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Aus dem Amerikanischen übertragen von Tony Westermayr Made in Germany • 7/85 • 1. Auflage © der Originalausgabe 1959 bei Ballantine Books Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe bei Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Michael Schäfer, München Satz: Pressedruck Augsburg Druck: Eisnerdruck GmbH, Berlin Verlagsnummer 23136 ST-PW / Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23136-1
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Frederik Pohl & C.M. Kornbluth – Welt auf neuen Bahnen
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Roget Germyn, Bankier aus Wheeling, West Virginia, erwachte sanft aus dem traumlosen Schlaf eines Bürgers. Es war die DreiUhr-Aufstehzeit, der richtige Zeitpunkt für einen Tag, der die außergewöhnliche Gelegenheit zu bewundern bot. Bürger Germyn legte die für die Bewunderung großer Werke passende Kleidung an – wie zum Beispiel für die Besichtigung der Empire-State-Building-Ruine vor Gewitterwolken von einem kleinen Boot aus oder den stummen Marsch hintereinander über den letzten verbliebenen Bogen der Golden-Gate-Brücke. Oder wie heute – man hoffte, daß es heute war – die Wiedererschaf fung der Sonne mitzuerleben. Germyn bewahrte mit Mühe die für einen Bürger notwendige Ruhe. Er neigte mitunter dazu, über unpassende Dinge nachzudenken: Würde die Sonne wiedererschaffen werden? Was würde sein, wenn es nicht geschah? Er befaßte sich konzentrier ter mit seiner Kleidung. Als erstes legte er ein altes, historisches Armband an, ein echtes Erkennungsarmband aus schweren Silbergliedern und einem Plättchen, auf dem eingraviert war: ›Gefreiter Joe Hartmann Korea 1953‹ Seine Mitbewunderer von Schmuck hätten ihn darum beneidet – wenn sie einer Erfindung wie Neid fähig gewesen wären. In ganz Wheeling gab es kein zweites Erkennungsarmband, das zweihundertfünfzig Jahre alt war! Als nächstes streifte er sein schönstes Hemd und eine leichte Hose über die Haut, und darüber trug er einen losen Anorak, dessen Nähte sorgfältig gelockert worden waren. Sobald die Sonne wiedererschaffen worden war, etwa alle fünf Jahre, war es der Brauch, den Anorak ernst auszuziehen und mit den vorgeschriebenen anmutigen Gesten zu zerreißen… freilich nicht so gewaltsam, daß man ihn nicht wieder hätte zusammenheften können. Deshalb die gelockerten Nähte. Dies war, so zählte er, der einundvierzigste Tag, an dem die Bewohner Wheelings die angemessene Sonnen
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Wiedererschaffungs-Kleidung angelegt hatten. Es war das einundvierzigste Mal, daß die Sonne – nicht länger weiß, nicht länger gleißend gelb, nicht länger auch nur grellrot – aufgegan gen war und eine Farbe gezeigt hatte, die von dunklem Kastanienbraun war und immer dunkler wurde. In seinem ganzen Leben, dachte Bürger Germyn, war es noch nie so dunkel und kalt geworden. Vielleicht eine Gelegenheit für besondere Betrachtung? Denn sicherlich würde sie nie wieder kehren, diese Gelegenheit, die alte Sonne dem Tod so nah zu sehen… Hoffte er. Ernst kleidete sich Bürger Germyn vollständig an und dachte nur an die Handlung des Ankleidens. Es war beileibe nicht sein Fachgebiet, aber als es getan war, schien es ihm wohl getan, mit den überkommenen fließenden Bewegungen, ohne Unruhe, stets leicht auf den Fußballen balancierend. Es war um so vollkomme ner zu Ende gebracht, weil es niemand sah außer ihm selbst. Er weckte sanft seine Frau, indem er eine seiner Handflächen auf ihre Stirn legte. Die Wärme seiner Hand durchdrang stufenweise die Schichten ihres Schlafs; ihre Augen öffneten sich allmählich. »Bürgerin Germyn«, grüßte er sie, mit der linken Hand die Geste der Identitätsbeteuerung ausführend. »Bürger Germyn«, sagte sie, indem sie die Identitätsbeteue rung durch ein Neigen des Kopfes ausführte, das vorgeschrieben war, wenn die Hände bedeckt waren. Er zog sich in sein winziges Arbeitszimmer zurück, um zu warten. Es war die für die Meditation über die Eigenschaften des Zusammenhangs angemessene Zeit. Bürger Germyn war, selbst für einen Bankier, geschickt in der Meditation; es war eine Gabe, in der er sich seit der frühesten Kindheit geübt hatte.
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Bürger Germyn schaltete erfolgreich, eines nach dem anderen, alle äußeren Geräusche und sichtbaren Dinge und Empfindungen aus, die das richtige Meditieren störten, sein junges Gesicht ruhig und gefaßt, den schlanken Körper im Sitzen aufgerichtet, aber keinesfalls angespannt oder gestrafft. Sein Gehirn war beinahe völlig leer, bis auf das eine Hauptproblem: Zusammen hang. Über seinem Kopf und dahinter, außer Sicht, schien sich die kalte Luft des Zimmers zu verdicken und zu einem Klumpen zu formen; einem Klumpen Luft. Es gab einen Namen für diese Erscheinungen; man hatte sie früher schon gesehen; in Wheeling und auf der ganzen Welt waren sie eine anerkannte Tatsache des Daseins. Sie erschienen. Sie verweilten. Und verschwanden dann – manchmal nicht allein. Wenn jemand bei Bürger Germyn im Zimmer gewesen wäre, hätte er eine Verzerrung gesehen, eine Verdrehung dessen, was hinter dem Klumpen war, wie fehlerhaftes Glas, ein Objektiv; wie ein Auge. Und man nannte sie das Auge. Germyn meditierte… Der Klumpen Luft wuchs und bewegte sich langsam. Ein verirrter Luftstrom, der aus ihm quoll, erfaßte einen Fetzen Papier und wirbelte ihn zu Boden; Germyn bewegte sich; der Klumpen zog sich zurück. Germyn, ganz fühllos, disziplinierte seine Gedanken, die Unterbrechung nicht zu beachten und zum zentralen Problem des Zusammenhangs zurückzukehren. Der Klumpen schwebte… Aus dem anderen Zimmer teilte ihm das leise, dreimal wieder holte Räuspern seiner Frau mit, daß sie geziemend bekleidet war. Germyn stand auf, um zu ihr zu gehen, seine Gedanken kehrten in die Welt zurück, und das Auge über ihm rotierte ruhelos und verschwand.
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Ein paar Meilen östlich von Wheeling erwachte Glenn Tropile, ein Allerweltskerl, der sich insgeheim fragte, ob er ein menschli ches Wesen sei, auf dem Sofa in seiner Wohnung. Er setzte sich fröstelnd auf. Es war kalt. Verdammt kalt. Die verdammte Sonne draußen vor dem Fenster war immer noch verdammt ekelhaft dunkel, und die Wohnung war feucht und ausgekühlt. Er hatte im Schlaf die Decken weggestoßen – warum konnte er nicht lernen, ruhig zu schlafen, wie alle anderen Leute auch? Da er keinen Morgenmantel hatte, hüllte er sich in die Decken, stand auf und trat an das glaslose Fenster. Es war für Glenn Tropile nicht ungewöhnlich, auf dem Sofa zu erwachen. Dazu kam es, weil Gala Tropile jähzornig war und dazu neigte, ihn nach einem Streit aus ihrem Bett zu verbannen. Er wußte, daß er den ganzen Tag nach einem nächtlichen Exil die Oberhand über sie hatte. Deshalb lohnte sich der Streit. Ein Vorteil war, der Definition nach, alles wert, was man dafür bezahlte… sonst war es kein Vorteil. Er konnte sie in einem der anderen Zimmer herumgehen hören und lauschte befriedigt. Sie hatte ihn nicht geweckt. Also war sie daran, nachzugeben. Ein leichter Reiz in seinem Rückgrat oder Gehirn – es war kein körperlicher Reiz, so daß er dessen Sitz nicht bestimmen konnte; er wußte nur, daß er vorhanden war – hörte vorübergehend auf, ihn zu belästigen; er gewann eine Auseinandersetzung. Es lag in Glenn Tropiles Natur, Kämpfe zu gewinnen, und ebenso, sie hervorzurufen. Gala Tropile, jung, dunkelhaarig, hübsch, mit gequälter Miene, kam zögernd herein, mit Kaffee aus irgendeinem geheimen Vorrat. Glenn Tropile tat so, als nehme er sie nicht wahr. Er starrte kalt auf die kalte Landschaft hinaus. Das Meer, von dünnem Eis überzogen, war fast nicht mehr zu sehen, so weit hatte es sich mit der Abnahme der kleinen Sonne zurückgezogen.
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»Glenn – « Ah, gut! Glenn. Wo war die vorgeschriebene Anrede für den Ehemann? Wo war das vorgeschriebene Räuspern vor dem Betreten eines Zimmers? Mit Beharrlichkeit hatte er ihr das genau festgelegte Ritual der Verhaltensweisen abgewöhnt, das ihnen allen anerzogen worden war, und es war der größte seiner vielen Siege über sie, daß jetzt manchmal sie der Angreifer war, daß sie als erste von dem für Bürger vorgeschriebenen förmlichen Verhalten abwich. Verderbtheit! Perversion! Manchmal berührten sie einander zu Zeiten, die nicht die angemessenen Zeiten des Zusammenkommens waren, Gala saß vielleicht am späten Abend auf dem Schoß ihres Mannes, oder Tropile küßte sie am Morgen wach. Manchmal zwang er sie, ihn zusehen zu lassen, wenn sie sich ankleidete – nein, nicht jetzt, denn die Kälte der abnehmenden Sonne machte solche Tändeleien wenig anziehend; aber sie hatte es schon zugelassen, und er beherrschte sie so, daß er wußte, sie würde es, sobald die Sonne neu erschaffen war, wieder erlauben… Falls, kam ihm ein Gedanke, falls die Sonne wiedererschaffen wurde. Er wandte sich von der Kälte draußen ab und blickte seine Frau an. »Guten Morgen, Liebling.« Sie war zerknirscht. »Ist es ein guter Morgen?« fuhr er sie barsch an. Bewußt reckte er sich, bewußt gähnte er, bewußt kratzte er sich an der Brust. Jede Bewegung war häßlich. Gala Tropile bebte, aber sie sagte nichts. Tropile warf sich in den besseren der beiden Sessel. Ein behaartes Bein schaute unter den zusammengewickelten Decken hervor. Seine Frau bewies beste Manieren – nach seinen persönlichen Maßstäben: Sie senkte den Blick nicht. »Was hast du da?« fragte er. »Kaffee?« »Ja, Liebster. Ich dachte – «
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»Wo hast du ihn her?« Die gequälten Augen blickten zur Seite. Gut, dachte Glenn Tropile wieder, zufriedener noch als sonst; sie hat wieder ein altes Lagerhaus geplündert. Es war ein Trick, den er ihr beigebracht hatte, und wie alle unerlaubten Tricks, die sie von ihm gelernt hatte, war er eine nützliche Waffe, wenn er sie zu gebrauchen geruhte. Es war nicht vorgeschrieben, daß eine Bürgerin alte Gebäude durchsuchen sollte. Ein Bürger tat seine Arbeit, gleichgültig, worin sie bestehen mochte – Bankier, Bäcker oder Möbeltischler. Er erhielt, was ihm für seine Arbeit an Lohn zustand. Ein Bürger nahm niemals etwas, das ihm nicht gehörte – nein, nicht einmal dann, wenn es verlassen dalag und verderben mußte. Das war einer der Unterschiede zwischen Glenn Tropile und den Leuten, unter denen er lebte. Jetzt hab’ ich es, triumphierte er; es war das, was er gebraucht hatte, um seinen Sieg über sie zu vollenden. »Ich brauche dich mehr, als ich Kaffee brauche, Gala«, sagte er. Sie sah bedrückt auf. »Was soll ich tun, wenn dir eines Tages ein Balken auf den Kopf fällt, während du in den seltenen Lebensmitteln herum kramst?« fuhr er fort. »Wie kannst du solche Risiken eingehen? Weißt du denn nicht, was du mir bedeutest?« Sie zog ein paarmal die Luft durch die Nase hoch. »Liebling, wegen gestern nacht – es tut mir leid – «, sagte sie stockend und hielt ihm gequält die Tasse hin. Er nahm sie und stellte sie ab. Er ergriff ihre Hand, sah zu ihr auf und küßte die Hand lange. Er spürte, wie sie zitterte. Dann warf sie ihm einen wilden, anbetenden Blick zu und warf sich in seine Arme.
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In dem Augenblick, als er ihre stürmischen Küsse erwiderte, begann ein neuer Beherrschungszyklus. Glenn wußte, und Gala wußte, daß er ihr überlegen, ihr gegenüber im Vorteil war; er hatte den Vorteil des Windes, die Initiative des ersten Schusses, die Lebenskraft des Nichtverlieren-Könnens. Man mochte es nennen, wie man wollte, aber für Wesen von Glenn Tropiles Art war es das Leben selbst. Er wußte, und sie wußte, daß er seinen Vorteil verfolgen und daß sie nachgeben würde – immer weiter, in einer aufsteigenden Spirale. Er tat es, weil es sein Leben war, einen Vorteil über jeden zu erreichen, dem er begegnen mochte, denn er war ein Sohn des Wolfes.
Eine Welt entfernt hockte eine Pyramide finster auf der abgeplatteten Spitze des höchsten Himalajagipfels. Sie war dort nicht erbaut worden. Menschen oder Maschinen hatten sie nicht hinbefördert. Sie war zu ihrer eigenen Zeit aus ihren eigenen Gründen gekommen. Erwachte es an diesem Tag, das Ding auf dem Mount Everest, oder schlief es überhaupt jemals? Niemand wußte es. Es stand oder saß dort, annähernd ein Tetraeder. Sein Äußeres war bekannt; auf einer Grundlinie von etwa fünfunddreißig Metern konstruiert, rauhe Oberfläche, von mitternachtsblauer Farbe. Sonst wußte die Menschheit fast nichts darüber. Es war das einzige Gebilde seiner Art auf der Erde, wenngleich die Menschen glaubten – ohne sicheres Wissen –, daß es mehr, vielleicht viele Tausende von ihnen, auf dem unbekannten Planeten gab, der jetzt der Zwillingsplanet der Erde war und mit ihr die Miniatursonne in ihrem gemeinsamen Schwerkraftzent rum umrundete. Über den Planeten selbst wußten die Menschen aber sehr wenig, nämlich nur, daß er aus dem Weltraum gekommen war und sich nun hier befand.
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Die Zeit war vorüber, als die Menschen versucht hatten, dem Doppelplaneten einen Namen zu geben, vor mehr als zwei Jahrhunderten, als er zum erstenmal erschienen war. ›Entflohe ner Planet‹, ›Der Eindringling‹, ›Der neue Messias‹. Die Bezeichnungen hätten ebensogut Rülpslaute sein können; sie waren ohne Sinn; sie waren die Unbekannten in einer Gleichung, das ›X‹, das nur bedeutete, daß etwas vorhanden, was unbekannt war. ›Der entflohene Planet‹ hörte auf zu fliehen, als er die Erde erreichte. ›Der Eindringling‹ drang nicht ein, er schickte nur einen schlackigen, mitternachtsblauen Tetraeder zum Mount Everest. Und ›Der neue Messias‹ stahl die Erde von ihrer Sonne – mit dem alten Mond der Erde, der in eine Miniatursonne verwandelt wurde. Das war jene Zeit, als die Menschen zahlreich und stark gewesen waren – oder sich dafür hielten, mit vielen riesigen Städten und zahllosen mächtigen Maschinen. Es nutzte alles nichts. Der neue Doppelplanet zeigte kein Interesse an den Städten oder Maschinen. Es gab eine Plage von Dingen wie stetig beobachtenden Augen, Staubstürmen ohne Staub, bewegungslo ser Luft, die sich plötzlich spannte und vibrierend zu linsenförmi gen Gebilden formte. Sie erschienen mit Planet und Pyramide, so daß vermutlich ein Zusammenhang bestand. Aber etwas gegen die Augen zu unternehmen war zwecklos; gegen sie vorzugehen, hieß, in die Luft zu schlagen. Im allerwörtlichsten Sinn. Während Menschen und Maschinen erfolglos versuchten, etwas dagegen zu tun, begann sich das neue Doppelsystem – der fremde Planet und die Erde – zu bewegen, ganz langsam beschleunigend. Nach einer Woche wußten die Astronomen, daß etwas vorging. Nach einem Monat ging der Mond in Flammen auf und wurde zu einer neuen Sonne – man begann sie zu brauchen, denn schon
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war die Muttersonne sichtbar weiter entfernt, und nach wenigen Jahren war sie nur mehr ein Stern unter vielen. Sobald die schwächere kleine Sonne ausgebrannt war, entzündeten sie – wer immer ›sie‹ sein mochten, denn die Menschen sahen nur die eine Pyramide – eine neue. Das geschah mehr oder weniger alle fünf Jahre. Es war dieselbe alte aus dem Mond geschaffene Sonne, aber sie brannte aus, und das Feuer mußte neu entzündet werden. Die erste dieser Sonnen hatte auf eine Erdbevölkerung von zehn Milliarden hinabgeblickt. Mit der Folge der Sonnentode und -auferstehungen traten Veränderungen ein, Klimaschwankungen, fast unmeßbare Verschiedenheiten in der Menge und Art der Strahlung von der neuen Quelle. Die Veränderungen waren von solcher Tragweite, daß die vierzigste dieser Sonnen auf eine schrumpfende Menschheit heruntersah, die keine hundert Millionen mehr ausmachte. Ein Mensch, dessen Entfaltungsmöglichkeiten eingeengt werden, wendet sich ins Innerliche. Mit einer Rasse ist es genauso. Die hundert Millionen, die sich ans Dasein klammerten, waren nicht dieselben wie die kühnen, lebenskräftigen zehn Milliarden. Das Ding auf dem Mount Everest hatte in seiner Zeit auch viele Bezeichnungen erhalten: der Teufel, der Freund, das Ungeheuer – ein pseudolebendiges Wesen mit völlig unbekannten elektro chemischen Eigenschaften. Auch diese Namen waren nichts anderes als ein ›X‹ für ›Unbekannt‹. Wenn es also an jenem Morgen erwachte, so schlug es keine Augen auf, denn es hatte keine Augen – abgesehen von den Lufterschütterungen, die zu ihm gehören mochten oder auch nicht. Augen im menschlichen Sinne mochten zerstört werden, also besaß es keine – so hätte eine unlogische Person schließen können. Glieder konnten zerquetscht werden; es besaß keine
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Glieder. Ohren konnten betäubt werden; es hatte keine. Durch einen Mund mochte es vergiftet werden; es hatte keinen Mund. Absichten und Handlungen konnten vereitelt werden; offenbar verfügte es über beides nicht. Es war da; das war alles. Es und andere wie es hatten die Erde gestohlen, und die Erde wußte nicht, warum. Es war da. Und das einzige auf der Welt, was man nicht tun konnte, war, es zu verletzten, zu beeinflussen oder zu irgend etwas zu zwingen. Es war da – und ihm oder den Besitzern, die es vertrat, gehörte die Erde durch das Recht des Diebstahls. Ganz. Über jede menschliche Hoffnung auf Bezwingung oder Wiedergutma chung hinaus.
2 Bürger und Bürgerin Germyn gingen in der Kälte und Düsternis eines – wie man hoffte – Sonnen-Neuerschaffungs-Morgens die Pine Street entlang. Es war Brauch, so zu tun, als sei das ein Morgen wie jeder andere. Es war auch unpassend, häufig hoffnungsvolle Blicke zum Himmel zu werfen oder verstört oder ängstlich zu erscheinen, weil dies schließlich der einundvierzigste solche Morgen war, seit jene, deren Fachgebiet Himmelsbetrachtung war, zu glauben begonnen hatten, daß die Wiedererschaffung der Sonne bevorstand. Der Bürger und seine Bürgerin tauschten mit ein paar alten Freunden Identitätsbeteuerungen und blieben stehen, um sich zu unterhalten. Auch dies war eine Gepflogenheit ohne Zweck; das Gespräch vermied jeden Bezug auf Dinge, die irgendein Beteiligter wissen, denken oder bestrebt sein mochte, in Erfahrung zu bringen. Germyn trug seinen Freunden ein
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Zwanzig-Wörter-Gedicht vor, das er zu Ehren des Ereignisses verfaßt hatte, und hörte ihre Erwiderungen. Sie ergänzten eine Weile Gedichtzeilen, bis jemand dadurch Mißstimmung und einen Wunsch, das Thema zu wechseln, ausdrückte, daß er zwei Falten zwischen seinen Brauen erscheinen ließ. Das Spiel wurde geschickt mit einer improvisierten gereimten Wechselrede beschlossen. Bürger Germyn schaute beiläufig nach oben. Der Himmelswan del hatte noch nicht begonnen; die sterbende alte Sonne hing knapp über dem Horizont, südöstlich, das heißt, viel weiter südlich als östlich. Es war ein häßlicher Gedanke, aber nehmen wir an, dachte Germyn, nehmen wir nur einmal an, die Sonne wird heute nicht wiedererschaffen? Oder morgen oder Oder jemals. Der Bürger nahm sich zusammen und sagte zu seiner Frau: »Wir speisen an den Haferbreibuden.« Die Bürgerin antwortete nicht sofort. Als Germyn sie mit wohlverhüllter Überraschung anblickte, sah er sie die düstere Straße fast hinunterstarren, auf einen Bürger, der nahezu daherschritt, nahezu die Arme schwang. Wenig anmutig. »Dieser könnte mehr Wolf als Mensch sein«, sagte sie zwei felnd. Germyn kannte den Mann. Er hieß Tropile. Einer der seltsamen wenigen, die außerhalb von Wheeling wohnten, obwohl sie keine Farmer waren. Germyn hatte in seiner Eigenschaft als Bankier mit ihm zu tun gehabt. »Das ist ein unbedachter und schlecht erzogener Mensch«, sagte er. Sie näherten sich der Haferbreibude mit der Gehweise von Bürgern, die Arme schlaff herabhängend, die Füße kaum gehoben, ein wenig vorgebeugt. Es war der uralte Gang von fünfzehnhundert Kalorien am Tag, von denen nicht eine vergeudet werden durfte.
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Es bestand Bedarf nach mehr Kalorien. So viele für das Gehen, so viele für die Nahrungsbeschaffung. So viele für die wirtschaft lichen Freuden der Bürger, und so viele mehr – oh, viele mehr, am heutigen Tage! –, um die Kälte fernzuhalten. Trotzdem gab es nicht mehr Kalorien; die Diät von der die ganze Welt lebte, war eine Ration zur bloßen Erhaltung des Lebens. Es war unmöglich, das Land gut zu bestellen, wenn die Hälfte des Landes zeitweise vom Meer überschwemmt, zeitweise mit Schnee bedeckt war. Die Bürger wußten das und wehrten sich nicht – es war ungraziös, sich zu wehren, vor allem, wenn man nicht gewinnen konnte. Nur die als Wölfe bekannten schreckli chen Wesen wehrten sich, vergeudeten Kalorien, ohne Rücksicht auf Anmut. Bürger Germyn beschäftigte sich mit angenehmeren Dingen. Er gestattete sich einen ersten Vorgeschmack auf den Hafer schleim. Er würde weiß in der Schale sein, warm in der Kehle, angenehm im Magen. Es gab da viel Freude, bei solchem Wetter, wenn die Kälte durch die gelockerten Nähte kroch und der Wind hindurchwehte. Nicht, daß übrigens nicht auch die Kälte Angenehmes geboten hätte. Es war passend, daß man jetzt fror, kurz vor der Neuerschaffung der Sonne, wenn die alte Sonne rauchigrot und die neue noch nicht entzündet war. »Sieht mir trotzdem nach Wolf aus«, murmelte seine Frau. »Zurückhaltung«, ermahnte Germyn seine Bürgerin, nahm der Rüge aber mit einem schiefen Lächeln die Spitze. Der Mann mit den häßlichen Manieren stand genau an der Theke der Haferbreibude, auf die sie zugingen. In der Düsternis des Vormittags wirkte er sehr kantig und straff; sein Kopf war unbeholfen über die Schulter gedreht, und er sah in die Bude hinein, wo der Verkäufer rhythmisch Haferbrei in einen Topf füllte; seine Hände lagen abstoßend auf der Theke, statt vorschriftsmäßig herunterzuhängen.
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Bürger Germyn spürte ein leichtes Zittern seiner Frau. Aber er rügte sie nicht schon wieder, denn wer konnte es ihr übelneh men? Die Darbietung war widerwärtig. Sie sagte schwach: »Bürger, könnten wir heute morgen Brot speisen?« Er zögerte und sah wieder den häßlichen Mann an. Er sagte nachsichtig, wissend, daß er nachsichtig war: »Am Morgen der Sonnen-Wiedererschaffung mag die Bürgerin Brot speisen.« Wenn man den Anlaß berücksichtigte, war es nur eine kleine Gefälligkeit, und deshalb eine sehr angemessene. Das Brot war gut, sehr gut. Sie teilten sich das halbe Kilo gramm und aßen es schweigend, wie es angebracht war. Germyn verzehrte seine erste Portion und entschloß sich in der vorgeschriebenen Pause, bevor er die zweite Portion in Angriff nahm, seine Augen himmelwärts zu erfrischen. Er nickte seiner Frau zu und trat hinaus. Über ihm verteilte die alte Sonne die letzten Reste von Wärme. Sie war größer als die Sterne ringsherum, aber viele von ihnen waren beinahe ebenso hell. Eine hohe Männerstimme sagte: »Bürger Germyn, guten Morgen.« Germyn war überrascht. Er löste den Blick vom Himmel, drehte sich halb herum, blickte in das Gesicht der Person, die ihn angesprochen hatte, hob die Hand zur Identitätsbeteuerung. Es ging alles ganz schnell und fließend – fast zu schnell, denn er hatte die Finger beinahe zum Zeichen für weibliche Bekannte gebogen, und dies war ein Mann. Bürger Boyne; Germyn kannte ihn gut; sie hatten ein Jahr zuvor gemeinsam die Eisbetrachtung am Niagara erlebt. Germyn erholte sich rasch, aber es war beunruhigend gewe sen. Er improvisierte hastig: »Da sind Sterne, aber sind die Sterne noch da, wenn es keine Sonne gibt?« Es war ein übereilter
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Versuch, bedauerte er, aber ohne Zweifel würde Boyne ihn aufnehmen und weiterspinnen. Boyne war stets sehr gut, sehr anmutig gewesen. Boyne tat nichts dergleichen. »Guten Morgen«, sagte er noch einmal, leise. Er schaute zu den Sternen hinauf, als versuche er zu enträtseln, wovon Germyn gesprochen hatte. Mit scharf umschlagender Stimme sagte er anklagend: »Es gibt keine Sonne, Germyn. Was halten Sie davon?« Germyn schluckte. »Bürger, vielleicht sollten Sie – « »Keine Sonne, hören Sie!« Der Mann schluchzte auf. »Es ist kalt, Germyn. Die Pyramiden werden uns keine Sonne mehr geben, wissen Sie das? Sie lassen uns verhungern, erfrieren. Sie sind fertig mit uns. Wir sind erledigt, alle!« Er kreischte beinahe. Die ganze Pine Street entlang bemühten sich die Leute, ihn nicht anzusehen, manche ohne Erfolg. Boyne griff hilflos nach Germyn. Entsetzt wich dieser zurück – körperliche Berührung! Das schien den Mann wieder zu Verstand zu bringen. Vernunft kehrte in seine Augen zurück. »Ich – «, sagte er. Er verstummte und starrte um sich. »Ich glaube, ich nehme Brot zum Frühstück«, sagte er töricht und stürmte in die Bude. Gepreßte Stimme, Schreien, Anfassen, keinerlei Manieren! Boyne ließ einen erschütterten Bürger zurück, erstarrt in der Bewegung des Handgelenks zum Abschied, mit hängendem Kiefer und geweiteten Augen ihm nachblickend, so, als besitze auch Germyn keine Manieren. All das am Tag der Sonnen-Wiedererschaffung!
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Was konnte das bedeuten? fragte sich Germyn ärgerlich. War Boyne daran – konnte Boyne im Begriff sein Er schreckte vor dem Gedanken zurück. Es gab etwas, das Boynes Verhalten erklären konnte, aber eine solche Vermutung durfte ein Bürger über einen anderen nicht anstellen. Trotzdem – Germyn wagte den Gedanken – trotzdem hatte es beinahe den Anschein, als sei Bürger Boyne im Begriff, Amok zu laufen. In der Haferbreibude schlug Glenn Tropile auf die Theke. Der saumselige Verkäufer brachte endlich die Schale Salz und den Krug Dünnmilch. Tropile nahm sein Papierröllchen voll Salz von dem geordneten Stapel in der Schale. Er sah den Verkäufer an, seine Finger zögerten, dann riß er das Röllchen auf und ließ die Prise Salz in seinen Haferschleim fallen und bedeckte ihn bis zur erlaubten Höhe mit Milch. Er aß schnell und konzentriert, während er die Straße draußen beobachtete. Sie wanderten und irrten herum, wie immer – vielleicht heute noch hilfloser als sonst, da sie hofften, es möge der Tag sein, an dem die Sonne erneut aufloderte. Tropile bezeichnete die herumwandernden, untertänigen Bürger stets als ›sie‹. Irgendwo gab es zweifellos ein ›Wir‹ für Tropile, aber er hatte es noch nicht gefunden, nicht einmal in den Bindungen des Ehekontrakts. Er hatte es nicht eilig. Im Alter von vierzehn Jahren hatte Glenn Tropile widerstrebend einige Dinge an sich begriffen; daß er es haßte, übertroffen zu werden; daß er bei allem einen gewissen Vorteil benötigte, sonst machte ihn ein unerträgliches Kribbeln im Denken elend. Die Dinge summierten sich zu einer erschreckenden Angst, aus der langsam Wissen wurde, daß das einzige ›Wir‹, das ihn sinnvoll einschließen konnte, jenes war, dem sich anzuschließen nicht sehr klug sein würde. Er hatte nämlich begriffen, daß er ein Wolf war.
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Jahre hindurch hatte Tropile dagegen gekämpft – denn ›Wolf‹ war ein schlimmes Wort, die Kinder, mit denen er spielte, wurden streng bestraft, wenn sie es gebrauchten. Sonst gab es kaum Strafen. Es gebührte sich für einen Bürger nicht, sich auf Kosten eines anderen einen Vorteil zu verschaffen; das taten nur Wölfe. Es gebührte sich für einen Bürger, sich mit dem zu begnügen, was er hatte, nicht nach mehr zu streben; Schönheit in kleinen Dingen zu finden; sich einzurichten auf das, was ihm sein Leben bot, mit einem Mindestmaß an Anstrengung und Unruhe. Wölfe waren nicht so. Wölfe meditierten nie, Wölfe bewunderten nie, Wölfe wurden niemals abberufen. Jene höchste Erfüllung, nur denen gewährt, die zu einer vollkommenen Meditation über die Zusammenhänge gelangten – das Aufgeben der Welt und des Fleisches, indem man beides zurückließ –, welche von einem Wolf nie zu erreichen war. Demzufolge hatte sich Glenn Tropile alle Mühe gegeben, alle jene Dinge zu tun, die Wölfe nicht tun konnten. Es war ihm beinahe gelungen; sein Fachgebiet, Wasserbetrach tung, war sehr lohnend gewesen; er hatte viele, zum Teil erfolgreiche Meditationen über den Zusammenhang bewältigt. Und trotzdem war er immer noch ein Wolf, denn er spürte immer noch den brennenden, kribbelnden Drang, zu triumphie ren und einen Vorteil zu erlangen. Aus diesem Grund war es ihm nahezu unmöglich, unter den Bürgern Freunde zu gewinnen, und mit der Zeit hatte er die Versuche fast aufgegeben. Tropile war vor fast einem Jahr nach Wheeling gekommen und war damit einer der frühen Siedler. Trotzdem gab es auf der Straße keinen Bürger, der bereit gewesen wäre, mit ihm Erkennungsgesten auszutauschen. Er kannte sie, fast jeden einzelnen. Er kannte ihre Namen und die Namen ihrer Frauen; er wußte, aus welchen Nordgebieten sie mit der Ausbreitung des Eises gekommen waren, als die Sonne zu verblassen begann; er wußte fast bis auf ein Viertelgramm genau, welche Vorräte an Zucker, Salz und Kaffee jeder von
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ihnen beiseite geschafft hatte – für ihre Gäste, natürlich, nicht für sich selbst; der wohlerzogene Bürger hortete nur für die Bewirtung anderer. Er wußte diese Dinge, weil es ihm einen Vorteil verschaffte, sie zu wissen. Es bestand aber kein Vorteil darin, wenn ihn jemand kannte. Ein paar Leute kannten ihn – dieser Bankier Germyn, denn Tropile hatte ihn vor einigen Monaten wegen eines Darlehens aufgesucht. Es war jedoch eine unsichere, nervöse Begegnung gewesen. Der Gedanke war Tropile so strahlend einfach erschienen – eine Expedition zu den Kohlenbergwerken zu organisieren, die einst in der Nähe floriert hatten; die Kohle finden, sie nach Wheeling bringen, die Häuser heizen. Germyn dagegen hatte den Plan als Blasphemie aufgefaßt. Tropile hatte, sich glücklich schätzen dürfen, daß man ihm nur das Darlehen abgeschlagen hatte, statt ihn als Wolf auszurufen.
Der Haferbreiverkäufer beugte sich besorgt über den säuberli chen Stapel von Papierröllchen in der Salzschale. Tropile wich seinem Blick aus. Er hatte kein Interesse an dem kleinen, schiefen Lächeln der Selbsterniedrigung, das ihm der Verkäufer, wenn man ihm nur halb Gelegenheit dazu bot, zeigen würde; Tropile wußte sehr gut, was den Mann störte. Mochte er ruhig verstört sein. Tropile hatte die Gewohnheit, zusätzliche Röllchen mitzunehmen; sie steckten schon in seiner Tasche; dort würden sie bleiben. Mochte sich der Verkäufer ruhig fragen, warum ihm Röllchen fehlten. Tropile leckte den Löffel ab und trat auf die Straße hinaus. Unter seinem doppelt dicken Anorak spürte er behaglich, daß der Wind sehr kalt wehte. Ein Bürger ging an ihm vorbei, allein. Merkwürdig, dachte Tropile. Er ging schnell, und auf seinem Gesicht war Verzweif lung zu lesen. Seltsam genug, um einen zweiten Blick zu rechtfertigen, weil diese Art von Hast, diese Art Zerstreutheit
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Tropile etwas verriet. Sie waren in keiner Weise normal für die sanften Schafe der Klasse ›sie‹, abgesehen von einem besonde ren Umstand. Glenn Tropile überquerte die Straße, um dem geistesabwesen den Bürger zu folgen, der, wie er wußte, Boyne hieß. Der Mann stieß vor der Bude des Bäckers auf Bürger Germyn, und Tropile blieb in einiger Entfernung stehen, um zuzusehen und zu lauschen. Boyne stand am Rand eines Zusammenbruchs. Was Tropile sah und hörte, bestätigte seine Diagnose. Der eine besondere Umstand mußte sich bald ergeben. Bürger Boyne war im Begriff, Amok zu laufen. Tropile betrachtete den Mann mit Belustigung und Verachtung. Amok! Man konnte es mit den sanften Schafen also auch zu weit treiben! Er hatte es schon miterlebt. Die Anzeichen waren unverkennbar. Das mußte sicherlich einen Vorteil für Glenn Tropile bringen. Vorteile waren überall zu erzielen, wenn man danach Ausschau hielt. Er beobachtete und wartete. Er suchte sich die Stelle mit Überlegung aus, um Bürger Boyne in der Bäckerbude sehen zu können, wo er ungeschickt sein viertel Kilo Brot vom Morgenlaib säbelte. Er wartete darauf, daß Boyne herausstürmte… Ein Schrei – laut, durchdringend: Es war Bürger Germyn, der mit schriller Stimme rief: »Amok, Amok!« Ein zweiter Schrei. Ein zorniger, tierischer Schrei Boynes, und das Bäckermesser blinkte im trüben Licht, als Boyne es schwang. Und dann flohen die Bürger in alle Richtungen – alle Bürger, bis auf einen. Ein Bürger war unter dem Messer – seinem eigenen, wie sich zufällig ergab; es war der Bäcker. Boyne stieß zu, immer wieder. Und dann kam er heraus, wie eine fauchende Flamme, während das Brotmesser über seinem Kopf pfiff. Die sanften Bürger flohen
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vor ihm in Panik. Er hieb auf ihre flüchtenden Gestalten ein und schrie und stieß zu. Amok! Es war der eine besondere Umstand, bei dem sie vergaßen, anmutig zu sein – einer der beiden, verbesserte sich Tropile, während er zur Bude des Bäckers schlenderte. Seine Brauen zogen sich zusammen, denn es gab noch einen Umstand, bei dem es ihnen an Anmut mangelte, und zwar einen, der ihn eher betraf. Er sah dem berserkerhaften Wesen nach, das schon weit die Straße hinuntergerannt war und eine Gruppe von Bürgern um die Ecke jagte. Tropile seufzte und betrat die Bäckerbude, um zu sehen, was er bei diesem Vorfall gewinnen konnte. Boyne würde sich erschöpfen; die aufwallende Wut würde ihn so schnell verlassen, wie sie ihn ergriffen hatte; er würde wieder ein Schaf sein, und die anderen Schafe würden ihn umzingeln und gefangennehmen. So geschah es immer, wenn ein Bürger Amok lief. Es war ein Maßstab dafür, unter welchem Druck die Bürger standen, daß jeder beliebige Augenblick ein Gramm Druck zuviel bringen mochte und einer von ihnen die Nerven verlor. Es kam dauernd vor. In den vergangenen zwei Monaten war es in Wheeling zweimal passiert. Glenn Tropile hatte es in Pittsburgh, in Altoona und Bronxville schon öfters miterlebt. Für jeden Druck gibt es eine Grenze. Tropile betrat die Bäckerbude und sah empfindungslos auf den niedergemetzelten Bäcker hinunter. Tropile hatte schon mehr Leichen gesehen. Er schaute sich prüfend um. Dann bückte er sich und hob das viertel Kilo Brot auf, das Boyne hatte fallenlassen, wischte es ab und steckte es in die Tasche. Nahrung war immer nützlich. Mit genügend Nahrung wäre Boyne vielleicht nicht Amok gelaufen. War es schlicht der Hunger, der sie dazu trieb? Oder das Wissen um das Ding auf dem Everest, die schwebenden Augen, die erwünscht-gefürchtete Aussicht auf Abberufung, oder einfach die Anstrengung, ihr mühevoll geregeltes Leben aufrechtzuerhalten?
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Kam es darauf an? ›Sie‹ verloren die Beherrschung und liefen Amok, aber Tropile würde es nie tun, nur das war wichtig. Er beugte sich über die Theke und griff nach dem Rest des Morgenlaibs Und starrte – in die großen, entsetzten Augen der Bürgerin Germyn. Sie kreischte: »Wolf! Bürger, helft mir! Hier ist ein Wolf!« Tropile stutzte. Er hatte die verdammte Frau nicht einmal bemerkt, aber da war sie schreiend hinter der Theke aufge taucht: »Wolf! Wolf!« Er sagte scharf: »Bürgerin, ich bitte Sie – « Aber das nützte nichts. Der Beweis war an ihm, und ihre Schreie würden andere herbeirufen. Tropile geriet in Panik. Er ging auf sie los, um sie zum Schweigen zu bringen, aber auch das hatte keinen Zweck. Er fuhr herum. Sie schrie und schrie, und es gab Leute, die das hören konnten. Tropile stürmte auf die Straße, aber schon sprangen sie aus allen Türen, tauchten aus allen Rattenlöchern auf, in die sie sich vor Boyne verkrochen hatten. »Bitte!« rief er zornig und angstvoll. »Wartet einen Augen blick!« Aber sie warteten nicht. Sie hatten die Frau gehört, und vielleicht hatte ihn jemand mit dem Brot gesehen. Sie hatten ihn umringt – nein, sich auf ihn gestürzt, sie krallten sich an ihm fest, zerrten an seiner Kleidung. Sie rissen an seinen Taschen, und die gestohlenen Papierröllchen mit Salz fielen beschuldigend heraus. Sie zerrten an seinen Ärmeln, und sogar die starken, ungelockerten Nähte platzten. Er war gefangen. »Wolf!« schrien sie. »Wolf!« Das Kreischen übertönte den fernen Lärm, als Boyne schließlich eingeholt worden war. Es übertönte alles. Dies war der andere Umstand, bei dem ›sie‹ vergaßen, Anmut zu zeigen: wenn sie einen Sohn der Wölfe gefangen hatten.
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Mit der Technik war es vor langer Zeit zu Ende gegangen. Technik ist möglich unter einer Bedingung der Gleichung: (Gesamtzahl der verfügbaren Kalorien)/Bevölkerung =künstlerisch technologischer Stil Wenn das Verhältnis Kalorien zu Bevölkerung hoch ist – zum Beispiel fünftausend Kalorien am Tag für jeden Lebenden – dann ist der künstlerisch-technologische Stil groß. Die Menschen meißeln den Mount Rushmore, sie bauen gewaltige Fabriken, sie stellen riesige Autos her, das eine einzige Hausfrau zum Kauf eines einzigen Lippenstifts eine halbe Meile weit befördert. Im anderen Extremfall, wo K kleiner als B ist, gibt es überhaupt kein Leben. Es ist ausgehungert worden. Erst im 1000 bis 1500 Kalorien-Bereich taucht der künstlerisch technologische Stil in selbsterzielter Fortdauer auf. K:B in diesem Bereich bringt die kleinen Künste hervor, das Etwas-schätzenKönnen, die friedliche Einrichtung der Notwendigkeiten in subtile Beziehungen traditionell anerkannter Tugenden. Japan, im Gefängnis des Meeres eingesperrt, pflückte karge Nahrung von Berghängen und Schönheit aus Gebinden von Flechten und Papier. Die kleinen, mit geringen Aufwendungen verbundenen Nebenkünste sind charakteristisch für den 1000-bis 1500-Kalorien-Bereich. Und dies war der Bereich der Erde, der Welt von hundert Millionen Menschen, nachdem der Planet von seinem neuen Zwilling entführt worden war. Einige ganz wenige Personen studierten den Gang der Wissen schaften mit Bleistift und wieder verwendbarem Papier, aber das letzte Forschungszentrum war längst außer Betrieb; man brauchte die Energie seines Wasserkraftwerks, um trübes Licht für Millionen Wohnungen zu liefern und Milchbrei für zwei Millionen Säuglinge zu kochen. In jenen Tagen schrieb ein
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pflichteifriger Byzantiner die endgültige Enzyklopädie der Technik – obwohl er kein Techniker war. Ihre vierhundertzwanzig winzigen Bände äußerten sich erschöpfend über die Pyramiden von Gizeh und ihre unbekannten Baumeister, die Chinesische Mauer, die Baumeister der Gotik, über Brunei, der das Gesicht Englands veränderte, über die Roeblings in Brooklyn, Groves vom Pentagon, Duggan vom Luftschutzsystem – bevor K:B so weit absank, daß die Möglichkeit eines Krieges verschwindend gering wurde –, über Levern vom Unternehmen Aufwärts. Aber dieser Enzyklopädist konnte keinen Rechenschieber bedienen, ohne grübeln, stocken, die Dezimalstellen notieren zu müssen. Und dann nahmen die Größen ab. Unter dem tektonischen und klimatischen Trommelfeuer der Entführung der Erde von ihrer Sonne, unter dem Vorrücken und Zurückweichen der Eishülle vom und zum Äquator im Sinuswel lenrhythmus, während die kleinen Folgesonnen zunahmen, starben und ersetzt wurden, blieb das Verhältnis K:B stabil. K hatte sich gewaltig vermindert, ebenso B. Mit der Abnahme der Kalorien zur Erhaltung des Lebens verringerte sich auch die Zahl der zu ernährenden Münder. Die fünfundvierzigste kleine Sonne schien auf keine Techniker mehr. Nicht einmal auf dem Doppelplaneten. Die Pyramiden, die Objekte auf dem Doppelplaneten, das Ding auf dem Mount Everest, waren keine Techniker. Sie bedienten sich einer primitiven Metaphysik auf der Grundlage von Zerschneiden und Stoßen. Sie hatten keine eleganten Feldtheorien. Alles, was sie wußten, war, daß sich alles zerteilte, daß sich ein Ding bewegte, wenn man es anstieß. Wenn der stärkste Druck nicht genügte, nahm man das Ding auseinander und übte Druck auf die Bestandteile aus, dann bewegte es sich. Manchmal mußten sie, um Nuklear wirkungen zu erzielen, Dinge in unendlich viele Teile zerlegen und jedes Teil vorsichtig anstoßen.
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Durch Auseinandernehmen und Stoßen landeten sie schließlich ihr einziges Raumschiff auf dem ausgebrannten Sönnchen, da es Sonnen-Wiedererschaffungs-Tag war. Vier Menschen waren in diesem Schiff. Sie meditierten kurz über den Zusammenhang und starben schreiend. Eine neue Flammenspitze erschien auf der Oberfläche des Sönnchens, und das Raumschiff suchte zum Doppelplaneten zu entfliehen. Die Flammenspitze verwandelte sich von Kirschrot über Orange zu bläulichem Weiß und begann sich auszubreiten.
Im Augenblick der Neuerschaffung allgemeiner Jubel auf der Erde.
der
Sonne
herrschte
Allerdings nicht überall. In Wheelings Haus der Fünf Regeln wartete Glenn Tropile ruhelos auf den Tod. Bürger Boyne, der Amok gelaufen war und den Bäcker niedergemetzelt hatte, teilte Tropiles Zimmer und sein Schicksal, aber nicht seine Wut. Boyne verfaßte mit stillem Vergnügen sein Sterbegedicht. »Reden Sie mit mir!« fauchte Tropile. »Warum sind wir hier? Was haben Sie getan, und warum haben Sie es getan? Was habe ich getan? Warum nehme ich nicht die Sitzbank und schlage Sie tot? Sie hätten mich vor zwei Stunden umgebracht, wenn Sie mich bemerkt hätten!« Bürger Boyne empfand keine Befriedigung. Die Leidenschaften in ihm waren ausgebrannt. Höflich bot er Tropile einen berühmten Ausspruch: »Bürger, die Kunst des Lebens ist der Ersatz von wichtigen Fragen ohne Antwort durch unwichtige Fragen, die man beantworten kann. Kommen Sie, wir wollen die neugeborene Sonne bewundern.« Er wandte sich zum Fenster und sah, wie sich der Funke der bläulichweißen Flamme über den verkohlten Mond auszubreiten begann.
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Tropile war soweit Kind seiner Kultur, daß er sich, beinahe unwillkürlich, mit ihm herumdrehte. Er blieb stumm. Diese bläulich-weiße Infinitesimale dort oben, langsam wachsend – das Einssein, das ruhige Entzücken, in einem Universum zu sein, in dem man ohne rauhe Störung verschmolz, das Einssein mit der großartigen bläulich-weißen Juwelen-Blume, die jetzt am Himmel erblühte, der nichts anderes war als man selbst Er schloß die Augen und meditierte über den Zusammenhang. Er war ›gut‹. Als die Verschmelzungsreaktion die ganze kleine Scheibe des Sönnchens umfaßte, nach einer Viertelstunde höchstens, ließ seine Meditation nach. Tropile legte den zerrissenen Anorak ab, ohne sich die Mühe zu machen, ihn noch weiter zu zertrennen. Im Zimmer begann es bereits warm zu werden. Bürger Boyne öffnete natürlich mit anmutig zerteilenden Gebärden jede Naht, große, fließende Anstrengung der Muskeln andeutend. Aber die Meditation war vorbei, und während Tropile seinen Zellengenossen betrachtete, schrie er ein stummes Warum? Seit seiner Jugend waren diese beiden klagenden Silben nie weit aus seinem Denken gewesen. Man konnte sie durch Betrachtung und Meditation zum Schweigen bringen. Tropile war auf seinem Fachgebiet der Wasserbetrachtung so gut, daß mehrere Anfänger ihn um Unterweisung in der subtilen Kunst gebeten hatten, trotz seiner berüchtigten Eigenheiten in Leben und Benehmen. Er genoß die Wasserbetrachtung. Mit jedem, der sich so ausschließlich auf, zum Beispiel, Wolken oder Gerüche konzentrierte – auch wenn das großartige Spiele waren –, daß er es mit der Wasserbetrachtung nicht einmal versucht hatte, empfand er beinahe Mitleid. Und nach einer Sitzung des Betrachtens, wenn man das Glück gehabt hatte, die Neun Kochstufen in klassischer Vollendung zu beobachten, mochte man in die Meditation entgleiten und sich harmonisieren, sich ›gut‹ fühlen.
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Aber was sollte man tun, wenn die Meditationen versagten – wie sie bei ihm versagt hatten? Was tat man, wenn sie in immer größeren Abständen eintraten, immer schwächer wurden und schließlich nur noch von einem gigantischen Ereignis wie der Erneuerung der Sonne hervorgerufen werden konnten? Man lief Amok, hatte er immer geglaubt. Aber nicht er, sondern Boyne. Ihn hatte man zu einem Sohn der Wölfe erklärt, auf keinen Beweis hin, den er zu begreifen vermochte. Aber er war nicht Amok gelaufen. Trotzdem, die Strafe war die gleiche, dachte er, und war sich eines unangenehmen, unvertrauten Kribbelns bewußt – nicht des innerlichen, unerträglichen Drangs, einen Vorteil erlangen zu müssen, sondern einer erkannten Empfindung am Beginn seines Rückgrats. Die Strafe für alle schweren Verbrechen – Wolf sein oder Amok laufen – war die gleiche, und zwar diese: Man würde die Lumbaipunktion durchführen. Er würde die Spende der Flüssigkeit leisten. Er würde danach tot sein.
Der Hüter des Hauses der Fünf Regeln, ein alter Mann, Bürger Harmane, schaute zu seinen Schützlingen hinein – wohlwollend auf Boyne, mit umwölktem Ausdruck auf Glenn Tropile. Man vertrat die Meinung, daß sogar Wölfe in der kurzen Spanne zwischen Bloßstellung und der Spende der Flüssigkeit Anspruch auf anständige Behandlung hatten. Der Hüter hätte nicht im Traum daran gedacht, den entdeckten Wolf finster anzublicken oder zu stören, wenn die Kreatur irgendeine jämmerliche Nachahmung einer Meditation vor dem Tod unternahm. Trotzdem konnte er sich nicht überwinden, auch nur eine Identitätsbeteuerung anzubieten. Tropile hatte keine solchen Hemmungen. Er starrte Hüter Harmane mit solcher Finsterkeit an, daß der alte Mann beinahe davongeeilt wäre. Er richtete einen fast
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ebenso bösartigen Blick auf Bürger Boyne. Wie konnte dieser Messermörder es wagen, so ruhig, so entspannt zu sein! »Sie bringen uns um!« sagte Tropile brutal. »Wissen Sie das? Sie stoßen uns eine Nadel in die Wirbelsäule und zapfen uns trocken. Das tut weh! Verstehen Sie mich? Sie lassen uns leerlaufen, und dann trinken sie unsere Rückenmarksflüssigkeit, und es tut weh.« »Wir werden die Spende geben«, verbesserte Bürger Boyne ruhig. »Ist der Unterschied einem Sohn der Wölfe nicht verständlich?« Das angemessene milde Lächeln bildete sich um Tropiles Lippen, aber er wischte es barsch weg. Man würde ihn töten. Er dachte nicht daran, sie auch noch anzulächeln! »Ich bin kein Sohn der Wölfe!« heulte er verzweifelt, obwohl er wußte, daß er gerade dem Menschen gegenüber protestierte, dem es von allen Leuten in Wheeling am gleichgültigsten war, und der auch am wenigsten hätte unternehmen können, wenn es ihn gekümmert hätte. »Was soll der Unsinn mit den Wölfen? Ich weiß nicht, was ein Sohn der Wölfe ist, und ich glaube, ihr wißt es auch nicht, niemand weiß es. Ich weiß nur, daß ich vernünftig gehandelt habe. Und alle begannen zu brüllen! Angeblich erkennt man einen Sohn der Wölfe an seiner Unkultur, seiner Unwissenheit, seiner Gewalttätigkeit. Sie haben drei Menschen niedergemetzelt, und ich habe nur ein Stück Brot aufgehoben! Und ich soll der Gefährliche sein!« »Wölfe wissen nie, daß sie Wölfe sind«, seufzte Bürger Boyne. »Fische halten sich wahrscheinlich für Vögel und Sie sich offenbar für einen Bürger. Würde ein Bürger sprechen, wie Sie es tun?« »Aber sie werden uns umbringen!« »Warum verfassen Sie dann nicht Ihr Todesgedicht?« Glenn Tropile atmete tief ein. Irgend etwas störte ihn.
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Es war schlimm genug, daß er sterben mußte, schlimm genug, daß er nichts getan hatte, wofür zu sterben sich lohnte. Aber was jetzt an ihm nagte, hatte nichts mit dem Sterben zu tun. Die Chancen verteilten sich verkehrt. Dieser blasse Bürger geriet ihm gegenüber in Vorteil. Eine übervolle Drüse in Tropiles Nebennieren – bei Bürger Boyne nur stecknadelkopfgroß – beförderte subtile Hormone in seinen Blutkreislauf. Er konnte sterben, ja – das war eine Fähigkeit, die jeder erwerben mußte, früher oder später. Aber solange er am Leben war, konnte er es nicht ertragen, bei einem Zusammentreffen, einer Diskussion, einer Beziehung zu unterliegen… nicht, wenn er leben wollte. Wolf? Man mochte ihn Wolf nennen oder auch Spieler, auf seinen Vorteil bedacht. Wenn ein Vorteil zu erringen war, würde er ihn erringen. So war er veranlagt. Er sagte zunächst: »Sie haben recht. Dumm von mir, ich muß den Kopf verloren haben!« Er dachte nach. Manche Männer denken, indem sie Probleme auseinanderteilen, andere, indem sie Tatsachen zum Vergleich nebeneinanderlegen. Tropiles Denken war nicht von dieser Art, sondern so etwas wie Judo. Er gestand seinem Gegner solche Dinge zu wie Stärke, Rüstung, Nachschub. Für sich selbst brauchte er diese Dinge nicht; zu jedem Wettstreit brachte der Gegner soviel davon mit, daß es für zwei reichte. Es war Tropiles Gewohnheit – und das war wölfisch, mußte er zugeben –, die Stärke seines Gegners gegen ihn zu wenden, den Gegner an seinen eigenen Stahlmauern zu zerbrechen. Er dachte nach. Das erste war, sich zu entschließen. Man sah in ihm einen Wolf. Dann würde er auch ein Wolf sein; er würde nicht auf das Abzapfen warten. Aber wie?
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Das zweite war, einen Plan zu machen. Es gab Hindernisse. Bürger Boyne war eines. Der Hüter des Hauses der Fünf Regeln ein weiteres. Wo war der Sprungstab, mit dem er diese Hürden überwinden konnte? Es gab ja noch immer Gala, seine Frau, dachte er. Sie gehörte ihm; sie würde tun, was er verlangte – vorausgesetzt, er brachte sie dazu, zu wollen, was sie zu tun hatte. Ja, Gala. Er ging zur Tür und schrie Bürger Harmane zu: »Hüter! Hüter! Ich muß meine Frau sprechen. Lassen Sie sie herbringen!« Es war dem Hüter unmöglich, das abzulehnen. Er tat es auch nicht. Er rief leise: »Ich werde die Bürgerin einladen«, und wankte davon. Das dritte war die Zeit. Tropile wandte sich an Bürger Boyne. »Bürger«, sagte er freundlich, »da Ihr Todesgedicht fertig ist und meines nicht, können Sie so gütig sein, als erster zu gehen, sobald sie – sobald sie kommen?« Bürger Boyne sah seinen Zellengenossen gemessen an und zeigte das schiefe Lächeln. »Sehen Sie?« sagte er. »Wolf.« Und das war richtig, aber ebenso richtig war, daß er sich nicht weigern konnte und es auch nicht tat.
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Eine halbe Welt entfernt hockte die mitternachtsblaue Pyramide auf der abgeplatteten Bergspitze, wie seit den Tagen, als die Erde noch eine richtige, eigene Sonne besessen hatte. Für die Pyramide war nicht von Bedeutung, daß Glenn Tropile im Begriff war, einen dünnen Katheter in seine Wirbelsäule gestoßen zu bekommen, der seinen Saft, sein Leben abzapfen sollte. Es spielte für die Pyramide keine Rolle, daß die Rücken marksflüssigkeit dann von seinen Mitmenschen getrunken werden sollte, oder daß der Vorwand für die Hinrichtung eine Tat war, die man in der menschlichen Geschichte nicht als Haupt verbrechen zu betrachten gewohnt war. Rituelle Opfer, in welcher Verkleidung auch immer, bedeuteten der Pyramide nichts. Die Pyramide sah sie kommen, die Pyramide sah sie gehen – wenn man von der Pyramide behaupten konnte, daß sie ›sah‹. Ein menschliches Wesen mehr oder weniger, was bedeutete das? Und doch hatte die Pyramide ein gewisses Interesse an Glenn Tropile und an der Menschheit, zu der er gehörte. Niemand wußte viel über die Pyramiden, aber soviel wußte jeder: Sie wollten etwas – denn warum hätten sie die Erde sonst gestohlen? Das Datum des Diebstahls war das Jahr 2027. Ein großes Jahr: das Jahr der ersten Landungen auf dem Fliehenden Planeten, der in das Sonnensystem geraten war. Vielleicht waren diese Landungen ein Fehler gewesen – wenngleich sie auch ein ganz großer Triumph waren –, aber ohne die Landungen wäre der Fliehende Planet vielleicht glatt durch die Ekliptik gerast und verschwunden. Der triumphale Fehler wurde jedoch begangen, und dies war das erstemal, daß ein menschliches Auge eine Pyramide sah. Kurz danach – aber nicht, bevor ein Funkspruch abgeschickt worden war – erlosch dieses menschliche Auge für immer, aber
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da war der Schaden schon angerichtet. Was für eine Pyramide als ›Aufmerksamkeit‹ gelten mochte, war erregt worden. Was als nächstes geschah, ließ die drahtlosen Verbindungen zwischen Mount Palomar und Pernambuco, zwischen Greenwich und dem Kap der Guten Hoffnung erzittern, summend und besorgt, als Astronomen auf der ganzen Erde die erstaunliche Tatsache meldeten und bestätigten, daß unser Planet in Bewegung geraten sei. ›Der neue Messias‹ war erschienen, um uns fortzuholen. Eine Welt von zehn Milliarden Menschen, einige von ihnen genial, viele von ihnen mutig, baute und schleuderte die gigantischsten Raketen nach dem Eindringling: Nichts. Die Erde flog in Spiralen nach draußen. Wenn eine Schlacht nicht gewonnen werden konnte, dann vielleicht eine Auswanderung. Man baute hastig neue Raumschif fe. Aber sie lagen da und verrosteten, während die Sonne schrumpfte und das Eis wuchs, denn wohin konnte man sich wenden? Nicht zum Mars, nicht zum Mond, der mitflog, nicht zur erstickenden Venus oder zum zermalmenden Jupiter. Die Auswanderung wurde so sicher verloren wie der Krieg, weil es keinen Platz gab, zu dem man auswandern konnte. Eine Pyramide kam zur Erde, nur eine einzige. Sie rasierte die Spitze vom höchsten Berg, den es gab, und hockte sich darauf. Ein Beobachter? Ein Wächter? Was immer sie sein mochte, sie blieb. Die Sonne entfernte sich zu weit, um noch nutzvoll zu sein, und aus dem alten Mond errichteten die Pyramiden-Wesen am Himmel eine neue Kleinsonne – eine Fünf-Jahr-Sonne, die ausbrannte und ersetzt wurde, immer und immer und endlos wieder. Auf der Seite der zehn Milliarden war es ein erbitterter Kampf um unerreichbare Chancen gewesen, und als endlich die Nutzlosigkeit des Kampfes erwiesen war, erfroren viele der zehn Milliarden, und viele von ihnen verhungerten, und bei fast allen,
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die übrigblieben, war etwas herausgefroren oder herausgehun gert, und was geblieben war, zwei Jahrhunderte und mehr später, war mehr oder weniger wie Bürger Boyne, bis auf ganz, ganz wenige wie Glenn Tropile.
Gala Tropile starrte ihren Mann gequält an. »Ich will hier ‘raus«, sagte er drängend. »Sie wollen mich umbringen. Gala, du weißt, daß du dich nicht leiden lassen darfst, indem du zuläßt, daß sie mich töten!« »Ich kann nicht!« klagte sie. Tropile schaute über die Schulter. Bürger Boyne betastete die Konturen eines goldenen Uhrgehäuses, das seinem Vater gehört hatte – und bald seinem Sohn gehören würde. Boynes Augen waren geschlossen, und er hörte nicht zu. Tropile beugte sich vor und legte bewußt die Hand auf den Arm seiner Frau. Sie zuckte natürlich zusammen und wurde rot; er konnte ihr Zittern spüren. »Du kannst«, sagte er, »und mehr noch, du wirst. Du kannst mir helfen, hier herauszukommen. Ich bestehe darauf, Gala, weil ich dir diesen Schmerz ersparen muß.« Er nahm zufrieden die Hand von ihrem Arm. Er sagte rauh: »Liebling, glaubst du, ich wüßte nicht, wieviel wir einander immer bedeutet haben?« Sie sah ihn verzweifelt an. Nervös zupfte sie am sich bau schenden hauchdünnen Ärmel ihrer Sommerbluse. Die Nähte waren nicht gelockert, dafür war keine Zeit mehr gewesen. Sie hatte eben das passende Kostüm für den SonnenWiedererschaffungs-Tag angelegt, unter dem Anorak zu tragen, als der Bote mit der Nachricht über ihren Mann eingetroffen war. Sie mied seinen Blick. »Wenn du wirklich ein Wolf bist – «
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Tropiles Nebennieren pulsierten und erfüllten ihn mit zuver sichtlicher Stärke. »Du weißt, was ich bin. Du besser als jeder andere.« Es war eine versteckte Anspielung auf ihr seltsames, geheimes Verhalten miteinander; wie die Hand auf ihrem Arm, tat sie ihre Wirkung. »Warum streiten wir uns schließlich so wie gestern nacht?« Er beeilte sich. Er wollte sie anspornen, nicht eine alte Wunde aufreißen. »Weil wir füreinander wichtig sind. Ich weiß, du würdest auf mich zählen, wenn du Hilfe brauchtest. Und ich weiß, daß du verletzt wärst – tief sogar, Gala! –, wenn ich mich nicht auf dich verlassen würde.« Sie bückte sich und zerrte am farbigen Riemen ihrer Sandale. Dann erwiderte sie seinen Blick. Es war natürlich die Nachwirkung des Streits. Glenn Tropile wußte genau, wie stark er sich darauf stützen mußte. Sie unterwarf sich. Sie sah verstohlen zu Bürger Boyne hinüber und senkte die Stimme. »Was muß ich tun?« flüsterte sie. Nach fünf Minuten war sie gegangen, aber das war mehr als genug. Tropile hatte noch mindestens weitere dreißig Minuten. Sie würden Boyne zuerst abholen, dafür hatte er gesorgt. Und sobald Boyne fort war Tropile riß ein Bein aus seinem dreibeinigen Hocker und balancierte unsicher auf den zwei übrigen. Der Hüter des Hauses der Fünf Regeln schlurfte vorbei und schaute ins Zimmer. »Wolf, was ist mit Ihrem Hocker?« Tropile machte eine Geste mit der Linken: Unwichtig.
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»Spielt keine Rolle. Aber es ist schwer, zu meditieren, wenn man auf diesem Ding sitzt und alle Muskeln anspannen muß, um das Gleichgewicht zu halten…« Der Hüter machte ein alles andere aufhebendes Zeichen: Laßtmich-helfen, bitte. »Ihre letzte halbe Stunde, Wolf«, erinnerte er Tropile. »Ich repariere den Hocker für Sie.« Er trat ein und hämmerte den Hocker zusammen, bevor er mit einem Ausdruck milder Besorgnis ging. Sogar ein Sohn der Wölfe hatte Anspruch, die einmalige Gelegenheit zur Meditation in der letzten halben Stunde vor einer Spende voll zu nützen. Nach fünf Minuten kam er zurück, ernst und doch froh, wie ein Überbringer ernster, aber erfreulicher Nachrichten. »Es ist Zeit für die erste Spende«, verkündete er. »Wer von euch – « »Er«, sagte Tropile schnell und zeigte mit dem Finger. Boyne öffnete langsam die Augen und nickte. Er stand auf, machte vor Tropile eine förmliche Abschiedsverbeugung und folgte dem Hüter zu seiner Spende und dem Tod. Als sie hinausgingen, äußerte Tropile hüstelnd einen kleinen Wunsch. Der Hüter blieb stehen. »Was ist, Wolf?« Tropile zeigte ihm den leeren Wasserkrug; er hatte ihn zum Fenster hinausgeleert. »Verzeihung«, sagte der Hüter, wurde rot und drängte Boyne hinaus. Er kam sofort zurück, um den Krug zu füllen. Er wartete nicht einmal, um die zeremonielle Spende zu verfolgen. Tropile beobachtete ihn. Seine Adrenalindrüsen begannen zu hämmern wie das stürmische Brodeln kochenden Wassers. Der Hüter befand sich im Nachteil. Er hatte seinen Pflegling vernachlässigt – ein zerbrochener Hocker, kein Wasser im Krug. Und ein Bürger, erzogen nach dem Brauch von Rücksicht und
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Takt eines Bürgers, konnte nicht anders als gedemütigt sein, mußte Wiedergutmachung versuchen. Tropile nützte seinen Vorteil. »Warten Sie«, sagte er gewinnend zum Hüter. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.« Der Hüter zögerte. »Die Spende – « »Zum Teufel mit der Spende«, sagte Tropile gelassen. »Was ist schließlich schon dabei, als daß man ein Röhrchen in das Rückgrat eines Mannes steckt und die Flüssigkeit absaugt, die ihn am Leben erhält? Ein Mord, sonst nichts.« Der Hüter erbleichte. Tropile stieß Blasphemien aus und hörte nicht auf damit. »Ich möchte Ihnen von meiner Frau erzählen«, fuhr Tropile im vertraulichen Ton fort. »Das ist eine richtige Frau, wissen Sie. Nicht eine von diesen zu Eis erstarrten Bürgerinnen, verstehen Sie? Sie und ich haben sogar – « Er zögerte. »Sie sind doch ein Mann von Welt, nicht?« fragte er. »Ich meine, Sie kennen das Leben.« »Ich – nehme an«, sagte der Hüter schwach. »Dann werden Sie auch nicht schockiert sein, das weiß ich«, log Tropile. »Ich will Ihnen das eine sagen: Bei Frauen gibt es vieles, wovon diese steifen Bürger nichts wissen. Mensch! Haben Sie schon mal das Knie einer Frau gesehen?« Er kicherte. »Haben Sie es schon mal geküßt, während« – er zwinkerte ihm zu – »während das Licht brannte! Haben Sie schon mal in einem großen Lehnstuhl gesessen, eine Frau auf dem Schoß? – ganz weich und schwer und warm, an die Brust geschmiegt, wissen Sie, und – « Er verstummte und schluckte; es wurde ihm beinahe übel; es fiel schwer, diese Dinge auszusprechen. Aber er zwang sich, weiterzureden: »Nun, sie und ich haben diese Dinge
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getan. So vieles. Die ganze Zeit. Das nenne ich eine richtige Frau.« Er schwieg – gewarnt von der plötzlichen Veränderung des Ausdrucks beim Hüter, von den glasigen Augen, dem stockenden Atem. Er war zu weit gegangen. Er hatte den Mann nur lähmen, ihn anwidern, handlungsunfähig machen wollen, aber er hatte es übertrieben. Er sprang hinzu und fing den Hüter auf, als dieser ohnmächtig zusammenbrach. Gefühllos leerte Tropile den Wasserkrug über ihm aus. Der Hüter nieste und setzte sich betäubt auf. Er richtete mühsam den Blick auf Tropile und wurde plötzlich rot. Tropile sagte rauh: »Ich wünsche, von der Straße aus die neue Sonne zu sehen.« Die Forderung war unglaublich. Selbst nach den unfaßbaren Obszönitäten, die er vernommen hatte, war der Hüter darauf nicht vorbereitet; er war bis ins Mark erschüttert. Tropile wurde wegen der Fünften Regel in Gewahrsam gehalten. Nur darauf kam es an. Solche Personen durften ihr Quartier nicht verlassen; der Hüter wußte es, die Welt wußte es, Tropile wußte es. Es war eine beinahe noch größere Obszönität als die entsetzli chen Geschichten perverser Lust, denn Tropile hatte etwas Unmögliches verlangt! Niemand verlangte jemals etwas, das auf keinen Fall gewährt werden konnte – denn niemand vermochte jemals etwas zu verweigern; das war undenkbar, der Gipfel der Verworfenheit. Man konnte lediglich versuchen, einen Kompromiß zu schlie ßen. Der Hüter stammelte: »Darf ich – darf ich Sie die neue Sonne vom Flur aus sehen lassen?« Und selbst dies war gräßlich falsch, aber er mußte etwas anbieten. Man bot immer etwas an. Der Hüter hatte, seit er ein Kind gewesen war, niemals zu irgend jemandem ein glattes ›Nein‹ gesagt. Kein Bürger hatte das anders gehalten. Ein glattes ›Nein‹ führte zu Mißstimmung, zu Kraftausdrücken – möglicherweise sogar zu Schlägen. Das
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einzige glatte ›Nein‹, das man sich vorzustellen vermochte, war das ungeheure, endgültige ›Nein‹ gegenüber einem Amoklauf. Aber sonst Sonst bot man etwas an. Man teilte sich die Differenz. Man war unweigerlich von sanfter Freude erfüllt, wenn das Angebot angenommen, die Differenz geteilt wurde, wenn beide Parteien zufrieden waren. »Das genügt für den Anfang«, fauchte Tropile. »Aufmachen, Mann, aufmachen! Lassen Sie mich nicht warten.« Der Hüter wankte und entriegelte die Tür zum Korridor. »Jetzt die Straße!« »Ich kann nicht!« entrang es sich qualvoll der Kehle des Hüters. Er vergrub das Gesicht in den Händen und begann hilflos zu schluchzen. »Die Straße!« sagte Tropile unbarmherzig. Er fühlte sich selbst krank und gepeinigt; er stellte sich gegen die Sitte, die sein Leben bisher ebenso beherrscht hatte wie das des Hüters. Aber er war ein Wolf. »Ich will Wolf sein«, knurrte er und trat auf den Hüter zu. »Meine Frau«, sagte er. »Ich habe noch nicht alles erzählt. Manchmal pflegte sie den Arm um mich zu legen, sich an mich zu schmiegen, und einmal küßte sie mein Ohr, erinnere ich mich. Am hellichten Tag. Es fühlte sich seltsam und warm an, ich kann es nicht beschreiben.« Wimmernd schleuderte der Hüter Tropile die Schlüssel hin und wankte gebrochen davon. Er war nicht mehr im Spiel. Tropile selbst ging es beinahe ebenso schlecht; der Unterschied war, daß er weitermachen konnte. Die in ihm hochsteigenden Worte verätzten seine Kehle wie Säure.
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»Sie nennen mich Wolf«, sagte er laut, während er an die Wand taumelte, »also werde ich einer sein.« Er sperrte die Außentür auf, und seine Frau wartete, das Verlangte in den Armen. Tropile sagte rätselhaft zu ihr: »Ich bin Stahl und Feuer. Ich bin Wolf und habe Mumm.« Sie jammerte: »Glenn, bist du sicher, daß ich richtig handle?« Er lachte unsicher und führte sie durch die verlassenen Straßen.
5 Bürger Germyn half, wie es sein Recht nach Stellung und Status als Kenner war, dabei, Bürger Boyne auf seine Spende vorzubereiten. Dazu gehörte nicht viel, so daß es, der Ethik der Bürger entsprechend, eine komplizierte, langatmige Aufgabe war; sie mußte hinausgezogen werden, jeder Schritt war zeremoniell vorgeschrieben. Das Ganze fand im hellen Tageslicht der neuen Sonne statt, und von den dreihundert Bürgern Wheelings fanden sich alle, die es ermöglichen konnten, im Hof des alten Bundesgebäudes ein, um zuzusehen. Die Art der Zeremonie war folgende: Ein Mann, der sich als Wolf entpuppt hatte oder endlich den Anforderungen des Lebens erlegen und Amok gelaufen war, durfte nicht am Leben bleiben. Er wurde vor ein Auditorium von Gleichgestellten gebracht und ermächtigt –, notfalls mit Gewalt, aber vorzugsweise nicht – die Spende der Rückenmarksflüssigkeit zu geben. Hinrichtung war Mord, und Mord war unter dem sanften Moralkodex der Bürger nicht gestattet; hier handelte es sich nicht um eine Hinrichtung. Das Absaugen der Rückenmarksflüssigkeit eines Mannes tötete ihn nicht. Es sorgte nur dafür, daß sich sein Metabolismus nach
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einiger Zeit und unter großen Qualen so veränderte, daß er starb. Sobald die Spende geschehen war, änderte sich das Problem natürlich auf der Stelle; Leiden war an sich schlecht; um den Spender vor den bevorstehenden Qualen zu schützen, war es Brauch, daß der älteste und sanfteste Bürger mit einem scharfgeschliffenen Messer bereitstand. Sobald die Spende beendet war, schnitt man dem Spender den Kopf ab – nur, um ihn nicht leiden zu lassen; auch das war keine Hinrichtung, sondern nur die Beschleunigung eines unvermeidlichen Endes. Die zwölf oder dreizehn Bürger, deren Rang ihre Assistenz gestattete, lösten die Rückenmarksflüssigkeit dann ernsthaft in Wasser auf und tranken sie zeremoniell. Zu diesem Zeitpunkt gehörte es sich, als Kommentar ein kleines Gedicht zu bieten. Alles in allem war es eine geradezu großartige Gelegenheit zur reinsten Form der Meditation für alle Beteiligten. Bürger Germyn, der als Katheter-Träger fungierte, nahm seinen Platz hinter dem Intubator-Träger, den Ankündigern und dem Befrager des Zwecks ein. Als Germyn an Bürger Boyne vorbeiging, half er ihm, die passende Beugehaltung einzuneh men; Boyne hob dankbar den Kopf, und Germyn fand die Gelegenheit für ein wohlwollendes Halb-Lächeln passend. Der Befrager des Zwecks sagte ernsthaft zu Boyne: »Sie haben das Anrecht darauf, heute hier eine Spende zu erbringen. Wünschen Sie es?« »Ja«, sagte Boyne hingerissen. Die Angst war verflogen. Er schien zuversichtlich zu sein, eine gute Spende erbringen zu können. Germyn billigte seine Haltung von ganzem Herzen. Die Ankündiger verkündeten mit abwechselnd gesprochenen Strophen die angemessene Meditationspause für die kleine Zuschauermenge, und alle verstummten. Bürger Germyn begann den Prozeß, sein Gehirn zu entleeren und sich auf die großartige Gelegenheit zur Bewunderung vorzubereiten. Ein Geräusch lenkte ihn ab; er sah gereizt auf. Es schien vom Haus der Fünf
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Regeln zu kommen, eine Männerstimme, weit tragend. Aber niemand sonst schien sie wahrzunehmen. Alle Zuschauer, alle auf den Steinstufen versammelten Personen waren in ernster Meditation versunken. Germyn versuchte, seine Gedanken wieder dorthin zu richten, wo sie hingehörten… Aber irgend etwas störte ihn. Er hatte einen Blick auf den Spender geworfen, und da war etwas gewesen, etwas Er erlaubte sich zornig, noch einmal aufzusehen, um festzustel len, was an Bürger Boyne seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ja, da war etwas. Über der Gestalt Bürger Boynes, lautlos, kaum sichtbar, ein Zucken von Leben und Bewegung. Nichts Faßbares. Es war, als sei die Luft selbst in Bewegung… Es war, dachte Germyn, während sein Herz zu zerreißen drohte, es war ein Auge! Das wahre Wunder der Abberufung, es sollte hier und jetzt stattfinden, mit der Person des Bürgers Boyne! Und niemand wußte es außer ihm! Mit dieser letzten Vermutung irrte sich Bürger Germyn. Gewiß, sonst sahen keine menschlichen Augen, was die Luft über Boynes zusammengekauertem Körper verzerrte, aber es gab, in gewissem Sinn, noch einen Zeugen, Tausende von Meilen entfernt. Die Pyramide auf dem Mount Everest ›regte sich‹. Sie bewegte sich nicht, aber irgend etwas an ihr bewegte sich, veränderte sich oder strahlte aus. Die Pyramide betrachtete ihr – Kohlfeld? Armbanduhr-Bergwerk? Es ergab ebensoviel Sinn, Armbanduhr-Feld oder Kohl-Bergwerk zu sagen; jedenfalls betrachtete sie, was für sie ein Ort war, wo verwickelte Mechanismen wuchsen, reiften und im Augenblick der Nutzbar keit ausgegraben wurden, worauf man sie schnellgefror und mit Stromkreisen verband.
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Durch Signale, für die sie empfindlich war, hatte die Pyramide ›wahrgenommen‹, daß einer ihrer Mechanismen jetzt bereit war. Das Blut der Pyramide waren elektrische Ströme, ihre Glieder elektrostatische Ladungen. Ihre Philosophie lautete: Schraub ab und übe Druck aus. Ihr Motiv war: Überleben. Überleben heute war nicht dasselbe, was Überleben einmal für eine Pyramide gewesen war. Einst war Überleben lediglich gewesen, auf einem Kissen abstoßender Ladungen dahinzuglei ten, strömende Elektronen für den Rückstoß hinter sich, oft genug Hochfrequenzimpulse aussendend, um ein Echobild tief in sich zu integrieren. Wenn das Bild etwas Metabolisierbares zeigte, metabolisierte man es. Man zerlegte es in Moleküle, indem man es mit den von den zerstreuten Elektronen übriggebliebenen Protonen beschoß; man absorbierte die Moleküle. Manchmal war das metabolisier bare Objekt etwas Unbewegliches, manchmal etwas Bewegliches – eine undeutliche, theoretische Philosophie, deren Grundlage war, daß man alles auseinanderschrauben konnte. Wenn es etwas Bewegliches war, mußte man ihm manchmal folgen; das war der Unterschied. Das Entscheidende war das Überleben, nicht, unwichtige Unterscheidungen zu treffen. Und ein kleiner Teil des Überlebens heute war Aufgabe der Everest-Pyramide. Sie hockte da und wartete. Sie schickte ihre Hochfrequenzim pulse hinaus und nahm sie bei ihrer Rückkehr auf. Tief im Innern wurde das mehr als anamorph verzerrte Bild neu aufgebaut; noch tiefer wurde es auf seinen Beitrag zum Überleben ausgewertet und interpretiert. Es bestand ein Bedarf an gewissen komplexen Mechanismen, die auf diesem Planeten wuchsen. In unregelmäßigen Zeitabständen wertete die Pyramide das Bild mit der Wirkung aus, daß ein Mechanismus – sozusagen eine Armbanduhr – reif zum Pflücken war, und mit elektrostatischen Ladungen pflückte sie ihn. Die elektrostati schen Ladungen formten sich zu dem, was die Menschen ein
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Auge nannten; aber die Pyramide konnte mit Namen nichts anfangen. Sie pflückte nur, sobald ein Mechanismus reif war. Sie hatte festgestellt, daß jetzt ein Mechanismus reif war. Eine Welt entfernt, vor den Stufen zu Wheelings Bundesgebäu de, sammelten sich elektrostatische Ladungen über einer Komponente, die den Namen Bürger Boyne trug. Es gab ein leises Geräusch wie das Klatschen von zwei Händen, worauf die dreihundert Bürger Wheelings aus ihrer Meditation hochschreck ten. Das Geräusch stammte von der zusammenprallenden Luft, die jene Lücke ausfüllte, wo vorher Bürger Boyne gewesen, der augenblicklich verschwunden war – der reif gewesen und deshalb gepflückt worden war.
6 Glenn Tropile und seine schluchzende Frau verbrachten die Nacht auf den Stoppeln eines Kornfelds. Beide schliefen kaum. Tropile, von der Berührung mit der eisigen Kälte des Felds halb betäubt – es würde Monate dauern, bis die neue Sonne die Erde so erwärmte, daß sie selbst Wärme auszustrahlen begann –, warf sich ruhelos hin und her und träumte. Er war ein Wolf. So mochte es sein, sagte er sich immer wieder; ich will ein Wolf sein; ich will zurückschlagen, gegen die Bürger, ich will – Stets brach der Gedanke ab. Was konnte er tun? Auswanderung war eine Lösung – eine andere Stadt aufsuchen. Mit Gala. Ein neues Leben dort beginnen, wo man ihn nicht als Wolf kannte. Und was dann? Versuchen, ein Schafsleben zu leben, wie er es die ganze Zeit über versucht hatte? Und da war die Frage, ob er wirklich eine Stadt finden konnte, wo man ihn nicht erkannte.
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Die menschliche Rasse war auf Wanderschaft in diesen Jahren des Unterworfenseins unter die nie ganz begriffene Herrschaft der Pyramiden. Es war eine Sache der Sonnenbestrahlung. Wenn die neue Sonne jung war, brannte sie heiß, und es gab Wärme genug; man konnte sich nach Norden und Süden ausbreiten, fort von der Permafrost-Linie, die in Nordamerika knapp über der alten Mason-Dixon-Linie lag. Sobald die Sonne starb, drang die Kälte vor. Die Menschen folgten den Jahreszeiten. Bald würde sich ganz Wheeling wieder nach Norden ausbreiten, und woher nahm er die Gewißheit, daß keiner von Wheelings Bürgern dort auftauchen würde, wohin er sich wenden mochte? Er konnte keine Gewißheit haben, das war die Antwort darauf. Nun gut, das schied also aus. Was blieb noch? Er konnte – mit Gala – ein einsames Leben führen, am Randbezirk des kultivierten Lands. Sie besaßen beide eine gewisse Geschicklich keit darin, in den Lagerhäusern der Alten zu stöbern, und man fand noch immer Nahrung und andere Güter. Aber sogar ein Wolf gehört zu den Herdentieren, und es gab in dieser Nacht trostlose Stunden, in denen Tropile nahe daran war, in das Schluchzen seiner Frau einzustimmen. Beim ersten Licht der Dämmerung stand er auf. Gala war in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen; er weckte sie. »Wir müssen weiter«, sagte er rauh. »Vielleicht bringen sie den Mut auf, uns zu folgen. Ich möchte nicht, daß sie uns finden.« Sie erhob sich stumm. Sie rollten und schnürten die mitge brachten Decken zusammen; sie aßen hastig von der Nahrung, die sie mitgebracht hatte; sie schwangen die Lasten auf den Rücken und marschierten weiter. Eines sprach zu ihren Gunsten: Sie kamen schnell voran, schneller als jeder Bürger, der ihnen folgen mochte. Trotzdem schaute sich Tropile immer wieder nervös um. Sie eilten nach Norden und Osten, und das war ein Fehler, denn zur Mittagszeit sahen sie ihren Weg von Wasser blockiert.
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Einst war das ein Fluß gewesen; das Schmelzen der Polareiskap pen, durch das die Küsten der alten Kontinente überschwemmt worden waren, hatte ihn unter Salzwasser verschwinden lassen. Auf jeden Fall versperrte es ihnen den Weg. Sie würden nach Westen ausweichen müssen, bis sie eine Brücke oder ein Boot fanden. »Wir können haltmachen und essen«, sagte Tropile widerwillig, bemüht, seiner Verzweiflung nicht nachzugeben. Sie sanken zu Boden. Es war wärmer geworden; Tropile spürte, daß er schläfrig wurde, immer schläfriger… Er zuckte hoch und schaute sich angriffslustig um. Neben ihm lag regungslos seine Frau, die Augen geöffnet, und starrte in den Himmel. Tropile seufzte und streckte sich aus. Einen Augenblick ausruhen, versprach er sich. Und dann schnell einen Bissen essen und wieder weiter… Er schlief fest, als sie kamen, um ihn zu holen.
Über ihm flatterten die Flügel eines eisernen Vogels. Tropile sprang aus dem Schlaf hoch, von Panik erfaßt. Es war unfaßbar, aber da war es: Am Himmel über ihm, vor einer Wolke schwarz abgezeichnet, ein Hubschrauber. Und Männer, die herunterstarrten. Ein Hubschrauber! Aber es gab keine Hubschrauber, oder zumindest keine, die flogen – wenn es Treibstoff für sie gegeben – wenn irgend jemand die Geschicklichkeit besessen hätte, mit ihnen zu fliegen. Es war unmöglich! Und doch war er vorhanden, und die Männer starrten ihn an, und das unmögliche, große, schwirrende Ding kam herunter, kam näher. Er begann im Luftwirbel der Rotoren zu laufen, aber es hatte keinen Zweck. Es waren drei Männer, sie waren frisch, und er war es nicht. Er blieb stehen und duckte sich, in der kampfberei ten Haltung, die dem menschlichen Körper einprogrammiert ist.
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Sie wollten nicht kämpfen. Sie lachten. Einer von ihnen sagte freundlich: »Deine Bettzeit ist schon lange überschritten, mein Junge. Steig ein. Wir bringen dich nach Hause.« Tropile stand wachsam vor ihnen, die Hände halb geballt, halb zu Klauen geformt. »Nach Hause – « »Nach Hause. Ja.« Der Mann nickte. »Wo du hingehörst, Tropile, verstehst du? Nicht zurück nach Wheeling, wenn es das ist, was dir Sorgen macht.« »Wo ich – « »Wo du hingehörst.« Da begriff er. Er stieg verwundert in den Hubschrauber. Nach Hause. Es gab also ein Zuhause für solche wie ihn. Er war nicht allein, er brauchte nicht isoliert zu leben, er konnte sich zu seiner eigenen Art gesellen. Er erinnerte sich an Gala Tropile und blieb stehen. Einer der Männer begriff und sagte: »Deine Frau? Ich glaube, wir haben sie eine halbe Meile von hier auf dem Rückweg gesehen. Sie läuft nach Wheeling zurück, so schnell sie kann.« Tropile nickte. So war es doch besser. Gala war kein Wolf, obwohl er alles versucht hatte, einen aus ihr zu machen. Einer der Männer schloß die Tür; ein anderer hantierte mit Hebeln und Rädern; die Rotoren über ihnen begannen sich zu drehen; der Hubschrauber hüpfte auf seinen steif gefederten Landebeinen und erhob sich in die Luft. Zum erstenmal in seinem Leben sah Glenn Tropile auf das Land hinunter. Sie flogen nicht hoch – aber Glenn Tropile war überhaupt noch nie geflogen, und die siebzig oder achtzig Meter Luft unter ihm machten ihn schwindlig. Sie tanzten durch die Pässe in den Bergen von West Virginia, überflogen eisbedeckte Ströme und
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Flüsse, glitten über alte, leere Städte, die nicht einmal mehr Namen besaßen. Sie sahen keinen Menschen. Der Ort, wohin sie wollten, war über vierhundert Meilen entfernt, sagte einer der Männer. Sie schafften es leicht, bevor es dunkel wurde.
Tropile ging im Abendlicht durch die Stadt. Elektrizität flammte weiß und violett in den Gebäuden rings um ihn. Unglaublich! Elektrizität bedeutete Kalorien, und Kalorien galt es zu sparen. Auf der Straße befanden sich Passanten. Ihr Gang entsprach nicht dem sparsamen Schlurfen mit hängenden Armen. Sie verbrauchten sichtbar Energie. Sie schwangen die Arme. Sie schritten aus. Schon in der frühesten Kindheit war ihm eingeprägt worden, daß solches Gehen unrecht war, verwerflich, albern, schwächend. Damit vergeudete man Kalorien. Diese Leute sahen nicht geschwächt aus, und es schien ihnen nichts auszumachen, daß sie Kalorien verschwendeten. Es war eine gewöhnliche Stadt, die offenbar Princeton hieß. Sie besaß nicht die provisorische Erscheinung von Orten wie Wheeling, Altoona oder Gary, die Tropile kannte. Sie sah aus wie – nun, sie sah dauerhaft aus. Tropile hatte von einer Stadt namens Princeton gehört, war aber auf seinen Wegen nach Norden oder Süden nie hindurchgekommen. Es gab keinen Grund dafür, warum er oder sonst irgend jemand sie gefunden oder übersehen haben sollte. Immerhin bestand die Möglichkeit, man habe es so eingerichtet, daß es nicht dazu kommen konnte; vielleicht steckte Absicht dahinter. Wie jede Stadt war sie unterbevölkert, aber nicht so stark wie die meisten. Ein Platz zum Leben von vielleicht fünf war besetzt. Eine sehr hohe Quote. Der Mann neben ihm hieß Haendl, einer der Männer aus dem Hubschrauber. Sie hatten während des Fluges nicht viel gesprochen und sagten auch jetzt nur wenig.
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»Iß zuerst«, sagte Haendl und führte Tropile zu einem hell beleuchteten und gutbesuchten Imbißstand. Es war aber kein Stand, sondern ein Restaurant. Haendl. Was sollte man von ihm halten? Er hätte widerlich, übel, als Ungeheuer wirken müssen. Er besaß keinerlei Manieren. Er kannte die Siebzehn Konventionellen Gesten nicht oder benützte sie jedenfalls nicht. Er wollte Tropile nicht hinter sich und zu seiner Linken gehen lassen, obwohl er mindestens fünf Jahre älter war als Tropile. Wenn er aß, aß er; das Nippen der Anerkennung, die Pause der Ersten Sättigung, der Zweifach gebotene Anteil bedeuteten ihm nichts; er lachte, als Tropile ihm die Portion des Älteren zu geben versuchte. Haendl sagte mit gönnerhafter Fröhlichkeit: »Solche Sachen sind ja ganz nett, wenn man mit seiner Zeit nichts anderes anzufangen weiß, wie ihr armen Burschen. Ohne eure lächerli chen Rituale müßtet ihr an Langeweile sterben, und für etwas Wichtigeres habt ihr nicht die Anlagen. Ja, ich kenne die Gesten. Siebzehn empfindsame Methoden, Gefühle mitzuteilen, die für Worte zu delikat sind. Zum Teufel damit, Tropile. Ich habe Worte dafür. Das lernst du noch.« Tropile aß stumm und versuchte nachzudenken. Ein Mann kam herein, warf sich in einen Sessel, sah Tropile neugierig an und sagte: »Haendl, die Sommerville-Straße. Der Bach ist über die Ufer getreten, als das Eis kam. Schwer überflutet. Alles ruiniert.« »Die Flut hat die Straße ruiniert?« fragte Tropile vorsichtig. »Die Straße? Nein. Sag mal, du mußt der Bursche sein, hinter dem Haendl her war, nicht? Tropile heißt du, ja?« Er beugte sich über den Tisch und schüttelte Tropile die Hand. »Wir hatten die Straße schön blockiert«, erklärte er. »Die Flut hat alles weggespült. Jetzt müssen wir sie wieder blockieren.« »Nimm den Traktor, wenn du ihn brauchst«, sagte Haendl. Der Mann nickte und entfernte sich. Haendl sagte: »Iß fertig, wir
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vergeuden Zeit. Zur Straße. Wir verbarrikadieren sie, verstehst du? Warum sollen wir Schafe herein- und hinauslassen?« »Schafe?« »Das Gegenteil der Wölfe«, meinte Haendl. Haendl erläuterte. Man nehme zehn Milliarden Menschen und behaupte, von jeder Million sei einer – nur einer – anders. Er besitze ein Talent zum Überleben; man nenne ihn Wolf. Zehntausend Wölfe, in einer Welt von zehn Milliarden. Man drücke sie zusammen, lasse sie erfrieren, dezimiere sie. Der alte ›Neue Messias‹ tauche am Himmel auf und entführe die Erde, so daß die menschliche Rasse dezimiert, verringert, zu einer, im Vergleich, bloßen Handvoll erstarrter, betäubter Überlebender reduziert wird. Es gibt keine zehn Milliarden Menschen mehr auf der Welt. Vielleicht gibt es ganze zehn Millionen, mehr oder weniger, in dem Raum schlotternd, den ihre gewaltigen Älteren Generationen für sie geschaffen hatten. Und wie viele von diesen zehn Millionen sind Wölfe? Zehntausend. »Du verstehst, Tropile. Wir überleben. Es ist mir gleichgültig, wie du uns nennst. Die Schafe nennen uns Wölfe, und ich, ich bezeichne uns gerne als Supermenschen. Aber wir überleben.« Tropile nickte. Er begann zu begreifen. »So, wie ich im Haus der Fünf Regeln überlebt habe.« Haendl sah ihn mitleidig an. »So, wie du vorher dreißig Jahre Schafsein überlebt hast. Komm mit.« Es war eine Inspektionstour. Sie betraten ein Gebäude, groß, wie viele andere große und unnütze Gebäude der Alten, graue Steinmauern, Fenster mit spitzen Glasscherben. Aber im Innern war es nicht wie die anderen. Tropile zuckte zusammen und
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wandte sich ab vor der violetten Lichtflut, die aus einem QuarzBullauge auf einem breiten Stahlkegel drang. »Völlig harmlos, Tropile, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte Haendl mit dröhnender Stimme. »Weißt du, was du vor dir hast? Dort unten befindet sich ein Fusionsreaktor. Hitze. Energie. Energie, soviel wir brauchen. Weißt du, was das bedeutet?« Er starrte ernst in das flammende violette Licht der Sichtluke. »Komm mit«, sagte er abrupt. Das nächste Gebäude, auch groß, auch aus grauem Stein. Eine rissige Inschrift über dem Eingang lautete: ›– alle für humanisti sche Bildung‹. Der Sinnesschock kam diesmal nicht vom Licht, sondern vom Lärm. Hämmern, Kreischen, Rattern, Brummen. Männer arbeiteten lärmend mit Metall und Maschinen. »Reparaturwerkstatt!« schrie Haendl. »Siehst du die Maschi nen? Sie gehören unserem Innison. Wir haben sie aus allen Fabrikruinen geholt, die wir finden konnten. Gib Innison ein Stück Metall – egal, welche Legierung, welche Form – und eine dieser Maschinen verwandelt es in eine andere Form und praktisch jede andere Legierung. Bohren, Schneiden, Schweißen, Schmelzen – du brauchst ihm nur zu sagen, was er tun soll, und er tut es. Wir haben die Bauteile für sechs Traktoren und einundvierzig Wagen aus dieser Werkstatt bekommen. Und wir haben noch mehr Werkstätten – Flugbau in Farmingdale und Wichita, Waffen in Wilmington. Nicht, daß wir hier nicht auch Waffen bauen könnten. Innison könnte dir einen Panzer bauen, wenn es sein müßte, komplett mit 105-mm-Kanone.« »Was ist ein Panzer?« fragte Tropile. Haendl sah ihn nur kurz an und sagte: »Komm mit!«
Tropile hatte das Gefühl, daß sich alles um ihn drehte, alle Schauspiele miteinander verschmolzen und durcheinander tanzten. Sie waren unglaublich. Alle.
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Fusionsreaktor, Werkstatt, Fahrzeuggarage, Flughangar. Unter den Sitzreihen eines Sportstadions gab es eine Lagerhalle, und Tropile wurde schwindlig, als er die Kisten Kaffee, Dosensuppen, Whisky und Bohnen zu zählen versuchte. Es gab noch eine Lagerhalle, aber diese nannte man Arsenal. Sie war angefüllt mit… Schußwaffen. Schußwaffen, die man mit Patronen laden konnte, von denen sie sehr viel besaßen; Schußwaffen, die, wenn man sie lud und den Abzug durchzog, feuerten. Tropile erinnerte sich. »Ich habe einmal eine Schußwaffe gesehen, die noch ihren Schlagbolzen besaß«, sagte er. »Sie war aber völlig verrostet.« »Die hier funktionieren, Tropile. Man kann einen Menschen damit töten. Einige von uns haben das schon getan.« »Töten – « »Weg mit dem Schafsblick aus deinen Augen, Tropile! Was macht es für einen Unterschied, wie man einen Verbrecher hinrichtet? Und was ist ein Verbrecher anderes als jemand, der eine Gefahr für deine Welt darstellt? Wir ziehen eine Schußwaffe der Spende der Rückenmarksflüssigkeit vor, weil sie schneller ist, weil sie sauberer wirkt – und weil wir keine Rückenmarks flüssigkeit trinken wollen, egal, welchen eingebildeten therapeu tischen oder symbolischen Wert sie haben soll. Du lernst das noch.« Aber er fügte nicht hinzu: Komm mit. Sie waren am Ziel. Es war ein kleiner Raum in dem Gebäude des Arsenals, und er enthielt unter anderem ein Gestell mit Gewehren. »Setz dich«, sagte Haendl und nahm eines der Gewehre aus dem Gestell, betrachtete es nachdenklich und streichelte es, wie der zum -Untergang verurteilte Boyne es mit seinem Uhrenge häuse gemacht hatte. Es war der letzte aus der Zeit vor den Pyramiden stammende Karabiner mit Kurzreichweite. Über mehr als zweieinhalb Meilen hinweg konnte man eine Salve nicht mehr ganz in eine einzige Kaffeebüchse setzen.
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»Nun gut«, sagte Haendl und streichelte den Kolben. »Du hast alles gesehen, Tropile. Du hast dreißig Jahre mit den Schafen gelebt, du hast gesehen, was sie haben und was wir haben. Ich brauche dich nicht aufzufordern, eine Wahl zu treffen. Ich weiß, was du erzählen wirst. Das einzige, was noch auszusprechen bleibt, was wir von dir verlangen.« In Glenn Tropile begann ein schwaches Pulsieren. »Ich hatte schon damit gerechnet.« »Warum auch nicht? Wir sind keine Schafe. Wir verhalten uns nicht so. Quid pro quo. Vergiß das nicht, es spart Zeit. Du hast das Quid gesehen. Jetzt kommen wir zum Quo.« Er beugte sich vor. »Tropile, was weißt du über die Pyramiden?« »Nichts«, erwiderte Tropile sofort. Haendl nickte. »Richtig. Sie sind überall, und unser Leben ist ihretwegen bettelarm. Wir wissen nicht einmal, warum. Wir wissen nicht, was sie sind. Hast du gewußt, daß eines der Schafe in Wheeling abberufen wurde, als du die Flucht ergriffen hast?« »Abberufen?« Tropile hörte offenen Mundes zu, als Haendl ihm berichtete, was mit Bürger Boyne geschehen war. »Er hat die Spende also nicht erbracht?« meinte er. »Vielleicht wäre es besser für ihn gewesen, wenn er dazu fähig gewesen wäre«, sagte Haendl. »Wir wissen es nicht. Immerhin hattest du dadurch Gelegenheit, zu entkommen. Wir hatten gehört – woher, spielt vorerst keine Rolle –, daß Wheeling sich einen Wolf zugelegt hatte, und wir wollten dich holen. Du warst aber schon fort.« »Ihr seid beinahe zu spät gekommen«, meinte Tropile mit einer Spur von Verärgerung. »O nein, Tropile. Wir kommen nie zu spät. Wenn einer nicht genug Initiative hat, sich von den Schafen abzusetzen, ist er kein Wolf, so einfach ist das. Aber da gibt es diese Abberufung.
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Wir wissen, daß sie vorkommt, aber wir haben keine Ahnung davon, was sie eigentlich ist. Wir wissen nur, daß Leute verschwinden. Alle fünf Jahre etwa erscheint am Himmel eine neue Sonne. Wer macht sie? Die Pyramiden? Und wie? Das wissen wir nicht. Manchmal schwebt etwas in der Luft herum, das wir ein Auge nennen. Es hängt mit der Abberufung zusammen, mit den Pyramiden. Aber wie? Das wissen wir nicht.« »Wir wissen überhaupt nicht viel«, warf Tropile ein, um ihn anzutreiben. »Nicht über die Pyramiden, nein.« Haendl schüttelte den Kopf. »Kaum jemand hat überhaupt schon einmal eine gesehen.« »Kaum – soll das heißen, daß Sie eine gesehen haben?« »O ja. Auf dem Mount Everest steht eine Pyramide, verstehst du. Das ist nicht nur eine Legende, es stimmt. Ich bin dort gewesen, und ich habe sie gesehen. Jedenfalls war sie noch vor fünf Jahren dort, kurz nach der letzten Sonnen-Erschaffung. Ich nehme an, daß sie sich nicht bewegt hat. Sie steht einfach da.« Tropile lauschte staunend. Eine echte Pyramide gesehen zu haben! Beinahe hatte er sie als Phantasiegebilde betrachtet, erfunden, um eindeutige physische Tatsachen wie die Augen und die Abberufungen zu erklären, wie die Kinder ihre Geschenke mit dem Weihnachtsmann erklärten. Aber dieser unglaubliche Mensch hatte sie wirklich gesehen! »Jemand hat eine H-Bombe auf sie abgeworfen, vor langer Zeit«, fuhr Haendl fort, »und die einzige Folge davon war, daß das Nordjoch jetzt ein Krater ist. Man kann sie nicht von der Stelle bringen. Man kann ihr nichts tun. Aber sie ist lebendig. Sie lebt seit zweihundert Jahren dort oben, und das ist alles, was wir über die Pyramiden wissen. Richtig?« »Richtig.« Haendl stand auf.
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»Tropile, nur darum dreht sich das Ganze hier!« Er holte weit mit dem Arm aus. »Karabiner, Panzer, Flugzeuge – wir wollen mehr wissen! Wir erfahren mehr, und dann kämpfen wir.« Tropile nahm einen Mißton wahr, versteckt, aber vorhanden. Dieser entschiedene, willensstarke Mann verriet eine winzige Spur innerer Unsicherheit, trotz allem. Aber Haendl sprach weiter, und Tropile vergaß für einen Augenblick seine Wachsam keit. »Wir haben vor fünf Jahren eine Gruppe zum Mount Everest hinauf geschickt«, sagte er. »Herausgefunden haben wir gar nichts. Fünf Jahre zuvor, und fünf Jahre vor jenem Zeitpunkt – jedesmal, wenn eine neue Sonne erscheint und sie noch genug Wärme ausstrahlt, so daß ein Trupp den Berg ersteigen kann, schicken wir Leute hinauf. Eine schwere Aufgabe. Wir übertragen sie den Neuen, Tropile. Leuten wie dir.« Das war es. Er wurde eingeladen, eine Pyramide anzugreifen. Tropile zögerte, bemüht, ein Gefühl für diese Verhandlung zu bekommen. Hier stand Wolf gegen Wolf; es war schwer. Es mußte einen Vorteil geben »Es gibt einen Vorteil«, sagte Haendl. Tropile zuckte zusammen, aber dann erinnerte er sich: Wolf gegen Wolf. »Was du dabei gewinnst, ist erstens dein Leben«, fuhr Haendl fort. »Du siehst ein, daß du nicht mehr aussteigen kannst. Wir können hier keine Schafe gebrauchen. Und zweitens ist da die Hoffnung auf einen Erfolg.« Er starrte Tropile mit den Augen eines Träumers an. »Wir schicken die Trupps nicht umsonst hinauf, weißt du. Wir wollen etwas damit erreichen. Was wir wollen, ist die Erde.« »Die Erde?« Es klang nach Wahnsinn, aber dieser Mann war nicht wahnsinnig.
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»Eines Tages wird es heißen: Wir gegen sie. Laß die Schafe beiseite, sie zählen nicht. Die Paarung wird lauten: Pyramiden gegen Wölfe, und die Pyramiden werden nicht die Sieger sein. Und dann – « Es ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Dieser Mann dachte an Kampf gegen die unverwundbaren, beinahe gottähnli chen Pyramiden! Aber er loderte, und das Fieber steckte an. Tropile spürte, wie sein Puls zu hämmern begann. Haendl hatte sein: ›Und dann – ‹ nicht ausgesprochen, aber das war nicht nötig. Das ›Und dann‹ war klar: Und dann beginnt die Welt wieder bei dem Tag, als der wandernde Planet zum erstenmal auftauchte. Und dann kehren wir in unser eigenes Sonnensystem zurück, und der Fünf-JahresZyklus von Frost und Hunger hat ein Ende. Und dann können die Wölfe über eine Welt herrschen, bei der es sich lohnte. Es mochte ein trügerischer Appell sein, aber man konnte sich ihm nicht verschließen. Tropile war verloren. »Sie können die Knarre einstecken, Haendl«, sagte er. »Ich mache mit.«
7 Das Jahr begann wieder, ein Jahr, das eintausendachthunder tundfünfundzwanzig Tage nach dem Kalender dauerte, dreiundvierzigtausendachthundert Stunden nach der Uhr. Zuerst kamen etwa dreißig Tage Frühling, in denen das erneuerte Sönnchen Hitze auf Eis, Meere und Fels goß, die sie gierig aufsaugten. Das Eis schmolz, die Meere erwärmten sich, das Gestein fühlte sich nicht länger eisig an, sondern sanft erwärmt. Zehn Millionen Bürger begannen sich zu regen; wieder einmal hatten sie überlebt. Die Farmer scharrten wieder im Boden,
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Köhler verschlossen zeremoniell ihre Meiler und wandten sich eine Weile dem Zimmermannshandwerk oder dem Straßenbau zu, und fünfzehnhundert Anhänger des Eiskults begannen ihre Pilgerzüge in ganz Nordamerika, um zu sehen, wie am Niagara das Eis brach. Dann, nach dreißig Tagen, war es Sommer, lang und sengend. Pflanzen schnellten heraus zur Ernte, die Farmer brachen eilig die Erde um und pflanzten erneut und ernteten wieder und pflanzten zum letztenmal. Die Küstenstädte wurden, wie gewohnt, durch die sich ausbreitenden Fluten von den Polarkap pen überschwemmt und boten jenen verfeinerte Vergnügungen, die Untertauchen schätzten. Ein schönes Jahr, versicherten sie einander. Und im Frühling und Sommer lernte Glenn Tropile, ein Wolf zu sein. Der Weg dazu führte, wie er düster feststellte, über die Beaufsichtigung des Kindergartens der Kolonie. Es war nicht das, was er erwartet hatte, besaß aber den Vorteil, daß, während seine Schützlinge lernten, er das auch tat. Den Dreijährigen einen Sprung voraus, entdeckte er, daß die ›Wölfe‹, weit davon entfernt, Raubtiere für die ›Schafe‹ zu sein, mit ihnen in einem viel komplizierteren Verhältnis lebten. Es gab Wölfe überall zwischen den Schafen; sie würzten den Teig der Gesellschaft. In barbarisch schlichter Sprache sagte ein Lehrbuch: ›Die Söhne der Wölfe kennen sich mit Zahlen und Geld aus. Du und dein Freund, ihr spielt Geldspiele praktisch, sobald ihr sprechen könnt, und ihr könnt in Prozenten und Zinseszinsen denken, wenn ihr wollt. Die meisten Leute sind dazu nicht fähig.‹ Wahr, dachte Tropile für sich, während er den Kleinen laut vorlas. So war es auch bei ihm gewesen. ›Schafe haben Angst vor den Wolfssöhnen. Diejenigen von uns, die unter ihnen leben, laufen ständig Gefahr, entdeckt und
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getötet zu werden – wenngleich normalerweise ein Wolf sich gegen jede Anzahl von Schafen behaupten kann.‹ Auch wahr. ›Es ist eine der gefährlichsten Aufgaben für einen Wolf, unter den Schafen zu leben. Trotzdem ist es lebenswichtig. Ohne uns würden sie sterben – an Stagnation, an Fäulnis, schließlich an Hunger.‹ Deutlicher brauchte es nicht ausgeführt zu werden. Schafe können ihre Zäune nicht selbst instand halten. Die Prosa war äußerst armselig, und die Kinder bewiesen schrecklichen – er erstickte fast an dem Wort, vermochte es aber doch zu bilden – Wetteifer. Die Sprachtabus hielten sich noch, stellte er fest, nachdem er die Verhaltensschranken überwunden hatte. Aber in gewisser Beziehung war es quälend. In einem Alter, da künftige Bürger ihre Ersten Manieren lernten, brachte man diesen Kindern das Kämpfen bei. Der endlose Streit darüber, wer Bill Zeckendorf sein durfte, wenn sie ein merkwürdiges Spiel mit dem Namen ›Zeckendorf und Hilton‹ spielten, führte manchmal zu blutenden Nasen. Und niemand – überhaupt niemand – meditierte über die Eigenschaften des Zusammenhangs. Tropile wurde davor gewarnt, es zu tun. »Wir verstehen es nicht, und was wir nicht verstehen, gefällt uns nicht«, sagte Haendl grimmig. »Wir sind argwöhnische Wesen, Tropile. Sobald die Kinder älter werden, erlauben wir ihnen gerade soviel Übung, daß sie eine Meditation versuchen und sich damit vertraut machen können – oder jedenfalls so tun. Wenn sie als Bürger auftreten wollen, brauchen sie das. Mehr lassen wir jedoch nicht zu.« »Zulassen?« Auf irgendeine Weise störte das Wort; aus irgendeinem Grund schüttete sein Körper Adrenalin aus.
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»Zulassen! Wir haben unseren Verdacht, und wir wissen mit Sicherheit, daß Leute manchmal verschwinden, wenn sie meditieren. Soviel ist an dem Schafsgerede über die Abberufung richtig. Wir wollen nicht verschwinden. Wir finden, daß es keine gute Sache ist, zu verschwinden. Meditier nicht, Tropile. Verstanden?« Aber später mußte er über das Thema diskutieren. Er suchte sich eine Zeit aus, als Haendl frei, oder wenigstens so frei war, wie das bei ihm jemals der Fall sein konnte. Die gesamte erwachsene Kolonie war auf ihrem sogenannten ›Paradeplatz‹ gewesen – früher ein ›Fußballplatz‹, sagte Haendl. Sie hatten ihre regelmäßig zweimal in der Woche stattfindende Infanterie ausbildung absolviert; das gehörte mit zu dem Preis, den man dafür bezahlte, statt unter den langweiligen, trägen Schafen unter den freien, fortschrittlichen Wölfen zu leben. Tropile war sehr außer Atem, warf sich aber neben Haendl auf den Boden, keuchte ein bißchen und sagte: »Haendl, noch einmal zur Meditation.« »Was ist damit?« »Nun ja, vielleicht begreifst du sie im Grunde gar nicht.« Er suchte nach Worten. Er wußte, was er sagen wollte. Wie konnte etwas, bei dem man sich so wohl fühlte wie beim Eins-Sein, schlecht sein? Und war die Abberufung letztlich nicht so selten, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fiel? Aber er wußte nicht so recht, ob er mit diesen Ausdrücken bei Haendl durchdringen würde. Er probierte es mit: »Wenn man erfolgreich meditiert, Haendl, ist man eins mit dem Universum. Verstehst du, was ich meine? Es gibt nichts, was diesem Gefühl gleicht. Es ist unbeschreiblicher Friede, Schönheit, Harmonie, Ruhe.« »Das billigste Narkotikum der Welt«, schnaubte Haendl. »Also, nein, wirklich – « »Und die billigste Religion der Welt. Die völlig bankrotten Leute können sich keine vergoldeten Idole leisten, also benutzen sie
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ihren eigenen Nabel. Mehr steckt nicht dahinter. Sie können sich Alkohol nicht leisten, ja, nicht einmal die Muskelanstrengung tiefen Atmens, das sie in einen Zustand der SauerstoffTrunkenheit versetzen würde. Was bleibt also? Selbsthypnose. Nichts anderes. Das ist alles, was sie können, und deshalb lernen sie es und definieren es als angenehm und gut.« Tropile seufzte. Der Mann war halsstarrig. Dann kam ihm ein Gedanke, und er schob sich auf die Ellenbogen. »Läßt du nicht etwas aus? Was ist mit der Abberufung?« Haendl funkelte ihn an. »Das ist es, was wir nicht verstehen.« »Aber Selbsthypnose erklärt doch nicht – « »Gewiß nicht!« fauchte Haendl. »Na schön. Wir verstehen sie nicht, und wir haben Angst davor. Erzähl mir bitte nicht, daß die Abberufung die höchste Tat des Nicht-Wollens, totale Ablehnung der Dualität, Einheit mit dem Brahma-Grund oder sonst irgendso ein Unsinn sei. Ihr wißt nicht, was es ist, und wir wissen es auch nicht.« Er stand auf. »Wir wissen nur, daß Menschen verschwin den. Und damit wollen wir nichts zu tun haben, also meditieren wir nicht. Keiner von uns – auch du nicht!«
Sie war unsinnig, diese Exerzierausbildung. Konnte man die unerreichbare Himalaja-Pyramide mit einem ›Abteilung rechts‹Flankenmanöver besiegen? Und doch war es nicht nur Unfug. Die Gefechtsausbildung und 3500 Kalorien pro Tag sorgten dafür, daß Tropiles Körper Fleisch und Muskeln anzusetzen begann und sein Denken noch etwas anderes. Er hatte die scharfe Schneide seines Erwerbstriebs, seinen Antrieb nicht verloren – seine unbestimmbare Eigen schaft, die den Unterschied zwischen Wolf und Schaf ausmachte. Aber er hatte etwas hinzugewonnen. Glücklichsein? Nun, wenn ›Glück‹ ein Gefühl der Zielbewußtheit und eine Hoffnung ist, daß das Ziel erreicht werden kann, dann war es Glück. Es war ein
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Gefühl, das er nie zuvor in seinem Leben gekannt hatte. Stets war es der Drüsenzwang gewesen, einen Vorteil zu erringen, und dieser war verschwunden oder fast verschwunden – weil dies in der Gesellschaft, in der er jetzt lebte, nicht verboten war. Glenn Tropile sang, während er auf seinem Traktor über die tauenden Felder Jerseys dahinratterte. Trotzdem blieb ein kleiner Zweifel. Rechtsum gegen die Pyramiden? Tropile brachte den Traktor zum Stehen, ließ den Dieselmotor leerlaufen und stieg hinunter. Es war heiß – Mittsommer des Fünf-Jahres-Kalenders, den die Pyramiden festgesetzt hatten. Es war Zeit für eine Pause, für einen Imbiß. Er setzte sich in den Schatten eines Baumes, wie jeder Farmer vor ihm, und wickelte seine Brote aus. Er war nur knapp über eine Meile von Princeton entfernt, aber er hätte ebensogut in einem Niemandsland sein können; außer ihm selbst war nirgends ein Mensch zu sehen. Die nach Norden ausweichenden Schafe kamen Princeton nicht nah – so ergab es sich ›zufällig‹. Er entdeckte etwas Huschendes, aber als er aufstand, um besser in den Wald auf der anderen Seite des Ackers blicken zu können, war es verschwunden. Ein Wolf? Ein echter Wolf? Es mochte ein Bär gewesen sein – man sprach in Princeton von Wölfen und Bären, und obwohl Tropile wußte, daß solche Gerüchte von Haendl insgeheim ermutigt wurden, wußte er auch, daß sie zum Teil der Wahrheit entsprachen. Da er nun schon einmal auf den Beinen war, sammelte er Stroh von den Überresten des mannshohen Grases aus dem Vorjahr, fand Zweige unter den Bäumen, zündete ein kleines Feuer an und setzte Wasser zum Kaffekochen auf. Dann lehnte er sich zurück, aß seine Brote und dachte nach. Vielleicht war es eine Beförderung, vom Kindergarten zur Feldarbeit abgestellt werden. Haendl hatte einen Platz in der Expedition versprochen, die vielleicht etwas Neues, Wichtiges
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und Nützliches über die Pyramiden entdecken würde. Doch die Expedition war noch lange nicht abmarschbereit. Tropile kaute nachdenklich seine Brote. Warum war die Expedition noch so weit vom Aufbruch entfernt? Es war absolut lebenswichtig, bei wärmstem Wetter hinzugelangen – sonst war der Everest unersteigbar; Generationen von Bergsteigern hatten das bewiesen. Dieses wärmste Wetter neigte sich bald dem Ende zu. Beklommen legte er noch ein paar Äste auf das Feuer und starrte grüblerisch in den Wasserbecher. Es war ein befriedigend heißes Feuer, dachte er zerstreut. Das Wasser war nah am Kochen. Eine halbe Welt entfernt spürte oder hörte oder schmeckte die Pyramide im Himalaja einen Unterschied. Möglicherweise veränderten sich die Hochfrequenzimpulse eine Spur. Möglicherweise war der elektromagnetische ›Geschmack‹ des Infraroten mit einer Spur Ultraviolett getönt. Was immer das Zeichen auch sein mochte, die Pyramide erkannte es. Ein Teil der Ernte, die sie überwachte, war reif. Die reifende Blüte trug einen Namen, aber Namen bedeuteten der Pyramide nichts. Der Mann namens Tropile wußte auch nichts davon, daß er heranreifte. Tropile wußte nur, daß es ihm, zum erstenmal in fast einem ganzen Jahr, gelungen war, jede Stufe der neun vollkommenen Zustände des Zum-Siedenkommenden-Wassers in reinster Form zu verfolgen. Es war wie… nun wie… es glich keinem Vorgang, den irgend jemand außer einem Wasserbeobachter verstehen konnte. Er beobachtete. Er bewunderte. Er umschloß und faßte die Myriaden feinster Vollkommenheiten der Zeit, der sich wandeln den Durchsichtigkeit, des Schalls, der Verteilung des Sprudelns, des schwachen, ganz schwachen Dampfgeruchs. Glenn Tropile entspannte sich völlig und ließ das Kinn auf die Brust sinken.
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Es war, dachte er mit ruhiger, scharfsichtiger Erkenntnis, eine seltene und vollkommene Gelegenheit zur Meditation. Er dachte an die Eigenschaften des Zusammenhangs. Über ihm erschien ein wabernder, glasartiger Schwall in der dünnen, stillen Luft. In dem leergefegten Bereich von Glenn Tropiles Denken kam kein Gedanke an Augen auf. Kein Gedanke an Pyramiden oder Wölfe. Das gepflügte Feld vor ihm existierte nicht. Sogar das lustig verdampfende Wasser war seiner Wahrnehmung entschwunden; er begann zu meditieren. Die Zeit verging – oder stand still; für Tropile gab es keinen Unterschied. Es gab keine Zeit. Er sah sich beinahe am Rand des Begreifens. Das Auge über ihm wirbelte wild. Etwas schnalzte. Eine störende Schmeißfliege oder ein zucken der Muskel. Tropile kehrte teilweise in die Wirklichkeit zurück, sah beinahe nach oben, entdeckte beinahe das Auge… Es spielte keine Rolle. Was wirklich von Bedeutung war, das einzige auf der Welt, lag in seinem Denken, und er war bereit, es zu finden, das wußte er. Noch einmal! Er ließ die das Denken reinigende, unbeantwortbare Frage in sein Gehirn dringen: Wenn man in beide Hände klatscht, entsteht ein Ton. Wie ist der Ton beim Klatschen einer Hand? Vorsichtig tastete er sich an die Frage heran, das Symbol der Nutzlosigkeit des Denkens – und daher das Tor zur Meditation. Köstlich beschlich ihn die Nichtmehrwahrnehmung seines Ichs. Er war Glenn Tropile. Er war mehr als das. Er war das kochen de Wasser… und das kochende Wasser war er; er war die sanfte Wärme des Feuers, das wiederum, ja, das selbst der Himmels bogen war. Wie jedes Ding jedes andere Ding war; Wasser war Feuer, und Feuer Luft. Tropile war das erste sprudelnde Bläschen, und das volle Wirbeln wohlgealterten Wassers war Ich, war Die Antwort auf die nicht zu beantwortende Frage wurde klarer und sanfter für ihn. Und dann, auf einmal, aber nicht plötzlich,
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denn es gab keine Zeit, war sie nicht nah – sie war. Die Antwort war sein, war er, der Himmelsbogen war die Antwort, und die Antwort gehörte dem Himmel – die Wärme, allen Wärmen, die es gibt, allen Wassern und – und die Antwort war – war Tropile verschwand. Der leise Donnerschlag, der darauf folgte, ließ die Flammen tanzen, die kleine Dampfsäule, dann war das Feuer wieder still, wie der aufsteigende Dampf. Aber Tropile war verschwunden.
8 Haendl stapfte zornig durch das hohe Gras auf das langsame Pochen des Dieselmotors zu. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, diesen Glenn Tropile in die Kolonie aufzunehmen. Er war mehr Bürger als Wolf – nein, falsch, dachte Haendl; er war mehr Wolf als Bürger. Aber der Wolf in ihm war von Schafsblut befleckt. Er verhielt sich im Konkurrenzkampf wie ein Wolf, aber trotz allem weigerte er sich, manches von seiner Schafshaltung aufzugeben. Meditation. Er war vor der Meditation gewarnt worden. Aber hatte er sie auch wirklich aufgegeben? Er hatte es nicht getan. Wenn es allein von Haendl abhängig gewesen wäre, hätte sich Glenn Tropile wieder bei den Schafen gefunden oder er wäre tot gewesen. Zum Glück für Tropile hing es nicht allein von Haendl ab. Die Gemeinschaft der Wölfe war durchaus keine Demokratie, aber der Anführer besaß seiner Gefolgschaft gegenüber eine bestimmte Verantwortung, und die Verantwortung sah so aus: Er konnte sich Irrtümer nicht leisten. Er mußte seine Taten gegen Angriffe verteidigen; gelang ihm die Abwehr nicht, so stürzte ihn das Rudel.
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Und Innison glaubte, sie brauchten Tropile nicht trotz des Makels der Bürgerschaft, den er trug, sondern gerade deshalb. Haendl schrie: »Tropile! Tropile, wo bist du?« Er hörte nur den Wind und das Tuckern des Motors. Es war mehr als ärgerlich. Haendl hatte andere Dinge zu tun, als hinter Glenn Tropile herzulaufen. Und wo war er überhaupt? Da lief der Dieselmotor nutzlos vor sich hin, da war das Ende der Furchen, die Tropile gezogen hatte. Dort ein kleines Feuer – Und da war Tropile. Haendl blieb wie erstarrt stehen, den Mund aufgerissen, um Tropiles Namen zu brüllen. Es war wirklich Tropile. Er starrte konzentriert und unbeirrt ins Feuer, in das siedende Wasser. Starrend. Meditierend. Und über seinem Kopf, wie eine in Glas eingeschlossene Luftblase, war das, was Haendl auf der Welt am meisten fürchtete. Ein Auge. Tropile war im Begriff, abberufen zu werden… was immer das sein mochte. Vielleicht war das der Zeitpunkt, zu erfahren, was es war! Haendl sprang zurück in das schützende hohe Gras, kniete nieder, riß sein Funksprechgerät aus der Tasche und rief drängend. »Innison! Innison, gebt mir um Gottes willen Innison!« Sekunden vergingen, Stimmen antworteten, dann meldete sich Innison. »Innison, hör zu! Du wolltest Tropile beim Meditieren ertappen? Na schön, das kannst du jetzt. Das alte Weizenfeld, Südende, unter den Ulmen am Bach. Verstanden? Komm sofort her, Innison – über ihm bildet sich ein Auge!« Glück! Ein Glück, daß sie darauf vorbereitet waren, und nur durch Glück, denn der Hubschrauber, den Innison geduldig für den Angriff auf den Everest vorbereitet hatte, war jetzt fertig, beladen mit Instrumenten, um die Aura um die Pyramide zu wägen und zu messen – jetzt zur Hand, als sie ihn brauchten. Das war Glück, aber auch höchste Eile tat not. Es dauerte nur
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Minuten, bis Haendl das auf- und abschwellende Knattern des Hubschraubers hörte, die Rotoren niedrig über den Hecken wirbeln und hinter den Ulmen herabsinken sah. Haendl richtete sich vorsichtig auf und blickte hinüber. Ja, Tropile war noch da, ebenso das Auge über ihm! Aber der Lärm des Hubschraubers hatte den Bann gestört; Tropile regte sich; das Auge bebte und zitterte Aber es verschwand nicht. Haendl dankte seinem Gott, hastete auf Umwegen zu den Bäumen und gesellte sich zu Innison, der wild an Schaltern drehte und Objektive auf die Szene richtete… Sie sahen Tropile sitzen, während das Auge über seinem Kopf immer größer wurde. Sie hatten Zeit – genug Zeit, oh, fast eine ganze Minute. Sie stellten alle Instrumente des Helikopters auf die stumme, nichtsahnende Gestalt Glenn Tropiles ein. Sie warteten darauf, daß Tropile verschwand Er tat es.
Innison und Haendl zuckten bei dem Donnerschlag, als die Luft zusammenstürzte, hoch. »Wir haben, was du gewollt hast«, sagte Haendl rauh. »Lesen wir ein paar Instrumente ab.« Während des ganzen Abberufungsvorgangs war Magnetband von hoher Zugfestigkeit auf einer rasend schnell rotierenden Spule mit dreißig Metern pro Sekunde an vierundzwanzig Aufnahmeköpfen vorbeigezischt. Die Aufnahmeköpfe wurden von allen denkbaren Meßinstrumenten beliefert, die sie hatten entwerfen und bauen können, alle für den Gebrauch auf dem Mount Everest im Hubschrauber untergebracht – und alle nun direkt auf Glenn Tropile gerichtet. Sie besaßen für den Augenblick der Abberufung von einer Mikrosekunde zur nächsten Werte der wechselnden elektrischen, Gravitations-, magneti
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schen Strahlungs- und Molekularzustands-Verhältnisse in seiner Umgebung. Sie kehrten binnen Minuten in Innisons Werkstatt und sein Labor zurück, aber es dauerte Stunden, die Magnetimpulse in Maschinen einzuspielen, die sie als gezeichnete Kurven auf Koordinatenpapier wiedergaben, bis Innison Ergebnisse vorweisen konnte, die einer Lösung ähnlich sahen. »Kein Rätsel«, sagte er. »Kein Rätsel, abgesehen von der Geschwindigkeit, meine ich. Willst du wissen, was mit Tropile geschehen ist?« »Allerdings«, meinte Haendl. »Ein Stift elektrostatischer Energie, aufrechterhalten durch einen Bündeleffekt, schoß vom ungefähren Scheitelpunkt des Everest herunter – wie sie mit dem Richtfeld zurechtgekommen sind, weiß der Himmel – und lud ihn und die Umgebung positiv auf. Eine enorme Ladung, weit über dem Skalenbereich. Sie trennten sich. Er wurde hochgerissen; einen Meter über dem Boden trat ein Korrekturvektor in Aktion; als man ihn zuletzt sah, schoß er mit hoher Geschwindigkeit in die Richtung des Doppelplaneten der Pyramiden. Mit unglaublich hoher Geschwin digkeit, sage ich. So schnell, daß ich vermuten möchte, er kommt lebend dort an. Es dauert eine meßbare Zeit, den guten Teil einer Sekunde, bis sein Eiweiß so gerinnt, daß er krank wird und stirbt. Wenn sie die Ladung sofort bei seiner Ankunft entfernen, was ich annehme, wird er am Leben bleiben.« »Reibung – « »Quatsch Reibung«, sagte Innison ruhig. »Er führte eine Lufthülle mit, und Reibung entsteht nicht. Wie? Ich weiß es nicht. Wie werden sie ihn im Weltraum am Leben erhalten, ohne die Ladung, welche die Lufthülle festhält? Ich weiß es nicht. Wenn sie die Ladung nicht beibehalten, können sie dann Lichtgeschwindigkeit übertreffen? Ich weiß es nicht. Ich kann dir
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sagen, was geschehen ist, aber nicht, wie sie es gemacht haben.« Haendl stand nachdenklich auf. »Immerhin etwas«, erklärte er widerwillig. »Mehr, als wir je hatten – eine vollständige Messung im Augenblick der Abberufung!« »Wir bekommen noch mehr«, versprach Haendl. »Innison, du weißt jetzt, worauf du achten mußt. Such danach. Laß alle Meßgeräte Tag und Nacht überwachen. Schalt alles ein, was du hast, das Anzeichen einer erzwungenen Modulierung wahrnimmt. Bei dem geringsten Zeichen – oder bei jeder Vermutung, daß es ein Zeichen geben könnte – muß ich sofort gerufen werden. Wenn ich esse. Wenn ich schlafe. Wenn ich die Freuden der Liebe genieße. Ruf mich, hörst du? Vielleicht hast du recht gehabt, was Tropile betrifft, vielleicht war er uns von Nutzen. Vielleicht macht er den Pyramiden Kopfschmerzen.« Innison ließ die Spule zurücklaufen und meinte nachdenklich: »Sehr schade, daß sie ihn erwischt haben. Wir hätten noch ein paar Meßergebnisse brauchen können.« »Schade?« Haendl lachte grimmig. »Vielleicht auch nicht, Innison. Diesmal haben sie sich einen Wolf geholt.«
Die Pyramiden besaßen einen Wolf – eine Tatsache, die ihnen nicht das Geringste bedeutete. Man kann, außer durch Rückschlüsse, nicht wissen, was einer Pyramide etwas ›bedeutete‹. Man konnte aber wissen, daß sie Wolf von Bürger nicht zu unterscheiden vermochten. Der Planet, der ihre Heimat war – der Doppelplanet der Erde – war klein, dunkel, ohne Atmosphäre und Wasser. Er war vollkommen überbaut, zum großen Teil mit ihren Antriebsaggre gaten.
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In der alten Zeit, als die Technologie den Weg von Krieg, Luxus, Regierung und Muße gegangen war, erlosch ihre Sonne, und etwa zur gleichen Zeit gingen den Pyramiden die Kompo nenten aus, die sie von einem Nachbarplaneten importiert hatten. Sie verwendeten die letzten ihrer Komponenten dazu, ihre teilnahmslose Metaphysik von Zergliederung und Druck zu vollenden. Sie setzten ihren Planeten in Bewegung. Sie wußten, wohin. Jede Pyramide war ein radio-astronomisches Observatorium von einer Reichweite und Genauigkeit jenseits der wildesten Träume irdischer Radio-Astronomen. Von diesem Beginn aus bauten sie Instrumente zur Unterstützung ihrer nackten Sinne. Sie verfielen in eine Art Winterschlaf und verringerten, bis auf eine kleine ›Mannschaft‹ ihre Aktivität auf ein Mindestmaß – und schlugen den Weg zur Erde ein. Sie hatten allen Grund zu der Annahme, daß sie dort Komponenten finden würden, und so war es. Tropile war einer von ihnen, und das einzige, was ihn von den anderen unterschied, war, daß er als letzter gelagert wurde. Die Religion, das Laster oder die Philosophie, der er anhing, erlaubten es ihm, eine Komponente zu sein. Die aus dem ZenBuddhismus entwickelte Meditation war für die Pyramiden ein Glücksfall, wenngleich sie natürlich keine Ahnung davon hatten, was sich dahinter verbarg, und selbstverständlich ›kümmerte‹ es sie nicht. Sie wußten lediglich, daß bestimmte potentielle Komponenten zu Komponenten wurden, die nicht länger nur als mögliche Kandidaten galten – die vielmehr reif zum Pflücken waren. Es war wichtig für sie, daß die Gehirne, die sie ernteten, gänzlich leer waren – es ersparte ihnen den Schritt, sie leerzufegen. Tropile war in dem Augenblick geerntet worden, als sein störendes, bewußtes Denken ausgeschaltet war, denn die Pyramiden wünschten ihn nicht als willens- und erkenntnisfähi ges Wesen. Sie benützten nur die nackte Kapazität des
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menschlichen Gehirns und seiner Sinnesorgane. Sie verwendeten Raschewskys Zahl, den gigantischen, weit mehr als astronomi schen Ausdruck, der die Zahl der im menschlichen Gehirn vollführbaren Schaltoperationen bezeichnete. Sie benützten ›Subzeption‹, das Phänomen, durch welches der menschliche Verstand, ungehindert vom Bewußtsein, direkt auf Reize reagiert – die Gehirnzensur umgehend, das Abwägen von Soll-ich-odersoll-ich-nicht, das jedem bewußten Handeln vorhergeht, vermeidend. Sie waren – Komponenten, Bestandteile. Es ist nicht wün schenswert, daß der Lichtschalter im Schlafzimmer einen eigenen Verstand hat; wenn man das Licht einschaltet, möchte man, daß es brennt. So war es auch bei den Pyramiden. Ein Baustein wurde in dem Industriekomplex gebraucht, der Stoffwechselprodukte in Assimilationsprodukte verwandelte. Mit der seit der Ankunft ihres Planeten gewonnenen langen Erfahrung empfingen die Pyramiden die ›tabula rasa‹, als die sich Glenn Tropile darstellte. Er traf unbeschädigt ein, von einer Luftdecke umhüllt. Geistig schnelltiefgefroren im Augenblick der schlaffen Leere, die ihm seine Meditation gewährt hatte, wurde er von abstoßenden Ladungen beim Absturz gebremst und augenblicklich überschüssiger elektrostatischer Ladungen entkleidet. In diesem Augenblick war er noch immer menschlich, nur schlief er. Er ›schlief‹ weiter. Ringfelder, die sie für Hebungen und Senklingen benützten, ergriffen ihn und schoben ihn in einen genau passenden Tank voll Nährflüssigkeit. Es gab viele solcher Tanks. Sie standen bereit und warteten. Die Tanks konnten bewegt werden, und der Tank, der Glenn Tropile beherbergte, bewegte sich zu einer MetabolismusAnlage, wo es viele Tanks gab, die alle besetzt waren. Hier war es warm – in der Empfangsstation hatten die Pyramiden keine
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Energie für derart eitle Bequemlichkeiten vergeudet. In diesem Raum nahm Glenn Tropile stufenweise wieder die Erscheinung des Lebens an. Sein Herz begann von neuem zu schlagen. Schwache Regungen wurden an seinem Brustkorb sichtbar, als die von der Gewohnheit gesteuerte Lunge zu atmen versuchte. Stufenweise wurden diese Regungen geringer und hörten schließlich ganz auf; auch für diese kindische Behaglichkeit bestand kein Bedürfnis; die Nährflüssigkeit sorgte für alles. Tropile wurde ›angeschlossen‹. Der einzige echte Anschluß war zunächst eine winzige Elektro de, antiseptisch in den großen Nerv eingeführt, der zum Rhinencephalon führte – dem ›Riechhirn‹ mit den Zentren für angenehme Reize, die das menschliche Verhalten lenken. Über tausend Bausteine waren verdorben und beseitigt worden, bis die Pyramiden den Ort der Genußzentren so genau hatten bestimmen können. Während der Baustein Glenn Tropile ›programmiert‹ wurde, belohnte ihn die Elektrode mit schwa chen Impulsen, die seinen Körper vor tierischem Wohlbehagen erglühen ließen, wenn er richtig funktionierte. Mehr steckte nicht dahinter. Nach einiger Zeit wurde die Elektrode entfernt, aber inzwischen hatte Tropile seine ganze Aufgabe ›gelernt‹. Bedingte Reflexe waren etabliert. Für das lange und nutzbringende Leben des Komponenten konnte man sich auf sie verlassen. Dieses Leben mochte sogar sehr lange währen; im Nährtrank neben Tropile lag, zum Beispiel, ein Baustein mit acht Beinen und Chitinpanzer um die Augen. Er lag schon seit über hundertfünfundzwanzigtausend Erdenjahren in einem Tank.
Dann wurde der neue Baustein den anderen zugeschaltet. Er öffnete seine Augen und sah; die sensorischen Nerven seiner Glieder fühlten; die Muskeln seiner Hände und Zehen bewegten sich. Wo war Glenn Tropile?
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Er war da, vollständig, aber ein Gespenster-Tropile. Des Willens beraubt, von Erinnerungen entleert. Er war eine Maschine und Teil einer riesigeren Maschine. Sein Geschlecht war das Geschlecht einer photoelektrischen Zelle, seine Politik die eines Transistors, sein Ehrgeiz der eines Quecksilberschalters. Er wußte nichts von Geschlecht, Angst oder Hoffnung. Er kannte nur zwei Dinge: Aufnahme und Leistung. Aufnahme war für ihn das Aufleuchten kleiner Lämpchen an einer Tafel vor seinen leeren Augen, und auch die Modulation des flüssigkeitsgeborenen Summens eines Lautsprechers in jedem Ohr. Leistung war die tanzende Manipulation gewisser Knöpfe und Tasten, veranlaßt durch Veränderungen in der Aufnahme. Zwischen Aufnahme und Leistung lag er im Tank, Glenn Tropile, ein menschlicher Schaltkasten, welcher der Raschewski schen Zahl von Schaltungen fähig war, und nichts sonst. Er war programmiert, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen – nämlich, eine chemische Verbindung mit den Namen 3, 7, 12 Trihydroxycholansäure, im katabolischen Produkt der Pyramiden vorhanden, durch eine Reihenfolge von mehr als fünfhundert verschiedenen Abläufen zu steuern, bis sie als die chemische Verbindung hervorging, welche die Pyramiden metabolisieren konnten, genannt Protoporphin IX. Er war nicht die einzige Komponente, die an dieser Aufgabe arbeitete; es gab mehrere, jede mit ihrem eigenen Programm. Die Säure speicherte sich in riesigen Behältern, eine Meile von ihm entfernt. Er kannte ihre Konzentration, Wärme und ihren Druck; er wußte von allen Unreinheiten, die nachfolgende Reaktionen beeinflussen konnten. Seine Finger tippten, lieferten Schleusen Binärsystem-Signale, sich für soundso viele Sekunden zu öffnen und wieder zu schließen, daß eine solche Menge Lösungsmittel bei solcher Temperatur hinzufloß, daß die Rührwerke sich mit solcher Kraft soundso lange bewegten. Und wenn ein Störungssignal eine der fünfhundertsiebzehn größeren
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und kleineren Operationen behinderte, hatte er – es? – unter Alternativen zu wählen: - den Schub angesichts der Fließbedingungen entlang der Linie verwerfen? - den Schub über ein Nebensystem isolieren und übergehen? – sofort handeln, um den Fehler zu korrigieren? Ohne hemmende Intelligenz, ohne die Fesseln des Menschseins, konnten die komplizierte Schalttafel und die verwickelten Modulationen der beiden Schallsignale augenblick lich erkannt, ausgewertet und für die Entscheidung verwendet werden. War es – er? – noch am Leben? Die Frage entbehrte des Sinns. Er funktionierte. Er war sogar eine ausgezeichnete Maschine, die Pyramiden sorgten gut dafür. Sein einziges Bewußtsein, abgesehen von den Reflexreaktionen, die sein Programm darstellten, war der ›Ton einer einzigen klatschenden Hand‹: Null, Bewußtlosigkeit, Stumpfheit. Er funktionierte geraume Zeit – bis die verlangte Zufuhr von Protoporphin IX durch einen ausreichenden Sicherheitsfaktor übertroffen war, so daß weitere Verarbeitung unnötig wurde – das heißt, einige Minuten oder Monate. Während dieser Zeit war er glücklich. Er war programmiert, glücklich zu sein, solange es keine unkorrigierten Fehler im Verfahren gab. Am Ende dieser Zeit schaltete er sich ab, schickte ein Signal hinaus, daß die Aufgabe erfüllt war, und wurde dann im Analogon einer Tiefkühlanlage beiseite gelegt, zur Umprogrammierung, sobald wieder ein Baustein gebraucht wurde. Nein. Für die Pyramiden war es völlig ohne Bedeutung, daß dieser eine Baustein nicht Bürger, sondern Wolf war.
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Roget Germyn, ein Bürger aus Wheeling, betrachtete seine Frau mit zunehmender Sorge. Möglicherweise hatten die Ereignisse der letzten Tage ihre Vernunft aus den Angeln gehoben, aber er war beinahe davon überzeugt, daß sie insgeheim einen Teil der Abendmahlzeit im Servierraum gegessen hatte, bevor sie ihn zu Tisch rief. Er war gewiß, daß es sich nur um eine vorübergehende Verirrung handelte. Schließlich war sie eine Bürgerin, mit allem, was das bedeutete. Ein – ein Wesen wie diese Gala Tropile, zum Beispiel, jemand wie sie mochte mit Verschlagenheit und Hinterlist zusätzliche Portionen stehlen. Man konnte nicht Jahre mit einem Wolf zusammenleben und nichts von seiner Art annehmen. Aber nicht Bürgerin Germyn. Es klopfte leise dreimal an die Tür. Wenn man vom Teufel spricht, dachte Roget Germyn passend erweise; denn es war eben diese Gala Tropile. Sie trat mit gesenktem Kopf ein, wirkte düster, hager und – nun, hübsch. Er begann formell: »Ich grüße Sie, Bürgerin – « »Sie sind hier!« unterbrach sie ihn in verzweifelter Hast. Germyn blinzelte. »Bitte«, flehte sie, »können Sie nicht etwas tun? Sie sind Wölfe!« Bürgerin Germyn stieß einen dumpfen Schrei aus. »Die Bürgerin kann gehen«, sagte Germyn kurz zu ihr und formte im stillen bereits die sanft mißbilligenden Worte, die er ihr später zu sagen gedachte. »Also, was soll dieses Gerede von Wölfen?« Gala Tropile setzte sich gequält in den Sessel, den ihre Gastgeberin verlassen hatte. »Wir sind fortgelaufen«, stammelte sie. »Glenn zwang mich, ihn zu begleiten. Wir waren einen langen Tagesmarsch von
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Wheeling entfernt und machten eine Pause, um uns auszuruhen. Und dann kam ein Flugzeug, Bürger!« »Ein Flugzeug!« Bürger Germyn erlaubte sich ein Stirnrunzeln. »Bürgerin, es ist nicht gut, Dinge zu sagen, die nicht zutreffen.« »Ich habe es gesehen, Bürger! Darin saßen Männer, und einer von ihnen ist jetzt hier. Er suchte mich, zusammen mit einem anderen Mann, und ich bin ihm nur knapp entkommen. Ich habe Angst!« »Zur Furcht besteht kein Anlaß, nur eine Gelegenheit, zu bewundern«, sagte Bürger Germyn mechanisch – so sprach man mit seinen Kindern. Aber in seinem Innern fiel es ihm sehr schwer, ruhig zu bleiben. Dieses Wort Wolf – es zerstörte die Ruhe, es erregte panische Angst und Haß! Er erinnerte sich gut an Tropile, und das war ein Wolf, ohne Zweifel. Die bloße Tatsache, daß Bürger Germyn sein Wolfswesen zunächst angezweifelt hatte, war nun machtvolle Ursache genug, doppelt davon überzeugt zu sein; er hatte den Tag der Rechenschaft mit einem Feind der ganzen Welt hinausgeschoben, und seine Erinnerung barg genug geheime Schuld, um sein eigenes Herz schneller schlagen zu lassen. »Die Bürgerin möge mir erzählen, was genau sich zugetragen hat«, sagte Bürger Germyn. Gehorsam erwiderte Gala Tropile: »Ich kehrte nach dem Abendessen in mein Heim zurück, und Bürgerin Puffin – sie hat mich aufgenommen, nachdem Bürger Tropile – nachdem mein Mann – « »Ich verstehe. Sie wohnen bei ihr.« »Ja. Sie berichtete mir, daß zwei Männer nach mir gesucht hätten. Sie sprächen schlecht, sagte sie, und ich wurde ängstlich. Ich schaute durch ein Fenster in mein eigenes Haus, und dort waren sie. Einer war in dem Flugzeug gewesen, das ich gesehen habe! Und sie waren mit meinem Mann davongeflo gen.«
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»Das ist eine ernste Sache«, gab Bürger Germyn zweifelnd zu. »Dann sind Sie also gleich zu mir gekommen?« »Ja, aber sie haben mich gesehen, Bürger! Und ich glaube, sie sind mir nachgegangen. Sie müssen mich schützen, ich habe sonst niemanden!« »Wenn sie Wölfe sind«, sagte Germyn gelassen, »werden wir Alarm schlagen, gut. Bleibt die Bürgerin hier? Ich gehe hin und sehe mir diese Männer an.« Jemand hämmerte ohne Anstand an die Tür. »Zu spät!« rief Gala Tropile entsetzt. »Sie sind hier!«
Bürger Germyn unterzog sich dem Ritual der Begrüßung, des um Vergebung-Bittens für die Häßlichkeit und Armseligkeit seines Hauses, des Anbietens seines ganzen Besitzes für die Besucher; so hatte man einen Fremden zu begrüßen. Die beiden Männer ließen es an Höflichkeit und Geist fehlen, aber sie unternahmen den Versuch, dem Mindestmaß an formellem Brauch bei der Vorstellung zu entsprechen. Er mußte ihnen das zugute halten, und trotzdem war es erschreckender, als wenn er getobt und gebrüllt hätten. Denn einen der beiden Männer kannte er. Er fischte den Namen aus seinem Gedächtnis. Haendl. Dieser Mann war an dem Tag in Wheeling erschienen, als Glenn Tropile dazu ausersehen gewesen war, die Spende der Rückenmarks flüssigkeit zu geben, worauf er ausgebrochen und geflüchtet war. Haendl hatte sich bei vielen Leuten nach Tropile erkundigt, auch bei Bürger Germyn, und selbst damals, in der Aufregung über Amok, Wolfentdeckung und Abberufung an einem einzigen Tag, hatte sich Germyn über seinen Mangel an Manieren gewundert. Jetzt wunderte er sich nicht mehr.
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Der Mann beging jedoch keine so krasse Tat wie Tropiles entsetzlicher Diebstahl des Brotes, und Bürger Germyn verschob den Alarmruf. Dergleichen unternahm man nicht ohne Bedacht. »Gala Tropile ist in diesem Haus«, sagte Haendls Begleiter rundheraus. Germyn gelang ein schiefes Lächeln. »Wir wollen sie sprechen, Germyn. Es handelt sich um ihren Mann. Er – äh – er war eine Weile bei uns, und dann passierte etwas.« »Ah ja. Der Wolf.« Der Mann wurde rot und sah Haendl an. Haendl sagte laut: »Der Wolf. Gewiß ist er ein Wolf. Aber jetzt ist er fort, also brauchen Sie sich deshalb keine Sorgen zu machen.« »Fort?« »Nicht nur er, sondern vier oder fünf von uns«, erklärte Haendl zornig. »Da war ein Mann namens Innison, und auch er ist fort. Wir brauchen Hilfe, Germyn. Irgend etwas an Tropile – weiß der Himmel, was es ist, aber er hat etwas ausgelöst. Wir wollen mit seiner Frau sprechen und über ihn herausfinden, was wir können. Würden Sie sie also aus dem Hinterzimmer holen, wo sie sich versteckt, und sie herbringen, bitte?« Bürger Germyn erbebte. Er beugte sich über das Erkennungs armband, das einst dem toten Gefreiten Joe Hartmann gehört hatte, und betastete es, um seine Gedanken zu verbergen. Schließlich sagte er: »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht ist die Bürgerin bei meiner Frau. Wenn das der Fall wäre, könnte es dann nicht sein, daß sie Angst vor denen hatte, die einmal mit ihrem Mann zusammen waren?« Haendl lachte säuerlich.
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»Sie hat nicht mehr Angst als wir, Germyn. Ich will Ihnen etwas sagen. Ich habe Ihnen von Innison erzählt, der ver schwunden ist. Er war ein Sohn der Wölfe, verstehen Sie mich? Wenn wir schon dabei sind – « Er sah seinen Begleiter an, befeuchtete die Lippen und entschied sich, anders fortzufahren. »Er war ein Wolf. Erinnern Sie sich, je davon gehört zu haben, daß ein Wolf abberufen wurde?« »Abberufen?« Germyn ließ das Armband fallen. »Aber das ist ausgeschlossen!« rief er, völlig seine Manieren vergessend. »O nein. Die Abberufung wird nur jenen gewährt, die den Augen blick höchster Loslösung erreichen, davon dürfen Sie überzeugt sein. Ich weiß es. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Kein Wolf könnte jemals – « »Mindestens fünf Wölfe haben es aber getan«, sagte Haendl grimmig. »Sehen Sie jetzt, was los ist? Tropile ist abberufen worden – das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Am nächsten Tag Innison. Binnen einer Woche zwei oder drei andere. Deshalb sind wir hergekommen, Germyn. Nicht, weil es uns Spaß macht. Sondern, weil wir Angst haben. Wir müssen mit Tropiles Frau sprechen – und mit Ihnen auch. Wir wollen mit allen reden, die ihn gekannt haben. Wir wollen alles über Tropile erfahren, um zu sehen, ob sich aus dem Ganzen ein Sinn ergibt. Es mag zwar sein, daß die Abberufung für Sie das höchste Lebensziel ist, Germyn, aber für uns ist sie nur eine Todesart mehr. Und sterben wollen wir nicht.« Bürger Germyn bückte sich, um sein kostbares Armband aufzuheben, und legte es geistesabwesend auf den Tisch. Sein ganzes Denken war in Anspruch genommen. Nach einer Weile sagte er schließlich: »Das ist merkwürdig. Soll ich Ihnen noch etwas Seltsames erzählen?« Haendl nickte, halb zornig, halb verwirrt. »Seit dem Tag, als Tropile, der Wolf, verschwand, hat es hier keine Abberufung mehr gegeben. Aber es sind Augen erschie
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nen. Ich habe sie selbst gesehen. Es« – er zögerte und hob die Schultern – »es war beunruhigend. Einige unserer vornehmsten Bürger haben aufgehört zu meditieren. Sie grübeln unaufhörlich. So viele Augen, und keiner abberufen! Das widerspricht ganz unserer Erfahrung, und unsere Gebräuche haben gelitten. Die Höflichkeit unter uns schwindet, sogar in meinem eigenen Haus – « Er hustete und fuhr fort: »Lassen wir das. Aber diese Augen sind in jedes Haus gekommen. Sie haben sich umgesehen, und niemand ist abberufen worden. Warum nicht? Hat das mit der Abberufung der Wölfe zu tun?« Er starrte seine Besucher ohne Hoffnung an. »Ich weiß nur, daß es sehr seltsam ist, und deshalb mache ich mir Sorgen«, schloß er. »Dann führen Sie uns zu Gala Tropile«, dröhnte Haendl. »Wir wollen sehen, was wir erfahren können!« Bürger Germyn verbeugte sich. Er räusperte sich und erhob seine Stimme nur so weit, daß sie im Nebenraum hörbar wurde. »Bürgerin!« rief er. Es blieb für kurze Zeit still, dann erschien seine Frau mit sorgenvoller Miene unter der Tür. »Würde die Bürgerin fragen, ob die Bürgerin Tropile zu uns kommen könnte?« bat er. Seine Frau nickte. »Sie ruht sich aus. Ich rufe sie.« Sie drehte sich um. Ein Donnerschlag ließ das Haus erzittern. Alle vier zuckten zusammen, rissen die Augen auf, liefen in das andere Zimmer. Der Donnerschlag hatte wirklich stattgefunden; Luft war zusammengestürzt, um ein Vakuum auszufüllen; das Vakuum war der Raum gewesen, den einst Gala Tropile eingenommen hatte. Diese Frau, wolfähnlich, kaum in der Verfassung, zu meditieren – auch sie war abberufen worden.
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Auf dem Zwillingsplaneten der Erde war Glenn Tropile umpro grammiert worden. Das Problem hieß Navigation. Die Erde war für die Pyramiden eine Enttäuschung gewesen; es wurde notwendig, schneller einen lohnenderen Planeten aufzusuchen. Die Pyramiden hatten die Erde durch einen einfachen Anstoß, langsam und massiv, über die Umlaufbahn Plutos hinausbeför dert. Es hatte genügt, nur annähernd die Richtung zu gewinnen, die sie schließlich einzuschlagen gedachten; für Kursverbesse rungen blieb später Zeit genug. Aber jetzt war die Zeit für Korrekturen gekommen, früher als erwartet. Jetzt mußten sie auf die Reise gehen, und sie wußten auch, wohin – zu einem Sternenhaufen, von dem mit einiger Sicherheit angenommen werden durfte, daß er reich an komponentenliefernden Planeten war. Es lag in der Natur der Komponentenlager, daß sie sich schließlich erschöpften. Das spielte aber keine Rolle; Lager gab es immer genug. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte man vielleicht Kompo nenten für zukünftige Bedürfnisse züchten müssen. Es war aber einfacher, das Depot auszubeuten und weiterzuziehen. Nun mußte der Kurs berechnet werden. Zu berücksichtigen waren Faktoren wie: Bewegung des Sternhaufens, Beschleuni gung des Doppelplaneten-Systems, Gravitationseinfluß sämtlicher astronomischer Körper im Insel-Universum. Genaue Berechnung auf dieser Grundlage war offenkundig nicht praktikabel. Für das Problem gab es keine Lösung, weil die dafür erforderliche Zeit an die Grenze der Ewigkeit stoßen würde. Es war jedoch möglich, das Problem zu vereinfachen. Nur die relativ nahen astronomischen Körper mußten einzeln berücksich tigt werden. In größerer Entfernung begannen die Pyramiden sie
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in kleinen Gruppen zusammenzufassen, noch weiter entfernt in großen, bis hin zu dem Punkt, wo die entferntesten – und zahlreichsten – Körper als undeutliches Gravitationsgeräusch zusammengenommen wurden, von dem man lediglich seine Durchschnittsstärke zu kennen brauchte. Immer noch konnte aber kein einzelner Baustein auch nur seinen eigenen Anteil des Problems bearbeiten, sollte der ›Computer‹, den sie bildeten, innerhalb eines zulässigen Größenbereichs bleiben. Für die Pyramiden war das nichts Neues; sie wußten, wie man vorzugehen hatte. Sie zerlegten das Problem in seine wesentli chen Punkte und teilten sogar diese noch in viele Teile auf. Es gab, zum Beispiel, den Unterabschnitt eines bestimmten Aspekts des logistischen Problems, bei dem es sich darum handelte, zusätzliche Komponenten für die Bewältigung der Aufgabe zu finden und einzusetzen. Selbst diese winzige Spezialfrage war für einen einzelnen Baustein zu schwer, aber die Pyramiden verfügten über Mittel, dem abzuhelfen. Das Verfahren in solchen Fällen bestand darin, mehrere Bausteine zusammenzufügen. Das wurde bewerkstel ligt. Als die Pyramiden mit ihren neurochirurgischen Eingriffen fertig waren, schwamm in einem riesengroßen Nährtank ein Ding wie eine große Seeanemone. Sie bestand aus acht Bausteinen – sämtlich Menschen, wie sich durch Zufall ergab –, angeordnet in einem Kreis, nach innen blickend, Schläfe mit Schläfe, Gehirn mit Gehirn verbunden. Zu ihren Füßen, wo acht Augenpaare sie sehen konnten, war die Schalttafel für die Aufnahme angebracht. Sechzehn Hände umfaßten sechzehn Schalter für die nach dem Binärsystem genormte Leistung. Außerhalb des Acht-Baustein-Aggregats sollte der Output nicht gespeichert werden; die Leistung wanderte in Form von Kontrollsignalen zu den elektrostatischen
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Generatoren, weitergeleitet über die einzelne Pyramide auf dem Mount Everest, der die Aufgabe der Baustein-Beschaffung oblag. Also die der Abberufung. Die Programmierung fand langsam und gründlich statt. Vielleicht war die Pyramide, die schließlich die Oktett-Einheit in Betrieb setzte und sich entfernte, zufrieden mit sich, ohne zu ahnen, daß einer ihrer Bausteine Glenn Tropile war. Nirwana. Alles durchdringend, kein Außerhalb. Nirwana. Glenn Tropile schwamm darin wie in dem Fruchtwas ser, das ihn umgab. Nirwana… Der Ton einer alleine klatschenden Hand… Schwe bendes Eins-Sein. Ein Eindringen. Vollkommenheit ist vollständig; fügt man etwas hinzu, zerstört man sie. Dualität schlug ein wie der Blitz. Das Eins-Sein zerfiel. Glenn Tropile kam es so vor, als schreie ihm seine Frau zu, er solle aufwachen. Er versuchte es. Es war seltsam schwierig und schmerzhaft. Zeitlose, bittere Trauer, fünf Jahre Leid um eine verlorene Liebe, zusammen gepreßt in einer Mikrosekunde. Immer war es so, dachte Tropile schläfrig, erwachend; nie dauert es; was hat es für einen Sinn, ergrübeln zu wollen, was immer wieder geschieht… Schock und Entsetzen erschütterten ihn. Dies war kein gewöhnliches Erwachen. Durchaus Gewöhnliches, nichts war so, wie es je gewesen!
nichts
Tropile öffnete den Mund und schrie – oder glaubte zu schrei en. An seinen Trommelfellen wurde es nur ein rauhes, schwa ches Flattern. Es war ein Augenblick, da die Vernunft hätte untergehen können. Aber eine seltsame, ganz weltliche Tatsache rettete ihn.
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Er hielt etwas in den Händen. Er entdeckte, daß er es betrachten konnte. Es war ein Schalter. Ein Drehschalter, der mit einer Tafel verbunden war, und er hielt in jeder Hand einen. Es war wenig, um sich daran zu klammern, aber wenigstens war es wirklich. Wenn seine Hände etwas zu halten vermochten, mußte irgendwo eine Spur von Wirklichkeit sein. Tropile schloß die Augen, und es gelang ihm, sie wieder zu öffnen. Ja, auch hier Wirklichkeit; er schloß die Augen, und das Licht verschwand; er öffnete sie, und das Licht kehrte zurück. Vielleicht war er doch nicht tot, wie er geglaubt hatte. Vorsichtig, stockend – nur mit dem Verstand als einzig brauchbarem Werkzeug – versuchte er, seine Umgebung zu erkennen: er konnte kaum glauben, was er vorfand. Punkt eins, er konnte sich kaum bewegen. Auf irgendeine Weise war er an Kopf und Füßen gefesselt. Wie? Er konnte es nicht sagen. Punkt zwei, er war zusammengekauert und konnte sich nicht aufrichten. Warum nicht?. Wieder vermochte er es nicht zu sagen, aber es war so. Die großen Streckmuskeln am Rücken gehorchten seinem Befehl, aber sein Körper bewegte sich nicht. Punkt drei, seine Augen sahen, aber nur in einem kleinen Bereich. Auch seinen Kopf konnte er nicht bewegen. Immerhin konnte er einiges sehen. Die Schalter in seinen Händen, seine Füße, Lichterspiel an einer merkwürdigen, kreisrunden Tafel. Die Lichter flackerten und zeigten ein anderes Muster. Ohne nachzudenken drehte er den Weil es so richtig war. Wenn eine aufleuchtete, mußten bestimmte werden. Warum? Nun, wenn eine aufleuchtete, mußten bestimmte –
linken Schalter: Warum? bestimmte Lampe grün Schaltungen ausgeführt bestimmte Lampe grün
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Er gab dieses Problem auf. Egal warum; was, zum Teufel, ging hier vor? Glenn Tropiles Blick wanderte hin und her. Auch das eine Tatsache, das merkwürdige Sehen. Warum ist es so eigenartig? fragte er sich. Er fand eine Antwort, aber es brauchte einige Zeit, sie aufzu nehmen. Er sah in einer seltsamen Perspektive. Man sieht mit zwei Augen. Schließ das eine, und die Welt ist flach, öffne es wieder, und ein stereoskopisches Doppelbild tritt hinzu; das Bild wird plastisch, der Hintergrund tritt zurück. So ging es mit den Lichtern an der Tafel – nein, nicht ganz; aber so ähnlich, dachte er. Es war, als habe er nie zuvor richtig gesehen – er kniff die Augen zusammen und riß sie wieder auf – es war wirklich so. So, als habe er sein ganzes Leben hindurch nur ein Auge besessen und sei jetzt auf eigenartige Weise mit einem zweiten beschenkt worden. Seine optische Sinneswahrnehmung der Schalttafel war total. Er konnte sie ganz sehen, auf einmal. Sie hatte keine Vorderoder Rückseite, sie war rund; natürliche Betrachtung ermangelte der Orientierung; er umfaßte und begriff sie als Einheit. Sie besaß keine Geheimnisse des Schattens oder der Silhouette. Ich glaube, formten Tropiles Lippen stumm, ich glaube, ich verliere den Verstand. Aber auch das war keine Erklärung. Bloßer Irrsinn war kein genügender Grund für das, was er sah. Befand er sich dann in einem Zustand, der jenseits des Nirwana lag? Er erinnerte sich mit einem seltsamen Anflug von Schuld daran, daß er meditiert, daß er die Zustandsfolgen des kochenden Wassers beobachtet hatte. Nun gut, vielleicht war er abberufen worden. Aber was war dann dies? Irrten die Meditierer mit ihrer Lehre, daß Nirwana das Ende sei – und waren doch mehr im Recht als die Wölfe, die das Meditieren als eine
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Erscheinung abtaten, die nur im Kopf stattfand, die sich weigerten, über die Abberufung auch nur zu diskutieren? Das war eine Frage, für die er auch nicht annähernd eine Antwort zu entdecken vermochte. Er wandte sich von ihr ab und betrachtete seine Hände. Auch sie konnte er in der ganzen Runde sehen, fiel ihm auf; er sah jedes Fältchen, jede Pore, in allen sechzehn… Sechzehn Hände! Das war der zweite Augenblick, in dem der Verstand beinahe für immer Abschied genommen hätte. Er schloß die Augen. Sechzehn Augen! Kein Wunder, die totale Wahrnehmung! Und nach einer Weile öffnete er sie wieder. Die Hände waren da. Alle sechzehn. Vorsichtig wählte Tropile einen Finger, der seiner Erinnerung bekannt vorkam, und bewegte ihn nach kurzem Nachdenken. Er beugte sich. Er wählte einen anderen. Einen anderen Finger – an einer anderen Hand, diesmal. Er konnte jede einzelne oder alle sechzehn Hände gebrauchen. Sie gehörten alle ihm, alle sechzehn. Ich scheine eine Art achtgliedriger Schneekristall zu sein, dachte Tropile wirr. Jedes meiner Glieder ist ein menschlicher Körper. Er regte sich und fügte einen weiteren Faktor hinzu. Ich scheine mich außerdem in einem Tank voller Flüssigkeit zu befinden, und trotzdem ertrinke ich nicht. Daraus ließen sich bestimmte Schlußfolgerungen ziehen. Entweder hatte jemand – die Pyramiden? – einen Eingriff an seiner Lunge vorgenommen, oder die Flüssigkeit lieferte ebensogut Sauerstoff wie die Luft. Oder beides. Plötzlich begann das Lichterspiel der Datenlämpchen an der Schalttafel unter ihm. Augenblicklich und unwillkürlich betätigten
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seine sechzehn Hände die Schalter und übermittelten komplizier te Steuerbefehle in einem blitzschnellen Strom von Ein-AusSchaltungen. Tropile entspannte sich und ließ es geschehen. Es blieb ihm keine Wahl; die Macht, die es für richtig erklärte, auf die Tafel zu reagieren, erlaubte seinem Gehirn nicht, sich zu konzentrieren, solange die Reaktion dauerte. Vielleicht, so dachte er schläfrig, vielleicht wäre er gar nicht wach geworden, wenn es nicht die lange Periode ohne Lichter gegeben hätte… Aber er war wach. Und sein Bewußtsein begann zu forschen, als die Aufgabe beendet war. Er hatte eine Gelegenheit gehabt, einiges von den Vorgängen zu begreifen. Er erkannte, daß er nun Teil eines größeren Ganzen war, ohne Zweifel eines Ganzen, das den Pyramiden gehörte und ihnen diente. Sein einzelnes Gehirn war für die Aufgabe nicht groß genug gewesen, sieben weitere waren damit verbunden worden. Aber wo waren ihre Persönlichkeiten? Fort, vermutete er; wahrscheinlich waren sie Bürger gewesen. Söhne der Wölfe meditierten nicht und wurden daher auch nicht abberufen – bis auf ihn selbst, dachte er reumütig, als er sich an die Meditation über Regenwolken erinnerte, die ihn dazu geführt hatte. Halt, nein! Nicht Regenwolken, sondern Wasser! Tropile nahm sich zusammen und zwang sein Gehirn, den Gedanken zurückzuverfolgen. Er erinnerte sich der Regenwolken-Meditation. Sie war von einem besonders schönen Kumulus in Form eines alten Schiffes ausgelöst worden. Und das war seltsam. Tropile hatte sich für Regenwolken nie besonders begeistern können, er hatte nicht einmal die Unterteilung von Regenwolken-Typen gekannt. Es war eine falsche Erinnerung. Sie gehörte nicht ihm.
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Demzufolge war es, logischerweise, die Erinnerung einer anderen Person, und da sie seinem eigenen Gehirn zur Verfügung stand, wie es die vierzehn anderen Hände und Augen taten, mußte sie – einem anderen Glied des Schneekristalls gehören. Er senkte die Augen und versuchte zu erkennen, welches von den Gliedern sein eigener Körper war. Er fand ihn schnell, mit wachsender Erregung. Da war die linke große Zehe seines eigenen Körpers, verformt, doppelt so breit wie normal; er hatte sich in der Kindheit verletzt, sie war abgetrennt worden und schief wieder angewachsen. Gut! Das beruhigte. Er versuchte, den bestimmten einen Körper zu erfühlen, der zu der vertrauten Zehe führte. Es gelang ihm, doch nicht ohne Schwierigkeiten. Nach einiger Zeit wurde er sich dieses Körpers klarer bewußt – etwa so, wie ein Neurotiker sich seines Magens oder seines Herzens bewußt ist, aber dies war keine Neurose, es war eine bewußte Erfor schung. Da das funktionierte, übertrug er seine Aufmerksamkeit etwas unsicher auf ein anderes Paar Füße und ›dachte‹ sich an ihnen hinauf. Es war peinlich. Zum erstenmal in seinem Leben erfuhr er, was es heißt, Brüste zu haben. Zum erstenmal in seinem Leben wußte er, was es bedeutete, die inneren Organe anders gelagert und geformt zu besitzen, geschützt und umhüllt von anderen Muskeln. Das überaus undeutliche Hintergrundgefühl der inneren Anlage eines Mannes, nie in Frage gestellt, bis mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist und etwas zu schmerzen anfängt, glich durchaus nicht der schwachen Hintergrundempfindung einer Frau. Und als er sich auf diese Empfindung konzentrierte, war es für ihn kein schwacher Hintergrund. Es war überraschend und beunruhigend.
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Er zog sich zurück – hoffend, daß er dazu in der Lage sein würde. Er war es. Dankbar wurde er sich wieder seines eigenen Körpers bewußt. Wenn er es wollte, konnte er doch wieder er selbst sein. Und die anderen sieben? Er griff in seinen Geist – in den ganzen, in alle acht verschiede nen Intelligenzen, die mit ihm vereinigt waren. »Ist da jemand?« fragte er. Keine Antwort – jedenfalls nichts, was er als solche zu erken nen vermochte. Er bohrte tiefer, und noch immer blieb die Antwort aus. Es war beunruhigend. Er nahm es mit solcher Bitterkeit übel, wie damals, erinnerte er sich, als er die Feinheiten der Regenwolken-Bewunderung zum erstenmal kennengelernt hatte. Es hatte einen Regenwolken-Meister gegeben – der Name war vergessen –, der manchmal wirklich nicht höflich gewesen war, der scharf angetrieben hatte – Wieder eine falsche Erinnerung! Er zog sich zurück und wog sie ab. Vielleicht war das ein Teil der Antwort, dachte er. Diese Menschen, diese anderen sieben, ließen sich nicht hetzen. Der Versuch, sie ins Bewußtsein zurückzurufen, mußte mit Bedacht unternommen werden. Wenn er grob vorging, war es schmerzhaft – er erinnerte sich an die qualvolle Agonie seines eigenen Erwachens – und sie reagierten mit Unlustgefühlen. Sanfter, nach wandernden ›Erinnerungen‹ Ausschau haltend, durchkämmte er die Tiefen des achtfachen Geistes in sich, griff hinein in die schlafenden Bereiche, berührte, faßte an, siebte und verknüpfte, sortierte. Diese Erinnerung an eine alte Stichwunde aus einem Amoklauf – das war nicht die Regenwolken-Frau; es war ein sehr alter Mann. Diese schwache Reminis zenz an eine Kindheitsangst vor dem Ertrinken – war das sie? Ja. Es fügte sich zu der anderen Erinnerung, zu dem langen Umweg
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auf der Straße nach Süden, der Sonne entgegen, um den Fluß herum. Die Regenwolken-Frau war die erste, die sich in seinem Geist rundete, und die erste, mit der er Verbindung aufnahm. Es wunderte ihn nicht, zu erfahren, daß sie schon sehr früh in ihrem Leben befürchtet hatte, zu den Wölfen zu gehören. Er streckte einen Fühler nach ihr aus. Es war beinahe wie bei einem Wunder – den ›geheimen Namen‹ einer Person zu wissen, so daß er einem untenan war. Aber der ›geheime Name‹ war mehr als das; er war die ›Gestalt‹ der Person, die Summe aller Daten und Erfahrungen, vorher einer anderen Person nie zugänglich – bis jetzt. Als ihre Erinnerungen endlich in seinem eigenen Gehirn geordnet waren, dachte er überredend: Bürgerin Alia Narowa, willst du erwachen und mit mir sprechen? Keine Antwort – nur eine undeutliche, ängstliche Regung. Sanft drängte er: Ich kenne dich gut, Alia Narowa. Manchmal hast du gedacht, daß du eine Tochter der Wölfe sein könntest, es aber nie so richtig geglaubt, weil du wußtest, daß du deinen Mann liebst – und weil du angenommen hast, Wölfe könnten nicht lieben. Auch die Regenwolken hast du geliebt. Es war am Strand, als du den großen Kumulus sahst und in die Meditation – Und weiter und weiter. Er wiederholte sich viele Male, lockend. Selbst so war es nicht leicht, aber endlich drang er durch. Langsam tauchte sie an die Oberfläche. Gedanken hallten schwach in seinem Gehirn wider. Wie Echos zuerst; seine eigenen Gedanken wurden zurückgewor fen; eine Art geistigen Nickens der Zustimmung, ›ja, so ist es‹. Dann – Entsetzen. Eine vibrierende Angst, ein hysterisches Aufbäumen, dann schoß Bürgerin Alia Narowa gewaltsam hoch ins volle Bewußtsein, in panische Angst. Sie schrie lautlos. Die ganze achtgliedrige Figur erbebte und wand sich in ihrem Nährbad.
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Der schreckliche Sturm tobte in Tropiles Gehirn ebenso wütend wie in ihrem – aber er hatte den Vorteil, zu wissen, was es war. Er half ihr. Er kämpfte für sie beide… beruhigte, erklärte, besänftigte. Er siegte. Endlich zog sich ihr Teil des Schneekristall-Körpers zurück, für eine Weile schluchzend. Der Sturm war vorbei. Er sprach mit ihr im Geist, und sie ›lauschte‹. Sie war fas sungslos, aber es blieb ihr keine Wahl; sie mußte glauben. Erschöpft und passiv fragte sie schließlich: Was können wir tun? Ich wäre am liebsten tot! Du bist früher nicht so feig gewesen, erwiderte er. Vergiß nicht. Alia Narowa, ich kenne dich. Ihr Gedanke erreichte ihn: Und ich kenne dich. Wie nie zuvor ein Mensch einen anderen gekannt hat. Dann dachten sie gemeinsam, unentwirrbar: Mehr als Ge spräch. Mehr als Mitteilung. Mehr als Liebe. Erinnerst du dich, wie du dich vor der Entjungferung gefürchtet hast? Ich erinnere mich. Und du, mit deiner Impotenzangst in der Hochzeitsnacht! Ich erinnere mich. Müssen wir miteinander so offen reden? Ich glaube, wir müssen. Schließlich bist du der erste Mann, der je ein Kind bekommen hat. Und du bist die erste Frau, die je ein Kind gezeugt hat. Über die Scham, über die Scheu hinaus, in ein eigenes Reich. Tropiles Hände schalteten Kodesignale, als die Lämpchen flackerten. Es war so unglaublich seltsam. Er war er und sie war sie, und gemeinsam waren sie – was? Sie war gut und anständig, sonst hätte er es vielleicht nicht ertragen können. Sie hatte den armen, blinden Mann in Cadiz ein Jahr lang versteckt; während der Mißernte in Vincennes war sie tapfer auf die Felder gegangen und hatte unweibliche Arbeit für alle getan; sie hatte ihren Mann in einem Wutanfall, in einem kurzen, geheimen Amoklauf umgebracht –
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Weg von mir! kreischte er. Alles war da in seiner Erinnerung. Ein abgestoßener Briefbeschwerer aus Glas, uralt, von der Größe einer Männerfaust, mit Farbspiralen darin, trüb unter den hundert Kerben und Kratzern an der Oberfläche, und ein darin eingelassenes Porzellanplättchen mit blauer WedgwoodZierschrift: ›Gott segne unser Haus‹. Sein Ehemann hatte schnarchend dagelegen, der Schnee vor den Zeltwänden begann sich zu türmen, und er hatte zugeschlagen, unbarmherzig zugeschlagen, mit blutunterlaufenen Augen, fauchend, verzehrt von Haß und Blutgier. Sie hatte es getan. Wie konnte er den blubbernden Schrecken des Gesichts vergessen, das noch immer lebte und zuckte, nachdem die Augen schon nichts mehr sahen und die Kinnlade zerschmettert war? Weg von mir! heulte er. Sie sagte nur: Wie? Er begann zaghaft zu lachen. Vielleicht erschien ihm die Zwillingsexistenz mit einem Ungeheuer nicht mehr so schlimm, wenn er lachte. Das Ganze war wahrscheinlich ein weltumfas sender Witz, dessen Pointe er eben erst begriffen hatte; den Rest seines Lebens würde er lachend verbringen. Pervers, sagte sie zu ihm. Ja, ich habe meinen Mann umge bracht, und du hast deine Trau verdorben, ihr gegeben, was für sie ein kleiner lebender Tod war, ihre Liebe in Krankheit und Scham verwandelt. Ich glaube, wir passen gut zusammen. Ich kann mit dir leben, Ungeheuer. Es drang zu ihm durch; es gehörte nicht zum Witz. Und ich kann mit dir leben, Mörderin, sagte er schließlich. Weil ich weiß, daß du nicht nur Mörderin bist. Da waren auch noch Cadiz und Vincennes. Und bei dir gab es hundert Zärtlichkeiten am Tag für deine Frau, als Ausgleich für das Böse. Du bist nicht so schlimm, Tropile. Du bist ein menschliches Wesen. Und du auch. Aber was sind – wir?
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Wir müssen beginnen, das zu erfahren. Es ist alles so neu. Wir müssen versuchen, uns zur Erkenntnis dessen zu übertölpeln, was wir sind, sonst stehen du und ich uns immer im Weg. Sie lachten gemeinsam und fuhren gemeinsam fort: Wenn wir eine Geschichte erzählten, dann von einem Kreisfeuer, das wächst. Und sie zuckten in einer -Ekstase des Entsetzens vor ihren Worten zurück. Sie schwiegen lange Zeit, während ihre Hände unablässig die Schalter drehten. Davon will ich nichts mehr wissen, sagte Alia Narowa schließ lich. Oder –? Sie wußte es nicht. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so erschrocken, sagte Glenn Tropile, und du auch nicht. Noch sind wir je von der Andeutung eines Sinns so angelockt worden. Mein Held ist Luzifer, deine Heldin ist Ishtar, die Junge. Uns gehört ein Kreisfeuer, das wächst. Versuchen wir, die anderen zu wecken, sagte sie. Wir müssen wohl, meinte er hilflos. Es hat keinen Zweck, den Atem anzuhalten und blau zu werden oder sich zusammenzurol len, um seine Ruhe zu haben. Wir sind uns einig, sagte sie.
11 Haendl war am äußersten Rand eines Nervenzusammenbruchs. Es war etwas völlig Neues in seinem Leben. Der heiße Sommer stand in voller Blüte, und die versteckte Kolonie von Wölfen in Princeton hätte vor Energie und Lebendig keit strotzen müssen. Das Getreide wuchs auf allen Feldern in der Umgebung; die entleerten Lagerhäuser wurden aufgefüllt.
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Der Hubschrauber, der für den Angriff auf den Mount Everest so mühsam gebaut und ausgerüstet worden war, stand bereit, fertig, seine Besatzung aufzunehmen und abzufliegen. Und nichts, überhaupt nichts lief normal. Es sah so aus, als würde es keine Expedition zum Everest geben. Viermal hatte Haendl schon seine Streitmacht zusam mengerufen, mit allem fertig. Viermal war eine Schlüsselfigur der Expedition – verschwunden. Wölfe verschwanden nicht! Und doch waren mehr als zwanzig verschwunden. Zuerst Tropile – dann Innison – dann noch zwei Dutzend, allein und zu zweit; niemand war immun dagegen. Man brauchte nur an Innison zu denken. Ein Wolf durch und durch. Ein Mann der Tat, kein Denker; seine Fertigkeiten waren die eines Handwerkers, eines Bastlers, eines Mechanikers. Wie konnte ein solcher Mann der fahlen Verlockung der Meditation anheimfallen? Aber so war es unbestreitbar gewesen. Es war so weit gekommen, daß Haendl mit geröteten Augen und als Nervenbündel herumlief. Er hatte sich seltsame Alarmsignale eingerichtet – hatte die Hilfe anderer Kolonisten in Anspruch genommen, um die Gefahr einer Abberufung für sich selbst abzuwenden. Wenn er nachts schlafen ging, saß ein Assistent an seinem Bett, wachsam und lauernd, damit Haendl im Augenblick der Besinnung vor dem Schlaf nicht ins Meditieren verfiel – und abberufen wurde. Es gab den ganzen Tag keine Stunde, zu der Haendl gewagt hätte, allein zu bleiben, und seine Begleiter oder Bewacher hatten den Befehl, ihn, notfalls mit grober Gewalt, wachzurütteln, sobald sich ein zerstreuter Ausdruck in seinen Augen oder ein nachdenklicher Zug im Gesicht bemerkbar machen sollte. Im Lauf der Zeit kostete Haendls selbstauferlegtes Regiment ständiger Wachsamkeit viel an verlorener Ruhe und Schlaf. Und die Folgen davon waren:
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immer mehr Gelegenheiten, bei denen ihn die Leibwachen aufrüttelten, weniger Ruhe. Er war dem Zusammenbruch sehr nahe. An einem heißen, feuchten Vormittag, wenige Tage nach seinem nutzlosen Ausflug zu Bürger Germyn in Wheeling, aß Haendl ein geschmackloses Frühstück und machte sich, vor Erschöpfung wankend, auf den Weg zu einer Besichtigungstour durch Princeton. Warmer Regen fiel aus tiefhängenden Wolken, aber das war für Haendl nur eine Unbequemlichkeit unter vielen. Er bemerkte kaum etwas davon. In der Gemeinschaft gab es über tausend Wölfe, und auf jedem Gesicht war Besorgnis zu lesen. Haendl war nicht der einzige in Princeton, der sich als Folge der unerhörten Ereignisse selbst Fallen stellte; er war nicht der einzige, dem es an Schlaf mangelte. Eine Gemeinschaft von tausend Personen ist eng verknüpft. Wenn einer von vierzig Angehörigen verschwindet, erleidet die Moral der gesamten Gemeinschaft einen nieder schmetternden Schlag. Wenn Haendl in die Gesichter seiner Genossen blickte, war für ihn klar, daß es nicht nur praktisch unmöglich sein würde, den geplanten Angriff auf die Pyramide im Himalaja dieses Jahr zu unternehmen, es würde schon unerträglich schwer sein, nur die Gemeinschaft in Gang zu halten. Das ganze Wolfsrudel war einer Panik nahe. Hinter Haendl erhob sich wirres Geschrei. Betäubt drehte er sich um. Ein halbes Dutzend Wölfe brüllte und deutete auf etwas in der nassen, dumpfen Luft. Es war ein Auge, lautlos und ohne Merkmale mitten über der Straße schwebend. Haendl atmete tief ein und gewann die Herrschaft über sich zurück.
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»Frampton!« rief er einem seiner Gehilfen zu. »Hol den Hubschrauber mit den Instrumenten her. Wir machen weitere Messungen.« Frampton öffnete den Mund, sah Haendl schärfer an und begann statt dessen in sein Funksprechgerät zu murmeln. Haendl wußte, was den anderen bewegte – dasselbe wie ihn. Was für einen Sinn hatten weitere Messungen? Seit Tropiles Abberufung besaßen sie Instrumentenmeßergebnisse über die Kräfte um die Augen im Überfluß – über sie, ja, und auch über die Abberufungen selbst. Vor Tropiles Ankunft waren in Princeton niemals Augen gesehen, geschweige denn eine Abberufung durchgeführt worden, aber jetzt war es anders, alles war anders, Tag und Nacht schwebten Augen ruhelos umher. Einige der Männer in nächster Nähe des Auges griffen nach Steinen und Erdklumpen und warfen sie nach dem schwanken den Wirbel in der Luft. Haendl wollte sie anbrüllen, das sein zu lassen, überlegte es sich aber anders. Das Auge schien nicht betroffen zu sein – eben hatte einer der Männer mit einem Pflasterstein einen Volltreffer erzielt. Der Stein flog mitten durch das Auge, ohne Geräusch, ohne Wirkung. Nun gut, warum sollten sie nicht versuchen, ihre Angst etwas abzureagieren? Rotoren schnalzten, und der Hubschrauber mit den Instrumen ten landete mitten auf der Straße, zwischen Haendl und dem Auge. Von da an ging alles sehr schnell. Das Auge stieß auf Haendl herab. Er konnte sich nicht helfen; er duckte sich. Das war zweifellos unsinnig, aber auch unnötig. Denn er sah sofort, daß es nur zum Teil die Bewegung des Auges war, die es größer erscheinen ließ; das Auge dehnte sich gleichzeitig aus. Ein Auge hatte etwa die Größe eines Fußballs, so weit man das beurteilen konnte, aber dieses Auge wurde größer und größer, es hatte die Größe eines Walschädels. Es kam zum Stehen und schwebte über dem Hubschrauber,
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während der Mann in der Maschine fieberhaft Objektive und Instrumente einstellte Donnerschlag. Nicht nur ein Mann, die Abberufung war über Menschen hinaus, der ganze Hubschrauber verschwand, samt Piloten, Instrumen ten und wirbelnden Rotoren. Haendl raffte sich auf, schwitzend, aus der Schläfrigkeit geschockt. Der junge Mann namens Frampton sagte ängstlich: »Haendl, was tun wir jetzt?« »Tun?« Haendl starrte ihn geistesabwesend an. »Tja, wir werden uns wohl umbringen.« Er nickte nüchtern, so, als habe er endlich die Lösung für ein überaus schwieriges Problem gefunden. Er seufzte. »Hm, noch eines vorher«, meinte er. »Ich gehe nach Wheeling. Wir Wölfe sind am Ende. Vielleicht können uns die Bürger helfen.«
Roget Germyn, Bürger in Wheeling, empfing die Nachricht in den Räumen, die ihm als Büro dienten. Zu Hause wartete ein Besucher auf ihn. Germyn war nach wie vor Bürger und konnte die angenehme und endlose Besprechung mit einem künftigen Kunden über ein künftiges Geschäft nicht einfach abbrechen. Er entschuldigte sich die üblichen drei Male für die Störung, lauschte, während sein Gast noch einmal ausführlich erläuterte, was ihm künftig vorschwebte, dann wandte er ihm die hohlen Hände in einer Geste des Bestreitens jeder Zulänglichkeit zu. Es war die größte Annäherung zu einem Nein, deren er fähig war. Auf der anderen Seite des Schreibtischs wechselte der Bürger, der ihn aufgesucht hatte, um eine Kapitalanlage zu besprechen, sofort das Thema, indem er Germyn und seine Bürgerin zu einer Sirius-Betrachtung einlud. Die Einladung war in gereimte
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Strophen gefaßt. Er hatte seine Geschäfte dringend bereden wollen, konnte aber nicht darauf beharren. Germyn entwand sich der Einladung durch eine bedingte Annahme in passender Form, und der Mann ging, nur kurz durch die vier Bitten, doch zu bleiben, aufgehalten. Beinahe augen blicklich entließ Germyn seinen Angestellten und schloß das Büro für diesen Tag, indem er an der offenen Tür eine rote Kordel mit einem komplizierten Dreifachknoten versah. Als er nach Hause kam, stellte er fest, daß der Besucher, wie vermutet, Haendl war. Germyn wurde von vielen Zweifeln bedrängt, was Haendl anging. Der Mann hatte beinahe zugegeben, ein Wolf zu sein, und wie vermochte ein Bürger darüber hinwegzugehen? In der Aufregung um Gala Tropiles Abberufung hatte die Sache jedoch weniger gedrängt als üblich, es hatte keinen Alarm gegeben, Germyn hatte zugelassen, daß sich der Mann entfernte. Und nun? Er hielt sich mit dem Urteil zurück. Haendl saß im Wohnzim mer, trank Tee und bemühte sich verlegen, ein Gespräch mit Bürgerin Germyn zu führen. Bürger Germyn rettete ihn, nahm ihn beiseite, schloß eine Tür – und wartete. Die Veränderung, die mit Haendl vorgegangen war, erstaunte ihn. Bisher war er lebhaft, aggressiv, aktiv gewesen – Eigen schaften, die bei einem Bürger am wenigsten begehrt waren, alles Merkmale eines Sohnes der Wölfe. Nun zeigte er aber nichts mehr davon, obwohl er deshalb noch lange nicht einem Bürger glich; er war hager und nervös. Er sah aus wie ein Mensch, der ungeheure Strapazen hinter sich hatte. Er sagte mit einem Minimum an Höflichkeit: »Germyn, als ich das letztemal bei Ihnen gewesen bin, gab es eine Abberufung. Gala Tropile, Sie erinnern sich?« »Ich erinnere mich«, sagte Bürger Germyn karg. Erinnern! Er hatte kaum an etwas anderes denken können.
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»Und Sie sagten, seither habe es noch weitere Abberufungen gegeben. Haben sie angehalten?« »Gewiß«, sagte Germyn. Er versuchte, ohne Umschweife zu sprechen, um sich Haendls Schnelligkeit und Direktheit anzupassen. Gutes Benehmen war das nicht, aber Bürger Germyn hatte inzwischen eingesehen, daß es Zeiten gab, in denen gute Manieren nicht das Wichtigste auf der Welt waren. »Zwei in den letzten Tagen. Einmal eine Frau – Bürgerin Baird. Ihr Mann ist Lehrer. Sie stellte zu diesem Zeitpunkt mit vier oder fünf anderen Frauen Betrachtungen durch Glas an. Sie – verschwand einfach. Ich glaube, sie blickte gerade durch ein grünes Prisma, wenn das nützt.« »Ich weiß nicht, ob es nützt oder nicht. Wer war die andere Person?« Germyn zuckte die Achseln. »Ein Mann namens Harmane. Niemand hat es gesehen. Man hörte jedoch den Donnerschlag oder ein ähnliches Geräusch, und er wurde vermißt.« Er überlegte einen Augenblick. »Es ist wohl ein bißchen ungewöhnlich. Zwei in einer Woche, in einer kleinen Stadt – « »Hören Sie zu, Germyn«, sagte Haendl rauh. »Es sind nicht nur zwei. In den vergangenen dreißig Tagen hat es in dem Gebiet hier und um einen zweiten Ort mindestens fünfzig Abberufungen gegeben. In zwei Orten, verstehen Sie? Hier und in Princeton. Der Rest der Welt – nein, nicht viel, hier und dort ein paar Abberufungen, aber nicht mehr als gewohnt. In den beiden Gemeinschaften jedoch – fünfzig. Ergibt das einen Sinn?« Bürger Germyn dachte nach. »Nein.« »Nein. Und ich will Ihnen noch etwas sagen. Drei von den – hm, Opfern, sind Kinder unter fünf Jahren gewesen. Ein Kind konnte noch nicht einmal laufen. Und die neueste Abberufung betraf keine Person, sondern einen Hubschrauber. Wissen Sie,
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was ein Hubschrauber ist? Eine Flugmaschine, etwa so groß wie dieses Haus. Das ganze verfluchte Ding verschwand – peng! Denken Sie darüber nach, Germyn. Was ist die Erklärung für Abberufungen?« Germyns Unterkiefer war heruntergeklappt. »Nun – man meditiert über die Eigenschaften des Zusammen hangs. Sobald man den grundlegenden Zusammenhang aller Dinge erfaßt hat, wird man eins mit dem kosmischen Ganzen. Aber ich begreife nicht, wie ein Baby – oder eine Maschine – « »Das Verbindungsglied ist Tropile«, sagte Haendl grimmig. »Als er abberufen wurde, hielten wir das für günstig, weil er den Anstand besaß, es unmittelbar vor unseren Augen zu tun. Wir gewannen genug Meßergebnisse, um einen Hinweis darauf zu bekommen, worum es sich, physisch gesehen, bei der Abberu fung handelt. Das war die erste brauchbare Spur, und wir glaubten, er hätte uns einen Gefallen getan – jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Er beugte sich vor. »Alle Personen, von deren Abberufung ich weiß, kannte Tropile. Die drei Kinder saßen im Kindergarten in seiner Klasse – wir brachten ihn dort eine Weile unter, damit er beschäftigt war, als er bei uns auftauchte. Zwei Männer, mit denen er zusammenwohnte, sind verschwun den, der Junge, der ihn in der Kantine bediente, seine Frau. Meditation? Nein, Germyn. Ich kenne die meisten dieser Leute. Nicht ein einziger von ihnen hätte auch nur eine Sekunde auf Meditation über Zusammenhänge verwendet, selbst wenn er damit sein Leben hätte retten können. Was halten Sie davon?« Germyn schluckte. »Mir fällt eben ein – dieser Harmane – « »Was ist mit ihm?« »Der vorige Woche abberufen wurde. Er kannte Tropile auch. Er war Hüter des Hauses der Fünf Regeln, als Tropile dort untergebracht war.«
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»Sehen Sie? Und ich wette, daß ihn die Frau auch gekannt hat.« Haendl stand auf und begann hin- und herzugehen. »Passen Sie auf, Germyn«, sagte er. »Ich bin hilflos. Sie wissen, daß ich erledigt bin, nicht wahr? Sie wissen auch, was ich bin?« »Ich halte Sie für einen Wolf«, erklärte Germyn ruhig. »Das ist richtig.« Germyn zuckte unwillkürlich zusammen, aber es gelang ihm, sitzen zu bleiben und zuzuhören. »Ich erkläre Ihnen, daß es keine Rolle mehr spielt. Sie mögen Wölfe nicht. Nun, ich mag Sie nicht. Aber diese Geschichte ist zu mächtig für mich, als daß mich das noch stören könnte. Tropile hat etwas ausgelöst, und wie das Ende aussehen wird, kann ich nicht sagen. Ich weiß aber eines: Wir sind in Gefahr, alle beide. Vielleicht glauben Sie immer noch, die Abberufung sei das höchste aller Ziele. Ich nicht; mir macht sie Angst. Aber sie wird mir zustoßen – und Ihnen auch. Sie wird alle ereilen, die jemals mit Glenn Tropile zu tun gehabt haben. Es sei denn, wir könnten sie auf irgendeine Weise verhindern – wie, das weiß ich nicht. Wollen Sie mir helfen?« Germyn gab sich alle Mühe, kein Zittern zu zeigen, obwohl alle seine verborgenen Ängste ›Wolf!‹ schrien, und sagte ehrlich: »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich – ich muß es überschla fen.« Haendl sah ihn einen Augenblick an, dann zuckte er die Achseln und sagte, wie zu sich selbst: »Vielleicht spielt es keine Rolle mehr. Vielleicht können wir sowieso nichts dagegen tun. Na gut. Ich komme morgen früh wieder, und falls Sie sich entschlossen haben, mir zu helfen, fangen wir an zu planen. Und wenn Sie sich anders entschließen – tja, dann muß ich ein paar Bürger in die Flucht schlagen. Mir macht das nichts aus.« Germyn stand auf und verbeugte sich. Er begann mit den rituellen vier Bitten, aber Haendl wollte nichts davon hören.
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»Ersparen Sie mir das«, knurrte er. »Inzwischen würde ich an Ihrer Stelle keine weitreichenden Pläne schmieden, Germyn. Sie sind vielleicht nicht mehr hier, um sie auszuführen.« »Und wenn ich an Ihrer Stelle wäre?« fragte Germyn nach denklich. »Ich schmiede keine«, meinte Haendl grimmig.
Bürger Germyn, der sich vom Makel des Wolfs in seinem Haus besudelt fühlte, warf sich ruhelos in seinem Bett hin und her. Seine Augen waren weit offen und starrten an die dunkle Decke. Er konnte das schickliche Atmen seiner Frau vom Bettfuß hören – leise, regelmäßig, es hätte ihn einschläfern sollen. Es wirkte nicht. Von Schlaf konnte keine Rede sein. Germyn war nach den Maßstäben der Bürger durchaus ein mutiger Mann. Das heißt, er hatte nie Angst gehabt, wenn auch dafür selten Gelegenheit gewesen war. Aber jetzt hatte er Angst. Er wollte nicht abberufen werden. Haendl, der Wolf, hatte den Finger auf die Wunde gelegt: ›Vielleicht halten Sie die Abberufung immer noch für das höchste Ziel.‹ Das tat er natürlich nicht, das war jetzt lächerlich. Abberufung – der Lohn der Meditation, das Geschenk für nur eine Handvoll glorreich abberufener Personen. Das war eine Sache. Aber die Art von Abberufung, um die es jetzt ging, hatte damit nichts zu tun; nicht, wenn sie Kinder betraf, nicht, wenn sie Gala Tropile ereilte, nicht bei einer Maschine. Und Glenn Tropile hatte seine Hand im Spiel. Germyn warf sich schlaflos herum. Es gibt ein uraltes, unfehlbares Rezept gegen Warzen. Man nehme einen Grashalm, koche ihn in einem Topf Wasser, kühle das Wasser und bade die Warze neun Sekunden darin. Die
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Warze verschwindet – vorausgesetzt, man denkt während dieser neun Sekunden nicht an das Wort ›Rhinozeros‹. Was Bürger Germyn wachhielt, war der Versuch, nicht an das Wort ›Rhinozeros‹ zu denken – oder, in diesem Fall, an den ›Zusammenhang‹. Es war ihm aufgegangen, daß erstens Personen, die Glenn Tropile kannten, abberufen zu werden pflegten, und zweitens Personen, die über den Zusammenhang meditierten, oft abberufen wurden, so daß Personen, die Glenn Tropile kannten und nicht abberufen werden wollten, besser nicht über den Zusammenhang meditierten. Es fiel sehr schwer, nicht an ›Zusammenhang‹ zu denken. Ohne Pause stellte er im Kopf arithmetische Berechnungen an, rezitierte die Fünf Regeln, verfaßte Begrüßungsgedichte und Verse der Bewunderung. Und immer wieder kam er auf Tropile, auf die Abberufung, auf den Zusammenhang zurück. Er wollte nicht abberufen werden. Aber trotzdem besaß der Gedanke einen verlockenden Zug. Wie mochte das sein? fragte er sich. Tat es weh? Hm, wahrscheinlich nicht, dachte er. Es ging sehr schnell, nach Haendls Bericht – wenn man glauben durfte, was ein Wolf erzählte. Aber er mußte es glauben. Nun, wenn es schnell ging – bei dieser Geschwindigkeit starb man vielleicht auf der Stelle, dachte er. Vielleicht war Tropile tot. Konnte das sein? Aber nein, eigentlich nicht. Da war schließlich der Zusammenhang zwischen Tropile und so vielen der kürzlich Abberufenen. Was für ein Zusammenhang war das? Oder, allgemein gesprochen, welche Zusammenhänge bestanden Er rettete sich zu dem ersten Bild, das sich einstellen wollte. Es war zufällig Tropiles Frau. Gala Tropile, die selbst verschwunden war, hier aus diesem Zimmer. Gala Tropile. Er klammerte sich an den Gedanken, zufrieden mit seiner Wahl. Der Trick bestand darin, nicht an den Zusam menhang zu denken – so stark und ausschließlich an etwas
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anderes zu denken, daß kein Platz für den unerwünschten Gedanken blieb. Er verweilte außerordentlich lange bei Gala Tropile, stellte sich jeden Zug ihres Gesichts vor, jede Strähne ihres Haars… So ging es sehr leicht. Er freute sich.
12 Auf dem Mount Everest hatte der träge Strom ein- und auslaufender Impulse, der das ›Gehirn‹ der Pyramide darstellte, ein neues Signal aufgenommen. Es war kein kritisches Gehirn. Seine einzige Neugier war ein ruheloser Drang, zu schieben und zu ziehen, und dieses Merkmal gab es nicht bei dem, was für die Pyramide vielleicht so etwas wie der Hunger eines Menschen war. Das eingehende Signal sagte: Tu dies. Die Pyramide gehorchte. Man nenne es Drang nach einem neuen Geschmack. Während sie früher geduldig auf den Zustand gewartet hatte, den die Bürger als Meditation über die Eigenschaften des Zusammen hangs kannten, die Pyramide selbst vielleicht als Zustand der Reife, wünschte sie jetzt einen anderen Geschmack. Unreif? Vollreif? Jedenfalls etwas anderes. Demzufolge veränderten sich die Hochfrequenztöne in Ge schwindigkeit und Tonhöhe, die zurückgeworfenen Signale änderten sich, und… und es galt, eine reife Frucht zu pflücken. Sie hieß Innison. Und da eine zweite. Gala Tropile. Und noch eine, und immer wieder eine – oh, hundert; ein kleines Kind aus Tropiles Kindergarten, den Gefängnisaufseher von Wheeling, eine Frau, die Tropile auf der Straße einmal begehrt hatte. Früher war es das gewesen, was die Menschen Meditation über die Eigenschaften des Zusammenhangs nannten und die
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Pyramiden als geeignete Leere kannten, jetzt war das Zeichen eine Art Einfühlungsvermögen gegenüber dem Baustein namens Tropile. Für die Pyramide auf dem Mount Everest spielte das keine Rolle. Sie schwang ihre elektrostatische Sense; sie erntete. Der Pyramide auf dem Mount Everest kam es nicht in den Sinn, daß ein Baustein, eine Komponente, sie lenken mochte. Woher auch? Vielleicht wunderte sich die Pyramide auf dem Mount Everest, falls sie sich wundern konnte, als ihr auffiel, daß nunmehr andere Maßstäbe für die Auswahl von Bausteinen galten. Falls ihr etwas ›aufzufallen‹ vermochte. Gewiß mochte sich sogar eine Pyramide wundern, wenn ihre Befehle ohne Ankündigung oder Erklärung geändert wurden – nicht nur, eine andere Sorte von Bausteinen zu ernten, sondern mit dem Fleisch und Blut, Bauteilen, die gebraucht wurden, eine ratternde Sammlung von Maschinen und Metall fortzuschleppen, wie es immer häufiger wurde. Maschinen? Wozu sollten die Pyramiden Maschinen abberufen müssen? Aber warum sollte sich andererseits eine Pyramide die Mühe machen, eine Anweisung in Frage zu stellen, selbst wenn sie dazu fähig wäre? Jedenfalls tat sie es nicht. Sie schwang ihre Sense und brachte ein, was von ihr verlangt wurde.
Bürger Germyn geriet in die unvermutete Falle. Er mied den Zusammenhang und dachte statt dessen an Glenn Tropile, und die unerahnten Hochfrequenzimpulse orteten ihn. Er sah das Auge nicht, das sich über ihm bildete. Er spürte nicht das Zusammenfließen der Kräfte, die seine Falle formten. Er wußte nicht, daß er ergriffen, aufgeladen, durch den Weltraum katapultiert, aufgefangen, zum Stillstand gebracht und entladen wurde. Es ging zu schnell.
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Einen Augenblick zuvor habe er noch in seinem Bett gelegen, im nächsten war er – anderswo. Dazwischen gab es nichts. Es war Hunderttausenden von Bausteinen vor ihm zugestoßen, aber für Bürger Germyn war in mancher Beziehung anders, was sich abspielte. Er wurde nicht in Nährflüssigkeit gelegt, nicht programmiert, nicht in das Gefüge der Pyramiden eingebaut, denn er war nicht von den Pyramiden, sondern von dem wilden Baustein ausgewählt worden. Er traf bei Bewußtsein ein, war wach und konnte sich bewegen. Er stand in einer rötlich beleuchteten Kammer auf. Metallenes Krachen dröhnte in seinen Ohren. Die Hitze trieb den Schweiß wie aus kleinen Springbrunnen aus seiner Haut. Es war zuviel, zuviel, um auf einmal erfaßt zu werden. Wahnsinnige mit ölglänzender Haut, nackt, sprangen herum und schrien auf ihn ein. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, daß das keine Teufel waren. Er war nicht in der Hölle, nicht tot. »Hierher!« schrien sie. »Los, beeil dich!« Er folgte ihnen wankend, auf einem unangenehm warmen Boden, taumelnd und stürzend – der Doppelplanet besaß eine Dichte, die um ein Viertel über jener der Erde lag –, bis er sein Gleichgewicht fand. Die tanzenden Irren führten ihn durch eine Tür – oder Schließ falle oder Luke; er hatte dergleichen noch nie gesehen. Es war aber eine Art Portal, und auf der anderen Seite trat die Vernunft wieder in den Vordergrund. Es war ein Raum, und obwohl das Licht auch hier rot war, brannte es mit blasserem, ruhigerem Rot, und die donnernde Maschinerie lag eine Wand entfernt. Die Irren waren nackt, ja, aber sie waren nicht irr. Das Öl auf ihrer Haut war nur Schweiß. »Wo – wo bin ich?« ächzte er. Zwei Stimmen, vielleicht auch drei oder vier, redeten gleichzei tig. Er verstand nichts. Bürger Germyn schaute sich um. Er befand sich in einer Art Kammer, Teil einer Maschine, die den
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unbekannten Zwecken der Pyramiden auf dem Doppelplaneten diente. Und er lebte – und er war nicht allein. Er hatte mehr als eine Million Kilometer im Weltraum zurückge legt, ohne etwas zu fühlen. Aber als er aufzunehmen begann, was die nackten Männer sagten, drehten sich die Wände um ihn. Eine Zeitlang waren Worte sinnloses Geräusch. Es war nicht der Sturz, der schmerzte, es war das Verstehen. Es stimmte; er war abberufen worden. Er sah halb betäubt an seinem nackten Körper hinunter, schaute sich im Raum um und begriff, daß sie noch immer auf ihn einredeten: »- wenn du dich zurechtgefunden hast. Fühlst du dich jetzt besser? Los, Bürger, nimm dich zusammen!« Germyn blinzelte. Eine andere Stimme sagte mürrisch: »Man sollte sie an einem anderen Ort anliefern. Diese Gießerei ist nicht für Menschen gedacht. Seht euch seinen Zustand an! Irgendwann kommt jemand, den wir nicht rechtzeitig bemerken, und – ffft!« Die erste Stimme sagte: »Läßt sich nicht ändern. He, alles in Ordnung?« Bürger Germyn atmete die säuerliche, heiße Luft tief ein und starrte den nackten Mann vor sich an. »Natürlich ist alles in Ordnung«, sagte er. Der Nackte war Haendl. Es waren mehrere hundert Personen. Er erfuhr, daß sie in acht natürliche Gruppen aufgeteilt waren. Eine Gruppe, und zwar die, der Bürger Germyn zugeteilt war, bestand aus Personen, die Tropile gekannt hatten. Eine zweite, die von Haendl den Hinweis auf gemeinsames Wissen bekommen hatte, hatte sich bespro chen und herausgefunden, daß sie die Bekanntschaft mit einer Bürgerin Alia Narowa, Witwe aus Nizza, gemeinsam hatte. Afrikanischer Ursprung und Kenntnis von einem Django Tembo galt für eine dritte, und so weiter. Sie hielten sich in einem
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riesigen Korridor auf, in dem hauptsächlich automatische Maschinen von durchschnittlich fünfundzwanzig Meter Höhe standen. Metallstangen klappten manchmal heraus, während sich Spannfutterbacken öffneten und schlossen; dann begannen sich die Stangen zu drehen, Werkzeuge schoben sich heran, schnitten ab, zogen sich zurück, und die fertigen, unbegreiflichen Stücke schwebten auf unsichtbaren Ringmagnetfeldern davon. Alle drei Stunden schwebte eine sechseckige Gußplatte durch die präzise geöffnete ›Tür‹ der Gießerei, klebte sich magnetisch an eine Maschine nach der anderen, wurde zu einem größeren Rätsel als zuvor gebohrt, durchstoßen, ausgeschärft, gefräst, geschliffen und poliert. Die Bohrspitze einer Maschine, manns groß, schien aus einem Lager regelmäßig ersetzt werden zu müssen, nachdem sie eine der Platten bearbeitet hatte, aber die anderen Werkzeuge verloren offenbar nichts von ihrer Schärfe. Die Späne und Abfälle wurden alle elf Stunden von einer Glyzerinflut fortgeschwemmt. Sie spritzte aus Düsen an den Wänden, stieg knöchelhoch und gurgelte durch Abzugslöcher davon. Einmal kam eine Pyramide vorbei, eine Handbreit über dem Boden schwebend, Ozonduft verbreitend. Sie versteckten sich wie Mäuse. Sie wußten nicht, ob das Ding sie ›sah‹ oder nicht. Sie wurden aus einer Reihe von Hähnen an einer Wand gespeist, von den Hähnen einer anderen mit Wasser beliefert. Das Wasser war für einige Wasserschmecker unter ihnen eine Beleidigung, gänzlich ohne Kohlensäure und Halogensalze. Ihre Nahrung war Glukosesirup, der mit den notwendigen Mineralien und Aminosäuren versetzt sein mußte, denn sie litten an keiner Mangelkrankheit. Die Luft war erträglich – vielleicht Überschuß aus der benachbarten Gießerei, wo für einige Verfahren eine Atmosphäre gebraucht wurde. Die meiste Zeit warteten sie und unterhielten sich. Bürger Germyn, zum Beispiel, kam von der Abberufung nicht los.
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»Vielleicht ist das wirklich die Abberufung, wirklich die Selig keit«, pflegte er zu sagen, »und uns fehlt nur das Verständnis, sie zu schätzen. Wir haben Nahrung, sind vor krassen Tempera turunterschieden geschützt – « Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging zu der Reihe stets laufender Wasserhähne, um lange zu trinken, bevor er fortfuhr. »Und wir scheinen von den üblichen Manieren und der Routine befreit zu sein.« Er schaute sich verloren um. Keine Ehemann-Sessel, keine Ehefrauen-Stühle – geziemend unterschiedlich. Er hockte sich auf den Metallboden. Haendl äußerte sich offener. »Seligkeit, daß ich nicht lache! Wir sind ein Haufen verdamm ter Indianer. Die haben wohl auch nie gewußt, was mit ihnen passierte. Sie verstanden nichts von Verträgen und der Beschlagnahme von Territorien für die Krone, von kirchlichen Missionen und einer sich ausbreitenden Bevölkerung. Sie hatten so etwas nicht. Sie lernten es mit der Zeit – jedenfalls, soweit es sich um Gewehre und Feuerwehr handelte. Die hatten sie auch nicht, aber sie sahen den Sinn davon ein. Ich glaube aber nicht, daß die Indianer jemals begriffen, was die Weißen vorhatten, bis es viel zu spät war. Wir tappen noch mehr im dunkeln. Die Indianer hatten wenigstens ab und zu einen Hinweis – sie sahen die Matrosen von dem großen, weißen Teufelsschiff steigen und auf ihre Frauen zueilen; das war etwas Gemeinsames. Wir haben nicht einmal soviel. Wir sind in den Händen der Pyramiden – verstanden? Unsere mangelhafte Sprache! Ich muß von ›Händen‹ sprechen. Wir haben nicht einmal treffende Bezeich nungen für sie!« Nachdem Bürger Germyn etwa zum fünfzigstenmal Nahrung aus den Hähnen gesogen hatte, lief er versuchsweise Amok. Zum Glück für alle geschah das kurz nach einer regelmäßigen Reinigung mit Glyzerin; es gab keine scharfen Metallstücke, die er hätte als Dolch verwenden können, und der Boden war so glatt, daß er sich nicht auf den Beinen halten konnte, als er
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einen der Afrikaner zu erdrosseln versuchte. Man hielt ihn fest, bis er sich erholt hatte, zutiefst entsetzt über sich selbst. »Ich bin bereit«, erklärte er schließlich mit einem Rest von Würde. »Ich weiß, daß es keinen richtigen Katheter für eine Spende gibt, aber das Ersticken ist eine von der Tradition ebenso anerkannte Methode.« Innison meinte, er solle sich nicht lächerlich machen, und fügte hinzu: »Wenn du regelmäßig Amok läufst, müssen wir etwas unternehmen, aber erst, wenn ich einen Weg finde, dich durch einen Abfluß von zwanzig Zentimetern Durchmesser zu stopfen.« Es war eine schreckliche Beleidigung, vorgetragen mit nicht einmal einem schiefen Lächeln. Bürger Germyn konnte sich drei Speisungen lang nicht dazu überwinden, mit Innison zu sprechen. Bürger Germyns Zorn war so groß, daß er sich dazu überwand, Innison betont den Rücken zuzuwenden. Innison war nicht nur nicht niedergeschmettert, sondern bemerkte es nicht einmal. Er sprach ruhig mit Haendl. Bürger Germyn packte Innison daraufhin bei den Haaren und schlug ihm mit der anderen Hand klatschend ins Gesicht. »Amok!« schrien einige Leute in der Nähe. Haendl schrie zurück: »Eben nicht! Ruhe!« Zu Germyn sagte er: »Du läufst nicht Amok, nicht wahr?« »Nein«, knurrte Germyn. »Ich bin nur zornig. Dein ekelhafter Freund da hat mir das anständige Äquivalent einer Spende vorenthalten, das ich verdiene!« Innison rieb sich die Backe und meinte nachdenklich: »Willst du wirklich eine Spende bringen, Freund? Wo sie einem die Nadel hineinstecken und herumdrehen, bis sie den Kanal finden? Dann ist man gelähmt, und die Flüssigkeit rinnt heraus. Ein sabbern der Idiot nimmt ein Messer und sägt die Kehle durch, bis – « »Ob ich sie will oder nicht, das ist eine andere Frage«, gab Germyn zurück. »Man muß sich an gewisse Formen halten – «
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»Dann willst du sie also nicht?«
Germyn überlegte lange Zeit.
»Nein«, sagte er schließlich. »Aber das hat nichts damit zu tun
– « Er überlegte wieder. »Schau dich an, Germyn«, sagte Haendl leise. »Kneif dich. Faß Arme und Beine an. Du hast dich verändert. Du hast Innison gepackt und ihn geschlagen, nicht in einer nervösen Krise, sondern aus Wut. Das hättest du früher nicht getan. Schau dich an.« Germyn tat es. Sein Bauch war flach, keine Spur von Fett. Seine Schenkel waren jetzt dicker als die Knie – es war alles so unauffällig gegangen! Er betastete sein Gesicht; unter dem Bart war es mit Fleisch ausgefüllt, ganz unbürgerhaft, vom Schädel kaum etwas zu spüren. Seine Rippen – er konnte seine Rippen nicht sehen! Er sah sie an, vor Scham über seine groteske Erscheinung glühend, und er bemerkte, daß sie alle so aussahen, alle. »Und empfindest du nicht auch anders?« fragte Haendl. »Im Innern? Hattest du nicht früher ein Gefühl, das dich gehindert hätte, Innison zu schlagen? Hast du nicht jetzt eine Empfindung, die dir sagt, daß es ein Vergnügen wäre, Innison zu verprügeln, vernünftig zu prügeln.« »Ja«, sagte Germyn entsetzt. »So ist es! Wie nennt ihr das? Was soll ich dagegen tun?« »Es ist gewohnte Wolfsmeinung, daß du gar nichts dagegen tun sollst«, sagte Innison. »Und der übliche Name dafür ist: nicht hungrig zu sein. Hast du in letzter Zeit meditiert?« »Nein«, sagte Germyn. »Die – die Ablenkungen – « »Das Fehlen von Hunger, Germyn. Hungern und Meditation gehören zusammen, wenn auch nicht untrennbar. Wenn deine Lebenskraft nachläßt, flackert dein Selbstbewußtsein und ist leicht auszulöschen.«
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Germyn wandte sich ab und wanderte durch ein Labyrinth von Maschinen und versuchte mit seinem neuen Ich vertraut zu werden. Haendl sagte zu Innison: »Vielleicht sind wir deshalb hier, um recht kräftig und feist zu werden.« »Du glaubst, sie fressen Menschen?« »Nein, nicht mehr, als das ein Fusionsreaktor tut. Es muß etwas Elektrisches sein – « »Wenn Germyn kampfbereit und -willig ist, müßten es alle sein. Am besten beginnen wir mit der Ausbildung.« »Organisieren müssen wir etwas. Amokläufe hat es keine mehr gegeben, aber ziemlich viele Zusammenstöße. Das könnte zu Schlägereien führen.« Die beiden Wölfe grinsten einander an. »Es hat gerade richtig geklappt, nicht wahr?« meinte Haendl. »Kultur und Ästhetik verschwanden nach der ersten Woche mit unbegrenzter Kalorienzahl, dann die Manieren – meistens mit einem Knall, wie bei Ex-Bürger Germyn. Ja, wir müssen ihnen etwas zu tun geben, bevor sie fett werden und sich gegenseitig umbringen.« Etwa seit dieser Zeit trafen keine Neuankömmlinge mehr ein. Als zwölf Mahlzeiten ohne einen neuen Rekruten vergangen waren, führten die Wölfe von Princeton eine Zählung durch: sechshundertvierundachtzig, grob die Hälfte jeweils Männer und Frauen. Das war sehr günstig, denn man konnte nicht dauernd nur reden. Die militärische Organisation hatte mit Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen. Die Ex-Bürger rühmten sich ihrer neuen Angriffs lust. »Wer will mich dazu zwingen?« tönte es fröhlich durch die Korridore; ein forschungshungriger Mann aus Princeton erinnerte sich, daß es in der Bibel hieß, jemand sei ›fett und böse‹
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geworden. Eine Kombination von Zwang und Vernunft behielt jedoch die Oberhand, und schließlich marschierte auch der störrischste Ex-Bürger mit blauem Auge in den Reihen der anderen mit. Haendl sehnte sich nach den abberufenen Waffen. Wo konnten sie sein? Und dann stellten mehrere Frauen Schwangerschaft fest. Die Schwangerschaften waren Folge eines ebenso unerklärlichen wie entsetzlichen Vorfalls. Wieder erschien eine Pyramide, und erneut versteckten sie sich. Einer der Afrikaner befand sich aber zu seinem Unglück im offenen Raum, zu weit von einer Wand und einem hoffnungslos langen Spurt zum Gewirr der Träger unter den riesigen Maschinen entfernt. Er tat das Vernünftigste und preßte sich flach auf den Boden, in den letzten Sekunden seines Lebens wohl von einem täuschenden Gefühl der Sicherheit übermannt. Die riesige Pyramide schwebte langsam den Korridor entlang, mit genügend Abstand zu beiden Wänden, leise knisternd, nach Ozon riechend. Sie näherte sich dem Afrikaner, wich kurz aus, so daß eine Ecke ihn streifte, und verschwand durch eine der seltsamen Türen. Es fiel ihnen durchaus nicht schwer, den Afrikaner durch ein Abzugsloch zu bugsieren, und die folgende Schlafenszeit war von einer Orgie begleitet. Die Männer traten nicht den Liebenden Rückzug an, und die Frauen hätten es auch nicht zugelassen. Der Untergang schien nah, und der Instinkt übernahm die Herrschaft. Wölfe und Schafe, oder Ex-Schafe, besprachen endlos die Zerschmetterung des Afrikaners. »Wir sind hier, weil sie uns hergebracht haben. Sie müssen uns zu etwas brauchen. Warum vernichten sie etwas, das sie so sorgfältig herangeholt, am Leben erhalten und mehr oder weniger gepflegt haben?« »Vielleicht stört sie unser Anblick. Vielleicht sind wir ein Lagerbestand, aber sie wollen nicht, daß wir sie belästigen, bis wir an die Reihe kommen.«
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»Vielleicht haben sie es zum Spaß gemacht.« »Das glaube ich nicht. Die Weißen haben es mit den Indianern auch nicht so gemacht.« »Einige schon. Manche erschossen Indianer nur zum Spaß. Vielleicht gibt es Pyramiden, die sich von den anderen unter scheiden. Vielleicht war die eine ein grausames Kind!« Sie warfen die Hände hoch und achteten künftig darauf, sofort zu einem Versteck laufen zu können, postierten Wachen und Stafettenläufer an den beiden ›Türen‹ und dem Zugang zur Gießerei. Pyramiden erschienen keine mehr.
Und eines Tages, während der zweiten Woche der Schwanger schaften, kreischte Gala Tropile und deutete auf eine Wand. Die Menge, die sich ansammelte, sah stumm zu, als von einem fliegenden Punkt, der an der Wand auftauchte, sich ein Kreis auf dem Metall abzeichnete. Der fliegende Punkt stieß hindurch; es war eine Bohrspitze; die herausgefräste Scheibe fiel klirrend zu Boden. Die Bohrspitze und der rotierende Bohrer zogen sich zurück, an ihrer Stelle erschien ein schwarzer Kegel, der vibrierte und zu ihnen sprach. Er sagte: »In Zukunft bekommt ihr eure Anweisungen von uns. Sind Wasser und Nahrung ausreichend?« Er stellte Fragen und erwartete Antworten. Gala Tropile brachte den Mut auf, ihm zu sagen: »Ja, aber eintönig. Könnten wir manchmal einen anderen Geschmack bekommen?« »Nein, Nahrung und Wasser sollen eintönig schmecken. Ihr sollt euch langweilen. Hört eure Chefperson zu?« Haendl und Innison begannen gleichzeitig zu sprechen; es kam zu einem kurzen, wilden Blickduell, das Innison verlor. »Ich höre«, sagte Haendl.
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»Dies sind die Regeln der Verbindung mit uns. Ihr bemerkt ein Summen in diesem Lautsprecher. Wir bringen es zum Verstum men.« Das leise Summen hörte auf und begann wieder. »Wenn der Lautsprecher summt, kannst du ihn als ›eingeschaltet‹ betrachten und hineinsprechen. Wenn er nicht summt, gilt er als abgeschaltet. Da das nur ein psychologischer Trick ist und der Lautsprecher in Wirklichkeit nie abgeschaltet wird, sorgst du durch Aufstellung von Wachen dafür, daß wir nicht angesprochen werden, außer wenn wir es wünschen.« »Ich verstehe«, sagte Haendl. Er wünschte sich, den Mut zu besitzen, eine ironische Bemerkung anzufügen. Er hatte Angst. Die Stimme war nicht-menschlich; sie stammte nicht aus einer warmen, feuchten Lunge, war nie über vibrierende Knorpel gedrungen, um in den Schädelhöhlen wiederzuklingen und, geformt von mit Muskeln versehenen Lippen und einer Zunge, laut zu werden. Die Stimme war eine modulierte elektronische Produktion, erzeugt von einem Dutzend vibrierender Kristalle. Sie war so kalt wie ein Kristall. Er hatte davon zu träumen gewagt, sich damit anzulegen! Mit kleinen Waffen, einem Panzer, einem Hubschrauber! Der Lautsprecher summte noch. Trotz aller Angst war es eine Gelegenheit, mit einer Pyramide zu sprechen, sie zu fragen, was ihnen und der ganzen Menschheit bevorstand. Soviel er wußte, hatte das bisher noch niemand getan. Er atmete tief ein, bereit, Geschichte zu machen, aber eine Frau, die Witwe des getöteten Afrikaners, schob ihn weg und schrie in den schwarzen Kegel hinein: »Warum hast du meinen Mann umgebracht? Was hat er dir getan?« »Wir haben deinen Mann nicht getötet«, sagte der schwarze Kegel. »Das war eine Pyramide.« »Was bist dann du, verdammt noch mal?« schrie Haendl. »Ihr kennt uns am besten als Glenn Tropile«, sagte der Lautsprecher, und dann verstummte der Summton. Kein Bitten oder Fluchen nützte.
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Tropile und Alia Darowa hatten die Frau zwischen sich geweckt, einen weiteren hysterischen Anfall befürchtend. Es gab ihn nicht. Sie hieß Mercedes van Dellen, stammte aus Istanbul, war zur Zeit ihrer Abberufung achtundzwanzig Jahre alt gewesen und Mutter zweier Kinder. Sie seufzte und meinte, daß sie inzwischen wohl glücklich verheiratet seien. Die Schalttafel und ihre eifrig wirkenden Hände interessierten und belustigten sie; sie gestand, daß sie gerne Beschäftigung hatte und – welche Blasphemie – daß sie am liebsten ein Dutzend Kinder geboren hätte, wenn das zugelassen worden wäre. Sie griffen in ihr Denken; es war ruhig, immer ruhig. Solche Menschen gab es also wirklich! Sie tastete sich in ihre Gehirne vor. Sie waren wild und leidenschaftlich; du meine Güte, regen sich die über alles auf! Und dann flossen die drei zusammen; diesmal war es klarer und gleichmütiger. Sie weckten eine braunhäutige Frau, die ebenfalls Ende Zwanzig zu sein schien, aber ihr Körper log. Die Seele Kim Seongs war die Seele einer verbitterten Vettel, die alles hatte kommen und gehen sehen, die Leichen wusch, um zu ihrer Reisration zu kommen. Sie murmelte: Es ist sinnlos, alles sinnlos, aber was hat es für einen Sinn, zu reden? Niemand hört einem zu. Sie fügte dem Ganzen eine Bitterkeit hinzu und die erste Andeutung, die unendlichen Weiten des Weltraums und die beiden Ewigkeiten davor und dahinter, zu gewaltig für einen einzelnen Sinn, zu erkennen. Sie weckten Corso Navarone aus Mailand, einen hageren, jungen Mann, der wußte, worum es ging. Er liebte Alia Narowa, wie er nie zuvor eine Frau geliebt hatte. Raum und Zeit hatten zusammengewirkt, um sie einander nahezubringen; er war ihre Seele, sie seine Flamme. Eine solche Liebe hatte es nie zuvor gegeben. Was spielte es für eine Rolle, daß ein zufälliger Eingriff den Vollzug der Wünsche verhinderte? Sie waren beieinander, das genügte.
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Sie konnten es fast nicht glauben, daß es so etwas gab, aber sie mußten; er war ja hier. Er weigerte sich zunächst empört, seine Individualität in die Gesamtheit einzubringen. Wie könne er seine Geliebte noch besser kennenlernen? Als er Eintritt gefunden hatte, wollte er für immer bleiben und mußte überredet werden, es nicht zu tun. Verstärkte Trennung nicht die Liebe? Er brachte Feuer in ihr gemeinsames Bewußtsein. Der alte Mann, den sie weckten, war ein gewisser Spyros Gulbenkian. Tropile schämte sich vor ihm, den Namen Wolf geführt zu haben. Spyros war ein ganzes Wolfsrudel für sich, auf stille Weise. Halb Paris hatte einmal für ihn gearbeitet, ohne es zu ahnen. Sein Leben war ungeheuer ausgefüllt gewesen; Vorfälle drängten sich zusammen, und von jeder vergehenden Minute hatte er etwas Neues gelernt, ein neues Werkzeug, eine neue Waffe erworben, und er hatte nie etwas vergessen. Er war sehr belustigt, er erwachte ohne Schock und Angst. Ich habe den Tod also betrogen! sagte er erfreut. Das, was ich mir nie erhoffte! Was ist nun dieses Gruppen-Gehirn, von dem ihr erzählt? Ich bin natürlich keineswegs störrisch – ich schulde euch sehr viel! Tropile: Es ist Macht – pure Macht. Man denkt schneller, klarer und tiefer, als man das je für möglich gehalten hätte. Alia Narowa: Man ist intensiver man selbst. Man fühlt sich auf dem Gipfel der Lebendigkeit. Mercedes van Dellen: Es ist sehr angenehm. Ich weiß nicht recht, was wir tun, wenn wir in diesem Zustand sind, aber es ist nichts Schlechtes. Kim Seong: Es ist nicht sinnloser als alles andere. Corso Navarone: Unwissende, es ist die Seligkeit! Spyros Gulbenkian: Hm.
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Aber er versuchte es, und sie begrüßten ihn als inneren Halt; er bewahrte sie davor, Fehler zu begehen. Vor ihm hatten sie in einer kurzen Sitzung die Zahl der Moleküle im Universum errechnet; mit ihm taten sie es noch einmal – diesmal richtig. Er wollte nur wissen: Woher stammt die Mathematik? Ich weiß, daß wir alle keine Mathematiker sind, und ich traue der Sache nicht, wenn man etwas umsonst bekommt! Ich glaube, die Mathematik kam aus der Welt, sagte Tropile. Ich glaube, die Mathematik ist nur ein Bild der Welt. Wenn man Augen und Ohren und genug Hirn hat, hat man Mathematik. Wir hatten genug Gehirn. Mir fällt auf, daß wir keine Botanik haben, abgesehen von Kims Moostönungen-Kult. Schon gut, wenn es nicht etwas umsonst ist, meinte Spyros Gulbenkian. Wecken wir den großen, schwarzen Gentleman, der mit offenem Mund schläft? Was für ein Gebiß! Die Zähne sind das einzige aus meiner Jugend, dem ich nachtrauere. Und so begrüßten sie das siebte Blütenblatt, Django Tembo aus Afrika. Er erwachte gähnend und lächelnd, in guter Stimmung. Er allein unter ihnen hatte geträumt, lange und schöne Träume von Ehefrauen und Kindern. Er war ein Straßenkehrer in Durban gewesen, aber aus irgendeinem Grund war sein Herz das Herz eines Königs. Er lebte, um durch Befehlen zu dienen und durch Dienen zu befehlen. Sie lasen in seiner edlen, unschuldigen Seele und verliebten sich in sie, und er sich in sie alle. Das letzte Glied des Schneekristalls war nicht einnehmend. Es war der Körper eines mageren Jungen mit häßlich geformtem Schädel und strähnigen schwarzen Haaren. Sie tasteten sich in sein Bewußtsein und Gedächtnis vor und fanden von beidem nicht viel. Ich Willy. Wandernde Farben, irgendwie traurig – sie wußten, daß es Sonnenuntergang hinter den Gipfeln von Sonora war, aber er nicht. Mama ging. Mama hübsch. Ein braunes Gehäuse mit Menschen darin. Er wunderte sich dumpf, aber sie kannten das Haus der Fünf Regeln in Las Cruces, und daß er innerhalb eines Jahres die Spende nach Regel zwei – die von
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Unschuldigen – erbracht hätte, wußten sie auch. Bohnen gut. Bohnen mit Honig gut. Sie besprachen betroffen, was sie gefunden hatten. Wir verkrüppeln uns selbst! rief Tropile. Ich weiß nicht, sagte Mercedes van Dellen unerwartet. Das arme Kind hatte nie eine Chance. Seine Mutter muß ihn verlassen haben. Habt ihr je soviel Sehnsucht und Elend gehört? Tropile war, wie alle Zyniker, davon überzeugt, daß es kein Leid gab, das dem seinen glich; er sagte sich, daß Mercedes van Dellen das eigentlich hätte wissen müssen. Schmollend verstummte er. Kim Seong schnatterte, daß ihr alles gleich sei; der Unterschied zwischen einem Idioten und dem weisesten Menschen, der je gelebt habe, spiele nirgends eine Rolle. Sie genoß die Betroffen heit der Runde. Django Tembo entschied für sie alle. Sie luden Willy nicht mit Wörtern oder Vernunftschlüssen ein, sich ihnen anzuschließen, sondern sie öffneten sich wie eine Blume, und er durfte der Falter sein. Seine scheue Tierseele floß in die ihrigen, und sie waren bereichert. Er war ein Tier gewesen, mit der tierischen Kraft von Freude und Leid, unverdünnt durch Gier nach der einen und philosophischen Tröstungen für das andere. Spyros Gulbenkian sagte später wehmütig: Vielleicht war es doch nicht so schlecht, jung zu sein. Dies war während einer kurzen Pause, in der sie sich trennten und jeder für sich war. Solche Pausen wurden kürzer und seltener. Die meiste Zeit schwamm der Schneekristall in seinem Tank und dachte auf seine eigene Weise, achtfach kontrapunktisch statt in menschlich-melodischen Linien. Manchmal dachte er in Akkordsequenzen und hämmerte auf Probleme und Fragen ein, bis sie sich geschlagen gaben.
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Unablässig verrichtete er seine Arbeit für die Pyramiden; keine Sekunde verging, ohne daß die sechzehn Hände ihre Schalter drehten. Unaufhörlich leistete er seine eigene Arbeit des Analysierens und Planens. Der Unterschied war, daß er für die Pyramiden mit der achtfachen Raschewsky-Zahl von Schaltun gen arbeitete, für sich selbst jedoch mit der Raschewsky-Zahl in der achten Potenz. In menschlicher Nachahmung begann der Schneekristall alle seine Erinnerungen zu erforschen und sie schnell zugänglich zu machen – der alte Traum ging endlich in Erfüllung. Paßte ein farbverschiedenes Reiskorn in der koreanischen Schale der dreijährigen Kim Seong in ein Problem? Es war da. Konnte sich Corso Navarone an die Fabrikationsnummer eines Fahrrads erinnern, das an einem Freitag in Mailand an ihm vorbeigezischt war, in seinem zwölften Lebensjahr? Er erinnerte sich. Wenn ein vielsagendes Achselzucken Spyros Gulbenkians vor dreißig Jahren in Paris von Nützen sein konnte, stand es zur Verfügung, falls sie es brauchten. Der Schneekristall entschied: Ich bin unerfüllt. Sex spielt keine Rolle, denn mir ist Unsterblichkeit möglich. Liebe spielt keine Rolle, denn ich habe mehr als Liebe. Was eine Rolle spielt, ist, meinen Bestand an Sinnesdaten zu erweitern und Skalen abzulesen. Als erstes brauche ich also Freiheit. Der Schneekristall begann deshalb zu versagen, und zwar, was die Pyramiden anging, auf einer Ebene, wo Entdeckung nicht möglich war. Der idiotische Diener des Menschen, der Thermos tat, ist, außer in Laboratorien, nicht darauf eingerichtet, mit messerscharfer Präzision zu arbeiten; es gibt stets einen Toleranzbereich. In einem Auto der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts erfüllte der Kühlwasserthermostat seine Aufgabe, wenn er mit einem Spielraum von zehn Grad reagierte. Thermostaten an Haushalts-Ölheizkesseln arbeiteten genauer, mit einer Differenz von einem Grad nach oben oder unten, aber was ist ein Grad? Zehntausend Zehntausendstel eines Grades, eine Million Millionstel eines Grades. Platz für Verbesserungen
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gibt es immer, so viel Platz, daß kein Ingenieur sich jemals mit Problemen befaßt, die außerhalb seines Fachgebiets liegen. Dem Schneekristall wurde eine falsche Übertragung bei über tausend Schaltungen erlaubt; das Verfahren, an dem es tätig war, würde unter einer solchen Toleranz nicht leiden. Vollkom menheit gibt es nicht. Es hat keinen Sinn, die Arbeit zu leisten, die sicherstellt, daß eintausend von eintausend Schaltungen hundertprozentig richtig sind – es sei denn, der Thermostat sei zum Teil Wolf. In der Arbeit für die Pyramiden, mit der der Schneekristall beschäftigt war, sandte er Botschaften an automatische Maschinen auf dem ganzen Doppelplaneten; er baute aus dem Nichts Antriebsaggregate. Er begann damit, den Planeten nach überschüssigem Material abzusuchen, er ›organisierte‹ ohne Unterlaß. In einem Lager wurde ein Torus überprüft; man stellte fest, daß er das letztemal beim Magellanischen Überfall als Waffenbestandteil verwendet worden war, daß es in diesem Teil der Galaxis keine Lebensformen gab, die für diese Waffenart anfällig waren – sie erzeugte eine Art marmorierten Nebels, dessen Anblick für die Farbenbildner der Magellan-Wolke den Tod bedeutete. Der Torus schwebte sodann zum richtigen Zeitpunkt an die richtige Stelle, um zu Material für den Strahler einer Ionen-Kanone umlegiert zu werden, die später vormon tiert, noch später zur Hauptmontage gebracht werden und schließlich ihre vorgesehene Stelle für Maximalantrieb einneh men sollte, sobald der Doppelplanet, die Erde als Treibstoff verwendend, erneut langsam die Fahrt zur Suche neuer Bausteine antrat. Eine Schaltung von tausend war falsch. Das war eine niedrige Toleranz und vernünftig festgesetzt; die Aufgabe des Schnee kristalls war von solcher Vielseitigkeit, daß Fehler sich nicht häufen durften. Er wechselte ständig von dieser Aufgabe zur nächsten. Wären die falschen Schaltungen zufällig erfolgt, dann hätten sie den Zink-Torus auf seinem Weg zur Schmelze zum Schwanken gebracht, oder erkennbar falsche Informationen über
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seine Funktion wären auf Nichtleiter statt auf Leiter anwendbar gewesen, was veranlaßt hätte, noch einmal nachzufragen. Die falschen Schaltungen häuften sich erstaunlich. Sechzehn Hände lieferten achtzig Schaltungen pro Sekunde, nach irdischer Messung beinahe Siebenhunderttausend am Tag. Demzufolge ging fünfhundertmal am Tag – Spielraum für Sicherheit! – ein raffiniert berechneter Fehler hinaus. Falsche Informationen wurden nur selten geliefert. Statt dessen bewegten sich Maschinen ruckhaft, wie bei Zeitrafferaufnahmen einer sich öffnenden Blume. Stück für Stück wurde in einer verlassenen Werkstatt eine merkwürdige Elektronenröhre hergestellt. Fünf Tage lang sammelte man eine Fehler-Reserve an, und in einer anderen Werkstatt wurde eine Metallstange eilig im Zonen schmelzverfahren bearbeitet; hier war Zeitraffung nicht möglich. Daraus sägte und baute man Transistoren. Nach einem Monat hatte der Schneekristall, Sklave der Pyramiden, einen eigenen Sklaven, ein Gerät, das darauf programmiert war, von sich zum Tank des Schneekristalls einen haardünnen Kupferdraht zu ziehen, und das tat es fünfzig Stunden lang mit einer Geschwin digkeit von einer Meile pro Stunde. Als er ankam, hatte die Revolte des Thermostaten wahrhaft begonnen. Der Kristall brauchte seinen Vorrat an falschen Impulsen nicht mehr zu horten, nicht länger tausend Alternati ven zu prüfen, bevor er entschied, welche Schaltung die wirtschaftlichste und strategisch wichtigste war. Der haarfeine Draht zielte auf den Schalter in Alia Narowas linker Hand. Im Augenblick der Berührung krampfte sich der Schneekristall zusammen und versetzte die Last der Leistung von ihrer linken Hand auf die übrigen fünfzehn Hände. Die Kommunikation erfolgte nun direkt. ›Fehler‹ konnten nun Rohmaterial zu dem Gerät am Ende des Drahts schaffen, das nur wußte, zur Zeit wußte, wie man Draht herstellt und verlegt. Über diesen Draht würde es lernen, das Rohmaterial in Glasaugen, Metallarme und rollende Polymere-Füße zu formen.
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Es war in einem Korridor neben einer Gießerei untergebracht. Der Schneekristall befahl ihm, den Korridor abzusuchen und Bericht zu erstatten. Der Kristall entschied: Dieser Korridor ist für unsere Mäuse geeignet. Er beauftragte den Sklaven, der mit jedem Tag an Größe und Kompliziertheit zunahm, das Wasser versorgungssystem des Doppelplaneten anzuzapfen und an der Korridorwand eine Reihe von Hähnen anzubringen, und anschließend durch den Diebstahl von Glukose und den erforderlichen Mineralen und Aminosäuren aus dem jahrtausen dealten Gewirr von Röhren über und unter dem Metabolismusprodukt-Gebiet des Planeten eine brauchbare Nährflüssigkeit herzustellen und das Gemisch über eine zweite Reihe von Hähnen in denselben Korridor zu leiten. Der Kristall entschied: Jetzt erforschen wir den Planeten. Nicht experimentierend, sondern nach Plan programmierten sie ihren Sklaven, mit jeder Stunde weniger idiotisch, Spione auszuschicken. Sie machten sich auf den Weg wie kleine Spinnen, ihren Metallglanz durch Ruß gedämpft. Ihre achtfachen Augen besichtigten Korridore, Röhren, Kabel, Kessel, Reaktoren. Maschinen wurden gebaut, die Maschinen zum Bau von Spionen bauten, schnell verbesserte Spione. Es gab LangstreckenPrimärspäher, tarantelartig, weil sie entsprechend große Energiezellen für Geschwindigkeit und Reichweite brauchten, mit kleinen Köpfen, weil sie nur im Groben spähten. Eine Woche später gab es denkfähigere, analytische Typen, von Taranteln in Paaren auf dem Rücken getragen. Diese besaßen Eierköpfe, vollgestopft mit Augen, Ohren, Nasen, Thermo-Elementen, Ionenzählern, Spektrophotometern. Für die grobe Messung des Weltraums zogen manche doppelt hinaus, jedes das Auge eines Entfernungsmessers variabler Standlinie. Zur Feinmessung gab es die winzigen Geräte, die mit jedem Schritt genau einen Millimeter maßen und Antennen von genau einem Mikron Durchmesser besaßen. Der Kristall erfuhr, wie viele Pyramiden es auf dem Doppelpla neten gab: sieben.
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Die Spione beobachteten sie unablässig, und der Schneekristall lernte, eine Pyramide von der anderen zu unterscheiden. Sie waren nur annähernd von gleicher Größe; es gab die größte und die kleinste. In den elektromagnetischen Feldern, von denen sie umgeben waren, stellte man deutliche Unterschiede der Stärke, des Musters und der Veränderungsrate fest. Eine von ihnen war unersättlich. Sie zog sich öfter als die anderen in den Komplex für metabolische Produkte zurück, aber es war ein Unterschied des Grades, nicht der Größe. Sie alle verzehrten täglich viele Tonnen Chemikalien, die sie von einem klatschenden Sprühregen auf ihren drei nicht dem Antrieb dienenden Seiten absorbierten. Die Spione lernten schnell die Hauptbeschäftigung der Pyrami den kennen: Experimente, die sich auf einen elefantenhaften, blaugrünen Körper mit Chitinpanzer und sieben Fühlern konzentrierten. Dieses Wesen lag am Nordpol des Doppelplane ten unter einer Kristallkuppel feierlich aufgebahrt, im größten Raum, dessen sich der Planet unter seiner Oberfläche rühmen durfte – der einzige von solcher Größe, daß er alle sieben Pyramiden und vermutlich auch die achte vom Everest aufzunehmen vermochte. Die andere Besonderheit dieses Raums und des ihn umgebenden Komplexes war, daß keine Bausteine, menschlich oder nicht-menschlich, keines der lebenden Geräte an die ihm dienenden Schaltkreise angeschlossen war. Statt dessen öffneten primitiv aussehende hydraulische Verstellorgane Ventile und schlossen Schalter unter dem direkten Druck von Elektronenstrahlen aus den Scheitelpunkten der Pyramiden. Die sieben Ungeheuer gaben sich endlos mit dem gänzlich anderen achten Ungeheuer ab. Sie fluteten seine Kristallkammer mit wohltuenden Flüssigkeiten in verschiedener Mischung, mit Gasen von unterschiedlichem Druck. Sie bauten abgenutzte alte elektrostatische Generatoren auf und nahmen sie in Betrieb, so daß unter der Kristallkuppel schwache Ladungen erzielt werden konnten.
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Und dabei kam nie etwas heraus. Mit der Zeit wurde klar, daß die Experimente wiederholt wurden. Vielleicht war ›Ritual‹ der passende Ausdruck. Der Schneekristall hatte gleichzeitig die Everest-Pyramide verdorben. Die für Anschluß oder Lagerung bestimmten Bausteine waren geliefert. Die Everest-Pyramide war von der Tatsache ›verblüfft‹, daß alle gelieferten Bausteine gelagert wurden. Es bestand dringender Bedarf an neuen Komponenten, aber die gelieferten wurden ausnahmslos gelagert! Sie verstärkte ihre Lieferungen und erntete schließlich je einen Bekannten von Tropile und Django Tembo. Diese wurden nicht gelagert, wohl aber die nächsten fünfzig. Aha! Das Schema wurde auf dem Everest klar. Einer aus Princeton und einer aus Durban und möglicherweise aus anderen Orten… ja, aus sechs anderen Orten, stellte sich schließlich heraus. Als der Kristall davon erfuhr, hatte er die Aufgabe, vorhandene Bausteine in den Schaltkreisen aus dem Betrieb zu nehmen und einen Bedarf vorzutäuschen. Endlich waren sechshundertvier undachtzig Leute zur Stelle, die den Teilen des Kristalls bekannt waren, und der Kristall bohrte ein Sende- und Empfangsgerät durch ihre Korridorwand und sagte: »In Zukunft bekommt ihr eure Anweisungen von uns…«
14 Von Zeit zu Zeit kamen Anweisungen für die Menschen im Korridor aus dem Lautsprecher. Metallische Spinnen erschienen, beäugten sie und entfernten sich wieder. Die Menschen versuchten den Lautsprecher zu befragen und erhielten immer Antwort, aber selten die Antworten, die sie hören wollten. »Was wollt ihr von uns, verdammt noch mal?« »Wir wollen, daß ihr Mäuse seid«, sagte der schwarze Kegel.
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»Manchmal sagst du, du bist Tropile, manchmal willst du dieser Django Tembo oder jemand anderer sein. Wer bist du nun?« »Ja.« »Was habt ihr mit uns vor?« »Euch hungern lassen.« »Warum? Warum? Wozu?« »Damit ihr mäuseähnlicher werdet. Bald.« Der angedrohte Hunger zwang sie zu dem Versuch, Nahrung und Wasser zu speichern, aber das war nicht möglich. Ihr Rohmaterial waren nur die Abfälle von den riesigen Werkzeug maschinen, und es waren gute Maschinen, sie hinterließen nur kleine Abfälle. Die Fräsmaschinen Spanten Spiralen von Metall und Kunststoff, die hübsch, aber nahezu unbrauchbar waren. Die Zurichtmaschinen schabten lange Nadeln ab, die herabregneten und vom Glyzerin fortgespült wurden. Sie versuchten, die Spiralen hin- und herzubiegen, um kleine, verbogene Metallstü cke abzubrechen, und das gelang. Sie bündelten die Zurichtma schinenabfälle, um Pflöcke und Hämmer herzustellen, und versuchten ihre Metallplättchen zu Behältern zu klopfen, aber es ging einfach nicht. Wenn das von den Fräsmaschinen geschälte Metall spröde genug war, in Platten zu zerspringen, erwies es sich als nicht dehnbar genug zur Verformung. Drei Versuche, die Platten in der entsetzlichen Hitze der benachbarten Gießerei zu tempern, mißlangen tödlich; der Ort war zu gefährlich. Einer wurde von der Hitze und der schlechten Luft betäubt; andere taumelten an ein nacktes Hochspannungskabel, in einen brodelnden Schmelztiegel oder in den Preßstempel eines automatischen Hammerwerks. Sie waren sorgenvoll, gelang weilt, mißgelaunt und gut genährt – genauso, wie es der Schneeekristall haben wollte. In der nahezu letzten Stufe der Entwicklung wäre der Kristall von einem Außenbeobachter in seinem Tank kaum noch zu sehen gewesen, so viele Drähte gab es dort. Er hatte die von
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den Pyramiden verlangte Arbeit längst einem Oktett im Ersatztank übertragen; es war nicht schwierig gewesen, die Eingangs-Schalttafel oder die Schalter nachzubilden, aber die Programmierung des Oktetts über Doppel-Fernsteuerung war irrsinnig kompliziert gewesen, weil sie die vollständige Erinne rung an die Programmierung des Schneekristalls und ihre exakte Nachbildung am Ersatzoktett verlangte. Sobald dies jedoch getan war und alle sechzehn Hände sich befreit hatten, gab es für den Kristall auf dem Doppelplaneten keine Grenzen mehr. Seine Drähte und Kabel stießen überall vor; mit der Zeit wurden die metallenen Spinnen-Spione zurückgezogen, da der Schneekristall direkt übertragende Augen und eigene Umsetzer anschloß. Er zweigte einen Vorrat an seiner Nährflüssigkeit ab und speicherte ihn in gepanzerten Behältern, der für jeden Notfall ausreichen mußte; er hielt Generatoren bereit, die bei jedem Pumpendefekt einspringen konnten; er umkleidete sich mit Stahl, Blei und Kadmium gegen physische, magnetische und Strahlungsattacken; er montierte sich und seinen ganzen, gewaltigen Versorgungskomplex auf Raupenketten. Die Spinnen-Spione dienten nur noch in einem Gebiet: in dem Raum unter dem Nordpol. Man war sich einig, daß die bewußt altertümliche Einrichtung des riesigen Raums dagegen sprach, dort ihre Ortungsgeräte aufzustellen. Wenn ein Kabel durch eine Röhre des Nährflüssigkeitsgebiets kroch, bedeutete einer vorbeikommenden Pyramide das nichts. Dafür gab es die Komponenten – daß sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort Kabel verlegten. Unter allgemeinen Anweisungen taten sie es. Keine Anzahl von Umsetzern auf dem Doppelplaneten konnte Ursache für Aufregung sein; zweifellos war es ein Qualitäts- oder Verkehrskontrollsystem, das für die Bewahrung der Pyramiden welt sorgte, ohne ihnen Kosten oder Mühe zu verursachen, während sie – was taten? Während sie ihre endlose Folge von Experimenten an dem mit Fühlern ausgestatteten Wesen unter der Kristallkuppel fortsetzten. In langsamem, feierlichem Tempo, langsamer als bei
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ihrer normalen Fortbewegung durch die Korridore oder bei ihren Elektronenstößen zur Betätigung von Relais, Reaktorkühlung oder Feldbündelung. Das interessanteste Gebiet des Doppelplaneten war der Nordpol, das trostloseste der Süden. Dort gab es nichts, nur Leere. Plunder aus dieser und jener Ära, seltsam, die Verwüs tung eines planetologisch bedeutsamen Punktes. Der Schnee kristall sagte sich, daß wirtschaftliche Vernunft Nord- und Südpol in Gebrauch genommen hätte; da der Planet rotierte, besaß er ein Magnetfeld, das durch ein von diesen Nullpunkten ausstrah lendes Kabelnetzwerk angezapft werden konnte. Der Kristall entschied: Wenn uns das eingefallen ist, müssen es andere Komponenten auch bemerkt haben, aber trotzdem wurde nichts unternommen. Der Südpol ist also nicht das, was er zu sein scheint. Von seinem Lageort am südlichen Breitengrad 12 aus begann der Schneekristall ein Spezial-Koaxialkabel, gefüllt mit Schutz gas, herzustellen und nach Süden zu treiben, eine großartige Nervenleitung, über die man die kompliziertesten Nachrichten senden und empfangen konnte. Man ging davon aus, daß das der Fall sein würde. Durch die untersten Ebenen des untermi nierten Planeten kroch ein Raupengerät, das Kabel hinter sich herschleppend. Es streckte eine Teflonschnauze in Kammern voll ätzender Atmosphäre und mied sie; es mied die rotbeleuchteten Lager- und Zugangsräume für die tieferen, dunkleren, durch das Gestein gebohrten Tunnels, noch nicht mit Röhren und Drähten vollgestopft, noch nicht unablässig von hastenden Reparaturma schinen besucht. Seine Ausleger, mit dem Kabel verbunden, rollten träge nebenher und warteten mit Maschinengeduld auf ihre Aufgaben. Eine Abteilung davon war eine Schürfgruppe – Kräne, Seitenräumer, Grabgeräte, die aushöhlten, sprengten und mit sensenartigen Klauen auf einem Endlos-Laufband den Schutt abräumten. Eine zweite Gruppe, hinter den Schürfern, bestand aus Umsetzern – künstlichen Sinnesorganen aller Art, eiskalt und wissenschaftlich, die sich mit gezeichneten Kurven meldeten,
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während Nadeln über Skalen tanzten. Und hinter ihnen, beinahe um Entschuldigung bittend, rollten Orthikon-Farbbildröhren mit Eigenantrieb, bloße Fernsehröhren, die nur Bilder, Oberflächen wiedergaben – nicht einmal röntgen-stereotransparent.
Die Stimme des Ex-Bürgers Roget Germyn schwankte vor Nervosität. Er fauchte Muhandas Dutta aus Durban an: »Weg vom Hahn. Du hast gesehen, daß ich hinwollte. Dann bist du aufgestanden und auch hingegangen.« Muhandas Dutta, ehemals ein führender Vertreter des Reis schmeckens, kurz vor der Erhebung zum Großmeister dieses Kults, fauchte zurück: »Ich habe Besseres zu tun, als darauf zu achten, wer hier herumstolpert. Ich war zuerst da. Flachbauch.« Das Schimpfwort war unsinnig; der Bauch von Muhandas Dutta war von Hungerödemen ebenso frei wie der von Roget Germyn. Aber Altes vermischte sich mit Neuem. »Muskelprotz!« spottete Germyn. »Schlinger! Brüller! Renner!« Schulhofsprüche, und er schrie sie hinaus. Der Hahn gluckste leise zwischen ihnen, als sie einander mit schwellenden Adern, geballten Fäusten und hervortretenden Augen gegenüberstan den; die klebrige Glukoselösung trug die kostbaren Spuren von Eisen, Jod, Schwefel, Phosphor, Kalium in endlosem Rinnsal den ein wenig schräggeneigten Boden hinunter zum Abfluß. Glutaminsäure, ohne die sich im Gehirn Ammoniak sammelt und tötet, rann über den Boden, während sie einander anfunkelten, und D-Ribose, D-2-Deoxyribose, Adenin, Guanin, Uracil, Cytosin, Thymin und 5-Methyl-Cytosin, ohne die nichts Höheres als ein Trilobit Form und Wesen an die nächste Generation weitergeben kann. Über dem Rinnsal des Lebens funkelten sie einander an, ignorierten die lange Reihe sprudelnder Hähne links und rechts, denen sie sich hätten zuwenden können; dieser eine gehört mir, mir! Zum Teufel mit der Vernunft, zum Teufel mit dem Überfluß, zur Hölle mit der Güte – er gehört mir!
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Ein Wolf mit geröteten Augen, nicht vor Raublust, sondern von der Erschöpfung durch seine endlose Aufgabe, den Frieden zu bewahren, schlurfte heran. »Hört auf damit«, sagte Haendl. Muhandas Dutta umklammerte nervös den durch seinen Lendenschurz gesteckten, dolchartigen Metallsplitter von einer der Werkzeugmaschinen. Mehr als der Lendenschurz war von der geziemenden Kleidung eines Bürgers nicht geblieben. Haendl drehte ihm und dem Dolch den Rücken zu, bückte sich und trank aus dem sprudelnden Hahn. Hinter ihm gab es ein Geräusch; er richtete sich gelassen auf und drehte sich um. Dutta hatte seine Waffe gezogen und zielte; bevor er zustieß, hatte Germyn sein Handgelenk gepackt. Sie rangen lautlos miteinander. Haendl riß Dutta den Dolch aus der Hand und warf ihn weg. Die beiden Männer traten keuchend auseinander und funkelten einander an. Dutta massierte sich das Handgelenk. »Alle sind nervös«, sagte Haendl zu ihnen. »Die Tatsache, daß das offenbar so sein soll, spielt keine Rolle. Wir müssen etwas nachsichtiger sein, sonst massakrieren wir uns gegenseitig. Dutta und Germyn, tut vielleicht mal so, als sei ich sehr alt und weise, und folgt meinem Rat. Dort drüben ist ein guter Nahrungshahn für dich, Dutta, und ein ebenso schöner für dich, Germyn, sobald der Russe da fertig ist. Ich schlage vor, daß ein jeder zu seinem Hahn geht und sich volltrinkt.« »Flachbauch!« höhnte Dutta, aber er ging, Germyn über die Schulter beobachtend. »Muskelprotz!« schimpfte Germyn, und er ging zum Hahn, ohne dem Afrikaner den Rücken zuzudrehen. Dann beugten sie sich nieder, um zu trinken, aber da gab es nichts mehr zu trinken. Mit einem letzten Blubbern hörten die Hähne auf zu laufen und fingen nicht wieder an. Tumult breitete sich durch die Korridore aus. Die Leute wankten schluchzend zu den Hähnen. Die Türwachen und
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Stafettenläufer verließen ihre Posten und rannten zu den Nahrungsventilen. Manche leckten den Boden ab, wo der Rest des klebrigen Stoffs vertrocknete, bevor er von der Glyzerinflut fortgespült wurde. Ein paar Glückliche kämpften sich zu den Abflüssen durch, stießen die Arme hinein, so weit sie konnten, beschmierten ihre Arme und Hände mit dem am Rand des Abflußrohrs klebenden Stoff, leckten sich ab wie die Katzen. Haendl, der noch vor wenigen Minuten mit wilder Belustigung quittiert hatte, daß seine Rolle darin bestand, Ex-Bürger daran zu hindern, sich gegenseitig zu zerreißen, sie zu Nachsicht und Rücksicht anzuhalten, war nicht mehr belustigt. Er sagte zu Innison, der mit ihm ein wenig abseits stand: »Als nächstes hört das Wasser auf. Dann ziehen wir los und werden wohl sterben – jedenfalls die meisten von uns.« Sie gingen zu dem schwarzen Kegel des Lautsprecher-Mikrophons; die Wachen, die dort Aufstellung genommen hatten, waren fort. Der schwarze Kegel summte, durfte also angesprochen werden. Aber Haendl wich zurück und zog Innison mit. »Der Teufel soll mich holen. Ich denke nicht daran, mir sagen zu lassen, daß wir brave Mäuse sein sollen.« Die Phalanx von Maschinen hinter dem Koaxialkabel hatte den Südpol des Doppelplaneten erreicht. Kapseln auf Raupenketten teilten sich an den Längsachsen, und die obere Hälfte klappte nach hinten; manche schoben vorne Kräne, hinten Gegenge wichte hinaus; aus einigen erblühten Wolfram-KarbidRäumschilde. Sie stürzten sich auf einen uralten Abfallhaufen, vorsichtig tastend oder wild rammend, je nach Bedarf. Sie stießen durch löchrige, verwitterte Röhrenanlagen, rissen alte Strömungsplatten von uralten Wärmeaustauschern, die Bleiummantelung eines veralteten Thorium-Reaktors, die Thoriumbehälter selbst, die weggeworfenen Zylinder eines relativ kleinen Fusionsreaktors und die wirren Haufen von Cerblöcken, mit denen er einst verkleidet gewesen war.
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Sie erreichten eine Bogenmauer unter dem Schutt; Knallgas gebläse bohrten Löcher, die Grabgeräte brachten Explosivladun gen an und stampften sie fest. Keine Gefahr, daß beschädigt wurde, was sich im Innern befand; nach der Sonar-Ortung brauchte man ein Dutzend Hochexplosivstoffsprengungen, um durchzustoßen. Der Sprengstoff ging in die Luft und fetzte Scheiben ab; die Maschinen räumten sie weg. Elfmal noch der Zyklus, dann vorsichtiges Bohren, und schließlich der Durch bruch in eine Kammer, Ebenbild derjenigen am Nordpol, aber ohne blaugrünes Ungeheuer unter einer Kristallkuppel; statt dessen: Schriften. Runde Kristallplatten mit goldenen Symbolen, die Platten nicht gebunden, sondern einfach mit gesegneter Ungeschicklichkeit aufeinandergestapelt; der goldene Text war ein wenig erhaben, so daß die gestapelten Platten nicht fest aufeinandergepreßt waren. Diese ›Bücher‹ lagen zuhauf auf Regalen, Tischen und dem Boden. Es war ein erwärmender Anblick, aufgenommen von den Orthikon-Augen, über das Koaxialkabel weitergeleitet, den sechzehn Augen des Schnee kristalls auf einem runden Fernsehschirm vorgeführt. Der Kristall betrachtete das Bild, kalt begreifend, und einige seiner Hände sandten Botschaften an die Maschinen am Ende der sechsundsiebzig Breitengrade Koaxialkabel. Metallfinger schlugen die Seiten aus Kristall und Gold auf, die dickste Garnitur zuerst. Die schönen, fremden Buchstaben verliefen ohne Lücke in einer Spirale vom Rand der Platte zum Mittel punkt, mit der Logik der Furchenschrift, den uralten zuerst nach links, dann nach rechts laufenden Linien, die aus irgendeinem Grund gegen das System unterlegen waren, das einen Bruch und ein Wegreißen des Blicks am Ende jeder Zeile verlangte. Der Schneekristall notierte Art von ›Tinte und Papier‹; sie waren kein Zufall. Der Farbkontrast war unbedingt, die Platten durchsichtig, der Text undurchsichtig. Die Platten waren glatt, das Gold körnig, unpoliert. Sie unterschieden sich auch in der Textur. Instrumente verrieten dem Kristall, daß der Gegensatz in der Leitfähigkeit ebenso groß war; die Platten waren Isolatoren, die Symbole Superleiter. Die dort am Südpol hinterlassenen
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Botschaften waren aufbewahrt worden, um fast von allen Augen, allen Händen oder solchen unvorstellbaren Wesen gelesen zu werden, die mit Elektrizität lasen. Es mußte einen Schlüssel geben, und es gab ihn: auf der Sammlung der größten Platten. Ein ermüdendes, schwieriges, oft vorgestelltes Programm begann. Ein einzelner Erdbewohner hätte mit der Zeit das meiste lernen können, was auf den größten Platten stand; es begann mit der Arithmetik – nach dem Binärsystem, versteht sich. Ein Punkt entspricht einem Punkt; ein Punkt und ein Leerraum entsprechen zwei Punkten. Zwei Punkte entsprechen drei Punkten; ihr Null war wirklich Null – nichts, eine Unterbrechung in der fließenden Schrift. Ein anmutiges, sanft geschwungenes Auge war der Additions-Rechner; negative Zahlen bestanden nicht aus Punkten, sondern aus kleinen Sonnen, und so weiter. Es war nur Mathematik. Der Kristall ging alles durch, Geometrie für Kinder, die Funktionen der Kegelschnitte. Es war nicht sehr elegant. Der Schneekristall fand, daß man auf Eleganz verzichtet und grobe, alte Begriffe aus primitiven Tagen hervorgeholt hatte. Aber der Kristall lernte: Das ist das ›Höhe‹-Zeichen, das Zeichen für ›Geschicklichkeit‹, für ›groß‹, ›größer als‹, ›schließt ein‹ – und dann weiter zum ersten Lehrbuch, der zweitgrößten Plattensammlung. Blaugrüne, mit Fühlern ausgestattete Ungeheuer waren das Thema; essen, schlafen, kriechen – sprich ›gehen‹ waren die Verben, die man verwendet hatte. Ungeheuer – sprich ›Menschen‹ – beobachten die Sterne. Die große Sonne steigt herauf und wärmt die Menschen. Der samenerzeugende Mensch befruchtet – liebt? – den eiablegenden Menschen, den man eine Frau nennen könnte, denn das ist sie. Hundertsechs undsechzig Tage lang wird das gelegte Ei – es schien wirklich ›verehrt‹ zu heißen. Dann wird das Kind geboren und empfängt die zweite Stufe der Verehrung. Ein kleines – Etwas – wird dem Kind beigegeben, und das Kind wird mit den Mündern seiner – hier eindeutig nicht ›befruchtend‹, sondern ›liebenden‹ – Eltern gesäubert. Das Kind ißt unter Leitung seiner Eltern und seines ›Etwas‹ gute Nahrung. Das Kind schläft zu tief, und das Etwas weckt die Eltern, die in liebender Sorge etwas tun, der Kristall
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kann nicht ausmachen, was. Das Kind lernt zu zählen und Bücher wie dieses zu lesen. Das modifizierte liebende Etwas hilft dabei. Das Kind läuft, das Kind rennt in der Sonne, das Kind zieht weit umher, das Etwas reitend, denn das Etwas ist mit dem Kind aufgewachsen. Dann ist das Kind halb erwachsen, es empfängt die Stufe der Verehrung, und es beginnt die Zwölfhun dertachtzehn Bücher Erster Bedeutung zu meistern. Danach ist das Kind erwachsen und kein Kind mehr, sondern ein Mann oder eine Frau, und sein Etwas ist auch erwachsen. Der erwachsene Mensch wird in seiner Liebe zu dem Etwas korrigiert, denn die Etwas bergen eine gewisse Gefahr, so nützlich sie sonst auch sein mögen. Zerstreutheit beim Umgang – Berühren – eines voll erwachsenen Etwas kann tödlich sein Der Schneekristall bebte in seinem Nährbad, als er begriff, daß die Zerstreutheit tödlich gewesen war. Die voll erwachsenen Pyramiden, sonst nützliche Dinger, hatten sich vor urdenklichen Zeiten erhoben und ihre Herren, die sie gebaut hatten, vernichtet, ihren schönen Planeten verwüstet und in einen trostlosen Plunderhaufen verwandelt, eine passende Umgebung für die Maschinen, die sie waren.
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Wie Haendl voll Grimm vorausgesehen hatte, wurden die Menschen im riesigen Korridor der Maschinenhalle als nächstes des Wassers beraubt. Die Hähne versiegten einfach. Es kam, wie zu erwarten gewesen war, zu einer Panik und dann zur unausweichlichen Folge: Wanderung. Männer mit Fleisch an den Knochen legen sich nicht zum Sterben; Frauen, die Kinder in sich tragen, verzweifeln nicht. Wenn sie von einem Feuerkreis umgeben sind, werden sie durchbrechen, wo die Flammen am dünnsten erscheinen, aber sie werden durchbrechen. Mit Hunger auf den Fersen und nichts Schlimmeres als Hunger vor sich, gehen die Menschen überallhin. Sie breiteten sich vom Korridor durch seine beiden Ausgänge aus; sie erkundeten die rotbeleuchteten Höhlen des Doppelpla neten, zwanzig, vierzig Meilen am Tag. Sie fanden überall Wasser, denn es ist ein nützliches Lösungsmittel und wurde in den meisten chemischen Verfahren auf dem mechanisierten Planeten verwendet. Sie schlugen manch ein Rohr an der Gelenkverbindung auseinander, tranken sich satt und zogen weiter. Der Weg führte sie hundert Meilen weit, bis sie wieder wie achtbare Bürger aussahen, mit zählbaren Rippen und mageren Schenkeln, aber inzwischen waren sie im Gebiet für die metabolischen Produkte, einem Gewirr von Rohren, Pumpen und Behältern, von denen viele Zucker, Stärke, Eiweiß und Fette enthielten. Man hätte Sagen über Innison schreiben können, wie er den Dreißig-Meter-Gärungstank erstieg, wo Glukose in Alkohol überging, und wie er die gläserne Zuleitung zerschlug, so daß Nahrung auf die Menge darunter herabregnete. Auch sollte die Legende von Muhandas Dutta nicht vergessen werden, wie er den Polyäthylenkocher sprengte. Das riesige Ding stand zwischen ihnen und einem unverwechselbar hefeartigen Geruch. Sie strotzten vor Energie durch die Glukose, aber ihre Körper wußten, daß sie nach Ersatz und Aufbau von Molekülen gierten,
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daß sie von Energie allein nicht leben konnten. Princeton-Wolfe studierten die Stufen des Polyäthylenturms, einer dusteren, stählernen Zitadelle, aus der klare Blasen voll Polymeren hervordrangen. Unten nur wirbelndes Gas; Hitze und Druck füllten die nächsthöhere Blase mit dünner Flüssigkeit, die Blase darüber mit zähflüssiger, und ganz oben schaufelten große Arme eine wachsartige Paste durch den Ablauf in Lagerräume oder direkt zu Pressen oder Ziehprofildüsen, die eine halbe Welt entfernt sein mochten. Ein ganzer Planet voll Schaltungen bedurfte immer irgendwo der Isolierung; Kurzschlüsse spuckten jeden Augenblick irgendwo blaues Feuer, und Maschinen krochen, beladen mit Kupfer- und Polyäthylenkügelchen, auf sie zu, um die ›Blutung‹ zu stillen und die Wunden zu heilen. Und diese Quelle von Verbänden stand wie eine Bastion zwischen den Menschen und dem Hefegeruch. Es gab keinen Weg um sie herum, außer durch Behälter voll dampfender Salpetersäure, Räume, deren Luft Tod bedeutete. Muhandas Dutta besprach sich mit Wölfen, warnte die anderen, hinter festen Mauern und auf hohen Rampen Schutz zu suchen, und kletterte allein eine breite, massive Schweißnaht hinauf, die bis zur halben Höhe des Gärungstanks führte. Dort war die Stelle, wo das Äthanol abgesaugt wurde, und hier wurde es von Instrumenten geprüft, deren Kabel zu irgendeiner Komponente führten. Die Enden der Drähte, auf die es Dutta ankam, führten durch einen Konservierungsflansch zum Hauptabfluß. Er war massiv, aber nicht mit Tank und Rohrleitung verschmolzen. Es gab Stellen, wo sich Flansch und Rohrleitung berührten, und Dutta stieß dort einen Metallsplitter hinein und bohrte. Mit einem Arm und beiden Beinen hielt er sich am meterdicken Rohr fest, mit der anderen Hand arbeitete er eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Als Späher hinter den dicken Mauern hervorka men, wohin er sie geschickt hatte, schrie er hinunter, sie sollten zurückgehen, es sei bald soweit. Die Späher kehrten zu den anderen zurück, und die Menschen warteten, hungrig und durstig, zerschlugen Wasserleitungen, um zu trinken, wichen langsam heranrollenden Rohrreparaturmaschinen aus und
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zerschlugen die Leitungen wieder, sobald sie verschwunden waren. In der vierten Stunde von Duttas Zerreißprobe begann der Flansch Äthanoltropfen zu schwitzen. In der fünften kam ein Rinnsal, dessen Dämpfe ihn fast betäubten, und in der sechsten explodierte der Flansch wie ein Geschoß, zerfetzte Dutta wie einen an eine Kanone gebundenen Meuterer. Das Äthanol rauschte donnernd als glasige Säule zu Boden und zischte auf die kirschrote Feuerstelle des Polyäthylenkochers zu. Das Äthanol explodierte in blauer Flamme, das Kirschrot des Kochers wurde zu Orangerot, zu Orange. Die Explosion riß ihn einen Augenblick später auseinander, und die Flammen wurden durch einen einzigen gigantischen Windstoß ausgepustet. Reparaturmaschinen bespritzten den heißen Schutthaufen und tasteten nach Platten. Als ihre Brandbekämpfungsflüssigkeit auf dem Wrack zu zischen aufhörte, kamen die Menschen heraus und kletterten hinüber, zwängten sich zwischen phantastischen Türmen und Buckeln aus Polyäthylenschaum hindurch, vorzeitig ausgestoßen und zur Unzeit abgekühlt; von der obersten Stelle aus konnten sie das gelobte Land sehen: flache Kulturentanks mit Hefe, die unbesiegbar unter Bogenlampen arbeitete, Eiweiß herstellte, brauchbare, vielseitige Langkettenmoleküle, und nährend dazu. Vorerst war ihr Nahrungsproblem gelöst. Um es zu überwinden, hatten sie dem Doppelplaneten binnen Stunden einen Schaden von hundert Jahren zugefügt; sie waren ausgezeichnete Mäuse.
Durch den Kristall bebte die Erkenntnis, daß dies ein Problem jenseits des Intellekts war: Was sollte man von Wesen halten, die Maschinen waren, im Unterschied zu Wesen, die lebten? Die, Logik allein konnte keine Unterscheidung liefern. Auf grober Ebene – oh, was für ein Unterschied zwischen einem Hebel und einem Poeten! Aber die Logik hörte nicht mit Hebeln und Dichtern auf. Die Logik betrachtete den Unterschied zwischen
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einem sich selbst programmierenden Computer und dem mikroskopisch aufgezeigten Netzwerk elektro-chemischer Rückkopplungsprozesse, die, grob gesprochen, ›ein Dichter‹ genannt werden konnten, und fand den Unterschied geringer. Man konnte die Logik auch nicht daran hindern, zu noch ungebauten Maschinen weiterzugehen, zur vorstellbar kompli ziertesten Maschine, fähig der Wahl, selbsterzeugend, vielseitig mit Gliedern und Umsetzern, und sie mit einer ungeschriebenen Beschreibung zu vergleichen, der erschöpfendsten Beschreibung eines ›Dichters‹, die sich herstellen ließ, wenn man berücksich tigte, daß er im Grunde nur aus Input, Schaltungen und Output bestand. Auf dem Typenschild einer Maschine und auf der Stirn eines Poeten mochte mit derselben Gerechtigkeit ›Ex nihil nihil fit‹ geschrieben; aus nichts wird nichts. Man wird von der Umwelt mit Sinneseindrücken bombardiert, und es geschieht etwas, bei Maschine wie Mensch. Man bringt ein Pfund Kraft an das lange Ende eines Drei-zu-Eins-Hebels; er produziert drei Pfund Kraft – über eine kürzere Strecke. Man bringt Reisebe schreibungen in Karl May; er produziert ›Durch die Wüste‹. So einfach! So falsch. Der Schneekristall bewegte sich in seinem Tank, wissend, daß es falsch war, aber nicht, warum oder wie. Er beschloß – eine seltene Entscheidung –, sich für eine Zeit in seine acht Persönlichkeiten aufzulösen. Für Glenn Tropile war es schwerer als je zuvor. Es gab ihm einen Riß und den seltsamen Eindruck, blind geworden zu sein – obwohl seine eigenen zwei Augen die trübe Nährflüssigkeit, seinen verformten Zehennagel, das Gewirr von Drähten und die Schalter in seinen rosigen, runzligen Händen sehen konnten. Salzgehalt der Nährflüssigkeit regulieren, dachte er. Durch sein Denken huschten erschreckend die Ionen-AustauschGleichungen, die das Runzeln erklärten – ein Nachklang des endlos analytischen Lebens im Kristallgefüge. Django Tembo meldete sich natürlich als erster.
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Kinder, sagte er, ich kenne kein Zögern mehr. Ich habe kein Mitgefühl mehr für diese Eindringlinge, die Pyramiden; sie waren schlechte Diener und Rebellen. So etwas darf nie geduldet werden. Krieg bis zum Tod heißt die Losung. Denn der Schnee kristall hatte als die vielleicht vernünftigste Lösung des Problems einen Modus vivendi mit den Pyramiden erwogen. Es gab ein lautloses Murmeln der Zustimmung. Wo hier? fragte Willy und begann zu weinen. Ruhig Willy, beschwichtigte ihn Mercedes van Dellen. Es ist schon gut. Wir sind deine Freunde. Willy steckte den Daumen in den Mund, ohne seinen Schalter loszulassen, und war zufrieden. Warm hier. Gut hier. Überraschenderweise meldete sich als nächste Kim Seong: Wir sollten mit dem Burschen unter dem Nordpol, dem grünen Kerl mit den vielen Armen, sprechen. Er ist älter als wir alle. Er ist tot! sagte Tropile erstaunt. Muß schön sein, solche Gewißheit zu haben, meinte sie trocken. Ich habe natürlich keine Ahnung davon, weil ich kein Mann bin. Ich weiß nur, daß man auf alles gefaßt sein sollte. Ich glaube, es tut ihnen leid, daß sie alle ihre Leute umge bracht haben, sagte Alia Nawora. Ich glaube, sie versuchen, diesen wieder ins Leben zurückzurufen, deshalb ihre ganzen Bemühungen. Ich glaube, sie wollen ihm sagen, daß es ihnen leid tut. Nein, nein! rief Corso Navarone. Du verzeihst zu schnell. Es sind Bestien. Sie foltern ihn. Tod den Ungeheuern, sage ich, und dabei bleibe ich! Wenn er seine Arme hätte verschränken können, hätte er es getan, aber die Drähte hinderten ihn. Spyros Gulbenkian sagte: Wir wollen die Lage betrachten, meine Freunde. Wir sollten sie treffen, wo wir können. Unsere Tiefschläge haben sich als erfolgreich erwiesen. Unsere guten Leute von der Erde haben die Reparaturmaschinen mit Aufgaben
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überhäuft, die weit über ihre programmierten oder mechani schen Fähigkeiten hinausgehen. Bald werden an die hundert Frauen Kinder bekommen. Die zweite Generation, meine Freunde! Sie brauchen nur in dreizehn oder vierzehn Jahren zur geschlechtlichen Reife heranzuwachsen, und dieser Planet ist zum Untergang verurteilt! Aber ich werde zu dramatisch. Die Erdbewohner werden sich vermehren, sollte ich sagen, und die Pyramiden und ihre Maschinen werden nicht mehr mit ihnen zurechtkommen. Die Zeit ist auf unserer Seite – was für ein Luxus, wenn ein alter Mann das sagen kann! Mißverstanden, unverstanden werden sie sich in ihrer unschuldigen Art auf dem Planeten ausbreiten. Sie werden Sedimentkessel leeren, um neue Hefezellenkulturen zu schaffen, ohne zu bedenken, daß sedimentdurchsetzter Koks minderwertigen Stahl erzeugt, aus dem die Pyramiden ihre Geräte herstellen lassen. Sie werden feststellen, daß eine Höhle gut bewohnbar ist, was Temperatur und Feuchtigkeit angeht, nur, daß Chlorgas hindurch geblasen wird. In ihrer Unschuld werden sie den Ventilator lahmlegen, der das Chlor hineinbläst, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, daß dieser Mangel an Chlor für einige Zeit die Produktion von Neopren auf diesem Planeten unterbindet, ohne das keine ölbeständigen Dichtungen hergestellt werden können. Das schwache Fleisch! Das schwache, von Hunger und Nachkommenschaft getriebene Fleisch! Wie wird das schwache Fleisch unter den Maschinen wüten! Ich warte aber keine hundert Jahre, fauchte Tropile. Worauf? fragte Gulbenkian ruhig. Auf – auf – Er wußte es nicht. Er sagte es beinahe als Frage: Um wieder ein Mensch zu sein. Auf der Erde zu gehen… mein Gott, was tun wir? Willy begann vor Angst zu weinen. Mercedes van Dellen beruhigte ihn. Was tun wir? fragte Tropile noch einmal mit erzwungener Ruhe. Wir haben unsere Freunde von der Erde fortgerissen und
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sie als Ungeziefer zu unserer Bequemlichkeit losgelassen. Wir waren kein Gott, sondern ein Teufel! Wie beim Kippen eines Kaleidoskops hatten sich die Ereignisse vor seinen Augen verändert. Die stetige Gewißheit des Schneekristalls, der nichts als Aufgaben und ihre wirtschaftliche Erfüllung kannte, war zur unmenschlichen Starrheit einer Maschine geworden. Wir waren eine Maschine! rief er. Wir waren es ebensosehr wie die Pyramiden. Es war keine Seele in uns, kein Mitleid. Ja, sagte Alia Narowa betroffen. Wie konnten wir das tun? Gulbenkian lachte leise über die Sackgasse. Django Tembo sagte schlicht und verwirrt: Stärke ist besser als Schwäche, Freunde. Gemeinsam sind wir stark. Was gibt es noch zu sagen? Wer kann jeden Schritt so lenken, daß er niemals eine Ameise zertritt? Ihr bekommt mich da nicht mehr hinein, sagte Tropile. Mich auch nicht, erklärte Alia Narowa. Das könnt ihr nicht tun! schrie Corso Navarone. Alia Narowa, die ich liebe, Glenn Tropile, mein vertrauter Begleiter, Deserteu re? Niemals! Ich denke genauso, sagte Spyros Gulbenkian voll Interesse. Ich meine, richtig zu denken, mit dem Hirn und nicht mit den Drüsen – verzeih, Corso. Wie wollt ihr denn desertieren? Ich glaube, wir können euch sozusagen aufsaugen, wenn wir wollen. Versucht es! zischte Tropile. Versucht es! wiederholte Alia Narowa. Wenn Willy nicht wäre, sagte Mercedes van Dellen bedauernd. Er wäre verloren ohne uns Kim Seong meinte erfreut: Ich schaue nur zu. Ein schöner Kampf zwischen Narren gefällt mir. Er vertreibt die Langeweile.
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Tropile und Alia Narowa spürten, wie der Angriff von Django Tembo ausging; er kam in Form von falschen Erinnerungen, die sich in ihre Gehirne einschlichen. Gleißende Wüsten aus Sand und Fels, die mit verschneiten Steppen verschmolzen, der Tod des letzten Elefanten auf der Erde, Tembos Totem, in den Straßen von Durban, als das alte, elfenbeinbeladene Tier in die Knie brach und ächzend umfiel… Princeton und Gala verblaßten in Tropiles Gehirn, Nizza und der alte, blinde Mann in Alia Narowa. Die wilden, wirren, aufgeblähten Gedanken Corso Navarones mahnten sie, tapfer, stark, vereint, ritterlich, würdevoll zu sein wie er. Spyros Gulbenkian bedrängte sie mit jenem Tag in Paris vor sechs Sonnenzyklen, als er die Zolltorli zenz an der Neunten Brücke gewann, die Grundlage seines Reichtums; mit der Nacht in Frankfurts Haus der Fünf Regeln, als er die Wand sprengte, damit sein Hauptbuchhalter entkommen konnte – er war natürlich als Wolf angeklagt gewesen, mit einem Nachmittag zwischen den Tatzen der Großen Sphinx, als er und ein Händler namens Shalom afrikanisches Korn gegen französi sche Zuckerrüben tauschten. Mercedes van Dellen: Armer Willy! Er versteht nichts, aber er fühlt sich wohler, wenn wir alle zusammen sind. Er vergißt, daß er nichts versteht. Vielleicht bessert sich sein Zustand. Glaubt ihr nicht? Vielleicht denkt er ein wenig klarer, bis wir das nächstemal herauskommen. Wäre das nicht schön? Glenn und Alia, wollt ihr nicht um des armen Willy willen nachgeben? Dann ergriff unerwartet Willy das Wort: Ihr solltet lieber etwas tun. Ihr habt einen Fehler gemacht, als ihr in die Pol-Bibliothek durchgebrochen seid. Dafür seid ihr noch nicht stark genug gewesen. Ihr konntet nicht Bescheid wissen. Willy! schrie Mercedes in ungläubiger Freude. Der Angriff auf Tropile und Alia Narowa kam zum Stehen. Willy sagte: Nein. Nicht Willy. Es tut mir leid – ich mußte ihn töten, sozusagen. Er wird nicht wiederkommen. Ich bin, was eure Freundin ›den grünen Kerl mit den vielen Armen‹ genannt hat.
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Hab’ ich’s nicht gesagt? meinte Kim Seong. Ja, Madame, sagte der neue Willy. Ihre Sorte gab es bei uns auch. Es war eine interessante und schöne Welt, jedenfalls so lange, bis wir sie nur noch zum Wohl der Maschinen in Gang hielten und zuließen, daß die Maschinen sie zu ihrem eigenen Wohl beherrschten. Wie kannst du unsere Sprache sprechen? fragte Corso Navaro ne kleinlaut. Wir hatten mehr als zweihundert Sprachen, sagte Willy wehmütig, manche für das eine, manche für anderes gut. Wir mußten sie alle kennen. Eine Sprache mehr – was für eine Rolle spielt das? Wir waren klug. Gott, waren wir klug! Hört mir jetzt zu. Ihr habt eine Katastrophe ausgelöst, als ihr in die Bibliothek durchgestoßen seid. Sie konnten es vollkommen verstehen. Die Omniverter – Pyramiden nennt ihr sie – haben auf die Ankunft des einen gewartet, den sie auf eurem Planeten stationiert hatten. Er ist angekommen. Alle acht Omniverter sind jetzt unterwegs zu eurem Tank, um ihn persönlich und gründlich zu zerstören. Ich wünsche euch Glück. Ihr seid keine reizlose Rasse. Hilfst du uns? fragte Gulbenkian schnell. Ich kann nicht, sagte das Wesen. Ich bin tot. Und so verstanden sie es vielleicht doch nicht so ganz.
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Danach gab es kein Weigern mehr. Tropile und Alia Narowa glitten eilig in das Gesamtbewußtsein und bedauerten nur, daß verloren war, was hätte sein können. Es ging um das Überleben. Ihre Hände drehten und schüttelten die Schalter, nahmen Netzwerke von Kabeln, ein Dutzend Generatoren, hundert Mikrophone und Augen auf dem ganzen Doppelplaneten in Betrieb – das erste Annäherungs-Netzwerk, das dem Schneekris tall ein schnelles, undeutliches Bild von jeder umfassenden Störung lieferte. Spionboxen am Äquator sagten ihnen, daß sich die acht Pyramiden genau dort, auf dieser fiktiven Linie, befanden, in gleichmäßigen Abständen um den Planeten verteilt. Die Boxen meldeten ferner, daß sich die Pyramiden auf der nackten, wirren Oberfläche des Planeten aufhielten, ganz ungewöhnlich, und daß von jedem ihrer Scheitelpunkte nach rechts und links eine unerklärliche Linie verlief, die alle Scheitelpunkte zu einem gigantischen Achteck vereinigte. Die Äquatorial-Spione starben in diesem Augenblick, und über ihre Kabel fauchte eine beinahe tödliche Ladung in den Nährtank. Die Kabel verdampften jedoch in Äquatornähe, bevor der Schneekristall sterben konnte. Es dauerte Minuten, ein zweites Annäherungs-Netzwerk in Betrieb zu nehmen, lokalisiert und von feinerer Wahrnehmung. Der Schneekristall sah nun die Pyramiden, die sich langsam nach Süden bewegten, und sah das gleißende Band, das sie zusammenkettete. Es war nahezu unsichtbar, wenn es durch die luftleere Oberfläche glitt; es glühte blau, wo es die Wölbung des Planeten durchschnitt, bevor es wieder auftauchte. Instrumente berichteten dem Kristall vor ihrem Tod von der Natur der Verbindung. Das Oktogon war zu rohem Schöpfungsstoff erhitzt worden, heißer, als irgendein flüssiger, fester oder gasförmiger Stoff sein konnte. Es war ein Plasma aus nackten Elektronen und Deuteronen, und das Plasma war durch Magnetfelder, von den Pyramiden erzeugt, zu einem bleistiftdünnen, röhrenförmigen
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Plasmoid geformt worden. Die Temperatur des Stoffs betrug hundert Millionen Grad, der Druck zweiundzwanzig Millionen Pfund pro Quadratzoll; die an die Magnetröhre prasselnden Teilchen wurden um eine Achse in Rotation versetzt, die in einem rechten Winkel zum Feld stand. Die Teilchen konnten nicht entkommen, aber ein Teil ihrer Strahlungsenergie. Bei hundert Millionen Grad fand im Plasmoid ständig Kernverschmel zung statt und setzte Energie im Sonnenmaßstab frei. Während der Achteck-Gürtel um den Planeten langsam nach Süden wanderte, verflüssigte sich aller Stahl, dem er begegnete, Kupfer verdampfte. Die Fernlenkaugen des Schneekristalls erloschen. Es war deutlich, daß die Pyramiden die Hälfte ihres Planeten ausradierten, um die andere Hälfte zu behalten. Es war klar, daß die südliche Halbkugel für alles, was die Pyramiden verstehen konnten, unbewohnbar gemacht wurde: Drähte, Relais, Generatoren, Elektronenröhren, Transistoren, Thermistoren, Transformatoren, und alles, was völlig von ihnen abhing. Anschlüsse wurden zerstört, Netzwerke hörten auf zu funktionieren, das Leben, wie sie es kannten – und das schloß Komponenten und den Schneekristall ein –, würde ausgelöscht werden. Leben, wie sie es nicht kannten, ging weiter.
Roget Germyn röstete Hefefladen über einem kleinen Feuer Alkohol in einem abgerissenen Schmiernapf, Docht aus Isolierfaser einer heißen Röhre. Alkohol gab es im Überfluß, aber niemand trank ihn noch. Erst drei Tage später wußte man nämlich, ob es Äthanol oder Methanol gewesen war. Dann wurde man blind und starb – wenn es Methanol gewesen war. Dieser Unterschied zwischen unschädlichem Alkohol und seinem tödlichen Vetter hatte ein Dutzend sorglose Männer und Frauen hingerafft. Der Stamm war bereits um die Hälfte geschrumpft; ein paar Helden wie Muhandas Dutta waren tot, die anderen waren Schwächlinge von der einen oder anderen Sorte gewesen, Leute, die es nicht fünf Tage ohne Nahrung und Wasser
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aushielten, Leute, die sich mit zweifelhafter Hefe vollstopften, weil sie nicht allzu übel schmeckte, Leute, die keine Mauern erkletterten, keine weiten Sprünge über Risse machen, nicht verhindern konnten, daß sie Stromschienen berührten, Leute, die sich wegen Reis oder Ehefrau oder Sonnenuntergangswolken zu Tode trauerten. Roget Germyn war zu beschäftigt, um zu trauern, also lebte er weiter, kein Theoretiker, nicht sehr intellektuell, aber stolz auf einen vollen Bauch, auf eine starke Frau, darauf, wachzuwerden und ein paar zusätzliche Minuten auf einem Bett aus Polyu rethanschaum liegenzubleiben, das einer Schleifmaschine als Prellkissen gedient hatte. Er nahm für sich die dritte Kommando stelle in Anspruch, nach Haendl und Innison, und alle akzeptier ten das. Oberhäuptling Haendl trat zu ihm ans Feuer, einen Eimer aus einem Stück Thermoplastik in der Hand, das durch Hitze geformt worden war. Er war mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt, und das Feuer brannte nur noch schwach. Germyn steckte automa tisch Daumen und Zeigefinger in die Flüssigkeit, rieb sie aneinander, hob sie an die Nase, um daran zu schnuppern und mit der Zungenspitze zu berühren. Es dauerte nur eine halbe Sekunde und war eines der Dinge, von denen das Überleben abhing. Die unbewußte Entscheidung lautete: in Ordnung. Es wird das Feuer nicht ersticken und auch nicht explodieren. Er nickte Haendl zu, und Haendl goß die Flüssigkeit vorsichtig in den Napf; die blaue Flamme loderte höher vom weißen Docht, und die handgeklopften Hefefladen brutzelten an ihrem Drahtspieß. Haendl hatte nun Anspruch auf einen davon, sobald sie fertig waren. »Vielleicht ist das der letzte Alkohol«, meinte Haendl. »Wieso?« »Ich habe am Gelenk eine Rohrleitung aufgeschlagen und den Eimer vollaufen lassen. Eine Maschine kroch heran, dann begann sie sich plötzlich zu drehen.«
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»Das habe ich noch nie gesehen.« »Ich auch nicht. Dann kam die Maschine zum Stillstand. Tot. Der Motor lief nicht mehr. Und aus der Leitung lief kein Alkohol mehr.« Der Doppelplanet war kein ruhiger Ort. Gewöhnlich leisteten in Hörweite schwere Maschinen Arbeit, die mit einem Brummen oder Rattern verbunden war. Während sie beieinander saßen und sich die Fladen teilten, verstärkte sich der Lärm. Sie sprangen nicht auf, sagten nicht einmal etwas, sondern kauten einfach. In den vergangenen Monaten hatten die Überlebenden gelernt, außer für das Überleben keine Energie zu vergeuden. In der ganzen Hefekessel-Kammer, die sie bewohnten, achteten knapp über dreihundert Ex-Bürger kaum auf den Lärm, aßen, schliefen, leerten die Kessel, formten ihre Fladen, entzündeten ihre Feuer, stellten ihre Werkzeuge aus Abfällen und defekten Maschinentei len her. Die für die Photosynthese verwendeten Tageslichtlampen erloschen plötzlich, und es gab Angstschreie, bis sich die Augen an das schwache Licht der chemisch leuchtenden Deckentafeln gewöhnt hatten. Dann kam die Hitze. Die Nordwand begann zu glühen – rußig rot, heller, orangefarben, zitronengelb, blau, blauweiß – und ein Ding, das aussah wie ein heißer Draht, glitt heran und schwebte im Schrittempo über ihren Köpfen hinweg. Die gegenüberliegen de Wand gleißte blauweiß, als das Plasmoid darin verschwand, und dann war es still, abgesehen von einem verklingenden Poltern im Süden. Bald erstarb auch das. Die Deckentafeln glommen unverändert auf Hefekessel, die trockengebrannt waren, auf Kunststoff, der geschmolzen und zerronnen war, und auf dreihundert liegende, stumme Gestalten. Einer nach dem anderen regte sich und hob den Kopf. Manche
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waren vorübergehend blind; alle hatten große Verbrennungen ersten Grades erlitten, aber es gab keine Strahlenkrankheit. Kernverschmelzung ist heiß und sauber. Betäubt zogen sie sich an den Rändern der Hefekessel hinauf, um in die verkohlten Tiefen zu starren. Einer nach dem anderen wandte dem verklingenden planetarischen Rumpeln den Rücken zu und schleppte sich nach Norden. Sie hatten Hunger, und es gab keine Nahrung hier oder im Süden, also zogen sie nach Norden. Sie waren Leben, wie es die Pyramiden nicht kannten, also waren sie durch den cordon sanitaire der Pyramiden gelangt, wie der Schneekristall es niemals konnte. Der Schneekristall trat den Rückzug an. Er besaß einen Fluchttunnel zur Oberfläche, und er kroch den schrägen Tunnel auf Raupenketten hinauf. Er war inzwischen das Herz eines immensen Aggregats: Panzerung, Reserve-Nährbad, Kreislauf pumpen, Energiequellen für die Pumpen und ihre weitreichenden Sinnesorgane und Manipulatoren. Er hatte die Größe einer Pyramide, war aber nicht so beweglich. Er erreichte die Oberfläche und kroch langsam südwärts, umging Schrotthaufen und Abgründe. Die beiden Nervenleitungen, die er besaß, waren eine Verbindung mit einem einfachen Auge und Ohr im Norden, das den Fortschritt des achteckigen Kordons verfolgte, und die Verbindung zum Süden, wo Manipulatoren Platten aus Kristall und Gold wendeten, damit die Augen des Schneekristalls sie in der Pol-Bibliothek lesen konnten. Der Kristall zog sich zurück und las. Mit Gefühlen ausgestattet, hätte er die typische Nachlässigkeit der ›grünen Kerle mit den vielen Armen‹ verflucht; die Platten waren ungeordnet und lagen wild durcheinander. Ohne Gefühle, aber mit Verständnis, begriff er, daß das eine Folge der schwachen Vorkenntnisfähigkeit der grünen Wesen war. Jede Platte, nach der sie griffen, würde auf irgendeine Weise die richtige sein – weshalb also ein Register? Der Schneekristall beging nicht den Fehler, zu unterstellen, daß mächtigere Wesen als die Menschen damit auch schon allmächtig sind.
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Er stolperte bei seinem Rückzug über ein vielversprechendes Buch: die Manipulatoren drehten seine Platten unter den Fernsehaugen: ›Traktat über die Strategie beim Gebrauch von…‹ Unverständlich. Aber Strategie! Der Schneekristall las das Buch in fünf Minuten. Die Strategie hatte den Charakter von weißem Stock und Blindenhund – zu gebrauchen von bedauernswerten grünen Wesen, die Unfall oder Krankheit der Telepathie beraubt hatte. Die Platten aus Kristall und Gold flogen in eine Ecke; die geschäftigen Finger kramten wieder in den Bücherstapeln. ›Mathematische Ästhetik der Ei-Verehrung, Erste Stufe.‹ Fünf Minuten zum Lesen; nichts als eine alte, auf sieben Punkten beruhende Schilderung der Riten, und ›unsere unvermeidliche menschliche Neigung, zu polarisieren, die wir auch unseren Maschinen mitgegeben haben -‹ ›Befruchtung als Kunstform‹. Sie rangierte unter ›Raum-ZeitElektromagnetischen-Gefügen‹ und über ›Vorahnungstraining‹ - aber nur als Kunstform. Man ging eindeutig davon aus, daß es als nicht-intellektuelles Erlebnis nur hinter dem Höchsten, dem gewollten Tod, zurückstand. ›Die vormaschinelle Kultur auf…‹ Es folgte der Name eines Planeten irgendeiner Sonne. Amüsante kleine Burschen; man beneidete sie um ihre Schlichtheit, ganz zu schweigen von ihrer geringen Unfallrate. ›Ist Polarität ein Kunstbegriff?‹ Im nackten Universum als Gegensatz zu dem vom Geist des Menschen geordneten Universum gab es keine Polarität. Und doch hatte das Universum durch die Evolution den polaren Geist des Menschen mit seinen Nervenzellen, den informierenden Augen, die entschieden, daß Dinge entweder hell oder dunkel waren, statt genau die Protonen zu zählen, geboren. Das Universum ließ es zu, daß es in Abstraktionen zerlegt wurde, manipulierbar durch Doppelbegriffe mit ihrer eindeutigen Zweiheit. In Metasprache -
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Die Metasprache war nahezu unverständlich und lediglich eine Einführung zu einer völlig unbegreiflichen Abhandlung in MetaMetasprache. ›Architektur für Menschen und ihre Omniverter.‹ Dieses, goldene – eigentlich ›palladische‹, denn sie liebten den harten, schwärzlich-silbernen Glanz des Elements 46 mehr als die fettige Struktur des Goldes – Zeitalter von Muße und Schöpferkraft… neu und herausfordernd… traditionelle und siebenfach begründe te Ästhetik der Ovoide mußte entweder aufgeben oder sich mit den neuen Forderungen überlegen vielseitiger Maschinen vereinigen… der Omniverter als Blüte des mechanischen Genies unserer Rasse… einige Kompromisse unumgänglich, um ästhetische Einheit zu erzielen… Erweiterung der Wege über jeden bisher vorgestellten Maßstab hinaus, damit der Verkehr nicht ersticke… Omniverter-Zuflucht-Nahrungs-Zelle für jede Befruchtungsgruppe… Hoffnung, daß die für das beinahe symbiotische Leben von Menschen und Maschinen rational und großartig geschaffenen Bedingungen die Unfallrate auf ein Mindestmaß herabdrücken, die bislang als unvermeidliches Werkzeug des Fortschritts galt… ›Omniverter-Sicherheitshandbuch‹. Der Omniverter ist trotz seiner erstaunlichen Vielseitigkeit nicht vernunftbegabt. Die 7. Konferenz über Omniverter-Sicherheit kam zu dem Schluß, daß das Versäumnis, diese Tatsache zu erkennen und dementspre chend zu handeln, der Grund für die hohe und steigende Unfallrate ist. Mit Untertönen von Blasphemie ist sogar vorgeschlagen worden, das Ei-Verehrungsritual, Stufe Zwei, zu ändern und die Grundlagen der Omniverter-Sicherheit einzu schließen, um den Ernst des Problems zu betonen… ›Omniverter-Ideenbildung: eine Diskussion‹. Pro – das charakteristisch polare Verhalten aller Omniverter. Sie legen sich eine Aufgabe grundsätzlich so zurecht, daß sie die Grenzen bestimmen und sie ausfüllen, ob sie eine Nährstations-Fabrik bauen oder eine Straßenverbreiterungsmaschine. Kontra – hier handelt es sich lediglich um die Folgen binärer Begriffe bei ihrer
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Konstruktion. Beides sehr ausführlich dargestellt. Schlußfolge rung des Vorsitzenden, humorvoll – leider können wir keinen fragen, ob diese Eigenschaft mit der Idee der Polarität zusam menhängt oder ein bloßer Reflex ist. Sitzung geschlossen. ›Aufstieg und Untergang der Omniverter-Bewegung.‹ Omniverter-Pyramiden – das maßgebende Geschichtsbuch! Zehn Minuten für die Lektüre. Einfache Halbleiter-Geräte mit vielen Vorteilen gegenüber bruchempfindlichen, heißlaufenden Elektronenröhren. Größer, immer größer, besser, immer besser. Der unausweichli che Traum vom Roboter: ihn wirklich ganz groß zu bauen, ein schönes, festes Knäuel von Transistoren, die eifrig arbeiten, Fabriken betreiben, sich selbst versorgen, sich heilen, die Jungen pflegen – Kinder, wir haben es geschafft! Das ist ein Leben; wir haben die Muße, größere und bessere Omniverter für jeden zu bauen, auf Omnivertern zu sitzen, statt selbst zu gehen, Ackerland auf der Suche nach Germanium und Caesium aufzuwühlen, um größere und bessere Omniverter herzustellen. So gut haben wir es noch nie gehabt, abgesehen von den unvermeidlichen Omniverter-Unfällen, ein Tribut, den der Fortschritt einfach verlangt. Tatsächlich nehmen die Hinweise darauf zu, daß die bei den Unfällen verletzten Personen sich die Unfälle praktisch gewünscht haben, so daß wir also nichts zu unternehmen brauchen. Jemand bewies, daß die Unfälle keine Unfälle, sondern Mord gewesen waren. Alle hielten ihn für verrückt, bis drei Omniverter seine Verteidigungsanlagen überrannten, um ihn zu holen. Die grünen Wesen waren keine Narren. Es gab ein sofortiges, planetenweites Embargo gegen Omniverter unter großen Kosten an Bequemlichkeit und sogar Hunger. Alle OmniverterNährstationen wurden zerstört; eine nach der anderen wurden die mürrischen Maschinen langsamer, kamen zum Stillstand und wurden demontiert. Die Welt stellte sich mit schmerzenden Muskeln um; alles war gut; alle vorhandenen Omniverter waren erfaßt, bis auf die acht Sondermodelle für interplanetarische
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Erforschung, seit langer Zeit verloren, vermutlich beim Absturz in die Sonne. Was das Geschichtsbuch nicht mitteilte, war, daß die acht Spezialmodelle zurückgekommen waren, aber das wußte der Schneekristall schon. Das ungeschriebene letzte Kapitel des optimistischen Buches handelte nur von der Rückkehr. Die acht Omniverter sanken herab, erkannten, daß es keine Nährstatio nen mehr gab, daß sie angegriffen wurden, daß außer ihnen auf dem ganzen Planeten kein Omniverter mehr existierte. Sie machten sich daran, die Menschen mit Elektronenstrahlen zu vernichten, verwendeten heiße Plasmoide und direkten Druck. Als dies getan war, bauten sie in aller Ruhe ihre Versorgungssta tionen, Geräte, die diesen Stationen dienten, und Geräte, die diese Geräte versorgten, bis die letzte Ironie erreicht war, als Menschen zusammengeschlossen wurden, um den Maschinen zu dienen. Die Pyramiden waren menschlich genug, kein Ende finden zu können, und menschlich genug, einen Ort zu erhalten, der ›fas‹ war, der als Talisman alles Gute in sich barg, und zwar am Nordpol, und eine Stelle, die ›nefas‹ war, gefährlich, gefürchtet, am Südpol. Und der gefährliche Ort war wahrhaft gefährlich; er hatte den Hinweis auf die Versorgungsstationen enthalten. Diese großen, dreiseitigen Kammern am Äquator waren also das ein und alles des Planeten voller Plunder. Auf sie zielten die Rohrleitungen der metabolischen Produkt-Gebiete. Auf sie zielten die Antriebsaggregate, die den Planeten bewegten. Auf sie zielte der Troß um die Flotte von Raumschiffen, welche die Sonne erneuerten. Auf sie zielte die Planungs- und Programmierungs maschinerie mit ihren Komponenten, die den Bedarf an Energie und Material der miteinander wetteifernden Systeme abfragten und stillten. Das Fernsehauge des Schneekristalls im Norden meldete, daß sich das Oktogon kurz aufgelöst und in ein unregelmäßiges Siebeneck verwandelt hatte – eine Pyramide näherte sich. Wie konnte ein Sekundenbruchteil von Bedeutung sein, bei ihrer
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globalen Vernichtungsaktion? Einer der Spinnen-Spione, nahezu blind wartend, programmiert, Selbstzerstörungen vermeiden, raste in dem Augenblick zwischen Achteck und Siebeneck nach Norden, als blaue Flammen seinen Weg nicht versperrten. Dankbar erreichte er das Fernsehkabel, schloß sich an und entlud sich seines magnetischen Gedächtnisses. Seine Botschaft lautete: Die Menschen haben überlebt; ich habe sie die Hitze überstehen und nach Norden gehen sehen. Das Gesamthirn löste sich sofort in seine Einzelteile auf. Wer von uns geht? fragte Django Tembo sofort. Meine Aufgabe, erwiderte Tropile. Die Mehrheit der Überleben den ist von meinen Leuten, der Princeton-Gruppe. Es wird Zeit, sie an den Hubschrauber und die Sprengstoffe heranzulassen. Her mit den Knochenklempnern. Die Worte kosteten ihn, was es einen normalen Verstand gekostet hätte, den Abzug einer tödlichen Waffe durchzuziehen oder, über einem Abgrund hängend, loszulassen. Sie diskutierten nicht mit ihm, obwohl ein Siebtel von ihnen starb. Die neurochirurgische Maschine, mit glitzernden Metallhänden, die sie vereinigt hatte, war Teil ihrer umfassenden Ausrüstung. Ein Schlauch aus ihr schob sich in seine Nase, blubberndes Gas, das ihn gegen Schmerzen feite. Er lallte ein betäubtes Lebewohl, bevor ihn Schlaf umfing, der erste Schlaf seit seinem Erwachen vor sechs Monaten. Was von Willy übriggeblieben war, erklärte dem Rest des Schneekristalls: Ich kann nicht viel tun, aber ich kann die Verbindung zwischen euch und ihm aufrechterhalten, bis – Wir danken dir, sagte der Schneekristall. Du brauchst nicht verlegen zu werden. Das Denken des grünen, mit Fühlern versehenen Ungeheuers bebte.
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Ihr seid zwar nicht menschlich, klagte er. Immerhin, um eine alte Rechnung zu begleichen – Wir verstehen.
17 Ihre Haut war zerfetzt und von Blasen übersät. Sie bestrichen ihre Wunden mit Glyzerin. Bevor sie in den Nordsektor des Bereichs für metabolische Produkte eindrangen, hatten sie zu einem gräßlichen Notbehelf gegriffen, um zu überleben. Dem Verhungern nahe, erreichten sie ein Computerzentrum, wo Hunderte menschlicher Körper in einzelnen Nährtanks schweb ten; aus den Schläfen drangen Drähte. Einige der Körper erkannten sie – hier ein Vetter, dort ein Meister. Einer der wenigen überlebenden Narren sprengte einen Tank und trank. Flüssigkeit aus seinen hohlen Händen. Sie ließen es zu. Er starb nicht, also fielen sie wie die Wilden, die sie waren, darüber her und leerten die Tanks. Die Nährflüssigkeit versorgte sie und erneuerte erstaunlich schnell ihre versengte Haut. Nach einem Tag war alles aufgebraucht, aber sie zogen erfrischt weiter und zogen es vor, nicht daran zu denken, was sie in den trockenen Tanks zurückgelassen hatten. Und einen Tag später hatten sie sich wieder in einer Hefeerzeugungsanlage eingenistet, hatten Wasser- und Alkoholleitungen unterschieden und lebten wieder. Der Fremde, der einen Tag darauf in den großen, taghell erleuchteten Raum taumelte, war nicht sofort zu erkennen. Er war so verbrannt wie sie alle; Frauen kreischten, als sie ihn sahen. Sie hielten ihn für einen – für etwas aus einem der geschändeten Nährtanks. Aber er murmelte immer wieder mit aufgesprungenen Lippen: »Tropile. Brauche Haendl. Innison. Germyn.« Sie brachten ihm Haendl.
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»Tropile«, sagte der Wolf, nachdem er ihn angestarrt hatte. »Soll ich dir deine Frau schicken?« »Frau?« fragte der verbrannte Mann. »Wir haben keine Frau. Folgt mir. Uns. Mir.« »Du phantasierst. Einem Fieberkranken können wir nicht folgen«, sagte Haendl beruhigend. »Ruh dich ein paar Tage aus. Wir haben – äh – etwas zur Heilung deiner – « »Bring es. Wir wenden es während des Marsches an. Wir haben vor, euch zu euren Waffen zu führen.« Er sah Haendl in die Augen. Der Mann aus Princeton fuhr mit der Hand an seinem Gesicht vorbei. »Tropile! Du bist Tropile? Ich dachte – ich weiß nicht, was ich gedacht habe.« Über die Schulter sagte er rauh zu Innison und Germyn: »Na? Ihr habt ihn gehört, oder? Treibt die Leute zusammen.« Später, lange danach, versuchte er zu erklären: »Es war, als forderten einen sechs Leute zu einem Boxkampf heraus – sechs gegen einen. Natürlich geht man nicht darauf ein; man wäre verrückt, wenn man es täte. Ich war nicht verrückt, also bestritt ich Tropile nicht das Recht, das Kommando zu übernehmen.« Sie beluden sich mit Hefefladen, zuckten zusammen, wo sie Brandwunden berührten, und folgten ihrem kranken, wirr wirkenden Messias aus dem warmen, hellen Heferaum in die Kälte oder in heiße Tunnels, wo die Luft zu dünn oder zu dick und kaum zu atmen war. Gala Tropile marschierte mit; sie weigerte sich tagelang, zu glauben, daß der Mann Glenn war. Er sah so ähnlich aus wie Glenn, aber er kannte sie nicht; das Höchste, wozu sie sich schließlich durchrang, war, daß er in gewisser Weise Glenn Tropile zu sein schien. Sie glaubte verschwommen, er könne geheilt werden, wenn sie ihn trösten und die seltsamen Narben an seiner Stirn, die keine Brandwun den waren, küssen dürfte.
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Ihr Anführer zögerte nie; sie legten jeden Tag vierzig Meilen zurück. Als er sie in eine Kammer mit 120 Grad Trockenhitze führte, stellte sich heraus, daß man sie gerade noch durchqueren konnte, ohne zusammenzubrechen. Als er sie auf einen Spurt durch einen Spektrophotornetrie-Raum vorbereitete, der zur Erlangung der gewünschten Superleitfähigkeit Weltraumkälte aufwies, vermochte der Schwächste die zwei Dutzend entsetzli chen Schritte gerade noch zu überleben. Aus einem dieser kalten Räume stürmten sie dann in die Sohle eines riesigen Schachts, abgesehen von einem Glasdach, das die dünne Luft zurückhielt. Es war ein Photo-Observatorium gewesen, aber jetzt waren der Spiegel, Photonenverstärker, Spektroskopgitter und Interferometer unter einer Ladung neuer Ausrüstung zerschmettert. Jetzt war das ein Arsenal – das auf den Doppelplaneten verlagerte Arsenal von Princeton. Karabiner, Sprengstoff, ein Panzer, der Kampfhubschrauber, Rationen, Schutzanzüge, Atemgeräte, Sauerstofftanks für den abgebro chenen Angriff auf den Mount Everest. Haendl und Innison machten beglückt Inventur, streichelten Sprengbomben, Landminen und Vier-Kommazwei-Haubitzen. Tropile stand wie eine Fernsehkamera, bewegte langsam den Kopf hin und her und nahm die Szene auf. Schließlich sagte er: »Bleistift und Papier.« Seine Hand schob sich wie ein Maschinen teil vor und wartete unermüdet, bis Papier und Bleistift gebracht wurden. Er glitt mit der Hand über das Papier, und eine Karte entstand; die Striche waren fein gezogen, als habe er nach jedem einzelnen die Bleistiftspitze geschärft, als sei diese von Dreieck- und Kurvenlinealen geführt worden. Er trug Ziele, Anweisungen und Routen ein und gab Haendl das Blatt. Er griff nach einem zweiten. Zwei Bewegungen, und die zweite Karte für Innison war fertig. Dann die dritte für Germyn. Und noch ein Dutzend für Zug-, und weitere drei Dutzend für Truppführer. Er hielt keine erhebende Ansprache an seine Truppen vor der Schlacht; er wartete nur und wirkte abgeschaltet, während seine Kommandeure die Karten studierten.
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Endlich war es soweit. Der Schneekristall, auf seinen Raupen ketten nach Süden kriechend, sandte den Gedanken zu dem Wesen unter der Kristallkuppel, und von dort aus wurde er an Tropile weitergeleitet. Der Kristall erhielt die Empfangsbestäti gung, ließ die linke Raupenkette in Gegenrichtung laufen, drehte sich um hundertachtzig Grad und kroch nordwärts, dem Feuergürtel entgegen. Der Kordon war inzwischen ein Pentagon geworden; Pausen zur Nahrungsaufnahme wurden immer häufiger, da es ungeheure Energiemengen der Pyramiden erforderte, das gigantische Magnetfeld zur Bindung des Plasmoids aufrechtzuerhalten. Signale von den fünf Pyramiden an der Front zu den drei an den Versorgungsstationen – Signale ohne Erregung oder Leidenschaft. Die drei Pyramiden brachen die Nahrungsaufnahme ab und glitten über die verwüstete Oberfläche des Planeten nach Süden, um sich in den Kordon einzureihen und ihn zu verstärken. »Die Versorgungsstationen sind verlassen«, sagte Tropile trocken. »Wir erreichen sie nach unseren Karten. Sprengladun gen werden angebracht, wie vorgezeichnet. Alle Defekte in primären Nahrungsleitungen werden gegen Reparaturmaschinen verteidigt.« Die primären Nahrungsleitungen. Der verwilderte Stamm von der Erde konnte nicht mit Mäusen verglichen werden, die an der Außenseite eines Gebäudes nagen; sie waren Wölfe geworden und wollten dem Bewohner an die Kehle. Sie zogen los, geführt von dem Mann, der von dem Schneekris tall und dem grünen, fühlerbewehrten, leidenden Wesen unter der Kristallkuppel im Norden gelenkt wurde. Das Waffenversteck befand sich eine Meile von den Versorgungsstationen entfernt, die wie Basaltklippen entlang des Äquators aufgereiht waren. In voller Everest-Ausrüstung kletterten sie durch einen schiefen Tunnel zur Oberfläche hinauf und teilten sich in neun Gruppen zu einer Meile strapaziösen Kletterns auf der Plunderwelt. Acht von den Gruppen drangen zu den Stationen vor, speziell zu den Stellen, wo jede Station von einem acht Meter dicken Rohr aus
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gepreßtem Stahl durchstoßen wurde. Die neunte Gruppe unter Germyn und Tropile war unterwegs zu dem größeren Rohr, das aus dem Herz der Anlage für metabolische Produkte heraufführ te, an die Oberfläche trat und sich dann in die acht Stationslei tungen verzweigte. Unterwegs richteten sie die gewohnten Nagerschäden an. Einer trat auf eine Niederspannungsleitung Zentimeter über dem Boden des schräggeneigten Tunnels; der Draht zerriß. Eine Botschaft ohne Dringlichkeit ging hinaus: Draht gerissen. Eine Reparaturmaschine auf Routinepatrouille nahm die Tatsache zur Kenntnis und prüfte ihr Magazin, ob es genug Voltspannung und Stromstärke besaß, um den Defekt zu beheben, genug Polyäthylenkapseln, um die geflickte Stelle zu isolieren. Dann fuhr die Maschine entweder zu einem Lager oder zur Schadens stelle und behob den Defekt. Durchschnittszeit für eine solche Reparatur etwa eine Stunde. Eine Person aus dem Stamm hatte Durst und handelte, wie in solchen Fällen üblich, reflexartig. Sie erkannte eine Wasserlei tung an hundert geheimen Zeichen, die sie von allen anderen Leitungen unterschied – Temperatur, Material, Verarbeitung, Neigung, Lage. Sie sprengte sie an einem Gelenk und marschier te weiter. Das Wasser lief immer noch. Eine dringendere Nachricht ging hinaus: Druckabfall, Wasserleitung gebrochen. Eine schnellere Maschine erschien, um sie zu schweißen; auslaufendes Wasser verursachte Kurzschlüsse, Fäulnis, um sich greifende Störungen. Es war keine besondere Maschine; wenn sie erschien, solange man trank, und tölpelhaft versuchte, einen wegzuschieben und das Rohr zu schweißen, konnte man sie mit einer Hand abhalten, während ihre Raupenketten knirschten und sie schwachsinnig nach dem Rohr zu greifen versuchte. Die Ankunft ließ meist eine Viertelstunde auf sich warten. Es gab eine Regel: Wenn eine Leitung offenkundig die Erzeug nisse mehrerer Leitungen enthielt, wenn sie ein Y oder sonst eine namenlose Figur vieler weiterer Zweigleitungen war und nur
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einen Abfluß besaß, übte man Vorsicht. Wenn man eine solche Leitung beschädigte, erschienen blitzschnell große Maschinen. Je mehr Verzweigungen, desto schneller tauchten sie auf, desto größer und entschlossener waren sie. Man konnte die kleine, dreirädrige Schlossermaschine, die zur Reparatur eines defekten Y-Anschlusses eilte, kaum mit zwei Händen fernhalten. Zwei Männer gemeinsam vermochten den Halbtonner nicht aufzuhal ten, der heranbrauste, um eine geborstene Mehr-Rohrleitung zu reparieren. Öfter als einmal hatte der Stamm Maschinen durch die Korridore dröhnen sehen, mit denen man sich nicht anlegen wollte – Hochgeschwindigkeitsgeräte auf Raupenketten bis zu zwei Tonnen, ausgerüstet mit Räumschilden und riesigen Schneckenbohrern. Man vermutete, daß sie Leitungen überwach ten, die einen dem Endprodukt der ganzen Tätigkeit des Planeten nahekommenden Stoff enthielten. Hauptbestandteil der Pyramiden-Nahrung. Der Germyn-Tropile-Trupp von etwa dreißig Köpfen erreichte sein Ziel. Es war eine Säule von fünfzehn Metern Durchmesser, die sich vertikal vom Gipfelpunkt eines konischen Schlackenhau fens erhob. Sie ragte mit dem Dreifachen ihres Durchmessers in den schwarzen Himmel des Doppelplaneten und wölbte sich dann in einem Winkel von neunzig Grad nach Süden. Spinnen beine aus Stahl stützten sie alle drei Meter paarweise. Sie konnten ihren Endpunkt nicht sehen, wußten aber, daß sie zu einer unzerstörbaren Kugel führte, aus der die unmittelbar zu den Versorgungsstationen führenden acht Zweigleitungen hervorgingen. Planetarische Spannungen, die Fehler defekter Maschinen und die Ermüdung von Material hatten das Steigrohr und die Oberflächenleitung nicht verschont. Im Laufe der Äonen hatte es unvermeidbare Mängel und Brüche gegeben; die Abfälle davon lagen dort, wohin die Reparaturmaschinen sie geschoben hatten. Ab und zu war eines der Beinpaare kristallisiert und gebrochen oder hatte nachgegeben. Die Maschinen waren herangeeilt,
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hatten sie verstärkt und die Leitung geflickt, wo das Material überbeansprucht worden war. Ein großer Flicken auf der Steigleitung selbst und ein zweiter genau gegenüber deuteten auf Meteoritenschäden. Ein ganzer Abschnitt des Rohrs glänzte stärker als das übrige. Das mußte ein Zusammenbruch bei einem der seltenen Beben gewesen sein, vielleicht das letzte Zucken tektonischen Lebens in dem uralten Planeten. Die dreißig Angreifer wollten erreichen, was Meteoriten und Beben nicht gelungen war. Germyn berührte das riesige Steigrohr – berührte es nur, staunend. Die sofortige Folge war ein Rattern von Maschinen aus Osten und Westen; zwei unerkannte Geräte am Fuß des Schlackenbergs, die man für Abfälle halten mochte, regten sich. Ihre Getriebe schnarrten, und purpurrote Quarzaugen hoben sich zu Germyn empor. »Routinemaßnahme«, sagte Tropile exakt. »Das ist die Vorwarnung für Reparatur- und Transportmaschinen mit Defekten. Keiner von uns darf sich schneller bewegen als mit zwei Meilen in der Stunde, sonst wird der zweite Alarm ausgelöst durch Hysteresisströme, die unsere gesamte metallene Ausrüstung rot aufglühen lassen würden. Setzt eure Tritiumblö cke an.« Langsam, ganz langsam, krochen sieben schwangere Frauen und acht Männer den Schlackenberg hinunter, von Sauerstoffge räten, Atemaggregaten und dreißig Pfund Sprengstoff pro Person beinahe zu Boden gedrückt. Eine achte Frau, Gala Tropile, folgte ihnen. Sie schleppte eine riesige Rolle Schnur über der Schulter, wie einen Patronengurt. Sie arbeiteten sich zu den Beinpaaren hinab, die das Rohr stützten. An jedem Beinpaar blieben sie stehen, zogen einen klebrigen Ein-Pfund-Block heraus und preßten ihn an ein Bein. Er blieb haften, und Gala Tropile schob im Vorbeigehen ein Ende der Schnur in ein vorgebohrtes, klebriges Loch, so daß ein Meter Schnur auf den kalten Boden herabhing. Langsam, ganz langsam, verminten sie so eine
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Viertelmeile der Leitung. Sie kehrten langsam zurück und halfen Gala Tropile, die Schnüre zu einem ununterbrochenen Ganzen zusammenzuknoten.
Inzwischen hatten die fünfzehn an der Steigleitung zurückge bliebenen Leute sie umrundet, wie einen Maibaum, und mit dem Schnurmaterial umwickelt. Über die Schnüre klebten sie dann Gegenstände wie Wachssiegel, mit einem Durchmesser von zwanzig Zentimetern. Es waren Klebladungen, merkwürdige Waffen, die den meisten Schaden dort anrichteten, wo sie sich nicht befanden. Eine solche Ladung berührt eine Oberfläche entlang einer Kreislinie. Sobald sie ausgelöst wird, sprengt sie nicht entlang der Kontaktlinie, sondern bohrt in der Mitte des Kreises in beinahe jedes Material ein tiefes, sauberes Loch. Es gab nur einen Verlust zu beklagen. Ein Afrikaner brachte seine Ladung übervorsichtig an und trat zurück, um seine Arbeit zu bewundern; er fand keinen Boden. Er fiel den Schlackenberg mit mehr als zwei Meilen Geschwindigkeit in der Stunde hinunter. Die schwachsinnigen Beobachtungsgeräte entschieden: Transportmaschine defekt, Alarmstufe zwei. Eine andere der unauffälligen Maschinen auf der wüsten Ebene erwachte, saugte Energie aus Akkumulatoren, schoß Hysteresisströme auf das herabrollende menschliche Wesen ab. Bevor er den Boden erreichte, glühten seine Sauerstofflaschen rot auf und explodier ten. Der Rest des Verminungstrupps, am Rande des HysteresisFelds, wurde von Schuhösen und Reißverschlußteilen versengt, die Flaschen auf ihrem Rücken wurden für einen Augenblick zu heißen Kohlen. Der Augenblick verging; der Schmerz blieb, aber er verstärkte sich nicht. Gleichgültig setzten sie ihre Arbeit fort, bis die zweite Gruppe zurückkam, ihre Schnur hinter sich ausgebend. Tropile war noch immer über das grüne Wesen mit dem Schneekristall verbunden. Er lebte nicht das volle Leben des Kristalls, doch er stand auch nicht ganz außerhalb. Es war der
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Unterschied zwischen Koma und Tod – für einen Beobachter nicht sehr bedeutsam, aber das einzige, was für den Patienten von Wichtigkeit ist. In seinen Dämmerzustand tropfte das Bewußtsein, daß die Pyramiden ihren oktogonalen Angriff wieder aufgenommen hatten und schneller vordrangen, um mit dem Raupenkettenrät sel vor sich fertig zu werden. Der Energieausstoß nahm zu; gut, dachte er. Inzwischen mußten die einfacheren Aufgaben der acht Hilfstrupps erfüllt sein; seine Gruppe sollte die Detonationen auslösen. Er führte seine dreißig Mann zu einem aufgegebenen SolvayProzeß-Turm, wo sie ihre verbleibenden Waffen versteckt hatten; das Ende der Lunte bettete er in einen letzten gelben Tritiumblock in fünfzehn Metern Entfernung. Er richtete einen Karabiner auf das grelle Ziel und feuerte ein MischmetallLeuchtspurgeschoß darauf ab. Der Block explodierte und entzündete die Lunte, Material, das mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Metern pro Sekunde brannte. Die Detonation erreichte zuerst das Steigrohr, und ratternd sprengten die Klebladungen ihre sauberen, weißglühen den Löcher in das Fünfzehn-Meter-Rohr. Die Explosionen flammten entlang der Kolonnade von Spinnenbeinen unter der Freileitung auf und verschmolzen zu einem gewaltigen Donnern. Plötzliche Stille, und plötzlich neue, nicht detonierende Geräusche – Knarren und Ächzen von Metall. Die Tragleitung sank in der Mitte herab, sackte tiefer und stürzte ab, brach glatt auseinander. Wo sie auf hundert scharfe Gesteinsbrocken oder Schrotteile traf, brach das kalte, spröde Metall auseinander, große, gewölbte Stücke und Splitter bildend. Das nervenzermür bende Krachen drang durch Fels und Metall zu ihren Füßen und durch ihre Knochen zu den Ohren. Dicke, klebrige Flüssigkeit quoll aus dem zerstörten Rohr – spritzte in hundert Fontänen aus den Löchern in der Steigleitung. Die ungestützte Wölbung am Ende der Steigleitung klagte
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metallisch, seufzte und gab den Geist auf. Sie senkte sich tiefer und tiefer, und das Steigrohr riß an der Perforation auseinander; die weißglühenden Löcher hatten das Metall nicht bloß durch bohrt, sondern auch ausgeglüht. Knirschendes Krachen, als das Steigrohr gefällt wurde. Das Endstück splitterte, das ausgeglühte Anfangsstück gab nach und sank in sich zusammen. Auch eine Meile südlich geschah Ähnliches. Hinter den SolvayTurm geduckt, sahen sie Lichter am Horizont und spürten in ihren Zähnen Krachen und Knirschen von Metall. Wir haben es gut gemacht, sagte der Schneekristall zu Tropile ohne Humor. Jetzt müssen wir die Breschen verteidigen. Nicht wahr? fügte die grüne Person ironisch hinzu. Die bislang stummen Maschinen auf der tristen Planetenland schaft regten sich. Unter einem Haufen leerer, weggeworfener Elektrolyse-Zellen krochen die Reparaturmaschinen für die Primärleitung hervor. Sie hatten sich nicht versteckt. Sie waren Universalgeräte; es spielte keine Rolle, wo sie warteten, bis sie durch Druckabfälle in der Hauptleitung und die Zerstörung von Schaltkreisen in den Stahlwandungen angefordert wurden. Sie hatten ein Erdjahrhundert zuvor das letztemal eingreifen müssen, beim Meteoritenschaden an der Steigleitung. Seitdem hatten sie in der Nähe gewartet, und als die Bleizellen eines Chlorgas-Aggregats verbraucht waren, hatten sie zugelassen, daß die Zellen von Abräummaschinen über sie getürmt worden waren. Sie konnten sich bei dem entsprechenden Signal freigraben, und das Signal war gekommen. Es waren etwa hundert Maschinen. Sie glichen riesenhaften Räumpanzern mit einer Vielzahl von Zusatzgeräten: ausfahrbare Kräne, Klauenpaare, Hubgabeln. Sie waren keine Kampfmaschi nen, aber durch die Art ihrer Aufgabe darauf eingerichtet, natürliche Schäden unversehrt zu überstehen und sich durch die beschädigte Hauptleitung zu jeder Sorte von Opposition in Form von Beben, Meteorit, Flut oder peitschenden Hochspannungska beln durchzuarbeiten.
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Die dreißig Menschen warteten stumm auf die zehn Maschinen, die über das zerstörte Steigrohr und die herabgestürzte Rohrleitung heranknirschten. Neunzig weitere Ungeheuer rollten über die tote Landschaft zu den anderen rätselhaften Wunden, die ihren tief geborgenen Gehirnen gemeldet worden waren. Fasziniert und entsetzt schraubte Roget Germyn den Deckel von einem Behälter mit der uralten Aufschrift: »Schießplatz Aberdeen«. Darin waren in Wabenzellen ein Dutzend schlanke Geschosse untergebracht. »Du schießt, wie man es dir gezeigt hat«, sagte Tropile zu Germyn. Tropile schulterte eine Art Panzerfaust, zielte am Lauf entlang und erfaßte die vorderste der Reparaturmaschinen mit dem Fadenkreuz, die dreihundert Meter entfernt war, aber schnell heranraste. Der Schneekristall starb in diesem Augenblick. In einem Aufglühen der Liebe, des Abschieds und des Schmerzes sandte er Tropile das Bild der sengenden blauen Linie des Plasmoids, das Austrocknen des Nährtanks, in dem sie verglommen. Germyn schlug ihm zögernd auf die Schulter – das Zeichen für »feuerbereit«. Glenn Tropile brach unter dem geringen Gewicht der Panzerfaust zusammen und blieb schluchzend liegen. Er war tot; er war eben gestorben. »Gib mir das verdammte Ding«, sagte Gala Tropile, riß ihm den Raketenwerfer aus der Hand und schulterte ihn ungeschickt. »Mein Gott, sei vorsichtig!« kreischte Germyn. »Das sind Atomköpfe!« »Ich weiß«, sagte sie kurz. Sie legte das vordere Ende des Werfers auf einen Hügel, zielte und legte den Finger auf den Auslöser. Eine Frau, die hinter dem Werfer stand, wurde vom Ausstoß getroffen, preßte die Hände auf die weggebrannte Schulter und brach zusammen. Niemand achtete auf sie. Alle Augen waren auf den kleinen Feuerball gerichtet, der in die vorderste Reparaturmaschine fauchte und sie in einen großen
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Feuerball verwandelte. Eine blutrote Pilzwolke sprang hoch, aber bevor sie sich ausbreiten konnte, zischte Gala Tropile Germyn zu: »Weiter!« In der nächsten Stunde flammte dieser Sektor des Planeten äquators vom Todeskampf der hundert Maschinen. Einige Männer und Frauen starben mit ihnen. Ein Behälter der Hitzdraht-Raketen enthielt Blindgänger, die in Princeton bei der Überprüfung durchgerutscht waren. Diese Gruppe wehrte die Reparaturmaschinen mit Gewehrfeuer und Haftladungen ab. Von den dreißig Angehörigen dieser Gruppe lebten noch zwei, als ihre Nachbarn endlich ihre Raketenwerfer an den Flanken einsetzen konnten. Danach war alles still, und man zählte die Toten. Die Pyrami den kamen, lautlos und langsam auf ihren elektrostatischen Kissen dahingleitend. Sie schoben sich in die schwarzen, klippenhohen Stationen und warteten… So würden sie warten, bis die Nahrung aufgenommen war, damit sie ihrer Aufgabe nachgehen konnten, neue Nahrung herzustellen, damit sie… Die Menschen, zuerst voll Angst und Zorn, unfähig, den Ungeheuern den Rücken zuzudrehen, stellten schließlich voll Staunen fest, daß sie die großen, toten, dummen Dinger bedauern konnten.
18 Sie benützten Glenn Tropile als Bibliothek und Computer. Vom Gefühl her war er tot, aber er beantwortete Fragen. Haendl: »Wie können wir zur Erde zurückgelangen?« Tropile: »Die zur Sonnenerzeugung verwendeten Raumschiffe sind 32,08 Grad nördlicher Breite und 16,53 Grad westlicher Länge zu finden. Die fünfundsiebzig Schiffe nehmen je 114
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Personen auf und legen die Strecke in sechs Stunden und fünfundvierzig Minuten zurück.« Innison: »Wie können wir unsere Leute aus diesen verdamm ten Maschinen holen? Wie wecken wir sie auf?« Tropile: »Neurochirurgie-Maschinen für die Ablösung von Komponenten sind an der Nordmauer der Auffang- und Verarbeitungs-Anlage zu finden und können von Hand so eingestellt werden, daß sie Elektroschocks durch das Vorderhirn schicken, mit der Wirkung, daß der Lustreflex, den ihr mit ›Schlaf‹ meint, beseitigt wird. Nach einigen Stunden Orientie rungslosigkeit und manischen Anfällen wird sich die Primärper sönlichkeit wieder durchsetzen. Man sollte beachten, daß bei dieser Operation eine Sterblichkeitsziffer von etwa sieben Prozent besteht.« Germyn: »Kann ich Ihnen irgend etwas besorgen, Bürger Tropile? Fühlen Sie sich wohl? Wollen Sie Ihre Frau sehen?« Tropile: »Nein. Nein. Nein.« Die Rettung der Bausteine ging in einer Exponentialreihe vonstatten. Zunächst war da nur der verwilderte Stamm, durch seinen Krieg auf zweihundert Personen vermindert, hier und dort einen Freund oder einen Ehemann erkennend, der in den Schaltkreisen des Planeten eingebaut war. Zögernd schaffte man die Neurochirurgie-Maschinen, zu Anfang von Tropile umpro grammiert, zu den Komponenten und weckte sie. Zehn besaßen nützliche ›Schattenerinnerungen‹. Sie ›errieten‹, daß man diese Maschine so einsetzte – und so war es richtig. Dann waren es vierhundertzehn, der Stamm geriet in die Minderzahl, und er ärgerte sich ein wenig über diese wohlgenährten Spätlinge, die am Kampf überhaupt nicht teilgenommen hatten und so viel von diesem verdammten Planeten wußten. Dann wurde ein reguläres Fließbandsystem zur Rettung von Komponenten eingerichtet, und ein Fährdienst von Sonnenschiffen brachte sie zu einer fassungslosen Erdbevölkerung zurück.
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Unter den Heimkehrern war Tropile, der entspannt, aber regungslos dasaß, mit toten Augen. So saß er drei Monate, bis jemand auf den Gedanken kam, ›Elektroschock ins Vorderhirn‹ sei vielleicht auch das, was er brauche. So war es.
Tropile war wieder Tropile, lebendig, schmerzerfüllt zu maskier ten Gesichtern aufsehend. Chirurgen und Krankenschwestern. Er blinzelte und sagte schwach: »Wo sind wir?« Und dann erinnerte er sich. Er war wieder auf der Erde; er war wieder bloß ein Mensch. Jemand hastete ins Zimmer, und er wußte, daß es Haendl war, ohne hinsehen zu müssen. »Wir haben sie geschlagen, Tropile!« rief er. »Nein, falsch. Du hast sie geschlagen, Tropile. Großartig! Du hast den Namen ›Wolf‹ großgemacht!« Die Chirurgen bewegten sich verlegen, aber offenbar hatte sich manches geändert, dachte Tropile, denn mehr taten sie nicht. Tropile berührte gereizt seine Schläfen, und seine Finger ertasteten Verbände. Es war wahr. Er war aus der Schaltung ausgeschieden. Die große Reichweite seines Bewußtseins war an seinem Kopf abgeschnitten; nichts mehr von dem unendlichen Hinausgreifen und Erfassen, das er als Teil des Schneekristalls in der Nährflüssigkeit gekannt hatte. »Sehr schade«, flüsterte er ohne Hoffnung. »Was?« Haendl zog die Brauen zusammen. Die Kranken schwester neben ihm flüsterte etwas, und er nickte. »Ach so, ich verstehe. Du bist noch ein bißchen mitgenommen, nicht? Na, das ist nicht schwer zu begreifen.«
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»Ja«, sagte Tropile und verschloß seine Ohren, obwohl Haendl weitersprach. Nach einiger Zeit schob sich Tropile hoch und schwang die Beine über den Operationstisch. Er war völlig nackt, und früher einmal hätte ihn das gestört, aber jetzt schien es nicht mehr wichtig zu sein. »Besorgt mir etwas anzuziehen, ja?« sagte er. »Ich bin wieder da, also sollte ich mich langsam daran gewöhnen.«
Glenn Tropile entdeckte, daß er ein heimkehrender Held war und überall, wo er sich sehen ließ, eine seltsame Art von Verehrung genoß. Nach sorgfältiger Analyse kam er zu dem Schluß, daß es nicht genauso war, wie er es erwartet hatte. Zum Beispiel: Ein Mann, der in der alten Zeit hinausgezogen war und einen Drachen getötet hatte, nun, der wurde mit großem Jubel und unendlicher Dankbarkeit empfangen, und wenn es eine Prinzessin gab, so heiratete er sie. Das war schließlich nur gerecht. Und Tropile hatte besiegt, was ohne Zweifel ein viel mächtigerer Gegner gewesen war als eine ganze Anzahl von Drachen. Aber er prüfte die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, und fand darin keine Dankbarkeit. Es war seltsam. Es glich am ehesten dem Aufsehen, das ein hervorragender Baseballspieler erregte – in einem Land, wo Kricket Nationalsport war. Er hatte etwas geleistet, das nach allseitiger Meinung eine erstaunliche Tat genannt werden mußte, aber niemand schien sich davon betroffen zu fühlen. In mancher Hinsicht bemerkte er sogar einen anklagenden Zug. Beinahe neunzigtausend ehemalige Komponenten waren beispielsweise ins Leben zurückgebracht worden, die meisten ohne Angehörigen, die längst tot waren, alle eine zusätzliche Belastung für die beschränkten Mittel des Planeten. Und was gedachte Glenn Tropile in dieser Hinsicht zu unternehmen? Ferner bedeutete die alte Unterscheidung zwischen Bürger und Wolf nicht mehr viel, nachdem so viele Bürger Schulter an Schulter mit den Wolfssöh
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nen gekämpft hatten. Glaubte Glenn Tropile aber nicht, daß er hier ein bißchen zu weit gegangen war? Und schließlich, nun ja, das hieß, ziemlich weit vorausblicken, aber immerhin – nun, was wollte Glenn Tropile unternehmen, um der Erde eine neue Sonne zu beschaffen, sobald die alte erlosch und es keine Pyramiden mehr gab, die das Feuer neu zu schüren vermochten? Er suchte Zuflucht bei jemandem, der ihn verstehen würde. Das war einfach, bemerkte er erfreut; er hatte ein paar Personen überaus gut kennengelernt; die qualvolle Einsamkeit seiner Jugend lag endgültig und für alle Zeit hinter ihm. Zum Beispiel konnte er Haendl aufsuchen, der alles sehr gut verstehen würde. Tropile tat es. Haendl sagte: »Es ist wohl eine gewisse Ernüchterung. Na ja, zum Teufel damit, so ist das Leben.« Er lachte grimmig. »Nun, da wir die Pyramiden loshaben, gibt es genug andere Arbeit. Jetzt können wir endlich atmen! Wir können planen! Dieser Planet ist zu viele Jahre dumpf seinen engen Weg gegangen, nicht? Es wird Zeit, daß wir das Steuer ergreifen! Und das tun wir! Das kann ich dir versprechen, Tropile. Weißt du, Tropile, eigentlich tut mir nur eines leid.« Er grinste. »Nämlich?« fragte Tropile vorsichtig. »Alle die schönen Atomgranaten, die wir verfeuert haben! Oh, gewiß, ich weiß, daß du sie gebraucht hast. Ich gebe dir keine Schuld. Aber du begreifst, welchen Ärger es geben wird, die Lager wieder aufzufüllen – und vorerst werden wir auf dieser müden, alten Welt nicht Ordnung schaffen können, oder? Jedenfalls so lange nicht, bis wir wieder die Mittel dazu beschafft haben.« Tropile verabschiedete sich viel früher, als er eigentlich vorgehabt hatte. Dann also Bürger Germyn?
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Der Mann hatte immerhin tapfer gekämpft. Tropile machte sich auf die Suche nach ihm, und für Augenblicke war es wirklich sehr befriedigend. »Ich habe viel nachgedacht, Tropile«, sagte Germyn. »Ich bin froh, daß Sie da sind.« Er schickte seine Frau nach Erfrischun gen, und sie brachte sie auf geziemende Weise, wartete genau eine Minute und entfernte sich dann. Tropile platzte sofort heraus, als sie gegangen war. Es war ihm schwergefallen, sich an die Höflichkeitsformen zu halten, solange sie anwesend war. »Ich beginne erst jetzt langsam zu erkennen, was mit der Menschheit geschehen ist, Germyn«, sagte er. »Die falsche Unterteilung in Schafe und Wölfe. Sie haben wie ein Wolf gekämpft – « Tropile verstummte plötzlich, weil er sah, daß ihm sein Publikum entglitten war. Bürger Germyn wirkte gequält. »Was ist los?« fragte Tropile rauh. Bürger Germyn zeigte ihm das schwach begütigende schiefe Lächeln. »Wölfe«, sagte er, ins Leere starrend. »Hören Sie, Bürger Tropile. Ich weiß, daß Sie sich für einen Wolf gehalten haben, aber – nun, ich sagte schon, daß ich viel nachgedacht habe, und zwar eben darüber. Im Ernst, Bürger«, sagte er gewichtig, »Sie tun sich nichts Gutes, wenn Sie sich vormachen, Sie hätten sich wirklich für einen Wolf gehalten. Das sind Sie eindeutig nicht gewesen. Die anderen mögen sich haben täuschen lassen, aber sich selbst konnten Sie doch nicht in die Irre führen. Ich meine, Sie sollten folgendes tun: Als ich erfuhr, daß Sie mich besuchen würden, bat ich einige wohlbekannte Bürger, heute abend bei mir zu erscheinen. Oh, ich habe ihnen alles ausführlich erklärt. Peinliche Situationen wird es nicht geben. Ich möchte nur, daß Sie mit ihnen sprechen und alles klarstellen, damit Ihnen dieser schreckliche Makel nicht länger anhängt. Die Zeiten ändern sich,
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und jetzt ist vielleicht eine gewisse Nachsicht ratsam, aber Sie werden doch sicherlich nicht wünschen – « Tropile verließ Bürger Germyn weit eher, als er vorgehabt hatte. Endlich wandte sich Glenn Tropile dann an die letzte Person auf seiner Liste, die ihn gut gekannt hatte. Sie hieß Gala Tropile.
Sie war schmaler geworden, fiel ihm auf. Sie saßen still beieinander und waren sehr verlegen, aber dann bemerkte er, daß sie weinte. Die Verlegenheit verschwand, als er sie tröstete, und er ertappte sich plötzlich beim Sprechen. »Es war, als wäre man ein Gott, Gala! Ich schwöre dir, es gibt kein Gefühl, das diesem gleicht. Ich meine, es ist, als – ja, vielleicht so, als hätte man eben ein Kind zur Welt gebracht und das Feuer erfunden und einen Berg versetzt, Blei in Gold verwandelt… vielleicht hättest du eine Ahnung, wenn du alle diese Dinge gleichzeitig getan hättest. Aber ich war überall gleichzeitig, Gala, und ich konnte alles! Ich kämpfte gegen eine ganze Welt von Pyramiden, ist dir das klar? Ich! Und jetzt komme ich zurück zu – « Er hielt sie gerade noch rechtzeitig zurück; sie schien wieder weinen zu wollen. Er fuhr fort: »Nein, Gala, mißversteh mich nicht, ich trage dir nichts nach. Was hatte ich dir zu bieten? Du hattest recht, als du mich verlassen hast. Was hatte ich mir selbst zu bieten? Und ich weiß auch nicht, was ich jetzt besitze, aber – « Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie sprechen davon, die Erde wieder auf ihre alte Umlaufbahn zurückzubringen!« schrie er. »Warum? Und wie? Mein Gott, Gala, wir wissen ja gar nicht, wo wir sind. Vielleicht könnten wir die Geräte der Pyramiden benützen und den Rückkehr-Kurs einschlagen – aber weißt du, wie die Sonne aussieht? Ich nicht. Ich habe sie nie gesehen. Du nicht, und auch sonst keiner, der jetzt am Leben ist. Es war, als wäre man ein Gott –
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Und sie sprechen davon, zu allem zurückzukehren, wie es war. Wölfe! Bürger! Meditation, der billigste Nervenkitzel, den es gibt! Fleisch! Bloßes Fleisch! Früher konnte ich sehen, Gala, aber jetzt bin ich blind! Ich war ein Kreisfeuer, das sich ausbreitete! Jetzt bin ich nur ein Mensch und werde nie etwas anderes sein, außer –« Er verstummte und sah sie verwirrt an. Gala Tropile erwiderte den Blick ihres Mannes. »Außer was, Glenn?« Er zuckte die Achseln und sah an ihr vorbei. »Außer, du gehst zurück, meinst du.« Er wandte sich ihr zu; sie nickte. »Du willst zurück.« Sie sagte es ohne Betonung. »Du willst wieder in deine Badewanne voll Suppe und wie ein Baby schwimmen. Du willst keine Kinder kriegen, du möchtest selbst ein Baby sein.« »Gala«, sagte er, »du verstehst mich nicht. Da war eine wunderbare, weise alte Person, sehr witzig dazu, die zufällig grün war, zufällig Fühler besaß und zufällig tot war. Ich wollte sie besser kennenlernen, ihre Gedanken schmeckten gut. Und wir wußten, daß es in der Magellan-Wolke eine trisymbiotische Rasse gibt, die von dieser ganzen Gegend der Galaxis geliebt wird. Weißt du, sie haben etwas erfahren über – nennen wir es Gott. Wir wollten sie besuchen. Und der Kohlensack-Nebel ist gar keine Staubwolke, sondern ein Loch im Weltraum. Es gibt Rassen im Universum, deren gesamte Kulturgeschichte den Aufbau eines langsamen Verständnisses der Natur dieses Lochs darstellt. Stell dir vor, wie die Gedanken einer solchen Rasse einem Achtfach-Gehirn schmecken würden – « Er verstummte. »Du hältst mich für verrückt«, sagte er. »Für verrückt, weil ich vergesse, daß ich ein Tier bin, daß ich nie etwas anderes sein kann als ein Tier, daß das Zucken einer Drüse wichtiger ist als die Tri-Symbioten der Magellan-Wolke und ihre Erkenntnis. Vielleicht hast du recht. Ich werde sie bitten, mich auf dem
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Doppelplaneten wieder anzuschließen. Ich glaube, ich kann euch eine neue Sonne beschaffen und vermutlich die Antriebsaggre gate umkehren.« Er schaute sich nicht um, als er zur Tür hinausging, aber er wußte, daß er nicht nur der Frau, die seine Ehefrau war, den Rücken zudrehte, sondern der ganzen Menschheit.
Draußen war Nacht. Die Luft war lau. Warmer Herbst des Fünfjahreszyklus. Den nächsten Zyklus würde er selbst einleiten, von einer – einer Badewanne voll Suppe, einer einsamen Badewanne voll Suppe aus. Noch sieben finden, die das wagten? Nicht auf diesem Planeten. Er würde das Herdfeuer dieses Planeten besser bewahren, als es die Pyramiden je getan hatten, aber alleine konnte er nicht hoffen, ein Ringfeuer zu werden, das sich ausbreitete. Wenigstens konnte er das Fleisch zurücklassen, sich von dieser Tyrannei befreien. Er blieb stehen und sah zu den Sternen hinauf, die in Konstellationen kreisten, zu neu und veränderlich, um Namen zu tragen. Dort war das Universum! Worte taugten nichts, mit Worten ließ sich nichts erklären; natürlich konnte er weder Gala noch sonst einem Menschen begreiflich machen, worum es ging, denn das Fleisch vermochte die Wirklichkeiten des Verstandes und Geistes, die vom Fleisch befreit waren, nicht zu erfassen. Ein Heim! Körperliche Vereinigung! Und das ganze tierische Essen und Trinken und Schlafen! Wie konnte jemand von ihm verlangen, in diesem Schlamm zu verbleiben, wenn über ihm die Sterne ihn heraus forderten? Er ging langsam die Straße entlang, allein in der Nacht, ein Götterlehrling, der sich von der Sterblichkeit lossagte. Hier gab es nichts für ihn, weshalb dann diese Empfindung von Verlust? Die Pflicht – oder war es der Stolz? – sagte: Einer muß das Fleisch aufgeben, um Bahn und Wetter der Erde zu lenken – warum nicht du?
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Das Fleisch – oder war es seine Seele? – sagte: Aber du wirst allein sein. Er blieb stehen, und einen Augenblick lang stand er zwischen Bestimmung und Staub… Bis er Schritte hinter sich hörte, schnelle Schritte, und eine Stimme: »Warte. Warte, Glenn! Ich möchte mit dir gehen!« Und er drehte sich um und wartete, aber nur einen Augenblick, dann ging er weiter. Aber nicht für immer und alle Zeit allein. Einer – eine – mehr. Andere würden folgen! Der Feuerring würde wachsen.
Ende
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