Versprochen ist versprochen Alison Kent Tiffany 885 7/2 2000
gescannt von suzi_kay korrigiert von la_sirene
1. KAPITE...
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Versprochen ist versprochen Alison Kent Tiffany 885 7/2 2000
gescannt von suzi_kay korrigiert von la_sirene
1. KAPITEL Die Narbe an seinem Kinn zu reiben, war eine Unart, die Ben Tannen sich nie ganz hatte abgewöhnen können. Während er im Rückspiegel beobachtete, wie die Sonne unterging, strich er mit dem Daumen über die kleine Furche, die in der Mitte seines Kinns begann und bis zum Ansatz seines Ohrs verlief. Einen Zentimeter höher, und er hätte das Auge vielleicht sogar verloren. Zumindest nach Ansicht seiner Ärzte. Womit eine düstere Prophezeiung seiner Eltern wahr geworden wäre. Ben wusste aber, dass diese Einschätzung nicht korrekt gewesen war. Heidis Wut, ihr Schmerz und ihr Gefühl der Erniedrigung waren stärker gewesen als die Wirkung ihres Schlags. Dennoch war die Wunde schlimm genug gewesen. Die schwere Kette, die Heidi benutzt hatte, um ihr Fahrrad abzuschließen, hatte ihm die ganze Wange aufgerissen. In ihrer Wut hatte Heidi nicht lange nachgedacht und einfach zugeschlagen. Denn sonst wäre ihr wohl klar gewesen, dass das andere Kettenende mit dem schweren Schloss als Waffe wirksamer war. Und dafür konnte er nur dankbar sein.
Der Schmerz hatte sehr viel länger angehalten, als Ben sich während der endlosen Untersuchungen und Konsultationen diverser Schönheitschirurgen eingestanden hatte. Selbst heute spürte er ihn manchmal noch. Als sollte der Schmerz ihm immer wieder von neuem in Erinnerung rufen, was für ein arroganter Spinner er damals gewesen war. Aber das wusste er mittlerweile auch so. Die Folgen seiner unbedachten Handlungsweise waren schließlich nicht zu übersehen, wenn er morgens beim Rasieren in den Spiegel blickte. Er hatte eine ausgeprägte Narbe, die ihn ständig ermahnte, seine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken und sein Scheckbuch dort zu lassen, wo es hingehörte. Man musste schon ein kompletter Idiot sein, um sich Heidi, nach dem, was sie ihm damals angetan hatte, noch einmal zu nähern. Aber genau das hatte er getan. Dreimal sogar. Na schön, dann war er eben ein arroganter Spinner und ein Idiot. Doch er hätte wetten mögen, dass es bei dem HighSchool- Treffen an diesem Wochenende unter seinen ehemaligen Mitschülern nicht einen gab, der keine Leichen im Keller hatte. Selbst die fabelhafte Heidi Malone würde er da nicht ausschließen. Es wunderte Ben nicht, dass sie so viel erreicht hatte oder dass die Presse ihr diesen Beinamen verliehen hatte, nachdem sie erst kürzlich einen hoch brisanten Fall gewonnen hatte. Heidi hatte einen erstaunlichen Erfolg als Anwältin und vertrat fast immer Frauen in Prozessen, bei denen es entweder um Sexismus oder Rassismus ging. Sie hatte wirklich viel erreicht. Heidi entsprach in jeder Hinsicht dem Klischee des Mädchens aus einfachen Verhältnissen, das durch eine Laune des Schicksals dazu gezwungen worden war, dieselbe High School zu besuchen wie die Söhne und Töchter der Reichen und Privilegierten ihrer Heimatstadt. Sie war auch das einzige Mädchen in Sherwood Grove, das dem Jazzquintett der High School angehörte, das schon viele
Preise gewonnen hatte. Heidi spielte einmalig Saxofon und verlangte den anderen vier Musikern nicht weniger ab. Nach einer besonders schlechten Probe in ihrem ersten HighSchool-Jahr hatte sie dem Quintett den Spitznamen "The Deck" verliehen und den Jungen vorgeworfen, sie spielten flacher als ein Stapel Spielkarten. Ihre Tirade hatte in Gelächter und schlechten Scherzen über Royal Flushs geendet, und alle fünf waren an jenem Abend mit Spitznamen heimgegangen, die keiner von ihnen in den nächsten vier Jahren je wieder losgeworden war. Heidi hatte sich selbst als "Joker" bezeichnet, und Ben, das "Ass", hatte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken können. Heidi war offensichtlich nicht bewusst gewesen, dass sie für sich eine Karte ausgewählt hatte, die gar nicht wirklich zu einem Kartenspiel gehörte. Ben fragte sich, ob sie überhaupt zu dem Treffen kommen würde. Jack hatte ihm versichert, dass sie die Einladung beantwortet habe, wenn auch erst im letzten Augenblick und ohne eine echte Zusage zu geben. Aber das verwunderte ihn nicht. Heidi war schon immer sehr unkonventionell gewesen. Sie war ihren Weg stets allein gegange n, ohne Rücksicht auf Verluste, wie er es an jenem letzten High-School-Tag am Fahrradständer am eigenen Leib erfahren hatte. Ben bog vom Parkplatz vor dem Stonebridger Verlagsgebäude und bemühte sich, diese Erinnerung zu verdrängen. Noch vierzig Minuten, dann würde er in Austin sein. Er hoffte, dass Heidi heute kommen würde. Auf diesen Abend hatte er schließlich fünfzehn Jahre lang gewartet. Und er hatte sich auf ihn vorbereitet. Ben klopfte auf seine Hosentasche und lächelte, als er das zusammengefaltete Papier dort spürte. Jawohl. Es wurde
langsam Zeit, herauszufinden, ob die fabelhafte Heidi Malone Wort halten würde. Ihre finanziellen Schulden hatte sie natürlich längst beglichen, aber das war nicht alles, was sie ihm damals vor fünfzehn Jahren versproche n hatte. Und nun war er fest entschlossen, ihr ihren Schuldschein vorzulegen. Das Licht war schummrig, Schwaden von Zigarrettenrauch hingen in der Luft, und die Techno-Musik war fast unerträglich laut. Die Tür des "Cave Below" fiel hinter Heidi zu, und einen Moment blieb sie im Eingang stehen, um sich zurechtzufinden. Der Club nahm die gesamte obere Etage eines alten Lagerhauses ein. Tanzfläche und Bühne lagen links. Eine lange Bar bildete den Hintergrund des Raums. Rechts gab es Billardtische, Videospiele und großflächige Bildschirme. Ein Luftzug bewegte Heidis Minirock, und flüchtig schaute sie sich nach dem kichernden Paar um, das gerade eng umschlungen hereinkam. Sie stießen sie an, entschuldigten sich und gingen weiter. Und da sie inzwischen lange genug herumgestanden hatte, folgte Heidi ihnen. Der Geräuschpegel nahm noch zu. Das Klacken und Klingeln der Flipperautomaten wetteiferte mit dem Piepen, Flöten, Krachen und Dröhnen der Videospiele. Überall standen Leute herum, von der Tür des Clubs bis zum gegenüber liegenden Ende des Raums, der so lang gestreckt war wie ein Fußballfeld. Stimmen erhoben sich über das Chaos, um Getränke zu bestellen oder "Hier!" zu brüllen. Alle wollten mit ihrem eigenen Gelächter das der anderen übertönen. Hier pulsierte das Leben. Heidi stieß einen tiefen Seufzer aus, und ihre absurde Nervosität legte sich. Hier hineinzugehen war nicht der Schritt in die Vergangenheit gewesen, mit dem sie eigentlich gerechnet hatte.
Das "Cave" war nicht viel anders als die Lokale, die sie in Dallas frequentierte, wenn sie mit Georgia ausging. Viele der Lokale, in die sie und ihre Partnerin ihre Klienten einluden, um ein Gerichtsurteil zu feiern, waren genauso laut und überfüllt wie dieser Schuppen hier. Aber sie war entschieden zu overdressed oder "underdressed", den Blicken der Männer nach zu urteilen, die nach dem Saum ihres Minikleides schielten. Ihre Vorstellung von salopper Kleidung beinhaltete offenbar mehr nackte Haut, als die Stammgäste des "Cave" gewöhnt waren. Na wenn schon. Schließlich hatte sie sich für eine Party angezogen und wollte sich amüsieren, ein bisschen flirten und herumkokettieren, falls es sich so ergeben sollte. Wonach es bisher allerdings nicht aussah. Denn sie hatte noch keine Spur von Ben entdeckt. Ben Tannen. Wirklich erstaunlich, wie nur zwei Worte, ein simpler Name, eine erwachsene Frau in längst vergangene Zeiten mädchenhafter Schüchternheit zurückversetzen konnten! Ihr Herz klopfte, als ob sie plötzlich wieder sechzehn wäre. Sie hatte doch tatsächlich ein Kribbeln im Magen, und zwischen ihren Brüsten bildete sich feiner Schweiß. Und alles nur wegen eines Jungen, der längst ein Mann war und der ihre Verliebtheit schon damals nicht bemerkt hatte. Heidi schüttelte über sich selbst den Kopf. Schluss mit dem Unsinn, schwo r sie sich und richtete den Blick wieder auf die Gäste. Doch nicht nur Ben war nirgendwo zu entdecken, auch Randy, Jack und Quentin fehlten. Bisher hatte sie hier überhaupt nur ein oder zwei Gesichter gesehen, die ihr bekannt vorkamen. Dass sie praktisch niemanden erkannte, hätte sie vermutlich ziemlich in Verlegenheit gebracht, wenn jemand ihrer früheren Klassenkameraden sich ihr genähert hätte. Aber keiner tat es. Was Heidi ganz und gar nicht überraschte. Sie rechnete mit vielen solcher Nicht-Begegnungen an diesem Wochenende. Wer hätte sie denn auch erkennen sollen,
nachdem sie fünfzehn Jahre sozusagen unsichtbar gewesen war? Ein "Niemand" im wahrsten Sinn des Wortes. Durch den Rummel drängelte sie sich vor zur Bar, bestellte sich ein Bier und setzte sich auf einen der Barhocker. Nachdem sie die Beine übereinander geschlagen hatte, drehte sie sich zur Seite und ließ den Blick über die Menge schweifen. Als sie die Gesichter eins nach dem anderen betrachtete, begann sie sich an einige zu erinnern. Da war Starr, die Anführerin der Cheerleader, die mit Ronnie, dem Quarterback, gegangen und bei Abschluss der High School in der achten Woche schwanger gewesen war. Jetzt sah Starr so aus, als wäre sie im achten Monat schwanger. Während Heidi sie beobachtete, stand Ronnie auf, bückte sich, um Starr einen Kuss zu geben, und gesellte sich dann zu seinen Freunden an den Flippern. Heidi lächelte, als sie bemerkte, dass der Bauch des ehemaligen Quarterbacks beinahe ebenso rund war wie der seiner schwangeren Frau. Müßig glitt ihr Blick zum nächsten Paar. Eric und Ellen, die Zwillinge, die damals so ehrgeizig gewesen waren, dass sie kein Privatleben gekannt hatten. Sie trugen keinen Ehering, und Heidi fragte sich unwillkürlich, ob das der Preis sein mochte, den sie für ihren Erfolg gezahlt hatten. Wie sie selbst für ihren. Verdammt, fluchte sie, jetzt denke ich ja schon wie Georgia! Georgia Banks war ein Naturtalent als Anwältin, und Heidi war froh, dass diese attraktive Farbige sowohl ihre Partnerin als auch ihre beste Freund in war. Aber als Stimme ihres Gewissens hätte sie sich wirklich eine andere suchen sollen. Eine, die nicht ganz so scharfsinnig in ihrer Beurteilung von Heidis Besessenheit bezüglich eines ganz bestimmten Mannes war. Eines Mannes, der nicht einmal lange ge nug von seinem hohen Ross herabstieg, um mit alten Freunden - oder alten Feinden - einen Drink zu nehmen. Heidi fuhr fort, die Leute zu betrachten. Sie sah die Blicke, die in ihre Richtung gingen und die nicht viel anders als vor
Jahren waren. Als könnten ihre ehemaligen Mitschüler sie immer noch nicht richtig einordnen. Wer sie war. Woher sie kam. Ob sie dazugehörte oder nicht. Sie seufzte und war sicher, dass Georgias respektloser Humor ihr jetzt sehr erleichtert hätte, was ein unerträglich langweiliger Abend zu werden drohte. Und ein endlos langes Wochenende. Insgeheim ärgerte sie sich und kam sich hier eigentlich überflüssig vor, als sie ihre Flasche Bier vom Tresen nahm - die ihr nun plötzlich aus der Hand genommen wurde. "Hey!" rief sie und schaute sich über die Schulter um nach ... "Quentin Marks!" "Heidi Malone. Lange nicht gesehen, was?" Augenzwinkernd hob Quentin ihre Flasche an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Seine Augen funkelten, und das vertraute Grinsen spielte um seinen Mund. "Du bist von deinem Thron also herabgestiegen, um dich unter das gemeine Volk zu mischen." Sie wusste, dass sie lächelte wie eine Närrin, aber es war so schön, zu sehen, zu was für einem attraktiven Mann sich der Junge entwickelt hatte, der einst einer ihrer besten Freunde gewesen war. "Seit wann hat denn der Joker einen Thron? Ich war die mit den bunten Kleidern und der Narrenkappe, oder hast du das vergessen?" "Narrenkappe? Ja, das wird es wohl gewesen sein." Quentin berührte Heidis Haar, das heute viel dunkler und länger war als während ihrer High-School-Zeit und ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel. "Ich wusste doch, dass diese ausgebleichten Fransen damals unmöglich Haare sein konnten. Denn wenn es Haare gewesen wären, könntest du nicht Heidi sein. Und du bist doch Heidi, oder?" "Hör auf, du Schwachkopf!" Unfähig, sich noch länger zurückzuhalten, warf sie die Arme um seinen Hals und umarmte Quentin so stürmisch, dass sie fast von ihrem Barhocker gerutscht wäre.
Quentin drückte sie an sich und stützte sie, bevor er zurücktrat, um sie noch einmal gründlich zu betrachten. "Deine neue Frisur sieht gut aus - obwohl der Punklook dir damals auch nicht schlecht gestanden hat." Sie streckte ihm die Zunge heraus. "Nachdem ich so oft daran herumgeschnippelt hatte, war ich mir gar nicht mehr sicher, ob das Haar je wieder wachsen würde." "Gewachsen ist es. Und ..." er nahm eine Strähne zwischen seine Finger, "eine andere Farbe hat es auch." Waren Dauerwellen und Haarfärbemittel nicht die besten Freunde einer Frau? "Keine Kritik an meinem Friseur, wenn du nicht riskieren willst, dass er dir deinen Pferdeschwanz abschneidet!" "Träum weiter, Delilah", sagte Quentin. "Ich habe fünf Jahre gebraucht, bis er so lang geworden ist. Und nun bin ich, falls die Plattenindustrie den Bach runtergeht und meine Produktionstalente nicht mehr gefragt sein sollten, bereit für eine Karriere als Model für historische Romane." Heidi verdrehte die Augen. Durch ihre Intervention hatte sie vor Jahren Quentins Selbstachtung gerettet. Mit ihren Kleidern vom Flohmarkt und den ausgefallenen Frisuren, die besser in den Londoner Underground als in eine texanische Kleinstadt gepasst hätten, hatte Heidi bereits damals ein Selbstvertrauen besessen, das für einen Teenager äußerst ungewöhnlich war. Zu wissen, was sie wollte, war nie ein Problem für sie gewesen. Nur diese Ziele auch zu erreichen, war nicht ganz so leicht gewesen. Quentin hatte erlebt, wie sie auf alle Konventionen pfiff und eigensinnig ihren Traum verfolgte. Und er hatte es ihr nachgetan. Das ist nun das Produkt meiner Bemühungen, dachte Heidi, als Quentin sich über ihre Schulter beugte, um sein Aussehen im Spiegel hinter der Bar zu überprüfen.
Sie fand dieses wichtigtuerische männliche Ritual recht amüsant. Aber Quentin sah auch wirklich ble ndend aus mit seinen blonden Haaren und dem etwas dunkleren Dreitagesbart. Dass er von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war, betonte seine ausgeprägte Sonnenbräune. "Ich könnte mir vorstellen, dass du eine Menge Blicke auf dich ziehst mit deinem blonden Haar", bemerkte sie. Viel sagend glitt Quentins Blick zu ihrem Rocksaum. "Mehr als du mit diesem Kleid." Verdammt! Heidi verzog das Gesicht und zog einen ihrer schmalen Träger glatt. "Ich hatte gedacht, es sei genau das Richtige für heute Abend." Nachdem er sie noch einmal kurz gemustert hatte, schaute Quentin auf die Uhr. "Das ist es immer noch." Wann war Flirten je so leicht gewesen und so amüsant? So perfekt, so harmlos und so ungefährlich? Sie hatte seinen scharfsinnigen Witz vermisst. Sie hätte in Verbindung mit Quentin bleiben sollen. Oder sich besser überlegen sollen, was sie aufgab, als sie fortging. Lächelnd erwiderte sie seinen Blick. "Du flirtest doch nicht etwa mit mir, oder?" Quentin betrachtete sie noch einmal prüfend und zog eine Braue hoch. "O h, ich schätze, das ließe sich schon arrangieren." Heidi stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. "Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich fast auf die Idee kommen, dass du das ernst meinst." "Und wenn ich dich nicht so gut kennen würde, wäre es mir ernst." Eins zu null für ihn. "Zuerst äußerst du dich abfällig über meine Her... über meine Haare. Und jetzt wagst du es, meinen weiblichen Charme in Abrede zu stellen? Da kommt eine Anklage wegen Beleidigung auf dich zu, mein Freund." Quentin setzte eine gekränkte Miene auf und zog sich den frei gewordenen Barhocker an ihrer Seite heran. "Ich? Du
glaubst doch nicht etwa, dass ich es wagen würde, an der fabelhaften Heidi Malone Kritik zu äußern?" Krachend stellte Heidi die Flasche auf den Tresen. Wie in alten Zeiten steckten sie bereits mitten in einem Wortgefecht, als wären nur fünfzehn Minuten vergangen, anstatt fünfzehn Jahre. Doch diesmal hatte sie ein besseres Waffenarsenal als früher und war sehr viel wortgewandter. Sie setzte ein zuckersüßes Lächeln auf. Die fabelhafte Heidi Malone hatte schon schwierigere Charaktere als diesen hier auf ihrem Weg nach oben eingeschüchtert. "Du kannst froh sein, dass du deine Anspielungen losgeworden bist, solange die Nacht noch jung ist und ich in großmütiger Stimmung bin. Denn der Nächste, der diesen mir verhassten Spitznamen erwähnt, wird unter Schmerzen und am eigenen Leib erfahren, wie ich an diesen Namen gekommen bin!" "Dann sollte ich Ben vielleicht lieber vorwarnen", sagte Quentin eine Spur zu beiläufig. Verdammt! Das nahm ihr den Wind aus ihren Segeln. Erneut zupfte Heidi an ihrem Rock und ihrem Träger und gab sich Mühe, gleichgültig zu wirken. "Ben? Ist er denn hier?" "Ich habe ihn noch nicht gesehen." Quentin schaute sich an der überfüllten Bar um und rieb sich das Kinn. Dann sah er wieder zu Heidi und nickte bedächtig, als ginge ihm erst jetzt ein Licht auf. "Darum bist du hergekommen, nicht wahr? Um Ben zu sehen." "Was? Natürlich nicht", behauptete sie. "Ich bin gekommen, weil ich alte Freunde wieder sehen wollte. Wie dich. Und Jack und Randy." Ihr Blick glitt in den Spiegel hinter dem Tresen. Keiner der erwähnten Männer war darin zu sehen. Dafür spürte sie die Blicke anderer im Rücken, die ein merkwürdiges Frösteln in ihr auslösten, das nichts mit ihrem Rückendekolletee zu tun hatte. Heidi verdrängte dieses unheimliche Gefühl und wandte sich wieder Quentin zu. "Ich habe die beiden schon gesucht. Aber
bisher habe ich nur vier andere aus unserem Jahrgang gesehen." Es war ihr fast ein bisschen peinlich, zugeben zu müssen, dass sie außer Quentin, Jack, Randy und Ben nie richtige Freunde besessen hatte - als ihr plötzlich zu Bewusstsein kam, dass sie heute sogar noch weniger Freunde besaß. Sie hatte Georgia und sonst niemanden. Komisch, dass Erfolg und Einsamkeit für mich zusammenzugehören scheinen, dachte Heidi, während sie den Rest des einen Biers trank, das sie sich heute Abend zugestanden hatte. Dass sie den Kontakt zu Quentin verloren hatte, führte ihr deutlicher als alles andere vor Augen, was sie für ihre Karriere aufgegeben hatte. Sie seufzte. "Weißt du, auf der High School hätte ich vielleicht doch ein bisschen zugänglicher sein sollen. Aber ich brauchte so viel Zeit und Energie für meine Pläne, von hier fortzukommen, dass Freundschaften mir nicht so wichtig erschienen." Als Quentin nicht sofort antwortete, schaute sie in sein Gesicht, mit dem er inzwischen bestimmt schon Dutzende von Frauenherzen gebrochen hatte. "Was ist?" "Ich glaube, jetzt bin ich gekränkt. Oder beleidigt. Oder beides." Versonnen nickte er. "Ja. Ganz entschieden beides." Unsicher runzelte sie die Stirn. "Warum? Bloß weil ich sagte, Freundschaften seien nicht so wichtig für mich gewesen? Ach komm. Du weißt doch, dass ich nicht dich damit meinte." Billardkugeln klackten im Hintergrund, und Quent in blickte zu den Billardtischen. "Das freut mich." Heidi drehte sich auf ihrem Stuhl, um Quentin besser ansehen zu können. "Wahrscheinlich hätte ich schon im ersten Jahr die High School aufgegeben, wenn du damals nicht mein Freund gewesen wärst." "Da warst du doch noch gar nicht alt genug, um abzugehen", entgegnete er und zwickte sie schmunzelnd in die Nase.
"Und du glaubst, das hätte mich daran hindern können?" Heidi schloss die Finger um sein Handgelenk, um ihn zu zwingen, ihr genau zuzuhören. "Nein, aber ich hätte dich nicht gehen lassen. Denn keiner von all den anderen war je so aufrichtig zu mir wie du." "Ach ja." Heidi lächelte über die Erinnerungen, die in ihr aufstiegen. "In Bezug auf deine Songs, meinst du?" Quentin verzog das Gesicht und nickte. "Sie waren miserabel. Das wusstest du. Und ich wusste es auch. Aber alle anderen, meine Familie, Randy, sogar Jack ... Niemand wollte mir die Wahrheit sagen. Sie alle wollten, dass ich mit diesem Müll berühmt werde." Sie hatte sein musikalisches Gespür damals sehr bewundert und war heute sehr stolz auf ihn. "Ich wusste, was du wirklich konntest. Du warst der Grund, warum wir so viele Preise mit der Band gewannen. Du wusstest, wie man die Songs zusammenstellt. Was dir, wie ich hörte, ein oder zwei weitere Preise eingebracht hat, die du dir heute an die Wand hängen kannst." "Statuen hängt man nicht an die Wand", erwiderte er und hob die Hand, um sich etwas zu trinken zu bestellen. "Na schön, dann eben nicht." Belustigt schaute Quentin auf Heidi hinunter. "Ich glaube, in den Käseblättern werde ich heute ,Marks, der Hai' genannt." Sie verdrehte die Augen. "Und wie viel musstest du für diese Publicity bezahlen?" Quentin lehnte sich rücklings an den Tresen und schaute sich gelangweilt um. "Nicht so viel, wie ich fü r das Interesse zahlen würde, das du erregst." "Darüber habe ich mich auch schon gewundert. Über diese Blicke, meine ich. Nicht über deine Einschätzung meines Unterhaltungswerts." Ihr Lachen klang nicht überzeugend. Aber sie war auch nicht amüsiert. Heidi hätte selbst nicht sagen
können, ob sie sich nur ein wenig unbehaglich fühlte oder sich total deplatziert vorkam. "Sie starren mich an, als wüssten sie alle gar nicht, wer ich bin." "Denk doch mal nach, Mädchen", erwiderte Quentin kopfschüttelnd. "Sie starren dich an, weil sie nicht wussten, dass du Beine hattest. Oder Schultern. Oder ..." "Das genügt, Quentin. Natürlich hatte ich Beine, Schultern und ..." Sie winkte ab. "Andere Dinge." "Wie Haare?" "Ja. Wie Haare. Obwohl es sicher auch etwas damit zu tun hat. Aber eigentlich erwarte ich gar nicht, dass mich jemand erkennt, wo ich doch schon früher für alle unsichtbar war." Heidi unterdrückte ein Schaudern. "Ich muss damals entsetzlich ausgesehen haben." Quentin lachte. "Du hast es nie kapiert, nicht wahr?" "Was?" Grinsend nahm er erneut eine Strähne ihres Haars zwischen die Finger. "Was ich dafür geben würde, an diesem Wochenende eine Fliege auf deiner Schulter sein zu dürfen!" Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte, und war auch gar nicht sicher, ob sie es überhaupt erfahren wollte. "So interessant dürfte das wohl nicht werden." "Ach komm schon, jetzt spiel nicht die Bescheidene. Erzähl mir, wie es der fabelhaften Heidi ergangen ist, und ich erzähle dir von Marks, dem Hai." "Einverstanden. Unter einer Bedingung." Vielsagend schaute sie zum nächsten Billardtisch hinüber. Quentin folgte ihrem Blick, sah sie dann wieder an und zog eine Augenbraue hoch. "Das ist doch nicht dein Ernst." "Natürlich. Warum denn nicht?" Heidi konnte sehr unschuldig aussehen, wenn es die Gelegenheit erforderte. Und Quentin wirkte plötzlich ausgesprochen schuldbewusst. "Hast du vergessen, was bei unserem letzten Billardspiel geschehen ist?"
"Keineswegs." Es war im September ihres ersten HighSchool-Jahrs gewesen. Die Nächte waren länger geworden, und ihre Hormone hatten verrückt gespielt. Wie sollte sie die Nacht vergessen, die der Anfang vom Ende einer für sie sehr langen und sehr schwierigen Phase gewesen war? Sie glitt vom Barhocker, zupfte ihren Rock zurecht und hakte sich bei Quentin unter. "Dann lass uns gehen, bevor Ben erscheint und mir den Spaß verdirbt." "Was du unter Spaß verstehst, ist ja gerade das, was mich beängstigt", versetzte Quentin. "Ich glaube nicht, dass mein Herz so etwas noch mal überstehen würde." Heidi ging voran und warf Quentin einen koketten Blick über die Schulter zu. "Keine Sorge. Seit wir das letzte Mal Billard gespielt haben, sagtest du? Nun, seitdem habe ich kein Spiel mehr unterbrochen, um mich auszuziehen."
2. KAPITEL Das erste High-School-Jahr "Ich steige nicht aus." Heidi verschränkte die Arme vor der Brust, zog die Knie an und schob die Unterlippe vor. Warum musste er auch hierher fahren - ausgerechnet hierher. O nein, sie dachte nicht einmal im Traum daran, den Wagen zu verlassen. Nicht nach allem, was sie heute schon erlebt hatte. Quentin legte einen Arm auf das Steuerrad des Käfers und schaute Heidi in dem halbdunklen Wagen an. "Also, wirklich, Heidi, manchmal kannst du richtig dämlich sein!" Das dachte er! Wenn jemand dämlich war, dann Maryann Stafford, diese Schlampe. Nein, sagte sich Heidi, das stimmt nicht. Ben ist noch viel dämlicher als die. Und eigentlich ist er die Schlampe. Heidi schüttelte den Kopf. "Ich konnte ja nicht wissen, dass wir hierher zum Üben fahren. Ich dachte, wir würden uns in der Schule treffen." "Was ist denn los mit dir? Wir üben doch so oft bei Ben zu Hause. Himmelherrgott!" Quentin öffnete stieg aus und knallte
die Wagentür so heftig zu, dass Heidi auf ihrem Sitz zusammenfuhr. Und wenn sie sonst bei Ben zu Hause übten! Das hieß noch lange nicht, dass sie es auch heute Abend tun mussten. Sie würde jedenfalls nicht bei Ben mit ihnen üben! Und schon gar nicht, nachdem sie sich heute während der gesamten Turnstunde von Maryann Stafford hatte anhören müssen, was passiert war, als die in diesem Sommer ihr Bikinioberteil in Bens Pool verloren hatte. Die Beifahrertür quietschte, als Quentin sie brüsk aufriss. Heidi stieg aus, ließ aber ihr Saxofon auf dem Rücksitz liegen. "Wirst du dich jetzt endlich in Bewegung setzen?" brüllte Quentin, weil sie wie festgenagelt dastand. Brummend griff er in den Wagen. Nachdem er sich das Saxofon unter den Arm geklemmt hatte, zerrte er Heidi über die lange kiesbestreute Einfahrt zum Haus hinauf. "Du bist unmöglich heute, weißt du das?" "Beleidige mich noch einmal, und du bist Geschichte, Freundchen!" Wütend versuchte Heidi, sich von Quentin loszureißen, als die Tür zum Haus der Tannens aufging. Rasch strich sie ihre lange Häkelweste und ihr T-Shirt glatt, sah aber dann, dass es nicht Ben war, der ihnen geöffnet hatte. "Quentin. Heidi." Bens Vater, "King Tannen", wie Heidi ihn insgeheim nannte, begrüßte sie mit einem Nicken. Eine Zeitung in der einen Hand, einen Drink in der anderen, stand er in der Tür und deutete in den hinteren Teil der großen Villa. "Die Jungs sind im Billardzimmer. Sie warten schon." "Danke, Sir." Quentin trat nach einem warnenden Blick auf Heidi ein. "Es ist meine Schuld, dass wir zu spät kommen", erklärte sie, während "King Tannen" die schwere Tür hinter ihr zuzog. Gleichgültig schwenkte sie eine Hand und bedauerte, gerade keinen Kaugummi dabeizuhaben, um den schlechten Eindruck, den sie jetzt auf den "King" machte, noch zu verstärken.
"Wissen Sie, meine Mom ist heute gefeuert worden und saß weinend bei der letzten Dose Bier aus ihrem Sechserpack, als ich aus der Schule kam. So konnte ich sie schließlich nicht einfach sitzen lassen, oder? Quentin hat mir dann noch rasch geholfen, sie ins Bett zu bringen. Als sie endlich eingeschlafen war, sind wir hergekommen." "Verstehe", sagte Bens Vater, doch sein Gesicht war wie versteinert, so dass es Heidi überraschte, dass er überhaupt ein Wort über die Lippen brachte. "Nun ..." er hüstelte ein wenig, "ich hoffe, dass es ihr morgen besser geht." "Danke. Ich werde sie von Ihnen grüßen." Damit ging sie Quentin nach, der längst die Flucht über den langen Korridor ergriffen hatte. Der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte. An der Treppe, die zum Billardzimmer über der Garage führte, holte sie Quentin endlich ein. "Du hättest ruhig warten können!" Aufgebracht fuhr er herum. "Was ist los mit dir? Was hast du heute nur?" Wortlos schob sie sich an ihm vorbei und stapfte vor ihm die schmale Wendeltreppe hoch. Was sie hatte? Außer dem empörenden Bild von Ben und Maryann, das ihr nicht mehr aus dem Kopf ging? Oder dieser arbeitslosen Trinkeirin, die die einzige Familie war, die sie noch hatte? Mit dem neuesten Hinauswurf ihrer Mutter hatten sich Heidis Aussichten, im nächsten Herbst auf irgendetwas anderes als ein öffentliches College überzuwechseln, drastisch verringert. Aber noch viel schlimmer war, dass auch ihre Chancen, von zu Hause fortzugehen, jetzt praktisch gleich null waren. Was bedeutete, dass sie den Alkohol, die Wut, die Affären und den Dachboden nun für weiß wie lange noch ertragen musste. "Ich habe nichts." Oben auf der Treppe blieb sie stehen. "Ich hasse bloß Ben Tannen. Von mir aus soll er doch mit all seinem Zaster in seinem blöden Swimmingpool ertrinken", fügte sie hinzu, wenn auch so leise, dass Quentin es nicht hören konnte.
Er kam zu ihr und blieb dicht vor ihr stehen. "Was du hast, ist ein Problem mit deiner Einstellung anderen gegenüber. Sorg dafür, dass sich das ändert. Und zwar schnell. Du weißt, dass wir am nächsten Wochenende den ersten Preis bei diesem Jazzkonzert gewinnen könnten, und diese Chance lasse ich mir nicht von dir verderben." Wütend starrten sie sich in dem gedämpften Licht an. Die Holzpaneele an den Wänden waren aus dunklen Edelhölzern, und von der hohen Decke hing ein Kronleuchter, der pompös und protzig wirkte. Heidi hätte am liebsten ausgespuckt. Ein Kronleuchter im Korridor! Ihr ganzes Schlafzimmer war nicht so groß wie diese Diele. Sie war die Erste, die den Blick abwandte, weil sie wusste, dass ihre Haltung unfair war. Ihre Reaktion auf alles, was mit Ben zu tun hatte - sogar der dümmste Klatsch -, war maßlos übertrieben und das nun schon seit zwei Jahren. Ihre heutige Krise bewies nur wieder einmal, dass sie tatsächlich ein Problem hatte. Ein ernsthaftes Problem, mit dem sie sich bisher nicht auseinander gesetzt hatte und das sich bis Ende dieses Jahres noch verschlimmern würde. Im nächsten ganz gewiss. Ihrem letzten High-School-Jahr. Es bedrückte sie selber am meisten. Diese überwältigenden Empfindungen, die sie nicht verspüren wollte und die auc h zu nichts führen würden, weil sie und Ben in etwa so kompatibel waren wie eine Gallone Gas und ein Plastikfeuerzeug. "Quentin, du verstehst das nicht." "Dann erklär es mir", bat er sie leise. "Komm schon, Heidi. Dafür hat man schließlich Freunde." Aber genau aus diesem Grunde konnte sie es ihm eben nicht erklären. Weil sie Quentin mit ihren Problemen nicht belasten wollte. Nicht vor diesem wichtigen Wettbewerb am nächsten Wochenende. Er brauchte diesen ersten Preis, um sich zu beweisen, dass er genug Talent besaß, um seine Träume zu verwirklichen.
Und Träume waren wichtig. Zumindest behaupteten die Leute das. "Sieh mal, Quentin ..." begann sie, nur um sich rasch wieder zu unterbrechen, als die Tür zum Billardzimmer aufging. Sie schaute auf. Bens Silhouette, groß und breitschultrig wie die eines Mannes, füllte den ganzen Türrahmen aus. Er wirkte sehr angespannt, was an der steifen Haltung seines Kopfes zu erkennen war, und daran, dass er reglos wartend dastand in seinem T-Shirt und den modischen Designerjeans. "Wo, zum Teufel, habt ihr bloß gesteckt?" fragte er mit dieser tiefen Stimme, deren bloßer Klang sie schon die Augen schließen ließ, um Kraft zu sammeln. Warum musste er auch so ... so ... Verdammt, sie fand nicht einmal Worte für das, was sie von ihm dachte! "Stell dich nicht so an, ASS", brüllte sie ihn an, vermied es aber, ihn dabei anzusehen. Stattdessen lächelte sie Quentin zu. "Es ist schon wieder gut, Quentin. Es tut mir Leid. Lasst uns jetzt üben." Das taten sie dann, zwei Stunden ohne Pause. Für Heidi zogen sich die Minuten endlos hin. Sie wollte heute Abend genauso wenig hier sein wie all die anderen Male in ihrem Leben, in denen sie stets gewünscht hatte, sie wäre ganz woanders. Es war verrückt von ihr, sich derart aufzuregen. Schließlich war es nicht so, als hätte sie von Ben erwartet, dass er noch unerfahren war. Aber musste es denn gerade Maryann Stafford sein? Heidi verzog das Gesicht, verpasste eine Note, sah Quentins ärgerlichen Blick und zog entschuldigend die Schultern hoch. Und es war ja auch nicht so, als ob ein Jurastudium für immer unerreichbar für sie wäre. Aber all ihre wunderbaren Pläne, Frauen über ihre Rechte aufzuklären, um zu verhindern, dass sie wie ihre Mutter dem System zum Opfer fielen, würden noch einige Jahre länger warten müssen.
Heidi gab sich die größte Mühe, sich von der Musik mitreißen zu lassen. Aber wann immer sie ihre Probleme einen Moment lang vergessen wollte und die Augen schloss, begann ein Pochen hinter ihren Schläfen und sie hatte das Gefühl, als ob ihr der Schädel platzen würde. Die Kopfschmerzen hatten jedoch nichts mit ihrem inneren Kampf zu tun. Ihr Ursprung war rein äußerlich: Ben war wütend und bearbeitete sein Schlagzeug wie ein Wilder. Instinktiv erriet sie auch den Grund dafür. Er hatte die Gerüchte gehört, die Maryann Stafford überall verbreitete. Heidi ertrug die Spannung nicht mehr. Als sie die Augen öffnete und aufschaute, merkte sie, dass Ben sie mit zusammengekniffenen Lippen und düsterem Blick beobachtete, während er die anderen begleitete und seine Stöcke so heftig auf das Schlagzeug knallen ließ, als ob er es zerbrechen wollte. Das war völlig ungewohnt bei ihm. Um so wild auf sein Schlagzeug einzudreschen, musste er in Gedanken ganz woanders sein und ließ den Rhythmus nur von seinem Instinkt bestimmen. Heidi kannte ihn gut genug, um keine Angst vor dem zu haben, was ihm womöglich durch den Kopf ging, aber sein Verhalten flößte ihr Unbehagen ein. Jedenfalls genügend, um für heute aufzuhören. Mitten im Stück brach sie ihr Spiel ab. Und dann verstummten nach und nach auch alle anderen Instrumente. Nur bei dem Schlagzeug dauerte es länger. Mit großen Schritten ging Heidi durch den Raum zum Billardtisch. Sie hatte eine Ablenkung gefunden. "Lasst uns eine Partie spielen." Randy und Jack waren sofort bereit dazu; Quentin und Ben gaben nur widerwillig nach. Manchmal ließen sie ihr ihren Willen, weil sie das Mädchen war. Normalerweise nutzte sie das nicht aus. Heute erlaubte sie sich eine Ausnahme. Heidi legte die Kugeln zurecht. "Da es mein Spiel ist, baue ich auf. Ben kann den Anstoß machen. Er ist heute ja sowieso in destruktiver Stimmung."
Ben nahm sich einen Queue und strich sich die feuchten Locken zurück, die ihm in die Stirn fielen. Seine grünen Augen glitzerten vor Ärger. "Aber zumindest nicht in selbstzerstörerischer." Heidi fuhr auf. Quentin räusperte sich hinter ihr. Doch die freundschaftliche Warnung brachte sie nur noch mehr in Rage. "Und wenn es so wäre, hätte dein Daddy ja Zaster genug, um dich wieder in Ordnung bringen zu lassen." Auch sie nahm einen Billardstock, trat zurück und wartete. Randy und Jack, die auf dem weißen Ledersofa saßen, lachten. Aber auf Bens vernichtenden Blick hin senkte Randy den Kopf und starrte auf den goldbraunen Teppich, während Jack rasch aufsprang und zur Stereoanlage ging, um eine CD von Duran Duran einzulegen. Bens erster Stoß war hart und sauber, aber er hatte ja auch genügend Übung; Perfekte Jungen wie er bekamen Privatunterricht in Billard, Golf etc. Warum sollte sein Spiel also weniger perfekt sein als die Kristallprismen des Kronleuchters im Korridor? Mit jedem weiteren Stoß wuchs Heidis Arger. Ein ganz und gar irrationaler Ärger, wie sie selbst am besten wusste. Aber Ben Tannen hatte alles. Alles, was er sich nur wünschen konnte - während sie ihre Träume einen nach dem anderen verschieben musste. Dagegen traf er mit 'der Spitze seines Queues Kugel für Kugel und versenkte sie. Seine Haltung, seine Konzentration, seine Geschicklichkeit, überhaupt alles war das Ergebnis von siebzehn Jahren Unterricht in jenen Dingen, die gesellschaftlich als unerlässlich galten. Das Geld der Tannens würde Ben den Weg in dieser Welt schon ebnen. Das Einzige, was er sich selbst verdienen musste, war die Achtung seines Vaters, und die besaß er bereits. Er war der perfekte Sohn eines perfekten Vaters. Aber was sie am meisten an ihm hasste, war, dass er ihr keinen echten Grund gab, ihn überhaupt zu hassen. Er musste gespürt haben,
was in ihr vorging, denn plötzlich schaute er zu ihr auf ... und verpatzte seinen Stoß. Sie schluckte, um die heftigen Emotionen zu verdrängen, die so dicht an der Oberfläche brodelten, dass sie an ihnen zu ersticken glaubte. Im Moment wollte sie nichts anderes, als den perfekten Ben so unglücklich zu machen, wie sie selbst es war. "Wow! Ich dachte schon, ich musste ohne einen Schuss auf deine Kugeln heimgehen, Ben." "Mann, Heidi." Quentin begann nervös auf und ab zu gehen. Sie lachte und hatte für einen Moment das herrliche Gefühl, wieder Oberwasser zu haben. Nachdem sie ihre lange Häkelweste abgelegt hatte, stellte sie sich in Position und schickte ihre erste Kugel sehr gekonnt ins Loch. Und dann versenkte sie die nächste und die übernächste. Prüfend betrachtete sie die verbliebenen Kugeln, setzte zu ihrem nächsten Stoß an und beging den unverzeihlichen Fehler, für den Bruchteil einer Sekunde die Kugel aus den Augen zu lassen. Unter gesenkten Lidern schaute sie zu Ben hinüber, der keineswegs ihr tolles Spiel verfolgte, sondern auf das dünne weiße T-Shirt starrte, das ihre Brüste betonte. Seine Augen glühten. Das brachte den Vulkan zum Ausbruch, der schon den ganzen Tag in ihr gekocht hatte. Wütend knallte sie den Queue auf den grünen Filz des Billardtischs, griff nach dem Saum des T-Shirts und zog es sich über den Kopf. "Na, besser so?" Zwei der Jungen hinter ihr grölten und pfiffen, der dritte stieß ein gequältes "Hört auf, verdammt noch mal!" aus. Der vierte, der ihr direkt gegenüberstand, hatte den Blick nun starr auf ihre Augen gerichtet. Aber das gedachte sie zu ändern. "Warte", zischte sie und streifte schnell ihren BH ab, bevor sie es sich womöglich anders überlegte. "So! Damit du weder deine Augen noch deine Phantasie überanstrengst mit der Frage, ob ich mit Maryann Stafford konkurrieren kann."
Bens Brust hob und senkte sich in schnellen, flachen Atemzügen. Seine Augen schössen Blitze, als er über ihren Kopf hinweg Quentin und die anderen anschaute. Dann zog er eine Augenbraue hoch - und nickte. Heidi wartete eine kleine Ewigkeit darauf, dass Ben endlich etwas sagte. Aber als er es dann tat, waren seine Worte jedoch nicht an sie gerichtet. "Ich bringe Heidi heim. Quentin, du fährst die anderen nach Hause." "Ach Ben ..." "Schluß für heute." Er hörte sich Randys Einwand nicht einmal zu Ende an. Bens Ton war autoritär, aber verblüffend ruhig. Ben ging um den Billardtisch herum, hob Heidis T-Shirt auf und reichte es ihr, bevor er sich wieder an die anderen wandte. "Lasst die Instrumente liegen. Ich bringe sie morgen in die Schule mit.." Heidi nahm ihr T-Shirt und drückte es an ihre Brust. Hinter sich hörte sie Gemurmel und schlurfende Schritte. Je langer Quentin brauchte, um die anderen hinauszubringen, desto größer wurde ihre Verlegenheit. Schließlich war ihr richtig übel. Die Tür zum Billardzimmer schloss sich, und nun war sie allein mit Ben. Das Ganze war ihr schrecklich peinlich. Sie hatte ihr T-Shirt und ihren BH ausgezogen - und er hatte nicht einmal hingesehen! Sie wusste nicht, ob sie sich gekränkt oder beleidigt fühlen oder sich unter dem Billardtisch verkriechen sollte. Was sie dann tat, war, ihr T-Shirt wieder überzustreifen und es so weit hinunterzuziehen, wie es nur möglich war. Ihre Strickweste lag vor ihren Füßen, ihr BH in einiger Entfernung auf dem Boden neben Ben. Zutiefst gedemütigt hob sie die Sachen auf, zog die Strickweste über und stopfte den BH in ihre Hosentasche, ohne Ben auch nur anzusehen. Sie hatte gerade begonnen, ihr Saxofon auseinander zu nehmen, da sagte Ben endlich etwas.
"Maryann lügt, Heidi." Ihr Nicken bedeutete nur, dass sie ihn gehört hatte, aber nicht, dass sie ihm glaubte. Sie war nicht in der Stimmung, ihm zu glauben. Alles, was sie wollte, war, diesen Tag noch einmal ganz von vorne zu beginnen. "Sie hat ihr Bikinioberteil gar nicht in unserem Pool verloren." Ben trat von einem Fuß auf den anderen. "Nun ja, verloren schon, aber es war kein Unfall oder so was. Du kennst ja Maryann." "Nicht so gut wie du anscheinend." Sie klappte den Saxofonkasten zu und drehte sich um. "Du kannst mich jetzt nach Hause bringen." Ben strich sich das Haar zurück. "Verdammt, Heidi. Eigentlich ist gar nichts passiert." "Eigentlich?" versetzte sie empört. "Was soll das heißen: .Eigentlich ist gar nichts passiert?' Dass es nichts zu bedeuten hatte, was passiert ist?" schrie sie. "Dass es in Ordnung ist, weil wir Maryann ja alle kennen?" "Was soll ich dazu sagen?" gab Ben zurück und verschränkte die Arme. Seine defensive Haltung war ihr Antwort genug. Heidi ergriff ihren Saxofonkasten und erklärte trotzig: "Du brauchst gar nichts dazu zu sagen. Ich will bloß, dass du mich jetzt nach Hause bringst." "Ich bringe dich nicht eher heim, bis du mir zugehört hast." Sie wandte sich zur Tür. "Na schön. Dann lauf ich eben." Mit ein paar Schritten war er an der Tür. "Du kannst nicht laufen." "Ich habe zwei Beine. Natürlich kann ich laufen!" "Das meinte ich nicht. Es ist zu weit." Er lehnte sich an die Tür und verstellte ihr den Weg. "Und es ist eine viel zu unsichere Gegend, um dort nachts allein herumzulaufen." Sein Mangel an Taktgefühl erstaunte sie zuweilen. "Ich lebe in dieser Gegend, Ben."
"Blödsinn, Heidi. Musst du mir jedes Wort im Mund umdrehen?" Mit seinen großen Händen fasste er sie um die Schultern und schaute sie mit seinen grünen Augen beunruhigt an. "Ich will bloß nicht, dass dir etwas zustößt." "Vielen Dank für deine Fürsorge, aber ich komme schon allein zurecht." Sie schüttelte seine Hände ab und trat einen Schritt zurück. "Ich bin nicht Maryann." "Du gehst trotzdem nicht allein nach Hause." Er konnte unglaublich arrogant sein, aber zumindest hasste sie ihn jetzt nicht mehr. Tatsache war, dass sie ihn überhaupt noch nie gehasst hatte. Was sie für ihn empfand, verdiente eine sehr ausgiebige und genaue Prüfung, aber bestimmt nicht heute Abend. "Ich weiß, dass du es gewöhnt bist, deinen Willen durchzusetzen, aber das wird dir diesmal nicht gelingen. Und jetzt lass mich vorbei, damit ich gehen kann." Ben trat beiseite, legte die Hand aber auf den Türknauf, so dass säe ihn nicht drehen konnte. "Wenn du nicht willst, dass ich dich heimbringe, kann ich meinen Vater bitten, dich zu fahren." "O nein, das wirst du nicht!" "Dann rufe ich dir ein Taxi." Ein hysterisches Lachen stieg in ihrer Kehle auf. "Du und dein Geld!" "Was ist mit meinem Geld?" fragte er, machte aber endlich die Tür auf. Sie wollte nicht mehr reden, nichts mehr erklären und auch keine Fragen mehr beantworten. Sie war müde und wollte nur noch nach Hause. "Du weißt ja, wie es ist. Die Reichen werden immer reicher, und die Armen zahlen Steuern." Dann hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen, aber die Worte waren schon heraus. "Und wenn ihnen danach noch etwas übrig bleibt, können sie sich vielleicht noch Studiengebühren leisten." "Was redest du da?" "Nichts, Ben. Fahr mich nur nach Hause." Und mit hoch erhobenem Kopf ging Heidi aus dem Billardzimmer.
Ben folgte ihr und knallte derart laut die Tür hinter sich zu, dass die Wände in der Diele wackelten. Heidi hatte die erste Partie Billard gewonnen, die sie und Quentin im "Cave" spielten. "Wie wär's mit zwei weiteren? Und der Gewinner zahlt das Dinner?" schlug sie vor. "Ich könnte jetzt sterben für einen Hamburger mit Pommes frites." "Den Burger kannst du haben. Aber das eine Spiel genügt für heute Nacht. Ich brauche meine Kraft für das Softballturnier morgen." Quentin legte ihren Queue zu seinem auf den Tisch, nahm Heidi in die Arme und drückte sie so fest an seine Brust, dass ihr der Atem stockte. "Ich freue mich wahnsinnig, dich zu sehen, Heidi." "Ja, ich auch." O nein, dachte sie. Nicht diese Stimme. "Sag mir, dass er es nicht ist", flüsterte sie Quentin zu. "Sag, dass ich nur Halluzinationen habe." "Du hast keine Halluzinationen." Quentin schaute über seine Schulter, lächelte und richtete den Blick wieder auf Heidi. "Es ist genau der, den du zu hören geglaubt hast." Langsam löste Heidi sich aus Quentins Armen, ließ aber ihre Hände noch auf seiner Brust. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fangen, bevor sie sich hinter dem Schutz seines großen, breiten Körpers hervorwagte und dem Mann hinter ihm gegenübertrat. Ben Tannen.
3. KAPITEL Quentin drehte sich um und blieb noch einen Moment vor Heidi stehen, als er Ben die Hand hinstreckte. "Hey, Ben. Du siehst gut aus für einen Reporter bei einem Provinzblatt, bis auf die grauen Haare an den Schläfen. Bist wohl gealtert, seit du keinen Stress mehr hast?" Reporter bei einem Provinzblatt? fragte sich Heidi. Was war aus dem Chefredakteursposten bei einer großen Tageszeitung in einer Weltstadt geworden, von dem Ben immer geträumt hatte? Und was aus Quentins Plänen? Es interessiert mich zwar überhaupt nicht, was Ben die letzten fünfzehn Jahre lang getrieben hat, sagte sich Heidi, aber das ist kein Grund für Quentin, mir nicht alles bis ins Kleinste zu erzählen. "Zumindest sehe ich nicht wie ein Bewerber für eine Filmrolle als Samson aus", erwiderte Ben, und seine Stimme war noch tiefer, als sie sie in Erinnerung hatte. Aber sie wollte gar nicht daran zurückdenken, dass diese Stimme sie früher hatte erröten und ihr Herz schneller schlagen lassen. Oder dass dieser Mann ihr wie ein sicherer Hafen in den turbulenten Gewässern ihrer Teenagerzeit erschienen war. Immer dann, wenn sie ihn nicht zu hassen versucht hatte.
Und so legte sie die Stirn an Quentins breiten Rücken und ihre zitternden Hände um seine Taille. In Zukunft würde sie auf Georgia hören - so sehr ihr das auch gegen den Strich gehen mochte - und sich an ihren Wochenenden konstruktiveren Beschäftigungen widmen, als zu einem High-School- Treffen zu fahren. Wie beispielsweise der Pflege ihrer Fingernägel. "Was passiert, wenn du den Pferdeschwanz abschneidest, Marks?" fuhr Ben fort. "Würdest du dann dein musikalisches Talent verlieren?" Quentin lachte. "Sollte ich eine Delilah finden, die es mir wert wäre, ihn abzuschneiden, wirst du der Erste sein, der es erfährt. Tatsächlich würde ich sogar dir und deinem wöchentlichen Käseblatt die Exklusivrechte an der Story geben." "Delilah, hm?" Ben räusperte sich. "Wäre es möglich, dass das ihre Nägel sind, die sich in dein Hemd krallen?" Heidi ballte die Fäuste, bevor Quentin ihre Hände nahm und ihre Finger öffnete. "Nein. Ich glaube, diese Delilah hier hat schon den Untergang eines anderen Mannes im Sinn." Sie ließ ihre Stirn gegen den Rücken des Verräters prallen. Dann entzog sie Quentin ihre Hände und warf über seine Schulter einen Blick auf den Mann, den zu vergessen sie hierher gekommen war. Doch wie könnte sie ihn vergessen? Warum nur hatte sie gedacht, dass die Zeit je etwas daran ändern würde? Ihre Wangen brannten, ihr Magen kribbelte, ihre Hände wurden feucht. Das Lampenfieber, das zu Beginn des Abends rasch verflogen war, war prompt wieder da. Und das nur, weil sie Ben sah. Aber ihr Lampenfieber war nichts im Vergleich zu der durch und durch erwachsenen und weiblichen Erkenntnis, der sie sich jetzt stellen musste. Vor ihr stand das Bild eines Mannes, der alles bot, was als männlich galt - Selbstbewusstsein,
Selbstbeherrschung und ein akzeptables Maß an Arroganz. Ein Mann, der wusste, wer er war und der noch unendlich viel attraktiver war, als sie es je erwartet hätte. Er hielt eine Flasche Bier in einer Hand, während die andere in der Tasche seiner marineblauen Hose steckte. Sein Haar war noch dunkler als vor Jahren, und was Quentin über das Grau an seinen Schläfen gesagt hatte, war kein Scherz gewesen. Aber der kurze Haarschnitt stand ihm entschieden besser als der Rock 'n' Roll- Look, den er als Teenager getragen hatte. Sie hatte sich für Bens Kleidung nie besonders interessiert, oder jedenfalls nicht so wie jetzt. Über der marineblauen Hose trug er einen gelben Kaschmirpullover, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgeschoben hatte. Die helle Farbe betonte seinen dunklen Bartschatten und sein dunkles Haar. Sein ganzes Äußeres war so modisch salopp, dass es Geld verriet und Klasse. Aber seltsamerweise stieß es sie nicht ab wie früher. Eher ganz im Gegenteil... "Hallo, Ben. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen." Ben runzelte die Stirn, und zu Heidis Ärger nahm er sich viel Zeit, um ihr Minikleid, ihre langen Beine und ihr dauergewelltes und gefärbtes Haar in Augenschein zu nehmen. Ein Schluck aus seiner Flasche, und noch immer hörte er nicht auf, sie zu betrachten. Deshalb gab sie ihm dann noch mehr zu sehen. Sehr langsam beugte sie sich vor und zog ebenso langsam den Riemen ihrer Sandaletten an. Ihre Fingernägel waren von einem verführerischen Rot, das ihre laszive Bewegung noch betonte. Der Saum ihres Minikleides rutschte hinten höher, ihr Dekolletee glitt tiefer. Aber alles sehr geschmackvoll und ohne allzu viel zu zeigen. Denn neben anderen Dingen hatte Heidi auch den Unterschied zwischen einer bewussten und gekonnten Vorstellung gelernt und einer impulsiven, die aus dem Moment heraus geboren war. Aber dieser selbstbewusste, arrogante Mann rührte sich nicht.
Heidi ignorierte Quentins Lachen und unterdrückte den Impuls, ihm den Ellbogen in den Magen zu stoßen, richtete sich auf und strich langsam mit einer Hand ihr Haar zurück. Dann schaute sie Ben direkt in die Augen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, ihr Arm sank hinunter. Dabei glitt ihre Hand über ihre Hüfte, in einer ganz selbstverständlichen Weise, die umso verführerischer war. Heidi erkannte das daran, dass Bens Augen sich verdunkelten. Eine Wirkung, die sie mit ihrer verrückten Zurschaustellung damals im Billardzimmer nicht einmal annähernd erreicht hatte. Ben mochte zwar immer noch dastehen wie eine Studie in Tannenscher Klasse und Arroganz, aber innerlich war er längst nicht so gelassen. Heidi war nicht sicher, was sie aus dieser Erkenntnis schließen sollte. Oder wie sie sich verhalten sollte. Selbst als er lächelte und mit dieser leisen sexy Stimme "Hallo, Heidi" sagte. Sie antwortete "Hi", so ruhig, wie sie konnte - und wusste nicht weiter. Und so standen sie beide stumm da und warteten, als ob die Vergangenheit sich von selbst erledigen würde, wenn sie ihr nur genug Zeit ließen. "Hört mal", mischte Quentin sich ein, als das Schweigen unerträglich wurde. "Von mir aus könnt ihr hier stehen bleiben und euch weiter anstarren, aber ich werde mich jetzt mal umschauen. Mal sehen, ob Jack und Randy beschlossen haben, sich hier auch zu zeigen." "Verräter", murmelte Heidi und schüttelte erneut seine Hand ab, die Quentin ihr auf die Schulter gelegt hatte. "Ich zeige mich hier durchaus, mein Junge", ließ ein Mann sich vernehmen. "Aber nicht so, dass alle mich angaffen." "Randy!" Heidi wandte sich dem dritten der vier besten Freunde ihrer High-School- Zeit zu. Er trug modisch aktuelle Kakihosen und ein blaues Hemd, und auch sein dunkelbraunes Haar war nach dem letzten Trend
geschnitten. Er war kleiner als die anderen Männer und etwas untersetzter. Aber sein Gesicht, das in der Schule nur durchschnittlich gewesen war, zeigte eine Markanz und Reife, die Heidi den Atem stocken ließ. "Randy, du siehst großartig aus", sagte sie es ganz offen. Er küsste sie auf die Wange und trat wieder zurück. "Anders als der High-School-Champion mit dem dicken Kopf und dem großen Mundwerk, nicht wahr?" Quentin rieb sich das Kinn und betrachtete Randy von allen Seiten. "Großes Mundwerk und dicker Kopf? Ja, das passt immer noch." "Aber ein richtiger Champion warst du nicht. Du hast Golf gespielt", fügte Ben hinzu. "Hey! Ich hätte auch Football spielen können. Ich hätte der König der ganzen Welt sein können statt der König eines Kartenspiels." Randy hob die Hand und bewegte seine Finger. "Aber die hier musste ich für meine Trompete schonen." Die Gruppe lachte, als Quentin sagte: "Lieber ein guter Musiker, als ein zweitklassiger Ersatzspieler." Nach einem entschuldigenden Blick auf seine Begleiterin, die Randy ihnen bisher noch nicht vorgestellt hatte, stützte Heidi die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. "Man könnte meinen, ihr wärt noch immer auf der High School, so wie ihr redet." "Ich dachte, darum ginge es bei einem Klassentreffen." Ben grinste. "Alte Erinnerungen wieder aufleben zu lassen." "Richtig", sagte Quentin. "Eben", stimmte Randy ihm zu. Heidi verdrehte die Augen. "Dann gebt Randy wenigstens Gelegenheit, uns seine Freundin vorzustellen - obwohl ich sehr bezweifle, dass sie euch nach alldem überhaupt noch kennen lernen will."
Randy legte der Frau die Hand auf die Schulter. "Julie, das sind drei Fünftel unserer ehemaligen Band. Heidi Malone, Quentin Marks und Ben Tannen. Und das ist Julie Damon." "Hi, Julie", begann Heidi und schüttelte der zierlichen dunkelhaarigen Frau die Hand. "Schön, dass du gekommen bist. Ich hoffe nur, dass du es nicht zu unerträglich mit uns finden wirst." "Hat irgendjemand Jack gesehen?" warf Randy ein und legte freundschaftlich den Arm um Julies Schultern. Julie erwiderte Heidis Lächeln. "Ich kenne Randy jetzt schon eine ganze Weile. Macht euch also keine Sorgen wegen mir. Ich habe schon viel über euch alle gehört." "Na wunderbar." Quentin rieb sich die Hände. "Dann können wir ja an diesem Wochenende nach Herzenslust in alten Erinnerungen schwelgen." "Aber besorg mir vorher noch ein Bier, Randy", bat Julie lächelnd. "Zur Stärkung." "Selbstverständlich, meine Liebe." Randy gab einer Kellnerin ein Zeichen und bestellte Drinks für alle. "Unglaublich", sagte Julie zu Heidi, während die Männer sich über Baseball unterhielten. "Es ist fast so, als sähen sie sich jeden Tag. Männer besitzen offenbar die Fähigkeit, exakt dort weiterzumachen, wo sie vor fünfzehn Jahren aufgehört haben." "Das liegt daran, dass Männer jahrelang über das Gleiche reden", gab Heidi trocken zurück. "Das Einzige, was sich ändert, sind die Namen. Aus VHS wird DVD, aus Reagan Clinton und aus Farrah Fawcett Pamela Lee." Julie lachte. "Ich glaube, du hast Recht. Wir Frauen dagegen haben Fortschritte gemacht - statt über Mode und Beziehungen reden wir heute über Mode, Beziehungen und den Börsenmarkt." "Was erheblich progressiver ist", stimmte Heidi lächelnd zu. "Arbeitest du in derselben Firma wie Randy?"
"Nein, leider ist er bei unserem größten Konkurrenten." Julies Gesichtsausdruck wurde eine Spur wehmütig, als sie weitersprach. "Wir treffen uns in vielen Nächten in denselben Clubs. Entweder feiern wir einen Aufschwung an der Börse oder wir hocken nach einer Rezession zusammen und überlegen, wie viel wir wovon verloren haben." Heidi sah zu den Männern hinüber, die nach wie vor zusammenstanden und sich unterhielten. Ben stand mit dem Rücken zu ihr und bot ihr damit die Gelegenheit, seine breiten Schultern zu bewundem. Aber nicht sehr lange, weil Quentin ihren Blick bemerkte und ihr zuzwinkerte. Sie unterdrückte den Impuls, ihm die Zunge herauszustrecken und schaute Randy an. "Komisch, aber ich kann mir Randy gar nicht als gestressten Börsenmakler vorstellen", antwortete sie Julie. "Er war zwar damals in der High School ziemlich ehrgeizig, aber da er stets für jeden Spaß zu haben war, haben wir das nie weiter beachtet." Julie nickte. "Er ist ungemein erfolgreich. Und auch sehr ambitioniert. Das kann ich gut beurteilen, weil ich selbst so bin." Sie legte den Kopf so zur Seite, dass ihr dunkles Haar die rote Seide ihres eleganten Hosenanzugs streifte. Es war sowohl Julies Blick als auch deren Körpersprache, was Heidis weibliche Intuition anregte. "Das muss ja eine interessante Beziehung sein." "Wir haben keine Beziehung", sagte Julie rasch. "Wir sind nur Freunde. In seinen Augen bin ich nichts weiter als ein guter Kumpel." Heidi lachte. "Das kommt mir bekannt vor." "Wieso?" Lachend deutete Heidi auf die Männer. "Das war ich für die dort in der Schule auch. Ein guter Kumpel." "Ist das dein Ernst?" Julie wirkte aufrichtig verblüfft. "Du dachtest wirklich, du wärst für sie nichts weiter als ein guter Kumpel?"
"Ich dachte das nicht. Sie dachten das. Wir waren so eine Art Bruderschaft - alle für einen, einer für alle." Diese Bemerkung weckte nun Julies weibliche Intuition. "Dann dürfte es ja ein interessantes Wochenende werden." "Ich verstehe nicht... Oh, Moment." Heidi begriff nun. "Randy hat dir Geschichten erzählt, nicht wahr? Er hat dich über alle unsere Eskapaden aufgeklärt, damit du dich nicht ausgeschlossen fühlst an diesem Wochenende, richtig?" Julie nippte an ihrem Bier und schüttelte den Kopf. "Randy erzählt mir schon seit Jahren von der Gruppe. Ich bin Ben und Quentin vorher zwar nie begegnet, wusste aber sofort, dass sie es sind, als wir vorhin kamen." Mit erhobenen Augenbrauen fügte sie hinzu: "Und bei dir war ich mir sowieso ganz sicher." "Das war nicht schwierig. Ich bin die einzige Frau." "Nein. Nicht nur deswegen." "Hm." Heidi überlegte. "Dann wohl weil ich der Joker der Band war. Du hast ja meinen Auftritt mitbekommen." Nicht gerade einer ihrer besten Augenblicke dieses Abends. "Dabei fand ich selbst mich eigentlich nie komisch, obwohl die Jungs mir ein paar Mal versicherten, sie lachten nicht über mich, sondern mit mir." "Soviel ich weiß, hat deine komische Seite nur einen kleinen Teil eurer Beziehung ausgemacht." Dies alles wurde von Minute zu Minute rätselhafter. "Tut mir Leid, Julie, aber jetzt habe ich dich schon wieder nicht verstanden." "Das macht nichts", versicherte Julie ihr lächelnd. "Ich wollte eigentlich auch nur wissen, ob Randy Recht hatte. Dass du gar nicht wusstest, was die anderen dachten. Oder was sie fühlten in Bezug auf dich." Heidi stieß einen Seufzer aus, der sehr frustriert klang. "Ich höre das heute Abend nicht das erste Mal. Quentin sagte vorhin schon etwas Ähnliches."
"Über die Vorgänge in dieser Gruppe? Ich weiß nur, was Randy mir gesagt hat." Julie beugte sich ein wenig vor und senkte die Stimme. "Glaub mir, Heidi - du warst für keinen der Jungs in der Band ein Kumpel." "Aha, Randy hat dir also mehr als nur ein paar Geschichten aufgetischt." Heidi lachte, aber ihre Neugier war geweckt. War sie wirklich so blind gewesen auf der High School? So blind, dass ihr entgangen war, was Julie mit ihren Worten anzudeuten schien? "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals irgendetwas anderes als der Joker für sie war." Julies Lächeln besagte, dass Heidi denken konnte, was sie wollte. Sie wusste es besser. "Selbst wenn Ben vorhin vielleicht nicht auf die Vorstellung reagiert hat, die du ihm geboten hast, hat Randy sich dabei fast die Zunge abgebissen. Und Quentin sind beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen." Heidi hätte nicht sagen können, welche von Julies Beobachtungen das Kribbeln in ihrem Magen auslöste. Quentins Augen, Randys Zunge oder die Tatsache, dass eine Wildfremde die subtilen Signale genau mitbekommen hatte, die sie Ben gesandt hatte. Na ja. So subtil waren sie nun auch wieder nicht gewesen. "Ich bin sicher, dass du übertreibst. Oder dir das alles nur einbildest." Das Letztere wäre ihr lieber. Denn es würde ein anstrengendes Wochenende werden, wenn sie sich nicht unbekümmert fühlen konnte bei den wenigen alten Freunden, die sie sehen wollte. Die merkwürdigen Blicke der anderen Klassenkameraden genügten ihr bereits. Julie schüttelte den Kopf. "Nein, ich bilde mir nichts ein. Und das kann ich dir auch beweisen." Sie sprach noch leiser. "Während wir reden, schau doch einmal unauffällig zu den drei besagten Männern hin." Heidi tat es. "Ich sehe sie. Und jetzt?" Julies dunkle Augen funkelten vor Übermut. "Jetzt gib ihnen fünfzehn Sekunden, aber behalt sie dabei im Auge. Ich kann dir
garantieren, dass du jeden Einzelnen von ihnen beim Hingucken ertappen wirst." "Und was tue ich dann?" "Warte, bis sie merken, dass du sie ertappt hast, und dann weide dich an ihrer Verlegenheit. Denn es werden nicht deine Augen sein, wohin sie geschaut haben. Randy wird erröten. Bei den anderen beiden weiß ich es nicht, aber bei Randy bin ich mir vollkommen sicher." Tatsächlich errötete er bis an die Haarwurzeln. Und wie Julie es ganz richtig vorausgesagt hatte, hatte er nicht Heidis Blick gesucht. Als ihre Blicke sich trafen, sah sie in seinen Augen den verzückten Ausdruck, den sie bei Ben vergeblich zu erreichen versucht hatte. Sie zog eine Braue hoch, und er errötete noch heftiger. "Hatte ich Recht?" fragte Julie, um diese amüsante Unterhaltung nicht abbrechen zu lassen. "Bisher ja. Randy sieht übrigens süß aus, wenn er rot wird. Aber zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich auf der High School völlig anders aussah. Ich war ein Punk in einer Schule, wo man unter Punk einen Fluch verstand und keine Moderichtung." Julie nickte, schien aber nicht überzeugt. "Noch nichts von den anderen beiden?" "Nun ..." begann Heidi und sah jetzt, dass Quentin, obwohl er gerade irgendeine Geschichte zum Besten gab, die er mit dramatischen Gesten unterstrich; sie mit einem Blick betrachtete, der eine interessante Variante männlicher Bewunderung war. Er war weder begehrlich noch frivol, sondern der Blick eines Künstlers, der sich am Ergebnis jahrelanger kreativer Bemühungen erfreute. Was Heidi umso mehr verwirrte, da sie sich selbst nie als Kunstwerk betrachtet hatte. Die Idee, dass es etwas an ihr gab, was sie versäumt hatte zu sehen, gefiel ihr gar nicht. "Gut. Bei zwei von dreien gebe ich
dir Recht. Aber Ben wird nicht anbeißen." Darauf hätte sie ihre Karriere verwettet. "Glaub mir. Ben wird sehr viel mehr tun, als nur anzubeißen. Er hat diesen Blick in den Augen ..." "Was für einen Blick?" Heidi musste sich sehr beherrschen, um nicht herumzufahren. "So einen entschlossenen. Fast so, als hättet ihr noch eine offene Rechnung zu begleichen." Verdammt! dachte Heidi und konnte Julie nur sprachlos anstarren. Wenn schon Julie, die eine Wildfremde war, die Verbindung spürte, die zwischen ihr und Ben bestand, was mochte dann erst in den Köpfen der Leute vorgehe n, die Bescheid wussten? O Mann. Das war es also. Deshalb starrten alle sie so an! Die Leute sahen weder ein Kunstwerk in ihr, noch fragten sie sich wer sie sein mochte. Sie wussten es! Und nun warteten alle gespannt auf die bevorstehende Konfrontation zwischen dem weiblichen Aggressor und dem männlichen Opfer. "Offene Rechnung?" Heidi lachte, weil es diskreter war als der hysterische Schrei, der in ihrer Kehle aufstieg. "Wenn du nicht Aktien kaufst oder verkaufst, praktizierst du wohl Psychologie." "Ich weiß. Ich bin schrecklich." Julie legte gespielt entschuldigend eine Hand an ihre Brust. "Aber ich bin eine sehr gute Menschenkennerin. Außerdem weiß ich, woher Ben diese sexy Narbe an seiner Wange hat." Heidi stöhnte. "Das war wohl wieder Randys Mundwerk!" "Drücken wir es so aus. Als er mir von dem Klassentreffen erzählte, bot ich ihm an, ihn zu begleiten." Na toll. Dann wusste Julie vermutlich auch von dem StripBillard. "Ich bin froh, dass du mitgekommen bist. Nachdem ich vier Jahre mit den Jungs allein ve rbracht habe, wird es nett sein, noch eine Frau dabeizuhaben."
Julie schaute sich im "Cave" um. "Man sollte meinen, du brauchtest mich bei all den Frauen hier nicht." Es war Heidi ziemlich peinlich, zuzugeben, dass sie sich von den weiblichen Klassenkameraden stets fern gehalten hatte. "Die Schule war immer das Wichtigste für mich. Und das bedeutete sehr viel Lernen und sehr viel Üben mit der Band. Außerdem war ich so eine Art Außenseiterin. Ich hatte nie viele Freunde." "Und warum bist du dann hergekommen? " "Zu dem Klassentreffen?" Julie nickte, und Heidi schwieg einen Moment, um nachzudenken. War sie gekommen, um ihre alten Freunde wieder zu sehen? Um zu klären, was zwischen ihr und Ben nie geregelt worden war? Um den Ort wieder zu sehen, von dem sie es dermaßen eilig gehabt hatte, zu verschwinden, dass sie nicht einmal lange genug geblieben war, um zu beweisen, dass es nichts gab, dessen sie sich schämen musste und nichts, wovor sie hätte fliehen müssen? Wow! Wie kam sie denn jetzt darauf?, "Hey, ich glaube, die Band fängt gleich an", sagte Randy, der jetzt zu ihnen herüberkam. Ben und Quentin folgten ihm und bewahrten Heidi vor weiteren kritischen Überlegungen - was vor allem deshalb gut war, da Ben sich für den Platz neben ihr entschied und sie sich ohnehin auf nichts mehr konzentrieren konnte, als sie die neugierigen Blicke der anderen im Rücken spürte. Die Konfrontation wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, Freunde! sagte sie im Stillen. Rasch wandte sie den Blick zur Bühne, wo die fünfköpfige Band ihre Instrumente stimmte und die Mikrofone überprüfte. Es war leichter, Interesse an der Band zu heucheln, als etwas zu Ben zu sagen, während Hunderte von Antennen sich in ihre Richtung drehten.
Nicht, dass Ben auch nur das geringste Interesse an einem Gespräch mit ihr hätte erkennen lassen. Ihr Schweigen schien ihm sogar sehr recht zu sein. Die Spannung wuchs und wuchs, dass sich ihr schon der Magen umdrehte. Aber die fabelhafte Heidi Malone dachte nicht daran, sich ihren Abend und ihren Spaß verderben zu lassen, weder von einer echten noch von einer eingebildeten Bedrohung. Und so verdrängte sie ihre bösen Vorahnungen und konzentrierte sich stattdessen auf den Gitarristen. Er trug verwaschene Jeans und Motorradstiefel, ein weißes TShirt und eine dunkle Sonnenbrille. Sein Haar, das von einem dunklen Blondton war, war wellig und aus dem Gesicht zurückgekämmt. Als der Drummer nun "Eins, zwei, drei, vier" rief und mit einem Trommelschlag den Einsatz gab und die Musiker Bruce Springsteens "Born in the USA" anstimmten, als schallender Applaus im "Cave" ausbrach und noch lauteres Kreischen und schrille Pfiffe, erkannte Heidi, dass der Bassgitarrist kein anderer als das letzte noch fehlende Mitglied von "The Deck", ihrer früheren Jazzband, war. Jack Montgomery. "Das ist Jack!" schrie sie den anderen zu, obwohl die Musik so laut war, dass sie sie wahrscheinlich gar nicht hörten. Doch Ben beugte sich vor, und sein Kinn berührte ihre Wange, als er ihr zuschrie: "Sein Hobby. Die Band spielt in vielen kleinen Clubs." "Sie sind großartig! Wie heißen sie?" "Diamond Jack", antwortete Ben und lachte. Heidi konnte gar nicht anders, als mitzulachen. Jack war wirklich gut. Die Band spielte phantastisch. Und Jack sang sogar. Heidi hatte keine Ahnung, was er sang. Sie trat noch dichter an Ben heran. "Er ist gut. Echt gut." Ben nickte und beugte sich noch weiter vor, so dass Heidi fast den Kopf an seine Schulter legen konnte. "Er ist gut, weil er
es nur zum Vergnügen tut. Er meint, wenn er versuchen würde, einen Beruf daraus zu machen, würde er versagen." "Das hat er dir erzählt?" "Ja. Wir haben uns oft gesehen, seit ich zurückgekommen bin." Danach schwieg Ben, hörte zu und wiegte sich im Rhythmus der Musik. Selbstvergessen machte Heidi es ihm nach. Sie merkte schnell, dass sie sich in perfekter Harmonie mit ihm bewegte, und als ihre Hüften seine Schenkel streiften, war es eigentlich ein ganz harmloser Kontakt, der nichts Besonderes unter guten Freunden war. Das Kribbeln, das daraufhin ihre Wirbelsäule entlang lief, war hingegen etwas völlig anderes. Aber das gedachte sie zu ignorieren, denn dieser Mann war schließlich Ben, und sie hatte noch etwas mit ihm zu regeln und jede Menge Zuschauer, die es kaum abwarten konnten. Für den Augenblick wollte sie nur die Musik genießen. Und solange die Berührungen zufällig blieben, würde sie sich darüber auch nicht groß den Kopf zerbrechen. Diamond Jack war beim Ende des Songs angekommen, hob die Hände über den Kopf, klatschte und ermunterte das Publikum, es auch zu tun. Unter donnerndem Applaus spielte er das Finale, riss dann seine Sonnenbrille ab und warf sie in die Menge. "Willkommen in den Achtzigern!" Die Gäste schrien und johlten und lachten sogar noch lauter, als einer "Buh!" schrie. "Reg dich ab, Freund." Jack grinste. "Wir kehren schon noch früh genug in die Neunziger zurück. Aber jetzt sind wir hier, um euch daran zu erinnern, wie ihr in den guten alten Zeiten der Fallschirmspringerhosen und chlorgebleichten Jeans aussaht!" Noch mehr Applaus ertönte.
"Und jetzt spielen wir Springsteen, Styx, Journey und Genesis, um euch in die richtige Stimmung zu bringen für das Wochenende. Und da es keinen besseren Weg gibt, euch wieder näher zu kommen, schnappt ihr Jungs euch jetzt alle ein Mädchen und seht zu, dass ihr mit ihr auf die Tanzfläche kommt!"
4. KAPITEL Eine gefühlvolle Ballade begann, die Jack mit leiser, rauer Stimme vortrug, und Paare bildeten sich. Mit der Absicht, den ersten Tanz auszusitzen, wandte Heidi sich zur Bar. Da stand plötzlich Ben vor ihr. Und völlig selbstverständ lich legte Heidi ihre Hand in seine, und er schloss seine Finger um ihre. Seine Berührung war warm, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Er zog fragend eine Braue hoch, sie nickte, und er begann sich zu bewegen. Seine Füße glitten zwischen ihre, seine Schenkel übten einen leisen Druck auf ihre aus. Seine Kraft war beruhigend, und Heidi war sich seiner männlichen Wirkung auf sie als Frau sehr bewusst. Sie entspannte sich in seinen Armen, schmiegte sich aber nicht an ihn, wie sie es jetzt so mühelos hätte tun können. Schließlich war dieser Mann Ben, dem sie nicht zu nahe kommen durfte, ganz gleich, wie intensiv ihre alten Gefühle für ihn auch noch sein mochten. Denn Ben war so etwas wie der letzte Fleck, den sie vom Bild ihrer Vergangenheit entfernen musste. Sie würde nie
vergessen können, wer sie einst gewesen war, bis sie nicht auch diesen letzten Fleck beseitigt hatte. Aber warum kam ihr seine körperliche Nähe dann wie ein erster Schritt vor - wie ein Beginn statt eines Endes und der Heilung, die sie sich davon erwartet hatte? "Du tanzt gut." Bens Stimme war leise, die Worte waren nur für sie bestimmt. "Wir haben noch nie zusammen getanzt, wenn ich mich recht entsinne." Nein. Sie waren Freunde gewesen, aber sie hatten sich in verschiedenen Kreisen bewegt. Und sie würde sich daran erinnern, ihn so nah gespürt zu haben wie jetzt. Doch das war nie der Fall gewesen, und für einen Moment schloss sie die Augen und überließ sich dem Gefühl der Geborgenheit, das seine starken Arme ihr vermittelten. "Danke. Und du hast Recht, wir haben nie zusammen getanzt. Ich glaube aber auch nicht, dass wir je Gelegenheit dazu hatten." "Natürlich hatten wir", entgegnete er und schob seine Hand auf ihrem Rücken ein wenig tiefer. "Bei den Partys nach den Ferien. Und am Valentinstag und auf der Abschlussfeier." Heidi trat zurück, um Ben anzuschauen. Spöttisch hob sie eine Braue. Ben runzelte die Stirn. "Was ist?" "Wer bin ich, Ben?" Seine Stirn glättete sich wieder. "Die fabelhafte Heidi Malone." Sie verdrehte die Augen. "Na schön. Und wer war ich?" Er dachte nach, während er fortfuhr, sich zur Musik zu bewegen. "Der Joker?" "Genau. Und der Joker tanzte nicht." "Hm. Da magst du Recht haben", sagte er, und sie tanzten schweigend weiter. Es war schön, mit Ben zu tanzen. Eigentlich zu schön für einen Moment, der nichts anderes sein konnte als ein Moment. Die Differenzen, die sie in der Vergangenheit gehabt hatten,
waren heute nicht mehr so offensichtlich, aber sie blieben bestehen. Ja, Ben war der Grund für ihr Erscheinen hier. Aber sie war gekommen, um etwas wieder gutzumachen, und nicht um zu tanzen Dennoch nickte sie, als die Band zu einer anderen Ballade wechselte und Ben sie mit einem fragenden Blick auch um den nächsten Tanz bat. "Was hat dich zurückgebracht nach Sherwood Grove?" fragte sie und war fest entschlossen, lieber Konversation zu machen, als ihre Zeit mit sinnlosen Überlegungen und aussichtslosen Wünschen zu verschwenden. Bens Kinn streifte kurz ihr Ohr, bevor er erklärte: "Ich lebe jetzt eigentlich in Stonebridge, nicht in Sherwood Grove." "Stonebridge. Das liegt hinter Austin, nicht wahr?" Er nickte, und sie redete schnell weiter, weil sein Mund so nah war, wenn er sprach, und sein Blick sie wie magisch anzog. Und sie fragte sich ... Verdammt! Jetzt schweifte sie ja schon wieder ab. "Ich glaube, wir sind einmal auf dem Weg zu einem Konzert hindurchgefahren. Wenn ich mich recht entsinne, gab es dort nur eine Ampel und ein Schild mit einer Einwohnerzahl von zweitausend?" "Ein paar mehr werden es schon gewesen sein. Heute sind es jedenfalls etwa zehntausend. Viele Leute zieht es jetzt aufs Land, weil sie sich nach einem einfacheren Leben sehnen." "War das auch bei dir der Grund?" Das war schwer vorstellbar bei ihm. Oder bei irgendeinem anderen Tannen. Er nickte und umfasste ihre Hand noch zärtlicher, als die Musik noch sanfter wurde. "Mehr oder weniger", antwortete er. "Es war nicht leicht, dorthin zu kommen." "Nach Stonebridge? Oder zu der Einsicht, dass du Stonebridge brauchtest?" Für sie bedeutete das nämlich einen ziemliche n Unterschied.
Sie selbst war erst sehr viel später aus Sherwood Grove fortgegangen, als sie es eigentlich gewollt hatte. Weil sie einfach nicht die Mittel dazu besessen hatte - bis sie ihr angeboten wurden. Und ausgerechnet von dem Jungen, der dieser Mann damals gewesen war. Ben lachte, und sie spürte das Vibrieren seiner Brust an ihrer - viel zu nah an ihrem Herzen. Rasch vergrößerte sie den Abstand zwischen ihnen. Doch Ben zog sie wieder an sich. "So habe ich es noch nie betrachtet, aber du hast Recht. Ich brauchte Stonebridge schon lange, bevor ich mich zu diesem Schritt entschloss. Es hat acht Jahre, vier Stellungswechsel und eine Ehe erfordert, mich dorthin zu bringen." Er war verheiratet gewesen? Oder war es immer noch? Verflucht sei Quentin Marks und seine Diskretion! Heidi korrigierte einen falschen Tanzschritt und fragte: "Wie lange bist du schon verheiratet?" "War." Ben lächelte ein wenig wehmütig. "Ich war mir nicht sicher, ob du es wusstest." "Nein, aber es überrascht mich nicht. Ein Tannen ist eine gute Partie. Es hätte mich wesentlich mehr überrascht, wenn du ledig geblieben wärst." Und jetzt, wo sie darüber nachdachte, wäre dieses ganze Wochenende für sie einfacher gewesen, wenn er verheiratet wäre. Denn dann würde er ihr jetzt nicht so nah sein, und sie würde es auch gar nicht wollen. "Es war doch hoffentlich nicht Maryann Stafford?" Ben lachte. "Nein, sie hieß Katherine. Wir lernten uns an der Universität von Texas kennen, wo wir beide Zeitungswissenschaften studierten." Katherine Tannen. Das klang ja schrecklich. "Es tut mir Leid, dass es nicht geklappt hat. Habt ihr Kinder?" Hatte sie ihn wegen seines Geldes geheiratet? Hatte sie Gnade gefunden vor den Augen seiner Eltern? Hatte er sie geliebt?
"Ich und Katherine?" Er schüttelte den Kopf. "Nein. Wir hatten beide Berufe, die uns vierundzwanzig Stunden am Tag in Anspruch nahmen, sieben Tage in der Woche. Wir hatten keine Zeit, über Kinder zu reden, geschweige denn, sie in die Welt zu setzen." Das Letzte hörte sich mehr nach Resignation als nach Bedauern an. Heidi versuchte zu ignorieren, dass Ben über die Sexualität in seiner Ehe sprach, oder vielmehr über ihren Mangel. Egal, wie sie darüber dachte, es tat ihr Leid, dass er offensichtlich unglücklich gewesen war. "Das ist wohl auch am besten so. Dass ihr keine Kinder habt. Weil ihr euch getrennt habt, meine ich." Unwillkürlich versteifte sie sich und ärgerte sich über sich selbst. Was plapperte sie nur für einen Unsinn! Ben hob ihr Kinn an und hielt ihren Blick fest. In seinen glitzernden Augen la g ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte. Es war, als würde er mühsam etwas unterdrücken. "Beruhige dich. Wir sprechen bloß über die vergangenen Jahre. Frag alles, was du fragen willst." Vielleicht könnte sie das, wenn sie ihn auch weiterhin als verheiratet betrachtete. Wenn sie seine Berührungen und das Tanzen mit ihm überlebte. Und wenn sie sich nicht fragte, was es war, was er so mühsam unterdrückte. "Okay. Ich will nur nicht indiskret sein." "Keine Sorge. Wir können über alles reden. Erspar mir nur die peinlichen Details." Sie lachte. "Ich bin doch nicht Randy. Er scheint die unglaublichsten Geschichten erzählt zu haben." "Wem? Julie?" Als Heidi nickte, meinte Ben: "Das müssen aber interessante Geschichten gewesen sein. Ihr saht so aus, als ob ihr eine Menge zu besprechen hattet." "Nur über Frauenthemen." "In der Schule hast du das nicht oft getan, nicht wahr?"
Heidi trat ihm beinahe auf den Fuß. "Ach komm schon, Ben. Es sind nur fünfzehn Jahre her und keine fünfzig. So viel kannst du doch nicht vergessen haben. Mit wem hätte ich denn in der Schule über Frauenthemen sprechen sollen?" "Und jetzt?" "Und jetzt... was?" "Hast du jetzt jemanden, mit dem du über Frauenthemen reden kannst?" "Natürlich." Sie hatte Georgia. Er zog sie noch ein wenig fester an sich. "Und was ist mit Männern?" wollte er dann wissen. Seine Umarmung war ein bisschen zu intim, und sie konnte ihre Unruhe kaum noch unterdrücken. "Männer?" "Klar. Hast du jemanden, der dir süße Nichtigkeiten ins Ohr flüstert?" fragte er und beugte sich dabei so weit vor, dass sein warmer Atem über ihr Ohr strich. Sie bedachte Ben mit einem missbilligenden Blick. "Hast du vor, mich über mein Liebesleben auszuhorchen?" "Nun ja, eigentlich nicht, aber da wir gerade beim Thema sind ..." Er zog die Schultern hoch, und sie spürte, dass seine Muskeln sich zusammenzogen. "Wie könnte ich da widerstehen?" "Verstehe. Also nein." Da sie Abstand zu ihm brauchte, begann sie langsamer zu tanzen. Auch Ben verhielt den Schritt. "Nein?" "Nein. Keine Männer. Keine süßen Nichtigkeiten." "Ein Teil von mir kann das kaum glauben. Ein anderer Teil von mir ist jedoch gar nicht überrascht." "Ein Teil von mir empfindet das als beleidigend. Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, überrascht es mich nicht, dass du so von mir denkst." Sie lächelte ihn an. "Quentin und ich mögen zwar sehr gute Freunde gewesen sein, aber du kanntest mich besser als alle anderen."
Er schwieg eine Weile und tanzte langsamer, bis sie sich kaum noch bewegten und nur noch die Arme umeinander gelegt dastanden. Seine Hand glitt über ihren Rücken, und sein Blick erschien ihr wieder sehr vertraut, als er ihr wissend in die Augen schaute. Wie hätte er sie auch nicht durchschauen können, wo er sie doch tatsächlich so viel besser kannte als die anderen? Ihr Herz schlug plötzlich viel zu schnell, und ihre Haut begann zu prickeln, weil Ben viel zu nah war. Jetzt kommt es, dachte sie erschauernd. "Ist es nicht allmählich Zeit, vollkommen aufrichtig zu sein, Heidi?" "Was willst du damit sagen?" wich sie einer Antwort aus. "Komm. Lass uns etwas trinken gehen." Ben nahm ihren Arm und führte sie zu zwei Barhockern, die in der dunkelsten Ecke der lang gestreckten Bar standen. Es war nicht leicht, sich in dem engen Minikleid auf den hohen Barhocker zu ziehen, ohne allzu viel von dem zu zeigen, was sie nicht zeigen wollte. Dass Ben sie dabei so neugierig beobachtete, machte ihr die Sache nicht gerade einfacher. "Bier?" fragte er und setzte sich neben sie. Sie nickte. Sie wollte keins und würde es wahrscheinlich auch nicht trinken. Aber noch dringender als einen klaren Kopf brauchte sie jetzt eine Ablenkung. Irgendetwas, womit sie sich beschäftigen konnte. Während sie in einer dunklen Ecke mit Ben Tannen saß, der zu einem attraktiveren Mann geworden war als jeder andere, mit dem sie seit... mit dem sie jemals allein gewesen war. Er winkte dem Barkeeper, der ihnen eine Schale Nüsse brachte, zwei Flaschen Bier und ein eisgekühltes Glas für sie. Langsam schenkte sie sich ein und spürte, dass die Spannung zwischen Ben und ihr zunahm.
Der Moment der Wahrheit war gekommen. Endlich, sagte sie sich. Denn dazu war sie schließlich hergekommen. Um sich mit Ben auszusöhnen. Oder etwa nicht? Die Verletzung, die sie ihm zugefügt hatte, hatte auch bei ihr eine Wunde hinterlassen. Sie brauchte diesen Heilprozess. "Er ist gut, nicht wahr?" "Hm? Oh, Jack." Bens Blick folgend, sah sie, dass Jack die Augen schloss, als er ein besonders schwieriges Gitarrensolo spielte. "Ja, das ist er. Ich hatte keine Ahnung, dass er nach der High School eine neue Band gegründet hat. Oder dass er überhaupt noch hier in dieser Gegend ist." "Er war eine Zeit lang fort", sagte Ben. "Zuerst auf einem College, dann beim Militär." "Wirklich? Das wusste ich nicht." Ben nahm sich eine Erdnuss. "Wie hättest du es auch wissen sollen?" "Das stimmt", erwiderte sie knapp. Denn wie sollte sie Ben erklären, warum sie den Kontakt zu ihren vier Freunden abgebrochen hatte, wenn sie sich über den Grund selbst noch nicht im Klaren war? "Was tut er heute? Wenn er nicht gerade Oldies spielt in irgendwelchen Clubs." Ben lachte. "Oldies? Wenn diese Songs Oldies sind, muss ich auch alt sein." "Okay, okay. Wenn du alt wärst, wären Jack und ich es auch. Ich bin es nicht. Und Jack kann es gar nicht sein, weil er sonst nicht zu diesen Verrenkungen im Stande wäre, die er dort oben auf der Bühne veranstaltet. Was immer er beruflich macht, er hat sich fit gehalten." "Einmal Soldat, immer Soldat. Und es wird ihn sicher freuen, dass dir seine gute körperliche Verfassung nicht entgangen ist." Sie warf Ben einen ärgerlichen Blick zu. "Wie hätte ich das übersehen können? Er ist verschwitzt, und dieses T-Shirt klebt ihm wie eine zweite Haut am Körper." Na toll, Heidi, sagte sie sich. Nur weiter so. "Wo ist er also? Bei der Armee? Bei der
Marine?" "Früher war er bei den Marines. Heute ist er bei irgendeiner Spezialtruppe." Ben kratzte am Etikett seiner Bierflasche. "Ich bin sicher, dass er dir darüber erzählen wird, soweit er darüber sprechen darf." "Oh, ein Marine mit Geheimnissen! Ich habe schon Gerüchte gehört, dass es ein interessantes Wochenende werden soll." Bens Augen glitzerten. "Was hast du denn von dem Wochenende erwartet?" Das war keine leichte Frage. Wie ehrlich sollte sie jetzt sein? Sollte sie zugeben, dass sie gar nicht viel über das Klassentreffen nachgedacht hatte? Dass sie im Grunde nur deshalb hergekommen war, um das zu regeln, was sie schon vor Jahren hätte klären müssen? Nein. Das wäre zu viel und zu früh. Sie würde einfach Bens Führung folgen und ihn das Tempo und die Tonlage für ihr persönliches Anliegen bestimmen lassen. "Ich hatte eigentlich damit gerechnet, mehr in den Kulissen herum zusitzen", antwortete sie. Ben lächelte, und sie fügte rasch hinzu: "Ich habe nicht viel zu erzählen." "Da muss ich dir leider widersprechen." Besserwisser, dachte sie und fluchte innerlich. "Dann lass es mich anders ausdrücken, ich habe nicht viele alte Freunde, über deren Leben ich gern etwas hören würde." "Ich kann mir mindestens vier vorstellen." "Die vier, um derentwegen ich hergekommen bin", behauptete sie. In Wahrheit ging es ihr nur um einen. Aber das brauchte er noch nicht zu wissen. "Ich habe mich nach dir erkundigt, Heidi." "Wirklich?" fragte sie und war verblüfft, erfreut und auch ein wenig misstrauisch. Warum hätte Ben sich nach ihr erkundigen sollen?
Sie war diejenige, die etwas wieder gutzumachen hatte, und sie hatte nicht einmal gewusst, welche bedeutenden Veränderungen er in seinem Leben vorgenommen hatte. "Warum?" Er zuckte die Schultern. "Weil ich diesen Bruderkomplex nie richtig ablegen konnte und mich wahrscheinlich immer noch für dich verantwortlich fühle." Wow! Das war deutlich. Während sie sich fragte, warum er sie vorhin beim Tanzen so fest in den Armen gehalten hatte, hatte er offenbar bloß versucht, sie vor der Art von Missgeschicken zu beschützen, die ihr in der Schule so oft widerfahren waren. Sie nickte. "Ich war also so etwas wie eine kleine Schwester für dich." "Näher hast du ja niemanden an dich herangelassen, Heidi." In gewisser Weise stimmte das sogar. Jemandem ihr Herz zu öffnen hätte ihr weniger Raum gelassen für die Dinge, die ihr damals am wichtigsten waren. Denn wie hätte sie Sherwood Grove verlassen können, wenn jemand ihr einen Grund gegeben hätte, dazubleiben? Heidi seufzte. "Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass wir mehr als Freunde waren, Ben. Aber dass ich für dich wie eine kleine Schwester war ..." "Das schaffte eine sichere Distanz zu dir." "Du hattest das Gefühl, Distanz zu mir zu brauchen?" Ben drehte sich ihr auf seinem Barhocker ganz zu und wies kurz auf sein Kinn. "Da siehst du, was passierte, als ich dir zu nah kam", erwiderte er. Sie gab sich die größte Mühe, ihn nicht anzuschauen. Und fast wäre es ihr auch gelungen - bis Ben langsam die dunklen Wimpern hob und sie ansah mit den Augen jenes Jungen, den sie gekannt, gehasst, bewundert, beneidet und geliebt hatte. Sie seufzte. "Wir müssen miteinander reden, nicht wahr?"
Ohne den Blick von ihr zu lösen, richtete er sich etwas auf, griff in die Hosentasche und zog ein zusammengefaltetes, abgegriffenes Blatt Papier hervor. Langsam strich er es glatt und legte es auf die Bar. Für alle sichtbar, hatte sie das Gefühl, obwohl es hier in der Ecke ziemlich schummrig war. Außerdem konnte ohnehin niemand wissen, was dort mit roter Tinte geschrieben stand - und welch tiefer Schmerz, welche Qual damit verbunden war. Dass Ben es noch immer hatte ... Fünfzehn Jahre lang hatte er es aufbewahrt... Erinnerungen übermannten Heidi. Plötzlich glaubte sie, wieder die schwere Fahrradkette in der Hand zu spüren und die ganze hilflose Verzweiflung, die sie in jenem Moment beherrscht hatte. Sie hatte wieder den Scheck vor Augen, den Ben ihr gereicht hatte - diesen simplen Scheck, dessen Bedingungen ihr nicht unzumutbarer hätten erscheinen können. Er hatte ihr Geld geboten, eine Chance, ihr Studium zu beginnen, und sie hatte es genommen und sich damit unwiderruflich an all das gebunden, was sie am Lebensstil der Tannens verurteilt und gehasst hatte. An jenem Tag hatte sie ihren Stolz verloren, an den sie sich vier Jahre lang geklammert hatte. Ihr Stolz, der sie davor bewahrt hatte, zu glauben, was die anderen von ihr sagten - dass sie nicht dazugehöre, nicht gut genug sei und nicht vergessen solle, wo sie herkäme. Ihre Herkunft hatte sie jetzt wieder eingeholt, um sie zu quälen. Verflucht sei Ben, der die Vergangenheit nicht ruhen lassen wollte! Einen Ellbogen auf die Bar gestützt, starrte er auf den Zettel, schob ihn mit dem Zeigefinger hin und her und drehte ihn und drehte ihn, bis auch sie nicht mehr den Blick von dem Papier abwenden konnte.
Er besaß also tatsächlich die Frechheit, ihr mit einem fünfzehn Jahre alten Augenblick der Schwäche zu drohen? Na schön, dann würde sie den Spieß einfach umdrehen und die Spielregeln selbst bestimmen. Mit ihrem rotlackierten Fingernagel tippte sie auf das Blatt Papier. "So wie es aussieht, willst du gar nicht reden." Er warf ihr einen Blick zu und verzog den Mund zu einem Lächeln. "Ich bin mir nur nicht sicher, ob du bereit bist zu der Unterhaltung, die ich mit dir führen möchte." "Aber, Ben", murmelte sie, ließ sich von ihrem Barhocker gleiten und legte eine Hand auf seinen Schenkel. "Wenn du wüsstest, wie bereit ich bin." "Tatsächlich?" Lächelnd nickte sie und strich mit der anderen Hand über die Narbe, die er ihr zu verdanken hatte. Die Narbe durchbrach seinen Bartschatten, so wie sie jetzt gern seine Selbstzufriedenheit durchbrechen würde. Deshalb beugte sie sich vor und - zum ersten Mal in ihrem Leben - berührte mit den Lippen seinen Mund.
5. KAPITEL Sie küsst verdammt gut, dachte Ben. Allein die Art, wie sie sein Kinn berührte, ging ihm durch und durch. Und ihre Hand auf seinem Oberschenkel löste wahre Höllenqualen in ihm aus. Aber was ihr Mund mit seinem machte ... Verdammt, sie küsste wirklich sehr, sehr gut. Ihre Lippen waren seidenweich, als sie sie an seinen rieb. Die Spitze ihrer Zunge beschrieb einen feuchten Pfad über seine Oberlippe und dann über die untere. Diese zärtliche Berührung war die erotischste, die er je von einer Frau erfahren hatte. In seinem ganzen Leben. Und es war Heidis Mund, der diese teuflisch sinnlichen Spielchen mit seinen Lippen trieb. Ben umklammerte den Hals seiner Bierflasche, als ob er ihn zerbrechen wolle. Seine andere Hand fand keinen solchen Anker, und unwillkürlich schob er seine Finger in Heidis Haar - Haar, das sich weich und üppig anfühlte und so ganz anders als das Vogelscheuchen-Stroh des Punkerlooks, den sie auf der High School bevorzugt hatte.
Er umfasste ihren Hinterkopf und hielt sie so, wie er sie haben wollte. O ja, er wollte sie. Und zwar auf eine Weise, die einem Mann, der eine Frau begehrte, sehr gefährlich werden konnte. Aber die Situation war einfach zu verlockend. Vielleicht gerade deshalb, weil sie so gefährlich war. Und bevor Heidi ahnen konnte, was er vorhatte, beugte er sich vor und erwiderte den Kuss. Sie stieß einen erschrockenen kleinen Seufzer aus, und als sich dabei ihre Lippen teilten, nutzte er die günstige Gelegenheit, um mit der Zunge in ihren warmen Mund einzudringen. Nie hätte er sie gegen ihren Willen geküsst, aber sie setzte ihm nicht den geringsten Widerstand entgegen. Hingebungsvoll sank sie in seine Arme - oder zumindest erschien es ihm so. In Wirklichkeit hatte ihr Körper sich gar nicht bewegt, und rein äußerlich ließ sie auch keine Reaktion erkennen. Aber er spürte ihre Zustimmung in der Liebkosung ihres Atems auf seinen Lippen. Noch war er besonnen genug, um zu erkennen, dass sie, ungeachtet dessen, was er empfand, kein skandalöses Schauspiel hier in dieser dunklen Ecke boten. Zumindest jetzt noch nicht. Doch dabei würde es nicht lange bleiben, wenn Heidi ihn so weiterküsste. Er begehrte sie. Er wollte ihren Mund auf seiner Haut und ihre Zunge auf seinem nackten Körper spüren, sie ausziehen und sie schnell und stürmisch nehmen, um ihr dann beim Anziehen zuzusehen und sie danach ganz langsam wieder zu entkleiden. Um ihren Körper so zu erkunden, wie ihre Lippen es von ihm zu fordern schienen. Mit einem rauen Aufstöhnen vertiefte Heidi den Kuss, ließ ihre Hand an Bens Oberschenkel hinauf gleiten - und erstarrte, als ihre Finger an etwas Hartes stießen.
Unruhig trat sie einen Schritt zurück. Selbst im schwachen Licht war deutlich zu erkennen, dass das Blut ihr in die Wangen schoss. "Nun, Ass. Anscheinend bist du doch zu sehr viel mehr bereit als ich." Sie atmete tief durch. "Ich sag dir was. Ich geh jetzt schnell mal in den Waschraum, und wenn ich wiederkomme, können wir darüber reden, wann wir diese Unterhaltung fortsetzen." Damit wandte sie sich lächelnd ab. Ben kannte das. So hatte Heidi früher auch gelächelt, wenn sie bis zum Hals in Schwierigkeiten steckte. Aber irgendwie war sie jetzt anders. Unsicherer. Als ob sie nicht so recht wüsste, wie sie sich verhalten sollte. Kopfschüttelnd sah Ben ihr nach. Wie war es bloß dazu gekommen? Was sollte dieser Kuss? Und wie kam es, dass sein Verstand plötzlich ausgeschaltet war? Er hatte Heidi an diesem Wochenende mit der Vergangenheit konfrontieren wollen. Dazu war er hergekommen. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, war ihre Reaktion auf ihn. Er hatte sie nervös gemacht. Und da er sie tatsächlich besser als alle anderen kannte, wusste er, dass sie ihn geküsst hatte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und sich gegen etwas zu wehren, was sie als Bedrohung ansah. Und das war ihr gelungen, denn ihm war jetzt noch schwindlig von dem Kuss. Damals, mit siebzehn, waren sie gute Freunde gewesen. Aber es war keine Liebe, was sie verbunden hatte, und er war noch nicht bereit gewesen, zu erforschen, was sich damals zwischen ihm und Heidi anbahnte. Denn dass da etwas gewesen war, war klar. Er hatte es in ihrem Blick gesehen. Aber all das hatte er zerstört, indem er genau das tat, was alle Tannen taten, ihr Problem mit seinem Geld lösen wollen. Sie hatte Geld gebraucht, um ihre Studienwünsche zu verwirklichen, und er hatte es ihr gegeben. Anfangs hatte er nicht verstanden, warum diese Geste sie so gekränkt hatte.
Warum sie so verletzt gewesen war. Viel später erst hatte er begriffen, dass sie und nicht er der Snob war und diejenige, die Probleme mit ihrer Herkunft hatte. Weder hatte sie seine Anrufe beantwortet noch auf seine Einladung reagiert. Womit sie ihm klargemacht hatte, dass er alles, was sie je verbunden hatte, durch seine großzügige finanzielle Geste endgültig zerstört hatte. Und jetzt dieser Kuss. Den musste er sich erst noch erklären. Es war kein freundschaftlicher Kuss gewesen, aber auch kein leidenschaftlicher. Heidis Kuss hatte weit mehr verraten als Freundschaft oder Leidenschaft. Er hätte gern gewusst, was das zu bedeuten hatte. Was sie wollte. Und warum sie es gerade von ihm zu wollen schien. Ja, sie hatte Recht. Es versprach ein aufregendes Wochenende zu werden. Ein Klaps auf den Rücken ließ ihn aufschauen. "War die Musik zu viel für dich, Tannen?" "Hey, Jack." Ben schüttelte seinem Freund die Hand. "Ihr macht jetzt schon Pause? Vielleicht ist die Musik zu viel für dich, Alter." "Von wegen. Außerdem dürfte dein Problem nicht die Musik sein. Dein Problem ist auf dem Weg zur Toilette. Du bist ganz schön schnell, Mann. Wer war das?" Jack strich sich das verschwitzte Haar zurück und warf einen viel sagenden Blick Richtung Korridor. Ben richtete sich auf. "Du scherzt wohl, was? Hast du sie denn nicht erkannt?" Jack schüttelte den Kopf. "Ich war zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen." "Du hast genug gesehen", brummte Ben. "Und ich war nicht der Einzige. All diese verdammten Blicke, die in eure Richtung gingen, haben mich vollkommen aus dem Takt gebracht. Du und deine Lady, ihr hattet viel mehr Publikum als ich. Ich verstehe nicht, warum. Ich meine, ihr habt
zwar eine gute Show geliefert, aber es war doch schließlich bloß ein Kuss." Nein. Es war viel mehr gewesen als ein bloßer Kuss. "Es war nicht die Show, was Neugierde erregte, sondern die Darsteller. Oder zumindest die Hauptdarstellerin." "Ach ja?" Jack setzte sich. "Wer war es denn, den du geküsst hast?" Ben verzog keine Miene. "Heidi Malone." Jack war sekundenlang sprachlos. "Nicht zu fassen! Das war unser Joker?" "Ja, und unser flippiger Joker hat heute noch einiges mehr in der Hinterhand." "Mann, das kannst du laut sagen! Danke." Jack bedankte sich bei dem Barkeeper, der ihm ein Glas Wasser hinstellte, trank einen Schluck und wandte sich dann wieder Ben zu. "Was ist aus der Punkerfrisur geworden, aus dem Sid-and-Nancy-Look? Und aus ihrem rüpelhaften Wesen." Ben verdrehte die Augen. "Das hat sie immer noch, das kannst du mir gern glauben." "Na ja." Jack warf einen Blick über Bens Schulter. "Das werde ich wohl müssen, da es ganz danach aussieht, als ob ich keine Gelegenheit bekäme, mir ein eigenes Urteil über sie zu bilden." "Was soll das heißen?" "Dein Joker ist auf dem Weg zur Tür." Sein Glas hebend, deutete Jack in die Richtung. "Und so wie sie geht, scheint sie es sehr eilig zu haben." "Oh, verdammt." Sein Barhocker kippte fast um, als Ben hektisch aufstand. Er zog einen Zehner aus der Tasche und warf ihn auf die Theke. "Sei vorsichtig, Tannen." Auch Jack stand auf. "Wer weiß, welche Waffe sie diesmal wählt. Beim letzten Mal hätte sie dir fast das Ohr abgerissen."
"Das Auge, nicht das Ohr. Geh weiter deine Oldies spielen, Mann. Die Pause ist vorbei." Nach einem letzten Blick auf Jack hastete Ben zum Ausgang. Er fand sie auf dem Parkplatz, wo sie einen europäischen Sportwagen der Luxusklasse aufschloss. Der Wagen war schwarz und sehr elegant und schnittig. Er passte zu der fabelhaften Heidi Malone. Da wandte sie sich zu ihm um, und ihr Blick war der des Mädchens, das er einst gekannt hatte. Die Augen des Kindes im Gesicht der Frau, zu der sie geworden war. Er fragte sich, ob sie noch immer meinte, Abstand halten zu müssen und sich insgehe im noch immer als gesellschaftliche Außenseiterin betrachtete. Nein, das konnte er nicht glauben. Nicht, nachdem sie ihn heute Abend geküsst hatte. Nicht, wo er doch wusste, wie erfolgreich sie beruflich war. Und schon gar nicht, wenn er die Absicht hatte, ihr zu zeigen, dass Erfolg kein Freibrief war, um seine Freunde zu vernachlässigen oder die Schulden zu vergessen, die noch offen standen. Er lehnte sich an das Wagendach und machte ihr damit klar, dass er sich nicht von der Stelle rühren würde. Dass er ihr hinausgefolgt war, um zu beenden, was sie drinnen an der Bar begonnen hatten. "Fünfzehn Jahre später, und wir stehen schon wieder auf dem Parkplatz, Heidi." Sie warf ihre Tasche in den Wagen und drehte sich langsam zu ihm. "Ich weiß nicht einmal, warum ich heute Abend hergekommen bin." Er zog eine Braue hoch. "Wegen eines Klassentreffens?" "Ach ja, richtig. Wie dumm von mir. Und ich dachte, ich wäre eingeladen worden, um den Clown zu spielen." "Jack dachte auch, dass ihm jemand die Show stehlen wollte. Er hat unseren Auftritt von der Bühne aus gesehen."
"Na wunderbar." Sie wollte einen Schritt weitergehen, merkte dann aber, dass sie dafür an ihm vorbei musste, und blieb stehen. "Dieses Getratsche geht mir langsam auf die Nerven. Warum kommen die Leute nicht zu mir und sagen mir klipp und klar, was sie denken?" "Vielleicht, weil sie nicht wissen, wer du bist?" Angesichts ihrer fassungslosen Miene fügte er hinzu: "Jack musste ich es jedenfalls erst sagen." "Sie wissen, wer ich bin", flüsterte sie und setzte sich seitlich auf den Fahrersitz. "Hab ich mich wirklich so verändert, Ben?" "Ich glaube, das kannst du selbst am besten beantworten, Heidi." "Okay, ich sehe anders aus." Unwillkürlich legte sie eine Hand an ihren Kopf. "Ich habe aufgehört, mein Haar zu bleichen, weil ich während meines Studiums keine Zeit damit verlieren wollte." Sie zog die Schultern hoch. "Und Make-up verändert. Auf der High School habe ich mich nie geschminkt." Das hatte er nicht gewusst - oder einfach nicht darauf geachtet. "Es ist wohl weniger das Aussehen als diese Unnahbarkeit, die du auch heute noch ausstrahlst. Du hast es keinem leicht gemacht, an dich heranzukommen." "Glaubst du etwa, es wäre leicht gewesen für ein Kind aus meinem Viertel auf eure stinkvornehme Schule zu gehen? Ich habe getan, was ich konnte, um in eurer Welt zu überleben, Ben." Sie senkte die Stimme und wandte ihren Blick ab. "Und ich tat, was ich tun musste, um von hier wegzukommen." "Du bist kein Flusskind mehr, Heidi." Langsam wandte Heidi den Kopf in seine Richtung, stand genauso langsam auf und zupfte einen der Träger ihres Minikleids zurecht, ohne auch nur eine Sekunde lang den Blick von Ben zu lösen. "Woher willst du wissen, was ich bin? Du hast doch keine Ahnung, was sich hinter der Fassade der fabelhaften Heidi Malone verbirgt."
Ben lachte. Das Spiel begann ihm zu gefallen. "Du meinst, wir könnten sie verkleiden und mit ihr ausgehen, dass sie unter alldem aber trotzdem noch der Joker ist?" "Ich habe mich schon immer gern verkleidet." "Und entkleidet", fügte er grinsend hinzu. Ihre Augen blitzten. "Du kannst dich glücklich schätzen, Ass. Du hattest einen Logenplatz beim einzigen Striptease meines ganzen Lebens." "Wirklich? Dem einzigen?" Unwillkürlich dachte er an die Männer in ihrem Leben. "Bist du noch Jungfrau, Heidi?" "Wäre es dir lieber so, Ben?" entgegnete sie kühl. Nein. Natürlich nicht. Das hätte er auch nie erwartet. "War das jetzt alles?" fragte sie, als er sich mit der Antwort zu lange Zeit ließ. "Wieso? Hast du es eilig?" "Es ist eine lange Fahrt nach Dallas." Sie wollte zurück? Das hätte er sich denken können. "Aha, du läufst also schon wieder vor mir weg. Das enttäuscht mich, Heidi." Seufzend schloss sie die Wagentür und lehnte sich mit einem frustrierten Blick dagegen. "Also? Willst du es jetzt gleich tun? Hier?" "Was?" Er straffte die Schultern und schob die Hände in die Hosentaschen. "Die ganze Nacht hier stehen und reden? Nein, vielen Dank, ich glaube nicht." "Wo dann? Willst du wieder hineingehen?" "Nach diesem Kuss?" Er schüttelte den Kopf. "Lass die anderen sich ruhig weiter die Köpfe zerbrechen über das, was wir hier draußen tun." Da sie daraufhin das Gesicht verzog, wechselte er das Thema. "In welchem Hotel wohnst du?" "Ich habe ein Zimmer in einer Pension. Aber ich bleibe nicht." "Wegen denen da drinnen? Oder wegen dem, was vor fünfzehn Jahren vorgefallen ist?"
Erneut seufzte sie, verschränkte die Arme auf dem Wagendach und starrte hoch zum sternenklaren Junihimmel. "Deshalb bin ich hergekommen. Wegen diesem Angriff." Sie schaute in seine Richtung. "Und wegen dir." Ben atmete tief ein und hielt sekundenlang die Luft an, bevor er wieder ausatmete. "Im Ernst?" "Ja, im Ernst. Wir haben ja nicht einmal darüber geredet in all der Zeit. Okay, du hast es versucht." Sie schaute wieder zum Himmel. "Und ich hätte auf deine Anrufe antworten sollen. Aber wahrscheinlich war ich einfach noch nicht alt genug oder reif genug dafür. Das Geld, der Angriff - das alles war zu viel für mich. Ich fühlte mich gedemütigt. Ich brauchte das Geld, aber es war nicht leicht, es anzunehmen. Und von dir schon gar nicht." Was sie sagte, stimmte, obwohl einige Jahre vergangen waren, bevor er ihre Reaktion verstanden hatte. Aber jetzt wollte er ihre Gründe von ihr persönlich hören. "Wieso von mir nicht? Ich hätte dir doch keine Geldeintreiber nachgeschickt. Ich war sowieso sehr überrascht, wie schnell du deine Schulden abbezahlt hast. Das war überhaupt nicht nötig, Heidi." Sie entfernte sich einen Schritt von ihm. "Wieso nicht? Dachtest du, weil ich in einem Viertel wie Deadbeat Drive großgeworden war, mit einer Alkoholikerin als Mutter, würde ich dir auch nur einen Penny schuldig bleiben?" Sie hatte die Stimme gehoben und stützte ärgerlich die Hände in die Hüften. "Du kanntest mich zu gut, um so etwas zu denken, Ben." Er stand immer noch nah genug, um zu sehen, wie schnell der Puls an ihrer Kehle pochte. Die winzigen schwarzen Perlen ihrer Kette schimmerten bei der Bewegung. "Richtig, bei dem Preis, den ich bezahlt habe, hätte ich dich wirklich besser kennen müssen." Statt der Ohrfeige, die er erwartet hatte, riss sie ihre Wagentür auf. "Damit hast du meine letzte Frage, die ich damals hatte, schon beantwortet."
"Und die wäre gewesen?" "Ob du dich zu einem echten Tannen entwickeln würdest oder nicht." Verächtlich blickte sie an ihm hinunter. "Ich sehe, dass du gut in die Schuhe deines Vaters hineingewachsen bist." "Seine Schuhe trägt mein Vater noch immer selbst, Heidi." Er war gespannt, ob sie die Wahrheit glauben würde. "Was aus mir geworden ist, hat mehr mit dir zu tun als mit ihm." "Du spinnst ja, Ben. Wir haben uns fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen. Wenn wir in Verbindung geblieben wären und ich dich davon abgehalten hätte, dir deine grauen Zellen auf den Saufgelagen zu zerstören, die ihr Partys nanntet, hättest du vielleicht Recht. Aber nicht so, wie die Sachlage ist." Sie rieb sich die Stirn, bevor sie wieder aufschaute. "Sieh mal, Ben, ich bin hergekommen, um mich bei dir zu entschuldigen. Ich habe gar nicht erwartet, dass du mir verzeihst. Aber ich wollte das Schweigen zwischen uns beenden." "Beenden? Und ich dachte, der Kuss sei erst der Anfang." "Wovon?" entgegnete sie stirnrunzelnd. Als er daraufhin in die Tasche griff, winkte sie mit beiden Händen ab. "O nein, verlang jetzt nicht von mir, dieses Versprechen einzulösen! Ich kann es kaum glauben, dass du den Zettel überhaupt noch hast." Er betrachtete das Stück Papier. "Es ist ein Schuldschein." "Der unter Zwang geschrieben wurde und daher wertlos ist." "Du empfiehlst mir also, ihn als uneinbringliche Schuld abzuschreiben?" Sie stöhnte fast. "Ich war damals siebzehn und am Ende meiner Kräfte, Ben! Ich hätte dir genauso gut den Mond versprochen." "Aber du hast mir nicht den Mond versprochen, Heidi." Er trat näher. "Es war dein Körper, den du mir versprochen hast." Die Spannung zwischen ihnen hatte keine Gelegenheit, zu wachsen. Denn Schritte ertönten direkt hinter Ben. "Wow! Hab ich richtig gehört?"
Heidi ging rasch an Ben vorbei zu Quentin und nahm seinen Arm. "Du hast gar nichts gehört Quentin." Ihre offensichtliche Erleichterung über Quentins Auftauchen erboste Ben. Er schaute von Heidi zu Quentin und warf ihm einen bösen Blick zu. Wenn der doch bloß wieder verschwinden würde! Aber Quentin, ohne Heidi freizugeben, klopfte ihm nur lachend auf die Schulter. "He, alter Junge, versuchst du etwa, unseren Joker anzumachen? Dann hör auf meinen Rat und gib es auf. Weil ich nämlich schon alle Sprüche, die ich kenne, bei ihr losgelassen habe und mir jetzt noch schwindlig von der Abfuhr ist, die Heidi mir erteilt hat." Quentin tat, als ob er taumelte, und Heidi lachte. Ben verzog keine Miene, aber ihm war anzumerken, wie verärgert er über die Unterbrechung war. "Du hattest schon immer ein Gefühl für das perfekte Timing, Marks." "Das ist kein Timing, Ben. Das ist Rhythmusgefühl." Quentin schnippte mit den Fingern. "Schließlich ist das mein Beruf - und deshalb bin ich auch hier draußen. Ich fürchte, dass meine geschäftlichen Verpflichtungen mir kein ganzes Wochenende hier erlauben werden. Die kurze Zeit, die mir bleibt, möchte ich mit meine n Freunden verbringen." Grinsend fügte er hinzu: "Und wenn einer dieser Freunde eine schöne Frau ist, umso besser. Hast du noch immer Lust auf einen Burger, Heidi? Und du, Ben? Kommst du mit?" Quentins Blick glitt zwischen ihnen hin und her, bis Ben alle Hoffnung aufgab, Heidi an diesem Abend noch einmal allein zu sehen. "Sie wollte gerade nach Dallas zurückfahren", sagte er. "Was? Aber sie ist doch gerade erst gekommen. Außerdem", fuhr Quentin fort und schaute dabei Heidi an, "werde ich nicht bis Sonntag bleiben können. Wir haben also nur noch heute Abend und morgen früh, um alte Erinnerungen aufzuwärmen."
Heidi zögerte. "Ich kann auf leeren Magen nichts versprechen. Lasst uns erst mal etwas essen, dann überleg ich es mir vielleicht noch einmal." "Gute Idee." Quentin blickte auf ihren Sportwagen und pfiff anerkennend durch die Zähne. "Sehr hübsch. Aber zu dritt passen wir da natürlich nicht hinein. Was ist mit dir, Ben? Hast du mehr Platz? Oder soll ich ein Taxi rufen?" Ben winkte ab. Er würde Heidi schmoren lassen, denn er war jetzt völlig sicher, dass sie noch bleiben würde. "Fahrt ihr beide ruhig. Ich muss nach Hause. Ich habe eine schwangere Stute, nach der ich sehen muss." Diese letzte Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht. Heidis Augen funkelten vor Neugier, als sie zu ihm herüberkam. "Du hast Pferde?" "Und ein halbes Dutzend Katzen und einen Hund." "Im Ernst? Wo lebst du denn?" "Morgen mehr", erwiderte er und begann sich zu entfernen. "Erpresser!" rief sie ihm nach. "Was du vorhin sagtest, kam der Sache näher." "Was?" Ben grinste im Stillen. "Dass ich der Sohn meines Vaters bin."
6. KAPITEL Das erste High-School-Jahr "Was, zum Teufel, soll das sein?" Ben, der gerade die Pedale seines Schlagzeugs einstellte, schaute bewusst nicht auf. Randy hatte die Gruppe schon seit der Grundschule mit seinen albernen Bemerkungen genervt. Aber jetzt waren sie auf der High School, und der Wettbewerb zwischen den einzelnen Bands würde hier erheblich härter sein. Sich auf die Proben zu konzentrieren und einen Ersatz für den Saxofonisten zu finden, der im Sommer in eine andere Stadt umgezogen war, war im Moment das Allerwichtigste. Es erforderte schon Jacks "Ich glaub es nicht" und Quentins "Ich hoffe bloß, dass sie wenigstens Saxofon spielen kann", damit Ben aufschaute und zur Tür des Übungsraums hinübersah. Er hatte sie schon ein- oder zweimal in der Schule gesehen und angenommen, dass sie von einer der Junior-High-Schools unten am Fluss zur Johnson High gekommen war. Die meisten Eltern - seine eigenen mit eingeschlossen - führten schon seit Jahren eine Kampagne gegen die Aufnahme von Kindern aus
den ärmeren Stadtvierteln. Angeblich aus steuerlichen Gründen. Als wenn die paar Kinder aus der Flussgegend das Budget der JHS belasten würden. Außerdem sah dieses Mädchen nicht gerade so aus, als ob es über seine Herkunft glücklicher wäre als er über seine. Er erhob sich, während sie hereinkam, stehen blieb und dann die Tür hinter sich zuzog. Sie trug etwas, das wie die gestreifte Hose eines Herrenanzugs aussah. Dazu schwere dunkelbraune Arbeitsstiefel. Auf ihr kurzes Haar, das in Farbe und Beschaffenheit an Stroh erinnerte, hatte sie einen braunen Herrenhut gestülpt. Das wirklich Interessante war jedoch, was sie zwischen Hut und Hose anhatte. Es wirkte wie eins dieser Unterhemden, die Mädchen trugen. Jedenfalls reichte es kaum bis zum Hosenbund. Es war schwarz und glänzend und hatte dünne Träger, die es kaum an den Schultern hielten. Darunter war sehr viel von ihrem BH zu erkennen, als versuchte sie, wie Madonna auszusehen oder so etwas. Sie war groß und schlank, aber nicht ohne die richtigen Kurven an den richtigen Stellen. Und sie hatte sehr große dunkle Augen und Wimpern, die ihn an die Typen aus dem Film "Clockwork Orange" erinnerten. Oder vielleicht wirkte es auch nur so, weil sie so blass war. In einer Hand hielt sie eine Aktentasche und einen Instrumentenkasten. In, der anderen ein Saxofon, das seinen Glanz schon lange verloren hatte. Es sah ganz so aus, als hätten sie ihren fünften "Mann" gefunden. "Hi", sagte sie, und ihr Blick glitt von ihm zu Randy, zu Jack, zu Quentin und zurück. Sehr lange schaute sie ihn an, oder zumindest kam es ihm so vor, wegen der Art und Weise, wie sie ihn anschaute.
Es war komisch, aber sie gab ihm das Gefühl, neben ihr die einzige Person im Raum zu sein. Und das war ihm fast ein bisschen peinlich. Er hätte es besser verstanden, wenn sie ihn so angesehen hätte, wie die anderen Mädchen ihn seit der vierten Klasse ansahen. Aber so war es nicht. Sie lächelte nicht und versuchte nicht, zu flirten. Es war, als sähe sie die Uniform seiner Gesellschaftsklasse nicht, die mit Knöpfen geschlossene Jeans Modell 501, die offenen Turnschuhe, den hochgestellten Kragen seines gelben Polohemds mit dem gestickten grünen Krokodil darauf. Was ihn zu der Frage brachte: Was sieht sie? Die ganze Szene war wie ein Standbild. Keiner rührte sich. "Hi." Quentin erhob sich schließlich von der Bank vor dem Piano. Sie nickte, sagte aber nichts. "Ich bin Quentin Marks." "Und ich Heidi Malone", antwortete sie. Jack war der Nächste. Er zupfte an zwei Saiten seines Kontrabasses. "Jack Montgomery." Ohne den Blick von Jack zu wenden, hob sie ihr Saxofon, befeuchtete ihre Lippen und entlockte dem Instrument zwei Töne. Die gleichen, die Jack gebracht hatte. "Heidi Malone." Ben grinste im Stillen und wartete ab. Randy ging ein paar Schritte auf sie zu und hob grüßend seine Trompete. "Randy Schneider. Ich hoffe nur, dass Mr. Philips wusste, was er tat, als er dich zu uns schickte." Randy und sein großes Mundwerk. Aber sie schien sich nicht daran zu stören. "Heidi Malone. Und ich hoffe", erwiderte sie, "er wusste, was er tat, als er mir diese Band aufhalste." Randy wandte sich ab und blies kurz in die Trompete. "Merkwürdiges Frauenzimmer", murmelte er in Bens Richtung. Ben sprang von der kleinen Bühne und strich sein langes Haar zurück. "Hallo, Heidi. Ich bin Ben Tannen."
"Hi, Ben", sagte sie so leise, als sei es nur für ihn bestimmt. "Hey. Hör mal. Du solltest wissen, dass wir schon im dritten Jahr zusammen spielen." Mit dem Kinn deutete er auf die anderen, die sich in einiger Entfernung hielten. "Es wird nicht leicht sein, uns an ..." "Ein Mädchen in der Gruppe zu gewöhnen?" Randy erstickte fast an seinem Lachen. Jack schnaubte. Quentin verdrehte die Augen. Ben bemühte sich, eine ernste Miene zu bewahren. "Nein. Uns an einen neuen. Saxofonisten zu gewöhnen." Er deutete auf ihr Instrument. "Du kannst doch spielen, oder?" "Ja." "Dann beweis es!" forderte Randy sie heraus. Heidi legte ihre schäbige Aktentasche und den Instrumentenkasten auf den Tisch. "Jungs", meinte sie kopfschüttelnd. "Ständig verlangen sie Beweise von den Mädchen." Sie warf einen flüchtigen Blick zu den anderen drei hinüber, bevor sie sich wieder Ben zuwandte. "Was wollt ihr hören? David Sanborn? Clarence Clemmons? Charlie Parker?" Quentin horchte auf und kam zu ihr hinüber. "Du kennst Charlie Parker?" Heidi zog eine Augenbraue hoch. "Kennst du Scott Joplin?" Der Blick, den Quentin Ben zuwarf, war nicht mehr ganz so genervt und deutete an, dass sie vielleicht doch nicht ganz so furchtbar in der Patsche steckten. Ben zuckte die Schultern und gab Heidi ein Zeichen, zu beginnen. Sie stand völlig still, beide Füße flach auf dem Boden, die Finger mit den abgekauten Nägeln auf den Ventilen. Nach einem tiefen Atemzug fing sie an, sehr sauber, sehr genau und sehr langweilig die Nationalhymne zu spielen. Randy ließ sich auf den Boden fallen und stöhnte. Jack umklammerte seinen Kontrabass und schüttelte den Kopf. Quentin kniff ärgerlich die Lippen zusammen. Ben war sicher,
dass Quentin, noch bevor sie die Nationalhymne beenden konnte, zu Mr. Philips Büro hinüberstürmen würde. Aber es bestand kein Grund, so lange abzuwarten. Ben wollte schon zu Heidi hinübergehen, um ihren öden Vortrag zu beenden, hielt aber wieder inne, als sie die hohe Note bei "The rockets red glare" hielt und sich dann zu bewegen begann. Und zu spielen. Wirklich und wahrhaftig und unfassbar gut zu spielen. Es war faszinierend, ihr zuzusehen und zuzuhören. Sie hatte die Augen geschlossen und ging so auf in ihrem Spiel, als wäre es das Einzige, wofür sie lebte. Jede Note saß. Dieses Mädchen wusste sehr gut, was sie tat. Ben bezweifelte keine Sekunde lang, dass sie anfangs ganz bewusst zum Einschlafen gespielt hatte. Sie hatte nur die prüfen wollen, die sie prüften. Womit sie nicht nur ihren fünften "Mann" gefunden hatten, sondern vor allem jemanden, der ihnen mehr als ebenbürtig war. Das Stück, das sie jetzt spielte, kannte er nicht, aber Jack hatte kein Problem damit, den Rhythmus aufzugreifen. Rasch ließ Ben sich hinter seinem Schlagzeug nieder und lächelte, als auch Quentin sich geschlagen gab und sich nicht einmal setzte, um Heidi auf dem Piano zu begleiten. Randy schaute fassungslos von Heidi zu den anderen. Sein Kopf bewegte sich im Rhythmus der Musik, und schließlich rief Randy: "Wow! Quentin, Mann, das ist phantastisch!" Die Musik verklang. Heidi war die Letzte, die zu spielen aufhörte. Der Reihe nach sah sie die Jungen an, am längsten Ben, bevor sie zum Tisch hinüberging und ihre Sachen nahm. "Ich erwarte euc h hier morgen nach der Schule. Pünktlich um halb vier." Mit diesen Worten ging sie. Ben sah ihr nach. Und dann brach er in schallendes Gelächter aus. Er wußte, es würden aufregende vier Jahre werden. Er fragte sich nur, ob sie sie überleben würden.
In der Scheune roch es nach frischem Heu und Stroh. Ben blieb an der letzten der drei Boxen stehen, stützte sich auf die Schwingtür und schaute von der zitternden Stute zu dem Mann, der das Tier gerade untersuchte. "Wie geht es ihr?" Thackery Jones, der Verwalter von Bens kleiner Ranch, nahm sich Zeit, bevor er antwortete. Er beendete zunächst die Untersuchung, bevor er sich langsam aus seiner gebückten Haltung aufrichtete. Leise, um die Stute nicht noch mehr in Unruhe zu versetzen, sagte er: "So wie es aussieht, wirst du Daddy sein, wenn du heute Nacht aus Sherwood Grove zurückkehrst." Ben strahlte. Sein aller erster Nachwuchs auf der Ranch wenn man die Katzen nicht mitzählte, die sich scharenweise in der Scheune und auf den Feldern herumtrieben. Endlich war er auf dem Weg, seinem Leben einen echten Sinn zu geben. Komisch, wie die Geburt eines Fohlens, das nicht einmal hundert Hund wiegen würde und nicht den geringsten finanziellen Wert besaß, ihn derart glücklich stimmen konnte. Wie sein Vater darauf reagieren würde, mochte er sich gar nicht vorstellen. Er lachte leise. "Bring nicht meine Herkunft mit ins Spiel. Sie hat mir schon genug Ärger gemacht." Thackery zog eine seiner buschigen grauen Augenbrauen hoch. "Du hast dein kleines Mädchen gestern Nacht gesehen?" Ben überlegte, inwieweit er Thackery verraten sollte, dass Heidi inzwischen alles andere als ein kleines Mädchen war. "Ja. Ich hab mit ihr getanzt, mit ihr gestritten und sie dann geküsst." Thackery lachte. "Das klingt, als ob ihr genauso dicke Freunde wärt wie Mrs. Jones und ich." Er und Heidi dicke Freunde? Wenn das so wäre, brauchte er heute Abend nicht zu dem Klassentreffen zu gehen. "Dieser Gedanke ist mir eigentlich nicht gekommen", erwiderte er trocken und fragte dann: "Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst mit Charlie?"
"Nein." Thackery schüttelte den grauen Kopf. "Wenn ich Hilfe brauche, rufe ich Doc Specter an." Ben schaute Charlie an. An dieser Stute hing er ganz besonders, und er wollte, dass sie die beste Pflege hatte. "Soll ich den Doc nicht lieber auf jeden Fall anrufen?" Thackery klopfte dem Pferd auf den starken Hals. "Nicht nötig. Charlie braucht nichts weiter als Ruhe, Frieden und ein sauberes Lager, um ihr Fohlen auf die Welt zu bringen." Liebevoll streichelte er die Stute. "Geh nur, Ben. Ich werde Charlie sowieso nicht aus den Augen lassen, bis das Fohlen da ist." Ben fand, dass er sehr viel Glück hatte mit Thackery. Nachdem er die kleine Ranch in Stonebridge erworben hatte, hatte er sich als Erstes nach einem Verwalter umgeschaut. Der "Stonebridge Reporter" arbeitete zwar nicht im gleichen Tempo wie die "Denver Post", aber seine Aufgaben als Herausgeber beschäftigten ihn genug, um einzusehen, dass er Hilfe brauchte, um die Ranch zu führen. Thackery und seine Lady waren ein perfektes Team. Mrs. Jones führte den Haushalt, und Thackery kümmerte sich um alles andere, so dass Ben sich problemlos seiner Zeitung widmen konnte. Rasch ging er noch einmal in den kleinen Stall. Charlie schaute ihn aus großen braunen Augen an. "He, meine Kleine ", murmelte er zärtlich. "Es wird jetzt nicht mehr lange dauern." Diese Stute war das erste Tier gewesen, das er gekauft hatte, nachdem er in das alte zweistöckige Farmhaus eingezogen war. Der magere alte Hund war eines Tages auf der Veranda aufgetaucht, und die Katzen ... Der Himmel wusste, woher sie alle kommen mochten. Das leise Schnaufen der Stute riss Ben aus seinen Überlegungen. "Ich weiß, du hast es schwer, meine Kleine. Aber das Warten wird bald vorüber sein." Nachdem er das Tier noch einmal gestreichelt hatte, wandte er sich zur Tür.
"Bis später, Charlie Parker."
7. KAPITEL Das letzte Mal, als Heidi an einem Picknicktisch in diesem Park gesessen hatte, hatte sie einen Scheck in ihrer Hand gehalten. Einen Scheck über eine große Summe - mehr Geld, als sie in ihrem jungen Leben je gesehen hatte. Und das Verrückteste von allem war, dass es Bens eigenes Geld gewesen war. Sie hatte natürlich gewusst, dass seine Familie reich war. Aber dass er selbst ein eigenes Bankkonto und dermaßen viel Geld besaß ... Verdammt! Sie war ja so naiv gewesen! Von ihrem Platz aus konnte sie sehen, wie die anderen Kühltaschen und Picknickkörbe heranschleppten, während ihre Kinder Baseball- und Tennisschläger, Frisbeescheiben und Volleybälle aus all den Minivans und Jeeps auspackten. Warum hatte sie sich bloß von Quentin überreden lassen, hier zu bleiben? Sicher, es war schön gewesen, nach so langer Zeit wieder mit ihm zu reden, aber dieser eine Abend gestern hätte doch genügt, nicht wahr? Warum hatte sie Quentin nicht gesagt, sie habe keine Zeit mehr für das Picknick heute Nachmittag und schon gar nicht für den abendlichen Tanz im Country Club?
Eigentlich hätte sie nach Dallas zurückkehren müssen, um sich auf ihren nächsten Prozess vorzubereiten. Das war das Leben, das sie kannte. Und das sie glücklich machte. Oder etwa nicht? Als sie Ben gestern auf dem Parkplatz des "Cave" gegenübergestanden hatte, hatte sie plötzlich das Gefühl gehabt, ihr Leben sei eine Maskerade und alles, was sie erreicht hatte, nur eine Farce und dass sie sich nie mit Ben würde vergleichen können. Dass sie unter ihrem schicken Minikleid noch immer die Maske des Jokers trug, die ihr so gute Dienste geleistet hatte. Sie hätte auf Georgia hören und nicht herkommen sollen. Sie hatte ihr Leben einfach weiterführen und den Namen Tannen ein für alle Mal vergessen sollen. Die Holzbank, auf der sie hockte, ächzte, und Heidi sah, dass Jack Montgomery sich auf dem anderen Ende niederließ. Seine grünen Augen glitzerten mit fast der gleichen Intensität wie Bens, als ihre Blicke sich trafen. "Jemand sagte mir, du seist Heidi Malone. Gestern Abend konnte ich mir da nicht sicher sein, weil ich dich nur noch von hinten sah." "Ich glaube, das war längst nicht alles, was du gesehen hast." Jack rückte ein Stück näher auf der langen Bank. "Stimmt, es war mehr. Aber ich habe in all den Jahren gelernt, diskret zu sein." Heidi lächelte. "Und wenn ich dich von dieser Diskretion entbinden würde? Was wäre dann?" "Dann müssten wir über dich und Ben reden. Und ich würde fragen, warum ihr beiden Dummköpfe so lange gebraucht habt." Jack rückte noch näher, bis er dicht neben ihr saß. Dummköpfe? "Und was würdest du sagen, wenn ich gar nicht Heidi wäre?" Jack verzog gequält das Gesicht. "Sag es ruhig. Ich werd's schon überleben."
"Was? Oh, ich kann nur hoffen, dass du Heidi bist, weil ich nicht möchte, dass jemand anderes erfährt, dass ich in Jogginghosen über diese Bank gerutscht bin und jetzt einen riesengroßen Holzsplitter im Po habe." Heidi lachte laut auf, als Jack aufsprang. Er zappelte herum und versuchte, die Stelle zu erreichen, bis Heidi ihn heranwinkte. Sie stand auf und befahl ihm, sich über den Tisch zu beugen. Jack kniff ein Auge zu, bevor er sich bückte. "Und was, wenn Ben uns jetzt erwischt? In flagranti?" "Na und?" Heidi griff nach dem winzigen Splitter, der aus dem weichen Stoff der Hose ragte. "Wieso ,Na und'?" Jack richtete sich auf und sah, dass Heidi noch immer seinen Po anstarrte. "Hey, hey. Die Augen schön nach vom." Sie errötete. "Ich wollte mich nur überzeugen, dass die Operation gelungen ist." "Ich dachte, du bist Anwältin, nicht Ärztin." "Auch du scheinst also meinen beruflichen Werdegang verfolgt zu haben." Heidi verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich? Von wegen. Ben hat mir das erzählt." Plötzlich breitete er die Arme aus und grinste. "Komm her, Heidi. Lass dich umarmen von dem alten Jack." Wie hätte sie da widerstehen können! "Oh, Jack. Ich bin ja so froh, dass wir uns endlich wieder sehen." Ihn zu fühlen, war auch nicht schlecht, und ihn beim Singen zu betrachten, war schlicht wunderbar gewesen. "Du warst phantastisch gestern Nacht. Ich wusste gar nicht, dass du unter die Profis gegangen bist." "Ich spiele nur zum Vergnügen. Nur um wieder ein bisschen Freude in meine Existenz zu bringen." "Ben sagte, du wärst bei den Marines gewesen." "Kannst du dir das vorstellen?" Jack schüttelte den Kopf, als fiele es ihm selbst schwer, das zu glauben.
Heidi lehnte sich an den Tisch. "Dann wirst du viel von der Welt gesehen haben." "Mehr, als ich sehen wollte." Die Verbitterung, die in dieser knappen Entgegnung mitklang, weckte Fragen in Heidi, die sie aber nicht zu stellen wagte. "Und jetzt, wo du wieder hier bist, willst du dich amüsieren?" "Ja. So wie du und Ben gestern." Heidi zögerte mit ihrer Antwort und senkte den Blick. "Ich habe mich mit ihm nicht amüsiert", erwiderte sie schließlich und schaute wieder auf. Jack hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt, und sie wünschte, sie hätte ihre auch dabei, um sich dahinter zu verbergen. Jack duckte sich, um einem überhängenden Ast auszuweichen, als sie losgingen. "Ich weiß nicht, was es gestern Abend bei euch war, Heidi, aber von dort aus, wo ich stand, sah es so aus, als ob ihr eine Menge Spaß zusammen hättet." Spaß? Das war etwas zu simpel ausgedrückt. Spaß hatte sie gehabt, als sie nachher mit Quentin essen war. Oder jetzt mit Jack. Aber der Kuss? Der bloße Gedanke an Bens warme Lippen löste ein wohliges Erschauern in ihr aus. "Klar, Ben zu küssen, war recht angenehm. Und es hat auch irgendwie Spaß gemacht", fügte sie hinzu, als Jack die Stirn runzelte. "Aber das war auch alles. Wirklich." "Hey, das geht mich ohnehin nichts an. Das ist eure Sache." Jack passte sich Heidis Schritten an. "Ich bin nur froh, dass ihr jetzt endlich damit angefangen habt." Heidi blieb wie angewurzelt stehen. "Ich habe gar nichts angefangen. Ich wollte mich nur bei Ben entschuldigen." "Sag, was du willst, Schwester." Jack trat näher und beugte sich zu ihr vor, "Was du Ben vor fünfzehn Jahren angetan hast, wird er nicht halb so lange in Erinnerung behalten wie diesen Kuss von gestern Abend."
"Das ist ja lächerlich." Heidi schaute zu den Picknicktischen hinüber. "Vor fünfzehn Jahren habe ich Ben für sein ganzes Leben gezeichnet." "Schön, dass du verstanden hast, was ich meinte. Und nun komm." Jack nahm ihre Hand und zog Heidi weiter. "Sie stellen schon die Mannschaften für das Softballspiel auf." Ben Tannen hatte sich die falsche Frau zum Softballpielen ausgesucht. Denn Heidi Malone war denkbar schlechter Laune. Sie hatte miserabel gespielt und sich aufgeführt wie ein Clown vor Leuten, die jahrelang nichts Besseres von ihr erwartet hatten - obwohl sie mit der festen Absicht hergekommen war, all diesen Leuten an diesem Wochenende zu beweisen, dass sie anders geworden war. Doch schlimmer als der Ärger über ihr miserables Spiel war, dass sie den Blick nicht mehr von Ben lösen konnte und welche Gedanken ihr dabei durch den Kopf gingen. Lustvolle Vorstellungen, die sie gern verwirklicht hätte. Ein Schlafzimmer. Ein weiches Bett. Dieser Mann. Sie selbst. Ihre Körper, auf intimste Weise miteinander verbunden ... Sie konnte es kaum glauben, dass es Sex war, worauf sich dieses Wochenende schließlich beschränken würde. Wo sie doch mit viel vernünftigeren Zielen hergekommen war. Zu denen Sex nicht passte? Allmählich verlor sie den Verstand. Wenn Georgia sie jetzt sehen könnte. Nein, sie musste Georgia da heraushalten. Georgia würde sie nur ermutigen, um hinterher mit einem wissenden Grinsen zu behaupten: "Ich hab's dir ja gleich gesagt." Doch wie auch immer, die Zeit wurde allmählich knapp. Die Hälfte des Wochenendes hatten sie schon hinter sich. Und Ben war nun einmal der Grund, warum sie hergekommen war. Sie atmete tief durch und ging zu ihm hinüber. "Hast du meinen Schuldschein bei dir, ASS?"
Ben brauchte einen Moment, bevor er reagierte, aber seine Reaktion war die, die sie erwartet hatte. Er packte sie an den Schultern, seine Finger glitten unter den Stoff ihrer ärmellosen weißen Bluse, und dann drängte er sie rückwärts an den Maschendrahtzaun. "Ich kann ihn dir ..." er schaute auf seine Uhr, "in einer Stunde vorlegen. Nein, vergiss es. Komm mit mir nach Hause. Wir können in dreißig Minuten dort sein." Was sie am aufregendsten fand, war, dass er es ernst meinte. Todernst. Das Kribbeln in ihrem Magen wurde so heftig, dass ihr heiß und kalt wurde. Er begehrte sie. Dieser Mann, der ein so unauslöschlicher Bestandteil ihres Lebens war, seit sie fünfzehn gewesen war, begehrte sie. Und sie begehrte ihn. Hier, mitten auf dem Sportplatz, vor den Augen der ganzen Welt war sie vo ller Verlangen nach Ben Tannen. Seine Nasenflügel bebten, seine Augen funkelten, und sie sah nichts anderes mehr außer ihm. Sie wollte ihn ausziehen, ihm das Stirnband abnehmen und ihm das Haar zurückstreichen, den Knopf an seiner Hose öffnen und sehen, ob er einen Slip darunter trug oder gar nichts. Sie wollte ihn einseifen und aufreizend langsam den Schmutz und Staub von seinem Körper abwaschen, seine nackte Haut berühren und seinen männlichen Geruch riechen. Sie wollte seinen Atemzügen und seiner Stimme lauschen, seinem Stöhnen und seinem Keuchen. Sie wollte ihn nackt und in sich haben. All das wollte sie - und zwar sofort und auf der Stelle. Sie lachte ein wenig nervös, ein rauer Ton, der nicht so recht zu ihr passte. "Warum so eilig, ASS?" "Richtig." Er nahm eine - nur eine - Hand von ihrer Schulter und entfernte das Band, das sein Haar an der Stirn zusammenhielt. "Genau. Warum so eilig. Es ist ja schließlich nicht so, als ob wir fünfzehn Jahre lang darauf gewartet hätten."
"Hast du das denn?" fragte sie mit ungewöhnlich sanfter Stimme. "Hast du auf mich gewartet?" "Nenn es von mir aus eine verdrehte Phantasie. Aber so ist es, ich habe von dir geträumt." "Von mir?" Sie berührte seine Wange und das Haar, das ihm jetzt in die Stirn fiel. "Ich glaube nicht, dass irgendjemand jemals von mir geträumt hat." Ben schloss die Augen und öffnete sie dann langsam wieder. Ein wehmütiges Lächeln erschien um seinen Mund. "Wir haben alle von dir geträumt, Heidi. Hast du das denn nicht gewusst?" "Was soll das heißen?" fragte sie und runzelte die Stirn. Das war doch lächerlich. Oder war sie etwa all die Jahre blind gewesen? "Nichts. Ich erklär es dir später", erwiderte er ein wenig ungeduldig. Seine Stimmung hatte sich geändert. Sie hatten noch nicht einmal angefangen, und schon bereitete er ihr Kopfschmerzen. Das war kein gutes Zeichen. "Wir können nicht einfach verschwinden. Wir sind doch mitten in einem Spiel", sagte sie, obwohl die Zuschauer sich längst zerstreut hatten. "Das Ballspiel ist beendet." Er zupfte mit der Hand, die noch auf ihrer Schulter lag, spielerisch am Träger ihres BHs. "Und für das, was du und ich jetzt spielen werden, gelten andere Regeln." "Regeln?" Endlich. Endlich kamen sie zur Sache. "Und wer bestimmt die?" "Ich. Du. Wir." "Verstehe. Und was ist, falls ich beschließen sollte, dass ich gar nicht mitspielen will?" "Das wirst du nicht beschließen, Heidi", entgegnete er und griff nach ihren Händen. Er verschränkte seine Finger mit ihren, und die Arme hochgehoben, drückte er sie sanft gegen den Maschendrahtzaun.
Nicht ganz so sanft drückte er sich dann mit seinem Körper an sie. "Du willst genauso gern spielen wie ich", erklärte er. "Das kann ich in deinen Augen sehen." "Das kannst du nicht." "Doch. Und ich erkenne es auch an deinen schnellen Atemzügen." Das bezweifelte sie nicht. Es gab wahrscheinlich niemanden im Park, der nicht bemerkte, wie ihre Brust sich hob und senkte. "Du hast eine rege Phantasie, Ben." "Und ich erkenne es daran, wie nah du mich an dich heranlässt. Ich glaube nicht, dass du das viele n Männern erlaubt hast." Sie dachte nicht einmal im Traum daran, es ihm zu sagen. "Das dachte ich mir doch", murmelte er, bevor er mit seinen Lippen ihren Mund bedeckte. Es war kein liebevoller Kuss. Er war fordernd, ungestüm und leidenschaftlich, genau der Kuss, den sie erwartet hätte, wenn sie auch nur eine Vorstellung davon gehabt hätte, dass ein Mann derart küssen konnte. Es lagen Verzweiflung und Verlangen in dem Kuss, aber er verriet auch Einsamkeit und eine gewisse Erleichterung. All diese Empfindungen kannte sie, könnte jede einzelne benennen, weil Ben die gleichen auch in ihr weckte. Aber er entfachte noch viel mehr in ihr, Sehnsucht und Entzücken und eine Gier, die sie verblüffte. Sie hatte nicht gewusst, dass sie so glühend begehren konnte. Und dass es Ben sein würde, den sie so brennend wollte. Sie drückte seine Hand und rieb sich an seinem Körper, gab ihm mit ihren Bewegungen zu verstehen, dass er in allem Recht gehabt hatte. Seine warme Zunge streifte ihre, süß und einladend, aufreizend und heiß. Seine Lippen pressten sich auf ihre, sein Dreitagesbart kratzte. Es gefiel ihr, das er sich zum
Klassentreffen nicht rasiert hatte, und sie wollte sein Gesicht berühren. Aber er ließ ihre Hände nicht los. Er hielt sie auch dann noch fest, als sie einen schwachen Versuch machte, sich zu wehren. Den kurzen Kampf zwischen Herz und Verstand gewann ihr Körper. Sie gab nach und überließ sich Ben und den Gefühlen, die er in ihr weckte. Sein Körper war erhitzt und hart; er roch nach Sonne und Gras und Erde. Seine Zunge glitt tiefer in ihren Mund, und sie kam ihm entgegen und erwiderte den Kuss. Ben war es schließlich, der ihn unterbrach. Er öffnete die Augen und sah Heidi an, zog ihre Hände an seine Hüften und blieb schwer atmend vor ihr stehen. Auch Heidi war völlig außer Atem. Ihre Daumen streiften die Haut oberhalb seines Hosenbunds. Sie seufzte leise und schob sie unter den Hosenbund der Jeans. Und dann noch etwas tiefer. Er zog scharf die Luft ein. "Was machst du mit mir, Heidi?" Sie hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. "Ich spiele das neue Spiel, das du begonnen hast. Nach meinen Regeln." "Ich glaube, mir gefallen deine Regeln." Lächelnd ließ er ihre Hände los und fasste sie dafür um die Taille, schob nun seine Daumen unter ihren Hosenbund und tiefer. Ein leises Keuchen entrang sich ihrer Kehle, und sie konnte nur hoffen, dass er es nicht gehört hatte. Aber bisher war ihm noch keine ihrer wortlosen Aufforderungen entgangen. Und so hörte er natürlich auch diese. "Ich möchte dich berühren, Heidi." "Das tust du doch schon." "Nein", sagte er und ließ seine Finger tiefer gleiten. "Ich möchte dich richtig berühren." Als Antwort strich sie über seinen flachen Bauch. Bens Stimme war so leise, dass sie kaum zu verstehen war. "Ich möchte, dass du mich berührst." "Das tue ich doch schon."
"Nein." Er schüttelte den Kopf und lehnte seine Stirn an ihre. "Ich möchte, dass du mich richtig anfasst." Das hätte sie auch gern getan. So, wie er es wollte. Wie könnte sie diesem Mann auch nur den kleinsten Wunsch abschlagen? Er hatte ihr damals alles bedeutet, und ihr Herz hatte ihn bis heute nicht vergessen. Es pochte jetzt genauso heftig wie seins. Aber ihr Verstand erinnerte sich, und sie seufzte traurig. Ben mochte ihr damals zwar alles bedeutet haben, aber jetzt konnte er gar nichts für sie sein - jedenfalls nicht eher, bis sie den alten Schaden repariert hatte. Denn das zu tun war für sie selbst vielleicht noch wichtiger als für Ben. Ein Hüsteln ließ Heidi aufschauen. Sie hatten Zuschauer. Drei sehr neugierige Zuschauer. Ben, der es ebenfalls bemerkt hatte, legte seine Hände rasch auf Heidis, die noch immer auf seinen Hüften ruhten. Zärtlich strich er über ihre nackten Arme, fasste sie um die Schultern, beugte sich vor und küsste sie noch einmal. Danach trat er zurück, schaute Randy und Jack an, die rechts und links von ihm standen, und zuckte mit den Schultern. Die beiden nickten sich kurz zu, packten Ben dann an den Oberarmen und schleppten ihn davon. Heidi verdrehte die Augen und lehnte sich an Quentin, als der nun zu ihr kam und einen Arm um ihre Schulter legte. "Also das war den Preis der Reise wert." Wenn du wüsstest, dachte Heidi. "Schön, dass du glaubst, für dein Geld etwas bekommen zu haben." Sie hatte auf jeden Fall etwas bekommen.
8. KAPITEL Die beeindruckende weiße Steinfassade des Country Clubs von Sherwood Grove war ein Symbol des Reichtums und so etwas wie der stumme Wächter eines Stadtteils, zu dem Heidi als Kind nie Zugang gehabt hatte. Belustigt über die Reaktion des Pagen über ihren schnittigen schwarzen Sportwagen, steckte sie den Parkschein ein und lächelte dem Portier zu, als sie die massive Doppeltür passierte. Komisch, wie frei und ungezwungen sie sich fühlte in dem prunkvollen Foyer des Country Clubs, obwohl eine leise Stimme in ihrem Kopf darauf beharrte, dass sie nicht hierher gehörte. Aber das stimmte gar nicht. Sie passte hierher und besaß das gleiche Recht wie jeder Tannen, hier zu sein. Ihr DesignerAbendkleid aus scharlachroter Seide war von klassisch schlichtem Schnitt und hatte ein Dekolletee, das verführerisch an der Grenze zwischen gewagt und dezent lag. Ihre Schuhe waren von Chanel. Ihr einziges Accessoire, ein edelsteinbesetztes Armband, war von diskreter Eleganz. Ihr Haar hatte sie zu einem weichen Knoten aufgesteckt. Der Ballsaal winkte, das Orchester spielte einen Song aus der Bigband-Ära, den Heidi noch lebhaft in Erinnerung hatte.
Himmel, wie lange hatte sie nicht mehr auf ihrem Saxofon gespielt! Sie vermisste es, wie man die Unschuld seiner Kinderzeit vermisste. Doch als sie sich damals vor fünfzehn Jahren an Ben verkauft hatte, hatte sie mehr verloren als ihre Unschuld. Sie hatte alles verloren, was ihr gut und lieb gewesen war seit ihres Vaters Tod. Sie hatte ihren Stolz verloren, der sie davor bewahrt hatte, den gleichen Weg wie ihre Mutter einzuschlagen; und den Anstand, der es ihr ermöglicht hatte, in dem Slum zu überleben, aus dem sie kam. Aber vor allem hatte sie aufgehört, daran zu glauben, dass Stolz und Anstand denen etwas bedeuteten, für die nur Geld und Herkunft etwas galt. Sie hatte gelebt mit dem, was ihre Klassenkameraden, deren Eltern und ihre Lehrer in jenen Jahren von ihr dachten. Aber sie konnte nicht mit dem leben, was sie von sich selber dachte. Denn zum Schluss hatte sie eben doch von einem Mann Geld angenommen. Sie war so verzweifelt gewesen, dass sie einem Mann gestattet hatte, ihre Würde zu kaufen - was für sie schlimmer war als die zusätzliche Entwürdigung, ihm ihren Körper zu versprechen. Ben war nicht bewusst gewesen, was er tat, und daher traf ihn auch keine Schuld. Er hatte sich so verhaken, wie es jeder andere, der in seinen Kreisen lebte, auch getan hätte. Und sie ebenfalls. Sie fragte sich, ob seine späteren Anrufe nur ein Versuch gewesen waren, die Schuld einzutreiben, und ob das jetzt auch alles war, was er noch von ihr wollte. Das wirst du sehr bald herausfinden, sagte sie sich, während sie den großen Ballsaal betrat. Das erste Paar, das sie entdeckte, waren Randy und Julie. Sie standen an der Tür bei Starr und Ronnie. Heidi fiel nun auf, dass Randy der Einzige war, mit dem sie an diesem Wochenende noch kaum gesprochen hatte. Dabei war er derjenige, der Julie sehr viele Geschichten über ihre High-School- Zeit erzählt hatte.
Was ihn zu einem guten Kandidaten für ihre erste Mission an diesem Abend machte - den Gerüchten über all diese Gefühle, die sie angeblich geweckt hatte, auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was an diesem Wochenende hinter ihrem Rücken über sie getuschelt wurde. Heidi ging zu den vier, begrüßte sie und zog Randy dann nach einem viel sagenden Blick, den sie mit Julie wechselte, zur Tanzfläche. "Dieser Song erinnert mich an dich", meinte Randy, der ihr bereitwillig gefolgt war. "Weißt du noch? Der Tag, an dem du in unserem Übungsraum erschienst? Der Song, den du da spieltest? Dieser Song hier erinnert mich daran." "Ja, nicht wahr?" Heidi hoffte, dass Randy ihr mehr verraten würde. "Ich hatte keine Ahnung, was du spieltest", fuhr er fort. "Die anderen auch nicht. Aber das machte nichts. Wichtig war nur, wie gut du spieltest. Jede Note saß." Sie nickte zustimmend. "Ich habe es von meinem Vater gelernt, und er von seinem Vater ..." "Und so weiter und so fort?" Sie lachte. "So ungefähr. Ich spielte schon, seit ich groß genug war, um ein Saxofon zu halten." "Ich habe mich immer gefragt, wo du es gelernt hast. Du spieltest, als ob du jahrelang Privatunterricht gehabt hättest. Dabei dachte ich ... na ja ..." "Dass ein Kind'aus meinem Viertel sich wohl kaum Privatstunden leisten konnte?" fragte sie mit erhobenen Augenbrauen. Randy errötete und machte einen falschen Tanzschritt. "Entschuldige. Ich benehme mich wie ein Elefant im Porzellanladen." "Schon gut. Du hast nur meinen Zeh erwischt." Er lachte. "Nein. Ich meinte, dass ich meine Zunge besser hüten sollte."
"Oh. Das." Sie schaute ihm läche lnd in die Augen. "Deine Vermutung war schon richtig, Randy. Ich konnte mir keine Privatstunden erlauben." "Aber du brauchtest ja auch keine. Du hattest deinen Dad." "Bis ich acht war. Danach hatte ich nur noch mich und sehr viel Übung." "Und du warst verdammt gut, Heidi. Du hast einige Leute wirklich sehr verblüfft." Aha. Endlich näherten sie sich dem Thema, das sie interessierte. "Ach ja? Das wusste ich gar nicht." "Dachte ich's mir doch, dass du das nie gewusst hast." "Julie erwähnte bereits, dass du gla ubtest, ich hätte keine Ahnung, was die Leute damals über mich so dachten." Sie machte eine kurze Pause. "Julie sagte auch, kein einziger Junge aus der Band hätte mich als Kumpel betrachtet." Wieder machte Randy einen falschen Schritt, der Heidi derart aus dem Gleichgewicht brachte, dass sie beide mit Ben zusammenstießen, der mit Maryann Stafford tanzte. "Hey, Ben, Maryann." Randy nickte ihnen zu. "Danke, dass ihr mich gerettet habt." "Wozu hat man Freunde?" gab Ben zurück, während sein Blick über Heidis Gesicht, ihre Augen, ihren Mund und dann ihren Ausschnitt glitt. Heidi wusste kaum, wohin sie ihre Füße stellte, als sie das brennende Verlangen in Bens Blick sah. Sie schwebte, träumte, tanzte und tanzte. Sie lag in Bens Armen, unter seinem Körper ... Bis Maryann den Zauber brach. "Randy, Darling. Ich bin ja so froh, dass ich heute Abend kommen konnte. Ich hatte an diesem Wochenende noch keine Gelegenheit, viel von euch zu sehen." Randy verzog den Mund. "Und wenn schon, Maryann. Es gibt nicht viel, was ich dir gern zeigen würde."
Heidi wandte das Gesicht ab, um ein Lachen zu verbergen, und sah die stumme Bitte in Bens Augen, ihn, um Himmels willen, hier herauszubringen. Er sah phantastisch aus in seinem schwarzen Dinnerjacket und dem blütenweißen Smokinghemd. Maryann lachte affektiert. "Du hast dich überhaupt nicht verändert, Randy." Sie griff an Heidi vorbei, um Besitz ergreifend Randys Wange zu berühren. "Ich habe ja immer schon gesagt, dass du der Joker sein müsstest, du Spaßvogel." "Aber was hätten wir denn dann mit Heidi gemacht?" entgegnete Randy und tat, als sei er zutiefst verwirrt über Maryanns Bemerkung. Heidi hatte Mühe, nicht loszuprusten. Maryann runzelte die Stirn, als fiele es ihr schwer, sich zu erinnern. "Ach ja, Heidi. Was mag aus diesem armen kleinen Ding geworden sein?" "Dem armen kleinen Ding?" kam es von Ben und Randy wie aus einem Munde, und Randy fügte noch hinzu: "Du meinst das Mädchen, das unsere Band zusammenhielt? Der wir mindestens die Hälfte aller Preise zu verdanken haben, die wir für die Johnson High gewonnen haben?" "Ihr habt ihr die zu verdanken gehabt? Das wusste ich ja gar nicht." Maryann presste sich noch fester an Ben. Heidi lächelte. "Ja, mir." Maryanns Kopf fuhr zu ihr herum. "Dir?" "Ja. Dem armen kleinen Ding." Heidi hob grüßend die Hand, als Randy mit ihr davontanzte und es Ben überließ, sich um Maryann zu kümmern, die ihnen mit offenem Mund nachstarrte. Randy führte Heidi zu einem Tisch. "Möchtest du etwas trinken?" fragte er und nahm zwei Champagnergläser vom Tablett eines vorübergehenden Obers. Nachdem er Heidi eins gereicht hatte, strich er über die blütenweiße Tischdecke. "Tolle Fete, was?" "Die Reichen werden reicher." Hatte sie das damals nicht auch zu Ben gesagt? Unwillkürlich schaute sie sich nach ihm
um und sah, dass Maryann sich die größte Mühe gab, Bens distanzierte Haltung zu durchbrechen. "Er läuft dir schon nicht fort", bemerkte Randy. "Sie interessiert ihn überhaupt nicht - obwohl sie inzwischen wieder zu haben ist und sich auf der Jagd nach einem neuen Ehemann befindet." "Zu haben. Das klingt nach einem Sonderangebot." "Miau!" Randy fauchte. "Es bedeutet nur, dass sie sehr lästig ist. Wie Werbespots. Und glaub mir, Ben sieht nichts anderes mehr als dein aufregendes rotes Kleid." "Weißt du, Randy, ich habe an diesem Wochenende schon so viele komische Bemerkungen gehört, dass ich immun dagegen bin. Glaub mir, es gibt nichts, womit du mich noch aus der Fassung bringen könntest." "Ben liebt dich." Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Atme, Heidi, sagte sie sich. Atme! Randy grinste. Dieser freche Kerl! Er hatte gesagt, Ben liebe sie, aber nicht, dass er verliebt in sie sei. Sie würde Randy umbringen. Erwürgen. Ihn mit diesem Gesichtsausdruck begraben. Aber bevor sie sich noch abscheulichere Details ausdenken konnte, sprach er schon weiter. "Tatsache ist", sagte er mit leiser Stimme, "dass wir dich alle lieben." Sie blinzelte. "Was?" "Wir haben doch vorhin über deinen ersten Tag im Übungsraum gesprochen, nicht wahr?" Sie nickte. "Es gibt einen Grund dafür, dass ich mich so gut daran erinnere. Der gleiche Grund, aus dem auch Jack, Quentin und Ben diesen Tag niemals vergessen werden." Randy hielt einen Moment inne. "Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber an jenem Tag haben wir alle unser Herz an dich verloren." Er strich sich über die Stirn. "Wir waren wie
verzaubert von dir. Wir haben dich so vergöttert, dass wir vier Jahre lang von allen anderen damit aufgezogen wurden." "Sie haben euch aufgezogen?" Heidis Herz klopfte wie wild, und plötzlich kamen ihr die Tränen. "Meinetwegen?" "Ja. Deinetwegen." Randy nahm ihre Hand und drückte sie. "Du warst begabt und mutig. Eine Überlebenskünstlerin. Es kümmerte dich nicht, was die anderen über deine Kleidung dachten oder über die Gegend, wo du wohntest. Das war dir ganz egal."' Da irrte er sich. Es war ihr keineswegs egal gewesen. "Du hast den anderen ungeheuer imponiert, weil du dir nichts gefallen ließest. Von niemandem." Randy bewegte sich nervös und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. "Verdammt, du weißt, wie meine Noten waren. Und du weißt, wie ich es hasste, in der Schule spitze zu sein. Aber du hast nicht zugelassen, dass ich mir meine guten Aussichten verdarb." Wie konnte er ihr das antun? Hier? Jetzt? Nach all den Jahren? Warum hatte er ihr das nicht alles schon viel früher gesagt? Dass die anderen sie mochten. Dass sie gut war für die Band. Dass sie keine Ausgestoßene und nicht allein war. Ihre Stimme zitterte, als sie antwortete: "Für einen intelligenten Jungen warst du damals wirklich ziemlich dumm." "Ja, das war ich. Aber das habe ich leider erst viel später eingesehen. " "Wieso hast du dann auf mich gehört?" "Weil es leichter war, zu tun, was du mir sagtest, als mir deine Vorwürfe anhören zu müssen, wenn ich es nicht getan hätte." "Na, wunderbar. Es ist schön, zu wissen, dass ich dich unglücklich gemacht habe." "Unglücklich?" erwiderte Randy und schüttelte den Kopf. "Nein. Angezogen? Ja. Ich kannte niemanden, der zielstrebiger als du gewesen wäre. Du ließt dich durch nichts ablenken. Es war fast so, als gäbe es keinen Platz in deinem Leben für
Konzerte, Partys oder irgendetwas, das nichts mit unserer Band zu tun hatte. Oder mit deiner Zukunft." "Das stimmt. Ich hatte damals wirklich keine Zeit für etwas anderes." Randy lachte. "Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast. Aber du bist heute eine berühmte Anwältin. Das imponiert mir. Und es imponiert auch einer Menge anderer Leute." Sie hatte nicht vor, ihm zu erzählen, wie sie es geschafft hatte. Das wussten nur sie selbst und Ben. Und mittlerweile auch Quentin. "Ja. Ich habe gesehen, wie es Maryann Stafford imponiert hat. , Welche Heidi?'" "Sie wusste, wer du bist. Alle wissen, wer du bist. Sie wissen bloß nicht, was sie sagen sollen." Das kümmerte sie nicht. Warum sollte es auch, solange sie die Zuneigung ihrer vier Männer hatte? "Sie brauchen nichts zu sagen, Randy. Das hast du bereits getan." Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht, als er über ihre Schulter blickte. "Nein. Nicht alles. Da ist noch mehr." Oho! "Noch mehr?" "Ja. Und er ist schon auf dem Weg zu dir." Ben war sicher, dass er explodieren würde, wenn er nicht bald von dieser verdammten Tanzfläche herunterkam und Heidi von Randys Tisch fortholen konnte, um mit ihr allein zu sein. Er hatte sie beobachtet, seit sie im Country Club erschienen war. Sie war wunderschön. Er hatte nie bezweifelt, dass sie es sein würde, wenn sie es erst einmal überwunden hatte, sich wie eine Vogelscheuche anzuziehen und sich hinter ihrem Zorn und ihren groben Umgangsformen zu verbergen. Aber die Wahrheit übertraf noch seine kühnsten Phantasien. Dieses scheußliche Haar von früher war heute so herrlich lockig und so weich, dass er es auf seiner nackten Haut spüren wollte. Seine Finger wussten, wie es sich anfühlte, aber das war ihm zu wenig. Er wollte dieses seidenweiche Haar auf seiner Brust fühlen, auf seinem Bauch und tiefer.
Auch ihre Lippen wollte er dort spüren. Diesen hübschen Mund, der stets so frech gewesen war. Diese weichen Lippen, die er schon zweimal geküsst und noch vor Ende dieses Abends wieder küssen würde. Er wusste, dass sie ihn kommen sah. Sie schaute über ihre Schulter und umklammerte so fest ihr Glas, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihre Augen wurden bei jedem Schritt, den er machte, größer und ein unsicherer Zug erschien um ihren Mund. Er hatte schon die ganze Nacht versucht, sich ihr zu nähern. Es dauerte ihm alles viel zu lange. Sie trug Rot. Und sie zeigte sehr viel Haut, die er noch nie gesehen hatte und aus größerer Nähe sehen, berühren und liebkosen wollte. Dann, endlich, war er bei ihr, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, und er brachte kein Wort über die Lippen, weil die Gegenwart plötzlich unlösbar mit der Vergangenheit verhaftet war. Das Einzige, was er tun konnte, war, ihr seine Hand zu reichen und rau zu sagen: "Lass uns gehen." Unsicher schaute sie auf. "Gehen?" "Lass uns gehen", wiederholte er. Heidi schaute Randy an und griff nach ihrer Tasche. Als Randy ihr zunickte, erhob sie sich und legte ihre Hand in Bens. "Lass uns gehen." Es war höchste Zeit. Ihre schlanke Hand umfassend, strebte Ben dem nächsten Ausgang zu. Die Glastür führte auf die Terrasse hinaus, auf die sich einige Pärchen aus dem Saal zurückgezogen hatten, weil sie ungestört sein wollten. Aber Ben blieb nicht einmal stehen, sondern zog Heidi die Terrassenstufen hinunter auf einen schmalen Pfad, der quer über den gepflegten Rasen lief. Er wollte mit Heidi vollkommen allein sein und niemandem begegnen.
"Warte, Ben!" Heidi zog an seiner Hand, und er ging etwas langsamer und schaute sich suchend in dem großen Garten um. Verdammt! Weit und breit kein stilles Plätzchen. Zu viele Leute, zu viele offene Flächen. Ein Golfplatz, ein paar Bäume. Keine versteckten Bänke. Oder Betten. Was versuchte er, sich da einzureden? Er war viel zu ungeduldig, um ein Bett zu suchen. Was er für Heidi empfand, hatte sich in fünfzehn Jahren in ihm aufgebaut. Fünfzehn Jahre, in denen er mit einem Traum gelebt hatte. Und jetzt stand sie vor ihm. In Fleisch und Blut. Die Frau, die er begehrte. "Warte, Ben!" Diesmal entzog sie ihm ihre Hand, und da ihm nun gar nichts anderes übrig blieb, verharrte er und sah sich nach ihr um. Ihre Brüste hoben und senkten sich von der raschen Flucht. Ihre Augen funkelten im Mondschein. Ihr Haar hatte sich zum Teil aus dem Clip gelöst und fiel ihr in verführerischen Locken auf die Schultern. Sie glühte wie im Fieber, und er spürte seine Erregung wachsen. Mit kleinen, aber entschiedenen Schritten kam Heidi auf ihn zu. Das Lächeln, das dabei auf ihrem Gesicht lag, ging ihm durch und durch. Langsam hob sie die Hand, legte sie an sein Kinn und strich über seine Narbe. "Ich lauf dir nicht weg, Ben." Die Berührung ihrer Finger war weich und ungemein erotisch, ihre leise Stimme rau und kehlig. "Ich lauf nicht mehr weg. Nie wieder." Er hatte sie. Sie gehörte ihm. In ihren Augen, in diesen Augen, die er so oft im Traum gesehen hatte, erkannte er die Wahrheit. Tief atmete er ein. Ein Schauer lief durch seinen Körper, und seine Knie zitterten. Er wollte ihr Vergnügen schenken. Sie sollte sich vollkommen ihrer Leidenschaft hingeben. Das war ihm noch
viel wichtiger, als sie in Besitz zu nehmen. Und ihr Lächeln verriet, dass sie es wusste. Eine tiefe Sehnsucht erfasste ihn, die mehr war als heißes körperliches Verlangen, und er wusste nun, dass er in Schwierigkelten steckte. In emotionalen Schwierigkeiten. Schwierigkeiten, die mit einem großen "H" begannen und ihn schon seit Jahren gefangen hielten. Tief atmete er aus. Später. Damit konnte er sich später noch befassen. Im Moment hatte er ein dringenderes Problem zu lösen. "Komm mit, Heidi." "Wohin?" Fieberhaft schaute er sich um. Tennisplatz, Golfplatz, Pool ... "Hier entlang."
9. KAPITEL Bereitwillig folgte Heidi ihm, was Ben sehr beruhigte. Denn er war so nahe daran, die Kontrolle über sich zu verlieren, dass er es nicht ertragen hätte, Heidi jetzt nicht zu haben. Er hatte sie schon auf der High School begehrt, aber damals hatte dieses Begehren ihn verwirrt, weil es irgendwie nicht zu seinen freundschaftlichen Gefühlen für Heidi zu passen schien. Auch in den Jahren nach ihrer Attacke und dem Schuldschein hatte er sie gewollt. Aber das war reine Rachsucht und Vergeltungslust gewesen. Eine Besessenheit, die vielleicht egoistisch gewesen war. Heute begehrte er sie, weil sie Heidi war und sich zu einer starken, umwerfend attraktiven Frau entwickelt hatte. "Wo gehen wir hin?" fragte sie atemlos. Ben lächelte, zum ersten Mal an diesem Abend, und merkte, dass seine Anspannung ein wenig nachließ. "Ich verspüre einen unwiderstehlichen Drang, etwas ganz Bestimmtes zu tun." "Einen Drang?" Er nickte und ging weiter. "Eigentlich schon seit Jahren." "Warst du deswegen schon mal beim Arzt?" meinte sie trocken.
Er lachte. "Nicht nötig. Ich weiß jetzt selbst, was diesen Drang heilen wird." Sie hatten das Tor erreicht, das zu dem eingezäunten Pool führte. Es war verschlossen, aber Ben gab den Code für die elektronische Verriegelung ein und führte Heidi durch das Tor. Kleine gelbe Lampen brannten an allen vier Ecken des weitläufigen Geländes und erhellten den Plattenweg zum Poolhaus. Heidi wartete, bis er das Tor wieder geschlossen hatte, und fragte dann: "Ist der Zutritt nicht verboten?" "Als Clubmitglied hat man gewisse Privilegien." "Was tun wir hier?" flüsterte sie, obwohl niemand da war, der sie hören könnte. Oder sehen. Was seinen Plänen sehr entgege nkam. Als er auf Heidi hinunterschaute, spürte er, dass seine Erregung wuchs. "Du hast es früher immer abgelehnt, zu meinen Pool-Partys zu kommen. Diesmal werde ich dafür sorgen, dass du kommst." Ihre Augen glitzerten im hellen Mondschein, und er sah es an ihrem Blick, dass sie seine erotische Anspielung genau verstanden hatte. "Wirst du das?" Lächelnd schlang er ihr den Arm um die Taille und zog sie an sich. "Ja. Mehrmals." "Wie oft ist mehrmals?" Einmal weniger, wenn du nicht aufhörst, mich so betörend anzusehen, erwiderte er im Stillen. "Wie oft möchtest du es denn?" "Wie viel Zeit haben wir denn?" "Weniger als vor zwei Minuten." Und rasch nahm er wieder ihre Hand. Zusammen gingen sie zum Haus hinüber, wo er einen Stapel frischer Handtücher aus den Waschräumen holte und danach einen Liegestuhl zum Pool hinüberzog.
"Ben?" fragte Heidi und wirkte plötzlich wieder unsicher, als er sein Jackett auszog. "Was soll das werden?" Er nahm seinen Schlips ab. "Eine Pool-Party." Zögernd stellte sie ihre Handtasche neben den Liegestuhl, streifte ihr Armband ab und legte es hinein. "Meinst du wirklich? Ist das nicht zu riskant?" "Wir sind hier sicher. Niemand kann uns sehen, und keiner kommt hier ohne Code herein. Und nur ein oder zwei unserer ehemaligen Klassenkameraden sind ebenfalls Clubmitglieder." Schnell streifte er sein Hemd ab und warf es auf die Liege zu den anderen Sachen, zog Schuhe und Socken aus, nahm seine Armbanduhr ab und griff nach seinem Gürtel. "Ben?" Heidi hatte sich nicht vom Reck gerührt. "Ich habe keinen Badeanzug." "Du wirst doch einen BH und Slip anhaben?" Sie nickte und schloss für einen winzigen Moment die Augen. Dann streifte sie ihre Schuhe ab und lächelte. Ein mutwilliges Lächeln. Das Lächeln einer begehrenswerten Frau in Rot, die sich ihrer ve rführerischen Ausstrahlung nicht ganz sicher war. Ben biss sich auf die Lippen und bemühte sich, seine Erregung zu dämpfen, die ihn zu überwältigen drohte. Er musste geduldig sein. Beherrscht. Er durfte Heidi mit der Stärke seines Verlangens nicht erschrecken, bevor er sie nicht dazu gebracht hatte, seinen Schritten zu folgen. Er zog den Reißverschluss seiner Hose auf und wartete. Heidi stellte einen Fuß auf den Liegestuhl, hob ihr Kleid an und ließ ihre Finger zu dem spitzenbesetzten Rand eines Seidenstrumpfs hinauf gleiten. Er stöhnte. Heidi in Seidenstrümpfen! Sein Herz pochte wild, als er zusah, wie sie den Seidenstrumpf mit ihren rotlackierten Nägeln vorsichtig hinab rollte.
Jetzt hob sie das andere Bein und erlaubte ihm einen ausgiebigen Blick darauf - auf ihre glatte Haut, die schlanke Wade, ihren straffen Oberschenkel. Und dann sah er ihren weißen Slip aufblitzen. Erneut stöhnte er und richtete seinen Blick auf ihr Dekolletee. Ihre Brüste bewegten sich, während sie den zweiten Strumpf abstreifte, und er gab es auf, gegen seine Gefühle anzukämpfen. Ihre Seidenstrümpfe lagen jetzt auf seinen Kleidern, und er bekam bei diesem Anblick eine trockene Kehle. Selbst ein starker Drink hätte ihm jetzt nicht geholfen. Sie hob nun die Arme, öffnete ein wenig den Reißverschluss auf ihrem Rücken und griff dann nach hinten, um ihn ganz hinabzuziehen. Bei der Bewegung straffte sich das Kleid über ihren Brüsten, die er jetzt jeden Moment berühren würde. Da hielt sie plötzlich inne, suchte seinen Blick und zog eine Augenbraue hoch. "Und?" "Und was?" Was sollte das Gerede? Warum hörte sie auf, sich auszuziehen? "Du bist an der Reihe." "Ich? Wieso?" Sie trat zwei Schritte auf ihn zu. "Wir haben beide Schuhe und Strümpfe ausgezogen und unseren Reißverschluss geöffnet. Und deshalb bist du jetzt an der Reihe." "Du trägst dein Oberteil noch", protestierte er und spürte, dass eine heiße Woge ihn durchströmte. Mehr noch, als sie nackt zu sehen, wollte er beobachten, wie sie sich vor ihm entkleidete. Oder, noch besser, sie selbst entkleiden. Doch um das zu tun, hätte er sich natürlich zu ihr hinbewegen müssen. Im Moment war er dazu aber gar nicht in der Lage, weil ihm der Atem stockte, als die Ärmel ihres Kleids herabrutschten. "Warte", sagte er heiser. Sie unterbrach ihre Bewegung, und während sie so dastand und ihn ansah, fragte er sich, warum er sie gebeten hatte, aufzuhören. Er hatte doch so lange auf diesen Augenblick
gewartet. Aber jetzt, wo der Moment gekommen war, wo Heidi wirklich ihm gehören würde, wollte er nicht, dass es verging. Noch nie in seinem Leben war ihm etwas so richtig erschienen, und am liebsten hätte er die Zeit angehalten. "Was ist los, Ben?" fragte Heidi stirnrunzelnd. Nichts. Es war alles bestens. Was beunruhigte ihn dann? Er schüttelte den Kopf, blinzelte und bemühte sich um ein Lächeln. "Ich genieße nur die tolle Aussicht." Sie trat einen weiteren Schritt näher, ließ das Kleid noch einen Zentimeter tiefer sinken und noch einen. Ihre Augen funkelten, als sie ihn dann fragte: "Möchtest du noch einen besseren Blick darauf haben?" Er schluckte, schob die Hände in die Hosentaschen und schloss seine Hand um das kleine Päckchen, das er in weiser Voraussicht mitgebracht hatte. Weil er jetzt nicht sprechen konnte, gab er Heidi mit einem Nicken zu verstehen, fortzufahren. Mit einem sinnlichen kleinen Hüftschwung ließ sie die Seide an ihrem Körper hinabgleiten. In einem BH und einem Slip, die kaum als Bikini durchgehen würden, stand sie nun vor ihm. Gut, dass dies eine private Party war, eine ganz private Show für ihn und niemand anderen. Der tief ausgeschnittene, fast durchsichtige BH und der winzige Tanga verbargen praktisch nichts. Und sie hatte wundervolle Brüste und einen entzückenden Po. Es juckte ihn in den Fingern, ihn mit beiden Händen zu umfassen und Heidi an sich zu ziehen, um sie das ganze Ausmaß seines Verlangens spüren zu lassen. "Ben? Ich glaube, jetzt bist du dran." Sie trat aus dem roten Seidenkleid, bückte sich und hob es auf, wobei sie ihm einen kurzen Blick auf ihre zarten, rosigen Brustspitzen gestattete. Nachdem sie das Kleid zu den anderen Sachen auf den Liegestuhl gelegt hatte, ging sie auf bloßen Füßen zum Pool
hinüber. Während sie mit dem Zeh die Temperatur des Wassers prüfte, warf sie ihm einen Blick über die Schulter zu. "Ben?" "Hm?" "Ich sagte, du bist dran." "Ich?" Womit? Wie könnte er an irgendetwas anderes denken, wenn sie bis auf zwei winzige Stoff-Fetzen vollkommen nackt war? Ihre Schultern waren sehr gerade, ihr Rücken schlank und kräftig. Ihre Taille war schmal, ihre Hüften sanft gerundet und ihr Po gerade groß genug, um seine Hände auszufüllen. Ihre Beine schienen endlos zu sein, und er wollte sie um seine Taille spüren. Doch dazu musste er sich erst einmal entkleiden. In Windeseile streifte er seine Hose ab und warf sie auf den Stuhl, den er jedoch verfehlte. Heidi schaute ihn genau an, als er, nur in seinem weißen Slip, an ihre Seite trat, und ihr Blick verriet Neugier, Interesse und Bewunderung. Bens Erregung wurde so stark, dass ihm der Slip plötzlich viel zu eng wurde. Und dann, bevor er irgendetwas unternehmen konnte, sprang Heidi am flachen Ende in den Pool, wo das Wasser ihr nur bis zu den Brüsten reichte. Leicht frustriert ließ Ben sich am Poolrand nieder und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Heidi kam zu ihm und blieb vor seinen Knien stehen. Er wollte, dass sie näher kam und ihn berührte, sich zwischen seine Beine stellte und ... Wasser tropfte aus ihren Wimpern und von ihrer Nase. Ihr Haar war teilweise noch aufgesteckt und trocken. "Das wird hier aber keine richtige Pool-Party, wenn ich die Einzige bin, die nass wird." Ben brummte etwas, stieß sich ab und sprang ins Wasser. Im Gegensatz zu Heidi verspürte er das dringende Bedürfnis, eine Weile unterzutauchen. Als er dann wieder an die Oberfläche kam, erwartete Heidi ihn schon. Langsam ging er durch das
Wasser auf sie zu. Sie trat zurück, bis sie mit dem Rücken an die Poolwand stieß. "Weiter kommst du nicht", sagte er. "Soll das heißen, dass ich weit genug gegangen bin?" "Es erstaunt mich fast, dass du überhaupt so weit gegangen bist." Stolz reckte sie das Kinn. "Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht kneifen werde, Ben." "Ich habe es auch nicht vergessen." "Und ich nicht, was du gesagt hast." "Und was war das?" "Du hast mich zu deiner Pool-Party eingeladen. Und du hast gesagt, du würdest dafür sorgen, dass ich komme." "Das stimmt", erwiderte er und hätte sie am liebsten gleich auf der Stelle genommen. Aber er wollte sie nicht überrumpeln. "Also, Ben?" "Also was, Heidi?" "Jetzt bin ich da. Auf deiner Party." Sie hielt sich am Beckenrand fest und trat mit den Beinen Wasser. "Wann wirst du also dafür sorgen, dass ich komme?" Schweigend streckte er eine Hand aus und fuhr langsam über ihre Brüste, über ihren flachen Bauch und zu dem Spitzentanga. Als er mit den Fingern unter den nassen Stoff glitt, stöhnte sie sehnsüchtig auf, und als er ein-, zweimal über ihren sensibelsten Punkt strich, schob sie die Hüften vor, um ihn dazu zu bringen, in sie einzudringen. Es erforderte seine ganze Willenskraft, die Hand wieder zurückzuziehen. Aber er schaffte es und schloss dann die Augen, um bis zehn zu zählen. Er war erst bei drei, da unterbrach ihn Heidi. "Ben?" Er öffnete die Augen. "Ja?" "Würdest du das noch mal tun?" "Ja", murmelte er rau.
"Aber hör diesmal nicht auf." "Nein", stieß er hervor. "Und diesmal will ich mehr als deinen Finger." Welcher Mann hätte sich da noch sträuben können? Ben hob Heidi hoch, setzte sie auf die Poolkante und drückte sein Gesicht an ihre Brüste. Ihre Haut war kühl vom Wasser und warm von ihrer Hitze. Er griff hinter sie, um ihren BH zu öffnen. Er bekam nicht einmal die Gelegenheit, die Haut zu sehen, die er entblößte, weil Heidi seinen Kopf packte und an ihre Brüste zog. Sie waren voll und fest, und zärtlich liebkoste er mit der Zunge die harten kleinen Spitzen. Aufstöhnend bog Heidi den Rücken durch und stützte sich mit den Händen auf den Kachelboden hinter ihr. Ben kam nicht nah genug an sie heran, und so fasste er sie um die Taille und hob sie zu sich hinunter. Sie schlang ihm die Arme um den Nacken, als er seinen Oberschenkel zwischen ihre Beine schob und langsam mit ihr ins Wasser zurücktrat. Ohne den Blick von ihren Augen zu lösen, bewegte er sein Bein und presste es an die Stelle, die sie ihm entgegenhob. "O Ben", sagte sie erschauernd und hauchte Küsse auf seine Stirn, seine Lider, seine Wangen. "Nicht aufhören. Bitte hör nicht auf." Aufhören? Er hatte eben erst begonnen und wollte überhaupt nie wieder aufhören. Er hielt ihren Po umfasst, während sie sich heiß erregt an seinem Schenkel rieb, und küsste sie, als er nach dem schmalen Band des Tangas tastete. Er fand es sofort. Ein einziger schneller Ruck, und sie war nackt. "O Ben", flüsterte Heidi, als nur noch sein Slip eine Barriere zwischen ihnen bildete, und glitt noch höher an seinem Bein hinauf, bis sie den Beweis seiner männlichen Begierde spürte. Und dann sagte sie: "Du bist jetzt wieder an der Reihe."
Wortlos trug Ben sie zurück zum Rand des Pools, wo das Wasser seichter war. Er kämpfte um seine Selbstbeherrschung, als er nach seinem Slip griff, um ihn aus zuziehen, wissend, dass er gleich die Kontrolle über sich verlieren würde, hier im nachtdunklen Wasser und mit Heidi in den Armen. Mit den Händen fuhr sie über seine Hüften, und schon hatte sie ihm den Slip abgestreift. "Jetzt haben wir gleichgezogen", murmelte sie und schlang die Beine um ihn. Ihr geschmeidiger, nasser Körper an seinem, und es war um Ben geschehen. Das Warten war vorüber. Er angelte nach seiner Hose, die auf den nassen Kacheln lag, und zog sie zu sich heran. Während Heidi seinen Hals küsste und über seine Brust, seinen Rücken und seine Schenkel strich, durchsuchte er seine Hosentaschen. Unter Wasser ein Kondom überzuziehen war keine leichte Aufgabe. Aber schließlich schaffte er es doch und war bereit. Heidis Beine fest um seine Hüften geschlungen, ihre Hände auf seinen Schultern und seine Hände auf den Poolrand gestützt, begann er in sie einzudringen, bis er einen Widerstand spürte. Sie war noch Jungfrau! Sein Puls schlug wie verrückt. "Heidi?" "Du bist wunderbar, Ben. So hart. So glatt. So groß." Ihr Mund suchte seinen, ihre Hände glitten streichelnd über seinen Rücken. Aufmunternd stieß sie ihn mit den Fersen an und biss ihn zärtlich in die Unterlippe. "Wenn du jetzt wieder aufhörst, bring ich dich um." Er war der erste Mann in ihrem Leben! Der Gedanke erfüllte ihn mit einem überwältigenden Glücksgefühl. "Bitte, Ben. Beeil dich." Ihre Finger gruben sich in seine Schenkel. "Halt dich an der Poolkante fest. Ja, so", bestärkte er sie, als sie seine Anweisung befolgte.
Es wurde nun ernst, und er schaute ihr in die Augen, um die Frage zu stellen, die er ihr stellen musste. "Bist du dir sicher, Heidi?" Sie antwortete ihm mit einem leidenschaftlichen Kuss und einem hingebungsvollen Seufzer. Ja, sie gehörte ihm, und langsam und vorsichtig bewegte er sich weiter vor in ihre seidige Tiefe. Heidi stöhnte an seinen Lippen auf. Er hielt inne, doch sie drängte ihn mit Händen, Fersen und einem festen Druck ihrer Schenkel, fortzufahren. "Heidi, Liebling. Warte." Es würde schnell vorüber sein, wenn sie es nicht tat. "Ich möchte dir nicht wehtun." Sie küsste seine Lider, seine Wangen, die Narbe an seinem Kinn und schaute dann zu ihm hoch. "Das lässt sich nicht vermeiden. Aber du wirst es wieder gutmachen. Das weiß ich, Ben." Sie war schön. Bezaubernd schön. Ihr Blick war offen und vertrauensvoll, ihr Lächeln liebevoll und warm. Und sie gab ihm, was sie noch keinem gegeben hatte. Warum? Später. Jetzt wollte er sie lieben, sehr behutsam, um ihren Schmerz zu lindern, und sich nur dann schneller bewegen, wenn sie es verlangte und voller Lust war. Zärtlich nahm er Besitz von ihren Lippen und drang mit dem gleichen sanften Nachdruck in ihren warmen Mund, mit dem er auch an ihrer intimsten Stelle Einlass suchte. Als Heidi sich entspannte, glitt er tiefer in sie hinein, bis er sie vollkommen ausfüllte. Dann hielt er erneut inne, um ihr Zeit zu lassen, den Schmerz zu überwinden. Aber ihre lustvollen kleinen Schreie verrieten ihm, dass das nicht nötig war. Sie trieb ihn an, seinen Rhythmus zu beschleunigen und immer wieder und schneller und härter in sie einzudringen. Sie erschauerte, umarmte ihn wie im Fieber und klammerte sich auf dem Höhepunkt bebend an ihn. Seine Lippen auf ihren Mund
gepresst, nahm er ihren Lustschrei in sich auf, während er ihr auf den Gipfel der Ekstase folgte. Erst lange Zeit danach beruhigten sich ihre Atemzüge. Heidi begann in dem kühlen Wasser zu frösteln. Ben zog sich vorsichtig aus ihr zurück und wärmte sie in seinen Armen. "Lass uns aus dem Wasser gehen", sagte er, als er merkte, dass sie immer noch fror. Sie nickte. "Mir ist heiß und kalt zugleich." Lächelnd küsste er sie auf die Nasenspitze. "Komisch, dass es so etwas geben kann, nicht wahr?" "Oh, Ben. Ich hatte ja keine Ahnung." Tränen glitzerten in ihren Augen. "Ich hätte wirklich nie gedacht..." Er auch nicht. Ganz bestimmt nicht.
10. KAPITEL Das zweite High-School-Jahr Ben stoppte seinen Stingray an der Ecke Cherrystreet und Elmstreet. Heidi wohnte drei Häuser weiter links. Er konnte ihr Haus sehen, was bedeutete, dass sie auch seinen Stingray sehen konnte, falls sie aus dem Fenster schaute. Deshalb wusste er nicht, ob er weiterfahren sollte. Sie würde ihn umbringen, weil er hergekommen war. Niemand kam hierher. Sie hatte ihnen allen verboten, jemals zu ihr nach Hause zu kommen. Aber sie war heute nicht in der Schule gewesen. Und auch nicht bei der Probe. Der Joker hatte aber noch niemals eine Probe verpasst. Nicht einmal, wenn sie morgens nicht zur Schule gekommen war. Mr. Philips hatte nie etwas gesagt, wenn sie nachmittags im Übungsraum erschien, obwohl sie morgens nicht im Unterricht gewesen war. Ihr Musiklehrer wusste, woher Heidi kam. Und dass sie die Schule nur dann versäumte, wenn ihr nichts anderes übrig blieb.
Ben seufzte. Ewig konnte er hier nicht an der Ecke stehen. Vielleicht hätte er Quentin bitten sollen, herzufahren. Quentins VW-Käfer hätte etwas besser in diese Gegend gepasst als seine Corvette. Die unfreundlichen Blicke, die ihm folgten, seit er die Brücke überquert hatte, verursachten ihm Unbehagen. Langsam fuhr er zu Heidis Haus weiter. Er wollte eigentlich nicht auf der Straße parken, aber die tiefen Krater in der Einfahrt der Malones hätten ihm bestimmt den Auspuff seines Wagens abgerissen. Außerdem war sowieso kein Platz mehr da mit dem alten Kombi, der dort parkte, und dem umgestürzten Kühlschrank, der neben einem Berg von Mülltüten mit leeren Bierdosen halb in der Einfahrt lag. Er stieg aus und sah den kleinen Jungen, der gaffend ein paar Schritte weiter stand. "Wie laut kannst du pfeifen?" Die Antwort war so schrill, dass Ben zusammenfuhr. Gut. "Einen Fünfer, wenn du auf meinen Wagen aufpasst." Der Junge schlenderte herüber. "Zehn, und ich überleg's mir." "Sieben oder ich fahr wieder." Der Junge verdrehte die Augen. "Sieben. Im Voraus." "Zwei im Voraus. Den Rest, wenn ich zurückkomme." Der Junge brummte, nahm aber die beiden Geldscheine und postierte sich vor'Bens Corvette. Durch Unkraut und verdorrtes Gras ging Ben zur Eingangstür des kleinen Hauses. Er wusste, dass Heidis Zimmer sich auf dem Dachboden befand. Einmal war er schon hier gewesen bevor sie gedroht hatte, ihn umzubringen, falls er noch einmal wiederkommen sollte. Oben war er nicht gewesen, hatte sie aber durch das Fenster, das jetzt offen stand, gesehen. Jetzt sah er sie nicht, hörte aber ihr Saxo fon, sehr leise und sehr traurig, das ihm verriet, dass ihr nichts zugestoßen war. Was ihn mehr erleichterte, als er erwartet hatte. Mrs. Malone brauchte sehr lange, bis sie endlich an der Tür erschien. Sie trug Jeans und eine grüne Bluse mit einer
Federboa. Der Fernseher lief, ihre Bluse war verrutscht, und Ben mochte gar nicht daran denken, was er unterbrochen hatte. Ihre Augen waren trübe; sie roch nach Bier. Das Problem war weniger, wie viel sie trank, sondern eher, dass sie niemals nüchtern war. Zumindest hatte er das Heidis wenigen Bemerkungen entnommen. Er wusste, dass Mrs. Malone in einer Bar arbeitete. Wenn sie arbeitete. "Hi. Ist Heidi da?" "In ihrem Zimmer." Mrs. Malone deutete mit dem Daumen auf den Korridor und die hochziehbare Treppe zum Dachboden, bat ihn aber nicht herein. Sie kniff die Augen zusammen, bis ihre getuschten Wimpern wie Spinnenbeine auf ihn zeigten. "Du bist wohl einer dieser reichen Jungen, die sie aus der Schule kennt, oder? Bist wohl hergekommen, um billig Spaß zu haben, was?" "O nein, Ma'am." Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. Ich hätte wirklich Quentin schicken sollen, dachte Ben. "Denn falls es so ist..." Mrs. Malone sprach weiter, als ob er nichts gesagt hätte, "dann bist du dem falschen Kätzchen nachgestiegen. Meine Tochter weiß, was sie wert ist. Viele Männer wollten sie schon haben. Aber niemand kriegt sie, bis ich es nicht erlaube." Unbändiger Zorn erfasste Ben. Was für eine Mutter war das? "Heidi war nicht in der Schule. Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung mit ihr ist." Mrs. Malone strich ihr ungepflegtes braunes Haar zurück. Der rote Lack ihrer Fingernägel war an vielen Stellen schon abgeblättert. "Sie hat den ganzen Tag lang dieses verdammte Saxofon gespielt - wie schon ihr ganzes Leben lang. Und ich werde dir was sagen." Sie drohte ihm mit dem Finger. "Ich hab ein gutes Ohr und versteh nicht, warum ihr reichen JohnsonJungs glaubt, sie sei nicht gut genug, und warum ihr sie täglich üben lasst, wo ich sie doch hier brauche. Schau dich doch um. Es sieht hier aus wie in einem Schweinestall."
Nein. Es sah noch sehr viel schlimmer aus. "Könnte ich nach oben gehen und kurz mit ihr sprechen?" "Nach oben?" fragte sie, als ob er den Verstand verloren hätte. "Nur ihr zwei? Hey, Earl. Glaubst du, mein kleines Mädchen wäre sicher vor dem Johnson-Jungen hier?" Ben hörte eine Männerstimme brummen. Es war wirklich keine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. "Vielleicht könnten Sie Heidi bitten, hinunterzukommen?" Mrs. Malone betrachtete ihn prüfend. "Nein, geh ruhig. Von einem wie dir wird Heidi ganz bestimmt nichts wollen." Er zwang sich, nichts darauf zu sagen und trat ein. Mrs. Malone wollte die Tür hinter ihm schließen, hielt aber plötzlich inne. "Es sei denn ..." begann sie. Ben wartete, während Mrs. Malone mit großen Augen seinen Wagen anstarrte. Als sie sich umdrehte, war ihr Gesichtsausdruck weicher, und ihre Augen glänzten. "Wie war dein Name, sagtest du?" "Ben. Ben Tannen." "Nun, Ben." Sie schlang einen Arm um seine Schulter. "Geh ruhig rauf und bleib, solange du brauchst." Er wusste nicht, was schlimmer war, ihre Bierfahne oder ihr billiges Parfüm. Die Mischung erinnerte ihn jedenfalls an alte Schuhe. "Danke", murmelte er. Als er den Korridor entlangging, hörte er Heidis Mutter zu dem brummigen Earl sagen: "K omm mal her und sieh dir an, was da draußen steht!" Großartig. Einfach fabelhaft. Er hätte dem Jungen die zehn Dollar geben sollen, die er haben wollte. Und im Voraus. Eine nackte Glühbirne erhellte das Ende des schmalen Korridors. Die Leiter, die zum Dachboden führte, war nicht für den ständigen Gebrauch gedacht, wie an ihren lockeren Schrauben zu erkennen war. Der Dachboden war größer, als er
vermutet hätte. Doch Heidi nutzte nur einen Teil davon als Zimmer. Sie hatte die Wände mit Postern von Jazzmusikem tapeziert. Einige erkannte er, wie Louis Armstrong und Charlie Parker, während die anderen ihm völlig unbekannt waren. Den Raum, den sie benutzte, hatte Heidi mit bunt gefärbten Bettlaken vom Rest des Dachbodens abgetrennt. Sie hockte auf der Kante ihres Betts, das eigentlich nur eine Matratze mit Sprungfedern darunter war, und es sah ganz so aus, als ob sie nur ein riesiges Flanellhemd trüge. Dass sie sich nicht freute, ihn zu sehen, war offenkundig. Sie sagte zwar nichts, aber der Blick, den sie ihm über das Saxofon zuwarf, sprach Bände. Er wusste nicht, was er tun sollte. Deshalb hob er nur lahm die Hand und hockte sich hin, um ihr beim Spielen zuzusehen. Heidi schloss die Augen und spielte weiter. Es klang traurig, und er fragte sich, ob sie spielte, was sie fühlte; als die Töne, die sie dem Saxofon entlockte, plötzlich scharf und zornig wurden. Das Seltsamste jedoch war, wie er sich fühlte, während er sie betrachtete. Er sah und hörte sie jeden Tag spielen, aber dieses Mal war es anders. Er hätte nicht sagen können, ob es die Musik war oder Heidi. Aber sein Herz klopfte so heftig, dass es zu zerspringen drohte. Mann, das lief ja völlig anders, als er gedacht hatte. Sie sah plötzlich wie ein richtiges Mädchen aus statt wie der flippige Joker. Der Joker machte ihn nie nervös, und er bekam auch keine feuchten Hände, wenn er ihre Beine sah. Er wollte etwas zu Heidi sagen, wusste aber einfach nicht, wo er beginnen sollte. Ihr Haar war seit letztem Jahr gewachsen, aber es wirkte immer noch wie das Stroh auf einer Vogelscheuche. Sie trug nie Make-up, obwohl sie das eigentlich auch gar nicht nötig hatte. Sie hatte eine klare Haut und wunderschöne große braune Augen.
Plötzlich fragte er sich, ob es etwas mit ihrer Mutter zu tun hatte und den Männern, dass sie Make-up ablehnte und eine Punkerfrisur trug. Sie könnte gar nicht hässlich aussehen, obwohl sie sich darum bemühte. Und er ahnte jetzt auch, warum sie das tat. Verdammt. Er spürte, dass sich seine Nackenhaare aufrichteten, und sein Herz pochte so heftig, dass er bestimmt puterrot im Gesicht war. Wie konnte sie nur so leben? Sicher, ihr Zimmer war sauber und aufgeräumt, und hier oben hatte sie ihre Musik und war ungestört. Aber wie sollte sie das dafür entschädigen können, was er unten gesehen und gehört hatte? Mann, sie musste raus aus diesem Haus! Sie beendete das Stück und legte das Saxofon beiseite. Der Blick, mit dem sie ihn nun betrachtete, verriet Enttäuschung. "Deine Mom sagte, du hättest schon den ganzen Tag gespielt." Er stand auf und trat ans Dachfenster. "Eigentlich schon dein ganzes Leben lang, sagte sie. Ich wusste gar nicht, dass du schon so lange spielst." Heidi schaute auf ihr Saxofon. "Mein Großvater spielte Saxofon. Ich kannte ihn nicht, aber mein Vater erzählte mir sehr oft von ihm. Er legte dann diese uralten Schallplatten auf. Diese schweren, die so blechern klingen. Wie auch immer." Sie schüttelte den Kopf. "Ich war damals noch klein, höchstens vier oder fünf. Aber ich erinnere mich an Dads Stimme. Sie war sehr sanft und weich. ,Hör mal', sagt e er. ,Das ist dein Grandpa, der da spielt. Er spielt zusammen mit Stan Getz.' Was verstand ich schon von Jazz? Mir gefiel nur die Musik." Heidi zog das Saxofon heran und legte es in den Kasten. "Dieses Saxofon gehörte meinem Großvater. Er hat es immer gespielt, sagte mein Dad." O Mann. Ben fand seine Stimme nicht. Mit diesen wenigen Worten hatte Heidi ihm mehr über ihr Leben erzählt als in den
ganzen zwei Jahren, die er sie jetzt schon kannte. Er hätte sie gern gefragt, was aus ihrem Dad geworden war. War er gestorben? Oder fortgegangen? Und wenn er fortgegangen war, warum hatte er Heidi dann nicht mitgenommen? Sie vor dieser deprimierenden Existenz bewahrt? "Du spielst also schon sehr lange", war das Einzige, was ihm dazu einfiel. "Länger, als du Schlagzeug spielst." Er hätte gelacht, wenn es ein Scherz gewesen wäre, aber es war ihr bitter ernst damit. Und das verstimmte ihn. Er war dumm gewesen, nicht Quentin zu schicken, dumm, sich überhaupt um sie gesorgt zu haben. Kopschüttelnd wandte er sich zum Gehen. Heidi brauchte ihn nicht, hatte ihn nie gebraucht und würde ihn nie brauchen. "Was willst du hier, Ben?" Geh weiter, Ben, sagte er sich. Aber er spürte ihren Blick im Rücken und blieb stehen. "Du warst nicht bei der Probe. Ich wollte nur sehen, ob du okay bist." "Und jetzt, wo du gesehen hast, wie ich lebe, kannst du sicher sein, dass ich nie okay sein werde." Es war ihr Wispern, was ihm nahe ging. Es wäre okay gewesen, wenn sie geschrien oder sich aufgeführt hätte wie der Joker, wenn sie wütend war. Aber so leise, klein und verletzlich kannte er sie nicht. Verlegen strich er sich mit der Hand über die Stirn. "Ich bleibe noch ein bisschen, wenn du möchtest." "Nicht nötig." Heidi sprang auf und zog ihr Hemd gerade. "Mir geht es gut. Ich komme morgen zur Probe. Die reizende Mrs. Malone schließt mich nie länger als einen Tag hier ein." Ben fuhr herum und spürte, dass ihm das Blut in die Wangen schoss. "Was? Sie schließt dich hier ein?" "Ach komm schon, Ben. Das ist doch nichts." Heidi griff nach ihren Shorts und zog sie rasch unter das Hemd. "Es ist ja
nicht so, als wenn sie mir den Kopf abreißen würde oder so etwas." "Was ist mit deinem Haar? Schneidet sie das auch?" Heidi fuhr mit den Fingern durch das gebleichte Durcheinander. "Nein, das tu ich selbst." "Warum?" "Was glaubst du wohl, warum?" entgegnete sie bitter. "Weil du dir keinen Friseur erlauben kannst?" "Weil ich mir nicht erlauben kann, sie nicht zu schneiden." " "Was soll das denn heißen?" Aber er wusste es bereits. Im Grunde genommen hatte er es immer schon gewusst. "Find es selbst heraus, Ben. Du bist doch so ein kluger Junge. Oder warst es jedenfalls, bis du heute diese blöde Nummer abgezogen hast. Es gab einen Grund dafür, dass ich dir verboten habe, herzukommen. Jetzt hast du ihn gesehen. Und kannst jetzt gehen." "Heidi..." Sie ließ ihn nicht ausreden. "Dies ist kein schlechter Film, sondern mein Leben. Ich muss selbst sehen, wie ich damit klarkomme, und nicht du, okay?" "So sollte niemand leben." "Warum? Weil du als Tannen dieser Meinung bist? Weil es unfair ist? Weil es dir peinlich ist? Warum?" Die Hände auf den Hüften, beugte sie sich vor und erklärte: "Warum können die Dinge nicht einfach so sein, wie sie sind?" Ben atmete tief durch, um nichts zu sagen, was er bereuen würde. Dazu bedeutete Heidi ihm zu viel. "Du bist intelligent, Heidi. Und sehr begabt. Du verdienst etwas Besseres." "Verdammt, Ben, meinst du, das wusste ich nicht?" Sie war mindestens so frustriert wie er. "Was glaubst du wohl, warum ich mich so anstrenge in der Schule? Noch zw ei Jahre." Heidi senkte die Stimme wieder zu einem Rüstern, als sie zwei Finger
ihrer Hand hob. "Zwei Jahre noch, dann bin ich weg. Zwei Jahre werde ich noch überleben." Wie konnte sie dermaßen stark sein, so vernachlässigt wie sie aufgewachsen war? "Okay", erwiderte er und wünschte, ihm fiele eine bessere Antwort ein. "Ich komm schon zurecht, Ben. Ich muss. Und ich habe mein Saxofon und euch." Sie stand jetzt vor ihm und fingerte an dem Kragen seines Hemds. Und dann auf einmal umarmte sie ihn. Sie legte einfach ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte sich an ihn. Sie war so klein. Eine seiner Hände glitt wie von selbst zu ihrer schmalen Taille, die andere passte gerade mal zwischen ihre Schulterblätter. Er hätte nie gedacht, dass sie so zierlich war. Es war, als hielte er eine Feder in den Armen. Bis er merkte, wie fest ihre Brüste waren. Das Hemd, das sie trug, war aus ziemlich dickem Stoff und sehr weit, aber er fühlte, dass sie keinen BH darunter trug. Was ihm zu Bewusstsein brachte, dass das, was er fü r Knöpfe gehalten hatte, die Spitzen ihrer Brüste waren. Er stöhnte. Warum musste sie Brustspitzen haben? "Ben?" Ihr warmer Atern streifte sein Ohr. Er keuchte. Und klang wie ein Perverser. "Versprichst du mir etwas?" "Klar", murmelte er. "Was?" Ihre Hände glitten von seinen Schultern zu seiner Brust hinab. In der nächsten Sekunde stieß sie ihn fort, schaute wütend zu ihm hoch und brüllte: "Komm nie wieder zu mir nach Hause, hörst du? Nie, nie wieder!" Heidi erwachte ganz allmählich und blinzelte im hellen Morgenlicht. Sie unterdrückte ein Gähnen, schloss die Augen wieder und rührte sich nicht, um Ben nicht aufzuwecken. Was harten sie sich gestern Abend bloß dabei gedacht? Sex im Swimmingpool war wohl kaum die Art von Entjungferung,
die sie sich vorgestellt hatte. Obwohl sie immer davon geträumt hatte, dass Ben ihr erster Liebhaber sein würde, auf so eine verrückte Situation wäre selbst sie nicht gekommen. Heidi seufzte, und Ben bewegte sich neben ihr. Sein Knie stieß an ihre Hüfte, und sie lächelte, als sein Haar sie kitzelte. Sie schmiegte sich wieder an ihn, und er zog sie fest an seinen warmen Körper. Jetzt, in der Geborgenheit seiner starken Arme schwor sie sich, dass sie es nie bereuen würde. Ihre Träume hatten sich verwirklicht. Was immer dies für Ben bedeuten mochte, für sie war es eine wundervolle Nacht gewesen und eine Erfahrung, die sie nie vergessen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie erlebt, dass es wahre Lust, Zärtlichkeit und Leidenschaft gab. Es gab so viele Frauen, die nie Zärtlichkeit erfuhren, die nur Gewalt, Missbrauch und Armut kannten. Der erste Fall, den sie und Georgia übernommen hatten, war die Vertretung einer Siebzehnjährigen gewesen, die Volljährigkeit beantragt hatte, um ihrem gewalttätigen Vater zu entkommen. Sie würde ihn töten, hatte das Mädchen gesagt, wenn sie weiter zu Hause bleiben und sich gegen seine sexuellen Übergriffe wehren müsse. Das junge Mädchen hatte sie sehr an sie selbst erinnert, und sie war überglücklich gewesen, dass sie den Fall gewonnen hatten. Sie war im Gerichtssaal stehen geblieben, als er sich leerte, und hatte still geweint. Danach hatte sie sich selbst wie befreit gefühlt, denn ihr war klar geworden, dass sie etwas verändern konnte. Und dass sie es getan hatte. Sie würde ihr Leben damit verbringen, den Beweis zu liefern, dass Würde und Respekt keine Privilegien der Reichen waren, sondern Rechte, die jedem Mensch von Geburt an zustanden. Und Ben würde sie beweisen, dass sie seine Freundschaft wert gewesen war und sein Geld gut bei ihr angelegt ge wesen war.
Erschrocken öffnete Heidi die Augen und starrte auf die weißen Balken seines Schlafzimmers. Nein. Sie brauchte Ben gar nichts zu beweisen. Überhaupt nichts. Jahre zuvor hatten sie einen barbarischen Vertrag geschlossen. Er hatte ihr das Geld geboten, das sie brauchte, um an einer Universität ihrer eigenen Wahl studieren zu können, für die Bücher, die sie brauchte, und sogar für eine Wohnung auf dem Campus, weit weg von zu Hause. Und sie hatte sein Angebot angenommen. Wie hätte sie es auch ablehne n können? Sie hatte unbedingt aus der deprimierenden Situation zu Hause herauskommen und ihr Studium beginnen wollen. Ein Studium war ihr einziger Ausweg, ihre einzige Aussicht gewesen, dem Leben am anderen Flussufer endgültig zu entkommen. Sie hatte sich schrecklich gedemütigt gefühlt. Geld von einem Freund zu nehmen? Lieber hätte sie es von einem Fremden angenommen. Alles wäre besser gewesen als das Mitleid, das sie in Bens Augen sah. Als er ihr dann den Scheck überreicht hatte, hatte sie sich wie ein Nie mand gefühlt. Er hätte ihr das Leben gerettet, und was hatte sie getan? Sie hatte sein Gesicht verunstaltet. Später, als sie ihm einen Schuldschein geschickt hatte, in dem sie ihm versprach, was er für sein Geld erhalten würde, war sie sich noch würdeloser vorgekommen. Aber das Beispiel ihrer Mutter hatte ihr gezeigt, was Frauen im Austausch für das Geld der Männer taten. Damals verstand sie noch nichts von Freundschaft. Und von Liebe schon gar nicht. Sie hatte nur gewusst, dass sie Ben mehr als simple Zinsen schuldete. Jetzt, je länger sie hier neben ihm in seinem Bett lag und das, was sie ihm vor fünfzehn Jahren in Aussicht gestellt hatte; mit
dem verglich, was gestern Nacht zwischen ihnen geschehen war, desto ratloser und unruhiger wurde sie. Liebe überwindet alle Grenzen, Heidi. Sie lachte über sich selbst bei dem Gedanken. Wer sagte denn, dass Ben sie liebte? Randy, mit seinem großen Mundwerk, hatte es behauptet. Aber sie war sicher, dass das nur ein Scherz gewesen war. Und sie? Liebte sie ihn denn? War sie verliebt in ihn? Würde sie überhaupt den Unterschied erkennen? Im Augenblick könnte sie es nicht ertragen, ihn nicht wieder zu sehen, weil er ihr so nah war, dass sie seine Wärme und seinen Herzschlag spürte. Aber morgen hatte sie eine Gerichtsverhand lung, und sie würde heute noch nach Dallas zurückkehren. Sie konnte es sich einfach nicht erlauben, sich Träumen über eine Zukunft mit Ben hinzugeben. Denn egal, was sie für richtig hielt, egal, wofür sie kämpfte, sie würde niemals gut genug sein für Ben Tannens Liebe.
11. KAPITEL Als Ben schließlich erwachte, war Heidi in der Dusche. Er hatte nicht einmal gehört, wie sie das Bett verließ. Kein Wunder. Nach der leidenschaftlichen Nacht, die er mit ihr verbracht hatte, hatte er geschlafen wie ein Toter. Nun, als er sich Heidi nackt unter der Dusche vorstellte, wäre er am liebsten sofort zu ihr gegangen. Doch obwohl er sich im Augenblick nichts Schöneres denken konnte, als mit ihr zu duschen, würde sie sich an diesem frühen Morgen davon wahrscheinlich belästigt fühlen, und deshalb ging er nach oben in das Gästebad. Dass sie in der Zwischenzeit verschwinden könnte, wie sie es früher so oft getan hatte, beunruhigte ihn nicht. Er würde sich beeilen und nicht locker lassen, bis sie über gestern Nacht gesprochen hatten, über die High School und darüber, warum sie jedes Mal, wenn er ihr näher kam, in die entgegengesetzte Richtung rannte. Tatsächlich schaffte er es dann gerade noch rechtzeitig, wieder nach unten in sein Schlafzimmer zu kommen. Fort war sie noch nicht, aber es überraschte ihn auch nicht, dass sie ihre Reisetasche, die sie gestern Nacht in seinem Wagen mitgebracht hatte, bereits gepackt hatte.
"Du vergeudest keine Zeit, nicht wahr?" Sie wandte ihm ihr frisch gewaschenes Gesicht zu. Sie war wieder ungeschminkt und trug Jeans, Turnschuhe und ein schlichtes T-Shirt. Ihr langes Haar hatte sie zurückgekämmt und drehte es jetzt achtlos zu einem losen Knoten, den sie mit einem langen Holzstab feststeckte." "Warum sagst du das?" fragte sie gereizt. "Weil ich eine lange Fahrt vor mir habe und früh aufbrechen will? Oder weil ich es für klüger hielt, mich anzuziehen, bevor du aus dem Bad zurückkommst?" Ihre offenen Worte erstaunten ihn. Und, ja, in gewisser Weise erregten sie ihn auch. "Du kannst wohl nicht die Finger von mir lassen?" zog er sie auf. "Es sind nicht meine Finger, die mir Sorgen machen", murmelte sie und griff nach den Pumps, die sie zu der Party getragen hatte, um sie einzupacken. Seine Anspannung ließ ein wenig nach. Heidi schien sich selbst nicht ganz sicher zu sein, ob sie gehen sollte oder nicht. Dagegen war er sich jetzt ziemlich sicher, dass sie gern noch bleiben würde. Nachdem er ein T-Shirt aus dem Schrank genommen und es sich übergestreift hatte, zog er alte Segeltuchschuhe an und wandte sich zur Tür. "Komm. Lass uns gehen." Sie verschränkte die Arme über der Brust und sah wieder aus wie sechzehn. "Lass uns gehen?" "Ich habe Hunger. Und Mrs. Jones macht tolle Apfelpfannkuchen. Außerdem hast du doch gesagt, du würdest nicht mehr vor mir weglaufen. Nie wieder." "Ich laufe nicht weg vor dir." Seufzend ließ sie ihre Tasche stehen und kam zur Tür. "Okay, ich habe auch Hunger. Und ich glaube, Apfelpfannkuchen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen."
Was für ein leichter Sieg. Er unterdrückte ein triumphierendes Grinsen und lächelte charmant. "Sag bloß nicht, dass du ein Müsli-Freak geworden bist." "Nicht wirklich." Sie folgte ihm zur Treppe. "Aber meistens habe ich gar keine Zeit zu frühstücken." "Nun, heute Morgen hast du sie." Dafür würde er schon sorgen. "Und falls du die Äpfel in den Pfannkuchen nicht magst, sie macht sie auch mit Pekannüssen." Sie betraten die Küche, als Mrs. Jones gerade die letzte Scheibe geräucherten Speck aus einer Eisenpfanne nahm. Ihr Gesichtsausdruck war mehr enttäuscht als vorwurfsvoll, wahrscheinlich deshalb, weil sie so lange hatte warten müssen, um die erste Frau, die er je hierher gebracht hatte, kennen zu lernen. "Morgen, Leute. Speck und Kaffee sind schon fertig. Die Pfannkuchen müssen nur noch rasch gebacken werden." Ben trat hinter die rundliche Frau und zog an ihren Schürzenbändern. "Mrs. Jones, ich möchte, dass Sie die Erste sind, die eine alte Freundin von mir kennen lernt. Mrs. Jones Heidi Malone." "Eine alte Freundin, soso. Sie hätten mir ruhig sagen können, dass Sie Besuch haben." Mrs. Jones drohte ihm mit ihrem Schälmesser. Er duckte sich und lachte. "Und noch dazu ein Gast, der über Nacht geblieben ist. Haben Sie saubere Handtücher herausgelegt? Und ein frisches Stück Seife?" "Hm", erwiderte er unschlüssig. Er hatte keine Ahnung, welche Handtücher Heidi benutzt hatte. "Saubere Handtücher und Seife waren da. Und wenn ich gewusst hätte, dass Heidi mit mir herkommt, hätte ich Ihnen vorher Bescheid gesagt." "Sie haben ein Telefon in Ihrem Wagen. Sie hätten mich anrufen können." Mrs. Jones ließ sich nicht mit Ausreden abspeisen. Kopfschüttelnd wandte sie sich an Heidi. "Ich weiß nicht, wo er seine Manieren herhat."
Heidi zog sich einen Stuhl an den langen Küchentisch und nickte zustimmend, als sie sich setzte. "Sie haben Recht, sein Benehmen ist wirklich nicht das Beste. Können Sie sich vorstellen, dass er die Party gestern Abend verlassen hat, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden?" Mrs. Jones schnalzte mit der Zunge und rührte im Pfannkuchenteig. "Beschämend. Wirklich beschämend." Ben lehnte sich mit dem Rücken an die Spüle und verschränkte die Arme. "Du sagtest, wir könnten nicht zu den anderen zurückgehen. Jedenfalls nicht klitschnass." Mrs. Jones hörte auf, in ihrem Teig zu rühren. "Klitschnass?" "Die Sprenkler. Im Rosengarten. Im Club", erklärte Heidi errötend und bedachte Ben mit einem bösen Blick. "Aber ich glaube nicht, dass Mrs. Jones das wirklich wissen will." "Ich will nur eins wissen, und das ist, wie Sie Ihre Pfannkuchen haben möchten." "Mit Äpfeln, wenn es Ihnen recht ist. Danke." Heidi stieß einen genüßlichen Seufzer aus. "Gut, dann Äpfel. Ben, stehen Sie nicht untätig herum. Bringen Sie Miss Heidi eine Tasse Kaffee." Mrs. Jones gab Teig in eine Pfanne. "Sie können mir später von der Party erzählen. Denn ich habe so das Gefühl, dass das eine sehr lange Geschichte wird." "Die Jones' wussten nichts von unserer Band?" fragte Heidi etwas später auf den Verandastufen. "Du hast ihnen gar nichts erzählt von deiner High-School-Zeit?" Heute Morgen hatte sie erfahren, dass Mrs. Jones ein Frühstück machte, das schlicht unwiderstehlich war. Jetzt wollte Ben mit ihr in die Scheune gehen, um ihr Charlies neugeborenes Fohlen zu zeigen, und um sie mit Thackery bekannt zu machen. Bisher hatten sie es nicht einmal bis in den Hof geschafft. Auf der Veranda war Heidi stehen geblieben, um Lug, Bens Hund, zu streicheln, und von überallher waren plötzlich Katzen aufgetaucht wie Ameisen bei einem Picknick.
Ben musste zwar aufpassen, wohin er seine Füße setzte, aber das würde ihn nicht von dem Thema abbringen, das sie das ganze Wochenende vermieden hatten. "Du meinst, ob die Jones' wissen, dass du diejenige bist, der ich diese Narbe zu verdanken habe? Dass du es warst, die mir jede Chance geraubt hat, als attraktivster Mann des Jahres im ,People Magazine' zu erscheinen?" Heidi verdrehte die Augen. "Eine kleine Narbe hat Harrison Ford auch nie behindert." "Das nennst du klein?" Bei seinen Worten trat sie zwei Stufen höher, legte eine Hand um Bens Kinn und drehte seinen Kopf von einer Richtung in die andere. Die Fahrradkette hatte in der Mitte seines Kinns eine Kerbe hinterlassen, wie Michael Douglas sie besaß. Sehr sanft und zärtlich strich sie mit dem Zeigefinger über die Narbe, die von seinem Kinn bis fa st zum Ohr verlief. Sie fuhr zu seinem Ohr, als würde sie die Entfernung abschätzen, und er überlegte, ob sie daran dachte, dass ihr Schlag ihn ein Ohr gekostet haben könnte. Heidi hielt unbewusst den Atem an, und Tränen schimmerten in ihren Augen. Zitternd glitt ihre Hand zu seinem Nacken, und sie zog seinen Kopf zu sich hinunter, um sein Gesicht mit Küssen zu bedecken. "Warum, Ben?" flüsterte sie heiser, und ihr warmer Atem streifte sein Ohr. "Warum hast du mir gesagt, ich sollte zuschlagen?" Er lachte leise. "Weil ich nie damit gerechnet hätte, dass du es tun würdest." Sie trat zurück, um ihn anzuschauen, und er sah, dass sie schluckte. "Du warst verletzt, Heidi. So verletzt, dass du all diesen Groll und Zorn nie wieder losgeworden wärst, wenn du nicht zugeschlagen hättest." Sanft hob er ihr Kinn an und hielt ihren
Blick fest. "Das machte mir sogar noch mehr Angst als die Möglichkeit, dass du doch zuschlagen könntest." Er hatte an jenem Tag behauptet, sie gut zu kennen. Sie hatte ihm nicht glauben wollen. In ihren vier High-School-Jahren hatte sie niemanden an sich herangelassen. Erst sehr viel später, als Reife seine Arroganz gemildert hatte, hatte er begriffen, warum sie sich von allen fern gehalten hatte. Dass sie es trotzdem geschafft hatte, ließ sich nur mit ihrer bedingungslosen Unabhängigkeit erklären. Damit, dass sie es sich nie erlaubt hatte, um etwas zu bitten oder etwas anzunehmen. Und schon gar nicht, jemanden zu brauchen. Als er sie jetzt ansah und auf eine Antwort wartete, kam ihm der Verdacht, dass sie diese Einstellung auch heute noch praktizierte. , "Ich hätte dich nicht schlagen sollen." Sie schob die Hände in die Hosentaschen und trat eine Stufe tiefer. "Das war nicht richtig, Ben." "Da kann ich dir nicht widersprechen." Um ihr Reue und Gewissensbisse zu ersparen, lachte er. "Aber genauso wenig hätte mir gefallen, wenn du deine Wut an meinem Stingray ausgelassen hättest." Sie wandte sich ab, und er merkte, dass sie es nicht so leicht nahm wie er mittlerweile. Er hatte den damaligen Vorfall längst überwunden. Dass sie das offenbar noch nicht getan hatte, frustrierte ihn nun. Heidi ließ sich auf die letzte Stufe sinken und schlug die Hände vors Gesicht. "Wieso sprichst du überhaupt noch mit mir? Und warum wolltest du mit mir schlafen? Nach allem, was ich dir angetan habe. Ich könnte ja verstehen, wenn es wegen des Schuldscheins wäre. Aber falls es nicht so ist... was dann ... warum?" Ihr zu erklären, warum, hätte bedeutet, sich mit den Gefühlen auseinander zu setzen, die er gestern Abend unterdrückt hatte. Seltsam, aber jetzt war er bereit, über diese Gefühle zu sprechen.
"Uns verbindet etwas, Heidi. Du bist nicht irgendeine xbeliebige alte Klassenkameradin, die ich mir für einen OneNight-Stand ausgesucht habe." Er hielt inne und setzte sich auf die Stufe über ihr. "Weißt du noch, was ich dir gestern Nacht gesagt habe?" "Da hast du alles Mögliche gesagt." Er lachte. "Unter anderem, dass das, was ich heute bin, sehr viel mit dir zu tun hat." "Das glaube ich nicht." "So ist es aber. Obwohl ich natürlich zugebe, dass ich das, wenn wir vor fünf Jahren darüber gesprochen hätten, noch ganz entschieden abgestritten hätte." Sie hob den Kopf, drehte sich aber nicht zu ihm. "Und was hat sich seitdem geändert?" "Ich. Ich habe mich geändert." Diesmal wandte sie sich um und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. "Wie darf ich das denn verstehen?" "Vor fünf Jahren kam ich zurück nach Sherwood Grove. Schon damals lief es nicht gut mit mir und Katherine. Ich wusste nicht, warum. Aber irgendwie hatte ich nie das Gefühl, dass ich zu ihr gehörte. Oder zu ihr passte. Sie hat mich innerlich nie so beschäftigt wie du." "Mach dich nicht lustig über mich, Ben." "Das tue ich ganz und gar nicht." Er beugte sich vor und schaute ihr direkt in die Augen. "Es verging kein Tag in meinem Leben, an dem ich nicht an dich gedacht hätte. Und es waren nicht immer nur angenehme Gedanken." "Was dachtest du denn über mich, Ben?" Ihr Blick war jetzt klar und wachsam. Ihre Stimme klang, als führte sie ein Kreuzverhör. Und plötzlich erschien ihm diese schonungslose Offenheit gar nicht mehr so ratsam. Als er ein zufriedenes Schnurren hörte, senkte er den Blick. Eine der Katzen hatte sich zwischen seinen Beinen niedergelassen und den Kopf auf seinen Schuh gelegt.
"Was ich dachte?" begann er versonnen. "Ich hasste und verfluchte dich, ich war besorgt und machte mir Gedanken." "Worüber?" "Wie du hier gelebt hattest. Du wohntest dort unten am Fluss in einem Haus aus Teerpappe und Müll. Ich lebte in der City von Sherwood Grove mit Dienstboten und Kronleuchtern. Du kamst mit einem Fahrrad, an dem nur noch ein Gang funktionierte, zur Schule. Ich fuhr eine Corvette. Du hattest nichts, verglichen mit all dem, was ich hatte. Dennoch war ich nicht halb so unabhängig wie du. Ich tat, was von mir erwartet wurde, anstatt selbst zu denken. Ich hatte es gut. Sehr gut sogar." Er zuckte mit den Schultern. "Warum hätte ich etwas ändern sollen? Damals dachte ich kaum daran, was du tun musstest, um zu überleben. Klar, wir stritten uns wie alle Teenager, aber du hast nie etwas getan oder gesagt, das nicht mit einer Partie Billard und viel lauter Musik zu regeln gewesen wäre." Langsam fuhr er fort: "Ich dachte mir nichts dabei, als ich dir das Geld anbot. So funktioniert es eben bei den Tannens. ,Ein Problem? Kein Problem. Sag, wie viel du brauchst, und das Problem ist aus der Welt geräumt." Er schaute Heidi offen in die Augen, denn dies war es, was er ihr seit Jahren hatte erklären wollen. "Ich brauchte keine Minute, um den Scheck auszustellen und dir zu geben, wofür du immer gekämpft hattest. An deine Gefühle dachte ich dabei nicht. Und das war ein Fehler, es tut mir Leid." Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. "Aber wenn du ihn mir nicht gegeben hättest..." "Wärst du dann nicht da, wo du heute bist?" Ein zweites Kätzchen gesellte sich zu dem ersten. "Später, viel später habe ich mich gefragt, ob nicht alles anders gekommen wäre, wenn ich mit dir über dein Problem gesprochen hätte, anstatt dir einfach einen Scheck zu überreichen. Wenn ich nicht so arrogant gewesen wäre, mir einzubilden, ich könnte dein Problem mit meinem Scheckbuch regeln."
Heidi schwieg einen Moment. "Du hast es geregelt. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich es wohl nie zur anderen Seite des Flusses geschafft." Nein. Das konnte er sich nicht anrechnen. "Du warst stark, Heidi. Du hättest es auch so geschafft." "Ich glaube nicht. Ich wusste einfach nicht mehr weiter an dem Tag." Sie legte ihm eine Hand aufs Knie. "Als du am Fahrradständer anhieltst, war ich gerade zu dem Schluss gekommen, dass ich es niemals schaffen würde." Erneut hielt sie inne. "Ich war mir plötzlich völlig sicher, dass ich wie meine Mutter werden würde", fuhr sie mit gesenktem Blick fort. "Geld von Männern anzunehmen, meine ich. Bis zu jenem Tag hatte ich nie geglaubt, jemals so tief zu sinken ..." Gequält schloss er die Augen. Diese Seite der Geschichte hatte er noch nie bedacht. "Und dann war ich es, der dich so erniedrigt hat. Deshalb hast du mir diesen Zettel geschickt." Heidi nickte. "Und als du anriefst, glaubte ich, du wolltest, dass ich den Schuldschein einlöse." Sie lachte kurz. "Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hätte nie gedacht, dass du mich beim Wort nehmen würdest. Ich dachte, du hasst mich. Dass du mich nie wieder sehen wolltest, ganz zu schweigen davon ..." "Dich zu lieben? Bei diesem Schuldschein ging es nicht um Liebe. Ich war zwar erst neunzehn, als du ihn mir schicktest, aber so viel wusste ich bereits. Ich habe mich wahnsinnig geärgert über dein Angebot. Aber ich habe dich trotzdem angerufen, weil ich wissen wollte, ob bei dir alles okay ist. Und als du nicht mit mir reden wolltest, na ja ... Da beschloss ich, dir diesen Zettel eines Tages vorzulegen. Ich war jung und arrogant und überzeugt davon, dass du mir viel mehr schuldig warst als Geld. Aber hauptsächlich war ich wütend, weil du dir deinen Traum verwirklicht hattest, während ich das Leben führte, das man von einem Tannen erwartete." Heidis Lächeln war sanft, verständnisvoll. "Und jetzt?"
Das war einfach zu beantworten. "Jetzt lebe ich nach meinen Vorstellungen." Sie drückte sein Knie und legte dann ihre Hände darum. "Ich kann es fast nicht glauben, dass du mich in all den Jahren nicht vergessen hast." "Glaub mir, es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe." Mit einer knappen Geste wies er auf seine Narbe. "Wie hätte ich es auch vermeiden können?" "Ben." Sie setzte sich neben ihn, schlang die Arme um ihn und zog ihn fest an sich. "Es tut mir so schrecklich Leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll." Sein Herz klopfte schneller. "Sag mir nur eins." "Was du willst", flüsterte sie. "Hast du mich vergessen?" Sie schüttelte den Kopf. "Niemals." "Und Jetzt? Wie geht es jetzt mit uns weiter?" Das war die schwierigste Frage von allen, weil er nicht die Absicht hatte, Heidi je wieder aus seinem Leben fortzulassen. Nicht nach diesem Wochenende. Nicht, nachdem er erkannt hatte, dass er sie liebte. "Mit uns weiter?" Ihre Augen blickten zärtlich und verträumt, als sie erwiderte: "Ich würde jetzt sehr gern mit dir wieder in dein Bett zurückgehen." Heidi zog Ben langsam aus und nahm sich sehr viel Zeit, um jeden Zentimeter seines Körpers zu erkunden. Er war schön wie eine Statue von Michelangelo. Langsam machte sie sich von neuem vertraut mit diesem wundervollen Männerkörper. Den starken Armen, die sie in der Nacht so liebevoll gehalten hatten; den kraftvollen Händen, die sie auf so unglaublich intime Art berührt hatten; den schlanken Fingern, die ihr die Freudentränen abgewischt hatten, die sie auf dem Gipfel der Ekstase nicht hatte unterdrücken können. "Heidi?"
Ohne aufzuhören, mit den Daumen zärtlich über seine Hand zu streichen, schaute sie auf in seine Augen. Seine Augen, die ihr seit ihrer Teenagerzeit fast jede Nacht im Traum erschienen waren. "Ich bin einsfünfundachtzig groß. Ich wiege neunzig Kilo und habe Schuhgröße vierundvierzig. Falls du die Absicht haben solltest, weiter so viel Zeit auf jeden einzelnen Zentimeter von mir zu verschwenden, werden wir hier nicht lange bleiben." "Wieso nicht?" "Weil es schon vorbei sein wird, bevor du mir auc h nur die Hose ausgezogen hast." "Oh", hauchte sie und wölbte ihre Hand über seinem Hosenschlitz, um sich von der Wahrheit seiner Worte zu überzeugen. Ben schnappte nach Luft. "Was machst du?" Den Vamp zu spielen, machte noch viel mehr Spaß, wenn es kein Spiel war. "Ich wollte nur sehen, was ich zu erwarten habe." "Sehr witzig", knurrte Ben. "Jederzeit", sagte sie und beugte sich wieder über seine Brust. Während sie mit der Zunge seine nackte Haut liebkoste und sacht an seinen Brustwarzen knabberte, schob sie ihre Finger unter seinen Hosenbund und merkte, dass er keinen Slip trug. Unwillkürlich presste sie ihre Schenkel zusammen, weil eine heiße Woge der Erregung sie durchströmte. "Heidi?" "Hm?" murmelte sie, ihre Zunge an seiner Brustwarze. "Beeil dich, Liebling. Ich halt das nicht mehr lange aus." Seine Ungeduld entzückte sie. "Geduld ist eine Tugend." "Ich will aber nicht tugendhaft sein." "Dann küss mich." Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Und während er sie leidenschaftlich küsste, zog er ihr das T-Shirt hoch und streifte es ihr über die Schultern. Dann spürte sie seine Hände auf ihren
Brüsten und stöhnte auf, als seine warmen Lippen sich um eine der aufgerichteten Spitzen schlössen. Lustvoll bog sie den Rücken durch und hob sich Ben entgegen, weil nichts sie mehr erregte als sein Mund auf ihren Brüsten. Oder auf ihrem Bauch ... Erneut entrang sich ihr ein Stöhnen, als er mit den Lippen über ihren Nabel strich und mit seiner Zunge einen feuchten Pfad über ihre erhitzte Haut beschrieb. Sie konnte es kaum erwarten, dass er ihr Hose und Slip auszog, um sie dort, wo sie ihn am brennendsten ersehnte, mit Zunge und Mund so sinnlich zu streicheln wie in der Nacht zuvor. Endlich zog er ihren Reißverschluss auf und streifte ihr die Jeans samt Slip über die Hüften. Doch dann hielt sie ihn zurück, weil sie ihn ebenso intim liebkosen wollte, wie er es bei ihr getan hatte. Er runzelte die Stirn, als sie ihn zurückschob, und zog scharf die Luft ein, als nun sie mit der Zunge über seinen Nabel strich und dabei gleichze itig seine Hose tiefer schob. Dann küsste sie ihn dort, wo seine Empfindsamkeit am größten war, und freute sich über das raue Stöhnen, das er ausstieß, seine schnellen, flachen Atemzüge und dass er fast verzweifelt ihren Kopf umklammert hielt. Aber lange ertrug er das nicht, und als sie zu ihm aufschaute, packte er sie an den Schultern und drückte sie sanft, aber bestimmt aufs Bett zurück. Achtlos streifte er die Hose ab, die ihm um Knie und Knöchel hing, und schon war er über ihr und drang mit einer machtvollen Bewegung in sie ein. Doch er liebte sie langsam und zärtlich, hob und senkte sich in einem sehr gedehnten Rhyhtmus und hörte schließlich sogar ganz auf, sich zu bewegen, als sie sich wand und ihn anflehte und ungeduldig seinen Po umklammerte. Sein he iseres Lachen vibrierte an ihren Brüsten, und als er sie dann zärtlich küsste, ergriff er dabei ihre Hände und zog sie über ihren Kopf.
Jetzt begann die wahre Qual, unendlich süß und erregend. Ohne den Kuss zu unterbrechen, ihre Handgelenke mit einer Hand fest umklammert, liebkoste er sie mit den Fingern, während er sich gleichzeitig fast unerträglich langsam aus ihr zurückzog, um dann genauso langsam von neuem in sie hineinzugleiten und sie heiß und hart vollkommen auszufüllen. Wie unfair, wie herrlich, sie so zu behandeln und ihr nicht zu erlauben, sich zu bewegen! Ihr Herz raste, das Blut rauschte ihr in den Ohren - ihr war, als ob sie in Rammen stünde. In unbändiger Lust schrie sie auf dem Gipfel auf, während Ben sich ekstatisch bebend in ihr verströmte. Sie gaben ihren überwältigenden Gefühlen gemeinsam Ausdruck. Das war Liebe, diese unendliche Leidenschaft, die sie einander mit Mund und Fingern, mit ihrem ganzen Körper bereitet hatten. Und vor allem, und das war wichtiger als alles andere, liebte sie Ben mit ihrem Herzen.
12. KAPITEL Das letzte High-School-Jahr Heidi fragte sich, was ein Glas purer Bourbon bewirken würde. Ob es das Feuer, das in ihrem Magen wütete, wohl linderte? Oder ob es auch ihre Wahrnehmung für alles andere, was ihr wichtig war, abschalten oder zumindest betäuben würde. Nach dem Tag, den sie heute gehabt hatte, und den vier Jahren High School, die sie eben abgeschlossen hatte, erschien ihr Benommenheit der ideale Zustand für ihr weiteres Leben. Kein Schmerz mehr, keine Demütigungen und erst recht keine Hoffnungen mehr. Den alten braunen Filzhut ihres Vaters tief in die Stim gezogen, drängte sie sich durch die lärmende Menge der anderen Schüler. Der 1984er Abschlussklasse. Als sie das Ende des festlich geschmückten Gangs erreichte, trat sie in die warme Nachmittagssonne hinaus. Es war schon ziemlich heiß für Mai, und die Hitze schien das Feuer, das in ihrem Magen wütete, noch zu verstärken.
Der Brief, den sie in der Hand zerknüllte, war ihr auch keine Hilfe, und so steckte sie ihn in die Tasche. Ein weiterer Brief, der sie darüber informierte, dass ihrem Antrag auf ein Stipendium nicht stattgegeben worden war. Womit nun auch ihre allerletzte Hoffnung, finanzielle Unterstützung für ein Studium zu erlangen, sich in nichts aufgelöst hatte. Das Darlehen, das sie benötigt hätte, wäre keine große Summe gewesen. Wirklich nicht. Aber die Männer, die das Geld verteilten, beachteten so viele Dinge. Zum Beispiel, dass sie mit ihrer Familiengeschichte ein Risiko darstellte. Ihre Noten waren ordentlich gewesen, aber nicht beeindruckend. Okay, sie hatte mit der Band Preise gewonnen, aber die nützten ihr natürlich nichts als Sicherheit für einen Bankkredit. Und da überraschte es sie, dass ihre Anträge abgelehnt wurden? Sie überquerte den Parkplatz für die Lehrer und ging zum Fahrradständer hinter dem Gebäude. Die eigentliche Überraschung war, dass sie es bei ihren Schwierigkeiten überhaupt bis zum Abschluss geschafft hatte! Verdammt, während ihrer vier Jahre auf der Johnson High hatte sie nie mehr als ein Dutzend Fahrräder an diesem Ständer gesehen. Die Schüler von der Johnson High fuhren Kabrios. Und Corvettes. Es war dumm von ihr gewesen, überhaupt hierher zu kommen. Sie hätte wegen ihrer Adresse lügen und mit den anderen Kindern, die am Fluss lebten, zur Schule gehen sollen. Als ob irgendjemand nachgeprüft hätte, dass sie die gefürchtete Distriktsgrenze überschritten hatte. Aber sie hatte gedacht, dass jene, die die Stipendien verteilten, ihre High School in Betracht ziehen würden. Dass sie mit der JHS eine bessere Chance hätte, das alles hinter sich zu lassen. Dagegen war es jetzt so, dass sie einen vier Jahre alten Traum abschreiben konnte. Jetzt hatte sie nichts mehr als ein Zuhause,
das keins war, und eine Zukunft, die auf unbestimmte Ze it verschoben war. Denk nach, Heidi, denk, sagte sie sich. Okay. Morgen würde sie sich nach einem Sommerjob umsehen. Bis August müsste sie eigentlich genug verdient haben, um im Herbst auf irgendeinem staatlichen College ein Studium zu beginnen. Sie war achtzehn, und sie hatte ihren High-School-Abschluss. Ihre Mutter konnte ihr das Arbeiten nicht verbieten. Die konnte sie höchstens vor die Tür setzen. Aber sie bezweifelte, dass das geschehen würde. Nicht, wenn ihre Mutter den Tag kaum erwarten konnte, an dem ihre Tochter in der Lage war, Geld nach Hause zu bringen. Und genau das war das Problem. Sie mußte einen Job finden, mit dem sie genug verdiente, um nicht nur ihr Studium zu finanzieren, sondern auch einen Teil der Miete und des Biers zu zahlen, das ihre Mutter trank. Außerdem müsste die Arbeit so beschaffen sein, dass sie sie viele, viele Stunden von zu Hause fern hielt. Fern von ihrer Mutter, die darauf beharren würde, dass sie, Heidi, nun ah und gebildet genug sei, um den Typ Mann zu interessieren, der einen hohen Preis für ihre Unberührtheit zahlen würde und so lange weiterzahlen würde, wie sie ihn glücklich machte. O ja, das ist ein Leben, auf das ich mich freuen kann, dachte Heidi bitter, während sie die Kette von den Speichen ihres Fahrrads löste. O ja. Sie hatte eine wirklich großartige Zukunft vor sich. Sie hörte das leise Brummen eines Wagens hinter ihr und richtete sich langsam auf. O nein. Auf keinen Fall. Sie war jetzt nicht in Stimmung. Jetzt nicht und nie wieder. Die Schule war vorbei. Und was sie betraf, war auch "The Deck" Geschichte. Schweigend wartete sie darauf, dass Ben weiterfuhr, fort, weg - dorthin, wo die Absolventen der Johnson High ihren letzten Schultag feierten. Wo auch immer das sein mochte.
Heidi schnaubte. Sie wäre allerdings sehr überrascht, wenn Ben heute keine Pool-Party geben würde, und noch mehr, wenn Maryann Stafford sich nicht schon einen neuen Bikini für diese Gelegenheit gekauft hätte. Die Corvette hielt an, die Tür ging auf, und Ben stellte den Motor ab. Die Stille, die folgte, war ihr so unerträglich, dass sie am liebsten geschrien hätte. Aus voller Lunge geschrien, um sich einmal im Leben Luft zu machen. Um all die Gedanken herauszuschreien, die sie dermaßen bedrängten, dass sie manchmal glaubte, ihr würde der Kopf platzen. Ich hab den Verstand verloren, dachte sie. Ich bin total durchgedreht. Heidi krümmte sich, weil ihr Magen ihr beständig in Erinnerung rief, dass sie heute noch nichts gegessen hatte. Und weil ihr übel wurde angesichts der bitteren Erkenntnis, dass ihr Leben jetzt praktisch zu Ende war. Vorbei. Aus. Schluß. Fini. "Heidi? Bist du in Ordnung?" Klar. So weit man in Ordnung sein konnte, wenn man gerade überlegte, wie es sich einen halben Meter unter der Erde lebte. Sie richtete sich auf, hielt den Blick aber auf den Boden gerichtet. "Ich suche nur meine Kontaktlinsen." "Ich wusste gar nicht, dass du welche trägst." Nach einem verstohlenen Blick auf Ben verdrehte sie die Augen. Warum mußte er so verdammt gut aussehen? "Ich trage auch keine. Was willst du?" Bens grüne Augen blinzelten verwirrt. "Ich wollte fragen, ob du ... Ein paar Leute kommen nachher bei mir vorbei. Wir wollen ein bisschen schwimmen, in der Sonne liegen, fernsehen ..." "Ja und?" Warum sagte er es nicht einfach und brachte es hinter sich? Und warum verspürte sie diesen gemeinen Wunsch, es ihm höllisch schwer zu machen?
"Du brauchst nicht ein solches Biest zu sein." Ben steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. "Ich dachte bloß, du würdest vielleicht auch gern kommen. " Sie hatte verdammt mehr Lust auf einen Streit. "Warum sollte ich herüberkommen wollen, wo ich doch ein Biest bin?" "Ich glaube nicht, dass du ein Biest bist..." "Du hast mich gerade eins genannt." "Ich sagte, du verhältst dich so wie eins." . "Nein. Du sagtest, ich sei eins." Ben strich sich mit einer Hand das Haar zurück. Die diesjährige Mode verlangte, dass es an den Seiten kurz geschnitten war und hinten lang, und natürlich hatte Ben Tannen sich dem Diktat gebeugt. "Sieh mal, Heidi, ich weiß nicht, was du hast, aber was auch immer an dir nagen mag ..." Sie lachte. "An mir nagen? Das ist gut." Ben schien das nicht zu denken. "Möchtest du nun kommen oder nicht?" "Wie soll ich denn dahin kommen?" Er schaute auf ihr Fahrrad. "Du kannst mit mir fahren und das Rad hier stehen lassen." Sie war noch nie in seiner Corvette gefahren. "Ich habe keinen Badeanzug." "Ich fahr dich gern bei dir vorbei, damit du ihn holen kannst." Heidi war so aufgebracht, dass ihre Brüste sich hoben und senkten, als sie wiederholte: "Ich habe keinen Badeanzug." "Ach so." Verlegen trat Ben von einem Fuß auf den anderen. "Im Poolhaus müssten eigentlich noch ein paar Bikinis oder Badeanzüge liegen." Abgelegte Sachen? Sie hatte bestimmt nichts gegen Secondhand-Klamotten. Außer, wenn sie von einem Tannen kamen! "Da verzichte ich lieber." "Wie du willst", sagte er, fragte dann aber sofort: "Und was machst du?"
Sie zuckte die Schultern. "Das Gleiche wie jeden Nachmittag nach Schulschluß. Nach Hause fahren." "Blödsinn, Heidi. Du kannst heute nicht einfach nach Hause fahren. Du musst feiern. Einen letzten Schultag hat man nur einmal im Leben", erwiderte er. Das letzte Mal, wo ich sicher sein kann, einen Platz zu haben, an dem ich meinen Tag verbringen kann. Das letzte Mal, wo ich mich als Schüle rin betrachten darf. Das letzte Mal, wo ich mich von deinem Gesicht, deinem Lachen und deinen Augen, die mich so ansehen, als ob ich jemand wäre, trösten lassen kann. "Ja, ich kann feiern." Sie nahm den Hut ab, fuhr mit zitternden Fingern über den Rand und hoffte, dass Ben nicht bemerkte, wie nervös und aufgeregt sie war. "Feiern, dass ich keine schlechten Nachrichten mehr aus dem Büro des Studienberaters zu erwarten habe." Ben nickte langsam. "Darüber hatte ich mich schon gewundert. Ich habe dich dort heute herauskommen sehen. Was gibt's?" "Nichts für meine Zukunft, das steht fest" "Ich verstehe nicht... Was willst du damit sagen?" "Nichts. Ich will nicht darüber reden." Sie setzte den Hut wieder auf. "Du willst nie darüber reden, wenn dich irgendetwas stark belastet." Ben trat näher und blieb stehen, als sie zurückwich. "Ich kenne dich." Ihre Augen brannten. "Das glaubst auch nur du." "Nein. Man kann nicht so viel Zeit miteinander verbringen, wie wir beide es getan haben, und sich nicht nicht kennen." Sie wollte aber nicht, dass er sie kannte. Niemand sollte etwas von ihr wissen. "Du weißt gar nichts von mir." "Ich weiß, dass kein Grund besteht, warum du jetzt nach Hause fahren müsstest."
"Und es gibt einen Grund, zu dir zu fahren?" Sie legte einen Finger ans Kinn. "Laß mich nachdenken. Was könnte das wohl sein? Weil alle meine Freunde da sein werden? O nein, warte! Ich hab ja gar keine Freunde. Das kann es also nicht sein." "Du hast Freunde, Heidi." "Wirklich, Ben? Im Ernst? Mal sehen. Ich bin mit Leuten in die Schule gegangen, die mich, wenn's hochkommt, tolerieren. Ich spiele in einer Band mit Leuten, die gezwungen wurden, mich in ihre Gruppe aufzunehmen." Er stieß einen Finger in ihre Richtung. "Das mit der Band ist Blödsinn, und das weißt du auch." Es interessierte sie nicht, was er sagte oder dachte. Sie pfiff darauf, verdammt! Das Einzige, was sie interessierte, war, dass ihr ganzes Leben ruiniert war. "Ich hänge nicht stundenlang am Telefon und quatsche über Frisuren, Klamotten oder wer nicht mehr Jungfrau oder schwanger ist." Sie nickte langsam. "Aber das wäre ja auch ein bisschen schwierig, wo ich nicht einmal ein Telefon besitze. Ich hänge natürlich auch nicht mit den anderen im Einkaufszentrum herum, weil ich niemanden habe, mit dem ich hingehen könnte, keine Möglichkeit, überhaupt dort hinzukommen, und schon gar kein Geld zum Ausgeben." "Das ist doch Unsinn, Heidi. Du brauchst kein Geld, um mit den anderen im Einkaufszentrum herumzuhängen." Wütend starrte sie ihn an. "Du hast ja keine Ahnung, wie mein Leben ist! Und deshalb will ich nichts mehr von dir hören, Ben." "Ich weiß, wie dein Leben ist. Ich war bei dir zu Hause, nicht? Okay, nur einmal, aber das genügte. Ich werde mir von dir jedenfalls nicht sagen lassen, du hättest keine Freunde. Denn du hast mich. Und du hast auch Randy, Jack und Quentin. Wir haben dich alle oft genug zum Ausgehen eingeladen. Ins Kino oder auch ins Einkaufszentrum. Es ist ja schließlich nicht so, als müsstest du die ganze Zeit zu Hause bleiben. Vielleicht hätten
wir dich öfter fragen sollen, aber du hast immer Nein gesagt, wenn wir es taten." Natürlich hatte sie Nein gesagt! Was hätte es ihr genutzt, sich in Kreise zu begeben, die sie im Grunde ablehnten und nur deshalb tolerierten, weil sie Ben und Randy und Jack und Quentin kannte? Sie dachte nicht daran, Beziehungen auszunutzen, um Zugang zu einer Welt zu finden, die sie ohnehin nie als zugehörig akzeptieren würde. Sie war immer ihren eigenen Weg gegangen. Ihr Stolz und ihr Selbsterhaltungstrieb hätten etwas anderes gar nicht zugelassen. "Nein, danke, aber darauf kann ich gut verzichten. Auf Kino, Einkaufszentrum oder Pool-Partys. Ich werde nach Hause fahren und ein bisschen üben. Vielleicht kann ich Blues in irgendeinem Club spielen, und wenn ich schön brav das Trinkgeld spare, kann ich mit dreißig dann vielleicht mein Jurastudium beginnen." "Ich verstehe nicht, warum du kein Stipendium für eine Musikhochschule beantragt hast." "Weil ich dann auch Musik machen müsste. Aber ich möchte Rechtsanwältin werden, Ben. Und für beides hätte ich keine Zeit. Die Musik war für mich immer sehr wichtig." Wie wichtig, hätte sie ihm gar nicht sagen können. Saxofon zu spielen, war oft das Einzige gewesen, was sie gehabt hatte. "Aber jetzt möchte ich mehr tun. Ich mochte anderen helfen. Nicht jeder hat ein Saxofon." Tränen traten ihr in die Augen und brannten hinter ihren Lidern, als sie versuchte, sie zurückzuhalten. Verdammt, sie wollte nicht vor Ben weinen. Sie wollte überhaupt nicht weinen. Sie wollte schreien, gegen die Fahrradspeichen treten und sich das Stroh ausrupfen, das sie Haare nannte. Aber auch das konnte sie vor Ben nicht tun. Nicht, wenn er dastand und aussah wie ein ... ein Collegestudent.
"Was könnte ich denn tun, Heidi? Was soll ich sagen? Sag mir, wie ich dir helfen kann." "Ich brauche dein Mitgefühl nicht, Ben. Du kannst dir deine Pool-Party, dein Auto und deine Collegezulassung sonstwohin stecken." Und damit kehrte sie ihm den Rücken zu, bestieg ihr Rad und umklammerte so hart die Handgriffe, dass jegliches Gefühl aus ihren Fingern wich. Gefühllos. Ja, das war gut. Sie hörte Bens Schritte auf dem losen Kies, als er zu seinem Wagen zurückging. Endlich. Sie hielt die Augen geschlossen, bis sie ihn seine Wagentür aufmachen hörte, und wartete dann, dass er sie schloss. Ihr einziger Gedanke war, zu verschwinden, aber sie wollte nicht die Erste sein. Sie würde nicht davonlaufen. Nicht vor Ben. Sie wartete und wartete, und als der Wagen immer noch nicht ansprang, hätte sie sich beinahe umgedreht. Aber sie tat es nicht. Und plötzlich kam er zurück. O nein! Warum musste er ausgerechnet jetzt zurückkommen, wo sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken konnte? Er näherte sich ihr von der linken Seite. Sie griff nach der Fahrradkette, um sie an den Lenker zu hängen, ließ sie dann aber ziellos von einer Hand in die andere gleiten und spielte nervös damit herum. Sie spürte, dass er hinter ihr stand und wartete und wartete. Worauf? "Was ist?" schrie sie schließlich und fuhr aufgebracht herum. "Was willst du? Warum stehst du da noch rum? Verschwinde endlich! Ich hab dir doch gesagt, ich komme nicht zu deiner gottverdammten Party!" Ihre Stimme wurde immer lauter, immer schriller. Ihr Blut raste mit einer solchen Geschwindigkeit durch ihren Körper, dass sie rote Blitze vor ihren Augen sah. Ihre Finger verkrampften sich um die Fahrradkette, als sie plötzlich das
wilde Bedürfnis hatte, diesem reichen Jungen die hübschen grünen Augen auszukratzen. Sie wollte ihm begreiflich machen, wie es war, Heidi Malone zu sein. Heidi Malone, für die es weder Pool-Partys noch Kino oder Einkaufszentren gab. Sie wollte, dass er sie in die Arme nahm und ihr über das Haar strich, dass er sie tröstete, dieses wahnsinnige Pochen ihres Herzens linderte und ihr versicherte, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Tränen strömten ihr über die Wangen, ihre Nase lief. Sie schmeckte Salz auf den Lippen, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und wischte ihre Hand an der Jeans ab. Sie war in Tränen aufgelöst und zitterte, als er endlich etwas sagte. Und dann war es nur ein Wort. "Hier." Er reichte ihr ein Stück Papier. "Was ist das?" fragte sie misstrauisch. Er schwenkte es. "Nimm es einfach." Sie griff danach, warf einen Blick darauf, und ihr stockte der Atem. Es war ein Scheck, von Ben unterschrieben und auf ihren Namen aus gestellt. Ein Scheck mit einer Menge Nullen. Die Nullen waren das, was sie am meisten aus der Fassung brachte. "Was soll ich damit?" Ihr Versuch, Gleichgültigkeit zu heucheln, schlug fehl. Ihre Stimme zitterte noch heftiger als ihre Hand. "Du willst doch auf ein College gehen." "Was? Das ist für mein Studium? Auf einem College?" "Falls du nicht zurückwillst auf die High School, ja. Denn ich glaube, die ist nach wie vor umsonst." Wenn die High School umsonst war, warum hatte sie dann so teuer dafür bezahlt? Ein Preis, der nur eine Null hatte und trotzdem höher war als dieser Scheck. Denn diese eine Null war sie. Dagegen könnte sie mit diesen vielen Nullen auf dem Scheck zu jemandem werden.
Sie schüttelte den Kopf. "Das kann ich nicht annehmen. Ich will es nicht." Sie versuchte, Ben den Scheck zurückzugeben. Ben verschränkte die Arme. "Das ist mir egal. Ich will, dass du es nimmst." "Warum? Damit dir edelsteinbesetzte Engelsflügel wachsen?" "Nein. Ich will bloß Schlagzeug in der Band des Himmels spielen." Erneut trat er von einem Fuß auf den anderen. "Nun sei doch vernünftig, Heidi. Das Geld stammt aus dem Treuhandvermögen, das mein Großvater mir hinterlassen hat. Ich habe es bekommen, als ich achtzehn wurde. Es lag auf der Bank und wartete nur darauf, für einen guten Zweck verwendet zu werden." "Und du hältst mich für einen guten Zweck?" Zwei Dutzend Kreditinstitute waren da anderer Ansicht gewesen. Das Papier zitterte in ihrer Hand. "Ja, klar. Warum sollte ich das nicht?" "Warum solltest du?" Er atmete tief ein und langsam wieder aus. "Weil du meine Freundin bist. Und weil du es brauchst." Was machte er? Warum stand er da herum und tat nichts? Den Scheck nahm er nicht zurück. Er schaute sie nur an, als ob ... Als ob sie den Verstand verloren hätte? Er hielt sie für verrückt? Sie würde ihm zeigen, was verrückt war! "Wie kannst du es wagen, mir zu sagen, was ich brauche!" Sie brüllte ihn an, als würde ihr das Herz herausgerissen. Schluchzte, als ob sie sterben würde, wenn sie die Tränen unterdrückte. Ihre Kehle brannte, und ihr Herz drohte zu zerspringen. Und alles war nur seine Schuld! Wenn er nicht angehalten hätte, wäre sie längst auf dem Nachhauseweg. Sie würde sich jetzt nicht mit einer weiteren Chance für die Zukunft, die sie sich so verzweifelt wünschte,
auseinandersetzen müssen - der schlimmsten, aussichtslosesten Chance von allen, weil diesmal sie selbst sie ablehnen musste. Sie hob die Hand, in der sie die schwere Fahrradkette hielt. Wie aus der Ferne hörte sie Ben sagen, sie solle es tun, sie solle ruhig zuschlagen. Vielleicht hätte sie sich noch stoppen können, aber ihr Arm war bereits über ihrem Kopf und ihre Hand schon in Bewegung. Die Farhradkette traf ihn seitlich am Gesicht. Sie sah Blut hervorspritzen und hörte Bens Schrei, als er taumelte und stürzte. Und dann bewegte er sich nicht mehr. Lag nur da. Regungslos und still und leblos. O Gott! Was hatte sie getan? Sie sprang auf ihr Fahrrad und umklammerte die Griffe, den Scheck noch in der einen Hand, die Kette in der anderen. Voller Panik glitt ihr Blick von Ben zur Schule und von Ben zur Straße. Aber sie konnte nichts erkennen. Ihre Augen brannten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte nur noch einen Gedanken: weg! Bloß weg! Fahren. Sie musste fahren. Sie trat in die Pedale wie noch nie zuvor in ihrem Leben. O Gott! Was hatte sie getan? Sie hatte die Eisenbahnschienen schon überquert und war auf halbem Weg nach Hause, als sie von weitem die Sirene des Krankenwagens hörte. Sie schloss die Augen und trat weiter in die Pedale. Es war oben in ihrem Dachzimmer, wo sie die Entscheidung traf, dass sie den Scheck, falls die Polizei nicht kam und sie verhaftete, einlösen würde.
13. KAPITEL "Ich weiß nicht, Georgia. Diese Vorladung ist vielleicht nicht genug, um die Sache anzukurbeln. So viel haben wir schließlich nicht in der Hand. "Ach komm schon, Heidi." Georgia stützte sich auf Heidis Schreibtisch und beugte sich augenzwinkemd zu ihr vor. Wir wissen doch beide, dass es einzig und allein darum geht, das zu benutzen, was man in der Hand hat. Georgia mit ihren sexuellen Anspielungen! Heidi hob den Kopf und bedachte ihre Freundin und Partnerin mit einem leicht gereizten Blick. "Das ist nicht witzig." "Vor einem Monat hast du es noch lustig gefunden", sagte Georgia. Das stimmt dachte Heidi. Seit sie aus Sherwood Grove zurückgekommen war, hatte sie ihren Sinn für Humor verloren. Unter anderem. Sie verzog das Gesicht. Wenn sie gewusst hätte dass Sex sie in ein solch frustriertes, unkonzentriertes Etwas verwandeln wurde, hätte sie sich Ben nie hingegeben. Aber das Problem war ja gar nicht der Sex - oder der Mangel daran, seit sie wieder m Dallas war. Das Problem war, dass sie sich in Ben verliebt hatte.
Sie schaute auf, lächelte Georgia zuliebe und klimperte theatralisch mit den Wimpern. "Ich schwöre, dass ich mir die größte Mühe geben werde, von jetzt an über alle deine anzüglichen Bemerkungen zu lachen. "Hm. Das klingt nach jemandem, der unbedingt ein weiteres Klassentreffen braucht. Und eine weitere heiße Nacht mit einem Mann, dessen Name bisher nicht einmal deine beste Freundin wissen durfte." Georgia wandte sich zum gehen. "Mach die Tür inter dir zu", rief Heidi ihr nach. Georgia tat es, steckte dann aber noch einmal den Kopf herein. "Du warst lustiger, als du weder das eine noch das andere hattest." Heidi fuhr zusammen, als die Tür zuschlug. Sie zählte bis zehn und atmete dabei tief ein und aus. Trotzdem war sie danach immer noch so nervös wie eine Katze auf einem heißen Blechdach. Oder einer Katze, die den Hufen einer Stute auswich, die gerade gefohlt hatte. Charlie Parker hatte Ben sein Pferd genannt. Charlie Parker. Dieses Detail war das bezeichnendste von allen, dass er ihr wirklich verziehen hatte. Die Narbe war nur noch eine blasse Erinnerung an das Geschehene, mit der zu leben er gelernt hatte. Warum also war sie immer noch nicht fähig, nach all den Jahren und den Wochen nach dem Wiedersehen, sich selber zu vergeben? Sie kam sich geradezu pathetisch vor. Dabei war sie alles andere als pathetisch. Heidi stand auf und schaute nachdenklich aus dem Fenster ihres Büros auf den Hof und den angrenzenden Parkplatz. Sie hatte viel erreicht und war sehr weit gekommen für ein Kind von der falschen Seite des Flusses. Sie war beruflich ungemein erfolgreich, eine sehr bekannte Anwältin. Ihre Klienten waren Menschen, die durch die Launen des Schicksals gezwungen waren, in ähnlichen Umständen zu leben wie sie damals. Dabei wäre ihr jedoch nie in den Sinn gekommen, dass ihr Beruf ihr Zugang zu Kreisen verschaffen
würde, die sie als Schülerin auf der Johnson High abgelehnt und geächtet hatten. Na gut. Vielleicht hatte sie es diesen Kreisen irgendwo in ihrem Unterbewusstsein ein bisschen zeigen wollen. Maryann Staffords Schock über das Wiedersehen hatte ihr zumindest eine gewisse Genugtuung verschafft. Aber das waren nur Nebensächlichkeiten. Ihr Engagement ging tiefer. Das müsste für Ben doch eigentlich offensichtlich sein. He, Moment mal! Was hatte irgendetwas davon mit Ben zu tun? Mach dir doch nichts vor, Heidi. Dies alles hat mit Ben zu tun! Angesichts dieser zwingenden Erkenntnis lehnte sie die Stirn an die kühle Fensterscheibe und schloss die Augen. Es hatte sie nie gekümmert, was die Leute in Sherwood Grove über ihre Herkunft dachten, über die Art, wie sie sich kleidete und benahm. Sie hatte nur Ben gefallen wollen. Schon vom ersten Schultag an, als sie ihn im Übungsraum gesehen hatte. Er hatte sie an jenem Tag als Gleichgestellte akzeptiert. Es hatte ihn nicht gestört, dass sie keine Kleidung mit bekannten Markenzeichen trug, und er hatte auch den anderen nicht erlaubt, sie als irgendetwas anderes zu betrachten, als die begabte junge Musikerin, die sie gewesen war. An jenem Tag war ihr Ben so wichtig geworden wie ihr Traum, Anwältin zu werden. Es war nicht leicht, das heute zuzugeben. Sie hatte sich so lange etwas vorgemacht. In der Nacht, in der sie sich geliebt hatten, hatten sie einander mehr gegeben als nur ihre Körper. Sie hatten gemeinsam gelacht über Anekdoten aus der High-School- Zeit und zusammen sogar ein paar Tränen geweint, als sie ihm von dem Tod ihres Vaters und ihrem Leben vor der Johnson High erzählt hatte.
Sie hatten sich über die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens unterhalten. Über Bens Zukunft beim "Stonebridge Reporter" und ihre eigene als Heidi Malone bei "Bonds and Malone". Aber sie hatten nicht über eine gemeinsame Zukunft gesprochen. Er hatte nicht gesagt, er liebe sie. Und als sie am nächsten Morgen fortgefahren war, hatte er nur auf Wiedersehen gesagt. Offenbar war es ihr misslungen, ihm wirklich zu gefallen. Dass sie sich den Angriff auf ihn nicht verzieh, milderte diese harte Erkenntnis ein wenig. Solange das, was sie ihm angetan hatte, zwischen ihnen stand, brauchte sie sich wenigstens nicht zu fragen, wann und wo sie bei dem Wiedersehen versagt hatte oder wie es hätte sein können, wenn alles anders wäre. Weil es eben nicht anders war. Solange ihre Attacke noch wie eine Barriere zwischen ihnen stand, konnte sie sich selbst die Schuld an seinem mangelnden Interesse zuschreiben. Und das linderte vielleicht etwas den Schmerz, nicht sein Herz gewonnen zu haben. Sie hatte sich vorhin getäuscht. Sie war pathetisch. Die Tür zu ihrem Büro ging auf und schloss sich wieder. "Hau ab, Georgia. Ich bin beschäftigt." "Beschäftigt damit, das Fenster mit der Stirn zu halten?" Ben! Heidi straffte sich und starrte auf sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, denn für einen flüchtigen Moment sah sie das Bild des Jungen, in den sie sich tief in ihrem Inneren auf den ersten Blick verliebt hatte. Er trug Röhrenjeans, seine Füße steckten in knöchelhohen Turnschuhen, und er hatte den Kragen seines roten Polohemds im Nacken aufgestellt. Es war wohl eine leichte Krümmung im Glas, eine verzerrte Perspektive, was ihn so jung und unschuldig erscheinen ließ. Denn als sie sich umwandte, war nicht mehr das Geringste in
seinem Gesicht, was sie an einen Teenager erinnert hätte. Ben Tannen war ein Mann. Ein Mann mit einer Mission, der gekommen war, um alles, was noch zwischen ihnen stand, zu klären. Was sie in seinen Augen sah, war weniger Ärger als vielmehr Frustration - und die eiserne Entschlossenheit, sich nicht mehr frustrieren zu lassen. Aber was sie sah, war nicht annähernd das, was sie spürte. Dieses wohlige Erschauern, das durch ihren Körper ging. Und dass die Bürde von ihren Schultern abzufallen schien. Komisch, das er ausgerechnet in dem Moment erschienen war, als sie an ihn gedacht hatte. Dann lachte sie im Stillen. Er hätte genauso gut morgen oder auch übermorgen kommen können, sie hätte trotzdem an ihn gedacht. Sie dachte immer an ihn. "Ben. Was für eine Überraschung", sagte sie lächelnd und trat wieder hinter ihren Schreibtisch. "Was führt dich her?" Er kam näher, blieb auf der anderen Seite des antiken Schreibtischs stehen und rieb sich müde den Nacken. "Die gleiche Frage habe ich mir auf den letzten zweihundert Meilen auch gestellt." Interessant, dass nicht einmal er selbst wusste, warum er hergekommen war. "Und hast du eine Antwort darauf gefunden?" Er schüttelte den Kopf und erklärte dann: "Ich habe einen Monat abgewartet. Ich wusste, dass du einen wichtigen Prozess vor dir hattest und wollte dich nicht stören." Sie seufzte und deutete auf die Akten auf ihrem Tisch. "Ich habe immer irgendeinen wichtigen Prozess vor mir." Er nahm die Hand von seinem Nacken und legte sie auf die Lehne des Besucherstuhls. "Also kommt dir jeder Zeitpunkt ungelegen?" "Das habe ich nicht gesagt. Ich bin nur immer sehr beschäftigt." "Zu beschäftigt?"
"Für einige Dinge ja. Für andere nicht", erwiderte sie und bemühte sich um ein Lächeln. "Zu beschäftigt, um einen Freund anzurufen?" "Nein. Ganz und gar nicht. Ich habe Quentin dieses Wochenende ..." Sie brach ab, als ihr bewusst wurde, was Ben gemeint hatte. "Verstehe." Ein ärgerliches Funklen erschien in seinen grünen Augen. "Aber zu beschäftigt, um die Freunde anzurufen, mit denen du ins Bett gehst." Sie straffte die Schultern. "Ich habe keine Freunde, mit denen ich ins Bett gehe." "Nur Feinde?" Das genügte. Ruhig, aber entschieden sagte sie: "Falls du hergekommen bist, um dich danebenzubenehmen, wäre es mir lieber, wenn du wieder gehen würdest." "Ich kam her, um dir etwas zu sagen, Heidi." Sichtlich unruhig ging er auf und ab, und sie schwieg und wartete, weil sie ihn nicht drängen wollte. Wahrscheinlich war es ohnehin das letzte Mal, dass sie sich sahen. "Pass auf. Etwas hatte ich vergessen, dir auf dem Klassentreffen zu sagen. Etwas, was ich mir unbedingt noch von der Seele reden muss, ob es für dich nun etwas ändert oder nicht." Er zog sich den Besucherstuhl heran und stützte beide Hände auf die Lehne. "Ich liebe dich. Und ich liebe dich wahrscheinlich schon viel länger, als ich selber weiß. Aber um meine Gefühle geht es hier nicht." Er liebte sie? O Gott! Er liebte sie! Ihre Beine zitterten von der Anspannung, nicht um den Schreibtisch herum und zu ihm zu laufen. Aber ihre Stimme klang fest, als sie ihn fragte: "Worum geht es dann?" "Darum, dass du nicht bereit bist, deine Attacke zu vergessen." Ben richtete sich wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ja, ich weiß, dass wir darüber geredet
haben. Und, ja, du hast dich auch bei mir entschuldigt. Aber du kannst deine Erinnerung trotzdem nicht ruhen lassen. Heidi, Liebling, du musst das endlich überwinden." "Ich weiß nicht, wovon du redest", behauptete sie, weil sie nichts davon hören wollte. Ben überging ihren Einwand. "Ich habe im vergangenen Monat oft darüber nachgedacht, warum du mich nie angerufen hast. Und darauf kann es eigentlich nur eine Antwort geben: dass du diese alte Geschichte nie bewältigt hast und dass sie dich zerstören wird." Sie zog die Schultern hoch. "Destruktive Handlungen zerstören eben, Ben. Worüber ich mir lange Zeit den Kopf zerbrochen habe, ist, wie du es damals geschafft hast, die Polizei herauszuhalten." "Indem ich meinen Eltern sagte, ich wüsste nicht, wer mich geschlagen habe und ich würde mich an nichts mehr erinnern, was an jenem Tag gewesen sei. Sie wussten natürlich, dass meine Gedächtnislücke nur ein Trick war, aber ich konnte dich doch nicht verraten." "Was!" Er hatte seine Eltern belogen, um sie zu schützen? "Warte! Moment mal, Ben. Du brauchtest mich doch gar nicht zu verraten. Alle wussten doch, dass ich es war!" "Klar. Es gingen natürlich Gerüchte um. Aber ich habe kein Wort gesagt. Und Zeugen gab es keine. Schließlich wollte ich nicht dein ganzes Leben ruinieren." Einen kurzen Augenblick schwieg er, um dann mit düsterer Miene fortzufahren: "Aber meine Toleranz ist jetzt erschöpft, Heidi. Ich bin nicht mehr bereit, dir zu verzeihen, dass du dich weiter an diese alte Geschichte klammerst und dir das Leben selbst zur Hölle machst. Ich bin es leid, dass du es nach fünfzehn Jahren immer noch nicht geschafft hast, damit zu Rande kommst. Ich bin es leid, zu warten. Dazu liebe ich dich viel zu sehr."
Mit diesen Worten wandte Ben sich zum Gehen und überließ es Heidi, sich über die unwiederbringliche Wahrheit klar zu werden. Sie war im Begriff, das Beste zu verlieren, was sie je gekannt hatte, und das nur, weil sie zu selbstgefällig war, um zuzugeben, dass sie sich geirrt hatte. Sie schaute wieder aus dem Fenster und sah Ben den Parkplatz überqueren. Rasch griff sie nach einem Stift und einer weißen, goldgeprägten Grußkarte, hastete aus dem Büro und rief Georgia im Vorübergehen zu: "Lass Annette meine Anrufe notieren." Ich habe ihr gesagt, wozu ich hergekommen bin. Bei die sem Gedanken nickte Ben entschieden. Der Rest lag jetzt bei Heidi. Selbst wenn er sie nicht geliebt hätte, könnte er nicht guten Gewissens zusehen, wie ein Freund sich selbst zerstörte. Er hatte ihr bereits Zeit genug gelassen. Wenn er in einer Woche oder zwei nichts von ihr hörte, oder höchstens einem Monat, dann würde es das Ende sein. Als er schnelle Schritte hinter sich hörte, drehte er sich nicht um, weil er nicht wusste, wer es war und nicht wie ein Narr dastehen wollte, falls Heidi ihn von ihrem Fenster aus beobachtete. Aber das tat sie nicht. Sie stand plötzlich vor ihm, außer Atem, mit aufgelöstem Haar und roten Wangen. "Hier." Sie schwenkte ein Stück Papier. "Was ist das?" fragte er misstrauisch. "Nimm es", beharrte sie. Er tat es, betrachtete es kurz und lächelte, als ihm ein Stein vom Herzen fiel. Es war ein Scheck. Nun ja, gewissermaßen. Keiner, den er in einer Bank einlösen konnte, aber das war bei diesem Scheck auch gar nicht nötig. Trotzdem wollte er die Worte hören. "Bist du dir sicher?" Sie nickte. "Ich liebe dich, Ben."
Er hob sie auf die Arme und küsste sie auf dem ganzen Weg zum Ende des Parkplatzes, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Dort ließ er sie hinunter und öffnete die Beifahrertür. "Lass uns fahren." Sie stieg ein, und er setzte sich ans Steuer, wobei das Stück Papier seiner Hand entglitt, zu Boden flatterte und neben einer alten Fahrradkette, die jemand fortgeworfen hatte, liegen blieb. So waren es jetzt die Vögel, die dort in der Hecke am Rand des Platzes lebten, und die Eichhörnchen, die Nüsse in der lockeren Erde verscharrten, die lasen, was Heidi geschrieben hatte. Zahlbar an: Ben Tannen. Über: Meine Liebe und mein Leben. Unterzeichnet: Heidi Malone.
EPILOG "Das muss die spleenigste Hochzeit aller Zeiten sein." Quentin, der im Foyer von Stonebridges kleiner Kirche stand, benutzte den goldgerahmten Wandspiegel, um seinen Schlips zu richten. Er sprach zum Spiegelbild des Mannes, der an seiner Seite stand. "Wir sind in einer Kirche und nicht in einem UBoot, auf einem Baseballplatz oder auf Wasserski. Man muss auch für die kleinen Dinge dankbar sein." "Und was ist mit den großen? Zum Beispiel damit, dass ich noch gar nicht alt genug bin, um der Brautvater zu sein?" Missmutig fuhr Randy sich mit einem Kamm durchs Haar. "Glaubst du etwa, ich sei feminin genug, um Heidis Brautjungfer zu sein?" gab Quentin zurück. "Trauzeuge", wandte Randy ein. "Ich habe selbst gehört, wie Heidi diese Unterscheidung machte." "Ich kann bloß sagen, dass dies für mich das Ende von ,The Deck' bedeutet." Quentin zupfte noch immer an seinem Krawattenknoten. "Ich habe mehr als meine Pflicht und Schuldigkeit getan als Königin." Sonne fiel in die kleine Halle, als Jack die Kirchentür aufzog. Lächelnd, die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille
verborgen, breitete er die Arme aus. "Männer! Ihr seht toll aus für die Aufgabe, die euch erwartet!" Quentin wandte sich wieder dem Spiegel zu. "Lach ruhig, Montgomery. Du wirst bloß ganz gewöhnliche Erinnerungen an diesen Tag haben, während ich mich daran erinnern werde ..." stöhnend schüttelte er den Kopf, "wie ich in Pflaumenblau aussehe." "Aber, aber", ließ sich Mrs. Jones vernehmen, die gerade aus dem Brautzimmer kam. Die Hände in die Hüften gestützt, betrachtete sie Quentin. "Sie sehen aus wie ..." "Eine Königin?" warf Randy über ihre rechte Schulter hilfreich ein. Sich nach ihm umblickend, versetzte Mrs. Jones ihm einen leichten Klaps. "Reden Sie keinen Unsinn. Er sieht großartig aus. Wie eine Vision." "Eine Vision?" Zweifelnd betrachtete Quentin seine dunkelroten Hosen, sein lavendelfarbenes Hemd und den pflaumenblauen Seidenbinder, den er dazu trug. Mrs. Jones nahm ihn am Arm und schob mit der Schulter Randy fort, um sich und Quentin zu betrachten. "Sie haben doch Bens Ring?" erkundigte sie sich dann besorgt. Quentin zog den goldenen Ring aus seiner Hemdtasche. "Hier ist er." "Was ist mit Ihnen?" wandte Mrs. Jones sich streng an Jack. "Ja, Ma'am." Jack zeigte ihr Heidis Ring, den er am kleinen Finger trug. "Ich weiß nicht, Mrs. Jones", bemerkte Randy und bemühte sich, eine ernste Miene zu bewahren. "Dieser Ring erscheint mir nicht sehr sicher dort." Mrs. Jones beugte sich über Jacks Hand. "Lassen Sie mal sehen." Jack schüttelte die Hand. Der Ring saß fest. "Er sitzt so fest, dass er mir die Blutzufuhr abschne idet."
"Nun, dann sollten wir besser Wasser und Seife holen, bevor es zu spät ist und wir den Finger amputieren müssen." Mrs. Jones packte Jack am Aufschlag seiner Jacke und zog ihn zur Herrentoilette. Schritte ertönten auf dem Marmorboden. "Seife und Wasser? Aber, Mrs. Jones. Ist einer der Jungs zu schmutzig für die Kirche?" Quentin, Jack und Randy drehten sich alle gleichzeitig nach der unbekannten Frauenstimme um. Die Augen der drei Männer weiteten sich vor Verblüffung, als sie sahen, was dort aus dem Brautraum kam. Sie trug hauchdünnen Chiffon in Farbschattierungen, die von Lavendelrosa bis zu Pflaumenblau reichten, und dazu farblich passend eingefärbte Pumps aus Alligatorleder. Aber es war die schimmernde Seide unter dem Chiffon, die sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte, was die drei Männer sie anstarren ließ, als hätten sie eine Erscheinung vor sich. Der schmale Rock betonte jede Kurve ihres üppigen und wohlgeformten Körpers. Sie war groß und hatte endlose Beine und eine wilde Mähne schwarzen Haars. Ihre Lippen und Nägel waren rot wie Wein, ihre Haut hellbraun wie Milchkaffee. Quentin war der Erste, der die Sprache wieder fand. "Georgia?" Georgia nickte und durchquerte die kleine Halle mit einem Lächeln, das nicht in eine Kirche passte. "Und Sie sind Quentin, schätze ich?" Randy trat zwischen die zwei, bevor Quentin etwas erwidern konnte. "Ich bin Randy. Das dort ist Jack. Er ist derjenige, der die Seife braucht." "Hallo, Randy. Hallo, Jack." Georgia nickte beiden zu und wandte sich wieder Quentin zu. "Ich bewundere Ihre Arbeit. Sehr." Quentin machte eine angedeutete Verbeugung. "Und da Sie mit Heidi zusammenarbeiten, bewundere ich auch Ihre."
Georgia lachte, ein tiefes, kehliges Lachen, bei dem den drei Männern wieder fast die Augen aus dem Kopf fielen. "Ich bin ja so froh, Sie alle endlich kennen zu lernen", sagte Georgia. "Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Es ist nett, wenn man die Gesichter zu den Namen kennt... und alles andere." "Hör auf, Georgia. Lass meine Jungs in Ruhe." Heidi stand in der Tür zum Brautraum. Sie hatte auf ein traditionelles Hochzeitskleid verzichtet und stattdessen einen knöchellangen Rock aus cremefarbener Knitterseide gewählt. Das Oberteil im gleichen Farbton wurde vom mit Satinbändern geschlossen und war am Kragen, an den Ärmeln und am Saum mit antiker Spitze besetzt. Das Haar hatte sie aufgesteckt, eine schlichte Perlenkette zierte ihren Hals, und sie trug einen zarten, schulterlangen Schleier, der an einem Diadem aus elfenbeinweißen Rosen befestigt war. Sie war so wunderschön, dass die Männer sie nur sprachlos anschauten. Georgia schnalzte anerkennend mit der Zunge. "Hm, ich hab ja wirklich auch nicht schlecht ausgesehen zu meiner Zeit, aber so bezaubernd ganz gewiss nicht." Randy ging zu Heidi und nahm ihre Hand. "Sie hat Recht. Du siehst bezaubernd aus." "Nicht bezaubernd." Jack schüttelte den Kopf. "Das trifft es nicht. Sie sieht..." Hilflos brach er ab. "Unwiderstehlich aus." Quentin nickte. "Und glaubt mir, in meinem Geschäft weiß ich, was unwiderstehlich ist." Heidi errötete, wie es sich für eine Braut gehörte. "Ihr seht auch phantastisch aus. Ihr alle." "Nun, der Ansicht bin ich auch." Mrs. Jones richtete den schwarzen Priesterkragen über ihrer weißen Robe. "Und wartet, bis ihr erst den Bräutigam seht! Mr. Jones tut gut daran, sich dicht bei mir zu halten."
Alle lachten, und Mrs. Jones nahm Heidis Hände. "Du bist das Beste, was unserem Ben passieren konnte. Lass ihn das nie vergessen", sagte sie ergriffen. "Wie könnte er? Wenn wir beide da sind, um ihn daran zu erinnern?" Überwältigt von der Loyalität der älteren Frau, umarmte Heidi sie. Sie roch nach Zimt und Äpfeln und frischer Luft, und Heidi wurde die Kehle eng - ganz sicher nicht zum letzten Mal an diesem Tag, wie sie vermutete. "Ich kann mir keinen schöneren Tag vorstellen", sagte sie, sich an ihre Freunde wendend. "Euch alle hier zu haben ist wunderbar." Sie lächelte und blinzelte, um ihre Tränen zurückzudrängen. "Danke. Dass ihr hergekommen seid. Dass ihr dabei seid." "Um nichts auf der Welt hätten wir uns diesen Tag entgehen lassen", erklärte Georgia und wandte sich rasch ab, weil auch ihr die Tränen kamen. Mrs. Jones nahm Jack am Arm und zog ihn zur Kirchentür. "Wir beide haben noch zu tun. Wir sehen euch später." Alle lachten, als die kleine Mrs. Jones den großen Jack durch den Gang der Kirche zur Sakristei zog, wo Ben schon wartete. Ben. O Ben. Heidi seufzte, erschauerte innerlich und drehte sich zu Quentin, der darauf wartete, an Georgias Seite zu treten. "Du siehst wunderbar aus." Er verzog das Gesicht. "Ja. Für eine Brautjungfer geht's." Heidi umarmte ihn. "Du wirst eine wundervolle Brautjungfer abgeben." Quentin erwiderte die Umarmung. "Ach, Heidi, ich freue mich ja so für dich. Und genauso für Ben. Obwohl ich, was mich selbst betrifft, noch sehr viel glücklicher sein könnte wenn du mir etwas mehr von Georgia erzählen würdest." Heidi schob ihn lachend fort. "Hey, das ist mein Tag, ja? Vergiss das nicht."
Sie warf ihrer Freundin in dem aufregenden Chiffon einen Blick zu. "Außerdem würde Georgia dich bei lebendigem Leib verschlingen." "Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest." Und augenzwinkernd ging Quentin, um den Platz neben dem Objekt seiner Begierde einzunehmen. Heidi verdrehte die Augen und wandte sich dann an alle. "Seid ihr bereit?" Und während die anderen noch nickten, hörte Heidi die ersten Töne des Hochzeitsmarsches. Gespielt von einem Saxofon. Das war Bens Überraschung für sie. Er hatte ihr gesagt, er werde sich um die Musik kümmern, und das hatte er getan. Ihr Herz klopfte wie wild, als Heidi die Hand auf Randys Arm legte. Nach einem tiefen Atemzug nickte sie Georgia zu, und ihre Freundin begann voranzugehen. Quentin folgte ihr und rollte mit den Augen wegen dieser fröhlichen, spleenigen Hochzeit. Heidi konnte gerade noch ein Kichern unterdrücken. Dann drückte sie Randys Arm, und langsam näherten sie sich dem Altar und dem Mann, der alle Blicke auf sich zog. Er lächelte, und seine Augen schimmerten ein wenig feucht, als er seiner Braut entgegensah. Heidi konnte an nichts anderes mehr denken als an Ben und an das Glück, das sie mit ihm erwartete. Er war ihr Mann, und sie war seine Frau. Die Trauung war nur eine Zeremonie. Das Saxofon verstummte, während sie und Randy an der letzten Bank vorbeigingen und dann stehen blieben. Mrs. Jones räusperte sich und schaute von Heidi zu Ben. "Wer übergibt die Braut dem Bräutigam?" Heidi schmunzelte, als Ben ihr zuzwinkerte und lächelte. Und während die beiden Liebenden zusammenkamen, antworteten Quentin, Jack und Randy: "Wir alle."
- ENDE -