ihre Geschichte, unzweifelhaftes, zugleich unerforschliches Attribut eines jeden, auch derer, die die Auslese nach dem Maßstab von Brauchbarkeit, Wert und Schönheit nicht überstanden. Allesamt waren sie belastet durch ihre Funktionen in einem lebenslangen Verbund, der plötzlich
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unter Auflösungsbeschluß geriet, und wälzten diese Last, gerechterweise, auf die Vollstreckerin. Sich vorzustellen, zu ahnen, seltenenfalls sogar zu wissen, wie die Dinge hier Einzug gehalten, ihr Dasein gefristet, Dienste vollbracht und empfangen, das Leben ihrer Besitzerinnen geteilt, mitgestaltet, Tag um Tag erfüllt hatten, und sie dabei doch fortwährend zu vernichten, voller Bedacht, zögernd oder in blindwütiger Geschwindigkeit, war Schuld, die mit Schuldgefühl bestrafte. Dagegen vermochten andere Empfindungen nichts. Sicher, es gab sie – Freude an den geborgenen, dem eignen Besitz eingegliederten oder als Geschenke vorzüglich verwendbaren Stücken, Dankbarkeit für eine dergestalt andauernde Verbindung zu den Entschwundenen, die in unerreichbarer Erde ruhten, Neugier auf Funde in den Briefen, Dokumenten und Fotografien, fast vollständig aufgehoben, weil Papier wenig Platz beansprucht und sich hier vielleicht die Geschichten aufspüren ließen, die mir nie erzählt worden waren. Aber von alldem ging keine Kraft aus, das Urteil zu mildern. Was in acht Jahrzehnten zusammengetragen und zusammengehalten, über den letzten Krieg hinweggerettet, gegen die langsamen Zerstörungsgriffe der Zeit mühevoll verteidigt worden war, hatte ich in acht Wochen auseinandergenommen, dem Fußboden gleich gemacht. Es blieben die düsteren Tapeten, noch aus Friedenszeiten, und der Geruch, den ich in der Wohnung einschloß, und die Schlüssel, die ich bei der Verwaltung abgab.1107
5.3.5
Der unfreiwillige Aufstieg eines ‚überzeugten Vertreters‘ – Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen (1995)
Jens Sparschuhs „Heimatroman“ kann als einer der erfolgreichsten ‚Kandidaten‘ für den vielfach eingeforderten ‚Wenderoman‘ gelten. Der Zimmerspringbrunnen ist nicht nur eine der gelungensten Satiren auf kapitalistische Marketingstrategien, sondern einer der zentralen fiktionalen Texte über die Nachwendezeit. Sein Autor wurde 1955 in Karl-Marx-Stadt geboren1108 und studierte von 1973 bis 1978 Philosophie und Logik in Leningrad; danach arbeitete er als Assistent an der Humboldt-Universität, wo er 1983 promovierte.1109 Seither ist Sparschuh als freier Schriftsteller und Herausgeber tätig. Zur Zeit der ‚Wende‘ engagierte sich der in Berlin lebende Autor in der Bürgerbewegung. Bis 1989 / 90 erschienen von ihm der irreführend im Untertitel als „Reiseroman“ bezeichnete Lyrikband Waldwärts (1985)1110, das fiktive Tagebuch Johann Peter Eckermanns Der
1107 1108
1109
1110
Brigitte Burmeister: Abendspaziergang. Berlin 1995, S. 27-29. Die zitierte Passage stellt zugleich das Ende der Erzählung dar. Vgl. überblicksartig zum Autor und seinen Werken Frank Thomas Grub: Gestürzte Denkmäler – ratlose Helden: Autorenporträt Jens Sparschuh. In: Der Deutschunterricht LII (2000) 1, S. 87-95. Jens Sparschuh: Erkenntnistheoretisch-methodologische Untersuchungen zur heuristischen Ausdrucksfähigkeit aussagenlogischer Beweisbegriffe. 2 Bände. Berlin (DDR) 1983 (Diss. A). Ders.: Waldwärts. Ein Reiseroman von A bis Z erlogen. Berlin (DDR) 1985.
5.3 Epik
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große Coup (1987)1111, der Roman KopfSprung. Aus den Memoiren des letzten deutschen Gedankenlesers (1989)1112 sowie zahlreiche Hörspiele, die in Ost- und Westdeutschland produziert und gesendet wurden. Nach der ‚Wende‘ schrieb Sparschuh neben dem Roman Der Schneemensch (1993) das Kinderbuch Parzival Pechvogel (1994). In fast allen dieser Werke spielt die Darstellung von Machtverhältnissen eine zentrale Rolle. Sparschuhs Texte wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Hörspielpreis der Kriegsblinden (1990) und der Förderpreis des Bremer Literaturpreises (1996). 5.3.5.1 Hinrich Lobek – die Biografie eines Anti-Helden Protagonist und Ich-Erzähler des wohl nach wie vor bekanntesten Sparschuh-Romans Der Zimmerspringbrunnen ist Hinrich Lobek, ein ‚abgewickelter‘ Angestellter der (Ost-)Berliner Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV). Lobek ist nach der ‚Wende‘ arbeitslos geworden. Seither ist sein Leben auf den häuslichen Bereich beschränkt: Die Kreise, in denen ich mich bewegte, waren in den letzten Jahren immer kleiner, immer enger geworden. Eigentlich bewegte ich mich gar nicht mehr, sondern saß, seit meiner Abwicklung, nur noch in der Wohnung herum. Oder: ich lag einfach auf dem Sofa und starrte zum Fenster, ganze Nachmittage …1113
Deutlich grenzt er sich vom Leben außerhalb der eigenen vier Wände ab, denn sämtliche „Versuche, draußen, im feindlichen Leben, wieder Fuß zu fassen, waren […] erfolglos geblieben.“1114 Lobek findet keine adäquate Strategie, mit dieser Situation umzugehen, zumal er beim Arbeitsamt von Beginn an als „schwer vermittelbar“1115 gilt. Er wird „immer schweigsamer.“1116 Seine Ehefrau Julia wirft ihm vor, mit ihm „könne man nicht mehr reden, ihr fehle der Austausch mit“ ihm: „Da könnte sie sich gleich vor ein Aquarium setzen.“1117 Dieser Auffassung widerspricht er zwar, oberflächlich betrachtet ist Julias Befund jedoch durchaus korrekt, denn [r]ichtig ist: ich beschränkte mich auf „Ja“ und „Nein“. Damit sind die wesentlichen Dinge gesagt. Am Telefon zusätzlich noch ein geknurrtes „Hallo“. In 1111 1112
1113 1114 1115 1116 1117
Ders.: Der große Coup. Aus den geheimen Tage- und Nachtbüchern des Johann Peter Eckermann. Berlin (DDR) 1987; erneut Köln 1996. Ders.: KopfSprung. Aus den Memoiren des letzten deutschen Gedankenlesers. Berlin (DDR) 1989. Das Buch durfte allerdings erst 1990 ausgeliefert werden und ging in der unmittelbaren Nachwendezeit bedauerlicherweise weit gehend unter. Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln 1995, S. 12. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17.
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komplizierten Fällen, die aber selten waren, verwendete ich außerdem noch die Wörter „Eventuell“, „Vielleicht“. Manchmal ließ ich mich auch zu einem „Mal abwarten“ hinreißen. Das aber schon die Ausnahme [sic].1118
In Dialog tritt er lediglich mit seinem Protokollbuch, das ihm sowohl Tagebuchfunktionen erfüllt als auch eine gewisse Fortsetzung seiner früheren Tätigkeit als Angestellter der KWV bedeutet. Schwierigkeiten oder Kritik kann er seiner Frau gegenüber nicht unmittelbar zur Sprache bringen, er zieht es vor, Einträge im Protokollbuch vorzunehmen: „‚Ich kann mich mit Julias Gesamtverhalten nicht mehr einverstanden erklären. – Und überhaupt: Freunde, nicht diese Töne!‘“1119 Julia wird zudem von ihm in Stasi-Manier beobachtet: Observationsobjekt J. verläßt gegen 7.15 Uhr die eheliche Wohnung (Lila Lippenstift …!). Vorausgegangen am Vorabend: telefonische Absprache der J. mit einem gewissen Hugelmann oder Hugemann – offenbar der neue Abteilungsleiter (nähere Informationen liegen derzeit noch nicht vor). Es fielen im Gespräch wiederholt die Worte „toll“, „das ist ja toll“ und „wirklich, das ist ja toll“.1120
Im Gegensatz zu ihrem Mann ist Julia also berufstätig; ihm wirft sie Untätigkeit vor: „‚Es kann doch nicht wahr sein, daß du wieder den ganzen Tag stabile Seitenlage geübt hast …‘ […]“1121 Rettung aus dieser Situation verspricht das „HALLO-BERLIN-Wochenhoroskop“1122, nach dessen Lektüre Lobek den Mut findet, sich bei der Schwarzwälder Firma PANTA RHEIN als Vertreter für Zimmerspringbrunnen zu bewerben. In seinem Lebenslauf, von dem „leider nicht mehr viel zu gebrauchen“1123 war, ändert er die Passage „‚Bin seit meiner Schulzeit überzeugter Vertreter der sozialistischen Ordnung‘“ kurzerhand in „‚Langjährige Erfahrungen im Vertreterbereich‘“1124 um und wird prompt eingestellt. Geschult auf einem Seminar in Bad Sülz im Hochschwarzwald, darf er in Begleitung seines West-Kollegen Strüver erste Verkaufsgespräche in Berlin führen. Seine Akten aus KWV-Zeiten, die zahlreiche Informationen über die Wohnungen und ihre Mieter enthalten, entpuppen sich dabei als äußerst hilfreich. Nach einem eher verhaltenen Aufstieg gelingt Lobek durch einen Zufall der Durchbruch: Sein durstiger Hund säuft den Wasserbehälter 1118 1119 1120 1121 1122 1123 1124
Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S. S.
25. 10. 21. 9; Hervorhebung im Original. 20. 20f.
5.3 Epik
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des Zimmerspringbrunnenmodells Jona leer, der Motor läuft heiß, der im Becken auf- und absteigende Walfisch verschmort. Um das Modell zu retten, ersetzt Lobek den Wal durch einen Kugelschreiber in Form des Ost-Berliner Fernsehturms und zeichnet auf der Grundplatte des Gerätes Städtenamen der DDR ein, darunter auch „Karl-Marx-Stadt“. Das Modell erhält den bezeichnenden Namen „Atlantis“ und wird zum Verkaufsschlager. Kaum kann Lobek die riesige Nachfrage befriedigen, die Wohnung verwandelt sich rasch in ein Warenlager. Parallel zu seinem beruflichen Aufstieg findet jedoch Lobeks privater Abstieg statt1125: Julia verläßt ihn und zieht zunächst zu ihrer Schulfreundin Conny, einer „Radikalfeministin“.1126 Gemeinsam mit dem heimlich von „Hasso vom Rabenhorst“ in „Freitag“ umgetauften Hund macht Lobek sich auf die Suche nach Julia. Der Roman endet offen, was von einigen Rezensenten bemängelt wurde, letztlich aber folgerichtig ist: Drüben, im Osten, ließ sich schüchtern die Sonne blicken. Daß die sich das überhaupt noch traute … Immerhin, sie war schamrot! Ich zog Freitag an der Leine. „Na los, komm schon!“ Komm.1127
Da dem Einwortsatz „Komm.“ die Anführungszeichen fehlen, dürfte er sich nicht mehr an den Hund richten, sondern entweder an Julia oder an sich selbst. In beiden Fällen wäre er als Aufforderung zu verstehen: entweder zum alleine Weitermachen oder im Sinne einer Bitte an die Ehefrau, doch zu ihm zurückzukehren. 5.3.5.2
Ost-West-Verhältnisse
Sparschuh stellt in Der Zimmerspringbrunnen – in erster Linie mit Mitteln der Satire – Ost- und Westdeutsche und die Klischeevorstellungen insbesondere der Westdeutschen von den Ostdeutschen einander gegenüber. Dabei dominiert auf Grund der Darstellung der Ereignisse aus Lobeks Sicht die ‚östliche‘ Perspektive. Die erste in diesem Zusammenhang relevante Begegnung findet auf der Vertreterschulung in Bad Sülz statt: Nachdem Lobek auf Grund seiner falsch interpretierten Ratlosigkeit erfolgreich im Rahmen einer Verkaufssimulation abschneidet, sieht ihn der Direktor des Unternehmens, Alois Boldinger, 1125
1126 1127
In diesem Sinne erfährt Conrad Ferdinand Meyers im Roman zitiertes Gedicht Der römische Brunnen – „Aufsteigt der Strahl und fallend gießt […]“ (Ebd., S. 31) – einen zusätzlichen Deutungsaspekt: Mit dem Aufstieg ist zugleich der Fall verbunden. Ebd., S. 79. Ebd., S. 160.
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„bewundernd an, wie man eine exotische Pflanze ansieht: ‚Herrschaften, das nenne ich östliche Ruhe und meditative Kraft! Ja, Mensch, auch wir hier im Westen können von Ihnen lernen. Durchaus!“1128 Immer wieder zeigt sich dabei eine bestenfalls als paternalistisch, schlimmstenfalls als kolonialistisch zu bezeichnende Haltung der Westdeutschen den Ostdeutschen gegenüber. Lobeks Kollege Uwe Strüver etwa spricht von ihm als dem „Eingeborenen“.1129 Strüvers Interesse gilt „den Sitten und Gebräuchen der Ostdeutschen.“1130 Diesen weist er damit praktisch den Status von Studienobjekten zu, wie es beispielsweise auch bei aussterbenden Volksstämmen vorstellbar wäre: „Er war froh, daß er die Ostdeutschen nun aus eigener Anschauung kennenlernte. ‚Der Ostdeutsche an und für sich …‘ so begannen seine diesbezüglichen Betrachtungen.“1131 Als Strüver Lobek schließlich das „du“ anbietet, überlegt dieser: Er war, sah man genau hin, mindestens zehn, fünfzehn Jahre jünger als ich. Insofern hätte eigentlich ich ihm das Du anbieten müssen. Aber schließlich, er war der Westmensch; da hatte er bei mir wahrscheinlich gleich automatisch ein paar Jährchen von den 40 Jahren DDR-Leben abgezogen, denn richtig gelebt hatten wir ja nicht. Immer wieder, wenn wir gemeinsam unterwegs waren, besonders auch bei Überlandfahrten, hatte er mitfühlend den Kopf geschüttelt. Zitat nach Protokollbuch: „Das war ja kein Leben bei euch! Die Zeitungen waren keine Zeitungen. Die Wahlen waren keine Wahlen. Die Straßen keine Straßen. Nicht mal die Autos waren Autos.1132
In diesem Zusammenhang fragt sich Lobek: „Aber, was zum Kuckuck war es dann, was wir die ganze Zeit getrieben hatten? Wer weiß. Man muß es schon selbst erlebt haben, um es nicht zu verstehen …“1133 Beide reden aneinander vorbei. Deutlichstes Beispiel ist ein Gespräch über Lobeks Kundenlisten, die dieser noch aus DDR-Zeiten besitzt: Dann wollte er plötzlich wissen, wie ich eigentlich an die Kundenlisten herangekommen sei? Ihm sei es eigentlich egal, aber … „Von meiner alten Firma“, sagte ich verwundert. „Aha“, sagte er, „von der Firma.“ Er nickte. Dann schenkte er uns beiden nach und begann nun plötzlich von der Staatssicherheit zu sprechen. (Wahrscheinlich hatte er schon vorher etwas getrunken; er wechselte jetzt jedenfalls sehr abrupt von einem Thema zum anderen.)1134
1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd. Ebd.,
S. 52f. S. 89. S. 99. S. 112. S. 112f.
5.3 Epik
389
An diesem kurzen Dialog zeigt sich, dass die Kommunikation zwischen beiden Gesprächspartnern nicht gelingt. Strüver möchte als besonders gut informiert gelten: Offenbar hat er gehört, dass der Staatssicherheitsdienst auch als ‚die Firma‘ bezeichnet wurde; dieses Wissen wendet er nun an. Lobek versteht ihn aber nicht, sondern empfindet das Gespräch über die Staatssicherheit als abrupten Themenwechsel. Sein Verhalten entspricht damit nicht Strüvers Erwartenshaltung; die Kommunikation glückt nicht, da sich Strüvers Klischee-Bild des Ostdeutschen offenbar nicht mit der individuellen Realität Lobeks deckt. Dennoch wird das wechselseitige Fehlverstehen nicht angesprochen. Das Thema Staatssicherheit ist kurz darauf erneut Quelle eines Missverständnisses, diesmal zwischen Lobek und Boldinger: Er [Boldinger; F.Th.G.] sagte mir, daß er ganz außerordentlich froh über meine Arbeit sei und daß er ganz außerordentliche Sachen über mich gehört habe. „Kollege Strüver hat ja wahre Wunderdinge über Sie berichtet … Nur immer weiter so! Der Blick geht nach vorn, nicht zurück in die vielleicht auch dunkle Vergangenheit, Herr Lobek, immer nach vorn.“ Ob ich verstünde, wie er das meinte? Ob ich das wirklich verstünde … „Ja“, doch so schwierig war das ja nicht.1135
Strüver hat offensichtlich den Direktor des Unternehmens über Lobeks vermeintliche Stasi-Kontakte informiert. Boldinger spielt nun darauf an, doch Lobek versteht die Anspielung nicht. Dennoch entspricht er der Erwartenshaltung seines Chefs, denn er antwortet auf die Nachfrage mit „Ja“. In beiden Gesprächen kommt es nicht zur Aufklärung der Missverständnisse, im zweiten Fall wird das Missverständnis nicht einmal bemerkt: Beide Gesprächspartner leben in dem Glauben, einander verstanden zu haben. Boldinger ist überdies sicher, Lobek zu verstehen, weil auch er „drüben“ geboren sei. Durch diese Reduktion auf den geografischen Aspekt ignoriert er völlig die unterschiedliche Sozialisation in den verschiedenen politischen Systemen: „[…] Übrigens, ich verstehe Sie ja besser, viel besser, als Sie sich das vorstellen können. Sagen Sie mal, wissen Sie eigentlich, Herr Lobek, wo ich geboren bin?“ […] „Pirna“, hauchte Boldinger in die Leitung.1136
Mit Fortschreiten der Handlung entspricht Lobek immer weniger der westdeutschen Klischeevorstellung des Ostdeutschen. Aus der Sicht der anderen legt er seine Unsicherheit ab und ergreift die Initiative: 1135 1136
Ebd., S. 120; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 121.
390
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Danach, als wir uns im Wohnzimmer gegenübersaßen und Kaffee tranken, sagte mir Gaby (das ist der Vorname von Frau Windisch), mein entschlossenes Auftreten, mein zielsicher-männliches Vorgehen hätten ihr unheimlich imponiert. Endlich habe ihr mal wieder einer ohne große Worte gesagt, wo es langginge. Ich sei wohl jemand, der die Fäden fest in der Hand hielte und nicht erst lange fackele – sie sei davon wie hypnotisiert gewesen!1137
Lobeks Erfolg wächst stetig, Hauptgrund dafür ist aber der ohne größeren Aufwand erfolgende reißende Absatz des Atlantis-Modells. Schließlich steigt er zum Vertriebsleiter Ost auf1138 – eine Position, die Strüver sicher zu erhalten geglaubt hatte.1139 Diese Hoffnung dürfte allerdings ausschließlich in Strüvers Herkunft begründet liegen: Als Westdeutscher fühlt er sich einfach überlegen. 5.3.5.3 Der Aspekt der Heimat ‚Heimat‘ wird von Sparschuh offensichtlich nicht im traditionellen Verständnis gebraucht. Das Abstraktum spielt in Der Zimmerspringbrunnen eine wichtige Rolle: Es ist bereits im Untertitel „Ein Heimatroman“ präsent.1140 ‚Heimatroman‘ definiert Otto F. Best (1994) als Roman, der dörfl. Leben harmonisierend-idyllisierend, d.h. unter Aussparung der Lebensprobleme mod. Zivilisations- u. Industriewelt, schildert; meist der […] Trivialliteratur zuzurechnen.1141
Abgesehen von der Romanform gilt für Sparschuhs Text also keines der Kriterien für einen ‚Heimatroman‘ in diesem Sinne: Weder geht es um die Darstellung dörflichen oder zumindest ländlichen Lebens, noch werden die in der Definition angesprochenen „Lebensprobleme“ ausgespart. Der Trivialliteratur ist Der Zimmerspringbrunnen ebenso wenig zuzurechnen. Es handelt sich also um das Gegenteil eines ‚Heimatromans‘, zumal ausschließlicher Schauplatz die Großstadt Berlin ist. Der Untertitel ist folglich als satirisches Element zu verstehen, Sparschuh deutet den Begriff ironisch um. ‚Heimat‘ spielt im Roman eine große Rolle und wird auf mehreren Ebenen thematisiert. Zu Beginn dominiert dabei das Motiv des Heimatverlusts. Dieser wird von Lobek als unmittelbare Folge der ‚Wende‘ dargestellt: 1137 1138 1139 1140 1141
Ebd., S. 82. Vgl. Ebd., S. 120-123. Vgl. Ebd., S. 112. Dieser Untertitel wurde übrigens in der „btb“-Taschenbuchausgabe getilgt; hier ist schlicht von „Roman“ die Rede. Art. ‚Heimatroman‘. In: Otto F. Best: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Frankfurt a.M. 1994; S. 221, S. 221.
5.3 Epik
391
Ohne auch nur den Fuß vor die Tür zu setzen, hatte ich mein altes Heimatland verlassen (bzw. – es mich). […] Sogar die Postanschrift hatte sich von heute auf morgen geändert. Ich hatte eines Morgens mit Freitag die kleine Runde gemacht; irgendetwas war anders als sonst. Da bemerkte ich: heimlich, über Nacht sozusagen, waren wir aus unserer Straße umgezogen worden. Sie trug jetzt einen anderen Namen.1142
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass ihm die Wohnung als einzige Konstante in seinem Leben erscheint, zumal Julia sich wesentlich schneller umstellt als er. Der Hobbyraum erhält zunehmend Inselstatus: „Da gab es nur eins für mich: Hobbyraum!“1143 In diesem Sinne kann Der Zimmerspringbrunnen auch als moderne Robinsonade gelesen werden: Lobek steht in dieser Lesart für Robinson, Hund Hasso, der später in „Freitag“ umgetauft wird, für den gleichnamigen Gefährten bei Defoe. Ironisch bezeichnet Lobek gegen Ende des Romans einmal die gesamte Wohnung als „hübschen kleinen Robinson-Club“.1144 Doch bis Julia ihren Mann verlässt, bleibt der Hobbyraum deutlich von der restlichen Wohnung und erst recht von der Außenwelt abgegrenzt: Um im Bild zu bleiben: mein kleiner Hobbyraum wäre demnach das geistige Schaltzentrum, das Hirn der Wohnung gewesen. Und so war es auch! Sobald ich nämlich den Hobbyraum verließ, mich vielleicht ein bißchen hinlegte, zum Fenster schaute, hatte ich das Gefühl, ich würde allmählich verdaut werden …1145
Als Lobek Hobbyraum und Wohnung zwangsläufig verlassen muss, um an der Vertreterschulung in Bad Sülz teilzunehmen, steigert sich sein Gefühl der Heimatlosigkeit bis hin zu Bedrohungsphantasien ausgerechnet durch den Hochschwarzwald – einer Gegend also, die häufig Schauplatz trivialer Heimatromane und anderer Formen der naiven Verklärung war und ist1146: Kaum war ich aus dem Zug gestiegen, merkte ich, daß es in dieser wahnsinnig aufgeräumten Weltgegend schwierig werden dürfte, unauffällig meine Zigarettenkippe zu entsorgen, und ich hatte auf einmal das Gefühl, daß es auch für mich hier schwierig sein würde, einen Platz zu finden. Rundum war ich von Bergen umstellt. Kein Fluchtweg.1147
1142 1143 1144 1145 1146 1147
Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln 1995, S. 38. Ebd., S. 19. Ebd., S. 146. Ebd., S. 14. So stößt er im Aufenthaltsraum des „Föhrentaler Hofs“ auch auf den Bildband „Du, unsere schöne Heimat – Der Hochschwarzwald“ (Ebd., S. 53). Ebd., S. 25f.
392
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Diesem Eindruck der Bedrohung kann er ausschließlich durch den Rückgriff auf einen dogmatischen Satz aus DDR-Zeiten begegnen: Ich stöhnte auf. Ich dachte an Julia, an Zuhause. Und auf einmal, ich wußte nicht, wie, kam es über mich, und ich mußte hier […] plötzlich, ohne mich dagegen wehren zu können, wie zwanghaft, einen Satz sagen, der mir so bisher noch nie in meinem Leben von den Lippen gekommen war: „Ich liebe meine Heimat, die Deutsche Demokratische Republik.1148
Postum entwickelt er also – in direkter Reaktion auf seine Erfahrungen in und mit dem Westen – eine früher nicht gekannte DDR-Identität. Ein weiterer Beleg hierfür ist sein kritisches Verhältnis zu den Auf- bzw. Umbauarbeiten in seiner Gegend: Schon wenn ich überall diese obszönen schwarz-roten Werbeaufkleber las: JETZT NEU, sah ich schwarz! Und zugleich rot! Ich kam mir überhaupt vor wie der letzte Mohikaner und pfiff, wenn ich Freitag ausführte, leise mein altes Pionierlied: „Überall, wohin man schaut, wird aufgebaut …“ (Den Bauarbeitern schickte ich finstere Blicke zu!)1149
Auch hier bezieht er sich also auf seine DDR-Vergangenheit. Das Pionierlied verkörpert damit – ebenso wie der oben zitierte Satz – eine zumindest früher existente Gewissheit, die in einem neuen Kontext als Bezugspunkt fungiert. Die kollektive Entstehung einer DDR-Identität ermöglicht Lobek später die großen Verkaufserfolge mit dem umgebauten ZimmerspringbrunnenModell Atlantis: Ich sah mir meine Kunden genau an. Natürlich, etliche betrachteten das als Kuriosum, als Party-gag vielleicht. Die meisten aber behandelten ATLANTIS wie einen Kultgegenstand. Es waren regelrechte Altarecken, wo er landete; manchmal hatte ich den Eindruck, in einem Traditionskabinett gelandet zu sein. Ich wurde, wenn ich auf Empfehlung kam, als Gesinnungsgenosse begrüßt […]. Vor allem unter den Mitgliedern eines mir bis dahin unbekannt gebliebenen halblegalen „DDRHeimatvertriebenen-Verbandes“, der erstaunlich gut und straff organisiert war, gelangen mir spektakuläre Verkäufe […]. Einmal […] bekam ich in der Pause, beim Solidaritätsbasar, sogar einen Verkaufstisch zugewiesen, zwischen den Spreewälder Senfgurken und FDJ-Hemden.1150
Sparschuh setzt sich hier also differenziert mit dem Phänomen der ‚Ostalgie‘ auseinander (vgl. dazu ausführlich 6.2). Das Gefühl der Heimatlosigkeit bis hin zur Entwurzelung wird übrigens vergleichsweise häufig in der Literatur der Nachwendezeit aufgegriffen, besonders deutlich in den 1148 1149 1150
Ebd., S. 54f. Ebd., S. 38f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 105f.; Hervorhebung im Original.
5.3 Epik
393
Werken von Helga Königsdorf: Dem ‚Alten‘ in ihrem Roman Im Schatten des Regenbogens (1993) war die Partei „Heimat gewesen, hatte ihm die Familie ersetzt.“1151 Später erscheint dieses Motiv der Heimatlosigkeit erneut: Alles was sich angestaut hatte, brach plötzlich auf. Wut, daß man ihn mit solchen Spinnern in einen Topf warf. Wut, daß diese glaubten, ihn einvernehmen zu können. Wut auf sich selbst, auf den unsinnigen Schmerz, der ihn, ob er es nun wollte oder nicht, mit dem anderen verband. Den Schmerz, heimatlos geworden zu sein.1152
5.3.5.4
Rezeption
Die Kritik hat in Lobek häufig einen neuen „Schwejk“1153 gesehen – eine angesichts der Verschiedenartigkeit der Biografien beider ‚Helden‘ wohl eher fragwürdige These. Plausibler dürften Parallelen zu Erzählungen von Tschechow und Gogol, zu Schelmenromanen, Eulenspiegeleien, Eichendorffs Taugenichts (1826), aber auch zu Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns (1963) sein: Wie Hans Schnier findet Lobek, der eher ein Anti-Held denn ein Held ist, sich am Ende auf dem Bahnhof. Immer wieder explizit und implizit erwähnt wird Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927): Julia vertritt die Auffassung, dieses Werk „müßte Pflichtlektüre für alle Ex-DDR’ler werden“1154, da sie den Titel irrtümlich als Anleitung zum Zeitmanagement versteht. Weitere intertextuelle Bezüge sind vorhanden zu Oscar Wilde1155 und zur Bibel1156; Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) wurde bereits erwähnt. Alexander von Bormann (1996) weist darauf hin, dass es sich bei Sparschuhs Text auch um eine Parodie des so genannten ‚Ankunftsromans‘ der DDR der sechziger Jahre handelt. Als Beleg für diese These kann die bereits oben zitierte Textstelle gelten, die sich auf Lobeks Gefühle bei seiner Ankunft im Westen bezieht:
1151 1152 1153
1154 1155 1156
Helga Königsdorf: Im Schatten des Regenbogens. Roman. Berlin / Weimar 1993, S. 36. Ebd., S. 80. Vgl. z.B.: Sabine Riemer: Vergnatzter Schwejk als Drücker. Ein besonderer Heimatroman: Jens Sparschuhs „Der Zimmerspringbrunnen“. In: Freie Presse (Chemnitz) v. 6.10.1995; Stefan Rammer: Irrationalität der Zeitläufte. Ein schlitzohriger Roman von Jens Sparschuh. In: Passauer Neue Presse v. 18.11.1995; Anne Stürzer: Zum Weinen komisch. Sparschuh breitet den Musterkoffer des Vertreters aus. In: Nordsee-Zeitung (Bremerhaven) v. 1.2.1996; Tobias Gohlis: Ein Denkmal der DDR. Jens Sparschuhs Roman „Der Zimmerspringbrunnen“. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 20.4.1996. Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln 1995, S. 60. Vgl. Ebd., S. 7. Vgl. vor allem den Namen des Zimmerspringbrunnen-Modells „Jona“.
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Kaum war ich aus dem Zug gestiegen, merkte ich, daß es in dieser wahnsinnig aufgeräumten Weltgegend schwierig werden dürfte, unauffällig meine Zigarettenkippe zu entsorgen, und ich hatte auf einmal das Gefühl, daß es auch für mich hier schwierig sein würde, einen Platz zu finden. Rundum war ich von Bergen umstellt. Kein Fluchtweg. Die Bahn setzte sich lautlos in Bewegung und entschwand. Ich war nun unwiderruflich angekommen.1157
Ein Ankommen im Westen im positiven Sinne ist Lobek allerdings nicht möglich, zumal er in seiner Situation offenkundig auch keinerlei Wahlmöglichkeit hat. Der große Erfolg des Romans zeigt sich nicht zuletzt an den zahlreichen Bearbeitungen: Im September 1996 erlebte die von Oliver Reese dramatisierte Fassung ihre Uraufführung auf der Studiobühne des Maxim-GorkiTheaters, Ulrich Anschütz spielte dabei den Lobek.1158 Der Zimmerspringbrunnen ist zudem als Hörbuch erhältlich1159, und 2001 hatte der von Senator produzierte Film (Regie: Peter Timm) Premiere in den Kinos. Im Hinblick auf Verkaufsstrategien sind die im Roman dargestellten Verhältnisse im Übrigen ausgesprochen realistisch. Zahlreiche Bücher beschäftigen sich mit Verkaufstrainings in den ‚neuen‘ Bundesländern, denn man „geht davon aus, daß Verkaufen im Osten nicht gleich Verkaufen im Westen ist. Nur wer sich den Gegebenheiten im Osten stellt und sie in seinem Wirken berücksichtigt, wird dauerhaft im Wettbewerb bestehen können.“1160
Exkurs V: Weitere ‚Wende‘-Texte von Jens Sparschuh Jens Sparschuh ist einem breiteren – nunmehr gesamtdeutschen – Publikum erst mit Der Zimmerspringbrunnen bekannt geworden. Er wurde deshalb schnell als ‚Wende-Autor‘ kategorisiert – eine Zuschreibung, die ihm angesichts der thematischen Breite seiner zuvor veröffentlichten Wer1157
1158
1159 1160
Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln 1995, S. 25f.; Hervorhebung von mir; F.Th.G.; vgl. Alexander von Bormann: Ein leise plätscherndes Nein. Über Jens Sparschuhs Roman „Der Zimmerspringbrunnen“. In: Gegenwart (Wien) (1996) 29 April-Juni. Vgl. dazu: Kolja Mensing: Stumpfer Spiegel und billige Katharsis. Das Gorki erhöht den Solidarbeitrag, am Deutschen Theater werden Bananen geschält: Der Zimmerspringbrunnen und Helden wie wir an [sic] Berliner Bühnen. In: GrauZone (1997) 9 / 10; S. 44-47, S. 44f. Aus dem Untertitel wurde übrigens in der Bühnenfassung „Ein Stück Heimat“. Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Teil 1 und 2. Regie: Dagmar Ponto. Gelesen von Ingo Meyer. München 1996 (4 MCs). Bernd Schepeler: Vorwort. In: B.S.: Verkaufen im Osten. In drei Schritten zum Erfolg. Hildburghausen 1996; S. 10, S. 10.
5.3 Epik
395
ke1161 in dieser Ausschließlichkeit sicher nicht gerecht wird. Die ‚Wende‘ spielt allerdings in vielen der 21 Prosatexte, Features und Essays aus den vergangenen zehn Jahren, die in dem 1997 erschienenen Sammelband Ich dachte, sie finden uns nicht1162 zusammengestellt wurden, eine wichtige Rolle. Einige dieser Texte seien im Folgenden in aller Kürze vorgestellt, um exemplarisch das Spektrum der verschiedenen Möglichkeiten einer literarischen Verarbeitung der ‚Wende‘-Ereignisse und ihrer Folgen durch einen einzelnen Schriftsteller aufzuzeigen: In der im März 1995 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Titelgeschichte (1995) denkt der Ich-Erzähler über die im Norden Berlins liegende „Eintrachtstraße“ nach, die so klein ist, dass man sie auf dem Stadtplan kaum findet. Am Beispiel der Erfahrungen der dort lebenden Menschen zeigt Sparschuh die Veränderungen im Alltag auf, die die ‚Wende‘ mit sich gebracht hat: Häuser werden renoviert, „Lücken werden geschlossen. Kohlenkeller verwandeln sich über Nacht in Gewerberäume. Und unter den Dächern nisten sich Etagenwohnungen ein. Die Stadt wächst. Und wird kleiner.“1163 Die Veränderungen finden allerdings in erster Linie an der Oberfläche statt, denn [v]or dem Hintergrund der aufgefrischten Fassaden sehen die Bewohner oder Noch-Bewohner der Straße oft merkwürdig alt, unrenoviert aus. Daß sie der unzweifelhaften Verschönerung mit dem argwöhnischen Seitenblick von Statisten begegnen, erklärt sich am ehesten wohl daraus, daß sie Statisten sind.1164
Ähnlich wie Hinrich Lobek in Der Zimmerspringbrunnen ist diesen „Statisten“ ein Stück vertrauter Heimat und Identität abhanden gekommen bzw. genommen worden. Intertextuelle Bezüge zu Luther, vor allem aber zu E.T.A. Hoffmann (Des Vetters Eckfenster) klingen an, wenn der IchErzähler am Ende feststellt: „So stehe ich, zwischen Wahrheit und Wahrheit, reglos am Fenster, und mein Blick liegt unbewegt, nicht zu sagen: immobil, auf dem Straßenbild – dem Vexierbild meiner alten Straße.“1165
1161
1162 1163
1164 1165
Vgl. Jens Sparschuh: Waldwärts. Ein Reiseroman von A bis Z erlogen. Berlin (DDR) 1985; Ders.: Der große Coup. Aus den geheimen Tage- und Nachtbüchern des Johann Peter Eckermann. Berlin (DDR) 1987; Ders.: KopfSprung. Aus den Memoiren des letzten deutschen Gedankenlesers. Berlin (DDR) 1989; Ders.: Der Schneemensch. Roman. Köln 1993; Ders.: Parzival Pechvogel. Ein Kinderroman. Mit Bildern von Manfred Bofinger. Zürich / Frauenfeld 1994. Ders.: Ich dachte, sie finden uns nicht. Zerstreute Prosa. Köln 1997. Ders.: Ich dachte, sie finden uns nicht. In: Ebd.; S. 7-10, S. 10 [zuerst unter dem Titel Paritätisch bröckelt der Putz. Wo die Ostkelle geschwungen wird – Berlin wächst und wird kleiner in FAZ v. 10.3.1995]. Ebd. Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ähnliche Beobachtungen macht auch der Ich-Erzähler in Berlin NO (1991), einem Text, der zuerst unter dem Titel Prenzlauer Berg Berlin ebenfalls in der FAZ erschien: Inzwischen weichen die alten KONSUM- und HO-Schilder der Gewalt bunterer, leuchtenderer Schilder des Westens. Letztere entfalten zunächst bizarre Kontrastwirkungen. Die kaputten Fassaden halten auch das noch. Sie haben schon so viel ausgehalten.1166
Heinz P., den der Ich-Erzähler in einer Kneipe trifft, scheint die ‚Wende‘ zumindest verbal eher von der lockeren Seite zu nehmen: „[…] det kriegen wir allet hin. In 40 Jahren haben wir den Sozialismus ruiniert. Den Kapitalismus schaffen wir ooch noch, wat?“1167 Nach der ‚Wende‘ nochmals in die Schwimmschule1168 begeben muss sich der Ich-Erzähler der gleichnamigen Erzählung (1990), nachdem ihm ein amtlicher Bescheid zugegangen ist, die DDR-Freischwimmerzeugnisse hätten mit dem 3. Oktober ihre Gültigkeit verloren. Einmal mehr überhöht Sparschuh mit satirischen Mitteln die zahlreichen Änderungen im alltäglichen Leben der ‚Neubundesbürger‘, denn in der Tat wurden zahlreiche Zeugnisse und andere Qualifikationsnachweise einer Anerkennungsprüfung unterzogen, der sie vielfach nicht standhielten. Im Featuretext Bahnhof Friedrichstraße. Ein Museum I (1989)1169 hatte Sparschuh eine imaginäre Reise durch den zum Museum gewordenen Bahnhof unternommen und dabei dessen Geschichte mit all ihren Absurditäten dargestellt. In Teil II, der 1995 in der Wochenpost erschien, stellt der Autor, anknüpfend an den ersten Teil, fest: […] anders als in anderen Museen, wo die Zeit scheinbar zum Stillstand gebracht und ihre Exponate präpariert und konserviert werden, wird hier übermalt, überklebt und – überhaupt, das Leben geht weiter. Bahnhof Friedrichstraße, dieses Museum, das keines ist, erinnert den staunenden Besucher daran, wie es mit der Historie bestellt ist: sie hat einen dauerhaften, unverrückbar festen Platz in unserm Vergessen.1170
In beiden Texten zeigen sich übrigens Parallelen zu Hans Magnus Enzensbergers in Ach Europa! (1987) enthaltenem Epilog aus dem Jahre 2006. 1166 1167 1168 1169
1170
Ders.: Berlin NO. In: Ebd.; S. 54-67, S. 63; Hervorhebungen im Original [zuerst unter dem Titel Prenzlauer Berg Berlin in FAZ v. 19.4.1991]. Ebd., S. 67. Ders.: Schwimmschule. In: Ebd., S. 68-72 [zuerst in: CONstructiv 1 (1990) 9, S. 4f.]. Ders.: Bahnhof Friedrichstraße. Ein Museum I. In: Ebd., S. 30-47 [Textfassung einer Feature-Koproduktion von Radio Bremen, Deutschlandfunk und Sender Freies Berlin, Erstausstrahlung 1989]. Ders.: Bahnhof Friedrichstraße. Ein Museum II. In: Ebd.; S. 48f., S. 49 [zuerst in: Wochenpost v. 9.2.1995].
5.3 Epik
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Darin werden die Mauer und der ehemalige Todesstreifen als potenzielles „Freilichtmuseum von dreißig Kilometer Länge“1171 bezeichnet, das nur noch eingezäunte Gebiet des ehemaligen Todesstreifens erscheint als „einzigartiges Biotop“.1172 Auch in dem fiktiven Interview mit Lichtenberg (1996)1173 spielt die ‚Wende‘ eine Rolle; die Antworten Lichtenbergs auf Sparschuhs Fragen sind dabei stets authentisch. In Transitraum Berliner Zimmer (1996) denkt der Ich-Erzähler, ausgehend von einer Schilderung seiner Kindheit in einer Pankower Wohnung, unter anderem über den ‚Prager Frühling‘ nach: Noch kurz vorher sind wir in Prag gewesen. Die erste Westreise, wie mir schien. (Und für lange Zeit auch die letzte.) Im Kino hatte es dort den „Schatz im Silbersee“ gegeben, und in den verwirrend bunten Läden Wrigley’s Spearmint Gums [sic] und Jeans. Mehr Westen war nie! […] Beim Fahnenappell erfahren wir, daß am 21. August dank der aufopferungsvollen Hilfe der sozialistischen Bruderarmeen der Weltfrieden gerettet wurde. […] An den Gedanken, daß der Weltfrieden zum Preis von Silbersee, Kaugummis und Jeans gerettet wurde, muß ich mich erst noch gewöhnen.1174
In der Textfassung des Features Ein seltener Knabe (1994) begibt sich der Ich-Erzähler auf den Spuren Johannes R. Bechers nach Bad Saarow, wo dieser ein kleines Sommerhaus besaß und auf die Jagd ging. Auch hier sind die Veränderungen der Nachwendezeit allgegenwärtig, werden vor allem die Folgen eines undifferenzierten und übertriebenen Personenkults in der DDR deutlich, der sich nach 1989/90 ins andere Extrem verkehrt: Die Becherstraße heißt nun wieder „Breite Straße“. Die Becherschule trägt den Ehrennamen „– schule“. Zwischen den Betonplatten auf dem Schulhof, wo Bechers Büste stand, wächst, tatsächlich, Gras. Grün und geduldig. Und Deutschland ist einig. Zumindest scheint es sich darin einig zu sein, daß mit Becher nicht mehr viel Staat zu machen ist.1175 1171
1172 1173
1174 1175
Hans Magnus Enzensberger: Böhmen am Meer von Timothy Taylor (The New New Yorker, 21. Februar 2006). In: H.M.E.: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt a.M. 1987; S. 449-500, S. 470. Ebd., S. 469; vgl. auch Ebd, S. 470. Jens Sparschuh: Interview mit Lichtenberg. In: J.S.: Ich dachte, sie finden uns nicht. Zerstreute Prosa. Köln 1997, S. 152-156 [zuerst in: Weitere Aussicht wechselhaft. Münstereifeler Lesebuch. Hrsg. von der Kurt-Schumacher-Akademie der Friedrich-EbertStiftung. Bad Münstereifel 1996 (Münstereifeler Literaturgespräche), S. 103-107]. Ders.: Transitraum Berliner Zimmer. In: Ebd.; S. 11-19, S. 14f. [unter dem Titel Mein Berliner Zimmer: ein Transitraum zuerst in: Der Tagesspiegel v. 30.7.1996]. Ders.: Ein seltener Knabe. Johannes R. Becher in Bad Saarow. In: Ebd.; S. 118-138, S. 136 [Textfassung einer Feature-Koproduktion von Sender Freies Berlin und Radio Bremen, Erstausstrahlung 1994].
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In Dies und das (1996) schildert Sparschuh humorvoll ein Gespräch und das sich anschließende Treffen mit seinem Schriftstellerkollegen Sten Nadolny, der sich einen Trabant gekauft hat: Zuerst dachte ich besorgt: Was ist mit ihm? Die Langsamkeit hat er doch schon entdeckt … Und da Nadolny zweifellos zu den größten deutschen Autoren der Gegenwart zählt, fragte ich mich: Wie soll das gehen? Schon ich, mit einer Länge von ca. 176 Zentimetern, hatte zeit meines DDR-Lebens Mühe, in diesem Gefährt unterzukommen, ohne überall anzuecken.1176
Sparschuhs bisher jüngster Roman, Eins zu eins (2003)1177, setzt sich nicht nur mit der ‚Wende‘, sondern auch mit dem untergegangenen slawischen Volk der Wenden auseinander. Olaf Gruber, der Ich-Erzähler, ist nach der ‚Wende‘ bei „andersWandern“ untergekommen, einem Traditionsunternehmen für Wanderkarten und -führer durch die DDR bzw. die östlichen Bundesländer. Eines Tages verschwindet sein an den Wenden interessierter Kollege Wenzel, und Gruber soll sich auf die Suche nach ihm begeben. Bei seinen Recherchen, die zu modernen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ werden, verliert er trotz anfänglicher Erfolge nach und nach die Orientierung. Eher unfreiwillig wird er dabei zum Ethnologen, nicht nur im Hinblick auf die Wenden, sondern zunächst einmal im Hinblick auf die ‚Wende‘ und die aktuellen Befindlichkeiten im Osten der Bundesrepublik. Die Idee, die Geschichte der Wenden mit der ‚Wende‘ zu verknüpfen, mag zunächst oberflächlich wirken, ist aber durchaus geglückt: Neben der klanglichen Ähnlichkeit der Wörter ist der verbindende Aspekt vor allem das Verschwinden bzw. der Untergang: Nicht nur die slawischen Wenden verschwanden, sondern nach der Vereinigung wurde ein ganzer Staat von der Karte getilgt – und mit ihm zahlreiche spezifische Eigenheiten auch des Alltagslebens. Abschließend sei auf Sparschuhs „schönen alten Plan zur Rettung der DDR“ hingewiesen, den er „in den frühen achtziger Jahren nach der Lektüre einer allgemeinverständlichen Einführung in die Einsteinsche Relativitätstheorie gefaßt“ hatte und in Schiller in Amerika (1993) darlegt: Es handelte sich dabei, kurz gesagt, um die Abschaffung aller modernen Verkehrsmittel und die republikweite Einführung von Pferdefuhrwerken und Postkutschen. Das grüne Musterland zwischen Ostseeküste und Erzgebirge hätte sich dadurch, dank der Verknüpfung von Raum und Zeit, augenblicklich auf die Distanz mehrerer Tagesreisen ausgestreckt. Keinem der Einwohner wäre mehr eingefallen, daß das so entstandene Riesenreich DDR irgendwo Grenzen haben könnte. Schade, damals 1176 1177
Ders.: Dies und das. In: Ebd.; S. 139-142, S. 139 [zuerst in: Sten Nadolny. Hrsg. von Wolfgang Bunzel. Eggingen 1996 (Porträt 6), S. 261-263]. Ders.: Eins zu eins. Roman. Köln 2003.
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hatte ich es anderer Dinge wegen oder einfach aus Vergeßlichkeit unterlassen, diesen Vorschlag schriftlich einzureichen. Und siehe – die DDR ist, wie man inzwischen ja weiß, tatsächlich untergegangen. Kleine Ursache, große Wirkung.1178
5.3.6 Alltag nach der ‚Wende‘ – Ingo Schulze: Simple Storys (1998)1179 Den in formaler Hinsicht innovativsten Roman zum Thema ‚Wende‘ und ‚Vereinigung‘ dürfte Ingo Schulze geschrieben haben. Schulze ist damit einer der wenigen Prosaautoren, die der Außergewöhnlichkeit der Ereignisse auch mit einer Entsprechung auf der formalen Ebene begegnen. Die Form sei für ihn, so Schulze in einem Interview, ein Mittel, der neuen Wirklichkeit gerecht zu werden. Sie können mit diesem Stil die DDR vor ’89 nicht beschreiben. Eine Gesellschaft, die auf ideologischen Zusammenhängen beruht, kann man nicht über ein literarisches Genre fassen, das die Dinge nüchtern so nimmt, wie sie sind. Man muß den Stil aus dem Stoff ableiten.1180
Schulze wurde 1962 in Dresden geboren, studierte von 1983 bis 1988 klassische Philologie in Jena und war bis 1990 Dramaturg am Landestheater in Altenburg. Danach arbeitete er kurze Zeit für ein politisches Wochenblatt. 1993 lebte er ein halbes Jahr lang als Journalist in St. Petersburg. Die Eindrücke dieses Aufenthaltes verarbeitete er in seinem Buch 33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter (1995).1181 Seit seiner Rückkehr aus Russland lebt Schulze als freier Autor in Berlin. 1994 erschien sein erstes selbstständig veröffentlichtes Werk: Von Nasen, Faxen und Ariadnefäden.1182 Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Telefaxen, die der Autor aus St. Petersburg an seinen todkranken Freund Helmar Penndorf1183 nach Altenburg schickte und die zugleich die Grundlage für die 33 Augenblicke des Glücks darstellen: In Faxbriefen sandte ich meine täglichen Beobachtungen an einen Freund, dessen liebevoll kritische Erwartung sie mir abgefordert hatte und mich zum genauen 1178
1179 1180 1181 1182 1183
Ders.: Schiller in Amerika. In: J.S.: Ich dachte, sie finden uns nicht. Zerstreute Prosa. Köln 1997; S. 83-103, S. 95f. [Textfassung einer Passagen-Sendung des Senders Freies Berlin in Koproduktion mit Radio Bremen, Erstausstrahlung 1993; zuerst in: ndl 41 (1993) 5, S. 75-90]. Ingo Schulze: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin 1998. [Interview mit Eva-Maria Reuther]: Die anderen Deutschen. Ingo Schulze über die Wende und seine „Simple Stories“ [sic]. In: Saarbrücker Zeitung v. 10.2.1999. Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteurlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter. Berlin 1995. Helmar Penndorf / Ingo Schulze: Von Nasen, Faxen und Ariadnefäden. Röderhof 1994. Der Graphiker und Kunsthistoriker Helmar Penndorf lebte von 1945 bis 1993; zuletzt betreute er die Graphische Sammlung am Lindenau-Museum in Altenburg.
400
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Hinsehen und Formulieren zwang. Von da führte der Weg zu Skizzen, die ich – Ossip Mandelstams „Armenische Reise“ als großes Vorbild – in den letzten Wochen meines Aufenthaltes begann. Aus einer dieser Skizzen entstand eine kleine Erzählung. Zurück in Deutschland schrieb ich weiter. Die zweite Geschichte geriet mir ganz anders als die erste. Ich las Bjeli, Sorokin, Puschkin, Lermontow, Mandelstam, Mamlejew, Gogol, Dostojewski, Charms, Prigow, Chlebnikow, Kawerin, Rubinstein, Majakowski, Sostschenko, Brodski, Jessenin und andere, auch Märchen und Heiligenlegenden. Jedes Buch wurde zu einer Anregung, nicht nur weil es meine eigenen Erfahrungen rührte, sondern weil es mir auch Muster lieferte, die mich zur Sprache brachten, die mir etwas sagbar werden ließen. Ich übernahm Stile, Motive, einzelne Sätze oder versuchte nachzuerzählen.1184
Der drei Jahre später herausgekommene Roman Simple Storys wurde in Auszügen vorabgedruckt1185 und erhielt auf diese Weise noch vor seinem Erscheinen in Buchform einen enormen Popularitätsgrad. Das Buch wurde rasch zum Erfolgstitel des Jahres 1998. Noch im selben Jahr dramatisierte Anna Langhoff den Stoff; dabei erfolgte eine Konzentration auf zwölf Spielszenen für sechs Schauspieler. Diese Dramenfassung wurde im Oktober 1998 an der Neuen Szene des Schauspielhauses in Leipzig in der Inszenierung von Lukas Langhoff uraufgeführt1186, hatte allerdings weitaus weniger Erfolg als das Buch. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass mit dem Gattungswechsel auch die meisten der im Folgenden genauer zu betrachtenden formalen Besonderheiten des Textes verloren gingen. 5.3.6.1
Formale Aspekte
Das Buch ist in 29 Kapitel gegliedert, die sich auch als Episoden – oder eben, mit orthografisch bewusst falsch gebildetem englischem Plural, „Storys“ – bezeichnen lassen. Die ‚Handlung‘ spielt in der Zeit zwischen Februar 1990 und 1997. Neben einer meist knappen, schlagwortartigen 1184 1185
1186
Ingo Schulze: Lesen und Schreiben. Wie wird man ein Schriftsteller? Und warum? Auf der Suche nach Atemwende, Gleichnis, Zauberwort. In: SZ v. 6.7.2000. So findet sich das Kapitel „Panik“ bereits in Der heimliche Grund. 69 Stimmen aus Sachsen. Im Auftrag des Literaturbüros Leipzig e.V. hrsg. von Helgard Rost und Thorsten Ahrend. Leipzig 1996, S. 149-156; später auch in Bahnhof Berlin. Hrsg. und mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller. München 1997, S. 143-151. Das Kapitel „Zwei Frauen, ein Kind, Terry, das Monstrum und der Elefant“ erschien ebenfalls bereits 1997 in Bahnhof Berlin. Hrsg. und mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller. München 1997, S. 107-118; gleichfalls: „Büchsen“ in Berlin zum Beispiel. Geschichten aus der Stadt. Erzählt von Jurek Becker, Monika Maron, Bodo Morshäuser, Katja Lange-Müller, Ingo Schulze u.v.a. Hrsg. von Sven Arnold und Ulrich Janetzki. München 1997, S. 149158. Hinzu traten Parallel- und Nachdrucke in mehreren Zeitungen und Zeitschriften, darunter die Leipziger Volkszeitung und Das Magazin. Vgl. zur Dramenfassung Rüdiger Schaper: Alles auf Null. Ingo Schulzes „Simple Storys“ in Leipzig uraufgeführt. In: SZ v. 20.10.1998.
5.3 Epik
401
Überschrift ist jedem Kapitel eine barock anmutende Kurzzusammenfassung des Inhalts vorangestellt, die allerdings in den meisten Fällen weniger geeignet ist, Aufschlüsse über den Plot zu geben, sondern wohl in erster Linie die Neugierde des Lesers wecken soll. So heißt es über „Kapitel 5 – Zugvögel“: Lydia erzählt von Dr. Barbara Holitzschek, die behauptet, einen Dachs überfahren zu haben. Ein langes Gespräch über Tiere. Die Unfallstelle. Rätselhaftes Ende ohne Dachs.1187 Das abschließende „Kapitel 29 – Fische“ wird mit den Worten eingeleitet: Jenny erzählt von einem neuen Job und Martin Meurer. Der Chef weist ein. Wo ist die Nordsee? Erst geht alles gut. Dann muß Jenny Überzeugungsarbeit leisten. Was passierte bei der Sintflut mit den Fischen? Zum Schluß erklingt Blasmusik.1188 Was tatsächlich passiert, verrät der Autor trotz geschickter Andeutungen also nicht. Benannt werden die Erzählerin oder der Erzähler und meist eine oder mehrere der Figuren. Neben einem übergeordneten allwissenden Erzähler, der ausgeprochen distanziert schildert, was auf der Handlungsebene vor sich geht, sind es vor allem die 14 weiteren Erzählerinnen und Erzähler, die die zentrale Rolle spielen: sie erzählen 19 der „Storys“. Dieses radikal dezentrierte Sprechen bringt auf der Ebene der Form den Verlust traditioneller Sicherheiten zum Ausdruck, von dem auch das Erzählen erfasst worden ist: Mit dem Utopieverlust geht die Dekonstruktion eines traditionellen Erzählgebildes einher. Eine Hauptfigur gibt es nicht; allenfalls lässt sich eine Konzentration des Geschehens um die Familien Meurer und Schubert erkennen. Der Titel erklärt sich aus dem Inhalt heraus: Ich habe es immer gerne deutsch ausgesprochen, also simple Storys. „Simpel“ ist ja ein deutsches Wort, und Storys mit y ist so, wie es im Duden steht. Ich denke, daß es ganz einfache, simple Begebenheiten sind, in die die Figuren geraten. Das, was da passiert, passiert in der ganzen westlichen Welt oder wo auch immer. Das besondere an Ostdeutschland ist, daß die Leute von einer Woche auf die andere in eine solche Situation gekommen sind. Es ist ein Unterschied, ob man im Westen groß geworden ist, oder ob man sich von einem auf den anderen Tag in einem anderen System wiederfand. Da sucht man natürlich nach Orientierung. Wenn ich im Westen 1187 1188
Ingo Schulze: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin 1998, S. 49; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 295; Hervorhebung im Original.
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eine Lesung habe, fragen die Leute immer: „Was ist denn das typisch Ostdeutsche daran?“ Ich denke, die Situationen sind ähnlich, aber die Personen sind typische Ostdeutsche. Mir mußte man auch erst erklären, was „cash“ heißt und wie das mit der Mehrwertsteuer funktioniert. Dinge eben, die völlig simpel sind.1189
In den 29 Kapiteln treten 25 Personen in zunächst voneinander unabhängig scheinenden Episoden auf; ein Netz der Verknüpfungen wird erst bei fortgeschrittener Lektüre erkennbar. Diese Verknüpfungen erfolgen vor allem auf der Ebene der Personenkonstellationen: Über Liebesbeziehungen, wechselseitige Abneigungen, zufällige Begegnungen oder einfach verwandtschaftliche Beziehungen sind nahezu alle Figuren miteinander verbunden; gemeinsam ist ihnen auch Altenburg als Wohn- oder zentraler Bezugsort. Scheinbar nebensächliche Details erhalten im Nachhinein Bedeutung: So ist in Kapitel 16 beiläufig die Rede von einem sich lösenden Knopf: „Mein Gott“, sagte die Frau und schob sich seitlich vom Hocker. „Das ist nichts für mich.“ Sie mußte sich kurz auf Jennys Oberschenkel abstützen. „Sie verlieren da gleich einen Knopf … da, ganz oben.“ „Danke“, sagte Jenny, als sie einander gegenüberstanden.1190
In Kapitel 29 erscheint der Knopf erneut, diesmal verliert ihn Jenny tatsächlich: „Der andere ist noch kleiner“, sagt er, „aber die Flossen sind gut.“ Mit dem Rücken zu ihm, ziehe ich mich aus. Dabei reiße ich mir einen Jackenknopf ab. Ich fahre in den blaugestreiften Taucheranzug und zerre mir die Kapuze über.1191
Diese Form der Verbindung mag eine – wenn auch ausgesprochen reduktionistische – literarische Adaption der Chaostheorie sein: Zunächst unbedeutende und deshalb nebensächlich erscheinende Ereignisse bleiben nicht ohne Folge, sondern beeinflussen einander wechselseitig, selbst wenn dies mit starker zeitlicher Verzögerung einhergeht. Hier liegt zugleich ein weiteres Element der oben angedeuteten Verbindungen. 5.3.6.2
Literarische Vorbilder
Ingo Schulze arbeitet in Simple Storys mit filmsprachlichen Mitteln, insbesondere auf der Ebene der Montage: Zum einen können die geschilderten 1189 1190 1191
[Interview mit Georg Deggerich und Rudolf Gier]: Für mich war die DDR einfach nicht literarisierbar. Im Gespräch. Der Schriftsteller Ingo Schulze. In: Freitag v. 6.11.1998. Ingo Schulze: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin 1998, S. 167. Ebd., S. 295.
5.3 Epik
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Episoden mehrheitlich, in Anlehnung an den gleichnamigen Film des amerikanischen Regisseurs Robert Altman (*1925), als Short Cuts (1993) bezeichnet werden. Zum anderen erfolgt die Darstellung der Ereignisse häufig durch ein ‚Heranzoomen‘ an einzelne Figuren oder Gegenstände, metaphorisch gesprochen durch den Einsatz von Weitwinkel-, Tele- bzw. Zoomobjektiven oder close-up-Linsen. Während die literarischen Vorbilder für 33 Augenblicke des Glücks vor allem in Russland zu suchen sind, spielen im Falle von Simple Storys meist amerikanische Autoren des 20. Jahrhunderts die entscheidende Rolle: Sherwood Anderson (1876-1941)1192, John Dos Passos (1896-1970)1193, William Faulkner (1897-1962)1194, John Cheever (1912-1982), Raymond Carver (1938-1988)1195, Richard Ford (*1944), Robert Coover (*1932), Donald Barthelme (1931-1989) und natürlich Ernest Hemingway (1899-1961).1196 An deutschen Vorbildern nennt Schulze neben Uwe Johnson und Johannes Bobrowski1197 vor allem Alfred Döblin mit Berlin Alexanderplatz (1929), denn, so Schulze, „[i]n der Verweigerung eines eigenen Stils, statt dessen den Stil immer wieder neu im Dialog mit dem Stoff zu entwickeln, vertritt Döblin eine Tradition, der ich mich gern zuordne.“1198 5.3.6.3 Altenburg als Schauplatz Schauplatz ist die – in literarischer Hinsicht bisher völlig unbedeutende – ostthüringische Stadt Altenburg. Sie ist eher bekannt als deutsches Skatzentrum mit Sitz des Internationalen Skatgerichts, als Museumsstadt und als ehemals bedeutendes Zentrum der Elektroindustrie der DDR. Altenburg wählte Schulze vor allem, weil er vier Jahre dort lebte und er insofern die Stadt gut kennt; auch wohnte seine Freundin dort:
1192 1193 1194 1195 1196
1197 1198
Vgl. vor allem seine Kurzgeschichten-Sammlung Winesburg, Ohio von 1919. Wesentliches Vorbild für Schulze dürfte Dos Passos’ wohl bekanntester Roman Manhattan Transfer (1925) gewesen sein. Im Sinne eines Schicksalsraums ist sein ‚Yoknapatawpha County‘ durchaus mit Altenburg vergleichbar. Siehe insbesondere The Cathedral (1983). Vgl. [Interview mit Ralph Gambihler]: „Hemmingway [sic] war für mich besonders wichtig“. Ingo Schulze sorgt mit seinem Geschichten-Knüller „Simple Storys“ für Furore. In: LVZ v. 28. / 29.3.1998. Hervorzuheben sind die Nick Adams-Geschichten (In Our Time, 1925). Vgl. [Interview mit Eva-Maria Reuther]: Die anderen Deutschen. Ingo Schulze über die Wende und seine „Simple Stories“ [sic]. In: Saarbrücker Zeitung v. 10.2.1999. Ingo Schulze: Lesen und Schreiben. Wie wird man ein Schriftsteller? Und warum? Auf der Suche nach Atemwende, Gleichnis, Zauberwort. In: SZ v. 6.7.2000.
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Aber es hätte auch Döbeln sein können oder eine andere Kleinstadt. Ich merkte beim Schreiben, daß äußerliche Schauplätze kaum eine Rolle spielen. Es taucht nie der Marktplatz auf. Es ist immer das Badezimmer, das Schlafzimmer, das Auto.1199
Am Beispiel mehrerer Einwohner von Altenburg werden die Schicksale einzelner Menschen nach der ‚Wende‘ verdeutlicht: Auf- und Absteiger und ihre Veränderungen werden ebenso dargestellt wie den Ereignissen gleichgültig gegenüberstehende Personen. Michael Braun (1999) weist auf die damit verbundene besondere Stimmung hin: „Eine latent bedrohliche Atmosphäre lastet auf all diesen Episoden, die soziale Explosion scheint nur noch eine Frage der Zeit.“1200 Altenburg ist auch in dieser Hinsicht repräsentativ für die östlichen Bundesländer, zumindest für die ‚ostdeutsche Provinz‘, wie der Untertitel andeutet. 5.3.6.4 Modernisierung als Schock Schulze gelingt es, in origineller Form die zahlreichen neuen Eindrücke und Veränderungen darzustellen. Insofern lesen sich seine Texte auch qualitativ völlig anders als viele, vergleichsweise stark an der Oberfläche bleibende Satiren, die sich etwa mit den Schwierigkeiten bei der Handhabung einer eurocheque-Karte beschäftigen.1201 Zweifellos bedienen diese Texte aber auch ein anderes Lesepublikum, wobei durchaus ähnliche Vorgänge und Ereignisse im Zentrum von Simple Storys stehen. Am wichtigsten dürfte dabei der Modernisierungsdruck sein, der für ein Abschiednehmen von der DDR kaum Zeit ließ, wie Manuela Glaab (1996) schreibt: Der schonungslose Modernisierungsdruck, den die Menschen gegenwärtig durchleben, läßt die Konturen des Orientierungsdilemmas schärfer hervortreten. Kennzeichnend hierfür sind vor allem zwei Faktoren: – Zum einen geht es um ein ostdeutsches Wir-Gefühl, das aus den Schwierigkeiten des Transformationsprozesses erwächst oder doch dadurch verstärkt wird. – Zum anderen sind hier spezifische Orientierungsmuster zu berücksichtigen, die aus dem gemeinsamen Erfahrungshorizont der ehemaligen DDR herrühren und Bruchlinien in der politischen Kultur der Deutschen markieren.1202 1199
1200
1201 1202
[Interview mit Ralph Gambihler]: „Hemmingway [sic] war für mich besonders wichtig“. Ingo Schulze sorgt mit seinem Geschichten-Knüller „Simple Storys“ für Furore. In: LVZ v. 28. / 29.3.1998. Vom Abrauschen in die Popmoderne – Die deutsche Gegenwartsliteratur zwischen „Soloalben“ und „Simple Stories“ [sic]. Ein Feature von Michael Braun. Saarbrücken 1999 [Sendemanuskript SR 2 Kulturradio], S. 5. Vgl. Rudi Strahl: Meine Karte, bitte. In: Rudi Strahl: Endlich im Schlaraffialand. Erzähltes und Erdichtetes. Berlin 1997, S. 47-50. Manuela Glaab: Doppelte Identitäten? Zum Orientierungsdilemma im vereinten Deutschland. In: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 28 (1996) 4; S. 417-422, S. 419.
5.3 Epik
405
Um den Umgang mit diesen Orientierungsmustern geht es auch Schulze. Viele der Geschichten besitzen, oberflächlich betrachtet, lediglich Mitteilungscharakter: Bestimmte Ereignisse werden schlicht festgehalten, etwa in „Kapitel 2 – Neues Geld“; Erzählerin ist Conny Schubert: Harry Nelson kam im Mai 90, eine Woche nach meinem neunzehnten Geburtstag, aus Frankfurt nach Altenburg. Er suchte nach Häusern, vor allem nach Bauland an den Zufahrtsstraßen zur Stadt. Es ging um Tankstellen. Harry war mittelgroß, brünett und Nichtraucher. Er wohnte im einzigen Hotel, dem „Wenzel“, in der ersten Etage. Überall, wo er auftauchte, selbst beim Frühstück oder Abendbrot, sah man ihn mit seinem ledernen Aktenkoffer, der zwei Zahlenschlösser hatte. […] Mitte Juni erschienen in der „Volkszeitung“ und im „Wochenblatt“ Fotos, die Harry und den neuen Bürgermeister beim Handschlag zeigten. Noch 1990 sollte eine Tankstelle gebaut werden, ich glaube, von BP.1203
Nachdem Harry Conny in angetrunkenem Zustand verführt hat, macht diese sich Hoffnungen auf eine Beziehung mit ihm. Doch er verlässt bald darauf wieder die Stadt: „Es heißt, ihm würden noch einige Häuser gehören, aber gesehen hat ihn niemand mehr.“1204 Harrys Verhalten wird dabei lediglich dargestellt, aber selbst von der unmittelbar betroffenen Erzählerin nicht weiter kommentiert – offenbar hat sie mehr oder weniger verbittert mit Harry abgeschlossen. Conny berichtet nicht nur von sich selbst; eingefügt in ihre Erzählung ist ein kurzer Bericht über ihre frühere Kollegin Erika: Erika wurde von einem Italiener eingestellt, der sein Glück mit einer Pizzeria in der Fabrikstraße versuchte. Im April 91 mußte er schließen. Erika fand andere Gaststätten. Doch kaum war eröffnet, kaum waren einige Monate vergangen, machten sie wieder dicht. Viermal passierte ihr das. Schließlich stand sie in dem Ruf, ein Unglücksengel zu sein. Aber auch nicht lange, denn man sah ja, wie es insgesamt lief.1205
Insbesondere am letzten Satz des Zitats wird deutlich, dass in mehreren Kapiteln von Schulzes Roman repräsentative Einzelschicksale dargestellt werden; die von Schulze erfundenen Lebensläufe sind also exemplarische. Der Erfolg des Buches im Osten mag nicht zuletzt seine Begründung in diesen zahlreich vorhandenen Identifikationsangeboten haben, die eine Hilfestellung im Kontext der eigenen Identitätssuche bieten können. In 1203 1204 1205
Ingo Schulze: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin 1998, S. 24f. Ebd., S. 29. Ebd.
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dem oben wiedergegebenen Zitat aus Kapitel 2 steht demnach nicht nur der windige Harry aus dem Westen im Mittelpunkt, sondern auch und vor allem der Wandel im Leben in der Gastronomie beschäftigter Frauen. „Kapitel 4 – Panik“ setzt sich mit einer anderen Gruppe von Menschen auseinander: den ‚Abgewickelten‘ im Universitätsbetrieb. Der Kunsthistoriker Martin Meurer erzählt: Als meine Assistentenstelle an der Leipziger Uni nicht verlängert wurde und ich von einem Tag auf den anderen ohne Einkommen war, hatte Andrea schon eine Umschulung zur Buchhalterin hinter sich und lernte vormittags, wenn Tino im Kindergarten war, Französisch und Maschineschreiben. Wir beantragten Wohngeld, nahmen uns vor, weniger zu rauchen, und zogen Andreas Anmeldung bei der Fahrschule zurück. Ich gab mein Zimmer in Leipzig auf, bewarb mich um Stipendien, Reiseleiterstellen, Projektarbeit, Anzeigenakquisition und schließlich bei VTLT Natursteinkonservierung GmbH & Co. KG um einen Außendienstjob mit garantierten Tausendachthundert netto. Die sagten mir dann, noch bevor ich richtig saß, daß sie einen Chemiker, Geologen, Physiker oder eben Artverwandtes suchten, keinesfalls einen Kunsthistoriker.1206
Weitere Teile, etwa „Kapitel 7 – Sommerfrische“, handeln vom Wandel in der Warenwelt. Über die Eltern von Martin Meurer wird berichtet: Die Meurers bezahlten die Miete von seiner Arbeitslosenhilfe und sparten den kleinen Rest. Ihr Gehalt als Sekretärin in Neugebauers Buchhaltungs- und Steuerberatungsbüro reichte für alle anderen Ausgaben. Sie hatten sich einen StereoFarbfernseher angeschafft, eine Anlage mit CD-Player, einen Entsafter und einen neuen Fön. Im Februar 90 waren sie mit dem Bus nach Venedig, Florenz und bis kurz vor Assisi gereist. Im Herbst wollten sie eine Woche ins Burgenland.1207
Über die Gefühlswelt der Meurers erfährt der Leser nichts. Die angeschafften Gegenstände und die unternommene Reise werden rein faktenbezogen mitgeteilt. Ein solches Vorgehen mag Ausdruck einer nach der ‚Wende‘ erfolgten Materialisierung sein: Schließlich drückt der oben erwähnte Modernisierungsschub sich zunächst einmal ausschließlich auf der Ebene der Warenwelt aus. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die möglicherweise banal scheinende Mitteilung über die Anschaffung eines Stereo-Farbfernsehers an Bedeutung. An zahlreichen anderen Stellen werden Markennamen westlicher Produkte genannt. So stellt Edgar Körner über seine Beifahrerin fest: „Sie roch nach Pommes und dem Sabatini-Parfüm, das er ihr letzte Woche geschenkt hatte.“1208 Später berichtet er: „Meine ganzen Erspar1206 1207 1208
Ebd., S. 40. Ebd., S. 77. Ebd., S. 116.
5.3 Epik
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nisse waren für die neue Ikea-Küche draufgegangen. Mit Ach und Krach wurstelten wir uns jeden Monat so durch.“1209 Dabei bleibt der Westen bzw. ‚Westliches‘ nach wie vor fremd. Dies wird besonders deutlich an der Wiedergabe der nächtlichen Heimfahrt im Anschluss an eine Geburtstagsparty: Plötzlich sagt Lydia: „Ein Ufo.“ Sie klingt überhaupt nicht aufgeregt. Hinter einem Hügel, mitten auf dem Feld, ist es hell geworden. „Miami“, sage ich. Die Straße macht einen Bogen auf das Licht zu, das blau wird, leuchtend blau, Aral. Ich blinke. „Langsamer!“ schreit sie, „langsamer!“ Der Verrückte schießt an uns vorbei. Ich bremse in der mittleren Gasse der Tankstelle.1210
Die Tankstelle gewinnt hier geradezu extraterrestrischen Status. Nachdem das vermeintliche „Ufo“ identifiziert worden ist, wird der Ort zu einer Art Insel, die nicht in die ansonsten dunkle Landschaft passt. Spezifisch Ostdeutsches enthält sie keinesfalls, zumal man hier mitten in der Nacht einkaufen kann. Am Vorgang des Einkaufens zeigen sich ebenfalls Elemente der Fremdheit: Sie beginnt einzukaufen. Ganz ladylike macht sie das, die Henkel des blauen Plastekorbs in der Armbeuge. Sie studiert jede Verpackung. Zwei Milchtüten, einen Sechserpack Landeier, Mozzarella, Vollkornbrot in Scheiben. Obenauf liegen „Varta Alkaline long life“-Batterien. „Nur Müsli haben sie nicht“, sagt sie.1211
Die – an sich überhaupt nicht benötigten – Waren werden nicht einfach genommen, sondern jede Verpackungsaufschrift wird ausführlich gelesen. Dennoch geht es hier nicht um die eingekauften Waren, sondern in erster Linie um das Einkaufen selbst. Das zeigt sich auch an der Bewertung „ladylike“, mit der der Vorgang kommentiert wird. Zugleich wird an dieser Textstelle auf der sprachlichen Ebene ein zwischen Ost und West liegender Zwischenzustand deutlich: ‚Plastekorb‘ wird mit „ladylike“ verbunden, wobei der Ausdruck ‚Plastekorb‘ das einzig verbliebene spezifisch ostdeutsche Element ist. Schulzes „Roman aus der ostdeutschen Provinz“ ist der umfangreichste nicht-satirische fiktionale Text über den Modernisierungsschub in den ‚neuen‘ Bundesländern. Texte anderer Autoren greifen zumeist lediglich Teilaspekte heraus und stellen diese in den Mittelpunkt, ohne Verknüpfungen auf der Ebene von Raum, Zeit und Figuren zu schaffen. Bernd-Lutz Lange (1991) etwa schildert in einem kurzen Text seinen ersten Besuch bei MacDonalds. Er beschreibt hauptsächlich die Schwierigkeiten, die er 1209 1210 1211
Ebd., S. 197. Ebd., S. 67f. Ebd., S. 69.
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mit einer kleinen Milchpackung hat, da er den kleinen angeschweißten Trinkhalm nicht gleich entdeckt.1212 Wichtig an diesen Texten sind weniger die dargestellten Probleme selbst als die Tatsache, dass man diese für berichtenswert hält. Hier mag einer der Gründe dafür liegen, dass Texte dieser Art von westdeutschen Leserinnen und Lesern häufig als banal empfunden werden. 5.3.7
Chroniken der ‚Wende‘ – Erich Loest: Nikolaikirche (1995) und Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999)
Zwei größere Romane setzen sich chronikartig mit den ‚Wende‘-Ereignissen insbesondere in Leipzig und deren Vorgeschichte auseinander: Erich Loests Nikolaikirche (1995)1213 und Martin Jankowskis Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999).1214 Beide Autoren orientieren sich stark an den historischen Fakten. Erich Loest erklärte 1995 auf die Frage nach der Authentizität seines Romans: Vier Jahre lang habe ich mich bemüht, genau herauszufinden, was damals geschah. Ich habe alle Archive durchforstet, es gibt wahrscheinlich keine Zeile, die ich nicht gelesen habe. Ich habe mit vielen Leuten geredet, die dort eine Rolle gespielt haben, und meine, daß ich dort, wo politische Genauigkeit erforderlich ist, sie erreiche.1215
Die Haupthandlung des vor allem in Leipzig spielenden Textes, der parallel zu seiner Entstehung von Frank Beyer verfilmt wurde1216, beginnt 1985 und endet am 9. Oktober 1989: dem Tag, als die Situation historisch ‚auf der Kippe‘ stand. Zentrale Figuren sind die Mitglieder der Familie Bacher. Der Vater, Albert Bacher, ist bzw. war General der Volkspolizei, seine Tochter Astrid Protter ist als Architektin im Baudezernat tätig, Sohn Sascha ist Hauptmann beim Staatssicherheitsdienst. Insofern handelt es sich um Typen, die als repräsentativ für bestimmte Vertreter innerhalb der DDR-Gesellschaft gesehen werden können. War Astrid zunächst überzeugtes Parteimitglied, kommen ihr im Laufe der Zeit Zweifel; sie leidet 1212 1213 1214 1215
1216
Vgl. Bernd-Lutz Lange: KEINE AHNUNG. In: B.-L.L.: Kaffeepause. Texte für zwischendurch. Leipzig 1991, S. 108. Erich Loest: Nikolaikirche. Roman. Leipzig 1995. Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Roman. Scheidegg 1999. [Interview mit Stefan Geiger und Wolfgang Ignée]: „Die Mauer im Kopf ist eine Floskel“. Ein Gespräch mit Erich Loest über die deutsche Bilanz nach fünf Jahren. In: Stuttgarter Zeitung v. 30.9.1995. Vgl. dazu Frank Beyer: 27. Nikolaikirche. In: F.B.: Wenn der Wind sich dreht. Meine Filme, mein Leben. München 2001, S. 361-365.
5.3 Epik
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auch körperlich am Zerfall der Stadt und findet nicht zuletzt deshalb zur Bürgerbewegung. Ihr Ehemann ist eher unpolitisch. Albert Bacher repräsentiert – ähnlich wie Herbert Beerenbaum in Monika Marons Roman Stille Zeile sechs – die Generation der DDR-Gründerväter. Obwohl er zu Beginn der zentralen Ereignisse bereits ein Jahr tot ist, bleibt er auf Grund dieser ‚Übervaterrolle‘ doch stets präsent. Während Loest mit der Familie Bacher eine Art Mikrokosmos der DDR-Gesellschaft geschaffen hat, anhand dessen sich auch gegensätzliche Auffassungen gewissermaßen aus der ‚Innensicht‘ darstellen lassen, steht bei Jankowski nicht eine Familie, sondern ein Kreis junger Oppositioneller im Mittelpunkt des Geschehens. Loests Roman erlangte, nicht zuletzt durch die in Zusammenarbeit unter anderem mit Arte parallel erfolgte Verfilmung, einen hohen Popularitätsgrad im In- und Ausland und ist zweifellos einer der bekanntesten und in der Sekundärliteratur bereits mehrfach analysierten ‚Wende‘-Texte. Auf eine detaillierte Analyse soll hier deshalb zu Gunsten einer kurzen Darstellung des Romans von Martin Jankowski verzichtet werden. Martin Jankowski wurde 1965 geboren und lebt in Berlin. Unter anderem arbeitete er als Bibliothekar, Musiker und Regisseur. Vor Rabet, seinem ersten Roman, veröffentlichte er neben Songs und Gedichten vor allem Essays, Bühnentexte und Erzählungen. 5.3.7.1 Aufbau und Inhalt Wie in Nikolaikirche setzt die Handlung von Rabet1217 mit einem Prolog im Jahr 1985 ein, also mehrere Jahre vor der ‚Wende‘. Den Rahmen der Handlung bildet ein Brief, den der Protagonist Benjamin Grasmann vom 30. Dezember 1999 bis zum 1. Januar 2000 aus Jerusalem an seine in Brooklyn lebende Tochter Sophie Adriana schreibt. Sophie stammt aus der Beziehung zu seiner früheren Mitstreiterin Gesa, die ihn unmittelbar nach der ‚Wende‘ verlassen hat. Der als Erklärung konzipierte Brief besitzt für Benjamin in erster Linie eine selbsttherapeutische Funktion, zumal die Tochter noch zu jung ist, um den komplexen Inhalt zu verstehen. In der Binnenerzählung werden detailliert die ‚Wende‘-Ereignisse und deren Vorgeschichte beschrieben. Dabei orientiert sich der Verfasser in Bezug auf die historischen Ereignisse sehr genau an der Realität; im Hinblick auf zahlreiche Passagen des Textes ist eine Abgrenzung zum journalistischen Bericht mitunter nur schwer vorzunehmen. An Ereignissen im Vorfeld der ‚Wende‘ werden vor allem herausgestellt: 1217
Der Titel bezieht sich auf die gleichnamige Straße in Leipzig; die Etymologie des Namens ist nicht bekannt. Benjamin Grasmann zieht in ein Haus „auf dem Rabet“ ein, das sich durch einen ungewöhnlichen Grundriss auszeichnet und abgerissen werden soll.
410 – – –
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die Demonstrationen im Rahmen der Rosa-Luxemburg-Ehrung1218, das Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik1219 und die ersten Friedensgebete in der Nikolaikirche1220.
Die Ereignisse im Umfeld der Nikolaikirche werden schließlich zum Hauptstrang des Romans. Durch die konsequente Einbeziehung der Vorgeschichte wird der Prozesscharakter der ‚Wende‘ besonders deutlich herausgearbeitet. Rabet ist zudem einer der wenigen Romane, in denen die europäische Dimension des Umsturzes zum Ausdruck gebracht wird, insbesondere die Situation in Prag.1221 Benjamin Grasmann findet in der DDR keine direkte Ausdrucksmöglichkeit für seine Emotionen; er transportiert seine Gefühle, Stimmungen und Ansichten daher häufig über die musikalische Ebene: Ich schaltete das Radio auf dem Nachtisch [sic] ein, um mich für die Planerfüllung an der Kirschenfront zu motivieren. I don’t like mondays war mein Lieblingslied. Ich drehte den Feindsender lauter, wenn sie es spielten. Auf dem Sender, den meine Mutter einstellte, spielten sie einheimischen Blues. Aber ich hatte nicht den Blues. Der Grau war die Musik, die man hätte erfinden müssen.1222
In der Nikolaikirche wird er später ein kritisches Lied vortragen: auf dem tisch liegt eine rechnung wir zerreißen sie und leben unsre lust wir pfeifen auf die diktatur der mehrheit die hoffnung als prinzip ist ein verlust wie lange solln wir uns vertrösten auf paradiese die dann irgendwann mal kommen sollen während leise und ungenutzt die beste zeit verann [sic] verann [sic]1223
Thema von Grasmanns Lied ist der allgemeine Druck, eine ‚Wende‘ in der DDR herbeizuführen, insbesondere der Wunsch vor allem jüngerer Leute nach baldiger Veränderung. Auf die „paradiese die dann irgendwann / mal kommen sollen“ – gemeint ist die Realisierung der sozialistischen Utopie – möchte man nicht mehr warten, denn „die beste zeit“ des Lebens ist im
1218 1219 1220 1221 1222 1223
Vgl. Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Roman. Scheidegg 1999, S. 53f. Vgl. Ebd., S. 89. Vgl. Ebd., S. 90-92. Vgl. Ebd., S. 204f. Ebd., S. 13; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 58f; im Original kursiv.
5.3 Epik
411
Vergehen begriffen. Dieser Zustand kennzeichnet die Ausgangssituation der Haupthandlung. 5.3.7.2 ‚Wende‘-Legenden und ihre Demontage In der Darstellung der historischen Ereignisse geht Jankowski streng chronologisch vor. Dabei lässt sich erkennen, dass in einem ersten Schritt ein Ereignis Erwähnung findet und dieses meist in einem sich direkt anschließenden zweiten Schritt aus der Sicht der Gruppe von Oppositionellen kritisch kommentiert wird. So bemerkt der Erzähler anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989: Vierzig Jahre. Unsedeitschdekratscherebligsielebä houch houch houch. In Berlin sagte Gorbatschow seinen altklugen Satz. Wir mochten ihn nicht, diesen Satz. Hatten Angst, er könnte sich gegen uns wenden. Gorbatschow sagte ihn trotzdem. Und prostete mit.1224
Wie bei Loest steht im Zentrum des Romans die ausführliche Darstellung der Ereignisse des 9. Oktober 1989 in Leipzig. Als einzigem Tag ist ihm ein gesamtes Kapitel gewidmet: Kapitel VII „total am ende“.1225 Jankowski ist dabei einer der wenigen Autoren außerhalb des essayistischen Bereichs, die den von Kurt Masur verlesenen Aufruf der „Leipziger Sechs“ nicht nur kritisch, sondern ironisch kommentieren: Ein Pfarrer, ein Komiker, zwei Parteistatuen und ein Stardirigent hatten einen Aufruf verfaßt, in dem sie die Regierung zum Dialog mit den Demonstranten aufforderten. Und uns zur Besonnenheit. Was war das? Stiegen die Götter vom Himmel? Das waren undeutliche Worte zögernd in die richtige Richtung gesprochen. Und wenn schon, dachte ich. Gorbatschow, Herr Masur. Der historische Satz.1226
Falls überhaupt, werden Namen kaum verfremdet, etwa, wenn Jankowski auf das Verhältnis des Superintendenten Magirius (im Roman: „Magnus“) zu Christian Führer (im Roman: „Christoph Freier“), dem Pfarrer der Nikolaikirche, eingeht. Mit den verfremdeten Namen spielt er häufig: Dr. Bergmann, der Rechtsanwalt Marios, eines der Freunde und Mitstreiter des Protagonisten, rät:
1224 1225 1226
Ebd., S. 173; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 177-199. Ebd., S. 192.
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„Wenden Sie sich in Zukunft an den Pfarrer Christoph Freier. Nomen est omen. Ein intelligenter Mann mit regem Verständnis für die Realität dieses Landes. Er ist der eigentliche Geist von Nikolai. Magnus ist sein Vorgesetzter und somit nur mittelbar zuständig für diese Gemeinde. Freier ist der richtige Mann für ihre [sic] Probleme. Ein Diplomat, wenn Sie verstehen, was ich meine …“1227
Die ‚Wende‘-Ereignisse erlebt Benjamin als Befreiung in mehrerlei Hinsicht: Seit dem Ende des gesetzmäßigen Sieges der proletarischen Revolution glich die Stadt einem ausgelassenen Jahrmarkt. Die Häusergebirge verwischten ihre Umrisse zu milden Linien, die Fenster waren plötzlich mit Lampen geschmückt oder mit Kerzen. Der Rauch in der Luft schmeckte freundlicher als sonst. Warf keine Leute mehr um und ließ niemanden aus dem Mund bluten, wie in den anderen Wintern. Der Straßenbahnfahrer hielt noch mal an und ließ uns einsteigen. Sagte laut und deutlich Guten Abend. Seit wann nahm man Rücksicht auf Zuspätkommende? Die Leute rückten und machten uns Platz. Streichelten das Vieh. Erkundigten sich nach der Rasse. Sie hatten auch alle so einen zu Hause. Oder einen Wellensittich. Warum hatten wir uns das bisher nie erzählt? Warum waren Straßenbahnfahrten auf einmal so kurz?1228
Während Loests Nikolaikirche mit dem legendären 9. Oktober endet, bezieht Jankowski in Rabet auch die Folgezeit mit ein. In ihrer Ausführlichkeit einzigartig dürfte die Darstellung einer frühen ‚Spaltung‘ der Demonstrierenden in ‚Ausreisewillige‘ und ‚Bleibewillige‘ sein: „Wir wollen raus! Wir wollen raus!“ Ich sah, wie Ernst die Stirnadern anschwollen. „Wir bleiben hier!“ schrie er plötzlich hinüber zu dem ausgelassenen Pulk. „Wir wollen raus!“ johlten die anderen vergnügt zurück. „Wir wollen raus!“ […] „Wir bleiben hier!“ schrie auf einmal auch Tillmann. „Wir bleiben hier!“ schrie Berit. „Wir bleiben hier!“ rief Dorothee heiser.1229
Mit dem expliziten Hinweis auf diese Vorgänge wirkt Jankowski einer Legendenbildung um die ‚Wende‘-Ereignisse entgegen. Er verdeutlicht die Heterogenität der Oppositionellen – ein zunehmend ignoriertes bzw. von vielen nie wahrgenommenes Faktum. In ähnlicher Form wie die Darstellung verschiedener Oppositionsgruppen erfolgt die kritische Auseinandersetzung mit den Befürwortern einer Vereinigung beider deutscher Staaten, zu denen die Mitglieder von Benjamins Gruppe sich ausdrücklich nicht 1227 1228 1229
Ebd., S. 85. Ebd., S. 210; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 146f.
5.3 Epik
413
zählen.1230 Auch in diesem Zusammenhang wendet sich der Autor gegen die gerade im Kontext der alljährlichen Feiern zum ‚Tag der deutschen Einheit‘ verfestigte Legende, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ seien zwangsläufig miteinander verbunden. Das Aufgreifen der genannten Legenden erfolgt stets indirekt, nie unmittelbar, und gelingt durch die Verknüpfung zweier Zeitebenen: derjenigen der Jahre 1989 / 90 (Binnenhandlung) und derjenigen des Jahres 1999 (Rahmenhandlung). Der Erzähler schreibt damit aus dem gebotenen zeitlichen Abstand heraus und kann aus dieser Position der Distanz die in den dazwischenliegenden Jahren erfolgten Wertungen und Umwertungen der Ereignisse berücksichtigen und gegebenenfalls mit einbeziehen. 5.3.7.3 Die Einheit als Ernüchterung In der Bundesrepublik findet Benjamin sich zunächst überhaupt nicht zurecht: Auf dem Bahnhof in Hamburg ertappte ich mich dabei, englisch sprechen zu wollen, am Zeitungskiosk; ich war gewohnt, im Ausland englisch zu reden. Gesa lachte mich aus, als ich es ihr erzählte. Im Intercity nach Köln suchte sie vergeblich die zweite Klasse. Sie konnte nicht fassen, daß unsere reservierten Plätze in diesem Space Shuttle zweiter Klasse waren. Jetzt lachte ich sie aus.1231
Nicht zuletzt die im Westen gewonnenen Eindrücke und deren individuelle Beurteilung führen zu einer Distanzierung zwischen der mittlerweile hochschwangeren Gesa und Benjamin1232; nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter trennen sich die beiden. Die Binnenhandlung des Buches schließt mit der Enttarnung mehrer Spitzel, die mit der Observierung der Gruppe um Benjamin betraut waren, und dem vermutlich damit im Zusammenhang stehenden Selbstmord Adrians, eines früheren Mitstreiters. Ein am „1.1.2000“ geschriebener „epilog für sophie“1233 fasst die weiteren Geschehnisse und deren Bewertung zusammen. Unter anderem wird deutlich, dass mit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 Benjamins letzte Hoffnungen auf die Realisierbarkeit seiner Ideale zerbrechen; das Ende der DDR ist besiegelt: An diesem Tag fanden die Wahlen statt, und als sie vorbei waren, hörte das Land, aus dem wir kamen, auf zu existieren. Von diesem Augenblick an begann es, wie ein morscher Baumstamm im Zeitraffer eines mecklenburgischen Dauerregens zu 1230 1231 1232 1233
Vgl. Ebd., S. 224-226. Ebd., S. 235; Hervorhebung im Original. Vgl. Ebd., S. 239. Ebd., S. 244-247, S. 244.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
zerfallen. Und war ein paar Monate später verschwunden. Die Zahlen hatten entschieden.1234
Auf einer Postkarte wird später mitgeteilt, dass das Haus auf dem Rabet renoviert wurde – ein Ereignis, das als Sinnbild für die endgültige Zerstörung von Benjamins Welt gelesen werden kann: Sein Refugium und die ihm wichtigen Ideale, für die auch das Haus auf dem Rabet stand, existieren nicht mehr. 5.3.8 Ein ‚Nachwenderoman‘ – Uwe Timm: Johannisnacht (1996) Uwe Timms (*1940) Johannisnacht ist sicher kein ‚Wenderoman‘ im engeren Sinne, deshalb soll hier nur kurz auf diesen Text eingegangen werden. Die ‚Wende‘ bildet jedoch den Hintergrund bzw. die Voraussetzung für die Handlung dieses im Berlin zur Zeit der Verhüllung des Reichstages durch Christo und Jeanne-Claude spielenden Buches.1235 Der Protagonist und Ich-Erzähler des zyklisch angelegten Romans soll einen Artikel über die Kartoffel schreiben und begibt sich zu Recherchen in die Hauptstadt. Der Verlust eines wissenschaftlichen Kartoffelarchivs1236 lässt ihn in einer Art Odyssee durch die Stadt treiben – hierbei erlebt er als Nicht-Berliner und damit zumindest teilweise Außenstehender hautnah die Entwicklungen in der bis vor kurzem durch die Mauer geteilten Stadt. Dem Erzähler kommt stellenweise die Rolle eines Ethnologen zu1237; er verspricht Realität abzubilden: „Und jetzt gar das, was man so leicht erzählen kann, langwierig aufschreiben, nein. Ich sammle aber, wie gesagt, die Stimmen. Ich nehm die auf.“1238 ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘ kommen offenbar nicht gut miteinander aus. Das muss der Erzähler am eigenen Leib erfahren, als ein Ost-Berliner Friseur ihm die Frisur verschneidet.1239 Ostberliner und Westberliner lachen auch über 1234 1235
1236
1237 1238 1239
Ebd., S. 244; im Original kursiv. Auch bei Peter Brasch spielt der ‚verpackte‘ Reichstag eine gewisse Rolle; vgl. Peter Brasch: Schön hausen. Berlin 1999, S. 123, ebenso bei Joachim Lottmann: vgl. Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999, S. 226. Anhand dieses Kartoffelkatalogs wird übrigens aufgezeigt, wieso die DDR scheiterte: Die Kartoffel sollte „für die DDR das werden, was die Nudel für Italien ist.“ (Ebd., S. 40). Rogler, der Begründer des Kartoffelarchivs, „wollte den Sozialismus mit menschlichem Antlitz an der Kartoffel exemplifizieren.“ (Ebd., S. 44) Dabei legte er erstaunlichen Eifer an den Tag, denn er „hat die jeweils neue Einschätzung der Partei eingearbeitet, die sich nach drei Jahren aber schon wieder geändert hatte. Drei Ablehnungen. Danach hat er sich geweigert, das Konzept zu ändern.“ (Ebd.) Dieses Faktum dürfte typisch für das erzählerische Werk Uwe Timms insgesamt sein. Uwe Timm: Johannisnacht. Roman. Köln 1996, S. 126. Vgl. Ebd., Kapitel 4: Der Stützschnitt, S. 48-59.
5.3 Epik
415
unterschiedliche Witze. Die Trennung besteht also nach wie vor, wenn auch in anderer Form. So äußert ein Westberliner Taxifahrer über Ost-Berlin: „[…] is doch ne fremde Stadt, andere Jebräuche, andere Sitten. Nee. Die Stimmung is, jeder soll ma hübsch bei sich bleiben. Ohne Mauer, det is jut.“1240 Im weitesten Sinne ein alter ego der ‚Ossis‘ könnte der Afrikaner Moussa sein, der bei dem in der DDR als Physiker tätigen Wissenschaftler Bucher wohnt. Über Moussa heißt es: „Mit ihm sah man die Dinge neu, ein wenig fremd, sie waren wie in ein anderes Licht getaucht.“1241 Durch die Übernahme der Perspektive des scheinbar naiven Fremden – einem in der Literatur häufig bemühten Topos1242 – werden Zustände im eigenen Land neu beobachtet und gegebenenfalls in Frage gestellt. Damit kommt Moussa eine ähnliche Rolle zu wie dem kleinen Papagei Parzival in Jens Sparschuhs Kinderroman Parzival Pechvogel (1994).1243 Ständig im Hintergrund präsent ist in Johannisnacht die Verhüllung des Reichstags durch Christo und Jeanne-Claude – ein offenbar verbindendes Ereignis: „Ein verrücktes Unternehmen, einfach verrückt, das mir sehr gut gefällt, sagte der Mann. / Ja, sagte ich, mir auch.“1244 ‚Verpackt‘ gefällt dem Erzähler das Gebäude wesentlich besser als sonst: „[…] ich mochte diese Kiste noch nie leiden, behauptete immer, daß man am Äußeren schon den ‚Burgfrieden‘ von 1914 ablesen könne, jetzt verpackt, ist dieser Klotz ein verrückt schöner Anblick.“1245 In das Ereignis werden auch gewisse Hoffnungen gelegt: „Danach wird etwas anders sein, ich bin überzeugt, daß diese Verhüllung etwas verändert. Das Geheimnis liegt darin, daß etwas anders sein könnte.“1246 Die Situation der Vereinigung erscheint bei Timm nicht einseitig positiv; das wird deutlich etwa an einer Szene in einem kleinen Lebensmittelgeschäft, 1240 1241 1242
1243
1244 1245 1246
Ebd., S. 95. Ebd., S. 176. Vgl. etwa Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689-1755): Lettres persanes (1721 bzw., in erweiterter Fassung, 1754) oder – moderner – Herbert Rosendorfer: Die große Umwendung. Neue Briefe in die chinesische Vergangenheit. Roman. Ungekürzte, vom Autor neu durchgesehene Ausgabe. München 1999 [zuerst Köln 1997]. Jens Sparschuh: Parzival Pechvogel. Ein Kinderroman. Mit Bildern von Manfred Bofinger. Zürich / Frauenfeld 1994. Hier liegt übrigens nicht die einzige Parallele zu einer Sparschuh-Figur: Rosenow etwa studierte im Rahmen eines Forschungsprojektes die Grundstücksverhältnisse im Südosten Berlins und kann deshalb nach der ‚Wende‘ eine erfolgreiche Karriere als Bodenspekulant beginnen. In Jens Sparschuhs Roman Der Zimmerspringbrunnen (1995) sind es nicht zuletzt Akten der KWV, also ebenfalls aus DDR-Zeiten, die Hinrich Lobek zum Erfolg als Vertreter verhelfen (vgl. 5.3.5) – wie im Falle Rosenows war die Bestimmung der gesammelten Daten ursprünglich natürlich eine völlig andere. Uwe Timm: Johannisnacht. Roman. Köln 1996, S. 221. Ebd., S. 209. Ebd., S. 221.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
das kurz vor der Schließung steht. Als Mittel des Widerstandes gegen diese eher negativen Entwicklungen könnte die ‚Alltagssabotage‘ gelten, über die Kramer, der frühere Friseur des Politbüros, spricht: „Alltagssabotage. Klar doch, sagte Kramer, sowat hats jejeben. Immer contra jeben, jejen die da oben. Wirds auch immer jeben. Jottseidank.“1247 Lediglich hingewiesen sei auf die zahlreichen intertextuellen Bezüge zu anderen Werken Uwe Timms und natürlich zu William Shakespeare. Diese werden bereits im Titel deutlich (vgl. A Midsummer Night’s Dream) sowie auf die Bezüge zur antiken Mythologie (insbesondere zur Odyssee) und zur Welt der Sage und des Volksglaubens (‚Johannisnacht‘). Mit Uwe Timms Roman deutet sich ein Genre an, das seit 1996 verstärkt eine Rolle spielt, und das hier behelfsweise als ‚neuer Berlin-Roman‘ bezeichnet werden soll. Zumindest im Hinblick auf die vormals geteilte Stadt scheint dieser die ‚Wende‘-Thematik abzulösen: Im Mittelpunkt stehen nun nicht mehr der Fall der Mauer, sondern Leben, Lebensgefühl und Liebesbeziehungen in einer sich schnell verändernden Stadt. Bei allen Autoren spielt die im Zusammenhang mit der wieder erlangten Hauptstadtrolle zu sehende Identitätsproblematik eine Rolle, bei westdeutschen Autoren zudem häufig der Abschied von West-Berlin als einer Stadt, die in der bisher gekannten Form nicht mehr existiert. Zu nennen sind vor allem die Romane: Magic Hoffmann (1996)1248 von Jakob Arjouni (*1964), Felix, mon amour (1996)1249 von Frank Goyke (*1961), Deutsche Einheit (1999)1250 von Joachim Lottmann (*1956), Der Prinz von Berlin (2000)1251 von Marko Martin (*1970), Fitchers Blau (1996)1252 von Ingo Schramm (*1962), Eduards Heimkehr (1999)1253 von Peter Schneider (*1940), Vicky Victory (1995)1254 von Barbara Sichtermann (*1943), So (2001)1255 von Norbert Zähringer (*1967), Der dicke Dichter (1995)1256 von Matthias Zschokke (*1954), Das vereinigte Paradies (1999)1257 von Marcia Zuckermann sowie – in der ‚kleineren‘ Form – der 1247
1248 1249 1250 1251 1252 1253 1254 1255 1256 1257
Ebd., S. 56. Kramer erzählt in diesem Zusammenhang die Geschichte eines Zahnarztes, der den ZK-Mitgliedern immer tiefer in die gesunde Zahnsubstanz bohrte, je stärker er sich Repressionen ausgesetzt sah. Jakob Arjouni: Magic Hoffmann. Roman. Zürich 1996. Frank Goyke: Felix, mon amour. Roman. Berlin 1996. Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999. Marko Martin: Der Prinz von Berlin. Roman. München 2000. Ingo Schramm: Fitchers Blau. Poetischer Roman. Berlin 1996. Peter Schneider: Eduards Heimkehr. Roman. Berlin 1999. Barbara Sichtermann: Vicky Victory. Roman. Hamburg 1995. Norbert Zähringer: So. Roman. Berlin 2001. Matthias Zschokke: Der dicke Dichter. Roman. Köln / Basel 1995. Marcia Zuckermann: Das vereinigte Paradies. Nachrichten vom ost-westlichen Divan. Roman. München 1999 (dtv premium).
5.4 Lyrik
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Erzählband Berlin ist anderswo (1995)1258 von Renée Zucker (*1954) und die Anthologien Bahnhof Berlin (1997)1259, Berlin zum Beispiel (1997)1260, Die Stadt nach der Mauer (1998)1261, Berlin um Mitternacht (1998)1262 und Berlin? Berlin! (2001).1263
5.4
Lyrik Wer sich selbst überstehn will, Muß Prosa schreiben.1264 (Heinz Czechowski: Man muß, 1992)
5.4.1 „Keine Zeit für Lyrik“? Bisher ist die ‚Wende‘ meist als Zeit gesehen worden, in der Lyrik kaum eine Rolle spielte. Wolfgang Emmerich (1996) behauptet, dass es „in der Regel keine Zeit für Lyrik [gegeben habe; F.Th.G.], einfach weil man Wichtigeres zu schreiben und überhaupt zu tun hatte.“1265 Friedrich Dieckmann beklagt zwei Jahre später: Es hängt mit dem Übergewicht dessen zusammen, was man heute als audiovisuell bezeichnet, daß, anders als 1848, zwar manches lyrische Gedicht in der Umbruchszeit 1989 / 90 entstanden ist […], aber nur wenige wirkliche Zeitgedichte, also Verse, die die Ereignisse und Begebenheiten in der Presse oder auf Flugblättern unmittelbar begleiteten. Das ist nicht nur eine Frage der Diktion, es ist auch eine der Verslänge.1266
Und Alexander von Bormann (2000) stellt in Bezug auf Thomas Rosenlöcher fest, dieser habe 1258 1259 1260
1261 1262 1263 1264 1265 1266
Renée Zucker: Berlin ist anderswo. Berlin 1995. Bahnhof Berlin. Hrsg. und mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller. München 1997. Berlin zum Beispiel. Geschichten aus der Stadt. Erzählt von Jurek Becker, Monika Maron, Bodo Morshäuser, Katja Lange-Müller, Ingo Schulze u.v.a. Hrsg. von Sven Arnold und Ulrich Janetzki. München 1997. Jürgen Jakob Becker / Ulrich Janetzki (Hgg.): Die Stadt nach der Mauer. Junge Autoren schreiben über ihr Berlin. Berlin 1998. Berlin um Mitternacht. Hrsg. von Rüdiger Schaper. Berlin 1998. Katharina Diestelmeier (Hg.): Berlin? Berlin! Storys und mehr. Mit Fotos von Sira Kausch. Ravensburg 2001. Heinz Czechowski: Man muß. In: Sinn und Form 44 (1992) 4; S. 538f, S. 538. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 510; Hervorhebung im Original. Friedrich Dieckmann: Zeitstrophen. Eine Reminiszenz. In: Die Poesie hat immer recht. Gerhard Wolf. Autor, Herausgeber, Verleger. Ein Almanach zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Peter Böthig. Berlin 1998; S. 178-183, S. 178f.
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im zweiten Halbjahr 1989 keine Muße mehr für Gedichte [gefunden; F.Th.G.]: listige Subversion, Sarkasmus und Satire, groteske Überbietungen sowie die schüchterne Schönheit eines Blütenbaums oder die erhabene eines Himmels, das alles schien vor und während der ‚sanften Revolution‘ obsolet geworden.1267
Rosenlöcher selbst äußert in seinem „Dresdener Tagebuch“ Die verkauften Pflastersteine im Zusammenhang mit Plakaten, auf denen „die Zeugnisse allgemeiner Reimkunst“ zu sehen sind: „Da kann unsereiner in seiner Eigenschaft als Lyriker getrost einmal stumm bleiben.“1268 Die Wendezeit war sehr unruhig – Rosenlöchers Ansicht nach keine gute Voraussetzung für das Verfassen von Lyrik: „Nur im Falle von etwas Stille und Nichtstun kann sich wieder ein bißchen ‚Ich-Selbst‘ melden, das Gemurmel, das irgendwann Gedicht heißen könnte.“1269 Nach der Vereinigung wird das Schreiben von Lyrik auch in Gedichten selbst zum Thema erhoben. So heißt es bei Heinz Czechowski in Der prosanah geschriebene Vers (1993): Ich frage mich trotzdem: Sind das Gute Zeiten für Lyrik?1270
Es ist richtig, dass essayistische Texte und Prosa sowohl quantitativ als auch qualitativ den bedeutendsten Anteil der ‚Wendeliteratur‘ stellen. Dennoch dürfte Emmerichs eingangs erwähnte These – in ihrem Absolutheitsanspruch – nicht aufrechtzuerhalten sein. Lyrik der ‚Wende‘ und zur ‚Wende‘ ist, nicht zuletzt auf Grund der weitaus ungünstigeren Distributionsbedingungen, weniger bekannt geworden. Denn in rein ökonomischer Hinsicht ist sie nahezu unbedeutend. Gefragt nach der „Rolle der Lyrik auf dem literarischen Markt nach der Wende“, äußerte Wulf Kirsten 1994: Die ist zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Die Lyrik hat nie viel zu melden gehabt, und das Wenige, was sie zu sagen und zu bewirken hatte, ist ihr so gut wie genommen, weil die meisten Schriftsteller aus dem Osten Deutschlands keine Verlage mehr haben. […] […] [d]er Aufbau-Verlag hat letztes Jahr zwei Lyrikbände herausgebracht. Ich bin dankbar, daß ich die Chance habe, mich woanders umzutun. Die meisten Lyriker haben einfach keine Chance mehr, irgendwo unterzukommen. […] Lyrik wird immer mehr etwas für Spezialisten und Zirkel im öffentlichen 1267
1268 1269 1270
Alexander von Bormann: Art. ‚Thomas Rosenlöcher‘. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – KLG. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. 66. Nlg. 10 / 00, S. 3f. Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch. Frankfurt a.M. 1990, S. 36. Ebd., S. 33. Heinz Czechowski: Der prosanah geschriebene Vers. Geschrieben 1993; unveröffentlicht; zit. nach Ian Hilton: ‚Erlangte Einheit, verfehlte Identität‘. Reflections on lyric poetry of the 1990s. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 252-273, S. 257.
5.4 Lyrik
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Abseits. […] Vielen Leuten ist es kein Bedürfnis, Gedichte wahrzunehmen. Geschweige denn, sich damit auseinanderzusetzen. Das weiß ich, und da sind wir wieder an dem Punkt, an dem wir schon vorhin waren, daß die Leute, für die ich die Gedichte schreibe, keine Stimme haben.1271
Emmerichs Auffassung mag sich im Wesentlichen durchgesetzt haben, unumstritten ist sie jedoch nicht. Walter Erhart (1997) etwa fasst zusammen: Die deutsche Einheit und das Ende der Geschichte haben sich in der Lyrik um 1989 von Anfang an so gespiegelt, wie es zumeist erst jetzt, nach dem Verstummen der Festreden, allerorten sichtbar geworden ist: weniger feierlich als vielmehr reich an Katastrophen, weniger hoffnungsvoll als vielmehr niederschmetternd, weniger utopisch als vielmehr orientierungslos, weniger stabilisierend als vielmehr ich-gefährdend. Lassen sich in den Gedichten dieser Wende somit die inneren Landschaften und Seelenlagen dieser Zeit fast dokumentarisch getreu und seismographisch präzise nachlesen, so bilden sie seither zugleich auch Wegweiser, die anzeigen, welche Suchbewegungen dem Ich erst noch bevorstehen.1272
Hans Christoph Buch (1992) vertritt sogar die nahezu gegenteilige Meinung wie Emmerich; seine These ist, daß in einem historischen Augenblick, zu dem den Prosa- und Essayschreibern nichts mehr einfällt, weil der Wind der Geschichte ihnen die Manuskripte vom Schreibtisch gefegt hat, die Stunde der Dichter schlägt. Ihre Verse enthalten eine subtilere und sensiblere Bestandsaufnahme der sogenannten Wende als das grobe Raster von Begriffen, das die Auguren des Zeitgeists als Schleppnetz hinter sich herziehen: Nur Sperrmüll bleibt in den ausgeleierten Maschen hängen. Die Poesie zeigt hier ihre gleichsam natürliche Überlegenheit, indem sie spielerisch Grenzen überschreitet, zu denen der öffentliche Diskurs gar nicht erst vordringt: die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Gegenwart und Vergangenheit, Natur und Kunst – die Reihe läßt sich beliebig fortsetzen.1273
Nicht erst seit der Zeit der ‚Wende‘, sondern bereits Jahre zuvor, werden in vielen Gedichten Missstände im real existierenden Sozialismus bzw. Zweifel an der Realisierbarkeit des Zieles ‚Sozialismus‘ ausgedrückt. Die Gattung Lyrik dürfte sich in besonderem Maße für eine Darstellung dieser 1271
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[Interview mit Katharina Festner und York-Gothart Mix]: Katharina Festner / YorkGothart Mix: Gespräch mit Wulf Kirsten. In: Sinn und Form 46 (1994) 1; S. 92-106, S. 106. Walter Erhart: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 141-165, S. 165. Hans Christoph Buch: Die Stunde der Dichter. Die Meinungsmacher produzieren nur Sperrmüll. Und die Lyriker sind Experten für alles, was in ihren Reden nicht vorkommt. In: Die Zeit v. 4.12.1992.
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Inhalte geeignet haben: Die häufig verknappte Sprache, vergleichsweise einfach herzustellende Doppeldeutigkeiten und der auch in der DDR relativ geringe Verbreitungsgrad dürften eine größere Freiheit von Form und Ausdruck zugelassen haben. Das zeigt sich etwa an Volker Brauns Das innerste Afrika (1987)1274: […] Nicht im Süden liegt es, Ausland nicht Wo unverkleidete Männer Wo der Regen Denn nichts Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es Was wir wollen wo dich keiner Das innerste Land, die Fremde Erwartet. Du mußt die Grenze überschreiten Mit deinem gültigen Gesicht. Dein rotes Spanien, dein Libanon Erreiche es vor der Rente. Wir befinden uns, sagte er, auf einer schiefen Ebne. Alles deutet darauf hin, daß es abwärts geht. Schließen Sie einmal die Augen und hören Sie, wie es knirscht. Das ist das Ende. Warten wir ab, wir werden es erleben. Wir sind auf dem besten Weg. Wir brauchen nur fortzufahren mit der Übung. Vor einiger Zeit konnten wir z.B. das Brett oder wie man es nennen will zurückwippen über den Nullpunkt und sagen: es geht aufwärts! Jetzt ist es eine endgültige Schräge in den Keller. Zu den Kakerlaken, meine Damen und Herrn. Bleiben Sie ruhig, gehn Sie in die Firma, wickeln Sie sich in die Plane, fassen Sie sich kurz. Wir haben die furchtbare Nachricht vernommen, wir haben nichts hinzuzusetzen. Adieu. Sagte der Mann in Itzehoe und glitt hinter dem Fenster hinab. Non! wir werden den Sommer nicht mehr in diesem geizigen Land verbringen, wo wir immer nur einander versprochene Waisen sind, komm Steckmuscheln, Zikaden Mach dich auf Lebenslänglicher Leib: SIEH DAS MEER, DAS DAGEGEN IST. ERREICHE ES VOR DER RENTE. DU MUSST DIE GRENZE ÜBERSCHREITEN.1275 1274 1275
Der von Braun gewählte Titel bezieht sich auf Jean Pauls Metapher vom ‚wahren inneren Afrika‘. Volker Braun: Das innerste Afrika. In: V.B.: Langsamer knirschender Morgen. Gedichte. Halle (S.) / Leipzig 1987; S. 58-60, S. 59f.; Hervorhebungen im Original.
5.4 Lyrik
421
Für die Wendezeit sind, neben zahlreichen, meist verstreut erschienenen Einzelgedichten, die drei folgenden Anthologien hervorzuheben: DEUTSCH in einem anderen LAND. Die DDR (1949-1990) in Gedichten (1990)1276, Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie (1991)1277 sowie Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989 / 1990 (1993).1278 Der an erster Stelle genannte Band verdeutlicht Konstanten und Entwicklungstendenzen innnerhalb der in der DDR entstandenen Lyrik und enthält im Vergleich zu den beiden anderen Sammlungen naturgemäß weniger Gedichte, in denen die ‚Wende‘-Ereignisse Thema sind. ‚Kern‘ der Grenzfallgedichte sind „unveröffentlichte Gedichte – im persönlichen Kontakt mit den Autoren gesammelt –, die mit dem Fall der Mauer entstanden: ein vielstimmiges lyrisches Nachdenken über die deutsche Wende“, so der Klappentext. Die umfangreichste Anthologie ist die 1993 von Karl-Otto Conrady herausgegebene. Viele von Liedermacherinnen und Liedermachern verfasste Texte sind zumindest im weitesten Sinne zur Lyrik zu zählen. Wolf Biermann1279, Barbara Thalheim1280 und Bettina Wegner1281 beispielsweise haben sich stets auch als Lyrikerinnen und Lyriker verstanden und verfassten teil-
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DEUTSCH in einem anderen LAND. Die DDR (1949-1990) in Gedichten. Hrsg. von Rüdiger Mangel, Stefan Schnabel, Peter Straatsmann. Berlin 1990 (Reihe Deutsche Vergangenheit, Stätten der Geschichte Berlins, Band 46). Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie. Hrsg. von A. Chiarloni und H. Pankoke. Berlin 1991. Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989 / 1990. Mit einem Essay hrsg. von Karl Otto Conrady. Frankfurt a.M. 1993 (Edition Suhrkamp Leipzig). Wolf Biermann: Gut Kirschenessen. DDR – ça ira! (1990 / 1998; Wolf Biermann LiederProduktion Altona / Wolf Biermann Edition Vol. 16); Ders.: Nur wer sich ändert. Alter Biermann – neue Lieder (1991 / 1998; Wolf Biermann LiederProduktion Altona / Wolf Biermann Edition Vol. 17); Ders.: Süßes Leben – saures Leben. 17 neue Lieder (1996 / 1998; Wolf Biermann LiederProduktion Altona); Ders.: Brecht, Deine Nachgeborenen. Live-Mittschnitt eines Abends mit Liedern und Gedichten in der Akademie der Künste in Berlin 1998 (1999; Wolf Biermann LiederProduktion Altona / Wolf Biermann Edition Vol. 19); Ders.: Paradies uff Erden. Ein Berliner Bilderbogen (1999; Wolf Biermann LiederProduktion Altona / Wolf Biermann Edition Vol. 20); Ders.: W.B.: Paradies uff Erden. Ein Berliner Bilderbogen. Köln 1999. Barbara Thalheim: Neue Reiche (1990; DSB / Magna 2170021); Dies.: Von der Westlichkeit der Welt (1991; Nebelhorn / Buschfunk 000003); Dies.: Ende der Märchen (1992; DSB / Ideal 0180074); Dies.: Fremdegehen. Lieder & Geschichten vom Weggehen und Wiederkommen (1994; Nebelhorn / Buschfunk 021); Dies.: Abgesang. 25 Jahre Lieder (1995; Amiga / BMG 74321304562); Dies.: In eigener Sache. Neue Lieder (1998; Amiga / BMG 74321631882).4; Dies. / Jean Pacalet: Deutsch zu sein… (2002; duo-pho 06083). Bettina Wegner: In Niemandshaus hab ich ein Zimmer. Lieder und Gedichte. Berlin 1997; Dies.: Wege (1998; Buschfunk / Buschfunk 01112).
422
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
weise äußerst pointierte ‚Wendetexte‘. Wichtig in diesem Zusammenhang sind auch die zahlreichen in der Zeit der ‚Wende‘ entstandenen Chansons politischer Kabaretts1282, die Lieder der ostdeutschen Rockgruppe Silly1283 sowie einige Titel der Prinzen.1284 Eine Auswahl der Gedichte zu treffen ist nicht leicht – Anspruch auf Repräsentativität zu erheben wäre vermessen. Die Gedichte sind so unterschiedlich und vielfältig wie die große Zahl der Autoren, die sich an einer lyrischen Verarbeitung der ‚Wende‘ versucht haben. Heinz Kamnitzers (1917-2001) Gedichte etwa reagieren häufig auf konkrete historische Ereignisse, zum Beispiel die Entdeckung der vom LKG auf die Müllkippe verbrachten Bücher in Der Büchermord1285, die gegen Anna Seghers erhobenen Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Janka-Prozess in Seghers1286 oder die Diskussion um den Abriss des Palasts der Republik und die Pläne für einen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses in Palast der Republik1287. Dabei geht es dem Autor nicht um eine literarische Überhöhung der Ereignisse, sondern um die Darstellung von Tatsachen, meist in Verbindung mit einer deutlich ausgedrückten persönlichen Wertung. Gedichte schreibt Kamnitzer nicht zuletzt deshalb, weil er sich nicht in der Lage sieht, Pro1282
1283
1284
1285 1286 1287
Etwa Chansons aus dem Programm Berlin, Berliner, am Berlinsten oder: Tickt die Geschichte richtig? der Distel [Berlin, Oktober 1991] sowie das Chanson Fragen aus dem Programm Warten auf Demo der Leipziger Pfeffermühle [Leipzig 1990]; vgl. auch Lothar Bölck: Durchgedreht. Texte aus der Leipziger Pfeffermühle (seit 1989). Gerlingen 1997. Silly: Hurensöhne (1992; Amiga / BMG 74321193002). Vgl. etwa die erste Strophe des ersten Liedes Halloween in Ostberlin: Der Osten ist ne Reise wert / den sollten Sie besuchen / Hier gibts noch n Stück / vom neuen deutschen Kuchen / Die Rosinen sind schon weg / das macht ihn etwas trocken / doch in mancher Treu-Hinter-Hand / klebt noch ein fetter Brocken / / […]“ (zit. nach dem CD-Beiheft; im Original konsequent groß geschrieben, keine Interpunktion). Über Texte von Liedermacherinnen und Liedermachern ist bisher kaum gearbeitet worden; vgl. überblicksartig, aber längst nicht erschöpfend und äußerst lückenhaft: Richard Rundell: Liedermacher im Zeichen der Wende. In: Literatur für Leser (1996) 3, S. 151168. Vgl. folgende Alben: Die Prinzen: Das Leben ist grausam (1991; Hansa / BMG 262085222); Dies.: Küssen verboten (1992; Hansa / BMG 74321111632); Dies.: Alles nur geklaut (1993; Hansa / BMG 74321166662); Dies.: Schweine (1995; Hansa / BMG 74321254532); Dies.: So viel Spaß für wenig Geld (1999; Hansa / BMG 74321661172); Dies.: „D“ (2001; Hansa / BMG 7432188500-2). Heinz Kamnitzer: Der Büchermord. In: H.K.: Der Preis der Wende. Ein Poesiealbum. Schkeuditz 1995, S. 63f. Ders.: Seghers. In: Ebd., S. 73f. Ders.: Palast der Republik. In: Ebd., S. 222-225. Vgl. zu den Hintergründen: Vera Gaserow: Palast-Revolte. Das „Haus des Volkes“ soll abgerissen werden, aber das Volk will es behalten. In: Zeit-Magazin Nr. 22 (1993), S. 36-46; Ulrike Plewnia: Politiker taktieren mit Palazzo Prozzo. Die merkwürdige Geschichte vom Palast der Republik: Bleibt er nun doch erhalten? In: Focus (1994) 18 v. 2.5.1994, S. 135f. sowie Christoph Dieckmann: Der sterbende Schwan. Berlins Palast der Republik, Symbol des deutschen Umgangs mit Geschichte, wird 25 Jahre alt. In: Die Zeit v. 19.4.2001.
5.4 Lyrik
423
satexte zu verfassen. Seiner Gedichtsammlung Der Preis der Wende (1995) sind die Zeilen vorangestellt: Tatsachen bestimmen die Texte Meine Phantasie Kann sich davon nicht entfernen Für die Wahrheit verbürge ich mich Für das Werturteil bin ich Allein verantwortlich Mir ist Alles andere als lyrisch zumute Aber meine Mach-Art zwingt mich Meine Gedanken und Gefühle zu ballen Wozu ich in dieser Zeit in Prosa Außerstande bin Nicht zuletzt entspreche ich Damit einem Zustand In dem wir holpern und stolpern Wohin auch immer1288
Im Sinne einer Einschränkung muss gesagt werden, dass es sich bei Kamnitzers Texten lediglich rein optisch um Lyrik handelt. Seine Gedichte ließen sich, anders gesetzt, nahezu ebenso gut als Prosatexte lesen. Einen ähnlichen Anspruch wie Kamnitzer erhebt Johannes Mittenzwei in seiner Lyriksammlung Wendejahre (1997). Mittenzwei schreibt Gedichte, bei denen bereits die Titel auf wesentliche Ereignisse der ‚Wende‘ bzw. deren Daten verweisen, zum Beispiel: Viermal neunter November1289 oder Gedanken am Wahltag (18. März 1990)1290. Aber auch Themen wie die Einführung der D-Mark in der DDR (Ein monetäres Wunder1291) oder die vorher nicht gekannte Arbeitslosigkeit (Wendeschicksal1292) greift er in seinen Texten auf. Den Gedichten beigefügt ist neben Abdrucken von Zeitungsausschnitten und detaillierten Anmerkungen, in denen der jeweilige historisch-politische Hintergrund für die Entstehung beschrieben wird1293, auch ein Nachwort, in dem Mittenzwei seinen Anspruch der Zeitzeugenschaft formuliert:
1288 1289 1290 1291 1292 1293
Heinz Kamnitzer. In: H.K.: Der Preis der Wende. Ein Poesiealbum. Schkeuditz 1995, S. 4. Johannes Mittenzwei: Viermal neunter November. In: J.M.: Wendejahre. Gedichte. Berlin 1997, S. 18f. Ders.: Gedanken am Wahltag (18. März 1990). In: Ebd., S. 26. Ders.: Ein monetäres Wunder. In: Ebd., S. 28. Ders.: Wendeschicksal (1992). In: Ebd., S. 42f. Ders.: Anmerkungen zu den Gedichten. In: Ebd., S. 126-140.
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Vielleicht können die Verse dieses Bandes auch noch in späteren Jahren Aufschluß geben über eine bewegte Zeit von historisch einmaliger Bedeutung, ist doch der spontane Zusammenschluß zweier völlig entgegengesetzter Gesellschaftssysteme ohne Vorbild. Wenn bei Gedichten der Lichtstrahl der Geschichte auch durch eine subjektive Linse gebrochen wird, so dürfte er trotzdem noch die hier gemeinte relativ kurze Zeitspanne von fünf Jahren in einigen wesentlichen Umrißlinien widerspiegeln. […] Auch in Verse gefaßte Gedanken, Beobachtungen und Empfindungen können neben anderen Zeugnissen dabei helfen, die Wahrheit über einen Zeitabschnitt zu finden, der vor allem das Leben der meisten Ostdeutschen einschneidend verändert hat.1294
Wie bei Kamnitzer tritt also auch bei Mittenzwei der ästhetische Anspruch zurück zu Gunsten einer klaren – in der Regel deutlich politischen – Aussage. Literarisch ‚anspruchsvolle‘ Texte sind von diesen Autoren folglich weniger zu erwarten. Die erste Strophe von Wendeschicksal (1992) mag diese These belegen: Mir ging es gut als Sekretärin im Büro, dann ward die Firma von der Treuhand aufgelöst, seitdem bin ich bis heute nicht mehr froh, mir ist, als wenn man täglich vor den Kopf mich stößt.1295
In ähnlicher Form schreibt Gisela Kulinna in Herbst ’90 über die Arbeitslosigkeit; dabei wird durch die Wahl der Überschrift der Herbst ’89 zum Herbst ’90 in Kontrast gesetzt: Was nützt mir, daß ich reisen darf? Mein Arbeitsplatz ist tot. Und daß ich alles kaufen könnt? Ich finde keine Arbeit mehr, denn ich bin alt und rot.1296
Texte dieser Art fungieren in erster Linie als „Psychogramme, aber auch als eine Form der Psychotherapie, in der Verlusterfahrungen bearbeitet, kompensiert und bewältigt werden […].“1297 Einmal mehr zeigt sich hier der selbsttherapeutische Hintergrund zahlreicher ‚Wende‘-Texte. 1294 1295 1296 1297
Ders.: Nachwort. In: Ebd., S. 160. Ders.: Wendeschicksal (1992). In: Ebd.; S. 42f., S. 42. Gisela Kulinna: Herbst ’90. In: WendeBlätter – werkstatt 1. Sebnitz 1991, S. 28. Walter Erhart: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 141-165, S. 153.
5.4 Lyrik
425
Dass die Bearbeitung ein und desselben Themas durch verschiedene Autoren auch in ästhetischer Hinsicht ansprechende Texte hervorbringen kann, zeigt sich an Volker Brauns Gedicht Schreiben im Schredder, dessen Gegenstand Pfarrer Weskotts ‚Rettungsaktion‘ für die auf der Müllhalde gelandeten Bücher ist. Braun liefert darin eine Beschreibung der Situation, die er bewusstseinsstromartig mit seinen Reflexionen verbindet: In einem Stall von 100 m Länge Liegt der Mist bis an die Decke MÜLLER MATERIAL MICKEL MAKULATUR Eingeschweißt auf Paletten Pfarrer Weskotts Aufgesammelte Werke Aus dem Sturzacker des staatlichen Großhandels Bei Espenhain das BROT FÜR DIE WELT Die Nieselfelder der Hochkultur Was für ein Umweg des Geistes In die leeren Mägen, Wellfleisch aus Wellpappe Wieviele Bände der GELEHRTENREPUBLIK Reclam Leipzig, sind eine Mahlzeit Man kann die Bücher auch anbrennen Aber das hat keinen Nährwert Und stört den Betrieb der Opernhäuser WARUM SCHWEIGEN DIE DICHTER schämen sie sich Ihrer Handschrift mit dem Stallgeruch Des Staats, der in den Schredder kommt ERRUNGENSCHAFTEN zum Schleuderpreis Eine DEFA-Vision GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT Was für ein Umweg der Geschichte Für ein Aufatmen, wieviele Staaten Muß man einstampfen für einen Rest Atemluft Die Literatur die auf der Straße liegt Kann sie aufheben, aber wer liest sie Das Feuilleton faselt auf Hiddensee Über die MACHT DES FEUILLETONS In das Schweigen des Meeres, ich schäme mich Mit Schweinen gekämpft zu haben Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen Gegen die ich antrat ein treuer Verräter In der schimmernden Rüstung der Worte KEINE MACHT FÜR NIEMAND WIR SIND GLEICH Getäuscht vom heldenhaften Wühlen In der Scheiße, die die Geschichte war Und berauscht vom Mist, der die Macht war In der Arbeitervorstadt SCHWEINEÖDE Was für Kämpfe im Koben, und das Jauchzen
426
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Nach Brüderlichkeit in der Jauche Biermann klaren Augs mußte es ausbaden In der Grube nebenan bis es ihm schmeckte Berichteschreibende Schweine ER RESIDIERT IN DER KANTINE DES BERLINER ENSEMBLES UND LIESS SICH VON MIR EINE COLA BRINGEN Grunzend an meinem Abendbrottisch Glitschige Schweine in Amt und Würden Was für Schlachten bis der Mist gedruckt war Genehmigt, gebunden und ausgeliefert An die Hungernden hungernd nach Wahrheit Das Handgemenge um die Kopfarbeit Der Unpersonen, die sie gepachtet hatten T = TROTZKI im Panzerschrank von Suhrkamp Die Kopfarbeit, ihm den Schädel zu spalten AUSSAGE DER TOD DER IDEEN (QUELLE: IM Saint Just) Oder GUEVARA und seine Kopfgeburt Der neue Mensch verscharrt auf der Bühne ES SCHEINT NICHT EMPFEHLENSWERT DEN AUFFASSUNGEN B.S WEITERE MASSENWIRKSAMKEIT ZU VERSCHAFFEN Man kann das Theater auch anbrennen usw. Wer liest sie auf die Toten im Text Verfault im Massengrab der Literatur Wenn der Sohn keine Oden liest sondern Akten Die Lektüretips aus der Gauck-Behörde Pastors erbeutete Beichten HAMLET OHNE GEHEIMNIS / SIE KÖNNEN DIE KLARNAMEN BEANTRAGEN Und kein Gedanke mehr an den Hunger der Welt Während ein Dritter von der Kanzel steigt Und ein FREUDENFEUER fordert für den Bischof Schorlemmer der wittenbergische Sprosser Das Feuilleton röstet ihn auf kleiner Flamme Kämpft im Müll der Medien, aus reinem Unglauben Was für Mahlzeiten, Fastfood am KUHDAMM Wo bleibt die Resolution WIR PROTESTIEREN GEGEN DIE EINBÜRGERUNG BIERMANNS Unterschrift Unterschrift Keine Milch mehr DEUTSCHLAND für die Kinder Kubas Der neue Mensch noch kann nicht alt werden Was für ein Umweg des Witzes In die Wunde, wieviele Possen Muß ich reißen für einen Moment des Erschreckens.1298 1298
Volker Braun: Schreiben im Schredder. In: V.B.: Lustgarten, Preußen. Ausgewählte Ge-
5.4 Lyrik
427
Wie oben gezeigt, sind dagegen zahlreiche ‚Wende‘-Gedichte vergleichsweise oberflächlich und daher tendenziell kurzlebig. Texte dieses Genres sind insofern bestenfalls als Kommentare zum Tagesgeschehen zu begreifen, weniger als Kunstform. Die Lyrik mag zumindest teilweise schneller auf die Ereignisse reagiert haben als beispielsweise die Epik, ein ästhetischer Anspruch ist mit diesen schnell verfassten Gelegenheitswerken freilich kaum verbunden. 5.4.2
Eine Bilanz gelebten Lebens – Schreiben über das Land unmittelbar vor dem Mauerfall
Die Lyrik der Wendezeit steht der Essayistik näher als dies zu anderen Zeiten der Fall gewesen sein mag, zumal auch die Lyrik eine explizit oder implizit politische ist. Insofern liegt es nahe, dass Lyrikerinnen und Lyriker die Ereignisse mit ähnlicher Konsequenz begleiteten wie Autorinnen und Autoren von Essays. Schon früh erscheint in der Lyrik der ‚Wende‘ ein Aspekt des Bilanzierens. Anlässlich des 40. Jahrestages der DDR zieht Kurt Drawert am Beginn von Tauben in ortloser Landschaft eine schonungslose Bilanz: Mein kleines, aufgeschlitztes Land mit seiner textlosen Hymne – begraben liegt es im Himmelreich der Hunde, und modert, und verendet nicht. Wie die gelben, giftigen Tauben mit gedunsenen Leibern in den faulenden Giebeln der Häuser, wo sie hocken, kraftlos und ewig auf den schwarzweißen Bergen eigenen Kots, schaut es, gescheitert an seinen historischen Siegen, herab und verspricht sich für einen siebenten Tag im Oktober noch einmal. Diese gründliche Warnung hat uns, als Mythos über Vergangenes, schon aus den Schleusen der Zukunft
dichte. Frankfurt a.M. 1996, S. 164-166; Hervorhebungen im Original. Leicht verändert auch in: V.B.: Tumulus. Frankfurt a.M. 1999, S. 21-23.
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erreicht und läßt uns entstellt ohne Gedächtnis hinter uns selber zurück. Die Tauben aber, sie wollen, doch sie können nicht sterben, diese letzten, sprachlosen Zeugen in den Ruinen der Republik. Wie lebendig in gläsernen Särgen des Vergessens bestattet, […]1299
Nach dem 7. Oktober 1989 verliert der Aspekt des Bilanzierens zwar an Bedeutung, nimmt in Folge der vollzogenen ‚Einheit‘ aber wieder zunehmend Raum ein: So überschreibt Günter Kunert den Zwischentitel eines Teils von NachtVorstellung (1999) mit „Bestandsaufnahmen“1300; bereits in Mein Golem (1996) war es ihm um eine „Positionsbestimmung“1301 gegangen. 5.4.3 ‚Wende‘ und Fall der Mauer Häufig wird die Position der Intellektuellen während der ‚Wende‘ zum Gegenstand von Gedichten. Auch hier zeigt sich die Lyrik stärker als andere Gattungen auf historische Eckdaten fixiert. Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Zusammenhang der 4. November 1989. Der westdeutsche Lyriker Dirk von Petersdorff (*1966) dürfte einer der ersten Schriftsteller gewesen sein, die die große Demonstration für Meinungs- und Pressefreiheit auf dem Alexanderplatz in ihren Gedichten thematisieren. Dabei ist sein Text keineswegs von zustimmender Euphorie geprägt – im Gegenteil: Die Dichter über dem Alexanderplatz. Dies ist der Weg: den geht. Graue Mäntel. Eine Kerze am Herzen. Auf einem Stahlpodest. Das Sein ist noch unausgetragen. Ihr Atem geht schwer. Was ich
1299 1300
1301
Kurt Drawert: Tauben in ortloser Landschaft. In: K.D.: Wo es war. Gedichte. Frankfurt a.M. 1996; S. 103-110, S. 103. Günter Kunert: Bestandsaufnahmen. In: G.K.: NachtVorstellung. Gedichte. München / Wien 1999; S. 29-49, S. 29. In diesem Teil findet sich auch ein Gedicht mit dem Titel „Bestandsaufnahme“ (S. 41). So der Titel eines Gedichts in Günter Kunert: Mein Golem. Gedichte. München / Wien 1996, S. 11.
5.4 Lyrik
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nicht lebte, werd ich ewig missen. Einem hängt ein schwarzer Haarschopf in die Stirn. Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. Eine hat blutrote Wangen. So ist Synthese. Sie stoßen die Münder auf. Der Winter, der ein Sommer wird. Sie halten sich die Hände. Gegen den Opportunismus der Freiheit. So reden Geister, keiner hat sie gerufen. Die Dichter über dem Alexanderplatz.1302
In von Petersdorffs Gedicht, das zahlreiche Zitate, unter anderem aus dem Gedicht Das Eigentum von Volker Braun enthält (vgl. dazu 5.4.7), wird deutlich, wie weit entfernt vom ‚Volk‘ viele Intellektuelle sich befunden haben dürften: Sie erscheinen als im wörtlichen wie im übertragenen Sinne ‚abgehoben‘, denn sie befinden sich „über“, nicht aber ‚auf‘ dem Alexanderplatz – „Geister“ eben, die niemand gerufen habe. Hintergründe und Situation der Veranstaltung am 4. November sind dem Verfasser offenbar völlig unverständlich. Hans-Joachim Marquardt (1994), der durch eine fotomechanische Ablichtung auf das Gedicht aufmerksam geworden war, kritisiert von Petersdorffs Gedicht aufs Schärfste: Es mag der Jugend und der geschichtlichen Unerfahrenheit dieses Autors, vielleicht auch dem Ort seiner Sozialisation geschuldet sein, daß er sich nicht imstande sieht, den Moment offensichtlicher historischer Selbsttäuschung und Vergänglichkeit als einen solchen in seiner Tragik und in seiner Schönheit begreifen zu können.1303
In ähnlichem, jedoch stärker ironischem Ton als bei von Petersdorff ist Hinnerk Einhorns (*1944) Lento gehalten: O Freude / mit Gleichgesinnten zu wandeln unterm klaren Novemberhimmel / Kameras platzen vor Neugier / falln von den Firsten
1302 1303
Dirk von Petersdorff: [ohne Titel]. In: D.v.P.: Wie es weitergeht. Gedichte. Frankfurt a.M. 1992, S. 33; Hervorhebungen im Original. Hans-Jochen Marquardt: Mit dem Kopf durch die Wende. Zu Volker Brauns Gedicht Das Eigentum. In: Acta Germanica. Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika 22 (1994); S. 115-130, S. 120; Hervorhebungen im Original.
430
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in den Schaum mäandernder Sprüche Hinterm Kupfergraben hockt an der langen Leine ein dressiertes Geschlecht / Schilde vorm Maul Knüppel im Sack / blaue Bohnen und Reizgas Doch wir schreiten Seite an Seite / Heinrich der Wagen bricht / Das sind die alten Weisen Ab die Post! Und aus verkalkten Schädeln wächst / welch ein Dschungel der Lust: Freude mit Gleichgesinnten zu wandeln / ins Offne Hinter uns rottet nichts Nennenswertes1304
Mit Einhorn steht in diesem Fall ein Ostdeutscher der Veranstaltung ausgesprochen kritisch gegenüber. Der 9. November bildet in quantitativer Hinsicht den Kulminationspunkt der ‚Wendelyrik‘; der Fall der Mauer ist Gegenstand zahlloser Gedichte. Volker Braun betitelt seinen Beitrag zum Thema schlicht mit dem Datum: Der 9. November Das Brackwasser stachellippig, aufgeschnittene Drähte Lautlos, wie im Traum, driften die Tellerminen Zurück in den Geschirrschrank. Ein surrealer Moment: Mit spitzem Fuß auf dem Weltriß, und kein Schuß fällt. Die gehetzte Vernunft, unendlich müde, greift Nach dem erstbesten Irrtum … der Dreckverband platzt. Leuchtschriften wandern okkupantenhaft bis Mitte. BERLIN NUN FREUE DICH, zu früh. Wehe, harter Nordost.1305
Hervorzuheben ist zum einen der für den Autor besonders typische Aspekt des Einmontierens von Zitaten: Braun zitiert den (West-)Berliner Regierenden Bürgermeister Walter Momper mit dem historisch gewordenen Ausspruch: „Berlin, nun freue dich“. Zum anderen steht auch und vor allem der Aspekt des Utopieverlusts im Mittelpunkt des Textes.
1304 1305
Hinnerk Einhorn: Lento. In: H.E.: Voyage au Paradis. Texte einer deutschen Wende. [Blieskastel] 2000, S. 33. Volker Braun: Der 9. November. In: V.B.: Rot ist Marlboro. In: ndl 39 (1991) 12; S. 5-8, S. 5; Hervorhebung im Original.
5.4 Lyrik
431
Günter Kunert setzt in Jericho 1989 den Fall der Berliner Mauer zum Einstürzen der Mauern von Jericho in Parallele: Anschwellender Ton Aus Mündern gleichgestimmter Schall Stachel Lebenssucht Glücklicher Wahn Menschen verkörpern eine Menge Massenhaftes Geschiebe Leibliche Lava sprengt alle Regeln alle Bande Gitter wie Mauerwerk Und erst zum Morgendämmer hin im Schleppschritt der Geschichte kehrt zage ein Befremden heim.1306
Karl Heinz Ebell (1921-1996), der in der Mark Brandenburg geboren wurde und aufwuchs, später aber in Schleswig-Holstein lebte und somit den Fall der Mauer aus westlicher Perspektive miterlebte, betont den Stellenwert des ‚unerhörten Ereignisses‘ bereits durch die Wahl der Überschrift: Unfassbar die mauer wehrt sich nicht mehr novembersonne reißt breschen in beton wie im traum kommen sie herüber können’s noch nicht glauben tränen falln auf den todesstreifen wir heben sie auf kostbar sind tränen der freiheit die blutigen von gestern pflücken wir aus dem stacheldraht und legen sie dazu wir nehmen die aufrechten in die arme wir weinen und lachen mit ihnen und feiern das fest der freude ein stück von uns nehmen sie mit auf den heimweg und in
1306
Günter Kunert: Jericho 1989. In: G.K.: Mein Golem. Gedichte. München / Wien 1996, S. 56.
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der brusttasche unser versprechen wir werden brücken schlagen straßen bauen auch wir sind das volk.1307
Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, stellt in seinem Lyrikband Falten und Fallen (1994)1308 unter anderem die deutsch-deutschen Befindlichkeiten nach 1989 dar. Um die ‚Wende‘ selbst geht es explizit in den Sieben Telegrammen1309 und im Portrait des Künstlers als junger Grenzhund.1310 Zitiert sei hier das dritte der Sieben Telegramme, das sich unmittelbar auf den Mauerfall bezieht: 12 / 11 / 89 Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt. Wehleid des Wartens, Langweile in Hegels Schmalland Vorbei wie das stählerne Schweigen … Heil Stalin. Letzter Monstranzen Glanz, hinter Panzern verschanzt. Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede geht anders. Pech für die Kopffüßler, im Brackwasser abgesackt. Revolutionsschrott en masse, die Massen genasführt Im Trott von bankrotten Rotten, was bleibt ein Gebet: Heiliger Kim Il Sung, Phönix Pjönjangs [sic], bitt für uns.1311
Auf Gerhard Pickerodt (1993) wirkt der Grünbeinsche Text wohl nicht zu Unrecht eher hilflos angesichts der historischen Zäsur. Die Aufforderung an das Gedicht, zu sich zu kommen, und dies noch im Zusammenhang mit der offenen Mauer, läßt poetisch nichts Gutes erwarten, was Grünbein gewiß nicht zu verübeln wäre, wagte er sich nur nicht an ein Sujet, daß nach trivialem Pathos geradezu schreit
1307
1308
1309 1310 1311
Karl Heinz Ebell: Unfassbar. In: K.H. Ebell: … und die menschen wohnen in meinen augen. Gedichte zwischen Deutschland und Deutschland. Berlin 1992 (Frieling-Lyrik), S. 10. Durs Grünbein: Falten und Fallen. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994; zur Lyrik Grünbeins vgl. Walter Erhart: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 141-165, insbes. S. 154-165. Ders.: Sieben Telegramme. In: D.G.: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 59-65. Ders.: Portrait des Künstlers als junger Grenzhund. In: Ebd., S. 93-107. Ders.: 12 / 11 / 89. In: Ebd., S. 61; Hervorhebung im Original.
5.4 Lyrik
433
und dem auch dadurch nicht beizukommen ist, daß das Gedicht gleichsam vorab zur Ordnung gerufen wird.1312
Pickerodts These, es handele sich um ein Sujet, das „nach trivialem Pathos geradezu schreit“, mag zugleich die Begründung dafür sein, dass kaum ein namhafter Autor den unmittelbaren Mauerfall zum Gegenstand eines Gedichts gemacht hat. 5.4.4 Abschied von der DDR / Ankunft in der Bundesrepublik Selbstverständlich waren neben dem 7. Oktober, dem 4. November und dem 9. November 1989 zahlreiche weitere Tage Anlass, Gedichte zu schreiben – beispielsweise der 18. März 1990, an dem die Wahlen zur Volkskammer stattfanden. Mit dem Wahlausgang war der Abschied von der DDR eingeläutet. Denjenigen Gedichten, deren Gegenstand die ‚Wende‘ selbst ist, folgen Gedichte des Abschiednehmens von der DDR, häufig in Verbindung mit ‚Eckdaten‘ auf dem Weg zum politischen Vollzug der Einheit, wie sich an Gerald Zschorschs (*1951) Null Uhr (1990) zeigt: Wenn um Mitternacht Lichter verlöschen und ein kleiner, erschöpfter Staat für immer untergeht. Stellt Schuld sich ein. Derer, die durch Kulturträger im Ramsch der Selbstgefälligkeit Abortdienste versahen. Es war: ein hündisches Kriechen der zeitgenössischen Intelligenz der vormaligen DDR vor den politischen Begriffen.1313
An Zschorschs Text fällt vor allem der elegische Ton, insbesondere der ersten Zeilen, auf. Null Uhr ist jedoch kein larmoyantes Gedicht, zumal die Ursachen für das Ende des Staates zumindest angedeutet werden. Abschied von der DDR nimmt auch Thomas Spaniel (*1963) in seinem Hans Magnus Enzensberger gewidmeten Gedicht ausblick. Dabei stellt Spaniel – wie Zschorsch – den Aspekt des ‚Verschwindens‘ der DDR in den Vordergrund seiner Reflexionen: am ende vielleicht doch die üblichen symptome wälder von besetztzeichen 1312
1313
Gerhart Pickerodt: Durs Grünbein und der Aschermittwoch der DDR. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 99-103, S. 102f. Gerald Zschorsch: Null Uhr. In: Die Welt v. 10.11.1990.
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schwierige cocktailwünsche und dieses ständige resignierte abwinken oder es gibt noch das was einen nicht losläßt das wort liegestuhl etwa die respektlose eile der obduktion die lautlosigkeit mit der in einer nebligen herbstnacht ein land von der karte verschwindet1314
Ein ebenso typischer Abschiedstext ist Jürgen Rennerts (*1943) Gedicht Mein Land ist mir zerfallen, das der Autor am 14. Januar 1990 schrieb. Bei ihm manifestiert sich die elegische Stimmung nicht nur auf der Inhaltsebene, sondern auch auf der Ebene der traditionellen Form: Mein Land ist mir zerfallen. Sein’ Macht ist abgetan. Ich hebe, gegen allen Verstand, zu klagen an. Mein Land ist mir gewesen, Was ich trotz seiner bin: Ein welterfahrnes Wesen, Mit einem Spalt darin. Mein Land hat mich verzogen, Und gehe doch nicht krumm. Und hat mich was belogen, Und bin doch gar nicht dumm. Mein Land hat mich mit WiderWilln an die Brust gepreßt. Und kam am Ende nieder Mit mir, der es nicht läßt. Mein Land trägt meine Züge, Die Züge tragen mich. Ich bin die große Lüge Des Landes. (Wir meint: ich.)1315 1314 1315
Thomas Spaniel: ausblick. In: T.S.: deutsche vexierbilder. Gedichte. Rudolstadt 1996 (Thüringen-Bibliothek, Band 2), S. 65; Hervorhebung im Original. Jürgen Rennert: Mein Land ist mir zerfallen. In: ndl 38 (1990) 4, S. 132.
5.4 Lyrik
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Obwohl das lyrische Ich es an sich besser weiß (vgl. Strophe 1), klagt es über die Entwicklung. Dabei ist ein Wandel von einer eher allgemeinen Ebene der Anklage zur Selbstanklage zu erkennen (vgl. in diesem Zusammenhang vor allem die letzte Strophe). Auch Uwe Kolbe (*1957) bringt in Der eherne Kreis, das den Auftakt der Sammlung Vaterlandkanal (1990) bildet, ein Gefühl des Verlusts zum Ausdruck: Ich habe mein Land verloren. Kein schöner Land auf der Welt, selbstverständlich. Noch steht mir der einzige Berg darin, noch steht er mir vor den Augen. Am Sonntag gingen wir immer hin. Sein Name war Fingerhut. Ich habe meine Finger noch und schenke mir den Rest.1316
Uwe Grüning (*1942) blickt dagegen weniger zurück als nach vorn. In Fahrt zum Palast der Republik (1990) wagt er einen Ausblick in die Zukunft. Bei ihm heißt es: […] Ich bin tapfer, ich weiß, daß die Epoche zu Tode stürzt und vielleicht mit ihr der Äon. Wenig Besserung erwarte ich von der Zukunft. […].1317
Trotz oder gerade wegen dieses Blicks in die Zukunft wirkt auch Grünings Gedicht resignativ. In Heinz Czechowskis Gedichten Die überstandene Wende (1989) und Nach dem Umsturz (1991) erscheinen ‚Wende‘ bzw. ‚Umsturz‘ bereits relativ früh als abgeschlossen. Dies drückt sich auch in den Überschriften aus: 1316 1317
Uwe Kolbe: Der eherne Kreis. In: U.K.: Vaterlandkanal. Ein Fahrtenbuch. Frankfurt a.M. 1990, S. 7. Uwe Grüning: Fahrt zum Palast der Republik. In: Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989 / 1990. Mit einem Essay hrsg. von Karl Otto Conrady. Frankfurt a.M. 1993 (Edition Suhrkamp Leipzig); S. 48f., S. 48.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Die überstandene Wende Was hinter uns liegt, Wissen wir. Was vor und liegt, Wird uns unbekannt bleiben, Bis wir es Hinter uns haben.1318
Nach dem Umsturz […] Meine Freunde Gingen über Die Grenze. Ich Bin geblieben. Hier, Wo ich bin, Wird keine Revolution Mein Leben verändern. Man lebt nicht Unter dem Schirm Irgendeiner Regierung. Ich Kann mich nicht Unterbringen in Fragebögen, SteuerErklärungen und Versicherungspolicen. Auch Das neue Geld Ist Geld. Grundsätzlich Sehe ich keine Veränderungen, die Mich betreffen. […]1319
1318
1319
Heinz Czechowski: Die überstandene Wende. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 420; mit leicht verändertem Zeilenumbruch auch in: H.C.: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987-1992. Zürich 1993, S. 148. Ders.: Nach dem Umsturz. In: Sinn und Form 44 (1992) 4; S. 539f., S. 540.
5.4 Lyrik
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Die ‚Eckdaten‘ dienen nicht nur direkt als Schreibanlass, sondern oft auch als Erinnerungsanlass in Verbindung mit einer bilanzierenden Rückschau, wie an den Gedichten Aus dem Haiku-Gebiet (1992) von Sarah Kirsch, Tag der Einheit (1991) und – stärker noch – an Jahrestag (1991) von Heinz Kahlau (*1931) deutlich wird. Silvesterabend bzw. Neujahrstag bieten seit alters Anlässe zur Rückschau, insofern erstaunt die Wahl dieser Tage nicht sonderlich. Kirsch sieht sich nach der ‚Wende‘ erneut mit ihrer deutsch-deutschen Vergangenheit konfrontiert, alte Belastungen kommen wieder zum Tragen: Aus dem Haiku-Gebiet Das neue Jahr: Winde Aus alten Zeiten Machen mir Zahnweh. * Unter dem Himmel des Neuen Jahrs gehen die Alten Leute. * Wie der Schnee sie auch Verklärt – meine Heimat Sieht erbärmlich aus. * Den Mond über der Havel Hatte Schalck wohl Zurückgelassen. * Heul, sag ich, heul! Der Hund Hilft mir das Jahr Zu Ende zu bringen. * Normannenstraße: ich sehe Den Leuten zu beim Reinemachen fürs neue Jahr. * Das Jahr geht hin Noch immer trage ich Reisekleider. 1.1.19911320
1320
Sarah Kirsch: Aus dem Haiku-Gebiet. In: S.K.: Erlkönigs Tochter. Gedichte. Stuttgart 1992, S. 5.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Wie Kirsch mit der Form des aus China stammenden Kettengedichts, wählt auch Heinz Kahlau in Jahrestag eine klassische Form – beide Gedichtformen finden sich nur selten in der Lyrik der ‚Wende‘- und Nachwendezeit. Mit der traditionellen Form geht eine traditionelle, gehobene Sprache einher; auf formaler wie sprachlicher Ebene wirken die Gedichte beider Autoren damit relativ harmonisch. Diese Elemente stehen jedoch in scharfem Kontrast zur Inhaltsseite: Kirsch beklagt den ‚erbärmlichen‘ Zustand ihrer Heimat und die eigene Ortslosigkeit, Zielscheibe von Kahlaus Kritik ist vor allem das kapitalistische Wirtschaftssystem – die „Geldwertwelt“ – und dessen bzw. deren Auswirkungen auf den persönlichen Bereich. Der Kalte Krieg hat sich zum „kalten Bruderkrieg“ (Zeile 8) gewandelt: Jahrestag Es hat sich ausgebrudert, verschwistert wird nicht mehr. Die Beute ist verludert. Die treue Hand scheint leer. Der Schreibtischtäter handelt, schleift Acker und Fabrik, hat kalten Krieg verwandelt in kalten Bruderkrieg. Die ihre Hoffnung gaben, in Glauben und in Treu, die streiten mit den Raben um Häcksel und um Spreu. Es bangt um Heim und Wände, von Furcht und Scham bewegt, wer sinnlos Kopf und Hände zum großen Markte trägt. Wer seinen Wert nicht findet in dieser Geldwertwelt, der ihn ans Leben bindet, hat nichts mehr, das ihn hält. Der läßt den Fremden büßen, der zu ihm kam in Not. Gekreuzigt, an den Füßen, hängt Bruder Ischariot.1321 1321
Heinz Kahlau: Jahrestag. In: ndl 40 (1992) 1, S. 102.
5.4 Lyrik
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In inhaltlicher Hinsicht ähnlich, jedoch freier im Umgang mit der Form, präsentiert sich Kahlaus Gedicht Tag der Einheit. Wie in Jahrestag wehrt der Verfasser bzw. das lyrische Ich sich vor allem gegen die Auswirkungen der ‚Einheit‘ im Bereich des Wirtschaftssystems und die damit verbundene Dominanz des Kapitals mit all ihren Konsequenzen: Tag der Einheit Am Tag der deutschen Einheit saß ich zwischen dem, was war. Ich war ummüllt von Werbung und von Briefen, die Geld von mir verlangten, und zwar ganz und gar mit dem beschäftigt, was das nächste Jahr von mit verlangen könnte. In den Tiefen der Seele kochte das, was da seit je gefangen: die kalte Wut auf jede Art von Staat. Der dritte will mich in sein Muster zwängen. Ich feierte den Tag mit Zorngesängen.1322
Anlass zur bilanzierenden Rückschau gibt meist der 3. Oktober; weitaus seltener ist die Evokation des 7. Oktobers, des Gründungstages der DDR. Michael Wüstefeld (*1951) verbindet in seinem Gedicht Reisefreiheit (1999) den 7. Oktober mit dem Aspekt der offenen Grenzen und der Möglichkeit des Reisens: Den siebten Oktober fuhr ich durch die Alpen sah nördlich die Täler hinunter graues Gestein Reste einer Republik vergangen ausgespien in die feuchte Luft dampfte der Nebel herauf Kein Lenz weit und breit Ein paar hundert Meter Tunnel genügten die Herkunft im Rückspiegel zu verkleinern bis sie zurücksank hinter das Blendwerk zähfließenden Nachfolgeverkehrs
1322
Ders.: Tag der Einheit. In: H.K.: Kaspers Waage. Gedichte. Berlin / Weimar 1992, S. 37.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Südlich fuhr ich weiter aus den Alpen als ob ich auf dem Kopf gehn konnte ewiger Sommer in Heidiland kein Hahn krähte mir nach weil ich mit der Sonne von Morgen nach gestern kam1323
Im Zusammenhang mit der Abschiedsthematik scheint eine ‚Verabschiedung‘ der alten Machthaber der DDR nahe liegend. Doch eine im engeren Sinne literarische Auseinandersetzung mit ihnen findet in der Lyrik kaum statt.1324 Meist geht es um das System insgesamt, weniger um die früheren Repräsentaten des Staates. Die Ausnahme bildet Erich Honecker: Hinnerk Einhorn stellt ihn in seiner Lobetal-Elegie einigen Kleinbürgern gegenüber. Durch diese auch auf der formalen Ebene deutliche Konfrontation ist nicht mehr klar, wer wen betrachtet bzw. wer auf welcher Seite des Zaunes steht: Honecker und die Kleinbürger befinden sich damit auf einer Ebene – eine Auffassung, die durch das dem Gedicht vorangestellte Enzensberger-Zitat bestärkt wird: Gewöhnliche Menschen haben für gewöhnlich für gewöhnliche Menschen nichts übrig. Und umgekehrt. H.M. Enzensberger Himmlischer Friede / bei Ausflugswetter quäken Kleinbürger am Zaun / die neue herrliche Klasse im planmäßigen Übergang / woolworthergriffen / das doppelt freie Volk mitteldeutscher Neger / Erich im Schatten des Kreuzes / Schrittchen vor zwei zurück / in den sicheren Plüsch / / He has a dream / doch die Sitzbäder 1323
1324
Michael Wüstefeld: Reisefreiheit. In: Landschaft mit Leuchtspuren. Neue Texte aus Sachsen. Hrsg. vom Sächsischen Literaturrat e.V. Leipzig 1999, S. 64; Hervorhebungen im Original. Ludwig Harig (*1927) hatte schon 1981 einen Text über den Generalsekretär der SED bzw. dessen Strohhut veröffentlicht (Ludwig Harig: Erich sein Strohhut. Ein Bild des Staatsratsvorsitzenden als Saarländer. In: Freibeuter (1981) 8, S. 85-93); nach der ‚Wende‘ folgte die Erzählung Bei Erich dehemm, in der er einen kurzen Besuch bei Honecker im Untersuchungsgefängnis Moabit schildert: „[…] ich schrieb ihm einen Brief ins Untersuchungsgefängnis nach Moabit und bat ihn um ein Gespräch. Er gewährte es, das Landgericht Berlin genehmigte meinen ‚Antrag auf Erlaubnis zum Besuch bei Herrn Erich Honecker‘, ich kaufte mir ein Flugticket und flog am 29. Dezember 1992 nach Berlin.“ (Ders.: Bei Erich dehemm. Der Honecker-Prozeß geht angeblich weiter. Der Angeklagte ist angeblich weg. Noch in Moabit hat unser Reporter – angeblich Honeckers Vater – Erich getroffen. In: Die Zeit v. 5.2.1993) Höhepunkt des Textes ist ein Moment der Vertrautheit mit dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden, in dem der Erzähler Honeckers ‚letzten Wunsch‘ erfährt: „In verunglückter Miene zwinkerte er mir mit den Augendeckeln zu und flüsterte mehr, als er sprach: ‚Nur noch einmal hemm!‘“ (Ebd.)
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der Schmeicheleien / ach, sein Megachipchen / Nimmersatt Mensch / Ihr habt ihn enttäuscht / Ochsen und Esel / Waidmanns Heil! Lila Taube / dies ist ein süßes Asyl / Bei Vollmond spielt ein Mönch aus Gori Balalaika1325
Neben den Abschiedstexten erschienen zahlreiche Texte, die sich mit der DDR-Vergangenheit auseinander setzen, aber auch solche, die das ‚Ankommen‘ bzw. Versuche des ‚Ankommens‘ in der Bundesrepublik zum Gegenstand haben. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dominiert – wie in der Essayistik – die Beschäftigung mit der Staatssicherheit. Dies zeigt sich etwa an Harald Gerlachs (1940-2001) Gedicht Ungwiss (1998): Angesichts der Decknamen, klangvoll: Rubeanus, Sebastian, Konrad, Melchior: der Spitzel, die aus mir einen operativen Vorgang machten, beschleicht mich ein Argwohn; wer von ihnen bin ich? Die Jahre vergehen, der Augenblick stockt. Deutsche Uhren sind die schnellsten der Welt. Was wenig daran ändert, daß es Zeit nicht gibt. Nur die Übereinkunft, mit ihr zu rechnen. Der Ort, der mich trägt, ist auf keiner Karte verzeichnet. Ich hab ihn erfunden, meinen Fuß drauf zu setzen. Nun ist er da – niemand nimmt ihn zur Kenntnis. Doch was besagt das.1326
Radjo Monk (*1959) beschreibt in seiner Lyrik ebenfalls die Konfrontation mit den eigenen Stasi-Akten:
1325
1326
Hinnerk Einhorn: Lobetal-Elegie. In: H.E.: Voyage au Paradis. Texte einer deutschen Wende. [Blieskastel] 2000, S. 36; Hervorhebung im Original. Lobetal ist der Ort, an dem das Ehepaar Honecker vorübergehend bei einem Pfarrer unterkam. Harald Gerlach: Ungewiss. In: H.G.: Nirgends und zu keiner Stunde. Gedichte. Berlin 1998, S. 41. Die Problematik des Spitzelns für den Staatssicherheitsdienst thematisiert Gerlach auch in Trost-Aria (In: Ebd., S. 64).
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
ZEITMESSER oder Vom Lesen in der Stasi-Akte Ich saß unter dem Bildschirm, Welt empfangend aus zweiter Hand & unfähig, die tranchierte Gegenwart abzuschalten. Eingehüllt in den Samt der Jugend, verknotete ich vertane Chancen zum Fluchtseil in den berechneten Abgrund. Aber unter dem dünnen Grind der Daten tobten weiter die geschlagenen Schlachten. Zeit vermaß mein erlerntes Leben & ließ mich Zeit vermissen. Erfindungen ersetzten nichts, narkotisierten aber mein Entsetzen. Wohin ich auch den Leitartikeln auswich: der Staub auf meinen Schuhen war Staub von meinem Leib.1327
Dem Vollzug der staatlichen Einheit folgen rasch dichterische Ausdrücke der Ernüchterung. So wird die Warenwelt des Westens, die nun auch in der DDR Einzug hält, zum Gegenstand von Gedichten, etwa in Kerstin Hensels (*1961) Siebenschläfer. Auch dieser Text ist tendenziell in Gedichtform gesetzte Prosa: Ich habe sieben Tüten aus den sieben Himmeln Aus dem KaDeWeh habe ich sieben volle Bunte Tüten voller himmlischer Siebensachen, die trage ich auf Händen die bunten vollen Tüten, daß ich Müde werde davon. Draußen Liegt schon einer auf einer Bank sieben und siebzig Jahre alt oder lang. Ach, könnt ich auch meinen Rausch Schlafen, ich wäre im siebten Himmel. Gib schon her, sagt der Alte, nimmt eine Tüte, kippt Auf die Straßen Austern von Benetton, Mieder frisch aus dem Mittelmeer. Ich wiege nur noch, sagt er, sieben Kilo – 1327
Radjo Monk: ZEITMESSER oder Vom Lesen in der Stasi-Akte. In: R.M.: König im wüsten Land. Wahnfried Jokers Chronik 1959-1995. Rudolstadt 1998 (ThüringenBibliothek, Band 5), S. 63; Hervorhebung im Original.
5.4 Lyrik
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Steckt in die Tüte hinein was er hat, seine ganze Person. Irgendwas, denke ich, Ist zuviel. Irgendwer Wird sich schon drüber freun.1328
Aus östlicher Perspektive können in der westdeutsch dominierten Gesellschaft persönliche Probleme, etwa der Isolation, nicht gelöst werden. Gespräche finden dieser Auffassung zufolge nahezu ausschließlich statt, wenn eine geschäftliche Intention mit ihnen verbunden ist, wie sich an der ernüchternden letzten Zeile des folgenden Gedichts zeigt, das ebenfalls von Kerstin Hensel stammt: Manchmal klopft ein Mensch an meine Tür. Zu Werbezwecken.1329
Die geschäftliche Dimension kommt erst recht zum Tragen, wenn es weniger um den persönlichen Bereich geht als um den öffentlichen. Für Thomas Rosenlöcher besitzen das Kapital und seine Vertreter – hier sind es Grundstücksspekulanten – eine groteske Dimension: Das Immobilistenballett Die Autos stehn schräg auf der Wiese. Die Herren treten drei Schritt vor und heben die Köpfe im Grölen der Vögel. Ist ja wirklich hier eine richtige Wildnis. Doch schwierig als Bauland. Wie soll sich das rechnen? Rechnet sich das, kauft man sich gleich was, und wieder drei Schritt vor, wo man noch wirklich, und Brombeergerank umklammert die Hosen, zu leben versteht, in der Toscana, der Kirschbaum muß weg, zwecks Tiefgarage – aufwehen die Schlipse, das Grölen der Vögel malt Bögen in ihre pragmatischen Hirne, und selbdritt drei Schritt stolpern die Herren, SOS tippt einer in den Taschenrechner, o Wunder, in Richtung Toscana. Totale Kirschblütenverschüttung.1330
1328 1329 1330
Kerstin Hensel: Siebenschläfer. In: K.H.: Freistoss. Gedichte. Mit zwölf plus eins Kupferstichen von Ulrich Köhler. Leipzig 1995, S. 27. Dies.: Manchmal klopft ein Mensch. In: Ebd., S. 44; Hervorhebung im Original. Thomas Rosenlöcher: Das Immobilistenballett. In: T.R.: Die Dresdner Kunstausübung. Gedichte. Frankfurt a.M. 1996, S. 54.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Rosenlöcher zählt übrigens neben Volker Braun zu den produktivsten Lyrikern der Nachwendezeit und ist einer der wenigen Autoren, zumal im Bereich der Lyrik, deren vor 1989 erschienene Texte nach der ‚Wende‘ wiederveröffentlicht wurden.1331 ‚Abschied‘ und ‚Ankunft‘ drücken sich in der Lyrik auch auf der Ebene des Wandels vom Alten zum Neuen aus. Symbole des alten Systems erhalten nun, sofern sie nicht beseitigt werden, neue Funktionen bzw. erfahren eine Bedeutungsumwertung. In Gisela Krafts (*1936) Gedicht bitte des karlmarxkopfes an das rotliegende chemnitz spricht der überdimensionierte Bronzekopf der Karl Marx-Skulptur – zeitweilig Wahrzeichen der wieder zurückbenannten Stadt – zu den Chemnitzern: permanent dankbar den schweißern der monumentskulptura der pieckschen baubrigade den maschinisten germania sowie staublungen der korninski-kumpels in schitomir. ferner nichts für ungut kerbels leo der es dick mit mir meinte daß durch meinen schädel der vierzig tonnen schwer euern vierzigsten jahrestag mit mühe dämmern sah wieder wind bläst! letzte verfügung: aus schläfen stirnhöhlen stirnhaar toupierten seitensträhnen abgesägtem glockenbart obskuren hinterhauptstollen den neuen arbeitslosen bronzene baracken!1332
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1998 erschienen mit Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee Gedichte, die – mit Ausnahme von Der Räumepflegeengel – bereits in den beiden Bänden Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz (Gedichte & zwei Notate. Halle (S.) / Leipzig 1982) und Schneebier (Gedichte. Halle (S.) / Leipzig 1988; der Band erlebte 1991 eine 2. Auflage) enthalten waren. Der Verfasser schreibt in der „Schlußnotiz“, dass „die vorliegenden Gedichte mit dem Wegfall der DDR nun auch schon eine Zeitenwende hinter sich haben; ein, nicht umsonst vom Untergang ganzer Bibliotheken begleitetes, Verschwinden des ursprünglichen Bezugssystems, das für den Verfasser nicht ganz so überraschend gekommen wäre, wenn wenigstens er seine alten Sachen einmal gelesen hätte.“ (Schlußnotiz. In: T.R.: Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. 77 Gedichte. Frankfurt a.M. 1998; S. 119f., S. 119) Gisela Kraft: bitte des karlmarxkopfes an das rotliegende chemnitz. In: G.K.: keilschrift. gedichte 1984-1990. Berlin / Weimar 1992, S. 55; Hervorhebung im Original.
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Die in Wirklichkeit übermenschlich große Skulptur erhält in Krafts Gedicht menschliche Züge. Sie spricht zu den Chemnitzern – ein letztes Mal, denn die das Gedicht beschließende Strophe enthält eine Art Testament: Aus dem wertvollen Material der Skulptur sollen Siedlungen für Arbeitslose entstehen. Ein Symbol für die alte Ordnung ‚opfert‘ sich damit für die arbeitslos Werdenden und verkörpert nun diejenigen Ideale, für die es vor der ‚Wende‘ eigentlich schon hatte stehen sollen. Mit dem ‚Abschied‘ geht häufig ein Gefühl der Entfremdung einher, auch die körperliche ‚Ankunft‘ in der bundesrepublikanischen Realität gelingt nur selten ohne Reibungen. So beschreibt Kurt Drawert in Ortswechsel (1993) die Folgen seines Umzugs von Leipzig nach Niedersachsen: Meine Freunde im Osten verstehe ich nicht mehr, im Landstrich zwischen Hamme und Weser kenne ich keinen. […] Nirgendwo bin ich angekommen. Nirgendwo war ich zuhaus. […]1333
Dieser Gedanke der Entfremdung erscheint auch zu Beginn von Drawerts Gedicht Zustandsbeschreibung. Zwischenbericht aus dem gleichen Jahr: Im sächsischen L., einer Stadt im Auswurf der Zeiten, habe ich nichts mehr verloren. Gewonnen hab ich die Einsicht vom Ende der Herkunft. […]“1334
Es ist also nicht nur der Wechsel von Ost nach West, der in Drawert Gefühle der Entfremdung heraufbeschwört, sondern auch die genaue Betrachtung
1333
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Kurt Drawert: Ortswechsel. In: ndl 41 (1993) 7; S. 24-26, S. 24; ähnlich: Ders.: Unterwegs. In: Der heimliche Grund. 69 Stimmen aus Sachsen. Im Auftrag des Literaturbüros Leipzig e.V. hrsg. von Helgard Rost und Thorsten Ahrend. Leipzig 1996, S. 192. Ders.: Zustandsbeschreibung. Zwischenbericht. In: K.D.: Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften. Frankfurt a.M. 1993 (Edition Suhrkamp Leipzig), S. 118f., S. 118.
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des Wandels im Osten. Die Feststellung mag banal klingen, doch der Osten ist nicht mehr das, was er einmal war. Eben dies bringt Thomas Alexander Schmidt (*1964) in Heimat-Austreibung zum Ausdruck: Die Städte im Osten werden ihm zunehmend fremd, „Heimat wird ausgetrieben“: Ich schlingerte durchs Hinterland, querte transparentverhangene Fabrikruinen, marktbefleckte Brachfelder, durchgesiedelte Leerstädte. Heimat wird ausgetrieben wie ein Teufelsbalg in den Orkus, jenseitig liegend, vielberührt. Vorangetragen wird ein neues Kreuz, denn Ritter in bunten Hemden folgen unbekümmert. Mit neuer Sprache wird ein Volk gewandelt. Ein neues Gesicht denen, die danach schrein. […]1335
Für Heinz Czechowski beruht das Gefühl der Entfremdung zumindest teilweise auf der Nivellierung des individuellen Charakters einzelner Städte und Stätten durch Renovierungsarbeiten: […] Fußgängerzonen, entkernte Fachwerkhäuser, kurz das, Was man die heile Welt nennen könnte: von Limburg bis Quedlinburg; Überall das gleiche ambiente. […]1336
Nicht nur im Titelgedicht der Sammlung Dieselbe Straße, ein anderes Land (1991)1337 thematisiert Ralph Grüneberger (*1951) negative Folgen der Vereinigung beider deutscher Staaten; in seinen Gedichten Vorruhe (1996) und Alle Tage (1993) beschreibt er die mit dem Vorruhestand und der 1335
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Thomas Alexander Schmidt: Heimat-Austreibung. In: Der heimliche Grund. 69 Stimmen aus Sachsen. Im Auftrag des Literaturbüros Leipzig e.V. hrsg. von Helgard Rost und Thorsten Ahrend. Leipzig 1996, S. 189. Heinz Czechowski: [ALLMÄHLICH VERBLEICHT]. In: H.C.: Mein Westfälischer Frieden. Ein Zyklus 1996-1998. Mit einem Nachwort von Walter Gödden. Köln 1998 (Bücher der Nyland-Stiftung, Köln, Reihe: Neue Westfälische Literatur, Band 7); S. 116-120, S. 117; Hervorhebung im Original. Der Aspekt der Entfremdung kommt auch in dem Gedicht Brehna zum Ausdruck (vgl. Ders.: Brehna. In: H.C.: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987-1992. Zürich 1993, S. 275f.), hier deutlich einhergehend mit einem Gefühl der Sehnsucht nach dem Verlorenen. Ralph Grüneberger: Dieselbe Straße, ein anderes Land. In: R.G.: Dieselbe Straße, ein anderes Land. Gedichte 1977-1996. Magdeburg 1996, S. 106.
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Arbeitslosigkeit einhergehenden psychischen Belastungen. Den arbeitslos Gewordenen ist eine ‚Ankunft‘ in der neuen Gesellschaft kaum möglich: Vorruhe Die Männer von Mölbis Sitzen zu Hause in der guten Stube Vor den Sammeltassen. Das Flaschenbier Von dem sie nicht lassen, setzen sie Vorsichtig auf die bastenen Untersetzer Aus dem Weihnachtsgeschick der Enkelkinder. Die Rauchfahnen über Espenhain Stehen längst nicht mehr auf Halbmast. Der Himmel, briefblau, ist hereingebrochen. Die Männer hoffen auf Krupp. Pseudokrupp ist, was sie kennen.1338
Alle Tage Im Park, früh schon Sitzen auf dem warmen Holz (mit dem schuldigen Namen: Bank) Die im Freistaat frei Von Arbeit sind. Alle Tage gehen Sie den Flaschen auf den Grund, die Mit der Botschaft zu finden.1339
Nach einer Begegnung mit Freunden aus dem Westen wagt Grüneberger schon früh die Prognose, dass das ‚Ankommen‘ im vereinigten Deutschland keineswegs leicht fallen wird, wie sich in Momento V (1989) zeigt: […] Die Freunde haben Geschäfte und hissen Kurz die Serviette zum Mund. Wir weisen uns Wege Durch das EStG. Alle Phantasie Den Steuererklärungen! […]1340
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Ders.: Vorruhe. In: Ebd., S. 84. Ders.: Alle Tage. In: Ebd., S. 105. Ders.: Momento V. In: Ebd., S. 57.
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Das Einkommensteuergesetz (EStG) steht in Grünebergers Gedicht exemplarisch für die Gesamtheit der mit der Vereinigung zusammenhängenden Neuerungen. Die Abschiedsthematik betrifft aber nicht nur die Menschen in den östlichen Bundesländern und Berlin (Ost), sondern beispielsweise auch ausländische Soldaten. Gegenstand von Kerstin Hensels gleichnamigem Gedicht ist der Abzug der Alliierten (1995) aus Berlin. Hensel greift damit eine der wenigen Situationen auf, in denen in ritualisierter Form verabschiedet wird: Vollksfest by Bürgerbräu Der Rattengiftspur folgt Niko Laus Zwischen Ost- und Westkreuz Pendelt die Stadt Am Faden der Geduld. See you later or never. Schnaps macht die Nasen dick Taube hat Katzenfick Zur Erhaltung der Art, zwischen Karlshorst und Tempelhof Drücken die Jäger Spaß durch die Kammern der MaulUnd Klauenentwürfe. Untererdig Feiert der Selbstsüchtigen e.V. Vollksfest by Bürgerbräu Herr Laus schnalzt mit Frau Generaloberst Anita Krause Um die Welt im Kopfsprung in den Doppelt kohlensauren Müggelsee. Towaritschratsch jubelt Karlineken, tanzen Will tanzen und tanzt ganz allein Feindliebchen du muhust nicht traurig sein.1341
Hensels Gedicht stellt auch wegen der Bezugnahme auf Nicht-Deutsche eine Ausnahme dar; die meisten Autoren betreiben Anfang der neunziger Jahre eine Reflexion ausschließlich der (deutsch-)deutschen Verhältnisse. 5.4.5
Grenz-Erfahrungen
Dichterischer Ausdruck der ‚Wende‘ ist häufig die Darstellung des Wandels an den Staats- bzw. Sektorengrenzen. Diese können nun gefahrlos über1341
Kerstin Hensel: Abzug der Alliierten. In: K.H.: Freistoss. Gedichte. Mit zwölf plus eins Kupferstichen von Ulrich Köhler. Leipzig 1995, S. 24.
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schritten werden. Eines der eindrucksvollsten Beispiele stammt aus Jürgen Beckers Lyrikband Foxtrott im Erfurter Stadion (1993), für den der 1932 geborene Autor 1993 den Huchel-Preis erhielt: Winter, helle Fenster […] und irgendeiner machte nach, wie die S-Bahn abfuhr am Savigny Platz. Schwieriger waren Tauben, Maschinenpistolen, und hinter den Ferngläsern sah man nie ein Gesicht. Einmal hob ich die Hand zum Winken, denn etwas bewegte sich hinter den Grenzen; drei Tage später waren die Türme leer. Freies Gelände, in dem man sich wundert, daß es vor kurzem eine tödliche Zone war. Wie lang brauchst du noch bis nach Hause, wenn du jetzt weißt, daß du umhergehen kannst in der wiedergefundenen Landschaft … es waren ja Landkartenjahre, die das Vergessen nicht eindringen ließen in die Scheune, hoch auf den Speicher, wo der Gedanke des Wiedersehens, unbehelligt und still, an einem alten Nagel hing. Kein Gespenst: nur falsche Fingerzeige aus einer theoretischen Zukunft, von der wir endlich erlöst sind, unerwartet und spät, und die brüchigen Sprossen der Leiter sind nicht zerbrochen. […]1342
Gisela Kraft betont in winterspaziergang bei königs wusterhausen zunächst einmal die ‚Abwesenheit‘ der Grenze. Die stark verknappte Sprache verleiht dem Text den Charakter einer Bestandsaufnahme. Gefühle werden an keiner Stelle geäußert, ebenso wenig erfolgt eine Bewertung der dargestellten Folgen von Grenzöffnung bzw. -abschaffung: jenseits der häuser niedergetretenes gelbliches gras. waldrand. eine weggabelung. kein zaun himmel im schwarzen astkorb. im sand eine gefrorene fahrradspur. lichtung mit reifüberzogenen stubben. kein draht. keine grenze schneezeug zur bleiche. koppel mit eisblanken pfützen. 1342
Jürgen Becker: Winter, helle Fenster. In: J.B.: Foxtrott im Erfurter Stadion. Frankfurt a.M. 1993; S. 34-42, S. 41f.; Hervorhebung im Original.
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über weidenreihen stäubende krähen. kein schild you are leaving … wieder häuser. die holzbrücke. schollengerangel im schleusenbecken. bahngeleise. ein braches feld frei bis zur schneide des horizonts1343
In Thomas Spaniels (*1963) Gedicht verlassener grenzübergang ist die Grenze zwar noch sichtbar vorhanden, es erfolgen jedoch keine Kontrollen mehr: am schlafenden schlagbaum vorüber wie über einen meridian keine unsichtbare wand kein widerstand die gleiche schwerkraft auf der anderen seite der wind in den zäunen vertraute tonarten und die feine wimmernde stimme der reifen – nasser asphalt der mich schimmernd ansieht dunkel vor erfahrung1344
Die deutsche Teilung wird bald schon Geschichte geworden sein, wie sich an folgendem Auszug aus Ulrich Schachts (*1951) Gedicht vom 28.2.1990 über die Sektorengrenze am Brandenburger Tor zeigt: […] Hier gings mal nicht durch. Sagen Passanten in jener Zukunft, zwölf Monate könnte die nah sein, und wundern sich über sagenhafte Ideen von einst: Stadt Mauern hießen die, und ab und zu fiel einer von den Zinnen. In Chroniken müßte das stehn. Von damals.1345 1343 1344 1345
Gisela Kraft: winterspaziergang bei königs wusterhausen. In: G.K.: keilschrift. gedichte 1984-1990. Berlin / Weimar 1992, S. 30; Hervorhebung im Original. Thomas Spaniel: verlassener grenzübergang. In: T.S.: deutsche vexierbilder. Gedichte. Rudolstadt 1996 (Thüringen-Bibliothek, Band 2), S. 32. Ulrich Schacht: [ohne Titel] [Drei Gedichte]. In: Supplement Literatur im technischen Zeitalter. LCB DAAD II / 1990. Hrsg. von Walter Höllerer, Norbert Miller, Joachim Sartorius; S. 59-61, S. 59.
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Für Richard Anders (*1928), der 1993 sein 1989 entstandenes Gedicht Mauer um einen zweiten Teil ergänzte, ist das im ersten Teil benannte „Herz“ des die deutsche Teilung symbolisierenden Bauwerks zur „Reliquie“ geworden. Der ältere Teil schließt mit der Feststellung: Unmöglich, diesem Kaltblütler aus Beton das aufgemalte Herz auszureißen.
Diese Feststellung wird im zweiten Teil (1993) sogleich als Frage aufgenommen: Unmöglich? Als Reliquie in der Vitrine kein Zeichen, kein Wunder mehr, zeugt es jetzt, ohne für irgendetwas zu schlagen, vom möglichen Irrtum.1346
Ralph Grüneberger wendet sich in Es war nicht alles schlecht (1994) gegen ‚ostalgische‘ Tendenzen und löst damit den verbreiteten Umkehrschluss auf, dass angesichts der Tatsache, dass in der Bundesrepublik nicht alles gut ist, die DDR doch der bessere Staat gewesen sei: Der Schutzstreifenzaun. Die Betonsperrmauer. Die Hundelaufanlage. Die Lichtsperre. Die Beobachtungstürme. Der Kolonnenweg. Der Spurensicherungsstreifen. Der Sperrgraben. Die Selbstschußanlage. Der Metallgitterzaun. Der zweite Metallgitterzaun. Das Minenfeld. Der Stacheldrahtverhau. Der geebnete Geländestreifen. Die schwarz-rot-goldene Markierungssäule. Der Ährenkranz um Hammer und Sichel.
1346
Richard Anders: Mauer. In: Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989 / 1990. Mit einem Essay hrsg. von Karl Otto Conrady. Frankfurt a.M. 1993 (Edition Suhrkamp Leipzig), S. 87.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Die Warnung: Hier beginnt Die Deutsche Demokratische Republik.1347
Mittels einer schlichten Auflistung ehedem an der innerdeutschen Grenze von der DDR ergriffener Sicherungsmaßnahmen widerlegt Grüneberger die oben angesprochene Meinung. Die Deutung wird dabei auf den Leser verlagert, indem ihm die genannten Einrichtungen nochmals vor Augen geführt werden. 5.4.6
Unvollkommene Revolution und Schwierigkeiten im vereinigten Deutschland
Je weiter die Herbstereignisse des Jahres 1989 zurückliegen, desto stärker gewinnt eine Haltung der Ernüchterung Raum. Zahlreiche Gedichte spielen auf die Enttäuschung über den Verlauf der ‚Wende‘ an, so auch Radjo Monks (*1959) BLENDE 89: […] Nie war ein Traum kürzer als der Herbst 89. Keinen Stein hoben wir auf vom Schotter gesperrter Landschaften. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, daß die nicht am Körper geschlagenen Wunden länger schmerzen & selten heilen; daß Mordlust eine ansteckende Krankheit ist & man sich bloß gegenseitig abknallen würde. […]1348
Ähnliches drückt Jürgen Rennert (*1943) in Teil XV seines zwischen 1986 und 1990 entstandenen Sonettzyklus’ Chopiniade (1990) aus; der Ton auch dieses Gedichts ist resignativ: […] Der Putschversuch gewaltsam aufgemachter Grenze Hat nichts gebracht als das zuvor Bereits Gewußte: Tausche DM-Ohr Für Ost-Gehör. Verscherble hundert Orient-Lenze
1347 1348
Ralph Grüneberger: Es war nicht alles schlecht. In: Ebd., S. 99. Radjo Monk: BLENDE 89 / 4. Erinnern, Aufstehen, Vergessen. In: R.M.: König im wüsten Land. Wahnfried Jokers Chronik 1959-1995. Rudolstadt 1998 (ThüringenBibliothek, Band 5); S. 43-48, S. 47.
5.4 Lyrik
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Für fünfmal Holiday On Ice. The Price Of Freedom ist der Preis Nun endlich wahrgenommner Illusionen … Wir lebten, wo wir jetzt noch wohnen, Und warn das Volk und hielten stand, Bis wir zerbrachen, was uns band.1349
Vielen Texten ist die Ernüchterung angesichts der Entwicklungen zum Teil überdeutlich eingeschrieben. Doch diese Haltung muss nicht zwangsläufig mit ‚ostalgischen‘ Tendenzen verbunden sein. Reiner Kunze (*1933) beschreibt die Perspektiven von Ost und West, ohne die eine gegen die andere Seite auszuspielen. Sein Gedicht die mauer besitzt innerhalb des Bandes ein tag auf dieser erde (1998) einen hohen Stellenwert; es ist Teil des gleichnamigen Unterzyklus’: Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns Wir hatten uns gewöhnt an ihren horizont Und an die windstille In ihrem schatten warfen alle keinen schatten Nun stehen wir entblößt jeder entschuldigung1350
Illusionen gehen also auf beiden Seiten verloren. Schon bei Volker Braun hatte der Fall der Mauer eine plötzliche (Selbst-)Erkenntnis über den Status quo des Ost-West-Verhältnisses ausgelöst. Am Ende seines Gedichts Glasnost (1992) heißt es: […] Als die Mauer fällt Seh ich die Mauern in mir1351 1349 1350 1351
Jürgen Rennert: XV [7. Februar 1990]. In: J.R.: Chopiniade. In: ndl 40 (1992) 1; S. 109-116, S. 116. Reiner Kunze: die mauer. In: R.K.: ein tag auf dieser erde. gedichte. Frankfurt a.M. 1998, S. 60. Volker Braun: Glasnost. In: V.B.: Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender. Halle (S.) 1992; S. 18f., S. 19.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Aus der Perspektive vieler ‚Revolutionäre‘ setzen nun restaurative Tendenzen ein. Sehr deutlich bringt dies der 1958 in Bergen auf Rügen geborene Lyriker Holger Teschke in seiner Elegie nach Vergil (1991) zum Ausdruck: Kaum stürzten die Säulen Kaum hat der Rauch sich verzogen Da ziehn übers Forum salbadernd die neuen Augurn Sehn dem Adlerflug nach überm Fluß Stochern in Därmen Aufsteht aus seinen Trümmern der alte Senat Der Wolf bleibt Bote im Tempel der Juno Moneta Bald fallen die Römer still in ihr herbstliches Schwert1352
Mit dem sich anschließenden, hier schon früh stattfindenen, so genannten ‚Ausverkauf der DDR‘ setzt sich Hans Arnfried Astel (*1933) auseinander: AUSVERKAUF Durch das jungfräuliche Loch in der Mauer reicht mir der blutjunge Grenzer sein Koppelschloß zum Verkauf hin, Hammer & Zirkel, gegen Devisen.1353
Die Westdeutschen erscheinen in der Lyrik ostdeutscher Autorinnen und Autoren häufig negativ und werden kaum mit individuellen Merkmalen ausgestattet. Insofern lässt sich durchaus von einem ‚Typus‘ des Westdeutschen sprechen, der in der Regel für den Kapitalismus in seiner schlimmsten Ausprägung steht. Selten allerdings werden die Westdeutschen so direkt ‚angeklagt‘, wie dies in Michael Wüstefelds Absage (1994) geschieht: […] Die ihr uns beigeholt habt beiläufig aber beizeiten
1352 1353
Holger Teschke: Elegie nach Vergil. In: H.T.: Jasmunder Felder. Windschlucht. New York. Gedichte. Berlin / Weimar 1991, S. 47. Hans Arnfried Astel: Ausverkauf. In: H.A.A.: Wohin der Hase läuft. Epigramme und ein Vortrag. Mit einem Essay von Hubert Fichte. Leipzig [1992], S. 60.
5.4 Lyrik
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räumt ihr beiseite was euch nicht beipflichten will streicht beidhändig aus was nichts beisteuern kann Ihr springt uns bei bis beidäugig ihr unseren Blick beibiegt beiläufig aber beizeiten Die wir euch beigetreten sind ohne Vorsicht euch beisitzen oder beiliegen ohne Nachsicht beigedreht oder klein beigegeben haben mit und ohne Absicht laßt uns beifügen: Vereinigen kann auch teilen sein! […]1354
Schon bald nach der Vereinigung werden Themen aufgegriffen, die durch Ereignisse im Ostteil der Bundesrepublik besondere Brisanz besitzen. Michael Wüstefeld (*1951) weist in seinem Gedicht Wie ich aus Amsterdam nach Dresden zurückgeholt wurde (1992) auf die von Neo-Nazis ausgehende Gefahr hin: […] Eintausend NeoNazis durch Dresden marschiert und die NeoDemokratie hat es erlaubt und der Rechtsstaat weiß schon warum er nicht Linksstaat heißt […] Die Feuer meiner untergegangenen Stadt liegen wie Schatten auf der Haut und Schreie kommen aus den Sirenen durch die ein Lichtstrahl wie ein Christbaum wächst und es ist furchtbar kalt […] Ich stehe vorm Haus der Anne Frank und denke Dieses Mal wird auch ihr Buch verbrannt Wo ist die Geschichte die sich nicht wiederholt Wo ist das Volk das sich selber richtet […].“1355
1354 1355
Michael Wüstefeld: Absage. In: Sinn und Form 46 (1994) 1, S. 108-111. Ders.: Wie ich aus Amsterdam nach Dresden zurückgeholt wurde. In: Sinn und Form 44 (1992) 5, S. 836-838.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Der nach der Vereinigung einsetzende ‚Rechtsruck‘ bzw. der wieder verstärkt aufkeimende Rechtsradikalismus dürfte eine der am häufigsten aufgegriffenen Entwicklungen sein. In Gedichten, die den Charakter einer ‚Bestandsaufnahme‘ nach der Vereinigung haben, fehlt dieser Aspekt so gut wie nie – etwa in Volker Brauns Mein Terrortorium (1991): Heute gehört uns Deutschland nicht mehr / Morgen Kurzarbeit Null in Pumpe, Lauchhammer plattgemacht Skinheads DIE STIMMUNG HAT VOLKSFESTCHARAKTER: Niggerschweine Hoyerswerda, wo liegt das? Finsterste Welt Lessing im Gulli mit eingetretener Stirne Der Lehrer auf dem Marktplatz im reißenden Rudel der Schüler ICH HABE IN VIERZIG JAHREN NICHTS GELEHRT Ich vor meinen Lesern Helm im Gesicht Den Plexiglasschild in Händen Tränengas1356
Stellt man das Gedicht in eine Reihe mit Das Eigentum (vgl. 5.4.7), so lässt sich eine Steigerung des Braunschen Pessimismus erkennen: Aus dem „Eigentum“ ist nicht ein – eher neutrales – ‚Territorium‘, sondern ein „Terrortorium“ geworden. Die Industriestandorte Schwarze Pumpe und Lauchhammer sind de facto zerstört worden, ein Prozess, der in den Worten „Kurzarbeit Null“ und „plattgemacht“ zum Ausdruck gebracht wird. Auf die Darstellung dieser Vorgänge folgt der zunächst paradox erscheinende Satz „DIE STIMMUNG HAT VOLKSFESTCHARAKTER“. Das Volksfest, um das es hier geht, besteht allerdings im Verfolgen von „Niggerschweine[n]“ durch „Skinheads“, im konkreten Fall im sächsischen Hoyerswerda, das innerhalb kürzester Zeit von der hoffnungsfrohen, neu erbauten Stadt zu einem Ort wurde, an dem rechtsextremistische Gewalttaten an der Tagesordnung sind, an dem humanistische Werte, hier verkörpert durch den im Gulli gelandeten Lessing, kaum noch etwas gelten. Gewissermaßen eine Fortsetzung findet das Gedicht in dem Anfang der neunziger Jahre entstandenen Text Die Leute von Hoywoy (2). Hier zitiert Braun Einwohner von Hoyerswerda: „NIGGERSCHWEINE VERPISST EUCH. WIR BRINGEN EUCH UM.“1357 1356 1357
Volker Braun: Mein Terrortorium. In: V.B.: Rot ist Marlboro. In: ndl 39 (1991) 12; S. 5-8, S. 7; Hervorhebungen im Original. Ders.: Die Leute von Hoywoy (2). In: Wochenpost v. 10.10.1991; Hervorhebung im Original. Bereits 1971 hatte Braun einen Text über Die Leute von Hoywoy geschrieben (vgl. V.B.: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate. Leipzig 1975, S. 106f.), daher die in Klammern gesetzte „2“ im Titel. Setzt man die beiden Texte ins Verhältnis zueinander, wird deutlich, welch eine Enttäuschung die oben dargestellten Entwicklungen für Braun bedeuten mussten.
5.4 Lyrik
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Thematisch ähnlich ausgerichtet wie Mein Terrortorium ist Lutz Rathenows (*1952) Gedicht Deutschland; insbesondere auf der sprachlichen Ebene werden dabei historische Kontinuitäten und Vermischungen links- wie rechtsradikaler Gedanken deutlich gemacht: GrüßHeil SiegFront RotGott. Ich liebe Herren, die Hunde beißen. Hammer zerschlug Sichel. Ährenkranz Totentanz. Und nun das D-Mark-Leben. Ich spiele gern. Neuer Staat neues Gedicht – ich zwinge mich zur Zuversicht.1358
Karl Otto Conrady (1993) sieht in „der eigentlich widersinnigen Verschränkung der bekannten Formeln […] irrlichternde Chiffren für die bisweilen absurde Gemengelage deutscher Geschichte und deutschen Geistes […].“1359 Diese Lesart blendet allerdings die aktuelle Komponente des Textes weit gehend aus: Rathenow dürfte mit seinem Gedicht eine deutliche Skepsis hinsichtlich des ‚neuen‘ Deutschland verbinden. In diesem Sinne ist es nicht zuletzt als Warnung vor neuerlichen, unheilvollen Allianzen zu verstehen. 5.4.7
Das ‚Wendegedicht‘ schlechthin: Volker Braun: Das Eigentum (1990) Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle.1360
1358 1359
1360
Lutz Rathenow: Deutschland. In: Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie. Hrsg. von Anna Chiarloni und Helga Pankoke. Berlin / Weimar 1991, S. 112. Karl Otto Conrady: Deutsche Wendezeit. In: K.O.C.: Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989 / 90. Mit einem Essay hrsg. von Karl Otto Conrady. Frankfurt a.M. 1993 (Edition Suhrkamp Leipzig); S. 173-248, S. 236. Volker Braun: Das Eigentum. In: V.B.: Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender. Halle (S.) 1992, S. 84; Hervorhebungen im Original.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Volker Brauns Das Eigentum dürfte das wohl bekannteste Gedicht zum Thema ‚Wende‘ sein; in ästhetischer Hinsicht gehört es zweifellos zu den bedeutenderen Texten dieses Genres. Das Eigentum erschien zuerst in der Wochenendausgabe des Neuen Deutschland v. 4. / 5.8.1990 und wurde dann in der Zeit v. 10.8.1990 nachgedruckt. Seither folgten zahlreiche Neudrucke, vor allem in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. Der Titel wurde dem Gedicht erst später vorangestellt. Brauns Text sorgte für zahlreiche Diskussionen; er „wurde zu einem literarischen und zu einem politischen Ereignis, das sehr viele Zuschriften an den Autor oder an Zeitungen, in denen das Gedicht gedruckt worden war, ausgelöst hat.“1361 Literaturwissenschaftler haben sich in zahlreichen Aufsätzen mit dem Text beschäftigt1362, die zweite Zeile wird häufig in Titeln von Büchern und Aufsätzen wörtlich oder verfremdet zitiert.1363 Politische Gedichte hatte Braun schon immer verfasst; unter den neueren sei stellvertretend sein 1989 geschriebenes Tiananmen1364 über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking genannt. Das Eigentum ist vor allem im Kontext früherer Braun-Texte zu sehen; so bemerkt der Autor in den in der Werkausgabe enthaltenen Anmerkungen: „Das Gedicht antwortet dem alten Text Das Lehen (1980), in dem die Frage war: ‚Wie komm ich durch den Winter der Strukturen.‘“1365 Dieser Titel dürfte an Walther von der Vogelweide („Ich hân mîn lêhen“) angelehnt sein1366: 1361
1362 1363
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1365
1366
Hans-Jochen Marquardt: Mit dem Kopf durch die Wende. Zu Volker Brauns Gedicht Das Eigentum. In: Acta Germanica. Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika 22 (1994); S. 115-130; vgl. dazu auch Dieter Schlenstedt: Ein Gedicht als Provokation. In: ndl 40 (1992) 12; S. 124-132, S. 124f. Vgl. Dieter Schlenstedt: Ein Gedicht als Provokation. In: ndl 40 (1992) 12; S. 124-132, S. 125f. Vgl. etwa „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.“ Über Motive von AutorInnen, in der DDR zu bleiben, und heutige Bedingungen des Schreibens. Eine Dokumentation mit Originalbeiträgen von: Brigitte Burmeister, Uwe Saeger, Jens Sparschuh. Hgg.: Heinrich Böll Stiftung, Wolfgang Gabler, Helmut Lethen. Berlin 1999 sowie Johannes M. Becker: Ein Land geht in den Westen. Die Abwicklung der DDR. Bonn 1991. Volker Braun: Tiananmen. In: DEUTSCH in einem anderen LAND. Die DDR (19491990) in Gedichten. Hrsg. von Rüdiger Mangel, Stefan Schnabel, Peter Straatsmann. Berlin 1990 (Reihe Deutsche Vergangenheit, Stätten der Geschichte Berlins, Band 46); S. 135-137; auch in: V.B.: Der Stoff zum Leben 1-3. Gedichte. Mit einem Nachwort von Hans Mayer. Frankfurt a.M. 1990, S. 90-92. Anmerkungen. In: Volker Braun: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993, S. 59; Hervorhebung im Original. Vgl. Klaus Schuhmann: Landeskunde im Gedicht. Zeitwandel und Zeitwende in der Lyrik Volker Brauns. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. III (1993) 1; S. 134-145, S. 134, 138.
5.4 Lyrik
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Das Lehen Ich bleib im Lande und nähre mich im Osten. Mit meinen Sprüchen, die mich den Kragen kosten In anderer Zeit: noch bin ich auf dem Posten. In Wohnungen, geliehn vom Magistrat Und eß mich satt, wie ihr, an der Silage. Und werde nicht froh in meiner Chefetage Die Bleibe, die ich suche, ist kein Staat. Mit zehn Geboten und mit Eisendraht: Sähe ich Brüder und keine Lemuren. Wie komm ich durch den Winter der Strukturen. Partei mein F ü r s t : sie hat uns alles gegeben Und alles ist noch nicht das Leben. Das Lehen, das ich brauch, wird nicht v e r g e b e n .1367
Brauns Gedicht ist von einer resignativen Haltung bestimmt: Die Hoffnung auf die Realisierbarkeit der sozialistischen Utopie scheint sich in absehbarer Zeit nicht zu erfüllen. Die erste Zeile „Ich bleib im Lande und nähre mich im Osten“ bezieht sich auf den 37. Psalm, wo es heißt: „Hoffe auf den Herrn und tu Gutes, / bleibe im Lande und nähre dich redlich“. Im Osten bleibt das lyrische Ich durchaus, doch es muss feststellen, dass das von ihm benötigte Lehen „nicht vergeben“ wird. „Lehen“ dürfte sich dabei unmittelbar auf „Bleibe“ in Zeile 7 beziehen. Damit ist nicht nur ein konkreter Ort gemeint, etwa im Sinne von Wohnung, sondern ein Raum auch im geistigen Verständnis: Braun geht es nicht um den Staat, der Wohnungen zur Verfügung stellt (vgl. Zeile 4) und dafür sorgt, dass rein quantitativ genügend Nahrung vorhanden ist (vgl. Zeile 5), sondern um einen in jeglicher Hinsicht bewohnbaren Ort. An die Stelle des „Herrn“ im 37. Psalm ist der „Staat“ bzw. die „Partei“ getreten, die zudem als „Fürst“ bezeichnet wird. Das sich anschließende, kursiv gesetzte Zitat bezieht sich auf Louis Fürnbergs (1909-1957) Gedicht Die Partei (1950).1368 Das Ich schränkt dessen Aussage allerdings ein: „alles ist noch nicht das Leben.“ In diesem Sinne ist der Blick in die Zukunft ein pessimistischer. Das Lehen ist in dem Band Langsamer knirschender Morgen (1987) enthalten, genauer im zweiten Teil des Zyklus’ Der Stoff zum Leben. Diesem ist ein Hölderlin-Zitat aus Der Gang aufs Land vorangestellt: „Schöner
1367 1368
Volker Braun: Das Lehen. In: V.B.: Langsamer knirschender Morgen. Gedichte. Halle (S.) / Leipzig 1987, S. 46; Hervorhebungen im Original. Louis Fürnberg: Die Partei. In: L.F.: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2. Gedichte 1946-1957. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Zusammenstellung und Redaktion: Lotte Fürnberg und Gerhard Wolf. Berlin (DDR) / Weimar 1965, S. 218-220.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
freilich muß es werden“.1369 Mit Hölderlin ist der auch für Das Eigentum entscheidende Bezugsautor genannt: Das Gedicht kann als Kontrafaktur bezeichnet werden, denn Braun bezieht sich auf Hölderlins Ode Mein Eigentum1370 vom Herbst 17991371 – ein Gedicht, auf das er bereits 1971 in An Friedrich Hölderlin1372 Bezug genommen hatte. Von Hölderlins Gedicht seien lediglich die hier relevanten Schlussverse zitiert: Ihr segnet gütig über den Sterblichen Ihr Himmelskräfte! jedem sein Eigentum, O segnet meines auch und daß zu Frühe die Parze den Traum nicht ende.1373
Braun bezieht sich also einerseits auf Hölderlin, andererseits auf frühere Texte seiner selbst. Das Eigentum steht damit in einem Netz intertextueller Beziehungen, aber auch außertextlicher Zusammenhänge, die für die Deutung wichtig sind. Das Eigentum kann als Abschied von Illusionen gelesen werden – eine Haltung, die durch den elegischen Ton untermauert wird: Das lyrische Ich zieht Bilanz, macht sich seinen Standort klar. Die erste Zeile bezieht sich unmittelbar auf die erste Zeile von Das Lehen: Nach wie vor befindet das lyrische Ich sich im Osten. Als Individuum ist es „noch“ vorhanden, während die DDR im Verschwinden begriffen ist, denn, konkret auf die historische Situation bezogen, gehen viele Ostdeutsche in den Westen. Man hat sich dem Westen angeschlossen – eine Folge davon ist, dass der Westen Einfluss auf den Osten nimmt. Die Bilanz dieser Vorgänge gibt zu Verbitterung Anlass: Der Kapitalismus hat gesiegt, nun hat er das „Eigentum“ des Ichs „auf der Kralle“. Bestärkt wird diese Aussage durch die auffällige Typographie der zweiten Zeile: „KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN“. Diese Umkehrung des bekannten Büchner- bzw. Chamfort-Zitats (vgl. dazu auch 6.4.1) führt deutlich vor Augen, was nach der ‚Wende‘ in den östlichen Ländern geschieht: Die ‚Paläste‘ und 1369 1370
1371
1372 1373
Ders.: Der Stoff zum Leben 2. In: V.B.: Langsamer knirschender Morgen. Gedichte. Halle (S.) / Leipzig 1987, S. 31; im Original kursiv. Friedrich Hölderlin: Mein Eigentum. In: F.H. Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände. Hrsg. von Jochen Schmidt. Band I. Gedichte. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 80); S. 222-224, S. 224. Die Ode sollte zunächst Herbsttag, dann Am Herbsttag heißen und ist im Kern mit Palinodie identisch (vgl. Wolfgang Emmerich: solidare – solitaire. Volker Braun: Drei Gedichte. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 195-205, S. 202). Volker Braun: An Friedrich Hölderlin. In: V.B.: Gegen die symmetrische Welt. Gedichte. Halle (S.) 1974, S. 18. Friedrich Hölderlin: Mein Eigentum. In: F.H. Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände. Hrsg. von Jochen Schmidt. Band I. Gedichte. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 80); S. 222-224, S. 224.
5.4 Lyrik
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deren Bewohner bleiben ungeschoren, im Gegensatz zu den ‚Hütten‘. Weniger die ehemaligen Machthaber haben die Konsequenzen des Beitritts in ein kapitalistisches Wirtschaftssystem zu tragen, eher die Arbeiter. Der im Büchnerschen Prätext ausgedrückte revolutionäre Gedanke wird also umgekehrt – mit der Folge, dass das lyrische Ich kaum mehr Gehör finden kann. Diese Haltung findet ihre Bestätigung in Zeile 7: „Und unverständlich wird mein ganzer Text“. Mit dem Kapitalismus haben zugleich die materiellen Werte gesiegt, ausgedrückt unter anderem in den Worten „Sommer der Begierde“. Die „Begierde“ meint dabei nicht nur westdeutsche Begehrlichkeiten im Osten, sondern hier auch und vor allem den umgekehrten Weg: Die Ostdeutschen frönen erst einmal dem Konsum. Form und Inhalt des Textes stehen dabei in Kontrast zueinander, wie Wolfgang Emmerich (1993) erklärt: Der erste Teil von Brauns Gedicht, dessen wohlgesetzte, geradezu klassische Form in einem merkwürdigen Kontrast zum bitteren Inhalt steht, zieht eine ernüchterte Bilanz dessen, was auf den Zusammenbruch der DDR folgte: aus des Autors Sicht ein Sieg des Konsumkapitalismus auf der ganzen Linie, und nichts als das.1374
Doch es geht um weit mehr: Durch den Einzug des Kapitalismus ist das lyrische Ich heimatlos geworden, es findet keinen Raum mehr, „kann bleiben, wo der Pfeffer wächst“ (Zeile 6). Volker Braun erklärte zu dieser Zeile: „‚Die toten Seelen des Realsozialismus sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst‘ schrieb Ulrich Greiner in der ZEIT vom 22. Juni 1990.“1375 Er bezieht sich damit also unmittelbar auf Greiners Aufforderung und ordnet sich damit der Gruppe der „toten Seelen des Realsozialismus“ zu. Die bereits oben angesprochene Zeile „Und unverständlich wird mein ganzer Text“ verweist zunächst einmal auf das Gedicht selbst, sodann aber auch auf das gesamte schriftstellerische Werk des Ichs, das zumindest in Brauns Nähe angesiedelt ist. Das Wort „Text“, so Emmerichs Lesart, „meint offensichtlich zweierlei: die eigenen, selbstverfaßten Texte aus Worten, deren Gewißheiten und Hoffnungen großenteils fragwürdig geworden, und den Lebenstext, die Identität, wie sie sich über vier Jahrzehnte DDR hergestellt hat.“1376 Erst an dieser Stelle wird im Übrigen deutlich, dass es sich bei 1374
1375
1376
Wolfgang Emmerich: solidare – solitaire. Volker Braun: Drei Gedichte. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 195-205, S. 203. Vgl. Anmerkungen. In: Volker Braun: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993, S. 59; Hervorhebung im Original. Wolfgang Emmerich: solidare – solitaire. Volker Braun: Drei Gedichte. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 195-205, S. 203.
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dem lyrischen Ich um einen Dichter handelt – ein weiteres Faktum, das die Identifikation mit Braun nahe legt. Der Abschied des Ichs vom Sozialismus ist jedoch kein vollständiger, sondern lediglich ein Abschied vom real existierenden Sozialismus. Die Utopie bleibt dagegen unbeschädigt, ein Vorgang, der sich in den zunächst paradox erscheinenden Sätzen ausdrückt, die den Kern des Gedichts darstellen: „Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen“ (Zeile 8 / 9). An dieser Stelle wird zugleich deutlich, wie eng „Lehen“ und „Eigentum“ im Braunschen Kontext miteinander verwandt sind: Beide stehen sowohl für einen konkreten, als auch für einen utopischen Raum.1377 Aus Hoffnung, die Utopie werde doch noch realisiert werden können, blieb das Ich dem Staat treu. Genau diese Haltung, die repräsentativ für das Verhalten vieler Intellektueller ist, drückt Braun in der Zeile „Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle“ (10) aus. Von ‚Utopieverlust‘ im engeren Sinne kann also nicht die Rede sein, zumal gerade die letzte Zeile Raum für ein Festhalten an der Utopie gibt: „Wann sag ich wieder mein und meine alle“ endet nicht mit einem Fragezeichen, sondern lediglich mit einem Punkt. Volker Brauns Gedicht dürfte für zahlreiche Leserinnen und Leser eine geeignete Identifikationsbasis abgegeben haben; so bemerkt Dieter Schlenstedt (1992), dass viele das Gedicht „auch als Lebenshilfe nahmen – als Formulierung eines von ihnen undeutlich Gefühlten, als Bekundung, die ihnen das Wissen gab, mit ihren Sorgen nicht allein zu sein.“1378 Brauns Text hatte also eine ungewöhnlich hohe Breitenwirkung. Doch nicht nur Bürgerinnen und Bürger, sondern auch mehrere Schriftstellerinnen und Schriftsteller äußerten sich: Eine bemerkenswerte Reaktion stammt von Christa Wolf, die in Rückäußerung (1993)1379 Position zu dem Gedicht bezieht. Die Autorin bringt darin eine wesentlich selbstkritischere Position als Braun zum Ausdruck.1380 Auf Dirk von Petersdorffs literarische Verarbeitung von Teilen des Textes wurde bereits hingewiesen; Günter Kunert 1377
1378 1379 1380
So findet sich in Die Leute von Hoywoy (1991) später auch der Satz: „Sie hatten sich eingerichtet in ihrem billigen Eigentum.“ (V.B.: Die Leute von Hoywoy (2). In: Wochenpost v. 10.10.1991; Hervorhebung im Original). „Eigentum“ steht hier sowohl für die Gesellschaft im real existierenden Sozialismus als auch für den konkreten Wohnraum und ein Sich-Abgefunden-Haben mit den Gegebenheiten. Dieter Schlenstedt: Ein Gedicht als Provokation: In: ndl 40 (1992) 12; S. 124-132, S. 127. Vgl. Christa Wolf: Rückäußerung. Auf den Brief eines Freundes. In: C.W.: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. Köln 1994, S. 266-279. Vgl. dazu Barbara Sørensen: 3.8. Utopieverlust in Rückäußerung vom 26.3.1993. In: B.S.: Sprachkrise und Utopie in Christa Wolfs Texten nach der Wende. Die Krise der Intellektuellen im wiedervereinigten Deutschland. Kopenhagen / München 1996 (Publications of the Department of Languages and Intercultural Studies, Aalborg University, Vol. 16 / Text & Kontext, Sonderreihe, Band 38), S. 103-109.
5.4 Lyrik
463
reagierte auf Das Eigentum, aber auch auf andere Texte des Autors, mit dem Gedicht An einen ostalgischen Dichter: Hinter der Mauer flossen die Worte eklektisch: Komm mir nicht mit Vorgefertigtem. Expropriateur großer Gesten. Jedes besitzanzeigende Fürwort bezeugt den Besitz mittels Versalien. Zwischen MEIN und DEIN und allgemein hat DEINE Partei die Unterschiede geschleift. Der Restbestand: Das Kollektiv. Die Massen. Das Proletariat. Die Neuen Menschen Hintz und Kuntz. Erstickt, Genosse, ist DEINE Stimme an einer längst verrotteten Sprache. Gedenke Majakowskis in der Gummizelle der Utopie. Das gekränkte Ich rebelliert gegen seine Niederlage als „Sieger der Geschichte“.1381
Erstaunlich an Kunerts Reaktion ist der scharfe Angriffston Braun gegenüber: So spricht er von „DEINE Partei“ – eine allzu einfache polemische Zuschreibung, die Braun wohl kaum gerecht wird. 5.4.8 Kuriose ‚Lyrik‘ – Erich Honecker: Tiefe Eindrücke (1993) Abschließend erwähnt sei ein Kuriosum: der 1993 unter dem Titel Tiefe Eindrücke und andere Gedichte erschienene Band mit ‚Lyrik‘ aus der Feder Erich Honeckers. Im Nachwort zu diesen in der Reihe „Vergessene Autoren der Moderne“ veröffentlichten Texten bemerkt Hans Wald: Auf welchem Weg die vorstehend abgedruckten Texte an mich gelangt sind, dazu wird noch das eine oder andere zu recherchieren sein. Genug – sie liegen vor und dokumentieren, daß sich der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR (etc.) Erich Honecker zu allen möglichen Anlässen nicht nur in Ansprachen, Broschüren und Zeitungsartikeln, sondern auch in Gedichten geäußert hat, wohl im Bewußtsein, daß Staatsakte und ‚Neues Deutschland‘ als publizistische Medien bereits vor dem Fall der Mauer ihre Grenzen hatten und eben des Verses bedurften, wollte er seine Botschaft über die nächsten Jahre ins nächste Jahrhundert und Jahrtausend brin1381
Günter Kunert: An einen ostalgischen Dichter. In: G.K.: NachtVorstellung. Gedichte. München / Wien 1999, S. 18; Hervorhebungen im Original.
464
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
gen. An der Autorschaft Honeckers besteht kein Zweifel, finden sich doch – nach politischem Programm, Ideologie, Mentalität, Formulierungsdetails, Sprachformeln und auch gelegentlicher unfreiwilliger Komik – zahlreiche Übereinstimmungen mit seiner 1980 veröffentlichten Biographie und jenen gedruckten Verlautbarungen, die in den bislang vorliegenden Bänden seiner ‚Reden und Aufsätze‘ ihren Niederschlag gefunden haben.1382
Hier zwei Beispiele, an denen deutlich wird, dass es sich bei den ‚Gedichten‘ letztlich im Wesentlichen um Parodien von Ausschnitten aus offiziellen Reden und Ansprachen bzw. des Honeckerschen Sprachstils überhaupt handelt: Bezüglich meiner Biographie Für Margot Mir vors lesende Auge rufend, was war und wie es war, blätternd in meiner Biographie, stelle ich fest, daß ich noch heute zu jedem Satz stehe und stehen darf, den ich damals schrieb, angefangen von der Frage, ob es zu begrüßen oder zu beklagen sei, daß die Geburt eines Menschen seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung sich entziehe, bis hin zu dem Hinweis auf die Lebensgeschichte Friedrichs des Großen von Ingrid Mittenzwei, die ich sehr schätzte und schätze – auch heute noch. Du kommst darin vor auf den Seiten 165 und 180 als Margot Feist, dann als Volksbildungsministerin auf der Seite 238 und gleich drei Mal im Foto: auf Seite 352 bei der Stimmabgabe in Berlin anläßlich der Kommunalwahlen vom 20. Mai 1979, auf Seite 441 beim Deutschlandtreffen in Berlin am 31. Mai 1950, an meiner Seite dem Genossen Pieck visavis, strahlend, als blicktest Du der Partei selbst ins Antlitz, und schließlich auf Seite 459 bei einem Spaziergang mit Sonja und unserem Enkel Roberto. Von Goethe ist vier Mal, von Schiller drei Mal die Rede, nicht aber vom Biermann, Wolf, den wir des Landes verwiesen – statt seiner findet Erwähnung unser alter Kampfgefährte als Mitglied des Zentralkomitees unserer Partei, seligen Erinnerns, Generaldirektor des Kombinats ‚Carl Zeiss Jena‘, Wolfgang Biermann – schlag nach auf Seite 272.1383
1382
1383
Hans Wald: Nachwort: zu dieser Ausgabe. In: Erich Honecker: Tiefe Eindrücke und andere Gedichte. Hrsg. von Hans Wald. Siegen 1993 (Vergessene Autoren der Moderne, Sonderheft), ohne Seitenangabe. Erich Honecker: Bezüglich meiner Biographie. In: Ebd., ohne Seitenangabe.
5.4 Lyrik
465
Mein Testament Für Margot, ein anderes Was sie den ‚Fall der Mauer‘ nennen, in Wirklichkeit der Niederschleif des antifaschistischen Schutzwalls, den wir um unsere Sozialistische Republik gezogen hatten, ist allem Anschein nach ein Sieg jener gewissen Kreise in der BRD denen es nun endlich – trotz alledem und alledem – gelungen ist, die souveränen Rechte der DDR zu mißachten und mit den Füßen zu treten, wie man auf Fotos sehen kann. Gehe ich, wie ich es immer getan habe, zu meiner Orientierung von den Realitäten aus, stelle ich fest: die letzten Wochen und Monate gehören nicht zu den unvergeßlichen Tagen in meinem Leben. Auf die lange Zeit in der Botschaft unserer chilenischen Freunde in Moskau, das ich, gemeinsam mit Dir, Margot, mit anderen Augen sah in früherer Zeit, folgen nun die langen Tage in Moabit, getrennt von Dir, Margot, mit kargem Ausblick auf unser Berlin, wo wir, gestützt auf das feste, unerschütterliche Vertrauensverhältnis zwischen Partei, Staat und Volk, das Banner des Sozialismus entfalteten, mit begründetem Selbstvertrauen und voller Optimismus, Fortschritte erzielten auf allen Gebieten des Lebens, gestaltend und weiterentwickelnd die sozialistische Gesellschaft in unserem Lande, Margot, erst jetzt, erst jetzt fällt es mir auf: Du reimst Dich auf FD-Jott! Meine persönliche Kraft geht dahin. Doch auf die Energie, mit der wir unsere Republik, die Freie deutsche Jugend gründeten, als deren jüngste Abgeordnete Du Wilhelm Pieck zur Wahl in das hohe Amt des Staatspräsidenten gratuliertest unter stürmischem Beifall, seinerzeit, dürfen wir stolz und voller Genugtuung zurückblicken. Wie immer man mich erniedrigt: hoch erhobenen Hauptes werde ich dieses Gefängnis verlassen und mit geballter Faust, ja, mit trotzig geballter Faust die Welt noch einmal grüßen: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“!1384
Die zitierten ‚Gedichte‘ sind im weitesten Sinne der (Real-)Satire zuzurechnen. Die Texte sind zumindest teilweise authentisch und für sich genommen keineswegs komisch. Erst durch den Kontext, in dem sie erscheinen, und durch die Form des Abdrucks, wird die humoristische Wirkung erreicht.
1384
Ders.: Mein Testament. In: Ebd., ohne Seitenangabe.
466
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
5.5
Dramatik Da bin ich Liebling [sic]. Hätte nie Gedacht, im Traum nicht, daß der Dreck Die ganze Mauer einmal weg. Und über Nacht all die Schikanen. Wer faßts? Ich nicht. Nicht einmal ahnen Hätt niemand nicht dies alles können Oder den Zeitpunkt gar benennen. Es war an nem Novembertag. Beginnen so nicht Märchen, sag?1385 (Manfred Karge: MauerStücke, 1990)
Die DDR galt nicht nur als „Lese-“, sondern auch als Theaterland. In der ‚Wende‘-Saison 1989 / 90 brachen jedoch die Besucherzahlen um mehr als 50% ein.1386 Auch im Bereich der Freizeitgestaltung fand also ein Paradigmenwechsel statt: Nicht zuletzt persönliche Probleme belasteten viele Menschen derart, dass sie weder Zeit noch Lust hatten, ins Theater zu gehen. In der Folgezeit wirkte sich vor allem der Wegfall kultureller Aktivitäten von Betrieben und die damit verbundene Streichung fester Abonnements für gemeinsame Theaterbesuche negativ auf die Besucherzahlen aus. Spätestens nach Einführung der DM zum 1. Juli 1990 wurden auch finanziell andere Prioritäten gesetzt, es stand kein Geld mehr für die rasch im Preis steigenden Theaterkarten zur Verfügung. Möglicherweise sah man aber auch keine Identifikationsmöglichkeit mehr mit den Figuren auf der Bühne; Presse, Fernsehen und Radio gewannen in dieser Hinsicht ein breiteres Publikum hinzu, das den Theatern entzogen wurde.1387 Dabei spielten die Theater in der Zeit der ‚Wende‘ durchaus eine Rolle, zumindest als Foren der Artikulation von Protest: Vor und nach
1385 1386 1387
Manfred Karge: MauerStücke. Schauspielhaus Bochum [Bochum 1990] (Programmbuch Nr. 52, Spielzeit 1990 / 91), S. 31f. Vgl. Jean-Claude François: Le théâtre en RDA, un an après. In: Allemagne d’aujourd’hui. Nouvelle Série No. 114 Oct.-Déc. 1990; S. 199-209, S. 199. Vgl. Ebd.; zur Rolle der Medien vgl. So durften wir glauben zu kämpfen. Erfahrungen mit DDR-Medien. Hrsg. von Edith Spielhagen. Berlin 1993; darin insbesondere: Nachdenken über Jugendradio und Wende. Ein Gespräch zwischen Horst Buerschaper, Carsten Möbius und Harald Müller (S. 129-145); Wolfgang Meyer: DDR-Medien im demokratischen Aufbruch (S. 147-155); Otto Köhler: Der Osten wird stumm. Die Demontage der Rundfunklandschaft in den neuen Ländern. Noch ein „Abwicklungs“-Trauerspiel: Funk und Fernsehen in der DDR (S. 177-182); Hermann Meyn: Das Geschäft mit der Freiheit. Journalismus vor und nach der Wende (S. 183-190); Hans J. Kleinsteuber: Die ignorierte Wende? Entwicklungen in der DDR und die bundesdeutsche Kommunikationswissenschaft (S. 207-219).
5.5 Dramatik
467
den Aufführungen kam es häufig zu spontanen Diskussionen. Außerdem gehen zahlreiche Briefe, Resolutionen und weitere schriftliche Formen des Protests auf die Initiative von Theaterleuten zurück.1388 Im Oktober 1989 wurde im Dresdner Staatsschauspiel nach jeder Vorstellung eine Erklärung verlesen1389, am 6. Oktober 1989 veröffentlichte das Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater eine Erklärung, die von 48 Mitarbeitern unterzeichnet wurde1390, einen Tag später folgte ein Aufruf im 41. Jahr der Deutschen Demokratischen Republik, initiiert von der Sprechergruppe junger Theaterschaffender im Verband der Theaterschaffenden der DDR.1391 In diesen Erklärungen und Aufrufen wandte man sich bald nicht mehr nur gegen das DDR-Regime, sondern distanzierte sich zum Teil scharf von westdeutschen Ein- bzw. Übergriffen. So richteten sich die Vertrauensleute des Deutschen Theaters in einem Offenen Brief gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl: Wir haben nichts dagegen, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, für freie Wahlen auf die Straße gehen, aber wir wollen Sie nicht unter den Trittbrettfahrern unserer Reformbewegung sehen. Davon haben wir im eigenen Land genug. Was sollen das außerdem für freie Wahlen sein, die mit dem Geld der Bundesrepublik erkauft werden? Die Menschen hier sind durchaus in der Lage, freie Wahlen ohne Druck aus dem Westen einzufordern.1392
Nach der ‚Wende‘, spätestens nach der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, standen viele Häuser vor dem ‚Aus‘. Als schwierig erwies sich die ‚Rettung‘ selbst so renommierter Theater wie des Berliner Ensembles am Schiffbauerdamm.1393 Einmal abgesehen von den großen Häusern in den Metropolen Berlin, Leipzig und Dresden, die nach wie vor nicht frei von Existenzproblemen sind, liegt die (Überlebens-)Chance vieler kleinerer
1388 1389
1390 1391 1392 1393
Vgl. dazu Wir treten aus unseren Rollen heraus. Dokumente des Aufbruchs Herbst ’89. Zusammengestellt von Angela Kuberski. [o.O.] 1990 (Theaterarbeit in der DDR 19). „Wir treten aus unseren Rollen heraus“. Erklärung des Staatsschauspiels Dresden von Anfang Oktober 1989. In: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990, S. 54f. Erklärung der Mitarbeiter des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau vom 6. Oktober 1989. In: Ebd., S. 67f. Aufruf der Sprechergruppe junger Theaterschaffender vom 7. Oktober 1989. In: Ebd., S. 119f. Offener Brief der Vertrauensleute des „Deutschen Theaters“ an den Bundeskanzler Helmut Kohl. In: Ebd., S. 242. 1991 wurde deshalb ein Fünfer- bzw. Sechserdirektorium eingesetzt: Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, zeitweilig Eva Mattes, Heiner Müller, Peter Palitzsch und Peter Zadek kümmerten sich teilweise bis 1995 um die Führung des Hauses.
468
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Bühnen vor allem in der Aufteilung von Kompetenzen1394: Kleinere Theater wurden zusammengelegt, vor allem um Personalkosten zu sparen; ein Ensemble spielt nun an verschiedenen Stätten. Eine optimale Lösung stellt dieses häufig praktizierte Modell sicher nicht dar. Laut Statistik des Deutschen Bühnenvereins (2000) wurde in Gesamtdeutschland im Zeitraum von 1991 / 92 bis 1998 / 99 die Zahl der Arbeitsplätze an Theatern von 45 076 auf 39 932 reduziert, davon in Ostdeutschland von 16 206 auf 14 285. Auf Gesamtdeutschland bezogen bedeutet dies eine Schrumpfung um 11,4%, nur auf Ostdeutschland bezogen um 11,9%.1395 Das „Organ des Verbands der Theaterschaffenden der DDR“, Theater der Zeit, konnte erhalten werden, allerdings nicht beim Henschel Verlag, der die Publikation im März 1992 einstellte. Seit Mai 1993 erscheint sie wieder: in einem kleinen westdeutschen Verlag als „Zeitschrift für Politik und Theater“. Sie versteht sich nun als gesamtdeutsches Blatt, das Theatern in Ost wie West gleichermaßen seine Aufmerksamkeit widmet. Per Øhrgaard (1990) vergleicht die Situation der Theater in der DDR nach der ‚Wende‘ mit der Situation der Theater in den drei westlichen Besatzungszonen nach der Währungsreform 1948, denn „[a]uch sie schuf neue Freiheit – des Konsums – und auch ihr fiel viel ‚kulturelles Leben‘ zum Opfer.“1396 Øhrgaard bezieht sich dabei auf eine Darstellung von Hermann Glaser (1985), der erläutert: Die Währungsreform 1948 bedeutete für das Theaterleben einen tiefen Einschnitt. […] Allein in Bayern wurden 300 Theater, Orchester und verwandte Betriebe stillgelegt. […] In Bayern hatte der Finanzminister erklärt, das Staatsschauspiel sei unnötig. Die Münchner Presse sprach von einer bevorstehenden „Kultur-Demontage“. […] Überall erfolgte eine drastische Reduzierung der Theaterzuschüsse. […]1397
Die Folge dieses Vorgehens war, laut Glaser, dass die „Kultur“ zum „Ladenhüter“ wurde, denn 1394
1395
1396
1397
Vgl. dazu auch Michael Laages: Frau Jedermann will paradiesische Zustände. Das Beispiel Jena: Kleine flexible Häuser jenseits des Stadttheaterbetriebs glänzen mit Originalität und Zuspruch. In: Die Welt v. 8.8.2001. Vgl. Claus Ambrosius: Der totale Kahlschlag blieb aus. 4. Teil unserer Einheits-Bilanz – Bühnenverein: Ost-Kultur konsolidiert sich auf sinkendem West-Niveau. In: RheinZeitung v. 28.9.2000. Per Øhrgaard: Zwei deutsche Literaturen – gerade jetzt? In: Deutsch – Eine Sprache? Wie viele Kulturen? Vorträge des Symposions abgehalten am 12. und 13. November 1990 an der Universität Kopenhagen. Hrsg. von Bjørn Ekmann, Hubert Hauser, Peter Porsch und Wolf Wucherpfennig. Kopenhagen / München 1991 (Kopenhagener Kolloquien zur deutschen Literatur, hrsg. von Klaus Bohnen und Bjørn Ekmann, Band 15 / Text & Kontext Sonderreihe, Band 30); S. 35-55, S. 49. Hermann Glaser: Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Band 1. Zwischen Kapitulation und Währungsreform. 1945-1948. München / Wien 1985, S. 262f.
5.5 Dramatik
469
[d]ie konkrete Ästhetik des neuen Warenangebots faszinierte viel mehr als die Produkte der Kunst. Da man nun im Unterbau die Sehnsüchte nach einem schöneren, besseren, glücklicheren Leben zu befriedigen vermochte, konnte man der Sublimierung und der Projektion auf den Überbau entraten. […] Die Theater sahen ihre Eintrittskarten, vor kurzem noch Tauschware, schimmeln […]. Bei Zeitungen und Zeitschriften wurden die Abonnements gekündigt. Das große Zeitschriftensterben setzte kurz darauf ein. […] Es zeigte sich, daß vieles von dem, was man in der Trümmerzeit als große geistige Wandlung und Besinnung, als moralischen Aufbau begriffen hatte, doch nur eine Kompensationserscheinung zum versagten Materialismus gewesen war.1398
Aus der Zeit der ‚Wende‘ bzw. über die ‚Wende‘ gibt es nur wenige herausragende Theaterstücke.1399 Das erstaunt um so mehr, wenn man sich die hohe Qualität zahlreicher in der DDR entstandener Dramen vor Augen führt – man denke an Werke von Heiner Müller1400 oder Peter Hacks. Von Hacks stammen zwar einige Dramen, die Anspielungen auf die Ereignisse um ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ enthalten1401, diese sind jedoch von untergeordneter Bedeutung. Der Dramatiker Lothar Trolle meinte 1993, „daß wir erst in zehn Jahren darüber schreiben können, was die DDR war“.1402 Einen Überblick über Theaterstücke aus den späten siebziger und achtziger Jahren, in denen schon vor der ‚Wende‘ Missstände in der DDR aufgegriffen und dargestellt werden, gibt Harald Müller in der Anthologie DDR-Theater des Umbruchs (1990).1403 Enthalten sind die Stücke Die Festung (1986) von Werner Buhss (*1949), Das Fest (1977) von Klaus 1398 1399 1400 1401
1402
1403
Ebd., S. 330-332. Vgl. auch Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 509. Müller, von dem man vielleicht am ehesten ein spielbares ‚Wendestück‘ erwartet hatte, verlegte den Schwerpunkt seiner Tätigkeit vom Schreiben aufs Inszenieren. Zu nennen sind in erster Linie Der Geldgott, eine „Komödie in drei Akten nach Aristophanes“ (In: Peter Hacks: Die späten Stücke I. Fafner, die Bisam-Maus. Der Geldgott. Der Maler des Königs. Die Höflichkeit des Genies. Genovefa. Hamburg 1998, S. 53102), Fafner, die Bisam-Maus, ein „Lustspiel in drei Akten“, in dem es auf historischer Ebene um Eigentumsverhältnisse geht (In: Ebd., S. 5-51), sowie das „Schauspiel in fünf Akten“ Genovefa, das „im Hunsrückgebirge zur Herrschaftszeit Karls des Kahlen und Karls des Dicken“ spielt und diverse Anspielungen auf den damaligen Bundeskanzler Kohl enthält (In: Ebd., S. 175-232). Lothar Trolle in einem Arbeitsgespräch mit Axel Schalk am 12.1.1993 in Berlin-Pankow; zit. nach: Axel Schalk: Coitus germaniae interruptus. Die deutsche Wiedervereinigung im Spiegel von Prosa und Dramatik. In: WB 39 (1993) 4; S. 552-566, S. 559. Harald Müller (Hg.): DDR-Theater des Umbruchs. Werner Buhss, Klaus Rohleder, Georg Seidel, Gruppe Zinnober, Lothar Trolle, Jo Fabian, Bert Koß, Jörg Michael Koerbl. Frankfurt a.M. 1990.
470
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Rohleder (*1935), Jochen Schanotta (1985) von Georg Seidel (*1945), traumhaft der „gruppe zinnober“1404, 34 Sätze über eine Frau (1985) von Lothar Trolle (*1944), Die Idioten (1988) von Jo Fabian (*1960), Alle Bühnenknechte von Bert Koß (*1957) sowie Gorbatschow (1989), ein Fragment von Jörg Michael Koerbl (*1950). Müller beschreibt seine Anthologie als Versuch, im Moment des Absterbens des DDR-Staates eine Auswahl der Texte vorzustellen, die als Meinungskatheder, Gefühlshaushalt und Phantasiefabrik bereits frühzeitig politischen Dissens, sozialen Niedergang und moralischen Verfall markierten und deshalb (folgerichtig) vom Theater des „realen Sozialismus“ nicht angenommen wurden / werden durften.1405
Die genannten Stücke können als Ausdruck einer Erneuerung des DDRTheaters ‚von innen‘ gelesen werden – Müller spricht von einer „Neuerungsbewegung innerhalb der Gattung Dramatik selbst“1406 –, in formaler und stilistischer Hinsicht sind sie relativ weit von den Dramen kanonisierter DDR-Autoren wie Hacks, Müller und Braun entfernt. Der Herausgeber liest die Texte „als gültige Vorahnungen den Tatsachen gegenüber, denen wir heute – überrascht, mißtrauisch, erleichtert, entsetzt – ins Gesicht zu sehen haben.“1407 Diese Aussage ist zweifellos richtig, der von Müller suggerierte Umkehrschluss, Stücke der eben genannten Autoren ließen sich nicht auch als „Vorahnungen“ lesen, dagegen nicht: Sowohl Hacks als auch Heiner Müller und Braun haben systemkritische Dramen geschrieben – wenn sie auch das System selbst nicht grundsätzlich in Frage stellten. Eines der ersten Theaterstücke, in denen die ‚Wende‘ zentrale Bedeutung erlangt, ist Reiner Lückers (*1940) und Volker Ludwigs (*1937) Auf der Mauer auf der Lauer, das am 27. April 1990 im West-Berliner Grips-Theater unter der Regie von Manuel Schöbel uraufgeführt wurde. Das Stück entstand im Auftrag des Grips-Theaters, richtet sich dementsprechend zunächst einmal an Schülerinnen und Schüler und verfolgt nicht zuletzt didaktische Absichten. So bestand nach den Vormittagsvorstellungen auch die Möglichkeit zu Publikumsgesprächen. Die Handlung setzt 1988 ein: Während ihr Vater nach West-Berlin geflüchtet ist, lebt Sandra, die zwölfjährige Protagonistin des Stückes, mit ihrer Mutter im Ostteil der 1404
1405
1406 1407
Werner Henrich (*1944), Hans Krüger (*1948), Günther Lindner (*1948), Gabriele Hänel (*1952), Uta Schulz (*1954), Iduna Hegen (*1955), Steffen Reck (*1956) und Dieter Kraft (*1950). Harald Müller: Nachwort. In: H.M. (Hg.): DDR-Theater des Umbruchs. Werner Buhss, Klaus Rohleder, Georg Seidel, Gruppe Zinnober, Lothar Trolle, Jo Fabian, Bert Koß, Jörg Michael Koerbl. Frankfurt a.M. 1990; S. 276f., S. 276. Ebd., S. 277. Ebd.
5.5 Dramatik
471
Stadt. Im Sommer 1989 fliehen die beiden – gegen Sandras Willen – über Prag in den Westen, müssen jedoch feststellen, dass der Vater sich in der Zwischenzeit eine „West-Familie“ zugelegt hat. Als am 9. November die Mauer fällt, kehrt Sandra wieder zurück in den Osten, ist aber bereits durch ihre teilweise ernüchternden Westerfahrungen so weit beeinflusst, dass sie sich weder auf der einen noch auf der anderen Seite heimisch fühlen kann und in eine schwere Identitätskrise gerät. Diesen Zustand bringt sie in dem Song Mein Herz schlägt nach zwei Seiten zum Ausdruck: Ich träume, seit ich drüben bin Ich wäre zurück in Ost-Berlin Jetzt bin ich da, der Traum ist hin – und möchte nur noch fliehn Ich spinne nicht vom großen Glück Ich möchte nur nach Haus zurück Ich such und such und komm nicht hin Zu Hause ist, wo ich nicht bin Zu Hause ist, wo ich nicht bin Mein Herz schlägt nach zwei Seiten find’t keine Ruhe mehr Es kann sich nicht entscheiden Schlägt immer hin und her […]1408
Das Stück endet in der ersten Fassung Sylvester 1989 am Brandenburger Tor. 1997 enstand für die Berliner Festwochen, die in jenem Jahr unter dem Thema „Deutschlandbilder“ standen, ein neuer Schluss; die Premiere fand am 4. September 1997 unter derselben Regie statt: Auf der Mauer auf der Lauer endet nun am 3. Oktober 1990, ebenfalls am Brandenburger Tor. Mit eingeflossen in die zweite Fassung sind offenbar vor allem die zwischenzeitlich gesammelten Erfahrungen von ‚Ossis‘ mit ‚Wessis‘, denn die vorhandenen Unterschiede werden in besonderem Maße betont, stellenweise auch Klischees nicht ausgelassen. Anregungen gaben dabei im Rahmen von Befragungen mehrerer Schulklassen in Ost-Berlin, West-Berlin und Brandenburg gefallene Äußerungen, die in Auszügen im Programmheft abgedruckt sind.1409
1408 1409
Auf und Auf und
der Mauer auf der Lauer. Theaterstück für Menschen ab 12 von Reiner Lücker Volker Ludwig. Hrsg. vom Grips-Theater. Berlin 1990, S. 42. der Mauer auf der Lauer. Theaterstück für Menschen ab 12 von Reiner Lücker Volker Ludwig; Programmheft. Berlin 1997, ohne Seitenangabe.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ebenfalls 1990, am 20. September, wurde im Akademietheater, Wien, Manfred Karges Drama MauerStücke1410 uraufgeführt. Die deutsche Premiere fand am 17. November 1990 im Schauspielhaus Bochum unter der Regie von Uwe Jens Jensen statt. Karge, der 1938 in Brandenburg (Havel) geborene Schauspieler und Dramatiker, hatte 1978 infolge der BiermannAffäre die DDR und damit auch seine Haupt-Wirkungsstätte, die OstBerliner Volksbühne, verlassen. Sein Stück besteht aus acht Szenen1411, die zeitlich vor, während und nach dem Mauerfall angesiedelt sind. In „Mauerhund“1412 spielt, wie in Thomas Hettches kurzem „Sado-MasoTechno-Roman“1413 Nox (1995), ein an der Grenze eingesetzter Wachhund die Hauptrolle. Der Hund ist mit menschlichen Zügen ausgestattet und kann sprechen. Der für ihn zuständige Soldat erklärt seine Situation bzw. die Situation der Grenztruppen überhaupt wie folgt: Wir haben keinen Auftrag mehr Zu kämpfen. Und wenn ich auch sehr Das ganze Schlamassel bedauern tu Bitt ich trotzallem: laß mir meine Ruh.
Als der Hund mit dem Kopf gegen die Mauer schlägt, fragt der Soldat ihn: Was machst du, treuer Mauerhund? Du haust dir deine Hauer wund.
Der Hund blickt daraufhin in die Vergangenheit zurück, wobei er eine politisch härtere Linie vertritt als der für ihn verantwortliche Soldat: Bei Marx, wir hatten schönre Zeiten Nie nicht ideologische Streitigkeiten. Der Orden der Tapferkeit an deiner Brust Sprach Bände. Und noch im August Haben wir, weil ich ausgiebig gebellt Fünf Grenzbrecher auf einen Hieb gestellt. Verdammt, du Held des Vaterlands Gehst mir den Weg des geringsten Widerstands.
1410 1411 1412 1413
Manfred Karge: MauerStücke. Schauspielhaus Bochum. [Bochum 1990] (Programmbuch Nr. 52, Spielzeit 1990 / 91), S. 7-90 sowie S. 128-138. In Bochum wurde auf die Aufführung der achten Szene („Der Schwanendreher“) verzichtet; vgl. Ebd., S. 128-138. Ebd., S. 38-47. Diese Szene wurde bereits am 7. Juni 1990 im Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt. Christine Cosentino: Ostdeutsche Autoren Mitte der neunziger Jahre: Volker Braun, Brigitte Burmeister und Reinhard Jirgl. In: The Germanic Review 71 (1996) 3; S. 177194, S. 177.
5.5 Dramatik
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Mit diesen Vorwürfen löst er einen Konflikt aus; der Soldat fühlt sich angegriffen: Und du, Hund, gehst mir auf den Docht. Dabei hab ich dich stets gemocht. Dir Futter und Wassertrog nachgetragen Und dich niemals geschlagen. Und warn wir auch noch so eingeigelt. Dein Fell dir immer fein gestriegelt.1414
Der Hund fragt weiter: War nur Lug und Trug Wofür wir die Schnauze bei Wind und Wetter Haben hingehalten und das Gekletter Am antifaschistischen Schutzwall für Kunden Des schmutzigen Kapitals unterbunden?1415
Doch der Soldat will offenbar nicht mehr mit seiner Vergangenheit konfrontiert werden. Am Ende der Szene erschießt er den Hund, um aus ihm „ein paar bunte Scheine“1416 zu machen: Der Hund löst einen Stein aus der Mauer. DER SOLDAT In der Nacht Wer hätte das gedacht In der Nacht Erhalten hundsgemeine Steinewerfer ihre Totenscheine In der Nacht Wer hätte das gedacht. Der Hund hat den Stein gegen seinen Herrn erhoben, dieser schießt ihn mit seiner Dienstwaffe nieder. DER SOLDAT Da hast dus, Mauerhund, dem Steine Hast du verbündet dich. Hier meine Antwort aus dem Pistolenlauf. Jetzt mach ich dir die Rechnung auf. Während der Soldat mit Kreide an der Mauer die Rechnung über den Verkauf des Hundes aufmacht, nimmt dieser seinen Kopf herunter und tritt nach vorn. 1414 1415 1416
Manfred Karge: MauerStücke. Schauspielhaus Bochum. [Bochum 1990] (Programmbuch Nr. 52, Spielzeit 1990 / 91), S. 38f. Ebd., S. 39. Ebd., S. 45.
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DER SOLDAT Leber siebzig, vierzig Lunge Neunundsechzig für die Zunge Hoden hundert, Ohrenschmalz Dreimarkfünfzig, zwölf der Hals Knochenmark, da sind noch Lücken Hundertneunzig für den Rücken Milz und Magen siebzig, Sterz Siebzehn, neunzig für das Herz Dreißig Ohren, Nase, Kinn Minus sieben, drei im Sinn Mehrwertsteuer vierzehn macht – DER HUND So hat schließlich über Nacht Mich mein Herr noch totgemacht. Mir mein Fell Abgezogen auf der Stell. Rechnet nun. Ich sag nicht wau. DER SOLDAT Hundertneunzig – DER HUND Nicht miau. Sag nicht ja und sag nicht nein. DER SOLDAT Hundert für ein Hinterbein – DER HUND Knurr nicht. Bell nicht, wie gekonnt An den Mond. Sag nicht Rotfront. Auch Siegheil in keinem Falle Laß das anderen. DER SOLDAT Die Galle Für asiatische Bittersuppe Bringt dreihundert – DER HUND Alles schnuppe. Mach zu den Mund Und nichts mehr kund Von dieser Stund Bin ich einfach ein sprachloser Mauerhund.1417
Ironischerweise wird der Grenzhund also getötet, bevor er sich gänzlich von seiner alten Rolle lösen und damit zu einer autonom handelnden Figur werden kann. Bereits unmittelbar nach dem Mauerfall gewinnt der Materialismus die Oberhand: Der Grenzhund wird brutal vermarktet. Zudem erinnert der Hund den Soldaten an seine frühere Tätigkeit. Mit dieser will 1417
Ebd., S. 46f.
5.5 Dramatik
475
der Soldat jedoch ganz offensichtlich nicht konfrontiert werden: Bei seiner Verdrängungsarbeit stört ihn der Hund, folglich muss er sterben. Wie ‚unglaublich‘ der Fall der Mauer war, wird im Bereich der Dramatik besonders deutlich herausgearbeitet. Die Gattung ‚Drama‘ mag prädestiniert sein für die Darstellung dieses Aspektes, wie an den beiden folgenden Beispielen gezeigt wird: GOLAN, Teil drei von Christian Martins Vogtländischer Trilogie (1990), und Fremde in der Nacht (1991) von Jochen Berg (*1948). Bei Martin zeigt sich der Aspekt des ‚unerhörten Ereignisses‘ im Gespräch der beiden Figuren Sandy und Andy. Als sie ihn auffordert, etwas zu erzählen, „eine geschicht ein märchn / irgendwas“1418, erzählt er:
1418
ANDY
es war einmal
SANDY
andy und sandy
ANDY
andy und sandy sie wurden geboren wuchsen auf durch einen wink des schicksals
SANDY
fanden sie zueinander
ANDY
heirat ein kind eine neubauwohnung endversorgt so lebten sie glücklich und zufrieden und wenn sie nicht gestorben sind
SANDY
he langsam langsam net so schnell dazwischen nix
ANDY
was
SANDY
eine riesengroße riesensehnsucht jeder tag jedes jahr dreißg [sic] jahr lang eingesperrt
ANDY
jetzt wird alles anders
SANDY
was zähl auf
Christian Martin: GOLAN. ein volksstück in zwei teilen. In: C.M.: VOGTLÄNDISCHE TRILOGIE. TRAUMREISE. ein spiel. ABSEITS. ein volksstück. GOLAN. ein volksstück. Berlin 1990 [Bühnenmanuskript]; S. 49-68, S. 61.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
ANDY
na die mauer zum beispiel vor knapp eim jahr piff paff erschossn wie die karnickel in rotweinsoß1419
Die durch den Staat bereits weit gehend vorausbestimmten und damit vorhersehbaren Biografien der Protagonisten nehmen hier eine radikale Wendung, denn Andy nimmt in seiner Erzählung bzw. seinem „märchn“ den Fall der Mauer vorweg. Was folgt, ist die Darstellung grundlegender Veränderungen; so kündigt er an: aber westradattn keine aluchips japan schweden jedenfalls mir fahrn hof nürnberg bayreuth wohin du willst ich lad dich ein SANDY
und das nötige kleingeld
ANDY
macht nix wirst sehn mir sind das volk das regeln mir1420
Später kündigt er erneut an: mir schlagn zu die große wende alles wird anders1421
In seiner Prophezeiung verwendet er also unter anderem den Ruf „Wir sind das Volk“, der bei den realen Wendeereignissen bekanntlich eine zentrale Rolle spielte. Sandy ist bereits der Vorstellung dieser Ereignisse nicht gewachsen: Am Ende des Stücks und damit zugleich der Trilogie springt sie – ihrer Sinne nicht mehr mächtig – vom Balkon.1422 1419 1420 1421 1422
Ebd. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63; vgl. erneut S. 66: „jetzt wird alles anders“. Vgl. Ebd., S. 68.
5.5 Dramatik
477
Dagegen werden bei Jochen Berg die realen Ereignisse von einer schlicht „Mann“ genannten Figur zunächst in den Bereich der Fiktion verschoben: Ich hab mich in meinen Bunker unter dem Haus begeben. Einige Vorräte sind hier. Rundfunk und Fernsehn. Ich muß mir Notizen machen um mir Klarheit zu verschaffen. Ich glaube einen Traum gehabt zu haben in dem mein Sohn als Deserteur auftrat. Ich schreibe das hier nieder nachdem ich im Fernsehen einen Film gesehn habe in dem die Bewohner unseres Landes durch die geöffneten Grenzstationen an der Mauer nach Westberlin strömten. Unheimlich aufwendig verfilmt. Mit vielen Statisten. Niht [sic] enden wollend. Dazwischen Interviews und Regierungserklärungen um den Live-Charakter vorzutäuschen. Der Feind läßt sich Propaganda was kosten. Wir sind ihm wieder etwas wert. Erstaunlich auch die Ähnlichkeit der Doubles mit unseren Orginalen [sic]. Die Zeit vergeht. Jetzt. Auf allen Kanälen des Fernsehens der nicht enden wollende Horrorfilm. Die Auflösung und Vereinnahmung unseres Landes durch unsere feindlichen deutschen Nachbarn. Scheinbaren Live-Diskussionen [sic]. Alles ungeheuer aufwendig. Ein neuer Trick die Einschaltquoten zu erhöhen. Großartig echt. Da können wir was lernen. Wieso das Spektakel auf allen Kanälen. Der Film über die Auflösung unseres Staates läuft immer noch. Allmählich gehen meine Speise- und Getränkevorräte zu Ende. Diese nicht enden wollenden Sendungen sind ein Attentat auf meinen Verstand. Meine Geräte werden wahrscheinlich direkt von der Zentrale der Sicherheitsabteilung gespeist. Das bedeutet: Ich habe einen gravierenden Fehler gemacht. Einen Fehler der mir nicht bewußt ist und dies ist ein Versuch mich auszuschalten. Eine Frage bleibt: Wo kriegen die so viele Doubles und so viele Statisten her.1423
Einige Dramen betonen wesentliche Teilaspekte von ‚Wende‘ und ‚Einheit‘. Elfriede Müllers (*1956) 1991 am Landestheater Tübingen uraufgeführtes Stück Goldener Oktober1424 spielt im Oktober 1990 in einer Berliner Bar in der Nähe des ehemaligen Todesstreifens. Zentral ist auch hier die Täter / Opfer-Problematik, in welche die Figuren verstrickt sind und aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Den Frauen kommt dabei die Hauptlast zu: Die Ostdeutsche Silke arbeitet in einer Bar als Stripperin und 1423 1424
Jochen Berg: Fremde in der Nacht. Berlin 1991 [Bühnenmanuskript], S. 9. Elfriede Müller: Goldener Oktober. In: E.M.: Die Bergarbeiterinnen. Goldener Oktober. Zwei Stücke. Frankfurt a.M. 1992 (Theaterbibliothek), S. 81-160.
478
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
wird von ihrem Bewunderer, einem Detektiv aus dem Westberliner Kaufhaus des Westens, erwürgt, weil sie ihn nicht heiraten möchte; Harry und Letty wollen eine Videothek und ein Bordell aufbauen, die naive Lola fällt auf sie herein. Margot, die schon vor Jahren aus der DDR übergesiedelt war, lebt im Westen mit dem reichen Mann ihrer Schwester zusammen; ihre Ost-Identität hat sie zu Gunsten rein materieller Werte völlig aufgegeben. Müllers Stück stellt damit über weite Strecken eine Zusammenfassung gängiger Klischees dar. Das wohl kürzeste ‚Wendedrama‘ dürfte Detlef G. Skowroneks BruchStück. Ein Theater-Skandal1425 sein. Dabei handelt es sich um ein „Szenarium für Film oder multimediale Widergabe“ [sic].1426 In dem kurzen Text finden sich zahlreiche Anspielungen auf ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, besonders hervorzuheben ist die damit verbundene Zeiteinteilung im Sinne eines ‚vorher‘ und eines ‚nachher‘. So tritt im „5. Akt: Die Räumung“ im Teil „Nacht“ eine bereits zuvor eingeführte Milka-Kuh wieder auf: Die Milka-Kuh aus dem 2. Akt trägt die Aufschrift „EINIG TEUTSCHLAND! EINZIG TÄUSCHLAND!“. Über dem Eingang zum Fabrikgebäude prangt die Leuchtreklame „Zum Goldnen Kalb“. Die anderen umgebenden Gebäude sind sichtlich saniert und bonbonfarben angestrichen.1427
Die deutsche Einheit ist zur Täuschung geworden: Die sanierten Gebäude wirken kulissenhaft; im übertragenen Sinne tanzt man vor dieser Kulisse um ein Götzenbild. Lediglich erwähnt sei Lothar Trolles im Februar 1992 im Deutschen Theater uraufgeführtes Stück Hermes in der Stadt1428, das auch zu den ‚Wendestücken‘ gezählt werden kann, obwohl Trolle die ‚Wende‘ als Schreibanlass negiert.1429 In Hermes in der Stadt verarbeitet der Verfasser authentisches Material über Verbrechen in der DDR1430; die ‚Wende‘ selbst kommt nicht vor. Axel Schalk zufolge wird in dem Werk allerdings eine neue Ästhetik entworfen.1431 1425 1426 1427 1428
1429 1430 1431
Detlef G. Skowronek: Bruch-Stück. Ein Theater-Skandal. In: Schokoladenbruch. neustadt lese buch. Hg.: C. David. 7. Auflage. Dresden 1999, S. 27-35. Ebd., S. 27; im Original kursiv. Ebd., S. 33f.; Hervorhebung im Original. Lothar Trolle: Hermes in der Stadt. In: L.T.: Hermes in der Stadt. Stücke. Hrsg. und mit einem Nachwort von Fritz Mierau. Mit sieben Zeichnungen von Horst Hussel. Berlin 1991, S. 133-181. Vgl. Axel Schalk: Coitus germaniae interruptus. Die deutsche Wiedervereinigung im Spiegel von Prosa und Dramatik. In: WB 39 (1993) 4; S. 552-566, S. 563. Vgl. dazu Ebd., S. 563-565. Ebd., S. 563.
5.5 Dramatik
5.5.1
479
Christoph Hein: Die Ritter der Tafelrunde (1989)
Christoph Heins dreiaktige „Komödie“1432 Die Ritter der Tafelrunde wurde im März 1989 am Dresdner Staatsschauspiel uraufgeführt. Es kam zu Abdrucken in Theater heute1433 und Theater der Zeit1434; in Westdeutschland folgte noch 1989 eine Buchfassung bei Luchterhand.1435 In der DDR erschienen später zwei Buchfassungen, allerdings erst 1990: zunächst in der Anthologie Theatertexte 21436, dann in einem Sammelband mit HeinStücken.1437 Im Falle von Heins Drama scheint es besonders nahe liegend, direkte Parallelen zwischen Realität und Fiktion herzustellen. In diesem Sinne handelt es sich bei Die Ritter der Tafelrunde um ein Schlüsselstück. Auch wenn es banal scheint: Vergleiche zwischen Artusrunde und greisem Politbüro sind durchaus angebracht, denn, wie im Folgenden gezeigt wird, die alt gewordenen Ritter haben sich in ähnlicher Weise disqualifiziert. Hauptthema des Stückes ist der Verlust der sozialistischen Utopie, die im Engeren durch den Gral verkörpert wird. Zentraler Schauplatz ist die „Halle der Artusburg“.1438 Die Ausgangssituation führt die zerbrechende Artusrunde vor: Der Gral ist nicht gefunden worden, das Volk ist verbittert, selbst der Tisch der Artusrunde wackelt und muss von Artus provisorisch zusammengehalten werden.1439 Kunneware beschreibt diese Situation zunächst im Hinblick auf sich selbst, weitet diese Beschreibung dann aber auf das ganze Volk aus: Ich weiß nicht, ob ihr mit diesem Leben zufrieden seid. Ich finde es abscheulich. Ich habe das Gefühl, ich verwelke, ohne je geblüht zu haben. Und keiner, mit dem man sich unterhalten kann. Alle streiten nur oder klagen. Habt ihr hier schon einmal jemand lachen hören?1440
Jeschute betont daraufhin:
1432 1433 1434 1435 1436 1437 1438 1439 1440
Diese Gattungsbezeichnung fehlt in zwei der drei späteren Buchfassungen. Ders.: Die Ritter der Tafelrunde. Schauspiel in drei Akten. In: Theater heute 30 (1989) 7, S. 27-35. Ders.: Die Ritter der Tafelrunde. Eine Komödie. In: Theater der Zeit 44 (1989) 7, S. 55-64. Ders.: Die Ritter der Tafelrunde. Frankfurt a.M. 1989. Ders.: Die Ritter der Tafelrunde. Eine Komödie. In: Theatertexte 2. Hrsg. von Peter Reichel. Berlin (DDR) 1990, S. 153-223 Ders.: Die Ritter der Tafelrunde. In: C.H.: Die Ritter der Tafelrunde und andere Stücke. Berlin / Weimar 1990, S. 131-193. Ebd., S. 132; im Original kursiv. Vgl. Ebd., S. 143. Ebd., S. 179.
480
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Du hast recht, meine Kleine. Es wäre für uns alle tröstlich, wenn unsere Illusionen wenigstens bis zum Grab gereicht hätten. Ich verlange gar nicht, daß der Gral existiert, aber solange ich lebe, sollte man ein bißchen daran glauben können. Diese wunderschöne Seifenblase hätte noch ein wenig halten sollen. Solch ein Irrtum ist nach dem Tod leichter erträglich.1441
Die Artusrunde leidet zudem an fortgeschrittenem Realitätsverlust; nahezu jegliche Verbindung zwischen ihr und dem Volk ist gerissen. Lancelot liefert später eine vernichtende Beschreibung des Verhältnisses zwischen der einst angesehenen Tafelrunde und dem Volk: Ach, Artus, weißt du denn, daß die Leute da draußen nichts mehr vom Gral und der Tafelrunde wissen wollen? […] Wenn ich ihnen vom Gral erzählen wollte, spuckten sie aus. Wenn ich vom Artusreich sprach, beschimpften sie mich und warfen mit Steinen nach mir. Sie glauben nicht mehr an unsere Gerechtigkeit und unseren Traum. Verschwinde, riefen sie nur, wir wollen nichts mehr davon hören, das Leben ist schwer genug. Für das Volk sind die Ritter der Tafelrunde ein Haufen von Narren, Idioten und Verbrechern. Weißt du das, Artus?1442
Schon bald zeichnet sich ab, dass die Bewertung der Gegenwart vor allem eine Generationenfrage ist. Der Konflikt zwischen Alt und Jung, zwischen denjenigen also, die das Auffinden des Grals versprechen, und denjenigen, die nicht (mehr) daran glauben, hat sich zugespitzt. Ginevra verweist auf den offenbar allmählich sich vollziehenden Wandel der jeweils Jungen: Die Jungen haben es heute schwerer. Für uns war es einfach und klar, wie zwei und zwei. Bei den jungen Leuten heute gilt nichts mehr. Sie stellen alles in Zweifel. Nichts hat für sie Wert, es gibt nichts, was sie anerkennen.1443
Später stellt sie die rhetorische Frage: „Hinfällige Männer, altgewordene Frauen. Ach, Orilus, was ist von der Tafelrunde geblieben?“1444 Kunneware beklagt: „Alle reden nur von der Vergangenheit und sprechen über tote Helden.“1445 Der Preis, um den man nach dem Gral gesucht hat, also der Utopie näher zu kommen versuchte, war hoch, fungierte aber zugleich als Legitimation zum Weitermachen. Wie Kunneware, bezieht auch Artus sich auf die Vergangenheit und den nun erfolgten Wandel:
1441 1442 1443 1444 1445
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
179f. 188. 134. 140. 179.
5.5 Dramatik
481
Ja, damals war alles klar und einfach. Wir wußten, was zu tun war. Es war eine Zeit großer und schwerer Kämpfe, in denen viele Ritter ihr Leben ließen. Und doch hat keiner unserer Toten uns irre gemacht, wir waren unserer Sache sicher. Die unsterblichen Toten machten uns unverletzlich. So viele Schlachten wir auch zu schlagen, wie viele Entbehrungen wir auf uns zu nehmen hatten, keinen Moment quälte uns ein Zweifel.1446
Die deutlichsten Vorwürfe erheben Parzival und Mordret. Auch Parzival bezieht sich auf den schwelenden Generationenkonflikt, indem er – hier an Keie gerichtet – feststellt: „Ihr habt die Kinder verschreckt und die Jugend entmündigt. Uneinsichtig habt ihr auf unseren alten Tugenden beharrt. Aber auch Tugend will geprüft sein, sie schimmelt leicht.“1447 Die notwendig gewesene rechtzeitige Machtübergabe hat also nicht stattgefunden. Mordret bekennt sogar offen, dass er nicht an den Gral glaubt: Euer Gral ist ein Fantom, dem ihr ein Leben lang hinterhergejagt seid. Ein Hirngespinst, um das ihr euch die Köpfe blutig geschlagen habt. Sieh dir deine Gralsritter an. Verstörte, unzufriedene, ratlose Greise, die das Leben verklagen. Was, glaubst du, sollte mich dazu bringen, auch so zu werden?1448
Mordrets Einschätzung der Situation ist realistisch, denn in der Tat haben die Gralsritter aufgegeben und kehren nach und nach von der Suche heim. Lancelot ist der letzte von ihnen; ihm hat es die Sprache verschlagen.1449 Erst als Artus schließlich eine Sitzung einberuft, redet er und gibt eine Art Grundsatzerklärung ab: Ich habe den Gral gesucht, ich habe ihn nicht gefunden. Ich habe euch nichts zu sagen. […] Wenn der Gral auf der Welt wär, ich hätte ihn finden müssen. Überall habe ich nach ihm gefragt, aber keiner hat ihn je gesehen. Ich habe alle Kontinente bereist, er ist nicht zu finden. […] Er ist überhaupt nicht vorhanden. Vielleicht ist er im Verlauf der Zeit zu Staub zerfallen. […] Oder er ist nicht mehr auf dieser Erde. Oder er ist wirklich nur eine Idee. Unvergänglich, aber nur eine Idee.1450
1446 1447 1448 1449 1450
Ebd., S. 190. Ebd., S. 143. Ebd., S. 142. Vgl. Ebd., S. 172. Ebd., S. 181f.
482
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Der Generationenkonflikt wird folglich auf mehreren Ebenen ausgetragen: Es geht nicht nur darum, dass zwischen Alt und Jung kaum noch eine Verständigung zu erzielen ist, sondern auch um die Frage der grundsätzlichen Fortsetzung der Suche nach dem Gral. Gawain hat diese Suche bereits vor Lancelot aufgegeben und die Tafelrunde verlassen, um im Chastell Merveille zu bleiben1451, das hier als Alternative zum Gral fungiert: Das „Schloß der hundert Frauen“1452 weist gewisse Parallelen zu Westdeutschland auf, denn, im Gegensatz zu den ideellen Werten, für die der Gral steht, geht es hier um materielle Werte und Konsum.1453 In einem Brief erklärt Gawain Artus gegenüber: Mein Abschied beweist nichts und widerlegt nichts. Die Wahrheit ist, daß ich nicht mehr jung genug bin, grundlos weiter meinen Hoffnungen zu folgen, und noch nicht so alt, um ihrer völlig entbehren zu können.1454
Jeschute gibt schließlich zu, niemals an den Gral geglaubt zu haben.1455 Sie weist allerdings auf die Konsequenzen hin, die die Aufgabe der Suche haben kann, und spricht damit die Befürchtung aller aus: „Plötzlich tut sich ein Loch auf, riesig und bodenlos, und wir werden fallen und fallen und fallen.“1456 Ein Eingeständnis des Versagens dem Volk gegenüber könnte also schlimme Folgen haben: Erstens würde es zum Verlust nicht nur des Gesichts, sondern zugleich der Macht führen, zweitens existiert kein brauchbarer Gegenentwurf zum Gral. Es entstünde ein Machtvakuum, einhergehend mit einem vollständigen Perspektivverlust. Beides wäre nicht im Interesse der Artusrunde. Der letzte Ritter, der am alten Weg auf der Suche nach dem Gral festhalten will, ist Keie. Er betont: Der Gral ist das menschliche Glück, ein Paradies auf Erden. Wir sind alle mehr unglücklich als glücklich. Aber für eine kurze Zeit, und sei es nur für einen Moment, war jeder von uns einmal glücklich. Und dieser winzige Moment unseres Glücks bedeutet, daß es den Gral gibt, daß er auf der Erde ist. Wir werden ihn vielleicht nicht finden, vielleicht werden wir ihn nie entdecken. Aber wenn wir aufgeben, ihn zu suchen, werden wir beständig unglücklich sein.1457
1451 1452 1453
1454 1455 1456 1457
Vgl. Ebd., S. 182. Ebd. Für diese Ost-West-Lesart spricht auch Parzivals Erklärung, es handele sich im Falle Gawains nicht um „Privatangelegenheiten“; sein Entschluss, die Tafelrunde zu verlassen, sei „eine politische Entscheidung, also eine öffentliche.“(Ebd., S. 164) Ebd., S. 164. Vgl. Ebd., S. 178. Ebd., S. 179. Ebd., S. 177.
5.5 Dramatik
483
Damit würde letztlich alles so bleiben wie zuvor. Veränderungen tun jedoch Not: Die Hoffnungen von Artus richten sich in erster Linie auf seinen Nachfolger Mordret, den er ausdrücklich auffordert, weiter nach dem Gral zu suchen. Dabei versucht er sich auf den Fortschritt zu beziehen, muss aber zugleich sein eigenes Scheitern eingestehen: Alles hat sich verändert. Und das ist gut so. Es muß etwas Neues entstehen. Dann werden wir dem Gral zum Greifen nahe sein. Und wir werden über uns lachen, über unsere Verzweiflung, über unsere Blindheit. Wir werden nicht verstehen können, warum wir heute ratlos beeinander saßen. […] Ja, Parzival, wir sind gescheitert. Aber wenn der Gral für uns unerreichbar wurde, müssen wir nach anderen, nie gesehenen Wegen suchen, um zu ihm zu gelangen.1458
Am Ende des Stücks bleibt Artus mit seinem Sohn allein. Die Ritter der Tafelrunde endet offen: ARTUS: Ich habe Angst, Mordret. Du wirst viel zerstören. MORDRET: Ja, Vater.1459
In diesen letzten Sätzen kann eine Vorausdeutung auf eine möglicherweise kommende Revolution gesehen werden, zumindest aber auf grundlegende Veränderungen, die Zerstörungen mit sich bringen werden. Hein bezieht sich in Die Ritter der Tafelrunde also auf Zustände, die geradezu zwangsläufig zu einer nicht weiter spezifizierten ‚Wende‘ führen müssen; die angedeuteten Verhältnisse ähneln, insbesondere im Hinblick auf eine greise und nahezu manövrierunfähige Regierung, durchaus denjenigen in der DDR am Ende der achtziger Jahre: Mit dem Verfall des Mythos um König Artus geht der Verfall der Utopie einher. Ein sinnvolles Handeln findet kaum mehr statt, die alten Strukturen werden dagegen umso starrer aufrechterhalten. Insofern kann Heins Stück auch als Warnung an die Machthaber gelesen werden – sowohl im Sinne einer Aufforderung, Versagen einzugestehen, als auch im Sinne einer Drohung: Bei Fortsetzung des gegenwärtigen Kurses wird es zu gewaltsam durchgesetzten Veränderungen kommen, in deren Zusammenhang vieles in Frage gestellt werden wird. Ebenfalls gewarnt wird vor einem Kollaps des Ökosystems; Ginevra berichtet: Ist das nicht schrecklich. Hier steht, die Wissenschaft stimmt darin überein, daß auf unserem Kontinent in vierzig Jahren kein Wald mehr existieren wird. Diese
1458 1459
Ebd., S. 191. Ebd., S. 193.
484
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Entwicklung ist nicht zu korrigieren. Der Zustand der Wälder ist bereits so verheerend, daß heute nichts mehr dagegen zu tun ist. Das ist gar nicht vorstellbar. […] Wie könnt ihr das so gelassen hinnehmen? Es kümmert euch nicht. Aber in vierzig Jahren werden sich die Leute fragen, warum wir nicht aufgeschrien haben vor Entsetzen.1460
Die Dramatik dieser Ereignisse dürfte jegliche Diskussion über ideologische Fragen in ihrer Bedeutung relativieren. Bis kurz vor der Uraufführung, die eigentlich für den 24. März 1989 im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels vorgesehen war, gab es offenbar Auseinandersetzungen darüber, ob das Stück tatsächlich der Öffentlichkeit gezeigt werden sollte. Die Premiere fiel schließlich aus, das Stück wurde aber dennoch mehrmals in so genannten ‚Voraufführungen‘ gezeigt. Die offizielle Uraufführung fand erst am 12. April statt. In den wenigen Besprechungen, die in der DDR erschienen, wurde die aktuelle gesellschaftspolitische Dimension des Dramas weit gehend ausgeblendet.1461 5.5.2
Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten (1990)
Das nach seiner Entstehungszeit früheste bühnenreife ‚Wendestück‘ ist Herbert Achternbuschs (*1938) „Revolutionsfarce“ Auf verlorenem Posten. Es entstand zwischen dem 20. und dem 25. Dezember 19891462 und wurde am 5. April 1990 unter der Regie des Autors an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Der metaphorische Titel kann sowohl auf die Situation der DDR im weiteren als auch auf den Zustand ihrer Bevölkerung im engeren Sinne bezogen werden; Staat wie Volk stehen nach Öffnung der Grenzen ‚auf verlorenem Posten‘. Im Stück selbst ist die Formulierung direkt auf den Kommunismus bezogen; so äußert die „Frau“: „Der Kommunismus ist auf verlorenem Posten, und auf diesen Posten der Verlorenheit muß die Industrie folgen.“1463 Achternbusch erklärt zum Titel: „Ich habe das an den Kabarettisten aus der DDR gesehen – die waren nach den Veränderungen in ihrem Land plötzlich auf verlorenem Posten.“1464 Die zentralen Aspekte 1460 1461 1462 1463 1464
Ebd., S. 165. Vgl. Heinz Klunker: Angst vorm Gral. Zur Nicht-Kritik der Hein-Uraufführung in den Zeitungen der DDR. In: Theater heute 30 (1989) 7; S. 24, S. 24. Vgl. „Ich bin doch kein Floh im Gesellschaftspelz“. Herbert Achternbusch antwortet auf Fragen von Thomas Thieringer. In: Theater heute 31 (1990) 5; S. 14, S. 14. Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten. In: H.A.: MIXWIX. Köln 1990; S. 267293, S. 286. „Ich bin doch kein Floh im Gesellschaftspelz“. Herbert Achternbusch antwortet auf Fragen von Thomas Thieringer. In: Theater heute 31 (1990) 5; S. 14, S. 14.
5.5 Dramatik
485
des Stücks sind in diesen Aussagen bereits enthalten: In Achternbuschs Drama steht die Aufhebung vieler, wenn nicht aller Gewissheiten durch die ‚Wende‘-Ereignisse und die daraus resultierende Orientierungslosigkeit im Vordergrund. Das Stück gliedert sich in drei nicht weiter spezifizierte Teile bzw. Akte. Der erste kann dabei nochmals in drei Szenen unterteilt werden, der zweite in zwei; der letzte besteht aus lediglich einer Szene. Am Ende einer jeden Szene ist der jeweilige Entstehungstag angegeben. Die handelnden Figuren tragen allesamt keine Namen und sind in einem Fall sogar als anonyme Gruppe zusammengefasst: „Mann / 16 Personen / Westler / Bote / Freund / Frau / Glück / Kamel“.1465 Achternbusch äußert dazu: „Es geht um den Individualismus der Hauptpersonen. Eine der Rollen heißt nur ‚Mann‘, auch die anderen beiden sind namenlos.“1466 Diese – für Achternbusch nicht untypische – Erklärung erscheint zunächst paradox. Geht man jedoch davon aus, dass zahlreiche Individuen sich in ähnlichen Situationen befanden, jede dieser Situationen aber individuell verschieden war, ergibt sie durchaus einen Sinn. Im Mittelpunkt stehen der „Mann“, die „Frau“ und der „Freund“, drei arbeitslose Übersiedler aus der DDR. Weitere Informationen über die Figuren sind nicht eindeutig hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes zu beurteilen; so warnt die „Frau“ den „Mann“: „Du beschmutzt dir die Uniform. Die Uniform vom Staatssicherheitsdienst.“ Darauf meint er: „Die Uniform ist weg. Und es war die Uniform vom Prinzen von Homburg.“ Mit dieser Äußerung gibt er sich als Schauspieler aus. Doch dies bezweifelt offenbar der „Freund“: „Vom Prinzen von Homburg: Sag einen Satz? Du kennst keinen einzigen Satz aus dem Prinzen von Homburg und möchtest Schauspieler gewesen sein?“1467 Die Identität der Figur(en) ist also weder
1465 1466 1467
Zur Rolle des Kabaretts nach der ‚Wende‘ vgl. Peter Ensikat: Was die Leute so vom Kabarett erwarten. In: P.E.: Hat es die DDR überhaupt gegeben? Berlin 1998, S. 127132. Textsammlungen z.B.: Jürgen Hart: Felix aus der Asche. Ende, Wende, wumm … Satirische Texte 1980 bis 1989 & 1990 bis 1996 aus der Spielkiste der academixer. Berlin 1996. In der „Vorrede“ des zum 30-jährigen Jubiläum erschienenen Bandes bemerkt Hart: „Früher schrieben Kabarettautoren bisweilen für die Schublade, – heute schreiben sie für die Marktlücke. Der Unterschied zwischen Marktlücke und Schublade ist nicht eben groß. Die Marktlücke ist zwar kleiner als die Schublade, aber in ihr steckt die Zielgruppe, und die kann man sich selbst suchen und erzeugen, indem man zum Beispiel einen runden Geburtstag ausruft.“ (S. 6) Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten. In: H.A.: MIXWIX. Köln 1990; S. 267293, S. 267. „Ich bin doch kein Floh im Gesellschaftspelz“. Herbert Achternbusch antwortet auf Fragen von Thomas Thieringer. In: Theater heute 31 (1990) 5; S. 14, S. 14. Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten. In: H.A.: MIXWIX. Köln 1990; S. 267293, S. 282.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
stabil noch faktisch abgesichert. Zu Beginn des Dramas scheint der „Mann“ völlig verwirrt. Das zeigt sich an seinem ersten Redebeitrag, mit dem das Stück auch anfängt: Das ist Theater. Das Theater der Besserwisserei. Wenn ich sage: Ich bin ein Artillengeneral, dann lachen Sie – vermutlich. Und wenn ich sage: Ich komme aus der DDR? Man kommt nicht vermutlich aus der DDR. Bitte begrüßen Sie mich nicht. Meine Gefühle verwirren meinen Verstand – vermutlich. Aber bitte teilen Sie nicht meine Gefühle mit mir. Bleiben Sie bei Verstand. Und wenn sich meine Gefühle beruhigt haben und ich mich mit Ihnen verstandesgemäß unterhalten kann, können wir gemeinsame Schritte versuchen. Mein Gefühl ist marod, so marod – Ein Knattern geht durch meinen Leib. Und wenn das Knattern so laut ist – von vorne, und wenn ich von hinten ein leises Knattern höre wie von ferne, denke ich: Ich bin zwei. […] Macht zwei Begrüßungsgelder […].1468
Er bekennt, sich in einer „geschichtslosen Situation“1469 zu befinden. Sämtliche Gewissheiten sind weggebrochen, der „Mann“ scheint weit gehend seine Identität verloren zu haben. Zugleich wird jedoch auch beim Publikum Unsicherheit erzeugt: Die gesamte Sprechsituation ist möglicherweise in den Bereich der Fiktion verschoben, da die handelnde Figur auf der Bühne den Hinweis gibt, dass es sich hier um „Theater“ handele. Der „Mann“ leidet an Durchfall und erklärt, sich zu verdauen – „in der Hoffnung, daß ich nur die DDR in mir verdaue […].“1470 Der Deutung, er „verdaue“ seine DDR-Vergangenheit, setze sich also im Sinne eines aktiven Vorgangs mit dieser auseinander, wird sofort der Boden entzogen durch die Artikulation seines Wunsches, dass „das Knattern […] aufhören möge […], das ich nicht mit dem Rumoren in der Gesellschaft vergleiche, weil es das Rumoren in meinem Leib ist, das gesellschaftliche […].“1471 Seinen Problemen, symptomatisch dem „Dünnschiß“, sei mit einer Banane nicht beizukommen: „Eine Bananenstaude wäre mir da dienlicher, damit sie meine Scham verberge bei meinem Geschäft.“1472 Die Bedeutung der in den frühen ‚Wendetexten‘ häufig auftauchenden Bananen erfährt bei Achternbusch also einen Funktionswandel: von Freiheitssymbol kann nicht mehr die Rede sein. Das wird auch an der sich anschließenden zweiten Szene des ersten Aktes deutlich, einer geradezu absurden Überzeichnung einer Ost-West-Begegnung bzw. -Begrüßungszene kurz nach der Öffnung der Grenzen:
1468 1469 1470 1471 1472
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.
S. S. S. S.
269. 270. 269. 270.
5.5 Dramatik
487
Ein Trabi knattert qualmend auf die Bühne. Wird von überall mit Bananen beworfen. 16 Personen aus der DDR steigen aus, sammeln die Bananen, essen sie brav. Der Schauspieler kommt mit einem Transparent dazu: Deutschland in den Grenzen von 1245 – Neapel ist unser. Wird mit Bananenschalen beworfen. Trabi mit Insassen ab.1473
Die „16 Personen“ erscheinen damit völlig passiv, ihre triebgesteuertanimalische Art legt eher die Vermutung nahe, man habe es mit Affen zu tun. Brav essen sie die Bananen auf, erfüllen also offenbar widerstandslos die ihnen zugedachte Rolle. Just dieses Verhalten wird ihnen jedoch kurz darauf vorgeworfen, als in der dritten Szene erneut ein Trabant erscheint. Der „Westler“ tritt auf und spricht den „Mann“ an: Nu, schenkt dir keiner eine Banane – kleiner Ossi? Ja, die Banane ist ein Universum – für euch. Für mich? Affenfutter. Wer ißt schon Bananen bei uns? Alte Männer gegen die Mittagsdepression. Deutschland in den Grenzen von 1245 – Neapel ist unser – Mann, das bedeutet doch Krieg! Also was willst du für das Ding? Bananen habe ich keine, und mit Geld kannst du nicht umgehen. Also gebe ich dir einen guten Rat: Laß das mit den Bananen. Kindisch. […] Also vergiß die Bananen, aber die Lehre von den Bananen sollst du nicht vergessen. Klar? Und jetzt her mit dem Ding. Ihr mit eurem Bananenfimmel, das ist ja ein Deutschland im Naturzustand. Deutschland in den Grenzen der Natur – die Welt ist unser – Klar? Du Däumling.1474
Der „Mann“ wird zum ‚kleinen Ossi‘ bzw. „Däumling“ infantilisiert, sein Verhalten als „[k]indisch“ bezeichnet. Zudem erhält er einen Verweis für die auf dem Transparent uneindeutiger Herkunft dargestellte Forderung. Der Sprechanteil der vorangegangenen zweiten Szene besteht ausschließlich aus einem Monolog des „Mannes“. Konfus erzählt er von einer Reise nach Italien, die ihn offenbar enttäuscht hat: […] ich träumte mich in eine bittere Enttäuschung hinein, weil die Alpen nie im Norden aufragen werden, wo die Ostsee liegt. […] Auf dem Weg nach Bozen regnete es. Kein Berg zu sehen, nur Essiggurken und Sauerkraut zu essen. Und das unvermeidliche Toilettenpapier.1475
Seine Eindrücke sind damit eher die eines Pauschalreisenden – das Land klassischer Sehnsüchte und Utopien hat seinen Reiz verloren.
1473 1474
1475
Ebd., S. 271. Ebd., S. 275f. Die Bananen werden auf der Bildebene später um Orangen ergänzt, die das „Glück“ in Form eines Orangenbäumchens einführt (vgl. v.a. S. 288f., aber auch bereits S. 273). Ebd., S. 271.
488
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Parallel zu den deutsch-deutschen Verhältnissen finden die Ereignisse in Rumänien Eingang in das Stück und gewinnen zunehmend an Stellenwert. In Szene 3 des ersten Aktes meldet der „Bote“, ein sich auf den Sturz Ceausescus beziehendes Telex verlesend: „Rumänien-Proteste / Dringend / Dracula gestürzt / Dringend / Dracula auf dem Weg nach China / Rumänien-Proteste / Dringend / Demonstranten stürmen Draculas Palast […].“1476 Hier und an zahlreichen weiteren Stellen bezieht Achternbusch die tagespolitischen Ereignisse um die Weihnachtsfeiertage des Jahres 1989 in Rumänien mit in die Handlung ein, bis hin zu ‚Draculas‘ Hinrichtung „im Schnellverfahren“.1477 Die deutsch-deutschen Ereignisse werden angesichts des Vergleichs mit den rumänischen in ihrer Dimension relativiert. Bereits vor Eintreffen der Meldung vom Sturz des Diktators hatte der „Mann“ erklärt, dass ihm „unsere Revolution“ nicht „nur die Freiheit gebracht hätte, nein, auch die Gefühle“, und dann den kritischen 9. Oktober 1989 in Leipzig mit dem Blutbad in Temesvar in Beziehung gesetzt: Lassen Sie uns eine Gedenkminute für das Blutbad von Temesvar halten. Der besagte Montag in Leipzig. Muß ich mir nicht vorstellen, das Fehlen von Schritten von Hunderttausenden von Menschen – höre es. Fällt der erste Schuß? Jetzt? Die erste Salve? Nur Schritte, und die Revolution gewinnt. Und Sie meinen, wir hätten das für Bananen gemacht?1478
Später äußert er in einem langen Monolog: Mit mir sprach sie [eine Kassiererin in Lucca; F.Th.G.] deutsch. Ich kann nur deutsch. Dieses Deutsch. Kann es aber nicht verstehen, daß sich Deutsche nur um Rumäniendeutsche in Rumänien kümmern.1479
Auf einer weiteren Stufe vermischt der „Mann“ die Ereignisse in Rumänien und in Deutschland. Dies drückt sich in den Fragen bzw. der Feststellung aus: „Was? Dracula hat das Land verlassen? Und mehr gibt es da nicht zu sagen? Oh doch! Der Palast der Republik steht in Flammen. Egal.“1480 Im zweiten Akt distanziert er sich vom ‚Deutschen‘; sein Glück liege in Rumänien: Berlin? Ich mag das Deutsche nicht. Meine Gefühle sind in Temesvar. Dracula ist weg, er ist weg. Rumänien ist frei. Aber Augenzeugen berichten, daß Hunderte von
1476 1477 1478 1479 1480
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
276; vgl. auch S. 273, 274, 275, 277ff. 290. 275. 278. 280.
5.5 Dramatik
489
Leichen auf den Straßen lagen. Eine Krake hielt Rumänien fest im Griff. […] Mein Glück liegt in den Massengräbern von Temesvar. Mein Glück ist tot. […].1481
Immer wieder wird der Revolutionsgedanke aufgegriffen, der – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung – in Rumänien mit der Hinrichtung ‚Draculas‘ konsequent realisiert wurde. In Bezug auf Deutschland geht die „Frau“ auf ‚nachrevolutionäre‘ Aspekte ein; sie fordert vom „Freund“: „Du mußt einen anderen Text schreiben, das steht er nicht durch auf der Bühne. Wir müssen was essen, das ist nachrevolutionär.“1482 Der „Freund“ erklärt ihr daraufhin: Du weißt, eine Geschichte zu Ende zu führen mit allen Einfällen, das ist revolutionär. Nachrevolutionär für mich aber ist, den Einfällen möglichst lange eine Geschichte vorzuenthalten, sonst versacken wir in der Diktatur der Geschichte oder des Konsums. Die Einfälle sind das Leben, und ob daraus eine Geschichte wird, mag dahingestellt bleiben. Mit unserem tyrannisierten Verstand können wir nichts anderes als Geschichten vertragen und sehen diese Geschichten in alles hinein und drücken alles in diese Geschichten, weil wir Angst haben. Angst vor der Zukunft. Als seien wir alles. Essen wir Bananen. Ein jeder zieht eine Banane aus seinem Gewand und ißt sie bedächtig und schweigend.1483
Alle drei verfallen also wieder in ihre alten Rollen. In der zweiten Szene des zweiten Aktes erklärt der „Freund“ schließlich im Hinblick auf den Wandel: Wie ein roter Faden zog sich in den vergangenen Jahrzehnten des Sozialismus das Schlangestehen durch den Alltag der Menschen. Die Planwirtschaft war nicht in der Lage, auch einfachste Alltagsbedürfnisse zu erfüllen. Jetzt bei den neuen Reformen und der Hinwendung zur Marktwirtschaft keimt Hoffnung auf, daß diese für die Menschen unerträglichen Verhältnisse in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören werden. Unser Archivbild aus dem polnischen Krakau zeigt, welche Anziehungskraft selbst ein in westeuropäischen Ländern alltäglicher Bananen-Obststand ausüben kann. – Unsere verlorene Vergangenheit im Osten eine vorweihnachtliche Idylle im Westen.1484
Im dritten Akt greift der „Freund“ erneut den Revolutionsgedanken auf: Und die Revolution wurde von Kindern gemacht, weil sie in Temesvar gesungen haben und zu den Eltern gesagt haben: Kommt zu uns. Jetzt singt man in Rumänien wieder Weihnachtslieder, was seit Jahrzehnten verboten war.1485 1481 1482 1483 1484 1485
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
283. 284. 284f. 286. 290.
490
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Der Revolutionsaspekt wird damit explizit mit Kindern in Verbindung gebracht; diese werden sogar als Hauptakteure genannt. Doch die „Frau“ erklärt kurz darauf, das Kind in ihr sei tot. Der „Mann“ meint: „Das Kind in mir stirbt.“ und behauptet: „Das tote Kind in mir ist wie ein Pfropfen im Vulkan.“1486 Diese Äußerungen legen die Vermutung nahe, dass die Revolution die Kinder ‚gefressen‘ hat, diese nun im übertragenen Sinne tot sind; die Akteure werden ‚auf verlorenem Posten‘ zurückgelassen. Dennoch bringt die „Frau“ ein Kind zur Welt; der „Freund“ kommentiert – unter Bezugnahme auf ein auf der Bühne stehendes echtes Kamel: „Nun sind wir eine Familie. Und mag die Welt eine Wüste sein, so haben wir ein Wüstenschiff.“1487 Die Bezüge zu Weihnachten (der dritte Akt wurde am 25.12. geschrieben) und den entsprechenden biblischen Bildern bis hin zum Kamel eines der Heiligen Drei Könige manifestieren sich hier in besonderem Maße. Nachdem die anderen abgezogen sind, erscheint das „Glück“ mit zwei Abfalleimern und stellt resigniert fest: Warum siehst du mich im Tod von Temesvar? Wer bin ich, so zu fragen? Nur das Glück. Zuerst blicken sie einem in die Augen, und dann finden sie einen nicht mehr. Sie spielen das Puppentheater am Brandenburger Tor mit und lassen mich zurück. Zuerst schauen sie einem in die Augen, dann suchen sie ihre Vergangenheit. Aber wer bin ich, das zu sagen. Nur das Glück. Zuerst wollen sie einem nur in die Augen schauen und reden nichts, dann wollen sie schnelle Gewinne machen. […] Nur das Glück. Immer allein. Zuerst blicken sie einem immer in die Augen. Libertatae, rufen sie und Victorie, dann wenden sie sich ab von mir und singen wieder Weihnachtslieder. […]1488
Erneut wird damit der Stellenwert der Ereignisse in Deutschland in Frage gestellt; am Brandenburger Tor finde lediglich ein „Puppentheater“ statt. Auch wenn der „Mann“ schließlich zurückkehrt und das „Glück“ bittet, stets bei ihm zu bleiben, werden mit dieser Handlung die Aussagen des „Glücks“ nur unwesentlich relativiert: Die Revolution in Deutschland bleibt unvollkommenes „Puppentheater“. Letztlich kann jedoch auch die rumänische ‚Lösung‘ kein Vorbild sein. Insofern mag die unbeantwortet bleibende Frage des „Glücks“ – „Gibt es eine Frau in Rußland, die dich liebt?“1489 – einen Hinweis auf eine mögliche Orientierung darstellen, denn in Russland vollzieht sich der Wandel langsamer und damit weniger revolutionsartig.
1486 1487 1488 1489
Ebd. Ebd., S. 291. Ebd., S. 292. Ebd.
5.5 Dramatik
491
Auf verlorenem Posten kann in die Tradition des absurden Theaters im Sinne von Beckett und Ionesco eingeordnet werden. Althergebrachte Formalia sind – einmal abgesehen von der Gliederung in drei Teile oder Akte – nahezu vollständig aufgelöst. Damit wird die Identitäts- und Orientierungslosigkeit der Figuren auf der formalen wie der inhaltlichen Ebene zum Ausdruck gebracht. Achternbusch selbst äußerte in diesem Zusammenhang: „Mir ist egal, was das für eine Form hat, ob die literarisch abgesichert ist. Mich interessieren diese vorgegebenen, diese gezimmerten Formen nicht.“1490 Für den Autor scheint es in dem von ihm dargestellten Vakuum der unmittelbaren Nachwende-Zeit keinerlei politische Identität zu geben, die Ereignisse werden nahezu ausschließlich durch das Konsumverhalten der Figuren bestimmt. Eine Aufarbeitung der Geschichte dürfte in dieser Situation unmöglich sein. Der „Mann“ hat noch keine neue Identität gefunden und wird angesichts des herrschenden Konsumterrors vorläufig keine finden können. Auch deshalb kann er, wie die anderen Übersiedler auch, als ‚Anti-Held‘ bezeichnet werden. Eine Art Ersatz-Identität liegt also höchstens im Konsum, nicht nur von Bananen. Achternbusch trifft damit neben den ‚kleinen Ossis‘ auch und gerade die Westdeutschen und den Kapitalismus insgesamt. Damit berührt er grundsätzliche Fragen, deren Virulenz am Beispiel der ‚Wende‘-Ereignisse besonders deutlich zu Tage tritt: Vergangenheitsbewältigung und wirtschaftliche Probleme werden schon früh als zentrale gesamtdeutsche Themen der folgenden Jahre erkannt und zur Sprache gebracht. 5.5.3
Botho Strauß: Schlußchor (1991)
Botho Strauß (*1944 in Naumburg an der Saale) setzte sich bereits vor 1989 in zahlreichen seiner Texte mit den deutsch-deutschen Verhältnissen auseinander. 1985 schrieb er bilanzierend in seinem langen Gedicht Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war: Kein Deutschland gekannt zeit meines Lebens. Zwei fremde Staaten nur, die mir verboten, je im Namen eines Volkes der Deutsche zu sein. Soviel Geschichte, um so zu enden? Man spüre einmal: das Herz eines Kleist und die Teilung des Lands. Man denke doch: welch ein Reunieren, wenn einer, in uns, die Bühne der Geschichte aufschlüg!
1490
„Ich bin doch kein Floh im Gesellschaftspelz“. Herbert Achternbusch antwortet auf Fragen von Thomas Thieringer. In: Theater heute 31 (1990) 5; S. 14, S. 14.
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Vielleicht, wer deutsch ist, lernt sich ergänzen. Und jedes Bruchstück Verständigung gleicht einer Zelle im nationellen Geweb, die immer den Bauplan des Ganzen enthält.1491
Strauß zählt damit – ähnlich wie Martin Walser – zu den wenigen Schriftstellern, die die Endgültigkeit der deutschen Teilung zumindest in Frage stellten. Dies geschah auch auf fiktionaler Ebene, beispielsweise in Rumor (1980) – einem Roman, in dem der Autor über eine ‚neue‘ deutsche Identität nach einer Vereinigung beider deutscher Staaten spekuliert.1492 Mit dem am 1. Februar 1991 an den Münchner Kammerspielen unter der Regie von Dieter Dorn uraufgeführten Dreiakter Schlußchor schrieb Strauß „einen vieldeutigen Beitrag zur deutschen Einheit.“1493 Noch 1991 wurde das Stück auf zwölf Bühnen gespielt bzw. im Programm angekündigt, unter anderem in Berlin, Düsseldorf, Wiesbaden und Wien1494; die Aufführung an der Berliner Schaubühne unter der Regie von Luc Bondy1495 wurde von Theater heute zur Inszenierung der Spielzeit 1991 / 92 gekürt. Inhaltlich scheinen die drei Akte zunächst einmal völlig unabhängig voneinander zu sein; sie sind jedoch zumindest durch die Figur des ‚Rufers‘ miteinander verbunden. Im ersten Akt heißt er „M 8“ bzw. „Johannes“, im zweiten wird er „Ferdinand Murrvogel“ genannt1496, im dritten schlicht „Der Rufer“. Er erscheint stets unerwartet, dabei meist das Wort „Deutschland!“ ausrufend. Sein Verhalten stößt zunächst auf Befremden, zumal erst im dritten Akt ein engerer thematischer Bezug des Ausrufs zur Handlung erkennbar wird. Im Anschluss an eine überblicksartige Darstellung der beiden ersten Akte wird daher auf den dritten Akt besonderes Augenmerk zu legen sein. Im Zentrum des „Sehen und Gesehenwerden“ betitelten ersten Aktes1497 steht das Arrangement eines Gruppenfotos. Aufgenommen werden sollen 15 Männer und Frauen, die nicht namentlich benannt werden, sondern von „F1“ bis „M 15“ durchnummeriert sind und einen modernen Chor darstellen. Die Realisierung der mit drei verschiedenen Kameras zu ma1491 1492 1493 1494 1495 1496 1497
Botho Strauß: Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war. Gedicht. München / Wien 1985, S. 48. Ders.: Rumor. München / Wien 1980. [Anon.]: [Infokasten] neben Botho Strauß’ umstrittenem Essay Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel 47 (1993) 6 v. 8.2.1993; S. 202-207, S. 202f. Vgl. Hans Jansen: Unscharfe Gruppenbilder. ‚Schlußchor‘ von Botho Strauß unter Minks in Düsseldorf. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 21.6.1991. Vgl. dazu Botho Strauß: Schlußchor. Schaubühne am Lehniner Platz. [Programmbuch, Spielzeit 1991 / 92; Berlin 1992]. Vgl. Botho Strauß: Schlußchor. Drei Akte. München 1996, S. 53. Ebd., S. 7-32.
5.5 Dramatik
493
chenden Aufnahme gestaltet sich als schwierig, denn die zu Fotografierenden diskutieren untereinander, schneiden Grimassen1498 und verhalten sich insgesamt wenig kooperativ. Die Verbreitung eines ‚Gerüchts‘1499 führt zum Eklat, denn „M 8“ brüllt unvermittelt: „Deutschland!“1500 Es herrscht Stille, der Fotograf unterbricht seine Arbeit1501, erst allmählich kommt wieder ein Gespräch in Gang. Diesem bereitet der Chor schließlich mit dem kollektiven Ausruf „Schluß!“ ein Ende.1502 Der Fotograf erhält eine Kette von Befehlen, die er „willenlos“1503 befolgt und damit seine eigene Vernichtung vollzieht: Kamera zwei! Suchen! Scharfziehen! Belichtung! Auslösen! Atem stop! Atem go! Hand aus der Hosentasche! Haare aus der Stirn! Kamerawechsel! Gehen, nicht schleichen! Geradehalten! Motiv! Linkes Auge, rechtes Auge! Nachdenken! Ideen! Blickwinkel! Kontrolle! Tiefenschärfe! Gesamteindruck! Stirnrunzeln! Lächeln! Charme! Ernst! Sorge! Umsicht! Deutschland! Knien! Abwärts! Erde! Abwärts! Schneller! Flach! Abwärts! Liegenbleiben! Mund auf! Augen starr! Kein Mucks mehr! Atem aus! Kein Mucks! Atem stop! Atem Ende! Licht aus!1504
Aus dem Hintergrund erscheint eine junge Frau, die von verschiedenen Mitgliedern des Chors aufgefordert wird ein Foto zu machen. Sie kommt diesem Wunsch nach und unterhält sich mit „M 8“, den sie mit „Johannes“ anspricht. Ihm erklärt sie: Die elende Zeit ist über dich gekommen. Du hast alle Freunde verloren, dein Beruf ist aus, deine Frau hat sich bitter an dir gerächt. Die Kinder sind aus dem Haus und haben dich längst vergessen. Du willst nicht leiden?1505
Aus diesen Bemerkungen entwickelt sich ein knapper Dialog: M8 Woher weißt du das alles? DIE FRAU Das sehe ich. Solche wie dich spür ich überall heraus. Solche, die sich gern was vormachen … M8 Warum sagst du das? So schlimm steht es doch auch wieder nicht um mich. 1498 1499 1500 1501 1502 1503 1504 1505
Vgl. Ebd., S. 12. Vgl. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 28. Ebd.; im Original kursiv. Ebd., S. 28f.; im Original kursiv. Ebd., S. 31.
494
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DIE FRAU Du siehst, wie die Erde verdirbt und die Güter der Erde ungerecht verteilt werden – und du willst nicht leiden? M8 Ich kann doch nicht immerzu daran denken! DIE FRAU D a s mußt du aber.1506
Der zweite Akt – „Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens)“1507 ist zweigeteilt. Szene eins stellt eine Bearbeitung des Artemis-Aktaion-Mythos dar: Lorenz, ein Architekt, reißt, einen Lichtschalter suchend, auf gut Glück eine Tür auf, hinter der er überraschend seine Auftraggeberin Delia erblickt, die sich, aus dem Bade kommend, abtrocknet.1508 Beide sprechen über die geplante Wohnung und über Liebe. Szene zwei spielt im ‚geräumigen Vestibül einer älteren Villa‘1509, das an einen Theaterbau erinnert. Der Zuschauer wird Zeuge des Kommens und Gehens auf einer offensichtlich von Delia veranstalteten Party. Die Figuren (über-)prüfen sich und ihre Posen ständig vor dem Spiegel. Lorenz erscheint im Gegensatz zur ersten Szene „[g]ealtert, eingefallen, zur komischen Figur verändert. Er trägt einen etwas zu kurzen Regenmantel, einen alten Schal, einen häßlichen Knautschhut. In der Hand hält er eine einzelne Gladiole. Er sieht sich in der Garderobe um.“1510 Vor einem Spiegel stehend, denkt er über sein Leben und seine unerwiderte Liebe zu Delia nach, als plötzlich „ein Mann mit etwas wirrem Haar“1511 aus dem Saal ins Vestibül ruft: „Deutschland!“1512 Auf Lorenz’ Frage: „Warum tun Sie das?“ antwortet er: „Ich muß mir Luft machen. Drinnen heißt es an sich halten.“1513 Er fügt hinzu: Ab nun verfällt die Republik. Es ist später denn je, sage ich Ihnen. Welch hübschen Körperteil, was meinen Sie, wird uns die freizügige Germania als nächsten entblößen? Ihr Knie vielleicht? Von wegen.1514
Lorenz entgegnet ihm: „Die Schönheit einer Frau bleibt doch, Geschichte hin, Geschichte her […].“1515 Am Ende des Aktes tritt er erneut vor den 1506 1507 1508 1509 1510 1511 1512 1513 1514 1515
Ebd., S. 31. Ebd., S. 33-68, Hervorhebung im Original. Vgl. Ebd., S. 35. Ebd., S. 43. Ebd., S. 43; im Original kursiv. Ebd., S. 49; im Original kursiv. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd. Ebd.
5.5 Dramatik
495
Spiegel: Darin erscheint die nackte Delia und blickt ihn an1516, worauf Lorenz einen Hut vors Gesicht stülpt und sich erschießt – vermutlich aus Enttäuschung darüber, dass Delia seine Liebe nicht erwidert.1517 Erst im dritten und letzten Akt („Von nun an“)1518, der in der Nacht des Mauerfalls spielt, geht es um die ‚Wende‘ im engeren Sinne. In einem kleinen (West-)Berliner Lokal sitzen die Endvierzigerin Anita von Schastorf, ihre Mutter und eine Figur, die als „Der Leser“ bezeichnet wird. Ursula und Patrick, ein Paar Mitte dreißig, treten ein und nehmen Platz. Die Gespräche bleiben oberflächlich, im Mittelpunkt der Unterhaltung steht Feuerland. Plötzlich reißt der „Rufer“ die Lokaltür auf und brüllt „Deutschland!“1519 Auf die Frage des „Lesers“, was „der Kerl“ wolle, antwortet der Wirt: Weiß der Teufel. Der rennt seit Tagen durch die Straßen und schreit’s in alle Flure, alle Hauseingänge. Er ist ganz atemlos. Aber heute scheint wirklich etwas loszugehen. In den Nachrichten hieß es, sie wollen die Grenze öffnen.1520
Der „Leser“ und der Wirt spekulieren daraufhin über die Wahrscheinlichkeit einer Grenzöffnung. Solveig und Rudolf, eine junge Frau und ein älterer Mann, betreten das Lokal. Zu einem Wechsel des Themas kommt es, als Anita die anderen Gäste belästigt und der Wirt sie deshalb zum Gehen auffordert.1521 Die Mutter entschuldigt das Verhalten ihrer Tochter mit einem Hinweis auf das Schicksal des Vaters: Morgen feiern wir den neunzigsten Geburtstag ihres Vaters, der Mitte vierundvierzig von den Nazis auf unserem Gut erschossen wurde. Sie wissen vielleicht nicht, wer ihr Vater war, Hans Ulrich von Schastorf, seinerzeit im Widerstand. Bei den Historikern ist er einschlägig bekannt. Sie hat erst kürzlich sein berühmtes Tagebuch in neuer Form herausgegeben. Das alles ist eine große Belastung für sie.1522
Es folgen wechselseitige Vorwürfe zwischen Mutter und Tochter1523 – ein zumindest dem „Leser“ bereits vertrautes Muster, denn er äußert über Anita: „Überall, wo eine Handvoll Menschen ahnungslos versammelt ist, tritt sie in Szene und macht der Mutter den Prozeß.“1524 Der „Rufer“ stürzt durch die Tür und verkündet – unter expliziter Bezugnahme auf Goethe 1516 1517 1518 1519 1520 1521 1522 1523 1524
Vgl. Ebd., S. 67. Vgl. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69-98. Ebd., S. 73. Ebd. Vgl. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82f. Vgl. Ebd., S. 83-85. Ebd., S. 85.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
– die Nachricht vom Fall der Mauer; mit ihm treten ein Mann und eine Frau aus der DDR ein, die beide graublaue Blousons tragen: Deutschland! Das ist Geschichte, sag ich, hier und heute, sage ich, Valmy, sage ich, Goethe! Und diesmal sind w i r dabei gewesen. Die Grenzen sind geöffnet! Die Mauer bricht! Der Osten … der Osten ist frei!1525
Der „Rufer“ verschwindet wieder auf der Straße. Die Anwesenden begrüßen das aus Friedrichroda stammende Paar, das erklärt „[d]reieinhalb Stunden mit unserem Privatjet“1526 unterwegs gewesen zu sein. Die ersten Erfahrungen waren bereits ernüchternd: „Wir waren zuerst in einer Disco, um uns etwas aufzuwärmen. Fünfundzwanzig Ostmark wollten die für eine Cola.“1527 Einmal abgesehen von dem Hinweis auf den „Privatjet“ erfüllen die beiden nicht nur durch ihre Kleidung stereotype Vorstellungen von DDR-Bürgern. So erklärt die Frau: „Verzeihen Sie, mir träumt noch alles durcheinander. Verzeihen Sie, wenn wir in unserem Benehmen etwas falsch machen.“1528 Bereits in der Nacht des Mauerfalls zeigen sich erste Anzeichen von Skepsis; so meint der Mann: „Doch. Wir freuen uns riesig. Wir freuen uns auch auf die Diskussion mit Ihnen.“1529 Der „Rufer“ tritt kurz wieder ein und erklärt in der Art eines Fernsehmoderators: „So sehen Menschen aus, die vierzig Jahre nicht glauben konnten, daß es Monte Carlo wirklich gibt!“1530 Letztlich wird dem Paar damit ein Objektstatus zugewiesen, der eher an Tierfilme erinnert als an ein Zusammentreffen gleichberechtigter Individuen. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt auf ihr Leben in der DDR wie auf einen abgeschlossenen Zeitraum zurückblickend, äußert die Frau: „Es ging uns
1525
1526 1527 1528 1529 1530
Ebd., S. 86. Marieke Krajenbrink gibt allerdings zu bedenken: „In der Euphorie des Augenblicks wird vergessen, daß Goethes Worte ‚Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen‘, […] gesprochen aus Anlaß der ‚erfolglosen‘ Kanonade des österreichisch-preußischen Koalitionsheers gegen die französischen Revolutionstruppen bei Valmy (20.9.1792), zwar eine historische Wende, den Anfang des unrühmlichen Endes des Frankreich-Feldzuges, bezeichnen, aber in der Einschätzung dieses Ereignisses recht ambivalent sind. So freudetrunken wie der ‚Rufer‘ hat Goethe die neue Epoche jedenfalls nicht begrüßt.“ (Marieke Krajenbrink: „Da mach ich mir ein historisches Eselsohr“. Tradition und Aktualität in Botho Strauß’ Schlußchor. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 193-211, S. 204f.) Ebd. Ebd., S. 87. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Ebd.
5.5 Dramatik
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nicht schlecht. Aber wir lebten betrogen.“1531 – Unmittelbar darauf meint der Mann: „Wir haben zwar nichts geglaubt, aber waren doch überzeugt, daß uns der Betrug vor Schlimmerem bewahrt.“1532 Seine Frau ergänzt: „Die Republik ist ja das einzige, was wir uns wirklich geschaffen haben.“1533 Diese Aussagen sind in ihrer Widersprüchlichkeit vor allem als Zeichen der Verwirrung angesichts der aktuellen Ereignisse zu verstehen. Durchaus passend ist in diesem Zusammenhang der sich anschließende Bericht des Mannes über seine tägliche Arbeit – um den er nicht gebeten wurde, sondern den er als Antwort auf Patricks Frage bzw. Aufforderung liefert: „Was geht in Ihnen vor? Was geht hier und jetzt, in diesen Minuten, in Ihnen wirklich vor? Erzählen Sie es uns bitte!“1534: Also ich kann nur von dem Betrieb erzählen, in dem ich selber arbeite. Da herrscht bei uns die reine Überflußwirtschaft in Gänsefüßchen. Das sieht nämlich so aus, daß fünfhundert Motoren produziert werden, die restlos veraltet sind, noch bevor sie auf Band gehen. Die niemand mehr gebrauchen kann. Der Gewinn in Gänsefüßchen wird dann praktisch nur noch durch Verschrotten erzielt.1535
Sämtliche Gesprächspartner – sprich: West- und Ostdeutsche – reden also aneinander vorbei. Die Kommunikationsunfähigkeit spielt in Schlußchor eine tragende Rolle, die Äußerungen der Ostdeutschen wirken zudem völlig konfus. Das Leben erscheint nahezu durchweg als ein beschädigtes, in dem auch Paar-Beziehungen nicht mehr funktionieren, am allerwenigsten bei Übertragung des Paar-Verhältnisses auf die beiden deutschen Staaten. Die eher als Statements denn als Gespräch über das Leben in der DDR zu bezeichnenden Äußerungen des Paares werden durch das erneute Erscheinen des ‚Rufers‘ abgebrochen, der nicht mehr nur „Deutschland!“ brüllt, sondern zum Nachrichtenboten geworden ist. Sein Bericht über den Fall der Mauer wird teichoskopieartig zur ‚Mauerschau‘ im wörtlichen Sinne: Sechshundert – siebenhundert – achthunderttausend! Die Stadt platzt aus den Nähten! Sie klettern über die Mauer, sie rennen durch die Kontrollen! Kommen Sie, kommen Sie schnell! Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, die Vopos tanzen in den Wachtürmen, die Stadt ist ein einziges Fest! Kommen Sie! Bleiben Sie doch jetzt nicht an Ihren Tischen hocken! Nie wieder werden Sie einen solchen Jubel erleben.1536
1531 1532 1533 1534 1535 1536
Ebd., S. 88 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 89.
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Mit Ausnahme von Anita und Patrick folgen alle dem „Rufer“ auf die Straße. Im Hinausgehen äußert sich der „Leser“ skeptisch über die aktuellen Ereignisse: „Nun gut, sehen wir uns das neueste Blendwerk an da draußen, wenn Venus den Deutschen einen Abend für einen Morgen vormacht!“1537 Die Adlige Anita und der Historiker Patrick nehmen das Gespräch über Anitas Vater wieder auf, in dessen Verlauf Patrick bekennt, wenig für „[d]ie konservative Verschwörung von Junkern und Großgrundbesitzern“ übrig zu haben.1538 Seiner Gesprächspartnerin wirft er vor, sie habe bei der Neuausgabe des „Tagebuchs zahlreiche Stellen unterdrückt, die ihn [den Vater, F.Th.G.] ins Zwielicht setzen könnten“1539; auch verhehlt er ihr nicht seine Zweifel an der Tätigkeit des Vaters im Widerstand: Er war, wie man sagt, ein großartiger und unbestechlicher Chronist der Terrorzeit. Aber, nicht wahr, an keiner einzigen Stelle lassen Sie zu, daß seine Frauengeschichten bekannt werden. Dabei wissen wir aus zahllosen Briefen längst, daß sich seine subversive Tätigkeit im wesentlichen darauf beschränkte, einigen oberen NS-Chargen Hörner aufzusetzen. Wollte er vielleicht durch Liebeskummer die Führung demoralisieren?1540
Anita schlägt und beschimpft ihn daraufhin.1541 Während „Fetzen aus Beethovens Schlußchor von der Straße her“1542 ins Lokal dringen, verwandelt sich die Dekoration: Anita befindet sich nun im Zoo vor einer Volière mit einem Steinadler.1543 Sie will den Vogel befreien, indem sie ein großes Loch in den Draht des Käfigs schneidet.1544 Zunächst vergeblich fordert sie das Tier auf, sich zu holen, was es brauche1545, denn sie muss feststellen: Ha! Er rührt sich nicht. Du scheinst mir reichlich abgemattet, verglichen mit dem liebesbösen Auge von heute morgen! Zu stolz? Zu selbstverliebt in dein Gefieder? Kein Kampf? Kein Beuteschlagen? Kein Mütchen mehr zu kühlen? Alles schon verlernt: den Balzruf und den Horstbau und … wie du die Mündung an das Weibchen preßt? Er rührt sich nicht.1546
1537 1538 1539 1540 1541 1542 1543 1544 1545 1546
Ebd. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd., S. 94; im Original kursiv. Das reale Vorhandensein eines Adlers wird mit Hilfe eines Rundhorizonts simuliert, auf den Flugbewegungen projiziert werden. Vgl. Ebd., S. 95. Vgl. Ebd. Ebd., S. 95.
5.5 Dramatik
499
Im Anschluss an die erste von drei Lichtpausen geht der Adler schließlich doch in langem Gleitflug auf Anitas Arm nieder; sie beschimpft das Tier: Kastrierte Chimäre! Wo ist dein Doppelbild? Schlappes Wappen! Erstarrte Ankunft! Puppe des Entsetzens! Du Ausgeburt des Zauderns, du halbherziger, halbkröpfiger Greif! Ich will deine Klauen auf glühende Kohlen binden. Ich will dich festsengen auf dampfendem Teer! An die Erde mit dir! Auf den Boden gebrannt!1547
Später bemerkt sie: Du fluggewordenes Erz. Alt und grau und machtlos. Wie ich dich täuschen konnte! Denn ich bin Wäsche, Wäsche durch und durch, überall Wäsche. Unmöglich, mich bis auf meine Haut zu treffen. Unmöglich mich [sic] beinschrötig zu schlagen, mich zu rupfen und zu kröpfen, ohne dabei an Garnen, Zwirnen, Filzen zu ersticken. Ist das nicht wunderbar?1548
In der nächsten Lichtphase liegt Anita auf dem Boden; in der direkten Ansprache des Adlers bezieht sie sich auf Prometheus: Bloß weil du nicht spielen kannst, soll ich in Fetzen gehen – soll ich die Erde röten um mich herum? Bloß aus blödem Ernst werde ich ausgenommen und gesäubert von triefenden Innereien, ein kahlgefressener Rippenkorb, den jeder Wind zur Seite rollt und auf die Steine prellt? Bloß weil du nicht spielen kannst mit mir?1549
Sie fordert: „Laß mich nicht häßlich leiden! Eine süße Wunde soll es sein, ein milder Krieg, ein glücklicher Zorn!“1550 Im Schlussbild stürzt der Adlerschatten auf der Leinwand nieder: „Wenn es wieder hell wird, steht ANITA bis zu den Waden in Federn, mit blutendem Gesicht, den abgeschnittenen Fang des Vogels in der herabhängenden Hand.“1551 Ihre letzten Worte bilden zugleich die letzten Worte des Stückes: „Wald … Wald … Wald … Wald …“1552 Strauß’ Drama entzieht sich, ähnlich wie das von Achternbusch, traditionellen Annäherungs- und Deutungsversuchen. Der Autor arbeitet mit zahlreichen Anspielungen, deren Sinn sich vielfach erst bei genauester Textkenntnis erschließt; auch bei ihm finden sich Elemente des Absurden. Zwar werden die Ereignisse der Nacht des 9. November erst im dritten Akt dargestellt bzw. berichtet – doch wird die Chronologie zumindest auf 1547 1548 1549 1550 1551 1552
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.
S. 96. S. 98. S. 97. S. 98; Hervorhebung im Original; im Original kursiv.
500
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der Ebene von Anspielungen bereits vorher mehrfach durchbrochen: So heißt es im ersten Akt: „Wir sind der Chor …“1553 – ein Satz, der im Hinblick auf Struktur und Vokabular an die Losung „Wir sind das Volk“ erinnert, die hier ironisch verfremdet wird. Im zweiten Akt murmelt eine Figur, die als „Der Häßliche“ bezeichnet wird: „Wahnsinn … Wahnsinn.“1554 Damit wird eine der Begeisterungsbekundungen antizipiert, mittels derer später von vielen Ostdeutschen die Öffnung der Grenzen kommentiert wurde (vgl. 4.2). Im selben Akt findet sich der Satz: „Aus dem Saal Gesellschaftsgeräusche und die Stimme eines Mannes: ‚Also mich reißt es jedes Mal vom Sessel, wenn ich höre, was euch dies neue Deutschland kosten soll!‘“1555 Erneut wird damit eine vor allem im Zusammenhang mit der Diskussion um eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten gefallene Äußerung vorweggenommen. Auch das erwähnte Gespräch über Feuerland kann als Anspielung gedeutet werden: Die Abgrenzung der „Primitivität“ der „Eingeborenen“ von Feuerland1556 dem genialen Isaac Newton gegenüber kann mit der Abgrenzung von DDR und Bundesrepublik in Parallele gesetzt werden, zumal im Text – von Anita – die Frage erhoben wird: „Wie kann ein Wesen, fragte sich Darwin, mit solch geringen Fähigkeiten und andererseits ein Wesen wie Sir Isaac Newton zu ein und derselben Rasse gehören?!“1557 Marieke Krajenbrink (1993) fasst zusammen: „Zu einer einheitlichen Aussage läßt sich dieses vielschichtige Stück […] nicht synthetisieren.“1558 Für sie steht jedoch fest, dass es sich nicht um ein politisches Stück handelt: „Vielmehr werden vor dem Hintergrund des Vereinigungstaumels unterschiedliche Erscheinungsformen und Aspekte der (allzu)menschlichen Bilderzeugung dargestellt.“1559 Letztere Erkenntnis ist richtig, doch ist das Stück natürlich kein unpolitisches. Strauß selbst erklärte später in seinem offenen Brief an die Gräfin Dönhoff: „Schlußchor“ gibt von der Wiedervereinigung lediglich einen Ereigniszeitraum, den Ruck, den Schrei, den Augenblick, der Seele und Sozietät – für kurz nur – geschichtlich erhebt, erregt und auch verwirrt. Es handelt in allen drei Teilen vom Auge und vom Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht „sehen“ kann.1560 1553 1554 1555 1556 1557 1558
1559 1560
Ebd., S. 28, 30. Ebd., S. 55; im Original kursiv. Ebd., S. 66; im Original kursiv. Ebd., S. 76. Ebd. Marieke Krajenbrink: „Da mach ich mir ein historisches Eselsohr“. Tradition und Aktualität in Botho Strauß’ Schlußchor. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 193-211, S. 211. Es dürfte allerdings wohl kaum ein sinnvoller Anspruch sein, Stücke ‚zu einer einheitlichen Aussage synthetisieren‘ zu wollen. Botho Strauß: Schlußchor. Drei Akte. München 1996, S. 210. Ders.: Auge und Augenblick. In: Die Zeit v. 2.8.1991.
5.5 Dramatik
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Die politische Dimension wird keineswegs ausgeblendet. Besonders deutlich zeigt sich dies im Schlussbild, das als Dekonstruktion eines negativen Deutschlandbildes interpretiert werden kann. Der Adler als Symbol für das alte – in erster Linie das preußische – Deutschland wird hier verbunden mit Anspielungen auf die germanische Mythologie1561 und die christliche Emblematik.1562 Das Zerfetzen des Adlers durch die ohnehin de facto machtlose Adlige kann als Prozess des Unschädlichmachens gedeutet werden: Von einem solchermaßen ‚gerupften‘ Deutschland, das nur noch ein „[s]chlappes Wappen“1563 darstellt, ist keine Bedrohung mehr zu erwarten. Zugleich konterkariert Strauß in der Schlussszene jegliche Vereinigungseuphorie: Schlußchor stellt auch eine Warnung vor sämtlichen Formen der Vereinigung dar, denn in allen drei Akten des Dramas scheitern die Vereinigungsversuche: dem Fotografen gelingt es nicht, die Gruppenaufnahme zu machen, Lorenz scheitert beim Versuch der sexuellen Vereinigung mit Delia, Anita misslingt der Kopulationsversuch mit dem Adler. Ohne die zahlreichen offenen und verdeckten intertextuellen Bezüge ist Schlußchor kaum zu verstehen. Marieke Krajenbrink unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Formen der Bezugnahme: Erstens findet sich ‚übergestülpte‘ generische Intertextualität in der Problematisierung von Kollektivität und Individualität. Zweitens begegnet auf Personenebene ausgetragene und reflektierte Arbeit an untereinander in Konkurrenz stehenden Mythen. Drittens läßt sich ein wiederum auf Personenebene situierter unterschiedlicher Umgang mit spezifischen Prätexten und Zitaten feststellen. Im Verlauf des Stückes entstammen die Verweise jeweils jüngeren und spezifischeren Prätexten. Zugleich werden die Bezugnahmen in zunehmendem Maße autoreflexiv thematisiert.1564
Besonders deutlich werden diese Bezüge in der ersten Szene des zweiten Aktes: Die explizite Bezugnahme auf Degas und das in der […] Regieanweisung als ‚tableau vivant‘ erscheinende Bild der nackten Delia bringt [sic] indirekt auch eine intertextuelle Serie, […] eine imaginäre Gemäldegalerie von Darstellungen beim Baden ertappter Frauen samt ihren (wiederum markierten) mythischen und bibli-
1561 1562 1563 1564
So wird auf S. 96 der ‚Rivale‘ des Adlers, Hräswelg, genannt. Siehe vor allem den Pelikan; vgl. Ebd., S. 97. Ebd., S. 96. Marieke Krajenbrink: „Da mach ich mir ein historisches Eselsohr“. Tradition und Aktualität in Botho Strauß’ Schlußchor. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 193211, S. 211.
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schen Vorlagen mit ins Spiel. Was diese Vorlagen betrifft, bezieht Delia, deren Name Ovid als Variante für die auf Delos geborene Göttin Diana verwendete, […] sich auf den Mythos, der erzählt, wie Aktaeon die badende Diana erblickte, von ihr in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zerrissen wurde.1565
Strauß selbst erklärte in dem oben erwähnten offenen Brief an die Gräfin Dönhoff, bei seiner Arbeit unter anderem von den Tagebüchern Horst Langes (1904-1971) und Friedrich Percyval Reck-Malleczewens (18841945) angeregt worden zu sein.1566 Einige Belege seien im Folgenden zitiert. Bei Horst Lange heißt es am 3. Februar 1945: „Und unten eine Art von mildem, verfrühtem Vorfrühling […].“1567 Drei Tage später hält er fest: „Und ein diesiger, trüber, feuchter Himmel über der sterbenden Stadt. Aber die Sträucher haben schon dicke Knospen und werden sich durch nichts am Blühen verhindern [sic] lassen!“1568 Am 22. Februar geht Lange erneut auf den Kontrast zwischen den grauenhaften Kriegserfahrungen und der aufblühenden Natur ein: Zaghafter, wundervoller allererster Vorfrühling! Im Garten schon die ersten Rosetten der Akeleien und dicke Stachelbeerknospen. Mondnächte mit silbrigem Dunst. Wenn die Bomben fallen und die […] Geschütze der Flak loslegen, flüchten die Vögel und tschilpen leise und ängstlich. Eine Fotografin […] erzählte mir, daß sie vor zwei Jahren im Hamburger Hafen alle Glocken registrieren mußte, die von den Kirchtürmen abgenommen worden waren und eingeschmolzen werden sollten. Zu Hunderten lagen sie nebeneinander, solche von 1250, solche aus dem Barock, solche aus unserer Zeit. Das Bild läßt mich nicht los. Zum Verstummen verurteilt, zu einer anderen Sprache gezwungen als jener der Ordnung, die sie lange genug bezeugt haben.1569
Strauß greift sowohl das Motiv des Vorfrühlings auf als auch die Erzählung von den eingeschmolzenen Glocken. Anita erzählt: Februar fünfundvierzig kam, ein zarter Vorfrühling. Alle Glocken wurden aus den Kirchen getragen und eingeschmolzen. In den Bombentrichtern wuchsen schon die ersten Primeln und die Leberblume.1570
Die unmittelbare Fortsetzung dieser Passage lautet: 1565 1566 1567
1568 1569 1570
Ebd., S. 201. Vgl. Botho Strauß: Auge und Augenblick. In: Die Zeit v. 2.8.1991. Horst Lange: Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg. Hrsg. und kommentiert von Hans Dieter Schäfer. Mit einem Lebensbild Horst Langes von Oda Schaefer. Mainz 1979, S. 193. Ebd., S. 196. Ebd., S. 202. Ders.: Schlußchor. Drei Akte. München 1996, S. 90.
5.5 Dramatik
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Eine junge Frau stieg aus der Straßenbahn, hübsch aufgeputzt und sehr geschminkt: da rutscht ihr ein Persilkarton vom Arm und rollt seinen Inhalt auf den Bürgersteig: Spielzeug, Toilettenkram und angesengte Wäsche, und darin eingehüllt die verkohlte, eingeschrumpfte Leiche ihres Kindes, die das halbirre Weib aus ihren Wohnungstrümmern barg und mit sich schleppt … Ich erzähle zuviel vom Krieg, nicht wahr?1571
An dieser Stelle lässt sich Strauß’ Orientierung an Reck-Malleczewen nachweisen; in dessen Tagebucheintrag vom 20. August 1943 heißt es: Ein Koffer, ein elendes Pappding mit abgestoßenen Ecken verfehlt sein Ziel, fällt auf den Perron, zerschellt und entleert seinen Inhalt. Spielzeug, angesengte Wäsche, ein Nagelnecessaire. Zum Schluß eine gebratene, zur Mumie eingeschrumpfte Kinderleiche, die das halbirre Weib mit sich geschleppt hat als Überbleibsel einer vor wenigen Tagen noch intakten Vergangenheit.1572
Bezieht man diese Passagen auf die Äußerungen des Historikers Patrick über Anitas Vater, so liegt der Schluss nahe, Strauß kritisiere zugleich die Rolle Langes und / oder Reck-Malleczewens in der Zeit des ‚Dritten Reiches‘. Beide die Tagebücher betreffenden intertextuellen Bezüge sind im Text nicht markiert – im Gegensatz zu dem folgenden aus Jean Pauls Siebenkäs (1796 / 97): Auf Seite vierhundertvierzig! Da mach ich mir ein historisches Eselsohr. Die Epoche hat im ‚Siebenkäs‘ gewechselt, kurz nach dem Fest der Sanftmut, wo es gerade hieß: ‚Und so werden alle A b e n d s t e r n e dieses Lebens einmal als M o r g e n s t e r n e wieder vor uns treten.‘ Nun gut, sehen wir uns das neueste Blendwerk an da draußen, wenn Venus den Deutschen einen Abend für einen Morgen vormacht!1573
Auch hier kommt dem Zitat die Funktion einer Relativierung zu: Die ‚Wende‘ erscheint als ‚neuestes Blendwerk‘. Einen intertextuellen Bezug stellt zudem der Titel des Stückes dar. Der berühmte Schlusschor aus Beethovens Neunter Sinfonie wird eher beiläufig erwähnt1574, doch an anderer, bereits zitierter Stelle im ersten Akt, ruft der Chor: „Schluß!“1575 und wird damit auf wortspielerischer Ebene zum ‚Schluß-Chor‘. Die traditionelle Funktion des Chors wird dadurch trivialisiert und ad absurdum geführt: Kommt ihm bei Beethoven 1571 1572 1573 1574 1575
Ebd. Friedrich Percyval Reck-Malleczewen: Tagebuch eines Verzweifelten. Lorch / Stuttgart 1947, S. 182f. Botho Strauß: Schlußchor. Drei Akte. München 1996, S. 89; Hervorhebungen im Original. Vgl. Ebd., S. 94. Ebd., S. 28.
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eine uneingeschränkt positive Rolle zu, so wird diese von Strauß ironisch gebrochen, möglicherweise gar karikiert. Andererseits entsteht innerhalb des Chors „eine aggressive Kollektivität […] in der Abwehr der forcierten Vereinigungsversuche des Fotografen.“1576 Der auf die deutsch-deutschen Verhältnisse übertragbare Vereinigungsprozess ist also nicht ohne weiteres gewünscht. Durch die Äußerung des ‚Lesers‘ – den Anita mit den Worten charakterisiert: „Der spitzt die Ohren hinter’m Buch. An dem kommt kein Wörtchen unbelauscht vorbei.“1577 – relativiert sich überdies der Stellenwert der ‚Einheit‘, denn der „Leser“ sieht in der Grenzöffnung und damit letztlich auch in der kommenden Einheit „das neueste Blendwerk“.1578 Folglich wäre die ‚Wende‘ nichts als eine Inszenierung, die lediglich die eilends nach draußen laufenden Kleinbürger aufschreckt. Diese Deutung würde allerdings eine gewisse Realitätsferne des Autors nahe legen. In der Kritik war das Stück umstritten; die Rezensenten wandten sich vor allem gegen das allegorische Schlussbild.1579 Joachim Kaiser zieht folgendes Fazit: Kein Stück, sondern eine verrätselte Revue. Revuen müssen nicht unbedingt oberflächlich sein […]. Doch das Gewicht eines verbindlichen Dramas, dessen Gestalt mehr besagt als nur die Summe geistvoller Sätze und durchtriebener Einfälle – dieses Kunstgewicht hatte der „Schlußchor“ bei seiner Münchner Uraufführung nicht.1580
Die Gräfin Dönhoff (1909-2002) schrieb – außerhalb des ihr angestammten Ressorts – eine vernichtende Kritik in der Zeit und löste damit eine Woge von Zuschriften aus, unter anderem von Hans Jürgen Syberberg, Walter Falk, Michael Krüger und Botho Strauß selbst.1581 Dönhoff behauptet: „Es ist nämlich kein Stück über die deutsche Einheit. / Eigentlich ist es überhaupt kein Stück; es sind vielmehr drei Sketches, die miteinander nichts zu tun haben […].“ Insgesamt handele es sich um ein „ärmliches Stück“,
1576
1577 1578 1579 1580 1581
Marieke Krajenbrink: „Da mach ich mir ein historisches Eselsohr“. Tradition und Aktualität in Botho Strauß’ Schlußchor. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 193211, S. 199f. Botho Strauß: Schlußchor. Drei Akte. München 1996, S. 77. Ebd., S. 89. Vgl. etwa Gerhard Stadelmaier: Ode an die Meute. Komödie der Deutschen: „Schlußchor“ von Botho Strauß in München uraufgeführt. In: FAZ v. 4.2.1991. Joachim Kaiser: Der schräge Blick des Botho Strauß. Zur „Schlußchor“-Uraufführung in den Münchner Kammerspielen. In: SZ v. 4.2.1991. Vgl. [Leserbriefe]: Gekonnt ist auch ungelernt. Anmerkungen zu Botho Strauß’ „Schlußchor“. In: Die Zeit v. 2.8.1991.
5.5 Dramatik
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eine „Mischung aus Mythologie, Banalität und Pseudophilosophie“, bei dem „einem gar nicht wohl“ sei.1582 Dass der zuletzt genannte Aspekt tatsächlich ein Kriterium für die Qualität von Theaterstücken darstellt, darf bezweifelt werden. In nahezu allen Besprechungen, aber auch in tiefer gehenden Analysen, ist eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Beurteilung des Straußschen Stückes spürbar. Axel Schalk (1993) etwa fragt sich, ob Strauß „das alte Muster, das reaktionäre Opernklischee persifliert“1583 habe. Und auch Benjamin Henrichs (1991) ist sich in seiner Kritik im Hinblick auf eine Situierung des Werkes nicht im Klaren: „Sollte Botho Strauß wider Erwarten das Festspiel zur deutschen Vereinigung verfaßt haben? oder doch die tödliche Satire?“1584 In dieser Offenheit, die nichts mit Beliebigkeit zu tun hat, mag zugleich eine Qualität von Schlußchor liegen. 5.5.4
Klaus Pohl: Karate-Billi kehrt zurück (1991)1585
Unter der Regie seines Autors wurde am 16. Mai 1991 im Hamburger Deutschen Schauspielhaus Klaus Pohls Stück Karate-Billi kehrt zurück uraufgeführt.1586 Das Drama bildet nach Das Alte Land (1984) und vor Die schöne Fremde (1991) den zweiten Teil der Trilogie Deutschland – ein leerer Kopf auf vollem Bauch; ihm liegt der authentische Fall des Athleten Wolfgang Schmidt zu Grunde.1587 Diesen Fall verfremdete der 1952 in Rothenburg ob der Tauber geborene Schriftsteller und konzentrierte die Handlungszeit auf nur wenige Stunden. Karate-Billi kehrt zurück gehört zu den meistgespielten Stücken des Jahres 1991: Noch im Monat der Uraufführung wurde es in Stuttgart unter der Regie von Jürgen Bosse aufgeführt, später am Bayerischen Staatsschauspiel in München unter der Regie von Roland Schäfer. In der Spielzeit 1991 / 92 stand es unter anderem in Aachen, Bielefeld, Dortmund, Hannover, Kiel, Nürnberg, Trier und Wiesbaden auf den Plänen.
1582 1583 1584 1585
1586
1587
Marion Gräfin Dönhoff: Ein Stück über die deutsche Einheit? Anmerkungen zu Botho Strauß’ „Schlußchor“. In: Die Zeit v. 21.6.1991. Axel Schalk: Coitus germaniae interruptus. Die deutsche Wiedervereinigung im Spiegel von Prosa und Dramatik. In: WB 39 (1993) 4; S. 552-566, S. 560. Benjamin Henrichs: Deutschland vor! Noch ein Chor! Dieter Dorn inszeniert das neue Stück von Botho Strauß: „Schlußchor“. In: Die Zeit vom 8.2.1991. Klaus Pohl: Karate-Billi kehrt zurück. In: K.P.: Karate-Billi kehrt zurück. Die schöne Fremde. Zwei Stücke. [Neufassung 1993]. Frankfurt a.M. 1993 (Theaterbibliothek), S. 7-87. Vgl. dazu Matthias Wegner: Spiel mir das Lied von Billi Bieberkopf. Klaus Pohls neues Stück und seine Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. In: FAZ v. 18.5.1991. Vgl. Ebd.
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Aus literaturgeschichtlicher Perspektive kann das von Axel Schalk (1994) als „paradigmatic play about repression“1588 bezeichnete Drama im weitesten Sinne in den Kontext der Heimkehrerstücke eingeordnet werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg in großer Zahl entstanden; das wohl bekannteste Werk dieses Genres dürfte Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür (1947) sein. Zugleich ist eine besondere Nähe zur Tradition des Volkstheaters erkennbar. Der Enddreißiger Billi Kotte war in den siebziger Jahren einer der besten Zehnkämpfer der DDR. Trotzdem blieb ihm die Teilnahme an der Olympiade verwehrt, denn „[z]wei Minuten vor dem Abflug sollen sie ihn festgenommen haben und denn [sic] nach Dresden verbracht.“1589 Dringender Ausreiseverdacht wegen eines Angebotes aus Amerika1590 und eine Denunziation führten dazu, dass er in eine geschlossene psychiatrische Anstalt, die so genannte „Irren-Villa“1591, eingewiesen wurde. Dort musste er 13 Jahre verbringen, zeitweise gemeinsam mit einem dreifachen Frauenmörder.1592 Während seines Aufenthaltes wurde er nicht nur physisch, sondern vor allem psychisch misshandelt; zudem wurden medizinische Versuche an ihm durchgeführt.1593 Nach der ‚Wende‘ wird Kotte entlassen und kehrt in seine Heimatstadt zurück. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen, neben Billi Kotte, seine Schwester, die Psychiaterin Greta, Waldemar Urban, „[e]hemaliger Informant, Reichsbahnangestellter“, der aus dem Westen stammende Bankier Frank von Stahl, der Pastor Horst Menzel sowie Dankward Nickchen, „alter und neuer Bürgermeister“ und dessen Frau Rosita. Als Ort der Handlung wird eine nicht weiter spezifizierte „Stadt im Osten Deutschlands“ angegeben, als Zeit „ein Sonntag im Frühsommer des Jahres 1990“.1594 Die Handlung setzt vor Kottes Erscheinen ein, er selbst tritt erst in Szene III des ersten Aktes auf. Bis zu diesem Punkt sind bereits die wesentlichen Aspekte seiner Biografie eingeführt. Von Beginn an dominiert, auch im Hinblick auf die Gesprächsthemen, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. So beginnt Waldemar Urban, die erste sprechende Figur, einen 1588
1589
1590 1591 1592 1593 1594
Axel Schalk: Wendestücke: German Plays for Today – Theatre after the Blitzkrieg. In: Arthur Williams / Stuart Parkes (Hgg.): The Individual, Identity and Innovation. Signals from Contemporary Literature and the New Germany. Bern / Berlin / Frankfurt a.M. / New York / Paris / Wien 1994; S. 273-296, S. 287. Klaus Pohl: Karate-Billi kehrt zurück. In: K.P.: Karate-Billi kehrt zurück. Die schöne Fremde. Zwei Stücke. [Neufassung 1993]. Frankfurt a.M. 1993 (Theaterbibliothek); S. 7-87, S. 11. Vgl. Ebd., S. 45. Ebd., S. 9. Vgl. Ebd., S. 36. Vgl. Ebd. Ebd., S. 8.
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Rechtfertigungsdiskurs, ohne überhaupt mit einem Vorwurf konfrontiert worden zu sein. Im Zusammenhang mit der Öffnung der „Irren-Villa“ äußert er: „Wir wußten ja nichts, wir wußten ja nicht, was da wirklich geht vor, was da wirklich geht vor in der Selbmannstraße. Wir waren alle ahnungslos.“1595 Urban bedient sich hier eines klassischen Argumentationsmusters: Da er angeblich nichts von den unmenschlichen Verhältnissen wusste, konnte er auch nichts gegen die Missstände unternehmen. Zudem versucht er aus seiner früheren Spitzeltätigkeit Profit zu schlagen, denn er bittet den Bankier von Stahl: „Aber Herr von Stahl, bitte drücken Sie mir nicht das Brandmal Ihrer Verachtung auf, bloß weil ich mich zu meiner Vergangenheit bekenne.“1596 Auf dessen Entgegnung, seine Vergangenheit sei schließlich seine Sache, erklärt er: Meine Vergangenheit ist gerade nicht meine Sache. Meine Vergangenheit ist ausschließlich das Ergebnis einer besonderen Bedarfslage. Und dort liegt auch der Berührungspunkt zum kreditgebenden Bankgewerbe. ‚Wer ist wer‘ – die Kardinalfrage – Wer ist wer – Wollen das die Banken etwa nicht wissen?1597
Als der Bankier kein Interesse an den ihm angebotenen Informationen signalisiert, wird Urban deutlicher: „Man muß nur mittendrin sein in der Bevölkerung. Wie gesagt. Wenn Sie Informationsbedürfnisse haben …“1598 Die von ihm selbst nach der ‚Wende‘ gesammelten Informationen beziehen sich auf zahlreiche Bewohner der Stadt – einschließlich des Bürgermeisters, auf dessen Beinamen „der kleine Ceausescu“1599 Urban den Bankier hinweist. Er weiß auch zu berichten, dass Sascha, die Bedienung des Gasthauses, in dem die beiden sitzen, sehr gerne erotische Lyrik [hat]. Sascha. Zum Beispiel hat sie vor Weihnachten dreimal erfolglos in den hiesigen Buchhandlungen nach einer bestimmten Ausgabe gefragt. Wenn ich Ihnen jetzt den Titel des Werkes und Saschas Geburtsdatum verrate – […] – dann könnten Sie der Kleinen schon bald eine große Freude machen.1600
Da er offensichtlich eine finanzielle Gegenleistung von Seiten des Bankiers erwartet, dem er mit der Darstellung seiner Kenntnisse über dessen Aufenthaltsbedingungen geradezu droht, beschränken sich Urbans Äußerungen jedoch auf Andeutungen.1601 Das Gespräch wird schließlich durch Billi 1595 1596 1597 1598 1599 1600 1601
Ebd., S. 9. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17f. Ebd., S. 20. Ebd. Ebd., S. 19. Vgl. Ebd., S. 21.
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Kottes Erscheinen beendet, später aber wieder aufgenommen. Als von Stahl Urbans Dienste ablehnt, warnt dieser ihn – ein Verhalten, das als klare Drohung zu verstehen ist: Wenn Sie hier etwas bewegen wollen, werden Sie meine Kenntnisse über die Bevölkerung noch bitter nötig haben. Vielleicht schon morgen, wenn Sie über Nickchens Kreditanträge entscheiden sollen.1602
Urban ist damit durch die detaillierte Darstellung seines Verhaltens ausführlich charakterisiert. Von Stahl gegenüber erklärt er, er sei „fest davon überzeugt, der Sozialismus hätte weltweit gesiegt, wenn die, wenn die [sic] Motivation und die Kreativität im Volk, in der Bevölkerung ebenso stark gewesen wären wie bei uns. Nein, der jetzt so verrufene Geheimdienst hat Ausdauer und Phantasie besessen.“1603 Urban ist ein Spitzel, der selbst nach dem Zusammenbruch des Systems nicht mit dem Spionieren aufhört, weil er Geschäfte wittert. Dabei versucht er, sein Wissen aus DDR-Zeiten mit neu erworbenen Kenntnissen zu kombinieren; den Übergang vom real existierenden Sozialismus zum Kapitalismus vollzieht er somit nahezu reibungslos. Kotte hat von den politischen Entwicklungen des Herbstes 1989 nichts mitbekommen. So weiß er noch nichts von der bevorstehenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten; erst nach Saschas Äußerung „[…] Die deutsche Einheit fängt zuerst beim Geld an.“1604 und der Entgegnung des Bankiers „Nicht nur! Aber auch.“1605 erfährt er davon und fragt seine Schwester: „Die deutsche Einheit? Was für eine Einheit, Greta?“1606 Erst im zweiten Akt, als er mit seiner Schwester allein ist, klärt sie ihn über die Ereignisse auf.1607 Von Anfang an herrschen Spannungen zwischen Kotte und Urban. Der ehemalige Sportler fordert den Spitzel mehrfach auf, den Raum zu verlassen; diesem Wunsch entspricht Urban jedoch nicht. Es kommt zu einem Disput, in dessen Verlauf die Beteiligten sich gegenseitig Vorwürfe machen: ÜCKER Ich muß dazu etwas sagen. Urban. Eigentlich wollte ich den Mund halten. Urban! Hätten Sie damals Billi auf dem Bahnhof mit der Sascha nicht gleich von der VP abräumen lassen – dann wäre das am nächsten Tag vergessen gewesen!
1602 1603 1604 1605 1606 1607
Ebd., S. 55f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd., S. 40f.
5.5 Dramatik
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URBAN Schöne Worte, Herr Ücker. Da hätte ich den alten Nickchen damals sehen wollen. Was, Nickchen? Der hätte mich gleich mit verbracht. NICKCHEN Ich? So einer war ich nie. URBAN Ich mußte Meldung machen! Und jeder hätte das damals an meiner Stelle getan. Billi ist auf dem Gleiskörper herumgeturnt mit der Kleinen, stockbesoffen, und wollte den Warschauexpreß aufhalten.1608
Alle versuchen sich herauszureden und weisen jegliche Verantwortung zurück. Mit dieser Szene wird eine Tribunalsituation eingeleitet, die fortan das Geschehen bestimmt. Im Zuge der ‚Verhandlung‘ erhebt Kotte konkrete Vorwürfe gegen Urban; dessen Rechtfertigungen führen wiederum zu wechselseitigen Vorwürfen: BILLI Der soll gehen. Der soll gehen. Der Urban, der Anscheißer. Was ich nämlich nie gesagt habe, Urbatsch, und was du im ‚Roten Oktober‘ ausgesagt hast, daß ich ausreisen wollte nachm Westen – worunter verbuchen wir das? URBAN Wenn man mir ich weiß nicht was androht, wenn ich die Aussage nicht mache? BILLI Wer ist man! URBAN Das habe ich nicht freiwillig gesagt. NICKCHEN Warum guckst du mich dabei an?1609
Im zweiten Akt, der in Gretas Wohnung spielt, wird angedeutet, dass Greta in der „Villa“ ein inzestuöses Verhältnis zu ihrem Bruder unterhielt. Offenbar missbrauchte sie dazu ihre Funktion als auch für Billi zuständige Psychiaterin. Noch nach seiner Entlassung versucht sie Einfluss auf ihren Bruder zu nehmen; dies geschieht nicht nur verbal, sondern auch über das Verabreichen nicht weiter spezifizierter Pillen. Der 2. Akt ist deutlich kürzer als die anderen Akte und kann als Zwischenakt bezeichnet werden: Die Handlung beruhigt sich vorübergehend, Billi bekennt jedoch, die Stadt verlassen zu wollen und gibt zugleich seiner Befürchtung Ausdruck: „Ich geh hier weg. Sonst … sonst passiert noch was, Greta!“1610 Wie im ersten, ist Billi Kotte im dritten und letzten Akt anfänglich abwesend. Im Zentrum steht zunächst das Gerücht, Bürgermeister Nickchen sei „ein geheimer Oberst“ gewesen. Seine Frau Rosita äußert in diesem Zusammenhang: „Wenn das Gerücht erst mal rum ist, dann sind wir tot. Dann nimmt Dankward Gift.“1611 An dieser zugleich als Drohung zu verstehenden Äußerung zeigt sich der große Druck, unter dem nahezu alle Figuren stehen und der ihr weiteres Handeln entscheidend bestimmt. Kotte wird als bedrohlich empfunden. Beschwichtigungsversuche werden 1608 1609 1610 1611
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
33. 34. 46. 54.
510
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angedeutet; so erklärt Urban: „Du kriegst pro abgesessenen Monat 40 Mark Wiedergutmachung. Das sind für dich grob 5400 gute Mark.“1612 Der Bedrohungsgrad steigt, als Kotte beginnt die anderen zu verhören. Für ihn ist es wichtig Klarheit zu erhalten. Dabei fühlt er sich von einem inneren Drang getrieben, denn auf Gretas Frage, was er davon habe, „den ganzen alten Schmutz“ hochzuwühlen, antwortet er: „Das bohrt so, Greta, weißt du, von links und von rechts, als ob da zwei Bohrer mir durch die Schläfen gingen. Vielleicht hört dann das Bohren auf.“1613 Durch Kottes Fragen geraten alle anderen Figuren zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Urban verteidigt sich erneut mit einer klassischen Ausrede; er beruft sich auf die damals gültige Rechtslage: „[…] ich bin immer anständig geblieben. […] Ich habe nur gewissenhaft durchgeführt, was die Gesetze verlangt haben.“1614 Die Situation gerät an den Rand der Eskalation, als Kotte den Bürgermeister mit einem Messer bedroht und ein Geständnis verlangt. In diesem Zusammenhang stellt sich heraus, dass Nickchen den Brief eines Mädchens aus den Niederlanden, das sich im Ausland mit Billi verabreden wollte, an die Staatssicherheit weitergeleitet hat. Auch Nickchen bedient sich klassischer Ausreden: […] ich, was soll ich sagen, ich habe in meiner Eigenschaft als Kreissekretär erst und später als Bürgermeister mit meinem Wissen an die Staatssicherheit weitergereicht, und dazu stehe ich ein … […] Es war ein Teil meiner Arbeit, und ich stehe zu einer speziell in deinem Fall notwendigen, zu einer eventuell notwendigen moralischen Verurteilung dieser Tätigkeit.1615
Im weiteren Verlauf stellt sich heraus, dass Rosita Nickchen in Kottes Konkurrenten Götz Janek verliebt war und dass sie es war, die den Brief geschrieben hat, der an die Staatssicherheit weitergeleitet wurde, um Janek zu einem Sieg zu verhelfen1616; bei dem Schreiben handelt es sich also um eine Fälschung. Nach der ‚Wende‘ sei Rosita von Urban bedroht worden: Oberst Titus. Das war sein Deckname. Der hat die Operation geleitet. Ich konnte es dir nicht sagen, ich hatte Angst … ich wußte, daß Urban weiß, daß ich es weiß, daß er Titus ist … und nach dem Zusammenbruch, da hat er mir gedroht, wenn ich was in der Richtung fallenlasse, dann würde ich … dann fährt uns ein LKW in die Seite. Ich weiß, Dankward, ich hätte es dir längst sagen müssen …1617 1612 1613 1614 1615 1616 1617
Ebd., S. 57. Ebd., S. 70. Ebd., S. 59. Ebd., S. 68. Vgl. Ebd., S. 70-72. Ebd., S. 72.
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Kotte steht völlig allein da; nicht einmal der Pastor, Horst Menzel, von dem am ehesten Beistand zu erwarten wäre, hilft ihm. Eher ist das Gegenteil der Fall, denn Menzel fordert: […] Das Alte muß aufhören. Das Gewesene. Ich kann es Ihnen schwer erklären, Ücker … nein … Jesus –: ist die Lüge schlechthin … Jesus ist nur dazu da, um uns in die Irre zu führen … Eine Kitschfigur, die so ganz nach dem verdorbenen Geschmack der Kleinbürger kommt.1618
Mit der Behauptung, Jesus sei „die Lüge schlechthin“, geht Menzel außerordentlich weit und verrät nicht nur seinen Glauben, sondern auch seinen Berufsstand. Urban hat zwischenzeitlich die Psychiatrie informiert. Nach einem kurzen Kampf bedroht er Kotte mit einer Pistole und bekennt, er sei „nur das Becken [gewesen; F.Th.G.], wo die Wasser zusammenflossen“.1619 Zugleich signalisiert er seine Bereitschaft Auskunft zu geben und fordert Kotte zum Fragen auf. Es zeigt sich, dass Billis Schwester, um Ärztin werden zu können, ebenfalls für die Staatssicherheit tätig war und in der psychiatrischen Klinik Dösen für Urban spitzelte.1620 Er zwang sie unter anderem, „in die Privatsphäre des leitenden Oberarztes einzudringen.“1621 Greta betont, stets wegen Billi so gehandelt zu haben. Sie selbst war nicht bereit, ihn zu denunzieren, und so wurde ihr von Urban „eine Brücke gebaut […] und die führte zu unserem Pastor.“1622 Mit Menzel führte Greta ein vertrauliches Gespräch; dieser gab sein Wissen jedoch weiter. Doch statt ebenfalls ein Geständnis abzulegen, erklärt er: „Gott hat uns nicht als unsere Richter bestellt.“1623 Er erhofft sich Unterstützung durch den Bankier, der in der Tat im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine ähnliche Position wie Menzel selbst kurz zuvor vertritt: Ich finde, diese ganzen Sachen behindern nur. Da sollte man einen Punkt machen. Wissen Sie, was Churchill einmal gesagt hat? Wenn die Gegenwart über die Vergangenheit zu Gericht zu sitzen versucht, wird sie die Zukunft verlieren. Da ist ein widerwärtiges Spinnennetz über Sie alle geknüpft worden. Sie haben sich daraus befreit. Nun schmeißen Sie es auch weg! Herr Kotte. Sie können nur verlieren, wenn Sie das aufdröseln wollen.1624
Unmittelbar darauf missversteht Kotte Urbans Satz „Du hast sie noch nicht alle zusammen!“1625 Er sticht daraufhin auf den Spitzel ein, dieser 1618 1619 1620 1621 1622 1623 1624 1625
Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Vgl. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. Ebd. Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
verliert die Pistole. Billi beruhigt sich wieder, und Urban klärt die Anwesenden darüber auf, dass die bisher weit gehend außerhalb des aktuellen Geschehens stehende Sascha auf Grund einer sexuellen Abnormität als Prostituierte arbeitete – in einer Zeit, zu der sie zudem noch minderjährig gewesen sei.1626 Ücker sollte die Rückkehr in den Arztberuf angeboten werden, falls dieser sich bereit erklärte, Kotte in Gretas Wohnung eine muskellähmende Spritze zu verabreichen, um dessen Olympiateilnahme zu verhindern. Ücker stieg jedoch kurzfristig aus, Kotte wurde deshalb erst am Flughafen verhaftet. Auf Gretas Empfehlung verlegte man ihn vom Gefängnis in die Psychiatrie, wo sie allerdings seine Entlassung Jahr für Jahr verhinderte.1627 Trotz aller Warnungen und Hindernisse versucht Kotte also, den eigenen Fall zu rekonstruieren. Sein Insistieren ist erfolgreich. Nachdem alle ‚geständig‘ sind, will er die Tribunalsituation beenden: […] Jetzt haben wir was zu feiern. Ihr müßtet eure Gesichter sehen. Wie umgegraben. Der Kleister ist raus. Paßt auf. Da kommt früh genug frischer drauf. Kommt! Alle um einen Tisch. Greta. Jetzt ist es raus. Jetzt bohrt es nicht mehr.1628
Er fühlt sich befreit, empfindet keine Belastung mehr und will auf die Bestrafung der Täter verzichten. Doch zu der von ihm gewünschten Feier kommt es nicht mehr. Menzel ergreift das Wort im Namen aller: […] Mein Gott. Billi. Wozu ist das gut? Mußt du uns so demütigen? Ich bitte dich in unser aller Namen um Vergebung. Wir haben schändlich an dir gehandelt, als wir glaubten, dir zu helfen. Aber jetzt lass uns gehen.1629
Einmal mehr zeigt sich hier die Verlogenheit des Pastors, denn die Begründung, „wir glaubten, dir zu helfen“ wurde zuvor bereits als Lüge entlarvt. Wenig später stellt sich heraus, dass Urban tot ist; gleich darauf erscheinen Polizisten und Pfleger. Kotte will diese wegschicken: „Sie können wieder fahren. Ich bin mit den Leuten jetzt klar. Sie haben alles zugegeben. Es liegt mir nichts an einer Bestrafung.“1630 Als die Pfleger auf ihn zukommen, protestiert er: „Wollt ihr mich ganz zerbrechen?“1631 Am Ende des Dramas beziehen die Täter noch einmal Position und sind – mit Ausnahme von Rosita Nickchen – bereit, Verantwortung zu übernehmen: 1626 1627 1628 1629 1630 1631
Vgl. Ebd., S. 81f. Vgl. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87.
5.5 Dramatik
513
MENZEL Nein. Mich müssen Sie mitnehmen. GRETA Setz dich, Billi. MENZEL Ihr habt es alle gesehen. Könnten die Herrschaften nicht als Zeugen gleich mitkommen? […] ÜCKER Ja. Und um die ganze Wahrheit zu sagen: Wir haben alle kräftig mitgeholfen … […] NICKCHEN leise Nein. Ich. Ich hab den Urban fertiggemacht. Wir! Wir beide, Rosita! ROSITA Dankward! Ich nicht! Wir nicht! Wir haben damit nichts zu tun! Du! Wir haben mit der Schweinerei nichts zu tun! – Dunkel –1632
Karate-Billi kehrt zurück endet also offen. Dies ist in der im Berliner Deutschen Theater unter der Regie von Alexander Lang aufgeführten Fassung anders: Diese noble Geste hat der Regisseur Alexander Lang seinen Landsleuten nicht zugestanden. Er hat sie in ihr Gegenteil verkehrt. Die sieben gestehen zwar schon mit tonloser Stimme ihre Vergehen. Das tun sie aber erst, nachdem Billi schon abgeführt und die Staatsmacht außer Hörweite ist. Das späte Eingeständnis bleibt also ohne Folgen.1633
5.5.5
Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar (1993)
Rolf Hochhuth, geboren 1931 in Eschwege (Werra), ist einer der wichtigsten Vertreter des politischen Dokumentartheaters deutscher Sprache. In seinem 1963 erschienenen Drama Der Stellvertreter wirft er unter anderem die Frage auf, ob der Papst eine Mitverantwortung am Holocaust trage, weil er zu den Judenverfolgungen durch die Nationalsozialisten schwieg. Mit diesem Stück löste Hochhuth einen Skandal aus. Auch seine weiteren Stücke sorgten für Wirbel und – nicht zuletzt wegen ihrer direkten Bezugnahme auf lebende Personen – teilweise auch für juristische Auseinandersetzungen. Hervorzuheben sind Soldaten. Nekrolog auf Genf (1967), Die Hebamme (1971), Juristen (1979), Ärztinnen (1980) und Judith (1984). Hochhuths Drama Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land sorgte bereits vor seinem Erscheinen für einen – vom Autor wohl durchaus einkalkulierten – Skandal, denn bereits im Juni 1992 hatte er dem Nach1632 1633
Ebd.; Hervorhebungen im Original. Franz Wille: Vorwärts in die Vergangenheit. Ein Ost-Stück kommt endlich im Osten an: Pohls „Karate-Billi“ am Berliner Deutschen Theater. In: FAZ v. 22.4.1992.
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richtenmagazin Der Spiegel den Prolog zum Vorabdruck gegeben.1634 In diesem Text werde die Ermordung des Präsidenten der Treuhandanstalt, Detlef Karsten Rohwedder, gerechtfertigt, wie ihm später das manager magazin vorwarf.1635 Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl gab – in Unkenntnis des zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht vollständig publizierten Werkes – unter Bezugnahme auf ein mit dem Autor vom manager magazin geführtes Interview eine Erklärung ab: Herr Hochhuth hat das Andenken an den ermordeten Präsidenten der Treuhandanstalt Detlef Karsten Rohwedder verunglimpft. Die Äusserungen [sic] Hochhuths zu dem Mord an Detlef Karsten Rohwedder lesen sich wie ein Freibrief für die Mörder. Zugleich bedeuten sie eine unerträgliche Verharmlosung der SED-Diktatur und ihrer kommunistischen Misswirtschaft. Allein die SED hat jene verheerende Hinterlassenschaft zu verantworten, mit der die Treuhandanstalt unter Leitung von Detlef Karsten Rohwedder zu kämpfen hatte und immer noch zu kämpfen hat. […] Hochhuth schmäht mit Detlef Karsten Rohwedder einen deutschen Patrioten, der sich in einer schwierigen Zeit selbstlos bereit erklärt hat, seinem Vaterland und seinen Mitbürgern an entscheidender Stelle zu dienen. […]1636
Die Skandalebene ging jedoch weit über den Inhalt des Stücks hinaus: Am 10. Februar 1993 fand in der Inszenierung von Einar Schleef am Berliner Ensemble die Uraufführung statt. Diese hatte Hochhuth zunächst zu verhindern versucht, da sie nicht in seinem Sinne textgetreu sei1637: 1634 1635
1636
1637
Vgl. „Dann wird man Sie ermorden“. Die Rohwedder-Szene aus Rolf Hochhuths Drama „Wessis in Weimar“. In: Der Spiegel 46 (1992) 23 v. 1.6.1992, S. 272-275. Vgl. [Interview mit Michael Gatermann, Peter Saalbach und Wolfgang Nagel]: Das Bekenntnis. Im mm-Interview: Die kalkulierten Provokationen eines professionellen Dramatikers. In: manager magazin (1992) 6; S. 289-296, S. 289. Der Autor erklärte daraufhin: „Ich habe nicht die Legitimation dafür nachgereicht, sondern ich habe Rohwedders Besucherin mit Argumenten ausgestattet, die ihm die Ermordung als zwangsläufig ankündigt. Ich legitimiere nicht seine Ermordung, ich versuche nur zu erklären, warum es Menschen gibt, die auf ihn geschossen haben.“ (Ebd.) Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland / Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: [Presseerklärung Nr. 275 / 92 v. 26.5.1992] zu dem Interview von Rolf Hochhuth vom 26. Mai 1992 im MANAGER MAGAZIN. Weitere hochrangige Politiker äußerten sich – ebenfalls in Unkenntnis des Textes. So berichtet Hochhuth in einem Interview: „Wenn Herr Blüm sagt […], Hochhut [sic] ist ein intellektueller Schmierensteher für Meuchelmörder, dann ist es geradezu komisch.“ („Nur wo ein Haben ist, ist auch ein Sagen“. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Rolf Hochhuth über sein Stück „Wessis in Weimar“ und die Reaktionen darauf. In: Märkische Oderzeitung v. 1.6.1992). Vgl. dazu: [Interview mit Harald Biskup]: Arglistig getäuscht? Rolf Hochhuth will die Berliner Uraufführung seines Stücks „Wessis in Weimar“ noch immer verhindern: „Eine Zumutung ohnegleichen“. In: Kölner Stadtanzeiger v. 9.2.1992; Gerhard Ebert: Viele Fragen und noch mehr Getöse um eine Uraufführung. Kommt die Theaterästhetik unter die Räder der Marktwirtschaft? Und ist Rolf Hochhuth gar das Opfer? In: ND v. 10.2.1993.
5.5 Dramatik
515
Was mich am meisten kränkt, ist, daß diesem Abend jeglicher politischer Sprengstoff fehlt. Ich kann Schleefs Theater nicht als politisches Theater im Sinne Piscators oder auch Büchners sehen. Der Abend ist choreographisch interessant, aber im Ganzen doch quälend langweilig … Allein, daß Schleef alle Schauspieler in Wehrmachtsmäntel gesteckt hat, ist doch vollkommen unsinnig. Es geht in meinem Stück um die Tatsache, daß heute, in einer freiheitlichen Demokratie, die Menschen ausgeplündert werden.1638
Es gelang jedoch, einen Kompromiss auszuhandeln: Am Tag der Premiere ließ der Autor vor dem Theater am Schiffbauerdamm eine „Entgegnung“1639 verteilen, zudem erhielt jeder Zuschauer ein Exemplar der Buchausgabe mit der originalen Textfassung.1640 In der sich anschließenden Diskussion warf Schleef Hochhuth vor, „sein Stück um die besten Szenen amputiert“ zu haben, nämlich um den „Aufruf zum Bürgerkrieg, vielleicht auch ein Szenarium der Angst vor einem in Deutschland nach der Einigung drohenden Bürgerkrieg.“1641 Die von Hochhuth akzeptierte Uraufführung fand schließlich zwei Wochen später am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater unter der Regie des Schweizer Regisseurs Yves Jansen statt1642; eine in über achtzig Städte führende Tournee schloss sich an und machte das Stück außerordentlich populär. Im September 1994 folgte eine Neuinszenierung in Münster; am 9. Dezember hatte eine weitere Fassung des Stücks Premiere in Meiningen. Der Autor inszenierte diesmal selbst, wobei er den Text straffte und auf sieben Szenen kürzte. Bei der Kritik fand diese Fassung wenig Anklang: Moritz Rinke äußerte sich nicht nur polemisch über das Stück, sondern auch über die Erreichbarkeit des Aufführungsortes: Eineinhalb Jahre später unternimmt der Rezensent eine Weltreise. Über Jüterbog, Apolda, Untermassfeld in sieben Stunden von Berlin nach Meiningen […]. Doch Hochhuth fällt zu Hochhuth nichts mehr ein. Szenen aus einem besetzten Text! Dafür sind wir sogar in Grimmenthal umgestiegen!1643
1638 1639 1640 1641 1642
1643
Rolf Hochhuth auf einer Pressekonferenz am Tag der Premiere seines Stücks. In: Wochenpost v. 18.2.1993. Entgegnung, geschrieben am 9.2.1993, anläßlich der Uraufführung am 10.2.1993 und an alle Zuschauer zusammen mit einem Exemplar des Stückabdrucks verteilt. Vgl. [Anon.]: Hochhuth zog Einspruch gegen Uraufführung zurück. In: Berliner Kurier v. 11.2.1993. [Interview mit Rolf Michaelis]: Hochhuth ist ein Feigling. Ein Interview mit dem Regisseur der Berliner Uraufführung, Einar Schleef. In: Die Zeit v. 19.2.1993. Vgl. dazu: Matthias Wegner: Das Zeitstück langweilt die Zeitgenossen. Deutsche Erregung ist deutsche Betulichkeit – Hochhuths „Wessis in Weimar“ endlich hochhuthtreu: in Hamburg. In: FAZ v. 27.2.1993. Moritz Rinke: Szenen aus einem besetzten Text. In: Basler Zeitung v. 15.12.1994.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Wessis in Weimar ist in einen Prolog und neun Szenen gegliedert; nach Szene 6 ist eine Pause vorgesehen.1644 Den einzelnen Szenen vorangestellt bzw. in den Sprechtext integriert sind zahlreiche Dokumente, vor allem Zeitungsartikel und literarische Zitate. Insbesondere durch die Verwendung der Zeitungsartikel wird eine Betonung des Dokumentarischen erreicht, wobei Hochhuth nicht die journalistische Qualität der einzelnen Beiträge berücksichtigt, sondern sich bewusst auch eher fragwürdiger Quellen wie der Super Illu1645 und der AZ1646 bedient. Über die Besetzung heißt es eingangs: Da nichts als der Zufall der geographischen Herkunft bestimmt, wer von diesen Deutschen durch das Kriegsende Ossi, wer Wessi geworden ist: So ist es sinnvoll, durch Doppel- und Mehrfachbesetzungen diese Zufälle der geographischen Herkunft aufzuheben.1647
Im Prolog („Der Vollstrecker“)1648 werden die letzten Stunden Rohwedders vor seiner Ermordung dargestellt. Der Präsident der Treuhandanstalt führt ein Gespräch mit der sozialdemokratischen Professorin Hildegard, die sich darüber entsetzt zeigt, dass Rohwedder ohne Leibwächter lebt („Nein, aber es ist Wahnsinn, wenn Sie tatsächlich ohne Bullen leben. Gott sei Dank glaubt das keiner.“1649) und seine Ermordung prophezeit.1650 Von Funktion und Rolle des Präsidenten hat sie eine klare Vorstellung: Er sei „nur ein nützlicher Idiot von Spekulanten.“1651 Ihre Vorwürfe gegen ihn sind scharf; dabei verknüpft Hildegard immer wieder die sachliche mit der persönlichen Ebene: […] Überlegen Sie noch einmal: Kein Ossi – geben Sie das zu, hat i r g e n d e i n Rechtsmittel gegen den Ausverkauf des dortigen Volksvermögens an uns Landfremde, die wir allein deshalb die Ossis arm kaufen können, weil w i r nicht – ohne jedes Verdienst – wie sämtliche Ossis durch die Kommunisten vierzig Jahre deklassiert, wirtschaftlich vernichtet wurden. 1644 1645 1646 1647 1648 1649 1650 1651
Vgl. Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land. Berlin 1993, S. 7. Vgl. Ebd., S. 150. Vgl. Ebd., S. 173. Vgl. Ebd., S. 10; im Original kursiv; vgl. auch Ebd., S. 258. Ebd., S. 11-31. Ebd., S. 16; vgl. auch S. 20ff. Vgl. Ebd., S. 21. Ebd., S. 18.
5.5 Dramatik
517
Das ordnen Sie an. Das vertreten Sie. Das heißen Sie – g u t. Folglich: Sie werden daran sterben, daß Sie den Ossis neunzig Prozent rauben!1652
In ihren Anschuldigungen steigert sie sich: Sie aber, Herr Rohwedder, verhökern Ausländern und Wessis das gesamte sogenannte Volks-Vermögen der Ossis, nur weil die ohne jede Schuld – total verarmt sind unter russischer Besatzung … Ein menschenverachtender B e t r u g !1653
Als Gegenmodell zur Treuhandanstalt schweben der Professorin „Volksaktien“ nach tschechischem Vorbild vor.1654 Den Anschuldigungen hat der Präsident kaum etwas entgegenzusetzen, bezeichnet aber diejenigen Bügerrechtler, die das Modell der Volksaktien auf Deutschland übertragen wollen, als „Sozialromantiker, Utopisten“.1655 Der Prolog endet mit weiteren Vorwürfen, an die sich eine neuerliche Prophezeiung der Ermordung anschließt: „Ein Raubkrieg, Herr Präsident, / den Sie nicht überleben werden.“1656 – Rohwedder kann nicht mehr antworten, da er von einem Schuss getroffen wird.1657 In Szene 1 („Die Apfelbäume“)1658 geht es um die unsinnigerweise massenhaft abgeholzten Apfelbäume im Havelland. Die dortigen Obstbauern hatten angenommen, Stillegungs-Prämien von der EG zu erhalten, ohne diese Gelder allerdings konkret zugesagt bekommen zu haben. Frau Michaelis, die Protagonistin dieser Szene, will das Fortschreiten der Abholzaktion verhindern, stößt aber mit diesem Bestreben bei den Obstarbeitern auf taube Ohren. Diese denken eher pragmatisch: Wemme kinne Prämien kriejen – kriejeme Golfplätze her, immer noch besser als Obst, wat verfault, weil nun de Treuhand uns die Safterei unterm Arsch wegverkauft hat …1659
In der Tat erscheint später ein westdeutscher Investor, der mit einem Helikopter angeflogen kommt und seine Vorstellungen von Golfplätzen 1652 1653 1654 1655 1656 1657 1658 1659
Ebd., S. 25; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 26; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 31. Vgl. Ebd. Ebd., S. 33-49. Ebd., S. 38.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
erläutert. Bereits durch den Gebrauch des Hochdeutschen grenzt er sich deutlich von den Einheimischen ab: […] mit „Touristen“ habe ich ja nichts am Hut! Touristen, die sollen man hingehen, wo sie wollen. Hierher hole ich C l u b -Mitglieder! Eingeschriebene Mitglieder, wer bei uns mitmacht, der ist exklusiv berechtigt – und zahlt dafür ne Stange Geld, die ihn davor schützt, mit Krethi und Plethi womöglich den gleichen Duschraum … Bitte Sie: für „Touristen“ bin ich nicht zuständig, haben Sie keine Angst! Nein, hierher kommen nur Zahlungsfähige.1660
Damit sind nahezu alle Einheimischen ausgeschlossen. Wesentlich für die negative Darstellung des Westdeutschen ist sein Eintreffen aus der Luft: Er erscheint praktisch aus dem Nichts. Szene 2 („Goethe-Hotel Weimar“)1661 setzt sich erneut mit der Frage der Eigentumsverhältnisse auseinander, diesmal am Beispiel eines Weimarer Hotels. Eine „Beschließerin“ führt die beiden westdeutschen Investorenpaare Golz und Drepper durch das Hotel; in der ‚Ulbricht-Suite‘ kommt es zu intensiven Gesprächen. So bekennt die Beschließerin enttäuscht: Nach der Wende war sie [die FAZ; F.Th.G.] unser Evangelium – vor allem am 16. März vorigen Jahres; wir haben damals diesen Artikel fotokopiert für die ganze Belegschaft, weil wir im Ernst fest geglaubt haben, das Staatseigentum der DDR – werde nun wirklich unser Volkseigentum! […] Aber d a s ist nun die „Wende“: Der FAZ gehört das vornehmste Hotel Weimars, drüben der ‚Russische Hof‘, und eine Zeitung und eine Druckerei, doch uns Bürgern von Weimar gehört kein Backstein an irgendeinem Betrieb!1662
Entgegen bestehender Pläne wollen die beiden Paare das Hotel kaufen und die Beschließerin zur Geschäftsführerin machen. Um leichter in den Besitz eines Bildes zu gelangen, bestechen sie die Frau.1663 Das Gespräch über 1660 1661 1662 1663
Ebd., S. 47; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 51-77. Ebd., S. 55; Hervorhebung im Original. Vgl. Ebd., S. 59-61.
5.5 Dramatik
519
‚Wanzen‘, Abhören und den Staatssicherheitsdienst gipfelt schließlich in der Aussage von Golz: „Diktatur ist die Herrschaft der Uniformierten / – Demokratie die der Uninformierten.“1664 Szene 3 („‚Systemnah‘“)1665 beschäftigt sich mit der ‚Abwicklung‘ von Wissenschaftlern nach der ‚Wende‘, dargestellt unter anderem an der Neustrukturierung der Akademie der Wissenschaften der DDR. Eine ‚abgewickelte‘ Professorin erklärt im Gespräch mit einem ebenfalls aus dem Osten stammenden Minister ohne Geschäftsbereich, wie es um die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland bestellt ist: Daß e i n e r streikt, ist immer Quatsch. Wenn aber alle … ihr alle, die Bundestagsabgeordneten, die von hier kommen: wenn ihr alle nicht mehr mitmachtet als Demokratie- S t a t i s t e n , zu denen Bonn euch erniedrigt … Wenn ihr alle spektakulär diesen wahren Grund beim Namen nennen würdet: Eure Anwesenheit in Bonn soll doch nur vortäuschen, die machten Demokratie. Wenn ihr aussteigen würdet – das zeigte schon, daß Westdeutschland uns Ostdeutsche wie Okkupanten unterworfen hat.1666
Der Minister pflichtet ihr weit gehend bei: Trotzdem müssen wir uns gefallen lassen, daß die Vertreter von sechzig Millionen Wessis – über die Vertreter von fünfzehn Millionen Ossis die Gewalt der Mehrheit als Recht deklarieren. Außer in einem von Feinden besetzten Land hat’s das nie gegeben!1667
Die Sicht der Westdeutschen als Besatzer ist in dieser Szene ständig präsent. Später ist von der „Wessi-Besatzungsmacht“ die Rede.1668 Die Professorin kritisiert die westdeutschen Medien und charakterisiert diese als Erfüllungsgehilfen der Politiker. Zudem stellt sie – außerordentlich problematische – Vergleiche zwischen der Bundesrepublik und dem ‚Dritten Reich‘ an:
1664 1665 1666 1667 1668
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
77. 79-91. 82; Hervorhebungen im Original. 84f. 89.
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[…] kein Clan arbeitet so anonym wie der unvergleichlich stärkste Volks-Manipulator Tagesschau … wie harmlos war der „Volks-Empfänger“ der Nazis, gemessen an diesem Volks - E i n fänger Tagesschau!1669
Die Szene endet in einer Diskussion über Graffiti der Art „Zwei Jahre Treuhand – / 78% Arbeitslose in der Landwirtschaft!“1670 Szene 4 („Buchsendung zu ermäßigter Gebühr“)1671 setzt sich – wie der Prolog – mit den Hintergründen eines Attentats auseinander. In diesem Fall geht es um die Ermordung des ranghöchsten Mitarbeiters des Berliner Bausenators am 13. Juni 1991. Im Stück wird ein Zusammenhang zwischen den Grundstücksspekulationen von Mercedes-Benz, insbesondere auf dem Potsdamer Platz, und dem Mordanschlag suggeriert. Auch in der folgenden Szene 5 – „‚Zu ebener Erde und erster Stock oder: Die Launen des Glücks‘. Lokalposse mit Gesang, frei nach Nestroy“1672 – stehen Grundstücksfragen im Mittelpunkt, hier die Auseinandersetzung mit der Entscheidung, die Enteignung der so genannten ‚Mauergrundstücke‘ nicht rückgängig zu machen. Daneben wird der Verkauf von 28 der 31 Interhotels an eine Westberliner Immobiliengruppe zu einem unangemessen niedrigen Preis verurteilt.1673 Erneut werden Vergleiche zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik gezogen: Also wörtlich, die Bonner Juristen heute, wie alte Nazi-Juristen in der BRD zur Rechtfertigung der Todesurteile für Hitler: „Was damals Recht war“, schrieben die, nach dem Krieje, „kann heute nich Unrecht sein“ … So war der Bau der Mauer rechtens, folglich ooch seine Vorbedingung: Die Enteignung des Bodens, auf den sie gemauert wurde.1674
Hochhuth hat, mit Ausnahme von zwei Sätzen, die er ihr in den Mund legt, wörtlich den Brief der damaligen Justizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger an den Vorsitzenden der „Interessengemeinschaft ehemaliger Grundstücksbesitzer auf dem Mauerstreifen Berlin e.V.“ in die Szene
1669 1670 1671 1672 1673 1674
Ebd., S. 89; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 91. Ebd., S. 93-105. Ebd., S. 107-147. Vgl. Ebd., S. 123. Ebd., S. 113f.
5.5 Dramatik
521
integriert.1675 Dieses Schreiben der Ministerin lässt er die übrigen Figuren, zumeist von der zweifelhaften juristischen Entscheidung unmittelbar Betroffene, systematisch demontieren. Der sechsten Szene („Philemon und Baucis“)1676 sind Zitate aus dem fünften Akt von Goethes Faust II vorangestellt. Im Mittelpunkt steht der Selbstmord des Ehepaars Käthe und Herbert Seydel aus Dreiskau-Nukern, das, so heißt es in den vorangestellten Erläuterungen, „von Politik und Gesellschaft ermordet, doch durch nichts, aber auch gar nichts, was in seinem Charakter angelegt ist […].“1677 Der Szene liegt ein authentischer Fall zu Grunde; Hochhuth änderte einige Details1678, nicht aber die Namen des Ehepaars.1679 Die Bewohner des Dorfes, in dem die Seydels einen Hof besaßen, sollen umgesiedelt werden, da die Braunkohle hier preiswert im Tagebau gewonnen werden kann. Bereits vor der ‚Wende‘ wurde das Paar gegen eine lächerlich geringe Entschädigung in Höhe von 20 000 DDR-Mark enteignet, die nach der ‚Wende‘ in 10 000 West-Mark umgetauscht wurden. Die Seydels wollen ihren Hof jedoch nicht verlassen, zumal sie sicher sind, dass sie sich in der Zweizimmer-Wohnung am Stadtrand von Leipzig, in die sie umziehen sollen, nicht wohl fühlen werden. Zudem könnten sie die dazugehörige Garage nicht mieten, sondern müssten sie für 10 000 DM kaufen – genau jenen Betrag also, den sie als Entschädigung für Hof und Land erhielten.1680 Hochhuths Angriffe gegen die Bundesrepublik erreichen in dieser Szene ihren Höhepunkt. Die Enteignungen werden bezeichnet als „Raubzug, wie er sogar in Adolf Hitlers Krieg aus keinem von Deutschland okkupierten Land in Europa bekanntgeworden ist.“1681 Käthe äußert später: Werden gewußt haben, was für ehrlose Strolche sie sind: „freiheitlich-demokratisch“. Wer nennt sich denn schon selber so, wenn er es ist! Schlimmere Staaten als die BRD hatten wir schon zweie auf deutschem Boden – aber einen so verächtlichen nie: Tricksen mit juristischen „Begründungen“ einer Bauernfamilie Hof und Wald und Land ab für zehntausend Mark, die der Abtrickser in zweieinhalb T a g e n von diesem Staat kriegt!1682 1675 1676 1677 1678 1679 1680 1681 1682
Vgl. Ebd., S. 125-145. Ebd., S. 149-171. Ebd., S. 153; im Original kursiv. So heißt der sächsische Ort in Wirklichkeit Dreiskau-Muckern. Vgl. zu den Hintergründen: [Anon.]: Todesursache: Treuhand. In: SuperIllu v. 3.2.1993, S. 4-6. Vgl. Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land. Berlin 1993, S. 166. Ebd., S. 152; im Original kursiv. Ebd., S. 164; Hervorhebung im Original.
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Die beiden beschließen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden; dabei bittet sie ihren Mann: Bringst du dich um – dann nimm mich mit. Denn ich bezweifle, ob ich’s allein kann. Aber übrigbleiben ohne dich, kann ich nicht.1683
Der Szene 6 vorangestellte Goethe-Text stellt zugleich eine Interpretation des Kommenden dar. Hartmut Eggert (1995) bemerkt in diesem Zusammenhang: „Durch die Beziehung eines aktuellen Falls menschlicher Verzweiflung von 1992 mit der Faust-Szene wird nicht nur aus Kolonisation Kolonisierung, sondern die Treuhand-Anstalt wird zum Teufelswerk.“1684 Zudem habe „Goethes Philemon- und Baucis-Szene […] die Funktion, die Schuld-Frage zu überhöhen und einen aktuellen Selbstmord / Mord-Fall in eine Deutungstradition des Diabolischen einzureihen.“1685 Auf Szene 7 („Ein Bruderzwist in Deutschland“)1686 sei nur kurz eingegangen. Gegenstand sind die – in erster Linie biografischen – Parallelen zwischen DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf und dem späteren Bundesaußenminister Klaus Kinkel. Letzterer war von 1979-1982 Chef des Bundesnachrichtendienstes und damit in einer im weitesten Sinne derjenigen Wolfs vergleichbaren Position. Beide wurden – im Abstand von zwölf Jahren – im schwäbischen Hechingen geboren, beide waren Arztsöhne und besuchten dieselbe Schule. Den ‚Sieg‘ auf der Vergleichsebene trägt Markus Wolf davon, [d]enn einen Spion ins Bundeskanzleramt zu placieren, an Willy Brandts Seite, Familienanschluß auf Ferienreisen: was Wolfs Genie-Streich gewesen ist, das hat ja Kinkel auch nicht annähernd fertiggebracht in Pankow.1687
Szene 8 („‚Abgewickelt‘“)1688 spielt in einem neuen Waschsalon in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs und der ehemaligen Glühlampenfabrik Narva. Ein Reporter, selbst ‚Abgewickelter‘ des Berliner Rundfunks und nun für den RIAS tätig, sucht Gesprächspartner für eine Reportage über 1683 1684 1685 1686 1687 1688
Ebd., S. 161. Hartmut Eggert: Deutsche Dichter spiegeln die deutsche Vereinigung mit deutschen Dichtern. In: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens 1-2 (7-8) / 1995; S. 90-94, S. 90. Ders.: Mehr als Zitate. Werke literarischer Tradition in der Prosa zur deutschen Vereinigung (1990-1995). In: Triangulum (1996) 3; S. 203-216, S. 206. Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land. Berlin 1993, S. 173-188. Ebd., S. 182. Ebd., S. 189-213.
5.5 Dramatik
523
‚abgewickelte‘ Arbeiter des Glühlampenwerks. Eine Frau, die selbstironisch meint „Nennen Sie mich in der Sendung doch einfach: / Frau Abgewickelte!“1689, berichtet: Ich hatte bis zur Vereinigung einen todsicheren Arbeitsplatz, denn unsere Glühbirnen haben die ganze DDR beleuchtet und brachten als Export-Artikel dem Staat eine Menge Geld … Inzwischen belehren uns ja die Wessis, mehr als ein Trümmerhaufen seien wir alle nicht gewesen, auch persönlich nicht mehr wert gewesen; als ein Trümmerhaufen; sogar unsere Arbeit nicht, obgleich wir doch Exportland gewesen sind.1690
Auch im Falle Narva spielt nicht nur die Frage nach Konkurrenz, sondern auch das wertvolle Grundstück eine wesentliche Rolle im Zusammenhang mit der Schließung des Werkes; so gelangt die „Abgewickelte“ zu der Erkenntnis: Je wertvoller das Grundstück, auf dem eine Fabrik steht – so sollte man denken –, je sicherer die Überlebenschancen für die Fabrik. Aber das ist eine Täuschung. Die Wahrheit ist: Je kostbarer das Grundstück: je brutaler die Aneignungslust der Treuhand. Rücksichtslos vernichtet sie einen Betrieb dann, wenn ihr das Grundstück allein, auf dem er steht, mehr Profit einbringt als m i t dem Betrieb. So nazihaft haben bei Kriegsende 1945 nicht einmal die Russen und ihre deutschen Hörigen, die Kommunisten, die Betriebe dadurch ruiniert, daß sie die getrennt hätten von ihren Basen: eben den Grundstücken, auf denen sie standen.1691
Der Reporter verlässt streckenweise seine eigentliche Rolle des Fragenden – als selbst ‚Abgewickelter‘ identifiziert er sich stark mit der interviewten Frau. Aus dieser doppelten Motivation heraus attackiert er in seinen Erläuterungen die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland: Wenn die uneffektive DDR sechs Chauffeuren dort Arbeit und Lohn gab, wo die lukrative BRD fünf arbeitslos macht, 1689 1690 1691
Ebd., S. 198. Ebd., S. 202. Ebd., S. 203; Hervorhebung im Original.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
weil sie’s mit e i n e m auch schafft, dann ist die BRD – wirtschaftlich gesehen – viermal amoralischer als das verrottete System, weil sie vier Familien weniger Arbeit gibt, um so effektiv zu sein. Effektivität ist nicht vertretbar, wenn auf Kosten der Mitmenschen. Der Nutzen für die Gesamtbilanz hat zurückzustehen vor dem Nutzen der Vollbeschäftigung.1692
Szene 9 („Ossis: Diebe, Wessis: Hehler“)1693 bildet zugleich die SchlussSzene des Dramas. Erneut geht es um die ‚Abwicklung‘ von Arbeitern und Angestellten, zunächst des Deutschen Fernsehfunks (DFF). Zu Beginn der Szene wird die Situation beschrieben: Am 31. Dezember 1991 haben zehntausend von fünfzehntausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Fernsehfunks ihren Weg in die Arbeitslosigkeit angetreten: Ergebnis des Einigungsvertrages zwischen Bonn und Pankow, der vorsah, das überregionale Fernsehen und den überregionalen Hörfunk der DDR zu liquidieren, um sie den Fernseh- und Hörfunk-Anstalten der neuen Bundesländer oder dem Ersten und Zweiten westdeutschen Fernseh- und Rundfunk-Programm zu integrieren, in Wahrheit: zu unterwerfen …1694
Ruth, die früher für den DFF tätig gewesene Heldin dieser Szene, arbeitet an einem Film über „Schlösser rund um die Wartburg“.1695 Sie befindet sich in ihrem Elternhaus, einem zweistöckigen Gutshaus aus dem Barock, dessen Enteignung nach der ‚Wende‘ durch die Bundesrepublik nicht rückgängig gemacht wurde. Das Gebäude wird stark kontrolliert, da der Bundeskanzler den italienischen Staatspräsidenten sowie mehrere Minister und Diplomaten zur Jagd eingeladen hat und ein Teil der Gesellschaft später im Haus untergebracht werden soll. Ruth legt sich mit einem der „Aufpasser“ an, den sie sogar ohrfeigt, als dieser sie als „Stasi-Spitzel“ bezeichnet.1696 Ein ohnehin anwesender Arzt führt schließlich ein Fernsehgespräch mit Ruths Großvater, einem im Ruhestand befindlichen Professor für Molekularbiologie. Unter anderem nimmt er Stellung zur ‚Abwicklung‘ von Wissenschaftlern in der DDR bzw. den neuen Bundesländern: […] heute […] sind sämtliche DDR-Forscher von den westlichen entmündigt oder hinausgeworfen,
1692 1693 1694 1695 1696
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
206; Hervorhebung im Original. 215-261. 216; im Original kursiv. 225. 228.
5.5 Dramatik
525
Weltkapazitäten wie der 1979 gewählte Präsident der Internationalen Gesellschaft für künstliche Organe: Horst Klinkmann, müssen auf ausländischen Lehrstühlen wie Bologna Zuflucht suchen – die Wessis genieren sich nicht, unter dem Vorwand, die seien „systemnah“ gewesen, bedeutende Konkurrenten zu vertreiben, im Stile der Hexenjagd des Amerikaners McCarthy.1697
Szene wie Stück enden mit dem Großbrand des Hauses, der durch Brandstiftung ausgelöst wird.1698 Die Idee zu diesem Anschlag stammt von Ruth1699, den Plan arbeitete ein früher bei der NVA tätiger Chemiker aus1700, die Tat selbst leitet der Großvater ein.1701 Als das Feuer entdeckt wird, sind deshalb alle unmittelbar Beteiligten nicht direkt am Brandherd und haben somit ein Alibi. Der Großvater äußert am Ende: In jedem System waren es immer nur die Ausnahmeerscheinungen, die Bewegung ins Verkrustete brachten: hier unsre Bürgerrechtler, durch die der Widerstand aufflammte.1702
In diesem Sinne ist das „gegen Bonn“ gerichtete Feuer1703 als Aufruf zum gewaltsamen Widerstand zu verstehen: Das vorletzte vor Entdeckung des Brandes geäußerte Wort – „Widerstand“ – wird hier inhaltlich mit dem Wort „Bürgerrechtler“ verbunden und damit auch mit der aktuellen Situation. „Widerstand“ könnte demnach einen Ausweg aus der von vielen als unbefriedigend empfundenen Situation darstellen. Hochhuth bekennt sich zu dieser Intention; in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger äußerte er im Februar 1992: Ich hoffe nicht, daß das Stück versöhnt, denn versöhnlich und friedensstiftend ist die Literatur im Augenblick ja sowieso in einem bleiernen Ausmaß. Ich hoffe, daß es Brände legt und ich hoffe, daß es diskutiert wird.1704
1697 1698 1699 1700 1701 1702 1703 1704
Ebd., S. 257f. Vgl. Ebd., S. 259-261. Vgl. Ebd., S. 246. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 245f. Ebd., S. 258f. Ebd., S. 250. [Interview mit Harald Biskup]: Arglistig getäuscht? Rolf Hochhuth will die Berliner Uraufführung seines Stücks „Wessis in Weimar“ noch immer verhindern: „Eine Zumutung ohnegleichen“. In: Kölner Stadtanzeiger v. 9.2.1992.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Fasst man die wesentlichen Themen von Wessis in Weimar zusammen, so stehen klar im Vordergrund: – Eigentumsverhältnisse und Kritik an der Arbeit der Treuhandanstalt (Prolog; Szenen 1, 2, 4, 5, 6, 9) sowie – ‚Abwicklung‘ und Arbeitslosigkeit (Szenen 3 und 8). Selbstverständlich sind beide Themen eng miteinander verbunden. Die Szenenfolge ist deshalb auch bis zu einem gewissen Grad beliebig. Wie wichtig für Hochhuth die Darstellung der negativen, weil von der Bundesrepublik in andere Bahnen gelenkten Entwicklung der Treuhandanstalt ist, belegt das dem Gesamttext vorangestellte Zitat aus der FAZ vom 16. März 1990, in dem noch als „eine der Aufgaben der Treuhandanstalt“ formuliert wird, das „Staatseigentum“ der DDR „zu wirklichem Volkseigentum werden zu lassen“.1705 Wie bereits erwähnt, wird im Stück mehrfach Bezug auf diesen Artikel genommen. Hochhuth zieht auffallend häufig unzulässige Vergleiche zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik oder bezieht sich auf solche Vergleiche.1706 Sonderlich differenziert fallen diese an keiner Stelle aus, sie sind wohl in erster Linie als Provokation zu verstehen. Nahezu konsequent bemüht sich der Dramatiker um eine authentische Sprache; dies wird vor allem in den Szenen 1, 3, 5 und 8 deutlich, die dialektal geprägte Redebeiträge enthalten. Eine Ausnahme bildet Szene 6, denn: „Wir respektieren, daß auf Menschen, die nicht aus Sachsen stammen, Sächsisch komisch auch dann wirkt, gerade dann, wenn keineswegs komisch ist, was gesagt wird.“1707 Diese Bemerkung lässt Zweifel an Hochhuths Herangehensweise aufkommen: Abweichungen von der Norm werden hier in unzulässiger Weise geglättet; zudem dürfte die Verallgemeinerung, dass Sächsisch per se komisch wirke „auf Menschen, die nicht aus Sachsen stammen“, in dieser Form unzutreffend sein. Die Kritiken waren überwiegend negativ. So meinte Rolf Michaelis (1994) über die Meininger Aufführung: Und wir fühlen uns plötzlich in das DDR-Theater der Ulbricht-Zeit versetzt. Die Westler! Mein Gott, was für eitel plappernde Fratzen in lächerlich modischen Gewändern. Die wackeren Aufbau-Werker im besseren Deutschland des Arbeiter-und-Bauern-Staats! Guter Thälmann, was für tapfer maulfaule Genossinnen und Genossen in klobigen Gummistiefeln. Hätte Hochhuth nicht mal bei Brecht 1705 1706 1707
Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land. Berlin 1993, S. 5. Vgl. Ebd., S. 5f. Ebd., S. 155; im Original kursiv.
5.5 Dramatik
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reinschauen und lernen können, daß man Leute erst mal rausputzen muß, die man vom Sockel stoßen will? […] Welche Chance hat Hochhuth […] vertan.1708
Roland H. Wiegenstein hatte sich bereits im Jahr zuvor vernichtend über Hochhuths Stück geäußert: Warum der Moralist und selbsternannte Bundesrichter derart vom Geld fixiert ist, mögen Psychoanalytiker ergründen; daß er damit nachbetet, was Vulgärmarxisten schon immer übers „Kapital“ geraunt haben, mag ihm die Parteinahme für die, die er für „kolonisiert“ hält, erleichtert haben. […] Doch was Hochhuth an dramatischem Einfallsreichtum mangelt, macht er durch Gesinnungstüchtigkeit wett […].1709
Bernd Herhoffer (1995) vertritt dagegen – nicht aus der Perspektive des Kritikers, sondern aus der des Literaturwissenschaftlers – die Auffassung: Die in seinem jüngsten Stück Wessis in Weimar nachzuweisenden Schwächen und dramatischen Mängel lassen sich großenteils direkt als Verstöße gegen andernorts theoretisch geäußerte Postulate fassen. Es ist daher davon auszugehen, daß es Hochhuth bei diesem Stück weniger um Theaterkunst denn um Gebrauchstheater, um einen Beitrag zur Diskussion der Zeitgeschehnisse, ging.1710
Für Herhoffer ist der Nachweis nicht schwer zu erbringen, daß Hochhuth bei seinen Wessis in Weimar seine eigenen Überzeugungen hinsichtlich der künstlerischen Qualität von Dramen weitgehendst [sic] ignoriert oder schlicht in den Hintergrund verwiesen hat. Da Hochhuth über diese ästhetischen Phänomene öffentlich nachgedacht hat, fällt es schwer zu glauben, daß dies gänzlich unbedacht, unabsichtlich oder gar unbemerkt geschehen ist.1711
So verstanden, ließen sich einige von der Kritik angesprochenen Mängel zwar nicht entkräften, jedoch zumindest erklären. Das Stück ‚retten‘ kön-
1708 1709
1710
1711
[R.M.]: Leichenschau. Theater in Meiningen: Hochhuth inszeniert „Wessis in Weimar“. In: Die Zeit v. 16.12.1994. Roland H. Wiegenstein: Das Stück, der Stunk und die Trostlosigkeit. Berserker trifft Buchhalter: Einar Schleef inszeniert Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“. In: FR v. 12.2.1993. Bernd Herhoffer: Wessis in Weimar: Hochhuth, Schiller und die Deutschen. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 109-127, S. 109; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 117f.; Hervorhebung im Original.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
nen Herhoffers Ausführungen freilich nicht. Der Literaturwissenschaftler weist im Übrigen auch auf Hochhuths Auseinandersetzung mit Schillers Schaubühne1712 hin, die seines Erachtens das für den Schriftsteller relevante Bezugswerk gewesen sei. Herhoffer bezieht sich dabei auf eine Äußerung Schillers gegenüber Körner vom 21. Dezember 1792: „Es giebt Zeiten, wo man öffentlich sprechen muß, weil Empfänglichkeit dafür da ist, und eine solche Zeit scheint mir die jetzige zu sein.“1713 Die hinter dieser Äußerung stehende Haltung kommt Hochhuths politischem Anspruch zweifellos entgegen.
1712
1713
„Hochhuth zitiert Schillers Text ohne Quellenangabe als ‚Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet‘, bezeichnenderweise die verkürzte Fassung der ursprünglichen Mannheimer Vorlesung ‚Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?‘ vom 26.6.1784; siehe Werke, Nationalausgabe, Band 20, Weimar: Böhlau, 1962, S. 87-100 […].“ (Bernd Herhoffer: Wessis in Weimar: Hochhuth, Schiller und die Deutschen. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 109-127, S. 111; Hervorhebungen im Original). Friedrich Schiller: 146. An Körner. Jena, 21. December 1792. Freitag. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Sechsundzwanzigster Band. Briefwechsel. Schillers Briefe 1.3.179017.5.1794. Hrsg. von Edith Nahler und Horst Nahler. Weimar 1992; S. 170-172, S. 172.
6 Abschied und Ankunft 6.1 Von IMs und Alteigentümern – Aspekte der Figurengestaltung Während bisher vor allem literaturgeschichtliche und inhaltliche Aspekte von Einzeltexten im Vordergrund standen, sollen im Folgenden verstärkt textübergreifende Aspekte untersucht werden. – Literaturkritiker und -wissenschaftler attestieren der ‚Wendeliteratur‘ immer wieder, dass sie wenig originell, von konservativer Machart und in zeitlicher Hinsicht nicht von Bestand sei. Pauschalaussagen dieser Art können in dieser Absolutheit sicher nicht aufrechterhalten werden: Es mag richtig sein, dass die meisten Texte eher wenig innovativ und stark inhaltsbetont sind. Doch zeigen sich auch neue Aspekte, vor allem in den Bereichen der Figurentypen, der aufgegriffenen Themen und der gewählten Metaphorik und Motivik. 6.1.1
Der IM – das (un)erkannte Wesen
Das Thema ‚Staatssicherheit‘ ist eine Spielart des klassischen literarischen Themas des Verrats. Der IM, der Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik, spielt in zahlreichen Texten eine wichtige Rolle. Der bedeutendste in diesem Zusammenhang relevante Autor ist Wolfgang Hilbig (*1941), wichtigster zu nennender Text sein Roman „Ich“ (1993; vgl. 5.1.6.5).1 Des Weiteren sind die Romane Unter dem Namen Norma (1994)2 von Brigitte Burmeister und Eduards Heimkehr (1999)3 von Peter Schneider zu nennen. Nicht selten wird mit wechselseitigen Klischeevorstellungen und den damit verbundenen Erwartenshaltungen ‚gespielt‘: Marianne Arends, die Protagonistin von Brigitte Burmeisters Roman erzählt auf einer Party in Westdeutschland eine an Klischees und Stereotypen reiche Lügengeschichte über ihre angebliche Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst (vgl. 5.3.4.2).4 Der Staatssicherheitsdienst und dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind zudem in so gut wie allen ‚Wendetexten‘ präsent. Eine frühe 1 2 3 4
Wolfgang Hilbig: „Ich“. Roman. Frankfurt a.M. 1993. Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994. Peter Schneider: Eduards Heimkehr. Roman. Berlin 1999. Vgl. Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994, S. 224245.
530
6 Abschied und Ankunft
literarische Ausformung findet sich in Stefan Heyms Erzählung Eine ganz besondere Wissenschaft (1992): Als IM verdächtigt, wird der Mediziner Althaus „abgewickelt“: Und wir reden hier auch nicht nur von dem Professor Althaus. […] Wir reden von den Zuständen in diesem Lande, wo ein Mensch seine Existenz, seinen Ruf, seinen inneren Frieden verlieren kann, zeitweilig oder für immer, und nur auf Grund der Angaben einer Behörde.5
Der Verdacht, als IM gespitzelt zu haben, reicht häufig aus, um eine Entlassung zu legitimieren. Heym legt damit den Zusammenhang zu einer Form der Vergangenheitsbewältigung nahe, die er ablehnt. Der Ton seiner Erzählung gleicht an anderen Stellen eher einem Essay denn einem traditionellen Erzähltext: Wir reden von der Art der Vergangenheitsbewältigung, die hierzulande betrieben wird, jener Vergangenheitsbewältigung, welche man in Westdeutschland nach 1945 durchzuführen versäumte und die man nun, am Objekt DDR, mit aller Strenge nachholen möchte. Wir reden von der großen Abwicklung […] und von der Gefahr, daß die Methoden der Stasi, die gleichfalls Menschen nach Willkür abstrafte und ins Aus stieß, auf dem Umweg über ihre hinterlassenen Aktensammlungen fröhliche Urständ feiern.6
In Jens Sparschuhs Roman Lavaters Maske (1999) berichtet der Ich-Erzähler von der Beerdigung eines Bekannten, von dem er weiß, dass dieser als IM für den Staatssicherheitsdienst tätig gewesen war. Geschickt zieht der bestellte Trauerredner sich aus der Affäre: Ich mußte an eine Beerdigung denken, die ich vor ein paar Jahren in Berlin erlebt hatte. Der Verstorbene, und alle wußten das, war jahrelang IM für die Staatssicherheit gewesen, sogar mit richtigem Decknamen – „Pirol 2“. Die versammelte Trauergesellschaft war nun 1. sehr traurig und 2. gespannt, wie sich der Trauerredner aus dieser Geheimdienstaffäre ziehen würde – ob es bei einem „es gab Licht in diesem Leben und es gab Schatten“ bleiben, oder ob der Redner diese Sache, der Einfachheit halber, überhaupt ganz weglassen würde, nach dem Motto: Pirol? „… die Vöglein schweigen im Walde.“ Erst lange, lange nichts. Dann aber näherte sich der amtliche Trauerkloß unmerklich, über einen Seitenpfad, dem kritischen Punkt – und plötzlich, mit sehr milder, leiser Stimme sagte er: „… und stets hatte unser Wilfried ein offenes Ohr für seine Mitmenschen!“ Da wußten alle, was gemeint war. Und hinten, da saß eine Frau, die weinte sogar, speziell an dieser Stelle.7
5 6 7
Stefan Heym: Eine ganz besondere Wissenschaft. In: S.H.: Filz. Gedanken über das neueste Deutschland. Frankfurt a.M. 1994; S. 66-75, S. 71. Ebd., S. 71f. Jens Sparschuh: Lavaters Maske. Roman. Köln 1999, S. 239.
6.1 Von IMs und Alteigentümern – Aspekte der Figurengestaltung
531
In der Mehrzahl der sich mit der Enttarnung von ehemaligen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes auseinander setzenden Texten wird die Enttarnung in der Regel als Faktum mitgeteilt, meist verbunden mit einer Art Aufrechnung der Verfehlungen des Spitzels und der Enttäuschung des Bespitzelten. Es geht also weniger um den Akt des Enttarnens als um die Tatsache des Gespitzelt-Habens. Heinz Czechowski gibt in Akt (1997) zusätzlich seinem Gefühl der nun wieder präsenten Angst Ausdruck, nachdem er sich in unvorbereiteter Situation mit der Vergangenheit konfrontiert sieht: Ich wollte aufgeben, aber Dann kam die Post: Die Vergangenheit, Der verfluchte Braunkohlengeruch, der IM „Bredel“, der Einmal mein Freund War. Und plötzlich Habe ich Angst. Vergangen und Nackt.8
Czechowski hat mit Akt eines der wenigen Gedichte geschrieben, in denen die aktuellen psychischen Implikationen der Täter / Opfer-Problematik in ihrer Tragweite zumindest angedeutet werden. Gerade im Zusammenhang mit der Enttarnung von IMs werden häufig authentische Vorbilder – in kaum verfremdeter Form – zum Gegenstand von Texten. Prominentestes Beispiel dürfte Manfred Stolpe sein, dem immer wieder vorgeworfen wird, als IM für den Staatssicherheitsdienst tätig gewesen zu sein. Im letzten Teil von Hans Christoph Buchs (*1944) Roman Der Burgwart der Wartburg (1994) spielt er die zentrale Rolle.9 Einmal mehr wird deutlich, wie nahe bei der ‚Wendeliteratur‘ Realität und Fiktion beieinander liegen können, denn der Erzähler – eine Manfred Stolpe stark ähnelnde Figur – sieht sich zu einer juristischen Erklärung innerhalb des Textes gezwungen:
8 9
Heinz Czechowski: Akt. In: H.C.: Wüste Mark Kolmen. Gedichte. Zürich 1997, S. 108. Vgl. Hans Christoph Buch: Der Burgwart der Wartburg. Eine deutsche Geschichte. Frankfurt a.M. 1994, S. 142-149.
532
6 Abschied und Ankunft
Bevor ich den Mantel des Vergessens über die mir zugefügten Kränkungen und Verletzungen breite – ich bin zwar dickhäutig, aber kein Elefant –, rücke ich an dieser Stelle eine Richtigstellung ein, zu deren Abdruck der Autor des vorliegenden Buches juristisch verpflichtet ist – ob es ihm nun paßt oder nicht: […].10
In erster Linie politische Konflikte werden damit auch auf die Literatur verschoben und auf der Ebene der Fiktion ausgetragen. Nicht nur bei Buch ist das der Fall, auch in den Satiren Vorschlag, eine Stolpe-Behörde zu gründen (1993)11 von Lothar Kusche (*1929), Madonna aus Brandenburg (1992 / 1993)12 von Wiglaf Droste (*1961) und Die Stasi-Akte „Jesus“ (1992)13 von Günter Herlt (*1933). Auf essayistischer Ebene seien exemplarisch genannt Das Stolpe-Biedenkopf-Wunder (1995)14 von Helga Schubert (*1940) und Die Stolpe-Legende wuchert weiter (1995 / 1996)15 von Freya Klier (*1950). Analog zur Figur des IM schuf Mathias Wedel den OM. Im Kapitel „Das Vaterland ist in Gefahr“16 von Einheitsfrust (1994) warnt er vor dieser neuen Spezies: Diese besonders aktiven Opportunisten, die notorischen ostdeutschen Einheitsgewinnler, haben sich längst einen Platz in der Geschichte des wiedervereinigten Deutschland erobert. Sie sind das Element der Kontinuität zwischen den beiden Systemen, das Element der zynischen Kollaboration mit jeglicher Macht. Ihre Bedeutung für das gesellschaftliche Klima der um das Anschlußgebiet vergrößerten BRD ist so überragend, daß sie sich eine repräsentative Abkürzung verdient haben. Sie seien von nun an – und in diesem Buch – die „OM“, jener Phänotyp ostdeutscher 10 11
12
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Ebd., S. 144. Lothar Kusche: Vorschlag, eine Stolpe-Behörde zu gründen. In: L.K.: Ost-Salat mit West-Dressing. Satiren und Humoresken. Mit Illustrationen von Wolfgang Schubert. 5., ergänzte, überarbeitete und veränderte Auflage. Berlin 1997 (Bunte Reihe), S. 41f. Wiglaf Droste: Madonna aus Brandenburg. In: Klaus Bittermann (Hg.): Der rasende Mob. Die Ossis zwischen Selbstmitleid und Barbarei. Mit Beiträgen von: Henryk M. Broder, Wiglaf Droste, Roger Willemsen, Gabriele Goettle, Christian Schmidt, Peter Schneider, Michael O.R. Kröher, Gerhard Henschel, Klaus Bittermann. Berlin 1993 (Edition Tiamat, Critica Diabolis 37), S. 91-93 [zuerst in gekürzter Version in: ND v. 17.9.1992]. Günter Herlt: Die Stasi-Akte „Jesus“ – Zum Ermittlungsverfahren gegen Stolpe. In: G.H.: … so wunderschön wie heute! Eine satirische Wendechronik. Berlin 2001, S. 3336. Helga Schubert: Das Stolpe-Biedenkopf-Wunder. In: H.S.: Das gesprungene Herz. Leben im Gegensatz. München 1995, S. 74-78. Freya Klier: Die Stolpe-Legende wuchert weiter. In: F.K.: Penetrante Verwandte. Kommentare, Aufsätze und Essays in Zeiten deutscher Einheit. Berlin 1996 (Ullstein Zeitgeschichte), S. 237-239 [zuerst ausführlicher in Die Welt v. 4.4.1995]. Zu den Fakten vgl. den Abschlußbericht des Stolpe-Untersuchungsausschusses des Landtages Brandenburg. Lesbar gemacht von Ehrhart Neubert. Mit einem Vorwort von Viktor Böll. Köln 1994. So die Überschrift des ersten Kapitels in: Mathias Wedel: Einheitsfrust. Berlin 1994, S. 9.
6.1 Von IMs und Alteigentümern – Aspekte der Figurengestaltung
533
Mitläufer, der sich von den schafsgeduldigen oder nur einfach desinteressierten Mitbürgern ebenso unterscheidet wie von jenen Zeitgenossen, die sozialistische Ideale bis zur Selbstaufgabe und Selbstaufopferung zu verwirklichen suchten und dafür oft genug andere aufgegeben und geopfert haben.17
Ironisch betrachtet Wedel den Aspekt der angeblich bei Ostdeutschen in besonderem Maße vorhandenen ‚Ehrlichkeit‘: Der ostdeutsche Mensch ist vor allem ehrlich, ehrlich bis in die Tiefen seiner wendewunden Seele. Ein Versicherungsvertreter, der beteuert: „Ich bin ehrlich, ich bin aus dem Osten“, ruft in den neuen Ländern keine Verwunderung hervor. Ehrlichkeit gilt unter den Ostlern als das Unterscheidungskriterium zum Westler, der ihnen vor allem als Gebrauchtwagenverkäufer, Drücker, Personalchef, Reporter, Politiker oder Immobilienhändler begegnet – in Berufen also, wo Falschheit zum Handwerkszeug gehört. Nicht daß er womöglich wiederholt von Westlern geprellt wurde, läßt den Ostler seine Ehrlichkeit betonen. Es ist vor allem das falsche Grinsen, das der Westler nicht mal ablegt, wenn er unters Auto kommt.18
Gegen die häufig vorgenommene Setzung eines neuen Begriffs ostdeutscher Identität polemisiert der Satiriker aufs Schärfste: Neuerdings nennen sie es auch gern „Identität“, ausgesprochen Indedidäät. Was für die OMs Ende der achtziger Jahre der Sozialismus in den Farben der DDR war, ist ihnen heute ihre Identität. Sie kennen den Begriff ausschließlich in Anwendung auf das Kollektiv und tun so, als habe es für DDR-Bürger einen Staatsraum gegeben, in dem sie alle dasselbe erlebten und empfanden und alle dieselben waren. Das ist natürlich Unsinn. Wahr ist, daß sich die Erfahrungen der OMs und ihre Verhaltensweisen, Taktiken, ihre Sprache stark ähnelten, so daß man von einer identischen Erfahrungswelt und einem gemeinsamen Zeichensystem sprechen kann. „Identität“ in bezug auf DDR dient denn auch eher der dringend notwendigen, die Psyche stabilisierenden Abgrenzung gegenüber dem Westler, der das nicht mitgemacht hat, was wir mitgemacht haben, dem diese Geschichte nicht zusteht, geschweige ein Urteil über sie.19
6.1.2
Der Wendehals
Der ‚Wendehals‘ ist als Typus des sich stets an das jeweils herrschende Regime anpassenden, meist opportunistisch Handelnden, keine neue Figur, denn zu allen Zeiten gab es ‚Wenden‘, auch wenn diese nicht explizit als solche bezeichnet wurden. Die übertragene Bedeutung des Begriffs20 ‚Wendehals‘ ist nicht erst mit der jüngsten ‚Wende‘ in der deutschen 17 18 19 20
Mathias Wedel: Einheitsfrust. Berlin 1994, S. 11f. Ebd., S. 32f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 37; Hervorhebungen im Original. Im wörtlichen Sinne bezeichnet dieses Substantiv in der Tat einen Vogel.
534
6 Abschied und Ankunft
Geschichte entstanden, dürfte aber – zumindest für einige Jahre – eine Verengung erfahren haben. Bereits 1990 findet sich in dem eher satirisch als wissenschaftlich angelegten Wörterbuch DDR-deutsch von Nikolaus Bavarius und Rainer Schwalme ein Artikel über den ‚Wendehals‘. Dieser wird definiert als Vogel, komischer. Im mittleren Soziozän (älteste Stufe des Tertiärs), nach dem Aussterben des tausendjährigen braunen Saurier [sic] gesetzlich gestützter Schädling. Der gemeine Wendehals (jynx torquilla) ist ein Mitglied der Spechtfamilie und damit merkwürdigerweise mit seinem natürlichen Feind, dem Mauerspecht, verwandt. Der Wendehals hat ein unscheinbares, mausgrau getarntes Gefieder. Gleichzeitig aber ist seine charakterliche Grundfarbe braun-marmorierend, obwohl er sich davon, nach außen laut antifaschreiend, distanzieren will. Aber die Braunen schimpften sich ja auch Sozialisten und meuchelten ihre Namensbrüder. Nach Brehms Urenkel Klaus Walter stammt der gemeine Wendehals sogar von den gemeinen Reptilien bzw. direkt von den hundsgemeinen Kriechtieren ab. Trotz dieser Abstammung schämen sich die Wendehälse nicht, den aufrechten Gang vorzutäuschen.21
Der Psychologe Hans-Joachim Maaz (1991) spricht von einem ‚WendehalsSyndrom‘; dieses sei allerdings keine Charakterveränderung, sondern bei unveränderten Charaktereigenschaften werden nur neue Strukturen gesucht, in denen das gleiche, charakterlich festgelegte Verhalten fortgeführt werden kann – es wird also nur das äußere Ambiente verändert.22
Herberg, Steffens und Tellenbach definieren in Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90 (1997) den Begriff als Personenbezeichnung […] für einen (führenden) Vertreter des alten DDR-Systems, der sich in Meinung und Verhalten den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in opportunistischer Weise schnell anpaßt und sich dadurch wieder Macht und Einfluß sichert.23
21
22 23
DDR-deutsch. Ein fröhliches Wörterbuch für Urlauber, Spekulanten und Übersiedler aus dem Westen sowie für nostalgiehungrige Bürger der 40 Jahre lang als DDR bezeichneten deutschen Provinzen. Von Nikolaus Bavarius mit Zeichnungen von Reiner [sic] Schwalme. München 1990, S. 93f. Hans-Joachim Maaz: Das gestürzte Volk oder die unglückliche Einheit. Berlin 1991, S. 155. Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. WörterBuch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6), S. 334; vgl. auch Ebd., S. 334f. sowie S. 342f.
6.1 Von IMs und Alteigentümern – Aspekte der Figurengestaltung
535
Diese Definition dürfte zugleich der alltagssprachlichen Bedeutung des Wortes am nächsten kommen. Die Figur des Wendehalses ist schon früh präsent: Bereits auf einer Leipziger Demonstration am 23. Oktober 1989 findet sich die Transparentlosung „Wer gestern schrie für Stalin hurra, / ist heute als Reformer da!“24 Der Begriff ‚Wendehals‘ wird zwar noch nicht explizit benutzt, wohl aber sein Inhalt treffend umrissen. Kurz darauf erscheint der ‚Wendehals‘ in Gedichten und Liedern. Im November 1989 widmet Gehannes vum Lipsbaerge ihm ein Lied: Das Lied vom Wendehals (Melodie: „Spaniens Himmel“) 1. Der DDR-Himmel breitet seine Sterne über Mensch und Sozialismus aus. Seit der Wende breitet sich hier gerne eine neue Spezies heraus … Ref.: Der Wendehals, der dreht sich jedenfalls nach dem Wind wohin der weht mit Geschick – für unsre Republik! 2. Gestern war’n es noch treue Genossen, die lagen auf dem harten Kurs. Heute bekennen sie unverdrossen: Was die Partei gemacht, das war nur Murks! Ref.: Der Wendehals … 3. So ein Wendehals, der hat kein Rückgrat, keine Meinung, er kennt ja nur sich. Er sagt nur das, was eigentlich uns nichts sagt, hat als Mensch ein vielfältig Gesicht … Ref.: Der Wendehals … 4. So ein Wendehals, der kann nicht führen. ’s ist ihm egal, wohin der Wind auch weht. Nur darf niemand an seinen Status rühren – Sein Motto heißt: Erkennen und gedreht! Ref.: Der Wendehals …
24
Broiler, Bürger und Bananen. Ein Leipziger Gericht. Gerhard Gäbler: Fotografien, BerndLutz Lange: Aphorismen, Rainer Schade: Satirische Zeichnungen. Hrsg. von Nicole De Vilder. Düsseldorf 1991, ohne Seitenangabe.
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6 Abschied und Ankunft
5. Ein Wendehals, das ist ein bunter Vogel, daß es ihn gibt, das muß ja wohl so sein. Die Geschichte hat ihn nie erzogen, drum fangt den Vogel niemals für euch ein! Ref.: Der Wendehals … 6. Genossen! Ihr habt genug genossen! Laßt nun endlich die Andern auch mal dran! Wer’s ehrlich von euch meint, sei unverdrossen, er kämpfe mit fürs neue Vaterland! Ref.: Der Wendehals, [sic]25
Lipsbaerges Text ist offenbar schnell entstanden und folgt keinem höheren literarischen Anspruch. Bezeichnend ist die Verwendung einer bereits vorhandenen und einem breiten Publikum bekannten Melodie: Die kämpferische Musik ist alt, der Text neu – eine Verbindung, die das Bild vom ‚Wendehals‘ treffend veranschaulicht. In der Epik werden Verhaltensweisen von ‚Wendehälsen‘ beispielsweise in Friedrich Christian Delius’ Erzählung Die Birnen von Ribbeck (1991; vgl. 5.3.2) thematisiert. Hier ist die Rede von den alten Genossen, die Parteibuch und Abzeichen weggeworfen haben und jetzt die neue Unschuld spielen mit dem Zauberwort Effektivität und Markt und die gleichen schlauen Sprüche machen wie vorher […].26
In Klaus Pohls Karate-Billi kehrt zurück (1991; vgl. 5.5.4) findet sich der Wendehals in Gestalt Dankwart Nickchens, des ‚alten und neuen Bürgermeisters‘. Dessen Wahl wird von Urban mit den Worten begründet: Weil sich kein Gegenkandidat rantraute. Die Leute haben Angst vor dem. Vertraulich. In der Stadt heißt Nickchen nur: der kleine Ceausescu. Und nicht nur, weil er so gerne auf die Jagd geht. Sieht sich um. Vorsicht! Bei Nickchen müssen Sie bremsen. Es gibt den nicht unerheblichen Verdacht, daß sich hinter dem Wendehals ein geheimer Oberst versteckt. Der Nickchen ist völlig undurchsichtig. Der spielt, wenn er muß, auf jedem von uns Blockflöte. Er hat doch Kredit bei Ihnen beantragt? Um seiner Frau ein Gewerbe einzurichten?27
In der bundesrepublikanischen Gesellschaft ist Nickchen also schnell ‚angekommen‘. Seine Vergangenheit nutzt er dabei geschickt aus, indem er 25
26 27
Gehannes vum Lipsbaerge: Das Lied vom Wendehals. In: Hans-Gerd Adler: Wir sprengen unsere Ketten. Die friedliche Revolution im Eichsfeld. Eine Dokumentation. Leipzig 1990, S. 64. Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991, S. 65f. Klaus Pohl: Karate-Billi kehrt zurück. In: K.P.: Karate-Billi kehrt zurück. Die schöne Fremde. Zwei Stücke. [Neufassung 1993]. Frankfurt a.M. 1993 (Theaterbibliothek); S. 7-87, S. 20; Hervorhebungen im Original.
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von einem nach wie vor existenten Gefühl der Bedrohung profitiert; Macht besäße er außerhalb der Funktion des Bürgermeisters nämlich nicht. Er spielt also mit subjektiven Gefühlen und kehrt im Grunde genommen die Situation um: Gerade als eine in der Öffentlichkeit stehende Person ist nämlich er der Gefährdete, denn die Bevölkerung könnte legitimerweise versuchen, Licht in seine Vergangenheit zu bringen und damit eine Aufarbeitung der Geschichte zu betreiben. Wie wenig bereit die Bürgerinnen und Bürger dazu sind, zumal sie sich dann auch mit ihren eigenen Fehlern auseinander setzen müssten, macht Billi Kottes weiteres Schicksal deutlich. An Pohls Stück zeigt sich damit exemplarisch, wie eng die Figur des Wendehalses mit der Thematik der Vergangenheitsbewältigung verknüpft ist. 1995 erscheint mit Volker Brauns fiktivem Dialog zwischen einem arbeitslosen „Ich“ und dessen früherem Vorgesetzten Schaber („Er“) ein Buch, das den Begriff ‚Wendehals‘ bereits im Titel führt: Der Wendehals. Eine Unterhaltung.28 Der Text ist im Grenzbereich zwischen Erzählung und Drama angesiedelt. Im Dialog zwischen dem namenlosen Erzähler und Schaber (dem ‚Wendehals‘) werden gegensätzliche Positionen einander gegenübergestellt: Beide Figuren sind nach der ‚Wende‘ arbeitslos geworen, „wie alle Weltanschauer und Veränderer hier, innerlich abgewickelt und entlassen von der zahlungsunfähigen Geschichte“.29 Die Figur des ‚Wendehalses‘ erscheint bei Braun als Verräter nicht nur des politischen Systems, sondern auch und vor allem der Utopie: Während der Erzähler im Niedergang der DDR eine Katastrophe sieht, will Schaber diesen als Chance nutzen und sich eine neue Existenz aufbauen. Am Ende erklärt der Erzähler: „Ich zweifle und prüfe“30, um dann festzustellen: „Wenigerdestonichts, erwidere ich gelassen: Trotz alledem!“31 Damit greift er eine der ‚klassischen‘ Formeln sozialistischen Widerstands auf. Heinrich Vormweg (1995) äußerte sich kritisch über den Text: Schwer zu sagen, was eigentlich man mit diesem Text vor Augen hat, und schon gar nicht erkennbar ist, wohin der Autor sich und die Leser lenken möchte. Die Gestik der Wegweisung oder doch zumindest der Wegsuche aber hat Volker Braun sich nicht ganz austreiben können, nur daß der ehedem so zupackende didaktische Unterton nun hilflos klingt und daß er als geradezu gegenstandslos erscheint. In wenigen Momenten kommen Haß und Verachtung auf, Haß auf „das Geschmeiß“, die Sieger.32
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Volker Braun: Der Wendehals. Eine Unterhaltung. Frankfurt a.M. 1995. Ebd., S. 7. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Heinrich Vormweg: Ziellos in der Fußgängerzone. „Der Wendehals“: Volker Brauns Unterhaltung mit dem abgewickelten Kollegen Schaber. In: SZ v. 5.4.1995 (Beilage).
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Insofern leuchtet es ein, dass in manchen Texten trotz des radikalen Umbruchs ein Motiv erscheint, das den Prozess des Sich-nichts-geändert-Habens ausdrückt. So heißt es bei Lothar Kusche (1994): „Heute heißt die ‚Kommunale Wohnungsverwaltung‘, übrigens mit denselben Mitarbeitern, ‚Wohnungsbaugesellschaft‘, obwohl sie auch keine Wohnungen baut.“33 ‚Wendehälse‘ gibt es im Übrigen nicht nur im Osten. Auf dieses selten betonte Faktum weist Peter Schneider bereits 1989 hin: Es ist komisch bis traurig zu sehen, wie unsere Parteien und Gruppen ohne eine Sekunde des Nachdenkens sich jetzt als Geburtshelfer einer Revolution aufführen, von der sie genauso überrascht wurden wie alle anderen Zuschauer. Voran die CDU, die nun vom Sieg des westlichen Lebensmodells schwärmt. Dabei hatte doch die CDU die erfolgreiche Ostpolitik der SPD, die sie jetzt als „Wandel durch Anbiederung“ verhöhnt, ohne Abstriche übernommen.34
6.1.3 Die Typen ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ Erst wenn die Mauer fällt, würde es sich zeigen, wieweit die Deutschen sich in vierzig Jahren auseinandergelebt haben.35 (Peter Schneider: Extreme Mittellage, 1990)
Vor der ‚Wende‘ waren die Unterschiede zwischen den in der Regel später als ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘36 bezeichneten Deutschen kaum zentraler Gegenstand größerer literarischer Werke. Das änderte sich nach 1989 / 90 geradezu schlagartig: Mittlerweile beschäftigen sich zahlreiche Texte mit 33
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35 36
Lothar Kusche: Das Reinigen von Treppen im Verlauf der Geschichte. In: L.K.: Die wiedervereinigten Kartoffelpuffer. Mit Karikaturen von Wolfgang Schubert. Satiren und Humoresken über Köche, die den ganzen Salat angerichtet haben, und von Leuten, die die dazugehörige Suppe auslöffeln müssen. Berlin 1994; S. 17-19, S. 18. Peter Schneider: Ein paar Dinge, die ich nicht mehr sicher weiß. Rede beim Kulturtreff „Zwischenrede“ am 22.12.89 in der Akademie der Künste, Ostberlin. In: Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Hrsg. von Françoise Barthélemy und Lutz Winckler. Frankfurt a.M. 1990; S. 131-138, S. 131. Ders.: Extreme Mittellage. Eine Reise durch das deutsche Nationalgefühl. Reinbek 1990, S. 159. Eine seltener anzutreffende Schreibvariante ist ‚Wessie‘ bzw. ‚Ossie‘; vgl. DDR-deutsch. Ein fröhliches Wörterbuch für Urlauber, Spekulanten und Übersiedler aus dem Westen sowie für nostalgiehungrige Bürger der 40 Jahre lang als DDR bezeichneten deutschen Provinzen. Von Nikolaus Bavarius mit Zeichnungen von Reiner [sic] Schwalme. München 1990, S. 94. Diese Schreibweise ist aber offensichtlich die ältere; vgl. das EnzensbergerZitat unter 6.1.3.2. Zur Problematik der Bezeichnungen für ‚Ostdeutsche‘ und ‚Westdeutsche‘ vgl. Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6), S. 458-477.
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tatsächlichen und angeblich vorhandenen Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen. Dabei dominieren Essays, Berichte und Reportagen37; im fiktionalen Bereich nehmen satirische Texte den größten Raum ein. 6.1.3.1
‚Zoo-Blicke‘ aufs ‚Ossiland‘
Zahlreiche Romane, die vor dem Fall der Mauer spielen, aber danach geschrieben wurden, setzen sich mit Ost-West-Differenzen vor der ‚Wende‘ auseinander. Aus heutiger Sicht werden diese Unterschiede meist vergröbert dargestellt, die Nachwendeperspektive zeigt sich oft allzu deutlich. In Thomas Brussigs Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) plant Frau Kuppisch, die Mutter des Protagonisten Michael Kuppisch, mit Hilfe des gefundenen Passes einer West-Berlinerin aus dem Ostteil der Stadt zu flüchten: […] seitdem arbeitete sie an sich. Sie wollte so aussehen wie die Paßinhaberin Helene Rumpel. Und als Helene Rumpel wollte sie durch die Sperre kommen. Helene Rumpel war zwanzig Jahre älter als Frau Kuppisch – dieses Problem hatte Frau Kuppisch am Schminktischchen gelöst. Frau Kuppisch hatte Kleider und Schuhe aus dem Westen, und in ihrer Handtasche waren eine angebrochene Packung Kukident und ein unbenutzter Westberliner Fahrschein. Auch die Unterschrift von Helene Rumpel konnte sie wie ihre eigene. Eines Abends ging sie los, um im Schummerlicht als Helene Rumpel durch die Kontrolle zu kommen. Ängstlich, wie sie war, beobachtete sie zuerst aus sicherer Entfernung den Grenzübergang. Sie sah ein Pärchen, das zurück nach Westberlin wollte, und als Frau Kuppisch sah, wie locker und selbstbewußt die auftreten, wie laut die reden, wie gespielt die lachen und wie raumgreifend sie agieren – als sie all das sah, wußte sie, daß ihr zu einem Westler mehr fehlt als nur der Paß, die Schuhe, die Kleider und das Kukident. Und sie wußte, daß sie niemals so werden wird wie die. Und daß sie tatsächlich keine Chance hat, über die Grenze vor ihrer Haustür zu kommen.38
Michael Kuppisch erinnert sich an eine Art ‚Zoo-Blick‘ der Westdeutschen auf die Ostdeutschen. In seiner Straße sind die „Zonis“ diesem Blick in besonderem Maße ausgesetzt, denn er wohnt im ‚kürzeren‘ Teil der Sonnenallee, während der ‚längere‘ zu Westberlin gehört: Genauso wenig gewöhnte er sich an die tägliche Demütigung, die darin bestand, mit Hohnlachen vom Aussichtsturm auf der Westseite begrüßt zu werden, wenn er aus seinem Haus trat – ganze Schulklassen johlten, pfiffen und riefen „Guckt mal, ’n echter Zoni!“ oder „Zoni, mach mal winke, winke, wir wolln dich knipsen!“39 37 38 39
Z.B. Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist. Hrsg. von Jana Simon, Frank Rothe, Wiete Andrasch. Berlin 2000. Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Berlin 1999, S. 99. Ebd., S. 9; Hervorhebung im Original.
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Lothar Kusche lässt den Ich-Erzähler in Ein neuer Job aus dem Osten in den Westen wechseln, wo er einen neuen ‚Beruf‘ findet: Engagiert bin ich quasi als darstellender Künstler – genauer gesagt: als Selbstdarsteller. Ich lasse mich hier gegen Eintrittsgeld besichtigen als das, was ich mein Leben lang war: als Ossi. Schreiben Sie mir doch mal. Per Adresse: Hagenbecks Völkerschau, 22527 Hamburg.40
Einen ähnlichen Blickwinkel suggeriert der Titel von Ernst Röhls Satirensammlung Der Ostler, das unbekannte Wesen (2000).41 Explizit ausgesprochen wird diese Vorstellung einer ‚Zoo-Perspektive‘ bereits in Irina Liebmanns Roman In Berlin (1994): Die Wachtürme an der Mauer, Berlin, fallen ihr ein, und auf der anderen Seite die Aussichtstürme zu uns rein, in unseren Zoo. Wie Menschen da oben standen, wenige, daß die sich schlecht fühlten, konnte man sehen, und trotzdem: Die standen da oben.42
Die Beispiele belegen, dass Ost- und Westdeutsche in nach 1989 geschriebenen Texten meist stark voneinander abgegrenzt werden. Der hier als ‚Zoo-Perspektive‘ bezeichnete Blickwinkel unterstreicht dabei die von vielen Westdeutschen unterstellte Unterlegenheit der Ostdeutschen. 6.1.3.2 ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ Die Extrempunkte dieser Polarisierung finden ihren Ausdruck in den Lexemen ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘, deren Entstehung häufig falsch dargestellt wird.43 Das Wort ‚Wessi‘ ist keineswegs neu, sondern hat einen Bedeutungswandel durchgemacht: Ursprünglich bezeichnete es die Westdeutschen – aus der Perspektive der Westberliner. So heißt es in Wohl’n Wessi, wa? (1989) von Harry Nutt (*1959): Berlin ist, so könnte man denken, durch eine Mauer vor den Wessis geschützt, aber die Zonis lassen, hinterhältig wie sie nun einmal sind, heutzutage jeden durch den Eisernen Vorhang, der nur mit einem gültigen Stück Ausweis wedelt. Der 40
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42 43
Lothar Kusche: Ein neuer Job. In: L.K.: Ost-Salat mit West-Dressing. Satiren und Humoresken. Mit Illustrationen von Wolfgang Schubert. 5., ergänzte, überarbeitete und veränderte Auflage. Berlin 1997 (Bunte Reihe), S. 25f., S. 26. Ernst Röhl: Der Ostler, das unbekannte Wesen. Geschichten. Berlin 2000. Vgl. darin v.a. Rätselhaftes Ostdeutschland (S. 7) sowie Der Ostler – das unbekannte Wesen (S. 812). Irina Liebmann: In Berlin. Roman. Köln 1994, S. 159. Etwa von Rolf Schneider; vgl. R.S.: Das Jahr des Schafes. In: R.S.: Volk ohne Trauer. Notizen nach dem Untergang der DDR. Göttingen 1992; S. 17-141, S. 84f.
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Wessi muß die Frage „Haam Se Woffen, Fünkjeräte, Müniziön?“ zufriedenstellend beantworten und schwupp, ist er drin. So geschah es auch unserem Wessi, der vor gut einem Jahrzehnt zwecks Aufnahme eines Hochschulstudiums an die Mauerstadttore klopfte. Den Himmel über Berlin hatte zu dieser Zeit noch niemand ausgeleuchtet, aber die Sonne Berlins schien auch in der westfälischen Kleinstadt unseres Wessis.44
Der Wandel bzw. die Erweiterung der Bedeutung ging in der Zeit der ‚Wende‘ und unmittelbar danach offenbar so schnell vonstatten, dass es selbst in der Literatur der unmittelbaren Nachwendezeit kaum noch Belege für die alte Bedeutung gibt. Nikolaus Bavarius definiert in DDR-deutsch. Ein fröhliches Wörterbuch für Urlauber, Spekulanten und Übersiedler aus dem Westen sowie für nostalgiehungrige Bürger der 40 Jahre lang als DDR bezeichneten deutschen Provinzen (1990) „Wessie“ polemisch als „Gegenteil von Ossie. Dieses Gegenteil soll sich aber im Laufe der Zeit, so Kohl will, in das Gegenteil verkehren.“45 Mathias Wedel distanziert sich dagegen vom Begriff ‚Wessi‘: Ich vermeide es, von „Wessis“ zu sprechen. Das ist ein Diminutiv, fast ein Kosewort. Es suggeriert, bei den Merkmalen dieser Deutschen handele es sich um einfache, in den zivilisatorischen Radius mehr oder weniger komplikationslos integrierbare menschliche Fehlverhalten, um „menschliche Schwächen“, „Macken“, regional ausgeprägte Verhaltensauffälligkeiten o. dgl. Der Begriff „Wessi“ verniedlicht die strukturelle Aggressivität dieser Gruppe, ihren virulenten Opportunismus und ihren Haß auf alle und jeden, die ihre idyllische Weltsicht – „Erfolg durch Leistung“ – und ihren Tugendkanon nicht teilen.46
Wie auch immer die Begriffe definiert werden, stets steht der Aspekt der wechselseitigen Abgrenzung bis hin zur Abneigung im Vordergrund. Beide Lexeme treten übrigens schon vor der ‚Wende‘ in Verbindung miteinander auf: So heißt es 1987 (!) bei Hans Magnus Enzensberger: „[…] Wenn ich meine jungen Freunde hier über die jeweils andere Seite reden höre – ich sage dir, die sind geradezu von Ekel geschüttelt! Der Wessie schwört auf sein Lufthansa-Weltbürgertum. Dafür ist der Ossie moralisch allemal der Größte, 44 45
46
Harry Nutt: Wohl’n Wessi, wa? In: Margret Iversen (Hg.): Nie wieder Berlin. BerlinWortwechsel. Berlin 1989; S. 139-146, S. 139. DDR-deutsch. Ein fröhliches Wörterbuch für Urlauber, Spekulanten und Übersiedler aus dem Westen sowie für nostalgiehungrige Bürger der 40 Jahre lang als DDR bezeichneten deutschen Provinzen. Von Nikolaus Bavarius mit Zeichnungen von Reiner [sic] Schwalme. München 1990, S. 94. Mathias Wedel: Für eine Wiederzerspaltung. Ostler wie Westler brauchen eine Art von DDR. In: DDR 50. (Sonderbeilage der Tageszeitung junge Welt v. 6.10.1999), S. 12f., S. 12.
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so, als wäre er automatisch immun gegen alles, was Dekadenz heißt, Korruption oder Zynismus. Mit einem Wort: jeder der beiden fühlt sich über den andern weit erhaben.“47
Die nach der ‚Wende‘ gültigen Bedeutungen finden sich hier bereits angelegt – Enzensbergers Text stellt allerdings eine Ausnahme dar. In der Zeit der ‚Wende‘ finden sich Belege für „Ossi“ schon relativ bald: So schreibt Christoph Hein am 12. November 1989 über Georg, seinen ältesten Sohn: „Überall wurde er freundlich begrüßt, als man feststellte, daß er ein ‚Ossi‘ (ostdeutscher Bürger) ist.“48 Wird das Wort bei Hein noch neutral gebraucht und sogar mit einer knappen Erklärung versehen, konstatieren 1991 die Herausgeber der Reportagensammlung Facetten der Wende eine nicht mehr ausschließlich positive bzw. wertneutrale Begriffsverwendung: Aus Brüdern und Schwestern oder aus den Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik sind Ossis geworden. Das Wort, das freundliche Vertraulichkeit zu signalisieren scheint, wird nicht nur positiv genutzt. Neue Nähe hat auch neue Distanzen geschaffen.49
Der ‚negativste‘ Beleg für ‚Ossi‘ findet sich bei Mathias Wedel. In seiner Polemik Einheitsfrust (1994) fürchtet er die „Ossifizierung der Bundesrepublik“50 und stellt fest: „Berlin ist die erste vollossifizierte Stadt Deutschlands.“51 Sehr bald werden die Begriffe ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ mit Attributen versehen, die eindeutig negativ konnotiert sind: Die Bilder vom ‚BesserWessi‘52 bzw. ‚Jammer-Ossi‘ sind mittlerweile sprichwörtlich. Eine Art literarischen ‚Prototyp‘ des Ostdeutschen hat der in der DDR äußerst erfolgreiche Autor Eberhard Panitz (*1932) mit „Herrn O.“ geschaffen. Das „O.“ kann als Abkürzung für „Ostdeutscher“ oder „Ossi“ gelesen werden, „Herr O.“ damit bis zu einem gewissen Grad als repräsentativ für die Bevölkerung der östlichen Bundesländer gelten. In Das Lächeln des 47
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Hans Magnus Enzensberger: Böhmen am Meer von Timothy Taylor (The New New Yorker, 21. Februar 2006). In: H.M.E.: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt a.M. 1987; S. 449-500, S. 472. Christoph Hein: Brief an Sara, New York. In: C.H.: Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden 1987-1990. Frankfurt a.M. 1990; S. 197-209, S. 201 [zuerst unter dem Titel „East Berlin Diary“ in: The New York Times Magazine v. 17.12.1989; die Adressatin ist Cheflektorin des Pantheon-Verlags, New York, bei dem die Bücher Heins in den USA erscheinen]. Dieter Golombek / Dietrich Ratzke: Zu diesem Buch. In: Facetten der Wende. Reportagen über eine deutsche Revolution. Band II. Hrsg. von D.G. und D.R. Frankfurt a.M. 1991; S. 13f., S. 13. Mathias Wedel: Einheitsfrust. Berlin 1994, S. 50. Ebd., S. 153. ‚Besserwessi‘ kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache zum „Wort des Jahres“ 1991.
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Herrn O. (1994) berichtet Panitz in Form von „Hundert Geschichten zur Zeit“ (Untertitel) Ereignisse aus dem Leben des „Herrn O.“. Die kurzen Texte sind mit einer meist aus nur einem Wort bestehenden Überschrift versehen und besitzen nicht selten eine im weitesten Sinne philosophische Pointe. Zumindest in formaler Hinsicht rückt Das Lächeln des Herrn O. damit in die Nähe von Brechts Keuner-Geschichten. In der Regel wird gleich zu Beginn der Texte das Thema festgelegt: So lautet der erste Satz des Buches „Seit Herr O. seine Arbeit verloren hatte […].“53 Damit ist von Anfang an klar, dass O. nicht zu den Gewinnern der Einheit zählt. In allen Geschichten steht die Darstellung des veränderten Alltags im Vordergrund, Panitz zeigt insofern an den verschiedensten Beispielen, wie umfassend die ‚Wende‘ das Leben der Ostdeutschen verändert hat. „Herrn O.“ vergleichbare Figuren sind Hans-Dieter Schütts (*1948) „Herr Kosemund“54 und Rolf Liebolds – weniger philosophisch orientierter – ‚kleiner Ossi‘.55 Liebolds Geschichten entstanden 1990 als Kolumnen für die Berliner Zeitung. Der Protagonist wird konsequent als „kleiner Ossi“ oder schlicht als „Ossi“ bezeichnet, sein Vor- oder Nachname nicht weiter spezifiziert. In diesem Sinne steht er für die Ostdeutschen schlechthin und erfüllt damit zweifellos auch die Rolle einer Identifikationsfigur. In einem Programm aus dem Jahr 1991 des Leipziger Kabaretts academixer findet sich ein Lied, das die Bedürfnisse der ‚Ossis‘ charakterisiert: Was der Ossi braucht Einen Videokasten, nen kompakten, braucht er Und paar Videos dazu mit paar Nackten braucht er. Eine Reise nunder nach Mallorca braucht er Und, wenns Geld ausgeht, en billchen Borger braucht er Einen Kumpel braucht, der jetzt rumerzählt Daß er früher zum Parteilehrjahr gefehlt! Einen neugekauften alten Japi braucht er Und nen Wegwerfplatz für seinen Trabbi braucht er. Einen Katalog der Firma Otto braucht er Und die Zusatzzahl im Samstagslotto braucht er. Einen Job braucht er, wo er sich tummeln kann Im Betrieb, wo keine Treuhand schummeln kann.
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Eberhard Panitz: Goldene Wiese. In: E.P.: Das Lächeln des Herrn O. Hundert Geschichten zur Zeit. Mit Illustrationen von Wolfgang Würfel. Berlin 1994, S. 7. Land in Sicht! Aber muß es Deutschland sein? Geschichten von Herrn Kosemund. Erzählt von Hans-Dieter Schütt. Mit Collagen von Andreas Prüstel. Berlin 1994. Rolf Liebold: Geschichten vom kleinen Ossi. Alte und neue Abenteuer im Ländchen der Wendehälse. Mit 27 Zeichnungen von Heinz Jankofsky. Berlin 1991.
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Keine Angst zu haben braucht er, wenn er sächselt Und ein Grundstück, wo nicht der Besitzer wechselt. Und ne Wohnung, die nicht allzu teuer, braucht er Und die tausend neuen Tricks zur Steuer braucht er. Und besonders braucht er, wenn er nicht mehr jung Eine Lebenskapitalversicherung! Und zum Lesen braucht er nicht mehr viel, nurn bissel Auf dem Dach hat er die Satellitenschüssel! Keine Fremden braucht er und so Hottentotten Seidenhemden braucht er jetzt und Jeansklamotten
Und zum Schlußverkauf nen billchen Schuhestand Und mit fünfundfünfzig braucht ern Ruhestand!56 Das Lied stellt die Nachwende-Fortsetzung des Liedes Was der DDRBürger braucht aus dem Jahr 1986 dar.57 Der ‚Ossi‘ wird darin als ein auf allen Ebenen Bedürftiger dargestellt. Diese Bedürfnisse, einschließlich des Vorruhestands, werden von außen an ihn herangetragen; insofern wird er beinahe durchgängig als Opfer der Vereinigung dargestellt – eine bewusst eingenommene Perspektive, die zum Nachdenken anregen soll. In den Texten westdeutscher Autoren werden häufig althergebrachte Klischeevorstellungen vom Osten übernommen, ohne diese kritisch zu reflektieren. So heißt es in Horst Kammrads Die Brücke nach Teltow (1992): Hans Kramer bezahlte das Essen und die Getränke in dem von einem Jugoslawen bewirtschafteten Lokal. Er winkte ab, als Heinz Sichel dagegen protestieren wollte: „Nee, laß du mal deine paar Kröten stecken, Heinz. Ihr in den neuen Bundesländern müßt wahrscheinlich noch ziemlich lange jeden Pfennig dreimal umdrehen, ehe ihr ihn ausgeben könnt. Für mich war das eine ganz tolle Sache, nach so vielen Jahren mit einem Kumpel von damals zu quatschen.“58
Der Ostdeutsche erscheint hier als arm, der Westdeutsche als paternalistisch und überlegen in jeder Hinsicht. Die literarische Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘ findet vor allem in satirischen Texten statt. Oft stellen bereits die Klappentexte der Bücher beißende Satiren dar:
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Was der Ossi braucht. In: Jürgen Hart: Felix aus der Asche. Ende, Wende, wumm … Satirische Texte 1980 bis 1989 & 1990 bis 1996 aus der Spielkiste der academixer. Berlin 1996, S. 71. Was der DDR-Bürger braucht. In: Ebd., S. 18. Horst Kammrad: Die Brücke nach Teltow. Deutsche Geschichten 1961-1990. Berlin 1992, S. 180.
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Einem weitverbreiteten Vorurteil zufolge versteht man die Ausländer nicht, weil sie aus einem anderen Kulturkreis kommen. Gegenüber den Ossis kann diesem Vorurteil eine gewisse Berechtigung nicht mehr abgesprochen werden. Die Ossis sprechen nicht nur eine andere Sprache, sondern sie haben auch eine grundlegend andere Auffassung von dem, was im Westen unter dem Begriff Zivilisation verstanden wird. Ausländer mag man im Osten nicht, auch wenn sie mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von nur einem Prozent auftauchen.59
Weitere Beispiele aus dem Bereich der Satire sind Günter Herlts (*1933) Ratgeber: Wie wird man Wessi (2001)60 und Mathias Wedels (*1953) und Thomas Wieczoreks (*1953) „Dreh- und Wendebuch“ Mama, was ist ein Wessi? / Papa, was ist ein Ossi?61 Im zuletzt genannten Fall impliziert bereits der Titel eine Verdinglichung von ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘, denn das Interrogativpronomen „was“ bezieht sich in der Regel nicht auf Personen, sondern lediglich auf Gegenstände. In den fiktiven Sohn-Mutter- bzw. Tochter-Vater-Gesprächen werden zahlreiche wechselseitige (Vor-)Urteile und Klischeevorstellungen thematisiert und ironisch hervorgekehrt. Herbert Rosendorfer (*1934) verfremdet in Die große Umwendung (1997 / 1999) die beiden Bevölkerungsgruppen zu „Os-si“ und „Wes-si“.62 Der Erzähler Kao-tai, ein Mandarin aus dem 10. Jahrhundert, gerät mit den beiden Gruppen auf einer Reise nach dem unschwer als Leipzig zu erkennenden „Lip-tsing“ in Berührung. Die Perspektive des Außenstehenden ist geschickt gewählt: Der Mandarin kann so das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen mit all seinen Merkwürdigkeiten dar- bzw. bloßstellen. 1991 erschien in einem kleinen Lausitzer Verlag ein Buch, das 20 goldene Verhaltensregeln für Wessis beim Umgang mit Ossis enthält. Der unter dem viel sagenden Pseudonym „Victor Vonosten“ publizierende Verfasser stellt dem Haupttext eine ironische „Widmung“ voran:
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Klappentext zu: Klaus Bittermann (Hg.): Der rasende Mob. Die Ossis zwischen Selbstmitleid und Barbarei. Mit Beiträgen von: Henryk M. Broder, Wiglaf Droste, Roger Willemsen, Gabriele Goettle, Christian Schmidt, Peter Schneider, Michael O.R. Kröher, Gerhard Henschel, Klaus Bittermann. Berlin 1993 (Edition Tiamat, Critica Diabolis 37). Günter Herlt: Ratgeber: Wie wird man Wessi. Eine heiter-ironische Lebenshilfe. Berlin 2001; siehe darin v.a. die Texte Ausführung zur Einführung (S. 7-10), Die Gnade der östlichen Geburt (S. 50-55), Die Umwertung der Werte (S. 84-89) sowie Ausführung zur Rausführung (S. 155-157). Mathias Wedel / Thomas Wieczorek: Mama, was ist ein Wessi? / Papa, was ist ein Ossi? Ein Dreh- und Wendebuch. Berlin [o.J.]. Herbert Rosendorfer. Die große Umwendung. Neue Briefe in die chinesische Vergangenheit. Roman. Ungekürzte, vom Autor neu durchgesehene Ausgabe. München 1999; vgl. insbes. S. 50-52 [zuerst 1997].
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Dieses Büchlein ist der großen Anzahl von Menschen gewidmet, denen ihr harter, anstrengender Beruf nicht genügend Zeit läßt, über ihr Auftreten nachzudenken, ihre Verhaltensweisen zu kontrollieren und sich vielseitig zu bilden, und deren „guter Kern“ sie allzu oft arge Verstöße gegen gute Umgangsformen begehen läßt.63
Das Buch soll auf satirische Art einige unangemessene Verhaltensweisen vor Augen führen und Anlaß zum Nachdenken geben. Vielleicht wird damit ein kleiner Beitrag zum Abbau der Spannungen möglich, und mancher Geschäftsmann findet besser den dringend benötigten menschlichen Kontakt.64
„Regel 15“ etwa lautet: Nachdem nun fast jeder begriffen hat, daß die finanziellen Mittel, die in den Osten Deutschlands fließen, am Ende dazu dienen, die Konjunktur im Westen Deutschlands auf Touren zu halten, sollte man besser nicht mehr so laut von Milliardengeschenken sprechen.65
Ob mit solchen, zudem sachlich falschen, ‚Regeln‘ tatsächlich der im Vorwort formulierte Anspruch eingelöst werden kann, erscheint zumindest fraglich – selbst wenn es sich um eine Satire handeln soll, wie auch der eingeklammerte Untertitel des Buches verrät: „Satire mit ernstem Ziel“. Die Verhaltensregeln sind jeweils mit einem klassischen Zitat kombiniert. Auch mit Erläuterungen versehene Zeichnungen eines „Standard-Ossi“ 63 64 65
Victor Vonosten: Widmung. In: V.V.: 20 goldene Verhaltensregeln für Wessis beim Umgang mit Ossis. (Satire mit ernstem Ziel). Waltersdorf 1991, S. 3. Ders.: Vorwort. In: Ebd.; S. 5-7, S. 7. Ebd., S. 32.
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und eines „Standard-Wessi“ finden sich in dem kleinen Buch66, das so eher zur Verstärkung wechselseitiger Klischeevorstellungen beitragen dürfte als zu deren Abbau. Mittlerweile sind zahlreiche Witzsammlungen zum Thema ‚Ossi‘ – ‚Wessi‘ auf dem Markt.67 Meist erschienen diese in ostdeutschen Verlagen, wobei die ‚Wessis‘ in der Regel negativ dargestellt werden. Stellvertretend zitiert sei ein Beispiel aus der Sammlung: Der BesserWessi (1991) von Ingolf Serwuschok und Christine Dölle: Was kommt heraus, wenn man einen Wessi mit einem Ossi kreuzt? Ein arroganter Arbeitsloser.68
Für die Mitgestaltung eines Fortsetzungsbandes rufen die Herausgeber die Leser auf, ihren „schärfsten BesserWessi-Witz“ einzusenden.69 ‚Ossi‘ / ‚Wessi‘-Witze werden auch in Prosatexte integriert, etwa bei Edgar Külow (*1925): „[…] Wenn ein Ossi einem Wessi die Hand gibt, muß der Ossi hinterher seine Finger nachzählen.“70 Eine Erklärung für die Dominanz satirischer Texte gibt Bernd Schirmer (*1940), der nach der ‚Wende‘ mit dem Roman Schlehweins Giraffe (1992) eine der gelungensten Satiren zum Thema ‚Wende‘ bzw. ‚Einheit‘ schrieb: Das ist doch für manche sehr heilsam gewesen. Sie sind einfach dadurch mit manchen Dingen leichter fertig geworden, in dem [sic] sie gemerkt haben, es geht nicht nur ihnen so. Und ihr Schicksal ist wert genug gewesen, literarisch behandelt
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Vgl. Ebd., S. 30f. Ossi-Witze / Wessi-Witze. Ein Dreh- und Wendebuch. Berlin 2001; Berlin jewendet. Das „Letzte“ aus der DDR. Zusammengestellt von Wolfgang Janowitz und Eduard Huk. Berlin 1990 (Edition Jule Hammer); Ernst Röhl: Fünf Jahre sind genug! SadomasoProjekt DEUTSCHE EINHEIT. Berlin 1995; 10 Jahre sind zuviel! SadoMaso-Projekt DEUTSCHE EINHEIT. Deutsch-deutsche Witze der Jahrtausendwende. Gesammelt und aufgeschrieben von Ernst Röhl, im Bild festgehalten von Heinz Jankofsky. Berlin [o.J.]; Peter Seidel / Klaus Dannegger / Christine Dölle: Mach’s besser, Ossi! Leipzig 1993; Ingolf Serwuschok / Christine Dölle: Der BesserWessi. Leipzig 1991. Eine Sonderstellung nehmen die auch nach der ‚Wende‘ weiter aufgelegten Bände mit Witzen über Erich Honecker ein, etwa: Honecker-Witze. Gesammelt von Arn Strohmeyer. 14. Auflage. Frankfurt a.M. 1991. Ebenso Witze von bzw. v.a. über Sachsen, die sich häufig auch auf die ‚Wende‘ und ihre Folgen beziehen, z.B.: Gennse dähn? Sächsische Witze. Mitgehört, gefunden und hrsg. von Bernd-Lutz Lange. Illustrationen von Lothar Otto. Frankfurt a.M. 1991 nebst Folgebänden Ingolf Serwuschok / Christine Dölle: Der BesserWessi. Leipzig 1991, S. 5. Vgl. Ebd., S. 55. Edgar Külow: Koslowski heiratet wieder. In: E.K.: Koslowski in Weimar. Ruhrpott-Willi erobert den Osten. Illustriert von Peter Muzeniek. Berlin 1996; S. 7-11, S. 11.
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zu werden. Das ist im Osten so gewesen. Im Westen war es eigentlich ein Stück Aufklärung, ein gewisses Aha-Erlebnis, würde ich sagen: so larmoyant und so verbiestert sind die im Osten also gar nicht. Die können ja sogar über sich selbst lachen. Das war sehr wichtig.71
Im Bereich der Essayistik dominieren ebenfalls stark polarisierende, häufig polemische Texte. So bekennt Monika Maron 1992 in Zonophobie: Am wenigsten ertrage ich an meinen ehemaligen Staatsbürgerschaftsgefährten, daß sie glauben, alle Welt sei ihnen etwas schuldig, insbesondere schulde man ihnen ihre Würde. […] Das Ungewöhnliche an dieser Würde ist, daß ihr Wert sich ganz einfach in Geld ausrechnen läßt.72
Sie klagt: Die Einheit ist mir zum Alptraum geworden, weil der Osten, wo er sich als solcher artikuliert, mir unüberwindlichen Ekel verursacht. Alles hat sich in Ekel verwandelt: mein Mitleid, meine Anteilnahme, mein Interesse. Ich weiß, daß ich ungerecht bin, und kann es nicht ändern. Ich halte es für eine Krankheit und weiß nicht, wie man sie heilt. Die Krankheit nenne ich Zonophobie.73
Ihre ehemaligen ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger betrachtet auch sie eher wie Tiere im Zoo: Wenn meine masochistische Neugier mich treibt, in der Pankower Kaufhalle – ehemals HO, jetzt Spar – einzukaufen, und ich sie, mit denen mich eine Vergangenheit als Konsument des Staatlichen Handels eint, bei ihren Beschaffungsaktionen beobachte, reagiere ich wie ein Allergiker, dem eine Katze auf den Schoß springt. Ich muß mich beherrschen, um ihnen ihre ekelhaft großen Fleischpakete oder ein süßes balkanesisches Perlgesöff namens Canei nicht wieder aus dem Einkaufswagen zu reißen.74
Die Schriftstellerin ist der Überzeugung: Für jede Unbill wird ein Feindbild gebraucht. In Ermangelung von Phantasie nehmen sie das, was ihnen Jahrzehnte eingebleut wurde: Der Westen ist schuld. Der Westen zahlt zu wenig, der Westen schickt die falschen Leute, der Westen verramscht die verrotteten Kostbarkeiten. Dabei müßten sie nur nach Osten sehen, um zu wissen, wie schlecht es ihnen gehen könnte. Aber sowenig es sie interessiert, daß auf dem Balkan die Leute sterben, daß die Russen hungern, daß den Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken schlechte Zeiten bevorstehen, sowenig nehmen sie zur 71 72 73 74
Jill Twark: So larmoyant sind sie im Osten gar nicht: Gespräch mit Bernd Schirmer. In: GDR Bulletin 26 (1999); S. 39-44, S. 41. Monika Maron: Zonophobie. In: M.M.: Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft. Artikel und Essays. Frankfurt a.M. 1993; S. 112-120, S. 115. Ebd., S. 112f. Ebd., S. 113f.
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Kenntnis, daß die Verkäuferinnen in Hamburg für zweitausend Mark brutto streiken, daß die höheren Löhne im Westen von den noch höheren Mieten geschluckt werden, daß die zusätzlichen Steuern, die schließlich ihretwegen erhoben werden, die Leute am ärgsten treffen, denen es kein bißchen besser geht als ihnen selbst, auch wenn sie in Köln oder Bochum wohnen, also mit dem Schimpfwort Wessis bedacht werden, was ein Synonym ist für reich.75
Maron begeht in ihrem Essay den Fehler, die Ostdeutschen und die Westdeutschen als weit gehend homogene Gruppen zu verabsolutieren und nicht weiter zu differenzieren. Nicht zuletzt dadurch macht sie sich in besonderer Weise angreifbar, selbst wenn sie ihre Sicht bewusst radikal formuliert. Zonophobie sorgte für erheblichen Widerspruch in der Öffentlichkeit: Die Journalistin und Schriftstellerin Gisela Karau kritisierte Marons Sicht im September 1992 scharf in Form eines offenen Briefes.76 Darin wirft sie ihr hauptsächlich vor, sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik opportunistisch gehandelt zu haben und Privilegien im Osten wie Boni als Dissidentin im Westen weidlich ausgenutzt zu haben. 6.1.3.3 ‚Wossis‘: ‚Wessis‘ im ‚Ossiland‘ Eine Sonderstellung innerhalb der sich mit dem Verhältnis von Ost- und Westdeutschen auseinander setzenden Werke nehmen autobiografische Texte ein, die authentische Erfahrungen von West nach Ost gegangener Personen aufgreifen. Wie brisant solche Verarbeitungsversuche sein können, zeigen die beiden Bücher von Luise Endlich (d.i. Gabriela Mendling, *1959). In NeuLand (1999)77 schildert die westdeutsche Arztgattin ihren Umzug von Wuppertal nach „Oststadt“ – dem unschwer als Frankfurt an der Oder zu erkennenden neuen Wirkungsort ihres Mannes – und die erste Zeit in den ‚neuen‘ Ländern. Endlichs Darstellung gerät, über weite Strecken vermutlich sogar unbeabsichtigt, zur Abrechnung mit den Ostdeutschen, deren Eigenheiten sie vielfach kaum oder gar nicht versteht: Die angeblich spezifischen (Tisch-)Manieren, Umgangsformen und ‚Geschmacksverirrungen‘ schockieren sie geradezu. NeuLand löste bei seinem Erscheinen einen Skandal aus: die Autorin erhielt Morddrohungen, die Buchhändler in Frankfurt an der Oder weigerten sich, den Band zu verkaufen. Andererseits wurden in der Stadtbibliothek lange Wartelisten für das einzige dort vorhandene Exemplar des Bandes geführt.78 Nicht zuletzt durch diese 75 76 77 78
Ebd., S. 116f. Gisela Karau: Wer ist hier stur und von peinlicher Beflissenheit? Offener Brief an Monika Maron. In: G.K.: Ach, wissen Se … Berliner Dialoge. Frankfurt a.M. 1993, S. 98-102. Luise Endlich: NeuLand. Ganz einfache Geschichten. Berlin 1999. In zahlreichen Texten setzte man sich kritisch und teilweise äußerst polemisch mit Endlichs Buch auseinander: vgl. etwa Kai Springer: Ossis: Lasagne mit den Fingern sowie
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indirekte Form der Werbung mag das Buch zum Bestseller geworden sein. Der polemische Ton spaltete die Gemüter der Rezipienten und dürfte den Graben zwischen Ost und West zwar nicht dauerhaft vertieft, wohl aber erneut in aller Deutlichkeit sichtbar gemacht haben. In OstWind (2000)79 setzt Endlich ihre Darstellung fort und berichtet von ihren Erfahrungen im Zusammenhang mit der Rezeption von NeuLand. Die von Endlich angesprochene Problematik ist im Übrigen weniger neu als es zunächst scheinen mag: Schon vor der ‚Wende‘ entstand im Westen mit Michael O.R. Kröhers (*1956) Nichts gegen die da drüben (1982) ein ähnlicher, im Ton teilweise noch stärker polemischer Text über die DDRBürger vor dem Fall der Mauer.80 Kröhers Text dürfte damals jedoch auf einen weitaus geringeren Kreis von Rezipienten gestoßen sein und zudem kein Endlichs Büchern vergleichbares Politikum dargestellt haben. Ähnlich negative, wenn auch weniger radikale Reaktionen wie NeuLand verursachte das Erscheinen des im Ton stellenweise ebenso polemischen Bandes Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl (1999).81 Der Rechtssoziologe Thomas Roethe (*1943), der im Auftrag der EU den Übergang der sozialistischen Staaten zu westlich geprägten Demokratien untersucht, kritisiert darin vor allem die Lethargie vieler Ostdeutscher, aber auch die seines Erachtens problematische Form der Unterstützung der östlichen Bundesländer durch die westlichen. „Grundlage“ des Buches sind Reisen in den Osten, die anfänglich privater und dann auch zunehmend beruflicher Neugierde zu verdanken waren. Beobachtungen und alltägliche Gespräche sind der Rohstoff dieses Berichts, Interviews und Materialanalysen ergänzen ihn zu einem pointillistischen Bild – nicht mehr und nicht weniger ist gewollt.82
Zentral ist für Roethe dabei „die Frage, was die Menschen aus der Deutschen Demokratischen Republik zum Erfolg eines demokratischen und
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Kluge Bücher und ein blockierter Trabi. In: K.S.: Wanderungen durch Neufünfland. [Berlin] 1999 (Spotless-Reihe Nr. 111), S. 3-9 bzw. 58-62 sowie Thomas Wieczorek: Papa, was ist ein Ossi. Ein Dreh- und Wendebuch. In: Mathias Wedel / T.W.: Mama, was ist ein Wessi? / Papa, was ist ein Ossi? Ein Dreh- und Wendebuch. Berlin [o.J.], S. 30-32. Eine Darstellung der Debatte findet sich bei Antje Baumann: OstWind aus NeuLand. Zur Debatte um doch nicht ganz einfache Geschichten. In: Mit gespaltener Zunge? Die deutsche Sprache nach dem Fall der Mauer. Hrsg. von Ruth Reiher und Antje Baumann. Berlin 2000, S. 194-221. Luise Endlich: OstWind. Nicht ganz einfache Geschichten. Berlin 2000. Michael O.R. Kröher: Ventil. Nichts gegen die da drüben. In: TransAtlantik (1982) 3; S. 93-97, S. 93. Der Text beginnt mit dem Satz: „Das Peinliche an der DDR sind die Leute, die dort wohnen.“ (S. 93) Thomas Roethe: Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl. Ein Plädoyer für das Ende der Schonfrist. Frankfurt a.M. 1999. Ders.: Einleitung. In: Ebd., S. 7f., S. 7.
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geeinten Deutschlands beitragen könnten oder sogar wollten.“83 Am Ende des Bandes stellt der Verfasser im Sinne einer Bilanz fest: Mit der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands sind wir Deutschen unerwartet in den 90er Jahren auf einen politisch-intellektuellen Zustand von 1945 / 49 zurückgeworfen worden. […] Diktaturerprobte Vorstellungswelten und Handlungskonzepte von etwa 16 Millionen Menschen treffen auf eine mühsam erlernte und gewachsene Demokratie, die von etwa 60 Millionen Westdeutschen gelebt wird, die sich der Einfachheit halber den Sirenenklängen aus dem Osten schon zuwenden und nicht ahnen, was ihnen blüht. Dieser nicht vorherzusehende Rückgriff auf die Historizität deutsch-fataler „Empfindungswelten“ verlangt nach ziviler, aber auch politischer Courage, die dem Geist des Restauratismus Widerstand entgegensetzt. Die Bundesrepublik ist mit einem im wesentlichen von der Sozialdemokratie bestimmten Geschichts- und Gegenwartsspiegel recht gut gefahren. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit müssen nach 1989 abermals erobert werden. Die freiheitliche Demokratie steht erneut zur Debatte.84
Mit stereotypen Vorstellungen auf beiden Seiten setzt sich Wilhelm Boeger (*1930) in Der Leihbeamte (1998)85 und Der Leihbeamte kehrt zurück (1999)86 auseinander. Boeger war als Jurist selbst „Leihbeamter“ in den neuen Ländern und schrieb mit den Büchern persönliche Erinnerungstexte. Im ersten Band steht seine ‚Mission‘ in den neuen Bundesländern im Mittelpunkt. Er wurde am 2. April bis Mitte Mai 1991 nach Schwerin geschickt, um als Leihbeamter der Landesregierung auszuhelfen. Die Aufgabe war, in Schwerin das Konzept für ein Berufsbildungszentrum zu entwickeln, dieses in den Ressorts innerhalb der Landesregierung abzustimmen und anschließend auf Rügen zu verwirklichen. Das Rezept, dieses anspruchsvolle Vorhaben in wenigen Wochen umzusetzen, und das noch dazu in einem Land, in dem aber auch alle Voraussetzungen hierfür fehlten, wurde allerdings nicht mitgeliefert.87
Im Fortsetzungsband geht es primär um die Entstehung der von Boeger initiierten und herausgegebenen umstrittenen Anthologie Von Abraham
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Ebd., S. 8. Ders.: 23. Freiheit und Gleichheit – ein Ausblick. In: Ebd.; S. 176-190, S. 190. Wilhelm Boeger: Der Leihbeamte. Berichte aus Bonn, Schwerin und anderen Kleinstädten. Halle (S.) 1998. Ders.: Der Leihbeamte kehrt zurück. Neue Berichte aus Deutsch-Deutschland. Halle (S.) 1999. Ders.: Dienstantritt in Schwerin / Ein Leihbeamter muß nicht alles wissen. In: W.B.: Der Leihbeamte. Berichte aus Bonn, Schwerin und anderen Kleinstädten. Halle (S.) 1998; S. 9-14, S. 9.
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bis Zwerenz (1995)88, den damit verbundenen Tagungen, Besuchen bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern und den bei der Arbeit entstandenen Schwierigkeiten. Ähnlich wie Boeger, wenn auch mit weniger großer Resonanz, schrieb Sigurd Rank (*1952) seine Erfahrungen im Rahmen der Behörden-Aufbauhilfe in Quedlinburg nieder. Im Vorwort zu dem schmalen Band stellt Rank seine Absicht vor: Über den Sinn und Zweck meines Hierseins habe ich sehr viel nachgedacht, viele Menschen inzwischen kennengelernt, sehr viele Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten gerade im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung entdeckt; und obendrein, dass es nicht so einfach ist, Vorurteile hüben und drüben abzubauen. Trotzdem versuche ich es immer wieder. Deshalb auch diese Zusammenfassung meiner Gedanken. Dabei soll keiner in die Pfanne gehauen werden; das Einzige, was dem Geschriebenen zugrundeliegt, ist der Wunsch, dass irgendwann wirklich jeder hüben und drüben vorbehaltlos auf den anderen zugeht wie zu einem Freund. Ich weiß, noch gibt es dafür zu viele Missstände, aber ich finde, wenn wir aufhören, zu versuchen sie abzubauen, geben wir uns selber auf. Darum.89
Rank siedelte 1993 ganz nach Sachsen-Anhalt über. Sein Buch enthält neben persönlichen Erinnerungen und Berichten auch Gedichte, in denen er sein Anliegen in Verse kleidet. Die Texte erheben naturgemäß nicht den Anspruch, literarische Meisterwerke zu sein: Nachbarn Hört mal her, ihr „Wossis“, alle meine Nachbarn sind „Ossis“, weil ich in der „Fremde“ lebe, und nicht am Althergebrachten klebe. Was heißt „Fremde“, was „Zuhause“, wenn ich ohne Unterlass und Pause, mich versuche einzugliedern, ohne mich gleich anzubiedern, versuch’ Verschiedenheiten anzupassen, ohne das „Andere“ zu lassen,
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Von Abraham bis Zwerenz. Eine Anthologie des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Bonn und des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung des Landes Rheinland Pfalz als Beitrag zur geistig-kulturellen Einheit in Deutschland. 3 Bände. [o.O.] 1995. Sigurd Rank: Vorwort. In: S.R.: Einheitsbrei und Nachwendewehen. Nach-Denkliches zum deutsch-deutschen Miteinander. 2., überarbeitete Auflage. Quedlinburg 1999, S. 3.
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dann fühl ich erstens mich gleich wohl, zweitens gefällt’s dem Nachbarn toll, denn zuzugehn auf andere Leute, macht beiden doch auch viel mehr Freude!90
Nach der ‚Wende‘ fanden viele westdeutsche Akademiker im Osten einen Arbeitsplatz. Einige von ihnen schildern die Situation, in der sie sich befanden, als ausgesprochen schwierig: Das westliche System ist zwar formal vorhanden, offensichtlich aber noch nicht internalisiert worden; die rund vierzig Jahre der Teilung machen sich deutlich bemerkbar. Der Germanist Ludwig Stockinger (*1946) schildert seine Situation als die eines Literaturwissenschaftlers, der aus den ‚Alten Bundesländern‘ nach Leipzig gekommen ist und hier vor die Aufgabe gestellt ist, vor allem die Literatur der Aufklärung und der ‚Goethezeit‘ in der Lehre zu vermitteln […]. In gewisser Weise könnte meine Situation als die eines Auslandsgermanisten im Inland beschrieben werden, oder vielleicht auch als die eines Inlandsgermanisten in einem Landesteil, in dem zwar deutsch gesprochen, aber ganz anders gefühlt und gedacht wird als in dem übrigen Land, also in einem deutschsprachigen Ausland.91
Aus diesem „Gefühl der Fremdheit“ ergibt sich für Stockinger die Frage: Wie verständigen wir uns in Deutschland nach der Herstellung der politischen Einheit im Zeichen eines pluralistischen Wahrheitskonzepts und eines entsprechenden Rechts- und Verfassungsverständnisses mit Menschen, die das System der westlich-liberalen Demokratie […] mißverstehen, und wie gehen wir mit den Enttäuschungen um, die bei solchen Erwartungen unvermeidlich sind?92
Eine zufrieden stellende Antwort auf diese Frage kann er freilich nicht geben. Ähnliche Erfahrungen wie Stockinger machte auch Johannes M. Becker (*1952), der 1990 eine Gastprofessur am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität versah. Seine Aufzeichnungen sind in Form eines Tagebuches festgehalten, das Beckers Zeit in der ‚Noch-DDR‘ ab Anfang September 1990 dokumentiert. In den Haupttext eingestreut sind „Porträts“ unter anderem einer Studentin, eines Generals a.D., des damaligen Rektors der HU und einer Akademie-Dozentin. Seine
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Ders.: Nachbarn. In: Ebd., S. 9. Ludwig Stockinger: Der Bedeutungsverlust des Weimarer Kulturmodells nach 1989. Voraussetzungen und Konsequenzen für die Hochschullehre in den neuen Bundesländern. In: Konzepte und Perspektiven Germanistischer Literaturwissenschaft. Hrsg. von Christa Grimm, Ilse Nagelschmidt und Ludwig Stockinger. Leipzig 1999 (Literatur und Kultur. Leipziger Texte, Reihe A: Konferenzen, Band 1); S. 79-97, S. 79. Ebd., S. 81.
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persönliche Bilanz des Berliner Jahres ist vielschichtig. Zeuge der deutschen Politik in den Jahren 1990 und 1991 gewesen zu sein, zudem als – wenn auch in kleinerem Umfang – aktiver Gestalter dieser Politik vor Ort in Berlin, betrachte ich als Privileg. Die Erfahrungen des Zusammenbruchs der DDR sind für mich als Politikwissenschaftler und als politischer Linker sehr lehrreich. Viele Einsichten in das Erbe der DDR waren schmerzhaft. Dies betrifft die unsolide materielle Basis dieses Landes, es betrifft auch das ‚Massenbewußtsein‘, das die DDR nach 41 Jahren ihrer Existenz zurückläßt. Die rapide Rechtswende bei den bisherigen Wahlen und die ausländer- und minderheitsfeindlichen Tendenzen in weiten Teilen der Bevölkerung mögen dabei am ehesten sichtbar sein. Die rauschhafte Hingabe an den Mammon D-Mark ist hingegen fast schon vergessen. Der Einsichten in das Funktionieren des Kapitalismus bedurfte es dabei schon nicht mehr.93
‚Aufbauhelfer Ost‘, ‚Leihbeamte‘, Akademiker und weitere Westdeutsche, die aus beruflichen Gründen in den Osten gegangen sind, um dort beim Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen, aber auch von Unternehmen in leitender Funktion zu helfen, treten häufig auch in Romanen und Erzählungen in Erscheinung. Stellvertretend für viele sei hier Gisela Karaus (*1932) Buschzulage (1996)94 genannt: Bruno Blauärmel, Offizier der Bundeswehr, lässt sich gegen die monatliche „Buschzulage“ von 1700 DM nach Potsdam versetzen. Seine Frau Gerda und Schwiegermutter Mary-Lu sind zunächst wenig angetan, letztere wähnt Potsdam gar „kurz vor Asien […], auf jeden Fall in einer anderen Welt“.95 Karaus Roman stellt Blauärmels Erfahrungen sehr anschaulich dar; die „deutsche Vereinigung“ wird schließlich nicht nur auf politischer, sondern mit Angelika Möller auch auf sexueller Ebene vollzogen. Auffällig ist bei Karau – und diese Aussage gilt für nahezu alle Texte dieser Art –, dass zunächst stets wechselseitige Klischeevorstellungen und Vorurteile in teilweise stark überzeichnender Form dargestellt werden, um diese dann – meist auf beiden Seiten, aber in höherem Maße auf der Seite der Westdeutschen – zu relativieren und gegebenenfalls abzubauen. Insofern erfüllen diese fiktionalen Texte gewisse didaktische Funktionen mit durchaus politischem Anspruch. Die Stereotype ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ ziehen sich natürlich nicht nur durch die Literatur, sondern auch durch Fernsehserien wie Schulz & Schulz, Motzki, Die Trotzkis und Wir sind auch nur ein Volk.96 Erwähnt werden 93
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Johannes M. Becker: Ein Land geht in den Westen. Die Abwicklung der DDR. Bonn 1991, S. 142f. Der Titel des Bandes spielt auf das wohl bekannteste ‚Wende‘-Gedicht an – Das Eigentum von Volker Braun (vgl. 5.4.7). Gisela Karau: Buschzulage. Roman. Berlin 1996 (edition reiher). Ebd., S. 17. Vgl. dazu: Andrea Rinke: From Motzki to Trotzki: Representations of East and West German cultural identities on German television after unification. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995, S. 231-251; auf satirischer Ebene vgl. auch Henning Pawel: Das
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müssen diese Serien wegen ihrer starken Breitenwirkung. Jurek Becker, dessen Serie Wir sind auch nur ein Volk schnell zum Publikumserfolg avancierte, schrieb die wohl literarisch anspruchsvollsten Drehbücher. Den Hintergrund für die Existenz der Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen erläutert er folgendermaßen: Es wird einiges gesagt und gezeigt, was mir im Hinblick auf unsere deutsche Situation angemessen vorkommt. […] Daß so viele Westdeutsche überzeugt davon sind, die DDR wäre mit ihnen nicht zu machen gewesen. Daß sie charakterlich so gefestigt und rückgratmäßig so beschaffen sind, daß man sie nie so hätte verbiegen können wie die Leute in der DDR. Oder ich möchte den Blick dafür öffnen, daß die unterschiedlichen Ansichten und Verhaltensweisen der Ost- und Westdeutschen so lange existieren werden, solange die Lebensbedingungen so unterschiedlich sind.97
6.1.4 Alteigentümer und westdeutscher Investor Schon sind die Landvermesser der ehemaligen Großgrundbesitzer in Vorpommern und Mecklenburg umtriebig. Die neuen Kolonialherren ziehen ein und finden in Gestalt von Betriebsdirektoren, vormals der SED hörig, beflissene Zuarbeiter.98 (Günter Grass: Was rede ich. Wer hört noch zu, 1990)
Neben den vergleichsweise unspezifischen ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘ spielt schon früh die Figur des Alteigentümers eine zentrale Rolle in literarischen Texten. Stets weist sie ähnliche Charaktereigenschaften auf wie die des – in der Regel betrügerischen – Investors aus Westdeutschland, wie er etwa in Rudi Strahls (*1931) „Lustspiel“ Ein seltsamer Heiliger oder Ein irrer Duft von Bibernell (1995) erscheint.99 Weder ‚Alteigentümer‘ noch
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Motzki-Protokoll. In: H.P.: Pawels Kolumne. Unfrisierte Gedanken zum Zeitgeschehen. Mit 25 Illustrationen von G. Ruth Mossner. Weimar / Jena 1994, S. 71-75; zu Wir sind auch nur ein Volk vgl. [Interview mit Martin Doerry und Volker Hage]: „Zurück auf den Teppich!“ Der Schriftsteller Jurek Becker über seine neue Fernsehserie, über deutsche Dichter und die Nation. In: Der Spiegel 48 (1994) 50 v. 12.12.1994, S. 195-200 sowie David Rock: Christoph Hein und Jurek Becker: Zwei kritische Autoren aus der DDR über die Wende und zum vereinten Deutschland. In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 182-200, S. 196-199. [Interview mit Martin Doerry und Volker Hage]: „Zurück auf den Teppich!“ Der Schriftsteller Jurek Becker über seine neue Fernsehserie, über deutsche Dichter und die Nation. In: Der Spiegel 48 (1994) 50 v. 12.12.1994; S. 195-200, S. 196. Günter Grass: Was rede ich. Wer hört noch zu. Die deutsche Einigung hat sich auf Mark und Pfennig verkürzt, die Revolutionäre von Leipzig, Dresden und Berlin sind die Angeschmierten. In: Die Zeit v. 11.5.1990. Rudi Strahl: Ein seltsamer Heiliger oder Ein irrer Duft von Bibernell. Lustspiel. Berlin 1995, S. 16f.
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‚westdeutscher Investor‘ weisen individuelle Merkmale auf: sie verkörpern Typen. Besonders deutlich zeigt sich dies in Lutz Rathenows (*1952) Drama Autorenschlachten (1993). Zitiert wird aus der ersten Szene, die in einem Flugzeug spielt. Der zweimal erscheinende westdeutsche Investor wird, im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren, nicht namentlich benannt, sondern einfach als „Geschäftsmann“ bezeichnet; er führt eine große Landkarte mit sich: Mein Land müßte auf Ihrer Seite auftauchen. Wenn Sie einmal kurz auf die Karte schauen wollen. Wissen Sie, das rechteckig eingezeichnete Stück gehört auf jeden Fall mir. Um die angrenzende Fläche, siehe Schlängellinie, gibt es noch Prozesse. Ich schwanke, wissen Sie, zwischen Golfplatz und Multi-Geschäftszentrum. Anfangs dachte ich, wissen Sie, noch an einen speziell in die Landschaft integrierten Erotik-Markt. Oder Vergnügungspark. Vielleicht sondieren Sie die Gegend ein wenig ob [sic] andere Mehrzweckbauten in der Nähe sind. Vor allem Golfplätze. Danke für Ihr Verständnis. Bis gleich. (Ab)100
Ein Dialog findet nicht statt; die Ausführungen des „Geschäftsmanns“ gleichen einem Statement, das keinen Widerspruch duldet. Der Investor ist ausschließlich an der Vermehrung seines Kapitals interessiert, eine über diesen Aspekt hinausgehende Rolle spielt das Landstück für ihn nicht. Kurz nach seinem Abgang kehrt er wieder zurück und fragt: Haben Sie es gesehen? Überall diese Wolken. Da. Nein, mehr rechts. Entschuldigen Sie, ich bringe alles durcheinander. Aber jetzt. Der Fluß, ja der Fluß, Wissen [sic] Sie, der Fluß müßte die Grenze sein. Haben Sie zusammenhängende große Rasenflächen gesehen? Ich auch nicht. Grün, groß, gepflegter Eindruck – da droht Golfplatzgefahr. Obwohl mit Portugal kommen die nie mit. Wo sind wir jetzt. Wieso dreht die Maschine? Wissen Sie, das sieht alles noch ziemlich verwahrlost aus. So weit man von oben sehen kann. Jetzt reißt auch noch die Karte. Wissen Sie, man hat mit diesem Osten hier nur Ärger. Wiedersehen. Und an die Grünflächen denken. (Geschäftsmann ab)101
Der Geschäftsmann ist nicht nur extrem ich-bezogen, sondern auch ungerecht: Selbst verschuldete Konflikte verlagert er auf die Ostdeutschen – ein Verhaltensmuster, das sich an der Reaktion auf das Reißen der Karte zeigt. 1990 veröffentlichte Stefan Heym mit Auf Sand gebaut „Sieben Geschichten aus der unmittelbaren Vergangenheit“.102 Das Buch hatte großen 100 101 102
Lutz Rathenow: Autorenschlachten. Strichfassung. [Berlin 1993; Bühnenmanuskript], S. 4. Ebd., S. 6. Stefan Heym: Auf Sand gebaut. Sieben Geschichten aus der unmittelbaren Vergangenheit. München 1990.
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Erfolg beim Publikum: Allein zwischen Oktober 1990 und April 1991 wurde der Text in 25 000 Exemplaren in vier Auflagen verkauft.103 In der Titelgeschichte104 geht es um ein Haus, das das Ehepaar Bodelschwingh in den fünfziger Jahren zu einem äußerst niedrigen Preis von der Kommunalen Wohnungsverwaltung gekauft hat und seitdem bewohnt. Nach der ‚Wende‘ hofft zumindest Elisabeth, die Frau des Erzählers, auf eine enorme Wertsteigerung. Diese Hoffnung wird jedoch enttäuscht, denn ein Westdeutscher, Elmar Prottwedel, fordert sein Ende der vierziger Jahre enteignetes Eigentum zurück. Dabei benehmen er und sein Anwalt, Dr. Schwiebus, sich „wie Eroberer“. Doch auch Prottwedel hat offenbar kein Recht auf das Haus, denn Eva Rothmund aus Tel Aviv macht gleichfalls Ansprüche geltend: Ihr Großvater war 1936 von dem SS-Sturmführer Dietmar Prottwedel dazu genötigt worden, ihm das Haus zu überschreiben. Prottwedels Kaufvertrag sei „null und nichtig“, da die – ohnehin lächerlich geringe – Kaufsumme von Prottwedel unterschlagen worden sei. Heym zeigt in seiner Erzählung am Beispiel der Besitz- bzw. Eigentumsverhältnisse eines Hauses, dass möglichweise das gesamte ‚neue‘ Deutschland – in Anspielung auf die Bibel (Mt 7, 26) – „auf Sand gebaut“ ist, denn eine Kette von kriminellen Verstrickungen in Verbindung mit einer unbewältigten Vergangenheit dient als Ausgangsbasis für die Zukunft des vereinigten Deutschland.105 Auch in Erik Neutschs (*1931) Erzählung Stockheim kommt (1998)106 steht die Figur des Alteigentümers im Vordergrund. Am Ende gelingt es allerdings, den in das am Rande der Börde liegende Dorf Wallstedt zurückgekehrten ehemaligen Gutsbesitzer Stockheim zumindest vorläufig in die Flucht zu schlagen. Gottfried Kunkels (*1934) „Eichsfeldroman“ Wendezeiten im Eichsfeld (1993) schließt mit folgendem Abschnitt: Eines Tages kam ein metallikfarbener Mercedes ins Dorf. Am Steuer saß ein Mann mit grauem Haar, so um die sechzig. Neben ihm eine jüngere Frau und zwei Männer in den dreißiger Jahren. Sie fuhren ganz langsam durchs Dorf und schauten sich nach allen Seiten neugierig um. Sie fuhren über den ehemaligen Gutshof und jetzigen LPG-Platz und darüber hinaus in die Flur. Oben, über dem endlos scheinenden Kartoffelacker, hielten sie an. Der ältere Herr stieg heraus und breitete eine 103 104 105 106
Vgl. Dunja Welke: Deutsche Einheit: „Aus“ für die DDR-Literatur? Zur Situation der Schriftsteller nach der Wende. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 240-251, S. 250. Zuerst erschienen unter dem Titel Der Besitz. Oder: Jetzt, wo sich alles ändert. Eine Erzählung in: SZ v. 28. / 29.7.1990. In dieser Hinsicht lässt sich der Text mit Arno Surminskis Roman Kein schöner Land (Frankfurt a.M. / Berlin 1993) vergleichen. Erik Neutsch: Stockheim kommt. In: E.N.: Der Hirt und Stockheim kommt. Zwei Erzählungen. [Berlin] 1998 (Spotless-Reihe Nr. 93), S. 81-96.
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Flurkarte über die Haube mit dem Mercedesstern. Die anderen Wageninsassen folgten. Sie hatten sich in die Flurkarte vertieft, als Martin und Ralf Riedl auf sie zukamen. Sie hatten ihre Kartoffelkombine stehenlassen und waren neugierig, wer da auf dem Feld mit einem teuren Schlitten herumkurvte. „Können Sie mir sagen, wer Sie sind und was Sie hier wollen?“ fragte Martin Riedl. Der ältere Herr zog höflich den Hut und stellte sich vor: „Mein Name ist Gerold von Wulzow. Das sind meine Frau Hannelore und meine Söhne. Wir möchten uns mal unser Land ansehen. Besser gesagt, das Land, das unserem Vater gehörte. Können Sie uns mal helfen? Wir kennen uns hier nicht aus. Hier in der Karte ist alles genau eingezeichnet.“ Unwillkürlich hatten Ralf und Martin ihre Mützen abgenommen. Martin kratzte sich verlegen am Kopf und sagte: „Oh, ich weiß da keinen Bescheid. Da müssen Sie schon meinen Vater fragen.“107
Die Namen der Figuren sprechen für sich. Kunkels Text ist reich an Klischeevorstellungen: Investoren und Alteigentümer fahren in der Regel im Mercedes vor, ganz offensichtlich prallen hier zwei Welten aufeinander. Bei Neutsch gehen die Ostdeutschen wenigstens zunächst siegreich aus dem unvermeidlichen Konflikt hervor. Dies entspricht jedoch keineswegs der historischen Realität. In diesem Sinne mögen die wenigen literarischen ‚Siege‘ der Ostdeutschen einen Triumph im Kleinen darstellen, der zumindest lesend erfahren werden kann.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘! Und Ostalgie? Ostalgie ist die Fähigkeit, darüber zu trauern, daß es nicht mehr so ist, wie es auch früher nie war, stand gerade im Internet. Ein, recht betrachtet, überaus schöpferisches Vermögen!108 (Kerstin und Gunnar Decker: Die Ostdeutschen sterben aus, 2000)
Der Neologismus ‚Ostalgie‘ ist mittlerweile außerordentlich verbreitet. So nannte der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) eine Fernsehserie Ostalgie109, für die der Dresdner Schauspieler und Kabarettist Uwe Steimle (*1963) die Texte schrieb. Im Mittelpunkt stehen die Rentnerin Ilse Bähnert und der Arbeitslose Günter Zieschong, zwei für eine verklärende Rückschau geradezu prädestinierte Figuren. Eng verbunden mit dem Begriff ‚Ostalgie‘, der hier vorläufig verkürzt als Sehnsucht nach den Verhältnissen in der DDR 107 108
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Gottfried Kunkel: Wendezeiten im Eichsfeld. Eichsfeldroman. Duderstadt 1993, S. 261. Kerstin und Gunnar Decker: Die Ostdeutschen sterben aus. In: K.u.G.D.: Gefühlsausbrüche oder Ewig pubertiert der Ostdeutsche. Reportagen, Polemiken, Porträts. Berlin 2000; S. 9-21, S. 21. Uwe Steimle: Uns fragt ja keener. Ostalgie. Texte für Ilse Bähnert und Günter Zieschong. Berlin 1997.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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umrissen werden soll, ist der Begriff ‚Nostalgie‘, der sich vergleichsweise früh in verschiedenen schriftlichen Quellen findet und von dem ‚Ostalgie‘ sprachlich abgeleitet wurde. Bereits 1990 heißt es in einem alternativen Reiseführer mit Bezug auf die Vorwendezeit: Vor Jahren meinte ein Dresdner Freund, man sollte ein internationales TouristikUnternehmen gründen, Schwerpunkt Nostalgiereisen: „Sie erleben Straßen, die Sie nicht für befahrbar halten. Sie wohnen in Hotels, wo Sie das Gruseln lernen. Alles ist noch so wie früher, nur schlechter.“110
Hier wird zunächst einmal keine Sehnsucht nach der DDR artikuliert, wohl aber die DDR zur Projektionsfläche für Sehnsüchte ‚von außen‘ funktionalisiert. Eine ‚mentale und romantisierende Rückwendung‘ im Hinblick auf die DDR sah Günter Kunert bereits 1991 voraus: Um noch einmal eine Prophezeiung zu wagen: Die DDR wird früher oder später fröhliche Urständ feiern – wenn auch nur auf dem bedruckten Papier. All das, was dieser mit den drei Buchstaben bezeichnete Komplex einst enthielt, von den Lebensbedingungen des einzelnen bis zu den enttäuschten Hoffnungen, dieses größte Potemkinsche Dorf der Erde, bietet sich in einer unerhörten Themenfülle an, ja, drängt sich nun, abgeschlossen und überschaubar, geradezu den deutschen Autoren auf. […] Bereits heute, unter der ökonomischen Ungunst der Verhältnisse in Ostdeutschland, meldet sich in weiten Schichten der gewesene Staat unter positiven Vorzeichen zurück. Die unerhörten, den Ostdeutschen ungewohnten Probleme führen zu einer mentalen und romantisierenden Rückwendung. Wie in der Weimarer Republik während der Inflation das untergegangene Kaiserreich als verlorenes Paradies erschien, so kommt heute schon vielen bundesrepublikanischen Neubürgern die DDR als entschwundene, gar gestohlene Heimat vor.111
Die Zeitschrift Der Alltag widmete 1996 eine ganze Ausgabe dem Thema „Wie erst jetzt die DDR entsteht“.112 Schon zuvor belegten Umfrageergebnisse die Tendenz des Rückzugs auf das früher Vorhandene: Stellvertretend 110
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Thomas Wieke: Deutsche Demokratische Provinz. In: Ein thüringisch-sächsisch-anhaltinisches Reisebuch in drei Geschwindigkeiten. Hrsg. von Thomas Wieke. Berlin 1990; S. 10-21, S. 13. Günter Kunert: Schreiben in Deutschland. Das Gespenst auf der Schulter. Ein Rückblick auf die Zensur der DDR: Sie war nicht (wie manche Opfer sich selber einreden wollen) ein belebendes Element, das die Phantasie und die Widerstandskraft gestärkt hätte. Im Gegenteil: Die Zensur war ein tückisches Gift, von dem keiner verschont blieb und dessen unsichtbare Wirkungen uns noch lange beschäftigen werden. In: Die Zeit v. 17.5.1991. Der Alltag. Die Sensationen des Gewöhnlichen Nr. 72 (Juni 1996). Thema: Wie erst jetzt die DDR entsteht.
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sei eine vom Spiegel 1995 in Auftrag gegebene Emnid-Umfrage113 genannt, derzufolge sich etwa 15% der Ostdeutschen die DDR zurückwünschten (zum Vergleich: 1990 waren es 3%). Diese Sehnsucht dürfte aber eher aus aktuellen Orientierungsproblemen herrühren als aus dem tatsächlichen Wunsch nach einer Rückkehr zu den DDR-Verhältnissen. Insofern mag Iris Radisch Recht behalten, wenn sie in der Zeit vom 4. Juni 1993 auf eine „Sehnsucht nach der DDR, wie sie nicht war“114 verweist. Die Literaturkritikerin beobachtet eine Mystifizierung: Jetzt, nach ihrem Untergang, entsteht die DDR noch einmal als Traum einer intakten Kultur- und Geisteslandschaft, in der es „menschlicher“ zuging, die Romane nicht so schnell „zum Schinder“ mußten und man noch wußte, „wozu Theater überhaupt noch gut ist“ (Heiner Müller in der FR). Das Gegenteil ist nicht mehr zu beweisen. Ein Phantom wird geboren.115
Frank Schirrmacher stellt 1995 fest: Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR regten sich schon bald diffuse Verlassenheits- und Heimwehgefühle und, bei aller Einsicht in die Unregelmäßigkeit dessen, was da am 9. November untergegangen war, doch auch so etwas wie Trauer um eine verlorene Welt.116
Er konstatiert aber auch für den Westen ein ähnliches Phänomen: „Plötzlich sprach sich eine Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik aus, und eine Wehmut nach ihrer unspektakulären Normalität ergriff gerade jene, die die Bonner Republik zeit ihres Bestehens abgelehnt hatten.“117 Schirrmacher
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Vgl. [Anon.]: Stolz aufs eigene Leben. Nur 19 Prozent der Ostdeutschen halten heute den Sozialismus für „ein zum Scheitern verurteiltes System“, immerhin noch 15 Prozent wünschen sich gar die DDR zurück. Und eine Mehrheit glaubt, anders als 1990, daß zu DDR-Zeiten die Versorgung mit Wohnungen, der Gesundheitsdienst und die Schulen besser gewesen seien als heute: Eine SPIEGEL-Umfrage brachte eine überraschend starke, dabei durchaus differenzierte DDR-Nostalgie an den Tag. In: Der Spiegel 49 (1995) 27 v. 3.7.1995; S. 40-52, S. 40 sowie [Anon.]: Auferstanden aus Ruinen. Im Osten viel Neues: Die Einkommen steigen, die Firmen werden wettbewerbsfähiger, die Bürger schöpfen neues Selbstbewußtsein – das ist das Ergebnis einer für den SPIEGEL erstellten, breitangelegten Untersuchung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland. Nach Crashs und Katastrophen entwickelt sich eine eigene Dynamik im Osten. In: Der Spiegel 49 (1995) 36 v. 4.9.1995, S. 118-139. Iris Radisch: Dichter in Halbtrauer. Junge Autoren nach dem Ende der DDR. In: Die Zeit v. 4.6.1993 (Literatur). Ebd.; Hervorhebungen im Original. Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit. In: Die politische Meinung 40 (1995) 311; S. 55-63, S. 56. Ebd.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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erklärt diese scheinbar widersprüchlichen Gegebenheiten aus der spezifisch deutschen Geschichte: Es ist das erste Mal in diesem Jahrhundert, daß die Deutschen die Chance zu einem wirklichen Abschied haben. Plötzliche Veränderungen der politischen, sozialen und geographischen Lage hat es mehrmals gegeben, aber stets waren die Umbrüche mit Gewalt hervorgerufen worden. […] Traditionsbrüche, massiv und schroff wie die keines zweiten europäischen Landes, haben auch die Rituale ausgelöscht, die in Frankreich und England, selbst in Polen und Rußland das Vorhandensein der Vergangenheit immer noch simulieren. Die Väter und Großväter der Deutschen, die die Wende von 1989 erlebten, hatten nach drei Zusammenbrüchen des politischen Systems gelernt, daß man nichts von der einen in die andere Welt hinüberretten kann. Das eigentlich Neue in den Wochen und Monaten nach dem 9. November war nicht, daß sich ein politisches System änderte und das gesamte Land einen Umbruch erlebte. Dergleichen gehörte seit Jahrhunderten zur Generationserfahrung. Neu war die Möglichkeit, Zeremonien des Abschieds und mithin des Neuanfangs zu entwickeln.118
Ob diese Erklärung plausibel ist, insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade für die Menschen in Ostdeutschland die Zeit zum ‚Abschiednehmen‘ mehr als knapp bemessen war und zudem nicht die Möglichkeit bestand, zwischen ‚Abschiednehmen‘ und ‚Nicht-Abschiednehmen‘ zu wählen, sei dahingestellt. Wie wichtig jedoch der Prozess des Abschiednehmens war – oder besser: gewesen wäre –, zeigen bereits die Titel zahlreicher Texte, beispielsweise Gisela Krafts kurzer Zyklus Noten zum Abschied (1991).119 In Peter Schneiders Roman Eduards Heimkehr (1999) gewinnt das Gespräch über die DDR in der Wahrnehmung des aus den USA nach Deutschland zurückgekommenen Protagonisten Nachrufcharakter: Eduard gelang es nicht gleich, aus den Sätzen einen Zusammenhang herzustellen. Was er hörte, klang wie ein Nachruf auf eine geliebte, vorzeitig aus dem Leben gerissene Person, deren Name jedermann bekannt war. Es mußte sich um eine außergewöhnliche Persönlichkeit handeln, eine schwierige, hochbegabte Frau – eine Künstlerin? –, an deren manchmal grausamen und zickigen Anfällen auch die Verehrer litten, aber nichts ändern konnten. Anscheinend hatte die Betrauerte einen schrecklichen Fehler: Ihre Rechthaberei, ihre Unbelehrbarkeit, ihre Arroganz gegenüber dem Leben waren kaum auszuhalten gewesen. Sie schien derart von der Unfehlbarkeit ihrer Ideen überzeugt, daß sie alle Warnungen in den Wind geschlagen hatte. Offenbar hatte sie sich nicht vorstellen können, von Geburt an von Feinden umgeben zu sein, die auf der Welt nichts anderes zu tun hatten, als ihr den Garaus zu machen. Schließlich hatten die Feinde die Überhand gewonnen und rissen nun in 118 119
Ebd., S. 56f. Gisela Kraft: Noten zum Abschied. In: G.K.: West-östliche Couch. Zweierlei Leidensweisen der Deutschen. Noten und Abhandlungen. Berlin 1991, S. 141-147.
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einem Plünderungszug ohne Beispiel alles an sich, was sie hinterlassen hatte – Seen und Häuser, die geistigen Liegenschaften, die Seele jener wunderbaren, schwierigen und geheimnisvollen Frau namens DDR.120
An Krafts wie an Schneiders Text wird deutlich, dass das Phänomen ‚Ostalgie‘ auch mit dem Gewicht und der Geschwindigkeit des Wandels zusammenhängt, denn, so Frank Hörnigk (1992), [w]as heute, vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs einer ganzen Gesellschaft zur massenpsychologischen Grunderfahrung wurde, ist das Erlebnis eines CodeWandels sämtlicher Lebensbereiche von historischem Ausmaß. Die alten Wertbilder gelten nicht mehr, die neuen werden noch nicht beherrscht, das ist die Situation der meisten Menschen in den sogenannten ‚Neuen Bundesländern‘ […].“121
Bernd Schirmer (1999) sieht die Ursachen der ‚Ostalgie‘ im West-OstVerhältnis begründet: Daß die Sicht auf die DDR so kompliziert geworden ist, hängt ein bißchen damit zusammen, daß sie von den neuen Mächten instrumentalisiert worden ist. Es hätte, glaube ich, nicht eine so starke Ostalgie gegeben, wenn der Osten seine Vergangenheit unbeeinflußt vom Westen hätte aufarbeiten können und verschont geblieben wäre von allen möglichen Simplifizierungen und auch politischen Interessen, die damit nichts zu tun haben.122
Für Matthias Biskupek ist Erinnerung nicht per se politisch gebunden; auf die Frage „Erinnerst Du Dich gern an die DDR?“ antwortet er: Ja, weil ich mich gern an meine Jugend erinnere. Das ist doch ganz normal. Das hat mit dem Land DDR nichts zu tun. Ich erinnere mich überhaupt gern an Sachen. Ich erinnere mich gern daran, wie etwas gerochen hat, wie etwas geschmeckt hat, wie eine Landschaft war, wie ein Auto gefahren ist, oder wie ich durch den Schnee gelaufen bin. Ich erinnere mich gern an Sachen und natürlich auch an Freunde, an Diskussionen mit ihnen, wie wir zusammengesessen haben. Natürlich erinnere ich mich gern an Diskussionen, ideologische, auch in denen man dann … Es gibt eigentlich nichts, an das ich mich ungern erinnere. Ich finde Erinnern schön.123
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Peter Schneider: Eduards Heimkehr. Roman. Berlin 1999, S. 219f. Frank Hörnigk: Die Literatur bleibt zuständig: Ein Versuch über das Verhältnis von Literatur, Utopie und Politik in der DDR – am Ende der DDR. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 99-105, S. 101. Jill Twark: So larmoyant sind sie im Osten gar nicht: Gespräch mit Bernd Schirmer. In: GDR Bulletin 26 (1999); S. 39-44, S. 40. Dies.: Satireschreiben vor und nach der Wende: Interview mit Matthias Biskupek. In: GDR Bulletin 26 (1999); S. 45-53, S. 51f.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
563
6.2.1 ‚Ostalgie‘ und Ostprodukte In der Literatur spielt im Zusammenhang mit dem Aspekt der ‚Ostalgie‘ immer wieder die Erwähnung von Produkten eine wichtige Rolle.124 Auf ostdeutscher Seite sind es zunächst die Ostprodukte, denen eine identitätsstiftende Funktion zukommt, zumal Westdeutsche sich kaum mit diesen Produkten auseinander setzen.125 Selbst im Osten gebackene Brötchen erhalten so eine identitätsstiftende Wirkung.126 Mathias Wedel (1994) äußert dazu polemisch: „Zu den sogenannten Ospro-Märkten, wo es Burger Knäckebrot und Sebnitzer Kunstblumen zu holen gibt, wallfahren die Leute wie nach Altötting.“127 Wedel erinnert in diesem Zusammenhang an die zuvor vollzogene Ablehnung der eigenen Produkte: Die Entsolidarisierung im Osten begann an dem Tag, da die ersten, die vor den Sparkassen übernachtet hatten, ihre tränennassen Lippen auf die Noten der neuen Währung drückten. Sofort ordneten sie für sich alle Ostprodukte, die sie zum Teil selber herstellten, unter Kontaktgifte ein, so daß schon in den ersten Tagen Betriebe aufgeben mußten. Ein paar Bauern waren wenigstens so clever und versahen ihre Eier mit holländischen Stempeln. Aber Äpfel aus Werder konnten ihr sozialistisches Antlitz nicht verbergen – sie waren zu schrumpelig. Schon im ersten Einheitsjahr wurden Apfelbäume plantagenweise untergepflügt.128
In Marko Martins (*1970) Roman Der Prinz von Berlin (2000) trägt ein Kapitel die Überschrift „Die Florena-Dose“129, benannt nach dem größten Kosmetikhersteller der DDR mit Sitz im sächsischen Waldheim. Reinhard Ulbrichs (*1953) Spur der Broiler (1998) kann als ‚Ostprodukte-Roman‘ gelten, da die Nennung möglichst vieler Produkte aus volkseigener Produktion stellenweise sogar im Vordergrund steht: 124
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Auf der Realitätsebene sind neben den zahlreich erschienenen CDs mit sozialistischen Kampfliedern sowie Liedern der Jungen Pioniere und der FDJ vor allem die vielen Ostalgie-Parties bedeutsam; vgl. dazu z.B. Birgitt Pötzsch: Vorm Tänzchen mit Honi steht die Visumkontrolle. Discobesucher in alten DDR-Klamotten tanzen zu „dancefloor“Kampfliedern / „Ostalgie-Fete“ in Magdeburg. In: FR v. 29.7.1996. In der Literatur spielen diese Veranstaltungen dagegen keine Rolle. Möglicherweise sind die noch genauer zu betrachtenden satirischen Texte im weitesten Sinne auch eine literarisierte Form dieser Parties. Eine Ausnahme bildet Stefan Schulz: Rhabarberland. Wieviel [sic] Ostprodukte verträgt ein Westmagen? In: Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist. Hrsg. von Jana Simon, Frank Rothe, Wiete Andrasch. Berlin 2000, S. 114-120. Vgl. dazu auch Klaus Pohl: DDR-Brötchen. In: K.P.: Das Deutschlandgefühl. Reinbek 1999, S. 172-174. Brötchen spielen bereits in Hermann Kants satirischer Erzählung Der dritte Nagel (1981) eine wesentliche Rolle. Mathias Wedel: Einheitsfrust. Berlin 1994, S. 44. Ebd., S. 61. Marko Martin: Die Florena-Dose. In: M.M.: Der Prinz von Berlin. Roman. München 2000, S. 37-113.
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[…] Konsterniert zogen wir uns in den Garten zurück und lutschten zum Trost erst mal zwei Henry-Milchbonbons. […] […] […] Im Rahmen eines geselligen Beisammenseins verspeisten Lausi und ich aus diesem Anlaß gerade zwei Rotplombe-Puddings, als es bei uns klopfte. […]130
Dass in Ulbrichs Roman besonders viel gegessen und getrunken wird, liegt nahe. Die Zusammenstellung der Speisen gerät mitunter zum Selbstzweck, zumal in literarischen Texten in der Regel beim Verzehr von Bonbons oder Pudding nicht eigens der Markenname genannt wird. Bei Wolfgang Sämann (*1940) stehen Spülmittel aus DDR-Produktion für die ‚alte‘ Zeit. Ost-Produkte übernehmen hier die Funktion, den Schock der Veränderungen abzumildern, wie am Beginn des Romans Mein Leben im Caravan (1992) deutlich wird: Wer immer den Bus vor mir gefahren hatte, er mußte ein starker Raucher gewesen sein. Ich fand noch Wochen nach der Übernahme Kippen unter der Handbremse, im Werkzeugset und in den Rillen unter der Anrichte. Beim Auswaschen des Wohntraktes habe ich meine letzten Bestände an Fit und otroc verbraucht. Und mit dem Ende der Spülmittel ist auch die alte Zeit verflogen.131
Selten wird – wie in Martin Jankowskis Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999) – die positive Attribuierung der Produkte, hier noch aus DDR-Produktion, so deutlich gemacht wie in der Aufforderung: „Mach mir ’ne gute ORWO-Kassette voll damit. Vielleicht läßt sich was anfangen!“132 Alltagsgegenstände aus DDR-Zeiten werden plötzlich mit einer positiven Bedeutung aufgeladen, die sie vor der ‚Wende‘ – als omnipräsente Massenartikel – nicht hatten. Dieser Prozess macht vor kaum einem Produkt Halt.133 Der Kult-Status äußert sich auch in der mittlerweile einmal im Jahr stattfindenden Ostprodukte-(Verkaufs-)Messe Ospro („Made 130
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Reinhard Ulbrich: Spur der Broiler. Wir und unser goldener Osten. Berlin 1998, S. 18f.; Hervorhebungen im Original. Der Titel spielt auf den kurz nach seinem Herauskommen verbotenen DEFA-Film Spur der Steine (Regie: Frank Beyer, 1965 / 66) nach dem gleichnamigen Roman von Erik Neutsch an. Wolfgang Sämann: Mein Leben im Caravan. Roman. Berlin 1992, S. 5; Hervorhebungen im Original. Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Roman. Scheidegg 1999, S. 87. Im Klappentext des Fotobandes Vom Ende des Römerlatschens wird eigens betont, die Bilder seien auf ORWO-Filmmaterial aufgenommen; vgl. Vom Ende des Römerlatschens. Photoausstellung von Andreas Kämper. Mit einer grotesken Geschichte von Reinhard Ulbrich und einem Text von Gabriele Muschter. Köthen 1997. Vgl. etwa zu Getränken aus DDR-Produktion: Fabian Tweder / Tobias Stregel / Rudolf Kurz: Vita-Cola & Timms Saurer. Getränkesaison in der DDR. Berlin 1999.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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von hier“) auf dem Ausstellungsgelände des Berliner Schloßplatzes.134 Im Eulenspiegel Verlag erscheint jährlich ein Taschenkalender, der sämtliche „DDR Mahn-, Gedenk-, Fest- und Feiertage sowie alle wichtigen Jubiläen der Alt- und Neuzeit“ (Titelseite der Ausgabe für 2003) verzeichnet; der Espresso Verlag (früher: Elefanten Press) gibt Postkartenbücher nicht nur über den Trabant135 heraus, sondern auch über DDR-Waren des täglichen Bedarfs.136 Selten wird mit Ostprodukten ein negatives Image verbunden – und das auch nur in der unmittelbaren Nachwendezeit. So kann der ostdeutsche Polsterer Leo Prünzke in Gerhard Bengschs (*1928) Roman Prünzke & Prott (2000) seine Ware aus DDR-Produktion nach der ‚Wende‘ nicht mehr verkaufen: Vor den Regalen mit Dekostoffen tauschten die beiden [Prünzke und Prott, Prünzkes westdeutscher Kollege und Investor; F.Th.G.] ihre Erfahrungen mit allerlei Chemiefasern aus: Kapron und Silon, Nylon und Trevira, Dacron, Diolen und wie das Zeug sonst noch heißt. Er habe immer noch Vorräte aus DDR-Zeiten, sagte Leo, zum Beispiel Dederon, Grisuten und Wolpryla, aber der Kunde wolle Stoffe aus diesem Material nicht mehr. Ladenhüter, leider.137
Die Bemerkung des Ostdeutschen über die nicht mehr absetzbaren Stoffe wird durch eine Äußerung des geschäftstüchtigeren Westdeutschen in ihrem Stellenwert relativiert: Dann müsse er eben was anderes ranschreiben, empfahl ihm Prott. Diese Textilien wären gar nicht so schlecht; er habe früher auch in der DDR eingekauft: Gardinen aus Plauen, Teppichware aus Oelsnitz. „Aber natürlich war ich nicht so verrückt, meiner Kundschaft auf die Nase zu binden, wo das Zeug herkommt.“138
Ebenso selten werden Ost- und ‚Westprodukte‘ explizit gegeneinander ‚ausgespielt‘, wie es in den kurzen satirischen Essays „Dann klappt es auch mit der Nachbarin!“139 und „Was der Bauer nicht kennt …“140 von Günter Herlt der Fall ist. Unter anderem werden die Fragen aufgeworfen: 134
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Vgl. zu diesen seit 1991 zweimal jährlich in Berlin und seit 1999 einmal jährlich auch in Hannover stattfindenden OSTPRO-Messen Der Osten schmeckt anders. (Vorwärts Spezial (1998) 11). Wolfram Weber: Trabi, Traba, Trabant. 30 Postkarten. Berlin 1998. Tobias Stregel / Fabian Tweder: Gut gekauft – gern gekauft. 30 Postkarten. 3., neu gestaltete Auflage. Berlin 1999. Gerhard Bengsch: Prünzke & Prott. Berlin 2000, S. 75. Ebd. Günter Herlt: „Dann klappt es auch mit der Nachbarin!“ In: G.H.: Ratgeber: Wie wird man Wessi. Eine heiter-ironische Lebenshilfe. Berlin 2001, S. 63-69. Ders.: „Was der Bauer nicht kennt …“ In: Ebd., S. 70-74.
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Warum liegt Nivea weit hinter Florena? Verlangen Ostgesichter andere Cremes? Was läßt die Ostschrippe über die Wattesemmel nach Westrezept triumphieren? Warum kann Pril nicht Fit besiegen? Warum siegt die F6 über die HB? Hustet man heiterer beim Osttabak? Was macht so süchtig an der Club Cola? Ist es das Etikett oder der Inhalt? Weshalb kommt Persil nicht am Spee vorbei? „Da weiß man doch, was man hat!“ Ja, WESSIS vielleicht, aber OSSIS wissen es eben nur vom jahrzehntelangen Umgang mit „Spee“.141
Im Gegensatz zu den vertrauten Ostprodukten werden aus dem Westen stammende Erzeugnisse auf ostdeutscher Seite zunächst als fremd eingestuft. Sie besitzen einen Status des Besonderen und werden deshalb eigens benannt, meist in Verbindung mit dem Hersteller- oder Markennamen. Die Waren fungieren zugleich als Indikatoren für die ‚neue Zeit‘ bzw. Zeitrechnung – in Michael Wüstefelds Erzählung Grenzstreifen (1993) heißt es: „Es war der Sommer, als es Lila Pause, Nimm 2 und Coca Cola auch im Dorfkonsum gab.“142 Eine ähnliche Funktion erfüllt ein ‚westliches‘ Produkt in André Meiers (*1960) Roman Fixies (1999): Müller hatte die Aufnahme gemacht. Weihnachten 89 mußte das gewesen sein. Früher nicht, denn E.T. [so der Spitzname von Müllers Tochter; F.Th.G.] umklammerte ihre erste Barbie. Später auch nicht, denn im Januar war ihr Opa bereits tot.143
Bei Meier werden die ‚Westprodukte‘ durch Markennennung besonders hervorgehoben – trotz teilweise komplizierter Bezeichnungen: Als er ihn [den Laden; F.Th.G.] allerdings eine Viertelstunde später mit zwei Onken-Bechern, einem 6er Pack Becks-Bier und einem tiefgefrorenen Alaska-SeelachsSchlemmer-Filet à la Bordelaise von Iglo wieder verließ, waren die Frikadellen alle.144
Später distanziert sich der Protagonist jedoch von den ‚Westprodukten‘: Kollektive Grübeleien dieser Art waren Müller ebenso neu wie die merkwürdigen Milchtüten, die im Redaktionsraum herumstanden. […] Die Mauer war noch keine acht Wochen offen, und nichts wäre Müller absurder erschienen, als das schöne Westgeld, das er nun zu verdienen anfing, in BRD-Kuhprodukte zu investieren. Also holte er sich die Milch noch immer in wabbeligen Plastikschläuchen aus der HO-Kaufhalle. 141 142 143 144
Ebd., S. 72; Hervorhebungen im Original. Michael Wüstefeld: Grenzstreifen. Warmbronn 1993 (Roter Faden 36), S. 4; Hervorhebungen im Original. André Meier: Fixies. Roman. Berlin 1999, S. 158. Ebd., S. 65.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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Müller hatte demzufolge keine Ahnung, wie man mit den hochhausähnlichen Behältern umging, auf denen „Landfrische Vollmilch“ geschrieben stand. […] Osttüten ließen sich am besten mit einer Schere öffnen. Im Westen war das offensichtlich anders. Jedenfalls lag in diesem riesigen Raum keine einzige Schere herum. Dafür jede Menge Bleistifte. Wild entschlossen, sich der Herausforderung zu stellen, griff sich Müller den spitzesten Stift und durchbohrte mit dessen Hilfe kurzerhand das Dach des Milchbehälters. Müller ahnte, daß dies bestimmt nicht der Weg war, den der zuständige westdeutsche Lebensmittelkonzern empfahl. Und aus der Ahnung wurde Gewißheit, als Schmidt-Ehrenknechts Sekretärin wenig später aufschrie, weil sich ein weißer Strom über ihr kurzes schwarzes Kleid ergoß, um sich anschließend über ihre solariumgebräunten Beine hinweg seinen Weg hin zum blauen Teppichboden des Konferenzraumes zu suchen. Vierzig Jahre deutsche Teilung, das wurde Müller in diesem Moment klar, ließen sich nicht im Handumdrehen überwinden. Das würde Jahre kosten.145
Bei nicht satirisch angelegten Texten lässt sich eine Tendenz zur – weitaus weniger aufdringlichen oder zumindest weniger plakativen – Erwähnung von Ostprodukten erkennen, wenn die Handlung zu DDR-Zeiten angesiedelt ist. Dieses Phänomen zeigt sich beispielsweise in Kerstin Hensels Erzählung Im Schlauch (1993): Der Gastraum bestand aus drei hintereinanderliegenden fensterlosen Stübchen, deren Wände von jahrzehntealtem Tabakrauch satt gebräunt waren. Urkunden, mit der Zeit unleserlich geworden, stockfleckige Ehrenerklärungen schmückten die Wände. Über allem rankte gelber Efeu. Die Tische wacklig, aus Sprelacard, darauf die melierten Malimodecken wiesen unzählige Brandlöcher auf. Die krummbeinigen Kunstlederstühle waren zerschlissen, das Parkett zerfasert und verquollen. Bierlachen auf und unter den Tischen.146
Dem ‚Aminoplastwerkstoff‘ „Sprelacard“ bzw. ‚Sprelacart‘, so die korrekte Schreibweise (aus: Spremberg – Laminat – Carton), kommt dabei in mehreren Texten eine Schlüsselrolle zu.147 Helmut Böttiger (1994) erläutert: Was diese Welt im Innersten zusammenhielt, hieß „Sprelacart“. Sprelacart ist der Inbegriff des DDR-Gefühls, ein klebriger Geruch hinten am Gaumen, die Luft voll Grau und vergilbten Sperrholzfurnieren. Sprelacart ist, wie das VEB Bibliographische Institut in Leipzig 1981 auswies, eine in der DDR entwickelte „Kunstharzpressmasse“, und es verbindet Material und Design zu einer unverwechselbaren ästhetischen Einheit. Wo man auch ist in Leipzig, in den Hinterräumen der Stadtbibliothek, wo
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Ebd., S. 49f. Kerstin Hensel: Im Schlauch. Erzählung. Frankfurt a.M. 1993, S. 41; Hervorhebungen von mir, F.Th.G. Vgl. auch Matthias Biskupek: ‚Sprelacart‘. In: M.B.: Was heißt eigentlich „DDR“? Böhmische Dörfer in Deutsch & Geschichte. Berlin 2003, S. 63-65.
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schüttere Mineralwasserfläschchen sorgsam gruppiert auf Beistelltischchen stehen, in den Fluren der Dienstleistungseinrichtungen oder den Umkleideräumen von Schwimmbädern und Saunen: Das Sprelacart ist überall. Bodenbeläge, Wandflächen, Sessellehnen und Imbißtische: Die Identität ist greifbar. Und langsam wird das Sprelacart zu einem ästhetischen Mehrwert, schwingt sich auf zum Designhit, vermengt sich kapriziös mit Neon und coolen Chromarmaturen.148
Sprelacart ist ein fest im Wortschatz der Ostdeutschen verankertes Lexem, ähnlich wie ‚Tempo‘ in Westdeutschland für ‚Papiertaschentücher‘. Die geschützte Bezeichnung tritt hier also in ihrer Bedeutung in den Hintergrund. Annett Gröschner beschränkt sich in ihrem Roman Moskauer Eis (2000) nicht auf die reine Nennung von Markennamen. Die Ich-Erzählerin liefert detaillierte Informationen über Kühlschrankmodelle aus DDR-Produktion und geht damit weit über den schlichten Verweischarakter hinaus, den die Produktnamen in anderen Texten besitzen: Warum ist mir gestern nicht aufgefallen, daß der Weg von Ost nach West durch die Stadt mit alten Kühlschränken vollgestellt ist? Wie traurige Demonstranten stehen sie an den Ecken, mal alleine, mal zu dritt oder zu viert. Am häufigsten ist der „Kristall 130“, auch in seiner späteren Form als „FORON H 130“. Die meisten sind weiß, aber es gibt auch den einen oder anderen mit einer Dekorplatte in TeakHolz-Imitation, wie es in den achtziger Jahren Mode war. Ab und an sieht man auch den „Kristall 63“ mit seiner bauchigen Tür und dem Griff, der dem des Wartburgs ähnelte. Er hat fast dreißig Jahre gehalten, im Gegensatz zum „Kühlautomat 320“, den ich an der Ecke zur Karl-Marx-Straße entdecke. Daneben stehen die kleinen Gefrierschränke, das erste Modell, der „H 55 TK“ aus den siebziger Jahren, häufiger als der „GS 150“, den sich nur wenige leisten konnten. Vielen fehlt die Tür. […] Es hat etwas Schamloses, den Kühlschränken in ihr Inneres zu schauen. Die hellgrünen Klappen des „H 170“ hängen herunter oder sind ganz verschwunden, manchmal fehlt auch das Butterfach oder die Ablage für die Eier.149
Die Kühlschränke dienen hier nicht nur der Evokation von Erinnerungen, die den meisten Westdeutschen fremd sein dürften und insofern als Mittel der Abgrenzung fungieren können; sie stehen metaphorisch für die ‚Entsorgung‘ von DDR-Geschichte – ein Thema, das Gröschners Roman leitmotivisch durchzieht. Mit Hilfe eines Gefriervorgangs wird in Moskauer Eis auch Vergangenheitsbewältigung betrieben: „Fünf Minuten Schockgefrieren, und die Vergangenheit fällt ab wie eine alte Haut.“150 148
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Helmut Böttiger: Leipzig kommt schnell und gewaltig. Einblicke in die Stadt der Zukunft. In: H.B.: Rausch im Niemandsland. Es gibt ein Leben nach der DDR. Berlin 1994; S. 26-34, S. 32. Annett Gröschner: Moskauer Eis. Roman. Leipzig 2000, S. 213f. Ebd., S. 274.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
569
Die identitätsstiftende Funktion der Ostprodukte hebt auch Rüdiger Läzer (1996) in seiner Untersuchung der Werbesprache hervor.151 Am hohen Stellenwert der Ostprodukte in der Literatur lässt sich zugleich ablesen, dass ‚Ostalgie‘ auf dieser Ebene auch eine Generationenfrage ist. Denn wer wird in 20 Jahren die erwähnten Produkte noch kennen bzw. mit positiven Kindheits- und Jugenderinnerungen verbinden? Die entsprechenden literarischen Werke dürften dann ohne Kommentar kaum noch verständlich sein. 1996 gab Reinhard Ulbrich (*1953) gemeinsam mit dem Fotografen Andreas Kämper (*1954) ein Kleines Lexikon großer Ostprodukte152 heraus, das reißenden Absatz fand: So berichtet Verlagschef Burkhard Albrecht: „Von unserem ersten Band, ‚Kleines Lexikon großer Ost-Produkte‘ haben wir in sechs Monaten 7500 Stück verkauft.“153 Das Bändchen, dem eine ‚Fühlprobe‘ Ost-Toilettenpapier eingebunden ist, verzeichnet Ostprodukte vom Alekto-Besteck154 bis zu Phonogeräten der Marke Ziphona.155 Aufgenommen wurden auch der Kornschnaps Blauer Würger156, DreiklangPyjamas157, KIM-Eier158, der Wurzener Kuko-Reis159, die Schlager-Süßtafel160, die Tempo-Linsen161 sowie Yvette Intim.162 Dabei gelten die unter ‚Ziphona‘ referierten Merkmale für viele Ostprodukte: „grobschlächtig, schwer zu handhaben, irgendwie altmodisch – und manchmal doch auf eine sehr persönliche, ganz und gar unerklärliche Weise gehaßliebt.“163 Natürlich ist Ulbrichs und Kämpers Buch weniger ein Lexikon im wissenschaftlichen Sinne als eine kleine Sammlung von Kurzsatiren. Das zeigt sich etwa am Eintrag über die Halloren-Kugeln164: „In der DDR schwankte 151
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Rüdiger Läzer: „Schön, daß es das noch gibt“ – Werbetexte für Ostprodukte. Untersuchungen zur Sprache einer ost-west-deutschen Textsorte. In: Von „Buschzulage“ und „Ossinachweis“. Ost-West-Deutsch in der Diskussion. Hrsg. von Ruth Reiher und Rüdiger Läzer. Berlin 1996, S. 206-228. Kleines Lexikon großer Ostprodukte. Gemäß TGL Nullachtfünfzehn aufgezeichnet von Reinhard Ulbrich und fotografiert von Andreas Kämper. Köthen 1996; in veränderter Ausstattung: Reinhard Ulbrich: Kleines Lexikon großer Ostprodukte. Von Alekto bis Ziphona. Düsseldorf / München 1998. Zit. nach Wigmar Bressel: Neu: Grüner Pfeil und Ferkel-Taxe. Miniverlag mit Nostalgie im Höhenflug. In: BILD Halle v. 15.5.1997. Kleines Lexikon großer Ostprodukte. Gemäß TGL Nullachtfünfzehn aufgezeichnet von Reinhard Ulbrich und fotografiert von Andreas Kämper. Köthen 1996, S. 7. Ebd., S. 127. Ebd., S. 14. Ebd., S. 23f. Ebd., S. 67f. Ebd., S. 76f. Ebd., S. 114. Ebd., S. 117f. Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Ebd., S. 46f.
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6 Abschied und Ankunft
ihr Geschmack je nach verfügbaren Rohstoffen zwischen Kokosflocken und Kokosläufer.“165 Das Buch enthält allerdings auch Fehler: Die Blaulicht-Reihe etwa wurde erst nach der ‚Wende‘ eingestellt und nicht wegen Papiermangels.166 Das Lexikon erfüllt eine Funktion des Verabschiedens, wie ein Rezensent ausführt: „Dem Ostler hilft das Standardwerk, Abschied von seinen Dingen zu nehmen, was immer auch die Verabschiedung eigener Lebenszeit bedeutet.“167 Dabei ist freilich zu beachten, dass gerade in den letzten Jahren viele der Produkte wieder auf den Markt gekommen sind und sich glänzend verkaufen. Diese Entwicklung sieht auch Marlies Menge (1997), die mit Befremden beobachtet: Der Warenaustausch funktionierte bekanntlich auch in umgekehrter Richtung. Kartonweise schleppte ich Omo, Sunil und Lord Extra über die Grenze, den penetranten Wünschen meiner Cousine Bärbel aus Potsdam gehorchend. Und heute? Da sie Omo und Sunil selber kaufen kann? Wäscht sie mit Spee und raucht Club.168
Häufig lässt sich ‚Ostalgie‘ auch als ‚Gesamthaltung‘ von Texten erkennen. Ein Beispiel hierfür ist Thomas Brussigs Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999). Die Verklärung des Lebens in der DDR wird zwar bisweilen relativiert, doch insgesamt wirkt der Alltag relativ ‚harmlos‘: Mensch, was haben wir die Luft bewegt, schrieb Micha später. Es wäre ewig so weitergegangen. Es war von vorn bis hinten zum Kotzen, aber wir haben uns prächtig amüsiert. Wir waren alle so klug, so belesen, so interessiert, aber unterm Strich war’s idiotisch. Wir stürmten in die Zukunft, aber wir waren so was von gestern. Mein Gott, waren wir komisch, und wir haben es nicht einmal gemerkt. Es wäre ewig so weitergegangen, aber es ist was dazwischengekommen.169
Die Bücher, in denen Alltagsprodukte eine zentrale Rolle einnehmen, kommen dem Bedürfnis zahlreicher Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer nach Erinnerungsbüchern und Identifikationsmöglichkeiten entgegen. So verwundert es nicht, dass das Motiv der ‚Erinnerung‘ in diesen Werken häufig aufscheint. In Manfred Wenigers Büchlein Das Trabi-Denkmal (1996) erzählt ein Trabant, der auf einer Halde seiner Verschrottung harrt, von den Höhen und Tiefen seines Lebens und gerät dabei ins Philosophieren. Bezeichnend in unserem Zusammenhang ist die Widmung des Ich-Erzählers zu Beginn des Buches: 165 166 167 168 169
Ebd., S. 46. Vgl. Torsten Kohlschein: Nahrung für ostdeutschen Selbsthaß. Zwei Nachschlagewerke zur DDR-Alltagskultur. In: Freie Presse v. 6.6.1997. [tl]: Ham’ wer jesiecht? In: Der Tagesspiegel v. 26.2.1997. Marlies Menge: Klarer Fall von Ostalgie. In: Die Zeit v. 28.2.1997. Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Berlin 1999, S. 153; Hervorhebungen im Original.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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Für alle, die meine Welt verstehen; für alle, denen sie fremd ist; auch für diejenigen, die sich nicht um Verständnis mühen. Für alle, die sich gern erinnern, für alle, die sich nicht erinnern wollen. Vor allem für Edith und Peter Ein Trabant von vielen.170
Dem Trabant kommt eine Schlüsselrolle zu: Es erschienen mehrere Bücher über den Kleinwagen171; in der Literatur taucht er immer wieder auf, etwa in Karl Mundstocks (*1915) kurzem Text Vom Trabi und steinernen Engeln172 und Lothar Kusches Keine Angst vorm Trabant.173 Auf essayistischer Ebene setzten sich Kurt Drawert in Go, Trabi, go down174 und Henning Pawel in Adieu, Pappe … Ein Nachruf 175 mit dem Fahrzeug auseinander, das vom damaligen bundesdeutschen Regierungssprecher Hans Klein zum „Auto des Jahres“ vorgeschlagen wurde – entgegen aller sonstigen Trends zum Neuen und Innovativen.176 Zur oben dargestellten ‚Ostprodukte-Literatur‘ treten Quizbücher177 und (Frage-)Spiele über die DDR.178 Auch diesen Artikeln kommt eine 170 171
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Das Trabi-Denkmal. Trabi-Geschichten für große Kinder und Erwachsene. Aufgeschrieben von Manfred Weniger. Hildburghausen 1996, S. 5; Hervorhebungen im Original. Z.B. Mini Deutschland. Trabbi und Trouble. Originalausgabe. München 1990 (Heyne Mini Nr. 33 / 125); Trabi … find’ ich gut. Mit Beiträgen von Heribert Hofner, Harald Kaiser und Willi Mertens. Hamburg 1990; Andreas Kämper / Reinhard Ulbrich: Wir und unser Trabant. Berlin 1995. Karl Mundstock: Vom Trabi und steinernen Engeln. In: Kollek Tief: Ganz schön komisch. Anekdotisches aus der DDR. Mit Zeichnungen von Menotti. Berlin 1995 (Bunte Reihe), S. 83-89. Lothar Kusche: Keine Angst vorm Trabant. In: L.K.: Ost-Salat mit West-Dressing. Satiren und Humoresken. Mit Illustrationen von Wolfgang Schubert. 5., ergänzte, überarbeitete und veränderte Auflage. Berlin 1997 (Bunte Reihe), S. 10-12. Kurt Drawert: Go, Trabi, go down. In: K.D.: Rückseiten der Herrlichkeit. Texte und Kontexte. Frankfurt a.M. 2001, S. 83-86. Henning Pawel: Adieu, Pappe … Ein Nachruf. In: H.P.: Pawels Kolumne. Unfrisierte Gedanken zum Zeitgeschehen. Mit 25 Illustrationen von G. Ruth Mossner. Weimar / Jena 1994, S. 21-23. Vgl. Ralf Hoppe: Auf Trabi-Trip. In: Zeit-Magazin Nr. 46 (1989); S. 6-12, S. 9f. Quizbuch DDR. Fakten, Kurioses, Wissenswertes. Mit Illustrationen von Barbara Henniger. Berlin 2000. Etwa die „Trilogie des DDR-Alltags“: Überholen ohne einzuholen. Ein zeitgemäßes Würfelspiel mit historischem Hintergrund (Buschfunk, 1995), Es geht seinen Gang … oder Wie DAS LEBEN So SPIELt (Buschfunk, 1997), Bau auf! Oder Überdachen ohne einzukrachen (Buschfunk 2000); des Weiteren: Kost the Ost. Das Etikettenquartett (Eulenspiegel Verlag, 1996), Durch Die Republik. Das einmalige große Wissens- und Erinnerungsspiel mit allen Gebieten des Wissens über die DDR (Eulenspiegel Verlag, 1998), Mauer-Puzzle
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6 Abschied und Ankunft
nicht zu unterschätzende identitätsstiftende Funktion zu, denn wer die Fragen nicht korrekt beantworten kann, ist gewissermaßen ‚ausgeschlossen‘. In der Regel bleiben Westdeutsche damit bei Spielen dieser Art außen vor. Die oben erwähnten Texte stellen die literarische Ausformung der Erinnerungsbücher und -spiele dar, in denen in teilweise satirischer Form DDR-Alltag dargestellt wird.179 Nicht nur Produkte, auch alltägliche Gewohnheiten, besser: Riten, spielen eine Rolle: In Gabriele Wolffs (*1955) Kriminalroman Rote Grütze (1994) sieht sich die aus Köln stammende Staatsanwältin Beate Fuchs, die beim Aufbau der Justiz in den neuen Ländern helfen soll, vor ungeahnte Schwierigkeiten gestellt; sie hat bereits ‚von Berufs wegen‘ eine ausgeprägte Wahrnehmungsgabe für – entscheidende – Details: Schon wieder waren subversive Kräfte am Werk. Schon wieder hatte jemand die Klopapierrolle falsch herum aufgehängt. Welchen Sinn konnte es haben, die abzureißenden Blätter nicht vorne, sondern hinten herabhängen zu lassen, so daß Beate mühsam nach dem Anfang der Papierbahn fahnden mußte? Es war ein lautloser Kampf, der von beiden Seiten mit beachtlicher Sturheit geführt wurde. Wer war die Täterin? Welcher überzeugte Klopapier-DDR-Nostalgiker drehte immer wieder die Rolle um, die Beate genauso verbissen jedesmal wieder „richtig“ hinhängte … Es waren die Kleinigkeiten, die hier anders waren. Die Halterungen für Fahnenstangen in den Fensterbrettern. Die Stolperschwellen in den Türrahmen. Die gesenkten Köpfe der Passanten, die Stürze auf geborstenen Plattenwegen oder gewellten Fahrbahnen vermeiden wollten. Die durchgestrichenen Straßenschilder. Die Kleinanzeigen, die Zwei-Raum-Wohnungen nebst Küche mit Fenster offerierten. Die Danksagungen nach einer Beerdigung, in denen die Bemühungen der Bestattungsinstitute lobende Erwähnung fanden. Und die ewig falsch hängenden Klopapierrollen. Beate seufzte, drehte die Rolle wieder um und zog ab.180
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(Eulenspiegel Verlag, 2001), Plattenbauten. Berliner Betonerzeugnisse. Ein Quartettspiel von Cornelius Mangold mit Fotos von Stefan Wolf Lucks und Geschichten von Jochen Schmidt, Gestaltung von Florian Braun (Spielkartenfabrik Altenburg, 2001). Etwa: Markus Heckhausen (Hg.): Das Buch vom Ampelmännchen. Berlin 1997; Herbert Mesch: Gäbe es die DDR noch. 1979 – 1989 – 1999. Jahre, die schneller verflogen als die auf Ewigkeit gebauten. 3. Auflage. Hildburghausen 2000; Alles Soljanka oder wie? Das ultimative DDR-Kochbuch 1949-1989. Hrsg. von Ute Scheffler. Mit einem Vorwort von Küchenmeister Peter Schroth. Leipzig 2000; Essen wie Erich. Bevor der Ofen aus war – Das Beste aus Honeckers Hofküche. Angerichtet von Klaus Steffen, garniert von Barbara Henniger, serviert vom Eulenspiegel Verlag. Berlin 1996 bzw. (in veränderter Taschenbuchausgabe) 1999; Tobias Stregel / Fabian Tweder: Deutsche Kulinarische Republik. Szenen, Berichte und Rezepte aus dem Osten. Frankfurt a.M. 1998. Gabriele Wolff: Rote Grütze. Kriminalroman. Frankfurt a.M. 1994 (Fischer Frauenkrimi), S. 39. Die in Düsseldorf geborene Autorin des Romans war mehrfach befristet von Duisburg nach Neubrandenburg und Neuruppin als Staatsanwältin abgeordnet und ist mittlerweile als Oberstaatsanwältin ausschließlich in Neuruppin tätig.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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Im Osten ist offenbar vieles anders. Produktnamen und Riten werden bisweilen miteinander verbunden, wie der folgende Ausschnitt aus Bernd Schirmers Roman Schlehweins Giraffe belegt. Der Revolutionshistoriker Jens-Peter Bröckle, ein früher radikaler Kritiker der westdeutschen Konsumkultur, eröffnet nach seiner ‚Abwicklung‘ von der Akademie der Wissenschaften das Restaurant „Zur Alten DDR“. Die finanziellen Mittel dazu stammen ausgerechnet aus einem hohen Lottogewinn: In Bröckles Wirtshaus gab es nur altgewohnte, einheimische Ostbiere, Wernesgrüner, Radeberger, Köstritzer, die in alten Ostgläsern mit breiten Henkeln serviert wurden. […] Auch die Teller waren alte Ostteller, etliche waren angeschlagen. Zur Auswahl gab es drei Speisen, Bockwurst mit Kartoffelsalat, Steak Hawaii mit Pommes frites und Goldbroiler. Dazu jeweils Schälchen mit Rohkost, bestehend aus Weißkohl und Rotkohl. Es war alles wie früher, und uns war sehr wohlig zumute. […] Bröckles haben die Kneipe „Zur Alten DDR“ genannt. Ich hatte sie gewarnt. Es ist noch zu früh, hatte ich gesagt. Aber sie haben nicht auf mich hören wollen. Sie hatten mich sogar dazu bringen wollen, daß ich die Giraffe zur Einweihung dazu bringen sollte, zu vorgerückter Stunde den Kopf durch das Fenster zu stecken und die denkwürdigen Worte des Generalsekretärs der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik hereinzurufen. Zum Glück haben wir uns darauf nicht eingelassen. Zu vorgerückter Stunde nämlich drang ein Rudel kahlköpfiger, lederbekleideter Burschen in den Gastraum ein und riß die Losungen herunter und zerschmiß die schönen, alten Gläser und Teller und schlug alles kurz und klein.181
6.2.2 Die DDR lebt! Eher als Gedankenspiele sind diejenigen Texte zu verstehen, in denen die historischen Tatsachen umgekehrt werden. Es geht also um die Frage, was passiert wäre, wenn die DDR als ‚Sieger‘ aus dem Kalten Krieg hervorgegangen wäre. Zunächst sind hier die beiden ‚Jubiläumsbände‘ Die DDR wird 50 (1998)182 und 50 Jahre DDR (1999)183 zu nennen, die zumindest im Titel das Ende der DDR schlichtweg ignorieren; außerdem erschien am 6. Oktober 1999, einen Tag vor dem ‚Jubiläum‘, eine Sonderbeilage der Tageszeitung junge Welt mit dem Titel DDR 50.184
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Bernd Schirmer: Schlehweins Giraffe. Roman. Frankfurt a.M. 1992, S. 148f. Die DDR wird 50. Texte und Fotografien. Hrsg. von Volker Handloik und Harald Hauswald. Berlin 1998. 50 Jahre DDR. Der Alltag der DDR, erzählt in Fotografien aus dem Archiv des ADN. Mit den Original-Bildunterschriften. Mit Texten von Helga Königsdorf und Walter Heilig. Hrsg. und kommentiert von Günther Drommer. Berlin 1999. DDR 50. Sonderbeilage der Tageszeitung junge Welt v. 6.10.1999.
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6 Abschied und Ankunft
Am ausführlichsten wird der Gedanke eines Fortbestehens der DDR in epischen Texten verfolgt. Hervorzuheben sind hier Reinhold Anderts (*1944) Rote Wende (1994)185 sowie die Romane Schönes Deutschland (1996)186 von Thorsten Becker (*1958), Die Mauer steht am Rhein (1999)187 von Christian von Ditfurth (*1953), Erich lebt (1999)188 von Sebastian Knauer (*1949) und Bloß gut, dass es uns noch gibt! (2000)189 von Jörg Mehrwald (*1958); kürzere literarische Umsetzungen dieses Gedankenspiels finden sich in Peter Ensikats (*1941) Die andere Möglichkeit (1998)190 und in Lutz Rathenows (*1952) „Versuch eines Tagebuches“ Und ewig währt die DDR (1998).191 Bei Rote Wende handelt es sich nicht um einen Roman, sondern um eine fingierte Dokumentation „anläßlich des 5. Jahrestages der sozialistischen Wende. Das Schöpferkollektiv widmet es allen 80 Millionen Staatsbürgern der Deutschen Demokratischen Republik von Rostock bis Suhl, von Flensburg bis zum Bodensee.“192 Insofern ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass der Band ein Geleitwort von Erich Honecker enthält. Im Vorwort wird in die Thematik eingeführt: Die vorliegende Sammlung von historischen Dokumenten zur jüngsten deutschen Geschichte ist das Ergebnis vieler Mühen eines Kollektivs herausragender Persönlichkeiten des gesellschaftswissenschaftlichen Lebens. Historiker wie Prof. Dr. Kujau, Philosophen wie Frau Dr. Wollenthal und Dr. Tempel, Kulturwissenschaftler wie Dr. sc. Thiese, Mitarbeiter des Zentralinstituts „Wissenschaftlicher Atheismus“ an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, die ehemaligen Theologen Dr. Peppelmann und Dr. Jauck, um nur einige zu nennen, waren maßgeblich daran beteiligt, jüngste deutsche Geschichte zu schreiben.193
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Reinhold Andert: Rote Wende. Wie die Ossis die Wessis besiegten. Berlin 1994. Thorsten Becker: Schönes Deutschland. Roman. Berlin 1996. Christian von Ditfurth: Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus. Köln 1999. Sebastian Knauer: Erich lebt. Ein Vereinigungskrimi. Berlin 1999. Jörg Mehrwald: Bloß gut, dass es uns noch gibt! Familie Lehmann und der 51. Geburtstag der DDR. München 2000. Peter Ensikat: Die andere Möglichkeit (Statt eines Nachworts). In: P.E.: Hat es die DDR überhaupt gegeben? Berlin 1998, S. 187-192. Lutz Rathenow: Und ewig währt die DDR. Der Versuch eines Tagebuches. In: Die DDR wird 50. Texte und Fotografien. Hrsg. von Volker Handloik und Harald Hauswald. Berlin 1998, S. 67-79. Bei Rathenow wird Erich Honecker zwar im Herbst 1989 abgesetzt, doch Günther Schabowski wird auf der Pressekonferenz vom 9. November 1989 erschossen, bevor er seine berühmte Erklärung verlesen kann. Schmutztitel zu: Reinhold Andert: Rote Wende. Wie die Ossis die Wessis besiegten. Berlin 1994. Reinhold Andert im Namen des Schöpferkollektivs: Vorwort. In: Ebd.; S. 9f., S. 9.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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Bereits an den Namen ist zu erkennen, dass einmal mehr mit einer Verschränkung von Realität und Fiktion gespielt wird, denn sämtliche Namen verweisen auf reale Vorbilder. Der Stil des Bandes ist hyperbolisch: So geht der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl ins Exil nach Paraguay, Karl-Eduard von Schnitzler wird Chefredakteur von BILD, und VW baut den neuen „Trabant 603“. Herbert Mies wird Bundeskanzler und in Wiebelskirchen, Honeckers Geburtsort, wird ein „Museum für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ eingeweiht. Nicht minder übertrieben, jedoch differenzierter angelegt sind Beckers und von Dithfurths Romane. Exemplarisch sei Christian von Dithfurths Die Mauer steht am Rhein vorgestellt. Bei ihm entsteht aus den beiden deutschen Staaten die „DRD“ (Demokratische Republik Deutschland). Möglich wurde die Vereinigung durch die so genannte „Genfer Konferenz“, über die der Ich-Erzähler, ein (westdeutscher) Journalist im Schweizer Exil, rückblickend berichtet: Am 24. und 25. Februar 1989 fand statt, was Moskau gefordert hatte. Die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich verhandelten in Genf über die Forderungen Ligatschows. Die Westdeutschen wurden aufgefordert, eine Delegation in die Schweiz zu schicken. Diese aber, unter Leitung von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher, wurde nicht zu den Verhandlungen zugelassen, sondern mußte im Hotel Beau Rivage die Ergebnisse abwarten. Als die Großmächte sich geeinigt hatten, zitierten sie die Bonner zum Befehlsempfang. Sie erklärten, daß sie in ihrer Verantwortung als die Siegermächte des von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkriegs die Teilung überwunden hätten, so, wie die Deutschen es sich immer gewünscht hätten. Wie in den Abkommen von Jalta, Teheran und Potsdam vereinbart, wollten die Alliierten Deutschland wieder als Ganzes ansehen und es bald in die staatliche Unabhängigkeit entlassen. Die Bundesrepublik scheide aus der NATO aus, und die westalliierten Truppen würden aus Westdeutschland zurückgezogen. Die DDR verliere ihren Status als Mitgliedsstaat des Warschauer Pakts. Deutschland solle neutral sein, es wurde ihm untersagt, sich Bündnissen anzuschließen, die sich gegen die Interessen eines [sic] der Signatarmächte des Genfer Abkommens richten. Die Bundesrepublik wurde aufgefordert, mit der DDR eine Föderation zu bilden. Um nationale Alleingänge zu verhindern und die Durchführung der alliierten Beschlüsse zu gewährleisten, werde die Sowjetunion im Auftrag der Großmächte und in Abstimmung mit ihnen die Kontrolle über Gesamtdeutschland übernehmen. Zu diesem Zweck werde Moskau ein auf 100 000 Soldaten begrenztes Militärkontingent in Westdeutschland stationieren. Die Sowjetunion habe feierlich versichert und sich vertraglich verpflichtet, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen zu schützen. Die beiden deutschen Staaten wurden aufgefordert, unverzüglich Verhandlungen über eine Föderation aufzunehmen.194
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Christian von Ditfurth: Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus. Köln 1999, S. 87f.
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Auch in von Dithfurths Roman kommt den Ostprodukten eine Schlüsselrolle zu. Nun fließen die Warenströme allerdings von Ost nach West: Statt Antworten auf solche Fragen fand ich im Edekaladen an der Ecke, in dem ich meist einkaufte, viele neue Waren im Angebot: Berliner Pilsner, mit Sucrosin gesüßtes Diabetiker-Vollbier, Club Cola, Selterswasser, Bitter Lemon und AstoriaBrause vom VEB Getränkekombinat Berlin; Mischgemüsemischung in Dosen, Gewürzgurken, Rosenkohl und Rotkohl vom VEB Ogema Oebisfelde; Traubensaft, Sauerkirsch- und Johannisbeer-Süßmost sowie Apfelgetränk vom VE Kelterei- und Konserven-Kombinat Werk Lockwitzgrund in Dresden; diverse Marmeladesorten vom Verarbeitungskombinat der Wirtschaftsvereinigung Obst, Gemüse und Speisekartoffeln Bezirk Frankfurt (Oder); Apfelmark und Birnenkompott vom VEB Havelland; Mekaha-Champignon-Käsecreme vom VEB Mecklenburger Käsewerk Hangenow [sic] oder Fleischklopse ohne Semmel vom Konsum Fleischwaren- und Feinkostwerk Berlin.195
Der Ich-Erzähler entwirft nicht nur ein Bild der mehr oder weniger alle Bürgerinnen und Bürger betreffenden Veränderungen im Alltag, sondern auch der Situation im Verlagswesen. Diese kennt er auf Grund seiner Journalistentätigkeit gut: Was sie mir von der Entwicklung ihres Verlags berichtete, ähnelte den Zuständen, die ich mittlerweile in unserer Redaktion erlebte. Schneller, als ich es mir hätte vorstellen können, begann die große Anbiederung an die ja immer noch fernen neuen Herren. Wenn der Umbruch kam, dann wollten viele guten Gewissens sagen können, daß sie die Einheit befürwortet hatten. […] Der Econ Verlag hatte sein Buchprogramm in Windeseile renoviert. Die Geschäftsleitung erstand von DDR-Verlagen Lizenzen von Titeln, bei denen weniger der Inhalt interessierte als vielmehr die Tatsache, daß diese Bücher die Programmvorschau auf den ersten Seiten zierten. In seinem Editorial schrieb Cheflektor Lutz Dursthoff von einem „Signal des guten Willens“ und von der „Freude an der deutschen Einheit“. Der Verlag wolle seinen Lesern die Möglichkeit geben, „wichtige Sachbücher aus der Deutschen Demokratischen Republik kennenzulernen“.196
Im Kontext der Darstellung literarischen Lebens wird auch der ‚große Einheitsroman‘ gefordert. Doch diesmal sind es nicht westdeutsche Feuilletonredakteure oder Literaturwissenschaftler, die den „Roman der deutschen Einheit“ erwarten – Kurt Hager persönlich hatte die Aufgaben in der Kulturarbeit für die kommenden Monate genannt: „Wir brauchen eine fortschrittliche deutsche Nationalkultur, Bücher, Stücke, Filme, Essays, 195 196
Ebd., S. 131. Bei der Auswahl der Produkte dürfte das Kartenspiel Kost the Ost. Das Etikettenquartett (Eulenspiegel Verlag, 1996) Pate gestanden haben. Ebd., S. 142.
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in denen sich das historisch Vorwärtssweisende unseres Kampfes ausdrückt. Wir brauchen neue Helden, solche, die schon immer für die Einheit Deutschlands gekämpft haben, Antifaschisten, die immer an Deutschland glaubten und die nun die Erfüllung ihrer Träume erleben.“ […] Wir brauchen den „Roman der deutschen Einheit“, hatte Hager gefordert, und Ursula Ragwitz betrachtete dieses Projekt als ihre ganz persönliche Aufgabe.197
Hermann Kant folgt prompt dieser auch von Marcel Reich-Ranicki aufgestellten Forderung. In einem Interview äußert der Schriftsteller, dass er an einem solchen Werk schreibe.198 Der Roman, in dem übrigens Robert Iswall und ‚Quasi‘ Riek aus Die Aula (1965) wiederkehren199, erscheint schließlich im Frühjahr 1999 unter dem vom Politbüro beeinflussten Titel Die Einheit: „Die Kritiker überboten sich in ihrer Freude über diesen ‚Meilenstein auf dem Weg zu einer entwickelten sozialistischen deutschen Nationalkultur‘.“200 Vertrauen genießt der neue Einheitsstaat jedoch nicht. Wegen der hohen Zahl von Flüchtlingen sieht sich die Führung zur Schließung der Grenzen gezwungen: Bewährte Sperranlagen wurden ergänzt durch elektronische Überwachungseinrichtungen, die schon weit vor der Grenze alle Bewegungen registrierten. Mit Stolz berichteten Angehörige der Grenztruppen der DRD – denen schon 1991 der Bundesgrenzschutz eingegliedert worden war –, daß die Sicherungsanlagen weitaus wirkungsvoller seien als dereinst Mauer und Stacheldraht zwischen Deutschland Ost und Deutschland West.201
Von Dithfurths Roman ist eine nahezu spiegelbildliche Umkehrung der tatsächlichen historischen Verhältnisse; er ist über weite Strecken als Satire angelegt. Ähnlich geht der Spiegel-Redakteur Sebastian Knauer in Erich lebt vor. Sein Roman spielt 1999. Man feiert den zehnten Jahrestag des Mauerfalls und der deutschen Vereinigung. Einzig verbliebene Supermacht ist die Sowjetunion, denn die USA sind in eine „Gemeinschaft Unabhängiger amerikanischer Staaten (GUaS)“ zerfallen. Im Epilog zelebriert der totgeglaubte Erich Honecker schließlich das Jubiläum des Mauerfalls. Wie auch in Thorsten Beckers Roman Schönes Deutschland, erfolgt eine Vereinigung beider deutscher Staaten.202 Der Gedanke an ein Fortbestehen der Zweistaatlichkeit wird nicht weitergeführt, ebenso wenig der Versuch, 197 198 199 200 201 202
Ebd., S. 161. Vgl. Ebd., S. 168. Vgl. zu diesem ‚Einheitsroman‘ Ebd., S. 243-250. Ebd., S. 243. Ebd., S. 204. Lediglich in Jörg Mehrwalds Roman Bloß gut, dass es uns noch gibt (2000) existiert die DDR weiterhin unabhängig von der Bundesrepublik.
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einen ‚dritten Weg‘ einzuschlagen. In allen genannten Texten nimmt dagegen die Frage nach Mitläufern und ‚Wendehälsen‘ einen hohen Stellenwert ein: Diese jubeln, ihrem Naturell entsprechend, den neuen, hier also östlichen Machthabern zu, lassen aber ansonsten keine Unterschiede zu den realen ‚Wendehälsen‘ erkennen. Einer der wenigen lyrischen Texte, in denen die DDR mehr oder weniger fröhliche Urständ feiert, ist Peter Hacks’ (*1928) im Rahmen der Jetztzeit-Gedichte203 erschienener Appell (1998). Die DDR ist offenbar wiederhergestellt worden, und nun wird abgerechnet – allerdings nicht etwa mit westdeutschen Politikern, sondern auschließlich mit ehemaligen Bürgerrechtlerinnen und -rechtlern, Politikern aus der DDR, die in der Zeit der ‚Wende‘ und unmittelbar danach eine wichtige Rolle spielten, und Reformsozialisten. Diese werden zu einer aus Spendengeldern von Bettlern finanzierten Guillotine auf den Leninplatz geführt und unter dem Beifall der Öffentlichkeit hingerichtet: […] Krause rollt und de Maizière Vorne vor dem Zuge her. Böhme, Thierse, Schnur und Stolpe, Gysi, Modrow, Wolf und dann Poppe, Barbe, Klier und Bohley, Schröder, Ull- und Eppelmann, Die Gebrüder Brie und, ärger, Eheleute Wollenberger, Alle lassen ihren Kopf Fallen in den Auffangtopf. […]204
Mit ‚Ostalgie‘ haben die zuletzt erwähnten Texte kaum mehr zu tun. Aus der Gesamtbetrachtung ergibt sich, dass ‚Ostalgie‘ eine eher unscharfe Sammelbezeichnung für die verschiedensten Inhalte ist. Die Bezeichnung hat auf dem Gebiet der Literatur nicht nur, aber vor allem in satirischen Texten ihren Niederschlag gefunden. Uta Baier (1997) bestätigt in diesem Zusammenhang: „Die DDR ist verblichen, doch ihre Nostalgiker sind nicht totzukriegen. Weil sie nicht loben dürfen, was sie hergeben mußten, schreiben sie Satiren.“205 203 204 205
Die 24 Jetztzeit-Gedichte erschienen über zwei Jahre hinweg in der Zeitschrift Konkret (1998 / 1999). Peter Hacks: Appell. In: Konkret (1998) 11, S. 11. Uta Baier: Sprachlos mit Yvette intim. In: BZ v. 10.2.1997.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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6.2.3 ‚Ostalgie‘ und Ost-Identität Versunken am Grund einer Ostnudelsuppe ist unsere Identität.206 (Thomas Rosenlöcher: Die Heimat hat sich schön gemacht, 1997)
Zu DDR-Zeiten hatte sich trotz eigener Staatsbürgerschaft bis 1989 keine stabile ‚DDR-Identität‘ herausgebildet. Noch im August / September 1989 schreibt Rainer Schedlinski (*1956): alles in allem, indem es sie also schlechthin nicht gibt, scheint die DDR [sic] eine fiktion und darin so willkürlich und konstruiert wie die bezirke, ungeachtet ihrer gewachsenen originalität. jede identität kann daher ihrerseits nur unvollständig, stiefkindlich, abstrakt und fiktiv sein; eine ideologische, kaum natürliche, allenfalls eine provinzielle, die kaum bis über den gartenzaun reicht.207
Der Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann vermutet 1990, „daß jetzt erst der Prozeß begonnen hat, in dem sich eine DDR-Identität artikuliert“.208 Eine solche, sich gewissermaßen im Nachhinein manifestierende DDRIdentität, glaubt auch Fritz J. Raddatz zu erkennen, der über eine Reise nach Mecklenburg im Juli 1991 berichtet: „Nicht eine Nation ist – bisher – entstanden, sondern ein Währungsgebiet. / Der Riß ist tief. Wenn nicht alles täuscht, wird er täglich tiefer.“ Raddatz habe „niemanden gesprochen […], der anders denkt als in der ‚Ihr‘-‚Wir‘-Kategorie. Mir scheint, was da entsteht (entstanden ist?), könnte man als eine ‚nachgeholte DDR-Identität‘ bezeichnen.“209 Ein Faktor für die nachträgliche Entstehung dieser Identität ist sicher auch die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Mut- und Perspektivlosigkeit.210 Unmittelbar vor dem formalen Ende der DDR diskutierten unter der Leitung von Franz Alt der Bielefelder Historiker Lucian Hölscher, der frühere Westberliner Innensenator Heinrich Lummer, der Hallenser Arzt 206 207
208
209 210
Thomas Rosenlöcher: Die Heimat hat sich schön gemacht. In: T.R.: Ostgezeter. Beiträge zur Schimpfkultur. Frankfurt a.M. 1997; S. 19-27, S. 21. Rainer Schedlinski: gibt es die DDR überhaupt? In: r.s.: die arroganz der ohnmacht. aufsätze und zeitungsbeiträge 1989 und 1990. Berlin / Weimar 1991; S. 27-35, S. 29f. [zuerst gekürzt erschienen in der taz]. Wolfgang Ullmann in [Anon.]: Die Gretchenfrage der Republik. Am nächsten Sonntag stimmen die DDR-Bürger bei ihrer ersten freien Wahl indirekt auch über das Ende der Bundesrepublik ab. Kommt es – so wünscht es Kanzler Kohl – zu einem Anschluß der DDR an den Westen? Wahrscheinlich ist: Beide Parlamente verständigen sich über eine neue gesamtdeutsche Verfassungsordnung. In: Der Spiegel 44 (1990) 11 v. 12.3.1990; S. 24-31, S. 30. Fritz J. Raddatz: Der Riß. Skizzen einer Reise durch ein umgetauftes Land. In: Die Zeit v. 12.7.1991. Vgl. auch Ernst-Ullrich Pinkert: Zeitenwende, Zeichenwende. Zur Symbolik der Wende in Deutschland – 1989 / 91. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 272-284, S. 280.
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und Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz und die damals für die Zeit in Ostberlin tätige Journalistin Marlies Menge über die Fragen „[…] was waren, was sind Deutsche Demokratische Republik und Bundesrepublik Deutschland für die Deutschen und für ihre Identität?“211 und „[…] wie deutsch denn die Deutschen nicht nur ohne Mauer, sondern in einem vereinigten Deutschland denken, fühlen und handeln […].“212 Zum damaligen Zeitpunkt ging es also noch um Fragen einer gesamtdeutschen Identität. Wie also lässt sich erklären, was einige Jahre später mit der ‚Abspaltung‘ einer Ost-Identität stattfand? Grundlage für die Entstehung ‚ostalgischer‘ Empfindungen dürfte ein Gefühl des Verlusts sein. So erklärte der 1942 geborene Filmregisseur Konrad Weiß 1992: Ich habe meine Heimat verloren: dieses graue, enge, häßliche Land. Dieses schöne Land, die Sommer in Mecklenburg voller Weite und Vogelsang und Grün, die Winter im Vogtland mit den Kindern im Schnee. Und das dreckige, betonierte, stinkende, dröhnende, das lebendige, tapfere, stille Berlin. In diesem Land bin ich aufgewachsen, es war das Land meiner ersten Liebe, das Land meiner Träume, das Land meines Zorns. Es war das Land meiner Kinder, und es sollte das Land meiner geborenen und noch ungeborenen Enkel sein. Nun wird es mir unter den Füßen weggezogen. Meine Hoffnung verdorrt, und meine Träume sterben. Ich werde zum Emigranten gemacht im eigenen Land.213
Weiß vertritt damit eine ähnliche Auffassung wie oben Matthias Biskupek, der sich ebenfalls auf ‚unpolitische‘ Erinnerungen bezieht. Äußerungen dieser Art stoßen im Westen der Bundesrepublik meist auf Unverständnis, wenn nicht radikale Ablehnung. Gert Ueding etwa ereiferte sich in polemischer Weise über die Ausführungen des Regisseurs, um dann festzustellen: Die Trauer von Konrad Weiß gilt nicht tatsächlich den politischen Veränderungen in seinem Land, sondern der Störung des Realitätsbildes, das er sich von ihm zurechtgemacht hatte und in dem der Vogelsang des mecklenburgischen Sommers offenbar mit dem SED-Staat eine unlösbare Verbindung eingegangen ist. Das ist nicht nur einfältig und unerträglich sentimental, sondern auch gefährlich, denn dieser Regisseur steht ja durchaus nicht alleine.214
Ueding sieht 211
212 213 214
DDR + BRD = ? Die Deutschen und ihre Identität. Eine Veranstaltung der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft. Walsroder Forum IV. 28. September 1990, Walsrode. Hamburg [1991], S. 1. Ebd., S. 2. Konrad Weiß in Der Spiegel; zit. nach: Gert Ueding: Revolution ohne Intellektuelle. In: Die politische Meinung 37 (1992) 271; S. 79-88, S. 87. Gert Ueding: Revolution ohne Intellektuelle. In: Die politische Meinung 37 (1992) 271; S. 79-88, S. 87.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
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die Gefahr, daß aus der Denunziation der Revolution als einer großen Konsumwelle ans westliche Ufer eine neue DDR-Legende entsteht, deren Bausteine, zwar unverbunden noch, doch schon überall bereitliegen. Einer DDR, die das Höchste wollte, doch nicht so sehr an der menschlichen Unzulänglichkeit ihrer Führer als vielmehr am Krämergeist des Volkes gescheitert ist.215
Aus solchen Haltungen könnten seiner Ansicht nach vor allem Probleme im Hinblick auf die Zukunft entstehen: Das gilt auch für die nachträglichen Wunschbilder einer politisch zwar fragwürdigen DDR-Idylle, die aber gerade in ihrer Unmodernität, ihrem Abgekapseltsein, kurz: ihrer Ungleichzeitigkeit entscheidende menschliche und soziale Werte erhalten haben soll, die im Westen angeblich längst preisgegeben wurden. […] Diese Legende ist gefährlich, denn sie ist zur Orientierung in einer neuen veränderten Wirklichkeit völlig unbrauchbar, fixiert die subjektiven Energien auf eine geschönte, verfälschte Vergangenheit und entzieht der Zukunft gerade das kreative und emotionale Potential, das für den Umbau (oder besser: Neuaufbau) des ganzen Landes gebraucht würde. Hier entsteht, noch bevor sie überhaupt der Realitätsprüfung zugänglich ist, eine gefährliche Verdrossenheit an der neuen, vereinigten Republik, ein Ressentiment, das gerade die geistigen und kulturellen Wortführer pflegen und dem sich dann natürlich jede Unzufriedenheit und Enttäuschung (die unausbleiblich sind) anschließen können, die Legende gleichsam nachträglich beglaubigend.216
Ueding setzt sich allerdings nicht mit den tatsächlichen Befindlichkeiten auseinander, sondern zieht seine Schlüsse aus der Betrachtung der Oberfläche. DDR und ‚Wende‘ dürfen jedoch keinesfalls auf ihre politische Dimension beschränkt werden. Das ist häufig genug geschehen und geschieht mit wachsendem zeitlichem Abstand in immer höherem Maße. Helga Königsdorf warnte bereits 1992 vor reduktionistischen Bestrebungen dieser Art: Die Geschichte des Ostens auf eine Geschichte von Verbrechen und Unfähigkeit zu reduzieren, schafft vielleicht Handlungsspielraum. Es ist aber ein Mißbrauch von Geschichte. Das Land war nicht in erster Linie ein Land der Opfer und Täter. Es war vor allem ein Land ganz normaler Leute, die Bedingungen vorfanden, mit denen sie leben mußten und auch, trotz aller genannten Belastungen, leben konnten.217
Christoph Dieckmann (1996) zieht für das Phänomen der ‚Ostalgie‘ den Begriff ‚Ost-Identität‘ vor. Diese sieht er eher kritisch, denn – in Anspielung auf den Beginn des Kommunistischen Manifests – stellt er fest: „Ein 215 216 217
Ebd., S. 87. Ebd., S. 87f. Helga Königsdorf: Überleben wäre eine prima Alternative. Die gemeinsame deutsche Vergangenheit ist eine teuer bezahlte Erfahrung. In: BZ v. 22.2.1992.
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6 Abschied und Ankunft
Gespenst geht um im geeinten Deutschland: ‚Ost-Identität‘.“ Dem schließt er allerdings sofort an: „Doch die eigentliche Frage lautet: Was heißt im Osten Opposition?“ Diese Frage beantwortet er im weiteren Verlauf seines Beitrags wie folgt: Keine Gewalt. Desinteresse an der Staatsidee. Arbeitslose Resignation. Einkrümmung, introvertierte Seßhaftigkeit. Reduktion der res publica aufs eigene Dorf. Engagement im Kleinen. Privatheit. Familie, Freundschaft, Kunst. Restauration der DDR-Biographien. […] Opposition im Osten ist reservatio mentalis gegenüber jedem offiziösen Ethos, das Einheit fordert und verspricht. Nachbarschaftlich verbindende Klage geht um: daß man eh nichts machen könne, weil die Zentralen wirtschaftlicher, medialer und parlamentarischer Macht im Westen residieren – bis auf eine. Nichts kommt der PDS so zugute wie das politische Repräsentationsdefizit des Ostens.218
Folgerichtig bezeichnet er die PDS als „Identitätsanker“.219 1998 nimmt Dieckmann erneut Stellung zum Thema ‚Ost-Identität“: Wir wollen versuchen, ein Chamäleon zu fangen: die sogenannte Ost-Identität. Mit der großgeschichtlichen Betrachtung allein ist da wenig zu machen. Die OstIdentität hat ihre Großgeschichte glücklich hinter sich und darin gelernt, sich nach Art der scheuen Echse zu verhalten. Sie schlüpft sozusagen unter Steine und in altes Mauerwerk. Wofür sie steht, ist schwerer zu erkennen als wogegen. Die Ost-Identität ist ein polemisches Phänomen ostdeutscher Selbstbehauptung. Sie verwahrt sich gegen westliche Dominanz. In die Offensive geht sie selten; lieber wechselt sie die Farbe. Sie kann sich heimatkundlich geben, kerndeutsch, sozialistisch oder einfach stur. Sie liest in der Gauck-Behörde Stasi-Akten und wählt die PDS. Sie läßt Manfred Stolpe meine Brandenburger sagen und sich wundern, daß sich diese Seinen trotz Anweisung nicht mit Berlin verehelichen mögen, vor allem nicht mit Westberlin.220
Erst die Einheit habe die Entstehung der ‚Ost-Identität‘ ermöglicht:
218
219
220
Christoph Dieckmann: Was heißt im Osten Opposition? Auf der Suche nach einem politischen Phänomen. In: Die Zeit v. 12.4.1996; Hervorhebungen im Original. Michael Rutschky (1995) räumt der PDS gar Chancen ein, „für die ‚DDR‘ zu werden, was die CSU für Bayern ist.“ (M.R.: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen. In: Merkur 49 (1995) 9 / 10; S. 851-864, S. 855) Christoph Dieckmann: Als Fremdlinge im eigenen Haus. Sind wir Ostdeutsche Immigranten? Quatsch, wir waren schon immer hier! In: Die Zeit v. 24.5.1996; zur Ost-Identität vgl. auch Detlef Pollack: Alles wandelt sich, nur der Ossi bleibt stets der gleiche? Ein Widerspruch zu den gängigen Deutungsmustern der mentalen Spaltung zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen. In: FR v. 29.6.1996. Christoph Dieckmann: Die Geschichte der Geschichten. Acht Kapitelchen über ostdeutsche Identität. In: Drei Meilen vor dem Anfang. Reden über die Zukunft. Hrsg. von Ingrid Czechowski. Leipzig 1998; S. 59-80, S. 60; Hervorhebung im Original.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
583
Die deutsche Einheit hat das Chamäleon Ost-Identität gerettet. Sie hat ermangels neuer großer Ostgeschichte die kleinen Ostgeschichten in ihr Recht gesetzt, die nach unserer manchmal allzu freundlichen Erinnerung die eigentliche DDR gewesen sind.221
Dieckmann betont, wie nötig gerade im Zusammenhang mit der ‚OstIdentität‘ die Emanzipation vom Westen sei: Also: Die DDR war eine Zeit und kein Ort. Wir wollen nicht in die DDR zurück, aber daß die Zeiten unserer Lebensorte stattgefunden haben, daran halten wir fest wie an uns selbst. Was die Vergangenheitsbewältigung betrifft, so mögen wir sie bitte nicht gegen die Westdeutschen betreiben oder auf deren Geheiß, sondern um unseretwillen. Im übrigen ist die Herzenserforschung zu allen Zeiten eine ziemlich seltene Begabung gewesen. […] Die Ost-Identität wird eine Herkunft bleiben, eine Prägung, ein trotziger Spaß – und natürlich ein Thema für Sonntagsredner.222
Michael Rutschky erklärt 1995: Die DDR, die erst jetzt entsteht, das ist natürlich nicht die untergegangene, eingemauerte des real existierenden Sozialismus. Wie auch immer eine findige KonsumLeiterin im Mecklenburgischen das Versorgungssystem der Planwirtschaft für ein winziges Dorf nachbaut und perfektioniert: als ökonomisches System ist die DDR zerfallen, ebenso als Staat.223
Stattdessen sei eine DDR entstanden „als Kultur, als Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, in der sich überlieferte Elemente, Spolien der untergegangenen DDR erhalten und umbilden, in der neue Elemente entstehen, indem sie sich mit solchen Spolien verbinden.“224 Rutschky spricht auch die mit dieser verspäteten ‚DDR-Identität‘ verbundenen Probleme und offenen Fragen an: Warum erklären wir dieses neu entstehende Ostdeutschland nicht einfach zu einem Teil der neu entstehenden Bundesrepublik? Warum soll es eine DDR-Identität sein, die sich nachträglich als kulturelle Identität bildet, warum keine gesamtdeutsche? Weil diese Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft sich selbst vom Westen abgrenzt.225 221 222 223 224 225
Ebd., S. 77. Ebd.; Hervorhebung im Original. Michael Rutschky: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen. In: Merkur 49 (1995) 9 / 10; S. 851-864, S. 856. Ebd. Ebd.
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6 Abschied und Ankunft
Denn: „Stundenlang können die Einheimischen von der DDR erzählen, auch ihren schwärzesten Anteilen, und eben dadurch die DDR als Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft in der Gegenwart erst hervorbringen.“226 Ein Jahr später betont Rutschky nochmals: Denn diese DDR entsteht als Kultur, als eine Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, worin der bespitzelte Bürger dem Stasi-Informanten stets näher bleibt als dem demokratisch empörten, auf Aufdeckung erpichten Journalisten aus dem Westen. […] Aber noch schwerer wiegt das Blau, das die oder der erste Liebste als Farbe des Hemdes trug, als man Hand aneinander legte auf Rügen, und keine Aufklärungskampagne, wie die FDJ ein durch und durch undemokratischer, zentralistisch-stalinistischer Apparat war, wird an der Leuchtkraft dieser Erinnerung das mindeste ändern. Dies ist der Stoff, aus dem die DDR als Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft erst jetzt entsteht.227
Für ihn steht fest: „Die neue DDR […] ist feste, selbstbewußte Provinz. Diese DDR hat überhaupt erst jetzt Gelegenheit zu entstehen, weil niemand sie nur gezwungenermaßen bewohnt. Jeder kann gehen. Deshalb ist man freiwillig hier.“228 Befremden von Seiten der Westdeutschen dürfte erst recht zum Aufbau dieser „neuen DDR“ führen.229 Einen der Gründe für das Aufkeimen der neuen Identität verdeutlicht Rutschky am Beispiel von Formularen: Auf jedem Formular, das über ihren Schreibtisch läuft, ist anzugeben, ob die Antragstellerin, der Antragsteller, aus den alten oder den neuen Bundesländern stammt. Man wird ja dauernd darauf verwiesen, sagt Frau Dr. Goyschke, daß man Ostbürger ist – und das verbindet sich dann mit den Erinnerungen an die alte Zeit zu einer neuen Identität.230
Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache, dass der Vollzug der Einheit als fremdbestimmt empfunden wird. Wolfgang Emmerich und Lothar Probst (1997) äußern in diesem Kontext: „Die Vernachlässigung des mentalen Faktors gegenüber einer rein administrativ-ökonomisch ausgerichteten Transformationsstrategie stellt sich jetzt als ein verhängnisvoller Konstruktionsfehler des Projekts ‚Deutsche Einheit‘ heraus.“231 226 227 228 229 230 231
Ebd., S. 860. Michael Rutschky: Editorial. In: Der Alltag. Die Sensationen des Gewöhnlichen Nr. 72 (Juni 1996). Thema: Wie erst jetzt die DDR entsteht; S. 1f., S. 2. Ders.: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen. In: Merkur 49 (1995) 9 / 10; S. 851-864, S. 864. Ebd., S. 863. Ebd., S. 852; Hevorhebungen im Original. Wolfgang Emmerich / Lothar Probst: Und der Zukunft zugewandt? Kulturwissenschaften: DDR- und Deutschlandforschung untersucht Störungen im Vereinigungsprozeß. In: Impulse aus der Forschung 22 (1997); S. 17-21, S. 17.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
585
Rutschky bezieht sich in seiner Formulierung der „Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft“ zumindest indirekt auf Aspekte des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ bzw. der Erinnerung überhaupt – Themen also, die in Texten der Nachwende-Zeit eine wesentliche Rolle spielen. So schließt Thomas Brussigs Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) mit einer vorsichtig formulierten Warnung: Wer wirklich bewahren will, was geschehen ist, der darf sich nicht den Erinnerungen hingeben. Die menschliche Erinnerung ist ein viel zu wohliger Vorgang, um das Vergangene nur festzuhalten; sie ist das Gegenteil von dem, was sie zu sein vorgibt. Denn die Erinnerung kann mehr, viel mehr: Sie vollbringt beharrlich das Wunder, einen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, in dem sich jeder Groll verflüchtigt und der weiche Schleier der Nostalgie über alles legt, was mal scharf und schneidend empfunden wurde. Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen.232
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass, ähnlich wie die Ostprodukte, an sich bisher ‚neutrale‘ Texte plötzlich identitätsstiftenden Charakter erhalten. So erschien 1996 eine Auswahl von Briefen, die aus der Ratgeberserie Unter vier Augen in der jungen Welt stammen, vor der ‚Wende‘ Zentralorgan der FDJ und zugleich auflagenstärkste Tageszeitung der DDR. Jutta Resch-Treuwerth, die in der jungen Welt die Briefe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen beantwortete, bekennt: Da die „Junge Welt“ bei ihrem Umzug in ein neues Haus das Leserbriefarchiv auflöste, habe ich mir „meine“ Briefe, sie waren ja zum großen Teil an mich persönlich gerichtet, mitunter stand auf dem Umschlag nur „Jutta Resch-Treuwerth, Berlin“, mitgenommen. Es ist bei großen Veränderungen im Leben von Menschen oft so, daß man mit dem Vergangenen nichts mehr zu tun haben will und alles wegwirft und zerreißt. Wie nach überstandenem Liebeskummer. Später ärgert man sich über die verlorenen Erinnerungen. Ich hatte solche Gefühle nicht, weil mir die Briefe und die Menschen, die sie geschrieben hatten, immer sehr nahe standen. Ich konnte und wollte meine Arbeit, die für mich nie ein bloßer Job war, nicht wegwerfen oder in den Reißwolf stecken.233
Nicht nur das Aufheben, sondern auch die Veröffentlichung dieser Texte ist Teil der Erinnerungsarbeit. Wie bedeutend alltägliche Gegenstände und Einrichtungen für das Erinnern sein können, zeigt Alexander Osang in seiner Reportage Trubel in der Stube (1991): 232 233
Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Berlin 1999, S. 156f. Was ich schon immer fragen wollte … Ein Interview anstelle eines Vorworts. In: Jutta Resch-Treuwerth: Unter vier Augen. Liebesbriefe aus zwei Jahrzehnten. Mit Fotos von Hans-Jürgen Horn. Berlin 1996 (Schwarzkopf & Schwarzkopf LIEBE); S. 7-18, S. 15.
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6 Abschied und Ankunft
Gertraud Dorfner hätte gern ihre Anbauwand zurück. Und die Sitzgruppe. Liebend gern würde sie morgen früh aufstehen, in die Küche schlurfen und an ihrem alten Foron-Gasherd Kaffeewasser aufsetzen. Doch der ist weg. Jeden Morgen steht da jetzt die glitzernde Miele-Einbau-Küche. Beige und zehntausend Mark teuer. Mit Elektroherd und Mikrowelle. Der Traum aller Hausfrauen. Gertraud Dorfner will sie nicht. Es soll sein wie früher. Sie hat es satt, Mauern einzureißen. Sie will kein Pionier sein. Es ist zu spät. Längst lungern auf der Couchgarnitur der Dorfners Schulklassen aus dem Kohlenpott. Kölner Hausfrauen inspizieren die Küchenschränke der Familie, Lehrer und Bibliothekare stöbern im Bücherbord, Kinder tollen auf den Schonbezügen von Siegfried Dorfners Trabant 601 herum. Wir kennen die abgestoßenen Ecken der Küchenspüle, wir wissen, wie Herr Dorfner Rostbratwürste wendet und was Frau Dorfner einzukaufen pflegte. Familie Dorfner hat keine Geheimnisse mehr vor der Nation. Irgend etwas ist schiefgelaufen. Dieter Pesch, Direktor des Rheinischen Freilichtmuseums, hatte ursprünglich vor, psychologische und ideologische Mauern zwischen Ost- und Westdeutschen abzubauen. „Um dies zu erreichen, wird es notwendig sein“, meinte der Direktor, „mehr von unseren Brüdern und Schwestern drüben zu erfahren.“ Zu diesem Zweck transportierte man größere Teile der Wohnungseinrichtung der Saalfelder Familie Dorfner von Thüringen ins Rheinische Museum nach Kommern.234
An Osangs Text wird einmal mehr deutlich, dass es meist nicht um eine Sehnsucht nach der DDR als Staat geht, sondern um den Wegfall vertrauter Gegebenheiten und Strukturen. Den Wert dieser Strukturen haben die Dorfners erst nach deren Verschwinden erkannt; zu den dadurch bedingten Schwierigkeiten tritt die Belastung, nun von früheren Freunden und Bekannten gemieden zu werden. Der Westen fungiert bei diesen Vorgängen zwangsläufig als Feindbild, von dem es sich abzugrenzen gilt. Eine nachträgliche DDR-Identität wird auch in einem Buch der 1938 in Dresden geborenen Karikaturistin Barbara Henniger begründet: Sie zeichnete und textete Unsere Deutsche Demokratische Republik. Ein Bilderbuch aus dem Jenseits (1998).235 Eine Großmutter erinnert sich an ihr Leben in der DDR bis zur ‚Wende‘. ‚Ostalgisch‘ fallen die Erinnerungen selbst zwar nicht aus, beim Leser können sich aber durchaus entsprechende Gefühle einstellen. Der jüngsten Generation, den Enkeln der Erzählerin, ist die DDR bereits sehr fern: Die Großmutter besitzt schon jetzt den Status einer modernen Märchenerzählerin.
234
235
Alexander Osang: Trubel in der Stube. Warum ein Thüringer Ehepaar bereut, seine Wohnungseinrichtung an ein Kölner Museum verkauft zu haben. In: A.O.: Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen. Berlin 1992 (VWV Report); S. 124-129, S. 124f. Barbara Henniger: Unsere Deutsche Demokratische Republik. Ein Bilderbuch aus dem Jenseits. Berlin 1998.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
587
Ausführlichere wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ‚Ostalgie‘ gibt es kaum. Insofern stellt Lothar Fritzes Analyseversuch der „DDR-Nostalgie“ von 1997 eine Ausnahme dar.236 Der Wissenschaftler sieht die „DDR-Nostalgie“ als „Phänomen“, von dessen vermuteter Existenz Beunruhigung ausgeht. Aber existiert dieses Phänomen real oder nur in der Einbildung von Beunruhigten? Welche Formen von DDR-Nostalgie können tatsächlich beobachtet werden, und welche Erscheinungen verdienen diesen Namen nicht? Welche Ursachen lassen sich für reale Nostalgieerscheinungen geltend machen, und welche Faktoren spielen eine Rolle beim Entstehen des Anscheins von DDR-Nostalgie?237
Zunächst unterscheidet Fritze verschiedene Formen der „Sehnsucht nach Vergangenem“: Man kann sich die vergangene Zeit gleichsam „mit Haut und Haaren“ zurückwünschen, also wünschen, daß alles so geblieben wäre oder wiederkäme; oder aber man wünscht sich bestimmte Aspekte dieser Zeit zurück, man glaubt, diese hätten nicht verloren gehen sollen, oder sie mögen zurückgewonnen werden.“238
Dabei vertritt er die These, „daß DDR-Nostalgie in der ersten Form als politisch beachtenswertes Bewußtseinsphänomen nicht existiert.239 Bleibt also die zweite „Nostalgieform“, wonach „bestimmte Aspekte oder Teilbereiche der DDR-Realität – auch und vielleicht gerade retrospektiv – positiv bewertet werden.“240 Diese zweite Form jedoch, die im Gegensatz zur ersten als massenhaftes Bewußtseinsphänomen real ist, bezieht sich gerade nicht schlechthin auf die DDR, sondern auf bestimmte Lebensbedingungen, die zur Wirklichkeit in der DDR gehörten. Aus diesem Grunde dürfte es kaum zweckmäßig sein, auch hier von „DDR-Nostalgie“ zu sprechen. Faktisch handelt es sich um eine „Partial-Nostalgie“ auf der Basis eines kritischen Vergleichs zwischen den früheren und den heutigen Lebensverhältnissen.241
Außer „tatsächlich nostalgisch orientierten Wünschen“ erkennt Fritze „Bewußtseinsphänomene“, 236
237 238 239 240 241
Vgl. Lothar Fritze: Identifikation mit dem gelebten Leben. Gibt es DDR-Nostalgie in den neuen Bundesländern? In: L.F.: Die Gegenwart des Vergangenen. Über das Weiterleben der DDR nach ihrem Ende. Weimar / Köln / Wien 1997, S. 93-114. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. Ebd. Ebd. Ebd., S. 95; Hervorhebungen im Original.
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6 Abschied und Ankunft
die besser in eine Rubrik „Pseudo-Nostalgie“ einzuordnen wären. Auch hier können zwei Formen unterschieden werden. Ihnen ist gemeinsam, daß es sich nicht wirklich um Sehnsüchte nach Vergangenem handelt. Zum einen kann aus Frustrationen, die mit den neuen Lebensbedingungen […] verbunden sind, so etwas wie „Trotz-Nostalgie“ entstehen. […] Zum anderen sind eine Reihe von typischen Mißverständnissen auf seiten der früheren DDR-Bürger in bezug auf die Deutung der neu erfahrenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse auszumachen, die zu Verklärungen und Verharmlosungen der früheren DDR-Wirklichkeit oder zu falschen Parallelisierungen führen können. Die Artikulation der entsprechenden Überzeugungen oder Einstellungen kann speziell beim Alt-Bundesbürger den Eindruck erwecken, es läge eine Form von DDR-Nostalgie vor. Auch hier ist zu vermuten, daß es sich nur dem Schein nach um eine echte Sehnsucht nach den früheren Zuständen handelt.242
Um diese Art von Nostalgieformen zu verstehen, sollte man sich zunächst über zweierlei klar werden: erstens darüber, aus welchen Gründen das DDR-System von seinen Bürgern in der Hauptsache abgelehnt wurde, und zweitens darüber, daß es trotz dieser mehrheitlichen Ablehnung gesellschaftliche Zielvorstellungen sowie Lebenswirklichkeiten gab, mit denen sich ein großer Teil der DDR-Bürger identifizierte.243
Fritze geht also davon aus, dass ein „Großteil der DDR-Bürger […] sozialistische Wertvorstellungen verinnerlicht“ hatte.244 Vor diesem Hintergrund schreibt er: Eine nostalgische Einstellung zu gewissen Aspekten der Lebenswirklichkeit im untergegangenen Sozialismus kann sich nun aus der Überzeugung ergeben, daß bestimmte Werte in verschiedener Hinsicht unter den damaligen Bedingungen besser verwirklicht wurden.245
Gemeint sind dabei vor allem die vielzitierten „Errungenschaften“, die allerdings nicht eins zu eins auf die Situation der ‚freien Marktwirtschaft‘ zu übertragen sind. Auch hier differenziert Fritze: Das Unterlassen von Realisierbarkeitsprüfungen kann sich in irrationalen politischen Forderungen niederschlagen. Eine Nostalgie, die sich in derartigen Forderungen und den entsprechenden Erwartungen ausdrückt, sollte von einer solchen unterschieden werden, die vielleicht am ehesten als „Stoßseufzer-Nostalgie“ zu
242 243 244 245
Ebd. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
589
bezeichnen wäre. Stoßseufzer-Nostalgie liegt dann vor, wenn mit dem Ausdruck des Bedauerns über seine Unrealisierbarkeit die Wünschbarkeit des ersehnten Vergangenen betont wird.246
Die bereits erwähnte „Pseudo-Nostalgie“ ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der „wirtschaftliche und geistig-kulturelle Umbruch […] zu einer radikalen Neubewertung, ja größtenteils Entwertung nahezu aller in der DDR erbrachten Leistungen geführt“ hat.247 Fritze folgert daraus: Typische Prägungen aus der DDR-Zeit, ähnliche Schwierigkeiten unter den neuen Verhältnissen und daraus resultierende Übereinstimmungen in der Interessenlage lassen nach dem Abebben der Vereinigungseuphorie eine Identität der Ostdeutschen aufleben. Diese „Ossi-Identität“ ist genetisch betrachtet eine Reaktion auf die empfundene kollektive Subalternität […], funktional betrachtet ein Schutzwall gegen befürchtete soziale und moralische Deklassierung sowie ein Medium der Artikulation gemeinsamer Ost-Interessen. Von einer DDR-Nostalgie sollte daher in diesem Zusammenhang nicht ausgegangen werden. Eher schon könnte das unterschwellige Bedürfnis eine Rolle spielen, für ein mit der DDR untergegangenes Wir-Gefühl Ersatz zu schaffen. „Ossi-Identität“ ist eine Gemütslage, die vor allem einer allgemeinen Verunsicherung als einem typischen Kennzeichen der gegenwärtigen Lebenssituation in Ostdeutschland entspringt. Die materielle Situation dürfte dabei besser sein als die Stimmung.248
Eine zusätzliche Differenzierung der Nostalgieformen ergibt sich aus dem Umstand, daß kollektive Identitätsgefühle, die sich auf einen Staat beziehen, von der politischen Verfaßtheit dieses Staates unabhängig sein können. […] Wer für die staatliche Einheit Deutschlands nicht vorbehaltlos eintrat, sondern eher für den Fortbestand der DDR plädierte, muß also weder ein Anhänger der früheren SED sein, […] noch ist ihm DDR-Nostalgie in dem Sinne vorzuwerfen, er wäre an den früheren DDR-Verhältnissen interessiert. […] Eine nostalgische Sehnsucht nach dem untergegangenen Staat namens DDR ist jedenfalls mit DDR-Nostalgie, wie sie bisher thematisiert wurde, nicht zu verwechseln.249
Angesichts der Vielzahl von Formen und Ausprägungen wendet sich Fritze also gegen einen „vorschnelle[n] Nostalgie-Verdacht“:
246 247 248 249
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
105. 107. 107f. 111.
590
6 Abschied und Ankunft
Verdachtsmomente, ein beträchtlicher Teil der Ostdeutschen sei von DDR-Nostalgie befallen, mag es reichlich geben. Eine genauere Analyse der in dieser Hinsicht verdächtigen Anschauungen, Äußerungen, Handlungen etc. führt in den meisten Fällen […] zu entscheidenden Relativierungen. Vorschnelle Abqualifizierungen sind daher fehl am Platze. Darüber hinaus gibt es gefühlsmäßige Bindungen an bestimmte Elemente des früheren Lebens, die gänzlich oder weitgehend systemneutral waren. Beispielsweise werden nach wie vor oder auch wieder alte DDR-Schlager gehört, und die DDR-Popmusik erlebt sogar in Gestalt spezieller Rundfunksendungen eine gewisse Renaissance. Zurückgewandte Orientierungen dieser Art mögen zwar nicht gänzlich unpolitischer Natur sein, sind aber doch zum Großteil „rein menschlich“ verstehbar.250
Selbstverständlich handelt es sich bei Fritzes Typologisierungsversuchen um die Darstellung von Idealtypen, denn „[i]n der Realität werden häufig Mischformen angetroffen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen. Unterscheidungen sind allerdings insofern nützlich, als durch sie jeder Beobachter aufgefordert wird, die tatsächliche Intention von nostalgisch anmutenden Äußerungen zu ergründen.“251 Eng verbunden mit der ‚Ostalgie‘ ist eine Mythisierung der DDR. Christoph Dieckmann (1993) fürchtet: Ein Mythos wächst, der Mythos DDR. Er wächst in dem Maße, wie die echte DDR versinkt. Die Erinnerung ist heiter, denn man liebt, was man glimpflich überstand. Analyse kommt dem Mythos nicht bei; er lebt im Sentiment. Der Mythos ist der Grabgeist der Ideologie. Wo jene starrt und schweigt, steigt dieser auf und spricht. Seine rhetorische Figur ist der Einspruch. Jaja, der Stalinismus war ein Graus, aber hatten wir nicht Arbeit? Aber wohnten wir nicht nahe beieinander? Aber gab’s nicht weniger Gewalt? Aber, aber, aber kannst du vergessen, daß wir auch glücklich waren? Heimat, raunt der Mythos, Usedom, märkischer Sand, die Krähen, die Äcker der Börde, wo du Kartoffeln lasest, und hast du den Mond über Ilsenburg vergessen und die alte Malzfabrik in deinem Kinderland? Aber das kommt nie wieder. Aber jünger wirst du nicht. Aber alles wollen sie dir nehmen.252
Die Folge sei die die Entstehung einer diffuse[n] Notgemeinschaft von Menschen, die lieber posthum ihren schmuddeligen Staat verklären, als daß sie ihr Leben wie Knüppelholz der Geschichte verfeuern. Das muß man verstehen. Das muß man verwerfen. Ein Widerspruch? Vielleicht
250 251 252
Ebd. Ebd., S. 113. Christoph Dieckmann: Abendlicht. Eine Predigt für und wider den Mythos DDR. In: Die Zeit v. 26.2.1993.
6.2 ‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘!
591
für Ideologen und Sieger der Geschichte. Es ist ja das Wesen des Eiferers, daß er weniger verstehen will, als er könnte.253
Eine Verurteilung der DDR könne dem nicht abhelfen, denn „[d]ämonisierende Parolen (‚SED-Diktatur und sonst gar nichts!‘) stricken nur mit am Mythos. Dann backen DDR-Leben und Ideologie zusammen in einem früher nie gekannten Opus classicum.“254 Dieckmann hat mit diesen Beobachtungen zweifellos Recht, doch ist sein Anspruch hier zu pauschal: die DDR hat es schließlich nicht gegeben, trotz aller gegenteiligen Bemühungen war auch sie ein Staat mit heterogener Bevölkerung. Nicht erst die teilweise sehr emotional geführten Kontroversen um die Abschaffung bzw. Wieder-Einführung des Ost-Ampelmännchens255 und des Sandmännchens aus dem Fernsehen der DDR256 lassen erkennen, dass man nicht nur in Dieckmanns Sinne, sondern auch im Sinne von Roland Barthes’ Mythen des Alltags (1957)257 von einer regelrechten Mythisierung des Lebens in der DDR sprechen kann. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Alltagsmythen erfolgte bisher meist in satirischer Form.258 Während in Essays und fiktionalen Texten meist die Herausbildung einer Ost-Identität zum Thema erhoben wird, tut Wiglaf Droste (*1961) zumindest scheinbar genau das Gegenteil: In seiner Polemik In Adolf’s Imbiß (1992) konstatiert er den „sog. Verlust der DDR-Identität“.259 Der Satiriker wehrt sich vehement gegen das viele „Gemaule und Gemeckere, Genöckel und Genöle“ in den „Fünf Neuen Kummerkästen“.260 Die Überwindung ‚ostalgischer‘ Tendenzen ist ansonsten kaum Gegenstand literarischer Texte und Essays. Die meisten Autoren beschränken sich 253 254 255 256
257 258
259
260
Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd. Vgl. dazu Markus Heckhausen (Hg.): Das Buch vom Ampelmännchen. Berlin 1997. Vgl. dazu Volker Petzold: Der Sandmann wieder in der Politik. In: Sandmann auf Reisen. Eine Ausstellung des Filmmuseums Potsdam mit Unterstützung des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg und des Mitteldeutschen Rundfunks. Hrsg. vom Filmmuseum Potsdam. Berlin [o.J.], S. 64-67 sowie Anne Knabe: Die Zukunft des Sandmannes. In: Ebd., S. 74-76. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M. 1964 [Originalausgabe: R.B.: Mythologies. Paris 1957]. Vgl. etwa: Reinhard Ulbrich / Andreas Kämper: Sandmännchen im Trabi-Land. Das Ostalgie-Kultbuch. München 1997; Reinhard Ulbrich: Knigge für Deutsche: Über den Umgang mit Ostmenschen / Über den Umgang mit Westmenschen. Ein Wendebuch. Köthen 1998. Wiglaf Droste: In Adolf’s Imbiß. In: Klaus Bittermann (Hg.): Der rasende Mob. Die Ossis zwischen Selbstmitleid und Barbarei. Mit Beiträgen von: Henryk M. Broder, Wiglaf Droste, Roger Willemsen, Gabriele Goettle, Christian Schmidt, Peter Schneider, Michael O.R. Kröher, Gerhard Henschel, Klaus Bittermann. Berlin 1993 (Edition Tiamat, Critica Diabolis 37); S. 139-142 (zuerst in gekürzter Version in: ND v. 26.11.1992), S. 139; Hervorhebung im Original. Ebd.
592
6 Abschied und Ankunft
auf Zustandsbeschreibungen und Begründungsversuche. Einer der wenigen Ostdeutschen, die explizit für eine Überwindung der Nostalgie eintreten, ist der Molekularbiologe und Mitbegründer des Neuen Forums Jens Reich (*1939). Er fordert 1992: Ebenso müssen wir die verlogene Nostalgie überwinden nach dem verdrehten DDRZustand, müssen uns befreien von den falschen Selbstverklärungen der „verratenen Revolution“, von der narzißtischen Kränkung, nicht auf die Kommandobrücke gekommen zu sein. Wir müssen die Rangeleien auf den Nebenkriegsschauplätzen abbrechen.261
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik Es war ein Gebiet, das man der Hölle entrissen zu haben schien, und doch glaubte man, in diesen unzähligen Kubikmetern kalter toter Asche, die hier versenkt worden waren, versetzt mit allen Fäulnisresten und allem Überflüssigen aus der nahen Stadt, das symbolische Abbild einer künftigen Erde erblicken zu sollen.262 (Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung, 1989)
In der Literatur über ‚Wende‘ und deutsche ‚Einheit‘ stößt man immer wieder auf dieselben oder zumindest sehr ähnliche Metaphern und Motive. Im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bedienen sich verschiedene Autorinnen und Autoren einer Metaphorik des (Ver-)Schlingens: Heiner Müller (1991) meint: Der Sieg des Kapitalismus leitet sein Ende ein, denn man kann nichts erobern, was sich einem an den Hals schmeißt. Daran kann man sich nur verschlucken. Der Kapitalismus, der traditionelle Aggressor Europa ist jetzt plötzlich von Asien und Afrika umzingelt und steht mit dem Rücken am Ozonloch.263
Und Joseph von Westphalen prophezeit in Das große Fressen. Letzte Polemik gegen die deutsche Einheit (1990): „Bei der Bulimie folgt auf die Freß- und Schlingphase das Würgen und Erbrechen. Das wird noch kommen.“264 261 262 263 264
Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin 1992, S. 175f. Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung. Roman. Frankfurt a.M. 1989, S. 340. Heiner Müller: Das Böse ist die Zukunft. Heiner Müller im Gespräch mit Frank Raddatz. Siebte Folge. In: TransAtlantik (1991) 3; S. 34-37, S. 37. Joseph von Westphalen: Das große Fressen. Letzte Polemik gegen die deutsche Einheit. In: Die Zeit v. 18.5.1990; vgl. auch Ders.: Von deutscher Bulimie. Diagnose einer Freßgier. Vergebliche Streitschrift gegen die deutsche Einheit. München 1990.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
593
Die am häufigsten gebrauchten Metaphern und Motive lassen sich jedoch mit den Schlagwörtern ‚Verfall‘ und ‚Aufbau‘ charakterisieren, ihre jeweiligen Ausformungen seien im Folgenden genauer betrachtet. 6.3.1
‚Verfall‘ und ‚Aufbau‘
6.3.1.1
Untergang: ‚Verfall‘ und Abbruch
In fast allen Texten der ‚Wende‘- und Nachwendezeit lässt sich eine Motivik des Alten, Verrottenden, Zerfallenden und Untergehenden erkennen – häufig in Verbindung mit Metaphern und Motiven des Auflösens, Wegwerfens und Loswerdens. Die Untergangsatmosphäre lässt sich bereits an zahlreichen Titeln ablesen, etwa Land unter (1995)265 von Reinhold Andert und Mathias Wedel. In einigen Werken wird sie auf der Textebene besonders deutlich, insbesondere in Alte Abdeckerei (1991)266 und weiteren Erzählungen von Wolfgang Hilbig. So endet Die Arbeit an den Öfen (1992) mit dem Satz: Draußen vor dem Fenster fiel immer mehr Schnee, die Flocken verfärbten sich zunehmend in der Dämmerung des späten Nachmittags, und bald senkten sie sich herab wie ein dichtes Netz schwarzer Partikel, das weit in das Land reichte.267
Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang außerdem die Erzählung Tanz am Kanal (1994)268 von Kerstin Hensel, ebenso Harald Gerlachs Roman Windstimmen.269 In Katharina Hackers (*1967) Roman Der Bademeister (2000) erzählt die arbeitslos gewordene Titelfigur aus der Geschichte eines nun verlassenen Schwimmbades im Bezirk Prenzlauer Berg, das langsam verfällt. Der ehemalige Bademeister ist dem Gebäude derart verhaftet, dass er es schließlich selbst zum Schlafen nicht mehr verlässt. Nach und nach setzt sich aus den Bruchstücken der Selbstgespräche bzw. an ein imaginiertes Publikum gerichteten Monologe die tragische Lebensgeschichte des Mannes zusammen; auch die verdrängte Geschichte des Bades in der Zeit des Nationalsozialismus wird nicht ausgelassen. Der Hintergrund des Verfalls und die damit verbundene selbst auferlegte Notwendigkeit der Präsenz des Ich-Erzählers in dem Gebäude machen insofern die Erzählung erst möglich. Der Roman beginnt mit der knappen Selbstpräsentation des Protagonisten und der Beschreibung seiner Umgebung, aus der er – offenbar ausschließlich – seine Identität schöpft: 265 266 267 268 269
Reinhold Andert / Mathias Wedel: Land unter oder: Selten ein Schaden ohne Nutzen. Berlin 1995. Wolfgang Hilbig: Alte Abdeckerei. Erzählung. Frankfurt a.M. 1991. Ders.: Die Arbeit an den Öfen. In: Ders.: Die Arbeit an den Öfen. Erzählungen. Berlin 1994 (Wolffs Broschuren); S. 5-28, S. 28 [zuvor in ndl 40 (1992) 12; S. 12-22, S. 22]. Kerstin Hensel: Tanz am Kanal. Erzählung. Frankfurt a.M. 1994. Harald Gerlach: Windstimmen. Roman. Berlin 1997.
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6 Abschied und Ankunft
Ich bin der Bademeister, ich habe nie viel gesprochen. Das Schwimmbad ist geschlossen. Seit Wochen steht das Gebäude leer. Einsturzgefahr! Vor der Schwimmhalle steht ein Schild. Einsturzgefahr! Betreten der Schwimmhalle verboten! Ein Placken Putz ist aus der Wand gebrochen. Der Hausmeister hat nicht lange gezögert. Rasch war die Bauaufsicht verständigt, um die Statik der Schwimmhalle und des Schwimmbeckens zu untersuchen. Die Zuständigen haben gleich gesehen, daß der Verfall unaufhaltbar ist, das Becken sich gesenkt hat. Ich habe nie viel gesprochen, aber in allem, was das Schwimmbad angeht, kenne ich mich besser aus als jeder andere. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht.270
Auch Bildbände bzw. Text-Bild-Bände, meist mit Gedichten und / oder kurzen Essays, setzen sich mit dem Verfall, hauptsächlich von Städten und Industrieanlagen, auseinander – eine eigene Ästhetik des Untergangs wird hier dokumentiert, möglicherweise sogar neuerlich konstituiert. Einer der bedeutendsten Bände dieses Genres ist das 1991 im Mitteldeutschen Verlag erschienene Buch Diva in Grau über Halle an der Saale. Neben den eindrucksvollen Fotografien von Helga Paris (*1938) enthält der Band Texte von Wilhelm Bartsch (*1950), Heinz Czechowski (*1935), Elke Erb (*1938), Jörg Kowalski (*1952), Christa Moog (*1952) und Detlef Opitz (*1956). Stellvertretend für die zahlreichen Gedichte, in denen der Verfall Halles mit deutlichen Worten ausgedrückt wird, sei ein Beispiel von Jörg Kowalski zitiert, das bereits 1985 zum ersten Mal veröffentlicht worden war: wo ich wohne tragen die häuser farben sanften verfalls. karyatiden zerbrechen unter einem erker und im winter schlagen feuerwehrmänner lockeren stuck von den gesimsen.271 270
271
Katharina Hacker: Der Bademeister. Frankfurt a.M. 2000, S. 7; eine ähnliche Szenerie des Verrottenden, ebenfalls ausgeführt am Beispiel eines Schwimmbades, beschreibt Annett Gröschner im 33. Kapitel ihres Romans Moskauer Eis (Leipzig 2000; S. 235-244, insbes. S. 235f.) . Jörg Kowalski: wo ich wohne. In: Diva in grau. Häuser und Gesichter in Halle. Fotografien von Helga Paris. Texte von Wilhelm Bartsch, Heinz Czechowski, Elke Erb, Jörg Kowalski, Christa Moog, Detlef Opitz. Hrsg. von Jörg Kowalski und Dagmar Winklhofer im Mitteldeutschen Verlag. Halle (S.) 1991, S. 93; Hervorhebung im Original.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
595
In diesem Zusammenhang sind auch das ebenfalls von Kowalski stammende Gedicht Halle Geiststraße272, hier erstmals veröffentlicht, sowie die Gedichte Februarabend in H.273 und Abendblatt274 von Heinz Czechowski zu erwähnen; letztere erschienen ebenfalls bereits vor der ‚Wende‘: 1974 bzw. 1981. Die literarische Verarbeitung, zumindest jedoch Dokumentation des Verfalls von Städten in der DDR ist also keineswegs neu, tritt hier aber in konzentrierter Form auf: Texte und Bilder unterstützen sich dabei in einer vorher nicht gekannten Dimension. Im Vorwort zu Christian Bedeschinskis (*1960) Band Ein-Blicke (1995), der zwischen 1990 und 1995 entstandene Fotografien, insbesondere von Kraftwerksanlagen in den östlichen Bundesländern dokumentiert, beobachtet Axel Föhl eine merkwürdige Gleichzeitigkeit […]: Die zu Beginn des Jahrhunderts errichtete Eisenhütte im saarländischen Völklingen mit ihren sechs Hochöfen wird 1995 in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen, für den funktionalistischen Steinkohlezechen-Koloß „Zollverein XII“ im ruhrländischen Essen-Katernberg plant der internationale Architektur-Star Sir Norman Foster die integrierte Anlage eines Design-Zentrums als Denkmalerhaltungs- und Folgenutzungskonzept. Wenige Kilometer weiter östlich dagegen gehen Millionen statt in die Weiternutzung in die Beseitigung von ähnlich wichtigen, ähnlich beeindruckenden Zeugen vergangener Technikarchitekturen.275
Offenbar wird in Ost und West mit zweierlei Maß gemessen. Die Grenzen zur Verklärung des Zerfalls sind bisweilen fließend, da sich zwischenzeitlich eine die Realität verkennende, neue ‚Ruinenromantik‘ herausgebildet hat. Durs Grünbein (*1962) thematisiert diese beispielsweise in seinem Gedicht über Dresden (1991).276 Auch in Essays wenden sich einige Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegen diese ‚Ruinenromantik‘; stellvertretend genannt sei Kurt Drawerts Haus ohne Menschen (1993)277, für das der Autor im Juni 1993 mit dem Klagenfurter Ingeborg-BachmannPreis ausgezeichnet wurde.
272 273 274 275 276 277
Ders.: Halle Geiststraße. In: Ebd., S. 96. Heinz Czechowski: Februarabend in H. In: Ebd., S. 40f. Ders.: Abendblatt. In: Ebd., S. 44f. Axel Föhl: Vorwort zu Christian Bedeschinski: Ein-Blicke. Industriekultur im Osten Deutschlands. Berlin 1995; S. 6f., S. 6f. Durs Grünbein: Gedicht über Dresden. In: D.G.: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 112. Kurt Drawert: Haus ohne Menschen. Ein Zustand. In: K.D.: Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften. Frankfurt a.M. 1993 (Edition Suhrkamp Leipzig), S. 9-19 [zuerst in gekürzter Fassung in: Der Spiegel 47 (1993) 27 v. 5.7.1993, S. 149-151].
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6 Abschied und Ankunft
Neben undifferenziert die Ruinen verklärenden (Bild-)Bänden gibt es aber auch solche, die sich differenziert mit der Thematik und der damit verbundenen Problematik auseinander setzen, etwa den 1994 erschienenen Bild-Text-Band Abschied von Bitterfeld, in dem die Ästhetisierung von Industrieruinen explizit angesprochen wird: Die versammelten Bilder zeigen ein Doppelgeschehen: zum einen die Arten der Zerstörung, zum anderen die Verwandlung des Zerbrochenen ins ästhetische Feld. Wir erblicken auf den Fotos den Zerfall, und dabei erkennen wir den gestalterischen Reiz der willkürlichen Anordnung, die Tableaus der Rekonstruktion. Schon bald nach der Wende hat es den Versuch gegeben, mit einer Ausstellung über „Gestaltete Räume“ die Bitterfelder Ansichten umzuwidmen. Doch Environment, Landart und Video versagten im vorgefundenen Gelände. Der Abschied von der Vergangenheit fand durch Kunst nicht statt, artistische Zeichen vermochten gegenüber der faktischen Wucht des Anblicks nichts auszurichten. Der abgestorbene Gebrauchswert konnte in einen bezeichnenden Schauwert nicht transformiert, der ästhetische Bann der Situation nicht geleistet werden.278
Der Architekt Ingo Andreas Wolf (1999) beschreibt die Bedeutung der beschriebenen Tendenzen durchaus plausibel, wenn er am Beispiel Leipzigs rückblickend feststellt: Speziell der Innenstadtbereich zeigte sich meinem noch fremden Blick als Wenderssches Filmszenario aus „Alice in den Städten“ oder dem „Himmel über Berlin“. Baulücken mit offenen Brandfluchten in Blocktiefe, dunkle Ziegelwände mit verblaßter Schrift und Werbegrafik zu ehemaligen Verkaufsschlagern schienen Bühnenbildern gleich auf den Zirkus oder einen Engel Damiel zu warten. Stadtlandschaften von großer skulpturaler Kraft, auffallend durch das Fehlen wirtschaftlicher, politischer oder funktionaler Deutungs- und Interpretationsmuster, standen als Projektionsflächen zu gleichen Teilen für private Erinnerungen und Träume, Film- und Theaterfantasien, Architekturbilder sowie Entwickler- und Renditewünsche offen. In seinen „Terrains vagues“ bot der real existierende Stadtraum Ost erstaunlicherweise genau die Offenheit für subjektive Projektionen und die Freiheit zur Selbstdefinition, die der virtuelle Stadtraum West meist nur verspricht. Vor allem die Punks schienen diesen Vorzug zu sehen und wertzuschätzen! […] In der sozialen, bildlichen und ökologischen Offenheit der noch existierenden und neu entstehenden „Terrains vagues“ liegen nicht wenige Chancen für die Zukunft der Stadt als toleranter, gemischter, flexibel auf neue Entwicklungen und Immigration reagierender Wohn- und Arbeitsort. Diese Brachen, Fragmente und Konfliktstellen aus dem Bereich der „mentalen Altlasten“ zu befreien und als gleichberechtigte Elemente der Stadt zu etablieren, wird von seiten der Malerei, Fotografie, Literatur, 278
Wilfried F. Schoeller: Ruinen. In: W.F.S. / Martin Schoeller: Abschied von Bitterfeld. Göttingen 1994; S. 7-17, S. 15.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
597
des Films und Theaters seit langem geleistet. Wenn Stadtplanung und Architektur sich nun diesem Aspekt der europäischen Stadt zuwenden, können sie nicht nur einen vermeintlichen Mangel verwalten, sondern der Stadt Zukunftschancen eröffnen und qualitätsvolle Gestaltungsräume gewinnen.279
Parallel zur Motivik des Verfalls, deren Wurzeln in der DDR liegen, hat sich in der Nachwendezeit eine Motivik des Verschwindens entwickelt. Mehrere Texte setzen sich ganz oder teilweise mit dem Verschwinden der Kaninchen auf dem Gebiet des früheren Todesstreifens auseinander: Esterhazy (1993)280 von Irene Dische, Hans Magnus Enzensberger und Michael Sowa, Brigitte Burmeisters Unter dem Namen Norma (1994)281, Abendspaziergang (1995)282 sowie Und Norma geht durch die Wand (1998)283, Annett Gröschners Gedicht Den Faustkeil suchen (1993)284 und Manfred Karges Drama MauerStücke (1990).285 Exemplarisch zitiert sei die Darstellung des Mauerfalls in Esterhazy, einer „Hasengeschichte“. Die Öffnung der Grenzen wird hier aus ungewöhnlicher Perspektive beleuchtet. Soeben hat der kleinwüchsige Rammler Esterhazy seine geliebte Häsin Mimi wiedergefunden: Dann zeigte ihm Mimi die ganze Höhle und lud ihn in ihre kleine Wohnung ein. Sie erzählte, wie gemütlich das Hasenleben hinter der Mauer war. Die Soldaten waren extra dazu da, um auf sie aufzupassen, damit sie kein Auto überfahren konnte. Wenn sie ein Butterbrot übrig hatten, warfen sie es den Hasen hin, und manchmal hatten sie auch ein paar Karotten. Natürlich war die Küche nicht so gut wie in Wien, sagte Mimi, aber dafür hatte man hier seine Ruhe. Postkarte an den Fürsten. „Viele Grüße von der Berliner Mauer. Esterhazy und Mimi. PS: Es geht uns gut, nur gibt es hier keine Mozartkugeln.“ So lebten die beiden glücklich und zufrieden in ihrer Höhle hinter der Mauer, bis eines Tages, mitten in der Nacht, ein ungeheurer Krach losging. Auf der ganzen Hasenwiese trampelten Hunderte von Menschen herum, und alle schimpften auf die Mauer. Sie hatten Hämmer und Bohrer dabei und fingen an, die Mauer kaputtzumachen. 279
280 281 282 283 284 285
Ingo Andreas Wolf: Leipzig – offene Stadt. In: Leipzig im Umbruch. Fotografien von Ralf Schuhmann. Texte von Angela Krauß, Ingo Andreas Wolf. Dresden 1999; S. 43-45, S. 44f. Irene Dische / Hans Magnus Enzensberger: Esterhazy. Eine Hasengeschichte. Bilder von Michael Sowa. Aarau / Frankfurt a.M. / Salzburg 1993. Vgl. Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994, S. 24. Vgl. Dies.: Abendspaziergang. Berlin 1995. Vgl. Dies.: Und Norma geht durch die Wand. Ein Haus in Berlin-Mitte oder: Wenn ein Roman mit der Wirklichkeit flüstert. In: FR v. 2.10.1998. Vgl. Annett Gröschner: Den Faustkeil suchen. In: A.G. / Tina Bara: Herzdame Knochensammler. Gedichte, Fotografie. Berlin 1993, ohne Seitenangabe. Vgl. Manfred Karge: MauerStücke. Schauspielhaus Bochum [Bochum 1990] (Programmbuch Nr. 52, Spielzeit 1990 / 91), S. 40f.
598
6 Abschied und Ankunft
„Was ist los?“ fragte Esterhazy. „Die Mauer muß weg!“ riefen die Leute. Am nächsten Abend war die ganze Hasenwiese schwarz von Menschen. Überall lagen zerbrochene Bierflaschen herum, und von der Mauer waren nur noch ein paar Trümmer übrig. Die Leute waren außer sich vor Freude, aber Esterhazy und Mimi wußten nicht warum. „Ohne Mauer“, sagte Mimi, „ist Berlin ziemlich ungemütlich, findest du nicht? Ich meine natürlich, für Hasen.“ „Weißt du was?“ sagte Esterhazy. „Wir ziehen aufs Land.“ […]286
Je nach Perspektive kommt der Mauerfall also durchaus nicht jedem entgegen. An Esterhazy lassen sich in diesem Sinne auch die Subjektivität des Blickwinkels und die damit einhergehende Bewertung der Ereignisse ablesen. Die Kaninchen jedenfalls verschwinden nicht nur aus dem früheren Niemandsland, sondern auch aus dem Bewusstsein der Berlinerinnen und Berliner. Sarah Kirsch hatte übrigens bereits 1982 in ihrem Gedicht Naturschutzgebiet die Kaninchen auf dem Gebiet des Todesstreifens beschrieben: Die weltstädtischen Kaninchen Hüpfen sich aus auf dem Potsdamer Platz Wie soll ich angesichts dieser Wiesen Glauben was mir mein Großvater sagte Hier war der Nabel der Welt Als er in jungen Jahren mit seinem Adler Ein schönes Mädchen chauffierte. Durch das verschwundene Hotel Fliegen die Mauersegler Die Nebel steigen Aus wunderbaren Wiesen und Sträuchern Kaum sperrt man den Menschen den Zugang Tut die Natur das ihre durchwächst Noch das Pflaster die Straßenbahnschienen.287
Die Lebendigkeit, das ‚Sich-aus-Hüpfen‘ (Zeile 2) der Kaninchen, wirkt paradox angesichts der Sperranlagen. – Kirsch verknüpft in ihrem Gedicht die beiden Ebenen der Vorkriegs- und der Nachkriegszeit. Die Folgen des Krieges, hier vor allem die deutsche Teilung, werden nicht direkt, sondern höchst subtil angesprochen – der Leser muss wesentliche Vorkenntnisse mitbringen, um den Text verstehen zu können. 286
287
Irene Dische / Hans Magnus Enzensberger: Esterhazy. Eine Hasengeschichte. Bilder von Michael Sowa. Aarau / Frankfurt a.M. / Salzburg 1993, ohne Seitenangaben; Hervorhebungen im Original. Sarah Kirsch: Naturschutzgebiet. In: S.K.: Erdreich. Gedichte. Stuttgart 1982, S. 48.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
599
Einer der wenigen Autoren, die die Darstellung des Verfalls nicht auf Gebäude oder – im übertragenen Sinne – den Fall der Mauer beschränken, ist Thomas Rosenlöcher. In seinem Tagebuch Die verkauften Pflastersteine (1990) bemängelt er „[n]eben Verfall und Zerstörung und offizieller Verlogenheit“ auch den „Niedergang der Umgangsformen, die unter uns herrschende Unfreundlichkeit, die längst in den Gesichtern festgeschriebene Verdrossenheit.“288 Der ‚Verfall‘ wird damit auf Bereiche übertragen, die in der Literatur über die ‚Wende‘ seltener berührt werden. 6.3.1.2 Neubeginn: ‚Aufbau‘ und Aufbruch Neben der Motivik des Untergangs hat sich eine ‚Gegenmotivik‘ des Aufbaus herausgebildet, die zumeist an der Darstellung von Bauarbeiten, insbesondere in Berlin, deutlich wird. Irina Liebmann (*1943) liefert in ihrem Roman In Berlin (1994) eine vergleichsweise knappe Situationsbeschreibung: Ringsrum Baustellen, Stahl und Beton, kaum ein Mensch, und wenn doch einer herkommt von denen, die öfter hier liefen, kann er nicht einmal Unter den Linden das Gefühl wiederherstellen, daß das Innenstadt ist […]. […] An der Ecke Oranienburger, wo Keilich mal stand, gibt es Autos zu kaufen, gegenüber liegt Schutt hinterm Zaun. Die Bürgersteige in der Oranienburger sind neu gepflastert […].289
Brigitte Burmeister beginnt dagegen ihre Erzählung Abendspaziergang (1995) mit einer ausführlichen Darstellung der Baustellen und räumt dieser Szenerie damit eine besondere Bedeutung ein: Jetzt verändern die Häuser die Sicht von Woche zu Woche und wachsen schneller als die schnellwüchsigsten Bäume, wären sie dort gepflanzt worden. Vorbei die Zeit des Grabens, des aufgerissenen Bodens, in der der Bau noch wie Zerstörung aussah, nur die Sicht nicht störte, die frei blieb, über Schächte und Gruben hinweg eine ferne Häuserfront erfaßte, einzelne, seltsam geschwungene Dächer, einen dünnen Kirchturm, Baumwipfel, keine Menschen aus solchem Abstand, bunte Autos, klein und leise. Früher konnte man nur wissen, daß es die gab jenseits des Ödlands, hinter den beiden Mauern. Früher konnte man nicht von der Brücke hier in den Fluß hinabsehen. Nun lehnen die Leute am Geländer, beugen sich vor, wenn ein Kahn über die Stelle im Wasser hinwegfährt, die einmal eine Grenze war, richten sich wieder auf, wischen die Ärmel ab und gehen weiter. Die hohen Metallwände, zwischen denen man früher die Brücke überquerte, hießen Sichtblenden. Der Zaun entlang der Baustelle ist ein Drahtgitter.290 288 289 290
Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch. Frankfurt a.M. 1990, S. 17. Irina Liebmann: In Berlin. Roman. Köln 1994, S. 166f. Brigitte Burmeister: Abendspaziergang. Berlin 1995, S. 5.
600
6 Abschied und Ankunft
Später bemerkt die Erzählerin: Im Sommer sah ich die fertigen Erdgeschosse, dann von Woche zu Woche Neues, ein Wachstum, das die herkömmlichen Vergleiche mit junger Saat oder Pilzen nach einem warmen Regen heraufbeschwor, obwohl es der Langsamkeit der Natur spottete.291
Monika Maron beschreibt den raschen Wandel Berlins in Animal triste (1996), einem Roman, der von der späten Liebe einer aus dem Ostteil der Stadt stammenden Paläontologin zu einem Ulmer Insektenkundler handelt: Damals schien es, als bliebe nichts, wie es war. Es gab neues Geld, neue Ausweise, neue Behörden, neue Gesetze, neue Uniformen für die Polizei, neue Briefmarken, neue Besitzer, die eigentlich die alten waren, die man zwischendurch aber für vierzig oder dreißig Jahre von ihrem Besitz suspendiert hatte; Straßen und Städte wurden umbenannt, Denkmäler abgerissen und neue Militärbündnisse geschlossen. Mir war das alles nicht genug. Ich wünschte mir etwas Gewaltiges, in das all die Briefmarken, Straßennamen, Uniformen münden sollten, die fortgesetzte Bewegung in einer anderen Dimension, eine dramatische Klimaveränderung vielleicht, eine Flutwelle oder eine sonstige Katastrophe, auf jeden Fall etwas, das größer war als der Mensch und sein wechselhaftes Streben.292
Rita Kuczynski stellt vor allem die negative Seite des Aufbaus am Beispiel der damit verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen in den Vordergrund ihrer Betrachtungen. In ihrem Roman staccato (1997) heißt es: Mit den Bauarbeiten um und an meinem Wohnhaus wollte es kein Ende nehmen. Zwar waren die Gräben vor dem Haus endlich zugeschüttet, der Zugang zum Wohnhaus über den Gehweg also wieder möglich, dafür war nun die Straße nicht mehr zu betreten. Seit Tagen standen Bagger quer zu ihr. Hinzugekommen waren Asphaltwalzen und riesige Teerwagen. Ich vertrug die aufsteigenden Teerdämpfe nicht. Meine Augen tränten. Der Hals tat weh. Die Fenster mußten tagsüber geschlossen bleiben. Auch zum Hof hin gab es mit der Lüftung Schwierigkeiten. Dort konnte ich mir nachts frische Luft nicht mehr leisten. Unweit von meinem Haus wurde ein anderes Wohnhaus gebaut. Um fünf Uhr morgens stellte sich da ein Surren und Fiepen ein. Das kreiste im Innenhof. Es kam von den elektronisch gesteuerten Kränen. Sie bewegten Lasten durch die Luft. Es waren Bewegungen, die mir tagsüber auch ihrer ruhigen Wiederkehr wegen gefielen. Sie teilten den Himmel in einen hohen und einen tiefen. Aber morgens störten mich die Kräne und ihr Fiepen. Ich schlafe, wenn überhaupt, zwischen fünf und sechs. Werde ich da durch derartige Geräusche 291 292
Ebd., S. 8. Monika Maron: Animal triste. Roman. Frankfurt a.M. 1996, S. 89.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
601
geweckt, ist meine Melodie, noch bevor ich aufgewacht bin, zersetzt. Der Tag ist also verloren für mich, weiß ich ohne mein Lied doch nicht wohin.293
Joachim Lottmann erhebt in Deutsche Einheit (1999) ebenfalls den Aufbau in Berlin zum Thema; dabei bezieht er sich insbesondere auf den neu bebauten Potsdamer Platz, wo die Romanhandlung auch endet.294 Peter Schneider erwähnt in seinem Roman Eduards Heimkehr (1999) zwar den Aspekt des Aufbaus, betont jedoch den Charakter des Unfertigen und damit noch Unwirklichen: Die Straße endete auf der einen Seite im freien Feld, auf der anderen in einer Einkaufspassage nach amerikanischem Muster. Die Bodenplatten der Trottoirs lagen noch unverfugt nebeneinander, in den Lücken zwischen den Platten sah man die Reste des darunter liegenden Ackers – vor einem Jahr wahrscheinlich das einzige, was hier zu sehen gewesen war. Die Bäume waren offensichtlich erst vor kurzem auf Lastwagen herbeigebracht und eingepflanzt worden.295
An den zitierten Beispielen wird deutlich, dass sich der Wandel vollzieht, ohne dass der Einzelne Einfluss darauf nehmen kann; entsprechend negativ wird diese Situation des Ausgeliefertseins bewertet. In Annett Gröschners Roman Moskauer Eis (2000) heißt es: Über Nacht wechselten die Schaufenster unserer Straßen die Dekoration, und in dieser Nacht gingen wir schweigend von Laden zu Laden und staunten. […] Wir tauschten das Geld gegen unsere Geschichte, mehr hatten wir nicht. Sie nahmen sie und machten große Scheiterhaufen. Wir durften sie selbst anzünden mit unseren neuen Feuerzeugen.296
Literarisch verarbeitet werden zudem umstrittene Aufbau- bzw. Wiederaufbaupläne. Wichtigstes Beispiel ist die Diskussion um die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschloss, an dessen Stelle sich heute der asbestverseuchte und mittlerweile weit gehend entkernte Palast der Republik befindet – eines der symbolträchtigsten Gebäude der DDR.297 Lothar Kusche greift das 293 294
295 296 297
Rita Kuczynski: staccato. Roman. Frankfurt a.M. 1997, S. 174f. Vgl. Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999, S. 375-383. Der neu bebaute Potsdamer Platz wird zunehmend Gegenstand literarischer Texte; vgl. z.B.: Dagmar Leupold: Vogelschwarm über dem Potsdamer Platz. In: D.L.: Byrons Feldbett. Gedichte. Frankfurt a.M. 2001, S. 21. Peter Schneider: Eduards Heimkehr. Roman. Berlin 1999, S. 247f. Annett Gröschner: Moskauer Eis. Roman. Leipzig 2000, S. 12. Vgl. auch Katherine Roper: Imagining the German Capital: Berlin Writers on the Two Unification Eras. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 171-194, S. 186 sowie Ein Palast und seine Republik. Ort – Architektur – Programm. Hg.: Thomas Beutelschmidt / Julia M. Novak. Berlin 2001.
602
6 Abschied und Ankunft
Thema in seinem kurzem Text Statt eines Zentrums ein Stadt-Schloß (1993)298 auf, ebenso tut dies Kerstin Hensel im letzten Teil ihres Romans Gipshut (1999).299 ‚Aufbau‘ bzw. die Pläne dazu werden in der Literatur der Nachwendezeit nicht immer als produktiv dargestellt, sondern können Ausdruck restaurativer Tendenzen sein. Diese Haltung zeigt sich in einem Gedicht des 1958 in Weimar geborenen Autors Tom Tritschel: weimar 97 das rattert und kracht das schabt und kreischt die bauen pure zerstörung vielleicht ist im park noch ein ort zu erhaschen ohne pressluftgehämmer und baggerlärm doch der dreck dringt durch der gestank vom aufschwung ost bis die zunge pelzig wird wo ist er denn hin der spiritus loci ich denke er wird sich in dornburg verkriechen mit filzbrille und oropax warten bis der tanz kollabiert kulturhauptstadt dass ich nicht lache genau die gleichen alten pfeifen prügeln sich um neue pfründe kunst sah ich nur am schaufenster ein steckbrief 298
299
Vgl. etwa Lothar Kusche: Statt eines Zentrums ein Stadt-Schloß. In: L.K.: Ost-Salat mit West-Dressing. Satiren und Humoresken. Mit Illustrationen von Wolfgang Schubert. 5., ergänzte, überarbeitete und veränderte Auflage. Berlin 1997 (Bunte Reihe), S. 130132. Vgl. Kerstin Hensel: Gipshut. Roman. Leipzig 1999.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
603
vom bankraub der passt auf jeden300
Die mit der „kultur[haupt]stadt“ 1997 verbundene Aufbruchstimmung wird von Tritschel als Farce entlarvt, zumal der Aufbau den „spiritus loci“ verdrängt. 6.3.1.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Abbruch versus Aufbruch? Obwohl sich die Motive von ‚Verfall‘ und ‚Aufbau‘ gleichzeitig entwickeln, werden sie selten einander gegenübergestellt. Wenige Texte bilden Ausnahmen, beispielsweise Heinz Czechowskis Ambivalenzen. Gedanken über Connewitz und anliegende Ortsteile (1993) und Marion Titzes (*1953) für den Süddeutschen Rundfunk entstandener Essay Schillers schönes Fieber (1999). Heinz Czechowski beschreibt den Leipziger Stadtteil Connewitz in der Zeit unmittelbar nach der ‚Wende‘: Wäre das Wort von der „Übergangsgesellschaft“ nicht schon besetzt: hier könnte es tatsächlich seine optische Bestätigung finden. Und, natürlich: auch das Optische, Malerische, ja Abenteuerliche dieser in jeglicher Hinsicht zerrissenen Stadtlandschaft mit ihren bereits enormen Grundstückspreisen, welche die Gebäude selbst im desolatesten Zustand für einen Eingeborenen unerschwinglich machen, ist lediglich die Außenseite der mehr oder weniger verdeckt stattfindenden Straßenkämpfe um den Besitz der vergangenen und gleichzeitig noch bestehenden DDR-Wirklichkeit und ihrer Ablösung durch ein System, das eine neue Wirklichkeit schafft.301
Czechowski weist in seinem Text auf die Folgen der Entwicklung von Connewitz zum aufstrebenden Stadtteil hin: Die alteingesessene Bevölkerung wird verdrängt: Man muß nicht unbedingt an der Klagemauer einer jetzt mehr und mehr um sich greifenden DDR-Nostalgie stehen, um alsbald bedauern zu müssen, daß die realkapitalistische Perspektive von Connewitz für Träume nicht geeignet ist. […] Die Perspektive scheint klar: Die eines Tages sanierten Wohnungen in den Altbauten mit den Läden, Kneipen und Galerien werden für „uns“ unerschwinglich geworden sein. Das über vierzigjährige Abgeschnittensein der Bewohner der DDR von der Entwicklung der „wirklichen Wirklichkeit“, nämlich von der des Geldes, zeitigt nun weithin die Unfähigkeit, sich selbst behaupten zu können, und damit Verdruß und Trauer.302 300 301
302
Tom Tritschel: weimar 97. In: T.T.: engel und meier. gedichte 1984-1998. Rudolstadt / Jena 1999, S. 21f. (Thüringen-Bibliothek, Band 10). Heinz Czechowski: Ambivalenzen. Gedanken über Connewitz und anliegende Ortsteile. In: H.C.: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987-1992. Zürich 1993; S. 173-175, S. 173; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 174.
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6 Abschied und Ankunft
Der Schriftsteller fasst zusammen: Connewitz ist ein Synonym für eine mehrfache Verdrängung der Vergangenheit: die erhoffte Mündigkeit, für die viele DDR-Bewohner im Herbst 89 auf die Straße gingen, ist nicht Wirklichkeit geworden. Die neuen Interessen haben sich mit den alten verbündet. Eine neue Herrschaft hat in den aufgerissenen Straßen und in den sanierungsfähigen Halbruinen Fuß gefaßt: die des Geldes. Die Verdrängung der Vergangenheit heißt Anpassung. Was schon für die Leipziger Innenstadt eine Totalinbesitznahme war, nämlich die Vertreibung der kleinen, den Sozialismus überlebt habenden Ladenpächter, ist auch Connewitz widerfahren. Der Pragmatismus der bereits Angepaßten, die Vertreibung der einen verzweifelten Widerstand leistenden Hausbesetzer, die nicht nur den Haß der Skins auf sich gezogen haben, werden hier Verhältnisse schaffen, die auch das alternative intellektuelle Bewußtsein kanalisieren. „Widerstand“, sagte neulich ein bekannter Galerist, der in diesem Stadtteil noch vor der „Wende“ seine Karriere begann, „ist für mich kein Thema mehr.“ Der Mann, clever und aufstiegsbewußt, weiß, wovon er spricht.303
Ähnliche Folgen des Wandels stellt Czechwoski in dem Gedicht Roter Portugieser (1998) dar; die „kosmetische Gesellschaft“ ‚räumt auf‘: Was Krupp in Essen, sind wir im Trinken, lese ich Auf dem Aufkleber eines parkenden Autos Auf meinem Weg durch die Weingegend um Freyburg. Endgültig Scheint die kosmetische Gesellschaft Fuß gefaßt zu haben: alle Wege begradigt, Die verbliebene Natur Aufgeräumt. Eben Sah ich mich noch in Naumburg, Am Weingarten, wo Das Haus von Nietzsches Mutter Gerade entkernt wird. In Schulpforta Klopstocknähe, nicht Für die Literaturgeschichtsschreiber, sondern noch immer Eine Poetik für das, das gegenwärtig ist. Ach, Die Hygiene unsres Gewissens, die wir noch immer Mühselig und beladen sind … Erste Ausfälle des Geistes Fallen zusammen mit später Erkenntnis: die Freiheit Des Automobilisten oder Kafkas Liebe zum Motorrad seines Onkels. Alles in allem Hat es gereicht, um in Naumburg Drei kleine Nutten vor der Milchbar zu beobachten,
303
Ebd., S. 175.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
605
Die von mir keine Notiz nehmen. Später Im Hohlweg nach Zscheiplitz Zwei Mädchen beim Pinkeln, VerGewaltigungsphantasien, vermischt Mit Erinnerungen ans Naumburger Predigerseminar, Orgelmusik, Anathema B-moll In St. Wenzel und an die Fragen Eines Touristenehepaares (West), die nur noch In Englisch zu beantworten waren: The isle Of the monsters. Nachts In der Jüdengasse, gezeichnet Unter den sparsam verteilten Laternen, Mache ich mich auf die Suche nach meinem Auto, Um zurückzukehrern [sic] in die Stadt Der verpaßten Gelegenheiten und Der Imaginationen, um mich mit einer Flasche Roten Portugieser im Blut vorzubereiten.304
An den beiden Czechowski-Texten lässt sich gut erkennen, wie ein Autor vergleichbare Eindrücke in verschiedenen Gattungen verarbeitet: Die Lyrik beschränkt sich vielfach auf Andeutungen und lässt Raum für Assoziationen, im Essay findet sich dagegen nahezu jeder Gedanke ausformuliert. In beiden Texten bringt Czechowski zum Ausdruck, dass die Veränderungen in erster Linie an der Oberfläche, den Fassaden erfolgen; der Verdrängungswettbewerb kennt nahezu keine Grenzen. In Titzes Text gewinnt der Aspekt der Gegenüberstellung von Verfall und Aufbau – ähnlich wie in der oben zitierten Passage aus Brigitte Burmeisters Erzählung Abendspaziergang – dadurch an Bedeutung, dass er am Anfang des Textes steht und somit den Hintergrund für den gesamten Essay bildet: In meiner Straße hat sich wenig verändert. Hin und wieder wird ein Haus eingerüstet, um das Herabstürzen der Balkone abzuwenden. Man kann im Berlin dieser Tage vom Alten so gut wie vom Neuen erschlagen werden, von herabsegelndem Jugendstil maroder Fassaden oder wenn sich aus der schwebenden Last der Baukräne etwas löst, ein Eisenträger zum Beispiel. Von beiderlei Unglück ist in den Abendnachrichten zu hören.305
Unter Umständen werden ‚Verfall‘ und ‚Aufbau‘ in bestimmten Situationen also austauschbar. Die Kehrseite des Aufbaus ist oft die Vernichtung von 304
305
Heinz Czechowski: ROTER PORTUGIESER. In: H.C.: Mein Westfälischer Frieden. Ein Zyklus 1996-1998. Mit einem Nachwort von Walter Gödden. Köln 1998 (Bücher der Nyland-Stiftung, Köln, Reihe: Neue Westfälische Literatur, Band 7), S. 113f. Marion Titze: Schillers schönes Fieber. In: M.T.: Schillers schönes Fieber und andere Diagnosen. Zürich 1999; S. 43-73, S. 43.
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6 Abschied und Ankunft
Spuren des Alten, sprich: der Vergangenheit. Dieser Aspekt steht im Vordergrund von Jens Wonnebergers (*1960) kurzer Erzählung Die Sprengung: Eine alte Frau sieht aus dem Fenster ihrer neuen Wohnung und betrachtet immer wieder das gegenüberliegende Haus, in dem sie achtzig Jahre lang gewohnt hatte. Die Vorbereitungen eines angerückten Sprengkommandos beobachtend hätte sie nicht sagen können, ich hänge an diesem Haus, weil ich darin geliebt habe, ich leide mit ihm, weil ich darin gelitten habe. Sie spürte nur, hier ist mein Leben und da ist dieses Haus und es ist eins.306
Ihr Ich hat sich seit dem Umzug offenbar aufgespalten. Sie stellt fest: Nein, sie hatte das Haus nicht verlassen, sie hatte sich geweigert. Sie lebte noch immer in diesen alten Mauern. Sie blickte aus dem neuen Haus auf ihre alte Wohnung, hinter deren Fenstern sie noch immer stand. Es würde für sie keine andere Blickrichtung geben. Noch einmal trat einer der Männer aus der Unterkunft, verschwand aber sogleich wieder. Es war still um das Haus. Sie umfaßte fest den Wirbel des Fensters, als das Haus in sich zusammensackte und schloß die Augen, als der Qualm sich langsam verzog.307
Das Ende ist mehrdeutig und kann als Tod der Frau gelesen werden, der beinahe zeitgleich mit dem ‚Tod‘ des alten Hauses eintritt. 6.3.1.4 Keine Chance zum Neubeginn: Selbstmorde An Wonnebergers Erzählung zeigt sich, dass es um weit mehr als die oberflächliche literarische Darstellung des Verfalls oder auch der Vernichtung von Gebäuden geht. Auffallend häufig werden in der Literatur der Nachwendezeit Selbstmorde dargestellt. Vielen Texten liegen dabei authentische Beispiele zu Grunde, etwa im Fall von Rolf Hochhuths Drama Wessis in Weimar (vgl. 5.5.5), Harald Gerlachs Fortgesetzte Landnahme (1994)308 und Brigitte Struzyks (*1946) Kein Text allein (1992).309 Bereits
306 307 308
309
Jens Wonneberger: Die Sprengung. In: Schokoladenbruch. neustadt lese buch. Hg.: C. David. 7. Auflage. Dresden 1999; S. 79-81, S. 79. Ebd., S. 80f. Harald Gerlach: Fortgesetzte Landnahme oder Wo der Weltkrieg wirklich begann. In: H.G.: Fortgesetzte Landnahme. Fußnoten zum Zeitgeist. Rudolstadt 1997 (ThüringenBibliothek, Band 1), S. 7-22 [zuerst in: Das Eigene und das Fremde. Texte der Vierten Thüringischen Literaturtage vom 6. und 7. Mai 1994 in Weimar. Hrsg. von der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V. Rudolstadt [1995] (Palmbaum-Sonderheft)]. Brigitte Struzyk: Kein Text allein. In: ndl 40 (1992) 11, S. 28-38. Die Autorin geht in dem kurzen Text den Gründen für den Selbstmord einer jungen Frau nach.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
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in dem 1990 veröffentlichten Text Tod im November von Benno Pludra (*1925) erschießt sich „Arthur Dambeck, paar Tage nach Öffnung der Mauer, als die Leute noch im Glücksrausch tanzten.“310 Für Dambeck ist mit der Mauer zugleich eine Welt zusammengebrochen, und in der neuen Welt ist es ihm offenbar unmöglich, weiterzuleben: Da war es Oktober, und jener Feiertag gewesen: die Knüppel, das Geschrei, unfaßbar auf heimischen Straßen, und später die großen Tage gewesen, Vieltausende in mächtigen Strömen, und Arthur, eines Abends, kam nach Hause wie betäubt, auf ihre Fragen keine Antwort, erst am nächsten Morgen: Es ist alles verloren, Margitta. Runter den Bach mit Sack und Pack. Das sagte er ruhig, wie ohne Gefühl, doch sie kannte ihn besser, und Sorge war da, tiefer als vordem.311
Der Selbstmord des Forellenzüchters Helmuth Weiss ist Thema von Heinz Kamnitzers Gedicht Freitod: Der Forellenzüchter Helmuth Weiss Aus der Sächsischen Schweiz Ein Mann Redlich und angesehen Auch unbequem Weil er stets Auf seine Rechte Pochte Was mancher Nicht mochte Seine Fischzucht War sein Stolz Schon Vor der Wende Doch dann Kam das Ende Mit Herrn Schlick Aus Der Bundesrepublik
310
311
Benno Pludra: Tod im November. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990; S. 317-320, S. 318. Ebd., S. 319.
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6 Abschied und Ankunft
Die Treuhand Zog sich Von ihm zurück Und Helmuth Weiss Zahlte Den höchsten Preis Im Leben Er nahm es sich Eben So ist das Gesetz Auf dem Markt Wo jeder jetzt Vogelfrei Zuletzt Da kann auch Ein Forellenzüchter Sich nicht mehr wehren Und nur noch Zum Abschied brieflich Erklären ‚Nicht alle Menschen werden den Terror ohne Widerspruch hinnehmen Ich habe keine Kraft mehr zum Kampf gegen die Lügen und Intrigen und die Falschheit des Geldes Doch meine Ehre könnt ihr nicht besiegen‘312
Weiss bringt sich offenbar um, weil die Treuhand seine Existenzgrundlage zerstört hat. – In Steffen Menschings (*1958) stilistisch an Brecht erinnernden Berliner Elegien 3 (1995) wird der Freitod eines Frührentners beschrieben:
312
Heinz Kamnitzer: Freitod. In: H.K.: Die Rückwende. Neue Geschichte – Neue Gedichte. Berlin 1994, S. 20; Hervorhebung im Original.
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[…] Der Frührentner, der über das Leergut gebeugt, Die Tabletten einsteckt, die Frau küßt, sagt, warte Nicht mit dem Mittag und, Wochen später, Entdeckt wird, in einer Schonung, nah der Autobahn Ohne Abschiedsbrief, neben einem Nylonbeutel Mit leeren Flaschen und Reiseprospekten Menschen im eigenen Saft. Wallstreet Ecke Champs-Élysées. Um die Gedächtniskirche. Der Brandgestank Der Pisse. Schön Wie das Sterben Hinüberweht in coole Boutiquen, Straßencafes […] Einen Tag nach seinem Selbstmord Hörte ich seine Stimme Auf dem Anrufbeantworter. Es geht Mir, sagte er, gut, jedenfalls
Ganz erträglich, beziehungsweise, Den Umständen entsprechend, so lala […]313 Der Frührentner wird nicht namentlich benannt, er steht exemplarisch für viele Menschen in vergleichbarer Situation. In Brigitte Burmeisters Unter dem Namen Norma (1994) nimmt sich Margarete Bauer, die Nachbarin der Erzählerin, vermutlich wegen des gegen sie erhobenen Verdachts, für die Stasi tätig gewesen zu sein, das Leben (vgl. 5.3.4.1).314 Aus ähnlichen Gründen erhängt sich in Martin Jankowskis Roman Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999) Adrian, einer der früheren Mitstreiter des Protagonisten. Explizit ausgesprochen werden diese Gründe jedoch nicht, ein Zusammenhang wird vielmehr durch eine geschickt vorgenommene Montage suggeriert: Die Textpassage über Adrians Selbstmord liegt unmittelbar hinter derjenigen,
313 314
Steffen Mensching: Berliner Elegien 3. In: S.M: Berliner Elegien. Gedichte. Leipzig 1995; S. 43-47, S. 43 / 45; Hervorhebungen im Original. Vgl. Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994, S. 45, S. 58.
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in der es um die Enttarnung von Stasi-Mitarbeitern geht, die die Gruppe bespitzelten315: Wir fuhren mit der Straßenbahn. Im Büro war noch Licht. Niemand machte auf. Wir mußten Matthias wachklingeln. Unwillig brummte er etwas, leise genug, daß wir es nicht verstanden, ließ uns herein, setzte Teewasser auf. Die Tür zum Büro war nur angelehnt. Verwundert drückte Gesa sie auf. Jemand hing an der Lampe. Die Beine baumelten über dem umgestürzten Stuhl. Weiße Turnschuhe. Es war Adrian.316
In Günter Grassens Roman Ein weites Feld (1995) wird Fontys jüdischer Freund, ein Jenaer Literaturprofessor, in den Selbstmord getrieben.317 Und Luise, eine Figur aus Volker Brauns Erzählung Die vier Werkzeugmacher (1996), in der es um Abwicklung, Arbeitslosigkeit und deren psychische Folgen geht, stellt fest: Mancher findet sich nie wieder. Ein guter, unauffälliger Facharbeiter ist nach seiner Entlassung zum Totschläger geworden und hat einen Finanzdezernenten erschossen. Ein Meister, die Ruhe selber, ein Original, hat sich an seinem fünfzigsten Geburtstag, als schwer vermittelbar, aus dem Arbeitsamt gestürzt. Selbstmörder oder wahnsinnig zu werden, davor ist keiner gefeit. Das ist das normalste von der Welt.318
6.3.2 Das Eigene geht, das Fremde kommt ‚Verfall‘ und ‚Aufbau‘ sind Ausdruck des Wandels. Grob gesagt, verschwindet dabei DDR-Spezifisches zu Gunsten des häufig als ‚westdeutsch‘ empfundenen Neuen – anders ausgedrückt: Das Eigene, Vertraute verschwindet, das Fremde, Unvertraute kommt. So setzt sich Mathias Wedel in Das ganze Leben ist ein Spiel (1995) mit der Entstehung von Gewerbegebieten auf der ‚grünen Wiese‘ auseinander:
315 316 317 318
Vgl. Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Roman Scheidegg 1999, S. 241f. Ebd., S. 243. Vgl. Günter Grass: Ein weites Feld. Roman. Göttingen 1995, S. 662. Volker Braun: Die vier Werkzeugmacher. In: Sinn und Form 48 (1996) 2; S. 165-180, S. 171. Der Text erschien auch als Hörspiel unter dem Titel Die Geschichte von der vier Werkzeugmachern. SFB-ORB / DLF 1999; Funkbearbeitung und Regie: Jörg Jannings; vgl. das Programmheft von DeutschlandRadio – Die zwei Programme (1999) 11, S. 10, S. 54.
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Waltersdorf, die Gewerbewüste vor den Toren Berlins, erscheint auf den ersten Blick wie alle diese Gründungen: Als hätten Bewohner ferner Galaxien diesen Fleck auserkoren, um auf der alten Erde eine Außenstation zu errichten. Das waren aber nicht die Männer vom Mars, sondern Großunternehmer aus dem Westen. Aber es sieht so aus, als hätten sie die Ostler und ihr Konsumgebaren ebenso lange studiert, wie man das wohl bei ordentlichen Marsmännchen voraussetzen darf, bevor die uns dereinst heimsuchen werden. Anders ist die bestürzende Perfektion nicht zu erklären, die hier herrscht: Das aseptische Ödland ist in maximal zwanzig Minuten von minimal einer halben Million Kaufwütigen zu erreichen. Wichtigster Geschäftsfaktor ist eine banale psychische Konstante, deren Bedeutung für die Handelswelt nicht geringer sein dürfte als die Einsteinsche Relativitätsformel für die Physik: Wer zwanzig Minuten mit eigener Karosse gereist ist, um eine Ware zu erstehen, kauft nicht unter [sic] fünzig [sic] DM ein. Inmitten der Anlage hängt ein Kasten, den man für ein futuristisches Heizhaus halten könnte, trüge er nicht den infantilen Schriftzug Toys „R“ Us. Die Berliner sagen „Teusruß“. Im Innern des Kastens herrscht der Charme eines Baustoffgroßmarktes. […]319
Dieses Motiv des Fremden und Neuen, hier der unüberschaubaren Warenwelt und deren Präsentation, findet sich auch in Volker Brauns Erzählung Das Nichtgelebte (1995). Der Westen erscheint als ‚fremde Macht‘: Die Kaufhäuser und Läden waren von einer fremden, ausschweifenden Macht erobert, deren Fahnen an den Fronten wehten und Leuchtreklamen die Häuserfirne okkupierten. Die Waren quollen aus den Eingängen auf herausgerückte Stellagen, zum Getöse von Musik; und die Schreie der Straßenhändler unter den Stadtbahnbrücken, hinter Tischen voller Früchte oder Plunder, und selbst die Müßiggänger, die sich in den Weg warfen, gaben sich als ambulante Schwengel zu erkennen, die irgend etwas loswerden mußten, ein Zeug.320
Ähnliche Eindrücke schildert Martin Jankowski in Rabet (1999). Westdeutsche Händler erwecken den Eindruck größter Fremdheit und erhalten geradezu den Status von Extraterrestrischen; zugleich entstehen Abgrenzungsgefühle gegenüber denjenigen Ostdeutschen, die die Barriere dieser Fremdheit durchbrechen und ohne weitere Reflexion dem Konsum frönen: Ein Lastwagen stand in der Fußgängerzone vor der Universitätsbuchhandlung. Mit schnittigem Fahrerhaus und blendend weißer Lackierung thronte er wie ein UFO überm grauen Menschengewimmel. Von der Seite des langgestreckten Containers 319 320
Mathias Wedel: Das ganze Leben ist ein Spiel. In: Reinhold Andert / Mathias Wedel: Land unter oder: Selten ein Schaden ohne Nutzen. Berlin 1995; S. 174-179, S. 174. Volker Braun: Das Nichtgelebte. Eine Erzählung. Leipzig 1995 (Die Sisyphosse, Eine Bücherreihe), S. 7.
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hing ein Transparent herab. Ich trat näher. Sonderangebot. Und in krakeliger Handschrift mit Filzstift darunter: Bezahlung Null Problemo – 1:10 W / O. Das Auto kam aus München. Der Fahrer hatte die Ladeluken weit geöffnet und seine Fracht davor auf dem Boden aufgebaut: bizarre Pflanzen in riesigen Blumentöpfen aus Kunststoff, mauerhohe Stapel von Kisten voller bunter Früchte, Berge grell gefärbter Tücher in riesigen Pappkartons, dazwischen, vornehm schweigend, rätselhaft schwarze Geräte auf orientalischen Teppichen. Wie ein Marktschreier pries der Fahrer seine Waren an, zum Vergnügen der Neugierigen, die sich dicht um seine Schätze drängten, in bayrischem Dialekt. Doch kaum jemand wagte, etwas von diesen exotischen Gütern zu kaufen. Wozu brauchte man das? Warum schrie er so?321
Eine Steigerung erfahren diese Fremdheitsgefühle, als der Protagonist des Romans zum ersten Mal im Westen ist: Auf dem Bahnhof in Hamburg ertappte ich mich dabei, englisch sprechen zu wollen, am Zeitungskiosk; ich war gewohnt, im Ausland englisch zu reden. Gesa lachte mich aus, als ich es ihr erzählte. Im Intercity nach Köln suchte sie vergeblich die zweite Klasse. Sie konnte nicht fassen, daß unsere reservierten Plätze in diesem Space Shuttle zweiter Klasse waren. Jetzt lachte ich sie aus.322
Die Fahrt nach Hamburg wird für ihn zur Zeitreise: Zu fremd, zu leicht, zu bunt. Es war, als hätte man uns in ein anderes Zeitalter katapultiert. Die Tage im Westen erschienen mir wie der Aufenthalt auf einem faszinierenden Rummelplatz. Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Wurden müde. Die Bilder begannen vor den Augen zu verschwimmen. Wo war der Horizont? Kann man auf einem Rummelplatz leben?323
Häufig drückt sich der Aspekt der Fremde auch im Genuss exotischer und / oder besonders luxuriöser Speisen aus. Die Konfrontation mit diesen Lebensmitteln erzeugt Unbehagen. So beschreibt Kerstin Hensel 1992 ihre Eindrücke vom Abend der Eröffnung des HILTON-Hotels (früher: Domhotel) im Ostteil Berlins: Freilich, auch die hohe Kultur alter Zeiten hatte uns gelegentlich, um uns bei Laune zu halten, mit superben Empfängen auf Kongressen und in Ministerien belohnt; daß dieses aber, in Anbetracht kulinarischer HILTON-Exzesse, ordinäre sozialistische Hausmannskost gewesen war, leuchtete uns ein.
321 322 323
Vgl. Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Roman. Scheidegg 1999; S. 228-230, S. 228; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 235; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 238.
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Portiönchen von Seeteufelchen in Hummermarinade, Kaviarhäufchen, Ochsenbrüstchen in Supertrüffelchen, Käschen, Kräbbchen, petits pains, Marzipanmonster, Früchtchen, nochmals zurück zu den Seeteufelchen, Putenschenkelchen, Froschfüßchen – hoi; und dann: meine Premiere im Austernschlürfen. Ein eingeweihter Kollege schlürfte vor, ich kopierte ihn aufs trefflichste. Der Ekel saß mir schon an den Haarwurzeln. Ich ließ von den Seefotzen ab und schluckte den guten Wein, den die Macht pausenlos nachschenkte. […] Unter meinem Hals waberten verdächtig, gemischt mit Sekt, die unzähligen Speisenportiönchen, die ich genossen hatte. Ich gab sie, kaum der U-Bahn entstiegen, noch mitten auf dem Rosa-Luxemburg-Platz der Straße wieder, von der ich gekommen war; und durch die gewohnte und liebgewonnene Hundescheiße, vorbei an Säufern, Pennern, Krakeelern, ging ich und freute mich des Jahrhunderts.324
Der Westen erweist sich im wahrsten Sinne des Wortes als ‚unverdaulich‘, das Erbrechen ist als Akt der Distanzierung zu verstehen. Entsprechend negativ wird meist auch die Unüberschaubarkeit der neuen Warenwelt gesehen. Der sächsische Kabarettist Bernd-Lutz Lange (*1944) konnte schon 1983 auf einer Reise in die Schweiz Erfahrungen sammeln, die die meisten seiner Landsleute 1989 / 90 zwangsläufig machten. Langes Text Angebot und Nachfrage gewann mit der ‚Wende‘ also wieder an Aktualität: Das Einkaufszentrum GLATT in Zürich ist wohl eines der ganz großen in Europa. Mit meinem Freund Urs stehe ich in der Molkereiwaren-Abteilung vor einem Regal mit 50 Sorten Joghurt. Vielleicht auch 100. Wozu soviel Joghurt? Ich denke an zu Hause und wünsche mir fünf. Aber die immer. Montags und auch im November. Eine Frau läuft suchend an dem Regal entlang. Schließlich gibt sie entnervt auf und holt sich den weißbekittelten Abteilungsleiter heran. Sie stellen fest, daß zwar der Heidelbeerjoghurt von Rätzli, Spätzli, Mätzli und Schnetzli da ist, aber der von Schnutzli fehlt. Und im Angesicht von 50 oder 100 Sorten Joghurt sagt die Frau zu dem Mann, im besten Schweizerdeutsch natürlich: „Und sonst haben Sie nichts?“ Da begann ich zu verstehen, wie der Terrorismus entstanden ist.325
324 325
Kerstin Hensel: Macht macht’s (Berliner Abende VI). In: K.H.: Angestaut. Aus meinem Sudelbuch. Halle (S.) 1993; S. 109-111, S. 110f.; Hervorhebung im Original. Bernd-Lutz Lange: Angebot und Nachfrage. In: B.-L.L.: Kaffeepause. Texte für zwischendurch. Leipzig 1991, S. 104; Hervorhebung im Original.
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6.3.3 Vereinigung – sexuell Nach der ‚Wende‘ erschienen zahlreiche nicht im engeren Sinne literarische Zeugnisse, die das Sexualleben in der DDR zum Gegenstand haben; hervorzuheben sind einige mehr oder weniger wissenschaftliche Untersuchungen326 und diverse Bildbände.327 Die Darstellung von Sexualität wird zudem als verkaufsförderndes Argument eingesetzt – ein Phänomen, das in Titel und Klappentext von Günter Herlts Geschichtensammlung Opa und das Callgirl (2000) eine ironische Brechung erfährt: Zugegeben, Autor und Verlag folgten bei der Wahl des Titels der in der Marktwirtschaft üblichen Parole: Sex sells. Man hätte auch die Überschrift einer anderen Kurzgeschichte aus dem Buch nehmen können. Aber geben Sie zu: Hätten Sie nach einem Buch gegriffen, auf dessen Cover stünde: Opa wird Vegetarier. Oder: Opa testet Handys? Nein, hätten Sie nicht!328
Die Darstellung von Sexualität zwischen Partnern aus Ost- und Westdeutschland und die literarische Darstellung von ersten Erfahrungen mit Messen für Sexartikel329, Pornografie330 oder Telefonsex331 ist eher dem Aspekt des Neuen oder bisher nicht in diesem Ausmaß Gekannten zuzurechnen und damit an sich nicht weiter außergewöhnlich. Interessanter ist hingegen die Tatsache, dass nun in der fiktionalen Literatur Teilung und Vereinigung beider deutscher Staaten häufig in den Bereich des Sexuellen transponiert werden, beispielsweise in der Szene „Ostfotze“ 326
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Konrad Weller: Das Sexuelle in der deutsch-deutschen Vereinigung. Resümee und Ausblick. Leipzig 1991. Wellers Untersuchung folgten zahlreiche weitere Darstellungen, etwa in der Reihe Ost-westlicher Diwan des Verlags Elefanten Press. Neben einer Anthologie über den ‚sexuellen Alltag im Osten‘ – Katrin Rohnstock (Hg.): Erotik macht die Häßlichen schön. Sexueller Alltag im Osten. Berlin 1995 (Ost-westlicher Diwan) – erschien hier 1995 unter dem Titel Stiefbrüder ein Sammelband, dessen Beiträgerinnen und Beiträger sich kritisch mit dem Rollenverständnis von Ost- und Westmännern und deren Verhaltensmustern auseinander setzen; vgl. Dies. (Hg.): Stiefbrüder. Was Ostmänner und Westmänner voneinander denken. Berlin 1995 (Ost-westlicher Diwan). Etwa: Die nackte Republik. Aktfotografien von Amateuren aus 40 Jahren Alltag im Osten. Hrsg. von der Zeitschrift Das Magazin. Berlin 1993 (Magazin Spezial Nr. 1). Klappentext zu: Günter Herlt: Opa und das Callgirl. Zwanzig derb-drollige Geschichten. Berlin 2000. Vgl. Günter Herlt: Auf zur Sexmesse! – Eine Branche im Boom [1994]. In: G.H.: … so wunderschön wie heute! Eine satirische Wendechronik. Berlin 2001, S. 56-58. Vgl. André Meier: Fixies. Roman. Berlin 1999, S. 35f. Vgl. etwa Peter Brasch: Schön hausen. Berlin 1999, S. 31: „Der betrachtete gerade gelangweilt eine Videowerbung für einen Telefonsexanschluß mit der vielversprechenden Aussage: Ich komme, bis du stöhnst, oder ich stöhne, bis du kommst.“ In einem der „Opa“-Texte von Günter Herlt macht ein naiver Rentner Erfahrungen mit Telefonsex; vgl. Günter Herlt: Opa und das Callgirl. In: G.H.: Opa und das Callgirl. Zwanzig derbdrollige Geschichten. Berlin 2000, S. 8-12.
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von Manfred Karges Drama MauerStücke (1990).332 In Thomas Hettches (*1964) kurzem Roman NOX (1995)333 wird die ‚Wunde Deutschland‘ durch einen gespaltenen Penis verkörpert. Der Text spielt in der Nacht des 9. November 1989: Dem Ich-Erzähler ist die Kehle durchtrennt worden, seine Geschichte erzählt er im Zustand der zunehmenden Verwesung. Bei Hettche sind es vor allem sado-masochistische und pornografische Szenen, die die jüngere deutsche Geschichte auszeichnen. Die Rolle des Masochisten übernimmt dabei David aus dem Osten, Westdeutschland erscheint als sadistische Germania. Der im Hinblick auf die Sexualmetaphorik bedeutendste Text dürfte Thomas Brussigs Erfolgsroman Helden wie wir (1996) sein. In Form eines langen Monologs berichtet der Ich-Erzähler, Klaus Uhltzscht, einem amerikanischen Journalisten sein Leben. Im Vordergrund steht dabei die Geschichte seines Penis’. Höhepunkt der fingierten Autobiografie ist der Mauerfall. Uhltzscht behauptet, dass er es gewesen sei, der – durch das Zur-Schau-Stellen des erigierten Gliedes – die Maueröffnung herbeigeführt habe: Mit einem Grinsen zog ich meine Unterhose herunter – daß Grinsen dazugehört, wußte ich seit diesem Exhibitionisten, der mir mal in der S-Bahn begegnet war. Und während Aram Radomski mit klaren und engagierten Worten auf den Verantwortlichen einredete, ohne zu bemerken, was ich neben ihm tat, starrten die Grenzer wie gebannt auf das, was ich ihnen zeigte. […] „So“, schrie ich, laut genug, daß mich das hinter mir versammelte Volk hören konnte, dem ich mich aber nicht mit dem Gesicht zuwenden wollte, solange ich meine Hosen nicht wieder geschlossen hatte, „loslaufen müßt ihr selber!“334
Angeschwollen war der Penis durch einen Unfall, den Uhltzscht am 4. November 1989, am Rande der großen Demonstration für Meinungs- und Pressefreiheit auf dem Alexanderplatz, erlitten hatte. Während Brussig sich primär der Standardsprache bedient, wählt Elfriede Müller (*1956) in ihrem Drama Goldener Oktober (1991) für die Figur der Lola, einer jungen Ost-Berlinerin, eine weitaus krudere Ebene. Die Metaphern stammen aus dem Bereich der Pornografie bzw. der Vulgärsprache: Oben die Säue, unten die Säue. Die alten Arschlöcher. Die neuen Wichser. Einsacken. Austeilen. Gnadenlos. Holen, wo was zu holen is. Niedermachen. […] Atmen. Atmen. Giftbrühe. Schweinereien. Ausdünstungen. Flaschen ficken. Aufm 332 333 334
Vgl. Manfred Karge: MauerStücke. Schauspielhaus Bochum [Bochum 1990] (Programmbuch Nr. 52, Spielzeit 1990 / 91), S. 68-90. Thomas Hettche: NOX. Roman. Frankfurt a.M. 1995. Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996, S. 318f.
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Stativ ficken. Arschlöcher ficken. So nicht. Nicht mit mir. Jeder wichst hier rein. Grabsch! Grabsch. Das Dreckloch. Sie der Ständer. Vergoldeter Stecken. […] Die neue Zeit, hurra. Der wilde Westen, der ist da. Hier grinst der Chef, da lacht die Mark. Gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, sind wir stark. Arbeitslos ist keine Schande. Der Rest ist Ihre eigene Sache. Allzeit bereit. Jetzt kommt die deutsche Gemütlichkeit. Whisky Soda, Porno pur, was hat die olle Fotze nur. […] Wir sind das Geld, sie macht uns mies. Mit mir nicht. Mit mir nicht.335
Die deutsche Vereinigung wird häufig anhand der sexuellen Vereinigung aus Ost und West stammender Partner dargestellt. Während in André Meiers (*1960) Roman Fixies (1999) diese Form der Ost-West-Vereinigung eher problemlos gelingt336, versucht der Ich-Erzähler in Joachim Lottmanns (*1956) Roman Deutsche Einheit (1999) eher krampfhaft, die Vereinigung auch auf der sexuellen Ebene zu vollziehen. Die Hintergründe dafür sind zum einen in seiner sexuellen Unersättlichkeit zu suchen, zum anderen fühlt er sich durch die Medien unter Druck gesetzt: Ich lief also auf dieser Wiese vor dem Reichstag herum und lernte allerhand hübsche Frauen kennen. Die Zeitungen hatten ja geschrieben, zum erstenmal seit dem 9. November 1989 vereinige sich das Volk wirklich (oder wieder). Berlin habe nun ein Zentrum, eine Mitte, und zwar den Reichstag, und die beiden Bevölkerungsteile kämen dorthin, um sich zu vermischen oder sich zu vereinigen. Also kam ich auch dorthin.337
Seines Erachtens stehen die Westdeutschen, insbesondere die Männer, unter zu großem Leistungsdruck: Ich hielt eine flammende Rede, wie ich sie schon oft bei Woody Allen abgeguckt hatte. Wessis müßten immer angeben, lebten in einem Käfig, seien gefangen in ihrem Leistungsdenken, vor allem Wessi-Männer. Die müßten immer leisten, erigieren, erobern, penetrieren, Siege erringen, durchstoßen, Mauern zum Fallen bringen. Sie wollten nicht, nein, sie müßten.338
Offenbar sind nicht alle aus dem Osten stammenden Frauen seiner Meinung, denn Karin erteilt ihm eine Abfuhr. Doch der Ich-Erzähler gibt nicht auf:
335 336 337 338
Elfriede Müller: Goldener Oktober. In: E.M.: Die Bergarbeiterinnen. Goldener Oktober. Zwei Stücke. Frankfurt a.M. 1992 (Theaterbibliothek); S. 81-160, S. 158f. Vgl. André Meier: Fixies. Roman. Berlin 1999, S. 57f. Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999, S. 226. Ebd., S. 301; Hervorhebungen im Original.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
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Irgendwo mußte die deutsche Vereinigung doch vollzogen werden. Aber solange einer der beiden Partner als „Vergewaltiger“ denunziert wurde, wie es mir soeben ergangen war, konnte aus der großen Hochzeit nichts werden. Ich nahm mir vor, mich nicht noch einmal so abfertigen zu lassen. Beim nächstenmal wurde die Nummer durchgezogen. Konsequenz war auch eine Tugend, ewiges Schwanken nützte doch am Ende keinem, zumal es Frauen geben sollte, die sich dann seltsam veränderten, sogar zum Guten hin.339
Den Vorsatz, die deutsch-deutsche Vereinigung im Privaten zu vollziehen, kann er schließlich mit Hilfe von Maren verwirklichen: Die blonden, gesunden, dicht und lang gewachsenen Kriemhildhaare flossen auf die häßlichen DDR-Karokissen, und selbst sie, die häßlichen Kissen, erschienen mir plötzlich wie Zeichen aus einem göttlichen Jenseits. Wie ein heißes Messer die Butter teilt, also ganz langsam und stetig, trennte meine durch die Überdosis Viagra surreal angeschwollene und hypersensibilisierte Sonde Marens Beine. Wir wurden „ein Fleisch“, wie die fundamentalistischen Christen sagen, oder wie ich sagen würde, eine Einheit. Eine deutsche Einheit, sozusagen, ha ha. Jedenfalls schliefen und redeten wir die ganze Nacht und hatten am nächsten Morgen nichts Eiligeres zu tun, als uns endlich den fertigen Potsdamer Platz anzugucken. Wir schlenderten erst mal durch die zweiundfünfzig urplötzlich fertiggestellten, neugebauten Wolkenkratzer des neuen Zentrums, wo nichts zusammenpaßt und doch alles gleich aussieht […] und waren sehr verliebt, äh, vereinigt. Vereinigt! Endlich!340
Doch erreicht ist mit diesem Schritt kaum mehr als eine persönliche Befriedigung des Erzählers. In Jochen Bergs Theaterstück Fremde in der Nacht (1991) wird die sexuelle Vereinigung zwar vollzogen, doch bevor es zur Zeugung von Kindern kommen kann, bricht der Protagonist der Szene, Siegfried, den Geschlechtsakt ab. Beschrieben wird dieser Vorgang paradoxerweise von den ungeborenen Kindern: Jetzt. Er nimmt sein Geschlechtsteil heraus. Und steckt es in ihre Scham. Es paßt. Freude. Der Anfang ist getan. Die sind dabei uns zumachen [sic]. Eins zwei drei vier Feuer. Jawoll. Nochmal. Eins zwei drei vier Feuer. Jawoll. Halt. Wenn sie uns machen. Müssen wir vorher wissen ob die auch kerngesund sind. Sie sind zu jung um ihre Krankheiten zu ahnen. Die vögeln schamlos unwissend ihre Todeserreger in uns hinein. Und wir müssen uns später damit herumplagen. Halt. Halt. Halt. Zu spät. Der Countdown läuft. Ermutigungen sind angebracht. Eins zwei drei vier fünf Feuer. Macht uns. Wir wollen auf die Erde. Wir sind die Helden von morgen. Feuer. Unsere Mama ruft oh ja. Und nochmal oh ja. Wahrscheinlich kennt sie seinen Namen nicht. Jetzt. Er nimmt sein Geschlechtsteil heraus und, und schleudert seinen 339 340
Ebd., S. 338. Ebd., S. 375f.
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Samen in die Landschaft. Du Schweinehund. Warum hast du uns nicht gemacht. Es gibt keine Liebe mehr unter den Menschen.341
Die Vereinigung dient hier also lediglich der sexuellen Befriedigung einer Figur, deren Namen auf eine traditionell angelegte Heldenhaftigkeit schließen lässt. Der Geschlechtsakt ist nicht fruchtbar und bleibt kaum mehr als Selbstbefriedigung des Helden. Die Vereinigung im wörtlichen wie im übertragenen Sinne ist damit missglückt. Eine Untermauerung aus sexualwissenschaftlicher Perspektive finden die dargestellten Vorgänge in der 1991 erschienenen Untersuchung von Konrad Weller über Das Sexuelle in der deutsch-deutschen Vereinigung. Im „Vorspiel“ genannten Vorwort erläutert der Verfasser seinen Standpunkt: Vollzogen wurde der deutsch-deutsche Koitus. Wem dieses Bild für die deutsche Vereinigung obszön erscheint, der möge sich angeregt fühlen, über die Moralität der realen politischen Vorgänge zu befinden. Selbstverständlich ist Politik nicht sexuell – nicht einmal Sexualpolitik ist das. Wohl aber ist Sexualität politisch. Sie ist die Fortsetzung der Politik mit genitalen Mitteln. Kein Wunder also, daß sich aufgrund allgegenwärtiger Gesellschaftlichkeit und Politikbeladenheit des Sexuellen diverse Analogien einstellen zwischen politischen und sexuellen Prozessen. Mehr noch: Der Versuch, eine Gesellschaft (oder zwei) anhand ihrer sexuellen Verhältnisse zu analysieren, ist nicht so abwegig oder nebensächlich, wie er auf den ersten Blick scheinen mag. Die Zuwendung zu den beiden deutschen Hälften, die sich einerseits Verderbtheit und andererseits Verklemmtheit vorwarfen, nun aber sehr plötzlich das Zusammenleben lernen müssen (auch im Bett), heißt menschliches Miteinander zu betrachten, den Umgang der Geschlechter, die Situation von Minderheiten gleichwohl und nicht zuletzt die öffentliche Behandlung der Sexualität als kultureller Erscheinung.342
Weller ist im Übrigen – wie auch der Psychoanalytiker Peter Schneider (*1957)343 – ein scharfer Kritiker der Thesen, die Hans-Joachim Maaz in Der Gefühlsstau (vgl. Exkurs IV) im Hinblick auf die DDR-Gesellschaft vertritt.344 341 342
343
344
Jochen Berg: Fremde in der Nacht. Berlin 1991 [Bühnenmanuskript], S. 26f. Konrad Weller: Vorspiel: Leda und der Schwan oder Zeus und der Kanzler. In: K.W.: Das Sexuelle in der deutsch-deutschen Vereinigung. Resümee und Ausblick. Leipzig 1991; S. 7-9, S. 8. Vgl. Peter Schneider: Am runden Tisch muß beginnen, was auf dem westöstlichen Diwan enden soll. Eine Tour de Maaz. In: Klaus Bittermann (Hg.): Der rasende Mob. Die Ossis zwischen Selbstmitleid und Barbarei. Mit Beiträgen von: Henryk M. Broder, Wiglaf Droste, Roger Willemsen, Gabriele Goettle, Christian Schmidt, Peter Schneider, Michael O.R. Kröher, Gerhard Henschel, Klaus Bittermann. Berlin 1993 (Edition Tiamat, Critica Diabolis 37), S. 75-90. Vgl. Konrad Weller: Nachtrag zur Bilanz: Der Maazismus – die Lehre von der allseitig deformierten Persönlichkeit. In: K.W.: Das Sexuelle in der deutsch-deutschen Vereinigung. Resümee und Ausblick. Leipzig 1991, S. 35-41.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
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6.3.4 Das Motiv der Zeit Wenn gestern jemand gesagt hätte, morgen würde sein, was heute ist, „Wahnsinn!“ hätte man nur erwidert. Die Zeit läuft. Schneller und schneller. Schon ist der Herbst neunzehnhundertneunundachtzig nur noch Erinnerung. Eine unwirkliche Erinnerung. Als hätte man geträumt.345 (Helga Königsdorf: Unterwegs nach Deutschland, 1995) Verpaßte Gelegenheiten. Ein Langweiler aus der Serie „Vierzig Jahre nicht gelebt“.346 (Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma, 1994) Auf kuriose Weise schuf sie, die selber ein Anachronismus war, eine dauerhafte Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Deshalb öffnete sich mit dem 9. November 1989 für viele westliche Beobachter nicht nur ein Tor nach Osten, sondern auch ein Tor in die Vergangenheit, in Dörfer und Landschaften, die im Westen den Modernisierungsenergien längst zum Opfer gefallen waren.347 (Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit, 1995)
Von übergeordneter Natur ist das in der Literatur über ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ allgegenwärtige Zeitmotiv, dessen Stellenwert sich bereits an zahlreichen Titeln ablesen lässt, beispielsweise von Heinz Kahlaus (*1931) Gedicht Jahrestag (1992)348 oder Friedrich Dieckmanns (*1937) Essay Die Suche nach der verlorenen Zeit (1990).349 Insbesondere bei Romanen, deren erzählte Zeit nicht erst 1989 einsetzt, sondern 1945 oder noch früher, ist das Zeitmotiv von zentraler Bedeutung. Zum Beispiel fasst Gottfried Kunkel die erzählte Zeitspanne in seinem „Eichsfeldroman“ Wendezeiten im Eichsfeld (1993)350 und damit auch den Begriff der ‚Wende‘ wesentlich weiter: Er erzählt „von den Wendezeiten der letzten fünfzig Jahre“ (Klappentext). Ähnliches geschieht in den Romanen Kein schöner Land (1993)351 von Arno Surminski (*1934), Abschied von den Feinden (1995)352 von Reinhard Jirgl (*1953) und – einen noch größeren Zeitraum umfassend 345
346 347 348 349 350 351 352
Helga Königsdorf: Vorwort. In: H.K.: Unterwegs nach Deutschland. Über die Schwierigkeit, ein Volk zu sein: Protokolle eines Aufbruchs. Reinbek 1995 (rororo aktuell); S. 7-9, S. 7; Hervorhebung im Original. Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994, S. 75. Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit. In: Die politische Meinung 40 (1995) 311; S. 55-63, S. 61. Heinz Kahlau: Jahrestag. In: ndl 40 (1992) 1, S. 102. Friedrich Dieckmann: Die Suche nach der verlorenen Zeit. In: FR v. 11.8.1990. Gottfried Kunkel: Wendezeiten im Eichsfeld. Eichsfeldroman. Duderstadt 1993. Arno Surminski: Kein schöner Land. Roman. Frankfurt a.M. / Berlin 1993. Reinhard Jirgl: Abschied von den Feinden. Roman. München / Wien 1995.
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– Windstimmen (1997)353 von Harald Gerlach (1940-2001). Surminskis Roman sei hier kurz vorgestellt: 6.3.4.1
Arno Surminski: Kein schöner Land (1993)
Das in Arno Surminskis früheren Werken im Vordergrund stehende Thema der Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten trat 1993 mit der Veröffentlichung seines Romans Kein schöner Land zumindest vorübergehend in den Hintergrund. Das Buch wurde sogar als „WendeRoman“ gefeiert: Arno Surminski […] hat es gewagt und einen Wende-Roman geschrieben, der auf eindringliche Weise deutsch-deutsche Erwartungen, Hoffnungen, Träume, Ängste und Enttäuschungen formuliert und so geradezu zu einem „Muß“ für Zeitgeist- und Geschichtsbewußte wird.354
Herman Beyersdorf (1997) urteilt etwas vorsichtiger: Der Roman der Wende mag noch auf sich warten lassen, aber Surminskis Roman Kein schöner Land, der sich anhand repräsentativer Figuren kritisch mit dem Thema der deutschen Teilung und Wiedervereinigung befaßt, und sich behutsam für einen toleranten Umgang mit den von der deutsch-deutschen Geschichte Betroffenen einsetzt, kann als durchaus ernstzunehmender Ansatz einer längst fälligen literarischen Behandlung des Wende-Themas angesehen werden.355
Im Text geht es beileibe nicht nur um die ‚Wende‘. Diese ist vielmehr Anlass für Hans Butkus, die vergangenen vierzig Jahre seines Lebens Revue passieren zu lassen, die Erinnerung an Ereignisse der Teilung und des Kalten Krieges wieder wachzurufen. Die erzählte Zeit umfasst dabei auch den Nationalsozialismus. Nicht zuletzt durch dieses Vorgehen werden dem Leser Parallelen zwischen beiden Diktaturen suggeriert – wegen der dabei kaum vorgenommenen Differenzierung zweifellos eine Schwäche des Textes. Hans Butkus, der Protagonist des Romans, aus dessen Perspektive auch erzählt wird, verlässt als Kind Ostpreußen und begibt sich mit seiner Mutter in die Gegend von Schwerin. Er ist kein im engeren Sinne ‚politischer‘ Mensch, wird wegen fehlender Linientreue denunziert, verhaftet und von 353 354 355
Harald Gerlach: Windstimmen. Roman. Berlin 1997. Karin Rohr: Deutschland – kein schöner Land? In: Deister- und Weserzeitung v. 3.12.1993. Herman Beyersdorf: Arno Surminski, Kein schöner Land: Der Roman der Wende? In: Unravelling the Labyrinth. Decoding Text and Language. Festschrift for Eric Lowson Marson. Hrsg. von Kerry Dunne und Ian R. Campbell. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1997; S. 159-174, S. 174; Hervorhebung im Original.
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seiner Frau Eva getrennt. Nach fünfzehn Monaten Zuchthaus kauft ihn die Bundesrepublik frei und Butkus reist in den Westen aus, wo er sich eine neue Existenz als Prokurist einer Hamburger Firma aufbaut. Er heiratet ein zweites Mal, auch aus dieser Ehe geht eine Tochter hervor. Alte Heimat, Frau und Tochter werden verdrängt. Die ‚Wende‘ nimmt Butkus zunächst kaum wahr; er „saß stumm vor dem Fernsehgerät, manchmal schlief er ein, wenn das Volk durch Leipzig marschierte.“356 Doch seine Vergangenheit holt ihn ein: „Plötzlich kamen Fragen über die Grenze und klopften nachts an die Türen. Wo warst du damals? Warum bist du nicht treu geblieben? Warum hast du mich verraten?“357 In der Woche vor den Wahlen zur Volkskammer, also am 18. März 1990, ringt Butkus sich schließlich zu einer Reise von Hamburg nach Schwerin durch. Dort empfindet er zunächst nur Fremdheit: „Die ganze Republik mit den sechzehn Millionen Menschen erschien ihm fremd wie die Äußere Mongolei.“358 In Schwerin will der Protagonist seinen früheren Verfolger Walter Strobele zur Rechenschaft ziehen und außerdem seine mittlerweile erwachsene Tochter, eine Lehrerin, kennen lernen. Aber es kommt anders: Strobele verhält sich freundlich, Butkus wird zum Kaffee eingeladen und der erwartete Eklat bleibt aus. Den Ablauf dieser Vorgänge erklärt Beyersdorf aus dem Täter / Opfer-Verhältnis zwischen Strobele und Butkus: Es gibt häufige beabsichtigte Parallelen zwischen dem Schicksal Strobeles als Opfer und Hans’ Schicksal als Opfer – und in dieser Hinsicht entfernt sich der Roman vom Boden des Realismus, indem diese zwei Figuren spiegelgleiche Erlebnisse mitmachen und sogar dieselben Gedankengänge teilen. So zum Beispiel erhalten Butkus und Strobele beide genau zwei Jahre und sieben Monate Gefängnisstrafe, und ein Gedankengang von einem wird wörtlich vom anderen übernommen.359
Über Butkus heißt es: „Man trifft sich immer zweimal im Leben, sagte Butkus, nein, er dachte es nur.“360 Und später – über ein Zusammentreffen unter vergleichbaren Vorzeichen zwischen Strobele und Grabow: „Man trifft sich immer zweimal im Leben, sagte er [Strobele; F.Th.G.], nein, er dachte es nur.“361 Herman Beyersdorf erkennt darin den
356 357 358 359
360 361
Arno Surminski: Kein schöner Land. Roman. Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 17. Ebd., S. 35. Ebd., S. 32. Herman Beyersdorf: Arno Surminski, Kein schöner Land: Der Roman der Wende? In: Unravelling the Labyrinth. Decoding Text and Language. Festschrift for Eric Lowson Marson. Hrsg. von Kerry Dunne und Ian R. Campbell. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1997; S. 159-174, S. 165. Arno Surminski: Kein schöner Land. Roman. Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 131. Ebd., S. 155.
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Weg vom Opfer zum Täter, indem Strobele rücksichts- und bedenkenlos die Funktion seines ehemaligen Peinigers Grabow annimmt, den er natürlich auch denunziert, und in ein sowjetisches Arbeitslager schicken läßt, wo Grabow letztendlich umkommt. Strobele wird ein zweiter Grabow, symbolisiert auch durch seine Übernahme von Grabows Villa, die Grabow seinerzeit unrechtmäßig einem reichen Juden abgehandelt hatte.362
War seiner Auffassung nach die alleinige Ursache für seinen Zustand bisher bei Strobele zu suchen, so wird Butkus nun gezwungen, nicht nur die Rolle seiner ersten Frau und seiner Tochter Claudia aus dieser Ehe kritisch zu betrachten, sondern auch seine eigene: Seine Tochter gehörte auch zu den Strobeles, zu den Funktionären jenes furchtbaren Staates, sie war Mitglied der Partei, zumindest Kandidatin, eine Aktivistin der FDJ […]. Sie hatte den Marxismus-Leninismus studiert, die Werke der kommunistischen Klassiker gelesen, die Parteitagsbeschlüsse verinnerlicht, sie kannte das Lied der Thälmannpioniere auswendig, war Mitglied der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, gehörte zu den Aktivisten des Lehrerkollektivs und so weiter und so weiter.363
Claudia verwahrt sich energisch gegen seine Vergleiche der DDR mit dem ‚Dritten Reich‘: „‚Ich möchte nicht, daß du unsere DDR mit dem Faschismus vergleichst.‘“364 Dieser Vergleich wird später wieder aufgenommen, so äußert eine andere Figur, „Adolf und Josef seien Brüder und Nationalsozialismus und Kommunismus Schwestern.“365 Claudia ist es auch, die den in zahlreichen Varianten zitierten Satz ausspricht: „‚Nicht alles in der DDR ist schlecht‘ […].“366 Im Gegensatz zu Tochter Brigitte aus zweiter Ehe spielt sie nun für Hans Butkus eine zentrale Rolle. Sie warnt ihn auch vor der Fortsetzung des ewigen Opfer/Täter-Kreislaufs: „‚So haben alle gedacht‘, bemerkte Claudia, ‚Grabow, als er Strobele verhaften ließ, Strobele, als er Grabow ins Lager schaffen ließ und dich nach Waldheim. […] Vielleicht sollten wir anfangen, einmal anders zu denken.‘“367 Es gelingt Butkus nicht, mit Strobele abzurechnen, doch er erfährt eine gewisse Genugtuung, als er ihn bei der Auszählung der Wahlzettel beobachtet: „Strobele zählte seine eigene Niederlage aus, die Wähler hatten ihn bestraft. War das nicht 362
363 364 365 366 367
Herman Beyersdorf: Arno Surminski, Kein schöner Land: Der Roman der Wende? In: Unravelling the Labyrinth. Decoding Text and Language. Festschrift for Eric Lowson Marson. Hrsg. von Kerry Dunne und Ian R. Campbell. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1997; S. 159-174, S. 166. Arno Surminski: Kein schöner Land. Roman. Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 53. Ebd., S. 147. Ebd., S. 302. An anderer Stelle heißt es auch: „Natürlich, Grabow und Strobele waren Brüder. Jeder erfüllte nur Pflichten für seine Bewegung …“ (Ebd., S. 281f.) Ebd., S. 317. Ebd., S. 325f.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
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genug?“368 Drei Monate später erfährt Hans von Claudia, dass Strobele gestorben ist. Der Roman endet offen. 6.3.4.2 ‚Zeit‘ in weiteren fiktionalen Texten und Essays Harald Gerlach geht in Windstimmen zeitlich weiter zurück als Surminsi. Er stellte seinem Roman ein Zitat des Mystikers Jakob Böhme (15751624) aus dessen Aurora oder Morgenröthe im Aufgang (1612) voran, das im Text immer wieder aufgegriffen wird und damit leitmotivischen Charakter erhält: Wem Zeit wie Ewigkeit Und Ewigkeit wie Zeit, Der ist befreit Von allem Streit.369
Durch die erzählte Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten werden die Wirren um die ‚Wende‘ 1989/90 und deren unmittelbare Folgen in einen größeren historischen Kontext gestellt und damit bis zu einem gewissen Grad relativiert. Gerlach geht es also um historische Tiefe; Vergangenheit und Gegenwart fließen dabei häufig ineinander, als Bindeglied fungieren Wiedergänger bzw. Geister. Eine ähnliche Vorgehensweise wie Gerlach wählt Frank Werner in Haus mit Gästen (1992). Der Roman des 1944 in Sangerhausen geborenen, in West-Berlin aufgewachsenen Schriftstellers ist in der Tradition Uwe Johnsons angesiedelt: Erzähl- und Figurenkonstellation sind äußerst komplex gestaltet; der Ich-Erzähler spricht sich bisweilen in der zweiten Person an, spaltet sich zeitweise in ein Ich aus der Perspektive des Erzählers und ein weiteres Ich aus der kindlichen Perspektive. Auch führt er intensive Selbstgespräche. Geografischer Ausgangspunkt für die Reflexionen des Erzählers ist ein Ferienhaus an einem märkischen See. Hier konzentrieren sich Erinnerungen, treffen sich imaginäre Gäste aus der Vergangenheit. Über die Form bemerkt Axel Schalk (1993): Die Prosa gerinnt zum surrealen Erinnerungsmonolog mit dramatisch-dialogischen Sequenzen. Sowohl der Erzähler, als auch die erzählten Figuren, die im Zeitgerüst zwischen dem letzten Tag des Zweiten Weltkriegs und einem Stichtag der DDR-Geschichte, dem 15. Januar 1990, der Erstürmung der Stasizentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße, agieren, bleiben in der Aura der literarisierten Uneindeutigkeit und der Zeitsprünge.370 368 369 370
Ebd., S. 339. Harald Gerlach: Windstimmen. Roman. Berlin 1997, S. 5. Axel Schalk: Coitus germaniae interruptus. Die deutsche Wiedervereinigung im Spiegel von Prosa und Dramatik. In: WB 39 (1993) 4; S. 552-566, S. 557.
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Die ‚Wende‘ sieht Werner in einem viel größeren historischen Kontext jenseits der Tagespolitik, Geschichte ist nichts als ein „Wimpernschlag“371, zumal „etwa viermal in achtzig Jahren“ „der [deutsche; F.Th.G.] Staat abhanden gekommen“372 sei. Der Erzähler spielt an nur zwei Stellen direkt auf die historisch-politischen Ereignisse von 1989 / 90 an.373 Für ihn stehen eher Bilder im Vordergrund, denn diese „sind stärker als alle Versprechungen, sie sind älter und gehen weiter zurück als das Gedächtnis der Nachrichten.“374 Die Vereinigung wird für den Erzähler zum „Geisterfest“375; nicht zuletzt dadurch erscheinen die Figuren im Roman angesichts des aufgerufenen historischen Kontexts mehr als Objekte denn als eigenständig handelnde Subjekte; sie sind gefangen im „Hotel der ewigen Wiedergänger“.376 Auch Klaus Schlesingers Roman Die Sache mit Randow (1996)377 spielt auf mehreren Zeitebenen. Die Rahmenhandlung ist 1991 angesiedelt, die Erinnerungen des Protagonisten Thomale („Thommie“) gehen aber bis 1951 und in die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit zurück, denn der Text bezieht sich auf den authentischen Fall des später hingerichteten ‚Al Capone von Berlin‘, Gladow. Die Sache mit Randow entzieht sich Einordnungsversuchen in Genres wie beispielsweise das der Kriminalliteratur. Als ‚Wenderoman‘ im weitesten Sinne kann der Text gelten, weil man ihn, wie Hans-Georg Soldat (1997) feststellt, lesen kann als Studie über die Möglichkeiten, eigene Schuld zu verdrängen, als eine Schilderung von Solidarität, Feigheit, Opportunismus, Mut und Flucht, als eine dramatische Darstellung jener weltstürzenden Tage, da das Gebilde DDR sang- und klanglos zugrunde ging – und nicht zuletzt als eine autobiographisch gefärbte Erinnerung an eine Jugend ohne Fernsehen.378
Schlesinger zufolge liegen die Wurzeln für den Zusammenbruch der DDR bereits in deren Frühzeit, denn die Figuren in seinem Roman beobachten den Aufbau der ‚sozialistischen Gesellschaft‘ eher kritisch-distanziert und weniger euphorisch als dies bei anderen Autoren geschieht. Die Jahre zwischen 1945 und 1950 werden ansonsten – im Vergleich zu den zwölf Jahren des Nationalsozialismus – in Texten zur ‚Wende‘ eher selten erwähnt. – Neben Die Sache mit Randow bildet Jochen Bergs Theaterstück 371 372 373 374 375 376 377 378
Frank Werner: Haus mit Gästen. Roman. Stuttgart 1992, S. 9. Ebd., S. 71. Vgl. Ebd., S. 53ff., S. 70ff. Ebd., S. 22. Ebd., S. 139. Ebd., S. 54. Klaus Schlesinger: Die Sache mit Randow. Roman. Berlin 1996. Hans-Georg Soldat: Die Wende in Deutschland im Spiegel der zeitgenössischen deutschen Literatur. In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 133-154, S. 152f.
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Fremde in der Nacht (1991) hier eine Ausnahme. In der Schlussszene wird Bezug genommen auf das von den Nazis eingerichtete und später von der Roten Armee als „Speziallager Nr. 7“ von 1945 bis 1950 weitergeführte Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin. Eine als „Der Schweiger“ bezeichnete Figur tritt an einen Tisch, an dem seine – verstorbenen – Eltern sitzen, die „in den vermeindlich [sic] geschichtslosen Himmel“379 blicken. Er berichtet: Ihr erinnert euch nicht. Ich bin euer Sohn. Fünfundvierzig haben mich die Russen verhaftet weil ich auf der Straße ging. Ich war siebzehn … ich habe es überlebt. Ich bin jetzt zwanzig. Ich komme aus Sachsenhausen und mußte unterschreiben daß ich darüber schweige. Kein Wort werde ich darüber sprechen. Wenn ich wüßte daß ihr dicht wärt. Würde mir nichts passieren. Aber ich kann nicht wissen ob mein Vater oder meine Mutter oder meine Schwester nochmal ein Wort fallenlassen. […] Meine Eltern sind verstorben ohne zu wissen was wirklich los war. Was mit mir passiert ist. Die wußten nichts. Sie haben nicht gefragt und ich habe nichts gesagt. Meine Schwester erfuhr es Zweiundvierzig [sic] Jahre später. Jetzt wos offen ist. Meine Frau hats gestern erfahren. Und die Kinder. […] Und als die Russen mich aus dem Lager entließen, suchte ich Arbeit. Und als ich Arbeit gefunden hatte, mußte ich in die Deutsch-Sowjetische-Freundschaft eintreten.380
Die auf Tatsachen beruhenden dargestellten Vorgänge sind an Zynismus kaum zu überbieten. Dass nach wie vor die Weiterführung von Konzentrationslagern nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone ein weit gehend tabuisiertes Thema ist, mag nur einer der Gründe dafür sein, dass diese Verbrechen bisher kaum Eingang in die Literatur gefunden haben. Neben Berlin ist der Harz prädestiniert sowohl für die Verbindung von Ost-West-Erfahrungen als auch die Einbindung literarischer Vorbilder, deren Autoren sich hier sämtlich mit dem Thema ‚Deutschland‘ auseinander gesetzt haben. Auch der Harz war nach 1945 eine geteilte Region; weite Areale, darunter der Brocken, wurden zum Sperrgebiet erklärt. Thomas Rosenlöcher bezieht sich in seiner „Harzreise“ Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern (1991) relativ ausführlich auf den Faktor ‚Zeit‘: Der Erzähler begibt sich am 1. Juli 1990 auf eine Wanderung in den Harz, „um wenigstens andeutungsweise wieder Gedichte schreiben zu können.“381 Die Reise unternimmt er auf Drängen seiner Frau und 379 380 381
Jochen Berg: Fremde in der Nacht. Berlin 1991 [Bühnenmanuskript], S. 32. Ebd., S. 32f. Thomas Rosenlöcher: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise. Frankfurt a.M. 1991, S. 9.
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weil ihn der Lärm der Dachdecker „auf das Dach meines Schädels“ stört, „als gelte es, die letzten vierzig Jahre zu vernageln.“382 Sein Weg führt ihn über Quedlinburg nach Thale, dann über den Brocken nach Goslar – Orte bzw. Stätten, die Goethe 1777, 1783 sowie 1784 und Heine 1824 bereist hatten. Ein Zitat von Heine, die dritte Strophe des Eingangsgedichts der Harzreise (1824), ist dem Text vorangestellt: Auf die Berge will ich steigen, Wo die frommen Hütten stehen, Wo die Brust sich frey erschließet, Und die freyen Lüfte wehen.383
Bereits durch diesen intertextuellen Bezug werden frühere Zeitebenen evoziert, Goethe und Heine dominieren dabei. Doch auch Bezüge zu Brecht liegen nahe. Die letzten Zeilen von dessen 1949 entstandenem Gedicht Wahrnehmung lauten: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“384 Der Erzähler, der sich ohne Uhr auf Wanderschaft begeben hat, nimmt in Kapitel 7 Bezug auf dieses Zitat und kehrt es um, als er in Thale eine Uhr kauft. Durch diese Vorgehensweise rückt auch auf der Gegenwartsebene der Aspekt ‚Zeit‘ in den Vordergrund: Wie spät es wäre, fragte ich. – „Ohne eine Uhr in den Wald?“ Kopfschüttelnd schloß die Uhrmachersonne ihren Laden auf und verkaufte mir eine fast schon kostenlose Ruhlataschenuhr. Freilich mußte das Grobchronometer erst gründlich geschüttelt werden; zu lange standen die Zeiger reglos, aber die eigentlich herrschende Zeit hatte die Uhr an sich selber gemessen. An ihrer Rasselmechanik und ihrem Plastegehäuse: von vornherein überholt von den zeigerlosen, auf leisen Nummernsohlen daherkommenden Leuchtschriftuhren der digitalen, westlichen Welt: pulsierende 382 383
384
Ebd., S. 9. Heinrich Heine: Die Harzreise. In: H.H.: Säkularausgabe. Werke. Briefwechsel. Lebenszeugnisse. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Band 5. Reisebilder I. 1824-1828. Bearbeitet von Karl Wolfgang Becker. Berlin (DDR) / Paris 1970; S. 7-59, S. 7. Die Formulierung „Auf die Berge will ich steigen“ findet sich übrigens bereits bei Friedrich Schlegel in dessen Trauerspiel Alarcos. Vgl. F.S.: Alarcos. Ein Trauerspiel in zwei Aufzügen. In: [F.S.]: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Fünfter Band. Erste Abteilung. Kritische Neuausgabe. Dichtungen. Hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner. München / Paderborn / Wien / Zürich 1962; S. 221-262, S. 224. Bertolt Brecht: Wahrnehmung. In: B.B.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Band 15. Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956. Bearbeitet von Jan Knopf und Brigitte Bergheim unter Mitarbeit von Annette Ahlborn, Günter Berg und Michael Durchardt. Berlin / Weimar / Frankfurt a.M. 1993, S. 205.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
627
Ziffern, auftauchend im Nu und wieder verschwindend ins Nichts. Als wäre die Zeit abgeschafft zugunsten des blinkenden Kurzaugenblicks. Wogegen die Planwirtschaftsuhr jede Weltsekunde erst mühsam herticken mußte. Oder eben schon immer stillstand, verdrossen den Tag verwartend. Ein Menetekel von Anfang an und nun in wenigen Wochen zu einem Untergangsdenkmal geworden. Leicht wogen in meiner Hand die vierzig gefrorenen Jahre. […] Mochte mich sein erbittertes Ticken noch eine Weile begleiten: bis auch die neue Zeit wieder bloß die alte war. Denn die Mühen der Ebene lagen hinter uns und vor uns die Mühen der Berge.385
Später, als der Ich-Erzähler gezwungen ist, eine Nacht im Wald zu verbringen, bemerkt er ein besonderes ‚Ticken‘: Trotzdem wieder aufgewacht. Einfach, weil der Wald hier tickte. Ein feingehäkeltes Untergangsticken. Das mich vierzigjähriger Duldung anklagte. Des Hier-und-damutig-Seins, um im Schutz dieses Mutes desto ungestörter feige sein zu können. Des Mauschelns mit der Macht hinter dem eigenen Rücken. Ein irrsinniges, finales Gewummer, die mir verbliebene Zeit noch möglichst rasch abzutackern. Meine Ruhlauhr war wahnsinnig geworden. So daß ich das Menetekel aus meiner Kuhle warf. Mochte es draußen das Waldsterben messen. Nun aber fing der Wald bedrohlich zu rauschen an. Ein Singen und Widersingen, das mich erst recht nicht einschlafen ließ.386
Darauf erscheinen dem Erzähler im Traum neben der englischen Königin und Goethe auch der Kohlenmann; letzterer durchzieht leitmotivisch den Text. In diesem Zusammenhang wird der Wanderer einmal mehr mit der Frage nach Schuld konfrontiert387, die immer wieder aufgegriffen wird: Ob ich den Moment noch bemerkte, von dem an ich nicht mehr merkte, daß ich eine Westzeitung las? Als ob, wer ein anderer war, sein Anderssein wahrnahm. Erst nach dem Zusammenbruch sah der Systemimmanente seine Systemimmanenz. „Wie konnte ich damals“ ging der Refrain selbstanklägerischen Verwunderns. Allerdings nur, insoweit ihm diese Selbsterkenntnis das Gefühl verlieh, sich selber zu erkennen, um so, mit erneuertem Selbstwertgefühl, ruckartig ins neue System einzurasten. Soviel zur Bewältigungsfrage.388
385 386 387
388
Thomas Rosenlöcher: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise. Frankfurt a.M. 1991, S. 36f. Ebd., S. 67. Vgl. dazu Wolfgang Ertl: „Denn die Mühen der Ebene lagen hinter uns und vor uns die Mühen der Berge“: Thomas Rosenlöchers diaristische Prosa zum Ende der DDR. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 21-37, S. 35. Thomas Rosenlöcher: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise. Frankfurt a.M. 1991, S. 11.
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In dieser bilanzierenden Rückschau, klar gekennzeichnet durch das Wort „damals“, werden zwei Zeitebenen miteinander verglichen: die Zeit der DDR und die Gegenwart. Eine ähnliche Funktion, wenn auch in Bezug auf eine historisch weitaus kürzere Zeitspanne als in Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern, Haus mit Gästen und Windstimmen, erfüllt die Darstellung der Geschichte der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz in Peter Braschs (*1955) Roman Schön hausen (1999): Auf diesem Platz haben schon viele Stunden geschlagen. Die Stunde der Säufer, die Stunde der Gammler, die Stunde der Nutten, die Stunde der Polizisten, die Stunde der Blauhemden und der fröhlichen Jugend, die Stunde der Komödianten und heute die Stunde der Würstchenverkäufer und Hütchenspieler.389
Die Vergangenheit wird hier, gewissermaßen im Zeitraffer, noch einmal in der Erinnerung durchlebt. „Säufer“, „Gammler“, „Blauhemden“ und „Hütchenspieler“ stehen dabei exemplarisch für bestimmte Zeitabschnitte der deutschen Geschichte. Bert Papenfuß-Gorek (*1956) schlägt in seinem Gedicht die lichtscheuen scheiche versunkener reiche (1991) den Bogen vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus und die DDR bis in die Gegenwart. In der ersten Zeile werden die Vornamen der jeweiligen Machthaber genannt. Ihnen kommt ein ähnlicher Verweischarakter zu wie den Personengruppen bei Peter Brasch: wilhelm, walter, erich, egon & wie sie nicht noch alle hießen die abgehalfterten ellerkongen beispielloser sozialer großexperimente blockwarte, oberaufseher & generalsekretäre die über uns wachten in unserer ohnmacht getrübt von abschottungsmaßnahmen im vorfelde ökonomischer zerklüftung erfreute sich viel volks der lebenslust & insonderer sinnenfreude, inneren querelen sowohl als auch der grausamkeit verschiedener nunmehr versiegter übergeschnappter ist es, wenn man so will, zu danken daß ihr übertriebener gesellschaftsentwurf versangundklangloste; despotenpech jetzt herrschen sie, wie ich wiederholt von vorläufern & wiedergängern gehört
389
Peter Brasch: Schön hausen. Berlin 1999, S. 21.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
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im abgrunde unter den hohnlochländern & ihre alter egos, diese scheuchen verantwortung-rücksicht-partnerschaftfreiheit-wohlstand-sicherheit-gemäß unverdrossen stockenbalkenbiegungsmäßig über ihre ehemaligen wirtschaftsgebiete im subkultmund: untertanentraufen die noch schnell aufblühen, bevor sie unentschieden flattern die fittiche der unentschlossenheit, verglühen : menschenschicksal, ihr unternietzschen390
Auch hier wird die Bedeutung der jeweiligen Inhaber der Macht relativiert; weder das Kaiserreich noch die sich an die Weimarer Republik anschließenden Diktaturen sind von Dauer. Neben diesem Aspekt erscheint in zahlreichen Texten ein Motiv der Beschleunigung. So heißt es 1992 bei Karl Heinz Ebell (1921-1996): DIE AUTOS sind schneller geworden auch der zeitraffer hat einen schritt zugelegt wer mitlaufen will ins land der leuchtenden farben muß den vorwärtsgang einlegen ob es gelingen wird die muße von gestern mit den umdrehungen des motors in einklang zu bringen?391
Das Beschleunigungsmotiv gewinnt um so mehr an Bedeutung, als die Zeit in der DDR „keine wirklich relevante Größe“ darstellte, wie Wolfgang Hilbig in seiner Erzählung Die Kunde von den Bäumen (1994) darlegt: Wir haben in einem Land gelebt, abgeschnitten, zugemauert, in dem wir auf die Idee kommen mußten, daß die Zeit für uns keine wirklich relevante Größe war. Die Zeit war draußen, die Zukunft war draußen … nur draußen rannte alles auf den Untergang zu. Wir indessen haben immer in der Vergangenheit gelebt. Das Vergehen der Zeit existierte für uns nur auf irgendeinem verwelkten Kalenderblatt, das mit irgendeinem lausigen witzigen Vierzeiler bedruckt war […]. – Die Vergangenheit war für uns das Unabgeschlossene, das keinen Anfang und kein Ende hatte … 390 391
Bert Papenfuß-Gorek: die lichtscheuen scheiche versunkener reiche. In: B.P.-G.: LED SAUDAUS. notdichtung. karrendichtung. Berlin 1991, S. 103. Karl Heinz Ebell: Die Autos. In: K.H. E.: … und die menschen wohnen in meinen augen. Gedichte zwischen Deutschland und Deutschland. Berlin 1992 (Frieling-Lyrik), S. 33; Hervorhebung im Original.
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und damit war, nebenbei gesagt, der Vorwurf ohne Zweifel vorprogrammiert, daß unsere Gedanken ohne Distanz seien.392
Umso stärker entwickelte sich nach der ‚Wende‘ der Eindruck, etwas ‚nachholen‘ zu müssen – ein häufig in Essays thematisiertes Bedürfnis.393 In der Lyrik findet es seinen Niederschlag etwa bei Uwe Kolbe (*1957): Was hab ich noch nachzuholen Fast jeden Ort hatte ich nachzuholen, fast jeden Anblick. So einen gewissen blauen Berg hatte ich nachzuholen. Wo hernach? Doch eigentlich hervor. Ein Venedig und ein Comersee und ein Lugano und ein che bello im Original. Amsterdam habe ich zeitig nachgeholt, Kopenhagen brachte ich ähnlich hinter mich und meine Frau, die noch mehr nachzuholen hatte. Was habe ich noch nachzuholen? So viel hatte ich gelesen über Eastside und Westside – New York hatte ich unbedingt nachzuholen, nach Chicago, nach San Francisco, nach dem Grand Canyon undsoweiter. Oder wars andersherum? Erst holte ich den Ku’damm nach dem Savignyplatz. Erst holte ich das Oberhalb der Mauer nach, in der SBahn, nach dem jahrzehntelangen Vor oder Hinter. Was hab ich noch nachzuholen: Paris und Provence und Rom sind bereits nachgeholt, hab ich abgeholt. Wem hab ich was nachzuholen? Wie hol ich die liebe Gewißheit aber? Wie hol ich das Kind nach, das hätt mir so wohlgetan? Aber das ist ein Durchgangsstadium.394
Kolbe bezieht sich in seinem Gedicht zunächst auf das Nachholen von Reisen. Der Ausdruck dieses Bedürfnisses kann jedoch als exemplarisch für das Nachholenwollen weiterer Erfahrungen gelesen werden, wie am Ende des Textes angedeutet wird.
392 393 394
Wolfgang Hilbig: Die Kunde von den Bäumen. Frankfurt a.M. 1994, S. 41; Hervorhebung im Original. Vgl. beispielsweise Friedrich Dieckmann: Die Suche nach der verlorenen Zeit. In: FR v. 11.8.1990. Uwe Kolbe: Was hab ich noch nachzuholen. In: U.K.: Vineta. Gedichte. Frankfurt a.M. 1998, S. 18; Hervorhebung im Original.
6.3 ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik
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Richard Wagner (*1952) thematisiert in Die geteilte Zeit (1991) die in Berlin erfolgte Spaltung der Stadt in zwei Zeitebenen durch den Mauerbau bzw. den Wegfall dieser beiden Ebenen nach der ‚Wende‘: Die geteilte Zeit der Stadt geht zuende. Du, der Flaneur der vermauerten Boulevards, hast immer noch zweierlei Wörter im Sinn. Schon kippen die Gefühle ins Vermischte zurück. Was kommt zuerst. Was kommt zuletzt. Vorsichtig fügst du deinen Kopf wieder zusammen. Du wirst ganz wie die Stadt. Du, der rasende Flaneuer [sic].395
Die oben zitierten Beispiele belegen, dass der Faktor ‚Zeit‘ auffällig oft Gegenstand von Gedichten ist. In Essays wird ‚Zeit‘ auch immer wieder aufgegriffen, ihr kommt jedoch darin nicht der Status eines eigenständigen Motivs zu. Bernd Wagner (*1948), der 1985 aus der DDR nach West-Berlin ging, bezieht sich in einer seiner Kalamazonischen Reden an die Kreuzberger Sperlinge zunächst auf den Aspekt der in der DDR ‚stehen gebliebenen‘ Zeit: Mit der Mauer ist das schmutzigweiße Schamtuch gefallen, die Begründung für die Häßlichkeit, die ich plötzlich sah. Übriggeblieben ist die nackte Armut eines Hinterhofs und die Schönheit stehengebliebener Zeit (oder vielmehr außer Kraft gesetzter menschlicher Zeit, in der Abläufe nur noch als Verfall sichtbar werden, den der ungestörte Wechsel der Jahreszeiten hinterläßt), die Nachkriegskulisse einer Unterwelt, über der das glitzernde Westberlin seine Feste feiern konnte, ohne sich durch den Anblick seiner armen Nachbarn stören lassen zu müssen.396 395 396
Richard Wagner: Die geteilte Zeit. In: R.W.: Schwarze Kreide. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 86. Bernd Wagner: Blitzschlag, Angst und Vaterlandsliebe. Rede an die Kreuzberger Sperlinge. In: B.W.: Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-9. Berlin 1991; S. 5-34, S. 14f.; Hervorhebung im Original. Geschrieben im Dezember 1989 und erstmals veröffentlicht
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Er erkennt zwei unterschiedliche Berliner Zeitsysteme, deren Kenntnis wesentlich für das Verständnis der Ost-West-Problematik gerade in der Haupstadt sein dürfte: Das so schwer Faßbare an Berlin ist, daß diese zwei unterschiedlichen Welten, diese verschiedenen Zeitrhythmen so dicht nebeneinander existierten. Jetzt, wenn die Nachbarn durch die Breschen in der Mauer hereinströmen, geschieht nichts anderes, als daß der proletarische Osten Berlins, das verkommene Umland der Schießplätze und Wälder wieder von seiner Stadt Besitz nimmt. Das erschreckt. War das Schaudern, wenn man das Nachkriegsmuseum DDR besuchte, immer ganz wohlig (so wie wenn man sich nach zu vielen Farbfilmen mal wieder einen Schwarzweißstreifen ansieht), so treten jetzt die härteren Züge dieser Zeit nach vorn.397
Damit bringt Bernd Wagner in Form einer ‚Rede‘ Ähnliches zum Ausdruck wie Richard Wagner in Die geteilte Zeit. In Richard Wagners 1992 veröffentlichtem Essay Postsozialistische Zeiten heißt es zudem: Im Postsozialismus zerrinnt den Menschen die Zeit. Die allgemeine Bewegung und die Vorstellungen davon eilen ihrer persönlichen Lebenssituation davon. Sie erleben die Veränderungen als einen schmerzlichen Bruch mit sich selbst. Die Zeit geht durch die Menschen hindurch. „Weltzeit“ und „Lebenszeit“ fallen auseinander. Ihre bisherige Lebenszeit erscheint den Menschen als vergeudete Zeit. Ein Auge blickt zurück, das andere nach vorn. Wo ist das Gesicht. Janus hatte zwei, die Menschen des Ostens haben eines, und sie haben doch den Kopf des Janus. Eine Entwicklung ist über sie hereingebrochen, die normalerweise sich in Jahrzehnten schichtet. Sie ist zu einem Augenblick zusammengezogen, der für die Menschen endlos währt. Mythen drängen in die Endlosigkeit. Von der Freiheit über Europa und bis hin zur Nation wird alles zum Mythos.398
Auch er bezieht sich auf den Aspekt der angeblich ‚verlorenen Zeit‘ und benennt die seiner Ansicht nach an diesem Zustand Schuldigen: Den Menschen fehlt die Zeit, die ihnen von den Kommunisten geraubt wurde. Sie hatten nicht nur den Sozialismus zu ertragen, jetzt sind sie auch noch mit seinen Folgen konfrontiert.399
397 398 399
unter dem Titel Blitzschlag, Angst und Vaterlandsliebe. Letzte Rede an die Kreuzberger Sperlinge in: Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Hrsg. von Françoise Barthélemy und Lutz Winckler. Frankfurt a.M. 1990; S. 101-125, S. 106f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 16 bzw. S. 108. Richard Wagner: Postsozialistische Zeiten. In: R.W.: Völker ohne Signale. Zum Epochenbruch in Osteuropa. Berlin 1992; S. 7-17, S. 16. Ebd.
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Einer der frühesten und zugleich profiliertesten Essays, in denen der Aspekt der Zeit im Zentrum steht, ist Lothar Baiers (*1941) Volk ohne Zeit (1990).400 2000 folgt Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung, in dessen Einleitung Baier die wesentlichen Aspekte von Volk ohne Zeit zusammenfasst: Es [das Buch; F.Th.G.] knüpft an die Thematik an, die in meinem 1990 veröffentlichten Buch „Volk ohne Zeit“ […] berührt ist, löst sich dabei aber von der Konzentration auf die deutschen Angelegenheiten des einstigen „Volks ohne Raum“, das sich nach dem gescheiterten Unternehmen Raumeroberung der „Chronopolitik“ genannten rationellen Bewirtschaft [sic] der Zeit verschrieb. Alle hochentwickelten Länder verfahren heute ebenso, um so mehr, als sie alle am gleichen Netz transnationaler Finanz- und Technologieleitungen hängen, so daß es keinen Sinn macht, unter dem Gesichtspunkt der Zeitwirtschaft dem deutschen Fall besondere Beachtung zu schenken. Die nach der Öffnung der Berliner Mauer in Deutschland aufgetretenen heftigen Turbulenzen ließen sich in meinen Augen noch damit erklären, daß zwei Zeitzonen, eine schwache östliche und eine starke westliche, plötzlich aufeinanderprallten und sich chaotisch mischten, vergleichbar dem Vorgang, der sich abspielt, wenn die Binnenatmosphäre eines hochfliegenden Flugzeugs durch ein geplatztes Bullauge mit einem Mal nach draußen in die dünnere Luft entweicht. Inzwischen hat sich längst Druckausgleich eingestellt in Deutschland, ist die langsamere östliche Zeit von ehedem in der schnelleren westlichen Einheitszeit aufgegangen; Turbulenzen, und zwar ungleich heftigere, haben andere Regionen heimgesucht, vom Balkan über Rußland und Zentralafrika bis zum indischen Subkontinent.401
Christoph Dieckmann erkennt 1993 im Rückblick auf das Leben in der DDR einen Stillstand; dieser sei allerdings ein ausschließlich systemimmanenter gewesen, auszudrücken in der knappen Formel „Die Zeit stand still; die Lebensuhren liefen.“402 Im Grunde genommen spricht Dieckmann damit das gleiche Problem an wie Bernd Wagner und Richard Wagner. Die in Berlin lebende Psychotherapeutin Annette Simon (*1952) greift in einem Vortrag über Unterschiede zwischen Ost und West, den sie im November 1993 im Institut für kulturpolitische Deutschlandstudien in Bremen hielt, den Aspekt des Sich-Zeit-Nehmens im vereinten Deutschland auf. Diesen beurteilt sie uneingeschränkt positiv: 400
401 402
Lothar Baier: Volk ohne Zeit. Essay über das eilige Vaterland. Berlin 1990. Im Titel spielt Baier auf Hans Grimms (1875-1959) Roman Volk ohne Raum (1928-1930) an. Er ist damit nicht der einzige, der sich auf Grimm bezieht; ihm folgte etwa Gert Heidenreich mit Volk ohne Traum. Die deutsche Intellektuellen-Debatte. In: ndl 40 (1992) 8, S. 5667. Lothar Baier: Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung. München 2000, S.10f. Christoph Dieckmann: Abendlicht. Eine Predigt für und wider den Mythos DDR. In: Die Zeit v. 26.2.1993.
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Was Westler von Ostlern lernen könnten: den Umgang mit Zeit (sich Zeit nehmen, langsam sein); die hohe Wertigkeit von Freundschaften, die nichts mit beruflichen Aktivitäten oder besonderen Projekten zu tun haben – sozusagen Freundschaften an sich sind; die wohltuende Zurückhaltung in der Selbstdarstellung (Ostler spricht von sich, hat den anderen im Blick; die Marktwirtschaft bringt einen Westler hervor, der über sich wie über einen Markenartikel spricht, der anzupreisen wäre). Wir Ostler haben außerdem noch eine ganz wesentliche Erfahrung, besonders für resignierte westliche Linke, einzubringen: Es bleibt nichts wie es ist, Verhältnisse können sich von einen [sic] Tag auf den anderen ändern.403
Simons Sicht ist jedoch allzu generalisierend; die Psychologin verklärt zudem die Vergangenheit und dürfte mit ihren Thesen deshalb eher Schaden anrichten als Nutzen bringen. Klaus Hartung (*1940) geht 1990 in seinem Essay Der große Radwechsel oder Die Revolution ohne Utopie dem Aspekt der ‚Verspätung‘ nach, der den Herbst 1989 durchziehe: Das Stigma der Verspätung haftet an allen Ereignissen. Der SED-Apparat zerbrach erst, als die Kräfte des Zusammenhalts schon ausgezehrt waren. Die Verhältnisse mußten sich erst bis zu dem Punkt zuspitzen, an dem einer Totalität der Kontrolle und Unterdrückung die Totalität der Gesellschaft gegenüberstand. Es mußte erst der Gegensatz Waffen und Menschen absolut werden, bevor in Leipzig die Massen auf den Straßen erschienen. Nicht die Opposition hat den Aufbruch vorangetrieben, sondern die Botschaftsbesetzer in Budapest und Prag, die Flüchtlingsströme über die Grenze der CSSR [sic], der Exodus der jungen qualifizierten Facharbeiter, der stone-washed-Jeans-people in ihren Trabis. Mit anderen Worten: Noch vor dem Umsturz des Systems war die Existenz des Landes zur Disposition gestellt. Es ist unübersehbar, wie sehr das Schicksal des Zuspät das Geschehen nach dem 9. Oktober dirigierte. Als am Abend des 9. Oktober 70 000 Leipziger auf dem Karl-Marx-Platz sich versammelten, obwohl sie einen Schießbefehl ahnten, obwohl sie wußten, daß in den Krankenhäusern Notaufnahmestationen und Blutkonserven bereitgestellt waren, stellten sie das Regime vor die Alternative Terror oder Nachgeben. Das war einer der wenigen Momente revolutionärer Gleichzeitigkeit. Seit diesem Zeitpunkt eilte der Zusammenbruch der politischen Machtapparate den Massenbewegungen voraus. Die Radikalität der Massen wurde noch überholt von der Panik der Apparate, von ihren Manövern um Machterhalt und Existenzbewahrung. So wurden die Massen gleichsam um ihre revolutionären Symbole betrogen, um ihren Sturm aufs Winterpalais. Eine merkwürdige Revolution, in der nicht einmal ein Standbild fiel. Als Ende Januar die Stasi-Festung in der Normannenstraße endlich gestürmt wurde, fand man nur noch tiefgefrorene Spargelspitzen, Haifischflossen und Steaks, verstaubte Akten aus den Jahren 1981, 1982 und geräumte Büros.404 403 404
Annette Simon: East goes West. In: Ein Text für C.W. Berlin 1994; S. 186-192, S. 192. Klaus Hartung: Der große Radwechsel oder Die Revolution ohne Utopie. In: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Hrsg. von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg. Leipzig 1990; S. 164-186, S. 166f.
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Abschließend sei auf einen völlig anderen Aspekt eingegangen: die Kurzlebigkeit in der Wendezeit entstandener Texte. Parallel zur allgemeinen Beschleunigung der Ereignisse setzte zumindest im Bereich der Essayistik für die Autorinnen und Autoren auch eine Notwendigkeit zur Beschleunigung des Schreib- und Publikationsprozesses ein. Diese Problematik findet ihren Ausdruck beispielsweise im Postscriptum zu Klaus Hartungs Essay Neunzehnhundertneunundachtzig (1990): Schreiben im Übergang nannte ich eingangs diesen Versuch; ein allzu harmloses Wort für diese tour de force! Das Geschehen festhalten und begreifen zu wollen, gleicht der Hast über eine Brücke, deren Zusammenbruch man zu entkommen versuchte. Die Anteile der Vergangenheit erhöhen sich beim Schreiben über die Aktualität ständig. Im Grunde müßte hinter jedem Satz stehen: Achtung, Verfallsdatum! Jedes Korrekturlesen machte es notwendig, die consecutio temporum in den Sätzen zu ändern. Dabei geht es nicht so sehr um die Richtigkeit von Analysen, sondern darum, ob die Sprache das Gefälle der Ereignisse auch auszudrücken vermag. Ich habe nicht versucht, die Begriffe zu definieren, sondern fand es wichtiger, sie zu fangen, wie die Zeit sie zuspielte.405
Rainer Schedlinski erklärte bereits am 19. November 1989: wenn man in diesen tagen über die DDR schreibt, scheint es ratsam, die perspektive auf die der tageszeitungen zu verkürzen. schon die prognosen für einen monat würden wohl von den gegebenheiten überholt. es ist, als schriebe man auf brennendes papier. fast immer kommt es anders als man denkt, und man kann hinterher nur noch verpaßte chancen vermerken. dennoch war ich über meine irrtümer nie so erfreut wie in den letzten wochen.406
Erst nach 1990 / 91 ging die Zahl der oft allzu schnell in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern publizierten Essays wieder zurück.
405
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Ders.: Postscriptum. In: K.H.: Neunzehnhundertneunundachtzig. Ortsbesichtigungen nach einer Epochenwende. Frankfurt a.M. 1990 (Luchterhand Essay); S. 218f., S. 218; Hervorhebung im Original. Rainer Schedlinski: wozu sollte es eine DDR geben? In: r.s.: die arroganz der ohnmacht. aufsätze und zeitungsbeiträge 1989 und 1990. Berlin / Weimar 1991; S. 39-42, S. 39. [zuerst gekürzt erschienen in der taz].
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6.4
6 Abschied und Ankunft
Die ‚Wende‘ – intertextuell
6.4.1 ‚Die Welt ist Text‘ Intertextuelle Bezüge spielen eine wesentliche Rolle in allen Gattungen der ‚Wendeliteratur‘; vereinzelt wurde bereits auf solche Bezüge hingewiesen. Um deren Stellenwert Rechnung zu tragen, soll es nun ausführlicher um diese Thematik gehen. Der Begriff ‚Intertextualität‘ sei im Folgenden mit Renate Lachmann (1996) verstanden als Zentralbegriff einer Literaturbetrachtung, die den Beziehungen zwischen den Texten und den Modi der Verarbeitung älterer Texte in einem neuen gilt. Es geht dabei um die Bestimmung von Verfahren, die zwischentextliche Beziehungen herstellen, wie die Einlagerung fremder Texte in einen Text, die Kontamination einer Vielzahl heterogener Texte oder die Wieder- und Gegenschrift eines bekannten Textes, und letztlich um die durch die Verarbeitungsstrategien, denen der neue Text die alten unterzieht, erwirkte komplexe Sinnkonstruktion.407
Als schwierig hat sich seit jeher die praktische Anwendung der verschiedenen Intertextualitätstheorien erwiesen. Zu unterscheiden sind zunächst zwei begriffliche Ansätze: Erstens ein älterer, auf literarische Texte begrenzter (Michail M. Bachtin), zweitens ein jüngerer, entgrenzter Ansatz, der von der Existenz eines unendlichen Universums von Texten ausgeht (Julia Kristeva); der Textbegriff wird hier auch auf nicht-literarische und teilweise nicht schriftlich fixierte Texte ausgedehnt. Bereits zwischen diesen Ansätzen fällt die Grenzziehung schwer, denn es ist nicht eindeutig festzulegen, wann ein Text noch oder schon als ‚literarisch‘ bezeichnet werden kann. Gérard Genette (1982) definiert Intertextualität d’une manière sans doute restrictive, par une relation de coprésence entre deux ou plusieurs textes, c’est-à-dire, eidétiquement et le plus souvent, par la présence effective d’un texte dans un autre.408
Für die verschiedenen Formen ‚zwischentextlicher Beziehungen‘ im Sinne Lachmanns und Genettes gibt es zahlreiche Beispiele; in der Regel werden ‚fremde‘ Texte in einen neuen Text eingelagert und dadurch vor allem Kontextualisierungen auf der historischen Ebene erreicht. Die Bandbreite 407
408
Renate Lachmann: Art. ‚Intertextualität‘. In: Das Fischer Lexikon Literatur. Band 2. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt a.M. 1996; S. 794-809, S. 794; Hervorhebungen im Original. Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982 (Poétique), S. 8.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
637
der ‚fremden‘ Texte ist dabei groß und reicht von klassischen bis zu zeitgenössischen Werken. Eine Hilfestellung kann in diesem Zusammenhang Manfred Pfisters (1985) Katalog qualitativer und quantitativer „Kriterien für die Intensität intertextueller Verweise“ bieten, der zugleich einen Versuch darstellt, die verschiedenen theoretischen Ansätze zu bündeln. Pfister unterscheidet sechs qualitative Kriterien, die sich verstehen „als heuristische Konstrukte zur typologischen Differenzierung unterschiedlicher intertextueller Bezüge“409: 1. Zitieren oder Thematisieren? – Referentialität.410 2. Bewusstheit des Bezugs bei Autor und Rezipient – Kommunikativität.411 3. Reflexion der Intertextualität – Autoreflexivität.412 Die Intertextualität wird also „nicht nur markiert, sondern […] thematisiert […] oder problematisiert.“413 4. Beiläufiges Zitieren oder Übernahme ganzer Strukturen? – Strukturalität. Dieses Kriterium „betrifft die syntagmatische Integration der Prätexte in den Text.“414 5. Wörtliches Zitat oder pauschale Anspielung? – Selektivität. Mit Hilfe dieses Kriteriums werden „die unterschiedlichen Grade in der Prägnanz der intertextuellen Verweisung“415 erfasst. 6. Spannungsverhältnis zwischen Prä- und Posttext – Dialogizität. Dieses letzte qualitative Kriterium geht unmittelbar auf Bachtin zurück.416 Zu den qualitativen treten die quantitativen Kriterien. Hervorzuheben sind hier „zum einen die Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge, zum anderen die Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Prätexte.“417 Interessanter noch als diese Kategorisierungsvorschläge dürften Fragen nach Bedeutung und Funktion intertextueller Beziehungen sein.418 Renate 409
410 411 412 413 414 415 416 417 418
Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 35); S. 1-30, S. 30. Vgl. dazu Ebd., S. 26. Vgl. dazu Ebd., S. 27. Vgl. dazu Ebd. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd. Vgl. dazu Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Vgl. dazu beispielsweise Bernd Schulte-Middelich: Funktionen intertextueller Textkonstitution. In: Ebd., S. 197-242.
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6 Abschied und Ankunft
Lachmann (1996) unterscheidet im Zusammenhang mit der „komplexen Sinnkonstruktion […], die als Folge jenes semantischen Ereignisses erscheint, das die Berührung der Texte darstellt“, „extreme Sinnintentionen“. Diese sagen zugleich etwas über die Funktionen intertextueller Verschränkung aus: Zum einen geht es um Konzentration, Potenzierung und Akkumulation von Sinn, zum andern um dessen Zersplitterung, Zersetzung, Diffusion. Gerade bei der Kreuzung und Übereinanderschaltung einer Vielzahl fremder Texte, die unterschiedlichen Poetiken angehören, treten diese gegensätzlichen Sinnintentionen auf. Die meisten Intertextualitätstheoretiker sind allerdings um die Aufrechterhaltung des Konzepts des letztlich einen Sinns bemüht.419
Lachmann weist auf eine weitere wichtige Funktion intertextueller Praxis hin: Die Kodes, denen die im intertextuellen Diskurs verflochtenen Elemente angehören, bewahren ihren Verweisungscharakter auf semantische Potentiale und kulturelle Erfahrung. Das Gedächtnis der Kultur bleibt die nicht hintergehbare Quelle des intertextuellen Spiels, das damit nicht in die Unverbindlichkeit entlassen wird. Texte, die sich selbst und die fremden Texte reflektieren und sich diese einverleiben, zehren von der Unausschöpfbarkeit eines durch Kulturen geschaffenen Zeichenvorrats. […] Der Gedächtnisspeicher der Kultur ist immer verfügbar und wird in Texten verfügbar gehalten.420
Fasst man diese Ergebnisse zusammen und bringt sie in Zusammenhang mit den hier interessierenden Texten, so ergeben sich mehrere Funktionen intertextueller Verweise; die wichtigsten seien hier thesenartig genannt: 1. Nicht nur, aber vor allem in Dramen dienen intertextuelle Verweise der Figurencharakterisierung. Wie im Folgenden gezeigt wird, kommt klassischen Figuren, beispielsweise Iphigenie, dabei ein Verweischarakter zu. Die ‚aktuellen‘ Figuren müssen somit nicht separat und gegebenenfalls umständlich eingeführt werden, ihre Eigenschaften ergeben sich vielmehr aus den zum Teil eklatanten Unterschieden zu ihren ‚Präfiguren‘.
419
420
Renate Lachmann: Art. ‚Intertextualität‘. In: Das Fischer Lexikon Literatur. Band 2. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt a.M. 1996; S. 794-809, S. 807; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 808; Hervorhebung im Original.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
639
2. Die Posttexte rufen bereits bekannte Gattungen auf, zum Beispiel das Märchen. Dies lässt Rückschlüsse, etwa auf ihren Wahrheitsgehalt und / oder die Intention ihres Autors zu. Die Texte müssen nicht unbedingt die entsprechenden Gattungsbezeichnungen tragen; Formulierungen wie „Es war einmal …“ oder andere gattungstypische Elemente sind ausreichend. 3. Posttexte, in denen umfangreiche Textpassagen aus früheren Texten einmontiert wurden, arbeiten sich häufig an ihren Prätexten bzw. deren Verfasserinnen oder Verfassern ab. Dies gilt beispielsweise im Fall von Thomas Brussigs Roman Helden wie wir, der auch eine Auseinandersetzung mit Christa Wolf darstellt. 4. Als übergreifende Funktion gilt der Aspekt des Bewahrens älterer wie neuerer Texte im ‚kulturellen Gedächtnis‘. Dies kann – aus der Sicht des Autors – im negativen wie im positiven Sinne erfolgen. Alle sechs der oben beschriebenen qualitativen Kriterien von Pfister lassen sich auch auf die ‚Wende‘-Thematik beziehen. Intertextuelle Aspekte finden sich bereits unter den Demo-Sprüchen, etwa „Proletarier aller Länder, verzeiht mir! (Karl Murx)“, „Privilegierte aller Länder, beseitigt euch!“ oder „Ein Gespenst kommt um in Europa“ – auch Anspielungen auf Werbeslogans treten auf: „Bei SED und FDJ sitzen sie in der letzten Reihe“.421 Hier werden exakt die syntaktischen Strukturen der Prätexte übernommen, mehrere Wörter aus den Prätexten unverändert auf den Posttext übertragen. Diese Parallelen stellen zugleich eine Form der Markierung dar. Die Prätexte sind so bekannt, dass sie an dieser Stelle nicht eigens erläutert werden müssen. Besonders hervorzuheben ist der diesen ‚Bearbeitungen‘ innewohnende Kreativitätsaspekt. Dick van Stekelenburg (1993) weist übrigens nach, dass der Ruf „Wir sind das Volk“ ursprünglich auf die achte Strophe des Gedichts Trotz alledem! Variirt (1848) von Ferdinand Freiligrath zurückgeht.422 Hier heißt es: „Wir sind das Volk, die Menschheit wir, / Sind ewig drum, trotz alledem!“ Ob sich allerdings die Demonstranten darüber im Klaren gewesen sind, sei dahingestellt.
421
422
Zit. nach Peter von Polenz: Die Sprachrevolte der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2; S. 127-149, S. 136. Vgl. Dick van Stekelenburg: „Trotz alledem!“ – Die Revolution zersungen. Von der Epigonalität politischer Aktualität. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 377-407. In unserem Kontext hatte u.a. Wolf Biermann sich dieses Gedichtes bedient: 1978 erschien bei CBS eine Langspielplatte mit dem Titel Trotz alledem! (CBS Germany Nr. 82975).
640
6 Abschied und Ankunft
Friedrich Christian Delius423 und Günter Grass424 beziehen sich in ihren Prosatexten explizit auf Theodor Fontane, Grass mit der Figur des Hoftaller zudem auf Hans Joachim Schädlichs Roman „Tallhover“.425 Thomas Brussig426 spielt in erster Linie auf Christa Wolfs sechs Jahre zuvor erschienene Erzählung Was bleibt427, aber auch auf andere Werke der Autorin an und montiert zudem wörtlich die von Wolf am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gehaltene Rede Sprache der Wende428 in seinen Roman. Die damit verbundene Intention soll in einem Unterkapitel gesondert betrachtet werden (vgl. 6.4.3). Bei Delius ist die explizite Markierung der intertextuellen Bezüge von vornherein klar und wird zudem im Text immer wieder vorgenommen; bei Brussig erfolgt diese Markierung ebenfalls, wenn auch erst im Nachhinein. Grass markiert die meisten, allerdings nicht alle Bezüge. Häufig klingen die zwischentextlichen Beziehungen schon in den Titeln an: Daniela Dahn spielt im Titel ihrer Essaysammlung Westwärts und nicht vergessen429 auf Brechts und Eislers Solidaritätslied „Vorwärts und nicht vergessen“430 an, Rolf Hochhuth in seinem Drama Wessis in Weimar431 auf Thomas Manns Roman Lotte in Weimar (1939); Reinhard Ulbrichs Spur der Broiler432 bezieht sich auf Erik Neutschs Roman Spur der Steine (1964) bzw. dessen – nicht zuletzt durch das Verbot noch bekanntere – Verfilmung durch Frank Beyer von 1965 / 66, und Gerhard Ortinaus (*1953) Ritter Hoffmann (neue Fassung 1993)433 stellt im Titel eine Parallele zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung Ritter Gluck (1809) her. Kerstin Hensel überschreibt 1992 einen Text: „WANDERER, KOMMST DU ZUM WA …“434 und bezieht sich damit nicht nur auf den Titel der fast gleichnamigen Böll-Erzählung, sondern zugleich auf den entsprechenden 423 424 425 426 427 428 429 430
431 432 433
434
Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991. Günter Grass: Ein weites Feld. Roman. Göttingen 1995. Hans Joachim Schädlich: Tallhover. Roman. Reinbek 1986. Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996. Christa Wolf: Was bleibt. Berlin (DDR) / Weimar 1990. Dies.: Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz. In: C.W.: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit), S. 119-121. Daniela Dahn: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit. Berlin 1996. Bertolt Brecht / Hanns Eisler: Solidaritätslied. In: Leben – Singen – Kämpfen. Liederbuch der Freien deutschen Jugend. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. 16. Auflage. Leipzig 1983, S. 111f. Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land. Berlin 1993. Reinhard Ulbrich: Spur der Broiler. Wir und unser goldener Osten. Berlin 1998. Gerhard Ortinau: Ritter Hoffmann. Neue Fassung. In: Das Land am Nebentisch. Texte und Zeichen aus Siebenbürgen, dem Banat und den Orten versuchter Ankunft. Hrsg. von Ernest Wichner. Leipzig 1993, S. 281-302. Kerstin Hensel: WANDERER, KOMMST DU ZUM WA … (Berliner Abende IV). In: K.H.: Angestaut. Aus meinem Sudelbuch. Halle (S.) 1993, S. 49-51.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
641
klassischen Stoff. Strukturell gesehen befindet sich diese Bezugsform in der Nähe der Demosprüche. Roland Müllers (*1941) Textsammlung Morgendliche Rede an mein Arbeitsamt (1996)435 nimmt ausschließlich klassische Texte, unter anderem von Luther, Goethe, Heine und Brecht, zur Folie für den Transport eigener, auf die Nachwendezeit bezogener Inhalte. Thomas Rosenlöcher bezieht sich in Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise (1991) auf Goethe und Heine, aber auch auf Wilhelm Müller und Gottfried Seume.436 Der Titel erinnert in seiner Formulierung zudem an Kleists Schrift Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805).437 Die Bezüge erscheinen jedoch nicht ausschließlich auf der Textebene, denn Rosenlöcher entdeckt nicht nur das „Gehen“ wieder, sondern auch den romantischen Topos der ‚Waldeinsamkeit‘. Mit dem Satz „Du kannst machen, was du willst, die Harzreise bleibt Fragment.“438 bezieht sich Rosenlöcher unmittelbar auf Heine. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Lyrik wurde bereits ausführlicher betrachtet: Volker Braun spielt im Titel von Das Eigentum auf ein Hölderlin-Gedicht an, in Zeile 2 („KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN“439) kehrt er ein bekanntes Zitat aus Georg Büchners Flugschrift Der hessische Landbote (1834) um440, das allerdings ursprünglich auf die Jakobiner bzw. Nicolas Chamfort und damit auf die Französische Revolution zurückgeht; „Chamfort soll den Ausruf den Soldaten der Revolutionsheere als Wahlspruch vorgeschlagen haben.“441 Eine weniger bekannt gewordene Verarbeitung dieses Zitats findet sich übrigens in Heinz Czechowskis Text Von Palästen und Hütten (1991).442 435 436 437
438 439 440
441
442
Roland Müller: Morgendliche Rede an mein Arbeitsamt. Deutsche Parodien & Satiren. [Berlin] 1996 (Spotless-Reihe Nr. 64). Thomas Rosenlöcher: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise. Frankfurt a.M. 1991, S. 61. Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. An R.v.L. In: H.v.K.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba. Band 3. Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hrsg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt a.M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker, Band 51), S. 534-540. Thomas Rosenlöcher: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise. Frankfurt a.M. 1991, S. 88. Volker Braun: Das Eigentum. In: V.B.: Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender. Halle (S.) 1992; Hervorhebung im Original. Vgl. dazu Hans-Jochen Marquardt: Mit dem Kopf durch die Wende. Zu Volker Brauns Gedicht Das Eigentum. In: Acta Germanica. Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika 22 (1994); S. 115-130, S. 123f. Karl Otto Conrady: Deutsche Wendezeit. In: K.O.C.: Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989 / 90. Mit einem Essay hrsg. von Karl Otto Conrady. Frankfurt a.M. 1993 (Edition Suhrkamp Leipzig); S. 173-248, S. 241. Heinz Czechowski: Von Palästen und Hütten. In: H.C.: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987-1992. Zürich 1993, S. 228-238.
642
6 Abschied und Ankunft
Neben ‚klassischen‘ Vorlagen sind vor allem zwei historische ‚Quellen‘ zu nennen: die Bibel sowie Märchen und Sagen. So ziehen in Lothar Trolles (*1944) kurzem Theaterstück Barackenbewohner die Kinder Abrahams durch die Wüste und begehren gegen ihren Anführer Moses auf, weil sie noch immer nicht das gelobte Land erreicht haben.443 Auf Märchen und Sagen beziehen sich vor allem parabelartige Texte. 1994 verfasste Uwe Kolbe für eine Ausstellungseröffnung in Potsdam Allereirauhs Land auf Sand. Ein Kunstmärchen444 über die Rolle der Künstler in der DDR und nach der ‚Wende‘. Peter Ensikat verfremdete Das Märchen vom süßen Brei (1990).445 Und eine ganze Märchenanthologie eines „weltberühmten Professors der Medizin“ und eines „angesehenen Publizisten“ (Klappentext), die es allerdings vorziehen, anonym zu bleiben, stellt der Band Der gebreulte Ritter und andere Wendemärchen (1992 / 1994)446 dar. In Sigurd Ranks Berichten Einheitsbrei und Nachwendewehen (1999) findet sich Noch ein deutsches Märchen.447 Auch der Brief an K. Marx (1992) von Matthias Zwarg enthält eine Art Märchen448, ebenso der Band Wir sind, was volkt (1993) von Martin Buchholz449 und die „satirische Wendechronik“ …so wunderschön wie heute! (2001) von Günter Herlt. Der Anlass für Herlts Märchen Die Wölfin und die sieben Geißlein (1992)450 war übrigens ein höchst aktueller: die Ernennung der Treuhand-Chefin Birgit Breuel zur „Unternehmerin des Jahres 1992“.
443
444
445
446 447
448 449
450
Lothar Trolle: Barackenbewohner. Nach dem 2. Buch Mose. In: L.T.: Hermes in der Stadt. Stücke. Hrsg. und mit einem Nachwort von Fritz Mierau. Mit sieben Zeichnungen von Horst Hussel. Berlin 1991, S. 11-16. Uwe Kolbe: Allereirauhs Land auf Sand. Ein Kunstmärchen. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995, S. 377-379. Peter Ensikat: Der süße Brei (Ein ostdeutsches Volksmärchen aus der guten alten DDR). In: Gisela Oechelhaeuser (Hg.): Von der Wende bis zum Ende. Wendejahr – die Distel im Scharfen Kanal. Berlin 1990, S. 34; vgl. auch: [Anon.]: Ein letztes Märchen. In: Ebd., S. 78. [Anon.]: Der gebreulte Ritter und andere Wendemärchen. Zweite, überarbeitete Auflage. Berlin 1994 [1. Auflage Berlin 1992]. Sigurd Rank: Noch ein deutsches Märchen. In: S.R.: Einheitsbrei und Nachwendewehen. Nach-Denkliches zum deutsch-deutschen Miteinander. 2., überarbeitete Auflage. Quedlinburg 1999, S. 52f. Vgl. Matthias Zwarg: Brief an K. Marx. Halle (S.) 1992, S. 29ff. Martin Buchholz: Vor-Worte. Zur beschaulichen Einstimmung eine alte Mär des deutschen Volks: die Wahlnachtsgeschichte. In: M.B.: Wir sind, was volkt. Vom Ur-Sprung in der deutschen Schüssel – ein satirisches Schizogramm. Berlin 1993, S. 9-13. Im gesamten Band finden sich zudem zahlreiche intertextuelle Anspielungen. Günter Herlt: Die Wölfin und die sieben Geißlein. Ein Breuel-Märchen aus unseren Tagen. In: G.H.: … so wunderschön wie heute! Eine satirische Wendechronik. Berlin 2001, S. 37-41.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
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Was für die ‚Wende‘-Ereignisse vor allem das Märchen bzw. das Märchenhafte bedeutet, ist für die Entstehung eines ‚neuen‘ Deutschland die Sage. Dabei dominieren Bezugnahmen auf die Kyffhäusersage, beispielsweise in Wilhelm Bartschs (*1950) Das Denkmal auf der Reichsburg Kyffhausen bzw. Barbarossahöhle (1994)451 und Rudi Strahls (*1931) Satire In Sachen Barbarossa. Ein Plädoyer (1997)452, aber auch in Jens Sparschuhs Hörspiel Kyffhäuser (1992).453 Märchen und Sagen dürften so häufig als Folie dienen, weil ihnen ein ‚wahrer Kern‘ innewohnt und die Bezüge zur Wirklichkeit offenkundig, Verfremdungen aber zugleich möglich sind. Insofern stellen ‚Märchen‘ und ‚Sage‘ alternative Textmuster zur rein satirischen Verarbeitungsweise eines Themas dar. Eins-zu-eins-Identifizierungen der literarischen Werke mit der DDR-Realität im weiteren und den dort versprochenen Verheißungen des Sozialismus im engeren Sinne greifen sicher zu kurz, erscheinen aber dennoch in Maßen legitim, etwa bei Gisela Krafts (*1936) Deutschland ein Wendemärchen (1994)454 oder Wolfgang Pohrts (*1945): Vom gefräßigen kleinen Dummerchen, das ein Trauerkloß wurde und dann ein großer Wüterich (1990).455 Lediglich verwiesen sei auf die zahlreichen Kabarettprogramme, in denen seit jeher auf Märchen Bezug genommen wird, aber auch auf Lieder aller Art, vor allem Volkslieder, Kirchenlieder sowie politische Lieder und Parteilieder.456 Ein Programm der Berliner Distel von 1990 endet mit dem Lied Ein letztes Märchen:
451 452 453 454 455
456
Wilhelm Bartsch: Das Denkmal auf der Reichsburg Kyffhausen bzw. Barbarossahöhle. In: W.B.: Gen Ginnungagap. Gedichte. Halle (S.) 1994, S. 7 bzw. S. 8. Rudi Strahl: In Sachen Barbarossa. Ein Plädoyer. In: R.S.: Endlich im Schlaraffialand. Erzähltes und Erdichtetes. Berlin 1997, S. 125-135. Jens Sparschuh: Kyffhäuser. Hörspiel. [Produktionsmanuskript des Senders Freies Berlin]. Erstausstrahlung: 2.10.1992. Gisela Kraft: Deutschland ein Wendemärchen. In: G.K.: Zu machtschlafener Zeit. Ein postpolitisches Fragment. Berlin 1994, S. 12-25. Wolfgang Pohrt: Vom gefräßigen kleinen Dummerchen, das ein Trauerkloß wurde und dann ein großer Wüterich. In: Gemeinsam sind wir unausstehlich. Die Wiedervereinigung und ihre Folgen. Mit Beiträgen von: Wolfgang Pohrt, Roger Willemsen, Wolfgang Schneider, Klaus Bittermann, Charlotte Wiedemann, Werner Kopp, Stefan Gandler, Robert Kurz. Hrsg. von Klaus Bittermann. Berlin 1990 (Edition TIAMAT, Critica Diabolis 27), S. 7-12. Vgl. etwa Peter Ensikat: Liedertafel. In: Gisela Oechelhaeuser (Hg.): Von der Wende bis zum Ende. Wendejahr – die Distel im Scharfen Kanal. Berlin 1990, S. 10f.; Ders.: Winter ade. In: Ebd., S. 21; Ders.: Lieder zur Niederlage (zweite Folge). In: Ebd., S. 27f.; Ders.: Schlußlied „Königskinder“. In: Ebd., S. 38; Ders.: Wir sind alt … In: Ebd., S. 62; Ders.: Autosuggestion. In: Ebd., S. 69; [Anon.]: Schlußlied. In: Ebd., S. 76.
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6 Abschied und Ankunft
Wir sind nur einmal wir selbst gewesen. Novembertage sind so kurz. Schon im Dezember waren wir genesen, und heute ist uns alles schnurz. Wir sind nur einmal so doof gewesen. Wir leben heute oder nie. Denn für die D-Mark sind Träume eh Quark. Und Hoffnung ist nur Utopie. Wir sind integer, wir weißen Neger – wir Eingebornen dieser Kolonie!457
Hier stellt das Märchen kein Textmuster dar, sondern wird Ausdruck des ‚Unwahren‘: Viele DDR-Bürgerinnen und -bürger haben offenbar im Zusammenhang mit der Vereinigung im eigentlichen Sinne des Wortes an ‚Märchen‘ geglaubt. Deren Wahrheitsgehalt löst sich nun in Nichts auf. Eine weitere Bezugsquelle stellen die Nationalhymnen beider deutscher Staaten dar. Stefan Döring (*1954)458 spielt in einem Gedicht unter anderem mit der Becher-Hymne, deren Text seit Beginn der siebziger Jahre nicht mehr gesungen werden durfte: aufgestanden und ruiniert gewandter in losen gewändern neuer vergangenheit zugewandt heult in zukunft ruinen zeitwinds wehn von ursprung durch dies loch jetzt zuhälter und aufreisser meister im flötenspiel dem rechten augenblick zu pfeifen den totentanz459
Vergangenheit und Zukunft scheinen plötzlich austauschbar, geradezu beliebig – auch von der Zukunft ist nichts Positives zu erwarten. Walter Erhart (1997) weist auf den wichtigen Aspekt des Totentanzes hin: 457
458
459
[Anon.]: Ein letztes Märchen. In: Gisela Oechelhaeuser (Hg.): Von der Wende bis zum Ende. Wendejahr – die Distel im Scharfen Kanal. Berlin 1990, S. 78. Die beiden letzten Zeilen könnten eine Anspielung auf den Schlager Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien darstellen, der in den drei westlichen Besatzungszonen (‚Trizonesien‘) in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr populär war. Zum Autor vgl. auch Gerhard Wolf: V Stefan Döring: Heutmorgestern (1989). In: G.W.: SPRACHBLÄTTER WORTWECHSEL. Im Dialog mit Dichtern. Leipzig 1992, S. 159163. Stefan Döring: III / 9. In: S.D.: Zehn. Edition Galrev. Fotoarbeiten von Thomas Florschuetz. Berlin 1990; ohne Seitenangabe.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
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Mit dem mittelalterlichen „Totentanz“ hat Stefan Döring nicht nur ein besonders anschauliches und besonders ‚unheimliches‘ Bild für eine Untergangsatmosphäre gewählt, er hat damit auch teil an einer Tendenz, die sich wie ein roter Faden durch die Gedichtsammlung der ‚Wende‘ zieht.460
Doch Döring nimmt auch Bezug auf Celans Todesfuge und damit auf den Holocaust: Wörter wie „meister“, „flötenspiel“, „pfeifen“ und die damit zusammenhängenden Bilder machen dies deutlich. Im Kontext des Gedichts stellen sie eine Warnung an das vereinigte Deutschland dar, nicht die ‚alten‘ Fehler zu wiederholen. Bärbel Klässner (*1960) bezieht sich in Neunter november neunzehnhundertneunundachtzig (1997) ebenfalls auf die Nationalhymne der DDR, verbindet diese aber mit der ersten Strophe des Liedes der Deutschen von Heinrich August Hoffmann von Fallersleben, dessen dritte Strophe bekanntlich den Text der bundesdeutschen Nationalhymne darstellt: Neunter november neunzehnhundertneunundachtzig Daß die sonne schön wie nie über deutschland über alles in der welt noch ein wenig den schein wahrt bis sie untergeht461
Interessant ist die von Klässner vorgenommene Verbindung von neuntem November und Untergang: Die Autorin verweist damit auf frühere Ereignisse in der deutschen Geschichte, die sich an einem 9. November zugetragen haben, unter anderem die Pogromnacht 1938. Die untergehende „sonne“ kann zudem unmittelbar auf die DDR als Staat bezogen werden, dessen tatsächlicher Untergang nicht in weiter Ferne liegt. Ausschließlich auf die westdeutsche Hymne bezieht sich Michael Krüger (*1943) in seinem Deutschlandliedchen (1993).462 Er spielt allerdings lediglich in der Überschrift, nicht im Haupttext auf das Lied an. In den bisher genannten Beispielen wird vor allem Bezug genommen auf ältere oder bereits klassische Texte. Doch auch jüngere und jüngste Texte
460
461
462
Walter Erhart: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 141-165, S. 149. Bärbel Klässner: Neunter november neunzehnhundertneunundachtzig. In: B.K.: Nahe dem wortwendekreis. Gedichte und andere Texte. Rudolstadt 1997 (Thüringen-Bibliothek, Band 4), S. 24. Michael Krüger: Deutschlandliedchen. In: M.K.: Brief nach Hause. Gedichte. Salzburg / Wien 1993, S. 6.
646
6 Abschied und Ankunft
reagieren aufeinander. So bemerkt die Erzählerin in Brigitte Burmeisters Roman Pollok und die Attentäterin (1999): Jonas’ Erklärung erinnerte mich an etwas, an das Büchlein einer Frau, die ich sehr mochte. Sicher hatte ich es seinerzeit gekauft. Ich fand es im Regal, eingezwängt zwischen Gilgamesch und Gulliver, und nahm es mit ins Bett. Während sich Martin durch das Freitagsprogramm schaltete, reiste ich auf eine Insel – gleich neben Afrika.463
Burmeister spielt auf Helga Königsdorfs nur wenige Jahre zuvor erschienene Erzählung Gleich neben Afrika (1992)464 an, wobei diese Anspielung hier ohne weitere Funktion im literarischen Sinne ist. Thomas Spaniel (*1963) widmet sein Gedicht was bleibt (1996)465 Christa Wolf, deren gleichnamige Erzählung im Titel anklingt. Der Grass-Roman Ein weites Feld (1995) wird in Edgar Külows (*1925) Üb immer Treu und Redlichkeit (1996) thematisiert.466 Und Joachim Lottmann kommentiert in Deutsche Einheit (1999) die Selbstmordszene des alten Ehepaares aus Hochhuths Wessis in Weimar (1993).467 Durch die zahlreichen Bezüge auf der intertextuellen Ebene werde, so Gerhard Sauder (2000), insbesondere eine „ästhetische Verknüpfung von Zeiten vor und nach der Wende“ erreicht.468 Die ‚Wende‘-Texte stellen insofern auch in diesem Sinne keinen literarhistorischen Bruch dar. Zudem werden alte Kontexte aufgerufen, die in den Werken keine explizite Erwähnung oder Erläuterung finden. 6.4.2 Bezüge zur antiken Mythologie Bezüge zur antiken Mythologie gehören zu den am häufigsten vorkommenden intertextuellen Beziehungen. Dies ist ein allgemeines Phänomen, weniger eine spezifische Eigenschaft der ‚Wendeliteratur‘, doch zu Beginn der neunziger Jahre orientieren sich zahlreiche Autorinnen und Autoren an antiken Vorbildern. Am deutlichsten mag dies in den Werken Volker Brauns und Christa Wolfs der Fall sein, von denen zwei im Folgenden etwas 463 464 465 466
467 468
Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 238f. Helga Königsdorf: Gleich neben Afrika. Erzählung. Berlin 1992. Thomas Spaniel: was bleibt. In: T.S.: deutsche vexierbilder. Gedichte. Rudolstadt 1996 (Thüringen-Bibliothek, Band 2), S. 7. Vgl. Edgar Külow: Üb immer Treu und Redlichkeit. In: E.K.: Koslowski in Weimar. Ruhrpott-Willi erobert den Osten. Illustriert von Peter Muzeniek. Berlin 1996, S. 6871. Vgl. Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999, S. 59-61. Gerhard Sauder: Erzählte ‚Wende‘: Formen und Tendenzen der ‚Wendeliteratur‘. In: Studia Niemcoznawcze XIX (2000); S. 291-305, S. 305.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
647
genauer betrachtet werden sollen. Die Titel von Kerstin Jentzschs (*1964) ‚Lisa-Meerbusch-Trilogie‘ lassen ebenfalls auf tiefer gehende Bezüge zu antiken Stoffen schließen: Seit die Götter ratlos sind (1994)469, Ankunft der Pandora (1996)470 und Iphigenie in Pankow (1998).471 Doch in den Romanen selbst finden sich die erwarteten Entsprechungen kaum. Vielmehr stellt die gesamte Trilogie ein Beispiel allzu einfacher Kolportage dar, die Titel geben insofern höchstens Tendenzen an, ohne dass der Rekurs auf die antike Mythologie unabdingbar wäre. 6.4.2.1
Volker Braun: Iphigenie in Freiheit (1992) Orest: „Da ist ein Zeitungsblatt! Darin steht: daß alles Alte besser als alles Neue ist. Und so wie es bleibt ist es.“472
1982 hatte Volker Braun das Stück Die Übergangsgesellschaft verfasst, eines der wichtigsten deutschsprachigen Dramen der achtziger Jahre.473 Im September 1988 schrieb er mit der Erzählung Bodenloser Satz474 einen Abgesang auf den real existierenden Sozialismus. Im zweiten – dem weitaus umfangreicheren – Teil dieses Textes wird ein Tagebau beschrieben, der als Metapher für eine sozialistische Gesellschaft gelesen werden kann, die die Natur zerstört und der Bevölkerung zunehmend den Lebensraum und damit auch die Zukunft nimmt. Die Zerstörung der Landschaft und eines Dorfes wird mit der Zerstörung der Liebe zwischen Klara und Karl verknüpft. Wilfried Grauert (1992) erkennt in diesem Text „eine radikale Kritik dieses Sozialismus-Experiments, dessen Verlauf und Ergebnis (ohne Wenn und Aber) als Scheitern gedeutet wird.“475 Eine thematische Fortführung jener Erzählung ist das Drama Böhmen am Meer476, mit dessen Niederschrift der Autor im September 1989 begann und das 1992 unter Thomas Langhoff im Berliner Schillertheater uraufgeführt wurde. 469 470 471 472
473 474 475
476
Kerstin Jentzsch: Seit die Götter ratlos sind. Roman. Berlin 1994. Dies.: Ankunft der Pandora. Roman. Berlin 1996. Dies.: Iphigenie in Pankow. Roman. Erfurt 1998. Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 127-131. Es handelt sich dabei um eine Adaption von Tschechows Drei Schwestern. Die westdeutsche Uraufführung fand 1987 statt, ein Jahr später folgte die Aufführung in der DDR. Volker Braun: Bodenloser Satz. In: Sinn und Form 41 (1989) 6, S. 1235-1246. Wilfried Grauert: Eine Liquidation (nicht nur) der DDR ante mortem: Zu Volker Brauns Prosatext Bodenloser Satz. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 119-125, S. 119. Volker Braun: Böhmen am Meer. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993, S. 61-115.
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Im selben Jahr wie Böhmen am Meer begann Volker Braun die Arbeit an Iphigenie in Freiheit. Darin verlagert er den antiken Mythos, der nicht nur in der deutschen Literatur zahlreiche Bearbeitungen erfuhr, in die Gegenwart. Die Uraufführung fand am 17. Dezember 1992 auf den Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main statt. Wenig später gab es auch eine Cottbuser Aufführung mit von Braun hinzugefügtem Material, darunter der Text Verbannt nach Atlantis (1990).477 Anfang 1993 trat eine Bearbeitung des Dramas als Ein-Mann-Stück mit Justus Carrière hinzu.478 Unterstützt wurde diese im Berliner Filmtheater am Friedrichshain stattfindende Aufführung vom Ernst-Busch-Chor. Das Drama gliedert sich in vier Abschnitte: „Spiegelzelt“479, „Iphigenie in Freiheit“480, „Geländespiel“481 und „Antikensaal“482, den letzten Teil bildet eine „Anmerkung“.483 Iphigenie in Freiheit ist überwiegend monologisch angelegt, Dialoge fehlen weit gehend. Die Unterscheidung der Menschen – im engeren Sinne der Deutschen – in Sieger und Besiegte spielt keine Rolle mehr: Und von jetzt ab und eine ganze Zeit Wird es keinen Sieger mehr geben Sondern nur mehr Besiegte.484
In seiner „Anmerkung“ führt Braun ergänzend dazu aus: Nach der Kolonisierung sind Sieger und Besiegte ununterscheidbar in ihrer beliebigen Tätigkeit, die die Individualität auslöscht wie die Natur; der ausgegrenzte, der arbeitslose Rest der Gattung wird zum Gegenspieler […].485
Gleich nach der Uraufführung wurden an Brauns Drama die Bezüge zur Gegenwart, vor allem zur ‚Wende‘ und ihren unmittelbaren Folgen, hervorgehoben. Die Rezensenten der Frankfurter Uraufführung und der 477 478 479
480 481 482
483 484 485
Ders.: Verbannt nach Atlantis. In: V.B.: Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender. Halle (S.) 1992, S. 57-60. Vgl. dazu Christoph Funke: Hohlraum zwischen zwei Masken. Versuch Nr. 3: Justus Carrière spielt Brauns „Iphigenie in Freiheit“. In: Der Tagesspiegel v. 13.1.1993. Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 127-131; auch: Frankfurt a.M. 1992. Ebd., S. 131-139. Ebd., S. 139f. Ebd., S. 140-143. Dieser Teil war bereits 1990 als Teil des Gedichtzyklus’ Der Stoff zum Leben 3 erschienen; vgl. V.B.: Material XIV: Antikensaal. In: V.B.: Der Stoff zum Leben 3. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 9. Bodenloser Satz. Verstreute Gedichte 1979-1988. Transit Europa. Der Ausflug der Toten. Schriften. Halle (S.) 1992; S. 65-92, S. 84-86. Ebd., S. 144. Ebd., S. 130. Ebd., S. 144.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
649
1992 erschienenen Buchfassung betrachteten die Hauptfigur Iphigenie fast durchweg als Allegorie: Sie sei zugleich „Deckname der DDR“486 wie „prototypische Ostdeutsche“.487 Diese Deutungen sollten nicht überbewertet werden, verdienen jedoch in unserem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit.488 Im Sinne solcher Lesarten steht Griechenland für den westlichen Kapitalismus; für die Griechen ist die Statue der Diana nicht mehr als „EINE ANTIQUITÄT. / WIE MAN SIE HANDELT JETZT.“489 Tauris stellt den Gegenpol dazu dar: gewissermaßen das Land des real existierenden Sozialismus’.490 Insofern kann Iphigenie durchaus als Personifizierung Ostdeutschlands betrachtet werden.491 Weitere Figuren können nach diesem Muster historischen Vorbildern zugeordnet werden: Während Thoas im engeren Sinne für den Reformer Gorbatschow steht, sind Orest und Pylades „Fluchthelfer“.492 Beide kommen Iphigenie vor wie „[z]wei fette Makler, Gangster auf dem Markt“ und rufen „Komm an die Kasse, Schwester. An mein Herz.493 Damit verkörpern die beiden Figuren, die nun, im wahrsten Sinne des Wortes, Konjunktur haben. Die antiken Figuren haben damit ihre eigentliche Identität verloren, sie besitzen lediglich „Verweischarakter“494: So verschmelzen Elektra und 486 487
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490 491
492
493 494
[V.A.]: Mißlungenes Pamphlet. Volker Brauns „Iphigenie in Freiheit“. In: SZ v. 29.12. 1992. Eckhard Franke: Der Text spreizt sich vielfach ins Vulgäre. Volker Brauns „Iphigenie in Freiheit“ wurde in den Frankfurter Kammerspielen uraufgeführt. Rheinische Post v. 14.1.1993. Vgl. auch Anthonya Visser: „Und so wie es bleibt ist es“. Volker Brauns Iphigenie in Freiheit: eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses? In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36), S. 131-154. Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 136; Hervorhebung im Original. So wird in Teil 2 eine thüringische Stadt mit Tauris (und Korea) in Parallele gesetzt: „HIER IST APOLDA. / TAURIS. / KOREA.“ (Ebd., S. 137; Hervorhebung im Original) Vgl. J.H. Reid: Elektra, Iphigenie, Antigone: Volker Braun’s Women and the Wende. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 189-199, S. 194. Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 131. Ebd., S. 134. Karl Wilhelm Schmidt: Geschichtsbewältigung. Über Leben und Literatur ehemaliger DDR-Autoren in der wiedervereinten Bundesrepublik. Eine Bestandsaufnahme kulturpolitischer Debatten und fiktionaler, essayistischer sowie autobiographischer Publikationen seit der Vereinigung. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Pluralismus und Postmodernismus. Zur Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland 1980-1995. Vierte, gegenüber der dritten erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1996 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 25); S. 353-395, S. 375.
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6 Abschied und Ankunft
Orest zu „Elektraorest“. Deshalb lassen sich ihre Rollen nicht mehr klar trennen, wenn es heißt: Laß dich umarmen, liebes Ebenbild. Du bist mein Bruder ich bin deine Schwester Du täuschst mich nicht. Wäre ich blind Für die Geschichte die ich kommen seh. Mit deinem Auftrag dem Gebot der Götter Was denn für Götter, glaube ich an Götter Kommst du das Unrecht rächen, und die Toten Schaun aus der blutigen Wäsche HEIL OREST495
Der sich anschließende „Kampf Elektraorest“496 wird durch die Verschmelzung der beiden ursprünglich getrennten Figuren zum Selbstkampf. Während Goethes Iphigenie noch für Humanität wirbt, findet sich diese bei Braun nicht mehr: […] Ich bin Iphigenie Und lebe dieses unlösbare Leben Mit meinem Leib und meiner eignen Lust. Ich lasse euch nicht los aus meinen Sinnen Mein Thoas mein Orest mein Pylades Griechen Barbaren eine wüste Welt Lust Haß Lust. Dieses Gefühl Ganz unauflöslich schneidet mich in Stücke […]497
Im zweiten Teil des Stücks rückt Iphigenie in den Vordergrund, wenngleich nahezu ausschließlich im Sinne eines Handelsobjekts. Sie hat sich stark gewandelt: Geschminkt gekleidet Iphigenie. Iphigenie im Supermarkt. Schaufensterpuppe Iphigenie. Ab an den Herd. DU UNDANKBARES DING. Du Arschloch. HELLAS HELLAS HELLAS! Das steht am Bierzelt und pißt an die Wand Und grölt Parolen mit dem Volk FREIHEIT Und Marschmusik. Das kennt keine Verwandten Und reißt sich dies mein Ländchen untern Nagel Für ein Spottgeld. Es ist das Schwarze hier.498
495
496 497 498
Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 127f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 130; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 137. Ebd., S. 134f.; Hervorhebungen im Original.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
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Iphigenie ist schuldig geworden, denn sie hat mit Thoas kooperiert. Diese Schuld kann nicht abgetragen werden; die Frau erscheint deshalb als […] HURE LÜGNERIN UND MÖRDERIN. / IN IHREM SCHMIERIGEN GEWAND. NICHT WÄSCHT DIESE REIN DIE WENDE IHRES SCHICKSALS VERWOBEN GANZ INS GARN SIE DER
GEWALT. / 499 Wie bereits erwähnt, bekennt sie daraufhin: „Ich bin Iphigenie / Und lebe dieses unlösbare Leben“.500 Zum einen wird damit der Konflikt, in dem sich Iphigenie befindet, noch einmal verdeutlicht. Zum anderen stellt die Aussage „Ich bin Iphigenie“ eine Wiederaufnahme der zu Beginn des ersten Teils gefallenen Äußerung „Ich bin Volker“501 dar. Anthonya Visser (1993) stellt in diesem Zusammenhang fest: Die Verbindung von Volker als eingeschriebener Autorposition und Iphigenie als Position auf der Figurenebene findet im strukturellen Aufbau des zweiten Teils ihre Entsprechungen, indem die Sprecherstimme sich abwechselnd als Iphigenies und die eines ‚Autors‘ zu erkennen gibt, der im Bewußtsein der Beschränktheit auch seiner Handlungsfreiheit seinen Text gestaltet. Für die so entstehende Mehrschichtigkeit ist folgende Textstelle illustrativ – besonders durch das Goethe-Zitat in der vorletzten Zeile:502 […] Das neue Denken In seinem [Thoas’; F.Th.G.] alten Kopf, mein alter Text An dem ich würgte, den ich kotzte, schrie Gegen die Brandung nachts am nackten Strand Das Land der Griechen mit der Seele suchend503 Der Kinderglaube an die heile Welt.504 499 500 501 502
503
504
Ebd. S. 135; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 137. Ebd., S. 127. Anthonya Visser: „Und so wie es bleibt ist es“. Volker Brauns Iphigenie in Freiheit: eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses? In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 131-154, S. 145f. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: J.W.G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1. Italien und Weimar 1786-1790 I. Hrsg. von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München / Wien 1990 (MA 3.1); S. 161-221, S. 161: „Und an dem Ufer steh’ ich lange Tage, / Das Land der Griechen mit der Seele suchend“ (I / 1). Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 133.
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Iphigenie hat resigniert; sie arbeitet sich gewissermaßen an Goethes Text ab und beschreibt ihren Standpunkt: Zwischen uns sei Wahrheit!505 wessen Wahrheit. Hier ist der Hain der Göttin: kahle Bäume Und Lethe unser Flüßchen stinkt zum Himmel Könnt ich vergessen, wo ich war und bin. Ich trug sie froh im Busen, meine Wahrheit Meinen Besitz auf dieser warmen Bühne Die Lösung nur für mich und nicht für alle. Ich Iphigenie frei der Saal geleimt.506
Am Ende des zweiten Teils ist Iphigenie dem Wahnsinn nah, sie ist eine „KAPUTTE. EINE IRRE.“507 Die beiden Griechen wissen nicht mehr, was sie mit ihr anfangen sollen, so dass schließlich sogar der Vorschlag gemacht wird, sie Thoas zu überlassen, „DEM VERLIEBTEN SKYTHEN“.508 In Teil 3 – „GELÄNDESPIEL“509 – sind die Umwälzungen in der DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bereits erfolgt; eine explizite Darstellung der Ereignisse wird damit ausgelassen. Diese Veränderungen sind aus sozialistischer Perspektive als Rückschritt zu werten: „Kapitel 2 der Weltgeschichte / Eine ausgerissene Seite, Elektra“.510 Die Überschrift „Geländespiel“ ist wörtlich zu verstehen als „Spiel“ mit dem „Gelände“ des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück, auf dem nach der ‚Wende‘ ein Supermarkt gebaut werden sollte.511 Die sich dort bewegenden Figuren strahlen tiefste Ratlosigkeit und Resignation aus:
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507 508 509 510
511
Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: MA 3.1; S. 161221, S. 190: „[…] zwischen uns / Sei Wahrheit!“ (III / 1). Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 136. Ebd., S. 137; Hervorhebung im Original. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 139f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 139. Die Zeile spielt auf die Gedichtsammlung Kapitel II der Weltgeschichte. Gedichte über das Land des Sozialismus von Erich Weinert (Berlin 1947) an. Die sich anschließende Gleichung „ELEKTRIFIZIERUNG MINUS SOWJETMACHT / Gleich Kapitalismus“ (Ebd.; Hervorhebung im Original) bezieht sich auf den Satz eines Lenin-Dekrets von 1920: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Vgl. dazu Anthonya Visser: „Und so wie es bleibt ist es“. Volker Brauns Iphigenie in Freiheit: eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses? In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 131-154, S. 150f.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
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Ein Warenfriedhof am Rand der Stadt Antigone schiebt ihren toten Bruder Im Einkaufswagen durchs KZ Hier kannst du ihn nicht begraben, Kleine, bei den Bodenpreisen. […]512
Die Braunsche Antigone kann ihren Bruder Polyneikes also weniger aus Gründen eines individuell etwa von Kreon erlassenen Verbotes nicht beerdigen, sondern vielmehr, weil sie sich eine Beerdigung einfach nicht leisten kann. Zudem – und das ist der wichtigere Aspekt – wehrt sich eine kollektive Masse gegen ihr Vorhaben und fordert Antigone auf, sich von ihrem Bruder zu lösen: Er ist ja überhaupt schon tot. Willst du ihn dein Leben lang durch die Straße fahren in dem Verkehr. Man verkehrt nicht mit Toten. […] Mit dem kommst du nicht durch die Kasse oder denkst du, der Tod ist umsonst. War er nicht überhaupt ein Schwuler. Ein Vaterlandsverräter. Hungerleider. Da könnte jeder kommen mit seinem Müll und ihn hier abladen in unserer Gegenwart.513
Angesichts des Ortes geht es damit nicht nur um den Einzelfall des Polyneikes, sondern um die ebenfalls nicht beerdigten (sondern meist verbrannten) KZ-Häftlinge, die hier in Parallele zu Polyneikes gesetzt werden. Antigones Versuch, den Bruder ausgerechnet in Ravensbrück zu begraben, kann daher auch als Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bis hin zum Versuch der Vergangenheitsbewältigung gedeutet werden. Gegen diese wehrt sich das Kollektiv jedoch. Die kollektive Masse hat andere Wünsche: „Wir wollen unsern KAISER wiederhaben, Wilhelm.“514 „KAISER“ ist hier doppelsinnig zu verstehen, wie am Bild der „Leuchtreklame: MIT GOTT FÜR KAISER UND.“515 deutlich wird: Es geht nicht nur um eine Rückwendung hin zu Kaiser Wilhelm, sondern auch um eine Orientierung auf den Konsumkapitalismus, hier ausgedrückt durch den Namen einer Supermarktkette, deren Gründer ebenfalls Wilhelm mit Vornamen hieß.516 Antigone wird im Hinblick auf Polyneikes empfohlen: „Stell ihn in die Seifenabteilung. Der Weiße Riese. Heile heile Segen“.517 Auch hier wird 512 513 514 515 516
517
Ebd., S. 139f. Ebd., S. 140. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd.; Hervorhebungen im Original. Gemeint ist Wilhelm Schmitz, der 1867 mit seiner Frau Louise, geb. Scholl, die Firma Wilh. Schmitz-Scholl gründete, aus der die spätere Unternehmensgruppe Tengelmann wurde. Zu Tengelmann gehörte auch die Supermarktkette Kaisers. Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 140.
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deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht vorgesehen ist. Die Masse will sich lieber von historischen Zusammenhängen reinwaschen und sucht ihr Heil im Kapitalismus, der hier in Form der Verbildlichung eines angeblich besonders ergiebigen Waschmittels erscheint. Der Leuchtreklamen-Spruch wird allerdings nach dem „UND“ abgebrochen. Die fehlende Fortsetzung des Ausspruchs „mit Gott für Kaiser und Vaterland“, der auf die Heeresreform von Friedrich Wilhelm III (1813) zurückgeht, verdeutlicht, dass ein Vaterland im traditionellen Sinne nicht mehr existiert. Mit dieser Erkenntnis endet der dritte Teil. Im vierten Teil – „ANTIKENSAAL“518 – erfolgt keine Wiederaufnahme des Spruchs. Dieser Teil des Dramas besteht aus einem einzigen Satz und „schildert einen Raum, der Assoziationen von Zugehörigkeit nicht mehr zuläßt.“519 Braun beschwört eine geradezu apokalyptische, zubetonierte Landschaft herauf, in der es keine Gewissheiten mehr gibt: […] vom dunklen Rand der Piste sickert ein rötliches Rinnsal unter die Schleusendeckel, Blut natürlich, der massigen Tiere, die im Acker abgestochen werden, ihr dumpfes Brüllen ununterscheidbar vom Fluglärm, oder ist es das Geheul von einem Kriegsschauplatz, der etwas abseits liegt im Orient, die Lautsprecher vereiteln eine genaue Wahrnehmung […].520
Die dargestellte Landschaft ist eine „DURCHGEARBEITETE LANDSCHAFT, die HAT ES HINTER SICH“.521 In ihr gibt es nur noch zwei Figuren: einen Arbeiter und eine Frau. Gewissheiten sind auch für sie aufgehoben; so verharrt [der Arbeiter; F.Th.G.] auf die Schaufel gestützt und starrt in seine Behausung, aus der der Lärm zu dringen scheint, […] ist er eingeschlafen oder einfach arbeitslos und steht, sein eigenes Denkmal, Erinnerung großer Zeiten, an dem gewohnten Arbeitsplatz […].522
518 519
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Ebd., S. 140-143; Hervorhebung im Original. Anthonya Visser: „Und so wie es bleibt ist es“. Volker Brauns Iphigenie in Freiheit: eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses? In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 131-154, S. 153. Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 140f. Ebd., S. 141; Hervorhebungen im Original. Das Zitat stellt zudem eine Anspielung auf Brauns Gedicht Durchgearbeitete Landschaft dar. In: V.B.: Gegen die symmetrische Welt. Halle (S.) 1974, S. 34. Ebd.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
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Der vierte Teil endet brutal, denn „der Gestrafte, auffahrend aus seiner antikischen Haltung“ richtet sich selbst, indem er mit dem „Blatt der Schaufel in sein nutzloses Geschlecht“ sticht.523 Die Selbstkastration endet tödlich und sein Samen mischt sich mit den Atomen des Staubs, verzweifelte Hochzeit, Materie die lieben lernt im Winter, auferstehendes Mehl, Sprengsatz der Strukturen, Stoff für den Hunger der Welt, der in die Türen tritt, ein Kinderleib.524
Dieser Freitod dürfte seine Begründung auch in der Orientierungslosigkeit des Arbeiters finden: Für ihn gilt keine Utopie mehr, das Leben hat seinen Sinn verloren. In der den Text beschließenden „Anmerkung“, die durchaus als fünfter Teil gelten kann, werden jegliche zuvor möglicherweise erfolgten Festlegungsversuche wieder relativiert, teilweise sogar komplett aufgehoben. Dies geschieht vor allem durch den Satz: […] der arbeitslose Rest der Gattung wird zum Gegenspieler, in Gestalt der Frau die ein Neger ist bzw. des Negers der eine Frau ist, Wahnsinn und Vernunft im vertauschten Kostüm eines Satyrspiels.525
Der Text kann in diesem Sinne auch als Dekonstruktion des ‚klassischen Erbes‘, insbesondere der ‚Weimarer Klassik‘, interpretiert werden – eine Lesart, die vor allem J.H. Reid (1994) vertritt: Beyond this, however, each of the first three ‚scenes‘ is based on a Greek myth, the first that of the reunion of Orest and Elektra, as the former comes to avenge the murder of their father, the second the rescue of Iphigenie by her brother Orest and his friend Pylades from the hands of Thoas of Tauris, the third the story of Antigone seeking a place to bury her brother; the title of the fourth, ‚Antikensaal‘, is almost certainly an allusion to Schiller’s ‚Der Antikensaal zu Mannheim‘ […].526 523 524 525 526
Ebd., S. 142. Ebd., S. 142f. Ebd., S. 144. J. H. Reid: Elektra, Iphigenie, Antigone: Volker Braun’s Women and the Wende. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 189-199, S. 192f.; vgl. dazu auch Bernd Leistner: Laudatio auf Volker Braun. Schiller-Gedächtnispreis 1992. In: ndl 41 (1993) 1; S. 154-159, S. 159. Der Antikensaal zu Mannheim ist der Untertitel von Schillers Brief eines reisenden Dänen (1785); vgl. Friedrich Schiller: Brief eines reisenden Dänen. (Der Antikensaal zu Mannheim.) In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Zwanzigster Band. Philosophische Schriften. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 101-106.
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Die zahlreichen intertextuellen Bezüge dürften bereits im Rahmen der Darstellung des Gangs der Handlung deutlich geworden sein. Einige Beispiele sind jedoch gesondert zu erwähnen: So wird gleich zu Beginn der Anfang des Shakespeareschen Hamlet aufgegriffen: „Halt. Wer da. […] / Wie ist die Losung.“527 Antwort auf diese Frage gibt gewissermaßen der Autor Braun selbst, er bekennt: Die Losung hab ich verlernt. DAS VOLK / Ich bin Volker528
So unterscheidet er zwischen individueller Autorinstanz und kollektiver Gemeinschaft. Immer wieder wird das Verhältnis zu Goethes Iphigenie angesprochen, wie sich auch an der letzten Zeile der folgenden Passage zeigt: JETZT HEISST ES HANDELN. HILF, OREST. GESCHAFFEN ZUM HANDELN IST DER MENSCH. / ZUMAL DER GRIECHE EIN GRIECHE BIN ICH VOM GESCHLECHT DER HÄNDLER. / DU SPRICHST EIN GROSSES WORT GELASSEN AUS. / UND DU VERNIMMSTS. / DEIN WORT IN GOETHES OHR.529
Auf einige weitere Anspielungen sei lediglich hingewiesen: In dem Satz „DEM ABENDBROT ENTGEGEN. SEIT AN SEIT.“530 werden die beiden Kampflieder Dem Morgenrot entgegen und Wann wir schreiten Seit an Seit miteinander verbunden und teilweise in den Bereich des Banalen verschoben. Der Titel eines weiteres Kampfliedes, diesmal aus der Zeit des Spanienkriegs, findet sich in der ersten Zeile des folgenden Zitats: Und Spaniens Himmel breitet seine Sterne UND DER MORGEN LEUCHTET IN DER FERNE. Ich seh / Ich seh nichts. Was für Schlackehimmel531
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Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. In: V.B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Wie es gekommen ist. Rot ist Marlboro. Böhmen am Meer. Iphigenie in Freiheit. Schriften. Register. Halle (S.) 1993; S. 125-146, S. 127. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 134; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 127; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 131; Hervorhebung im Original. Hier wird im Übrigen das Lied Die Thälmannkolonne aufgegriffen.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
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Der Satz „Und so wie es bleibt ist es.“532 geht auf Brecht zurück, in dessen Gedicht Lob der Dialektik (1931) es heißt: „Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es.“533 Und weiter: „Das Sichere ist nicht sicher. / So, wie es ist, bleibt es nicht.“ Danach folgt ein Aufruf gegen die Gewalt der Herrschenden: „Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich! / Wer verloren ist, kämpfe!“534 Im Hinblick auf den Aspekt der Revolution verweist Anthonya Visser (1993) auf wesentliche Parallelen zu Georg Büchner: Wie wichtig das Moment und der Charakter des Revolutionären für Brauns Text ist, zeigt sich u.a. daran, daß die beiden folgenden zitierten Stellen sich aus längeren Abschnitten aus Georg Büchners Dantons Tod zusammensetzen. Es geht um Aussagen Dantons, in denen er sich distanziert von der Revolution als ‚Tötungsmaschine‘, die in der Bipolarität von töten und getötet werden unaufhaltsam fortschreitet. Heißt es bei Braun als Alternative zum Hinreichen des ‚Hackbeil[s]‘: ‚Ich steige aus, mein Junge. Ohne mich‘ […], so greift bereits ‚mein Junge‘ eine von Danton gegenüber Camille Desmoulins oft gebrauchte Redewendung auf. Die beschriebene Langeweile des Tötens stellt sich aus Äußerungen des Überdrusses hinsichtlich der Französischen Revolution und Dantons eigener Rolle darin zusammen […].535
Wie J.H. Reid (1994) nachweist, existieren außerdem zahlreiche Parallelen zwischen Brauns Iphigenie und Stücken von Heiner Müller.536 Sinn
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Ebd., S. 130. Bertolt Brecht: Lob der Dialektik. In: B.B.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, KlausDetlef Müller. Band 11. Gedichte 1. Sammlungen 1918-1938. Bearbeitet von Jan Knopf und Gabriele Knopf. Berlin (DDR) / Weimar / Frankfurt a.M. 1988; S. 237f., S. 237. Ebd., S. 238. Anthonya Visser: „Und so wie es bleibt ist es“. Volker Brauns Iphigenie in Freiheit: eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses? In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 131-154, S. 139; Hervorhebung im Original. Visser bezieht sich auf folgende Textstellen: „Ich steige aus, mein Junge. Ohne mich. Das ist sehr langweilig, immer in der nämlichen Rüstung herumzulaufen und die nämlichen Waffen zu ziehn. So ein altmodisches Instrument zu sein, auf dem ein Schlag immer nur einen Schrei ergibt. Ich verstehe das Wort Strafe nicht. Ich sehe keinen Hund, der uns länger zum Töten zwänge.“ (Ebd., S. 129) sowie „Und wenn es ginge – ich will lieber erschossen werden als schießen. Ich werde nicht, du wirst nicht, er wird nicht. Dann wollen wir leben, sagen die jungen Weiber. Nicht wahr, mein Junge? Das ist sehr lustig und daß Millionen es so machen können und daß die Welt obendrein aus zwei Hälften besteht, die beide das Nämliche machen können, so daß alles miteinander geschieht. Das ist sehr lustig.“ (Ebd.) Vgl. J. H. Reid: Elektra, Iphigenie, Antigone: Volker Braun’s Women and the Wende. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Uni-
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und Zweck der zahlreichen Anspielungen und Zitate mag nicht nur die Einbettung des Dramas in historische Zusammenhänge sein oder in der teilweise erfolgenden Dekonstruktion des ‚klassischen Erbes‘ liegen. Braun zeigt vielmehr, insbesondere durch das Spiel mit dem Brecht-Zitat, dass das Neue letztendlich doch das Fortdauern des Alten bewirkt. Einmal abgesehen von Rolf Michaelis’ differenzierter Rezension in der Zeit537 und einer positiven Rezension im Neuen Deutschland538 anlässlich der Cottbuser Inszenierung, lehnte vor allem die westdeutsche Kritik das Stück weit gehend ab.539 Diese Ablehnung bezog sich nicht nur auf inhaltliche Fragen, sondern auch auf solche nach der Spielbarkeit des Stückes. So erklärt J.H. Reid: At first glance, […] Iphigenie in Freiheit […] looks an unlikely candidate for the theatre. […] A mere twenty-six pages long, it has four discrete sections, the second of which gives the whole its title, and is partly in verse, partly in prose. The final section is purely descriptive and the text is nowhere explicitly divided into individual roles.540
Brauns Drama entzieht sich also traditionellen Gattungsmustern – auch auf der Ebene der Form. Diese wurde zweifellos bewusst gewählt: Braun macht deutlich, dass althergebrachte Gewissheiten nun keinen Geltungsanspruch mehr besitzen.
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fication Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31), S. 189-199. Rolf Michaelis: Dein Wort in Goethes Ohr! Das letzte Werk der DDR-Literatur: „Iphigenie in Freiheit“ – Volker Brauns Requiem auf den utopischen Sozialismus, ein höhnisches Pamphlet auf das vereinte Deutschland. In: Die Zeit v. 10.4.1992. Klaus Pfützner: Ermunterung zu widerständigem Denken. Beifall in Cottbus, Befremden in Frankfurt: Volker Brauns neues Stück „Iphigenie in Freiheit“ bietet Stoff zur Diskussion. In: ND v. 23.12.1992. Vgl. [P.I.]: Stuß. Brauns „Iphigenie“ uraufgeführt. In: FR v. 19.12.1992; Ulrich Bumann: Volker Brauns Iphigenie in der Konsumschlacht. In: Die Welt v. 19.12.1992; Siegfried Diehl: Volk und Volker. Brauns „Iphigenie in Freiheit“ in Frankfurt uraufgeführt. In: FAZ v. 19.12.1992; Eckhard Franke: Alles wird zerredet, alles wird zerschwatzt. Frankfurter Uraufführungen: Goetz und Braun. In: Saarbrücker Zeitung v. 23.12.1992; [V.A.]: Mißlungenes Pamphlet. Volker Brauns „Iphigenie in Freiheit“. In: SZ v. 29.12.1992. J. H. Reid: Elektra, Iphigenie, Antigone: Volker Braun’s Women and the Wende. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 189-199, S. 189; Hervorhebung im Original.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
6.4.2.2
659
Christa Wolf: Medea. Stimmen (1996)
Auch Christa Wolf bezieht sich auf eine aus der antiken Mythologie stammende Figur. Nachdem verhältnismäßig lange kein größerer fiktionaler Text von ihr herausgekommen war – sicher auch eine der Folgen des ‚deutschdeutschen Literaturstreits‘ – erschien 1996 Medea. Stimmen.541 Darin setzt sie sich mit der aus Kolchis stammenden, vor allem als Kindsmöderin bekannten Frauenfigur auseinander und reiht sich in die lange Reihe der Bearbeiterinnen und Bearbeiter dieses Stoffes ein: Neben den Klassikern von Euripides (431 v. Chr.), Ovid (verloren) und Seneca (Entstehungszeit unbekannt) gibt es unter anderem Bearbeitungen von Pierre Corneille (1635)542 im 17. Jahrhundert, Friedrich Maximilian Klinger (1786 sowie 1790)543 im 18. Jahrhundert, Franz Grillparzer (1821)544 im 19. Jahrhundert sowie Hans Henny Jahnn (1925 / 26 bzw. in zweiter Fassung 1959)545, Jean Anouilh (1946)546, Heiner Müller (1981 / 82 sowie zwischen 1959 und 1969)547 und Ursula Haas (1987)548 im 20. Jahrhundert.549 Wolf knüpft 541 542
543
544
545
546 547
548
549
Christa Wolf: Medea. Stimmen. Roman. München 1996. [Pierre] Corneille: Médée. Tragédie. In: [P.]C.: Théâtre complet I. Texte préfacé et annoté par Pierre Lièvre. Édition complétée par Roger Caillois. Paris 1950 (Bibliothèque de la Pléiade 19), S. 555-615. Friedrich Maximilian von Klinger: Medea in Korinth. Ein Trauerspiel. In: F.M. Klingers sämmtliche Werke in zwölf Bänden. Zweiter Band. Stuttgart / Tübingen 1842 (Friedrich Maximilian von Klinger: Sämmtliche Werke. Zwölf Teile in vier Bänden. I. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart und Tübingen 1842. Hildesheim / New York 1976), S. 149-224 sowie Ders.: Medea auf dem Kaukasos. Ein Trauerspiel. In: Ebd., S. 225-290. Franz Grillparzer: Medea. Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: F.G.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrage der Bundeshauptstadt Wien hrsg. von August Sauer. Zweiter Band. Das goldene Vließ. Bearbeiter: Reinhold Backmann. Wien 1913, S. 163-301. Hans Henny Jahnn: Medea. Tragödie. In: H.H.J.: Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Uwe Schweikert. Dramen I. 1917-1929. Hrsg. von Ulrich Bitz. Hamburg 1988, S. 581-653 (Prosafassung) bzw. S. 763-850 (Versfassung). Jean Anouilh: Médée. In: J.A.: Nouvelles pièces noires. Jézabel. Antigone. Roméo et Jeannette. Médée. Paris 1963, S. 351-399. Heiner Müller: Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten. In: H.M.: Werke 5. Hrsg. von Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Redaktionelle Mitarbeit: Klaus Gehre, Barbara Schönig und Marit Gienke. Die Stücke 3. Frankfurt a.M. 2002, S. 71-84 sowie Medeaspiel. In: H.M.: Werke 1. Hrsg. von Frank Hörnigk. Die Gedichte. Frankfurt a.M. 1998, S. 177. Ursula Haas: Freispruch für Medea. Roman. Mit einem Nachwort von Gunna WendtRohrbach. Wiesbaden / München 1987. Zu weiteren Bearbeitungen vgl. MEDEA. Euripides. Seneca. Corneille. Cherubini. Grillparzer. Jahnn. Anouilh. Jeffers. Braun. Hrsg. von Joachim Schondorff. Mit einem Vorwort von Karl Kerényi. München / Wien 1963 (Theater der Jahrhunderte). Vgl. überblicksartig auch Art. ‚Medea‘. In: Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart 1992, S. 509-512; Horst Albert Glaser: Medea oder Frauenehre, Kindsmord und Emanzipation. Zur Geschichte eines Mythos. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien 2001 sowie Matthias Luserke-Jaqui: MEDEA. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen / Basel 2002.
660
6 Abschied und Ankunft
zugleich an eine eigene Tradition der Be- bzw. Verarbeitung antiker Stoffe an, zu nennen ist hier an erster Stelle Kassandra (1983).550 Medea. Stimmen ist ein multiperspektivisch angelegter Roman, wobei die Perspektiven in den sechs „Stimmen“ ausgedrückt werden. Die „Stimmen“ sind Medea selbst, Jason, der Kapitän der Argo, Kreons und Meropes Tochter Glauke, die in Jason verliebt ist, die Kolcherin Agameda, eine frühere Schülerin Medeas, die jedoch abtrünnig geworden ist, der königliche Sterndeuter Akamas und dessen Gehilfe Leukon. Bei Wolf erscheint Medea frei bzw. gereinigt von jeder Schuld – eine den bisherigen Verarbeitungen des Stoffes zuwiderlaufende Interpretation551, denn, so Georgina Paul (1997), „Wolfs Medea ist keine ihrer eigenen Leidenschaftlichkeit Ausgelieferte, steht vielmehr selber auf der Seite der Vernunft und der Einsicht.“552 Sie ist nicht Täterin, sondern Opfer, denn sie ist dem hellenistischen Stadtstaat im Wege. Zwar werden Medea die Morde von den Ideologen des Königshauses angelastet, doch in Wirklichkeit ist sie lediglich Zeugin: In den Katakomben unter dem Königspalast entdeckt sie die Leiche Iphinoes, der Tochter des Königs und rechtmäßigen Thronfolgerin. Hier setzt die Handlung des Romans ein: „Die Stadt ist auf eine Untat gegründet.“553 Nach der Entdeckung von Iphinoes Leiche stellt Medea fest: „Es lag mir fern, dieses Wissen unter die Leute zu bringen, ich wollte mir nur klarmachen, wo ich lebe.“554 Die Frage nach Schuld und gegebenenfalls von Sühne wird also eher indirekt erhoben. Am Ende des Romans wird Medea verbannt. Immer wieder wird der Gegensatz zwischen dem archaischen, zurückgebliebenen Kolchis und dem modernen Korinth betont – eine Konfrontation, die auch gelesen werden kann als Gegenüberstellung von Bundesrepublik und DDR. Die Protagonistin stammt aus Kolchis, aus dem ‚Osten‘ also; 550
551
552 553 554
Christa Wolf: Kassandra. Erzählung. Darmstadt / Neuwied 1983. Aufschlüsse über Wolfs Ansätze der Verarbeitung antiker Stoffe finden sich in Dies.: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt / Neuwied 1983; in der DDR gemeinsam mit der Erzählung erschienen unter dem Titel Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung. Berlin (DDR) / Weimar 1983; vgl. zu diesem Komplex auch Georgina Paul: Schwierigkeiten mit der Dialektik: Zu Christa Wolfs Medea. Stimmen. In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 227-240, insbes. S. 228ff.: „Bei Wolfs Neubearbeitung des Medeamaterials haben wires [sic] also, wie schon einmal in ihrem Kassandra-Projekt, mit einer Relektüre eines der abendländischen Kultur zugrundeliegenden klassischen Gründungstextes zu tun, deren Zweck es ist, diesen als ideologisches Konstrukt zu entlarven.“ (S. 229) Vgl. dazu Georgina Paul: Schwierigkeiten mit der Dialektik: Zu Christa Wolfs Medea. Stimmen. In: German Life and Letters 50 (1997) 2, S. 227-240. Dabei ist zu berücksichtigen, dass erst seit Euripides das Motiv der Kindsmörderin dominiert; im Ur-Mythos existiert es nicht. Ebd., S. 227. Christa Wolf: Medea. Stimmen. Roman. München 1996, S. 24. Ebd., S. 176.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
661
ihre Heimat wird geschildert als Ort, wo Frauen der Eindruck vermittelt wird, „als hinge von ihrer Meinung und ihrer Stimme etwas Wesentliches ab“ und erscheint insgesamt als Mischung aus ‚goldenem Zeitalter‘ und Kommunismus: Wir in Kolchis waren beseelt von unseren uralten Legenden, in denen unser Land von gerechten Königinnen und Königen regiert wurde, bewohnt von Menschen, die in Eintracht miteinander lebten und unter denen der Besitz so gleichmäßig verteilt war, daß keiner den anderen beneidete oder ihm nach seinem Gut oder gar nach dem Leben trachtete.555
Demgegenüber stehen im Westen die auf die Kolcher befremdlich wirkenden Korinther: „Und was uns am meisten befremdete: Man mißt den Wert eines Bürgers von Korinth nach der Menge des Goldes, die er besitzt, und berechnet nach ihr die Abgaben, die er dem Palast zu leisten hat.“556 Akamas klärt Medea darüber auf, dass dies eine durchaus sinnvolle Vorgehensweise sei, gerade im Hinblick auf „die Einteilung der Korinther in verschiedene Schichten, die ja ein Land erst regierbar mache.“557 Eine grobe Identifizierung der beiden Territorien mit Bundesrepublik und DDR ist also durchaus möglich. Auch die Erwähnung eines der ‚Wende‘ vergleichbaren einschneidenden Ereignisses spricht für diese Lesart: In meiner Umgebung hat ein anderes Erdbeben stattgefunden, eine Erschütterung, die nicht die Häuser zerstört hat, aber Menschen verschwinden ließ. Alle Menschen, die mit dieser unheilvollen Person in Verbindung standen, sind wie vom Erdboden verschluckt, unheimlich müßte ich das finden, geschähe es nicht zu meinem Besten, denn was sollte ich mit Oistros und Arethusa jetzt bereden außer das Schicksal dieser Frau, das sich, wie ich sehr genau spüre, auf eine Katastrophe zubewegt, die ich zugleich fürchte und herbeisehne.558
Die übrig gebliebene Medea könnte somit „als Sinnbild des verlorenen Sozialismus“559 gelten. Dabei wird allerdings die Dimension vernachlässigt, dass sie eine Mitschuld an den Fehlentwicklungen trifft, denn im Namen der Ideologie sind zahlreiche Verbrechen begangen worden. Ihr Handeln bezeichnet Medea in dem ihrem ersten Monolog vorangestellten SenecaZitat als „Liebeswerk“: 555 556 557 558 559
Ebd., S. 99. Ebd., S. 88. Ebd., S. 38. Ebd., S. 155. Georgina Paul: Schwierigkeiten mit der Dialektik: Zu Christa Wolfs Medea. Stimmen. In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 227-240, S. 239; Paul steht Deutungsversuchen dieser Art skeptisch gegenüber.
662
6 Abschied und Ankunft
Alles, was ich begangen habe bis jetzt, nenne ich Liebeswerk … Medea bin ich jetzt, gewachsen ist meine Natur durch Leiden.560
Im Roman ist ein deutlicher Pessimismus im Hinblick auf den Gang der (Welt-)Geschichte zu erkennen; im Text heißt es: „Was geschehen soll, ist lange ohne uns beschlossen.“561, an anderer Stelle: „Ich denke, da ist ein Räderwerk in Gang gesetzt, das niemand mehr aufhalten kann.“562 Dieser Pessimismus findet seine Erklärung vor allem in der Tatsache, dass sowohl Kolchis als auch Korinth auf „Untaten“ gegründet sind: den Morden an Absyrtos bzw. Iphinoe. Insofern ähneln sich die Systeme, und damit kann es so etwas wie ein ‚Entkommen‘ aus der Geschichte nicht geben. Georgina Paul versteht Wolfs Medea deshalb als „Idealprojektion“, als ein Wunschbild, ein moralisches Ideal, das jetzt nur noch in einen leeren Raum jenseits der Geschichte hineinprojiziert werden kann. Aus dieser Gestalt spricht die ganze Sehnsucht, die sich einmal auf eine historische Realität richtete […].563
Dem pessimistischen Geschichtsbild entsprechend ist das Ende gestaltet; einmal mehr wird die Frage nach dem Was bleibt erhoben: „Was bleibt mir. Sie verfluchen. […] Ich, Medea, verfluche euch. Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort.“564 Medea ist damit ganz auf sich gestellt; es bleibt ihr nichts, als ihre Überlegungen auf den Bereich des Utopischen zu richten. Angesichts der oben dargestellten möglichen Parallelen zu deutschdeutschen Verhältnissen bzw. Andeutungen einschneidender Ereignisse liegen die Bezüge zur ‚Wende‘ bzw. zur unmittelbaren Nachwendezeit auf der Hand. Zudem heißt es zu Beginn des Buches, noch bevor Medea als erste Stimme zu Wort kommt, die Protagonistin sei „die Gestalt mit dem magischen Namen, in der die Zeiten sich treffen […]. In der unsere Zeit uns trifft.“565 Bereits zuvor wird der Leser aufgefordert:
560 561 562 563 564 565
Christa Wolf: Medea. Stimmen. Roman. München 1996, S. 11. Ebd., S. 182. Ebd., S. 237. Georgina Paul: Schwierigkeiten mit der Dialektik: Zu Christa Wolfs Medea. Stimmen. In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 227-240, S. 238. Christa Wolf: Medea. Stimmen. München 1996, S. 236. Ebd., S. 10; im Original kursiv.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
663
Lassen wir uns zu den Alten hinab, holen sie uns ein? Gleichviel. Es genügt ein Händereichen. Leichthin wechseln sie zu uns über, fremde Gäste, uns gleich. Wir besitzen den Schlüssel, der alle Epochen aufschließt […].566
Der Bezug zur Gegenwart ist damit zwar nicht unmittelbar hergestellt, wird jedoch nahe gelegt. Eine auf ‚Wende‘ und Ost-West-Verhältnisse polarisierte Deutung des Romans mag gerade in unserem Zusammenhang sinnvoll erscheinen, doch Wolfs Text sollte keinesfalls auf diese Dimension reduziert werden. Einige Literaturkritiker erlagen allerdings einmal mehr dieser Versuchung und nahmen eine uneingeschränkte Identifikation der Autorin mit ihrer Protagonistin vor. Volker Hage (1996) tut dies zwar nicht unmittelbar, doch fragt er in seiner Besprechung des Textes: Sieht sich Christa Wolf selbst als Medea? Als Opfer von Verkennung und Ausgrenzung? Es gibt Passagen, die diesen Gedanken mehr als nahelegen […], dann aber ist die Autorin doch klug genug, der Gefahr einer solchen Identifizierung auszuweichen. Dennoch wird ihr Buch auch als Schlüsselroman gelesen werden. Wer verbirgt sich hinter Agameda? Vielleicht die Wolf-Konkurrentin Monika Maron? Oder Sarah Kirsch? Ist die Nebenfigur Presbon, der Ehrgeizling aus dem Osten, der in Korinth sein Talent anbietet und die Festspiele ausrichtet […], eher Heiner Müller oder Marcel Reich-Ranicki?567
Eins-zu-eins-Identifizierungen sind hier sicher nicht angebracht, auch wenn sie Raum für noch so reizvolle Gedankenspiele bieten mögen. Wesentlich an Wolfs Medea dürfte das Anschreiben gegen den antiken Mythos bzw. das Sich-Abarbeiten an diesem Mythos sein. In diesem Sinne mag sich Christa Wolf mit ihrer Bearbeitung des Stoffes auch gegen eine Geschichtsschreibung durch die ‚Sieger‘ wenden. Ihr Roman wäre dann nicht zuletzt ein Plädoyer für eine gründliche und differenzierte Wahrnehmung historischer Ereignisse. Im Falle von ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ fehlt diese Wahrnehmung bis heute weit gehend. 6.4.3
Muttermörder Brussig
Volker Brauns Drama und Christa Wolfs Roman stellen differenzierte Auseinandersetzungen mit wichtigen Gestalten der antiken Mythologie dar. Beide orientieren sich an den historischen Vorbildern bzw. deren Überlieferungen und zeichnen in genauer Kenntnis der bisher erfolgten 566 567
Ebd., S. 9; im Original kursiv. Volker Hage: Kein Mord, nirgends. Ein Angriff auf die Macht und die Männer: Christa Wolfs Schlüsselroman „Medea“. In: Der Spiegel 50 (1996) 9 v. 26.2.1996; S. 202-208, S. 208.
664
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Bearbeitungen grundlegend veränderte, wenn nicht gar neue Bilder bekannter Figuren. Eine andere Form der Auseinandersetzung mit einem historischen Vorbild hat Thomas Brussig gewählt. In dem bereits mehrfach erwähnten Roman Helden wie wir (1996) grenzt er sich radikal von Christa Wolf und deren Werken ab, die beinahe ausschließlich in negatives Licht gerückt werden.568 Klaus Uhltzscht, der ‚Held‘ und Ich-Erzähler des Romans, schlägt nach der Schule eine ähnliche berufliche Laufbahn ein wie sein Vater: Er geht zur Staatssicherheit. Die Darstellung dieser Tätigkeit ist teilweise eng an Christa Wolfs Erzählung Was bleibt angelehnt. Auch wenn Brussigs Erzähler Bezug auf einen Mann mit dem Decknamen „Harpune“569 nimmt, lässt er sich als einer der jungen Männer identifizieren, die, in einem Fahrzeug sitzend, das Haus von Wolfs Ich-Erzählerin observieren: Wir saßen stundenlang rum, schwiegen und machten Notizen darüber, was passierte. Meistens passierte nichts. Aber darum ging es nicht. Ich wußte, es war Teil meiner Probe, Langeweile zu ertragen. […] Es mußte doch einen Sinn haben, daß wir wochenlang vor diesem Haus saßen, eine Tätigkeit, nein Untätigkeit, bei der selbst buddhistische Mönche durchdrehen würden. […]570
Noch deutlicher ist das Beispiel eines Spiegels, der im Zuge eines von der Staatssicherheit vorgenommenen Wohnungseinbruchs zerbricht. In Wolfs Erzählung heißt es: […] Außerdem haben im Bad die Scherben des Wandspiegels im Waschbecken gelegen, ohne daß sich für diesen Tatbestand eine natürliche Erklärung hätte finden lassen. Wir mußten also davon ausgehen, daß die jungen Herren ihren Besuch in unserer Wohnung gar nicht verheimlichen wollten. […]571
Bei Brussig wird gewissermaßen die Erklärung für den zerbrochenen Spiegel und den Umgang der Stasi mit diesem Missgeschick geliefert, hier auch konkret auf eine Schriftstellerin bezogen: Eule [so der Spitzname von Uhltzschts Vorgesetztem; F.Th.G.] war bei einem seiner nächsten Einbrüche so flattrig (oder vielleicht hatte sich eine – begründete – feindselige Regung gegen den Spiegel geregt), daß ihm im Badezimmer der Fotoapparat
568
569 570 571
Ein weiteres Ziel seiner Angriffe, allerdings mit anderer Funktion, ist das mittlerweile Kultstatus genießende Aufklärungsbuch von Siegfried Schnabl: Mann und Frau intim. Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens. Rudolstadt 1969. Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996, S. 177; im Original kursiv. Ebd., S. 175; Hervorhebung im Original. Christa Wolf: Was bleibt. Berlin (DDR) / Weimar 1990, S. 20.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
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aus der Hand rutschte und einen Spiegel zertrümmerte. Zu allem Unglück in der Wohnung einer Schriftstellerin, und man mußte aus Erfahrung davon ausgehen, daß … Veröffentlichung … Skandal … Blamage … „Was meinßu, was wir da gemacht ham“, lallte Wunderlich. Ich sah ihn hilflos an. „Ir’nwas mussu ja machen, is schließlich ’ne Schiffellerin. Kann ‘fährlich wern für uns. Ich wer dir sa’n, was wir gemacht ham. – Erdbehm.“ Was? Was ist Erdbehm, und wie macht man das und wozu ist das gut? „Was ist Erdbehm?“ fragte ich. […] „Ein Erd-be-ben. Wirssu doch kenn’. Wo ’n Erbehm is, geht eh’m auch mal ein Spiegel ssu Bruch. Ham wir also beschlossen, daß wir ’n Erdbehm machen. Willsu wissen, wie man ein Erbehm macht? Hassu keine Idee? Paß auf, man setzt eine klissekleine Meldung in die Zeitung, daß gestern ein klissekleines Erbehm ein paar klissekleine Schäden angerichtet hat. Das issn Erbehm. Soll Madame doch hingehn un schrei’m, die Stasi hat mein Spiegel kaputtehaun, dann sagen wir, Moment, Madame, lesen wir denn keine Zeitung? Is Madame nich aufn Gedanken gekomm, daß ein Erdbehm ihrn Spiegel vonne Wand geholt hat? Tss, tss, tss, Madame sonst so schlau, is ja Schiffellerin! Aber daß beim Erdbehm Glasbruch gibt, darauf kommen wir nich, Madame?“572
Die beiden oben dargestellten intertextuellen Bezüge sind nicht markiert, Christa Wolf wird an keiner Stelle namentlich erwähnt. Das ändert sich im letzten Kapitel von Brussigs Roman, das zur Abrechnung mit der Autorin gerät. Bereits der Titel „Der geheilte Pimmel“573 stellt eine – geschmacklose – Anspielung auf Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel (1963) dar. Am 4. November 1989 gerät Uhltzscht dienstlich in die Protestdemonstration der Kulturschaffenden auf dem Berliner Alexanderplatz. Dort unterläuft ihm die nach eigenem Bekunden „folgenreichste Verwechslung des 20. Jahrhunderts“.574 Ohne die Sprecherin sicher zu erkennen, lauscht er Christa Wolfs bekannt gewordener Rede, die in vollem Wortlaut wiedergegeben wird.575 Bereits der erste Satz, den er ausführlich kommentiert, erregt sein Missfallen: „Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache.“ Das war nicht etwa meine Mutter, die mit Linguisten diskutierte – dieser Satz kam aus den Lautsprechern. Allein diese Stimme zu hören, diesen mahnend-gefaßten Tonfall, reichte mir, um bedient zu sein. Und überhaupt: Wie konnte man an so einem Tag über Sprache reden! Warum denn nicht gleich übers Wetter? Das wäre noch konsequent inkonsequent gewesen! Es sollte ums Ganze gehen, und nicht um Sprache!576
572 573 574 575 576
Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996, S. 160f.; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 277-323. Ebd., S. 283. Vgl. Ebd., S. 283-285. Ebd., S. 282; Hervorhebung im Original.
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Während der Rede gelingt es ihm, sich der Tribüne so weit zu nähern, dass er die Rednerin zu erkennen glaubt: Nahe genug, um zu erkennen, wer da sprach: Jutta Müller, die Eislauftrainerin, Idol meiner Mutter und als „Frau, die noch jeden hochgebracht hat“, die Alterspräsidentin meiner sexuellen Phantasien. Was soll das werden, wenn so eine als Rednerin engagiert wird! Wer spricht als nächstes? Das Sandmännchen?577
Der Identifizierung der Rednerin folgt ein Angriff auf den gesamten Ablauf der „Revolution“, denn, so Uhltzscht: Jede Revolution hat die Reden, die sie verdient, und ich habe Ihnen diese Rede in voller Länge präsentiert, weil sie noch heute als Kristallisationspunkt des 89er Herbstes gehandelt wird – was mir, ob Sie’s glauben oder nicht, sofort klar war. Eine echte Eiskunstlauftrainerinnen-Rede, finden Sie nicht? Diese angestrengte Eleganz, dieses Schwelgen in Passagen, die garantiert eine hohe B-Note abwerfen – und gleichzeitig diese kurzatmige politische Programmatik mit einigen verstolperten, verpatzten oder ausgelassenen Sprüngen, die vom betörten Laienpublikum glatt übersehen werden. Fragen Sie mich nicht, wofür ich war, aber als ich die Ansprache Jutta Müllers hörte, wußte ich, wogegen ich war. Ich war gegen diesen Krampf mit dem Namen Wenn-aus-Forderungen-Rechte-also-Pflichten-werden. Vielleicht kann man von einer Eislauftrainerin auch nur erwarten, daß sie wie eine Eislauftrainerin spricht, aber was hat das dann noch mit befreiter Sprache zu tun?578
Brussig lässt seinen Erzähler systematisch die gesamte Wolf-Rede demontieren und entblödet sich auch nicht, dabei beleidigend zu werden. Seine Angriffe enden mit dem Satz: „Der Sohn meiner Mutter ist pervers geworden – was wird aus dem Land, wenn die Eislauftrainerinnen- und Hygieneinspekteusen-Revolution siegt!“579 Uhltzscht stolpert schließlich über einen Besenstiel, an dem das Pappschild eines Demonstranten befestigt ist, und verletzt sich dabei so stark an Genitalien und Kopf, dass er in der Unfallklinik operiert werden muss. Als er sich wieder frei bewegen kann, sucht er die Frauen-Station des Krankenhauses auf und leiht sich dort von einer Patientin eine Ausgabe von Christa Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel. Auch dieser Text wird mehr oder weniger systematisch demontiert, wenn nicht gar destruiert. Exemplarisch zitiert sei die Auseinandersetzung mit dem Beginn der Erzählung: Doch den letzten Satz des ersten Absatzes mußte ich dreimal lesen. „Aber die Erde trug sie noch und würde sie tragen, solange es sie gab.“ Wasn das? Wird die Spiel577 578 579
Ebd., S. 285; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 285f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 288.
6.4 Die ‚Wende‘ – intertextuell
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zeugkiste wieder zugemacht? Sollte das wirklich heißen: Liebe Leute, so häßlich das Leben in unseren Städten auch sein mag, wir wollen doch nicht vergessen, daß uns die Erde trägt, und das ist doch immerhin etwas. Abgesehen davon, daß ich nicht kapiert habe, ob das „sie“, das die Erde trug und noch tragen würde, solange es „sie“ gab, die Menschen oder die Stadt oder beides nacheinander waren – vor allem verstand ich nicht: Wozu der Aufwand im ersten Absatz? Mobilisierte sie ihr ganzes Können nur, um mit einem Satz alles wieder zurückzunehmen? Oder war gerade das ihr Können – jede Behauptung wieder zurückzunehmen? Das war selbst für einen Leser wie mich, immerhin einem Inhaber von fünf Bibliotheksausweisen, gewöhnungsbedürftig.580
Mit Hilfe der Patientin, von der er sich das Buch geliehen hat, wird schließlich auch der Irrtum aufgeklärt, welcher Uhltzscht auf dem Alexanderplatz unterlaufen war. Diese Tatsache gibt ihm Anlass zu neuen Angriffen: Mir wurde schwarz vor Augen. Es war ein Irrtum! Es war alles ein Irrtum! Ich hatte Jutta mit Christa verwechselt! Die Rednerin war Christa Wolf, die Schriftstellerin! Es stand auf der Titelseite! […] Daß eine Revolutionsrede von einer Eislauftrainerin gehalten wird, kann ja in der Aufregung mal passieren – aber daß eine Schriftstellerin die Revolutionsrede einer Eislauftrainerin hält – nee, also diese Dimension der Harmlosigkeit war nicht harmlos!581
Am Ende behauptet er: Wenn Christa Wolf, die Meisterin des Worts oder welche Aura auch immer sie umflorte, am 4. November trotz befreiter Sprache darauf verzichtete, zur Maueröffnung anzustacheln, dann wird sie schon gewußt haben, warum. Und ich habe sie trotzdem aufgemacht! Eigenmächtig! Ohne mich mit ihr abzustimmen! Ich hatte mir versehentlich eine politische Gegnerin von beängstigendem Format aufgehalst, denn was ist eine Frau, deren Lebensaufgabe darin besteht, anderen beizubringen, wie das nun genau ist mit dem Schliddern und Hüpfen auf dem Eis, verglichen mit einem intellektuellen Schwergewicht deutscher Gegenwartsliteratur!582
Hier mag Brussigs Motivation für seine kritische Auseinandersetzung mit Christa Wolf liegen. Im oben zitierten Textauszug erscheint sie ihm als „Gegnerin von beängstigendem Format“ bzw. intellektuelles „Schwergewicht deutscher Gegenwartsliteratur“ und dominiert damit nicht nur den Literaturbetrieb. Als junger Autor wehrt Brussig sich gegen diese Form der Dominanz, zumal Wolf seiner Auffassung nach ihre Kritik am System an keiner Stelle deutlich genug äußert. So stellt Brussigs Protagonist die Frage: „Wie kann man eine Schriftstellerin, die sich politisch fast nie verbindlich 580 581 582
Ebd., S. 297; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 304. Ebd., S. 305f.; Hervorhebungen im Original.
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äußerte, politisch gerecht interpretieren?“583 Brussig liest Wolfs Texte bewusst falsch – ein Verhalten, das sich als Fehllesen im Sinne Harold Blooms584 erklären lässt. Dieses Vorgehen zeigt sich auch an der folgenden Zusammenfassung von Was bleibt als Erzählung von Christa Wolf, in der eine Schriftstellerin von der Stasi durch wochenlanges Anstarren so weit getrieben wird, daß sie schließlich binnen einer halben Stunde einen Pralinenkasten zur Gänze auffrißt. Vielleicht ging es auch um etwas anderes, denn ich habe diese Erzählung zunächst nur gelesen, um endlich eine Antwort auf meine Frage zu finden, nämlich ob mein Umschmeißen der Mauer durch Christa Wolf gedeckt war.585
Die Mauer wird schließlich geöffnet, weil Uhltzscht sein nach der Operation überdurchschnittlich gewachsenes erigiertes Glied zur Schau stellt und damit die Grenzposten beeindruckt. Auch dieser Vorgang lässt sich als Emanzipation nicht zuletzt von der mittleren Schriftsteller-Generation der DDR interpretieren: Reden wie Wolfs Ansprache auf dem Alexanderplatz hätten demnach nicht zum Fall der Mauer geführt; gefragt waren vielmehr völlig neue Formen des Handelns außerhalb jeglicher Norm. Das exhibitionistische Verhalten des Protagonisten mag exemplarisch hierfür stehen. Brussig ist mit seiner Haltung damit zwar nicht zum Vatermörder geworden – wie Monika Maron in Stille Zeile sechs –, wohl aber zum Muttermörder.
6.5 Von Utopia nach Amerika Auffällig oft werden nach der ‚Wende‘ Auslandsreisen, insbesondere in die USA, zum Gegenstand literarischer Texte erhoben. Reisen in den Westen der Bundesrepublik bilden dagegen – zumindest als zentrales Thema – die Ausnahme; als Beispiel hierfür sei Bernd Wagners umfangreicher Roman Paradies (1997)586 genannt. Einer der frühesten Beiträge in diesem Bereich ist Hans-Eckardt Wenzels unter dem Titel Malinche (1991)587 veröffentlichte Erzählsammlung. Das Buch enthält vier in den Jahren 1988 bis 1991 entstandene Erzählungen,
583 584
585 586 587
Ebd. Vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York 1973; Ders.: A Map of Misreading. New York 1975 [Deutsche Ausgabe: Eine Topographie des Fehllesens. Aus dem Englischen von Isabella Mayr. Frankfurt a.M. 1997 (Aesthetica)]. Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996, S. 309. Bernd Wagner: Paradies. Roman. Berlin 1997. Hans-Eckardt Wenzel: Malinche. Legenden von Liebe und Verrat. Halle (S.) 1991.
6.5 Von Utopia nach Amerika
669
die in Südamerika spielen. Gegenstand ist nicht primär die ‚Wende‘ – aus der Distanz der exotischen Fremde gelingt aber ein völlig anderer, meist gelassenerer Blick auf Deutschland bzw. die Deutschen588 und damit auch auf die Frage nach dem Platz des Einzelnen in einer sich nach dem Verlust gesellschaftlicher Utopien neu orientierenden Welt. – Helga Königsdorfs erster fiktionaler Text nach der ‚Wende‘, die längere Erzählung Gleich neben Afrika (1992)589, entstanden unter dem Arbeitstitel Auf der Suche nach dem eigenen Schatten oder Gleich neben Afrika590, spielt – wie bereits der Titel nahe legt – teilweise in Afrika. Und in Olaf Müllers (*1962) fiktivem Tagebuch-Roman Tintenpalast (2000)591 begibt sich Henry Magdaleni direkt nach der ‚Wende‘ von Ost-Berlin über Paris nach Namibia, ins ehemalige Deutsch-Süwestafrika also. Christoph Dieckmann brachte unter dem Titel Oh! Great! Wonderful! (1992)592 einen Band mit Reportagen über Amerika heraus, nach einer Amerikareise veröffentlichte Adolf Endler 1996 seine Warnung vor Utah593, Ralph Grüneberger schrieb einen – bisher weit gehend unveröffentlichten – Gedichtszyklus The Mystery is: You be and you be not.594 Häufig wird der späte Zeitpunkt erster Erfahrungen mit den USA dokumentiert, beispielsweise in Signale aus der Bleecker Street (1999), einer Sammlung von in New York entstandenen deutschen Texten, die auch Beiträge von ostdeutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern enthält.595 In Brigitte Burmeisters Roman Pollok und die Attentäterin (1999) ist von einer Reise nach Amerika die Rede596, aber auch von einer geplanten Reise nach Gomera.597 Angela Krauß lässt ihre Erzählung Milliarden neuer Sterne (1999)598 in New York spielen, und Hinnerk Einhorn brachte 2000 ebenfalls 588 589 590 591 592 593 594
595 596
597 598
Vgl. dazu v.a. Hans-Eckardt Wenzel: Magisches Jahr. In: Ebd., S. 5-58. Helga Königsdorf: Gleich neben Afrika. Erzählung. Berlin 1992. Vgl. Dunja Welke: Deutsche Einheit: „Aus“ für die DDR-Literatur? Zur Situation der Schriftsteller nach der Wende. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 240-251, S. 248. Olaf Müller: Tintenpalast. Roman. Berlin 2000. Christoph Dieckmann: Oh! Great! Wonderful! Anfänger in Amerika. Berlin 1992. Adolf Endler: Warnung vor Utah. Momente einer USA-Reise. Leipzig 1996. Zwei Gedichte aus diesem Zyklus – The Sheep Meadow sowie Erste Nacht in Virginia sind abgedruckt in Landschaft mit Leuchtspuren. Neue Texte aus Sachsen. Hrsg. vom Sächsischen Literaturrat e.V. Leipzig 1999, S. 50f. Signale aus der Bleecker Street. Deutsche Texte aus New York. Hrsg. von Bernd Hüppauf und Rolf M. Bäumer. Göttingen 1999 (Ottendorfer Series, Neue Folge, Band 1). Vgl. Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 164ff. Das ensprechende Kapitel wurde vorabgedruckt unter dem Titel „Indianerschmuck“ in Signale aus der Bleecker Street. Deutsche Texte aus New York. Hrsg. von Bernd Hüppauf und Rolf M. Bäumer. Göttingen 1999 (Ottendorfer Series, Neue Folge, Band 1), S. 63-77. Der Roman trug damals noch den Arbeitstitel „Roswita Sander“ (vgl. Ebd., S. 175). Vgl. Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 238. Angela Krauß: Milliarden neuer Sterne. Frankfurt a.M. 1999.
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6 Abschied und Ankunft
in den USA handelnde Texte heraus: Ride with the wind. Ansichtskarten aus Amerika.599 Auch im Bereich der Satire spielt Amerika immer wieder eine Rolle, etwa in Wolfgang Sabaths (*1937) nach einer vierwöchigen USA-Reise mit seinen Söhnen entstandenem Bändchen Als Ossi in Amerika (1995).600 Der besondere Hang zum Fremden bzw. Exotischen ist trotz der auffälligen Häufung von Texten unmittelbar nach der ‚Wende‘ in die Tradition der Reiseliteratur ab dem 18. Jahrhundert einzuordnen: Deutschland wird gewissermaßen ‚von außen‘ betrachtet; auch in Texten, die an sich das Fremde beschreiben, stehen häufig Deutschland und die Deutschen im Mittelpunkt.601 Aus der geografischen Distanz mag der Blick auf die deutsch-deutschen Befindlichkeiten leichter fallen, kritische Reflexionen werden weniger von Ereignissen der Tagespolitik bestimmt. Der innere Abstand dürfte damit wachsen und die meist vorhandene Aufgeregtheit auf ein normales Maß reduziert werden. Andreas Lehmann (*1964) versucht im Vorwort zu seinem ProtokollBand Go West! Ostdeutsche in Amerika (1998), eine Erklärung für das hohe Interesse vieler Ostdeutscher an den USA zu geben: Amerika produzierte nachhaltige Bilder, auch in den ostdeutschen Köpfen. Die Bilder mögen abgegriffen sein, aber sie sind da: Straßenschluchten, Weite, Times Square, Freiheitsstatue, Highways, dicke Autos, Golden Gate Bridge, Grand Canyon. Amerika schafft moderne Mythen. Daß uns die nicht loslassen, hat nicht nur etwas mit der Wucht der den Rest der Welt überkommenden amerikanischen Pop-Kulturindustrie zu tun. Sondern damit, daß es in Amerika eine Atmosphäre gibt, die das zuläßt und die so was schafft – und danach sehnen wir uns wahrscheinlich auch manchmal.602
Die Inhalte der vierzehn in Lehmanns Buch abgedruckten, auf zwischen 1995 und 1998 geführten Gesprächen basierenden Porträts bestätigen jedenfalls die Sehnsucht nach solchen ‚modernen Mythen‘ – die in dieser Form in der DDR zweifellos gerade nicht entstehen konnten. Obwohl nach der ‚Wende‘ die Entdeckung der ‚Fremde‘ durch die Ostdeutschen verstärkt zum Gegenstand literarischer Texte wurde, ist sie doch 599 600
601 602
Hinnerk Einhorn: Ride with the wind. Ansichtskarten aus Amerika. In: H.E.: Voyage au Paradis. Texte einer deutschen Wende. [Blieskastel] 2000, S. 73-92. Wolfgang Sabath: Als Ossi in Amerika. Satirische Reise zu unseren neuen Freunden. Berlin 1995 (Bunte Reihe). Der Ich-Erzähler entdeckt auf seinen Reisen übrigens erstaunliche Parallelen zwischen der DDR und den USA. Vgl. in diesem Zusammenhang die Antholgie Fluchten vor dem Vaterland. Deutsche Geschichten. Hrsg. von Bruno Preisendörfer. Berlin 1999. Andreas Lehmann: Amerika, du hast es besser? In: Go West! Ostdeutsche in Amerika. Porträts von Andreas Lehmann. Berlin 1998; S. 7-11, S. 9.
6.5 Von Utopia nach Amerika
671
kein genuines ‚Wende‘-Thema: Einen ‚Vorläufer‘ zu diesen Büchern stellt Gabriele Eckarts Band Der gute fremde Blick. Eine (Ost)deutsche entdeckt Amerika (1992) dar, dessen 1954 in Falkenstein / Vogtland geborene Autorin bereits 1987 in die USA ausgewandert war: Nach der Veröffentlichung ihres Buches So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR (1984)603 im Westen, sah sie sich einem durch den Staatssicherheitsdienst verübten Psychoterror ausgesetzt, dem sie nicht standhielt. Der gute fremde Blick beschreibt unter anderem die Anfänge von Eckarts Leben in den USA. Im ersten Kapitel (Texas, 1988) stellt sie fest: Wir DDR-Bürger sind Windflüchter, erkannte ich einst auf der Insel Hiddensee, angesichts der sturmgebeugten Kiefern: Das Andenken gegen den Widerstand macht unsere Identität aus; in einer Gesellschaft normal gewachsener Leute können wir nicht bestehen. Nun bin ich, Windflüchter, in Amerika. Nach einem Zwischenspiel von drei Monaten in Westdeutschland, wo mir der Wind diesmal nur aus anderer Richtung zu pfeifen schien: Vom Terrorismus des Staates war ich in jenen des Marktes gekommen und fürchtete mich wegen meines dort wahrlich verkehrten Wuchses. Und in den USA? Hier ist mir wohl, merkwürdigerweise: weiß mich doch mein zeitungsbelesener Kopf im ärgsten Kapitalismus der Welt! NIEMAND jedoch tritt mir Neuankömmling aus Futterneid gegen das Schienbein. Und die Menschen scheinen mir von der Jagd nach dem Geld nicht verhärtet zu sein.604
Eckarts Wahrnehmungen und Erfahrungen ähneln denen vieler Bürger aus der DDR, die erst nach der ‚Wende‘ in die USA kamen. Wie auch immer die Autorinnen und Autoren dem ‚Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘ politisch gegenüberstehen, seiner Faszination, insbesondere der räumlichen Weite, können sie sich kaum entziehen.
603 604
So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR. Leben im Havelländischen Obstanbaugebiet. Von Gabriele Eckart. Köln 1984. Gabriele Eckart: Der gute fremde Blick. Eine (Ost)deutsche entdeckt Amerika. Köln 1992, S. 11; Hervorhebung im Original.
7
Schlussbemerkungen
Auch nach mehr als zehn Jahren sind die ‚Wende‘ und die deutsche ‚Einheit‘ allgegenwärtige Themen – nicht nur in der Literatur.1 Das Gros der Texte stammt dabei von Autorinnen und Autoren aus den ‚neuen‘ Bundesländern; vergleichsweise wenige Beiträge kommen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus den ‚alten‘ Ländern. Eine Ausnahme stellt hier die Gattung Drama dar, tendenziell auch der Bereich der Essayistik. In diesem Sinne ist Andreas Isenschmidt (1993) Recht zu geben, der betont: „Im Westen ist die Wende kein literarisches Datum, jedenfalls keines, das an die tiefliegenden Schichten rührt, aus denen Literatur hervorgeht.“2 Das verwundert nicht weiter, denn für die meisten Westdeutschen hat sich der Alltag mit der Vereinigung kaum verändert, und nur selten werden Brüche, wie sie sich in ostdeutschen Biografien finden, auf westdeutscher Seite zum Thema erhoben geschweige denn vermisst. Lediglich der IchErzähler in David Wagners kurzer Erzählung Ostdeutsche, Westdeutsche, meine Cousine und ich (2000) bedauert, wenn auch ironisch gebrochen, nicht das Ende der Bundesrepublik Deutschland erlebt zu haben: Vielleicht, dachte ich irgendwann, bin ich auch nur neidisch auf den Satz Mit meiner Pubertät war mein Land zu Ende, den ich einen ostdeutschen Bekannten einmal hatte sagen hören. Mein Westdeutschland, die feiste Bundesrepublik, ging viel leiser, ohne Knall und Fall und ohne emblematisches Datum, zu Ende. Ich 1
2
Zahlreiche Filme setzen sich ebenfalls mit ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ auseinander. Verwiesen sei hier lediglich auf Das deutsche Kettensägenmassaker (Christoph Schlingensief, 1990), Go, Trabi, go (Peter Timm, 1990), Cosimas Lexikon (Peter Kahane, 1991), Apfelbäume (Helma Sanders-Brahms, 1991), Alles Lüge (Heiko Schier, 1991), Stilles Land (Andreas Dresen, 1992), Der Brocken (Vadim Glowna, 1992), Wir können auch anders (Detlev Buck, 1992 / 93), Wer zweimal lügt (Bertram von Boxberg, 1993), Nikolaikirche (Frank Beyer, 1995), Amerika (Ronald Eichhorn, 1995), Sonnenallee (Leander Haußmann, 1999), Wege in die Nacht (Andreas Kleinert, 1999), Helden wie wir (Sebastian Peterson, 1999), Einfach raus (Peter Vogel, 1999), um nur einige wenige zu nennen. Jüngstes und zugleich erfolgreichstes Beispiel ist Good bye, Lenin! (Wolfgang Becker, 2002). Zum Film der ‚Wende‘ vgl. Anthony S. Coulson: New land and forgotten spaces: the portrayal of another Germany in post-unification film. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995, S. 213-230 sowie Mariam Lau: Filme. Eine Kolumne. Viele bleiche Mütter und eine Sonnenallee. In: Merkur 54 (2000) 1, S. 58-62 [v.a. zu Sonnenallee und Helden wie wir]. Andreas Isenschmidt: Literatur nach der „Wende“ – die Situation im Westen. In: ndl 41 (1993) 8; S. 172-178, S. 175; Hervorhebung im Original.
7 Schlussbemerkungen
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beneidete die andere Seite, die von drüben, für ihr auf einmal alles anders. Ich beneidete sie um den Verlust und den deutlichen Bruch, mit dem sie plötzlich alles loswurden; überall diese kindischen, komischen Parolen abschraubten und ihre alten weißhaarigen Oberhäuptlinge nach Südamerika verjagten. Mein Neid auf den Umsturz war wahrscheinlich nur eine politpubertäre Grille. Ich wünschte mir, in aufregenderen Zeiten zu leben, um später auch etwas erzählen zu können, ich sah mich im Erlebnisdefizit, ich rechnete die Zeitspannen zwischen Revolutionen und Revolutiönchen des 19. Jahrhunderts auf unsere Nachkriegszeit um: Waren auch wir nicht längst fällig? Ich dachte, das Leben sei aufregender, wenn sich rings um einen herum alles auflöst und kaputtgeht. Bis dahin war nicht viel passiert: eine westdeutsche Kindheit und Jugend, Wartezeit in Wohlstand. Als ich acht oder neun Jahre alt war, wechselte die Farbe der Snickers-Verpackung von rot nach braun. Und ein paar Jahre später hieß Raider auf einmal Twix. Andere umwälzende Veränderungen fielen mir auf Anhieb nicht ein. Ich fand das manchmal ein wenig ärgerlich.3
Martin Ahrends’ Essay Ihr verbrauchten Verbraucher! Von der diskreten Häßlichkeit der Westdeutschen (1991) zielt in eine ähnliche Richtung. Der Autor beschließt seinen Text appellativ: Ach, Ihr verbrauchten Verbraucher, was soll denn jetzt noch kommen? Drüben im Osten haben sie gewartet auf diesen Moment der Erlösung. Habt Ihr gewartet? Ihr habt nicht gewartet und wollt auch nicht innehalten – es soll weitergehen, zügig, ohne Unterbrechung. Und das soll schon alles gewesen sein? Der ganze Sinn des Nachkriegs in Deutschland? Keine Bilanz, kein Besinnen? Was soll denn nun folgen auf den Nachkrieg? Euer Weitermachen? Oder vielleicht doch etwas, das auf das östliche Warten folgt: ein Anfangen also?4
Ostdeutsche Autorinnen und Autoren waren ungleich stärker von den einschneidenden historischen Entwicklungen betroffen: Vor Ort war man schlicht gezwungen, sich mit der veränderten Situation auseinander zu setzen. Insofern können die Literatur aus der unmittelbaren Zeit der ‚Wende‘ und die literarischen Verarbeitungen von ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ größtenteils als Literatur des Abschiednehmens von der DDR und des Ankommens in der ‚neuen‘ Bundesrepublik gelesen werden. Diese Lesart schließt selbstverständlich auch Verweigerungen des Ankommens, missglückte Versuche dieses Prozesses und die Darstellung schmerzhafter Abschiede mit ein. Beispielsweise entstand das Buch Die letzten Tage der DDR 1990 in der Folge einer Aufforderung der Wochenzeitung das blatt: Bürgerinnen und 3
4
David Wagner: Ostdeutsche, Westdeutsche, meine Cousine und ich. In: Merkur 54 (2000) 2; S. 179-182, S. 182; Hervorhebungen im Original; vgl. wesentlich umfangreicher zu dieser Haltung auch Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Berlin 2000. Martin Ahrends: Ihr verbrauchten Verbraucher! Von der diskreten Häßlichkeit der Westdeutschen. Göttingen 1991 (Göttinger Sudelblätter), S. 30.
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Bürger der DDR sollten – anhand persönlicher Erlebnisse und Eindrücke – vom Ende ‚ihres‘ Staates berichten. Die damit verbundene Ambivalenz wird im Vorwort angesprochen: Verständlicherweise hat es nur jene zum Schreiben gedrängt, die sich mit dem Abschied von der DDR schwer getan haben. Wie es ja überhaupt zu den Besonderheiten des DDR-Endspiels gehörte, daß eben die Frauen und Männer Mühe hatten, sich von diesem Staatsgebilde zu verabschieden, die es vorher über Jahre hinweg energisch bekämpften. Nur wenige dieser kritischen Geister haben gewollt, was nach dem Herbst 1989 über die DDR hereinbrach, denn ihre kritische Sicht erstreckte sich auch auf die gesellschaftlichen Zustände in der Bundesrepublik Deutschland und sie wird sich weiterhin auf sie erstrecken.5
Insofern ist es verständlich, dass kritische Stimmen das Feld der ‚Wendeliteratur‘ dominieren: im Vordergrund stehen Schwierigkeiten bei der ‚Ankunft‘ in der Bundesrepublik. Ob man allerdings von einer – zweiten – ‚Ankunftsliteratur‘ sprechen sollte, sei dahingestellt, zumal dieser Begriff bereits besetzt ist und auch dem Prozess des Verabschiedens nur unzureichend Rechnung trägt. Ein Großteil der Texte erfüllt für die Autorinnen und Autoren selbsttherapeutische Funktionen. In dieser Tatsache dürfte auch das teilweise geringe literarische Niveau begründet liegen. Im Zusammenhang mit einer Bewertung der Texte bleibt aber stets zu fragen, ob eine ‚Bewältigungsliteratur‘ unter starkem Einbringen der Persönlichkeit ihrer Verfasserinnen und Verfasser tatsächlich so negativ zu beurteilen ist, wie es von Literaturwissenschaft und -kritik häufig getan wird. Zudem wurden viele Texte in kürzester Zeit verfasst und auf den Markt gebracht, um noch aktuell zu sein – ein Faktum, das kaum zu einer Steigerung der Qualität beigetragen haben dürfte. Dass auch die Werke namhafter Autoren vielfach nicht überzeugen, mag an dem häufig allzu dominanten politischen Anspruch liegen, der darin verfolgt wird. Eine ‚Wende‘ im Schreiben ist bis heute nicht zu erkennen. Gerhard Sauder (2000) zufolge „zeitigte [die literarische Produktivität] bei den meisten renommierten Schriftstellern einen kaum merklichen Übergang zu einer noch größeren Freiheit des Sprechens und Formulierens.“6 Im Hinblick auf ein Aussprechen, etwa diverser Missstände, mag dies richtig sein. Doch zumindest bei einigen Autorinnen und Autoren ist genau das Gegenteil der Fall: Sowohl Brigitte Burmeister und Kerstin Hensel als auch Monika Maron sind nach der ‚Wende‘ zu weniger progressiven Formen 5 6
Helfried Schreiter: Vorwort. In: Die letzten Tage der DDR. Bürger berichten vom Ende ihrer Republik. Berlin 1990; S. 7-9, S. 7; Text im Original kursiv. Gerhard Sauder: Erzählte ‚Wende‘: Formen und Tendenzen der ‚Wendeliteratur‘. In: Studia Niemcoznawcze XIX (2000); S. 291-305, S. 291.
7 Schlussbemerkungen
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des Schreibens zurückgekehrt. Eine sonderlich innovative Literatur ist die ‚Wendeliteratur‘ also nicht. Zudem waren etliche Autorinnen und Autoren von Schreibhemmungen betroffen, die aus nahe liegenden Gründen kaum in der Literatur erscheinen. In Helga Königsdorfs Erzählung Eine ungewöhnliche Expedition (1994)7 wird ein solches Problem immerhin angedeutet: Ein Dichter löscht immer wieder den gerade auf seinem Computerbildschirm entstandenen Text. Der Bereich der Publizistik dürfte den weitaus größten Teil der ‚Wendeliteratur‘ ausmachen; die Literatur hat denn auch – wie Andreas Isenschmidt (1993) feststellt – „einige Mühe, sich aus dem Schatten der Essayistik und Publizistik zu befreien.“8 Betrachtet man die publizistischen Beiträge in chronologischer Reihenfolge, so zeigt sich eine Entwicklung im Hinblick auf die Themen: Stehen um 1990 Äußerungen über das Ende der DDR und den formalen Vollzug der deutschen Einheit im Vordergrund, sind es Ende der neunziger Jahre in erster Linie Fragestellungen im Zusammenhang mit einer wie auch immer gearteten ‚Ost-Identität‘. Auffällig sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Gattungen: Während im Bereich von Essayistik und Epik nach wie vor in großer Zahl Texte veröffentlicht werden, zudem noch immer hartnäckig der ‚große Wenderoman‘ eingefordert wird, hat die literarische Verarbeitung im Bereich von Lyrik und Dramatik nachgelassen. Die Frage der Neubewertung der Literatur, die man bis 1990 mehr oder weniger differenziert als ‚DDR-Literatur‘ bezeichnet hatte, wird auch in den kommenden Jahren nicht ansatzweise geklärt werden. Es wäre außerdem zu erörtern, ob eine solche ‚Neubewertung‘ überhaupt zu wünschen ist. Die Probleme liegen bereits auf der Ebene der Begriffe: Wie ist die Literatur derjenigen Autoren zu bezeichnen, die man zuvor „DDR-Schriftsteller“ nannte? – Karl Mickel schlug hierfür den Begriff „ostelbische Literatur“ vor9, doch durchsetzen wird sich dieser Vorschlag kaum, zumal er neue Schwierigkeiten aufwirft. Nachdem zahlreiche Texte über die ‚Wende‘-Ereignisse selbst und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten erschienen, spielt in den letzten Jahren verstärkt das Sich-Erinnern an die DDR, die Arbeit gegen das Vergessen eine Rolle.10 Die Schwerpunkte reichen dabei von eher 7 8 9
10
Helga Königsdorf: Eine ungewöhnliche Expedition. Berlin 1994. Andreas Isenschmidt: Literatur nach der „Wende“ – die Situation im Westen. In: ndl 41 (1993) 8; S. 172-178, S. 173. Vgl. Frank Hörnigk: Die Literatur bleibt zuständig: Ein Versuch über das Verhältnis von Literatur, Utopie und Politik in der DDR – am Ende der DDR. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 99-105, S. 103. Vgl. dazu auch Wilhelm Solms: Nachwort. In: Begrenzt glücklich. Kindheit in der DDR. Hrsg. von W.S. Marburg 1992, S. 165-173. Dieser Prozess bezieht sich auch auf in der DDR geschriebene Texte; vgl. etwa die gesamte Reihe „Die DDR-Bibliothek“ bei Faber & Faber, Leipzig.
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engen Fixierungen wie ‚Kindheit‘ und Jugend11 bis zu sehr weit gefassten wie ‚DDR‘ auf allgemeiner Ebene. Auch die Handlung vieler fiktionaler Texte ist immer häufiger in der DDR vor dem Mauerfall angesiedelt. Im Zentrum stehen dabei die Darstellung des Alltags in der DDR und die zumindest unterschwellig präsente deutsche Teilung. Dabei ist die Perspektive der Figuren nicht unbedingt immer die der Nachwendezeit: So umfasst Martin Ahrends’ (*1951) Roman Der märkische Radfahrer (1992)12 die zwanzig Jahre zwischen 1961 und 1981, und Christoph D. Brummes (*1962) Nichts als das (1994)13 handelt von der Kindheit und Jugend eines Jungen im Harzdorf Elend. Der Ort ist nur mit einem Passierschein zu betreten, da er an der Grenze zur Bundesrepublik liegt. In der Regel ist die Nachwende-Perspektive der Autoren jedoch erkennbar, denn meist geht es um die DDR-Zeit als abgeschlossene Periode. Romane und Erzählungen über die DDR erscheinen ab Mitte der neunziger Jahre, wobei seit 2000 eine wahre Flut an Neuerscheinungen dieses Genres auf den Markt drängt. Hervorzuheben sind vor allem: Katja Lange-Müller: Verfrühte Tierliebe (1995)14, Stephan Krawczyk: Das irdische Kind (1996)15, Christoph D. Brumme: Tausend Tage (1997)16, Christoph Hein: Von allem Anfang an (1997)17, Kathrin Aehnlich: Wenn ich groß bin, flieg ich zu den Sternen (1998)18, Fritz Rudolf Fries: Der Roncalli-Effekt (1999)19, Annett Gröschner: Moskauer Eis (2000)20, Barbara Honigmann: Alles, alles Liebe! (2000)21, Katja Lange-Müller: Die Letzten (2000)22, Klaus Schlesinger: Trug (2000)23 und Die Seele der Männer (Fragment, 2003)24, Else Buschheuer: Masserberg (2001)25 und über weite Strecken auch Michael Kumpfmüller: Hampels Fluchten (2000).26 Im Bereich der 11
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Vgl. Begrenzt glücklich. Kindheit in der DDR. Hrsg. von Wilhelm Solms. Marburg 1992; Der wilde Osten. Neueste deutsche Literatur. Hrsg. von Roland Koch. Frankfurt a.M. 2002. Martin Ahrends: Der märkische Radfahrer. Roman. Köln 1992. Christoph D. Brumme: Nichts als das. Roman. Berlin 1994. Katja Lange-Müller: Verfrühte Tierliebe. Köln 1995. Stephan Krawczyk: Das irdische Kind. Roman. Berlin 1996. Christoph D. Brumme: Tausend Tage. Roman. Köln 1997. Christoph Hein: Von allem Anfang an. Berlin 1997. Kathrin Aehnlich: Wenn ich groß bin, flieg ich zu den Sternen. Leipzig 1998. Fritz Rudolf Fries: Der Roncalli-Effekt. Roman. Leipzig 1999. Annett Gröschner: Moskauer Eis. Roman. Leipzig 2000. Barbara Honigmann: Alles, alles Liebe! Roman. München / Wien 2000. Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei. Von Katja Lange-Müller. Köln 2000. Klaus Schlesinger: Trug. Roman. Berlin 2000. Ders.: Die Seele der Männer. In: K.S.: Die Seele der Männer. Die Erzählungen. Berlin 2003, S. 5-96. Else Buschheuer: Masserberg. Roman. München / Zürich 2001. Michael Kumpfmüller: Hampels Fluchten. Roman. Köln 2000.
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(Auto-)Biografien zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab: Manfred Bofinger (*1941) etwa veröffentlichte unter dem Titel Der krumme Löffel (1998)27 seine Kindheitserinnerungen ausschließlich der Jahre 1946 bis 1950. Uwe Kolbe (1995) mag also Recht haben, wenn er meint: „Das Sammelgebiet DDR ist für Philatelisten und andere Blütenleser abgeschlossen. Für den Autor fängt das Sammeln erst an.“28 Volker Hage (2000) spekuliert über die Gründe für dieses Phänomen: Was aber treibt plötzlich derart viele Autoren um, sich der alten DDR zuzuwenden? Das Jubiläum ihres Untergangs allein kann es wohl kaum sein. Eher schon die Faszination des Übergangs: das Verblassen der alten und das Aufleuchten der neuen Bilder, das drohende Verschwinden jener Unterschiede, die jetzt noch ermöglichen, den eigenen Standort besser wahrzunehmen.29
Einmal abgesehen von der Vielzahl der Neuerscheinungen im Bereich ‚Wendeliteratur‘ stellt sich die Frage nach der Beständigkeit dieser Texte. Frank Schirrmacher prophezeite 1995: Wegen des vorübergehenden Charakters vieler Vereinigungsprobleme werden auch die Gedichte und Romane über Treuhand oder Gauck-Behörde eines Tages nur noch als kuriose Beschreibungen eines abgelegten Zustands gelesen werden.30
Unter rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet mag dies zutreffen, denn bereits jetzt ist die Mehrheit der Texte nicht mehr im Buchhandel greifbar. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Darstellung nicht zuletzt als Bestandsaufnahme. Das Zugrundelegen eines erweiterten Literaturbegriffs war bei einer solchen Herangehensweise unabdingbar. Die wenigsten der zitierten Texte werden bleiben, doch die meisten von ihnen dürften ihre Leserinnen und Leser gefunden haben oder werden diese noch finden. Denn selbst wenn nur wenige Werke in ästhetischer Hinsicht zu überzeugen vermögen, ist die ‚Wendeliteratur‘ eine Literatur für Leser. Nach gut zehn Jahren wurde im Rahmen dieses Handbuchs eine erste Zwischenbilanz gezogen; es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich diejenigen Autorinnen und Autoren, welche Texte über die ‚Wende‘ und die 27 28
29 30
Manfred Bofinger: Der krumme Löffel. Miniaturen einer Kindheit. Berlin 1998. Uwe Kolbe: Mauerschatten, ins Wort verlängert. Schreiben und Schweigen in der DDR. In: NZZ v. 10. / 11.2.1996 [Vortrag, gehalten auf der Tagung Literatur in Diktatur und Demokratie – Erfahrungen mit der Zensur in Deutschland und in Portugal, Lissabon, Goethe-Institut, 24.11.1995]. Volker Hage: Deutsche Literatur: Liebe im Gästehaus der DDR. In: Der Spiegel 54 (2000) 42 v. 16.10.2000; S. 162-168, S. 164-166. Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit. In: Die politische Meinung 40 (1995) 311, S. 55-63, S. 62.
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7 Schlussbemerkungen
Vereinigung der beiden deutschen Staaten geschrieben haben, entwickeln werden. Es spricht vieles dafür, dass nach der ‚Wende‘-Thematik erst einmal die DDR-Thematik die Oberhand gewinnt. Doch es ist davon auszugehen, dass sich mittelfristig die literarische Produktion zum Thema ‚Wende‘ wieder verstärken wird – und vielleicht wird es eines Tages auch einen Text geben, der als ‚großer Wenderoman‘ in die Literaturgeschichte eingeht und zugleich gehobenen ästhetischen Ansprüchen Genüge tut. Doch dazu bedarf es des historischen Abstands, zumindest jedoch eines gelasseneren Blicks auf die Dinge, fern der unmittelbaren Betroffenheit.
Namensregister Achternbusch, Herbert 484-491 (Auf verlorenem Posten) Adler, Hans-Gerd 72 Aehnlich, Kathrin 676 Ahrend, Martin 673, 676 Albrecht, Burkhard 569 Alt, Franz 579 Altenburg, Matthias 199 Altenhein, Hans 200 Anders, Richard 451 Andersch, Alfred 203 Anderson, Sascha 42, 131, 224-230 Anderson, Sherwood 403 Andert, Reinhold 8, 574, 593 Andrasch, Wiete 563 Anouilh, Jean 659 Anz, Thomas 196 Ardenne, Manfred von 323 Arjouni, Jakob 416 Ash, Timothy Garton 218 Assheuer, Thomas 219 Astel, Hans Arnfried 112, 454 Axen, Hermann 300 Bacher, Ingrid 65f. Bachtin, Michail M. 636 Bahr, Egon 300 Baier, Lothar 633 Baier, Uta 578 Baldus, Stefan 269 Balzac, Honoré de 382 Barthelme, Donald 403 Barthes, Roland 591 Bartsch, Wilhelm 594, 643 Baselitz, Georg 205 Baumann, Antje 550 Bavarius, Nikolaus 534, 538, 541 Becher, Johannes R. 6, 67, 90, 324, 397, 644
Becker, Hannelore 75 Becker, Johannes M. 553f. Becker, Jürgen 449 Becker, Jurek 53f., 68, 89f., 173, 233, 284, 555 Becker, Rolf 202 Becker, Thorsten 89, 574f., 577 Becker, Wolfgang 672 Bedeschinski, Christian 595 Beethoven, Ludwig van 503f. Behling, Heinz 36 Behnk, Angelika 108, 262 Beier, Peter 162 Bender, Peter 111, 184-186 Bengsch, Gerhard 565 Berg, Jochen 477, 617f., 624f. Berger, Almuth 107 Bergmann-Pohl, Sabine 130, 300, 304 Bergsdorf, Wolfgang 239 Beseler, Horst 36 Best, Otto F. 390 Beyer, Frank 300, 408, 564, 640, 672 Biermann, Wolf 71f., 80, 131, 169, 200, 212, 224-230, 421, 464, 639 Bierwisch, Manfred 154 Biskupek, Matthias 55, 77, 113, 236, 325, 562, 567, 580 Bissinger, Manfred 32 Bittermann, Klaus 174, 545 Blei, Dagmar 98 Bloch, Ernst 159, 209 Blohm, Frank 158f. Bloom, Harold 668 Bobrowski, Johannes 403 Boeger, Wilhelm 551f. Böhme, Jakob 623 Böhme, Manfred (Ibrahim M.) 215f., 224, 294
680
Namensregister
Böll, Heinrich 203, 393, 640 Böthig, Peter 226 Böttiger, Helmut 567f. Bofinger, Manfred 677 Bohley, Bärbel 230 Bohrer, Karl Heinz 179-181, 196, 203, 204f. Bonsack, Wilfried M. 41 Booth, Richard 50 Borchert, Wolfgang 506 Boxberg, Bertram von 672 Braband, Jutta 224 Brandt, Willy 100, 169, 288 Brasch, Peter 414, 614, 628 Brasch, Thomas 197 Braun, Volker 3, 25, 34, 132, 228, 420f., 425f., 430, 453, 470, 537, 610, 646 – 429, 456, 457-463, 641 (Das Eigentum) – 647-658, 663 (Iphigenie in Freiheit) Brecht, Bertolt 137, 204, 240, 256, 316, 526f., 543, 608, 611, 626, 640, 641, 657 Bredel, Ursula 98, 109 Bredel, Willi 90 Breuel, Birgit 642 Brie, André 158 Brie, Michael 158 Brüning, Elfriede 307-309 (Und außerdem war es mein Leben) Brumme, Christoph D. 676 Brussig, Thomas 539, 570, 585 – 33f., 243, 325f., 615, 639, 663-668 (Helden wie wir) Bruyn, Günter de 34, 118, 133, 153, 177-179, 181, 206, 313 – 305f. (Das erzählte Ich) – 307, 309-312 (Zwischenbilanz/ Vierzig Jahre) Buch, Hans Christoph 85, 240f., 419, 531f. Buchholz, Martin 111f., 642 Buck, Detlev 672 Buck, Theo 143
Büchner, Georg 460f., 641, 657 Buhss, Werner 469 Burmeister, Brigitte 13, 40, 68, 82, 111, 115f., 121f., 130, 187, 210, 244, 247, 249, 252, 326, 329, 383f., 599f., 605, 646, 669, 674 – 69, 331f., 369-384, 529, 597, 609, 619 (Unter dem Namen Norma) – s. auch Morten, Liv Buschheuer, Else 676 Carver, Raymond 403 Celan, Paul 645 Chamfort, Nicolas 460f., 641 Cheever, John 403 Chiarloni, Anna 421 Chotjewitz, Peter O. 239f. Chowanetz, Rudolf 38 Christiansen, Sabine 266 Christo /Jeanne-Claude 414f. Cibulka, Hans 292-294 Conrady, Karl-Otto 66, 421, 457 Coover, Robert 403 Corino, Karl 216, 217, 251 Corneille, Pierre 659 Cwojdrak, Günther 63 Czechowski, Heinz 5, 53, 417f., 435f., 446, 531, 594f., 603-605, 641 Dahn, Daniela 79, 134, 147, 640 Damm, Sigrid 147 Dannegger, Klaus 547 Darnton, Robert 271f. Decker, Kerstin und Gunnar 558 Defoe, Daniel 391, 393 Dehne, Heidi 49f. Deicke, Günther 63 Deiritz, Karl 196 Delius, Friedrich Christian 68, 87f., 180 – 331f., 345-354, 536, 640 (Die Birnen von Ribbeck) Demetz, Peter 58 Dempewolf, Peter 28 Dieckmann, Christoph 44, 229, 270, 581-583, 590f., 633, 669
Namensregister
Dieckmann, Friedrich 2, 32, 57, 63, 191f., 417, 619, 630 Dietrich, Axel 41 Dische, Irene 597f. Ditfurth, Christian von 574-578 (Die Mauer steht am Rhein) Dittmar, Norbert 98 Döblin, Alfred 403 Dölle, Christine 547 Dönhoff, Marion Gräfin 65, 189f., 500f., 504f. Döring, Stefan 225, 644f. Domdey, Horst 132 Domröse, Angelica 300 Dos Passos, John 403 Drawert, Kurt 237, 427f., 445f., 571, 595 – 122-129 (Spiegelland) Drescher, Horst 108 Dresen, Andreas 672 Drommer, Günther 573 Drosdowski, Günther 97 Droste, Wiglaf 532, 591 Ebell, Karl Heinz 431f., 629 Ebersbach, Volker 50f., 218 Eckart, Gabriele 671 Eichendorff, Joseph von 393 Eichhorn, Ronald 672 Einhorn, Hinnerk 429f., 440f., 669f. Eisler, Hanns 640 Elitz, Ernst 268f. Emmerich, Wolfgang 10, 197, 241, 417-419, 461, 584 Endler, Adolf 89, 669 Endlich, Luise [d.i. Gabriela Mendling] 549f. Engelmann, Bernt 239 Engler, Jürgen 31 Ensikat, Peter 229f., 236f., 574, 642, 643 Enzensberger, Hans Magnus 182, 188f., 396f., 433, 440, 541f., 597f. Eppelmann, Rainer 321f. (Fremd im eigenen Haus) Erb, Elke 227f., 594
681
Erhart, Walter 419 Erler, Gotthard 28 Ette, Wilfried 158 Euripides 659 Ewald, Christian 42 Faber, Elmar 28f., 41 Faber, Michael 41 Fabian, Jo 470 Faktor, Jan 225 Faulkner, William 403 Fest, Joachim 141, 190 Fischer, Erica 260-262 Fischer, Therese 254 Föhl, Axel 595 Förster, Wieland 32 Fontane, Theodor 346, 348, 352, 640 Ford, Richard 403 Freiligrath, Ferdinand 639 Freud, Sigmund 248, 362-365 Fricke, Hans 301, 306f. Fried, Erich 203 Frielinghaus, Helmut 32 Fries, Fritz Rudolf 32, 63, 192, 676 Friesel, Uwe 59 Fritschler, Hans-Dieter 269 Fritze, Lothar 239 – 587-590 (Die Gegenwart des Vergangenen) Fröhling, Jörg 11f., 69f. Froese, Michael 247 Fuchs, Jürgen 12, 65, 210, 211, 224, 232 Fühmann, Franz 35, 80 Führer, Christian 161, 411 Fürnberg, Louis 459 Gansel, Carsten 330f. Gast, Gabriele 301 Gaus, Günter 32, 268f. Geist, Peter 226f. Genette, Gérard 15, 636f. Genscher, Hans-Dietrich 119, 288, 575 Gerlach, Harald 195, 441, 593, 606, 620, 623, 628 Giesen, Bernd 190
682
Namensregister
Glaser, Hermann 468f. Glotz, Peter 119, 173, 180, 183f., 190 Glowna, Vadim 672 Göpfert, Mario 274 Goethe, Johann Wolfgang von 304, 495f., 522, 626, 641 Goettle, Gabriele 270 Gohr, Siegfried 205 Golombek, Dieter 271, 542 Gorbatschow, Michail 3, 100, 102, 118, 318, 411, 470, 649 Goyke, Frank 73, 416 Grass, Günter 1, 32, 65, 78, 87, 133, 162-171, 173f., 177, 201, 202, 203, 204, 273, 555 – 9, 25, 167-171, 610, 640, 646 (Ein weites Feld) Greiner, Marianne 43 Greiner, Ulrich 133, 180, 198f., 203f., 223f., 461 Grillparzer, Franz 659 Grimm, Hans 633 Gröschner, Annett 113f., 262, 568, 597, 601, 676 Grotewohl, Otto 79 Grünbein, Durs 225, 432f., 595 Grüneberger, Ralph 263, 446-448, 451f., 669 Grüning, Uwe 435 Gruner, Jürgen 20 Gruppe Zinnober 470 Günther, Thomas 42 Gundlach, Traute 299 Gysi, Gregor 300 Haas, Ursula 659 Habermas, Jürgen 164 Hacker, Katharina 593f. Hacks, Peter 28, 36, 469, 470, 578 Haefs, Gisbert 74 Haeger, Monika 224 Hättich, Manfred 238f. Hage, Volker 198, 663, 677 Hagen, Eva-Maria 71f. Hager, Kurt 576
Haller, Michael 244, 247, 262 Handloik, Volker 573 Hannemann, Ernst 238 Hannover, Heinrich 301 Hannsmann, Margarete 217 – 284-287 (Tagebuch meines Alterns) Harich, Wolfgang 75, 90 Harig, Ludwig 440 Harpprecht, Klaus 204 Hart, Jürgen 543f. Hartmann, Andreas 266f. Hartung, Harald 120, 190 Hartung, Klaus 634f. Hasemann, Erich 301 Haußmann, Leander 672 Hauswald, Harald 573 Heckhausen, Markus 572, 591 Hegewald, Wolfgang 240 Heidenreich, Gert 64, 633 Heiduczek, Werner 79, 119, 329 Heilig, Walter 573 Hein, Christoph 4, 18f., 25, 66, 86, 132, 134, 136, 148-153, 155f., 164, 358, 542, 676 – 192-195 (Kein Seeweg nach Indien) – 14, 479-484 (Die Ritter der Tafelrunde) Hein, Georg 542 Heine, Heinrich 626, 641 Heisig, Bernhard 205 Hemingway, Ernest 403 Henniger, Barbara 571, 572, 586 Henrich, Dieter 143 Henrich, Rolf 5, 78 Hensel, Kerstin 328, 329, 442f., 448, 567, 593, 602, 612f., 640, 674 Henselmann, Andreas 38 Herkula, Birgit 2 Herlt, Günter 532, 545, 565f., 614, 642 Hermann, Georg 37 Hermlin, Stephan 28, 63, 251, 257 Herold, Thea 2f., 248 Herrnstadt, Rudolf 75f.
Namensregister
Hettche, Thomas 615 Herzberg, Wolfgang 157, 158 Herzinger, Richard 132 Herzog, Roman 189 Heym, Inge 256f. Heym, Stefan 105, 119, 140f., 151, 152, 156f., 256f., 329, 530, 556f. Hilbig, Wolfgang 17, 69, 73, 195f., 241f., 529, 592, 593, 629f. Hinstorff, Detlef-Karl 35 Hochhuth, Rolf 32 – 513-528, 606, 640, 646 (Wessis in Weimar) Hölderlin, Friedrich 343, 459f. Hölscher, Lucian 579 Höpcke, Klaus 80, 257 Hörnigk, Frank 562 Hofmann, Annegret 265 Hoffmann, E.T.A. 395, 640 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich August 645 Hohendahl, Peter Uwe 139 Holland-Moritz, Renate 62 Holst, „Matthias“ BAADER 225 Homann, Ursula 209f. Honecker, Erich 63, 64, 117, 285, 300, 440, 550, 572, 574, 577 – 463-465 (Tiefe Eindrücke) Honecker, Margot 464f. Honigmann, Barbara 676 Hoppe, Rolf 571 Huhn, Klaus 251, 265f. Huk, Eduard 547 Illies, Florian 673 Isenschmidt, Andreas 86f., 130, 672, 675 Jacobeit, Wolfgang 301 Jacobi, Heinz 8 Jäger, Manfred 300, 302f. Jahnn, Hans Henny 659 Janka, Walter 75, 201 – 90-95, 422 (Der gerechte Richter) Jankofsky, Heinz 547 Jankowski, Martin 331f., 408-414, 564, 609f., 611f. (Rabet)
683
Janowitz, Wolfgang 547 Jansen, Johannes 225 Jansen, Yves 515 Jaspers, Karl 73 Jean Paul 503 Jens, Walter 58, 65, 164, 201, 204 Jentzsch, Bernd 67 Jentzsch, Kerstin 647 Jirgl, Reinhard 619 Jogschies, Rainer B. 287f. Johnson, Uwe 403 Just, Gustav 76, 90, 148, 155 Kachold[-Stötzer], Gabriele 337 Kämper, Andreas 42, 569f., 591 Kahane, Peter 672 Kahlau, Heinz 224, 437-439, 619 Kallabis, Heinz 276-281, 283 (Ade, DDR!) Kamnitzer, Heinz 63, 422-424, 607f. Kammrad, Horst 544 Kant, Hermann 58, 60, 61, 64, 216, 250f., 563, 577 – 299f., 307, 312-314 (Abspann) Karau, Gisela 257, 263f., 265f., 549, 554 Karasek, Hellmuth 202 Karge, Manfred 466, 472-475, 597, 615 (MauerStücke) Kaufmann, Walter 63 Keller, Gottfried 160f. Kerckhoff, Susanne 75 Kerndl, Rainer 63 Kerr, Alfred 30 Kersten, Joachim 32 Kiesel, Helmut 145f. Kinkel, Klaus 522 Kirsch, Rainer 55f., 60f. Kirsch, Sarah 65, 256, 294, 296, 437f., 598, 663 Kirsten, Wulf 19, 187, 418f. Klässner, Bärbel 645 Klein, Diethard H. 40 Klein, Fritz 301 Klein, Hans 571 Kleinert, Andreas 672
684
Namensregister
Kleinschmidt, Sebastian 59 Kleist, Heinrich von 641 Klemperer, Victor 30 Klier, Freya 532 Klinger, Friedrich Maximilian 659 Klussmann, Paul Gerhard 314 Knabe, Hubertus 157f. Knauer, Sebastian 574, 577 Knobloch, Heinz 63 Köhler, Erich 66 Königsdorf, Helga 6f., 28, 63, 104, 117, 136f., 147, 186, 187f., 206, 248, 329, 351, 393, 573, 581, 646, 669, 675 – 257-260, 619 (Adieu DDR/Unterwegs nach Deutschland) Koerbl, Jörg Michael 470 Kohl, Helmut 116, 117, 288, 467, 514, 550, 575 Kolbe, Uwe 118f., 135, 182, 191, 217f., 435, 630, 642, 677 Konrád, György 59 Kopelew, Lew 201, 225 Kopka, Fritz-Jochen 222f. Kormann, Julia 84 Korte, Karl-Rudolf 85, 145, 176 Koß, Bert 470 Kowalski, Jörg 594f. Koziol, Andreas 225f. Kraft, Gisela 187, 444f., 449f., 561f., 643 Kramer, Jane 121 Krauß, Angela 329, 331, 669 Krauss, Hannes 117, 128f., 196 Krawczyk, Stephan 676 Krenz, Egon 63, 154, 282, 285 Kristeva, Julia 636 Kröher, Michael O.R. 550 Kroetz, Franz Xaver 172 Krüger, Michael 645 Krug, Manfred 284 Krug, Ottilie 284 Kuby, Erich 120 Kuczynski, Jürgen 44f., 91, 134, 138, 301 Kuczynksi, Rita 266, 600f.
–
137f., 307, 318-321 (Mauerblume) Kuczynski, Thomas 257 Kügler, Hans 162f. Kühne, Jacqueline 36 Külow, Edgar 547, 646 Künsting, Sabine 266f. Kuffel, Eveline 75 Kulinna, Gisela 424 Kumpfmüller, Michael 676 Kunert, Günter 58, 227, 307f., 428, 431, 462f., 559 Kunkel, Gottfried 252, 557f., 619 Kunze, Reiner 58, 65, 133, 215f., 294, 453 Kurz, Paul-Konrad 197 Kurz, Rudolf 564 Kusche, Lothar 249, 300, 532, 538, 540, 571, 601f. Laabs, Joochen 65 Lachmann, Renate 636-638 Läzer, Rüdiger 569 Lafontaine, Oskar 288 Landgrebe, Christiane 266 Lang, Jack 201f. Lange, Bernd-Lutz 275, 407f., 547, 613 Lange, Horst 502 Lange-Müller, Katja 315, 676 Langhoff, Anna 400 Langhoff, Lukas 400 Langhoff, Thomas 647 Lasdin, Bernd 327f. Leggewie, Claus 190 Lehmann, Andreas 316, 670 Lemke, Jürgen 256 Lenin, Wladimir Iljitsch Uljanow 100, 652 Lenz, Siegfried 203 Lepenies, Wolf 142f. Leupold, Dagmar 601 Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine 520f. Lichtenberg, Georg Christoph 397 Lichtenstein, Alfred 36
Namensregister
Liebold, Rolf 110, 113, 242f., 543 Liebmann, Irina 540, 599 Liebscher, Horst 43 Liersch, Hendrik 41 Liersch, Ralf 42 Liersch, Werner 63 Limbach, Jutta 266 Lindner, Bernd 263 Lindow, Rainer 74 Links, Christoph 5, 43f. Links, Roland 43 Lippelt, Helga 295f. Lipsbaerge, Gehannes vum 535f. Loest, Erich 62, 91f., 119, 217 – 331f., 408-414 (Nikolaikirche) Lottmann, Joachim 88, 114, 414, 416, 601, 616f., 646 Lucács, Georg 90f. Ludwig, Volker 470f. (Auf der Mauer auf der Lauer) Lücker, Reiner 470f. (Auf der Mauer auf der Lauer) Lunkewitz, Bernd F. 28f. Luft, Christa 25 Lummer, Heinrich 579 Luther, Martin 395, 641 Lux, Petra 260-262 Maaz, Hans-Joachim 534, 580 – 244-247, 618 (Der Gefühlsstau) Maiwald, Peter 242 Maizière, Lothar de 266 Malchow, Helge 315, 329 Mann, Heinrich 204 Mann, Thomas 640 Manthey, Jürgen 204 Margolis, Karen 262 Maron, Hella 368 Maron, Karl 14, 367 Maron, Monika 77f., 139-141, 230232, 314, 548f., 600, 663, 674 – 14, 69, 331f., 354-369, 668 (Stille Zeile sechs) Marquard, Hans 66 Martin, Christian 475f. (Vogtländische Trilogie)
685
Martin, Marko 416, 563 Marx, Karl 195 Mattheuer, Wolfgang 205 Matthies, Horst 4 Maus, Andreas 268 May, Gisela 300 Mayer, Hans 159, 323f. Mehrwald, Jörg 574, 577 Meichsner, Dieter 73 Meier, André 566f., 614, 616 Meinel, Reinhild 11f., 69f. Melsheimer, Ernst 91 Mendling, Gabriela s. Endlich, Luise Menge, Marlies 297f., 580 Mensching, Steffen 76, 608f. Mesch, Herbert 572 Messerschmidt, Beate 301 Metelke, Thorsten 42 Meyer, Conrad Ferdinand 387 Meyer, Hans Joachim 201 Meyer, Karen 73 Meyer-Gosau, Frauke 207 Michael, Klaus 226 Mickel, Karl 675 Mielke, Erich 64, 79, 233 Mitscherlich, Margarete 244, 247, 297 Mittenzwei, Johannes 423f. Modrow, Hans 300 Moericke, Helga 264f. Momper, Walter 266, 430 Monk, Radjo 441f., 452 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 415 Moog, Christa 594 Morgner, Irmtraud 28, 74 Morten, Liv [d.i. Brigitte Burmeister] 40, 369 Moser, Tilmann 244 Mucke, Dieter 21 Mudry, Anna 260 Müller, Armin 19 Müller, Christine 256 Müller, Elfriede 477f., 615f. Müller, Harald 469f.
686
Namensregister
Müller, Heiner 57f., 118, 131, 132, 137, 169, 218-221, 223, 229f. 367, 469, 470, 592, 657, 659, 663 – 307, 315-318, 320 (Krieg ohne Schlacht) Müller, Jutta 666 Müller, Olaf 669 Müller, Peter F. 110, 253f. Müller, Roland 641 Müller, Wilhelm 641 Mueller-Stahl, Armin 300 Mundstock, Karl 571 Murath, Clemens 129 Muschg, Adolf 32, 59, 89 Nadolny, Sten 398 Naumann, Michael 144, 152 Neckermann, Peter 119f. Neumann, Gert 128 Neutsch, Erik 43, 557f., 564, 640 Noll, Dieter 61 Noll, Hans (Chaim) 197, 202 Nutt, Harry 540f. Oechelhaeuser, Gisela 75, 266, 643f. Oehme, Dorothea 43 Oehme, Matthias 36, 43 Opitz, Detlef 74, 225, 594 Ortinau, Gerhard 640 Osang, Alexander 270f., 585f. Oschlies, Wolf 96 Ovid 659 Panitz, Eberhard 265f., 542f. Pankoke, H. 421 Papenfuß-Gorek, Bert 225, 628f. Parin, Paul 201 Paris, Helga 594 Pawel, Henning 554f., 571 Peitsch, Helmut 141, 145-147, 163 Penndorf, Helmar 399f. Peter, Burkhard 268 Petersdorff, Dirk von 428f., 462 Peterson, Sebastian 672 Petschull, Jürgen 253 Petzold, Jutta 75
Pfister, Manfred 637, 639 Pforte, Dietger 32, 48 Plenzdorf, Ulrich 153 Plog, Ursula 210 Pludra, Benno 607 Pohl, Klaus 272f., 563 – 505-513, 536f. (Karate-Billi kehrt zurück) Pohrt, Wolfgang 643 Polenz, Peter von 99-101, 103, 639 Pollack, Detlef 582 Porsch, Peter 96, 103 Prinzen, Die 422 Probst, Lothar 584 Proust, Marcel 393 Raddatz, Fritz J. 32, 189, 223, 579 Radisch, Iris 220, 560 Rank, Sigurd 552f., 642 Rathenow, Lutz 266, 457, 556, 574 Ratzke, Dietrich 271, 542 Reck-Malleczewen, Friedrich Percyval 502f. Reemtsma, Jan Philipp 89 Reher, Lothar 32 Reich, Jens 7, 134f., 237f., 592 Reich-Ranicki, Marcel 30, 170, 172, 197, 199, 200, 230, 577, 663 Reichelt, Hans 4 Reimann, Brigitte 38, 74f. Rennert, Jürgen 134, 209, 434f., 452f. Resch-Treuwerth, Jutta 585 Reschke, Thomas 32 Reuter, Fritz 35 Richnow, Peter 43 Riecker, Ariane 263f. Riedel, Manfred 122 Riedmüller, Barbara 73 Riha, Karl 11f., 69f. Rimbaud, Arthur 316 Rinke, Moritz 515 Ripp, Winfried 267f. Robespierre, Maximilien 382 Rock, David 89f. Rodenberg, Julius 11
Namensregister
Röhl, Ernst 540, 547 Roethe, Thomas 550f. Rohleder, Klaus 469f. Rohnstock, Katrin 614 Rohwedder, Detlev Karsten 169, 514, 516f. Rosendorfer, Herbert 415, 545 Rosenlöcher, Thomas 187, 250, 417f., 443f., 579 – 273, 289-292, 599 (Die verkauften Pflastersteine) – 297, 625-628, 641 (Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern) Rothe, Frank 563 Rühmkorf, Peter 65, 229 Runge, Erika 256 Rutschky, Michael 272, 582-585 Sabath, Wolfgang 110, 253f., 670 Saeger, Uwe 302 Sämann, Wolfgang 564 SAID 66 Saint-Just, Louis Antoine Léon 370, 381f. Sakowski, Helmut 252f. Salier, Bastian 72 Salier, Hans-Jürgen 72 Sanders-Brahms, Helma 672 Sartre, Jean-Paul 204 Sauder, Gerhard 70f., 302, 646, 674 Schabowski, Günter 300, 303 Schacht, Ulrich 450 Schädlich, Hans Joachim 12, 62, 64, 65, 82, 135f., 205, 216, 217, 240, 366f., 640 Schäuble, Wolfgang 300 Schalck-Golodkowski, Alexander 303f. Schalk, Axel 478, 623 Schall, Johanna 257 Schedlinski, Rainer 42, 117f., 224f., 243f., 579, 635 Scheffler, Ute 572 Scherzer, Landolf 269f., 270 Schier, Heiko 672
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Schiller, Friedrich 528 Schirdewan, Karl 300 Schirmer, Bernd 110, 547f., 562, 573 Schirrmacher, Frank 101, 198-200, 203f., 212, 365f., 560f., 619, 677 Schleef, Einar 514f. Schlegel, Friedrich 626 Schlenstedt, Dieter 63f. Schlesinger, Klaus 35, 624, 676 – 216, 233-235 (Die Akte) Schlingensief, Christoph 672 Schlosser, Horst-Dieter 97, 101-103 Schmid, Thomas 190 Schmidt, Karl-Wilhelm 84f., 301f. Schmidt, Kuno 12 Schmidt, Thomas Alexander 446 Schmidt, Wolfgang 505 Schmidt-Braul, Ingo Eric M. 32 Schmitter, Elke 219 Schneider, Dirk 263f. Schneider, Jürgen 301 Schneider, Michael 190 Schneider, Peter (Schriftsteller) 11, 104, 112, 188, 416, 529, 538, 561f., 601 Schneider, Peter (Psychoanalytiker) 618 Schneider, Rolf 35, 233, 295-297, 540 Schnitzler, Karl-Eduard von 8, 324f., 575 Schnur, Wolfgang 224 Schober, Rita 63 Schöbel, Frank 300 Schoeller, Wilfried F. und Martin 596 Schorlemmer, Friedrich 64, 159-161, 164, 191 Schramm, Ingo 416 Schreiter, Helfried 674 Schröder, Helga 209 Schroth, Peter 572 Schubert, Helga 62, 134, 139, 262, 532 Schübel, Theodor 282-284 (Vom Ufer der Saale)
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Namensregister
Schütt, Hans-Dieter 543 Schütte, Wolfram 201, 203 Schütz, Helga 147 Schulte-Middelich, Bernd 637 Schulz, Max Walter 59 Schulz, Stefan 563 Schulze, Dieter 218 Schulze, Ingo 331f., 399-408 (Simple Storys) Schur, Gustav-Adolf („Täve“) 301 Schwalme, Rainer 534, 538, 541 Schwarz, Annett 263f. Schwarzkopf, Oliver 43-45 Schwilk, Heimo 199 Seebacher-Brandt, Brigitte 32f., 191 Seghers, Anna 80, 422 – 90-95, 137 (Der gerechte Richter) Seidel, Georg 470 Seidel, Peter 547 Seneca 659 Serwuschok, Ingolf 547 Seume, Gottfried 641 Seydel, Herbert 521f. Seydel, Käthe 521f. Seyppel, Joachim 300 Sichtermann, Barbara 416 Siedow, Margot 262 Silly 422 Simon, Annette 633f. Simon, Dietrich 31-34 Simon, Jana 563 Skowronek, Detlef G. 478 Soldat, Hans-Georg 234 Solms, Wilhelm 675 Sowa, Michael 597f. Spaniel, Thomas 433f., 450, 646 Sparschuh, Jens 380f., 394-399, 415, 530, 643 – 15, 331f., 384-394, 415 (Der Zimmerspringbrunnen) Spicker, Friedemann 116 Spielhagen, Friedrich 11 Spira-Ruschin, Steffie 91, 281f. Springer, Kai 549f. Staeck, Klaus 65 Stahl, Peter 107f.
Steffen, Klaus 572 Steimle, Uwe 558 Steineckert, Gisela 61 Steinert, Hajo 199, 225f. Stockinger, Ludwig 553 Stolpe, Manfred 531f., 582 Stoph, Willi 367 Strahl, Rudi 404, 555, 643 Strasser, Johano 66, 190 Strauß, Botho 11, 86, 491-505 (Schlußchor) Stregel, Tobias 564f., 572 Strehlau, Matthias 642 Strittmatter, Erwin 29f., 47, 298f. Strohmeyer, Arn 547 Struzyk, Brigitte 329, 606 Süßmuth, Rita 262 Surminski, Arno 557, 619, 620-623 (Kein schöner Land) Suschke, Stephan 315 Szalai, Wendelin 109, 267f. Teltschik, Horst 4, 288 Teschke, Holger 454 Tetzner, Gerti 147 Tetzner, Reiner 274-276 (Leipziger Ring), 283 Thalheim, Barbara 300, 421 „Tilger, Lutz“ 88f. Timm, Peter 672 Timm, Uwe 88 – 332, 414-417 (Johannisnacht) Titze, Marion 248, 603, 605 Toller, Ernst 361 Tournier, Michel 32 Tragelehn, B.K. 66 Tritschel, Tom 602f. Trolle, Lothar 469, 470, 478, 642 Tschechow, Anton P. 647 Tübke, Werner 271 Tweder, Fabian 564f., 572 Uecker, Günther 207-209 Ueding, Gert 143f., 580f. Ulbrich, Reinhard 42, 71, 563f., 569f., 591, 640
Namensregister
Ulbricht, Lotte 300 Ulbricht, Walter 90-92, 116, 324, 526 Ullmann, Wolfgang 579 Ulrich, Holde-Barbara 262 Vetter, Jens 265f. Villain, Jean 63, 257 Vogel, Peter 672 Vogelweide, Walther von der 458 Voigt, Jutta 270 Vonosten, Victor 545-547 Wagner, Bernd 137, 631f., 668 Wagner, David 672f. Wagner, Matthias 239 Wagner, Richard 631f. Wald, Hans 463-465 (Tiefe Eindrücke) Walraff, Günter 239 Walser, Martin 69, 162f., 171-177, 182, 203, 256 Walter, Gertraud 51 Walther, Joachim 80, 195, 211-214 Wander, Maxie 256 Warnke, Uwe 43 Weber, Gisela 307 Weber, Max 203 Weber, Wolfram 565 Wedel, Mathias 12, 252, 532f., 541, 542, 545, 563, 593, 610f. Wegner, Bettina 421 Wehdeking, Volker 10, 69f., 176 Weigel, Helene 90 Weinert, Erich 652 Weiß, Konrad 580f. Weizsäcker, Richard von 288 Wekwerth, Manfred 57f. Welke, Dunja 145 Weller, Konrad 614, 618 Wendt, Erich 92 Weniger, Manfred 570f. Wenzel, Hans-Eckardt 668f. Werner, Frank 623f., 628 Weskott, Martin 22f., 425f. Westerwelle, Ruth 108, 262 Westphalen, Joseph von 355, 592
689
Widmer, Urs 89 Wieczorek, Thomas 252, 545, 550 Wieke, Thomas 559 Wilde, Oscar 393 Wilkening, Christina 263, 274 Willemsen, Roger 111 Winkels, Hubert 329 Winkler, Karl („Kalle“) 78 Witt, Katarina 301 Wittstock, Uwe 206 Wolf, Birgit 98 Wolf, Christa 28, 34, 45, 99f., 105f., 130, 131, 132, 134, 137, 147, 150, 151f., 155, 163, 169, 218-223, 366, 462, 639, 646, 663-668 – 85, 131, 196-210 (Literaturstreit) – 170, 331-344, 640, 646, 664f., 668 (Was bleibt) – 659-663 (Medea. Stimmen) Wolf, Gerhard 33, 45, 200, 221f. Wolf, Ingo Andreas 596f. Wolf, Markus 137, 274, 301, 522 Wolf, Richard 90 Wolff, Gabriele 572 Wonneberger, Jens 606 Woolf, Virginia 340 Wroblewsky, Clement 257 Wüstefeld, Michael 2, 439f., 454f., 566 Zähringer, Norbert 416 Zehl Romero, Christiane 92 Zeindler, Peter 73 Zeplin, Rosemarie 147 Zglinicki, Claudia von 265f. Ziemer, Renate 315 Zimmer, Dieter E. 181f. Zinnow, Hans 161 Zöger, Heinz 90 Zschokke, Matthias 416 Zschorsch, Gerald 433 Zucker, Renée 417 Zuckermann, Marcia 416 Zwahr, Hartmut 120 Zwarg, Matthias 121, 642 Zwerenz, Gerhard 58, 76, 78