Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Klaus Möckel Variante Tramper und Die Damengang
Zwei K...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Klaus Möckel Variante Tramper und Die Damengang
Zwei Kriminalromane
Jochen Pankaus, ein junger Bursche und kein ganz unbeschriebenes Blatt, wird Opfer eines raffinierten Täuschungsmanövers. Ein folgenschwerer Verkehrsunfall hat sich ereignet, und alle Indizien sprechen dafür, daß er der Verursacher war. Leutnant Kielstein und Hauptmann Bothe kostet es einige Mühe, die Fäden dieser undurchsichtigen Geschichte zu entwirren … Vier Frauen haben aus Neigung und Kumpanei zueinandergefunden. Ihr Streben nach einem freien, bequemen Leben, ihre Männerfeindlichkeit und Abenteuerlust treiben sie zu kriminellen Handlungen, in die sie sich gefährlich verstricken. Kielstein, der sich männlichen Missetätern auf der Spur glaubt, fühlt sich anfangs unter-, dann überfordert und ist am Schluß verblüfft …
Klaus Möckel
Variante Tramper Die Damengang
Verlag Das Neue Berlin
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1984 Lizenz-Nr.: 409-160/124/84 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 08/2010 622 644 3 00200
Variante Tramper
DIE WICHTIGSTEN PERSONEN SIND: Ralf Jonas Helma Angela Kutscher
Kai-Dieter Jochen Pankaus Opa Krebs Hauptmann Bothe Leutnant Kielstein
– Ladabesitzer und Verkaufsstellenleiter mit wenig sauberen Vertriebsmethoden – seine Frau, ein feenhaftes, doch zuweilen recht kaltblütiges Wesen – Angestellte in einem Transportbetrieb; setzt ihre Courage zu höchst fragwürdigem Zweck ein – ihr Sohn, der sich in häßliche Schuld verstrickt – jugendlicher Tramper, wie geschaffen, diese Schuld auszubaden – Rentner mit Erpresserambitionen – dem Leser vielleicht schon bekannte Kriminalisten, wie immer bemüht, die verwirrende Schuldfrage zu klären
1 Ralf Jonas gibt Gas und schaltet in den vierten Gang hoch. Der kurvenreiche Teil der Strecke liegt hinter ihm, ab jetzt wird die Straße besser. Er hat es nicht mehr weit bis zum Grundstück, keine acht Kilometer, er kennt bis dorthin jeden Busch. Als die Tachonadel bereits zwischen siebzig und achtzig pendelt, taucht links am Wegrand ein Tramper auf, der mit müder Daumenbewegung nach vorn zeigt. Langes, ungepflegtes Haar, abgeschabte Kordjacke, ein Bündel neben sich am Boden. Er steht gewiß schon eine Weile da, hat sich die dümmste Stelle ausgesucht, um ein Auto anzuhalten. Wo hier jeder beschleunigt, denkt Jonas, und die meisten sowieso die Abkürzung durchs Mühlental nehmen. Außerdem sind die Leute um diese Zeit längst, zu Hause oder in ihren Gärten, für wen beginnt das Wochenende denn erst um fünf. Er tritt stärker aufs Gaspedal und prescht vorbei. Auch wenn er bis zur nächsten Stadt oder weiter fahren würde, hätte er nicht angehalten. Solche Typen kann er gerade leiden. Im Rückspiegel sieht er, daß sich der Bursche resigniert ein paar Meter von der Straße weg ins Gras setzt. Einfach auf den Hosenboden, mit dem er die Polster des nächsten Shiguli oder Mazda drücken will. Aber nicht bei mir, denkt Jonas. Dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Jonas wohnt und arbeitet in Reintal, fährt aber jetzt, 8
im Sommer, fast jeden Abend aufs Grundstück. Meist zusammen mit seiner Frau, die etwa um die gleiche Zeit Schluß hat. Nur heute ist es anders, sie hat schon eher aufgehört und den Mittagsbus genommen. Nach einem Zahnarztbesuch konnte sie das so einrichten. Er biegt von der Straße ab, fährt die hundert Meter am Waldrand entlang hinunter zum See. Vor dem schmiedeeisernen, erst kürzlich gesetzten Gartenzaun hält er an und hupt kurz. Seine Frau kommt im Bikini hinter einem kleinen Anbau hervor und öffnet. Sie ist vierzig Jahre alt, wirkt aber jünger, fast mädchenhaft. Neben ihrem eher vierschrötigen Mann sieht sie ein wenig zerbrechlich aus. Jonas, zufrieden, daß er angelangt ist, stellt den Wagen in die Garage. Als er das Gartentor geschlossen hat, hört er im Haus das Telefon klingeln. „Ich geh’ schon ’ran“, ruft er seiner Frau zu, die sich an einem Blumenbeet zu schaffen macht, und steht bereits auf der Veranda. Das Telefon schrillt ununterbrochen – die lassen einen selbst am Wochenende nicht in Frieden. Insgeheim fühlt sich Jonas jedoch geschmeichelt. Seine Frau wollte den Anschluß nicht haben, behauptete, daß sie wenigstens hier draußen ihre Ruhe brauche, er aber ließ alle Verbindungen spielen, boxte die Sache durch. Es mußte sein, schließlich ist er nicht irgendwer, sondern Leiter einer Verkaufsstelle, die den ganzen Kreis mit Siedlerund Gartenartikeln versorgt. „Was mir zuviel wird, wimmle ich schon ab.“ Und in der Tat, darauf versteht er sich. Wahrscheinlich Brinkmann, denkt Jonas, der wartet auf seine Dachrinnen, na, soll er ruhig noch ’ne Weile zappeln. Fast heiter gestimmt, hebt er ab. Zu seiner Überraschung meldet sich seine Cousine, Angela Kutscher. „Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, daß niemand da ist.“ 9
Ihre Stimme, die sonst männlich fest ist, bebt. Jonas sagt erstaunt: „Du, Angela? Was ist los? Ich komme gerade zur Tür ’rein.“ „Ich brauche deine Hilfe. Kai-Dieter … Was Schreckliches ist passiert.“ „Na, na.“ Jonas ist keineswegs auf Tragik eingestimmt. Vielleicht wird der Junge Vater, denkt er amüsiert. „Es ist kein Spaß. Kai-Dieter hat … ein Mädchen überfahren.“ „Was!“ „Ein kleines Mädchen. Vorhin … Bei der Eisenbahnbrücke.“ „Was heißt überfahren? Ist sie … tot?“ „Das weiß er nicht. Er ist doch weiter mit dem Wartburg. Es ging alles so schnell.“ Fahrerflucht, denkt Jonas, hat aber den Ernst der Nachricht noch immer nicht voll erfaßt. Oder genauer, sein Inneres, aufs Wochenende ausgerichtet, wehrt sich dagegen, eine solch häßliche Realität zur Kenntnis zu nehmen. „Du mußt etwas für uns tun“, sagt die Stimme wie aus einer anderen Welt. „Du bist unsere ganze Hoffnung.“ „Ich? Wie stellst du dir das vor? Da gibt’s nur eins, der Junge muß zur Polizei.“ „Nein!“ Die Antwort der Frau ist ein Schrei. „Aber das Kind! Und er ist abgehaun!“ „Ein Unfall. Es läßt sich nicht mehr ändern. Ich will nicht daß sein Leben daran kaputtgeht.“ „Scheiße“, sagt Jonas, „seine verdammte Raserei.“ Er ist wütend, und zugleich tut ihm der Junge leid, von dem er einiges hält. Kai-Dieter ist begabt, aus ihm könnte was werden. „Du wirst ihm helfen“, Angelas Stimme bebt stärker, „sonst …“ „Was sonst?“ 10
„Du verstehst mich schon.“ Jonas ist nun völlig da. Dieses Gespräch eignet sich nicht fürs Telefon, denkt er und sagt vorsichtig: „Du würdest dich auch selber hereinlegen.“ „Das wär’ mir egal. Wenn du uns im Stich läßt, garantier’ ich für nichts.“ „Was verlangst du?“ „Der Junge braucht jemanden, bei dem er zum entsprechenden Zeitpunkt gewesen ist.“ Darum geht es ihr also, fein hat sie sich das ausgedacht. Verzweifelt überlegt Jonas, was er entgegensetzen kann. „Du mußt sofort herkommen“, sagt Angela. „Du bist verrückt. Wozu soll das gut sein?“ „Damit wir die Einzelheiten absprechen können.“ „Wann ist es passiert, und was habt ihr seither getan?“ Jonas versucht Zeit zu gewinnen. „Vor einer halben Stunde erst. Kai-Dieter kam dann sofort nach Hause, und wir haben den Wagen in Lias Garage gestellt. Sie ist nicht da, macht Urlaub.“ Sie hat alles vorbereitet, denkt Jonas, sie läßt mich nicht ’raus. Aber was sie vorhat, ist viel zu gefährlich und auch zu durchsichtig. Doch innerlich ist er schon bereit mitzuziehn. Plötzlich, fast gegen seinen Willen, kommt ihm ein Bild in den Sinn. Das des Anhalters auf der Landstraße. „Ist Kai-Dieter gesehen worden?“ „Nein. Jedenfalls glaubt er’s nicht.“ „Und der Wagen? Ist er beschädigt?“ „Nur wenig. Du hast doch sicher einen neuen Scheinwerfer.“ „Hör mal“, sagt Jonas energisch, „das alles ist zwar heller Wahnsinn, trotzdem werd’ ich dir vielleicht helfen. Aber nicht so. Weder mit einem Scheinwerfer noch mit einem Alibi, das ist viel zu leicht widerlegbar. Laß den Wagen, wie er ist, und sag, man hat ihn gestohlen. Erfinde was, sag, daß der Junge im Kino war, was weiß 11
ich. Aber erst, wenn sie euch fragen. Sie kommen bestimmt, so auffällig, wie der alte Wartburg ist.“ „Aber du und ich, wir sollten …“ „Gar nichts sollten wir. Wir machen jetzt Schluß, das ist am besten. Ruf auch nicht mehr an. Ich hab’ da eine Idee. Ich melde mich wieder. Spätestens in einer Stunde.“ Er legt entschlossen auf, das Gespräch hat schon viel zu lange gedauert. Seine Frau steht an der Tür, hat offenbar was mitgekriegt. Aber das ist ihm nicht unrecht. Wenn der Plan, der sich schemenhaft in seinem Hirn abzuzeichnen beginnt, Gestalt annehmen soll, wird sich nicht umgehen lassen, sie bis zu einem gewissen Grad einzuweihen. „Wir müssen weg“, sagt er, „sofort. Komm, ich erklär’ dir’s.“ „Was Schlimmes?“ „Gemeiner hätt’s uns nicht erwischen können.“ Obwohl Helma kaum den ganzen Ernst der Situation erfaßt haben kann, fragt sie sowohl sachlich als auch ahnungsvoll: „Und uns bleibt nicht viel Zeit?“ „Sehr wenig.“ „Ich hab’ immer gewußt, daß es irgendwann mal auf uns zurückschlägt, immer“, sagt sie.
2 Jochen Pankaus ist bestimmt nicht übermäßig mit Geistesgaben ausgestattet, doch könnte sich auch ein Klügerer nur schwer einen Reim auf die Dinge machen, die ihm an diesem Tag widerfahren. Er ist nach einem Besuch bei einem Kumpel in Erfurt auf dem Nachhauseweg. Per Anhalter, denn er hat wenig Geld, aber eine 12
Menge Zeit. Bis Berlin hat es auch gut geklappt, doch dann wurde er von einem alten Krauter mitgenommen, der vom Fahren so viel verstand wie Jochens Großmutter von Rockmusik. Als er ein Moped beim Überholen fast in den Graben drückte und das Mädchen, das draufsaß, noch beschimpfte, konnte Jochen nicht mehr an sich halten. Er wußte, daß man als Tramper Leuten am Steuer nie widersprechen soll, aber hier ging’s nicht anders. Es kam zum Streit, und der Alte setzte ihn ’raus. An einer Ecke, wo kaum Verkehr war und die paar Autos, die auftauchten, nicht anhielten. Jochen hat es mehrfach versucht und sich schließlich für eine Weile hinter einen Busch gehaun. Ist ein Stück weitermarschiert und hat es erneut erfolglos probiert. Bis der Lada mit dem grünen Aufkleber stoppt. Das Eigenartige ist, daß er nach Jochens Meinung schon vor einer halben Stunde mal vorbeibrauste; aus derselben Richtung, aber ohne anzuhalten. Jochen rennt dem Wagen hinterher; der Fahrer hat bereits die Tür geöffnet. Er ist mittleren Alters, trägt eine getönte Brille und ein kariertes Hemd. Er macht eine einladende Geste. „Richtung Neustanwitz?“ fragt der Anhalter. „Jaja.“ „Endlich. Hier klebt man ja fest wie Vogeldreck.“ „Stehst wohl schon einige Zeit?“ „Kann man sagen. Wenn ich nicht zwischendurch am Rasen gehorcht hätte …“ „Wie lange wartest du genau?“ fragt der Mann, was Jochen komisch findet. Kann dem doch schnuppe sein. Aber er will endlich weiter. „Bald zwei Stunden.“ „Steig ein!“ Das läßt sich der Tramper nicht zweimal sagen. Er wirft seinen Beutel auf den Rücksitz und klemmt sich daneben. Mit einem Ruck fährt der Wagen an. 13
„Schon ’ne Weile unterwegs, was?“ „Seit heut morgen. Mittags war ich in Berlin.“ „Kein Mädchen angemacht?“ Bei dem Alten klingt diese Art zu reden drollig. Jochen grinst. „Die Miezen können mich mal; meine Letzte …“, er verstummt. „Na“, ermuntert ihn der Mann. „Ach, ist schon vergessen.“ Sie fahren ein paar Kilometer, da biegt der Lada plötzlich von der Landstraße ab, in einen ziemlichen Holperweg ein. Der Tramper, der nicht weiß, was das bedeuten soll, fragt: „Ist das ’ne Abkürzung?“ „Nicht ganz. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Ich hab’ auf meinem Grundstück ein Boot ans Wasser zu bringen. Dauert fünf Minuten, aber allein schafft man’s schlecht. Dann legen wir eine Pause ein, trinken was.“ Darum geht’s, er braucht ’nen Handlanger, denkt Jochen. Dinger erlebt man. „Und was wird mit Neustanwitz?“ fragt er. „Meine Frau fährt dich hin, die muß sowieso ’rüber. Oder hast du’s sehr eilig?“ „Es geht.“ „Hast ja gemerkt, daß man in unserer Ecke Geduld braucht.“ Das stimmt, Jochen fügt sich. Ist vielleicht gar nicht schlecht, mal einen Blick auf ein Grundstück hier zu werfen. Und Bekanntschaft mit einem zu schließen, der anscheinend dickes Moos macht. Sie zuckeln den Weg entlang und danach auf einem zweiten quer durch den Wald. Biegen rechts ab, dann wieder links, eine richtige Wildnis ist das. Eigenartig, daß der Fahrer, der doch Bescheid weiß, offenbar selber Schwierigkeiten hat, ans Ziel zu gelangen. Einmal müssen sie sogar wenden und ein Stück zurück. Wahrscheinlich ist er unkonzentriert; er redet viel, fragt den Tram14
per nach allen Regeln der Kunst aus. Wie alt er ist, was er arbeitet, wo er wohnt. Ein wenig mürrisch gibt Jochen Auskunft, und mit einemmal sind sie angelangt. Ein verrotteter Lattenzaun, ein kleines Holzhaus, von dem die Farbe abblättert Der Tramper ist enttäuscht. Er hat sich ganz was anderes vorgestellt. Sie steigen aus, und der Mann im karierten Hemd sagt: „Verdammt, jetzt hab’ ich die Schlüssel zu Hause liegenlassen. Na, wir kommen auch so ’rein. Warte einen Augenblick.“ Er verschwindet um die Ecke und taucht gleich danach drinnen im Garten wieder auf. Er ist durch eine Lücke im Zaun gekrochen oder drübergeklettert. Dann macht er sich am Tor zu schaffen, hebt den Eisenhaken aus, der es abstützt, und zieht die beiden Flügel mit Gewalt nach innen. Jochen hilft außen mit Drücken nach, und durch ein wenig Anheben öffnet sich das Tor, ohne daß sie das Schloß zu beschädigen brauchen. Der Mann fährt den Wagen in den Garten, und Jochen nähert sich dem Haus. Alles sieht verwildert aus, so als wäre längere Zeit keiner dagewesen. „’rein können wir nicht“, sagt der Mann, „ich will nur hoffen, daß meine Frau den Schlüssel mitbringt, wir sehn inzwischen mal nach dem Boot.“ Sie staksen durch hohes Unkraut zu einer Art Kanal. „Der führt in den See da hinten.“ Das Boot, ein alter Holzkahn, liegt umgestürzt an Land unter einem Weidenbaum. „Sie kommen wohl selten her?“ fragt der Tramper. „Ich? Wieso? Ach ja, in der letzten Zeit gab’s so viel im Betrieb zu tun.“ „Ich dachte, Sie hätten was Moderneres.“ „Seh’ ich so aus?“ Der Mann lacht. „Bin eben trotz allem Romantiker.“ Das leuchtet Jochen ein. Zurück zur Natur – er ist dafür. Dem da hätte er’s freilich nicht zugetraut. 15
Sie tragen das Boot ins Wasser, was keine große Mühe ist, und gehen dann zu dem Holzhaus zurück. Von hinten holt der Mann zwei Gartenstühle und einen wackligen Klapptisch. „Jetzt machen wir’s uns erst mal gemütlich.“ Aus dem Kofferraum seines Wagens schleppt er Bier an. Sie trinken, und Jochen beginnt sich wohl zu fühlen. Hier läßt sich’s aushalten, da hat er mal Glück gehabt. Der Mann scheint ein Kumpel zu sein, ribbelt sich nicht an seiner Mähne und der Kluft auf wie die andern Spießer. Nur im Quatschen ist er Weltmeister. Was der alles wissen will. Anfangs antwortet der Tramper einsilbig, aber das Bier löst die Zunge. Eigentlich ist’s mal ganz schön, sich den Ärger von der Seele zu reden, den man so hat. Bei einem Fremden, der wenigstens nichts weitertratscht. Eine Stunde mag verstrichen sein, da wird der Mann unruhig. „Meine Frau müßte längst hier sein“, sagt er, „ich versteh’ das nicht.“ Obwohl ihm Jochen versichert, daß er sich seinetwegen keine Gedanken zu machen braucht, rennt er mehrfach zum Gartentor, um Ausschau zu halten. Letztlich hält er es nicht mehr aus. „Ich muß mal weg, telefonieren, es kann eine Weile dauern. Bleib ruhig hier, ich komm’ auf jeden Fall zurück.“ Jochen ist es recht, zumal noch ein paar Flaschen Bier in Reserve stehen. Er hat schon befürchtet, daß der Hausherr ihn mitnehmen und wieder irgendwo an dieser dämlichen Landstraße absetzen will. Als der Mann abgezischt ist, holt er eine Decke aus seinem Bündel und macht sich’s im Gras bequem. Eine einmalige Stille herrscht hier, das Grundstück dehnt sich, und rechts wie links scheinen Wald oder versumpfte Wiesen zu sein. Jochen, der in den vorangegangenen Nächten kaum ins Bett gefunden hat, nimmt noch einen langen Zug aus der Flasche, dreht sich auf die Seite und schläft ein. 16
3 Er erwacht, weil ihn jemand am Arm rüttelt. Wind ist aufgekommen, der Himmel hat sich bewölkt, es sieht nach Gewitter aus. „Steh auf, wir müssen weg“, sagt eine Stimme, die Jochen schon mal gehört hat, fürs erste aber nicht einzuordnen weiß. „Was ist, wo bin ich?“ „Das mit meiner Frau klappt nicht, wir machen’s anders.“ „Ach so“, sagt Jochen, denn nun kommt ihm die Erinnerung. Er muß fast zwei Stunden geschlafen haben; seine Taschenuhr zeigt halb neun. Der Tisch, die Stühle stehen noch am Haus, aber die Bierflaschen sind bedauerlicherweise verschwunden. Der Mann, der offenbar schon eine Weile zurück ist, muß sie weggeräumt haben. „Pack deine Decke ein, beeil dich!“ „Mensch, hab’ ich gepennt.“ „Um so besser für dich.“ Die Stimme klingt im Gegensatz zu vorhin unfreundlich, dennoch sagt der Tramper: „Am liebsten würd’ ich hier übernachten.“ „Das geht nicht. Es wird bald ein Gewitter geben, und wir können nicht ins Haus.“ „Irgendwie würden wir’s schon schaffen.“ „Ich hab’ gesagt, es geht nicht!“ „Und was soll nun werden?“ brummt Jochen. „Nach Neustanwitz kann ich dich jetzt nicht fahren, das ist zu weit. Ich bringe dich zum nächsten Bahnhof, ein bißchen Geld hast du doch?“ „Naja.“ Jochen nimmt sein Bündel, sie schieben das Tor zu und steigen in den Lada. Diesmal finden sie ohne Mühe durch den Wald. So oder ähnlich mußte es ja kom17
men, denkt der Tramper. Aber als der erste Guß niederprasselt, ist er froh, wenigstens im Trockenen zu sitzen. Sie fahren einige Kilometer, ohne daß sich noch ein Gespräch ergibt. Der Mann scheint verstimmt zu sein, auf Jochens Frage, was seiner Frau dazwischengekommen sei, reagiert er ausweichend und unwirsch. Schließlich biegen sie in eine Nebenstraße ein und steuern ein dunkles, flachgestrecktes Gebäude an, das einsam in der Landschaft liegt. Im Licht einer flackernden Lampe sieht man Eisenbahngleise blitzen. Der Regen hat aufgehört; der Fahrer hält an: „Dort ist der Bahnhof, in einer halben Stunde muß ein Zug gehn. Die paar Meter kannst du zu Fuß zurücklegen, ich bin in Zeitdruck.“ Jochen steht draußen, er hat sich kaum verabschieden können. Der Wagen rast davon, als ging’s um den Großen Preis von Monaco. War ja wie ausgewechselt, der Onkel, denkt der Tramper, komische Typen gibt’s. Mißmutig schaut er um sich, die Gegend liegt ausgestorben da. Bis hier mal ein Auto vorbeikommt, faulen einem die Füße ab. Er nimmt sein Bündel über die Schulter und stapft auf das Bahnhofsgebäude zu. Doch hier erwartet ihn erneut eine Überraschung: Die Türen des kleinen Hauses sind verrammelt; es sieht nicht so aus, als wären in den letzten Monaten Reisende hindurchgegangen. Ein Fahrplan von vor zwei Jahren klebt an der Wand, über ein Fenster sind zwei Bretter genagelt. Jochen stellt verdutzt sein Bündel ab und setzt sich auf die Überreste einer Bank. Das ist ja eine schöne Bescherung. Entweder hat der Alte völlig den Verstand verloren, oder er hat ihn, Jochen, kaltlächelnd abgeschoben, mit Absicht hereingelegt. Aber warum sollte er das? Weil’s für ihn, nachdem das mit der Frau nicht geklappt hat, so am bequemsten 18
war? Der und romantisch, denkt der Tramper, ein ganz hinterhältiger Drecksack ist das. Er läßt sein Gepäck auf der Bank und geht ums Gebäude herum zu den Gleisen. Sie haben Rost angesetzt, zwischen den Schwellen wuchert Gras. Nein, hier fahren keine Züge mehr. Was da vorhin im Lampenlicht geglänzt hat – immerhin gibt’s ja die Funzel neben dem Gebäude –, das war die Regennässe auf dem Eisen. Es fängt erneut an zu tröpfeln, nicht mal unterstellen kann man sich. Der Tramper läuft wieder nach vorn, er überlegt gerade, ob er nicht auf irgendeine Weise ins Gebäude und damit ins Trockene gelangen kann, als er einen PKW die Straße entlangkommen sieht. Mit leicht schielenden Scheinwerfern und langsam, der Fahrer scheint etwas zu suchen. „Hallo“, ruft Jochen und rennt dem Wagen entgegen. Er winkt mit beiden Armen. Das Auto hält, die Scheinwerfer erlöschen. Noch geblendet, tritt der Tramper an die Fahrertür heran, die sich öffnet. „Können Sie mich ein Stück mitnehmen?“ „Weshalb nicht, steig ein. Ich hab’ mich allerdings verfahren.“ „Wo wollen Sie denn hin?“ „Nach Waldburg.“ „Das ist genau meine Richtung“, sagt Jochen erleichtert. „Gemeinsam werden wir die Landstraße schon wiederfinden.“ „Ist gut, steig ein.“ Jochen rennt nach seinem Beutel, zumal es stärker zu regnen beginnt. Eine Frau, denkt er, auszukennen scheint sie sich nicht in der Gegend, aber das ist mein Glück. Wird Zeit, daß ich endlich aus dieser Ecke wegkomme. Die Frau – ihr Gesicht ist hinter einer Riesenbrille und einem Kopftuch, das die halbe Stirn bedeckt, kaum zu sehen – hat die rechte Vordertür geöffnet. Er wirft 19
den Beutel auf den Rücksitz und nimmt neben ihr Platz. Ein alter Wartburg; als sie losfahren, jault er auf, daß es einem durch alle Knochen geht. „Ich glaube, wir müssen hier lang“, sagt die Frau und betätigt hektisch die Gangschaltung. Mit fünfzig Sachen rumpeln sie übers Kopfsteinpflaster. Der Regen klatscht gegen die Windschutzscheibe und aufs Dach. Wenn sie durch eine Pfütze sausen, klingt es, als zerrisse Stoff. Jochen kommt es vor, als bewegten sie sich in der verkehrten Richtung, doch die Frau sagt: „Jaja, jetzt weiß ich schon, da drüben ist die Fernstraße.“ Sie spricht in abgehacktem, fahrigem Ton und hält sich krampfhaft am Lenkrad fest. Sie mag dreißig oder fünfzig sein, unmöglich, ihr Alter zu schätzen. „Einfach gewaltig, daß Sie da vorbeigekommen sind und mich aufgegabelt haben.“ „Gewaltig scheint mir übertrieben. Es war reiner Zufall.“ „Trotzdem.“ Der Tramper muß sich seine Erregung von der Seele reden. Er schildert, was ihn im Laufe des Tages widerfahren ist. „Erst wunder wie freundlich, dieser Penner“, schließt er seinen Bericht, „und dann läßt er mich auf so eine Art hängen. Hätt’ mich doch wenigstens an der Landstraße absetzen können.“ „Hast du dir seine Autonummer gemerkt?“ fragt die Frau mit verschleierter Stimme. „Die Nummer? Weshalb? Ich kann ja doch nichts machen.“ „Das ist auch wieder richtig.“ „Erkennen würd’ ich den Wagen schon. So ’n heller Lada mit ’nem grünen Aufkleber.“ Die Frau scheint überrascht, sie wendet ihm für Sekunden das Gesicht zu. Der Wartburg macht einen Schlenker nach rechts. „Vorsicht“, sagt Jochen. „Jaja, ich pass’ schon auf.“ 20
Trotz dieser Worte fährt sie einen ziemlichen Stiefel zusammen. Schaltet ruckhaft, geht die Kurven zu forsch an. Irgendwie irre. Endlich wieder auf der Landstraße, prescht sie trotz anhaltenden Regens mit achtzig bis neunzig dahin. Vor allem, wenn wenig Verkehr ist. So nähern sie sich Neustanwitz schneller als gedacht. Wenige Kilometer vor der Stadt aber beginnt die Frau plötzlich zu stöhnen und bringt den Wagen zum Stehen. „Mir wird so schlecht“, flüstert sie. „Fünf Minuten Pause, ich muß mir mal die Füße vertreten, der Tag heute war anstrengend, es geht gleich weiter.“ Sie steigt aus und fragt von draußen: „Kannst du eigentlich fahren?“ „Klar, ich hab’ bloß keine Papiere mit.“ Sie läuft ein paar Schritte hin und her, kommt dann an seine Tür. „Es wird nichts. Rutsch ’rüber ans Steuer, wenigstens bis zur Stadt. Das schaffst du doch?“ „Aber ich …“ „Mir ist so miserabel. Hier im Regen stehn und warten, das hat keinen Zweck.“ Der Tramper ist eine Zeitlang Motorrad gefahren, hat aber vom Auto wenig Ahnung. Auch keinen Führerschein. Er will protestieren, doch sie hängt schon in seiner Tür, bleich und geschafft. Er rutscht also hinters Lenkrad, legt den ersten Gang ein. Es geht besser, als er vermutet hat. Er wohnt in einem Neubau am nördlichen Stadtrand und braucht so nicht erst ins Zentrum, worüber er froh ist. Obwohl ihn nicht viel nach Hause zieht, wünscht er sich doch ein richtiges Dach über dem Kopf, um ausschlafen zu können. Er fragt sich freilich, was die Frau nun machen will. Aber sie scheint ihre Schwäche überwunden zu haben, sitzt wieder ziemlich gerade im Polster. Sie dirigiert ihn sogar. Da vor seinem Haus kein Platz zum Parken ist, weist sie ihn auf eine Stelle weiter vorn hin. „Da ist ein Parkverbot, aber halten kann man.“ „Traun Sie sich denn das Fahren schon wieder zu?“ „Kein Problem, ich bin völlig in Ordnung.“ 21
„Wenn Sie ’nen Augenblick mit hoch zu meinem Alten kommen wolln …“ „Nein, nein“, wehrt sie bestimmt ab, „ich muß weiter. Die paar Kilometer bis Waldburg schaff ich schon. Vielen Dank.“ „Ich muß mich bedanken. Wenn Sie mich dort nicht mitgenommen hätten …“ Als er aus dem Wagen steigt, gehen ein paar junge Leute vorbei. Jochen bemerkt nicht, daß sich die Frau in der Ecke des Autos geradezu verkriecht. Er wirft sein Bündel über den Rücken. Kerner, ein alter Mann aus dem Parterre, schaut trotz der vorgerückten Stunde aus dem Fenster. Jochen kann ihn nicht leiden und tut, als sähe er ihn nicht. Er steigt die drei Treppen zur Wohnung empor, kramt den Schlüssel hervor. Sein Vater sitzt wie üblich vorm Fernseher, die Wodkaflasche auf dem Tisch: „Sieh da, der Herr Sohn braucht ein Nachtlager.“ „So ist’s“, sagt Jochen, bemüht, Streit zu vermeiden, „ich hau’ mich gleich hin, bin hundemüde.“ Er verschwindet in seinem Zimmer, zieht die Schuhe aus und wirft sich aufs Bett. Zwei Minuten später ist er bereits eingeschlafen.
4 Erst gegen Mittag kriecht Jochen aus dem Bett, doch hat auch der Vater lange gebraucht, um den Rausch auszuschlafen, den er sich gestern offenbar angetrunken hat. Dessen ungeachtet steht er in der Küche am Gasherd, schneidet Speck in die Pfanne und schlägt Eier drüber. Seit Lieselott aus dem Haus ist, gibt er sich wieder mehr mit dem Jungen ab. Versucht nachzuholen, was er die Jahre zuvor versäumt hat. 22
„Warst nicht grade gesprächig gestern abend; wie geht’s denn deinem Freund Krugi?“ Sie sitzen am wachstuchbedeckten Küchentisch und essen zum Ei Pumpernickel. Trinken gut gekühltes Helles. Jochen ist ausgeschlafen und friedfertig. Schau an, sogar Jans Spitznamen hat sich der Alte gemerkt, denkt er. „Krugi geht’s gut. Ein Ding haben die sich hingebaut, dort an ihrem Berg.“ „Ja, die Leute im Gebirge halten die Penunse mehr zusammen als wir, und auf dem Dorf hilft einer dem andern.“ „Wenn du denkst, was die sich schaffen, ist vom Essen abgeknapst …“ „Gestohlen wird’s wohl nicht gleich sein. Was arbeitet er denn, dein Freund?“ „Ach, der hilft bloß beim Fleischer aus. Aber sein Alter und sein Onkel sind Maurer.“ „Hättest du auch haben können.“ Da sind sie wieder beim Thema, und Jochen zieht sich ins Schneckenhaus zurück. Wegen dieser Dummheit vor drei Jahren, der Spritztour mit ’nem geklauten Auto und allem, was danach kam, hat er seine Maurerlehre geschmissen. War ’ne Weile gar nichts und ist dann Packer in einem Spielwarenbetrieb geworden. Bis vor zehn Tagen, da hat er auch dort gekündigt. Sein Vater weiß noch nichts davon, nimmt an, der Sohn verbrät seinen regulären Urlaub. „Na, iß schon weiter, war nicht so gemeint.“ Eigentlich hat Jochen von der irren Rücktramperei gestern erzählen wollen, doch nun läßt er’s. Sie mampfen ihr Ei zu Ende, tauschen noch ein paar Bemerkungen über das verkorkste Fußballänderspiel vom Mittwoch aus, dann geht Jochen in sein Zimmer. Der Vater legt sich auch wieder hin. Nach den Anstrengungen der Woche hat er sich einen Schlaftag verdient. 23
Gegen ein Uhr lümmelt Jochen auf seinem Bett und überlegt, ob er sich am Montag im Großlager bewerben soll. Die suchen immer Leute, und man kommt an Sachen ’ran, die man sonst nirgends sieht. Um zwei hört er mit Hingabe Musik und bedauert nur, daß Krugi nicht an dem Genuß teilhaben kann. Um drei klingelt es an der Tür; er kriegt es mit, weil er grade mal die Kopfhörer abgesetzt hat. Der Vater öffnet, und eine unbekannte männliche Stimme ertönt. Jochen kümmert sich nicht weiter drum, aber plötzlich steht der Vater im Zimmer: „Die Polizei. Sie wollen zu dir.“ Hinter dem Alten ein Uniformierter – der ABV ist’s freilich nicht, mit dem hat Jochen genügend zu tun gehabt. Er setzt sich auf der Liege auf. „Zu mir, wieso? Was ist denn?“ „Das möcht’ ich auch gern wissen“, sagt der Vater gereizt und tritt zur Seite. Der Polizist vergewissert sich mit strenger Miene: „Sie sind Jochen Pankaus?“ „Ja, seit ich mich erinnern kann. Was ist los?“ „Ich muß Sie bitten, mir zwecks Klärung eines Sachverhalts ins VPKA zu folgen.“ „Wieso denn das? Ich hab’ nichts gemacht. Außerdem ist heute Sonnabend.“ „Wir können uns die Tage nicht aussuchen“, sagt der Uniformierte. „Worum geht’s überhaupt?“ „Das wird man Ihnen dort erklären. Würden Sie sich jetzt bitte anziehn und mitkommen!“ Es ist keine Bitte, sondern eine Aufforderung. Jochen greift ohne ein weiteres Wort nach der Jacke und schiebt sich an seinem Vater vorbei durch die Tür. Weil ihn der Alte aber mit unverhohlenem Vorwurf anschaut, brummt er dann noch: „Brauchst nicht so zu gucken, ich hab’ nichts angestellt. Keine Ahnung, was das soll, ich bin bald wieder da.“
24
5 Leutnant Kielstein springt von seinem Stuhl auf, dreht ihn mit geübter Bewegung um neunzig Grad und setzt sich rittlings hin. „Klingt ein bißchen mysteriös, Ihre Geschichte, Herr Pankaus. Sie sollten endlich mit der Wahrheit herausrücken. Lange reicht unsere Geduld nicht mehr.“ „Aber das ist die Wahrheit, ich schwör’s.“ „Sie haben also den Wagen, den Sie gestern abend in der Nähe Ihrer Wohnung abstellten, nicht gestohlen.“ „Ich hab’ ihn nicht abgestellt, ich bin bloß ausgestiegen. Die Frau war’s, das hinterhältige Biest, die hat mich reingelegt. Jetzt begreif ich das erst.“ „Und der Mann mit dem Grundstück hat Sie auch reingelegt.“ „Ja, aber nicht so. Ich weiß nicht, was mit dem war. Er kann jedenfalls bezeugen, daß ich dort an der Landstraße stand. Und daß ich sein Boot mit ins Wasser geschleppt habe.“ „An der Eisenbahnbrücke in Reintal waren Sie dagegen noch nie.“ „Doch, früher schon. Aber nicht gestern.“ „Richtig. Früher sind Sie ja auch verurteilt worden, weil Sie einen Trabant entwendet und in Klump gefahren haben. Während Sie gestern bloß zufällig am Steuer des geklauten Wartburg saßen. Durch den vorher ein neunjähriges Mädchen zu Tode kam.“ Jochen hebt resigniert die Schultern, er weiß keine Antwort mehr. Das mit dem Mädchen ist schlimm, er versteht schon, weshalb der Lange sich so aufregt, aber er hat doch nichts mit der Sache zu schaffen. Wie kann er das den Bullen bloß klarmachen. Kriminalmeister Felsch, der an der Vernehmung teilnimmt, sich bisher jedoch zurückgehalten hat, fragt: „Können Sie uns eine Beschreibung der Frau geben, die 25
Sie in dem gestohlenen Wagen angeblich mitgenommen hat?“ „Nicht angeblich, tatsächlich!“ „Meinetwegen. Können Sie’s?“ „Das ist schwierig. Es war finster, und sie hatte sich richtiggehend vermummt. Ein Tuch um den Kopf, eine dunkle Brille. Groß war sie nicht, auch nicht dick. Ich hab’ das gesehn, als sie ausstieg.“ „Nicht groß, nicht dick, mit Kopftuch und Brille, eine einprägsame Charakterisierung.“ Kielstein kann einen ironischen Kommentar nicht zurückhalten. „Würden Sie die Frau wiedererkennen?“ fragt Felsch. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“ „An der Stimme?“ „Ja. Gesprochen hat sie. Wenn auch weniger als der Typ mit seinem Lada.“ Kielstein hat sich wieder gefangen. Er verdrängt seinen Ärger – sie müssen versuchen weiterzukommen. Sachlich sagt er: „Ich glaub’ Ihnen nichts, kein Wort. Trotzdem werden wir Ihre Angaben überprüfen. Wenn Ihnen in dieser mißlichen Lage jemand helfen kann, dann dieser Mann mit dem Lada. Also strengen Sie Ihren Grips an, und erklären Sie uns, wo das Grundstück liegt.“ „Na, an der Straße nach Reintal. Wenn man Richtung Süden fährt, rechts hinterm Wald. So genau kann ich das nicht sagen, er ist mit mir kreuz und quer durch die Wildnis.“ „Am besten, wir setzen uns in den Wagen und fahren hin“, schlägt Felsch vor. „Dann werden wir ja sehen.“ Zehn Minuten später verlassen sie die Stadt in südlicher Richtung. Sie schweigen alle drei. Felsch, am Lenkrad, konzentriert sich auf den Verkehr, die andern beiden sind mit ihren Gedanken beschäftigt Kielstein, im allgemeinen mit viel Verständnis für die Probleme Jugendlicher, hat das tote Mädchen auf dem Unfallfoto vor 26
Augen, ein schmales blondes Ding. Mit seinem nach hinten geworfenen Kopf und den verkrümmten Gliedern hat es sich ihm schockierend eingeprägt. Er muß den Kerl packen, der dafür verantwortlich ist. Es gibt auch eine Zeugin, eine junge Frau, die den Unfall von einem Hügel in der Nähe aus verfolgt hat. Ihre Aussage: Der rotblaue Wartburg sei wie verrückt die Straße entlanggerast und habe selbst an der Eisenbahnbrücke nicht gebremst. Trotz der Warnschilder und des unübersichtlichen Geländes. Danach sei es dann passiert, das Mädchen habe, mit seinem Pilzkorb aus dem Wald kommend, die Straße überqueren wollen. Wahrscheinlich ohne richtig zu schaun, aber wenn der Wagen nicht mit überhöhtem Tempo gefahren wäre, hätte er ausweichen können. Er habe nach dem schrecklichen Unfall kurz gebremst, doch nicht angehalten. Als sie selbst am Ort des Geschehens angelangt sei, vielleicht fünf Minuten später, habe bereits der Fahrer eines nachfolgenden LKW gehalten. Das Kind sei aber schon tot gewesen. Etwa zur gleichen Zeit, als Kielstein den Auftrag bekam, sich mit diesem Fall von Fahrerflucht zu beschäftigen, wurde auf einem Revier in Reintal der Diebstahl eines Wartburgs älteren Baujahrs gemeldet. Die Besitzerin, eine Frau Kutscher, hatte ihn wie üblich in der Nähe ihrer Wohnung geparkt. Daß der Diebstahl erst so spät, eine Stunde nach dem Unfall, angezeigt wurde, kam dem Leutnant zunächst verdächtig vor, doch konnte die Frau diesen Umstand glaubwürdig erklären. Sie hatte sich zu Hause aufgehalten und den Verlust des Autos einfach nicht eher bemerkt. Aber wenn der Wagen am Tag der Ereignisse wie vom Erdboden verschluckt schien, so hatte die Fahndung doch am nächsten Morgen Erfolg. Eine Streife entdeckte ihn in Neustanwitz, abgestellt im Parkverbot. Ein junger Mann war beim Aussteigen beobachtet worden. Der Rest kostete zwar noch etwas Zeit, war aber eine Sache der Technik. 27
Kielstein sagt sich, daß die Fahrt zum Grundstück dieses Ladabesitzers nur ein Versuch Pankaus’ ist, Zeit zu gewinnen, Jochen selbst aber setzt seine ganze Hoffnung in diesen Ausflug. Noch stellt sich ihm alles wirr und absurd dar, die Gefahr, in die er geraten ist, dämmert herauf, ohne voll gegenwärtig zu sein. Nur eins weiß er: Die Frau von gestern abend war eine raffinierte Heuchlerin. Sie hatte ein Kind überfahren und ihm dann das Unfallauto untergeschoben. Mit ihrer Schauspielerei hatte sie ihn sogar dazu gebracht, sich ans Lenkrad zu setzen und seine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Ein Riesenpech, daß er ausgerechnet ihr über den Weg gelaufen war. Felsch drosselt das Tempo, langsam nähern sie sich der Gegend, in der das Grundstück liegen soll. „Hier“, sagt Jochen und verbessert sich gleich darauf, „nein, doch noch nicht.“ Dann aber hat er das Gefühl, bereits an der entscheidenden Abfahrt vorbei zu sein. Ein Weg sieht wie der andere aus. Sie suchen eine halbe Stunde, und Kielstein verliert die Geduld. „Wenn Sie uns was vorflunkern, machen wir keinen Finger mehr für Sie krumm.“ Auch Felsch fängt zu fluchen an. Durch den vorangegangenen Regen ist der Boden morastig, und die Wagenräder drehen durch. Aber da entdeckt Jochen das Häuschen hinter den Büschen. Allerdings nähern sie sich von der Seite und müssen die letzten Meter zu Fuß gehn, um heranzukommen. Diesmal steht das Tor weit offen, ein alter Mann in Badehose und mit einer Schiebermütze auf dem Kopf wirtschaftet zwischen den Bäumen. „Ist er das?“ fragt Kielstein. „Nein, der mit dem Lada war viel jünger.“ Sie gehen durchs Tor und grüßen. Der Alte schaut sie erstaunt an. „Besuch für mich? Das ist mir ja ’ne Ewigkeit nicht passiert.“ 28
„Gehört dieses Grundstück Ihnen?“ Kielstein weiß noch nicht was er von der Angelegenheit halten soll. „Seit zwanzig Jahren. Aber wer sind Sie? Wollen Sie mir’s abkaufen?“ „Nein, nein. Wir kommen in einer besonderen Sache. Es ist wichtig.“ Er zeigt seinen Ausweis. „Wir suchen einen Mann“, schaltet sich Felsch ein. „Besitzer eines Lada; mittelgroß, etwa fünfundvierzig Jahre alt. Er soll gestern nachmittag hier gewesen sein.“ „Hier?“ fragt der Alte überrascht. „Das ist unmöglich. Das Grundstück ist zu abgelegen, und alles ringsum versumpft. Außer mir kommt nie jemand her.“ „Eins nach dem andern“, sagt Kielstein. „Kennen Sie einen solchen Mann? Ist es vielleicht ein Verwandter, Ihr Sohn oder Schwiegersohn?“ „Hab’ ich beides nicht, nur Gloria, meine Tochter. Aber sie wohnt ganz woanders und fährt kein Auto. Höchstens Fahrrad wie ich.“ Der Alte kichert. „Es war so ein heller Lada mit einem grünen Aufkleber rechts“, mischt sich Jochen ein. „Der Mann hat getan, als gehöre das Grundstück ihm.“ „Unser junger Freund behauptet nämlich, er sei gestern gleichfalls hier gewesen.“ Felsch schaut zum Häuschen hinüber, dessen Fensterläden geöffnet sind. „Klar war ich hier. Wir saßen dort am Tisch und haben Bier getrunken. Später lag ich im Gras, hab’ geschlafen.“ „Was?“ sagt der Alte empört. „In meinem Gras?“ „Wann sind Sie aufs Grundstück gekommen?“ fragt Kielstein ihn. „Am Vormittag. Ich war bis gestern in Anklam. Bei Gloria.“ „Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen, als Sie eintrafen. Eine Veränderung?“ „Nein … alles war wie sonst.“ „Dürfen wir uns mal etwas umschaun?“ fragt Kielstein. „Nur am Tor und im Garten, es dauert nicht lange.“ 29
„Wenn es sein muß, meinetwegen.“ Sie machen sich ans Werk. Kielstein denkt, daß es schon klarere Fälle gab als diesen. Immerhin hat Pankaus aber das Grundstück wiedergefunden. Ein Beweis für seine Unschuld ist das freilich nicht. Er kann früher oder sogar gestern mit dem gestohlenen Wagen hier gewesen sein. Vielleicht ist er raffinierter als angenommen. Sie suchen am Tor nach Hinweisen, die Pankaus’ Angaben bestätigen könnten, dann schauen sie sich den Tisch und die Gartenstühle an; die Möbel stehen unberührt hinterm Haus – keinerlei sichtbare Spuren. Auch die Kronenkorken der Bierflaschen sind weg. Plötzlich fällt Jochen etwas ein: „Das Boot da im Wasser! Es lag unter der Weide. Das müssen Sie bestätigen.“ Er wendet sich an den Alten. „Schon, aber ich habe vorhin die Rollen genommen und es ans Wasser gebracht.“ „Vorhin? Wir haben es gestern in den Graben gesetzt. Der Mann mit dem Lada und ich!“ „Na hör mal“, erklärt der Alte, „ich werd’ doch noch wissen, was ich heut getan habe. Bis Mittag lag das Boot unter der Weide.“ „Aber das kann nicht stimmen, Sie lügen.“ Jochen gerät in Wut. Der alte Mann strafft sich würdevoll. „Überleg dir, was du redest, Junge. Ich habe nichts zu verbergen.“ Es hat keinen Zweck weiterzusuchen. Kielstein läßt sich noch für eventuelle spätere Fragen die Wohnadresse des Alten geben, dann vergewissert er sich ein letztes Mal: „Sie kennen also niemanden, der so einen Lada besitzt oder fährt?“ Es ist, als ob der Mann jetzt einen Augenblick zögert. Schließlich erwidert er aber: „Nein. Hab’ ich ja gesagt.“ „Na, da wollen wir uns mal für Ihr Entgegenkommen bedanken und uns verabschieden.“ Als sie den Garten bereits verlassen haben, ruft der 30
Alte ihnen hinter dem Zaun hervor nach: „Halt, einen Moment noch, ich möchte eine Anzeige erstatten.“ „Eine Anzeige – gegen wen?“ fragt Kielstein. „Gegen diesen jungen Mann. Wegen unbefugtem Betreten meines Grund und Bodens.“
6 Ein Witzbold, dieser Alte, denkt Kielstein, als sie wieder im Wagen sitzen, aber geklärt ist nichts. Im Gegenteil, alles wird noch undurchsichtiger. „Und was machen wir jetzt?“ fragt Felsch. Kielstein wendet sich an Jochen. „Jetzt zeigen Sie uns die Stelle, wo sie mit Ihrem Bündel an der Straße gestanden haben, wie Sie sagten, und Autos zu stoppen versuchten. Erinnern Sie sich genau. Haben Sie dort etwas weggeworfen? Eine bestimmte Zigarettenschachtel, ein Bonbonpapier, das Sie uns beschreiben können. Sie haben doch an die zwei Stunden gewartet.“ „Schon …“ Jochen beginnt verzweifelt zu überlegen. „Bloß waren meine Zigaretten vorher alle geworden; die letzte hab’ ich hinter Berlin geraucht. Und Bonbons …“ „Also nichts“, stellt Kielstein fest. Jochen bohrt die Hand in die Jackentasche, ein kleines Blechding gerät ihm zwischen die Finger, ein Tierkreiszeichen, vor einiger Zeit von einem Kettchen abgerissen. „Doch, ich glaub’, ich muß dort was in den Graben geschmissen haben.“ „Und was war das?“ „Mein Sternzeichen. Ein kleiner Löwe aus Blech. Ich hatte die Kette dazu verloren.“ „Na, das wär’ ja was.“ „Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob ich’s nicht schon eher …“ 31
Sie haben die Straße erreicht und fahren in Richtung Reintal. Relativ langsam, damit sich der Tramper orientieren kann. Die Sonne brennt, aber überall stehen noch Pfützen am Wegrand. Das Grün der Bäume und Wiesen wirkt frisch, wie blankgerieben. Jochen starrt nach links; weiter vorn ist eine Kiefernschonung, gleich müssen sie da sein. Seine Finger fassen den kleinen blechernen Löwen, befördern ihn vorsichtig nach oben, klemmen ihn in die Beuge zwischen Daumen und Innenhand. Er zieht die Hand aus der Tasche. „Hier war es, hier müssen wir halten.“ Felsch bringt den Wagen zum Stehen, und sie steigen aus. Jochen erkennt den Busch wieder, hinter dem er sich ausgestreckt hat. Jetzt bloß keinen Fehler machen, denkt er und hält die Hand, in der das versilberte Tierzeichen brennt, möglichst locker. Im Graben steht ein paar Zentimeter hoch Wasser, was ihm entgegenkommt. Sie beginnen alle drei sich umzuschaun, und in einem günstigen Augenblick läßt Jochen den Blechlöwen ins Wasser gleiten. Dann tut er, als suche er im Gebüsch. Die beiden Kriminalisten achten nicht auf ihn. „Könnte das Sternzeichen sein“, sagt Felsch plötzlich und beugt sich über den Graben. Mit spitzen Fingern holt er das Ding zwischen Gräsern und verfaultem Laub hervor. „Genau. Das ist es. Vielleicht glauben Sie mir jetzt.“ Kielstein nimmt den Blechlöwen in die Hand und wägt ihn ab, als sei er aus Platin. „Sonst nichts verloren?“ „Was denn noch?“ „Gut, gut, es reicht ja. Dann woll’n wir mal zurückfahren.“ Erneut im Wagen, sagt Jochen: „Ich hab’ Ihnen doch die ganze Zeit erklärt, daß ich nichts mit dem Unfall zu tun haben kann. Ich hing an dieser Straße ’rum, als es passierte, jetzt haben Sie den Beweis.“ „Das mit dem Sternzeichen spricht wirklich für ihn, 32
auch wenn seine Geschichte reichlich phantastisch klingt“, stimmt Felsch zu. Kielstein schweigt, er scheint zu überlegen. Erst nach einer Weile erwidert er fast mürrisch: „Ich wollte, es wär’ so, aber leider ist das Gegenteil eingetreten. Herr Pankaus hat das Beweisstück gerade erst in den Graben fallen lassen. Er dachte, wir merken’s nicht, doch wer früher mal auf Taschendiebe angesetzt war wie ich, achtet in solchen Situationen auf die Hände. Immerhin, ein Stück weiter sind wir nun wohl.“ Und das Du gebrauchend, fügt er bitter hinzu: „Ja, mein Junge, da hast du dir einen schlechten Gefallen getan. Langsam gehn die Lichter nun für dich aus.“
7 Ralf Jonas schreitet gemächlich durch die Verkaufshalle, er wechselt mit Nora, einer älteren Verkäuferin, ein paar Worte und tut, als prüfe er das Sortiment an Gartenwerkzeugen. Sie haben gerade erst aufgemacht, und noch ist der Andrang nicht groß. Aber das wird sich ändern. Die „Siedlerquelle“ versorgt vor allem den Landkreis, doch auch aus der Stadt kommen viele Kunden. Die Touristen nicht mitgezählt. Die kaufen alles weg, was man offen hinlegt. Rare Artikel packt Jonas sowieso nicht in die Regale, da müssen die Leute schon gezielt fragen, und dann sieht man sie sich genau an. Der Verkaufsstellenleiter ist nicht bei der Sache, er rückt an den Campingmöbeln und denkt doch immer wieder an die Geschichte vom Wochenende. Alles ist gut gegangen, aber worauf hat er sich eingelassen? Von Angela erpreßt – ja, man muß es so nennen –, hat er wie unter Zwang gehandelt. Die „Variante Tramper“ bot sich ihm in dieser verfahrenen Situation einmalig verlockend 33
an. Vielleicht wäre er seiner Cousine irgendwie anders entwischt, ohne ein solches Risiko einzugehen, doch geschehen ist geschehen, Überlegungen dazu haben jetzt keinen Sinn mehr. Dieser Tramper – Jonas hat ihn nach allem, nur nicht nach seinem Namen gefragt – will ihm auch nicht aus dem Kopf. Wenngleich er eine von jenen Figuren ist, die ohnehin nichts mit ihrem Leben anzufangen wissen, die ohne richtigen Beruf und ohne Ziel ihre Zeit bei Bier und Tabak vertrödeln. Er hat einiges ausgeplaudert. Vorbestraft wegen Autodiebstahls ist er, das paßt wie die Faust aufs Auge. Dennoch bleibt es eine Schweinerei, ihm das überfahrene Mädchen anzuhängen. Jonas macht sich da gar nichts vor. Vielleicht hat der Gammler Glück, wird wegen Beweismangels freigesprochen, und alles verläuft im Sand. Jedenfalls kommt man im Leben nicht ohne Schweinereien aus, schon gar nicht, wenn man in so einer Zwangslage ist. Abgesehen davon, daß sonst KaiDieter dran gewesen wäre, ein Verwandter und ein Junge mit Zukunft, hat Angela ihn, Jonas, einfach in der Hand. Sie weiß über die Geschäfte mit den Rasenmähern Bescheid und über etliches andere. Über die Bohrmaschinen und Heckenscheren, die er für ihre LKWFahrer abgezweigt hat, über die zum doppelten und dreifachen Preis verhökerten Duschtassen. Da kommt eine schöne Stange zusammen. Sie hängt mit drin, doch er kennt sie, hätte er ihren Sohn fallenlassen, wäre sie zu jeder Rache fähig. Ohne Rücksicht auf sich selbst. Das hat er auch Helma klargemacht, als sie mit ihren Bedenken kam. Er hat ihr freilich nicht die ganze Wahrheit erzählt, nicht das mit dem kleinen Mädchen. Nur daß es einen dummen Unfall gab, in den Kai-Dieter verwickelt war. Im übrigen war Helma viel zu sehr von der Drohung erschreckt, daß Angela auspacken könnte. Sie hat ihm zugehört, ohne tiefer zu bohren; das war von jeher ihre Art, Probleme zu verkleinern. Bis in die Nacht 34
hat er dann gewartet und gebangt, daß es nicht klappen würde. Aber es ist alles nach Plan verlaufen. Als das Schwierigste vorbei war, telefonierte er kurz mit Angela; in der nächsten Zeit durfte es keinerlei Verbindung zwischen ihnen geben. Sie wird der Polizei gegenüber keine Schwäche zeigen, da ist er sicher. Schon Kai-Dieters wegen. Und der Junge selbst wird hoffentlich unbehelligt bleiben. Inzwischen nimmt im Geschäft der Betrieb zu; Jonas hat Auskunft zu geben und wird abgelenkt, das ist ihm nicht unrecht. Er ist noch dabei, mit gewohntem Charme einer jungen Frau die Vorzüge eines Gazefensters zu erläutern, als er von hinten angesprochen wird. Da fragt ihn doch eine männliche Stimme wahrhaftig nach Maschendraht. „Etwa zweihundert Meter hätt’ ich gern … fürs erste.“ Es gibt direkt noch Spaßvögel; Jonas dreht sich belustigt um, den Mann muß er von vorn sehn. Als er ihn dann vor Augen hat, schwindet freilich das Lächeln aus seinem Gesicht. Eine magere, leicht gekrümmte Gestalt in brauner Tuchhose und altmodischem Hemd, ein runzliges Antlitz unter einer Schiebermütze. „Guten Tag, Opa Krebs“, sagt er mit trockener Zunge, „hast uns ja lange nicht mehr beehrt.“ „Es ist auch nur wegen des Maschendrahts, ich brauch’ einen neuen Zaun.“ „Auf deine alten Tage? Bist doch bis jetzt mit Latten ausgekommen.“ Der Opa setzt ein pfiffiges Grienen auf. „Ja, aber neuerdings steigt allerlei Gesindel bei mir ein.“ „Na, na, hau mal nicht so auf den Putz.“ Jonas senkt die Stimme. „Wenn ich’s sage“, meckert der Alte fröhlich. „Sie fahren mit dem Wagen vor, kriechen durch die Löcher und heben von innen das Tor aus.“ „Aber bei dir gibt’s doch nichts zu stehlen.“ 35
„Ich behaupte ja auch nicht, daß sie’s deshalb tun.“ Einige Kunden werden aufmerksam, fangen an, sich für das Gespräch zu interessieren. Jonas faßt den Alten beim Arm und zieht ihn zu einer Tür mit der Aufschrift „Kein öffentlicher Durchgang“. Dabei fragt er möglichst gleichgültig: „Warst du schon bei der Polizei?“ Opa Krebs spannt den Verkaufsstellenleiter einige Sekunden auf die Folter, ehe er antwortet: „Nicht nötig, sie sind zu mir gekommen.“ „Weshalb?“ „Sie suchen den Besitzer eines hellen Lada mit einem grünen Aufkleber rechts. Wahrscheinlich meinen sie so ein großes Kleeblatt, wie du’s am Auto hast.“ „Unsinn, ich hab’ keinen Aufkleber am Wagen. Jedenfalls keinen grünen.“ Sie betreten einen kleinen Büroraum, der Alte ist ohne Zögern mitgekommen. Jetzt läßt er sich aufatmend auf einen Stuhl fallen: „Die Beine wollen nicht mehr.“ Dann, wie nebenbei: „Ich hab’ den Leuten ja auch nichts von deinem Lada gesagt. Und nicht, daß du über meine Reise nach Anklam Bescheid wußtest.“ „Was faselst du da. Deine Reise. Weshalb sollte gerade ich …“ „Doch, doch“, fällt ihm der Alte ins Wort. „Ich hab’ im ‚Krug‘ erzählt, daß ich wegfahre, und du warst am Nachbartisch. Du hast’s aufgeschnappt. Das ist mir klargeworden, als die wieder weg waren.“ Jonas setzt sich nun ebenfalls, in seinem Kopf wirbeln die Gedanken. Viel weiß der Alte nicht, die Frage ist, ob man überhaupt auf sein Gerede eingehen soll. Aber sich ganz ablehnend zu verhalten scheint wenig angeraten. Wenn er, und sei’s bloß auf einen Verdacht hin, die Polizei zu ihm schickt, kann es unangenehm werden. „Was wollte die Polente denn von diesem Mann, hat er was angestellt?“ „Schon möglich. Wenn sie extra zu mir kommen! So 36
ein langhaariger Bursche war dabei. Der schien ganz scharf drauf, ihn wiederzufinden.“ Der Verkaufsstellenleiter atmet tief durch, ist aber kaum erschrocken. Das hat er einkalkulieren müssen. Der Tramper versucht nachzuweisen, daß er in der entsprechenden Zeit nicht am Unfallort war. Dazu braucht er ihn, Jonas. „Weißt du was, Opa Krebs, wahrscheinlich hat der Langhaarige bloß gesponnen, um eine Schweinerei zu vertuschen, und den Mann mit dem Lada gibt’s gar nicht.“ „Kann sein, daß die Polizisten das im Augenblick annehmen“, erwidert der Alte bedächtig. „Im Augenblick, verstehst du. Was ist nun mit dem Maschendraht?“ „Ein rarer Artikel, und gleich so viel …“ „Ich brauch auch unbedingt einen Rasensprenger, war deswegen schon im vorigen Jahr vergeblich bei dir.“ „Du willst gleich alles auf einmal, was?“ „Das Alter, mein Junge. Es läßt mir nicht mehr viel Zeit. Ich hab’ schon zu lange gewartet, will meiner Gloria das Grundstück ordentlich übergeben, wenn’s soweit ist.“ „Kann schon sein, daß wir nächste Woche ein paar Rollen von dem Zaun kriegen“, ringt sich Jonas durch. „Na siehst du“, sagt der Alte strahlend und erhebt sich, „ich hab’s doch gewußt. Wo eine Notwendigkeit ist, da ist auch ein Weg. Komm nur nächste Woche mal bei mir vorbei, meinetwegen mit dem Fahrrad. Ich hab’ einen Johannisbeerwein, davon schwärmst du noch, wenn du siebzig bist. Wir trinken ein Glas, und dann besprechen wir die Einzelheiten. Ich hab’ so selten jemand zum Schwatzen und zum Trinken.“
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8 Hauptmann Bothe hat die Akte „Warenhausdiebstahl“ vor sich liegen, aber er denkt immerzu an Kielsteins Tramper-Bericht. Er schnippt mit den neuen Hosenträgern, die ihm sein Frau zum Geburtstag geschenkt hat, pusselt an dem gerade erst erworbenen Kugelkaktus auf seinem Schreibtisch und greift endlich zum Telefonhörer. „Ist Rudi Kielstein im Zimmer? … Wo, bei Kast … Gut, rufen Sie mal ’rüber. Er soll bei mir vorbeikommen. Ja, gleich, sonst kann ich ihm wieder stundenlang nachlaufen.“ Fünf Minuten später steht der Leutnant vor ihm. Er gibt sich forsch. Er hat seine Sommerjacke ausgezogen, läßt sie an zwei Fingern über der Schulter baumeln. Bothe fragt sofort: „Die Fahrerflucht von voriger Woche ist also aufgeklärt?“ „Hab’ ich das geschrieben? Wir sind nahe dran.“ „Nur das Geständnis habt ihr noch nicht.“ „Wie aus meinem Bericht hervorgeht.“ „Nach der Sache mit dem Sternzeichen gibt es ja wohl keinen Zweifel mehr.“ „Gut, gut“, brummt Kielstein und nimmt die Jacke von der Schulter, „ich hab’ begriffen, etwas paßt dir nicht. Die Frage ist bloß, was. Ich kann nicht mehr als meine Arbeit tun.“ „Setz dich“, sagt Bothe, „wir reden in Ruhe. Ein überfahrenes Kind, das ist keine Kleinigkeit. Erst recht nicht, wenn sich der Schuldige unerkannt davonmacht.“ „Das weiß ich auch, zumal ich mit der Mutter gesprochen habe. Ihre Verzweiflung verfolgt mich bis in den Schlaf.“ „Ja, so was regt einen auf. Dich, mich, die Öffentlichkeit. Genug Grund, den Fall schnell abzuschließen.“ 38
„Kein Widerspruch.“ „Aber auch gründlich aufzuklären, es darf kein Zweifel bleiben.“ Kielstein setzt sich und schlägt die Beine übereinander. „Ich höre.“ „Nun also, dem Anschein nach liegt der Fall klar auf der Hand. Unser junger Freund erzählt Märchen, saugt sich eine Geschichte aus den Fingern. Nur – weshalb besteht er so auf der Episode mit dem Boot. Das ist doch nebensächlich.“ „Woher weißt du das“, fragt Kielstein verblüfft, „es stand nicht in meinem Bericht.“ „Nein, ich hab’ es von Felsch. Manchmal versucht man ein bißchen nachzustoßen.“ „Besten Dank für das Vertrauen, das du mir damit beweist.“ „Nun sei mal nicht albern“, sagt Bothe ruhig. „Das mit dem Boot kann ich auch nicht erklären.“ Kielstein ist noch etwas vergnatzt. „Pankaus ist eben selbst im Erfinden unlogisch.“ „Du hältst ihn demnach für wenig intelligent.“ „So kann man’s ausdrücken.“ „Aber er leugnet hartnäckig, das Mädchen überfahren zu haben.“ „Weil er weiß, was für ihn auf dem Spiel steht.“ „Nach meinen Erfahrungen“, sagt Bothe, „versteifen sich hauptsächlich die klugen Täter derart. Dumme Täter geben schneller auf.“ „Da ließen sich auch entgegengesetzte Beispiele finden. Außerdem würde ich Pankaus nicht direkt als dumm bezeichnen.“ „Na gut“, Bothe begreift wohl die Schwäche seiner Argumentation, „aber da ist noch ein unklarer Punkt. Der Tramper hat den Wagen ganz in der Nähe seiner Wohnung im Parkverbot abgestellt und ist ausgestiegen, ohne sich viel um die Leute zu scheren, die ihn 39
sahen und vielleicht kannten. Handelt man so, wenn man das Auto gestohlen und ein Kind überfahren hat?“ „Eigentlich nicht“, gibt Kielstein mürrisch zu, „dieser Umstand macht mir auch zu schaffen.“ „Ist der Gedanke, daß Pankaus der Wagen untergeschoben wurde, so völlig absurd?“ „Die Besitzerin des Wartburg, eine Frau Kutscher, kommt jedenfalls nicht dafür in Frage. An dem betreffenden Abend hielt sie sich zu Hause auf. Das hat ihre Nachbarin bezeugt.“ „Vielleicht ist eine dritte Person im Spiel“, sagt der Hauptmann. „Soll es alles schon gegeben haben.“ „Du kannst einem aber auch die letzte Illusion nehmen, daß mal was glatt über die Bühne geht“, erwidert Kielstein.
9 Als der Leutnant den Hof des VEB Werkstoffe betritt, streitet sich Angela Kutscher mit einem Kraftfahrer herum; sie scheint eine energische Frau zu sein. „Wenn man bei den Kerlen nicht aufpaßt“, sagt sie und schaut dem Mann hinterher, der murrend in seinen LKW klettert, „fahren sie Hunderte Kilometer mit halber Ladung. Dabei predigen wir ständig, daß man nicht ökonomisch genug wirtschaften kann und daß jeder vergeudete Tropfen Benzin einer zuviel ist.“ „Sie vertreten Ihren Chef?“ fragt Kielstein, der weiß, daß sie als Sachbearbeiterin in der Transportabteilung des Betriebes angestellt ist. „Immer mal wieder. Er ist unterwegs.“ „Wenn ich Sie trotzdem ein paar Minuten mit Beschlag belegen dürfte …“ 40
„Selbstverständlich. Ist der Fall denn nun klar? Sind Sie mit dem Burschen weitergekommen, den Sie gefaßt haben?“ Das mit Pankaus weiß sie aus einem früheren Telefongespräch. Kielstein erwidert: „Nein. Der Anhalter behauptet, er sei in Ihrem Wagen bloß mitgenommen worden, streitet sonst alles ab.“ „Aber Ihr Kollege hat gesagt, es sei erwiesen, daß der junge Mann am Lenkrad saß.“ Aus ihren Worten klingt Unruhe, vielleicht sogar Besorgnis – der Leutnant weiß nicht, wie er das deuten soll. Er erwidert: „Das stimmt auch. Allerdings gibt es noch ein paar Fragen. Zum Beispiel die, wie der Wagen in Gang gesetzt wurde. Kurzgeschlossen wurde er nicht, das steht fest.“ „Vielleicht hatte der Tramper einen Schlüssel. Einen nachgemachten, meine ich. Hat sich ein paar Autoschlüssel zurechtgefummelt und es auf gut Glück versucht. Manchmal klappt’s.“ „In seinem Zimmer haben wir nichts dergleichen gefunden.“ „Ich will ihn ja nicht mit Gewalt belasten.“ Die Kutscher ist nun wieder ruhiger. „Aber Ihnen brauche ich doch nicht zu erzählen, daß solche Beweisstücke manchmal verschwinden, wenn’s brenzlig wird.“ „Mag sein. Dennoch, Sie haben nicht zufällig Ihre Schlüssel an jenem Tag aus der Hand gegeben?“ „Auf keinen Fall!“ „Und was ist mit dem zweiten Schlüsselbund?“ „Nichts. Es liegt in Reserve bei meinen Papieren.“ „Na gut“, sagt Kielstein, „dann was anderes. Wo kann ich Ihren Sohn erreichen?“ „Meinen Sohn, weshalb?“ „Er hat doch einen Führerschein, ist manchmal mit Ihrem Wagen gefahren?“ Paßt ihr diese Wendung des Gesprächs nicht? 41
„Selten ist er damit gefahren“, sagt sie unwillig. „Und nicht an diesem Tag.“ „Gewiß“, stimmt Kielstein zu, „er war ja im Schwimmbad. Ist von Freunden gesehen worden.“ „Den ganzen Nachmittag war er dort.“ „Ich möchte mich trotzdem mit ihm unterhalten.“ Sie scheint nicht angetan von seiner Hartnäckigkeit. Nach kurzem Zögern erklärt sie: „Er ist weggefahren. Ich kann Ihnen nicht sagen, wohin. Er ist in einem Alter, wo man als Mutter nur noch wenig erfährt.“ „Sie werden doch eine Vermutung haben.“ „Schwer zu sagen. Er kann hoch zur Küste sein oder in der Dresdner Gegend.“ „Hat er eine Freundin?“ fragt der Leutnant. „Mal die, mal jene, im Augenblick aber nichts Festes.“ „Und Sie wissen auch nicht, wann er zurückkommt?“ „Er hat die Campingausrüstung eingepackt, da kann es länger dauern.“ Das gesamte Gespräch hat auf dem Fabrikhof stattgefunden; da Fragen und Antworten gewissermaßen Schlag auf Schlag erfolgten, wurde es nicht notwendig, erst ins Gebäude zu gehn. Jetzt freilich ruft jemand nach der Kollegin Kutscher, und Kielstein verabschiedet sich. Er bittet die Frau noch, ihm Nachricht zu geben, sobald sie etwas von ihrem Sohn hört. Dann verläßt er das Betriebsgelände und setzt sich in den Wagen. Eine Zeitlang sitzt er da, ohne zu starten, überlegt. Es hat den Anschein, als wollte Angela Kutscher ihren Sohn aus der Geschichte heraushalten, aber vielleicht ist das nur allgemeine mütterliche Besorgtheit. Immerhin hat er dieses Alibi für die Tatzeit. Kielstein schüttelt den Kopf, er gesteht sich ein, nicht durchzusehen. Falls Pankaus die Wahrheit spricht – wer ist die geheimnisvolle Frau im Auto? Hat sie das Kind überfahren? Wie ist sie an den Wagen gekommen, und was hat sie vom Zeitpunkt der Tat bis zum Abend gemacht? Die 42
Kutscher hat eine Schwester, doch hält die sich – wie überprüft wurde – seit einer Woche an der Ostsee auf. Und wenn nun eine der Freundinnen des Sohnes am Steuer saß? Es gilt, den jungen Mann aufzutreiben, besser heute als morgen. Doch Kielstein will andererseits nicht die Pferde scheu machen. Deshalb beschließt er, zunächst den ABV des Wohngebietes aufzusuchen, in dem die Kutschers zu Hause sind. Er trifft ihn nicht an, spürt ihn aber, Hinweisen seiner Frau folgend, im Postamt nebenan auf. Ein Mann in seinem Alter, hager und ihn selbst, der ja groß und schlank ist, noch um einen halben Kopf überragend. Von der Kutscher weiß der ABV Gutes zu berichten: Sie arbeitet ehrenamtlich in der Wohnungskommission des Gebietes mit. Mag sein, daß sie Haare auf den Zähnen hat, doch muß sie sich ja ohne Mann behaupten. Über ihren Sohn Kai-Dieter dagegen kann er wenig sagen. Der ist Student und hält sich selten in Reintal auf. Früher hatte er hier zwar eine feste Freundin, die Jeanette Kerke, aber das ist auseinandergegangen. Sie wird ihm kaum etwas über seinen augenblicklichen Aufenthaltsort berichten können. Der Leutnant geht trotzdem bei ihr vorbei, und er hat Glück, sie ist gerade von der Arbeit gekommen. In ihren Karottenhosen und einem buntbestickten Folklorehemd hätte er sie für eine Modegestalterin gehalten, aber sie verkauft, wie sie erklärt, Gemüse und Obst im Konsum. Sie bietet ihm eine Zigarette an, und als er ablehnt, ein Glas Pampelmusensaft. Das nimmt er dankend entgegen, denn erst jetzt merkt er, wie trocken seine Kehle ist. Er trinkt und beginnt seine Fragen zu stellen. „Es handelt sich um Ihren früheren Freund, Kai-Dieter Kutscher. Wir müßten ihn sprechen. Halten Sie noch Verbindung zu ihm?“ „Keine. Wir haben uns schon vor zwei Jahren getrennt. Bald nachdem er zu studieren anfing.“ 43
„Aber Sie wohnen im gleichen Ort. Sehen sich bestimmt, wenn er nach Hause kommt.“ „Na und“, erwidert sie. „wir sagen einander ‚guten Tag‘, geben uns die Hand. Manchmal wechseln wir auch ein paar Worte. Das ist alles.“ „Gestern oder vorgestern haben Sie nicht zufällig ein paar Worte gewechselt?“ „Nein, leider nicht.“ „Schade“, Kielstein spielt den Enttäuschten, „ich hatte so gehofft, Sie könnten mir weiterhelfen.“ „Ist er denn nicht bei seiner Mutter?“ „Er ist plötzlich weggefahren. Die Mutter weiß nicht, wohin.“ Das Mädchen zögert. „Glaub’ ich nicht“, sagt sie dann, „die beiden sind ein Herz und eine Seele.“ „Sie meinen, daß sie mich beschwindelt hat?“ „Wenn er früher was ausgefressen hatte – von ihr erfuhr man nichts.“ „Wieso denken Sie, daß er was ausgefressen hat?“ „Na, wenn Sie da sind“, entgegnet sie schlagfertig. „Nochmals. Wo könnte er sein?“ Sie zögert erneut. „Wenn wir auch auseinander sind, ich möchte Kai-Dieter nicht schaden.“ „Sie können ihm nur helfen“, erwidert der Leutnant. „Zu meiner Zeit fuhr er immer nach Bracksdorf zur Tante.“ „Bracksdorf. Wenn das was gibt, haben Sie eine Prämie verdient.“ „Das halten Sie mal in Ihren Akten fest“, erwidert sie.
10 Es geht auf den Abend zu, als Kielstein Reintal verläßt. Obwohl er nur Ungefähres ermittelt hat – ob Kai44
Dieter wirklich in Bracksdorf ist, muß sich ja erst herausstellen –, kommt er sich nun doch erfolgreich vor. So oder so werden die dunklen Punkte in dieser Geschichte ans Licht kommen. Er strengt sein Hirn an: Mit den Kutschers gibt es noch ein bißchen Arbeit, was aber ist mit Pankaus? Weshalb hat der Ladabesitzer – falls es ihn gibt – den Tramper auf dieses fremde Grundstück gebracht? Wenn hier nur Zufälle walten, warum ein solches Versteckspiel? Der Abend ist freundlich und Kielstein ungebunden; seit seiner Scheidung läßt eine Frau, die Marianne, seiner Ehemaligen, gleichkommt, auf sich warten. Weshalb also nicht diesem alten Krauter in den Sumpfwiesen einen Besuch abstatten? Bestimmt hält er sich auf seinem Grundstück auf, und wenn nicht, war es kein großer Umweg. Diesmal findet er den Weg schneller, er fährt sicher bis direkt vors Tor. Auch hat er richtig vermutet, der Alte ist da und kommt, vom Motorengeräusch angelockt, aus dem kleinen Haus. Er trägt eine Brille, was ihm ein ungewohnt würdiges Aussehen gibt. Er erkennt Kielstein gleich wieder: „Sie wollen wohl wissen, ob mir noch was eingefallen ist?“ Sie setzen sich an den Klapptisch, den der Alte vors Haus gestellt hat und auf dem noch Teller und Tasse von einem anscheinend früh eingenommenen Abendbrot stehen. „Ja“, sagt der Leutnant, „das würde mich interessieren.“ „Leider nicht. Ladas gibt’s viele, aber so einen …“ „Ein bißchen muß der Besitzer sich aber bei Ihnen ausgekannt haben.“ „Ach, der Junge hat das bestimmt alles erfunden. Was hat er denn eigentlich angestellt?“ „Vielleicht nichts. Vielleicht hängt er aber in einer schlimmen Sache drin. Ein Kind, ein kleines Mädchen, ist überfahren worden.“ 45
Der Alte horcht auf. „Und was hat der Ladabesitzer damit zu tun?“ „Das möchte ich auch gern wissen“, sagt Kielstein ehrlich. „Einen, der sich bei mir auskennt, kann ich Ihnen wirklich nicht nennen. Kenn’ mich ja selber kaum aus.“ Der Opa kichert, hält dann aber inne, wie bei einem unpassenden Scherz ertappt. Kielstein ist mit einer bestimmten Absicht hergekommen, er erhebt sich und sagt: „Wissen Sie was, ich hätte Lust auf eine kleine Kahnfahrt.“ „Was denn, jetzt?“ fragt der Alte verblüfft. „Da ich grade mal hier bin … Sie müßten mir allerdings Ihr Boot leihen.“ Der Opa weiß offenbar nicht, was das Ganze bedeuten soll. „Hm, meinetwegen. Wenn ich nicht selber mit muß.“ „Nein, nein. Lassen Sie sich durch mich nicht stören. Mit den Rudern kann ich einigermaßen umgehen.“ Kielstein stapft nach hinten, wo das Boot angepflockt im moorigen Wasser liegt. Ein schmaler, gewiß vor langer Zeit angelegter Kanal führt durch Schilf und Riedgras zu einem See. Blaue Libellenpärchen schwirren ums Boot, kleine Fische huschen unter der Wasseroberfläche hin und her; für Angler muß hier was zu holen sein. Auch Fliegen und Mücken gibt es genug. Der Leutnant ist froh, daß ein leichter Wind die aufdringlichen Plagegeister vertreibt. Der Kahn gleitet schwerfällig dahin. Anfangs stakt Kielstein ihn vorwärts, dann, im freien Wasser, setzt er die Ruder ein. Es ist eine richtige Arbeit, doch der Aufwand lohnt. Nachdem der Leutnant eine kleine Bucht hinter sich gelassen hat, bietet. sich ihm ein prächtiges Panorama. Ein dunkler, langgestreckter See mit Ruderund Segelbooten in einiger Entfernung. Links bewaldete Ufer, die steil ansteigen, geradeaus und etwas weiter weg ein breiter Schilfgürtel. Auch rechts befinden sich 46
Schilf und Unterholz, zum Teil im Wasser stehend. Aber nur auf einer Strecke von hundert bis zweihundert Metern. Dahinter, auf einem festeren Uferstreifen, erheben sich Bungalows, sieht man die üblichen Einzäunungen. Das ist es, was Kielstein gesucht hat, gemächlich hält er auf diesen Landstreifen zu. Er hat die Jacke abgelegt und das Hemd aufgeknöpft, er fühlt sich als Sommerfrischler. Zwei Mädchen im Paddelboot kommen ihm entgegen, er winkt ihnen zu. Als er sich dem Ufer auf etwa dreißig Meter genähert hat, rudert er langsam parallel zum Land weiter. Das da sind große und schöne Grundstücke, man kann es nicht anders sagen. Solide Bootsstege und -schuppen, gepflegte Rasenflächen und Steingärten, Häuser, die dem Wochenendaufenthalt dienen, in denen aber gut eine siebenköpfige Familie das ganze Jahr über wohnen könnte. Terrassen, Bungalows oder Finnhütten für die Gäste und immer wieder, das freundliche Bild mit häßlichen Tupfern versehend, große Stein- oder Sandhaufen. Für einen neuen Anbau, eine zweite Garage. Die hier ihren Besitz haben, verfügen wohl nicht nur über ein beträchtliches Guthaben, sondern auch über entsprechende Beziehungen. Auf einem Steg sitzt ein Junge und angelt; in einem mit Wasser gefüllten, durchsichtigen Plastbehälter neben ihm schwimmt ein mittelgroßer Fisch. Kielstein rudert heran und sagt: „Petri heil. Hast ja schon was fürs Abendbrot gefangen.“ Der Junge mustert den schäbigen Kahn und erwidert abschätzig: „Wo haben Sie denn den aufgerissen?“ „Hab’ ihn von einem Bekannten. Gefällt er dir nicht?“ „Wem soll so’n Sarg schon gefallen.“ „Nur nicht so hochnäsig.“ Kielstein lacht. „Der hat seine Leute bereits übers Wasser gebracht, als du noch im Himmelteich schwammst.“ 47
„Damit kommt man doch nicht vom Fleck“, bemängelt der Junge. „Wir haben ein Kajütboot, das rauscht ab.“ „Gehört das da euch?“ Kielstein weist auf das Grundstück. „Wem denn sonst.“ „Dann kennst du dich hier also aus?“ „Wie man’s nimmt.“ „Ich suche einen Freund. Er ist ungefähr so alt wie ich und fährt einen beigefarbenen Lada. Mit einem grünen Aufkleber an der Seite.“ Die Angel zuckt. Der Junge, auf einmal sehr konzentriert, beginnt zu kurbeln. Ein winziges Fischlein, mit einem Ruck aus dem Wasser gezogen, hüpft über die Wellen. „Eine Rotfeder. Frißt mir den Köder ab, das Biest.“ „Den schmeißt du doch wieder ’rein? Aus dem will ja erst ein Fisch werden“, sagt Kielstein. „Klar schmeiß’ ich ihn wieder ’rein.“ Der Junge tut es. „Also, was ist mit meinem Freund?“ „Wie heißt er denn?“ „Das weiß ich eben nicht. Nur daß er hier ein Grundstück hat. Wir waren vor ein paar Jahren mal zusammen in Urlaub, und ich hab’ seinen Namen vergessen.“ Der Junge, mißtrauisch, wirft erneut die Angel aus. Dann aber zählt er unvermutet auf: „Köberleins haben einen Citroën, Holzmüllers einen Mazda, die Brauns einen Wolga. Vater fährt ’nen Lada, doch der ist rot, und die Weißgerbers da drüben einen Golf. Meixner besitzt nur ’nen Trabant, der hat auch bloß ein Ruderboot, genau wie die Schenkes. Bei den andern weiß ich’s nicht. Da müßten Sie mal im ‚Seekrug‘ fragen, wo alle ihr Bier holen. Aber heute und morgen ist Ruhetag.“ „Ausgerechnet … das ist schade! Ja, da werd’ ich mal ein Stück weiterrudern, vielleicht find’ ich ihn trotzdem.“ Der Leutnant legt ab, darauf bedacht, die ausgeworfene Angelschnur zu umschiffen. Er ist noch damit 48
beschäftigt, als ein Motorboot heranzieht, die Fahrt verlangsamt und am Steg vorbeituckert. Eine Frau beugt sich über die Bordwand und ruft: „Na, Steffen, beißen sie?“ „Es geht. Einen hab’ ich.“ „Dann laß ihn dir von deiner Mutter mal schön abschuppen und in Butter braten.“ Kielstein, der plötzlich Hunger bekommt, denkt, daß es zwecklos ist, auf diese Art weiterzusuchen. Als privater Großwildjäger gewissermaßen. Das ist, wenn es überhaupt Sinn hat, bei Gelegenheit vom Land aus besser zu machen. Dieser „Seekrug“ ist dabei keine schlechte Anlaufstelle. Er wirft noch einen letzten Blick auf die Häuschen am Ufer, vollzieht mit dem Kahn eine nach seiner Meinung elegante Wende, die dem Jungen auf dem Steg freilich kein müdes Lächeln abringt, und rudert zurück. Die Sonne geht mittlerweile unter, der Horizont schwimmt in rötlichem Dunst. Aber die Luft ist lau, und der Alte werkt noch immer in seinem Garten herum. „Was Interessantes entdeckt?“ fragt er betont gleichgültig. „Eine Menge prächtiger Grundstücke und Wochenendhäuser, da kommt Ihrs nicht mit.“ „Vielleicht sieht’s hier in einiger Zeit auch anders aus“, erwidert der Alte mit pfiffigem Gesicht.
11 Angela Kutscher mag sich zusammennehmen, wie sie will, sie kann ihre Nervosität nicht unterdrücken. Während der Arbeit geht es noch an, da wird sie durch die verschiedenen Aufgaben abgelenkt, aber nach Feierabend, wenn sie allein in ihrer Zweizimmerwohnung 49
sitzt, hält sie es nirgendwo aus. Die Küche, das große Zimmer mit dem Fernseher, der kleinere Raum, den sie liebt, weil das Fenster nach dem stets belebten RobertKoch-Platz hinausgeht, überall fällt ihr die Decke auf den Kopf. Sie raucht mehr, als ihr guttut, greift zur Wermutflasche, aber die Gedanken sind damit nicht zum Stillstand zu bringen. Sie hat gehofft, daß die Gefahr für Kai-Dieter nach der Festnahme des Trampers gebannt sei, doch nun will die Polizei offenbar neue Nachforschungen anstellen. Dieser Leutnant hat sie mit seiner Fragerei mehr geschafft, als sie sich eingesteht, und sie vermutet auch, daß er nicht zum letztenmal bei ihr aufgetaucht ist. Die Kutscher ärgert sich jetzt, daß sie die Angelegenheit mit dem Autoschlüssel nicht anders geregelt haben. Der Schlüssel hätte einfach im Zündschloß steckenbleiben sollen, dann wäre es ihr ein leichtes gewesen zu behaupten, sie habe ihn im Wagen vergessen, als sie parkte. Das hätte man als Fahrlässigkeit ausgelegt, aber geglaubt. So dagegen hakt die Polizei an einer Stelle ein, wo weder Jonas noch sie damit rechneten. Am meisten beunruhigt sie, daß der Kriminalist so hartnäckig nach Kai-Dieter gefragt hat. Das Schwimmbad-Alibi hatte sie gleich nach dem Unfall arrangiert. Der Junge war in den Ferien oft dort, und sie hatte ihn trotz seines bejammernswerten Zustands auch damals hingehetzt. Damit er sich sehen ließ und erzählen konnte, er sei schon eine ganze Weile da, genau wie an den anderen Tagen. Sie hatte dann den Schwimmeister angerufen, den sie kannte, und so getan, als hielte sich KaiDieter bereits den ganzen Nachmittag dort auf. Der Sohn des Schwimmeisters hatte das auch prompt der Polizei gegenüber bestätigt. Ein sorgfältig erbautes Gerüst, aber alles kann zusammenstürzen, wenn die Geschichte mit dem Diebstahl einen Riß bekommt. Wenn die Kriminalisten zu 50
zweifeln anfangen und tiefer bohren. Ein Glück, daß Kai-Dieter erst einmal weit vom Schuß ist. So schnell werden die ihn nicht ausquetschen können, und vielleicht werden sie’s ganz lassen, wenn etwas Zeit verstrichen ist. Gewiß, daß die Sache diesem Pankaus angehängt werden muß, lastet ihr auch auf der Seele. Jonas sagte, entweder Kai-Dieter oder er, und vor diese Wahl gestellt, entschied sie sich für ihren Sohn. Da war ja schon alles im Laufen. Insgeheim hofft sie nun, daß man beiden nichts nachweisen kann und vielleicht die unbekannte Fahrerin verdächtigt. Oder sonstwen, den man nie kriegen wird. Angela Kutscher schenkt sich einen zweiten Wermut ein und schaltet das Farbfernsehgerät an, das sie erst seit einem halben Jahr besitzt. Sie hat sonst Freude an den Farben, doch diesmal bleibt sie unberührt davon. Und wenn die Kripo herausbekommt, daß sich Kai-Dieter in Bracksdorf aufhält – schließlich weiß der eine und andere von seiner Tante! Angela erschrickt, es liegt auf der Hand, daß sie das ermitteln. Er muß von dort weg, denkt sie, muß irgendwo in der Wildnis zelten. Am liebsten würde sie ihn nach Australien oder Kanada schicken. Sie kippt das große Glas Wermutwein hinunter und springt von ihrem Sessel auf. In Bracksdorf kann sie leider nicht anrufen, die Tante besitzt kein Telefon, aber irgendwas muß unternommen werden. Ein Telegramm vielleicht, nur mit welchem Text, die Angelegenheit ist ja mehr als heikel. Und überhaupt ist es in diesem Fall riskant, die Post einzuschalten. Nicht mal der Wagen steht mir zur Verfügung, sagt sie sich verzweifelt, den haben die noch immer nicht freigegeben. Sie fühlt sich allein gelassen mit ihren Problemen – niemand, mit dem sie sich beraten kann. Oder doch, tröstet sie sich, Jonas, der hängt genauso drin. Sie geht zum Telefon, zögert kurz, wählt dann. Das 51
Freizeichen ist zu hören, aber keiner hebt ab. Ob er nicht auf dem Grundstück, sondern zu Hause in seiner Stadtwohnung ist? Sie glaubt es nicht, doch sie versucht es. Mehrfach. Gleichfalls ohne Erfolg, Ralf und seine Frau sind einfach nicht aufzutreiben. Die haben Nerven, gehen aus, amüsieren sich vielleicht irgendwo, als sei nichts geschehen, nichts im Gange. Der Wein rumort in ihrem Kopf, sie drückt den Telefonhörer heftig in die Gabel zurück, läuft zum Fenster und reißt es auf. Sie lehnt sich weit hinaus, atmet gierig die frische Luft ein, doch ihr wird nicht besser davon. Sie sitzt hier, KaiDieter ist weit weg, und sie vermag ihn nicht zu erreichen. Was soll sie tun, sie kommt sich hilflos vor, ausgeliefert. Und doch werden sie ihn mir nicht kaputtmachen, ich hab’ ihn allein großgezogen, so weit gebracht, daß er zum Studium gehn konnte, denkt sie. Mag sein, daß er schuld hat, aber es ist nun mal passiert, die Angst ist ihm Strafe genug. Und eine Lehre, ich kenne ihn; im Grunde ist er weich, er wird sich’s zu Herzen nehmen. Ich muß ihn nur jetzt heraushalten, damit er erst mal seinen Weg fortsetzt. Angela Kutscher schließt das Fenster, sie wird sich morgen mit Jonas in Verbindung setzen, vielleicht kann Helma einen Abstecher nach Bracksdorf machen, um den Jungen zu warnen. Das ist überhaupt die Lösung. Nichts ist verloren, so schnell arbeiten die Gesetzesmühlen keineswegs. Egal, was geschieht, sagt sie sich, ich werde kämpfen. Sie stellt den Wermut in den Schrank zurück, schaltet den Fernseher aus. Dann geht sie ins Bad, um zu duschen und sich mit Hilfe zweier Radedorm aus dem Arzneischrank eine halbwegs ruhige Nacht zu verschaffen.
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12 Auch Jonas ist wütend und nervös, er fühlt sich in die Zange genommen. Es war ein Fehler, sich mit seiner Cousine einzulassen, der größte, den er je begangen hat. Im Grunde hat sie ihn mit ihrer geschäftigen und habgierigen Art erst zu den krummen Touren verleitet, sie hatte die Kraftfahrer an der Hand, die für entsprechende Gegenleistung das Baumaterial auf sein Grundstück brachten, sie kannte auch die Lieferanten. Natürlich hat er schon vorher Waren aus seiner Verkaufsstelle zu überhöhten Preisen an einen ausgewählten Personenkreis verhökert, wie hätte er seine und seiner Frau Extras sonst finanzieren sollen, er folgt damit, wie er es bei sich begründet, nur einem Zug der Zeit. Aber das blieb immer in Grenzen, den großen Umsatz hat er erst später gemacht. Der Teufel muß ihn geritten haben, daß er zum Begräbnis ihres Vaters und bald danach mit ihr ins Bett ging. Obwohl sie, wie er sich eingesteht, mit ihrem rötlichen Haar und den etwas derben Manieren einen kräftigen Gegensatz zu Helma darstellt, die man an manchen Tagen nicht anfassen darf. Seine Frau ist eine Fee, schön, aber kapriziös, und da die Jahre erster Liebe bereits eine Weile hinter ihnen liegen … Angela hatte damals keine Umstände gemacht – wozu auch, sie war frei und stand an jener Altersschwelle, wo man als Ledige zugreifen muß, wenn man noch einen Zipfel vom Leben packen will. Lang hatte ihr Verhältnis, falls man es überhaupt so nennen konnte, übrigens nicht gedauert. Sie waren beide zu sehr aufs Eigene bedacht. Die geschäftlichen Beziehungen dagegen halten – wohl gerade deswegen – noch immer an, und Jonas nimmt sich das mittlerweile ziemlich übel. Denn nun hat er die Affäre Kai-Dieter am Hals, und so gut alles eingefädelt scheint, er ist in eine Rolle geraten, die er absolut nicht liebt. Jonas fühlt sich wohl, 53
wenn er die Dinge voraussehen und lenken kann, hier ist er zu blindem Reagieren gezwungen. Ein Boxer, zwar mit hochgezogener Deckung, aber ohne den Gegner im Auge zu haben. Statt selbst anzugreifen, heißt es, auf unvorhergesehene Angriffe zu antworten. Wohl herrscht äußerlich im Augenblick Ruhe, doch die Ruhe ist trügerisch. So ist Angela am Vormittag im Geschäft aufgetaucht, was er durchaus nicht liebt, und hat ihn gedrängt, Helma nach Bracksdorf zu schicken. Er kann nicht genau abschätzen, ob das wirklich sein muß, er hat seine Cousine beschworen, keine Panik zu machen, er habe seine eigenen Probleme, aber sie bestand auf ihrem Plan. Doch Helma weiß noch immer nur die halbe Wahrheit, es scheint ihm nicht günstig, sie mit Kai-Dieter zusammenzubringen. Das beste ist vielleicht, selbst in den Wagen zu steigen und bei dieser Gelegenheit die Widerstandskraft des Jungen zu prüfen. Möglicherweise ist er gar nicht so schwach, kann, wenn er von sich aus bei der Polizei vorspricht und entsprechend sicher auftritt, deren Zweifel zerstreuen. Aber das will überlegt sein, nicht weniger als die Frage, wie es mit dem alten Krebs weitergeht. Dieser verdammte grüne Aufkleber ist schuld – er hat ihn inzwischen zwar abgelöst, doch der Alte weiß Bescheid. Er gibt keine Ruhe, hat sich heute morgen, quasi vor dem Aufstehen, erneut gemeldet, von irgendeiner Telefonzelle aus angerufen: „Hier ist Opa Krebs, entschuldige die Störung, mein Junge, aber ich bin gerade bei meinem Morgenspaziergang. Ja, die Knochen lassen keinen festen Schlaf mehr zu, und überhaupt tut’s einem um die schöne Zeit leid, die man im Bett verbringen muß, wenn man nicht mehr allzulange zu leben hat, mein’ ich …“ Er war nicht zu bremsen, der Alte, er schwatzte, als ob Kaffeezeit wäre, und Jonas sagte schließlich ungehalten: „Gut, gut, Opa Krebs, aber es ist sechs Uhr morgens, und 54
ich muß mich für die Arbeit fertigmachen. Worum geht’s denn, du rufst doch nicht an, weil du grade in Liebe an mich gedacht hast!“ „In Liebe an dich gedacht, haha, du hast wenigstens Humor, aber das liegt gar nicht so weit weg, mein Junge. In gewissem Sinn trifft’s sogar genau, ich möchte dir Gutes tun und Böses von dir abwenden. Ich hatte nämlich gestern schon wieder Besuch. Du kannst dir vielleicht zusammenreimen, von wem.“ „Kann ich nicht, drück dich gefälligst klarer aus.“ „Nicht doch über die Strippe, mein Junge, du weißt ja ganz genau, was ich sagen will. Denk nur an den Autounfall und das kleine Mädchen. Wenn du mir morgen abend die Ehre erweisen könntest, damit wir das mit dem Maschendraht und den anderen Kleinigkeiten regeln, erzähl’ ich dir mehr.“ „Morgen abend, weshalb denn gerade morgen?“ „Weil heute ein Krimi im Fernsehen läuft, mein Junge, den will ich nicht verpassen.“ Von wegen Opa, denkt Jonas, der Alte ist raffiniert, hat seinen Grips noch völlig beisammen. Er denkt es freilich weniger mit Bewunderung als mit Grimm. Das mit dem Mädchen klingt bedrohlich, lange kann er sich diese Art nicht mehr bieten lassen. Und wenn er ihn nun abwimmelt, in Kauf nimmt, daß Krebs der Polizei mitteilt, was er zu wissen glaubt? Er, Jonas, kann alles abstreiten, behaupten, er habe den Tramper nie gesehen. Selbst bei einer Gegenüberstellung. Doch vielleicht würde man in solch einem Fall sein Arbeits- wie Privatleben untersuchen und auf seine Beziehung zu Angela stoßen. Nein, das darf nicht sein, das ist viel zu gefährlich. Er muß den Alten anders stoppen, die Frage ist nur, wie. Ich werde morgen zu ihm gehn und versuchen, mich mit ihm zu arrangieren, beschließt er. Heute aber mach’ ich den Abstecher nach Bracksdorf, woll’n doch mal sehn, ob wir die Sache nicht wieder in den Griff kriegen. 55
Am frühen Nachmittag fahr’ ich los und abends wieder zurück. Helma werd’ ich Bescheid sagen und Angela, sonst niemandem. Er geht zu Nora, die an der Kasse sitzt, und erklärt ihr, daß er ein paar Stunden früher weg muß, weil seine Schwiegermutter krank geworden ist. „Gut, Herr Jonas, wir kommen schon zurecht.“ In der Mittagspause telefoniert er kurz mit Angela und seiner Frau, dann steigt er in den Wagen und schlägt die Richtung Nordost ein. Die Adresse der Tante hat er, aber es scheint ihm nicht unbedingt notwendig, daß er mit ihr zusammentrifft. Vielleicht kann er Kai-Dieter allein abfangen, irgendwo draußen, unbemerkt von ihr und neugierigen Nachbarn.
13 Jochen Pankaus, als er Bothes Zimmer betritt, wirkt blaß und unausgeschlafen, die Untersuchungshaft bekommt ihm nicht. Eigentlich hat der Hauptmann eine gute Nachricht für ihn, aber er will sie vorerst zurückhalten. Der Trabantfahrer ist ermittelt worden, der den Tramper hinter Berlin mitgenommen und später, nach einem Streit, an jener abgelegenen Straße an die frische Luft gesetzt hat. Das ist noch kein Alibi für den jungen Mann, zeitlich hätte er es bis Reintal schaffen können, wo der Wartburg der Kutscher gestohlen wurde, aber da er ja in die entgegengesetzte Richtung wollte, nach Hause, wäre der Sprung zurück unlogisch. Und wiederum nur per Anhalter möglich, denn ein Bus fuhr um diese Stunde nicht. „Sie wollten mich sprechen“, sagt Bothe. „Was gibt’s?“ „Darf ich mich setzen?“ „Ja, natürlich. Eine Zigarette?“ 56
„Das wäre gut“, sagt der Tramper und greift nach der Juwel, die Bothe, selbst nur gelegentlicher Pfeifenraucher, zu solchem Zweck in der Schublade hat. Er läßt sich Feuer geben, tut einige Züge und fährt dann fort: „Zu Ihnen hab’ ich nämlich mehr Vertrauen als zu dem Leutnant.“ Sieh an, denkt Bothe, das passiert mir also. Sonst ist’s bei den Jugendlichen umgekehrt. Er würde nicht versäumen, es Kielstein gleich nachher unter die Nase zu reiben. Dessen ungeachtet erwidert er: „Der Leutnant versucht die Wahrheit zu ermitteln, genau wie ich.“ „Aber er glaubt mir nichts, das merk’ ich doch.“ „Sehr glaubwürdig ist Ihre Geschichte ja auch nicht.“ „Weil sie mich alle reinlegen wollen, die stecken alle unter einer Decke.“ „Wer, die?“ fragt der Hauptmann. „Na, der Ladafahrer und der Alte da auf dem Grundstück.“ „Wenn du mir noch den Grund verrätst, den die beiden haben sollen, gemeinsames Spiel zu machen“, sagt Bothe, zum Du übergehend, „fang’ ich an, dich ernst zu nehmen.“ Pankaus schweigt, man sieht, daß er ernüchtert ist. „War’s das, was du mir mitteilen wolltest?“ „Hat ja doch keinen Zweck, mit euch zu reden.“ Bothe will scharf antworten, begreift aber: Er hat’s nicht gerade schlau angestellt, hat sich diese Reaktion selbst zuzuschreiben. Sein Hochgefühl von eben schwindet. „Versuch’s trotzdem.“ „Mir ist noch was eingefallen, ’ne Kleinigkeit. Vielleicht ganz unwichtig.“ „Das wird sich herausstellen.“ „Der Mann mit dem Lada“, sagt der Tramper und drückt seinen Zigarettenstummel aus, „der kam ’ne halbe Stunde vorher schon mal bei mir vorbei. Da hat er mich aber kalt stehnlassen.“ 57
„Wie, an derselben Stelle der Straße?“ „Ja, und aus derselben Richtung.“ „Bist du dir da sicher?“ „Ich hab’ den Aufkleber gesehn und auch den Mann wiedererkannt. Ich wollt’ ihn sogar fragen, weshalb er erst beim zweitenmal gehalten hat. Hab’s aber sein lassen.“ „Er hat nichts dazu gesagt?“ „Kein Wort. Das hat mich gewundert, so redselig, wie der war. Ich dacht’ schon, ich hätt’ mich geirrt. Doch jetzt weiß ich, daß es keine Täuschung war. Ganz bestimmt nicht.“ „Hm“, sagt Bothe, „das wäre wirklich merkwürdig.“ „Glauben Sie, daß es was zu bedeuten hat?“ „Auf jeden Fall hättest du’s schon eher erzählen können.“ „Ich hab’ nicht dran gedacht, an dem Tag lief alles so komisch.“ „Komisch ist wohl nicht das richtige Wort“, sagt mehr zu sich selbst der Hauptmann. Pankaus ist kaum weggebracht worden, da steckt Kielstein den Kopf zur Tür herein. „Na, was wollte er?“ „Er hat mir erklärt, daß er mich für vertrauenswürdiger hält als andere Kriminalisten im Haus.“ „Weiß nicht, ob das ein Pluspunkt für dich ist.“ Kielstein zieht ein schiefes Gesicht. „Jedenfalls gibt’s nun den Trabant-Zeugen, und die unglaubwürdige Geschichte des Jungen wird damit wahrscheinlicher.“ „Ich sag’ ja nichts dagegen, ich hätte nur gern einen klaren Beweis, daß er es nicht war.“ „Er behauptet, der Ladafahrer sei, bevor er ihn mitgenommen habe, schon einmal an ihm vorbeigekommen, aus der gleichen Richtung.“ „Ja und?“ „Das find’ ich eigenartig.“ „Eigenartig ist so manches an dem Fall.“ 58
„Immerhin reden wir beide so, als gäbe es diesen Mann tatsächlich“, stellt Bothe sachlich fest. „Ist Pankaus unschuldig, muß es ihn geben.“ Bothe steht hinter seinem Schreibtisch auf und reckt sich. Das viele Sitzen macht ihn müde. „Hast du dir schon mal diesen stillgelegten Bahnhof angeschaut, an dem Pankaus abgesetzt und dann von der Frau mitgenommen wurde?“ „Immer vorausgesetzt, seine Geschichte stimmt.“ „Natürlich.“ „Nein“, erwidert Kielstein, „wozu?“ „Ich war gestern abend dort. Ein Ort, wo man Karnickel antrifft, aber keinen Menschen. Und keine Autos. Doch plötzlich, bei miesestem Wetter, begegnen sich gleich zwei. Eins, das Pankaus absetzt, ein anderes, das ihn aufnimmt.“ „Begegnet sind sie sich nach seinen Worten nicht.“ „Weiß man’s? Vielleicht hat das eine sogar im Dunkeln gewartet, bis das andere kam.“ Kielstein blickt seinen Vorgesetzten überrascht an. „Hm“, brummt er beeindruckt, „das ist wirklich ein Gedanke, auf den man erst kommen muß.“ „Wir brauchen den Mann mit dem Lada, dann kriegen wir unter Umständen die Frau, die den rotblauen Wartburg fuhr“, sagt Bothe, und man sieht ihm die Genugtuung an, seinen Mitarbeiter einmal aus der Fassung gebracht zu haben.
14 „Holzer Weg neunzehn, das muß ganz hinten am Wald sein“, die junge Frau weist mit der Hand in die entsprechende Richtung. „Die Hauptstraße ’runter und dann die vierte rechts. Eine Gaststätte ist in der Nähe.“ 59
Jonas hält sich an ihre Angaben; die Gaststätte bildet einen Lichtpunkt in der Dämmerung, ist also nicht zu übersehen. Einer Eingebung folgend, stellt er den Wagen ab und geht die drei Stufen zum Schankraum hoch. KaiDieter sitzt allein an einem Ecktisch, ein Glas Bier vor sich. „Hab’ ich mir’s doch gedacht, daß du mit deinen Abenden nichts Besseres anzufangen weißt“, sagt Jonas anstelle einer Begrüßung und setzt sich. „Sieh an, mein Retter.“ Der Junge scheint nicht im geringsten erstaunt über das unvermutete Auftauchen des anderen. „Fühlst dich nicht gut, was?“ „Kann man das von einem in meiner Lage verlangen?“ Er sieht schlecht aus, ist angetrunken und spricht laut. Jonas faßt ihn leicht an der Schulter. „Komm mit ’raus, ich muß mit dir reden.“ „Warst du schon bei Tante Lena?“ „Nein, ist auch nicht nötig. Sie braucht nichts von meinem Besuch zu erfahren.“ „Weshalb denn nicht, du bist doch mein Schutzengel.“ „Du willst wohl unbedingt, daß die Leute was mitkriegen“, zischt Jonas ärgerlich. „Sitzt noch nicht genug in der Tinte.“ Kai-Dieter holt ein Zehn-Mark-Stück aus der Hosentasche, legt es wortlos auf den Tisch und erhebt sich. Erleichtert folgt Jonas ihm zur Tür. „Gehn wir hier lang“, schlägt er draußen vor. Er wählt einen Weg, der zwischen Gärten hindurch zum Wald führt. Kai-Dieter stapft voran, ein stämmiger Bursche, eher für eine handfeste Arbeit als fürs Studium geschaffen. Plötzlich platzt er heraus: „Ich halt’ das Rumsitzen hier nicht aus.“ „War die Polizei schon bei euch?“ „Nein, aber vielleicht sollte ich hingehen und auspacken.“ 60
„Hast ’nen Moralischen, was?“ „Und wenn? Ich hab’ allen Grund dazu.“ „Sei vernünftig, Junge. Wenn du weich wirst, kannst du deinen Moralischen bald hinter einem hübschen Gitter ausheulen. Und denk’ nicht, daß die dich so schnell wieder zu deinem Hellen lassen.“ „Das ist meine Sache“, knurrt Kai-Dieter, „das muß ich mit mir abmachen.“ Jonas wird wütend. Er spürt, daß er hier mit gutem Zureden nicht weiterkommt. Er faßt den Studenten beim Arm und reißt ihn zu sich herum. „Das war deine Sache, mein Lieber, das war sie, jetzt hängen leider ein paar andre mit drin. Denk mal daran, was deine Mutter riskiert, damit ihr Söhnchen da wieder rauskommt. Denk auch an mich!“ „Ich hab’ nicht verlangt, daß ihr solche Verrenkungen für mich macht.“ „Verrenkungen“, sagt Jonas, sich gewaltsam beherrschend, „jetzt reicht’s mir aber. Es ist wohl ein bißchen mehr, was wir getan haben. Wer kam denn nach dem Unfall an wie ein Häufchen Unglück? Der Herr Student! Du warst völlig geschafft und ganz schön froh, daß wir was für dich erfunden haben.“ „Da hab’ ich noch gar nicht gewußt, was wirklich passiert war. Und was ihr machen wollt.“ „Jetzt weißt du’s, und jetzt kann keiner von uns mehr zurück, keiner!“ „Wenn ich alle Schuld auf mich nehme …“, murrt Kai-Dieter, „wird man Mutter nichts tun.“ „Du wirst deine Mutter ins Grab bringen und mich in den Knast, du hirnverbrannter Esel.“ Kai-Dieter läßt die Schultern fallen, es sieht aus, als wollte er zu heulen anfangen. „Aber was soll ich denn tun, alles ist so ausweglos.“ Jonas zieht ihn am Ärmel noch ein Stück näher heran und sagt wieder in ruhigerem Ton: „Durchhalten sollst 61
du, keinen merken lassen, was in dir vorgeht. Das schaffst du doch. Du bist doch ein Kerl, ich hab’ mich nicht in dir getäuscht.“ „Und was wird mit dem Tramper?“ „Mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich kann man’s ihm gar nicht beweisen und läßt die Angelegenheit fallen.“ Kai-Dieter schüttelt die Hand von Jonas ab, die ihn noch immer festgehalten hat, und geht langsam weiter. Schweigend, in sich zusammengesunken, ohne den andern anzuschaun. Erst nach einer Weile sagt er mit magerer Stimme: „Ich bin kein Kerl, ich bin ein Feigling. Deshalb werd’ ich weiter tun, was ihr wollt. Du hast dich nicht in mir getäuscht.“ „Na also.“ Jonas kommt es auf das Ergebnis an, nicht auf philosophische Sentenzen. „Weshalb bist du nun hier?“ „Deine Mutter befürchtet, daß die Polizei bei deiner Tante auftaucht, um dir auf den Zahn zu fühlen. Wie ich’s jetzt sehe, sollte man dem aus dem Weg gehn.“ „Soll ich mich verstecken?“ „Es wär’ schon gut, wenn du eine Weile mit dem Zelt durch die Gegend ziehn könntest. Ohne die offiziellen Campingplätze zu benutzen, versteht sich. Kannst dich ja von Zeit zu Zeit bei mir melden.“ „Bei dir?“ „Das ist besser als bei deiner Mutter.“ „Ist gut, morgen früh pack’ ich meinen Krempel.“ „Bist du wieder okay?“ „Ach, laß mich doch in Ruhe“, sagt Kai-Dieter. „Wie du willst. Na, dann halt schön die Ohren steif.“ Jonas ist nicht völlig zufrieden, weiß aber nichts mehr hinzuzufügen. „Ich muß gleich wieder zurück.“ Er streckt die Hand halb aus, läßt sie jedoch fallen, als er merkt, daß der Junge sich abwendet und keine Anstalten macht, sie zu nehmen. Ich hätt’ ihm mehr zugetraut, 62
denkt er. Schlapp, eingebildet und undankbar, weshalb riskiert man Kopf und Kragen für ihn? Mit mürrischem Gesicht stapft er zu seinem Wagen zurück.
15 Aus Bracksdorf kommt die Nachricht, daß Kai-Dieter Kutscher sich tatsächlich einige Tage bei seiner Tante aufgehalten hat, dann jedoch überraschend aufgebrochen ist. Mit unbekanntem Ziel; er hat nur erklärt, daß im Ort zuwenig los und es ihm zu langweilig sei. – „Schlimm war’s mit ihm“, beklagte sich seine Tante, „er wußte nichts mit sich anzufangen, saß immer bloß in der Kneipe ’rum.“ Ist dem Studenten eine Warnung zugeflogen, oder handelt es sich um bloßen Zufall – Kielstein will darüber nicht spekulieren. Er ist zu spät gekommen, hat im Abwägen der verschiedenen Möglichkeiten einen Augenblick zu lange gezögert. So hat er erst mal das Nachsehen. Mißmutig zieht er die trockene Büroluft durch die Nase. Bothe wird wenig beglückt sein. Nun gut, er kann sich zwischendurch auf einer anderen Strecke betätigen. Heute muß jene Gaststätte in der Bungalowsiedlung, der „Seekrug“, geöffnet haben. Er bestellt einen Wagen, gern hätte er Felsch mitgenommen, doch solcher Aufwand lohnt nicht. So fährt er allein, fragt sich, am See angelangt, nach dem Lokal durch. Es liegt inmitten der Wochenendhäuser, etwas erhöht wie eine Dorfkirche. Ein solider Steinbau mit einer überdachten Veranda, auf der die Gäste mit Blick auf den See sitzen können. Kielstein betritt die Gaststätte, die jetzt am Nachmittag mäßig gefüllt ist. Eigentlich handelt es sich um zwei Räume, der hintere gehört offenbar zu einem Anbau, 63
was auf gute Geschäfte schließen läßt. Netzwerk und Ölbilder mit Strandszenen schmücken die weiß gestrichenen Wände. Am Tresen spült eine Blondine, die ganz nach dem Geschmack des Leutnants ist, Gläser. Mit ihr hätte er gern über etwas anderes, als über dienstliche Dinge gesprochen. Ein Augenblick, wo er seinen Beruf nicht eben sympathisch findet. Mit einem innerlichen Seufzer, aber äußerlich unbeteiligt-freundlicher Miene geht er auf sie zu. „Guten Tag. Sie wünschen?“ Ihr kühler Blick taxiert ihn, während ihre Hände flink weiterarbeiten. „Kriminalpolizei, sind Sie die Inhaberin?“ Sie zuckt mit keiner ihrer langen Wimpern. „Mein Mann und ich führen die Gaststätte in Kommission.“ Sie ist selbstverständlich verheiratet, und die Geschichte von der alleinstehenden, liebesfreudigen Wirtin, die so oft in Liedern und Romanen erzählt wurde, nichts als ein Märchen. Ihr Mann taucht auch schon auf. Er ist groß, kräftig und vollbärtig. Er hat offenbar die Ohren gespitzt, denn er fragt mit Thüringer Akzent: „Worum geht’s?“ „Wir benötigen eine Auskunft. Wir suchen den Besitzer eines beigefarbenen Lada. Der Wagen trägt rechtsseitig einen grünen Aufkleber.“ „Soll der Mann hier wohnen?“ fragt die Blonde. „Vielleicht. Möglicherweise besitzt er aber auch nur ein Wochenendhaus in der Gegend.“ „Was hat er denn ausgefressen?“ erkundigt sich ihr Mann. „Das wird die Kripo uns gerade auf die Nase binden.“ „Weshalb nicht“, erwidert der Leutnant, „wir ermitteln in einem Verkehrsdelikt.“ Der Mann kratzt sich den Nacken. „Mancher fährt wie die Laus durch den Bart.“ „Durch den Bart?“ Kielstein betrachtet interessiert den rötlich verfilzten Kinnbesatz des Hünen. 64
„Ein Spruch meiner Mutter.“ „Wie sieht’s nun aus mit dem Lada?“ „Ja, wissen Sie, wenn Sie uns den Besitzer beschreiben könnten …“ Die Blonde wischt sich die Hände an der Schürze ab. „Die Autos stehn draußen, die Leute sitzen hier drin.“ Das vermag Kielstein nur ungenau. Der Tramper, obwohl es um seine Haut geht, ist in dieser Hinsicht ein schlechter Partner. Es ist ihnen nicht gelungen, ein brauchbares Identikit zusammenzustellen. Einige Angaben macht der Leutnant trotzdem. Über die Größe, das ungefähre Alter. Der Bärtige sagt zögernd: „Das könnte Dietrich sein, der fährt ’nen Lada.“ „’nen braunen“, wendet seine Frau ein. Ein Gast verlangt bedient zu werden. Der Bärtige ruft: „Sofort“, macht aber keine Anstalten, zu ihm zu gehen. Er kratzt sich vielmehr erneut den Nacken und erklärt dann: „Kellerbauer kommt immer mit so ’nem hellen Wagen und jeder Menge Aufklebern.“ „Das stimmt, Doktor Kellerbauer fährt ’nen beigen Lada. Das ist aber ein ehrenwerter Mann.“ Die Blonde schickt sich an, mit einem Bier zu dem ungeduldigen Gast zu gehn. „Und der von weiter hinten, der die Verkaufsstelle in Reintal leitet“, fragte ihr Mann, „wie heißt der gleich?“ „Jonas, er hat aber ’nen Citroën.“ „Na, dann Krautzig, bei dem weiß ich’s bestimmt, und er klebt seinen Wagen auch immer mit Sprüchen voll.“ Als Kielstein die Gaststätte verläßt, hat er in seinem Notizbuch mehrere Namen stehen, die meisten mit einem Fragezeichen versehen. All diese Leute aufzusuchen, wird er an einem Tag gar nicht schaffen. Da könnte ich Felsch nun doch gebrauchen, denkt er. Aber diese Einsicht kommt zu spät. Er beginnt bei Krautzig und trifft auf ein munteres 65
Ehepaar, das gerade eine Nachmittagsparty vorbereitet. Girlanden werden zwischen den Bäumen angebracht, auf einem Campingtisch Brötchen geschmiert. Kielstein, während er seine Fragen zu stellen beginnt, ist bemüht, seinen Appetit auf die Schinkenröllchen und Käsehäppchen zu verbergen, die bereits fertig auf einem Tablett liegen. „Entschuldigen Sie die Störung, ich sehe, Sie sind auf recht angenehme Weise beschäftigt. Aber wir ermitteln wegen eines Verkehrsunfalls …“ „Hier in der Gegend? Mir ist nichts bekannt.“ Der Hausherr wischt sich die Hände an seiner Cocktailschürze ab. „Es geht um einen Vorfall in Reintal. Wir müssen einige Dinge am Rand der Angelegenheit klären. Sie besitzen doch einen Lada.“ „Das ist richtig. Doch weshalb wollen Sie das wissen? Ich war in der letzten Zeit nicht in Reintal.“ Es ist gar nicht so einfach, das Entscheidende in Erfahrung zu bringen. Der Mann vermutet offenbar, in etwas Unangenehmes hineingezogen zu werden, er gibt nur halbe Antworten, stellt sich auf Abwehr ein. Erst als Kielstein den Tramper erwähnt, hellt sich seine Miene auf. „Nein, ich hab’ keinen Anhalter mitgenommen, ganz bestimmt nicht.“ „Sie wissen doch noch gar nicht, welchen Tag ich meine.“ „Trotzdem. Ich lade mir keine Tramper ein. Höchstens mal ’ne Tramperin.“ Er wagt ein komplizenhaftes Lächeln. Sein Wagen ist weiß, trägt allerdings keinerlei Aufkleber. Das muß noch nichts bedeuten, doch paßt Krautzig auch von Alter und Statur her nicht recht zu dem Bild, das sich Kielstein von dem Gesuchten macht. Er hakt den Namen in Gedanken von seiner Liste ab und verabschiedet sich. 66
Er geht einige Häuser weiter und dann zu einem Bungalow direkt am Wasser. Ein schönes Stückchen Erde, aber auch hier kein Hinweis, auf der richtigen Spur zu sein. Überhaupt bringen die Besuche, die Kielstein im Laufe des Tages durchführt, nicht mehr als das Gespräch mit Krautzig. Zweimal macht der Leutnant schon nach den ersten Sätzen wieder kehrt, denn der Wagentyp stimmt nicht, in anderen Fällen dauert die Befragung länger, aber es ergeben sich kaum Verdachtsmomente. Als einen der letzten an diesem Tag sucht Kielstein Doktor Kellerbauer auf, einen Zahnarzt im Ruhestand. Kellerbauer ist ein agiler Mann Mitte der Fünfzig, sieht jedoch jünger aus und lebt mit einem Mädchen zusammen, das seine Enkelin sein könnte. Er spritzt im Garten vorm Haus sein Auto mit dem Schlauch ab, was wegen Wasserknappheit nicht gestattet ist. Dennoch zeigt er keinerlei schlechtes Gewissen, als der Leutnant seinen Ausweis zückt. „Wenn man eine schmucke Frau hat, braucht man ein schmuckes Auto“, rechtfertigt er sich. Seine „schmucke Frau“ trägt eine Art Strampelanzug mit weitem Ausschnitt und kurzen Hosenbeinen, der so eng an der Haut klebt, daß darunter kaum noch etwas Platz haben kann. An seinem Wagen prangt ein roter Aufkleber mit dem Text: „Seedorf grüßt den Rest der Welt“, daneben befindet sich ein grüner in Form eines Kleeblattes. „Das ist mein Talisman“, erklärt der Zahnarzt, „solange ich ihn am Auto habe, kann mir nichts passieren.“ Die Beschreibung, die Pankaus gegeben hatte, trifft auf den Zahnarzt ungefähr zu; Kielstein beschließt, sich vorsichtig an den Gegenstand heranzutasten. „Sie haben ein schönes Wochenendhaus“, beginnt er, „halten sich gewiß viel hier draußen auf.“ „Das kann man sagen. Das Mäuschen und ich, wir sind sogar im Winter hier.“ 67
Das Mäuschen nickt zustimmend, es schmiegt sich mit strahlenden Augen an seinen Besitzer. „Aber Sie wohnen in Reintal, wo sich’s bestimmt auch aushalten läßt.“ „Ich wohne ein bißchen weiter weg, in der Nähe von Berlin. Mäuschen wohnt und arbeitet in Reintal.“ „Sie holen Ihre …“, Kielstein zögert, „Frau abends mit dem Wagen ab?“ „Im Augenblick hat sie Urlaub“, sagt der Mann. „Worauf wollen Sie hinaus?“ „Sie waren nicht zufällig am Freitag, dem Sechzehnten, am späten Nachmittag von Reintal aus hierher unterwegs?“ „Das ist ja schon eine Weile her. Lassen Sie mich überlegen. Doch, waren wir, Mäuschen hatte einiges eingekauft, weil abends Freunde kommen wollten.“ „Das war am Donnerstag, dem Fünfzehnten“, berichtigt die Mädchen-Frau. „Ach ja, am Donnerstag.“ Wenn sie zu zweit im Auto gesessen hatten, half Kielstein die Aussage ohnehin nicht weiter. Er entschloß sich, direkt vorzugehen: „Am Freitag gegen fünf wurde von einem Lada, wie Sie ihn besitzen, an der Straße von Reintal hierher ein Anhalter mitgenommen. Wir müssen unbedingt mit dem Fahrzeugführer sprechen.“ „Ich war’s nicht, das hätte ich Ihnen gleich sagen können“, sagt der Zahnarzt mit einem spöttischen Lächeln. Soll der Leutnant ihm glauben? Er ist unschlüssig. Großes Vertrauen flößt ihm der Mann nicht ein, und der Wagen würde passen. Vielleicht macht sich eine Gegenüberstellung mit Pankaus notwendig. „Herr Jonas könnte das gewesen sein, er fährt den gleichen Wagen“, schaltet sich unvermutet das Mäuschen ein. 68
„Jonas? Der Name kommt mir bekannt vor.“ „Der hat sein Grundstück ganz am Ende der Siedlung. Er leitet die ‚Siedlerquelle‘ in Reintal.“ Kielstein erinnert sich. „Ach ja, man hat mir allerdings erzählt, er besitze einen Citroën.“ „Wär’ ihm zwar zuzutrauen, aber es stimmt nicht.“ „Gut, ich werde morgen vorbeigehn“, sagt abgekämpft und doch mit ein wenig Hoffnung der Leutnant.
16 Die Ferienhelferin Danka Guzmann hat sich den Ausflug mit der Kindergruppe nicht so schwierig vorgestellt. Vor allem Marko und Robert machen ihr zu schaffen, sie nutzen weidlich aus, daß Frau Netz nicht am Stellplatz war, und verfallen auf immer neue Streiche. So auch jetzt, da man zur „Wiesenschenke“ will und sowieso später dran ist als geplant. Sie sind ganz einfach verschwunden, auf Erkundung gegangen, wie Marko dem Pummel Christiane anvertraut hat. „Sie haben da so’n ollen Garten gefunden, sie wollten aber gleich wieder zurück sein.“ Das fehlt Danka gerade noch. Einen Garten gefunden? Womöglich klettern die da ’rein und machen was kaputt. „Marko“, schreit sie, „Robert, wo seid ihr! Kommt sofort zurück!“ Ein friedlicher Sommertag, die Sonne blinzelt durchs Geäst, die Vögel trillern. Eigentlich hätte Danka den Ausflug nicht ohne Frau Netz machen dürfen, aber die Kinder haben so gebettelt. Und nun das. Die Jungs geben keine Antwort. Danka versucht durch die Büsche zu spähen – sie sieht nur Baumstämme. „Wo soll der Garten sein?“ fragt sie das Mädchen. „Da rechts, ein Stück weiter hinten.“ 69
„Das halt’ ich nicht aus“, sagt Danka, „na, die zwei können was erleben, die war’n das letzte Mal mit.“ Sie ruft erneut, doch ebenso erfolglos. „Bleibt hier stehen“, befiehlt sie, „und rührt euch nicht vom Fleck, bis ich wieder da bin. Petra, du bist mir verantwortlich.“ Sie hetzt den schmalen Waldweg zurück, dabei nach dem erwähnten Garten Ausschau haltend. Endlich sieht sie jenseits eines Wiesenstreifens einen Zaun, der ihr vorher entgangen ist. Das Grundstück muß fast am Wasser liegen. „Marko, Robert, seid ihr hier?“ „Fräulein Guzmann, Fräulein Guzmann …“ Rennend und stolpernd kommen die beiden durchs stachlige Gras auf sie zu. „Was fällt euch ein“, legt Danka los, „ihr glaubt wohl, weil Frau Netz nicht mit ist …“ Doch etwas an der Art, in der die Jungs heranstürzen, läßt sie jäh abbrechen. Vor allem Marko, der schneller läuft, wirkt verstört. Er ist auch als erster bei ihr. „Fräulein Guzmann“, keucht er und greift völlig überraschend nach ihrem Arm. „Da drin, in dem Garten, liegt ein toter Mann.“ Danka hat von den Kindern schon manche Phantasterei gehört, die hier scheint ihr zu stark. „Red keinen Unsinn, Junge, willst mir wohl einen Schreck einjagen.“ „Nein, bestimmt nicht, Robert hat ihn auch gesehn.“ Robert, blaßgesichtig, bringt nur ein Kopfnicken zustande. „Wie – tot? In einem Sarg?“ „Im Wasser liegt er. Ganz krumm.“ Danka spürt einen leichten Druck auf der Brust. Sie faßt Marko an der Schulter und wendet sich Robert zu. „Du gehst zu den andern und sagst, wir kämen gleich. Erzähl ihnen nichts von dem, was du gesehen hast, verstanden.“ Robert nickt erneut. Steifbeinig zieht er ab. „Los“, sagt Danka zu Marko, „wo ist es?“ 70
Er führt sie zum Zaun und klettert an einer Stelle darüber, wo eine Lattenspitze abgebrochen ist. Danka folgt ihm mit einiger Mühe. Ein ziemlich verwahrlostes Stückchen Land ist das, mit ein paar Beeten, Stachelbeersträuchern und Apfelbäumen. Rechts von ihnen ein Holzhaus, geradeaus eine leichte Erhebung mit einer Trauerweide. „Dort hinten im Graben“, flüstert Marko und steuert die Weide an. Dann stehen sie beide neben dem Baum, starren auf den Mann, der mit dem Gesicht nach unten im schlammigen Wasser liegt. Marko hat recht, da ist nichts mehr zu machen. Danka sieht nicht so sehr den grauhaarigen Hinterkopf des Alten, seinen mageren, halb untergetauchten Körper, der in Hemd und Hose steckt, sondern vor allem eine leblos im Wasser hängende Hand. Der Graben ist etwa anderthalb Meter breit und flach, der Körper, etwas gekrümmt, scheint festgehakt, vielleicht am Schilfwurzelwerk. Aber die Hand wellt sacht. Braungebrannt ist sie und ledern. „Der ist ertrunken, der liegt bestimmt schon Stunden hier“, sagt Danka. Marko steht wie angepfählt. Danka, obwohl ihr die Knie weich werden, geht zwei Schritt näher an den Graben heran. Sie hockt sich hin, wagt aber nicht, den Mann zu berühren. Er muß gestürzt sein, hier ist es glatt, abschüssig, denkt sie, vielleicht war er betrunken. Sie streift mit einem Blick den alten Kahn, der ein paar Meter entfernt halb auf der Böschung liegt, und erhebt sich entschlossen. „Komm zurück zu den andern“, sagt sie zu Marko, „wir müssen jemanden benachrichtigen, am besten die Polizei. Wir müssen zur ‚Wiesenschenke‘.“ Sie rennen los, und erst als sie schon wieder auf dem Waldweg sind, fällt ihr ein, daß zum Garten ja ein Häuschen gehört hat. Daß an der Gartentür wahrscheinlich der Name des Besitzers steht. Möglicherweise ist das Haus sogar offen. Soll sie noch mal zurücklaufen oder 71
eins von den Kindern schicken? Auf keinen Fall, entscheidet sie, die werden das Grundstück auch so finden, und ein Telefon, das die Sache beschleunigen könnte, besitzt der arme Alte hier draußen bestimmt nicht.
17 Der Weg zieht sich ums Dorf herum und zerschneidet dann, hügelan steigend, den Mischwald. Seitlich unten, zu, den Teichen hin, liegen die Campingplätze, aber die muß Kai-Dieter meiden. So marschiert er geradeaus, denn weiter oben befindet sich eine kleine Kirche mit einem nicht mehr benutzten Bergfriedhof. Der Student kennt die Gegend, vor ein paar Jahren war er schon einmal hier. Der Weg biegt ab, Kai-Dieter geht weiter und gelangt an eine verwilderte Hecke. Dahinter liegen die Gräber, um die sich kaum noch jemand kümmert. Bäume, mageres hartes Gras, Heidelbeersträucher. Der Student beschließt, sein Zelt außerhalb des Friedhofs dicht an der Hecke aufzuschlagen. Aber erst gegen Abend, damit ihn nicht der Förster oder ein Waldarbeiter, den der Zufall herführt, mit unangenehmen Fragen belästigt. Er wirft sein Gepäck ins Gras, entnimmt ihm eine Decke, rollt sie aus. Im Schatten der Hecke auf dem Rücken ausgestreckt, starrt er blicklos in den Himmel. Den dritten Tag ist er nun unterwegs, und er hat das Versteckspiel satt. Er haßt die Suche nach sicheren Plätzen, das Sichverkriechen an einsamen Orten. Er will zur Ostsee hoch, doch was soll er dort, wenn er sich nirgendwo sehen lassen kann. Gestern ist er einem Mädchentrupp begegnet. Da hätte er sich anschließen und den Hahn im Korb spielen können, aber die Mädchen wollten in eine Jugendherberge, und schon mußte er sich wieder abseilen. 72
Er hat auch keine Lust mehr, sich neu mit ihnen zu treffen. Sie leben in einer anderen Welt, schwatzen, lachen, albern herum, wollen flirten, während er nicht von seinen düsteren Gedanken loskommt. Jonas und seine Mutter haben gut reden – ihnen ist die Sache ja nicht passiert. Seit jenem furchtbaren Augenblick unterscheidet sich sein Leben von dem aller anderen Menschen. Eine unsichtbare Wand hat sich zwischen sie und ihn geschoben. Sie bewegen sich in der gewohnten normalen Atmosphäre, er steht draußen. Immer wenn er sich ihnen wieder nähern und so tun will, als sei nichts geschehen, drängt das Bild jenes kleinen Mädchens vor seine Augen, mehr ein Schemen als eine reale Erscheinung. Er hat das Kind nur für Sekunden gesehen, und doch ist es wirklicher für ihn als die Bäume, das Gras und die Wolken am Himmel. Morgen werden es andere Bäume, anderes Gras, andere Wolken sein, das Gesicht aber mit dem eher erstaunten als erschrockenen Blick, mit dem halb zum Schreien geöffneten Mund bleibt. In den seither vergangenen Tagen hatte er genügend Zeit zum Nachdenken. Wie ist es zu dem Unfall gekommen, und vor allem, weshalb hat er seinen Wagen nach dem Zusammenprall nicht gestoppt, sich nicht um das Mädchen gekümmert. Er war nicht in Eile und ist trotzdem gerast, mitleidlos hält er sich das jetzt vor. Gelegentlich warnten ihn Bekannte vor seiner oft riskanten Fahrweise, aber er lachte sie aus. Ihm war nie etwas passiert, und er fühlte sich in diesem Punkt sicher. Er kannte die Strecke, er glaubte sich und seine Fähigkeiten zu kennen. Überheblich war er, dumm, und zwar nicht nur an diesem Tag. Weil ihm bis dahin alles gut von der Hand gegangen war, dachte er, daß er auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen brauchte. Oder nein, so skrupellos ist er nun doch nicht, aber er hat sich’s oft zu leicht gemacht. Seine Mutter, andern gegenüber kri73
tisch, hat ihn noch unterstützt. Mit ihren Ellbogen räumte sie ihm Hindernisse aus dem Weg, so daß er annahm, ihm könne nie etwas zustoßen. Vielleicht war es Pech, daß die Kleine so unaufmerksam die Straße überquerte, aber jetzt, wo er sich nach tagelangen Versuchen der Rechtfertigung endlich kalt und schonungslos analysiert, scheint es ihm, daß eine solche Katastrophe einfach eintreten mußte. Früher oder später, auf diese oder eine völlig andere Weise. Und er ist ein Feigling, auch das gesteht er sich ein. Jonas will das bloß nicht wahrhaben. Oder er sieht es, nimmt es aber hin, weil es ihm für alle Beteiligten am bequemsten scheint. Am einfachsten, glattesten. Nach dem Prinzip: schön die Augen verschließen. Daß ich ein Feigling bin, wußte ich schon im Moment, als ich aufs Bremspedal trat und dann doch weiterfuhr, denkt KaiDieter. Ich gab es mir nicht zu, sagte mir, man könne ja doch nichts mehr machen, und wenn, würden sich die Fahrer hinter mir um das Kind kümmern. Aber im Grunde war es nur meine jämmerliche Furcht vor der Strafe, die mich fliehen ließ, vor den Konsequenzen. Ein Eichhörnchen macht sich im Kieferngeäst zu schaffen, es knabbert an einem Zapfen, läuft dann, keine zwei Meter entfernt, den Baumstamm herunter. Ich bin auch ein Feigling, weil ich mich noch immer nicht der Polizei stelle, überlegt Kai-Dieter, ich hab’ mich nur zu gern von Mutter und ihrem windigen Geschäftsfreund Jonas überzeugen lassen, daß sich alles regelt, daß ich nicht mein Leben verpfuschen darf. Ein Leben in ihrem Stil. Verpfuscht ist es aber auf jeden Fall, und ich vermurkse es immer mehr. Ich bin ja sogar bereit, jemanden die Sache ausbaden zu lassen, der absolut nichts damit zu tun hat. Meine einzige Hoffnung ist, daß man ihn wegen einem Alibi oder etwas Ähnlichem laufenläßt. Kai-Dieter richtet sich jäh auf, und das Eichhörnchen, das ihn bis dahin nicht beachtet hat, jagt erschrocken 74
den Kiefernstamm wieder hinauf. Mit einem eleganten Sprung setzt es auf eine Buche über und verschwindet zwischen den Zweigen. Lediglich ein leises Rascheln ist noch zu hören. Es ist frei, kann sich tummeln, ich aber habe mich heillos verstrickt, denkt der Student. Und ich habe die andern mit hineingezogen. Vor allem Mutter, Jonas interessiert mich viel weniger. Mutter sieht zwar zu, wo sie bleibt, hat sich aber meinetwegen auf diese Sache eingelassen, er dagegen … Der Teufel mag wissen, wie sie ihn dazu gebracht hat, er denkt ja sonst nur an sich. Im Gepäck hat er eine Flasche Bier, er holt sie heraus und öffnet sie. Doch obwohl das Getränk einwandfrei und auch relativ kühl ist, schmeckt es schal. Durch den Wald klingen Stimmen und Gelächter, ein Kind kreischt fröhlich. Touristen, die zur Nordhöhe unterwegs sind. Das geht so nicht, ich kann so nicht weitermachen, denkt Kai-Dieter, wie soll ich im Herbst das Studium wieder aufnehmen. Er trinkt noch einen Schluck, dann setzt er die fast volle Flasche ab, stellt sie ins Gras. Fast mechanisch bückt er sich und beginnt die Decke zusammenzurollen. Er packt ein, was er aus dem Rucksack genommen hat, langsam, er nimmt sich Zeit. Der Zug, der ihn von der Kreisstadt aus zunächst nach Berlin bringen wird, fährt erst in einigen Stunden.
18 Kielstein kann nicht glauben, daß der alte Mann, der da mit einer Plane zugedeckt im Gras unter den Apfelbäumen liegt, so mir nichts dir nichts tödlich verunglückt ist. Der hatte doch seine Sinne noch völlig beisammen und kannte jeden Meter seines Bodens. Gewiß, alles spricht für einen Unfall. Es gibt kein Zeichen von Ge75
waltanwendung, der Arzt hat auf Anhieb Alkoholgenuß festgestellt und von einem Fall berichtet, wo eine Frau in einem noch flacheren Rinnsal ertrank. Wahrscheinlich ist der Alte ausgerutscht und in den Graben gestürzt. Dabei muß er mit dem Kopf auf dem harten Grund aufgeschlagen sein und das Bewußtsein verloren haben. Er ist offenbar ertrunken, obwohl die genaue Prüfung noch aussteht. Und doch kommt dem Leutnant die Sache sonderbar vor. Weshalb muß das dem Rentner Krebs gerade jetzt passieren? Die Nachricht hat Kielstein in der Dienststelle erreicht, im Augenblick, als er mit Felsch nach Reintal fahren wollte. In die „Siedlerquelle“, um sich mit dem Verkaufsstellenleiter Jonas zu unterhalten, der einen hellen Lada mit grünem Aufkleber besitzen soll und ein Grundstück in Seedorf hat. Das muß nun aufgeschoben werden. Der Leutnant ist ganz und gar nicht glücklich über diese Verzögerung. Er konnte noch nicht mit der Frau und den beiden Jungs sprechen, die den Toten gefunden haben; die Gruppe ist von der „Wiesenschenke“ aus Hals über Kopf ins Heimatdorf zurückgefahren. Aber er erwartet auch keine aufregenden Neuigkeiten von ihnen. Interessanter sind der Ort des Geschehens und ganz besonders das Haus des Alten. Kielstein hat es bisher nur von außen gesehen: Mit seinen braunen Bretterwänden, von denen sich grün die Fensterläden abheben, paßt es gut in die Landschaft. Allerdings blättert überall die Farbe ab, und der Zahn der Zeit nagt am Holz. Man bemerkt das deutlicher, wenn man näher herangeht. Und innen setzt sich die Zerfallstendenz fort. Die Schwellen sind abgetreten, die Dielen knarren nicht nur, sie ächzen geradezu, wenn man drauftritt. Über einem Fenster des Vorraums, an den sich ein größeres Zimmer mit Ofen und altmodischen Möbeln anschließt, hat sich ein Stück Tapete ge76
löst und hängt herab. Die Türen schließen schlecht, jenes größere Zimmer, offenbar der Aufenthaltsraum des Alten, ist rußgeschwärzt. Ein langer feiner Riß zieht sich quer über die Decke. Die Haustür war nur angelehnt, als die Kripo eintraf, auch das Gartentor war nicht abgeschlossen. Auf dem Tisch im Zimmer stand eine fast geleerte Flasche selbstgemachten Obstweins, dazu ein halbvolles Glas. Ein zweites Glas und eine zweite leere Weinflasche lagen in einer Plastschüssel in der Küche, sie sollten wohl ausgespült werden. Es sah ganz so aus, als habe der Rentner Besuch gehabt. Die Techniker sind am Werk, fotografieren, suchen nach Spuren, die auf den vermeintlichen Besucher schließen lassen. „Oben ist ein Schlafraum, da haben wir diesen Brief gefunden“, sagt Marion Winze, eine noch junge, aber schon geschätzte Spezialistin des Teams. Kielstein nimmt das graugrüne, beschriftete Kuvert und das linierte Blatt Papier in die Hand. Er geht damit ans Fenster. „An Frau Gloria Steinwill, 2140 Anklam“, steht in großen, mit blauem Filzstift gemalten Buchstaben auf dem Umschlag. Der Brief ist voller Gedankensprünge und nicht ohne orthographische Fehler. Er lautet:
Liebe Gloria! Nun bin ich schon wider eine Weile hier in meinem Garten, die Zeit vergeht so schnell. Ich halte mich gar nicht mehr in der Stadtwohnung auf, seid ich gesehn hab, wie schön Du eingerichtet bist. Bei mir ist alles so alt, auch hier drausen, alt wie ich selber, und wenn Du herkommst, Ende August, hab ich richtig Bedenken. Vielen Dank für alles, wenn ich auch auf den Hund und Deinen Vogel geschimpft hab, das war nicht so gemeint. Aber das Wetter ist wider schön, die Stachelbeeren und die 77
Äpfel machen sich. Da sind welche über mein Zaun gestiegen als ich weg war, ohne was zu klaun. Na das erzähl ich Dir, wenn Du herkommst, Du wirst Dich wundern. Ich will hier nämlich viel neu machen, vor allem den Zaun und im Haus, und ich weis auch schon wie. Da ist einer, der giebt mir, was ich brauch, der hat nie was gegeben, aber jetzt spuckt er’s aus, der hängt nähmlich drin. Das kann ich aber nicht so schreiben, das kann ich blos erzählen, Du verstehst. Die Polizei war schon da, na, den Zaun mach ich auf jeden Fall. Der eine Polizist ist mit mein alten Kahn gefahrn. Hat sich ziemlich dumm angestellt, ich hab bei mir gedacht, mal sehn, ob er widerkommt. Jetzt muß ich aber Schluß machen, ich weis nichts mehr. Ach ja, den Maulwurf hab ich noch nicht erwischt. Sonst geht’s mir bestens. Und ich wünsche Dir dasselbe. Viele Grüße und alles Gute! Dein alter Vater. „Na, ist was mit dem Brief anzufangen?“ fragt Felsch, der sich bisher draußen umgesehen hat und gerade den Raum betritt. „Er wollte ihn offenbar an seine Tochter abschicken; er schreibt über ihren Hund, ihren Vogel und einen Maulwurf; wir kommen übrigens auch vor.“ „Ein schmeichelhafter Zusammenhang.“ „Das kann man wohl sagen“, erwidert Kielstein zweideutig. „Und was schreibt er genau über uns?“ „Daß … daß wir mit Pankaus da waren. Er hatte vor, seinen Zaun neu zu machen.“ „Der Zaun hätte es nötig.“ „Stimmt schon … bloß wie Krebs darüber spricht, ist eigenartig. Es klingt fast, als habe er jemanden erpressen wollen.“ 78
„Du denkst …“ „Ich hatte von Anfang an das Gefühl, daß er uns beschwindelt.“ „Aber was wußte er?“ „Vielleicht den Namen des bewußten Ladafahrers.“ „Ja, das ergäbe einen Zusammenhang.“ „Komm mit zum Wagen“, sagt Kielstein, „wir fahren nach Reintal. Kann sein, daß wir es dort bestätigt kriegen.“ Sie eilen zum Wagen. Felsch versucht an Geschwindigkeit herauszuholen, was auf den holprigen Wegen und der gewundenen Landstraße möglich ist. Doch in der „Siedlerquelle“ angelangt, erleben sie eine Enttäuschung: Jonas ist nicht da. Er sei am Morgen später gekommen, sagt die Verkäuferin, die ihn vertritt, und schon nach einer Stunde wieder weggefahren. Wegen einer Lieferung von Blechen. Ins Großlager. „Wann war das?“ fragt Kielstein und läßt den Blick durch den Raum gleiten. Hier ist alles gepflegt und offenbar gut organisiert. „Vor drei Stunden“, erwidert die Verkäuferin. „Wo ist das Lager? Müßte er nicht längst zurück sein?“ „Eigentlich schon. Das Lager befindet sich im Nachbarort, keine halbe Stunde entfernt. Aber manchmal fährt er auch noch zu einem Kunden. Oder direkt in die Betriebe. Vor allem, wenn was nicht klappt.“ Felsch läßt sich die Nummer des Großlagers geben. Während er vom Nebenraum aus anruft, unterhält sich der Leutnant im Büro weiter mit der Frau. „Passiert es öfter, daß Ihr Chef morgens zu spät zur Arbeit kommt?“ „Nicht oft, aber hin und wieder schon. Er macht ja auch Überstunden.“ „Hat er Ihnen erklärt, weshalb er später dran war?“ „Er sagte, seine Frau habe sich nicht wohl gefühlt.“ 79
„Ist Ihnen an Herrn Jonas heute morgen etwas Besonderes aufgefallen?“ „Was ist denn los“, fragt die Verkäuferin unruhig zurück, „weshalb wollen Sie das alles wissen?“ „Wir klären einen Unfall auf. Wir haben ein paar Fragen an Herrn Jonas – es könnte wichtig sein.“ „Ja dann …“, die Frau zögert. „Etwas Besonderes, ich weiß nicht. Ich glaube, er war aufgeregt.“ „Was hat er getan, solange er hier war?“ „Er ging in sein Büro und telefonierte.“ „Wissen Sie, mit wem?“ fragt Kielstein. „Nein. Mit dem Lager, nehme ich an.“ Felsch kommt zurück: Jonas ist tatsächlich im Großlager gewesen, aber nur kurz. Er hat wegen eines Liefertermins von Blechen vorgesprochen, der nicht eingehalten wurde. Er ist dann wieder weggefahren, wohin, weiß man nicht. Auch zu Hause scheint er nicht zu sein. Jedenfalls geht niemand ans Telefon. „Können Sie mir sagen, wo seine Frau arbeitet?“ fragt Kielstein. „Im ‚Kleinen Warenhaus‘, Abteilung Gardinen.“ „Gut, ich weiß, wo das ist, wir fahren vorbei.“ „Vielleicht ist sie krank“, wendet die Verkäuferin noch ein. „Wir werden sehen. In der Wohnung hat ja niemand den Hörer abgehoben.“ Kielstein geht zur Tür. Felsch schließt sich an, dreht sich dann aber nochmals um: „Es wäre ja möglich, daß wir ihm unterwegs begegnen. Können Sie seinen Wagen beschreiben?“ „Das ist so ein heller Lada. Die Nummer weiß ich nicht.“ „Hat das Fahrzeug vielleicht ein Merkmal, an dem man es erkennt?“ fragt der Kriminalmeister weiter. „Einen Lackschaden, einen Aufkleber?“ „Das ist komisch“, erwidert die Verkäuferin, „nach dem Aufkleber hat mich kürzlich schon mal jemand ge80
fragt. Aber auf so was achte ich nicht. Bin zuwenig an Autos interessiert.“ „Wer hat Sie danach gefragt?“ sagt Kielstein, der stehengeblieben ist, überrascht. „Einer unserer Kunden. Ein sonderbarer Alter, der manchmal herkommt. Opa Krebs.“ Der Leutnant schließt die Tür des Raumes, die er schon halb geöffnet hat, mit einem Ruck wieder. „Das müssen Sie uns unbedingt genauer erklären. Die Zeit haben wir noch.“
19 Das Telefon schrillt. Jonas will hinstürzen und abheben, aber seine Frau, die neben ihm steht, hält ihn am Arm zurück. „Laß das. Im Augenblick ist es besser, wenn wir so tun, als sei niemand da.“ „Es wird Nora sein. Sie ist mit dem Lehrling allein im Geschäft. Sie wundert sich bestimmt, daß ich so lange wegbleibe.“ „Soll sie. Sie kommt schon allein über die Runden, es ist ja nicht das erste Mal. Morgen erfindest du was. Herzbeschwerden. Dein erhöhter Blutdruck.“ „Du meinst, ich soll heute gar nicht mehr in die Verkaufsstelle zurück?“ fragt Jonas. „Schau mal in den Spiegel. Wenn Nora auch nicht die Pfiffigste ist, ein solches Gesicht macht jeden stutzig.“ Jonas schaut nicht in den Spiegel, er läßt sich vielmehr schlapp in einen Sessel fallen. Er sieht tatsächlich schlecht aus. Vorm Hintergrund der mattbraunen rustikalen Möbel, die dem Wohnzimmer jenen Anstrich von solidem Wohlstand geben, den er liebt, wirkt sein Gesicht bleich, verfallen. Alle Kraft scheint ihn mit einem Schlag verlassen zu haben. 81
Auch Helma ist blaß, doch sie wirkt gefaßter. Dieser schlanken, in sich gekehrten Frau steht die Farbe sogar. Sie hat etwas Ätherisches an sich, über das sich ihr Mann bisweilen aufregt. ‚Mitunter hat man den Eindruck, du bist gar nicht da; ich möchte bloß wissen, ob du bei der Arbeit genauso durch die Räume schwebst‘ Aber zu ihren Gardinen paßt dieses Elfenhafte. Auch kommt seine Frau gut mit den Kollegen zurecht. Sie ist zuverlässig und drängt sich keinem auf. Trotz äußerlicher Sanftheit ist sie freilich im Innern kühl und, wie Jonas weiß, auch berechnend. Sonst würden sie sich wahrscheinlich weniger gut verstehen. Ihre Ehe währt ungeachtet etlicher Krisen immerhin bereits vierzehn Jahre. Wenn es darauf ankommt, hält sie zu ihm. Mehr als er zu ihr, das gesteht er sich in sentimentalen Augenblicken selbstkritisch ein. Sie hat auch das mit dem kleinen Mädchen geschluckt, als er vor ein paar Tagen endlich damit herausrückte. Hat sich erregt, es aber letztlich hingenommen. Nun weiß sie in allen Punkten Bescheid. So ist es kein Wunder, daß sie jetzt, da er zusammenklappen will, die Nerven behält. Sie holt die geheiligte Flasche, den „Black & White“, aus dem Schrank und gießt ihm einen Doppelten ins Whiskyglas. „Trink, das wird dir guttun. Den alten Krebs kannst du ohnehin nicht mehr lebendig machen.“ Ein Glück, daß sie Unwohlsein vorgeschoben hat und heute nicht zur Arbeit gegangen ist, denkt er. Mit wem sollte ich die Sache sonst besprechen. Er greift nach dem Glas und schnuppert gewohnheitsgemäß. Allerdings ohne den Geruch wirklich wahrzunehmen. Er sagt: „Aber versteh doch, ich war gestern abend bei ihm. Da bedarf es für die Kripo keiner großen Denkanstrengung, anzunehmen, daß ich den Alten in den Graben gestoßen habe.“ „Stimmt, diese Schlußfolgerung liegt nahe …“ Helma setzt sich jetzt gleichfalls. „Aber als du heute früh noch 82
mal dort warst, um einiges zurechtzubiegen, wie du sagst, hat dich doch niemand gesehen.“ „Kein Mensch. Er war tot und alles still. Bis auf die Vögel. Ich hab’ nichts angerührt, bin sofort wieder weg.“ „Ohne dich umzudrehn.“ Helma lacht nervös. „Das finde ich nicht zum Lachen. Du begreifst, was es bedeutet, wenn sie uns erst mal im Auge haben.“ Jonas schluckt den Whisky mit verzweifeltem Grimm. „Ich begreif es durchaus. Aber sie wissen nicht, daß du bei ihm warst, und werden es auch von keinem erfahren.“ „Wir haben zusammen Wein getrunken. Sein verdammtes saures Apfelgebräu. Er war derart unverschämt, daß ich ihm die volle Flasche hätte auf den Kopf donnern können. Ich hab’ bestimmt Spuren hinterlassen.“ Helma überlegt. Unruhig schiebt sie einen schmalen Goldreif mit auffällig geschliffenem Rubin am Mittelfinger der linken Hand hin und her. „Das ist dumm“, sagt sie schließlich, „aber es nützt ihnen nichts. Niemand hat eine Ahnung, wie gut ihr euch kanntet, niemand wird auf uns kommen.“ „Danke, Helma.“ Jonas richtet sich etwas auf. „Danke, daß du ‚uns‘ gesagt hast.“ „Am besten, wir fahren jetzt aufs Grundstück und tun, als wüßten wir von nichts. In Seedorf wird sich das … Unglück … bald herumsprechen. Dann sind auch wir informiert.“ Sie hat die Initiative ergriffen. Jonas unterwirft sich, was ihm selten passiert. Wahrscheinlich ist, was sie vorschlägt, wirklich am besten. In der „Siedlerquelle“ würde er sich jetzt angebunden, eingesperrt fühlen. Sie verlassen die Wohnung. Helma schließt ab. Auf der Treppe werden sie von einer Nachbarin angesprochen, die erstaunt ist, sie um diese Zeit beide zu Hause zu sehen. Helma erklärt geistesgegenwärtig, sie hätten die einmalige Gelegenheit, sich ein paar alte, gut erhal83
tene Möbel anzusehen, und deshalb freigenommen. Endlich unten, holt Jonas die Wagenschlüssel aus der Tasche, will sich hinters Lenkrad setzen. Doch seine Frau nimmt ihm die Schlüssel ab. „Du hast getrunken, wenn’s der Zufall will, geraten wir in eine Verkehrskontrolle. Das würde uns gerade noch fehlen.“ Sie ist trotz allem erregt, muß zweimal starten, würgt den Motor ab. Dann fährt sie mit einem Ruck an. Wegen solcher Kleinigkeiten meckert Jonas sonst gleich los – diesmal sagt er nichts. Nur als sie einmal unversehens und riskant die Spur wechseln will, zuckt er auf. Sie akzeptiert den Protest und verhält sich nun vorsichtiger. Sie verlassen die Stadt. Auf der Landstraße, wo etwas weniger Verkehr herrscht, sagt Helma: „Sei ehrlich, es braucht uns nicht leid zu tun, daß der alte Krebs tot ist oder?“ Jonas gibt keine Antwort, er starrt vor sich hin. „Seine Anrufe bei uns, seine hinterhältige Art.“ „Er bildete sich ein, er habe sonstwas in der Hand“, knurrt ihr Mann. „Er war gefährlich, das hat Angela auch gesagt.“ Jonas ist überrascht: „Du hast mit Angela darüber gesprochen?“ „Ja. Sie soll ruhig wissen, in was für Schwierigkeiten sie uns gebracht hat. Außerdem betrifft es sie genau wie uns.“ „Ich glaube nicht, daß das gut war“, sagt Jonas. „Besser, niemand hätte was davon erfahren. Auch sie nicht.“ „Angela hält dicht.“ Jonas verfällt erneut in Schweigen, und auch seine Frau sagt nichts mehr. Ohne Zwischenfälle kommen sie in Seedorf an. Es ist früher Nachmittag, die Siedlung liegt ausgestorben da, doch an der Kreuzung zum Strandweg, als Helma einen Radfahrer vorbeilassen und warten muß, beugt sich plötzlich eine junge Frau zum Wagenfenster herunter. „Tag, Herr Jonas, gut, daß ich Sie treffe. War die Kripo schon bei Ihnen?“ 84
Helma zuckt mehr zusammen als ihr Mann. Aber sie hat sich gleich wieder in der Gewalt. „Wieso denn das? Ist etwas passiert?“ „Das haben sie nicht verraten. Sie waren bei uns und wollten wissen, ob wir vor einiger Zeit einen Tramper mitgenommen hätten. Sie tippten auf Georg, wegen unseres Lada. Wir mußten sie enttäuschen, aber dann ist mir noch eingefallen, daß vielleicht Sie das gewesen sein könnten, Herr Jonas. Sie haben doch den gleichen Wagen wie wir.“ Hinter ihnen hupt ein Bus – die Kreuzung ist längst frei. Helma fährt holpernd an. „Diese dämliche Gans“, zischt sie wütend, und in ihren Augen steht Haß, „was geht die unser Auto an.“ Ihre Hände am Lenkrad zittern. „Wir sind verloren, sie werden uns kriegen.“ Jonas’ Worte sind kaum zu hören. „Vielleicht warten sie schon vor dem Grundstück auf uns.“ „Ach was, reiß dich zusammen. Sie suchen nach einem hellen Lada, von der Sorte gibt’s eine ganze Menge. Damit mußten wir doch von Anfang an rechnen. Wir hatten nie etwas mit einem Tramper zu tun!“ „Und wenn sie den Burschen herschleppen, wenn sie eine Gegenüberstellung machen?“ „Dann hat sich der Kerl eben was ausgedacht, um sich selbst zu entlasten. Das haben wir schon hundertmal durchgesprochen.“ Dennoch nähern sie sich dem Grundstück mit einigem Bangen, und als Jonas aus dem Wagen steigt, um das Tor zu öffnen, hält er mißtrauisch nach allen Seiten Ausschau. Doch kein Polizeiauto ist zu entdecken, kein Mann in Uniform oder Zivil erwartet sie. Nur das Enkelkind der Sonnewegs, ihrer Bungalownachbarn, spielt am Zaun. Die übliche Idylle. Etwas beruhigt öffnet der Verkaufsstellenleiter die Gartentür, damit seine Frau den Wagen in die Garage fahren kann.
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20 Angela Kutscher drückt die Zigarettenkippe aus und holt sofort eine neue Salem aus dem Päckchen. Ihr Chef sieht sie nur mißbilligend an, aber Küster, der Abteilungsleiter von Plast II, sagt: „Kannst du denn nicht mal ’nen Augenblick mit der Pafferei aufhören? Die Luft hier drin ist sowieso zum Schneiden.“ „Ich bin ja nicht die einzige, die raucht“, murrt Angela, legt das Päckchen jedoch auf den Tisch zurück. Hanske von Holz und Metall, der ihr direkt gegenübersitzt, zieht hastig noch ein paarmal am Glimmstengel, bevor er dessen Rest im Aschenbecher zermalmt Er ist Kettenraucher, und alle wissen, daß seine Finger schon in der nächsten Minute wieder nach den Stäbchen greifen werden. Sie sitzen im kleinen Versammlungsraum, an dem langen furnierten Tisch, der, seit er hier steht, ziemlich unter den häufigen Sitzungen gelitten hat. Thema ist diesmal die Lage im Zweigwerk des Betriebes, wo es Schwierigkeiten im Fertigungsprozeß gibt. Neue Maschinen sollen einen kräftigen Produktionszuwachs garantieren, doch sie werden nicht richtig ausgelastet. Nur wenige Arbeiter waren bisher dafür zu gewinnen, vom Zwei- zum Dreischichtsystem überzuwechseln. Gerade das aber ist nötig, wenn es in diesem Bereich vorangehen soll. Angela, zum Werkaktiv gehörend, beteiligt sich heute kaum an der Diskussion. Zwar ist die Abteilung Transport direkt betroffen – eine höhere Produktion verlangt eine geschicktere und bessere Auslastung der Fahrzeuge –, aber dafür ist zunächst ihr Chef zuständig. Wenn er nicht klarkommt, wird er sich schon an sie wenden. Das ist seit fünfzehn Jahren nicht anders. Obwohl sie sich den Anschein gibt, zuzuhören, ist sie ganz mit den eigenen Problemen beschäftigt. Sie schaut 86
über die Köpfe ihrer Kollegen hinweg zur gegenüberliegenden Wand auf die verschiedenen, dort angebrachten Urkunden, die der Betrieb für seine Leistungen erhalten hat, und denkt an die Ereignisse der zurückliegenden Tage. Sie ist gespannt und unruhig, ihre Nächte sind miserabel, vor allem in der letzten hat sie kaum geschlafen. Am liebsten würde sie aus der Sitzung rennen, aus dem Betrieb und ziellos durch die Straßen laufen. Wie eine Erlösung kommt es ihr vor, als sie von einer der Sekretärinnen nach draußen ans Telefon gerufen wird. Die Stimme aus dem Hörer klingt fern und fremd, Angela Kutscher erkennt sie im ersten Augenblick gar nicht, dann sagt sie leise, obwohl sie allein in dem kleinen Raum ist: „Kai-Dieter? Weshalb rufst du an, und auch noch hier im Betrieb? Wir hatten doch abgemacht …“ Ihr Sohn am anderen Ende der Leitung unterbricht sie. „Was wir abgemacht haben, gilt nicht mehr. Jedenfalls nicht für mich. Ich bin am Ende, ich werde mich stellen.“ Stille tritt ein. Angela Kutscher ist es, als hätte sie einen Hieb in den Magen bekommen. Sie versucht tief durchzuatmen. Sie flüstert: „Bist du verrückt. Willst du dich unglücklich machen? Willst du alles verderben?“ „Verdorben ist schon genug. So geht es nicht mehr weiter.“ Immerhin ruft er mich noch an, denkt Angela. Also ist nicht alles verloren. Vielleicht kann ich das Schlimmste verhindern. Sie sagt: „Sei doch vernünftig, Kai. Das scheint dir nur so. Tu jetzt nicht etwas, das du ein Leben lang bereust.“ Kai-Dieter lacht böse. „Bereuen muß ich, was bisher war. Das weißt du doch selber. Mit deinen Worten verkehrst du alles ins Gegenteil.“ „Überleg wenigstens noch mal. Überstürz die Sache nicht. In der letzten Zeit ist eine Menge passiert.“ 87
„Es gibt nichts mehr zu überlegen, Mutter. Ich mach’ seit Tagen nichts anderes.“ Plötzlich ist seine Stimme näher, deutlich, als käme sie aus dem Nebenzimmer. Angela fragt erneut flüsternd: „Wo steckst du eigentlich?“ „Ich bin am Bahnhof. Gerade angekommen.“ „Du bist hier? In der Stadt?“ „Hatte ich das nicht gesagt?“ „Nein“, haucht sie, während sie krampfhaft nach einem Ausweg sucht, „ich dachte, du seist weg. An der Ostsee.“ „Na, ist ja gleich. Ich muß jetzt auflegen.“ „Wann kommst du nach Hause?“ fragt Angela. „Weiß ich nicht. Vielleicht gar nicht mehr. Ich lass’ das Gepäck in der Aufbewahrung und geh’ zur Polizei. Kann sein, daß sie mich gleich dabehalten.“ „Hör zu“, sagt Angela hastig, „leg noch nicht auf, warte. Ich … ich bin hier in einer Sitzung, aber das macht nichts. Wir müssen unbedingt miteinander reden, bevor du … na ja … etwas Falsches tust. Ich komme hin zum Bahnhof, sofort. In einer Viertelstunde bin ich da. Wir treffen uns am Tunnelausgang und gehn ein paar Schritte, einverstanden?“ „Aber wozu? Ich hab’ mich entschieden. Ich …“ „Nur das eine Gespräch noch, bitte!“ „Also gut“, sagt er, „meinetwegen. Beeil dich aber.“ Er hängt ein. Sie legt gleichfalls auf, stützt sich wie nach einer schweren Anstrengung mit beiden Händen auf die Tischplatte. Einige Sekunden braucht sie, um zu sich zu finden. Aber sie weiß, daß nichts gewonnen ist. Ihr Chef kommt herein. „Was ist denn los, Angela, wo bleibst du so lange?“ „Ich muß sofort weg, tut mir leid.“ „Was denn, jetzt, mitten in der Sitzung? In der Arbeitszeit?“ 88
„Ja, privat. Es geht nicht anders.“ Er sieht, daß sie ziemlich außer sich ist, und fragt: „Was Schlimmes? Ist was mit deinem Jungen?“ „Nein … Mit … Ach, ich erklär’s dir später. Ich bin bald wieder da.“ Sie läßt ihn einfach stehen und rennt los. Draußen ist es trübe, aber warm, sie braucht nichts überzuziehen. Da sie sowieso an ihrem Arbeitsraum vorbei muß, greift sie sich die Handtasche. Er hat sich bereit erklärt, mit mir zu sprechen, denkt sie, also ist er nicht so entschlossen, wie er tut. Er dreht durch, ich muß etwas finden, das ihn stützt. Der Ort ist klein, hoffentlich hat ihn noch niemand von den Bekannten hier gesehen. Der Narr, kommt mir nichts, dir nichts zurück. Wenn ihn dieser Kielstein jetzt in die Hände kriegt, ist alles aus. Ein Bus in Richtung Bahnhof muß in fünf Minuten fahren – sie bringt es nicht fertig zu warten und hetzt zu Fuß los. Sie denkt an Jonas und ob man ihn einschalten soll. Aber Kai-Dieter würde wohl kaum auf ihn hören, das stellt sich ja nun heraus. Der Ausflug ihres Cousins nach Bracksdorf ist offensichtlich wenig erfolgreich gewesen. Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, ein ungeschickter Schritt, und alles kann auseinanderbrechen. Sie langt am Bahnhof an, eilt durch die Halle zu den Tunneln. Kai-Dieter steht nicht, wie vereinbart, am anderen Ausgang; sie blickt aufgeregt in die Runde und entdeckt ihn schließlich auf einer Bank. Das Bahnhofsgebäude ist hier schon zu Ende, ein kleiner Park beginnt. Der Platz ist nicht ungünstig gewählt, denn Spaziergänger und die Leute, die zu den Zügen wollen, benutzen den seitlichen Weg, an dem die Bank steht, kaum. Angela geht zu ihrem Sohn und setzt sich. Sie unterdrückt eine Regung, ihn zu umarmen, gibt ihm statt dessen nur die Hand. Die er nimmt, ohne seine Mutter anzuschaun. „Guten Tag, Kai-Dieter“, sagt sie leise. 89
„Tag. Es war nicht notwendig, daß du gekommen bist. Du hättest in deiner Sitzung bleiben sollen.“ „Darf ich mich nicht von meinem Sohn verabschieden, wenn er vorhat, ins Gefängnis zu gehn?“ Er sieht sie überrascht an. „Du bist nicht hier, um mich umzustimmen?“ „Ich überlege, ob ich mitkomme. Wahrscheinlich behalten sie uns dann beide da.“ „Hör mal“, sagt er gequält, „daß ich dich mit reingezogen hab’ in diese Geschichte, macht mir am meisten zu schaffen. Du hast es gut gemeint. Aber ich werde erklären, ich hätte alles organisiert, das ganze Vertuschungsmanöver.“ „Nein, nein. Wenn es schon sein muß, dann der Wahrheit entsprechend. Jedem sein Anteil.“ Kai-Dieter starrt vor sich hin. Er scheint schwankend zu werden. Schließlich sagt er: „Ein Kind ist tot, ich seh’s ständig vor mir. Ein Unschuldiger sitzt meinetwegen. Das ist furchtbar.“ Angela wagt es nun, den Arm um die Schulter ihres Sohnes zu legen. „Ich versteh’ dich ja, und wie ich dich verstehe. Vielleicht siehst du das mit dem Unschuldigen zu schwarz, ich nehme an, er ist wegen mangelnder Beweise schon draußen oder wird bald freigelassen, aber trotzdem … Allerdings meint Onkel Ralf …“ „Laß den aus dem Spiel“, knurrt Kai-Dieter und schüttelt den Arm der Mutter ab. „Gut, gut, am besten, wir reden jetzt nicht weiter darüber.“ „Ja, ich muß gehn. Glaub nicht, daß es mir leichtfällt.“ „Warte noch ein paar Minuten, bitte.“ „Nein“, sagt er und springt auf. „Das hat alles keinen Zweck mehr.“ Er stürzt los, quer über den Rasen auf den Hauptweg zu, der den Park in zwei Hälften teilt. Sie rennt hinter ihm her, verheddert sich mit ihren Absätzen im weichen 90
Grasboden. Die Angst verleiht ihr Flügel – obwohl sie kleiner ist und kürzere Beine hat, holt sie ihn ein. Was soll ich bloß machen, um ihn zu stoppen, überlegt sie. „Renn nicht so“, ruft sie, „ich hab’ dir doch gesagt, daß ich mitkomme.“ „Geh in den Betrieb zurück, ich bin kein kleiner Junge mehr, ich will dich nicht dabei haben.“ „Du wirst mich nicht los. Wo willst du überhaupt hin?“ „Zum nächsten Polizeirevier, wohin sonst.“ Plötzlich kommt ihr ein Gedanke. Eine unsinnige Idee, aus der Not geboren. Am Ende des Parks liegt ein kleiner Teich, verschlammt und mit grüner Entengrütze bedeckt. Der Weg, den sie entlangeilen, führt direkt daran vorbei. Ich muß ihn hindern, zu ihnen zu gehen, denkt sie, mit allen Mitteln. Er muß erst mal mit nach Hause. Der Tümpel ist da, sie wechselt die Seite, so daß KaiDieter nun am Wasser läuft. Mit beiden Händen gibt sie ihm einen Stoß, sie legt all ihre Kraft hinein. Es trifft ihn völlig überraschend. Er stolpert, will sich halten, vermag es aber nicht. Er verliert das Gleichgewicht und fliegt in die grünliche Brühe. Sie steht da, schwer atmend und selber etwas erschrocken, zugleich aber entschlossen. Sein Gesicht ist noch immer verblüfft, als er sich aus dem hüfthohen Wasser aufrappelt, in das er voll eingetaucht war. Entengrütze hängt ihm an Jacke und Hose, auch im Haar. Er wischt sich über das nasse Gesicht und sagt wütend: „Das hast du mit Absicht gemacht.“ „Ja. Ich lass’ dich nicht in dein Unglück rennen!“ „Auf diese Weise erreichst du gar nichts.“ „Wie du jetzt aussiehst, kannst du jedenfalls nicht zu denen. Du kommst erst mal mit nach Hause.“ Ein älteres Ehepaar nähert sich, die Frau sagt zu KaiDieter, der aus dem Teich klettert und sich die Algen vom Anzug streicht: „Sie hat Sie gestoßen, ich hab’ es genau gesehen.“ 91
„Das bestreitet ja niemand“, erwidert Angela heftig, „kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.“ „Aber wir …“ Die Frau, empört, will sich nicht so abspeisen lassen, die Sache scheint ihr nicht geheuer. „Nun komm, was gehn dich die Leute an.“ Ihr Mann zerrt sie mit sich fort. Kai-Dieter hat sich etwas gesäubert, doch er ist klitschnaß, das Wasser läuft ihm aus Hose und Hemd. Er zieht die Jacke, die Strümpfe und die schlammverschmierten Turnschuhe aus, rennt barfuß zu einem Gebüsch, wo er die Sachen ablegt. „Deine Manöver nützen nichts, es muß sein“, murmelt er. Sie folgt ihm. „Wir reden zu Hause über alles, ich bin überzeugt, dieser Gammler ist schon frei.“ „Nein, ich bleibe hier, bis die Sachen getrocknet sind. Dann stell’ ich mich.“ „Du wirst dich erkälten“, sagt sie kläglich. „Und wennschon. Außerdem kommt jetzt die Sonne ’raus.“ Diese Sturheit hat er von seinem Vater, denkt die Kutscher verzweifelt, wozu hab’ ich mich bloß ein Leben lang abgestrampelt. Sie heult nun tatsächlich. „Du wirst es bereuen“, sagt sie, „du bereust es, und dann ist es zu spät.“
21 „Noch sehe ich nicht völlig klar“, brummt Kielstein, „aber Jonas scheint unser Mann zu sein. Offenbar war er bei dem Rentner, hat Wein mit ihm getrunken. Die Verkäuferin erzählte, daß Krebs ihn in den letzten Tagen zweimal im Geschäft aufsuchte, und jedesmal verschwanden sie im Büro des Verkaufsstellenleiters. Sie selbst aber hat der Alte gefragt, ob sie was von einem 92
Autounfall wüßte, in den Jonas verwickelt sei, und ob sie sich an einen grünen Aufkleber an seinem Wagen erinnern könnte.“ Bothe, hinter seinem Schreibtisch sitzend, nimmt ein Blatt unliniertes Papier und zeichnet ein rechtwinkliges Dreieck. Er schreibt die Namen Krebs, Jonas und Pankaus an je einen der Eckpunkte. „Machen wir uns ein Bild“, sagt er. „Jonas, der für uns vorläufig noch immer eine Person ohne Gesicht ist, kennt Krebs, weiß sogar, daß der Alte sich vorübergehend bei seiner Tochter aufhält. Er liest aus Gründen, über die wir lediglich Vermutungen anstellen können, den Tramper Pankaus von der Straße auf, nimmt ihn mit auf das Grundstück von Krebs und schiebt ihn später wieder ab. Wir suchen Krebs auf, um Pankaus’ Geschichte zu überprüfen – er behauptet, von der Sache keine Ahnung zu haben. Aber etwas muß er doch wissen oder sich zumindest zusammenreimen, denn er fängt an, Jonas zu erpressen. Das läßt sich aus dem Brief, den du gefunden hast, und aus der Aussage der Verkäuferin schließen. Dann ertrinkt Krebs, ein noch rüstiger Greis, der große Pläne hat und sein Grundstück neu herrichten will. Wie’s aussieht, hat ihn Jonas vor seinem Tod besucht Was schlußfolgern wir?“ Er schaut Kielstein groß an. „Daß wir Jonas unbedingt finden müssen.“ „Dein Glück, daß du dich zurückhältst“, knurrt der Hauptmann. „Ich hätte dir zugetraut, Jonas des Mordes zu bezichtigen, was ein bißchen vorschnell gewesen wäre. Die Frage ist aber, weshalb wir den Mann noch nicht haben.“ „In seiner Wohnung war er nicht, auch seine Frau konnten wir nicht antreffen. Sie hatte sich in ihrer Arbeitsstelle entschuldigt. Felsch ist nach Seedorf gefahren, ich erwarte seinen Anruf.“ „Na gut, nutzen wir die Zeit bis dahin. Wenn Jonas 93
von Krebs erpreßt werden konnte, hatte er etwas zu verbergen. Was war das nach deiner Meinung?“ „Die Tatsache, daß er mit Pankaus ein übles Spiel trieb, nehme ich an.“ Bothe steht auf und kommt hinter dem Schreibtisch hervor. Das Blatt mit der Zeichnung hat er in der Hand. Er hält es Kielstein unter die Nase. „So könnte es sein“, sagt er, „trotzdem bleibt manches im Dunkeln. Uns fehlt ein Verbindungsstück, ein Bezugspunkt.“ „Zwei Punkte fehlen uns.“ „Zwei?“ Kielstein nimmt das Blatt, schiebt auf dem runden Tischchen in der Ecke, neben dem er sitzt, einen Topf mit Grünpflanzen zurück, was der Hauptmann mit einem mißbilligenden Blick quittiert, und greift sich einen Bleistift. Er setzt zwei Punkte unter das Dreieck, schreibt zu dem einen A. Kutscher, zu dem anderen unbekannte Fahrerin. Er zieht eine gerade Linie von Pankaus zu der Unbekannten. „Was fällt dir auf unserer hervorragenden Skizze auf?“ fragt er. „Daß die Kutscher im Leeren hängt.“ „Und unsere unbekannte Chauffeuse im Gegensatz zu den anderen nur an einem Strang.“ Bothe nimmt seinerseits den Bleistift, zieht eine gestrichelte Linie von der Kutscher zu Jonas und nach kurzem Überlegen eine zweite von ihr zu der Unbekannten. „So wären sie alle verbunden, und es ergäbe ein Bild.“ „Dann hätte nach deiner Ansicht die Kutscher Jonas und die Frau in ihrem angeblich gestohlenen Wartburg angeheuert, um uns dieses Manöver vorzutäuschen“, sagt Kielstein, „das halte ich kaum für möglich.“ „Warum?“ „Weil bei dieser Rechnung Pankaus nicht unterzubringen ist. Wie soll die Kutscher ausgerechnet auf ihn gekommen sein?“ 94
„Ist mir auch unklar. Vielleicht gibt es noch andere Lösungen. Eine Verbindung zwischen der Kutscher und Jonas jedenfalls wäre denkbar“, beharrt Bothe, „das müssen wir sofort überprüfen.“ „In Ordnung, ich kümmer mich darum.“ „Und Krebs … vielleicht existierte eine Beziehung der Kutscher zu ihm.“ „Gut, wir werden uns nochmals mit dieser Frau befassen.“ Kielstein will den Raum verlassen. Doch Bothe hält ihn am Arm zurück. „He, du hast was vergessen.“ „Wieso?“ Der Hauptmann deutet mit dem Kopf auf den in die Ecke gequetschten Pflanzentopf: „Nichts, was mit dem Fall zu tun hat. Um die geht’s. Die haben eine Seele und wollen an ihren angestammten Platz zurück.“ „Eine Seele“, knurrt Kielstein, „was denn noch? Findest du nicht, du übertreibst ein bißchen? Als wenn das Zeug jetzt so wichtig wäre.“ Er nimmt den Topf und rückt ihn mit unrespektierlicher Heftigkeit in die Mitte des Tisches. Dann rennt er achselzuckend hinaus.
22 Jonas’ Wochenendhaus soll am Ende des Dorfes liegen, Felsch fährt an die Uferpromenade heran, soweit es möglich ist, und stellt dann den Wagen ab. Eins der Grundstücke dort drüben muß es sein – er legt das letzte Stück Weg lieber zu Fuß zurück. Ein paar Erlenbäume, ein Kiosk, der geschlossen hat. Felsch geht die Gärten entlang: ein Haus, prunkvoll mit seinem bunten Glas und zwei viereckigen Türmchen, interessiert ihn besonders. Der Name Schreiber an der Gartentür klingt zu schlicht für dieses Bauwerk. Doch schon 95
folgt ein Anwesen mit einem prächtigen Steingarten, und dann ist er an der richtigen Adresse. Ein gestrecktes flaches Gebäude hinter einem schmiedeeisernen Zaun, glattgeschorener Rasen mit ein paar Zierbüschen, ein kleiner Springbrunnen, eine Kellergarage. Der Sockel des Hauses aus Klinkersteinen, sonst der übliche Rauhputz. Große Fenster, dahinter dicke Gardinen. Eventuelle Nebengebäude zum See hin entziehen sich Felschs Blick. Das Gartentor ist verriegelt, im Haus alles still – nichts deutet auf die Anwesenheit der Bewohner hin. Dennoch drückt der Kriminalmeister den Klingelknopf, deshalb ist er schließlich hergekommen. Von hier aus ist nicht zu hören, ob die Glocke überhaupt anschlägt. Er wartet einige Sekunden, versucht es ein zweites Mal. Zu seiner Überraschung öffnet sich die Haustür, und eine Frau erscheint. Sie ist mittelgroß, hat ein schmales Gesicht und sorgfältig frisiertes dunkelblondes Haar. Mit schwebenden Schritten kommt sie über den Weg aus rötlichen Steinplatten auf ihn zu. „Kriminalmeister Felsch, spreche ich mit Frau Jonas?“ „Ja, das bin ich, was wünschen Sie?“ „Ich habe ein paar Fragen an Ihren Mann.“ „Mein Mann ist nicht da, worum geht es denn?“ „Darf ich hereinkommen?“ Sie zögert, öffnet dann aber die Gartentür. „Bitte.“ Felsch tritt ein und geht an ihr vorbei auf das Haus zu. „Wo ist Ihr Mann?“ „Mit dem Motorboot weg, vor zwanzig Minuten.“ „Wann kommt er zurück?“ „Das weiß ich nicht, er bleibt bestimmt eine Weile. Es ging ihm heute nicht gut, da hatte er Erholung nötig.“ Sie betreten das Haus; an einen kleinen Flur mit Spiegel und Garderobenablage schließt sich ein größerer Raum an. Er ist mit einem Kamin und bequemen Sitzmöbeln ausgestattet. Die Wände sind bis zur Decke hoch mit Birkenholz getäfelt. 96
„Ihr Mann fährt einen hellen Lada“, stellt Felsch sachlich fest. „Ja. Ist er etwa zu schnell gefahren?“ „Nein, nein. Der Besitzer eines solchen Wagens könnte für uns ein wichtiger Zeuge sein. Es geht um eine komplizierte Untersuchung.“ „Ich glaube nicht, daß mein Mann in einer Verkehrsangelegenheit dienlich sein könnte“, sagt sie vorsichtig. „Wenn etwas gewesen wäre, hätte er mir sicherlich davon erzählt.“ Felsch weiß nicht genau, was er von Kielsteins Vermutungen vor der Frau preisgeben soll. Es wäre ja möglich, daß sie Jonas deckt und sich nur informieren will. Er sagt: „Ich möchte Ihren Mann lieber selbst fragen. Vielleicht ist er nicht weit draußen auf dem See, und man kann ihn rufen.“ „Das glaube ich kaum, er ist bestimmt durch den Kanal gefahren. Wir können es trotzdem versuchen. Am besten, wir gehn zum Bootssteg.“ „Besitzen Sie ein Fernglas?“ „Ja, aber das hat mein Mann mit.“ „Na, läßt sich nicht ändern. Müssen wir uns eben auf die Schärfe unserer Augen verlassen.“ Felsch bemüht sich, verbindlich zu sein. Frau Jonas schwebt voran, und sie verlassen das Haus über eine Terrasse auf der Seeseite. „Hier läßt sich’s leben“, sagt Felsch, als er die Hollywoodschaukel sieht, die Liegestühle, den mit Gras und Büschen bewachsenen Uferstreifen, der von der Nachmittagssonne bestrahlt wird. „Es macht aber auch eine Menge Arbeit, das in Schuß zu halten.“ Sie weist auf einen Bauschutthaufen neben einem Schuppen. „Da mögen Sie recht haben.“ Sie gelangen zum Bootssteg, der solide gebaut ist und eine weiß gestrichene Brüstung hat. Er ragt etwa drei 97
Meter ins Wasser hinein und ist vorn verbreitert; gewiß kann man hier einen Tisch sowie ein paar Klappstühle zum Kaffeetrinken aufstellen. Rechts vom Steg befindet sich das Bootshaus, es steht offen und ist leer. Dann stimmt wohl, was die Frau erzählt hat. „Ich kann ihn nicht entdecken …“ Frau Jonas hält die Hand als Schirm über die Augen. „Das Boot da hinten links?“ „Nein, das ist er nicht.“ „Und das andere fast im Schilf?“ „Auch nicht. Auf keinen Fall.“ Felsch überlegt. Er könnte sich auf dem Grundstück einnisten und abwarten – auszuhalten wäre es hier. Aber wenn Jonas wirklich in die Angelegenheit Krebs — Pankaus verwickelt ist, kommt es auf jede Stunde an. Wer weiß, wann er sich zurückbequemt, vielleicht muß man vorher was unternehmen. Was hat die Frau vorhin erzählt – daß es dem Verkaufsstellenleiter heute nicht gut ging? Er fragt: „Was fehlt denn Ihrem Mann?“ „Wieso? Was meinen Sie?“ „Na, Sie haben doch davon gesprochen, daß er mit dem Boot wegfuhr, weil er sich erholen mußte.“ „Ach ja. Er hatte wiedermal seine Herzbeschwerden. Er hat sich etwas hingelegt, und dann, als ihm besser war, ist er los.“ „Gab es in den letzten Tagen Aufregung?“ Sie sieht ihn aus leicht verschleierten Augen treuherzig an: „Nichts Besonderes. Seine Arbeit, wissen Sie. Der ständige Streß.“ Felsch entschließt sich. Er wirft noch einen bedauernden Blick auf den See, wo jetzt einige Segelboote kreuzen, und sagt: „Hier draußen ist es so schön, daß ich am liebsten eine Weile bleiben und auf Ihren Mann warten würde. Aber ich muß weiter. Bitte, er soll diese Nummer anrufen, wenn er zurückkommt. Wir müssen unbedingt mit ihm sprechen.“ 98
Er drückt der Frau einen Zettel in die Hand und geht. Zum Wagen zurückgekehrt, setzt er sich mit der Dienststelle in Verbindung. Er erreicht Kielstein und erstattet ihm kurz Bericht. „Wie machen wir weiter?“ fragt er. „Du bist sicher, daß er wirklich mit dem Boot weg ist?“ „Wir waren am Wasser. Das Bootshaus war leer.“ „Gut. Dann such dir einen günstigen Platz in der Nähe, wo du das Haus beobachten kannst. Und ihn im Auge hast, wenn er heimkehrt. Mach’s möglichst unauffällig. Ich komme nach Seedorf und bringe Pankaus mit. An Ort und Stelle sehn wir weiter.“ „Wie verhalte ich mich, wenn die Frau aus dem Haus gehen sollte?“ fragt Felsch noch. „Das dürfte kaum passieren, solange Jonas nicht zurück ist. Du wartest in jedem Fall auf uns.“
23 Jonas kommt aus dem kleinen Nebenraum, in dem er die ganze Zeit still, aber voller Unruhe gesessen hat, und fragt: „Ist er endlich weg?“ „Ja“, erwidert Helma, „endlich, ich dachte schon, er wird am Steg Posten beziehn.“ „Und … was wollte er?“ „Dich unbedingt sprechen. Hier, du sollst diese Nummer anrufen, wenn du zurück bist.“ Sie legt den Zettel auf den Tisch. Jonas läßt sich schwer in einen Sessel fallen, er schaut den Zettel nicht an. „Ich hätte gleich mit ihm reden sollen. Was haben wir nun gewonnen.“ „Ich konnte doch nicht wissen, daß er so hartnäckig sein würde“, rechtfertigt sich seine Frau. „Ich dachte, er fragt nach dem Wagen und ob du einen Anhalter mitge99
nommen hast. Ich hätte das verneint, und fertig. Aber danach erkundigte er sich höchstens indirekt.“ „Was soll das heißen, indirekt?“ „Er behauptete, als Fahrer eines hellen Lada könntest du ein wichtiger Zeuge für sie sein.“ „Aber das ist es doch …“, sagt Jonas aufgeregt. „Ein Zeuge, auf den sich dieser Pankaus berufen will. Dann ist er draußen, und wir hängen drin. Ich, Angela mit dem Jungen. Sie haben es dir nur nicht so dick aufs Butterbrot geschmiert.“ „Angela, Angela, ich kann den Namen nicht mehr hören.“ „Jedenfalls vermuten sie etwas und wollen es aus mir rausholen. Sonst wäre der Schnüffler nicht so vorsichtig gewesen. Und nicht so aufdringlich.“ „Ein Grund mehr, ihnen ausgeruht und mit Überlegung entgegenzutreten“, sagt sie. „Du hast gut reden. Wie stellst du dir das vor?“ Helma geht zu ihm und legt ihm die Hand auf die Schulter, eine Geste der Verbundenheit. „Du nimmst nach dem Abendbrot eine Faustan und schläfst dich gründlich aus. Morgen rufst du sie von der Verkaufsstelle aus an. Sollen sie kommen und dich befragen. Ich bin überzeugt, sie bluffen nur.“ „Und Krebs?“ „Der Kriminalist hat ihn nicht erwähnt, sie haben keine Ahnung, daß du ihn besucht hast.“ „Wie schön, wenn du recht hättest“, seufzt Jonas. „Wär’ ich bloß gestern nicht bei dem Alten gewesen.“ Er steht auf und schickt sich an, den Raum zu verlassen. „Wo willst du hin?“ „Auf die Terrasse, an die frische Luft.“ „Aber das geht jetzt nicht, die Kripo ist vielleicht noch in der Nähe. Es wäre überhaupt besser, wenn du dich heute im Haus aufhieltest.“ Jonas bleibt stehen und lacht trocken. „In den eignen 100
vier Wänden eingesperrt, wirklich, das hast du wunderbar hingekriegt Haben wir wenigstens was zu trinken?“ „Der Whisky ist alle geworden. Eine Flasche HerrenKirsch steht noch in der Küche …“ „Immerhin besser als Obstwein“, murmelt Jonas unzufrieden und verläßt das Zimmer, um den Likör zu holen.
24 Jochen Pankaus sitzt neben Kielstein im Wagen, er starrt zum Fenster hinaus und ist aufgeregt. Die Neubauten rechts und links ziehn vorbei, einige Straßenkreuzungen, eine Autobahnbrücke. Sie verlassen die Stadt, aber er nimmt es kaum wahr. Wird er dem Mann, der plötzlich so wichtig für sein Leben geworden ist, in Kürze gegenüberstehen oder nicht. Leutnant Kielstein hat ihm erklärt, sie hätten den Lada-Fahrer, der ihn damals mitgenommen hat, möglicherweise aufgetrieben. Pankaus weiß, daß er ihn wiedererkennen wird. Wenn er ihn auch schlecht beschreiben kann – erkennen wird er ihn. Die vierzehn Tage, die hinter ihm liegen, sind wie ein finsterer Traum, der nun glücklicherweise zu Ende scheint. Selbst wenn es nicht der bewußte Mann sein sollte, auf den sie dort treffen, inzwischen glaubt man ihm, dem Tramper. Vielleicht nicht in jedem Punkt – zu verrückt hat sich alles abgespielt –, aber doch im großen und ganzen. Was freilich auch höchste Zeit wurde. Anfangs kam ihm die Beschuldigung, ein Kind totgefahren zu haben, noch wie ein übler Scherz vor, doch als er begriffen hatte, wie ernst man es meinte, war er doch in die Knie gegangen. Zeitweise sah es ja so aus, als wende sich jedes Wort, das er zu seiner Verteidigung vorbrachte, gegen ihn. 101
Das ist glücklicherweise vorbei, noch heute wird er nach Hause zurück können. In der Zwischenzeit hat er ein paarmal mit seinem Vater gesprochen, den Alten nimmt die Sache fast noch mehr mit als ihn selbst. Aber er hat sich alles in allem topp verhalten. Hat ihm geglaubt und Mut zugesprochen; sogar zu diesem Bothe ist er gegangen, um mit ihm zu reden. Wenn’s auch zunächst so aussah, als wär’ alles für den toten Hund. Und nun ist er, Jochen, gespannt auf das Gesicht von diesem Lada-Mann, auf das, was er erzählen und wie er reagieren wird. Ist dem Protz wahrscheinlich peinlich, ihn damals so abgeschoben zu haben. Na, inzwischen geht’s um ganz andere Dinge. Sie fahren jetzt die Landstraße entlang, und mitten in die Gedankengänge von Pankaus hinein sagt Kielstein: „Und was willst du machen, wenn du wieder zu Hause bist?“ „Was ich machen will?“ „Hast doch deine Arbeit geschmissen, oder?“ „Ja, hab’ ich. War nicht das Richtige.“ „Warum?“ „Immer bloß Spielzeug in die Kartons packen, tagaus, tagein.“ „Gut, das mag eintönig sein. Obwohl’s manche ein Leben lang tun müssen. Aber so rumgammeln, das wird auch nichts. In der Spielzeugfabrik läßt sich vielleicht was Interessanteres für dich finden.“ „Ich wollte lieber ins Zentrallager, mal was Neues kennenlernen.“ „Denkst wohl, dort sitzt du an der Quelle.“ „Doch nicht deswegen“, erwidert Pankaus, der sich durchschaut fühlt. „Das überleg dir“, sagt Kielstein. „Man soll die Pferde nicht zu oft wechseln. Warst eigentlich gar nicht so schlecht angesehn in deinem letzten Betrieb. Ich kenne den stellvertretenden Direktor, hab’ mit ihm gespro102
chen. Er hat morgen ’ne Stunde Zeit für dich. Vormittags um zehn.“ „Ist das ’ne Anordnung?“ „Ist’s nicht. Aber Hauptmann Bothe meint auch, du solltest dich mit dem Mann unterhalten. Und deinem Vater würdest du bestimmt einen Gefallen tun.“ Sie biegen von der Straße ab, und das Gespräch verstummt. Pankaus denkt, daß es ihm peinlich ist, zu diesem Direktor zu gehn, daß er’s aber wahrscheinlich tun wird. Nicht Kielstein zuliebe, sondern wegen seines Vaters. Und vielleicht ist es wirklich so was wie ein neuer Beginn. Kielstein ist etwas anderes peinlich – er hat einen Unschuldigen in die Mangel genommen. Ziemlich kräftig sogar in der ersten Zeit. Er tröstet sich damit, daß es eben nur anfangs war, als man nichts wußte oder das Falsche. Zum Glück konnte man sich noch korrigieren. Sie erreichen Seedorf, halten neben Felschs Wagen. Langsam wird es Abend, die Schatten der Bäume kriechen über die Wege. Der Kriminalmeister ist zunächst nicht zu entdecken, kommt dann jedoch vom Ufer her auf sie zu. Eilig, er kneift die Augen zusammen, was bei ihm bedeutet: Er ist ärgerlich. „Na, wie steht’s, ist Jonas zurück?“ „Von wegen zurück. Ich glaube, er war gar nicht weg.“ „Aber vorhin hast du mir doch erzählt …“ „Deshalb bin ich ja so wütend“, knurrt Felsch, „diese blonde Nymphe hat mich offenbar reingelegt. Ich Idiot starre wie magnetisiert aufs Wasser, dabei schlürft der Herr Verkaufsstellenleiter vielleicht in seinem Stübchen einen Mokka. Und reißt Witze über die dämlichen Polizisten.“ „Erklär uns das mal genauer“, verlangt Kielstein mit einem Blick auf Pankaus. „Da gibt’s nicht viel zu erklären. Ich hab’ ihr geglaubt, weil das Boot weg war. Aber jetzt sagt mir ein Nachbar, 103
es sei zur Reparatur, er habe gesehen, wie sie es gestern weggefahren hätten.“ „Und du meinst, Jonas ist im Haus?“ „Wenn er woanders wäre, hätte seine Frau nicht die Geschichte von der Erholung auf dem See erfunden.“ „Da magst du recht haben.“ Kielstein lacht plötzlich. „Beruhige dich. Wenn sie dich beschwindelt hat, dann nicht ohne Grund. Das kommt uns entgegen, es bestärkt den Verdacht.“ „Gehn wir ’rein?“ „Ja, aber wir halten unseren Trumpf noch einen Augenblick zurück. Im Falle, daß Jonas doch nicht dasein sollte. Herr Pankaus, Sie bleiben bitte im Wagen, bis wir Sie holen.“ Kielstein steigt aus, die beiden Kriminalisten gehn zum Grundstück des Verkaufsstellenleiters, und Felsch drückt heftig den Klingelknopf. Er läßt auch nicht ab, als es drinnen zunächst still bleibt. Nach einer Weile öffnet sich ein Fenster. Frau Jonas ruft gereizt: „Sie schon wieder? Was wollen Sie? Mein Mann ist noch nicht zurück.“ „Bitte, lassen Sie uns ins Haus. Wir möchten uns mit Ihnen unterhalten, aber nicht hier draußen“, sagt Kielstein bestimmt. Die Frau ist durch den Ton und das neue Gesicht beeindruckt. Sie will etwas entgegnen, läßt es dann aber. Sie verschwindet vom Fenster. Es dauert einige Augenblicke, bis sie die Gartentürverriegelung zurücknimmt, diesmal vom Haus aus. Dann steht sie mit abweisender Miene auf der Schwelle. „Was gibt es denn so Wichtiges?“ „Wir möchten Ihren Mann sprechen“, sagt Kielstein, als er vor ihr steht. „Wo ist er?“ „Ich habe Ihrem Mitarbeiter doch …“ „Ja, ja, Sie haben ihm ein Märchen erzählt. Ihr Mann ist nicht auf den See rausgefahren, das Motorboot befindet sich in Reparatur.“ 104
„Hören Sie …“, Frau Jonas sucht offenbar nach einem Ausweg, ihre Stimme bebt, „das mit der Reparatur stimmt schon, aber …“ Kielstein ist ins Wohnzimmer gegangen, er sieht sich suchend um. Ein einzelnes benutztes Likörglas steht auf dem Tisch. „Aber?“ fragt er. Die Frau will antworten, doch im gleichen Augenblick ertönt nebenan ein Geräusch. Ein Stuhlscharren oder ein unabsichtlicher Stoß mit der Sandale gegen ein Tischbein. Kielstein ist im Nu an der entsprechenden Tür. Als er den Knauf in die Hand nimmt, wird sie bereits von der anderen Seite geöffnet. Er steht vor einem untersetzten Mann in gelb gestreiftem Sommerhemd, der einen leicht aufgelösten Eindruck macht, sich jedoch um Haltung bemüht. „Laß nur“, sagt Jonas zu seiner Frau, „laß jetzt das Versteckspiel.“ „Das würde ich auch empfehlen“, stimmt Kielstein zu. „Was hat Sie beide überhaupt dazu bewogen?“ Schweigen. Jonas wirft seiner Frau einen Blick zu, und sie sagt: „Es ging ihm nicht gut, da wollte ich Störungen von ihm fernhalten.“ „Und deshalb führen Sie meinen Kollegen so an der Nase herum?“ Frau Jonas gibt keine Antwort, ihr Gesicht wirkt mit einemmal erhaben und unberührbar. Ihr Mann, wieder sicherer, fragt: „Was wollen Sie von mir wissen?“ „Haben Sie vor etwa vierzehn Tagen auf der Straße von Reintal hierher in Ihrem Lada einen jungen Mann mitgenommen, einen Anhalter?“ „Nein, ich kann diese Brüder, die zu faul zum Laufen und Arbeiten sind und im Sommer an jeder Biegung stehn, auf den Tod nicht verknusen.“ „Sie erinnern sich genau?“ „Ich habe niemanden mitgenommen.“ 105
„Gut“, sagt Kielstein, „dann die zweite Frage: Waren Sie gestern gegen Abend auf dem Grundstück von Herrn Krebs?“ Jonas wird sichtlich blaß, auch seine Frau gibt für Sekunden die gespielte Gleichgültigkeit auf. Beide fassen sich jedoch schnell, und er erwidert: „Herr Krebs, wer soll das sein?“ „Sie haben keine Ahnung?“ „Er meint vielleicht den alten Mann, der seinen Garten ganz am anderen Ende des Dorfes hat“, murmelt die Frau. „Ach, von dem sprechen Sie?“ „Ja“, erwidert der Leutnant, „von dem. Sie kennen ihn doch. Waren Sie gestern bei ihm?“ „Nein, wie kommen Sie darauf?“ „Bestimmt nicht?“ „Wenn ich es sage.“ Plötzlich steht Felsch, der wie verabredet nach draußen gegangen war, in der Tür. Hinter ihm taucht Jochen Pankaus auf. „Na, ist er’s?“ fragt Kielstein. „Ja, kein Zweifel.“ Pankaus ist sichtlich erregt. „Mann, haben Sie mich reingelegt“, sagt er zu Jonas. „Eine richtige Gemeinheit war das. Sie haben mir da was eingebrockt!“ Diesmal zeigt der Verkaufsstellenleiter keine Schwäche. „Wer ist das?“ fragt er scheinbar erstaunt. „Was will der von mir?“ „Sie erkennen ihn nicht wieder? Das ist der Anhalter, den Sie vor vierzehn Tagen auf das Grundstück von Krebs mitgenommen haben.“ „Ich hab’ keinen Tramper mitgenommen, der junge Mann irrt sich.“ „Ich irre mich nicht“, ruft Pankaus wütend, „dieser Kerl hat mich erst eingeladen und dann verladen. Genau der.“ 106
„Na, da sind Sie uns wohl eine Erklärung schuldig, Herr Jonas.“ Kielsteins Stimme ist kalt und ruhig. „Sie werden einem solchen Burschen doch nicht mehr glauben als mir.“ „Ich glaube ihm mehr“, sagt Kielstein. „Es gibt ein paar Dinge, die nicht gerade für Sie sprechen. Deshalb wäre es gut, wenn Sie beweisen könnten, daß der kleine Scherz, den Sie sich damals mit ihm erlaubt haben, ein harmloser Scherz war.“ „Nichts werde ich beweisen, nichts … Das ist ein Trick, eine Verschwörung …“ Jonas schaut erneut hilfeheischend zu seiner Frau, doch die steht mit einem zur Maske erstarrten Gesicht nahe der Tür und schweigt. „Fakten zu leugnen ist zwecklos, Herr Jonas. Pankaus wurde auf das Grundstück von Krebs gebracht, und Sie kannten den Rentner besser, als Sie zugeben wollen, das haben wir bereits ermittelt. Wir haben auch Fingerabdrücke auf Weingläsern bei Krebs genommen. Ich vermute sehr stark, daß sie von Ihnen stammen.“ „Ich … damit hab’ ich nichts zu tun“, der Widerstand des Verkaufsstellenleiters ist noch nicht gebrochen. „Wie Sie wollen. Auf jeden Fall kommen Sie jetzt mit. Wir unterhalten uns an anderem Ort weiter.“ Jonas will noch protestieren, aber schließlich fügt er sich. Sie verlassen das Haus, wo die Frau nach wie vor ohne eine Äußerung zurückbleibt. Als sie in die Wagen steigen wollen, faßt Pankaus den Leutnant am Ärmel: „Da ist noch was … vielleicht …“ Jonas sitzt schon im Wagen. Kielstein fragt leise, aber alarmiert: „Was denn, sind dir etwa Zweifel gekommen?“ „Nein, nein, ich denke nur die ganze Zeit über seine Frau nach. Von der Gestalt her könnte sie es sein.“ „Wer?“ „Na, die in dem geklauten Wartburg.“ „Sagst du das im Ernst?“ 107
„Ich bin mir nicht sicher. Wenn ich ihre Stimme gehört hätte! Sie hat ja die ganze Zeit über kein Wort geredet.“ Natürlich – in Kielsteins Hirn fällt eine Barriere. Die Erleuchtung: Warum ist er nicht selbst daraufgekommen? Frau Jonas hat mit Felsch und ihm gesprochen, aber als Pankaus auftauchte, ist sie verstummt. Mit keinem Wort mehr hat sie ihrem Mann von da an zu helfen versucht. Er dreht sich auf dem Absatz um und hetzt zum Garten zurück. Mit einem Sprung setzt er über den nicht allzu hohen Zaun. Die Haustür ist zu, aber im Gegensatz zu vorhin steht die Garage offen. Die Frau sitzt bereits hinter dem Steuer des Lada. „Sie sollten wieder aussteigen, Frau Jonas, Sie müßten ohnehin noch das Gartentor öffnen. Aber diese Mühe brauchen Sie sich nicht zu machen, Sie fahren besser mit uns.“ „Weshalb ich?“ fragt sie dumpf aus dem Wageninnern. „Weil Sie möglicherweise aktiv an der ‚Variante Tramper‘ beteiligt waren und weil ich endlich den wirklichen Zusammenhang der Ereignisse erfahren möchte.“
25 Nun ist Regen aufgekommen, ein graues weiches Tuch, das sich auf die Stadt legt und den Straßenlärm dämpft. Manche Leute sind nicht gerade begeistert, denn das Wochenende steht bevor, aber Bothe findet bei solchem Wetter zu Kindheitserinnerungen zurück. Zu Tagen, da er, am Fenster sitzend, die Straße voller Pfützen vorm Haus betrachtete. Schlammig und von den Pferdefuhrwerken zerfurcht, die zur Kreisstadt wollten. Außerdem 108
empfindet er die Abkühlung, die mit dem Regen verbunden ist, als angenehm. Der Fall Fahrerflucht an der Eisenbahnbrücke in Reintal, der durch die „Variante Tramper“ so verwirrend schien, liegt mittlerweile klar auf der Hand. Jonas versuchte seine Schuld zwar bis zuletzt zu vertuschen, aber durch das Geständnis Kai-Dieter Kutschers, der mit seiner Mutter zur Polizei kam, als man ihn gerade holen wollte, wurde sein Widerstand gebrochen. Eine raffiniert ausgedachte Geschichte, wie sie Bothe in seiner Praxis noch nicht begegnet ist. Nur in einem Punkt gibt Jonas nicht nach. Er bestreitet entschieden, den Tod des Rentners Winfried Krebs verursacht zu haben. Er könne zwar nicht leugnen, daß er am Abend vor dem Unfall bei dem Alten gewesen sei, aber als er ihn verlassen habe, sei Krebs so lebendig und unverschämt wie stets in der letzten Zeit herumspaziert. Er habe sich offenbar schon als Besitzer eines völlig umgemodelten und neu hergerichteten Grundstücks gesehen. Bothe glaubt diese Geschichte nicht, und Kielstein will sich erst recht nicht damit zufriedengeben. Es stimmt, sie haben keinerlei Spuren eines Kampfes gefunden und nichts, was auf Tod durch Einwirkung eines anderen Menschen schließen ließe. Doch die Umstände sind verdächtig, ein Motiv ist vorhanden, und es gibt insofern noch eine Möglichkeit der Aufhellung, als ein paar Laboruntersuchungen ausstehen. Deshalb setzt der Leutnant seine Bemühungen fort, hat noch einmal die Frau von Jonas zur Vernehmung holen lassen. Bothe, der wegen eines anderen Delikts aufgehalten wurde, betritt gerade den Raum, als der Leutnant sagt: „Ich will Ihnen beschreiben, wie sich die Sache zugetragen hat. Ich glaube, daß Ihr Mann Herrn Krebs tatsächlich verlassen wollte. Sie hatten beide getrunken, sich gestritten und gingen wütend auseinander. Oder besser, nur Jonas war wütend, Krebs triumphierte. Deshalb lief der Alte 109
ihm bis zum Gartentor nach und schrie ihm einige höhnische Worte hinterher.“ „Ja und?“ „Ihr Mann wollte sich, angetrunken wie er war, in den Wagen setzen. Doch plötzlich überlegte er es sich anders und kehrte um. Krebs sah das nicht, er war zurückgegangen, allerdings nicht zum Haus, sondern zum Graben. Wahrscheinlich um ein Bedürfnis zu erledigen.“ „Dann würde er das Gartentor abgeschlossen haben“, sagt die Frau nervös. „Wie hätte mein Mann unbemerkt hineingelangen sollen?“ „Das Tor blieb offen, weil Krebs den Schlüssel im Haus gelassen hatte.“ Die Frau schweigt. Ihr Gesicht ist verschlossen. „Frau Jonas, Sie haben sich von Ihrem Mann dazu bewegen lassen, beim Vertuschen der Fahrerflucht mitzuwirken. Sie haben einen unschuldigen Menschen schwer belastet. Wollen Sie nicht ein Minimum Ihres Vergehens wiedergutmachen, indem Sie uns jetzt helfen, die Wahrheit zu finden?“ Plötzlich fängt Frau Jonas zu weinen an. Sie sucht nach einem Taschentuch und wischt sich die Tränen aus den Augen. „Ich hab’ doch anfangs nicht gewußt, daß ein Kind totgefahren worden war“, sagt sie, „ich dachte zuerst, es ginge bloß um einen Unfall.“ „Sie wollten es nicht wissen, haben Ihren Mann gar nicht danach gefragt.“ „Aber das mit Krebs war er nicht, ich schwöre es.“ Bothe schiebt Kielstein ein Blatt über den Tisch. Der Leutnant überfliegt es, legt es vor sich hin. „Hier ist ein Laborbericht, auf den wir gewartet haben. Die Bestätigung, daß frische Bauschuttreste, die wir am Graben fanden, winzige Reste, in ihrer Beschaffenheit dem Schutt neben Ihrem Schuppen entsprechen. Sie könnten von den Schuhsohlen Ihres Mannes stammen. Wieso 110
beschwören Sie, daß er nichts mit dem Tod des Rentners zu tun hat?“ Da schluckt Frau Jonas zweimal, holt tief Luft und erwidert zur Verblüffung der Kriminalisten: „Weil ich es gewesen bin.“
26 Kielstein ist aufgesprungen, er hat beide Hände auf den Schreibtisch gestützt und starrt die Frau an; nicht gerade gescheit, wie Bothe bei sich vermerkt. Aber wer soll ihm das übelnehmen. „Bitte, sagen Sie das noch mal“, verlangt er tonlos, „wenn es Ihr Ernst ist und kein neuer Trick.“ „Es ist mein Ernst, ich war’s, ich hab’ ihn in den Graben gestoßen, und ich bin froh, daß ich das Furchtbare endlich loswerden kann, alles …“ Kielstein setzt sich wieder, Bothe kommt langsam nach vorn und läßt sich, seitlich von der Frau, gleichfalls nieder. „Erzählen Sie“, verlangt er. „Ich wußte, daß Jonas dieses Gespräch hatte“, beginnt sie und benutzt erstmals den Familiennamen wie bei einem Fremden. „Krebs saß ihm mit seiner Erpressung im Nacken und ließ nicht locker. Das Eigenartige war, daß er nichts Konkretes in der Hand hatte, aber das Richtige vermutete. Er versuchte sich überall umzuhören. Nach allem, was geschehen war, stellte er für uns eine große Gefahr dar. Am schlimmsten fand ich, daß mein Mann bei diesen Angelegenheiten, in die wir durch seine Cousine geraten waren, jegliche Initiative eingebüßt hatte. Zum erstenmal, solange ich mich erinnern kann, wußte er nicht, wie er reagieren sollte. Es war für mich unerträglich, daß er seine Energie verlor. Deshalb bin ich ihm an diesem 111
Abend gefolgt. Das heißt, er nahm den Wagen, ich das Fahrrad, so kam ich einige Zeit später bei Krebs an. Ich hatte nicht die Absicht, mich in das Gespräch einzumischen. Es war Unruhe, die mich trieb, ich wollte Bescheid wissen … Ich lehnte das Rad ein Stück vom Tor entfernt an den Zaun, neben einem Busch, so daß man es vom Haus aus nicht entdecken konnte. Die Gartentür war offen, und ich ging einfach zum Haus. Ich blieb draußen am Fenster. Ich konnte sie nicht sehen, hörte sie aber streiten. Krebs hatte von Ihnen erfahren, daß jener Ladafahrer, also mein Mann, in Verbindung mit dem Unfall gesucht wurde, und das spielte er aus.“ „Was wollte er haben?“ fragt Kielstein dazwischen. „Alles mögliche: Zement, Steine, Dachrinnen, Dinge, die mein Mann teilweise nur auf Umwegen besorgen konnte. Ich hab’ das aber nicht so genau gehört, sie diskutierten ja schon eine Weile. Seine Forderungen waren kaum erfüllbar, er redete zwar von Bezahlung, aber er wollte alles schnell haben. Und er war unberechenbar, das machte die Sache so schwierig.“ „Deshalb entschlossen Sie sich zum Handeln?“ „Nein, nein“, wehrt die Frau ab, „ich entschloß mich nicht, dachte gar nicht an so etwas, alles geschah ganz plötzlich. Als mein Mann wütend und in gewisser Weise ratlos weggefahren war, befand ich mich noch im Garten. Ich wollte den Alten zur Rede stellen, ihn um Geduld bitten. Jonas sollte nichts davon wissen … Im Gegensatz zu meinem Mann schien Krebs außerordentlich zufrieden mit diesem Gespräch. Er hielt sich lange am Zaun auf, sang und brabbelte vor sich hin. Er kehrte aber nicht zum Haus zurück, sondern drehte eine Runde durch den Garten. Er blieb mehrfach stehen, malte sich wohl aus, was er auf welche Weise überall ändern würde. Schließlich ging er zum Graben und verharrte dort. Ich folgte ihm, um ihn anzusprechen. Er war 112
ganz mit sich beschäftigt, sah mich nicht, obwohl es ziemlich hell war.“ „Haben Sie ihn angesprochen?“ fragt Bothe. „Nein. Als ich direkt hinter ihm stand und gerade überlegte, daß er bestimmt erschrecken würde – ein Gedanke, der mir Genugtuung bereitete –, fing er wieder zu brabbeln an und sagte laut: ‚Jonas, mein Junge, der alte Krebs ist zäh, der läßt so bald nicht locker.‘ Und so weiter, an das andere erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß ich ihn stieß, das kam wie von selbst, unvermutet auch für mich.“ Frau Jonas schweigt, Kielstein will etwas fragen, doch Bothe hält ihn mit einem Blick zurück: Laß, sie wird gleich weiterreden. „Er fiel, schlug mit dem Kopf auf und rutschte seitlich in den Graben. Er war bestimmt gleich tot, er lag so verkrampft da, im Wasser, meine ich.“ „Haben Sie sich davon überzeugt, daß er tot war?“ fragt Kielstein. „Nein, ich bin weggerannt zu meinem Rad. Ich hab’ den Alten nur einen winzigen Augenblick von oben angestarrt. Von der Stelle aus, wo ich stand.“ „Er war nicht tot, nur bewußtlos“, sagt Bothe. „Er ist ertrunken. Sie hätten ihn noch retten können.“ „Heute würde ich es tun“, antwortet Frau Jonas leise, „in jenem Moment aber … nein. Ich hätte es nicht gewollt Auf keinen Fall.“
27 „Die Frau muß tatsächlich kopflos davongestürzt sein“, sagt Kielstein, noch immer verblüfft über die Wendung der Dinge, ein paar Stunden später zu Felsch. „Sonst hätte sie ja die Spuren ihres Mannes zu verwischen ver113
sucht. Ihr konnte nichts daran gelegen sein, daß wir auf ihn stoßen. Denn dann wäre alles herausgekommen, auch die Verbindung zur Kutscher und die Schiebergeschäfte von früher, bei denen sie zum eigenen Vorteil mitgespielt hatte.“ „Und du meinst, ihr Mann hat nichts von der Tat gewußt?“ „Sieht ganz so aus. Er kam erregt zurück, fuhr den Wagen in die Garage und ging zum See, um sich zu beruhigen. Er behauptet, eine Weile am Ufer auf und ab marschiert zu sein. Sie schlich ins Haus und stellte sich schlafend. Am Morgen fragte sie ihn dann aus, als sei nichts passiert. Sie sagt, sie habe nochmals zum Tatort zurückkehren wollen, aber zuviel Angst gehabt.“ „Vor dem Toten oder vor uns?“ „Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich vor beiden.“ Nach einer Weile fragt Felsch: „Glaubst du wirklich, daß sie es war?“ „Ja. Alles deutete schon vor ihrem Geständnis darauf hin, daß es sich so ähnlich abgespielt haben mußte. Nur hatte ich ihren Mann in Verdacht. Aber er hätte seine Anwesenheit bei Krebs unbedingt zu vertuschen versucht, hätte das Glas mit den Fingerabdrücken beseitigt.“ „Und wozu der Lokaltermin heute abend?“ „Den hat der Chef angeordnet, um ganz sicherzugehn. Wir wollen den Vorgang an Ort und Stelle rekonstruieren, damit jeder Schritt überprüft ist. Falls sie später doch auf den Gedanken kommen sollte zu widerrufen. Was allerdings weder Bothe noch ich glauben.“ „Jedenfalls hätten wir ohne die tätige Mithilfe der Jonas diese Akte wohl kaum so schnell abschließen können“, sagt Felsch ein wenig unzufrieden. „Vollkommen sind wir eben noch nicht. Oder siehst du das anders?“ „Nein, das sehe ich genauso“, erwidert Kielstein. 114
Die Damengang
DIE WICHTIGSTEN PERSONEN SIND: Josefine Lattebeck genannt Jeffi Inge Kalz Antje Manja Lebholz Ronald Leutnant Kielstein
– attraktive Dekorateurin, die ihren Beruf für raffinierte, üble Unternehmungen nutzt – ihre Freundin, männerfeindlich wie sie und fast ebenso abgebrüht – sucht als Jüngste der Gruppe das Abenteuer und findet das Verbrechen – Hehlerin, sich immer tiefer in Schuld verstrickend – ihr trunksüchtiger, im steten Streit mit ihr liegender, Mann – diesmal kleinen Ladendieben auf der Spur, die sich als höchst gefährlich entpuppen
1 Der dunkelgrüne Wartburg biegt von der Hauptstraße ab, die im bläulichen Schimmer der Neonlampen friedlichen Träumen nachzuhängen scheint, und taucht in eine Schattenzone ein. Kleine, meist alte Häuser, dann Gärten und schließlich Baugelände, durch Bretterzäune abgesperrt. „Jetzt die Scheinwerfer aus und Gas weg“, verlangt eine gepreßte Stimme, „wir halten am besten dort vorn bei den Büschen.“ Sofort gehn die Lichter aus, und der Wagen pirscht sich im zweiten Gang auf einem Sandweg voller Schlaglöcher an die bezeichnete Stelle heran. Die Dunkelheit umschließt das Fahrzeug wie eine Faust, öffnet sich nur für Bruchteile von Sekunden, wenn am Himmel die Wolkendecke zerreißt und ein bläßlicher Halbmond sichtbar wird. „Stopp, hier ist’s richtig.“ Die Stimme von eben läßt sich erneut vernehmen. Der Wagen hält, und die hinteren Türen gehen auf. Zwei Gestalten in Mänteln und mit über den Kopf gestülpten Kapuzen, die eine dicklich, untersetzt, die andere etwas größer und schlank, springen ins Freie. Eine dritte Person, durch die Scheibe kaum auszumachen, bleibt hinterm Lenkrad sitzen. Die Gestalten in den Kapuzenmänteln tragen Stoffhandschuhe, die größere von ihnen hat eine Art Leinensack unterm Arm. Die kleinere hat eine Umhängetasche 118
bei sich und einen kurzen Eisenstab, einen Automontierhebel, am Ende stark abgeflacht. „Vielleicht dort durch.“ Diesmal macht sich im Flüsterton die zweite Person bemerkbar, die mit dem Montierhebel. Sie ist schon am Zaun, der mehrere, nur provisorisch mit Stacheldraht geflickte Lücken aufweist. Ein leises Knacken, ein Brett wird mitsamt dem Draht zur Seite gedrückt. Danach ein zweites. Ohne Schwierigkeiten schlüpfen die beiden durch den Spalt. Das Baugelände ist von Erdhaufen übersät. Steine liegen herum, ein Kran ragt auf, stumm, mit gespenstischem Arm. Die Gestalten laufen über harten, durch eine lange regenlose Periode ausgetrockneten Boden. Nach etwa hundert Metern stoßen sie auf eine halbhohe Mauer. „Vorsicht jetzt, im Haus oben die Leute …“, ertönt wieder die erste Stimme. „Alles finster, die pennen.“ Die Mauer ist kein Hindernis, der Hof ebensowenig, die Dunkelheit macht die Sache zum Kinderspiel. Etwas schwieriger wird es, als die beiden an der Hinterfront eines Gebäudes angelangt sind, an einer Kellertür, zu der drei Stufen hinunterführen. Sie ist verschlossen und aus derbem Holz. Aber damit haben die Einbrecher gerechnet. „Das Schloß taugt nichts, ich hab’ mir’s angeschaut.“ Die kleinere Person nickt. Sie setzt den Montierhebel an, drückt erst vorsichtig, dann stärker. Mit einem mäßigen Knall springt die Tür auf. Die beiden Gestalten schieben sich in die Türnische, verharren einige Sekunden, doch im Haus bleibt alles still. „Los, weiter“, sagt leise und bestimmt die größere. Sie holt eine Taschenlampe aus dem Leinenbeutel, der Strahl leuchtet tastend einen Kellergang aus. Eine Treppe führt nach oben, die Tür zum Hausflur ist nur 119
angelehnt. Schwacher Geruch von Schokolade und Bohnenkaffee steigt in die Nase. „Riechst du was?“ „Na und ob.“ „Die Wohlgerüche Brasiliens“, flüstert die größere Person und wendet sich zielgerichtet einer blechverkleideten Tür zu. Diesmal hätte der Montierhebel bestimmt einen härteren Kampf bestehen müssen, doch er wird nicht gebraucht. Die Person mit dem Leinenbeutel holt einfach einen Schlüssel aus der Manteltasche und steckt ihn ins Schloß. Zwar sperrt sich die Verriegelung, will nicht gleich nachgeben, doch dann schnappt sie zurück. Einmal, zweimal, das letzte Hindernis ist überwunden. Sie sind drin, die kleinere Gestalt zieht die Tür hinter sich zu. Der Strahl der Taschenlampe geistert durch einen nahezu quadratischen Raum mit einem, Tisch, Stühlen, zwei Schränken. „Ob da was zu holen ist?“ Der Lichtkegel verharrt bei einem der Schränke. „Hier können wir Licht machen, müssen nur die Tür zum Laden geschlossen halten.“ Die größere Gestalt betätigt einen Schalter. Der plötzliche grelle Schein blendet, die beiden kneifen die Augen zusammen. Doch sie haben keine Zeit zu verlieren. Der Montierhebel wird erneut angesetzt. Mit einem Knarren geht die Schranktür auf. „Scheiße, bloß Papierzeug.“ „Vielleicht in dem andern.“ Diesmal splittert Holz, in der nächtlichen Stille ein lautes Geräusch. „Sei doch vorsichtig, du weckst die Leute auf.“ „Ohne ein bißchen Krach geht’s nicht.“ Im zweiten Schrank befindet sich eine Kassette. Verschlossen und ziemlich schwer. Die Gestalt mit dem Montierhebel schüttelt sie, es klappert. „Da ist was drin“, sagt sie. 120
„Gut, wir nehmen sie mit. Aber erst das andere.“ Das Licht wird wieder ausgeschaltet, die größere der beiden Personen öffnet eine Tür. „Jetzt aufpassen, man kann uns durchs Schaufenster sehn.“ „Sollten wir nicht lieber in den Lagerraum …“ „Hat keinen Sinn, der ist doppelt verrammelt.“ Der Laden, in dem sie nun stehen, ist niedrig und langgestreckt. Der schwere süßliche Geruch drängt sich hier stärker auf, verführerischer, denn die Regale sind gut bestückt: Schokoladen- und Zuckererzeugnisse, Gebäck, aber auch Tee, Kaffee. Die beiden Gestalten haben ihre Kapuzen tiefer in die Stirn gezogen, sie huschen gebückt dahin und knipsen die Taschenlampe nicht an. Zwar ist es auf der Straße vor dem Fenster ruhig, doch ab und an fährt ein Auto vorbei, sind die Schritte eines Fußgängers zu hören. Die untersetzte Person hat den Montierhebel im kleineren Raum zurückgelassen, sie räumt hastig Pralinenpackungen, Schokoladentafeln und Kaffeepäckchen in die große Umhängetasche. Die andere Gestalt füllt den Leinenbeutel. Sie nehmen vor allem die teuren Artikel, soweit sich das in der Düsternis ausmachen läßt. In der Nähe des Fensters steht auch Schnaps: Wodka, Weinbrand und einige Sorten Likör. Die mit der Tasche kann es sich nicht verkneifen, nach vorn zu huschen und ein paar Flaschen zu greifen. „Nicht so schweres Zeug, das können wir dann nicht schleppen.“ „Wir haben doch jeder zwei Hände.“ „Und die Kassette?“ „Die kriegen wir schon mit.“ Auf der Straße nähern sich Schritte und Gelächter, ein Pärchen, offenbar in gehobener Stimmung, bleibt vor dem Geschäft stehen. Die Kapuzengestalten verschwinden blitzschnell hinter einem Ladentisch. Aber vielleicht hat der junge Mann draußen doch einen Schat121
ten bemerkt. Er preßt das Gesicht gegen die Scheibe: „Ist da jemand?“ Die Worte sind im Laden nicht zu verstehen, wohl aber zu erraten. „Diebe“, kichert seine Freundin. „Sei nicht so albern, wär’ doch möglich.“ „Hilfe, Einbrecher“, ruft spöttisch das Mädchen. Die kleinere Gestalt flüstert: „Los, wir haun ab.“ „Bleib!“ „Das kann brenzlig werden.“ „Still doch, keine Panik.“ Der junge Mann versucht die Dunkelheit mit seinem Blick zu durchdringen, er ist hartnäckig. Aber das Mädchen zieht ihn weg: „Komm jetzt, laß den Quatsch.“ Schließlich entfernen sie sich, miteinander streitend. Die beiden im Laden bleiben noch einen Augenblick hocken, ehe sie sich aufrichten. „Das war knapp“, sagt die kleinere Person, „jetzt aber fort.“ Sie verlassen den Laden, im Raum dahinter fühlen sie sich wieder sicherer. Die kleinere Gestalt klemmt die Kassette unter den rechten Arm und nimmt die Tasche, in der auch der Montierhebel steckt, über die Schulter. Die andere Person trägt Lampe und Leinenbeutel. Doch bevor sie gehen, setzt sie den Beutel noch mal ab. „Beinahe hätt’ ich’s vergessen.“ Sie greift in die Manteltasche, holt einen Lederhandschuh heraus. Einen abgetragenen braunen Männerhandschuh. Wirft ihn auf den Fußboden und lacht. Ein kurzes, unangenehmes Lachen. Dann packt sie erneut den Beutel, und vorsichtig verlassen die beiden Einbrecher den Tatort.
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2 Die Gestalt hinterm Lenkrad wirft den Motor an und legt den ersten Gang ein. Die Diebesware ist im Kofferraum untergebracht, die beiden Einbrecher schlüpfen in den Wagen. Sie schlagen aufatmend ihre Kapuzen zurück, öffnen die Reißverschlüsse der Mäntel. „Los“, sagt Jeffi, „schnell weg von hier.“ Der Wagen fährt sacht an, biegt nach wenigen Metern in einen anderen Weg ein, erreicht von dort aus die Straße. Der Lichtschein einer Laterne erhellt für Augenblicke das Autoinnere, fällt auf drei junge Frauen, die noch immer angespannt in den Polstern sitzen. Antje am Steuer, in Jeanskluft und mit dunklem Bubikopf, ist fast noch ein Mädchen, Sie schaltet die Scheinwerfer ein und beschleunigt. „Irgendwas Besonderes?“ fragt Jeffi, die Größere jener beiden, die den Laden geplündert haben, und tastet hinten, auf der Ablage, nach Zigaretten. „Nichts. Nicht mal eine Katze ist vorbeigekommen.“ „Um so besser. Bei uns ging auch alles glatt.“ „Bis auf das Pärchen“, sagt Inge, die dritte der Frauen. „Was für ein Pärchen?“ „Ach, das war doch nicht der Rede wert.“ Jeffi zündet sich eine Zigarette an, gibt die Schachtel an Inge weiter, die sich gleichfalls bedient. Der Wagen rollt jetzt in hohem Tempo dahin. Er umfährt im Bogen die Stadt – eine halbe Stunde später wird er am entgegengesetzten Ende wieder ins Häusergewirr eintauchen. „Ich glaube, es hat sich gelohnt“, sagt Jeffi. „Erst mal sehn, was in der Kassette ist.“ Inge saugt gierig den Rauch ein. „Wenn nichts drin wäre, hätten die sie nicht so gut abgeschlossen.“ „Wir hätten nach dem Schlüssel suchen sollen.“ 123
„Das fällt dir ein bißchen spät ein“, sagt Jeffi, „aber es wär’ auch Zeitverschwendung gewesen. Den nimmt dieser Kerl abends mit nach Hause.“ Die Unterhaltung verstummt, erst einmal soll die Beute ins sichere Versteck. Fahrgeräusche, die drei Frauen ducken sich ins Dunkel des Wagens, sie hängen jede ihren Gedanken nach. Am ruhigsten wirkt Inge, die trotz gelegentlicher Nervosität die Dinge nimmt, wie sie kommen. Für sie scheint die Aktion gelaufen, weshalb sich also nicht entspannen. Antje ist da schon aufgeregter, aber sie konzentriert sich aufs Fahren. Ein Auto steuern ist ihre große Leidenschaft, das schlägt sogar jetzt durch. Jeffi, mit kurzgeschnittenem blondem Haar, elegant und von leicht herbem Gesichtsschnitt, ist von Genugtuung erfüllt. Sie stellt sich die Mienen der Verkäuferinnen vor, wenn sie morgen früh in den Laden kommen und die Bescherung entdecken. Vor allem aber das Gesicht des Geschäftsleiters, dieses eingebildeten Schnösels. Zweimal hat sie mit einer Kollegin die Schaufenster in der „Süßen Ecke“ dekoriert, und immer fühlte er sich bemüßigt, ihnen ins Handwerk zu pfuschen. Fand dieses unschön und wollte jenes anders haben. Bat nicht etwa, bildete sich ein, bestimmen zu können. Spreizte sich, gab an. Kehrte den Chef heraus, den Mann, einen, wie sie ihn auf den Tod nicht ausstehen kann. Beim erstenmal, vor Weihnachten, ließ sie’s ihm durchgehen, aber als er vor ein paar Wochen erneut den Herrn im Laden spielte, nahm sie sich vor, es ihm zu zeigen. Wobei es ihr natürlich auch um die Scheine ging. Mit dem, was sie verdient, kommt sie nicht aus. Das ist seit langem ihr Problem: Sie benötigt mehr, viel mehr, als sie für ihre Arbeit erhält. Früher, zu Hause, brauchte sie sich um Geld nicht zu sorgen, Vater als angesehener Arzt verdiente gut. Dann verließ er ihre Mutter, und die Mittel wurden knapper. Die Mutter rechnete ihr jede Zigarette vor, aber zum Glück tauchte 124
Reimar auf, der gut situierte Steinmetz. Er warb um sie, und obwohl Jeffi sich nicht übermäßig zu ihm hingezogen fühlte, heiratete sie ihn. Sie stellte schon damals finanziell ziemliche Ansprüche ans Leben, sie dachte, er würde sie erfüllen. Das allerdings war ein Irrtum, er gaukelte ihr was vor, solange sie ihn noch nicht geehelicht hatte. Nach der Hochzeit zeigte sich, daß er recht knausrig war. Wegen jedem Rock, jedem Paar Stiefel gab es Diskussionen. Bei einer Künstlernatur wie der ihren – sie besaß ein Zeichentalent und glaubte sich zu Großem berufen – konnte das auf Dauer nicht gut gehen. Es kam zu ständigen, sich steigernden Auseinandersetzungen. Bei der Scheidung schnitt sie eigentlich nicht schlecht ab: Das Auto und einige Möbel stammten noch aus der Zeit der Ehe. Aber der Luxus, den sie liebte, zehrte schnell alles übrige auf … Jeffi unterbricht ihren Gedankengang, sie fahren nun durch die Randbezirke der Stadt, sind schon im sogenannten Grünen Viertel. Hier sah es früher wie geleckt aus, es war das Viertel der Reichen. Mittlerweile hat sich einiges geändert, neu verputzte Villen stehen neben recht abgewirtschafteten Häusern, aber insgesamt ist die Gegend immer noch ruhig und vornehm. Das Haus, das der grüne Wartburg ansteuert, ist zweistöckig und versteckt sich in einem großen Obstgarten. Oben wohnen die Preißners, eine solide Familie mit zwei Kindern; sie machen zur Zeit irgendwo in Mecklenburg Urlaub. An der Tür zur Parterrewohnung stehen schwarz auf weißem Metallschild die Namen J. Lattebeck / I. Kalz. Josefine oder kurz Jeffi ist vor zweieinhalb Jahren mit ihrer Freundin Inge zusammengezogen. Der Tausch hierher war für beide günstig und kam nur zustande, weil das Ehepaar, das vor ihnen die Wohnung gemietet hatte, nach vollzogener Scheidung Hals über Kopf getrennte Unterkünfte suchte. 125
Das Haus liegt im Dunkeln, und auch ringsum ist wenig Licht. Antje hält, Inge springt aus dem Wagen, öffnet das Gartentor und schließt es, als sie drin sind, sofort wieder. Antje stellt den Motor ab, löscht die Scheinwerfer. Jeffi steigt aus und nimmt Inge, die sich bereits am Kofferraum zu schaffen macht, die schwere Umhängetasche ab. Mit der Beute beladen, gehn sie alle drei ins Haus. „Was wird mit der Kassette?“ fragt Inge, als sie an der Wohnungstür stehen. „Ein harter Brocken ist das, mit ’nem Büchsenöffner kriegt man die nicht auf.“ „Wir knacken sie im Keller“, entscheidet Jeffi, „da haben wir das entsprechende Werkzeug. Aber erst bringen wir mal die Ware ’rein.“ Die Wohnung ist geräumig: drei große Zimmer, Küche, Bad, Korridor und eine Besenkammer. Hohe Fenster, ein kleiner Balkon nach hinten hinaus, zum „Salon“ gehörend. Jeffis Zimmer liegt links, es ist mit hellen Möbeln und einer Menge Bilder ausgestattet, die zum Teil von ihr selbst stammen. Die junge Frau hat sich vor Jahren, bevor sie notgedrungen Dekorateurin wurde, an der Kunsthochschule beworben. Sie wurde aber nicht angenommen. Daß man ihre Begabung als nicht genügend für ein Studium ansah, hat sie nie verwunden. Inges Zimmer, etwas kleiner, befindet sich auf der rechten Seite. Sie legt weniger Wert auf gediegene Ausstattung, ist etwas schlampig und folglich für Bequemlichkeit. Der Vater, ein überkorrekter Pädagoge, hat ihr das nicht austreiben können. Inge hat sich allerlei altes Mobiliar zusammengeholt, eine breite Liege, einen Sessel mit hoher Lehne, eine Spiegelkonsole. Auf dem Nachttisch steht ein Recorder, stets liegen bei ihr Kassetten herum, Kissen, Decken, dazwischen Kleidungsstücke. Auf dem Tisch befindet sich meist eine angefangene Weinflasche, der Aschenbecher wird nie leer. 126
Der „Salon“ bildet das Mittelstück der Wohnung, er trennt die beiden Zimmer voneinander. Jeffi und Inge haben ihn zusammen eingerichtet, denn er wird gemeinsam oder auch wechselweise von ihnen genutzt. Er zeigt die Handschrift der Dekorateurin: Die Wände sind vornehm mit Stoff bespannt, neben dem Fernseher gibt es einen Rauchtisch mit tiefen Sesseln, eine Blumenbank, zwei weiß gestrichene hohe Schränke und eine altmodische Vitrine mit ausgesuchtem Porzellan. Im Flur eine schmiedeeiserne Garderobe und ein Schränkchen. Die drei Frauen legen die Taschen aus der Hand, hängen ihre Mäntel auf. Auch Antje, obwohl erst vor kurzem zu den beiden anderen gestoßen, kennt sich hier aus. Dann bringen sie die Beute in den „Salon“, breiten alles auf dem Rauchtisch und dem Fußboden aus. Ein bunter Haufen begehrenswerter Dinge: Mokka-Fix-Beutel, Rondo- und Monapäckchen, teure Pralinen, Schokoladentafeln, Marzipanbrote, Schachteln mit Keksen der Marke „Wurzener Extra“. Daneben stehen mehrere Flaschen Schnaps: Wodka, Weinbrand Edel, Eierlikör. „Jetzt genehmigen wir uns erst mal einen.“ Inge ist schon dabei, eine Flasche Weinbrand zu öffnen. „Gut, einen, aber dann ist die Kassette dran.“ Jeffi holt drei Gläser aus dem Schrank. Sie trinken, dann packt Inge die Stahlkassette unter den Arm, und sie steigen hinab in den Keller. Wo sich neben Kohlen und Holz auch ein Werkzeugkasten befindet. Inge versucht es zunächst mit einem Stemmeisen, aber der Deckel gibt nicht nach. Erst als Jeffi eingreift, mit Meißel und Hammer, gelingt es, das Schloß zu sprengen. Die drei Frauen hocken am Fußboden, drei Köpfe beugen sich über die offene Kassette. Zunächst sind nur einige Zettel zu sehen, irgendwelche Belege und Rechnungen. Erst als Jeffi den Zwischenboden herausnimmt, 127
kommen ein paar Münzen und ein Packen Banknoten zum Vorschein. „Das sind mindestens dreitausend Mark“, sagt Antje beeindruckt. Jeffi ist eher enttäuscht. „Ich dachte, die hätten die Tageseinnahmen drin, aber das müßte viel mehr sein.“ „Wir hätten uns eben die Kasse vornehmen sollen“, sagt Inge. „Quatsch. Die Kasse leeren sie abends. Außerdem stand sie direkt am Fenster.“ Inge scheint nicht überzeugt, aber jetzt ist ohnehin nichts mehr zu ändern. Immerhin beziffert sich die Summe in der Kassette auf genau dreitausendvierhundertachtzehn Mark und sechsundvierzig Pfennige, wie Antje feststellt. Dazu kommen die Waren oben, die man teils selbst verbrauchen, zum größeren Teil aber verhökern wird. Mit Hilfe von Manja Lebholz, Aushilfskraft in einer Imbißstube. Sie ist eine gute Bekannte von Inge, und wenn sie anständig Prozente bekommt, absolut zuverlässig. Jeffi packt das Geld in eine kleine Tasche, die Kassette bleibt im Keller; sie wird so bald wie möglich in einem der nahe gelegenen Waldteiche verschwinden. Dann steigen die drei Frauen wieder hinauf in die Wohnung. Die Kognakgläser werden neu gefüllt, und Inge holt den Recorder aus ihrem Zimmer. Tanzmusik. „Hauptsache, es ist alles glatt gegangen, und wir haben es ihnen gezeigt“, sagt Antje. Inge, voller Genuß den Weinbrand schlürfend, nickt, und Jeffi umfaßt Antje mit dem Arm, preßt sie an sich. „Wenn wir drei zusammenhalten, werden wir noch ganz andere Dinge loslassen“, ruft sie mit glänzenden Augen.
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3 „Weshalb ich? Was interessiert mich dieser schäbige Ladeneinbruch?“ sagt Kielstein unzufrieden. „Ich hab’ die Sache mit Zierau aufgeklärt, den Fall Henneberg gelöst“, er sieht Bothe ein wenig schuldbewußt an. „Wir natürlich“, fügt er ruhiger hinzu, „wir haben das gemeinsam geschafft, ich will meine Leistung ja gar nicht überbewerten.“ „Wie nett, daß du mir einen Teil deines Ruhmes abtrittst.“ „Du weißt genau, daß es mir nicht darum geht, der Größte zu sein. Aber ein paar Schokoladendiebe …“ „Du brauchst sie nur morgen oder übermorgen hier abzuliefern“, erwidert der Hauptmann trocken, „und schon stehst du wieder für Aufträge zur Verfügung, die deinem Format angemessen sind.“ „Mach dich nur über mich lustig.“ „Zwei Leute Bienerts fallen aus, und da hat der Chef uns diesen Fall übertragen. Glaubst du, ich war begeistert? Wenn ich dich allerdings so höre, will mir scheinen, daß dir ein bißchen normale Arbeit zwischendurch nicht schaden kann.“ Leutnant Kielstein nimmt die Akte über den Einbruch in der „Süßen Ecke“ entgegen und verläßt das Zimmer seines Vorgesetzten. Was bleibt ihm anderes übrig. Doch obwohl er sich noch immer ärgert, verhält er schon auf dem Korridor den Schritt und beginnt zu blättern. „Du mit deinem Eifer bist selbst schuld“, hätte Marianne, seine geschiedene Frau, gesagt. Mit ihrer spöttischen Stimme, die er noch jetzt, nach so vielen Jahren der Trennung, im Ohr hat. Na, so ist er eben, er kann nicht dagegen an. Da sind die Aussagen des Verkaufsstellenleiters und der Verkäuferin, die am Morgen nach dem Einbruch als erste im Geschäft war. Zwei Schränke aufgebrochen, 129
eine Kassette mit einem Teil der Einnahmen entwendet, außerdem Waren im Wert von fast zweitausend Mark gestohlen. Offenbar waren es mehrere Täter, denn einer allein konnte kaum so viel Zeug wegschleppen. Anfänger – sie haben einen Handschuh liegenlassen. Dennoch keine verwertbaren Fingerabdrücke, nur die des Ladenpersonals. Kielstein geht in sein Zimmer, wirft sich in den altgedienten Schreibtischsessel, der aus seinem Privatbesitz stammt. Die Beine ausgestreckt, studiert er das Material. Die hintere Tür, die durch einen anderen Raum zum Laden führte, war nicht gewaltsam geöffnet worden, sondern mit dem passenden Schlüssel. Vielleicht auch mit einem Dietrich, darüber gab es nur Vermutungen. Der Leutnant schüttelt den Kopf, hatten die Leutchen dort noch nie von einem Sicherheitsschloß gehört? Jeder Bungalowbesitzer schützte sein Eigentum besser. Da schien etwas faul, aber wenn jemand vom Personal die Hand im Spiel hatte, weshalb mußten die Täter dann die Kellertür knacken? Das hätte sich gewiß anders regeln lassen. Ein kleiner Fall, doch gleich zu Anfang eine Menge Fragen. Eine Stunde später ist Kielstein zur „Süßen Ecke“ unterwegs, Nachlese halten, wie er es bei sich nennt. Am Ziel angelangt, nimmt er sich Zeit, schaut das Haus von vorn und hinten an, stolpert über das Baugelände, zum Mißfallen der Arbeiter, die dort am Werk sind. Später unterhält er sich mit den Bewohnern der oberen Etage und mit zwei Verkäuferinnen, die freilich nicht den geringsten konkreten Verdacht haben, wer für den Diebstahl in Betracht kommen könnte. „Jugendliche waren das“, vermutet die eine, „solche aus der ‚Schwalbe‘ “ – das ist ein Lokal in der Nähe –, und die andere sagt: „Von den Stammkunden kommt niemand in Frage, die kennen wir; es muß jemand sein, der das hier extra ausgekundschaftet hat.“ 130
Der Verkaufsstellenleiter empfängt ihn wenig erfreut, er hat ein schlechtes Gewissen. Im Grunde ein selbstsicherer Typ, der gewiß etwas von Organisation versteht, druckst er bei seinen Antworten ziemlich herum. Er hat das durchaus vorhandene, aber defekte Sicherheitsschloß nicht rechtzeitig auswechseln lassen. „Seit wann funktionierte das Schloß nicht mehr?“ fragt der Leutnant, in der Hoffnung, den Kreis derer, die Bescheid wußten, einzuschränken. „Seit … höchstens seit drei Wochen.“ „Höchstens? Sie machen mir Spaß.“ „Der Schlosser kam nicht“, sagt der Verkaufsstellenleiter. „Die Warnanlage vorn, das funktioniert ja alles.“ „Man sieht, was es genützt hat.“ „Wenn ich herauskriege, wer die Lumpen waren.“ „Wer wußte von dem kaputten Schloß?“ fragt Kielstein. „Die Verkäuferinnen und die Frau, die hier saubermacht. Außerdem hatte ich bei der PGH Metall Bescheid gegeben.“ „Haben Sie sonst mit jemandem über das Schloß gesprochen?“ „Nein … das heißt, vielleicht hab’ ich’s mal zu Hause erwähnt. Weil ich mich über die PGH ärgerte.“ „Möglicherweise haben auch die Verkäuferinnen ihren Männern davon erzählt“, sagt Kielstein spöttisch, „die Reinemachefrau hat’s ihrem Sohn mitgeteilt und der Schlossermeister seinen Kollegen.“ Der Verkaufsstellenleiter schweigt betreten. „Drei Wochen sind eine lange Zeit, wer weiß, wer noch alles eingeweiht war.“ „Ein zweites Mal passiert mir das nicht. Ich bringe selbst ein neues Schloß an.“ „Na gut, aus Schaden wird man klug.“ Kielstein hat nicht vor, Moral zu predigen. „Wir besitzen ja immerhin diesen Handschuh. Sie haben also keine Ahnung, wem er gehören könnte?“ 131
„Keine. Ihre Kollegen fragten mich schon.“ „Und Kunden, die sich genauer umsahen als üblich, sind Ihnen nicht aufgefallen?“ „Nein“, erwidert achselzuckend der Mann. „Dann wäre das vorläufig alles. Wenn Ihnen noch was in Erinnerung kommen sollte, rufen Sie mich an.“ Kielstein geht. Mit Schokoladendieben muß ich mich befassen und mit schlampigen Geschäftsleitern, denkt er. Marianne könnte sich jetzt zurecht lustig über mich machen. Bevor er den Laden verläßt, kauft er eine Packung Katzenzungen. Sie sollen ihm den Fall versüßen. Mit einer Verkäuferin, der jüngsten, hat er noch nicht sprechen können, sie kommt erst am Nachmittag. Er beschließt, es bei ihr zu Hause zu versuchen. Damit er seine Pflicht getan und keine Möglichkeit ausgelassen hat.
4 „Für dich keinen Fünfmarkschein.“ Manja zieht die beiden Flügel des großen dreiteiligen Spiegels leicht nach innen, damit sie sich besser betrachten kann. Der fein ziselierte Silberschmuck um den Hals paßt schlecht zu ihrem eher plumpen Oberkörper, doch dafür hat sie kein Gespür. Er ist wertvoll, und sie hat ihn im Juwelierladen einem Gänschen weggeschnappt, das ganz scharf darauf war. Sie hatte einen Ollen im Schlepptau, dem der Zaster aus den Taschen stank. Doch nichts da, Manja, auch wenn sie sich dabei etwas übernommen hatte, war schneller gewesen. „Wie eine Kuh mit Ohrringen“, ihr Mann, im Sessel vor dem Fernseher klebend, wirft ihr einen gehässigen Blick zu. Er ist klein und um einiges älter. „Dafür schmeißt du nun deine Piepen ’raus. Und zum Abendbrot gibt’s billige Blutwurst.“ 132
„Sei froh, daß du überhaupt was kriegst. Wann bringst du denn schon ein bißchen Geld nach Hause. Wenn du mal arbeitest, versäufst du’s.“ „Immer noch besser als krumme Touren. Einmal kommen sie dir auf die Schliche, das sag’ ich dir. Aber dann rechne nicht mit mir.“ Der Mann langt nach einer Bierflasche zu seinen Füßen. Manja dreht sich wütend um. „Mit dir rechnen, daß ich nicht kichre. Wann hab’ ich jemals was von dir erwarten können. Nicht mal zu Beginn unserer Ehe, als du mich angeblich noch liebtest. Aber schon da ging’s bloß um deine Mutter. Du hängst doch von mir ab und nicht umgekehrt. Lebst von meinem Lohn und reißt das Maul auf.“ Der Mann will etwas erwidern, aber Manja hört sich die Antwort nicht an, sie läuft aus dem Raum. Nebenan im Schlafzimmer – weshalb stehen da nur immer noch die Ehebetten – macht sie Licht, zieht Bluse und Rock aus. In Unterwäsche stellt sie sich auch hier vor den Spiegel, doch nun hat sie keinen Spaß mehr an der Sache. Sie nimmt die Kette ab und stopft sie in ein Kästchen mit anderem Schmuck: Ringen, Broschen, Armreifen. Mit der Zeit hat sich immerhin ein kleines Kapital angesammelt. Da lass’ ich dich nicht ’ran, das wirst du nicht versaufen, denkt sie. Sie schaltet das Radio an, greift nach den Zigaretten auf dem Nachttisch. Acht Jahre ist sie nun mit diesem Schwächling verheiratet, der ihr anfangs wirklich etwas bedeutete. Wie dumm sie doch war, hat zu ihm aufgeblickt, weil er älter war, gescheite Sprüche klopfte und wie aus dem Ei gepellt umherlief. Er war Postangestellter, sie machte bloß sauber. Sie hatte mit großer Mühe ihre acht Klassen geschafft und es dann gar nicht erst mit einer Lehre versucht – da stellte er was für sie dar. Aber er ging schon damals unregelmäßig zur Arbeit und trank mehr, als ihm guttat. Als nach zwei Jahren Ehe 133
seine Mutter starb, die ihn seit seiner Kindheit fest an der Leine geführt hatte, verlor er ganz den Halt. Mit ihren dummen einundzwanzig Jahren war Manja zunächst froh über den Tod der Schwiegermutter gewesen. Die Alte hatte sich in alles eingemischt, nicht nur den Mann, sondern auch sie nach ihren Vorstellungen formen wollen. Doch dann begriff sie, daß Ronald nichts mit seiner gewonnenen Freiheit anzufangen wußte. Vielleicht wenn sie ein Kind gehabt hätten, doch Manja wollte erst mal selber leben und genießen. Außerdem empfand sie bei seinen Umarmungen nicht viel. Die Zärtlichkeit, die sie gebraucht hätte, vermochte er ihr nicht zu geben, und was er sonst von ihr wollte – übrigens nicht gerade häufig –, ließ sie kalt. Auch besaß sie nicht die Beharrlichkeit seiner Mutter, ihm immer wieder Dampf zu machen, wenn er sich gehenließ. Eines Tages kam er nach Hause, hatte bei der Post gekündigt oder war entlassen worden, weil er dauernd krank spielte, zu oft zur Flasche griff. Sie gab sich nicht die Mühe, es genau herauszubekommen. Sie hatte sich innerlich schon von ihm gelöst. Dennoch wohnten sie weiter zusammen, waren nach außen hin Eheleute. Er wechselte die Arbeitsstellen, tat wochenlang gar nichts; sie half mit ihrem knappen Verdienst aus. Sie hätte nicht sagen können, weshalb sie bei ihm blieb. Wahrscheinlich aus Trägheit und deshalb, weil er sich gegen eine Scheidung wehrte. Mitunter krachten sie sich, es kam sogar zu Prügeleien, bei denen er den kürzeren zog. Das empfand sie als Genugtuung. Wie auch die Tatsache, daß sie ihm ganz nach ihrem Willen einen Zwanzigmarkschein über den Tisch schob oder es unterließ. Sie verfügt seit einiger Zeit über eine zusätzliche Einnahmequelle, die ihr ein solches Verhalten erlaubt. Manja fröstelt, obwohl der Abend lau ist. Sie steht auf, schlüpft in den Morgenrock, da klingelt es. Ihr Mann wird nicht öffnen, das weiß sie, und es ist ihr auch 134
lieber so. Die Nachbarn klatschen ohnehin genug. Also drückt sie die halb aufgerauchte Zigarette aus, geht zur Wohnungstür. Draußen steht Inge Kalz, ein brünettes Mädchen von etwa zweiundzwanzig Jahren. Sie hat eine große, prall gefüllte Tasche bei sich. Manja kennt Inge schon lange. Vor Jahren half sie in einer Sportlergaststätte aus, wo die Jüngere verkehrte. Inge trainierte in ihrer Freizeit Speerwurf, wie sie sagte, im übrigen arbeitete sie in einer Textilbude. Aber sie betrieb wohl Sport wie Beruf wenig intensiv, saß oft schon nach dem Mittag an einem der kleinen Plasttische im Lokal, trank Bier und rauchte. Mit den Burschen, die hier ein und aus gingen, schien sie nicht viel im Sinn zu haben, sie ließ sich nie auf einen Flirt ein. Einmal war Manja mit ihr ins Gespräch gekommen, da gestand sie freimütig, sie fühle sich zu Frauen hingezogen. „Das finden Sie wohl unanständig, was?“ – „Nein, wieso“, wehrte Manja etwas verwirrt ab, „das soll jeder machen, wie er’s für richtig hält. Und wenn ich an meinen Mann denke, diesen Waschlappen …“ Es stellte sich heraus, daß Inge von ihren Eltern weggezogen war. „Weil diese Heteros mich nicht begreifen wollen, verstehen Sie. Im Betrieb hab’ ich deswegen auch Schwierigkeiten.“ Manja hielt das für möglich, vermutete aber, daß es trotzdem mehr am nicht gerade ausgeprägten Arbeitseifer des Mädchens lag. Dennoch schien ihr Gehalt für die kleinen, täglichen Zechen in der Gaststätte zu reichen. Überrascht war Manja, als Inge ihr eines Tages zwei fast neue Luftmatratzen zum Kauf anbot. Verbilligt, eine Freundin, die nach Ungarn geheiratet hätte, brauchte das Zeug nicht mehr. Manja kam die Geschichte verdächtig vor, sie konnte selbst auch nichts mit den Matratzen anfangen, aber sie wußte jemanden, der ganz gut dafür bezahlen würde. Das günstige Geschäft lockte, und sie erstickte ihre Bedenken. Viel später gestand Inge, 135
daß sie die Luftmatratzen beim Camping aus einem fremden Zelt hatte mitgehen lassen. Dem einen Geschäft folgten weitere, und Manja begann sich an die zusätzlichen Prämien zu gewöhnen. Dann blieb Inge plötzlich weg, es sprach sich herum, daß sie einsitzen mußte, weil sie geklaut hatte. Manja bekam einen Schreck und schwor sich, die krummen Geschichten zu lassen. Sie wechselte auch die Arbeitsstelle. Doch vor anderthalb Jahren hatte sie in der Imbißstube, in der sie jetzt arbeitete, die ehemalige Speerwerferin wiedergetroffen … Manja schaut auf die Tasche und ist informiert. „Tag, Inge“, sagt sie, „du schleppst ja so.“ „Könnte schlimmer sein. Bist du allein?“ „Der Alte ist da. Hockt vorm Fernseher, wie immer.“ Inge weiß, daß Manjas Mann sich nicht von der Bierflasche wegrührt, wenn man ihn in Ruhe läßt. „Gut, gehn wir in die Küche.“ Sie betritt den Korridor und steuert zielstrebig die Küche an. Manja verriegelt die Wohnungstür und folgt ihr. Auch die Küchentür verschließt sie vorsichtshalber von innen. Inge setzt die Tasche auf dem Tisch ab und öffnet sie. „Kaffee, Schnaps und Schokolade. Ist das nichts für dich?“ „Hm … Ist ’ne ganz schöne Menge.“ „Das geht doch bei dir an einem Nachmittag ’raus. Sonnabends, wenn du Gerda am Büfett vertrittst.“ Inge hat recht, für Manja ist es kein Problem, die Sachen abzusetzen. Sonnabends kommt viel Laufkundschaft, da reicht die Ware sowieso nicht. Keinem wird etwa auffallen, wenn sie das Entgelt in die eigene Tasche steckt. Dennoch wendet sie ein: „Nicht alles. Das hier ist Import, das fällt bei uns auf.“ „Fünfundzwanzig Prozent für dich“, sagt Inge. „Fünfunddreißig.“ „Dreißig, immerhin tragen wir das Hauptrisiko.“ 136
Manja überschlägt ihren Gewinn, in diesen Dingen ist sie schnell. Das einzige, was sie von ihrem Mann gelernt hat. Eine hübsche Summe kann da zusammenkommen. „In Ordnung, aber ihr müßt warten. Vier Wochen wenigstens. Ihr habt das Zeug hoffentlich nicht hier in der Nähe aufgerissen.“ „Nein, nein“, beruhigt Inge sie, „Jeffi ist clever, das weißt du doch.“ „Ein bißchen zu clever manchmal.“ „Sei nicht so mißtrauisch“, sagt Inge, „bei uns hat noch alles geklappt.“ Als die Sachen weggepackt sind – vor allem der Schnaps steckt unerreichbar für den Mann im alten Eichenschrank in der Abstellkammer –, besinnt sich Manja auf ihre Gastgeberpflichten: „Willst du was trinken?“ „Nein, ich hau’ wieder ab.“ „Vielleicht ’ne Stulle?“ Manja hat für Inge von jeher ein mütterliches Gefühl empfunden, in das sich in der letzten Zeit noch eine andere Regung mischt. Ohne eine Antwort abzuwarten, fängt sie an, Brot abzusäbeln. „Na gut, wenn du so mageren Schweinebraten hast wie neulich.“ „Schweinebraten nicht, dafür schöne Blutwurst mit Senf.“ „Meinetwegen, dann sauf ich deinem Alten aber auch ein Bier weg. Man soll die Männer schädigen, wo man kann.“ „Da bin ich ganz deiner Ansicht“, sagt Manja.
5 „Wir Frauen müssen zusammenhalten.“ Jeffi hat den Arm um Antjes Schulter gelegt, die Fingerspitzen streicheln den seidigen Stoff ihrer Bluse. Kein unangeneh137
mes Gefühl. Es kitzelt ein wenig, löst einen sanften Schauer aus, der sich zur Brust hin fortsetzt. Sie bummeln den Boulevard entlang, lassen sich von den Strahlen der abendlichen Sonne bescheinen. Arbeitsschluß in den meisten Betrieben, die Leute strömen nach Hause, kaufen hier und da noch etwas ein. Doch Antje fühlt sich ihnen nicht zugehörig. Seit sie in dieser Stadt ist, führt sie ein faules, aus den Fugen geratenes Leben. Nicht daß es vorher sehr geregelt bei ihr zugegangen wäre, aber sie hatte immerhin die Schwester und diesen verdammten Job in der Wäscherei. Nun ja, wäre nicht der Reinfall mit Jürgen gewesen, hätte sich bestimmt manches anders entwickelt. Dennoch. Daß sie bei einem richtigen Bruch mitgemacht hat, kommt ihr eigenartig vor. Irgendwie unwirklich, als wär’ das gar nicht sie, sondern eine andere. Sie war nicht so stockordentlich wie ihre ältere Schwester Petra, hatte früher schon mal was mitgehen lassen: zwei Schachteln Zigaretten in der Kaufhalle, billige Kosmetikartikel im Warenhaus und einmal sogar ein Männerhemd für einen Freund, dem sie imponieren wollte, aber das waren kleine Fische. Von allein wäre sie auch nie auf die Idee mit dem Süßwarenladen gekommen. Da mußten erst Jeffi und Inge auftauchen, bei ihnen schien eine solche Sache fast normal. „Überall wird so viel verschlampt und verschoben“, behauptete Jeffi, „weshalb sollen wir uns da nicht auch unseren Anteil holen.“ Natürlich rückten sie nicht sofort damit heraus, alles hatte sich Stück um Stück entwickelt. Antje sieht sich noch nach dem Knatsch im Betrieb, wegen ihrer Bummelschichten, nach dem Krach mit Petra und dem gemeinen Verrat Jürgens, der mit ihrer Freundin abschwirrte, im Zug sitzen, hierher in diese Stadt. Sie hat alle Brücken hinter sich abgebrochen, will was ganz Neues anfangen. Sie ist kolossal sauer und traurig, 138
zugleich aber innerlich gespannt. Das Ungewisse lockt, das Abenteuer. Als sie auf dem fremden Bahnhof steht, den Koffer in der Hand, schaut sie sich um wie jemand, vor dem sich gleich mit einem Schlag sämtliche Türen öffnen werden. Dann begann die Zimmersuche, und das Leben kriegte wieder seinen prosaischen Zuschnitt. Die Hotels waren entweder belegt oder zu teuer für ihren nicht gerade prallen Geldbeutel. Eine Pension, auf die sie für die erste Zeit gehofft hatte, existierte offenbar nicht. Was tun? Als sie es satt hatte, sich die Beine krumm zu laufen, und ihr der Magen knurrte, suchte sie eine Gaststätte auf. Das „Rote Horn“ war ihre Blusengröße, nicht zu vornehm und auch nicht so eng von Zigarettenqualm und Bierdunst, daß es einem die Luft nahm. Sie fand einen freien Tisch und atmete erst mal durch. Innerlich sozusagen, um klarzusehn, wie es weitergehen sollte. Leider blieb sie nicht lange allein am Tisch und mit ihren Gedanken. Wie jedes einigermaßen gut gebaute und flott angezogene Mädchen lenkte sie die Blicke der Männer auf sich, und kaum hatte sie ihr Essen bestellt, saß so ein Typ neben ihr. Nicht mehr ganz jung und mit Fahne. Höflich, aber lästig. „Darf ich Sie zu einem Glas Weißwein einladen, mein Fräulein?“ – „Nein.“ – „Dann vielleicht zu einem Kirschlikör.“ Antje hatte ihn abblitzen lassen, nach dem Reinfall mit Jürgen waren ihr die Kerle allesamt über, und der mit seinem Schnapsgeruch schon gar. Als er es zum drittenmal versuchte, fauchte sie ihn derart an, daß er fluchtartig das Lokal verließ. Dann bestellte sie wütend selber einen Wodka. In diesem Augenblick waren Jeffi und Inge in Erscheinung getreten, die den Vorgang vom Nebentisch aus beobachtet hatten. „Gut, wie du’s ihm gegeben hast, Kleine“, sagte Jeffi und setzte sich, sie neugierig musternd, auf den soeben frei gewordenen Platz. „Der Kerl 139
glaubt, wenn er ’nen Schlips umhängt, ist er ein feiner Mann. Nur nichts gefallen lassen.“ Antje dachte zunächst; die andere würde den Mann kennen, aber das war nicht der Fall, sie hatte allgemein gesprochen. Aus Erfahrung, wie sie betonte, und Inge stimmte ihr zu. Sie kamen ins Gespräch, tranken eine Flasche Rotwein zusammen. Auf ihre Begegnung und Antjes Zukunft in der Stadt, auf den neuen Beginn. Jeffi bezahlte, sie war überhaupt Klasse. Schlank, schön, selbstbewußt und kein bißchen aufdringlich. Sie fragte Antje nicht aus, wollte nicht wissen, was sie früher getrieben hatte und jetzt zu machen beabsichtigte. Sie erzählte nur, ab und an von Inge unterstützt, über das Leben hier. Und half das wichtigste Problem zu klären, das der Übernachtung. „Du gefällst uns, du kannst ein paar Nächte bei uns schlafen und dir in Ruhe ein Zimmer suchen.“ Genauso hatten sie’s dann auch gemacht, und Antje kam nicht mehr los von den beiden. Ließ sich einladen, verwöhnen, machte sich bald ihre Ansichten zueigen. Über das Leben und die Männer, schwer war es nicht, Antje zu überzeugen. Sie nahm teil an den Späßen, die sich vor allem Jeffi ausdachte: das Motorrad dieses Blödians in die Pfütze kippen, der sie im „Horn“ angeödet hatte, jener rothaarigen Tante aus dem „Astoria“, die meckerte, weil Inge angeblich zuviel getrunken hatte, den Mokka über die Stola gießen. Während sie mit ihrem Partner tanzte – es war gar nicht einfach gewesen, danach unbemerkt wegzukommen. Und dann die Mutprobe, die mit dem Lada. Das war ein ganz besonderes Ding … „He, hörst du nicht“, sagt Jeffi in diesem Moment, „ich hab’ dich was gefragt.“ „Entschuldige, ich war in Gedanken.“ „Du träumst zuviel, das heißt träum ruhig, ich tu’s ja auch, wenn ich zeichne.“ 140
Bei Jeffi bricht die Künstlerin durch. „Ich hab’ mich an den Tag erinnert, als ich hier ankam.“ „Bist ein Häschen.“ Jeffi drückt Antjes Arm. „Aber nun mal was anderes, was Ernstes …“ „Was Ernstes?“ „Ja. Wird Zeit, daß du dir ’nen Job suchst.“ „Müssen wir denn jetzt darüber sprechen“, mault Antje, „das Geld reicht doch ’ne Weile.“ „Das Geld wird schneller alle sein, als du denkst, aber es geht nicht um die paar Piepen. Du brauchst eine richtige Arbeit. Sonst giltst du als asozial, und man wird auf dich aufmerksam.“ „Du bist wie meine Schwester.“ „Sei nicht dumm. Wir haben oft genug darüber gesprochen. Wenn wir’s ihnen zeigen wollen, müssen wir klug sein, in jeder Hinsicht.“ Sie, das sind nicht nur die verhaßten Männer, sondern auch die Frauen, die sich ihnen fügen, und überhaupt alle stinknormalen Spießer, die Polizei eingeschlossen. Antje sagt: „Was soll ich denn machen?“ „Am Kleinen See suchen sie jemanden für die Bootsausleihe, das wär doch was.“ „Was denn, jeden Nachmittag in dem Häuschen sitzen und abkassieren?“ „Vielleicht nicht jeden Tag“, erwidert Jeffi, „das muß man erkunden. Jedenfalls ist es besser als deine Schufterei früher.“ „Schon gut, du hast ja recht“, gibt Antje etwas widerwillig zu. „Heute ist’s zu spät, aber gleich morgen gehst du hin.“ Auch das gehört zu Jeffi, sie kann Anordnungen erteilen. Herrisch kann sie sein, richtig ungemütlich werden, wenn man sich ihren Wünschen widersetzt. Antje wird nichts anderes übrigbleiben, sie muß in den sauren Ap141
fel beißen. Gewissermaßen als Trost schleppt die Ältere sie in eine Boutique mit allerlei modischem Firlefanz, kauft ihr einen nicht gerade billigen Wildledergürtel. „Brauchst ja niemandem zu pfeifen, daß er von mir ist.“ Die gute Stimmung, jedenfalls für diesen Abend, kehrt zurück. Später gehen sie noch ins Kino, sehen sich einen komischen Film an und finden sich endlich im „Roten Horn“ ein. Wo sie von Inge erwartet werden, die vergnatzt ist, weil sie eher mit ihnen gerechnet hat. Aber Jeffi kriegt das wieder hin, sie hat auch für Inge etwas gekauft. Eine Kassette mit Rockmusik, denn solche Rhythmen liebt ihre Freundin über alle Maßen.
6 Das Auge des Fisches, mit roter Farbe groß und rund auf die Leinwand gemalt, schaut von stolzer Höhe herab auf das Treiben in den Räumen des Kunstgewerbeladens. Glupschig-kalt, aber so, als wollte es die Schätze bewachen, die in den Regalen, auf den Tischen ausgebreitet sind: handgewebte Läufer, Spitzendeckchen, Holzschnitzereien, verkupferte Gefäße, Kristallvasen, Schmuck aus Emaille, Bernstein und Silber. Das Geschäft, im Zentrum der Stadt gelegen, ist wie immer gut besucht. Frauen jeden Alters, junge Mädchen, Ehepaare, die sich gemeinsam etwas anschaun wollen, und sogar einzelne Männer mustern das Angebot, lassen sich den einen oder anderen Artikel zeigen. Der Verkauf ist nicht schlecht, die Zeit der großen Einnahmen aber vorbei. Zu viele ähnliche Läden wurden in den letzten Jahren eröffnet. Inge, in einer weiten sommerlichen Bluse und einem weich fallenden Rock, der sie sehr fraulich macht, steht an einem Tisch mit Deckchen und Wandbehängen. Ei142
gentlich müßte sie um diese Zeit zur Arbeit sein, aber sie hat angerufen und sich entschuldigt. Wegen schrecklicher Magenkrämpfe, sie muß wohl etwas Verdorbenes gegessen haben. Eine bessere Lüge ist ihr nicht eingefallen. Jeffi weiß selbstverständlich nichts davon, sie würde nur meckern. Nach ihren Vorstellungen muß jede der Gruppe brav ihren Job betreiben, um nicht aufzufallen. Aber Jeffi hat gut reden, sie hüpft im weißen Kittel umher, darf Schaufenster ausgestalten, Puppen an- und ausziehn oder mit Stoff behängen. Inge dagegen besprüht am Fließband Gummibälle mit Farbe. Tag für Tag, seit sie die Autowäsche geschmissen hat. Eine stumpfsinnige Schufterei. Und wozu riskiert man solche Dinger wie das in der „Süßen Ecke“, wenn man sich nicht wenigstens ab und zu einen freien Tag genehmigen darf. Von einem großen Urlaub im August spricht Jeffi, na gut, einverstanden, aber bis dahin sind’s noch ein paar Wochen. Außerdem wird sie das Gefühl nicht los, daß es bei dieser Art Ferien vor allem um die Neue geht, um Antje. Die schaut ein bißchen zu begeistert zu Jeffi auf. Inge ist nicht eifersüchtig, noch nicht, bei ihr entwickelt sich so was sehr langsam, aber es beginnt sie zu ärgern, wie die beiden miteinander umgehn. Wenn sie auch so tun, als sei rein gar nichts zwischen ihnen. Sie erinnert sich, wie sie selbst mit Jeffi bekannt wurde. In der Metropol-Bar, an einem Sonnabend weit nach Mitternacht. Sie hatte einem besoffenen Kerl ein paar Scheine abgeluchst oder, besser gesagt, aus der Brieftasche gezogen, und der schlug Krach. Sie brauchte das Geld, hatte überall Schulden und er bestimmt ein dickes Konto. Wie die Unbekannte im Hosenanzug den Mann beruhigte, dafür sorgte, daß er das Geld zunächst ohne weiteren Krawall zurücknahm und später, auf Gegenleistung verzichtend, zum größten Teil wieder hergab, das war schon Klasse. Er kam sich noch gebauchpinselt 143
vor, weil er zwei Künstlerinnen, die in Schwierigkeiten steckten, aus der Klemme half. Wie hatten sie beide hinterher über diesen Provinzschnäpsler gelacht. Damals hatte Inge noch ihre triste Hinterhauswohnung und Jeffi nach ihrer Scheidung ein halbes Appartement, in dem sie nicht bleiben wollte. Obwohl ihre Interessen unterschiedlich lagen, fühlten sie sich zueinander hingezogen. Inge war praktisch und kannte Tricks, die Jeffi imponierten, auch wenn sie sich zunächst schockiert gab. Solange sie noch was zu versetzen hatte und sich Ablehnung leisten konnte. Später akzeptierte sie, daß auf unvorhergesehene Weise Geld ins Haus kam, half, die Methoden auszubaun. Hob alles auf ein anderes Niveau – Inge gestand das ganz neidlos zu. Jeffi plante, wählte die Waren besser aus, die man mitgehen ließ; außerdem war zu zweit das Risiko kleiner. Aber jetzt gab es auf einmal noch Antje. „Nun sind wir eine richtige Gang, eine Damengang“, hatte Jeffi kürzlich, von Weinbrand angeheizt, erklärt, und Antje hatte gestrahlt. Inge dagegen wird von unguten Gefühlen bedrängt. Obwohl sie zugeben muß, daß die Kleine sonst in Ordnung ist. Sie reißt sich von ihren Überlegungen los: Neben ihr wühlt eine ältere, verhutzelte Frau in den Decken und Läufern, zieht ein schwarz und rot gemustertes Gewebe unter dem Stapel hervor, schiebt ein gelbes nach hinten, so daß es fast vom Tisch rutscht. Die mageren Hände zerteilen den Haufen Textilien immer von neuem, eine wahre Gier hat dieses Weib erfaßt, das anscheinend jedes einzelne Stück betrachten und prüfen muß, ohne vielleicht überhaupt etwas kaufen zu wollen. Die umstehenden Leute kommen nicht dazu, sich gleichfalls etwas auf dem Tisch anzusehen. Was Inge aber besonders fasziniert: In ihrem Eifer hat die Alte ihr Portemonnaie aus der Hand gelegt. Das speckig ist, abgegriffen, doch nichtsdestoweniger prall. Nur das Auge des Fisches oben 144
auf dem Gemälde beobachtet, wie diese Geldbörse, von den sich verschiebenden Geweben gestoßen, langsam auf die junge Frau zuwandert. Inge kann es beschwören, sie hat diesen Laden nicht betreten, um etwas an sich zu bringen, das anderen gehört, sie hat die Wohnung heute morgen mit der Absicht verlassen, sich einen Tag ohne Anstrengungen und Aufregung zu gönnen. Doch nun das, diese ungeheure Versuchung. Zu allem Überfluß legt sich der Zipfel eines Wandbehangs über die Börse. Inge beginnt das Risiko zu kalkulieren. Zu viele sich drängende Leute, aber das kann auch ein Vorteil sein. Im Gewirr achtet keiner auf den anderen. Die Tür jedenfalls ist nur zwei Schritte entfernt. In solchen Fällen muß man sich ganz natürlich verhalten. Die Alte ist noch immer beschäftigt, und die Hand der Jungen beginnt nun gleichfalls in den Textilien zu graben, nähert sich dem bewußten Gegenstand. Aber gerade als sie zugreifen will, wird Inge von hinten angesprochen. „Da liegt ein Portemonnaie, ist das Ihr’s?“ fragt eine Männerstimme. „N-ein, ich hab’s auch gerade bemerkt.“ „Gehört jemandem hier dieses Portemonnaie?“ Die Alte wird aus ihrem Wühltaumel gerissen. „Meins ist das, wie kommt das dorthin, eben hatte ich’s noch in der Hand.“ „Das müssen Sie sich schon selber fragen, kann einen ja direkt in Versuchung führen, stimmt’s, Fräulein?“ Inge ist ein bißchen blaß geworden, sie dreht sich zu dem Mann um. Aus einem flachen, sonnengeröteten Gesicht schauen sie bläuliche Augen an. Grienend, aber arglos. Will ihr wenigstens scheinen. Zwischen fünfzig und sechzig mag er sein, ist passabel angezogen. „Stimmt’s“, wiederholt er und kneift ein Auge zu. „Jedenfalls wird was drin sein“, wirft Inge lässig hin. 145
Die Alte greift mit einer schnellen Bewegung über den Tisch und reißt ihr Eigentum an sich. „Das geht Sie gar nichts an.“ Sie wirft der jungen Frau einen bösen Blick zu. Inge zuckt die Achseln, schiebt sich an der Alten vorbei und tritt zu einem Ständer mit Keramikartikeln. Sie hat keine Lust, sich mit der da anzulegen. Sie nimmt einen Kerzenhalter zur Hand, gibt vor, ihn interessiert zu betrachten, stellt ihn wieder zurück und schlendert weiter. Schließlich verläßt sie den Laden. Die Luft draußen ist angenehm: eine warme Sonne, aber gleichzeitig ein leichter, kühlender Wind. Inge bummelt die Straße entlang, kauft sich an einem Kiosk eine große Knusperwaffel und setzt sich auf eine Bank. Vor ihr liegt ein kleiner Platz, die alten dreistöckigen Häuser mit ihren ornamentenverzierten Fassaden und einige hohe Kastanienbäume geben ihm etwas Stilvolles. „Haben Sie was dagegen, wenn ich mich setze?“ Der Mann aus dem Kunstgewerbeladen steht da, ist ihr offenbar gefolgt. „Ich hab’ die Bank nicht gemietet“, sagt Inge wenig begeistert. „Ich auch nicht, aber ich sitze öfter hier. Ich wohne gleich um die Ecke.“ Er setzt sich. Inge denkt, daß der Mann noch kein Rentner sein kann und um diese Zeit eigentlich arbeiten müßte. Genau wie sie. „Ich bin bei der Reichsbahn, wissen Sie, hab’ heute meinen freien Tag.“ „Ach ja“, sagt Inge. „Sie sind wohl Studentin?“ Dieser Gedanke kommt ihr lustig vor, sie lacht. „Seh’ ich so aus? Dann will ich’s nicht abstreiten.“ „Dacht’ ich mir’s doch. Meine Tochter studiert nämlich auch. In Leipzig.“ Er holt Zigaretten aus der Jackentasche. „Darf ich Ihnen eine anbieten?“ 146
„Wenn’s unbedingt sein muß.“ Inge bedient sich. Sie hat ihre Waffel aufgezehrt. „Meine Frau ist gerade ein paar Tage zu ihr gefahren. Ich bin gewissermaßen Strohwitwer.“ Will er auf diese Weise andeuten, daß er eine sturmfreie Bude hat? Klingt eigentlich nicht so. Er hätte ja gar nicht von seiner Frau sprechen müssen. „War komisch mit der Dame vorhin“, fängt er wieder an und zieht das Wort Dame ironisch in die Länge. „Erst läßt sie ihr Geld rumliegen, dann tut sie noch, als wären die andern schuld. Aber die ist immer so.“ „Sie kennen sie?“ fragt Inge erstaunt. „Die kennt jeder hier.“ Der Mann rückt vertraulich näher. „ ‚Tante Anneliese‘, sagen die Leute. Ich weiß nicht, ob sie mit Vornamen wirklich so heißt. Geizig ist sie, guckt sich in den Geschäften alles an und kauft nichts.“ „Wahrscheinlich fehlt’s hier.“ Inge, wider Willen interessiert, reibt Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Dann fährt sie fort: „Obwohl ihr Portemonnaie schön rund war.“ „Die hat mehr Moneten, als unsereins ahnt. Das sagen alle. Ihr Bruder besaß ’ne Fleischerei, und sie hat ihn beerbt. Vor zwei Jahren.“ „Manche wollen ihren Zaster mit in die Grube nehmen“, sagt Inge grob. Der Mann stört sich nicht an ihrer Ausdrucksweise, er lacht. „Da drüben wohnt sie. Wo das Fenster offensteht, unter dem gelben Sims. Ab acht Uhr abends ist es bei der finster, sie scheint zeitig ins Bett zu gehn. Aber manchmal brennt auch um Mitternacht Licht. Dann zählt sie bestimmt ihre Schätze.“ „Sie laufen wohl nachts auf der Straße herum?“ „Stellen Sie sich vor, ich komm’ da manchmal von der Arbeit“, erwidert er etwas ironisch. „War ja nicht so gemeint.“ Inge verstummt und pafft 147
ihre Zigarette zu Ende. Dann erhebt sie sich. „Ich muß jetzt weiter.“ „Einen schönen Studientag wünsch’ ich“, sagt ohne jeden Spott der Eisenbahner.
7 Hella Jänisch, jene Verkäuferin aus der „Süßen Ecke“, die Kielstein bisher nicht erreichen konnte, ist eine frische, wenngleich etwas redselige Person. Ihr Mann ist zur Arbeit, ihr zwölfjähriger Sohn in der Schule; sie bittet den Leutnant, der sich vorgestellt hat, in ihre Zweizimmerwohnung und starrt ihn neugierig an. Eher gelangweilt mustert ihn dagegen eine Katze, schwarz mit weißen Pfoten, die auf dem Fernsehapparat liegt. Die üblichen Fragen – die so oder ähnlich bereits vernommenen Antworten. Auch diese Frau hat den Handschuh bisher nicht gesehen, versucht vergeblich, sich an Kunden mit auffälligem Benehmen zu erinnern. „Manchmal gibt’s schon welche, auf die man ein Auge haben muß. Tun wunder wie vornehm, und dann landen die Pralinen statt im Korb in der Einkaufstasche. Da haben wir kürzlich eine alte Dame geschnappt. Man glaubt, wenn sie über die Siebzig sind, ist’s ihnen doppelt peinlich, beim Klaun erwischt zu werden. Aber nein, eine richtige Elster. Sechs Tafeln Schokolade, was sagen Sie dazu. Ich denk’, ich trau’ meinen Augen nicht. Und die Alte war kein bißchen verlegen.“ „Was haben Sie mit ihr gemacht?“ fragt Kielstein. „Der Chef hat sie ins Verhör genommen und die Sache weitergegeben. Mehr weiß ich nicht.“ „Ladendiebstahl“, sagt Kielstein, „immer wieder finden sich Leute, die’s versuchen. Leider. Mit dem Ein148
bruch kann man so eine alte Frau kaum in Verbindung bringen.“ „Das war’n sowieso Männer“, erwidert die Verkäuferin. „Ist wohl anzunehmen“, stimmt Kielstein zu. „Die sind genau wie in der Gorkistraße vorgegangen.“ „Der Einbruch im Schuhhaus? Woher wissen Sie davon?“ „Na, das ging doch ’rum wie ’ne Flasche Nordhäuser“, sagt achselzuckend die Frau. Kielstein verabschiedet sich und pilgert zur „Schwalbe“ weiter, jenem Lokal in der Nähe, auf das er hingewiesen worden war. Ein Treffpunkt junger und nicht mehr ganz junger Leute, deren Aussehen empfindsame Gemüter schon erschrecken kann. Aber der Wirt scheint seine Kundschaft im Griff zu haben. „Das war niemand, der bei mir verkehrt“, erklärt er. „Erstens kenn’ ich sie alle und trau’s keinem zu, zweitens wär’s längst zu mir durchgesickert. Hier bleibt nichts geheim.“ Mit dem Handschuh weiß er auch nichts anzufangen, wundert sich nur, daß die Diebe bei der Wärme keine dünneren benutzt haben. Ein Gedanke, der Kielstein gleichfalls schon gekommen ist. Zumal der Einbruch offenbar gut geplant war. Der Leutnant kehrt mit leeren Händen in die Dienststelle zurück, aber immerhin hat ihn die Verkäuferin an den Diebstahl in der Gorkistraße erinnert. Das liegt etwa ein Jahr zurück, und wenn er’s bei Licht besieht, gibt es tatsächlich Gemeinsamkeiten. Auch damals kamen die Männer über den Hof, setzten die Brechstange ein. Doch bei genauerer Prüfung des Falls springen eher die Unterschiede ins Auge. Kein Schlüssel wurde benutzt, sondern ein Fenster zerschlagen, außerdem wurden sinnlose Zerstörungen angerichtet. Und was das wichtigste ist, die Täter wurden schnell gefaßt. Sie sind noch dabei, ihre Strafe abzusitzen. Kielstein schiebt die Akte „Schuhhaus“ enttäuscht 149
beiseite. Aber er hat Blut geleckt, sucht nach anderen Vergleichsmöglichkeiten. Wo sind Diebe in der letzten Zeit ähnlich wie in der „Süßen Ecke“ vorgegangen? Wo gibt es offene Akten, konnte ein Fall nicht aufgeklärt werden? Und folgerichtig stößt er auf eine Sache, die ihn aufmerken läßt. Einbruch in einem Geschäft für Damenunterwäsche im angrenzenden Stadtviertel. Die Täter, die noch frei herumlaufen, haben nicht nur eine größere Summe, sondern auch allerhand Waren mitgehen lassen. Damenunterwäsche und Schokolade, das paßt zusammen oder nicht, jedenfalls gibt es ein paar frappierende Übereinstimmungen. Auch hier drangen die Diebe ohne große Gewaltanwendung durch die hinteren Räume ein, auch hier ließen sie etwas zurück. Ein Männertaschentuch, Kielstein springt auf, als er das liest. Männerhandschuhe – Männertaschentuch, Protokollsprache, die aber den Vorteil genauer Charakterisierung bietet. Die Doppelung des Maskulinen und überhaupt die Tatsache, daß zweimal etwas verloren wurde, fällt auf. Vielleicht ist das ein Ansatzpunkt. Das Protokoll stammt von Leutnant Weih, einer erst kürzlich aus Görlitz zu ihnen gestoßenen Kollegin. Kielstein hängt sich sofort an die Strippe, doch er hat kein Glück, die Kriminalistin ist krank geschrieben. Sie hat sich beim Volleyball ein Bein gebrochen. Was hilft’s, er bewaffnet sich mit einem Blumenstrauß, fährt in ihre Wohnung. Auf sein Klingeln öffnet ein etwa achtjähriges Mädchen. „Guten Tag“, sagt Kielstein, „ist die Mutti da? Ich möchte ihr einen Krankenbesuch machen.“ „Bist du von der Kripo?“ fragt die Kleine. „Ja.“ „Ach, dann kommst du bestimmt bloß wegen der Arbeit.“ Obwohl Kielstein durchschaut ist, darf er eintreten. 150
Die Mutter, die aus dem Wohnzimmer das Gespräch mit angehört hat, tadelt ihre Tochter: „Also, weißt du, Heide.“ „Nein, nein“, sagt Kielstein, „die Kleine hat recht. Oder fast, die Blumen sind jedenfalls privat und kommen, wie meine Wünsche auf Besserung, von Herzen.“ Leutnant Weih, trotz ihrer gipsernen Beinverpackung und des bläßlichen Lächelns unterm schwarzen Fransenhaarschnitt ein erfreulicher Anblick, lädt zu einem Kaffee ein, den Kielstein mit Hilfe töchterlicher Hinweise selbst zubereiten muß. Dann wird Heide ins Kinderzimmer geschickt. Es zeigt sich, daß die nun beginnende Fachsimpelei beiderseitige Interessen berührt. „Die Täter haben keine Gewalt angewendet, wie sind sie eingedrungen?“ fragt Kielstein. „Durch die Tür zu den hinteren Geschäftsräumen. Offenbar besaßen sie Schlüssel.“ „War etwa das Sicherheitsschloß defekt?“ „Sie trauen der HO aber auch jede Fahrlässigkeit zu“, sagt die Frau und schüttelt spöttisch den Kopf. „Einer der drei Schlüssel fehlte. Und zwar seit geraumer Zeit. Jeder der beiden Verantwortlichen dort dachte, der andere habe ihn als Reserve in Verwahrung.“ „Bestimmt hatte aber nur eine sehr begrenzte Anzahl von Personen die Möglichkeit, diesen Schlüssel zu entwenden.“ „Das ist richtig, und da haben wir auch angesetzt. Leider erfolglos. Es ist wie verhext.“ Kielstein erkundigt sich noch nach dem Taschentuch und erfährt, daß es unbenutzt war. „Wie neu gekauft und pro forma durchs Wasser gezogen“, erklärt die Kollegin. „Na ja, Leute, die Damenwäsche klaun, sind eben sauber.“ Sie muß selbst über das Paradoxe ihrer Worte lachen. Kielstein überlegt. „Haben Sie schon mal daran gedacht, daß eine Frau mit im Spiel sein könnte?“ fragt er zögernd. 151
„Sie meinen, das liegt bei so weiblichen Artikeln nahe?“ „Noch näher als bei Pralinen und Bohnenkaffee.“ „Wir haben uns das Verkaufspersonal sehr genau angeschaut“, erwidert Leutnant Weih ausweichend. „Und die einschlägige Kartei?“ „Nichts, was man eine Spur nennen könnte.“ Sie trinken ihren Kaffee, dann taucht Heide wieder auf, und Kielstein wird klar, daß er die von ihr genehmigte Zeitspanne zu überziehen beginnt. Er fragt noch: „Ist denn nichts von der gestohlenen Ware aufgetaucht?“ „Ein größerer Posten nicht. Im übrigen: Überprüfen Sie mal so was!“ Der Leutnant grient. „Zugegeben, das ist in diesem Fall schwierig.“ Dann bedankt und verabschiedet er sich. Als er sich zur Tür wendet, fragt die Frau: „Sie glauben, die beiden Fälle haben miteinander zu tun?“ „Wer weiß. Vielleicht gibt es jemanden, der zu den beiden Verkaufsstellen enge Beziehungen hat.“ „Und wie soll man den finden?“ „Da müßt ihr eben eure Kräfte zusammenschmeißen“, sagt altklug und überraschend das Kind Heide.
8 „Nicht so verspannt.“ Jeffi legt den Stift aus der Hand und geht zu Antje, die von Kissen umgeben in der Sofaecke lagert. Mit angezogenen Beinen und nichts auf dem Leib als einem weißen wallenden Trägerhemd. „Wir wollen ein romantisches Bild machen, etwas Altes, das ganz neu wirkt. Dazu brauch’ ich dich völlig gelöst. So …“ Sie nimmt die Hände des Mädchens, legt sie um die Knie. 152
„Den Kopf weiter zurück, den Blick … na ja … in die Ferne gerichtet, aufs Fenster.“ „Was du dir so ausdenkst“, erwidert Antje. „Eigentlich lieb’ ich das Kühle. Mit einem Zug zum Surrealistischen. Hier.“ Jeffi zeigt auf eine Zeichnung, die gerahmt an der Wand ihres Zimmers hängt. „Aber mit dir ist das was anderes.“ Ihre Stimme wird weich. Das Bild an der Wand, in konturiertem Schwarzweiß, stellt eine junge Frau dar. Sie ist nackt und ihr Körper mehrfach durch Spiegel gebrochen. In der Hand hält sie eine Blume. Ihr langes Haar zerfließt und verbindet sich mit den Schatten im Hintergrund. Das ist gewiß das „Süralistische“, denkt Antje und fragt die Freundin: „Wer ist das?“ „Eine ehemalige Bekannte. Ist nicht wichtig.“ „Hätt’ ich nicht gedacht, daß ich mal Modell steh’.“ „Ich will dich noch oft zeichnen“, sagt Jeffi und greift wieder zum Stift. Das Bild mit jener Bekannten hat Erinnerungen in ihr ausgelöst. Kurz vor der Trennung von Reimar war Lydia in ihr Leben geschneit, die Frau eines Ökonomen. Aber Lydia konnte sich nicht entschließen, ihren Mann zu verlassen. Inzwischen war aus dem temperamentvollen Weibchen übrigens ein braves Ehekalb geworden. Vor kurzem hatten sie sich zufällig getroffen. Nichts, was sie mehr verband. Eine Weile arbeitet Jeffi, läßt den Blick prüfend zwischen ihrem Skizzenblock und Antje hin- und herwandern. Sie wirkt äußerlich konzentriert, ist aber nicht voll bei der Sache. Sie spürt selber, daß es ihr im Grunde an Inspiration fehlt und daß sie der Kleinen nur imponieren will. „Genug für heute“, sagt sie schließlich, „Inge wird gleich kommen.“ Antje springt erlöst vom Sofa und eilt zu ihr. „Laß mich sehen, mich hat noch nie jemand gemalt.“ Sie beugt sich über die Schulter der Freundin, die auf ei153
nem Stuhl sitzt. „Ich hab’ ja gar keinen richtigen Körper.“ „Das Beste zuletzt.“ Die andere wirft ihr einen Blick zu, in dem Begehren blitzt. Das dünne Hemd legt sich um Antjes Leib, so daß sich dessen Umrisse abheben. Die Brüste, das Dreieck über den Schenkeln. „Du bringst mich ganz durcheinander, Häschen.“ Jeffi stukt ihr den Kopf in die Seite, gibt ihr durch den leichten Stoff hindurch einen Kuß auf die Hüfte. Für Antje ist das ein Gefühl, wie sie es bisher nur bei Männern empfand. Bei Jürgen und den Jungs, die sie vorher kannte. So ein leichtes Prickeln auf der Haut, das sich kreisförmig ausbreitet, strahlenartig den ganzen Körper durchdringt. Jeffis Hand streicht über Antjes Brustspitzen, und das Mädchen fragt sich, was manche Leute gegen die Liebe zwischen Frauen haben. Frauen sind viel zärtlicher als Männer, außerdem braucht man die blöde Pille nicht. Und keinen Arzt für den Notfall. Wenn das kein Vorteil ist. Ein paar Augenblicke gibt sie sich genießerisch dem Kitzel hin, dann jedoch entwindet sie sich der fordernden Hand. Nicht wegen irgendwelcher letzter Bedenken, sondern wegen Inge, die erwartet wird. Inge gefallen die Vertraulichkeiten zwischen den beiden Gefährtinnen nicht, das spürt Antje. Sie befürchtet Streit, und davon hat sie in der letzten Zeit genug gehabt. „Ich zieh’ mich dann an.“ Ihre Stimme klingt belegt. Jeffi hat sich wieder in der Gewalt. Sie legt den Block weg und steht auf. „Ja, Kleines, tu das.“ Der Klaps, den sie ihr hinten draufgibt, ist kameradschaftlich. Antje läuft zu ihren Sachen. Jetzt hat sie Lust, das Spiel noch etwas zu verlängern. Sie läßt das Hemd fallen und zeigt sich in voller Frische, ehe sie nach Slip und Jeans greift. Jeffi steht wie angenagelt, schaut ihr mit leicht zusammengekniffenen Augen zu. „Ist vielleicht besser, wenn ich gehe, meine Wirtin 154
wundert sich sowieso, daß ich abends kaum zu Hause bin.“ „Was hat deine Wirtin damit zu schaffen?“ „Ich mein’ ja bloß“, sagt Antje. „Wie du willst.“ Jeffi ist etwas vergnatzt. „Morgen hab’ ich noch frei, den letzten Tag, ich hol’ dich von der Arbeit ab.“ Richtig, am Donnerstag tritt Antje ihre Stelle in der Bootsausleihe an. Aushilfsweise. Wenn man vom Verdienst absieht, kein ungünstiger Job. Jeffi lenkt ein: „Wir treffen uns lieber irgendwo im Zentrum, halb fünf am Pavillon. Ich sag’ Inge Bescheid.“ Antje ist angezogen. Bevor sie endgültig geht, entschließt sie sich zu einer versöhnenden Geste. Sie läuft zu Jeffi und umarmt sie. „Die Zeichnung wird bestimmt super, ich bin richtig gespannt.“ „Schmeichelkatze“, sagt Jeffi, „du weißt, wie du einen rumkriegst.“
9 Zwanzig Minuten nachdem Antje aus dem Haus ist, trifft Inge ein. Sie schließt auf, kommt in den „Salon“, wo sie ihre Handtasche auf den Tisch schmeißt, und schaltet den Fernseher an. Dann klopft sie bei Jeffi, die den Skizzenblock in die Schublade ihrer Kommode gepackt hat. Ohne ein „Herein“ abzuwarten, steckt sie den Kopf durch die Tür: „Du bist so still, schläfst du?“ „Nicht direkt, ich hab’ nachgedacht.“ „Brr … muß das sein?“ „Kann ja nicht jeder in den Tag hinein leben wie du.“ „Und worüber hast du nachgedacht?“ „Über das Leben, die Zukunft.“ 155
„Das haben meine Alten auch immer gemacht“, sagt Inge, „aber geblieben sind sie lächerliche Spießer.“ Jeffi ist gereizt: „Ich bin nicht wie deine Alten, das solltest du gemerkt haben.“ „Schon gut.“ Inge ist zufrieden, daß sie Antje nicht zu Hause vorgefunden hat, und bereit, etwas für die Harmonie zu tun. „Ich koch’ uns ’nen Kaffee, willst du?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie in die Küche und stellt Wasser auf. Sie will auch ein paar Brötchen belegen, aber das Brotfach ist leer. Nur drei Zwiebäcke finden sich, die sie mit Butter bestreicht. Jeffi hat es sich vorm Fernseher bequem gemacht. Sie raucht und schaut sich einen Film über Ostafrikas Tierwelt an. Einfach, um beschäftigt zu sein. „Das Brot ist alle.“ Inge stellt die Zwiebäcke auf den Tisch. „Na und, kann ich was dafür?“ „Hab’ ich ja nicht behauptet.“ „Aber gedacht. Weil ich mich immer um alles kümmre. Hättest schon längst einkaufen müssen.“ Inge zieht es vor, nichts zu erwidern, zumal die andere recht hat. Bloß nahm es Jeffi bisher nie tragisch, wenn ihre Freundin was im Haushalt verschlampte. Sie machte sich höchstens lustig darüber. „Wie geht’s deinen Magenkrämpfen?“ fragt Jeffi plötzlich. „Kaffee dürfte dafür nicht das Richtige sein.“ „Woher weißt du das?“ „Ist doch uninteressant. Du gehst zwei Tage nicht in den Betrieb, und unsereins denkt, alles wär’ in bester Ordnung.“ „Das hast du von Michael, diesem Klatschonkel.“ Michael, Meister im Gummiwerk, hat Jeffi in Verkennung der Lage mal den Hof zu machen versucht und gibt sich noch jetzt Mühe, ihr hin und wieder über den Weg zu laufen. „Vielleicht von Michael, vielleicht von deinem Direk156
tor persönlich, du weißt, daß die Männer schwatzhaft sind.“ „Hör auf zu schimpfen“, wehrt sich Inge. „Ich acker ja längst wieder.“ „Die werden dich bald rausschmeißen.“ „Wenn du glaubst, daß mich das kratzt.“ Das Letzte ist Inge gegen ihren Willen herausgerutscht, sie weiß, daß die Freundin auf so was allergisch reagiert. Besonders im Augenblick. Und sofort kommt auch der erwartete Ausbruch: „Red nicht solch hirnloses Zeug, du wirst uns noch alle in Teufels Küche bringen mit deinem Verhalten. Dich mag es ja nicht kratzen, wenn sie sich fragen, wovon eine lebt, die ständig bummelt. Aber mich, die immer was Neues erfinden muß, um Zigaretten und Kledasche zu bezahlen, mich kratzt es schon.“ „Du tust, als würd’ ich meinen Kopf nicht hinhalten.“ „Zu dämlich hältst du ihn hin, das ist es ja gerade.“ „Hör zu“, sagt Inge, die sich mittlerweile doch ärgert und merkt, daß aus dem harmonischen Abend wieder mal nichts wird. „Ich will mich ja nicht mit dir streiten, aber was bringt’s schon, wenn wir ab und zu ein Ding riskieren und trotzdem brav wie die Püppchen leben. Man muß genießen und dann was Neues loslassen. Und nicht immer bloß so’ne Schoten. Was richtig Starkes, verstehst du. Du glaubst, ich hab’ nicht viel im Kopf, aber du irrst dich. So gebildet wie du bin ich nicht, trotzdem lass’ ich mir manchmal was einfallen. Ich bin an ’ner Sache dran, ein richtiger Coup; wenn wir das durchziehn, sind wir für lange Zeit aus dem Schneider. Ich mach’s auch allein, wenn ihr Angst habt.“ Und ohne sich genauer zu erklären, greift sie nach ihrer Kaffeetasse, erhebt sich, geht hinüber in ihr Zimmer.
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10 Ronald Lebholz versucht die Tür zur Abstellkammer zu öffnen, doch sie ist stabil und fest verschlossen. „Diese Kuh“, brummt er, „diese hinterhältige Kuh, na warte nur, ich krieg’ dich schon, so schlau wie du bin ich allemal.“ Er läuft zurück in die Küche, beginnt in Schubfächern und Kästen nach dem Schlüssel zu suchen. Besteck, Geschirr, Haushaltsgegenstände, Streichhölzer. Unter der Schachtel mit den Kerzen hat er früher mal gelegen, aber jetzt ist da nichts. Wütend stößt der Mann gegen die Kochtöpfe, daß sie laut scheppern. „Und wenn ich die ganze Bude auf den Kopf stelle.“ Ronald ist vor einer halben Stunde nach Hause gekommen und in der Stimmung, mit einem Känguruh zu boxen. Er hat gearbeitet, jawohl, seit sechs Tagen hilft er im Freibad aus, leert Papierkörbe und repariert Liegestühle, doch Geld kriegt er nicht in die Hand. Erst am Siebzehnten des Monats, bis dahin vergeht noch mehr als eine Woche. Aber der Schnaps ist alle, am Morgen hat er die letzte Flasche Bier getrunken, und Manja rückt nicht den kleinsten Schein heraus. Willi, der Schwimmeister, den er vergeblich anzupumpen versucht hat, ist wenigstens bloß geizig, sie dagegen tut das alles aus Gemeinheit. Trotzdem wird er sie austricksen, denn wenngleich sie gerissen ist, so doch auch dumm. Sie war immer dümmer als er, das hat sie ihm nie verziehn. Er liebte sie und sah nicht darauf, aber seine Mutter hatte ihn gewarnt. Schau nicht auf ihren runden Hintern, du brauchst was zum geistigen Austausch. Manja las keine Zeitung, geschweige denn ein Buch. Und obwohl er selbst auch seit langem nicht mehr zum Buch greift, höchstens vorm Fernseher hockt, hält er ihr das in Gedanken stets vor. 158
Plötzlich kommt Ronald eine Idee, er verläßt die Küche, eilt ins Schlafzimmer. Im Nähkasten entdeckt er nichts, aber als er in der Bettwäsche kramt, stößt er auf etwas Hartes. Ein alter Schlüssel, eisern und relativ groß. Befriedigt verläßt er das Schlafzimmer. In der Abstellkammer, zwei mal drei Meter groß und fensterlos, herrscht Ordnung. Dafür sorgt seine Frau: Eimer, Feger, Mop und Kehrschaufel sind akkurat neben einem alten Schrank aufgereiht. Als Ronald das Licht einschaltet, sieht er, daß auch hier der Schlüssel fehlt. Das war beim letztenmal, als er etwas suchte, noch nicht so. Die Alte hat sich doppelt abgesichert. „Diese Kuh, diese Kuh …“ Er rüttelt an der Schranktür. Durch die Fugen dringt schwacher Kaffeegeruch, irgendwas hat sie da versteckt. Pech, daß er kürzlich abends zu dun war, um darauf zu achten, wen sie zu Besuch hatte. Wahrscheinlich eine ihrer Busenfreundinnen, er kann die beiden nicht ausstehn. Wenn sie mal auf ihn treffen, behandeln sie ihn, als wäre er Luft. Verpestete Luft, genau gesprochen. Vor allem diese arrogante Blondine, die sich wie ein Mann anzieht. Andersrum sind die beiden, da braucht man nur einmal hinzusehen. Und sie machen Musche-Musche-Geschäfte; bisher hat er nichts dazu gesagt, weil ab und zu ein Zehner abfiel, doch wenn Manja glaubt, sie kann ihn ganz ausschließen, wird sich das ändern. In dem Schrank ist bestimmt Schnaps, und wenn nicht, läßt Kaffee sich dazu machen. Oder was immer sich hinter dieser alten Holzwand verbirgt. Wieder rennt Ronald ins Schlafzimmer, doch diesmal erfolglos. Vielleicht hat sie den Schlüssel mitgenommen. Auf jeden Fall muß er das Ding aufkriegen. Daß er was rausgeholt hat, merkt sie sowieso irgendwann. Er hat schon das Stemmeisen in der Hand, da fällt ihm eine Büchse mit Schnüren ein, in der auch alle möglichen Schrankschlüssel liegen. Solche, die nicht mehr 159
gebraucht werden, nirgendwohin passen. Die Büchse steht seit ewigen Zeiten im Schuhregal, er holt sie, beginnt die Schlüssel durchzuprobieren. Einer ist dabei, der zumindest ins Schloß geht. Mit Fingerspitzengefühl und ein wenig Geduld müßte der Safe zu knacken sein. Ronald ist so beschäftigt, daß er nicht hört, wie die Wohnungstür aufgeschlossen und die Küchentür geöffnet wird. Wie ein Dieb im eigenen Haus, bewegt er das kleine Stück Metall, das nicht fassen will, im Schlüsselloch hin und her, dreht es, drückt zur Unterstützung gegen die Tür. Aber plötzlich erstarrt er – ein Geräusch in der Küche, und schon steht Manja in der Abstellkammer: „So ist das also, du spionierst hinter mir her, willst mich beklaun.“ Ronald fährt herum, der Schlüssel, der nicht paßt, bleibt im Schloß stecken. Er ist ertappt, bevor er noch sein Ziel erreicht hat, das kränkt ihn besonders. Doch er hat nicht viel Zeit, sich groß getroffen zu fühlen. Schon ist Manja, außer sich vor Zorn, bei ihm, stößt ihn heftig zur Seite. Er prallt gegen die Wand, tritt auf einen Besen, dessen Stiel ihm ins Kreuz schlägt. Ein Eimer fällt um, die Blechkante rasiert ihm schmerzhaft den Knöchel. „Bist du verrückt“, schreit er zurück. Die Tatsache, daß der Schrank noch verschlossen ist, beruhigt die Frau nicht. „Wo hast du den Schlüssel für die Kammer her, du hast in meinen Sachen gewühlt.“ Sie tritt drohend auf ihn zu. Ronald greift nach einer Kehrschaufel, die am Boden liegt, und hält sie als Schild vor die Brust. „Komm ja nicht näher.“ „Alter Säufer“, keift Manja, „hast wieder nach Schnaps gestöbert. Der Schrank gehört mir, er stammt von meinen Großeltern und geht dich nichts an. Und was drin ist, gleich gar nichts.“ „Das ist auch meine Wohnung. Du hast kein Recht, die Abstellkammer zu verrammeln.“ 160
Die Erregung der Frau klingt ab, ihre Stimme wird nun kalt und verächtlich. „Papperlapapp. Das Recht nehm’ ich mir. Vor dir ist ja nichts sicher.“ „Treib es nicht zu weit. Denk nicht, du kannst alles mit mir machen.“ „Pff …“, Manja nimmt den nicht passenden Schlüssel aus dem Schrankschloß und wendet sich zur Tür. „Los, komm da raus!“ Die Enttäuschung bringt Ronald fast um. Er versucht aufzubegehren. Ohne die Schippe wegzulegen, verlangt er: „Sag mir, was du in dem Schrank hast.“ „Nichts, womit du was anfangen könntest.“ „Du hast Kaffee drin, Schokolade. Ich hab’s gerochen.“ „Na und? ’ne Hausfrau braucht so was.“ „’ne Hausfrau, da lach’ ich. Das riecht nach Kaffee und stinkt nach faulem Fisch. Deine beiden Jungfern stecken dahinter. Da verwett’ ich meine zehn Finger.“ „Dann kannst du wenigstens die Pulle nicht mehr halten“, erwidert Manja sarkastisch. „’raus jetzt, sonst schließ’ ich dich ein.“ Das ist freilich eine leere Drohung. Sie würde ihn nie mit ihren Schätzen allein lassen. Ronald begreift es sofort und grient. „Einen Fünfziger“, sagt er, „und ich komme.“ Manja begeht einen Fehler. Anstatt die Ruhe zu bewahren und mit ihrem Mann zu verhandeln – wahrscheinlich würde er sich mit zwanzig Mark zufriedengeben, vielleicht mit zehn –, läßt sie sich wieder von der Wut übermannen. Einen Besenstiel packend, der abgebrochen an der Wand lehnt, geht sie erneut auf ihren Mann los. Zeternd und nach ihm schlagend. „Du willst mich erpressen, hier hast du deinen Fünfziger, ’raus, hab’ ich gesagt, keinen Zehner kriegst du, verdien dir deinen Schnaps selber, wenn du welchen saufen willst.“ Sie verschluckt sich an ihrem Zorn und fängt an zu husten. 161
Ronald versucht sich zur Wehr zu setzen. Kleiner als sie und schmächtig, verfügt er über einige Gewandtheit. Mit dem Rücken zur Wand stehend, verteidigt er sich mit der Blechschippe, schlägt sogar zurück. Dabei kommt ihm zustatten, daß seine Frau blindlings auf ihn eindringt. Als sie ihn mit harter Hand am Arm packen will, entwindet er sich ihr, wirft mit der Kehrschaufel nach ihr und rennt zur Tür. Manja, am Knie getroffen, schreit vor Schmerz auf, bleibt einen Augenblick wie gelähmt. Das genügt ihm, denn im Nu ist er draußen, zieht die Tür zu und dreht den Schlüssel, der noch im Schloß steckt, zweimal herum. Sie rennt gegen die Tür an, doch das ist nun zu spät. „Mach auf, laß mich sofort hier ’raus, sonst kannst du was erleben.“ Ronald, aufatmend, reagiert nicht. Sie trommelt mit den Fäusten und den Füßen gegen das Holz, ohne Erfolg, es ist dick und fest. Eher wird sie sich verletzen, als daß die Bretter nachgeben. „Du wolltest mich einschließen“, frohlockt Ronald, „jetzt sitzt du selber in der Falle. Dämliche Kuh, nun kannst du da drin sitzen und drüber nachdenken, wer von uns beiden mehr Grips im Kopf hat. Bis du schwarz wirst. Wenn dir’s eingefallen ist, darfst du mit mir drüber reden. Vielleicht lass’ ich dich dann wieder ’raus.“ Manja, ohnmächtig, wütet: „Schließ auf, oder ich schrei’ das ganze Haus zusammen.“ „Schrei doch, mein Schatz, die Leute werden sich freun. Ich erzähl’ ihnen, wie du mit mir umspringst. Und was du für Geschäfte machst.“ Er setzt sich auf einen Stuhl, kümmert sich nicht mehr um ihr Gezeter. Das nach einer Weile in Jammern übergeht. In Betteln – es muß ihr schwerfallen. „Hör zu, du hast ja recht, ich hab’ mich dumm benommen. Laß mich ’raus, dann geb’ ich dir die fünfzig Mark. Du kriegst das Geld, ich versprech’s.“ 162
Auf dem Küchentisch liegt ihre Handtasche – er sieht es erst in diesem Augenblick. Jetzt ein Bier und einen doppelten Korn, das wäre die Krönung. Er greift sich die Tasche, kippt ihren Inhalt aus. Da ist das Portemonnaie, drin zwei Fünfzig-, mehrere Zwanzig- und Zehnmarkscheine, Dazu Kleingeld, eine ganze Handvoll. „Zu spät, Liebling“, ruft er vergnügt, „ich hab’ mich bereits bedient. Das reicht für ’ne Weile, aber keine Angst, wir unterhalten uns weiter. Nachher, wenn du nicht mehr so aggressiv bist. Bis dahin good-bye.“ Er stopft das Geld in die Taschen seiner Jacke, schnappt sich ihr Schlüsselbund und verläßt, ihr erneutes Gezeter überhörend, die Küche. Im Flur kommt ihm noch eine Idee, eine spaßige, er ist jetzt ausgesprochen heiter gestimmt. Er geht zum Sicherungskasten und unterbricht den Strom. „Im Dunkeln kannst du besser nachdenken.“ Dann wirft er, zufrieden mit sich und dem Lauf der Dinge, die Wohnungstür hinter sich zu, schließt ab und eilt beschwingt die Treppe hinunter.
11 Kielstein hält sich an den Vorschlag der achtjährigen Heide, die Kräfte mit ihrer Mutter zusammenzuschmeißen. Bothe scheint davon weniger begeistert, schon mehrfach hat er mißtrauisch grienend gefragt, ob die notwendigen Erkundigungen von der krank geschriebenen Bianca Weih nicht endlich eingeholt wären und wann überhaupt er diesen bescheidenen Fall als gelöst und abgeschlossen melden könne. Er erteilt dem Leutnant auch alle möglichen Aufträge zwischendurch, läßt ihn die Ursachen eines Badeunfalls ergründen, schickt ihn zu Dienstbesprechungen, vor denen er sich selber 163
drückt. Kielstein beschwert sich, wirft dem Hauptmann vor, die Schokoladendiebe weniger wichtig zu nehmen, als er vorgibt, doch damit kann er seinen Vorgesetzten keineswegs beeindrucken. „Ich vertraue deinen Fähigkeiten. Daß ich gerade dich darauf angesetzt habe, sollte dir doch beweisen, für wie wichtig ich sie halte. Du schaffst das spielend nebenbei.“ Die Sache selbst ist mühevoll. Der Leutnant hat sich Listen mit sämtlichen Personen zusammenstellen lassen, die theoretisch an die Schlüssel heran konnten, und sucht nach Verbindungslinien. Eine Verkäuferin aus der „Süßen Ecke“ zum Beispiel erhält bevorzugt ihre BHs aus der „Wäschetruhe“ und liefert dafür gelegentlich Weinbrandbohnen ohne Kruste. Oder die Raumpflegerin, die in der „Truhe“ eine Bekannte hat. Kielstein holt vorsichtig Erkundigungen über sie ein und spricht die Ergebnisse dann mit der Kollegin Weih durch. Beim Kaffee, den er wie bei seinem ersten Besuch selber bereitet. Allerdings kennt er sich inzwischen so gut in der Küche aus, daß ihm Heide, sofern sie nicht ohnehin in der Schule weilt, kaum noch Anweisungen zu geben braucht. „Was ist mit dem Kraftfahrer, den wir auf der Liste haben“, fragte Bianca, während sie den Zucker in ihrer Tasse verrührt, „dem vom Stadttransport – er lieferte ja die Textilien an, war aber auch für Lebensmittelfrachten eingesetzt. Habt ihr ihn überprüft?“ „Überprüft schon. Terminlich käm’s sogar hin. Eine Fuhre mit Genußartikeln vor vierzehn Tagen, darunter auch für die ,Süße Ecke‘. Trotzdem deutet nichts auf eine Beteiligung hin. Ein zuverlässiger Arbeiter.“ „Vielleicht ist der Beifahrer nicht so zuverlässig.“ „Die Beifahrer haben gewechselt, damit ist kaum was anzufangen“, murrt Kielstein unzufrieden. Bianca rückt ihr Gipsbein zurecht und denkt angestrengt nach, eine Beschäftigung, die ihr das Aussehen eines Schulmädchens verleiht. „Vielleicht haben wir 164
noch nicht alle Möglichkeiten ins Auge gefaßt, vielleicht waren in beiden Geschäften die Maler, die Fußbodenleger.“ „Die Elektriker“, ergänzt Kielstein spöttisch, „die Glaser. Und immer zum richtigen Zeitpunkt. Tut mir leid, altes Mädchen, du bist Romantikerin. Zuviel Wunder und Unwahrscheinlichkeiten.“ „Sag nicht altes Mädchen zu mir, für eine Zweiunddreißigjährige ist das eine Beleidigung.“ „Das war eine Falle. Auf diese Weise hast du mir dein Alter verraten.“ „Sieh an“, sagt die Frau und wird ein wenig rot, „von euch männlichen Spürnasen kann man manchmal tatsächlich was lernen.“ Das Wetter hat umgeschlagen, es ist noch warm, aber regnerisch, kurze gewittrige Schauer wechseln mit Trockenphasen, und Kielstein öffnet auf Verlangen seiner Gastgeberin weit die Fenster. Die frische, feuchte Luft strömt ins Zimmer, füllt es aus. „Herrlich ist das“, begeistert sich Bianca, „jetzt, wo ich nicht ’runter kann, genieß’ ich die Kühle besonders.“ Und sie fügt nach einer Pause hinzu: „Ob die Leute, hinter denen wir her sind, auch solche Empfindungen haben?“ „Wieso nicht“, erwidert Kielstein verwundert, „sie sind doch keine Roboter. Auf derartige Gedanken können nur Frauen kommen.“ „Auch wenn du mich für naiv hältst, ich überleg’ mir das oft. Menschen wie du und ich, wenigstens im Prinzip, die sich lieben, ärgern, sich an der Natur, am schönen Wetter erfreun, begehen Verbrechen. Weshalb? Aus Not gewiß nicht, die Zeiten sind zum Glück vorbei. Aus Veranlagung etwa, um sich aufzuspielen, zu rächen, aus Gier? Das alles ist möglich, dennoch erstaunt’s mich immer wieder. Wir sind doch auch nicht so.“ „Da spielen wohl die jeweiligen Verhältnisse eine Rolle, die Probleme jedes einzelnen“, sagt Kielstein. 165
„Wir haben auch unsere Probleme.“ „Wir sind brave Bürger und bei der Polizei.“ „Die wenigsten sind bei der Polizei“, erwidert Bianca, „und nicht jeder, der seine Unterwäsche regulär kauft, ist ein braver Bürger. Brav halte ich in diesem Zusammenhang überhaupt für ein blödes Wort.“ „Es war ironisch gemeint“, erläutert Kielstein. „Du nimmst unsere Tätigkeit nicht ernst.“ „Doch, doch. Weil ich sie ernst nehme, erlaube ich mir, etwas humorvoll damit umzugehn. Das hab’ ich von Bothe, er hält’s ebenso. Er hat sich’s in der schweren Zeit nach dem Krieg angewöhnt, sagt er. Wenn’s dicke kommt, behelfen wir uns damit. Mitunter stelle ich mir vor, alle Leute würden so verfahren: Pädagogen, Verkäufer, Handwerker, Politiker. Manches bei uns wäre besser zu packen.“ „Ich bezweifle, ob man Einbrecher und Mörder mit Humor besser packt“, sagt Bianca. „Es war allgemeiner gedacht. Wenn du so hart argumentierst, muß ich mich natürlich geschlagen geben.“ Nach solchen Abschweifungen, die nicht konkret zur Klärung des Falles beitragen, aber Vertrauen schaffen, kehren sie wieder zum Thema zurück. Da sich unter dem eigentlichen Personal kein Verdächtiger befindet, ziehen sie den Kreis weiter. „Ich muß mich bei den Fensterputzern umsehen“, sagt Kielstein, denn in einem seiner ersten Fälle spielte ein junger Mann aus dieser Berufsgruppe eine unrühmliche Rolle. Meine Fußbodenleger wollte er nicht, denkt Bianca und stichelt: „Vielleicht auch bei den Dekorateuren.“ „Vielleicht …“ Kielstein sieht Biancas Lächeln und murrt: „Ach was, du willst mich ja bloß auf den Arm nehmen.“
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12 Antje ist von Jeffis Wissen und Souveränität beeindruckt, aber ihr imponiert auch Inges Schnoddrigkeit. Nie wird sie die Geschichte mit dem Lada vergessen, die passierte, als sie noch keine Woche in der Stadt war. Der Einfall kam natürlich von Jeffi. Antje hatte mehrfach mit ihren Fähigkeiten beim Autofahren geprahlt: „Das kann ich wirklich, Jürgen war Fahrlehrer, der hat mir alle Kniffe beigebracht.“ Und dann ergab sich diese Gelegenheit. Sie waren, nach einem Trip durch die Innenstadt, am Ende des Parkplatzes angelangt, wo sich ihr Wartburg befand. Eigentlich war nichts Besonderes los gewesen, über eine Ziege im Exquisit hatten sie sich geärgert, die ihnen wegen einem Paar Sandalen dumm gekommen war, und nun wollten sie noch nicht nach Hause, Plötzlich sagte Jeffi: „Siehst du den weißen Lada dort drüben, den mit der offenen Tür?“ „Ja, was ist damit?“ „Ich hab’ ihn schon ’ne Weile im Blick. Der Fahrer steht da hinten bei dem LKW und quasselt. Er hat sogar den Zündschlüssel steckenlassen, ’ne richtige Einladung.“ „Du willst doch kein Auto klaun.“ Sie standen im Schatten einer Baubude, Leute waren kaum hier, sie fielen nicht auf. Jeffi tauschte einen Blick mit Inge, die sofort kapiert hatte. „Wär’ ’ne Mutprobe, was“, sagte sie. „Wer spricht von mir?“ Jeffi trat auf Antje zu und zog ihr die Jeansmütze in die Stirn. „Du borgst dir für ein Weilchen seine Quetsche. Mit der Mütze und deiner Sonnenbrille siehst du wie ’n Kerl aus, keiner wird dich später wiedererkennen. Du steigst ein und fährst los, alles andere ergibt sich.“ Auch Inge mit ihrer Mütze und Sonnenbrille glich einem Kerl. Antje hatte zu diesem Zeitpunkt schon mitgekriegt, daß die beiden auf die Männermasche bauten. 167
Solche Sachen traute man Frauen nicht zu, das nutzten sie aus. Aber diesmal wurde ihr mulmig. „Das ist … gefährlich.“ „Jetzt kannst du beweisen, daß du kein Feigling bist und wirklich was drauf hast mit Autos“, sagte Inge. „Das hab’ ich doch schon. Gestern, als wir mit der Karre am See waren.“ „Das war gar nichts.“ Jeffis Stimme klang anders als sonst, hart, fast brutal. „Ich möcht’ wissen, ob man sich wirklich auf dich verlassen kann.“ Antje schluckte. Wenn sie jetzt ablehnte, war sie unten durch bei den beiden. Dann mußte sie künftig auf ihre Freundschaft verzichten. Das wollte sie nicht. „Wohin … ich meine …“ „Das wird dir Inge sagen, ich denke, sie fährt mit.“ „Na los, bevor die da hinten sich ausgequatscht haben.“ Inge wandte nichts ein, vielleicht hatten die beiden auf so eine Gelegenheit gewartet. Sie setzte sich in Bewegung, Antje, ein wenig erleichtert, daß sie’s nicht allein machen sollte, folgte ihr. Der Lada stand nur ein paar Meter entfernt, nahe der Ausfahrt – niemand beachtete sie. Auch der Besitzer des Wagens nicht, der sich, ein ganzes Stück weg, nach wie vor mit dem Fahrer des LKWs unterhielt und ihnen den Rücken zukehrte. „Besser kann’s gar nicht laufen“, flüsterte Inge und stand bereits rechts neben dem Lada. „Du fährst die Chaussee lang, da ist alles Hauptstraße und kaum ’ne Ampel. Ich sag’ dann, wo wir abbiegen.“ „Am hellichten Tag, das ist verrückt.“ „Denk nicht dran, ’rein jetzt.“ Jeffi war zurückgeblieben, hatte sich ins eigene, schon etwas klapprige Auto gesetzt, doch das merkte Antje erst später. Sie hatte die Bedenken weggewischt, sich entschlossen. 168
Im Wagen war es trotz der bis dahin halboffenen Tür und eines herabgekurbelten Fensters warm. Antje saß gut, wenn auch der Abstand zum Lenkrad etwas groß war. Keine Zeit, den Sitz zu verstellen oder den Gurt anzulegen. Sie öffnete die rechte Tür, damit Inge einsteigen konnte, startete, trat die Kupplung, schaltete. Die Handbremse war nicht angezogen, brauchte also nicht gelöst zu werden. Blick in den Spiegel, dann nach vorn, das alles war Sekundensache. „Ab geht’s“, zischte Inge, doch da rollten sie schon. Nein, Antje schoß nicht los wie die Feuerwehr, auch nicht mit Hauruck und quitschenden Reifen, sondern sanft, behutsam. Einer wollte vor ihr auf die Straße, ein grauer Trabant, an dem ging sie auf schmalstem Raum vorbei, kalt wie Wolfsschnauze. Und erst in diesem Augenblick kriegte der Lada-Mann was mit oder genauer sein Gesprächspartner, der LKW-Fahrer, der oben in seiner Kabine die bessere Sicht hatte. „He, da haun welche mit deiner Karre ab“, so oder ähnlich mußte er sich wohl ausdrücken, zu hören war das hier im Wagen nicht. Inge, die nach hinten schielte, sagte nur: „Jetzt voll auf die Tube, bei denen hat’s geklickt“, und Antje sah im Rückspiegel, wie der Ladabesitzer gestikulierend und schreiend hinter ihnen herlief. Der Kerl im LKW startete, wollte offenbar die Verfolgung aufnehmen, aber das war natürlich aussichtslos. Zumal plötzlich, rein zufällig, Jeffis Wartburg die Ausfahrt blockierte. Dennoch ging es nicht ohne Komplikationen ab. Als letztes, bevor sie zu weit weg waren, um etwas zu erkennen, kriegten sie mit, daß der Lada-Mann ein Funktaxi anhielt. „Verdammt“, knurrte Inge, „jetzt kann’s heiß werden, der verständigt bestimmt die andern und die Polente, wir müssen uns schnellstens dünnemachen.“ Antje gab keine Antwort. Sie mußte sich auf den Verkehr konzentrieren, immerhin war die Gegend fremd 169
für sie. Auf dieser Straße waren sechzig Stundenkilometer erlaubt, sie fuhr fünfundsiebzig, mehr würde auffallen. Doch da tauchte im Rückspiegel das Taxi auf, weit hinten zwar, aber auf der Spur. „Rechts abbiegen und nochmals links“, zischte Inge, „dann kannst du aufdrehn.“ Antje schnitt einem Bus die Vorfahrt, überquerte bei Gelb eine Kreuzung, trat aufs Gaspedal. Eine Allee, gut asphaltiert und leicht gekrümmt, das Taxi war verschwunden. „Wo wollen wir überhaupt hin?“ „Ein Stückchen ins Blaue, nicht weit.“ „So ’ne Fuhre hab’ ich noch nie gemacht“, Antjes Stimme war heiser, „ich könnt’ bis Berlin durch.“ „Die hätten uns nach zwanzig Kilometern am Wickel.“ Plötzlich heulte eine Polizeisirene hinter ihnen auf, sie konnte sonstwem gelten, aber wußte man’s? Vorn schaltete die Ampel gerade auf Rot, es würde einen Stau geben. Kurz entschlossen bog Antje erneut ab, nachdem sie noch einen Traktor mit Hänger überholt hatte. Sie ließ sich auch von einem Einfahrtsverbot nicht abhalten. „Einbahnstraße“, schrie Inge, „bau bloß keinen Scheiß!“ „Du machst mir Spaß, sollen sie uns schnappen?“ „Vorsicht, der Barkas!“ „Seh’ ich selber, stell lieber dein Gequatsche ab.“ Die Autos kamen ihnen hupend entgegen. Antje dachte nicht daran, das Tempo zu drosseln. Sie sprang mit zwei Rädern aufs Trottoir, dann waren sie in einer krummen, schmalen Gasse mit Holperpflaster. Diesmal stimmten die Schilder, aber links hinter einer Häuserwand ertönte erneut die Sirene. Und auf einmal war auch das Taxi wieder da. Oder ein anderes, jedenfalls war es für einige Augenblicke winzig im Rückspiegel zu sehen. 170
„Wenn wir in dieser Gasse weiterfahren, stoßen wir direkt auf die Bullen“, schrie Inge. „Gut, ich versuch’s durch das Tor dort. Sieht aus, als ob wir da hinten weiterkommen.“ Da war ein Hof und noch ein Hof, dann ein Zaun. Neben einer Hecke eine Lücke, durch die der Wagen schoß. Holz barst unter den Rädern, das Türenblech knirschte. Wie ein Rallyefahrer drehte Antje den Wagen um achtzig Grad, kam auf sandigem Grund ins Schlittern. Leute sprangen erschrocken und fluchend zur Seite, ein Radfahrer stürzte. Aber alles ging noch gut, und nun hatten sie eine relativ freie Strecke vor sich. Ein wildes Gefühl der Genugtuung und des Glücks erfaßte Antje. Das war ein wirkliches Abenteuer, endlich mal was gegen den Strich, das Gesicht des Alten aus dem geklauten Wagen hätte sie sehen mögen. „Ich glaub’, wir haben sie abgehängt“, jubelte sie. „Wo bringen wir die Karre hin?“ Inge versuchte sich zu orientieren, sie starrte angespannt aus dem Fenster. Dann sagte sie: „Halt dich links. Siehst du die Mauer dort drüben? Da stellen wir sie ab.“ „Das ist nicht dein Ernst.“ „Der Spaß ist vorbei, für diesmal reicht’s.“ „Jetzt wird’s doch erst richtig interessant.“ „Bist ein Mäuschen“, sagte Inge. „Fahr schon da ’rüber. Wird Zeit, daß wir verschwinden. Wir machen uns ein bißchen schön und nehmen den Bus. Jeffi wartet bestimmt im ‚Roten Horn‘.“ Sie hatten ihren Sieg an diesem Abend gebührend begossen, waren ein Herz und eine Seele gewesen. Antje möchte das gern bewahren, wenigstens so lange, wie es möglich ist. Aber sie merkt, daß es nicht einfach sein wird. Jetzt, da sie ihrer Bude zustrebt, einem Zimmer, das sie der Vermittlung der beiden zu verdanken hat, überlegt sie, was sie tun kann. Sich zurückhalten, mehr fällt ihr 171
nicht ein. Obwohl es ihr nicht leicht wird, Jeffis Zärtlichkeiten abzuwehren. Wahrscheinlich mach’ ich mir zuviel Gedanken, war schon früher mein Fehler, sagt sich Antje. Und meine Schwester Petra meinte immer, ich würde mir über nichts den Kopf zerbrechen. Über nichts und niemanden, die müßte mich jetzt mal sehen.
13 Als so plötzlich das Licht ausgeht, begreift Manja nicht gleich, was los ist, aber dann fällt die Tür ins Schloß, und sie reimt sich die Dinge zusammen: Ronald hat die Sicherung herausgedreht und ist weg, in die Kneipe. Er hat das Geld aus ihrer Handtasche genommen, zweihundert Mark oder mehr. Die wird er versaufen, ohne Schwierigkeiten mit irgendwelchen Kumpanen auf den Kopf haun. Vor Wut über diese Erkenntnis beginnt sie zu heulen. Aber das ist nur die eine Sache, wenigstens für genauso schlimm hält sie, daß sie hier festsitzt. Wenn er die Pulle erst mal beim Wickel hat, klebt er am Tresen, ist nicht aus der Stampe fortzukriegen. Kaum eine Hoffnung, daß er vor morgen früh nach Hause findet. Falls überhaupt, sie hat da ihre Erfahrungen. Eine behämmerte Lage – Manja wirft sich gegen die Tür der Abstellkammer, erreicht freilich nur, daß sie sich die Schulter prellt. Der Schmerz bringt sie zu sich. Sie beginnt zu überlegen, was sie unternehmen könnte. Viele Möglichkeiten gibt es nicht, sie kann die Nachbarn um Hilfe rufen, etwa indem sie mit einem Stock gegen die Decke oder auf den Fußboden klopft, und sie kann selbst auszubrechen versuchen. Zu diesem Zweck muß sie das Schloß sprengen beziehungsweise die stabile Tür zertrümmern. 172
Sie setzt sich im Finstern – nur durch einen Spalt dringt schmal wie eine Messerschneide Licht in die Kammer – auf einen alten Stuhl in der Ecke. Die Nachbarn zu rufen kommt nicht in Frage, abgesehen davon, daß sie keine Schlüssel besitzen und die Wohnungstür aufbrechen müßten, fürchtet Manja das Gerede. Entsetzlich der Gedanke, hier eingesperrt gefunden zu werden. Durch das, was sich zwischen ihrem Mann und ihr abspielt, sind sie sowieso im Haus verschrien. Also sieht sich Manja nach geeignetem Werkzeug um, oder richtiger, sie versucht es zu ertasten. Wie bereut sie, daß sie kürzlich die Axt in den Keller zurückgebracht hat, wo sie freilich hingehört. Dagegen steht der Kasten mit Hammer und Schraubenziehern deplaziert im Schlafzimmer unterm Bett. Nur Holz und Plastzeug, Besen, Schüsseln, Eimer; einer der Eimer allerdings aus dickem Blech. Wie die Kehrschaufel – ob sie’s mal mit der probiert? Sie müht sich, eine Kante in den Türschlitz zu schieben, das gelingt nur ziemlich weit oben, wo die Tür etwas sperrt, ist aber ohne Wirkung. Lediglich das Blech verbiegt sich. Manja stößt an den emaillierten Eimer, der vorhin, als ihr Mann darüber fiel, zur Seite gerollt war, sie ergreift ihn und benutzt ihn als Prellbock. Das alles im Finstern, aber sie kennt ja jede Handbreit des kleinen Raums. Um die Tür tut’s ihr leid, doch was soll sie machen. Ein Stoß gegen das Holz: Mit einem Schmerzensschrei prallt sie zurück, sie hat sich zwischen Eimerrand und -bügel den Finger geklemmt. Sonst ist nichts passiert, die Tür scheint aus Eisen zu sein. Ein Messer, im Schrank muß sich ein altes Küchenmesser befinden! Mit dem kleinen Schlüssel, den sie Ronald vorhin abgenommen hat, quält sie sich genau wie vorher ihr Mann, das alte Möbelstück zu öffnen. Aus anderem Grund, aber ebenso vergeblich. Erst als sie auf den Gedanken kommt, den Schrank von der Wand abzu173
rücken und seine Rückseite mit Hilfe der Blechschippe zu bearbeiten, hat sie Erfolg. Holz splittert, sie kann ein Brett herausbrechen und in einem der Fächer neben allerhand Krimskrams das Messer ertasten. Ein großes Messer mit festem Griff und starker Klinge. Ohne noch lange zu zögern, beginnt sie damit die Türfüllung zu bearbeiten. Sie hat kein Gefühl mehr für die Zeit, sie weiß nicht, wie lange sie bohrt, schnitzt, abschält, ehe sie ein Loch, einen kleinen Spalt geschaffen hat, durch den ein Lichtbündel dringt. Sie vergrößert das Loch, das sie mit Bedacht so nahe wie möglich am Schloß gebohrt hat, bis sie die Finger durchschieben und den von außen steckenden Schlüssel fassen kann. Es gelingt ihr, ihn zweimal herumzudrehen. Sie verrenkt sich fast die Hand dabei, aber sie ist frei. Inzwischen ist es Abend geworden, Manja setzt sich erschöpft auf den erstbesten Küchenstuhl und erholt sich. Eben noch, während ihrer Zerstörungsarbeit, hat sie sich die schrecklichsten Strafen für Ronald ausgedacht, wenn sie nur erst mal draußen wäre, jetzt fühlt sie nichts als erdrückende Mattheit. Nicht einmal die Sicherungen dreht sie wieder ein. Der Inhalt ihrer Handtasche liegt auf dem Tisch – wie vermutet, ist das Geld weg. Sie greift nach der Zigarettenschachtel, steckt sich ein Stäbchen an. Dann, tief den Rauch einsaugend, geht sie hinüber, ins Schlafzimmer, wirft sich angezogen aufs Bett. O nein, ich werd’ dich nicht in deiner Kneipe suchen und den Leuten ein Schauspiel geben, denkt sie noch, ich werd’ dir’s heimzahlen, verlaß dich drauf, aber anders. Einmal wirst du ja nach Hause kommen. Sie drückt die Zigarette aus und rollt sich auf die Seite. Erst mal schlafen, Kraft schöpfen. Sekunden später erfüllt ihr leise pfeifender Atem den inzwischen abenddunklen Raum.
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14 Ronald hat es nicht auf Anhieb bis in seine Stammkneipe geschafft. In die Nebenstraße muß er gehn, um zwei Ecken, eine unendliche Strecke, und vorher trifft man auf die Bockwurstbude, wo auch Getränke ausgeschenkt werden. Eine Flasche Bier, ein doppelter Korn – ist das ein Gefühl. „Gleich noch mal, Erika, es lebe das Konsumangebot.“ Die junge Frau lacht. „Trinken Se man nicht so schnell bei der Hitze, Herr Lebholz.“ „Warum denn nicht. Ist doch gekühlt bei Ihnen. Soll ich’s erst warm werden lassen?“ „Da haben Se auch wieder recht.“ Die Verkäuferin bleibt neutral und wendet sich ihren Bockwurstkunden zu. Die müßte man zu Haus haben, denkt Ronald, das ist bestimmt nicht so ein Drachen. Aber er denkt’s mehr nebenbei. Sein erstes Interesse gilt dem Alkohol. Er nippt genießerisch am Gerstensaft, trinkt die Flasche Bier halb aus und setzt dann den Doppelten drauf. Das brennt Kehle wie Magen aus und hebt die ohnehin prächtige Stimmung. Wenn man nun noch jemanden fände, dem man den Spaß von eben mit aller Würze servieren könnte. Wir werden uns umschaun, sagt sich Ronald und schluckt den Rest Bier. Auf in „Georgs Rumstube“. Das Lokal ist um diese Zeit voll. Wenn auch jetzt im Sommer kaum Rum ausgeschenkt wird. Bier und Wodka dagegen schon. Die Arbeiter vom Straßenbau, die Feierabend haben, und die aus der Jalousiewerkstatt nebenan lieben ihr Pils. Die Laufkundschaft nicht mitgerechnet. Ein paar Plätze sind frei. Unbekannte sitzen an den mit Sprelacart benagelten Holztischen, zu ihnen fühlt sich Ronald nicht hingezogen. Er gesellt sich lieber zur Männertraube am Tresen, wo „Halblang“ bedient, mit geübten Händen mal die Tabletts der Kellnerinnen richtet, mal die Gläser der Herumstehenden füllt. „Mach’s halb175
lang“, sagt der Wirt gerade zu Timmi Steiner, einem korpulenten Enddreißiger, dem es nicht schnell genug geht, „Durst haben alle.“ „Kann schon sein, aber nicht jeder ist heute Großvater geworden.“ „Darauf kannst du noch alle Tage anstoßen, und jung wie du bist, hoffentlich viele Jahre lang“, erwidert „Halblang“. Ronald kommt gerade richtig: Timmi muß eine Runde schmeißen, und natürlich gehört er dazu. „Rück ’ran, Lebholz, laß dir was spendieren. Deine Piepen reichen doch sonst nicht fürs Abendbrot.“ Daß jedermann über seine Geldknappheit Bescheid weiß, ärgert ihn, aber er ist schlau genug, vorläufig nichts richtigzustellen. Kann nicht schaden, wenn er auf diese Art die eigenen Mittel streckt. Der junge Großvater Timmi hat das Sagen, und da sich das Gespräch um die Enkelkinder dreht, ist Ronald zunächst abgemeldet. Bei diesem Thema kann er nicht mitreden. Er fragt sich, ob er es bedauern soll; manchmal glaubt er schon, daß zwei Söhne und deren Kinder was Gutes wären. Manja hat’s anders gewollt, sie denkt bloß ans Raffen. Dabei hat er sie doch früher gemocht, könnte ihr noch jetzt zugetan sein. Aber ich hätte ihr schon eher zeigen müssen, wer der Mann im Haus ist, sagt sich Ronald in Großsprecherlaune, dann wäre manches weniger schiefgelaufen. Die vierte oder fünfte Runde zahlt er, was ein großes Hallo gibt. „Bist ja heut so stark auf der Brust, hast wohl deinen Onkel ausgeraubt?“ „Nein“, erwidert Ronald fröhlich, denn der Schnaps rumort in seinem Kopf, „ich hab’ mir nur zu Hause genommen, was mir zusteht.“ Und er klopft auf die Brusttasche, wo das Geld steckt. „Hast deine Alte übers Knie gelegt, was“, ruft Golz, 176
ein Bärbeißer, der am heimatlichen Herd Püffe verteilt, und erhält von einigen Leuten untertänigen Beifall. Aber „Halblang“ wird das Getratsche zu laut, er fängt an, sie auseinanderzujagen. „Ich glaub’, ihr habt jetzt genug, geht lieber nach Hause.“ Da Timmi keinen mehr ausgibt, löst sich die Gruppe langsam auf. Ronald findet sich mit Golz an einem Tisch wieder, an dem noch eine Frau sitzt. Die „Lende“, eine Rothaarige mittleren Alters, vom unablässigen Qualmen ganz ausgedörrt. Überraschend beginnt er den beiden seine Geschichte zu erzählen. Einfach weil er seinen Triumph endlich an den Mann bringen muß: den Streit mit Manja und wie er sie übertölpelt hat. Ein paar Kleinigkeiten allerdings wandelt er zu seinen Gunsten ab. Auch das Ende – er verrät nicht, daß Manja noch in der Abstellkammer sitzt, sondern tut, als hätte er sie herausgelassen. „Ganz klein war sie, hat mich um Verzeihung gebeten und jede Menge Geld rausgerückt. Ich spendier’ euch, was ihr wollt.“ „So muß man’s machen.“ Golz, reichlich betrunken, hat nur die Hälfte mitgekriegt. Die Rothaarige dagegen zeigt sich wenig beeindruckt. „Ihr Männer seid Angeber. Ich kenn’ doch Manja. Ich wette, du hast ihr das Geld bloß geklaut.“ „Von wegen geklaut. Rausgerückt hat sie’s, weil ich sie in der Hand habe.“ „Und warum schnüffelst du dann in ihren Schränken ’rum?“ „Das ist es ja eben“, Ronald bemerkt mit Erstaunen, daß die Bierseidel, die als Schmuck auf dem gegenüberliegenden Wandbord stehen, zu tanzen beginnen, „ich verschaff mir die Beweise.“ „Wofür?“ „Laß ihn doch, der ist besoffen“, sagt der besoffene Golz. „Ich bin nicht blau, nie, hörst du!“ 177
„Trotzdem solltest du jetzt bezahlen. Sonst reicht’s am Ende doch nicht.“ Die Frau langt ihm ans Jackett. „Laß das.“ Er schiebt die Hand weg. „Ich bezahl’, wann ich will. Krieg’ jederzeit neuen Zaster.“ „Hm.“ „Brauchst du Kaffee, Schokolade?“ „Was?“ „Verbilligt, beste Ware!“ „Was quatschst du bloß durcheinander …“ „Ihr Weiber seid dämlich und begreift nichts“, sagt Ronald mit der Nachsicht des von sich überzeugten Betrunkenen. „Ich kann so was zu günstigen Preisen besorgen, verstehst du. Meine Alte sitzt in der Kammer fest, muß tun, was ich verlange.“ Die Rothaarige schüttelt den Kopf, sie weiß wirklich nicht, was sie von dem Gerede halten soll. Irgendwas scheint dahinterzustecken, aber was. Sie wendet sich hilfesuchend an Golz, doch der hört nicht zu. Er hat sich zum anderen Tisch herumgedreht und diskutiert mit schwerer Zunge über Fußball. „Ich denke, du hast Manja aus der Abstellkammer wieder herausgelassen?“ fragt sie. Ronald schaut sie aus trüben Augen an: „Richtig, hab’ ich.“ „Weshalb sagst du dann, sie sitzt fest?“ „Das … darfst du nicht so wörtlich nehmen, mein Schatz.“ „Und was soll das mit der Schokolade?“ „Die hat sie im Schrank. Irgendwoher. Von ihren Busenfreundinnen, der Blonden und der andern. Zwei steile Typen, sag’ ich dir, aber eingebildet. Sie stehn nicht auf Männer; die eine dekoriert Schaufenster …“ „Ich brauch’ keine Schokolade“, sagt die „Lende“ achselzuckend. „Bei der Hitze schon gar nicht.“ „Hast recht, bei der Hitze ist das hier besser“, Ronald hebt sein Bierglas. „War ja auch nur ein Angebot.“ 178
Die Frau trinkt gleichfalls, wirkt jetzt aber nachdenklich. Kaffee, Schokolade, irgendwoher – das kommt ihr eigenartig vor.
15 Inge ist für Improvisation, langes Auskundschaften, exaktes Planen liegt ihr nicht, das hat sie stets Jeffi überlassen. Aber in diesem Fall ist es anders, sie will der Freundin zeigen, was sie drauf hat und daß sie keineswegs eins dieser blind nach dem erstbesten Korn schnappenden Hühner ist. Deshalb ist sie gleich nach der Arbeit hierhergekommen. Jetzt steht sie am Greifplatz und schaut sich das Haus an, in dem „Tante Anneliese“ wohnt. Von außen ist es ein bißchen aufgemotzt, die Gerüste können noch nicht lange ab sein. Die Wände neu gestrichen, die Fenster modernisiert. An der Haustür, über der – offenbar seit Jahrzehnten – ein steinernes Eichhörnchen hockt, wurden verkupferte Blechelemente angebracht. Das gibt ihr etwas Besonderes. Von hinten wirkt das Haus nicht ganz so gut, das mag an den kleinen, schmucklosen Höfen liegen und an der engen, mit keinerlei Grün versehenen Gasse, die sie begrenzt. Die Rückwand ist glatt, die Fenster hier sind klein. Keine Feuerleiter oder ähnliches. Aber fürs Fassadenklettern fühlt sich Inge auch nicht geeignet. Ob die Alte wirklich so viel Geld und Wertsachen in der Wohnung hat, wie die Leute behaupten? Inge läßt diese Frage keine Ruhe. Schon einmal hat sie versucht, Genaueres herauszubekommen. Mit veränderter Frisur und einer Brille ausgestattet, holte sie unter dem Vorwand, Einkäuferin für ein Antiquitätengeschäft zu sein, im Andenkenladen des Nachbarhauses Auskünfte ein. Sie ist nicht gerade geschickt in solchen Dingen, auch 179
nicht fachlich beschlagen, sie bemühte sich aber, so lax und souverän aufzutreten wie sonst Jeffi. Und sie hatte das Glück, eine Verkäuferin zu finden, die von selbst ins Schwatzen kam, als sie das Gespräch erst einmal auf die Schwester des verstorbenen Fleischers gebracht hatte. „Sollte mich nicht wundern, wenn die seine ganzen Wertsachen in ihre Wohnung geschleppt hat, gebuckelt hat sie genug. Schirmer heißt sie, gehn Sie doch mal hoch und fragen selber. Obwohl sie jetzt nicht da sein wird, ich glaube, sie ist vorhin aus dem Haus. Na ja, sehr freundlich ist sie nicht zu den Leuten, läßt keinen ’rein in ihre Wohnung. Und warum, weil sie um ihr Geld Angst hat. Ein Vermögen steckt bei der in den Schränken, alles in bar, das weiß jeder.“ „Wieso? Erzählt sie das ’rum?“ „Nein, keinen Ton. Das ist es ja eben.“ „Vielleicht kennen Sie noch andere Mieter in der Gegend, bei denen ich mal wegen alter Sachen anklopfen könnte“, fragte Inge, um ihr Interesse an der Alten zu bemänteln. „Weshalb wenden Sie sich gerade an mich?“ „Na, in Ihrem Geschäft erfährt man doch solche Dinge zuallererst.“ Sie blinzelte der Frau zu. „Und Sie sind wirklich vom staatlichen Handel?“ „Wollen Sie meine Karte sehn?“ „Nein, nein“, wehrte die Frau ab, „ich glaub’ Ihnen schon. Kann mir ja auch egal sein.“ „Nicht doch, Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“, Inge hatte sich extra eine blaue Karte mit Stempel und Unterschrift gefertigt, die sie notfalls gezeigt hätte. „Also wenn Sie mal zu Herrn Hofbauer in der Achtzehn gehen, der kann Ihnen bestimmt ’nen Tip geben, der sammelt alles mögliche.“ Inge ging nicht zu Herrn Hofbauer, der gewiß auch manches über die Rentnerin Schirmer wußte – sie wollte nicht zu sehr auffallen. Wenn man der Alten so viel Kies 180
nachsagt, denkt sie jetzt, wird schon was dran sein, das Portemonnaie in dem Laden war ja dick genug. Der tut es nicht weh, wenn sie ein bißchen erleichtert wird. Die Frage ist nur, wie man rankommt. Inge hat einen Beutel bei sich, in dem ein paar alte Zeitungen stecken. Sie schlendert durch die Nebenstraße wieder nach vorn und betritt das Haus. Im Flur ist es angenehm kühl, niemand ist zu sehen. Sie geht zur Hintertür, schaut sich das Schloß an. Ein Durchschnittsartikel. Das zumindest ist, wenn es notwendig werden sollte, kein Hindernis. Also zurück und die Treppe hoch, die frisch gesäubert scheint: Das dunkelgrüne Linoleum auf den braun gestrichenen Holzstufen glänzt. Anneliese Schirmer wohnt im dritten Stock. Eine Treppe tiefer begegnet Inge einem älteren Mann, der sie neugierig mustert. Obwohl sie wieder ihre große Brille aufgesetzt hat, wendet sie das Gesicht zur Seite, steigt eilig höher. Die Tür, die sie sucht, befindet sich rechts, der Name A. Schirmer ist mit blauer Tinte auf ein offenbar selbstgefertigtes Holzschildchen geschrieben. Daneben der Klingelknopf, kaum vom Lichtschalter für die Treppenbeleuchtung zu unterscheiden. Das Namensschild wirkt auf der frisch gestrichenen Wand des renovierten Hauses besonders ärmlich. Inge überprüft ihre Garderobe. Sie hat einen unscheinbaren weiten Rock und eine graue Bluse angezogen, die sie sonst nie trägt. Die Haare in die Stirn gekämmt und hinten zu einem Knoten gebunden. Dazu die Brille – die junge Frau sieht zehn Jahre älter aus. Wird die Schirmer sich an die Begegnung im Kunstgewerbeladen erinnern und sie trotz der Verkleidung wiedererkennen? Sie klingelt, doch nichts ist zu hören, die Glocke drinnen schlägt nicht an. Nach einem zweiten vergeblichen Versuch und einigem Zögern klopft sie. „Langsam, langsam, was ist los, ich komme …“ 181
Die Schritte sind lebhaft, aber die Tür wird nur einen Spalt geöffnet. Die Sicherheitskette bleibt vorgelegt. „Die Klingel ging nicht, da hab’ ich geklopft.“ „Was wollen Sie denn, ich kenn’ Sie nicht.“ „Ich sammle Altstoffe.“ Inge zeigt auf ihren Beutel. „Zeitungen, Gläser, Lumpen. Vielleicht wollen Sie was loswerden.“ „Ich habe nichts, bring’ meinen Krempel selber weg.“ Die Tür ist fast wieder zu. „Augenblick noch“, Inge will sich nicht so abspeisen lassen, „auch Plaste … Sprayflaschen und so. Wenn Sie da …“ „Bezahlen Sie was dafür?“ „Ja“, erwidert Inge hoffnungsvoll. „Die Flasche fünf Pfennige.“ Sie erwartet, daß sich die Tür nun öffnet, doch das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, sie wird geschlossen. Allerdings brummt die Frau hinter der Tür hervor: „Ich will nachsehn.“ Inge beginnt in ihrer Geldbörse zu kramen, auf diese Variante war sie nicht eingerichtet. Sie überlegt fieberhaft, was sie tun könnte, um einen Blick in die Wohnung zu werfen. Wenigstens in den Korridor. Eine ganze Weile vergeht, bis sich die Schritte der Alten wieder nähern. Diesmal wird die Kette zurückgenommen, und die Tür öffnet sich etwas weiter. Die Schirmer, in einem braunen, sackähnlichen Kleid, das selbst in die Lumpen gehörte, schiebt einen Plastbeutel mit großen und kleinen Sprayflaschen heraus. Sie muß die Behälter monatelang gestapelt haben. „Hier, genau achtundzwanzig Stück. Eine Mark vierzig.“ Inge, die Lust hat, ihr die Tüte um die Ohren zu schlagen, macht gute Miene zum mißlichen Spiel. „Halt, so einfach geht’s nicht. Sind die Flaschen auch leer?“ „Natürlich. Denken Sie, ich schmeiß’ mein Geld zum Fenster ’raus?“ 182
„Hier zum Beispiel ist noch was drin.“ Inge nimmt aufs Geratewohl eine größere Flasche aus der Tüte und schüttelt sie. „Und die kleinen da nehmen wir nicht.“ Sie drückt mit der Hüfte die Tür auf, schiebt die Frau, die verblüfft zurückweicht, in den Korridor. „Die ist aus Aluminium, man müßte sie gesondert abliefern. Na, woll’n wir mal sehen.“ Im Flur steht eine kleine, mit mehreren Deckchen belegte Kommode. Manja würde diese Decken bestimmt mit gutem Gewinn an den Mann bringen. Ohne von der überraschten Wohnungsinhaberin Notiz zu nehmen, beginnt Inge die Flaschen auf die Kommode zu stellen. „Schließen Sie ruhig die Tür“, sagt sie munter, „ein paar Minuten wird’s dauern. Dafür wissen Sie dann genau Bescheid.“ „Ja aber, was bleibt denn da noch für mich?“ Das Manöver hat geklappt, die Frau nimmt Inges Eindringen hin. Sie schließt die Wohnungstür und starrt fasziniert auf das Plastzeug. „Genau fünfundneunzig Pfennige, aber wir runden auf.“ Inge holt eine Mark aus dem Portemonnaie. „So wenig, das lohnt ja den Aufwand nicht.“ Die Alte läßt die Mark in einer Tasche ihres Kleides verschwinden. „Dafür brauchen Sie nicht erst zur Sammelstelle zu laufen.“ Im Korridor gibt es, die Deckchen ausgenommen, kaum Dinge, die was bringen, doch die Tür zur Wohnstube steht offen. Inges spähender Blick fällt auf eine hohe Vitrine mit Glas und Porzellan. Ob das Meißner ist? Nach den Formen und der Bemalung zu schließen jedenfalls etwas Altes und bestimmt wertvoll. „Tante Anneliese“ bemerkt den Blick und zieht die Tür zu. „Da gibt’s nichts zu sehen“, sagt sie unhöflich. „Im Gegenteil. Sie haben sehr schöne Sachen da drin. 183
Die braucht man nicht zu verstecken.“ Inge packt unschuldig die Flaschen wieder ein. „Und Sie haben wirklich keinerlei Altstoffe sonst?“ „Hab’ ich ja schon gesagt.“ „Na, dann will ich mal wieder. Vielen Dank und auf Wiedersehen.“ Sie greift nach dem Beutel und verläßt die Wohnung. Die letzten Geräusche, die sie hört, sind das Schnappen des Sicherheitsschlosses und das Einrasten der Vorlegekette.
16 Mitten in der Nacht taucht Manja, gegen dunkle Wände ankämpfend, die sie zu erdrücken drohen, aus einem schweren Traum hoch. Zunächst begreift sie nicht, was los ist, dann kommt ihr die Erinnerung: der Mann mit seiner Schnapsgier, seiner Hinterhältigkeit, die Abstellkammer. Ein dumpfer Schmerz sitzt in ihrem Kopf, auch die Glieder tun weh, besonders die rechte Hand, mit der sie das Messer gehalten hat. Mechanisch tastet Manja nach dem Schalter der Nachttischlampe – kein Strom. Richtig, er hat die Sicherungen herausgedreht. Einige Minuten liegt sie noch da, ohne sich zu rühren, versucht mit ihren Gedanken klarzukommen. Dann nimmt sie die Beine vom Bett, setzt sich auf. Offensichtlich ist der alte Säufer noch nicht eingetrudelt, hängt irgendwo an der Schnapsflasche, sie hatte schon richtig vermutet. Der würde sie im Kabuff nebenan glatt ersticken und verhungern lassen, im Stockdunkeln, dieser Unmensch, umbringen könnte sie ihn. Manja verspürt ein Verlangen nach frischer Luft, sie rutscht vom Bett, geht ans Fenster, öffnet es. Über der Stadt hängt rund und dottergelb der Mond, die Luft ist lau, die Straßen liegen still da – ein friedliches Bild, zu 184
dem ihre aufgebrachte Stimmung nicht paßt. Ein Betrunkener schwankt mitten auf der Fahrbahn dahin, wahrscheinlich ist er auf dem Nachhauseweg. Er hat Ronalds Statur, ist aber jünger. Wie spät mag es überhaupt sein, Manja hat keine Vorstellung. Vielleicht zwei, vielleicht erst zwölf, aber dann wäre noch mehr Betrieb auf der Straße. Die Frau löst sich vom Fenster, der Wecker steht natürlich. Sie rafft sich endlich auf, im Korridor die Sicherungen einzuschrauben; urplötzlich liegt die Wohnung in strahlender Helle. Zwei Uhr dreißig: Sowohl ihre Armband- als auch die Küchenuhr zeigen es an. Er wird nicht kommen, und obwohl sie nicht mehr müde ist, wäre es das beste, sich auszuziehen, schlafen zu gehn. Nachdem sie das Licht in der Wohnung auf ein erträgliches Maß reduziert hat, fängt Manja automatisch an, sich zu entkleiden. Aber als sie bereits das Nachthemd übergestreift hat, hört sie auf der Straße das Geräusch eines haltenden Wagens. Blitzschnell löscht sie das Licht und läuft zum Fenster. Vor der Haustür ein Taxi. Mit matten Knien, doch nicht so betrunken, daß man ihn stützen müßte, verläßt Ronald den Wagen. Manjas Zorn, vermischt mit Genugtuung über die sich anbahnende Rache, flammt sofort wieder auf. Es ist diesmal eine böse und kalte Flamme, die die Gedanken nicht ausschaltet. Die Frau schließt hastig das Fenster, dann eilt sie in die Abstellkammer, zum Ort ihrer Kränkung. Unterm Fuß zerbricht sie den bereits abgebrochenen Besenstiel noch einmal, so daß sie einen handlichen Knüppel erhält. Die Tür der Kammer hinter sich zuklinkend, postiert sie sich in der Küche neben dem Büfett. Es dauert eine ganze Weile, bis ihr Mann die Haustür, die Treppe und das Schloß bewältigt hat. Dabei brummt er leise vor sich hin, was auf Zufriedenheit schließen läßt. Als er endlich drin ist, tastet er nach dem Lichtschalter und wundert sich offenbar nicht, daß die Be185
leuchtung funktioniert. Wahrscheinlich hat er seinen Streich mit den Sicherungen vergessen. Daß er seine Frau eingesperrt zurückgelassen hat, dagegen nicht. Etwas schwankend, aber zielstrebig betritt er die Küche. Manja, die seitlich steht, verdeckt durch die geöffnete Tür, entzieht sich seinem Blickfeld. Auf dem Tisch liegen noch, scheinbar unberührt, die Handtasche und ihr ausgekippter Inhalt. Ronald steuert den Tisch an, verharrt, nähert sich dann der Abstellkammer. „He, Alte, schläfst du?“ Keine Antwort. Er tritt einen weiteren Schritt nach vorn und entdeckt das Loch in der Tür. Aber er begreift noch nicht. Sich mit einer Hand am Kühlschrank festhaltend, beugt er sich zu dem Loch hinab, um durchzuschaun. „Streng dich nicht an, ich bin hier.“ Manja, den Knüppel in der Hand, steht hinter ihm. Er richtet sich überraschend schnell auf, dreht sich um. „Rühr mich nicht an“, sagt er mit schwerer Zunge. „Ach, du hast Angst vor mir“, zischt sie. „Hattest wohl nicht gedacht, daß ich mich befreie.“ „Ich hab’ keine Angst. Du bist frei, das ist in Ordnung.“ „Und das Geld, das du mir geklaut hast, ist es alle? Ging ja schnell, noch schneller als sonst.“ „Du hättest mich … nicht so behandeln dürfen …“ „Ich dich, das ist die Höhe. Verrecken hätt’ ich können da drin, Säufer, Verbrecher …“ Manjas Stimme schnappt über. „Du tust mir unrecht … Ich bin gekommen, weil ich dich rauslassen und mich mit dir unterhalten wollte.“ „Rauslassen? Jetzt? Dreht mir das Licht ab! Den Tod hätt’ ich mir holen können, du Lump! Unterhalten willst du dich also, das kannst du haben. Aber nicht, wie du dir’s denkst.“ Manja beginnt, mit dem Stock auf ihren Mann einzuprügeln. Ronald hält schützend den Arm vors Gesicht, er ist 186
nicht in der Lage, sich zu wehren. Wäre er weniger benebelt, könnte er seine Wendigkeit einsetzen, zur Seite ausweichen. So läßt er hilflos die Schläge auf sich einprasseln. Deren Härte er allerdings nur zum Teil empfindet, erst nach einem Schlag gegen das Ohr jault er vor Schmerz auf. Er greift sich mit der Hand an den Kopf, verliert das Gleichgewicht und stürzt. Die Frau schlägt roh weiter auf ihn ein, tritt auch mit dem Fuß nach ihm. „Laß mich, du machst einen Fehler … Au.“ „Den Fehler werd’ ich dir zeigen.“ Plötzlich wird der Mann still, streckt sich am Boden. Manja prügelt noch zwei-, dreimal auf ihn ein, dann stutzt sie. „He, was ist los, du Säufer, du machst doch nicht schlapp.“ Beunruhigt beugt sie sich über ihn. Keine Antwort. Ronald scheint sie nicht zu hören. Aus einer Platzwunde auf der Stirn tritt Blut. „Fehlt bloß noch, daß der mir Mist baut.“ Ohne sich an dem Alkoholdunst zu stören, der Ronalds Kopf wie eine Glocke umgibt, legt sie das Ohr auf seine Brust. Das Herz schlägt, es ist zum Glück nur eine Ohnmacht. Manja verspürt Erleichterung und erhebt sich. „Verträgt nichts, der Schwächling“, murmelt sie, um ihre Brutalität zu rechtfertigen. Sie überlegt noch, ob sie ihm ein Glas Wasser ins Gesicht kippen soll, damit er zu sich kommt, läßt es dann aber. Sie setzt sich auf einen Stuhl, zündet sich eine Zigarette an und betrachtet ihn. Mit so was hat sie sich nun jahrelang abgegeben. Er soll abhaun, denkt sie, ich reich’ die Scheidung ein. Am nächsten Morgen – sie hatte noch gewartet, bis er stöhnend zu sich kam, und war dann wortlos zu Bett gegangen – sitzt er überraschend beim Frühstück, als sie aufsteht. Er sieht schlimm aus mit seinem gedunsenen Gesicht, einem Pflaster auf der Stirn, den blauen Flecken. Er blickt nicht auf, als sie die Küche betritt, und sie sagt nicht guten Morgen. Aber als sie dabei ist, ihren 187
Kaffee zu brühen, wirft sie hin: „Schluß, ich lass’ mich scheiden.“ „Das wirst du nicht!“ „Was?“ „Du hast ganz richtig gehört, Scheidung kommt nicht in Frage. Wenigstens im Augenblick nicht.“ „Ich glaube, du bist übergeschnappt“, sagt Manja ehrlichen Herzens. „Was du glaubst, ist egal. Wir werden ein Abkommen treffen. Ich rühr’ dein Geld nicht mehr an, dafür beteiligst du mich regulär an deinen Geschäften. Ab sofort.“ Manja ist so verblüfft, daß sie vergißt, wütend zu werden. „An welchen Geschäften?“ fragt sie dümmlich. „Das weißt du selber am besten. An denen mit deinen Freundinnen.“ „Was fällt dir ein! Wie kannst du es wagen …“ „Pluster dich nicht auf“, sagt der Mann fast nachsichtig. „Ich sauf zuviel, zugegeben. Vielleicht hast du Glück, und ich sauf mich tot. Aber bis dahin ist’s noch ein Weilchen, vorher beteiligst du mich. Als deinen angetrauten Ehemann. Sonst trag’ ich mein Wissen weiter.“ „Dein Wissen?“ „Nun ja. Was ich so mitgekriegt hab’ im Lauf der Zeit. Die Schlüpfer und BHs, die Schokolade und der Kaffee, der ganze Schrank ist ja voll.“ Manja wird blaß, den zerschlagenen Schrank in der Kammer hatte sie total vergessen. „Du weißt nichts, und du sagst nichts“, müpft sie dennoch auf. „Das ist alles ganz real erworben.“ „Zwanzig Mark, bis ich meinen Lohn kriege. Du siehst, ich mach’s billig.“ „Also, das ist der Gipfel. Klaust mein ganzes Geld und verlangst noch was drauf. Einen Knüppel sollte man nehmen und dich windelweich schlagen.“ „Wegen gestern sind wir quitt“, erwidert Ronald ungerührt. „Ich bin großzügig, zeig’ dich nicht an wegen 188
Körperverletzung. Aber ich hab’ auch keine Lust, mich mit dir zu streiten. Mir zerplatzt der Schädel.“ „Ich hab’ kein Geld mehr.“ „Du hast noch genug in deinen ‚Geheimfächern‘. Zwanzig Mark, das ist fair. Später sehn wir weiter.“ Manja ist der Appetit vergangen. Eine Weile murkst sie am Kochherd und am Küchenschrank herum, schließlich holt sie die zwanzig Mark aus dem Schlafzimmer. Sie knallt das Geld auf den Tisch und sagt finster: „Irgendwann bringen wir dich um.“ „Gut. Aber bis dahin zahlt ihr.“
17 Bianca legt den Hörer hin und ordnet ihre leicht zerdrückte Frisur. „Eine junge Dame“, sagt sie mit Augenzwinkern, „sehr muntere Stimme. Jänisch oder so ähnlich.“ „Jänisch? Kenn’ ich nicht.“ „Immerhin weiß sie, daß du hier bist.“ „Sonderbar. Muß ein Irrtum sein.“ Kielstein nimmt unzufrieden den Hörer auf: „Bitte?“ „Hier spricht Hella Jänisch, erinnern Sie sich? Die Verkäuferin aus der ‚Süßen Ecke‘.“ „Ach so, ja. Wer hat Ihnen diese Nummer gegeben? Ich hab’ eigentlich Feierabend.“ „Ihre Dienststelle. Man sagte mir, ich könne ruhig anrufen.“ Bothe, denkt Kielstein, nur der bringt so was fertig. Mißgönnt mir mein Vergnügen. Man müßte ihm dafür einen seiner Kugelkakteen zerstückeln. Er fragt: „Was Wichtiges, Frau Jänisch?“ „Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Eine Kundin hat ein paar Andeutungen gemacht.“ 189
„Erzählen Sie!“ „Sie kauft schon lange bei uns ein“, beginnt die Verkäuferin, „Kaffee, manchmal auch Schnaps. Sie trinkt gern, geht mal in den einen, mal in den anderen Laden, damit’s nicht so auffällt. Gestern saß ich an der Kasse, als sie kam. Sie hatte eigentlich nichts im Korb, ein bißchen Kaugummi. Damit trödelte sie in meiner Nähe ’rum, bis mal Ruhe beim Kassieren war. Dann erst bezahlte sie und verwickelte mich in ein Gespräch. Über den Einbruch bei uns und ob die Diebe schon gefaßt wären.“ „Das kann reine Neugier gewesen sein“, brummt Kielstein skeptisch. „Vielleicht, aber sie stellte so komische Fragen. Zum Beispiel, ob es eine Belohnung für Hinweise auf die Täter gäbe. Das schien ihr ziemlich wichtig. Auch wieviel gestohlen worden sei. Und überhaupt möchte ich wissen, wieso sie sich erst jetzt für die Sache interessiert.“ „Haben Sie sie gefragt?“ „Ich hab’s versucht. Ob sie denn einen Hinweis hätte? ‚Nein‘, gab sie zur Antwort, ‚wie ich daraufkäme.‘ “ „Hm“, Kielstein bleibt reserviert. „Kennen Sie ihren Namen, die Adresse?“ „Sie heißt Lend, die Leute sagen ‚Lende‘ zu ihr. So eine Rothaarige, Ausgezehrte. Ich glaube, sie wohnt in der Roßhaargasse.“ „Ist gut, wir kümmern uns darum.“ „Sie halten das für unwichtig, stimmt’s?“, sagt Frau Jänisch, „ich hab’ selber lange überlegt, ob ich Sie deswegen stören soll.“ „Im Gegenteil“, Kielstein gibt sich große Mühe, aufgeschlossen zu erscheinen, „ich bin Ihnen sehr dankbar. Informieren Sie uns unbedingt, wenn sich wieder so etwas ereignen sollte.“ Er legt auf, hebt aber sofort wieder ab und wählt. Bianca stellt das benutzte Kaffeegeschirr am Tischende zusammen und humpelt zum Fernseher. Sie schaltet ein. 190
„Wozu?“ fragt er, während er auf die Verbindung wartet. „Ich organisiere mir mein Abendprogramm.“ „Aber ich will nur … Da soll eine Kundin sein, die eventuell Hinweise geben kann …“ „Und du läßt dir die Adresse raussuchen.“ „Muß ich doch“, sagt er. „Das ist vielleicht wirklich eine Spur.“ „Wie wär’s mit Felsch?“ „Der ist mit einer Wirtschaftssache beschäftigt. Außerdem möchte ich in diesem Fall gern selber …“ „Siehst du“, Bianca dreht an den Knöpfen, „deshalb bau’ ich mir ein Programm. Heide muß ja auch bald mit ihrer Freundin wieder dasein.“ „Es tut mir leid. Dir brauch’ ich’s ja nicht zu erklären. Ich komme sofort zurück, wenn sich nichts ergibt.“ „Da bringst du mich in eine echte Konfliktsituation“, erwidert Bianca spöttisch. „Du forderst mich quasi auf, dir keinen Erfolg zu wünschen. Aber verträgt sich das mit meinem Berufsethos und dem Interesse speziell an diesem Fall?“ Roßhaargasse 21, Hinterhaus, Seitenflügel, erster Stock. Auf der Treppe riecht es nach angebrannter Milch und Hundefutter, von oben dringt laute Musik herab. „Hans Lend, Konstrukteur“, steht protzig auf dem großen blechernen Namensschild. Ein hagerer alter Mann öffnet auf das Klingeln hin. „Was ist?“ „Spreche ich mit Herrn Lend?“ fragt Kielstein. „Nein. Mein Schwiegersohn ist ausgezogen. Schon ziemlich lange. Wenn Sie zu dem wollen.“ „Ich möchte zu Frau Rosemarie Lend.“ Der Alte mustert ihn verwundert. „Sind Sie von der KWV, wollen Sie Geld?“ „Nein“, erwidert Kielstein amüsiert, „bin ich nicht und will ich nicht. Nur eine Auskunft. Ist Frau Lend da?“ 191
„Rosi, komm mal, ein Verehrer von dir.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, zieht der Alte sich zurück. Die Frau hat’s nicht eilig, erst nach einer ganzen Weile taucht sie auf, in einem Morgenrock und sich die Haare aus der Stirn streichend. „Entschuldigen Sie, ich hab’ geschlafen. War ziemlich kaputt von der Arbeit.“ Sie riecht nach Alkohol, Kielstein vermutet, daß es nicht unbedingt die Arbeit ist, welcherart auch immer, die sie kaputtmacht. „Tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe. Es dauert nicht lange.“ „Weshalb wollen Sie mich sprechen?“ „Kriminalpolizei, wir untersuchen den Diebstahl in der ‚Süßen Ecke‘.“ „Ach, daher weht der Wind. Die Verkäuferin bildet sich ein, ich wüßte was.“ „Darf ich eintreten?“ „Wenn es sein muß.“ Sie führt ihn in einen laienhaft tapezierten Raum, in dem nichts an Möbeln steht außer einem Tisch und zwei Stühle. An der Wand hängt ein großes Bild mit einem Zirkusclown. Auf den erstaunten Blick des Leutnants hin sagt die Frau: „Was wollen Sie, das einzige Zimmer in der Wohnung, das immer aufgeräumt ist. Die übrigen Möbel hat mein Mann mitgenommen.“ „Weshalb interessieren Sie sich für diese Einbruchsgeschichte, Frau Lend?“ „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ „Danke, es geht im Stehen.“ „Wissen Sie, die Leute reden so viel davon, und da ich dort einkaufe …“ Die Frau hebt die Schultern. „Sie haben sich erkundigt, ob es eine Belohnung für Hinweise gibt.“ „Gibt es eine?“ „Bisher ist noch keine ausgesetzt worden.“ Die Frau zaubert ein Lächeln auf ihr schmales graues Gesicht. „Sehn Sie, das dacht’ ich mir. Und ich bin froh 192
darüber. Sonst würde ich mich ärgern, daß ich nichts weiß.“ „Aber es könnte eine Strafe für den geben, der irgend etwas erfahren hat und es uns nicht verrät.“ „Jede Sache hat nun mal zwei Seiten“, murmelt die Lend. Die Frau ist einigermaßen heruntergekommen, aber nicht dumm. Kielstein sieht ihr an, daß sie etwas verbirgt, die Frage ist nur, wie man es aus ihr herausholt. Vielleicht, indem man geradewegs auf sie zugeht. Er setzt sich nun doch auf einen der Stühle. „Wissen Sie, was ich glaube? Daß man Ihnen Ware angeboten hat. Und zwar keine, die redlich erworben ist.“ „Was Sie nicht sagen.“ „Schokolade, Kaffee, zu einem günstigen Preis. Aber Sie wußten von der Sache in der ‚Süßen Ecke‘ und waren vorsichtig. Nur hinterher fingen Sie zu überlegen an. Sie versuchten, Genaueres zu erfahren.“ „Sie sind ganz schön schlau, haben eine blühende Phantasie“, sagt die Frau. „Erfahrung. Nennen wir’s Erfahrung. Und jetzt überlegen Sie, wie Sie sich verhalten sollen. Wie sich am besten Kapital aus der Angelegenheit schlagen läßt.“ „Ach nein, da gehn Sie zu weit. Ich glaube, wir sollten unsere Unterhaltung lieber abbrechen.“ „Rücken Sie mit der Sprache heraus, Frau Lend“, sagt Kielstein eindringlich. „Sie wissen doch was. Irgendwie gefallen Sie mir. Lassen Sie sich nicht mit Spitzbuben ein. Mit Einbrechern!“ Doch das Gesicht der Frau wirkt plötzlich verschlossen, sie erhebt sich. „Sie irren sich, Leutnant, ich hab’ keinerlei Ahnung, wovon Sie sprechen. Hätt’ ich gewußt, daß die Verkäuferin so was heraushört, hätte ich mich nicht auf das Gespräch mit ihr eingelassen. Ich hab’ wahrhaftig genug andere Probleme.“ 193
18 „Ziemlich riskante Kiste.“ Jeffi drückt die Zigarette im Ascher aus, schiebt ihn ein Stück weg. Blauer Dunst steht dick im Zimmer, umfließt die Möbel und hängt sich in die Gardinen. Das Licht der kleinen Lampe über Inges Bett kämpft vergeblich gegen die Schwaden an. „Die Alte hat alles, was wir brauchen. Porzellan, Silber und vielleicht noch bessere Sachen. Goldschmuck, Brillantenzeug, was weiß ich. Und bestimmt jede Menge Bargeld. Wir nehmen bloß das, was keinen Ärger macht. Das reicht ’ne Ewigkeit.“ „Und wie kommen wir ’rein?“ „Das ist das einzige Problem. Sie ist mißtrauisch und hat sich richtig verbarrikadiert. Zwei Sicherheitsschlösser hab’ ich gesehn. Wenn Sie zu Hause ist, legt sie noch die Kette vor. Von hinten ist auch nichts drin. Man müßte schon über die Wohnungstür ’ran. Vielleicht mit dem Montiereisen …“ „Damit die ganze Gegend rebellisch wird!“ Jeffi läßt den Kognak im Schwenker kreisen. Noch ist sie skeptisch, aber sie braucht die Moneten, hat das Geld in der letzten Zeit nur so rausgeschmissen. Für sich und Antje, hauptsächlich für Klamotten, was sind da ein paar hundert Mark. Und dann war ’ne größere Reparatur am Auto fällig. „Ich hab’ die Lage genau sondiert“, sagt Inge. „Am Wochenende ist dort alles in den Gärten. ‚Tante Anneliese‘ geht auch regelmäßig weg. Freitag abend, zu einer Bekannten, glaub’ ich. Ist wahrscheinlich genau so ’ne Schrulle.“ „Alte einsame Damen sind eigentlich nicht unsre Spezialität.“ „Du erklärst doch selber immer, daß man nicht an einer Masche festkleben darf. Das mit den Geschäften hat 194
zwar ein paarmal geklappt, aber jetzt sind die bestimmt gewarnt.“ Jeffi gesteht sich ein, daß die andere nicht ganz unrecht hat. Nach allem, was Inge erzählt, könnte es tatsächlich ein Fischzug erster Güte werden. Obwohl man mit den Wertsachen vorsichtig sein muß. Dabei kommt einem die Kripo schnell auf die Spur. Und ob Manja dafür die Richtige ist? „Mach doch mal das Fenster auf“, verlangt Jeffi, „der Qualm bringt einen ja um.“ In der Wohnung über ihnen hämmert ein Radio – das ist der ältere Preißner-Bengel. Wenn seine Eltern weg sind, was heute offenbar der Fall ist, glaubt er loslegen zu können. Von Zeit zu Zeit muß man ihn zurechtstoßen. Doch nicht jetzt, Inge öffnet das Fenster, ferne Geräusche der abseits liegenden Straße dringen herein und schaffen eine Art Ausgleich zu den dumpfen Rockrhythmen. Die Rauchschwaden geraten sacht in Bewegung, ein leichter Windhauch sorgt für angenehme Frische. „Du meinst, die Alte hat keinen Verdacht geschöpft?“ vergewissert sich Jeffi. „Konnte sie doch gar nicht.“ „Und wenn sie ihr Geld auf der Bank hat?“ „So eine hat Angst, daß es ihr dort verfällt. Da verwett’ ich meinen Kopf.“ Jeffi nickt. Das stimmt, alte Leute glauben die Scheine am besten im eigenen Bett verwahrt. Ihre Großmutter war auch so. „Gut, dann darf dich dort in der Gegend ab jetzt keiner mehr zu Gesicht kriegen.“ Inge geht zu Jeffi, die im Neglige auf einem mit Plüsch bespannten Hocker sitzt, und läßt sich zu ihren Füßen nieder. Von Genugtuung erfüllt, sagt sie: „Du bist also dafür.“ „Den Montierhebel lassen wir zu Hause“, Jeffi nimmt zerstreut Inges Hand, „da Fällt mir schon was anderes ein.“ 195
„Klar, du findest ’nen Dreh.“ „Wenn die Sache gelaufen ist, mieten wir uns vier Wochen in Berlin ein, im teuersten Hotel.“ Inge lehnt den Kopf an Jeffis Hüfte. Für den Augenblick herrscht eine Atmosphäre, die sie lange entbehren mußte. Wenn doch alles wieder wie früher wäre. Vielleicht nach dieser Sache … „Das wär’ enorm“, flüstert sie. „Mal so richtig aus dem vollen leben. Berlin auf den Kopf stellen. Wir zwei wie in alten Zeiten.“ Wir zwei und Antje, denkt Jeffi, sagt es aber nicht. Daß die Kleine dazu gehört, ist ohnehin klar. Antje ist über alle Maßen wichtig geworden. Was nicht heißt, Inge wäre abgemeldet, man muß ihr nur verständlich machen, daß sich die Beziehung künftig auf andere Art fortsetzt, mehr auf Geschäftsbasis. „Stoßen wir auf Berlin an“, sagt Jeffi und hebt ihr Glas. Dann fügt sie, das Thema wechselnd, hinzu: „Was ist eigentlich mit Manja los, sie läßt uns ein bißchen lange auf die Rubel warten.“ „Ich glaub’, sie hat Ärger mit ihrem Alten.“ „Ja und? Hat sie doch immer. Was geht das uns an?“ „Scheint diesmal ziemlich schlimm zu sein.“ „Sie soll ihn endlich vor die Tür setzen“, brummt Jeffi und rückt etwas von der Freundin ab. Inge steht auf. „Hab’ ich ihr ja auch gesagt. Aber auf dem Ohr ist sie taub. Sie kam mir kürzlich recht nervös vor. Wollte nicht richtig mit der Sprache ’raus.“ „Nicht mit der Sprache, nicht mit dem Geld“, erwidert Jeffi, „das scheint mir wacklig. Sie soll bloß keine Zacken baun. In solchen Sachen bin ich kitzlig.“
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19 Manja birst fast vor innerer Wut, aber sie kann nichts machen, sie fühlt sich an Händen und Füßen gebunden. Ihr Mann, dieser Jämmerling, dieser Säufer ohne Gefühl und Verstand, hat sie in der Hand, er erpreßt sie mit einer Abgefeimtheit, wie sie nur ein Schwächling kennt, der seine letzte Chance wittert. Natürlich hat er es nicht bei dem ersten Zwanziger belassen, vielleicht wollte er das anfangs, bildete sich selber ein, Maß halten zu können, aber die Gier nach dem Alkohol warf seinen Vorsatz über den Haufen. Er weiß um ihre stillen Reserven, die Haushalt- und Urlaubskasse, ahnt wenigstens, daß so etwas existiert, verlangt in letzter Zeit sogar, daß sie ihren Schmuck verkauft. Ihm macht es nichts aus, daß er sie damit bis zum äußersten reizt. „Jahrelang hattest du mich am Gängelband“, erklärt er, „jetzt läuft’s andersrum.“ Ewig kann das nicht so weitergehen, zumal die Frauen auf ihren vollen Anteil am Verkauf der Ware drängen. Sie hat mit Inge über ihre Lage zu sprechen versucht, es dann aber bei Andeutungen belassen: Sie scheut sich zuzugeben, daß sie erpreßt wird. Wer weiß, wie Jeffi auf ein solches Geständnis reagiert. Andererseits wird sie kaum ohne die Hilfe der beiden auskommen. Eine gemeinsame Abreibung für ihren Mann, eine, die sich ihm ein für allemal einprägt, scheint ihr die einzige Lösung. Damals, nach dem Streit, hat sie die Ware gleich aus dem Haus geschafft. Den größten Teil verscherbelt, so schnell es ging, den Rest auf ihrer Arbeitsstelle in den Spind geschlossen. Inge und Jeffi allerdings hat sie bisher nur halb auszahlen können. Nun werden sie langsam ungeduldig, das ist kein Wunder. Es ist kurz nach vier, in der Imbißstube, einem schmalen Raum mit einigen Sitzplätzen, hauptsächlich aber hohen, langen Tischen, an denen man sein Essen 197
im Stehen verzehrt, herrscht reger Betrieb. Ein Menschen- und Stimmengewirr, an das Manja gewöhnt ist. Sie verrichtet ihre Arbeit routiniert, packt das schmutzige Geschirr vom Abstelltisch auf den Wagen, sammelt die Gläser und Teller ein, die trotz überall hängender Aufforderungen nicht von allen Gästen weggeräumt werden. Als plötzlich Antje neben ihr auftaucht, die zwanzigjährige Göre, die Manja ein paarmal mit Inge zusammen gesehen hat, ist sie nicht sonderlich überrascht. Sie weiß sofort, daß es sich um keinen Zufall handelt. Sie fragt: „Willst du ’nen Kaffee bei uns trinken, oder schicken dich deine älteren Schwestern?“ „Euer Kaffee ist mir zu dünn, wir wollten dich zu einem Eis einladen, in die ‚Diele‘.“ Das „wir“ kommt naßforsch heraus, die Kleine gibt mächtig an. Dennoch hat Manja ein ungutes Gefühl. „Wie stellt sich Jeffi das vor“, protestiert sie, „ich kann doch hier nicht einfach weg.“ „Soll ja auch nicht gleich sein. Erst um sechs, wenn du Schluß machst.“ Antje wippt auf den Zehen, Manja sagt: „Ach so, um sechs. Und worum geht’s?“ „Um was Mächtiges“, erwidert Antje geheimnisvoll lächelnd, „wirst’s erfahren, wenn du da bist.“ Sie zieht ab, erfüllt von ihrer Wichtigkeit. So sieht es wenigstens Manja. Göre, denkt sie erneut, ist aber ein wenig beruhigt. Die letzten Worte klangen nicht, als wollte ihr Jeffi die Leviten lesen. Drei Viertel sechs zieht Manja die Schürze aus, wäscht sich auf der Toilette die Hände und verläßt die Gaststätte. Bis zur „Diele“, einem Eispavillon im Park, wo man draußen sitzen und die Schwäne im Stadtsee beobachten kann, ist es nicht weit. Angenehmes Wetter, Federwölkchen stehn am blauen Himmel. Manja überlegt, ob sie heute auspacken, ihre Schwierigkeiten mit Ronald darlegen soll. Das beste wäre es wohl. Trotzdem 198
beschließt sie, erst mal abzuwarten, zu sehen, was man von ihr will. Die drei Frauen sitzen an einem Tisch vorn an der Brüstung zum See, eine unbeschwerte Gruppe, der man nichts Böses zutraut. Sie schlecken ihr Eis, schwatzen miteinander, ziehn die Blicke der Männer auf sich. Inge, in einem bräunlichen Wallegewand, entdeckt Manja zuerst und winkt ihr zu. Obwohl Manja weiß, daß Inge schon immer ein Früchtchen war, denkt sie, die Freundin hätte sich nie mit Jeffi einlassen dürfen. Diese blonde Malerin war ihr von Anfang an unheimlich. Wenigstens, wenn sie ihre herrische Phase hatte. Doch das scheint diesmal nicht der Fall zu sein. Jeffi lächelt freundlich und rückt Manja einen Stuhl zurecht. „Setz dich, hast’s bestimmt dicke. Acht Stunden in deiner Muffelstube. Da muß man ja lahme Füße kriegen.“ Manja fällt es schwer, auf den lockeren Ton einzugehen. Sie nimmt Platz, wirft aber einen mißtrauischen Blick in die Runde. „Warum treffen wir uns hier, in aller Öffentlichkeit?“ „Weshalb denn nicht? Ein Kränzchen zu viert. Oder hast du was zu verbergen?“ „Mit nichts als Frauen am Tisch schämt sie sich“, sagt Antje spöttisch. „Hört doch auf“, Inge paßt der Ton nicht. „Soll ich dir ein Eis holen?“ „Lieber ’nen Eiskaffee. Wenn’s geht, ohne Sahne.“ Inge steht auf und läuft zum Büfett, wo die Getränke gemixt werden. Sie drängelt sich trotz des Protestes der Leute nach vorn. Als sie weg ist, sagt Jeffi ohne weitere Umschweife: „Wir könnten deine Hilfe gebrauchen. Am Freitagabend.“ „Wobei?“ „Du sollst auf jemanden aufpassen. Eine Stunde. Weiter nichts.“ 199
„Das hört sich bestimmt harmloser an, als es ist“, sagt Manja. „Erklär mir das mal genauer.“ „Warum nicht. Du kennst die Gegend um den Greifplatz. Neben unserem Viertel ist es das feinste in der Stadt. Aber zwei Straßen weiter ist Wildnis, das Ödland mit der ehemaligen Ziegelei. Die Keller eignen sich gut, jemanden für kurze Zeit einzuquartieren.“ „Einzuquartieren?“ fragt Manja. „Eine Entführung ist es nicht. Die Alte kommt gleich wieder frei.“ „Was habt ihr vor?“ „Das erzählt dir alles nachher Inge. Wenn wir wissen, daß du am Freitag Zeit hast.“ Inge kommt mit dem Eiskaffee und stellt ihn auf den Tisch. Manja beginnt das kalte Getränk zu schlürfen. „Hast du am Freitag Zeit?“ fragt Jeffi. Manja zögert, sie fühlt sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Aber da sind die Probleme mit Ronald. „Was bringt die Sache ein?“ „Mehr als unsere drei letzten Touren zusammengenommen. Behauptet jedenfalls Inge.“ Manja läßt ihren Strohhalm los und schaut Jeffi an. Beeindruckt. Danach die Göre Antje, die blasiert am Glimmstengel zieht. Dann, fragend, Inge. „Das wird ein ganz großes Ding“, unterstreicht Inge. „Die Alte, von der du geredet hast, kommt doch nicht zu Schaden?“ „Wir nehmen ihr weg, was sie im Sparstrumpf hat. Sonst passiert ihr nichts.“ Jeffi grient. „Solche Sachen hab’ ich bisher noch nie gemacht.“ „Sie hat Schiß.“ Antje schmeißt die Kippe auf den Boden und tritt sie aus. „Halt die Klappe“, sagt Jeffi freundlich. Und zu Manja: „Mal fängt jeder an.“ Manja überlegt. Sie hat tatsächlich Schiß, das da ist was anderes als der Verkauf von Diebesgut. Auch einige 200
Bedenken, die man moralisch nennen könnte. Aber der in Aussicht gestellte große Reibach ist zu verlockend. „Du hast Ärger mit deinem Mann?“ fragt Jeffi. „Ja … das heißt, halb so schlimm.“ „Er soll sich nicht mausig machen. Wenn wir dir unter die Arme greifen können?“ „Nein, nein. Ich werd’ schon mit ihm fertig.“ „Kein Wort zu ihm, klar.“ „Klar“, sagt Manja und macht sich an den Rest ihres Kaffees. Dann gibt sie sich einen Ruck. „Gut, ich bin dabei.“ Jeffi lehnt sich im Stuhl zurück und streckt die Beine von sich. Sie hat eine Weile überlegt, ob sie, Inges Rat befolgend, Manja so direkt einbeziehen soll. Antje war zunächst dagegen, aber Antje wollte anfangs selber nicht recht ’ran, man mußte ihr erst klarmachen, daß ein schönes Leben keineswegs als Geschenk ins Haus kommt. Dafür gibt sie sich jetzt um so rabiater. Sie ist eben eine Anfängerin, allerdings nicht am Lenkrad. Da braucht man sie auch bei dieser Aktion. Und Manja hat sich auf ihre Art bewährt. Aber wie nun immer, die Sache läuft erst zu viert richtig. Und Jeffi kostet das Gefühl aus, der Boß einer echten Bande zu sein. „Dann verabschieden wir zwei uns jetzt“, sie schiebt abrupt ihren Stuhl zurück. „Die Party steigt am Freitag neun Uhr abends. Inge bleibt noch und erklärt dir die Einzelheiten.“ Antje steht gleichfalls auf, die beiden ziehen ab. Als sie ein Stück weg sind, legt Jeffi den Arm um die schmalen Schultern der Kleinen. Manja schaut Inge an, in deren Augen plötzlich ein böser Funken glimmt. „Komm zu dir, das ist deine Künstlerin doch gar nicht wert“, sagt sie.
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20 Kielstein hat sich mit seinem Bier am Tisch hinter dem wuchtigen, mit Holz eingefaßten Pfeiler plaziert, neben zwei Arbeitern, die lebhaft die Reparatur einer eingebeulten Autokarosserie besprechen. Er wäre nicht abgeneigt, sich an der Unterhaltung zu beteiligen und etwas hinzuzulernen, hat er doch kürzlich mit seinem PKW beim Rückwärtseinordnen den Steinmast einer Peitschenlampe gestreift – das Ding wollte keine zehn Zentimeter zur Seite rücken –, aber er ist keineswegs zum Vergnügen hier. Etwa sechs Meter entfernt, in seiner Blickrichtung, doch ihm den Rücken zukehrend, sitzt die „Lende“ mit einem kleinen, hageren Mann. Sie hat Kielstein noch nicht bemerkt, und ihm liegt auch nichts daran. Um nicht gesehen zu werden, hat er ja den Platz hinter diesem Pfeiler gewählt. Kielstein hatte einige Mühe, sich an „Georgs Rumstube“ und an diesen Lebholz heranzutasten. Rosemarie Lend wußte mehr, als sie zugab, das war ihm klar, aber sie war vorsichtig und führte ihn an der Nase herum. Er hatte sie beobachten lassen, auch selbst recherchiert: Ihr reichlich gemischter Bekanntenkreis erwies sich in dem ihn interessierenden Punkt als unverdächtig. Ihr Mann hatte sie vor einem knappen Jahr verlassen und lebte mit einer anderen zusammen – die Kontakte waren minimal. Ihr Vater, grämlich bemüht, das ramponierte Ansehen seiner Tochter im Haus nicht weiter absinken zu lassen, kam kaum für krumme Touren in Frage. Beinahe blamiert hätte sich der Leutnant, als er, eingedenk der Gespräche mit Bianca, einen Kraftfahrer vom Stadttransport unter die Lupe nahm, mit dem die Lend bisweilen in einer Kneipe zusammentraf. Die Größe des gefundenen Handschuhs hätte gestimmt. Alibis für die beiden entscheidenden Nächte waren zunächst nicht vorhanden, aber dann stellte sich 202
heraus, daß dieser Bengsch in der betreffenden Zeit lediglich eine verheiratete Frau betreut hatte. Und der Leutnant war in der Dienststelle bereits in Siegerpose herumspaziert, hatte geglaubt, den Fall endlich abzuschließen. Doch nun scheint er auf der richtigen Spur zu sein, schon gestern hat er bemerkt, wie die Lend diesen Ronald Lebholz unter Druck setzt. Er spendiert ihr zu trinken, gibt ihr offenbar Geld. Mehrere Scheine hat er ihr gestern über den Tisch geschoben. Kielstein hat sich mit dem Wirt des Lokals unterhalten, den alle „Halblang“ nennen. Lebholz steht seit einiger Zeit ständig unter Strom, während ihm früher schon für ein Bier am Abend das Taschengeld fehlte. Mehrmals auch hat er damit geprahlt, billigen Kaffee beschaffen zu können. Die Stimmung am Tisch der „Lende“ steigt, die Rothaarige hat wohl selbst einiges intus, denn sie gestikuliert und kreischt auf, als ihr ein zweiter Mann, ein ziemlicher Riese, in den mageren Schenkel kneift. Lebholz sagt etwas, und die drei brechen in Gelächter aus. Die Serviererin, eine dicke Mamsell, stellt eine neue Runde Bier auf den Tisch. Nach einer Weile erhebt sich die Lend und strebt, ihr Täschchen unterm Arm, der Tür zu, die zu den Toiletten führt. Kielstein verschwindet schnell hinter seinem Pfeiler, aber da sie in die entgegengesetzte Richtung geht, hat sie ihn sowieso nicht im Blick. Die Arbeiter an seinem Tisch unterbrechen ihre Diskussion und schaun ihn erstaunt an. „Bist wohl hinter deiner Alten her?“ fragt der eine. „So was Ähnliches.“ Der Leutnant versucht ein Lächeln. Dann, unvermittelt, erhebt er sich. „He, vergiß das Bezahlen nicht!“ „Nein, nein, ich bin gleich wieder da.“ Er geht zum Tisch, an dem Lebholz und der Riese sitzen. „Ist noch was frei bei Ihnen?“ 203
„Ja, der hier.“ Golz weist auf den vierten Stuhl. „Setz dich, bei uns gibt’s Freibier.“ „Schmeiß nicht mit meinen Scheinen ’rum“, sagt Lebholz, „wer was kriegt, bestimm’ ich.“ Von der Lend ist noch nichts zu sehen. Kielstein setzt sich. „Danke, ich brauch’ nichts, mein Bier steht da drüben. Ich hab’ nur eine Frage.“ „Was für eine Frage?“ Golz, an den das Wort nicht gerichtet war, starrt ihn aus leicht verschleierten Augen an. „An dich.“ Kielstein wendet sich Ronald Lebholz zu. „Ich hab’ gehört, bei dir könnte man verbilligten Kaffee kaufen.“ „Bei mir? Wer sagt das?“ „ ‚Halblang‘ hat’s mir erzählt.“ Kielstein senkt die Stimme. „Auch von Pralinen war die Rede. Na, wie sieht’s aus, meine Freundin hat morgen Geburtstag.“ Einen Moment lang ist Ruhe, dann schüttelt Lebholz unzufrieden den Kopf. „Was quatschen die bloß. Seh’ ich aus wie ein Süßwarenhändler?“ Golz, nicht ganz bei sich, gurgelt sein Bier und setzt das Glas hart auf den Tisch. „Hier wird Gerstensaft getrunken, mein Junge, verstehst du. Mit was ohne Prozente geben wir uns nicht ab.“ „Schade, ich dachte, ich könnt’ mit euch ins Geschäft kommen.“ Kielstein zupft an seiner Brieftasche. „Was manche Leute so denken“, sagt Golz, „verdrück dich.“ Er macht ein drohendes Gesicht. „Aber ‚Halblang‘ hat doch …“ Lebholz fällt ihm ins Wort. Er hat Kielsteins Brieftasche im Auge und erliegt halb der Versuchung. „Die Ware ist alle, Kumpel. Du kommst zu spät. Vielleicht nächste Woche wieder, kannst ja mal nachfragen.“ „Wieso? Kriegst du ’ne neue Lieferung?“ In diesem Augenblick steht die Lend am Tisch; sie hat sich auf der Toilette etwas zurechtgemacht und wirkt relativ nüchtern. Offenbar hat sie den Kriminalisten von 204
hinten nicht erkannt, denn jetzt, als sie im Begriff ist, sich zu setzen, schreckt sie zurück. Für Sekunden sieht es so aus, als wolle sie die Flucht ergreifen, aber sie bleibt stehen. „Guten Abend, Leutnant Kielstein“, sagt sie laut. „Guten Abend, Frau Lend, nehmen Sie doch Platz.“ Die beiden Männer starren ihn verblüfft an. Auch vom Nebentisch schaut man herüber. „He, was soll denn das?“ Golz blickt von ihm zu der Frau. Ronald Lebholz hat sofort begriffen. Der Alkohol trübt noch seinen Verstand, aber man sieht förmlich, wie die Gedanken rotieren. „Ich hab’ nichts damit zu tun“, stottert er. „Das müssen Sie mir mal in Ruhe erklären. Sie kommen am besten mit. Sie auch, Frau Lend.“ Die Lend zuckt resignierend mit den Schultern, Lebholz aber, mit überraschender Wendigkeit, hetzt plötzlich vom Stuhl hoch und rennt zum Ausgang. Kielstein, der mit einer solchen Reaktion rechnen mußte, will ihn beim Arm packen, was jedoch mißlingt. Der Stuhl fliegt zur Seite, ein Bierglas fällt um. An den anderen Tischen springen die Gäste auf, ein allgemeines Tohuwabohu entsteht. Dennoch hätte der Leutnant den Flüchtigen schnell gegriffen, wäre ihm nicht Golz im Weg gewesen. Der Hüne, offenbar nicht recht in der Lage, einzuschätzen, was gespielt wird, taucht nämlich gleichfalls hoch und läßt unvermutet einen Fausthieb los. Der Schlag erwischt Kielstein seitlich am Kinn und setzt ihn für Sekunden außer Gefecht Ein Ringrichter beim Boxkampf würde bis acht zählen. Ein Tisch rutscht zur Seite, eine halbvolle Weinflasche zerbirst am Boden. Kielstein landet auf einem Stuhl, der zwar erbärmlich ächzt, aber den Aufprall erstaunlicherweise aushält. Von Tisch und Stuhl werden zwei Arbeiter in den Rücken gerempelt. Sie begreifen nicht sofort, was los ist, und wollen sich an 205
dem Kriminalisten schadlos halten. Hinter seinem Tresen eilt „Halblang“ hervor, reißt das Knäuel der Kämpfenden auseinander. Die Lend, die verstanden hat, daß es jetzt höchste Zeit für sie ist, sich auf die Seite des Gesetzes zu schlagen, zerrt an Golz herum, bemüht, ihn zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen. Kielstein kommt zu sich, und als erstes fallen ihm die Worte ein, die Bothe sprechen würde, wenn er die Szene beobachten könnte: Immer diese hirnverbrannten Einzelaktionen – wirst du dir das denn nie abgewöhnen. Auch Marianne erscheint vor seinem inneren Auge, in solchen Situationen, aus nun schon ferner Vergangenheit hergerufen. Sie schüttelt mitleidig den Kopf: Wie kann man sich bloß an solch einem Beruf festklammern. Und Bianca? Bianca taucht nur für Sekundenbruchteile in seinem Hinterkopf auf, mit einer Geste, als wollte sie sagen: Jetzt keine Zeit mit unnützen Überlegungen verlieren. „Richtig“, verkündet Kielstein daraufhin laut und stemmt sich, die Lage sondierend, von dem ächzenden Stuhl hoch. Natürlich, der Hauptverdächtige ist über alle Berge. Aber die „Lende“ steht noch da und Golz mit einem behammelten Gesicht. Der Leutnant packt die Rothaarige bei der Schulter: „Nun mal heraus mit der Sprache, mein Täubchen, was hat dir Lebholz über den Einbruch in der ‚Süßen Ecke‘ erzählt?“ „Lassen Sie mich doch los“, erwidert zerknittert die Frau, „ich sag’ Ihnen ja, was ich weiß, aber muß es unbedingt hier sein.“
21 Am Freitag ist Badetag, jedenfalls für Anneliese Schirmer, die sich dieses Vergnügen allwöchentlich leistet. Nicht zu Hause, denn sie besitzt kein Badezimmer, son206
dern bei Trautchen Mannhardt, ihrer Freundin. Falls man von Freundschaft zwischen den beiden sprechen kann, eher handelt es sich um eine Bekanntschaft zu gegenseitigem Vorteil. Trautchen ist ziemlich korpulent und schlecht auf den Beinen, sie braucht Hilfe, wenn sie aus der Wanne steigt. Auch ihren Garten hätte sie längst abgeben müssen, wäre nicht die Zähigkeit der anderen gewesen. Früher einmal machte Anneliese bei den Mannhardts sauber und hätte nicht im Traum daran gedacht, ihre Badewanne zu benutzen. Aber als beider Männer gestorben waren, hatte Trautchen es ihr angeboten. Kostenlos, wie auch einen Teil der Gartenfrüchte. Anneliese griff ihr dafür weiterhin unter die Arme. Daß sie inzwischen die Vermögendere war, änderte nichts an der Sachlage. Das Baden ist Gewohnheitsrecht geworden. Jeden Freitag zwischen siebzehn und achtzehn Uhr klingelt „Tante Anneliese“ bei Trautchen, wird eingelassen und bekommt eine Tasse Kaffee serviert. Während sie das heiße, bittere Getränk schlürft – im Winter ein Genuß, weil es die erstarrten Glieder durchwärmt, im Sommer eine Freude, weil es das beste Mittel gegen Durst und Hitze ist –, macht sich die Gastgeberin für die Wanne fertig. Sie legt Tücher und Seife bereit, läßt Wasser ein. Sie schafft es auch noch, in die Wanne zu steigen. Danach aber greift ihre Bekannte ein. Anneliese hilft beim Abseifen, Aussteigen, Abtrocknen. Säubert die Wanne, läßt neu ein. Während sich Trautchen im Wohnzimmer erholt, badet sie dann selbst. Ausgiebig und mit dem befriedigenden Gefühl, das alles umsonst zu haben. Anschließend wird Abendbrot gegessen. Die Gastgeberin stellt Brot, Wurst, Obst und Tee bereit, aber beide verzehren wenig. Sie tauschen auch Neuigkeiten aus, wobei nur Trautchen etwas aus sich herausgeht. Anneliese wahrt bei allem die Distanz der ehemaligen Haushaltshilfe. Jahre hat es gedauert, ehe sie sich entschloß, 207
noch zum Fernsehn dazubleiben, bis zum Ende des Freitagabendfilms. Mittlerweile ist auch das die Regel. Halb, drei Viertel, manchmal erst um zehn bricht sie dann endgültig auf, um nach Hause zurückzukehren. So wie an diesem Tag, da sie ein wenig verschlafen ist; schon während des englischen Krimis hat sie ein Nickerchen gemacht. Eigenartig, daß Irmtraut sich von so was fesseln läßt. Na ja, das eine und andere mag ganz spannend sein. Aber wenn man sich solche Filme dauernd anguckt … Der Abend ist lau, der Weg nach Hause nicht weit. Die Reinhardtstraße, wo Trautchen wohnt, ist ausreichend mit Lampen bestückt, der Marienweg, der zum Greifplatz führt, nur mäßig erhellt. „Tante Anneliese“, von ihrem Bett magisch angezogen, trippelt hastig unter den dichten Kastanienbäumen dahin, achtet nicht auf ihre Umgebung. Als sie seitlich ein Rascheln hört, hinter sich schnelle Schritte, hat sie gerade noch Zeit zu erschrecken. Ein Arm legt sich um ihre Taille, eine behandschuhte Faust preßt einen nach Äther stinkenden Wattebausch auf ihren Mund. Sie reißt weit die Augen auf, sieht aber nichts als eben diesen für den Sommer ungewöhnlichen braunen Lederhandschuh. Sie will schreien, nur gurgelnde Laute gelingen ihr, sie fuchtelt mit den Armen herum, versucht sich dem harten Zugriff zu entwinden, doch sie hat keine Chance. Ihre Finger gleiten von der Hand der angreifenden Person ab, ihre Glieder werden schlaff, sie verliert das Bewußtsein. Schon betäubt, vernimmt sie das Geräusch eines heranpreschenden Autos. Halblaute Worte, eine Stimme, zwei – die wollen mein Geld, aber ich hab’ nichts mit, denkt sie. „Endlich“, knurrt Jeffi, „die ist ja zäh wie ein alter Latsch.“ Antje ist aus dem Wagen gesprungen und hat die Tür aufgerissen. Jeffi hält die alte Frau noch immer um208
schlungen, während Inge ihre Beine packt. Gemeinsam ziehn sie die Ohnmächtige in den Wagen auf die hinteren Sitze. Nebenan im Garten beginnt ein Hund zu bellen, ein zweiter, weiter weg, schließt sich an. Aber im etwas abseits liegenden Haus, dessen obere Fenster erleuchtet sind, bleibt alles still. Jeffi und Inge haben ihre Männerkluft angelegt und im Moment des Überfalls dunkle Schals bis zu den Augen hochgezogen; besser ist besser, wenn auch die Gefahr, erkannt zu werden, gering bleibt. Antje trägt nur ihre Jeansmütze, tief in die Stirn gedrückt, sie soll am Steuer unbedingt normal aussehen und, wenn’s geht, gleichfalls wie ein Mann. Ein Pärchen kommt den Weg entlang. „Los, hau jetzt ab“, zischt Jeffi. „Habt ihr die Schlüssel?“ „Ja, alles läuft wie geplant.“ Der Wagen – natürlich hat Antje die Kennzeichen gegen andere ausgetauscht, die längst bereitlagen – setzt sich in Bewegung. Er fährt an dem Liebespaar vorbei, biegt rechts in die Straße ein, die zur Ziegelei führt. Ursprünglich wollte Jeffi die Alte vor deren eigener Wohnungstür abfangen, aber dann schien ihr das zu riskant. Zu lange hätte man sich im Haus verstecken müssen, wäre vielleicht aufgefallen. Und was, wenn im Augenblick, da „Tante Anneliese“ an ihrer Tür stände, ein Nachbar die Treppe herab- oder heraufkäme? Dann wäre die Gelegenheit vertan. Nein, der Überfall im Freien war günstiger. Antje ist weg, schon drei Minuten später erreichen Jeffi und Inge den Greifplatz. Sie gehen nun eng an den Häusern entlang, drehen die Köpfe weg, wenn ihnen jemand entgegenkommt. Die Schals haben sie wieder abgenommen, sie bemühen sich, alltäglich zu erscheinen. Sie tragen große Umhängetaschen und gleichen Touristen. 209
Das Haus, in dem „Tante Anneliese“ wohnt, liegt friedlich da. Jeffi, die Übung im Öffnen fremder Türen hat, findet schnell den entsprechenden Schlüssel. Niemand auf der Treppe, aber als sie den ersten Stock erreicht haben, verläßt ein junger Mann eine der höher gelegenen Wohnungen. Blitzschnell rennen sie wieder nach unten, verstecken sich in der Nische neben dem Ausgang zum Hof. Erst als alles ruhig geworden ist, steigen sie erneut nach oben. Diesmal geht es ohne Zwischenfälle ab. Das obere Sicherheitsschloß, das untere, der Schnapper. Während Jeffi öffnet, behält Inge die Treppe im Auge und vor allem die beiden anderen Wohnungstüren im Stockwerk. Aber nichts regt sich; wie vorausgesehen, scheinen die meisten Leute weg zu sein, im Urlaub oder auf ihrem Grundstück. Dann ist die Tür auf, und sie huschen hinein. Warme, abgestandene, nach alten Kleidern riechende Luft strömt ihnen entgegen. Jeffi läßt ihre Taschenlampe aufblitzen. „Wir machen ein Fenster auf, damit der Mief abziehn kann“, flüstert Inge. „Kommt nicht in Frage, das könnte auffallen.“ „Na und, die Leute werden glauben, daß die Alte zurück ist.“ „Trotzdem. Zieh lieber die Vorhänge zu, damit wir Licht machen können.“ Sie stehen im Wohnzimmer. Lautlos – beide tragen Turnschuhe – geht Inge zum Fenster und zieht die dicken Übergardinen vor. Jeffi schaltet das Licht an. „Los, an die Arbeit“, sagt sie. Die Wohnung der Rentnerin, zwei Zimmer, Korridor und Küche, bietet ein widersprüchliches Bild. Die Tapeten sind rußig, das Mobiliar ist zum größten Teil alt, ohne wertvoll zu sein: abgenutzt, klapprig. Dazwischen aber gibt es einen bestimmt teuren Teppich und die Vit210
rine, die Inge bereits bei ihrem Besuch als angebliche Altstoffsammlerin entdeckt hat. Darin stehen Porzellangefäße und Gläser, ganz ohne Zweifel von unterschiedlicher Güte, doch meist Erbstücke, die gewiß etwas einbringen. In den Schränken Geschirr, Kleidung und Wäsche, letztere vielfach unbenutzt. Bettzeug und Handtücher, vierzig, fünfzig Jahre alt, ein Fotoalbum und mindestens zehn Blechbüchsen mit verschiedenen Knöpfen. Im Schlafzimmer steht in einer Ecke ein Kinderschaukelpferd mit flauschigem Fell und roten Kunstledergurten. Inge gibt ihm einen Tritt, so daß es zu wippen beginnt. „Ob die Alte da noch drauf reitet?“ „Such lieber die Moneten, die du so großartig angekündigt hast“, knurrt Jeffi. Sie finden, mit anderen Papieren in einer Kommode, ein Sparbuch. Sechstausend Mark, doch das interessiert Jeffi nicht. „Wie sollen wir da ’ran?“ „Nehmen wir erst mal den Schmuck“, schlägt Inge vor und packt ein, was sie in einem Kästchen entdeckt. Viel ist es nicht: ein paar Silberbroschen, eine kleine Kamee, der Ehering des Mannes. In einer Vase findet sich eine goldene Sprungdeckeluhr – die Alte hat offenbar alles einzeln versteckt. Eine Handvoll Zwanzigpfennigmünzen in einer Pappschachtel und schließlich ein lohnenderer Fund, etwa dreißig Zehn- und Zwanzigmarkstücke, daneben vier Fünfzigmarkscheine. Sie wühlen die Kästen durch, die Schubladen, stülpen die Vasen um. Das Geld, die Schmuckstücke, die Uhr wandern in die Umhängebeutel. Inge ist wütend. „Das kann nicht alles sein, die Alte muß ein besonders raffiniertes Versteck haben.“ Jeffi kramt inzwischen im Schuhregal. Acht Hunderter stecken zwischen einem Paar zerschlissener Pantoffeln. Eine Dreiviertelstunde – länger soll die Aktion auf keinen Fall dauern. So ist’s mit Manja abgesprochen, die 211
ihre „Patientin“ danach dem Schicksal überläßt, und mit Antje, die mit dem Wagen an der Ecke wartet. Aber die Zeit verstreicht, die kleine Wohnung ist bereits auf den Kopf gestellt, und der große Betrag bleibt aus. „Die ist überhaupt nicht reich“, höhnt Jeffi. „Alles Gerede, Fata Morgana. Und du fällst drauf ’rein.“ „Wir haben noch das Porzellan, die Gläser. Die Deckchen aus dem Flur. Mit der Uhr und den verschiedenen Scheinen kommt ganz schön was zusammen.“ „Und wer bringt das Zeug an den Mann? Willst du’s etwa dem Antiquitätenhandel anbieten?“ „Das werden wir uns später überlegen.“ Inge beginnt die Vitrine auszuräumen. „Aber doch nicht den Plunder“, zischt Jeffi. „Laß mich das machen, du verstehst nichts davon. Gib mir das Packpapier dort.“ Inge holt das Papier, Jeffi greift zielgerichtet nach einer Porzellanschale mit Rosenmuster. Doch sie legt die Schale wieder zur Seite: „Ich glaube, ich hab’s.“ „Was?“ „Das Versteck … Komm mit.“ Sie läuft ins Schlafzimmer, Inge folgt ihr. Vor dem Schaukelpferd bleibt Jeffi stehen. Mit fliegenden Fingern tastet sie seine Flanken und schließlich den Bauch ab. „Du meinst …“ „Hol mir ein Messer aus der Küche, ein spitzes.“ Unten befindet sich eine Naht. Jeffi setzt das Messer an und zieht es kraftvoll durch. Dann beginnt sie mit den Händen zu wühlen. Holzwolle quillt aus dem Schlitz. Sie stößt auf ein Päckchen. „Also doch …“ Ein Päckchen, zwei Päckchen, drei, vier … Es sind gebündelte Hundertmarkscheine. Wie im Märchen; ein Bündel platzt auf, das Geld verteilt sich auf dem Fußboden. „Ein richtiger Safe, ich hab’s doch gewußt“, sagt Inge. 212
„Wenn ich nicht draufgekommen wäre.“ „Bist du aber! Du bleibst die Größte!“ „Durch den fiesen Geruch hab’ ich’s gemerkt. Die Alte hat Mottenkugeln zwischen das Geld gesteckt, damit ihm nichts passiert. Die ganze Zeit hab’ ich überlegt, warum das Pferd so stinkt.“ Inge stopft die Päckchen in die Umhängetasche, sammelt die losen Scheine auf. Immer noch mehr Bündel holt Jeffi aus dem Pferdebauch. „Wieviel mag das sein?“ fragt Inge. „Das sind, warte … Zehnerpackungen, jede tausend Mark, elf-, nein, dreizehn-, nein, vierzehntausend Mark. Dazu der übrige Ramsch.“ „Und sie hat immer Klamotten von vor zwanzig Jahren an“, sagt Inge.
22 Was will dieser Leutnant von mir. Ronalds Gedanken überschlagen sich. Zu ihr müssen sie gehn und zu ihrer sauberen Bekanntschaft. Ich hab’ nichts damit zu tun, ich weiß gar nichts. Genau das werd’ ich ihnen auch sagen. Er bleibt stehen und lehnt sich an eine Häuserwand, sein Atem pfeift, im Kopf dreht sich alles. Der Alkohol – außerdem war er noch nie sportlich. Er fühlt sich miserabel. „Ist Ihnen schlecht?“ Aus der Stimme der Frau klingt Mitleid, aber ihr Begleiter in weißem Baumwollhemd zieht sie weiter. „Laß doch, der ist bloß besoffen.“ Der Nebel in Ronalds Kopf lichtet sich ein wenig. Er blickt zurück: Keine Verfolger. Irgend jemand hat den Polizisten aufgehalten, Golz, die „Lende“. Er hat’s nicht 213
mitgekriegt, nur das Gepolter gehört, als er bereits an der Tür war. Aber wo sind die andern, der war doch bestimmt nicht allein. Die Sonne ist längst untergegangen, der Himmel teilweise bewölkt. Ronald ist von „Georgs Rumstube“ aus direkt ins Dunkel gelaufen, um mehrere Ecken, von seiner Wohnung fort, die ja ganz in der Nähe liegt. Dort werden sie mich zuerst suchen, überlegt er, wenigstens ein Dutzend Leute kennen meine Adresse. Gleichzeitig fällt ihm das Widersprüchliche seiner Denkweise auf: Wenn ich nichts weiß, nichts zu befürchten habe, weshalb laufe ich dann weg? Der Nebel in seinem Kopf, der verdammte Nebel. Ronald geht langsam weiter, erreicht einen kleinen Platz mit einem Springbrunnen, der jetzt freilich abgestellt ist, setzt sich auf den Steinrand. Er beugt sich über den leicht wellenden Wasserspiegel – ein vorzeitig gealtertes, biergraues Gesicht blickt ihn an. Vermurkstes, weggeschmissenes Leben, er hat alles falsch gemacht. Blödsinn, so zu tun, als sei ich unschuldig, natürlich hänge ich mit drin. Ich hab’ nichts geklaut, verkauft, verschoben, aber ich kann mir ’ne ganze Menge zusammenreimen, und ich hab’ das Geld genommen. Zuletzt immer mehr, sogar für die „Lende“ mit. Sie werden’s als Erpressung betrachten. Auf jeden Fall hätt’ ich’s melden müssen. Er überwindet sich, steckt den Kopf ins Wasser. Einmal, zweimal. Als er wieder hochtaucht, ist ihm etwas wohler. Obgleich ihm die Nässe das Hemd durchweicht, so daß ihn plötzlich fröstelt. Vielleicht wäre es das beste, wenn ich mich der Polizei stelle, sagt sich Ronald, die kriegen mich sowieso. Aber der Gedanke, in „Halblangs“ Lokal zurückzukehren oder nach Hause zu gehn, wo vielleicht die liebe Nachbarschaft durch das Eintreffen einiger Blaulichtwagen aufgeschreckt ist, widerstrebt ihm außerordentlich. Sein 214
ganzer Körper wehrt sich dagegen. Lieber irgendwo unterkriechen und abwarten. Schade nur, daß er keine Pulle Korn, nicht mal ’ne Flasche Bier bei sich hat. Die eigentlich Schuldigen, überlegt Ronald, sind Manjas sogenannte Freundinnen: Inge und diese Jeffi. Die stecken hinter allem, sie müßte man anzeigen und ins Kittchen bringen. Mehr als einmal hat er seine Frau vor ihnen gewarnt, aber sie wollte ja nicht hören. Nun sitzt sie mit drin und nicht zu knapp. Ob sie Manja schon haben? Bestimmt nicht, sie hatte irgendwas vor, war nach der Arbeit nur kurz zu Hause und ging dann wieder weg. Vielleicht hat sie sich mit den anderen getroffen. Natürlich hat sie sich mit denen getroffen. Plötzlich kommt Ronald eine Idee. Er muß Manja auflauern und informieren. Die andern nicht, nur sie; zwar hat sie’s im Grunde nicht verdient, hat ihn schikaniert und zum Popanz gemacht, aber sie ist immerhin seine Frau. Irgendwann mal haben sie sich geliebt. Gemeinsam werden wir überlegen, was zu tun ist, ob wir uns stellen sollen, um Strafmilderung zu kriegen, oder ob wir ein paar Tage untertauchen. Auf Frieders Grundstück zum Beispiel – das ist ein früherer Kollege von ihm, der sich zur Zeit an der Ostsee aufhält. Und wo fang’ ich sie ab, fragt sich der Mann. Das ist doch alles Unsinn, sie sitzen vielleicht in einer Kneipe und reden über ihren neuen Fischzug. Denn irgendwas haben sie wieder vor, etwas ist im Busch, sie hat kürzlich von Nachschub geredet. Oder sie hocken bei den beiden in der Bude und brüten was aus, dort glauben sie sich ungestört. Fünf Minuten später ist Ronald Lebholz auf dem Weg zur Wohnung von Josefine Lattebeck und Inge Kalz. Er hat die Adresse nicht im Kopf, aber er wird’s finden, er war vor längerer Zeit einmal dort. Er weiß nicht genau, was er will, läßt sich vielmehr von seiner unklaren Eingebung leiten. Er hofft Manja zu treffen, seine Frau, die 215
ihm trotz allen Streits noch am nächsten steht, und mit ihr in dieser bedrohlichen Situation ins Einvernehmen zu kommen.
23 Fast eine Stunde hat Manja im Keller der stillgelegten Ziegelei gehockt und gewartet. Das war das Unsichere an ihrem Plan: Sie wußten nicht, wann „Tante Anneliese“ bei ihrer Freundin aufbrach, und mußten für die Eventualitäten gerüstet sein. Sie trägt einen Overall und eine feste Jacke, die richtige Kleidung für die Kühle hier; von dieser Seite her ist sie geschützt. Aber die Zeiger ihrer Armbanduhr wollten sich einfach nicht vorwärts bewegen. Von Zeit zu Zeit schlich sie über die ramponierte Treppe nach oben und starrte in die Dunkelheit. Endlich surrt Jeffis dunkler Wartburg heran. Niemand in der Nähe, Manja tritt aus dem Schatten des Gemäuers. „Hier.“ Antje stoppt, springt aus dem Wagen. „Schnell, bevor jemand vorbeikommt.“ „Hat alles geklappt?“ „Siehst du doch. Hilf mir!“ Sie öffnet die hintere Wagentür; die Frau in den Polstern gleicht einem glücklich schlafenden Kind. Antje packt sie am Arm und will sie herauszerren. „Nicht so“, sagt Manja, „laß mich das machen.“ Sie faßt die Alte unter den Armen und zieht sie behutsam über die Sitze: „Die ist so still, ist sie wirklich bloß ohnmächtig?“ „Na klar, denkst du, wir woll’n uns ’nen Packen totes Fleisch auf den Buckel laden.“ „Du hast vielleicht ’ne Sprache dran“, sagt Manja. Gemeinsam tragen sie die Frau in den Keller und von 216
da aus in einen zweiten, dahinter liegenden Verschlag. Hier ist ein Lager aus alten Säcken vorbereitet. „Ich hau’ gleich wieder ab, damit niemand über den Wagen stolpert“, flüstert Antje. „Wie lange soll ich auf die Alte aufpassen?“ „Ist doch alles abgesprochen. Ab jetzt ’ne knappe Dreiviertelstunde. Bevor du gehst, gibst du ihr noch eine kleine Ätherdusche. Damit wir richtig Vorsprung kriegen.“ Sie huscht hinaus, klettert ins Auto und fährt ab. Sie wird den Wagen am vereinbarten Ort in der Nähe des Greifplatzes parken und auf Jeffi und Inge warten. Manja schaut ihr nach, soweit das in der Düsternis möglich ist, bis der PKW unter den Bäumen verschwindet. Dann tappt sie zurück in den Keller. Der Keller, ein dunkles, muffiges Gewölbe, in dem sich allerlei Unrat und Gerümpel angesammelt hat, ist nicht gerade ein Ort zum Wohlfühlen. Seine Wände sind feucht, und von der Decke bröckelt der hier und da noch vorhandene Putz; in einer Ecke sind sogar mehrere große Stein- und Lehmklumpen herabgebrochen. Rechts von dem Verschlag, in dem jetzt die Alte liegt, geht eine Tür ab, dahinter befinden sich weitere Gewölbe. Notfalls ein Fluchtweg, man gelangt durch ein Fenster auf freies Gelände. Die Ziegelei selbst, seit vielen Jahren außer Betrieb und irgendwann von einem Brand heimgesucht, ist nur noch eine Ruine. Es heißt, daß in dieser Gegend ein neues Wohnviertel entstehen soll. Dann wird sie wohl endgültig abgerissen werden. In der Stunde, die Manja hier wartet, hat sie sich an die Dunkelheit und den dumpfen Geruch gewöhnt. Sie hat eine Taschenlampe mit, gebraucht sie aber nicht, aus Angst, es könnte jemand zufällig aufmerksam werden. Ein paar Motorräder sind vorhin vorbeigeknattert, bei den Jugendlichen weiß man nie. Es geht auch ohne Beleuchtung, durch einige Fensterluken kommt gerade so viel Schummerlicht herein, daß sie sich zurechttastet. 217
In dem Verschlag angelangt, setzt sich die Frau auf eine Kiste. Daß die Alte so still ist, irritiert sie. Allerhand Knack- und Raschelgeräusche sind im Keller, doch nicht einmal der Atem der Betäubten ist zu hören. Nun nimmt Manja trotz allem die Lampe, läßt sie kürz aufblitzen. Der Strahl trifft das magere Gesicht, die spitze Nase. In einer unbewußten Reaktion, oder ist es einfach zufällig, wendet die Alte den Kopf ab, stöhnt. Manja schaltet die Lampe sofort aus, ist aber beruhigt. Die Frau lebt. Nicht auszudenken, was wäre, wenn sie trotz Antjes großmäuliger Versicherung vielleicht nicht mehr zu sich käme. Die Zeit schleicht dahin, und plötzlich fällt Manja ein, daß sie vorhin nicht auf die Uhr geschaut hat. Wie viele Minuten mögen vergangen sein, seit Antje weg ist, zehn, fünfzehn? Manja knipst erneut die Lampe an: zehn Uhr vierzig. Zwanzig Minuten muß ich noch durchhalten, denkt sie. Die Alte stöhnt erneut, bewegt sich. Was mach’ ich, wenn sie jetzt zu sich kommt? Manja tastet nach dem Ätherfläschchen, das sie irgendwo hier abgestellt hat, faßt nach dem weißen Lappen in der Jackentasche. Diese Göre hat gut reden: Gib ihr ’ne kleine Dusche. Und wenn es zuviel wird? Hat ganz schön was abgeguckt in der letzten Zeit von Jeffi. Kaltschnäuzig und gerissen, für Geld tun die sonst was. Ob sie wenigstens Erfolg haben? In der Wohnung müßten sie inzwischen längst sein. Hoffentlich geht alles nach Plan. Auf einmal, in der Finsternis ringsum, der Einsamkeit und dem dumpfen Modergeruch, wird Manja von Furcht gepackt. Die Angst rieselt von den Wänden, kriecht aus den Ecken des Kellers auf sie zu. Und wenn die Sache schiefläuft, Jeffi und Inge erwischt werden? Vielleicht haben die Nachbarn was gemerkt und die Polizei alarmiert, vielleicht sind sie schon auf dem Weg hierher, Antje hält bestimmt nicht dicht. Sie aber, dämliche Pute, 218
hockt ruhig da, als könnte nichts passieren, neben sich die Alte, und wartet. Manja, obwohl sie sich sofort sagt, daß alles Unsinn sei und man die Nerven nicht verlieren dürfe, springt auf, stockert zum Ausgang. War draußen nicht ein Motorengeräusch zu hören? Mit unvermuteter Wucht wird ihr bewußt, worauf sie sich da eingelassen hat. Das ist nicht mehr nur der Verkauf einiger gestohlener Büstenhalter oder Pralinenpackungen, sie beteiligt sich an Überfall, Freiheitsberaubung, Einbruch, Diebstahl in großem Umfang oder wie das immer heißen mag. Manja Lebholz, die bescheidene Hilfskraft in einer Imbißstube, weit hat sie’s gebracht. Das Geld wird sie ihrem Säufer in den Rachen stopfen, wenn alles glatt gehen sollte. Vor Wut und Enttäuschung fängt sie fast zu heulen an. Kein Auto und auch kein Motorrad nähert sich, aber zwei Männer, offenbar angetrunken und laut miteinander diskutierend, kommen den Weg entlang. Manja zieht sich zur Kellertür zurück, behält die beiden jedoch im Blick. Ausgerechnet in diesem Moment wird das Stöhnen der Alten im Hintergrund stärker, geht in unartikuliertes Geplapper über. Verdammt, sie wird doch nicht gerade jetzt zu sich kommen. Hastig, wenn auch so vorsichtig wie möglich, schleicht Manja nach hinten. Tatsächlich, die Betäubte wirft sich hin und her, arbeitet mit Armen und Beinen, beginnt spitze Schreie auszustoßen. Und die Stimmen draußen sind schon ganz nahe. „Willst du wohl still sein.“ Manja greift nach dem Tuch in der Tasche, aber wo ist die Ätherflasche hin? Direkt neben der Kiste stand sie, zwischen zwei Steinen, damit sie nicht umfallen konnte. Die Alte schlägt mit dem Fuß gegen die Wand und jault vor Schmerz auf. Sie hebt den Oberkörper: „Wo …“ Sie darf jetzt nicht schrein, darf nichts mitkriegen, denkt Manja, noch immer hektisch den Boden abtastend. Vergebens, die Flasche ist verschwunden. Viel219
leicht hat sie das Betäubungsmittel mit nach vorn genommen und stehengelassen. Die Männer befinden sich nun in Höhe des Kellers, sie verstummen plötzlich – haben sie was gehört? „Wo …“, brabbelt die Alte, „was ist … wo bin …“ Anscheinend taucht sie aus einem Alptraum hoch, ihre Hand faßt durchs Dunkel, erwischt den Jackenärmel. „Loslassen, willst du wohl.“ Manja, in Panik, beugt sich über die Frau, preßt ihr das weiße Tuch auf den Mund. Das noch ohne Äther ist oder nur ganz leicht danach riecht; vorhin, gleich nachdem Antje weg war, hat sie ein paar Tropfen zur Probe draufgeträufelt. Der magere Körper bäumt sich auf, gurgelnde Laute dringen unter dem Tuch hervor, die Füße schlagen. „Bist du endlich still, bist du still.“ Manjas Stimme ist ein Hauch, ihre Hand mit dem Lappen ein Bleigewicht, das den Kopf der Frau niederdrückt, den Mund zustopft. Endlich – die Männer draußen unterhalten sich wieder, ihre Stimmen sind schon ein Stück weg. Sie sind wohl vorbeigegangen, ohne etwas bemerkt zu haben. Die Aufregung war völlig umsonst. Manja lockert ihren Griff, die alte Frau neben ihr ist nun ruhig geworden. Sie gurgelt und stöhnt nicht mehr, ihre Gliedmaßen haben aufgehört zu zucken. Und mit einemmal durchfährt es Manja schneidend: Sie ist tot, du hast sie alle gemacht. Du hast sie erstickt mit deinem Tuch, die war gar nicht so zäh, du wolltest, daß sie still ist, und nun hast du’s erreicht. Die gibt endgültig Ruhe, die hat keinen Atem mehr. Manja knipst ihre Lampe an; das Gesicht, das der dünne, weißliche Strahl erhellt, wirkt verkrampft, nichts an ihm bewegt sich. Ihr Puls, denkt die Frau, ich muß ihr den Puls fühlen. Sie faßt nach dem Handgelenk der Alten, die Lampe ist ihr im Weg und fällt zu Boden, zum Glück zerbricht sie nicht. Kein Puls, wenigstens spürt sie keinen, um Himmels willen, was tu’ ich, Hilfe muß ich holen, Inge! Manja 220
greift nach der Lampe, springt auf, hetzt, sich stoßend und ohne auf den Lärm zu achten, den sie macht, zum Kellerausgang. Die sind vielleicht noch dort am Greifplatz, überlegt sie, hoffentlich sind sie noch dort. Und sie rennt los, den Weg entlang, den vorher Antje mit dem Wartburg genommen hat.
24 Kielstein schiebt Golz und die Lend in das kleine Zimmer, wo „Halblang“ sonst seine Abrechnungen macht. Er schließt die Tür. „So, jetzt ganz ruhig, aber ein bißchen schnell. Sie behaupten also, Ronald Lebholz war nicht direkt beteiligt.“ „Das ist ein kleines Würstchen.“ Die „Lende“ gibt sich beflissen. „Der bringt so was gar nicht. Ein ganz armer Hund ist das, sag’ ich Ihnen.“ „Immerhin haben Sie diesem armen Hund Geld abgenommen.“ „Nicht abgenommen. Ein paar Ratschläge hab’ ich ihm gegeben. Dafür hat er sich revanchiert.“ Kielstein geht nicht auf ihren Ton ein. „Die Adresse von Lebholz“, verlangt er. „In der Blumenstraße wohnt er, im vierten Stock. Die Nummer weiß ich nicht.“ „Nummer sechsundzwanzig“, schaltet sich Golz überraschend ein. „Seine Frau ist an allem schuld“, sagt die Lend beschwörend. „Die und ihre Freundinnen. Bestimmt stecken die hinter dem Bruch.“ „Wie heißt Frau Lebholz mit Vornamen?“ „Manja. Ein Biest ist das.“ Kielstein geht zum Telefon und wählt. Nach zwei vergeblichen Versuchen klappt die Verbindung. Kriminal221
meister Felsch meldet sich. „Hör zu, ich bin soweit“, sagt Kielstein. „Die ‚Süße Ecke‘ und vielleicht einiges andere. Schick sofort jemanden zur Blumenstraße sechsundzwanzig. Das Ehepaar Ronald und Manja Lebholz ist dringend verdächtig, an dem Einbruch beteiligt gewesen zu sein. Außerdem brauch’ ich hier einen Wagen. Ich bin in ‚Georgs Rumstube‘.“ Er wendet sich wieder den beiden zu. „Was für Ratschläge haben Sie denn Herrn Lebholz gegeben, Frau Lend?“ „Na ja, einige Dinge aus seiner Alten, ich meine aus Manja, herauszuholen.“ „Und sie ein bißchen zu erpressen, stimmt’s?“ „Nein. Das heißt, die paar Mark, die er eingetrieben hat, sind doch nicht der Rede wert.“ Kielstein schaut Golz an und reibt sich unwillkürlich die schmerzende Backe. Er fragt: „Sie haben sich gleichfalls an der Erpressung beteiligt?“ „Überhaupt nicht. Ich schwör’s. Ich bin wie vor ’n Kopf geschlagen, hab’ keine Ahnung von der Sache.“ Der Riese weiß vor Verlegenheit nicht, wo er hinblicken soll. „Er hat wirklich keinen Schimmer“, bestätigt solidarisch die „Lende“. „Schlägt aber um sich“, knurrt der Leutnant. „Das war … ich versteh’s selber nicht. Tut mir ja leid.“ Mir tut leid, daß ich mich nicht schnell mal revanchieren kann, denkt Kielstein und wendet sich erneut der Frau zu: „Zu Manja Lebholz. Ist sie nur Hehlerin oder mehr?“ „Ich glaub’, sie verkauft die Sachen bloß. Gefährlicher scheinen die andern zu sein.“ „Was heißt gefährlicher?“ „Na eben rabiat. Nach dem, was der Lebholz erzählt. Seine Frau haut manchmal zu, aber bei der bleibt’s in 222
der Familie. Die Jeffi ist bestimmt raffinierter. Nach seiner Meinung hat sie die Sachen beschafft, gemeinsam mit einer gewissen Inge.“ „Was denn“, der Leutnant sieht einen Verdacht bestätigt, den er nicht ernst genug genommen hat, „wollen Sie behaupten, daß diese beiden Frauen den Einbruch begangen haben?“ „Ob die allein, weiß ich nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Aber wie Herr Lebholz sagt, gibt’s bei denen keine Männer. Der Mann ist die Jeffi, verstehn Sie?“ „Genau, die Jeffi ist lesbisch, die konnt’ er nicht ausstehen“, mischt sich Golz ein. „Ich denke, Sie haben keine Ahnung von der Sache.“ „Ich wollte doch nur sagen, daß er immer auf diese Jeffi geschimpft hat.“ Der Wagen ist da, ein junger Unterleutnant meldet sich zur Stelle. Kielstein fordert Rosemarie Lend auf mitzukommen und entläßt Golz, der offenbar keinerlei Auskünfte mehr geben kann, mit dem Geheiß, am nächsten Morgen in der Dienststelle vorzusprechen. Er selbst ist erregt, wie immer, wenn eine Entscheidung heranreift. Eine Frauenbande – noch will er es nicht glauben. Es wäre zum erstenmal in seiner Laufbahn. Diese Manja hängt mit drin, das schon, die andern sind vielleicht auch beteiligt, aber sollten sie wirklich die Einbrüche durchgeführt haben? Die gefundenen Männersachen freilich, der Handschuh, das Taschentuch, ergäben dann einen Sinn. Mit ihnen hätten die Täterinnen eine falsche Spur gelegt. Vom Wagen aus setzt sich Kielstein nochmals mit der Dienststelle in Verbindung. Felsch selbst, erfährt er, ist in die Blumenstraße gefahren, hat aber niemanden angetroffen. Keine Spur von dem Ehepaar Lebholz. „Er soll bleiben und versuchen, etwas über zwei Frauen zu ermitteln: Jeffi – sicherlich ein Spitzname – und Inge. Sie sind mit Manja Lebholz befreundet.“ 223
„Inge Katz oder so ähnlich“, redet die „Lende“ dazwischen, „jetzt fällt’s mir ein.“ „Inge Katz, seht mal zu, ob ihr was über sie rauskriegt.“ Zur Lebholz-Wohnung und damit zu Felsch ist es nur ein Sprung, Kielstein hätte den Weg zu Fuß zurücklegen können. Bevor er noch angelangt ist, meldet sich die Zentrale schon wieder. „Zu Ihrer Nachfrage, Genosse Leutnant. Eine Inge Katz haben wir nicht. Aber vielleicht handelt es sich um Inge Maria Kalz, geboren am vierten Januar neunzehnhundertzweiundsechzig in Bernburg. Vorbestraft. Sie wohnt mit einer anderen Frau zusammen, Josefine Lattebeck. In der Anne-FrankStraße achtundzwanzig.“ „Kalz, nicht Katz“, sagt Kielstein zur „Lende“. „Bitte?“ „Inge Kalz heißt die Bekannte von Manja Lebholz. Inge Maria Kalz.“ Die Rothaarige nickt zustimmend. „Ist auch möglich. Hab’s ja nur mal so nebenbei gehört.“ Sie sind in der Blumenstraße angelangt. Felsch, der an der Haustür wartet, erstattet Bericht – nichts hat sich bisher gerührt. Aber er hat sich mit einem Nachbarn unterhalten, der Wand an Wand mit dem Ehepaar wohnt. Kein guter Leumund, eine Familie in ständigem Streit. „Hast du was über diese beiden Freundinnen erfahren?“ fragt Kielstein noch. „Viel nicht. Nur, daß sie einen grünen Wartburg besitzen.“ „Kennzeichen?“ „Was mit ’nem B und hinten eine Sechsundvierzig, vermutet der Mann.“ „Vermutet er’s, oder ist er sich sicher?“ „Er glaubt sich sicher zu sein, aber du kennst solche Zeugenaussagen.“ „Na, das wird sich ja noch herausstellen. Los, steig ein, wir fahren zur Wohnung der beiden“, sagt Kielstein. 224
25 In letzter Minute wäre beinahe etwas schiefgegangen, sie wollten – die Beute in den Umhängetaschen – die Wohnung der Alten verlassen, standen schon im Korridor, da klingelte es. Jeffi hob den Finger an die Lippen, was keineswegs nötig war, und sie erstarrten zu Statuen. Glücklicherweise hatten sie das Licht bis auf ein Lämpchen neben der Flurgarderobe bereits ausgemacht. Aber ein Schimmer von diesem Lämpchen drang vielleicht durch die Türritze nach draußen. „Tante Anneliese?“ sagte eine Frauenstimme, „sind Sie da?“ Inge sah die Freundin fragend an und zeigte auf die Lampe. Doch Jeffi schüttelte den Kopf. „Sie hatten Licht, ich hab’s von unten gesehen“, fuhr die Frau fort. „Seit drei Tagen versuche ich Sie zu erreichen. Wegen der zehn Mark.“ Anscheinend hatte die Alte zehn Mark Schulden. Zum Lachen. „Trotz der Vorhänge hab’ ich’s gesehen, Sie brauchen sich gar nicht zu verstecken.“ Inge tippte auf ihre Uhr, sie waren später dran als vorgesehen, die Sucherei nach dem Geld … Aber was sollten sie tun. „Also wirklich, Sie könnten wenigstens zugeben, daß Sie da sind“, tönte es von draußen. „Hau ab, alte Ziege“, hauchte Jeffi, doch die Worte waren nicht zu hören, sie wurden lediglich von den Lippen geformt. Endlich, nachdem sie noch eine Weile gewartet hatte, war die Frau draußen murrend abgezogen. Nach oben: zumindest ein Vorteil. Wie Schatten waren die beiden aus der Wohnung gehuscht, hatten nicht versäumt, ordnungsgemäß abzuschließen. Nun verlassen sie als normale Bürgerinnen 225
das Haus. Eilig, doch nicht überstürzt. Die wenigen späten Passanten schenken ihnen keine Beachtung. Antje wartet an der Ecke auf sie, der Wagen parkt ein paar Meter weiter hinten im Dunkeln. Sie ist unruhig, die Kaltblütigkeit, die sie, Jeffi nachahmend, in letzter Zeit zur Schau trägt, erweist sich als aufgepappt. Als die Kumpaninnen in ihrem Blickfeld auftauchen, fällt ihr ein Stein vom Herzen. Sie springt ins Auto, läßt den Motor an. Jeffi rutscht auf den Nebensitz. Inge schiebt sich mit einem „Uff!“ nach hinten. „Mensch, habt ihr lange gebraucht“, flüstert Antje. „Was war los?“ „Da stand ewig eine vor der Tür. Aber du wirst staunen …“ Jeffi faßt begeistert nach Antjes Arm. „Viel?“ „Das reicht für ’ne Weile, Häschen.“ „Jetzt fahr endlich los“, sagt Inge aufgebracht. Der Wagen setzt sich in Bewegung, Jeffi kann es nicht lassen, Antjes Schenkel zu streicheln. Sie ist außer sich vor Freude, ein geglückter Fischzug, sie stellt sich den geplanten Aufenthalt in Berlin in den buntesten Farben vor. Sie wird ein Zweibettzimmer mit der Kleinen nehmen, das Geld werden sie zusammenschmeißen. Das große Leben – vielleicht wird sie sich überhaupt eine Weile in der Hauptstadt niederlassen. Freischaffend, als Künstlerin, obwohl sie dann eine Wohnung braucht, ihre Möbel nachholen muß. Na ja, ist wohl ein Traum, aber warum soll sie kein Recht auf schöne Träume haben. Inge, in die Rückpolster gefläzt, ist dagegen abgespannt. Sie müßte zufrieden sein, der große Coup – ihr Coup – ist gelungen, aber sie beobachtet die beiden vorn und kommt sich verraten vor. Wozu hat sie sich abgestrampelt. Die sollen sich nicht noch über mich lustig machen, denkt sie. Der prall gefüllte Beutel, den sie neben sich liegen hat, beruhigt sie nur halb. Plötzlich, sie sind noch keine hundert Meter gefahren, kommt ihnen mitten auf der Straße im weißlichen La226
ternenlicht eine Frauengestalt entgegengerannt. Mit erhobenem Arm: „Halt, halt!“ „Was will denn die, ist die verrückt?“ zischt Antje, doch Inge packt sie von hinten an der Schulter. „Stopp, das ist Manja!“ „Verdammt, was will sie hier“, sagt Jeffi, „der Treff ist bei uns.“ „Da ist was passiert!“ Die Bremsen kreischen, dennoch muß Manja zur Seite springen. Sie hetzt dem Wagen hinterher. Inge öffnet die Tür: „Was ist los?“ „Die Alte … ich glaub, sie ist abgekratzt … Ich brauch’ Hilfe … ihr müßt mit mir hin.“ Die Worte sitzen. Ein Schock. Antje rutscht tiefer hinters Lenkrad, Inge dagegen wird innerlich steif. Jeffi sagt: „Du spinnst.“ „Nein. Erst kam sie zu sich, wollte schrein, ich mußte ihr den Mund zuhalten, weil zwei Männer vorbeigingen. Dann ist sie ganz still geworden.“ „Vielleicht bloß ohnmächtig.“ „Ich weiß nicht. Sie atmete nicht mehr, hatte gar keinen Puls.“ Ein Wagen zuckelt vorbei, ein Motorrad überholt sie. „Steig ein“, zischt Jeffi, „sonst fallen wir noch auf.“ Manja klettert ins Auto, Inge sagt: „Am besten, wir fahren nochmal hin.“ „Ja, bitte.“ Manjas Stimme ist kläglich. „Das paßt mir überhaupt nicht. Wir treiben uns schon viel zu lange in dieser Gegend herum.“ „Und wenn’s ihr vielleicht nur schlecht geht? Wenn noch was zu retten ist“, sagt Inge. „Willst du sie mitnehmen und hochpäppeln?“ „Man könnte die ‚Schnelle Hilfe‘ rufen. In der alten Ziegelei, im Keller, liegt eine verletzte Frau.“ Jeffi krampft die Fäuste zusammen. „Das ist Gefühlsduselei. Aber meinetwegen. Ich bin auch für Gewißheit.“ 227
Antje startet. Sie nehmen die Route, auf der Manja gekommen ist. Als sie in den Weg zur Ziegelei einbiegen wollen, steht dort, halb die Straße versperrend, mit aufgeblendeten Scheinwerfern ein LKW der Armee. Soldaten bei dem Wagen, von hinten rollen weitere Fahrzeuge heran. „Rechts ’rum“, verlangt Jeffi. „So kommen wir nie hin“, sagt Antje. „Dann lassen wir’s eben. Soll etwa die ganze Truppe mitkriegen, wo wir hin wollen?“ „Wir machen einen Umweg und versuchen’s von der anderen Seite“, schlägt Inge vor. „Nein. Du siehst doch, daß es nicht geht, ich hab’ die Faxen dicke. Das ist alles viel zu gefährlich. Wenn die Alte tot ist, können wir sowieso nichts mehr machen. Und wenn sie nur ohnmächtig ist, kommt sie auch ohne uns wieder zu sich.“ Antje biegt rechts ab, Inge sagt: „Deine Kaltschnäuzigkeit kotzt mich an.“ Jeffi dreht sich böse um. „Gut, daß du dich mal aussprichst. Aber wer wollte denn das große Ding drehn. Da gab’s ein Risiko, das hast du gewußt. Also quatsch jetzt nicht so.“ Manja ist in die Ecke gerutscht und heult, sie hat keine Meinung mehr. Antje flüstert: „Streitet euch doch nicht.“ Auch ihr ist flau. Dennoch bringt sie es fertig, sich aufs Chauffieren zu konzentrieren. Sie fahren jetzt schneller. Inge hockt wütend auf ihrem Sitz; sie möchte noch irgendwelche Einzelheiten aus Manja herausholen, doch die ist offenbar nicht mehr zu einer Antwort fähig. Jeffi hat nur einen Gedanken: die Beute in Sicherheit zu bringen. Bestimmt hat sich diese Manja bloß eingebildet, daß die Alte hinüber ist. So schnell stirbt die nicht. Als sie, nach einem Umweg über die Außenbezirke 228
der Stadt, die Anne-Frank-Straße erreichen, brennt im oberen Stockwerk ihres Hauses noch Licht. Die Preißners scheinen einen langen Abend vorzuhaben. „Jetzt alles schön still“, befiehlt Jeffi. „Inge öffnet das Tor und geht dann gleich ’rein. Antje, du stellst den Wagen neben der Haustür ab.“ Inge will etwas entgegnen, begnügt sich aber mit einem Brummen. Sie öffnet die Tür und steigt aus. Während der Wartburg mit laufendem Motor auf der Straße wartet, macht sie sich am Tor zu schaffen. In diesem Augenblick tritt seitlich aus dem Schatten ein Mann auf sie zu, den sie nicht bemerkt hat. „Guten Abend“, sagt er sachlich, „spreche ich mit Fräulein Inge Kalz?“ „Ja“, antwortet Inge überrascht. „Kriminalpolizei.“ Der Mann zückt einen Ausweis. „Ich würde mich gern etwas mit Ihnen und Ihren Bekannten dort im Wagen unterhalten.“
26 Manja saß im Wagen, Ronald Lebholz, hinter einem Baumstamm versteckt, hat es gesehen, als sie vorbeifuhren; sie preßte das Gesicht gegen die Scheibe und sah überhaupt nicht gut aus, das Haar wirr, Augen, als hätte sie geheult. Wie früher, wenn seine Mutter mit ihr geschimpft hatte, bloß daß sie damals noch jünger und hübscher gewesen war. Er hat also richtig vermutet, sie ist mit den andern zusammen. Sicherlich kamen sie aus einem Lokal in der Stadt, woher sonst um diese Stunde. Sie amüsiert sich demnach, läßt sich’s wohl ergehen, während er durch die Straßen trabt, um sie zu warnen. Obgleich – so wohl fühlte sie sich ja offensichtlich 229
nicht. Vielleicht hat sie sich mit dieser Jeffi gestritten, das würde ihm in den Streifen passen. Sie sind vorbeigefahren, und er findet’s richtig, daß er sich ihnen nicht gezeigt hat. Mit ihr will er sprechen, die andern beiden können ihm gestohlen bleiben. Inzwischen hat er sich auch überlegt, daß es tatsächlich das beste wäre, wenn sie sich gemeinsam stellten. Jeffi und Inge sind die Hauptschuldigen, ohne Zweifel, davon muß er die Polizei überzeugen. Freilich wird es nicht leicht sein, an Manja allein heranzukommen. Ihm bleibt ja nicht endlos Zeit, wer weiß, was dieser Leutnant inzwischen schon alles herausgekriegt hat. Er wird’s von hinten versuchen, durch den Garten, vielleicht ans Fenster klopfen, wenn sie gerade in der Nähe steht. Oder warten, bis sie nach Hause geht, sie wird ja nicht bei denen übernachten wollen. Nur noch wenige Meter bis zu der Straße, wo die beiden wohnen, um ein Haar wäre er vor ihnen dort gewesen, hätte Manja abfangen können. Er hat sich die Sohlen heiß gelaufen, um hierherzukommen, den Bus hat er verpaßt, und ein Taxi wollte er aus Sicherheitsgründen nicht nehmen. Die Fahrer sind möglicherweise informiert. Doch da ist nun das Haus, adrett im Grünen, die Häuser hier sind alle schön, solche wie Jeffi wissen, welche Gegend sie sich aussuchen. In Zukunft wird’s allerdings Schluß sein damit, darauf verwettet er seinen Rest Grips. Ronald pirscht sich am Zaun entlang näher, der Wagen hält gerade am Tor, sie sind von der anderen Seite gekommen, mußten einen Umweg fahren, denn das hier ist eine Einbahnstraße. Nun öffnet sich die hintere Tür des Wartburgs, und eine junge Frau steigt aus. Eilig, aber zugleich mit etwas trägen Bewegungen, kein Zweifel, es ist Manjas Freundin Inge. Sie will das Tor öffnen, hat das Schlüsselbund in der Hand, da tritt aus dem Dunkel ein Mann auf sie zu. Und auch ihn erkennt Ro230
nald sofort, saß er doch vorhin an einem Tisch mit ihm, es handelt sich um diesen Leutnant der Kripo. Haben sie’s doch schon herausgefunden, warten hier auf Manja und die andern, er ist zu spät gekommen. Ronald bleibt jäh stehen, er krampft die Hand um einen Zaunpfahl, der Schnaps ist noch nicht ganz aus seinem Kopf. Jetzt sieht er auch, keine fünfzehn Meter entfernt in einem Seitenweg, den dunklen Lada, bestimmt ein Polizeiwagen. Er will einen Warnschrei ausstoßen, eine Art innere Komplizenschaft – obwohl, weshalb soll er sich zu ihrem Komplizen machen –, doch bevor er noch dazu kommt, haben die Frauen im Wagen bereits geschaltet. Was soll das, dadurch machen sie sich erst recht verdächtig, denkt Ronald, als der Wartburg urplötzlich zurückstößt, auf der anderen Straßenseite fast einen Baum rammt, nach links wendet und dann mit quietschenden Reifen losfährt. In seine Richtung, durch ein Schlagloch hopsend, mit halboffener Tür, denn Inge, die den Leutnant weggeschubst hat, als der Wagen startete, glitt am Blech ab, kam nicht mehr zum Einsteigen. Sie rennt sinnlos ein paar Schritte und hockt sich dann entnervt mitten auf der Fahrbahn hin, das Gesicht in den Händen vergraben. Aber das bekommt Ronald gar nicht mehr mit, er sieht bloß, wie nun auch der Lada in dem dunklen Seitenweg startet, dieses Polizeiauto, dann rennt er instinktiv selber los, löst sich vom Zaun, springt gestikulierend, schreiend auf die Straße: „Manja, halt. Manja, was macht ihr, das hat doch keinen Zweck!“ Nein, er ist kein Selbstmörder, will sich nicht dieser wild gewordenen blechgepanzerten Maschine entgegenwerfen, ihm ist auch klar, daß er die Polizisten, die ihn bisher nicht bemerkt haben, damit erst auf sich aufmerksam macht, er muß nur einfach etwas tun. Deshalb läuft er mitten auf die Straße und springt erst zur Seite, als die drin das Tempo nicht drosseln. 231
Jeffi aber, hinter der Frontscheibe, mit einem Schlag aller hochfliegender Illusionen beraubt – sie hat den Polizisten sofort gerochen –, meint zu begreifen, als sie den gestikulierenden Ronald Lebholz auf der Straße sieht. „Dein Mann … das Schwein hat uns verpfiffen!“ Antje, vor Angst in sich zusammengekrochen, tritt aufs Gaspedal. Jeffi aber, das hübsche, arrogante Gesicht von Haß verzerrt, greift ihr ins Lenkrad: „Warte, du Dreckskerl.“ Sie reißt es nach rechts, so daß der Wagen ausschlägt und mit der nach wie vor pendelnden Tür Ronald erfaßt. An der Schulter getroffen, wird der Mann gegen einen Pfahl geschleudert. Der Wartburg schleudert gleichfalls, Manja kreischt auf, und Antje kann ihn, trotz ihres Reaktionsvermögens, nicht mehr in die Spur zurückholen. Sie hat Glück, daß er nach einer jaulenden und schlitternden Rutschpartie den Bug nicht gegen eine Buche am Straßenrand setzt, sondern dicht daneben in eine Hecke. Antje bekommt splitterndes Glas ins Gesicht, sie hängt in den Gurten. Jeffi prallt vorn auf und verliert das Bewußtsein. Manja, unter Schockwirkung, klettert fassungslos aus der offenen Tür.
27 „Daß sie so reagierten, traf mich unvermutet.“ Kielstein quirlt einen Grashalm zwischen den Fingern. „Wir waren ziemlich überrascht, als wir das Geld und das Diebesgut im Wagen fanden. Wir konnten doch nicht ahnen, daß die Damen gerade an diesem Tag einen Fischzug gestartet hatten.“ „Damen ist gut“, spottet Bianca. Sie sitzt neben ihm auf einer Parkbank. Ihr erster Ausgang, seit sie den Gips vom Bein hat. Gepflegtes 232
Grün, Spaziergänger, Schwäne auf einem Teich. Eine friedliche Landschaft. „Nenn sie, wie du willst, diese Josefine Lattebeck jedenfalls gab sich so. In der Nachbarschaft und auf der Arbeit. Niemand traute ihr das zu.“ „So schnell werden sie nicht mehr die Damen spielen können.“ „Bestimmt nicht. Auch wenn sie und Antje Wittstock wieder zusammengeflickt sind. Auf Josefine Lattebecks Konto kommt noch Lebholz, sie hat Glück, daß er am Leben geblieben ist. Im Gegensatz zu der alten Frau Schirmer. Da kam jede Hilfe zu spät.“ „Und du warst sauer, weil man dich nach ein paar Schokoladendieben fahnden ließ“, sagt Bianca. Heide steht neben ihnen. „Wenn ihr mir Geld gebt, spendier’ ich euch ein Eis.“ „Euch?“ fragt Kielstein und hat bereits das Portemonnaie in der Hand. „Uns“, verbessert das Mädchen. „Bist ja großzügig“, sagt ihre Mutter. Kielstein drückt ihr zwei Mark in die Hand, und sie schwirrt ab. Sie wird zwei kleine Eis für die Erwachsenen und ein großes für sich kaufen. „Eigentlich hab’ ich erst im letzten Augenblick begriffen, was das für eine üble Geschichte ist“, gibt Kielstein zu. „Du hast mich ja auch nicht ernst genommen, als ich dir empfahl, die Dekorateure unter die Lupe zu nehmen. Dabei war das der heißeste Tip, den ich je gab.“ „In der Intuition seid ihr Frauen eben stark.“ „Du mußt zugeben, daß die Lattebeck alles gefahrlos auskundschaften konnte. Es war also nicht nur Intuition von mir, sondern auch Logik.“ „Ich kann es gar nicht erwarten, dich an deinem nächsten Fall arbeiten zu sehn“, erwidert spöttisch Kielstein. 233
„Und noch was. Ich hab’ eine Bekannte, die seit Jahren mit einer Freundin zusammen lebt. Ein richtiges Eheverhältnis. Die eine ist Ärztin, die andere Ingenieurin. Tüchtige Menschen.“ „Was soll denn das nun wieder.“ „Nichts. Ich sag’ es bloß. Damit du keine falschen Schlußfolgerungen ziehst.“ Kielstein schaut Bianca von der Seite an und schüttelt den Kopf. „Du redet wie meine Ehemalige. Aber es ist vielleicht richtig, daß du’s noch mal aussprichst. Und nachdem nun wirklich alles klargestellt ist, wenden wir uns für die nächste Zeit freundlicheren Dingen zu. Einverstanden?“
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