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Zu diesem Buch Das neue, düstere Action-Spektakel des amerikanischen Bestsellerautors David Wellington: Die Polizistin Laura Caxton ist wieder auf der Jagd. Ihr ehemaliger Mentor Jameson Arkeley hat sich in einen Vampir verwandelt und trachtet nun nach dem Leben seiner Familie. Er beginnt ein Katzund-Maus-Spiel mit Caxton, die mit allen Mitteln gegen das Unausweichliche ankämpft. Doch dann begeht sie einen folgenschweren Fehler und wird suspendiert. Arkeley verwandelt seine Tochter, und auch sein Sohn steht kurz davor, zu einem blutsaugenden Monster zu werden. In Centralia, einer verlassenen Bergbaustadt, unter deren Oberfläche ein vernichtendes Kohlenfeuer schwelt, kommt es zum Showdown zwischen Caxton und den Vampiren. David Wellington wurde in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren und studierte an der Syracuse University. Seine ersten Romane veröffentlichte er zunächst in seinem Internet-Blog, bevor mehrere große Verlage auf ihn aufmerksam wurden. Mit seinen Romanen »Der letzte Vampir« und »Krieg der Vampire« avancierte Wellington aus dem Stand heraus zum neuen Star der amerikanischen Horror- und Dark-Fantasy-Szene. Wellington ist verheiratet und lebt in New York, wo er als Archivar bei den Vereinten Nationen arbeitet.
David Wellington
Vampirfeuer Thriller Von David Wellington liegen bei Piper vor: Der letzte Vampir Krieg der Vampire Stadt der Untoten Nation der Untoten Vampirfeuer Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Vampire Zero«,
Für meine Eltern
Helfen Sie mir! Sie können mich retten! Sie können noch mehr tun als das! Ich meine gar nicht mein Leben, den Verlust desselben achte ich nicht höher als den des scheidenden Tages, aber meine Ehre können Sie retten, Ihres Freundes Ehre! John Polidori, Der Vampyr
Rexroth I
Schnee wehte quer über die Straße und funkelte im Licht ihrer Scheinwerfer, die helle Bahnen in die Dunkelheit schnitten. Mechanicsburg war nicht mehr weit entfernt, ebenso wie die Adresse, die ihr die Zentrale der SSU durchgegeben hatte. Mitten in der Nacht gab es keinen Verkehr, nur die weißen Straßenmarkierungen, denen man folgte. Bei ihrer Ankunft befand sie sich noch immer so gut wie im Halbschlaf, aber das änderte sich in dem Augenblick schlagartig, da sie die Wagentür aufstieß und in die eisige Winterluft hinaustrat. Es war kurz nach Thanksgiving. Arkeley befand sich seit zwei Monaten im Untergrund, und Laura Caxton hatte ihn Tag und Nacht gejagt, aber vielleicht war der Weg hier zu Ende. Und mit ihm auch ihre Schuldgefühle und ihre Pflicht. Vielleicht.
»Verstärkung ist unterwegs, Ankunft in zehn Minuten. In dreißig Minuten können wir den ganzen Ort abgesperrt haben«, meldete Glauer und verzichtete auf jeden Gruß. Er war ein großer Kerl, einen ganzen Kopf größer als sie und wesentlich breiter. Er war der Inbegriff eines Streifenbeamten aus Pennsylvania - schlechter Haarschnitt, ein dichter, nicht gerade buschiger Schnurrbart und milchig weiße Hautfarbe, wenn man einmal von den Stellen absah, an denen die Sonne seine Ohren und den Hals erwischt hatte. Er trug die Uniform eines State Trooper - die gleiche wie Caxton. Früher war er ein einfacher Kleinstadtcop gewesen, der in seiner Laufbahn auch nicht einen einzigen Mord-Tatort zu Gesicht bekommen hatte. Seit er aber Laura Caxton kennengelernt hatte, hatte er schon viele schreckliche Dinge gesehen, dafür war er auch eine Besoldungsgruppe höher eingestuft worden. 3
Nach dem Massaker in seiner Heimatstadt Gettysburg hatte sie ihn zur SSU abkommandieren lassen, der Special Subjects Unit, der Einheit für Besondere Verdächtige. Ihrer neuen Einheit. Er war ein guter Mann und ein großartiger Cop, aber in den Fältchen um seine Augen herum erkannte man noch immer deutlich, wo sich die Furcht eingegraben hatte. »Ich dachte mir, wir könnten den hier vielleicht... aussitzen.« »So funktioniert das aber nicht«, erwiderte Caxton. Sie folgte ihm, während er den Eingang zu dem Seif Storage Zentrum mit Absperrband sicherte. Er trug die Patrol Rifle an einem Riemen über der Schulter. »Das hat er mir so beigebracht.« »Er hat Ihnen beigebracht, in eine offensichtliche Falle zu rennen?« Sie bemühte sich, durch die Glastüren in die Lobby des Lagerzentrums zu spähen, konnte von der Straße aus aber nichts erkennen. Glauer hatte sich bereits umgesehen und zwei Opfer gemeldet - natürlich waren beide tot. Aber sie musste sich das selbst ansehen. Sie musste wissen, wie tief Arkeley gefallen war. »Ja«, sagte sie. Die Lobby war ein Raum aus grellem weißen Licht, auch in der Nacht; er bestand nur aus Putz und rauen Trockenbauwänden. Da war ein Schalter zu sehen, wo der Nachtwächter hätte sitzen sollen; rote Tropfen beschmutzten die weiße Oberfläche. »Ich muss dort rein«, sagte sie. »Wie viele Ausgänge gibt es?« Glauer räusperte sich lautstark. »Zwei. Den hier vorn und dann noch einen Notausgang hinten. Der hinten hat einen Alarm, aber bis jetzt habe ich noch keine Sirene gehört.« »Natürlich nicht. Er wartet da drinnen auf mich. Aber er wird nicht ewig warten. Wenn wir hier sitzen bleiben, bis die Verstärkung eintrifft, ist er so schnell durch die Tür, dass wir ihn nie ins Visier bekommen.« Sie schenkte ihm ein beruhiio
gendes Lächeln, aber das kaufte er ihr nicht ab. Stattdessen drehte er sich um und spuckte auf den vereisten Bürgersteig. Sie verstand sein Zögern. Das war eine schlimme Situation, eine echte Todesfalle. Nicht, dass sie in dieser Angelegenheit irgendeine Wahl gehabt hätte. In ihrem schweren Mantel sackte sie etwas in sich zusammen. »Glauer, das ist die beste Spur, die wir bis jetzt hatten. Ich kann das nicht ignorieren.« »Klar.« Er befestigte das Absperrband und trabte dann um das Gebäude herum, ohne auf weitere Anweisungen zu warten. Er wusste genau, was er zu tun hatte: vor dem Notausgang in Stellung gehen und die Augen offen halten. Auf alles schießen, was dort hindurchtrat. Seine Sorge bedeutete ihr etwas, genau wie die vorsichtige Weise, auf die er sie ausdrückte. Das tat es wirklich. Aber es konnte sie nicht aufhalten. Sie stieß die Glastür auf und betrat die Lobby, die Beretta schon in der Hand, aber nach wie vor gesichert. Noch etwas, das Arkeley ihr beigebracht hatte. Sie näherte sich dem Schalter, als wollte
sie einen Lagerraum mieten, dann beugte sie sich darüber, um zu sehen, was sich dahinter befand. Der Teppichboden war mit trocknendem Blut vollgesogen. Zwei Tote, wie angekündigt. Der eine trug ein Uniformhemd und lag zusammengesunken auf einem Sicherheitsmonitor. Sein Hals bestand aus einer klaffenden roten Wunde. Der andere trug einen Hausmeisteroverall, seine offenen Augen starrten zu den Deckenfliesen. Sein rechter Arm fehlte. Caxton trat einen Schritt zurück, dann musterte sie die Aufzüge auf der linken Seite der Lobby. Eine Kabine stand einen Spalt breit geöffnet; etwas hinderte die Türen, sich zu schließen. Sie ging in die Hocke und sah genau das, was sie erwartet hatte. Der fehlende Arm des Hausmeisters hielt die Türen offen, die Finger zeigten hinein, als wollten sie ihr den Weg weisen. Unter Vampiren galt so etwas als gelungener Scherz. Sie hatte gelernt, ihren kranken Humor nicht an sich heranzulassen. Sie hob den Arm auf - machte sich keine Sorgen, mögliche Fingerabdrücke zu ruinieren, da Vampire keine hinterließen -und legte ihn so behutsam wie möglich zur Seite. Dann betrat sie den Aufzug und ließ die Tür hinter ihr zugleiten. Jemand hatte bereits die Taste für die zweite Etage gedrückt. Nach Caxtons Uhr hatte jemand vor genau siebenundzwanzig Minuten die Hinweisnummer der SSU angerufen. Das war nicht ungewöhnlich. Seit dem Massaker von Gettysburg sahen ständig irgendwelche Leute Vampire in ihren Hintergärten und an ihren Müllcontainern und vor Einkaufszentren herumlungern. Caxton und Glauer waren jedem einzelnen dieser Hinweise nachgegangen und hatten nichts Verwertbares dabei gefunden. Aber dieser Anruf heute war etwas anderes gewesen. Caxton hatte die Aufzeichnung gehört, und sie hatte ihr eine Gänsehaut verschafft. Die Stimme des Anrufers hatte sich unmenschlich angehört, die Worte klangen verwaschen, als hätte man sie aus einem Mund gespuckt, der mit bösartigen Zähnen gefüllt war. Der Anrufer hatte keine Zeit verschwendet, sondern nur eine Adresse in Mechanicsburg genannt und dann verkündet: »Sagt Laura Caxton, dass ich dort auf sie warte. Ich warte, bis sie hier ist.« Eine Falle, eine offensichtliche Falle. Arkeley hatte es geliebt, wenn Vampire Fallen stellten - weil man dann wusste, wo sie steckten. Vampire liebten Fallen, weil sie Raubtiere waren; außerdem waren sie oft faul und genossen es, wenn ihre Opfer zu ihnen kamen. Jetzt war Arkeley einer von ihnen, aber irgendwie hatte sie doch etwas mehr von ihm erwartet. Der Arm in der Aufzugtür war auch nicht sein Stil. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Seit seiner Verwandlung waren zwei Monate vergangen. Seit er den Vampirfluch angenommen hatte. Natürlich hatte er es aus den richtigen Gründen getan. Er hatte geglaubt, nur so Caxtons Leben retten zu können. Vermutlich hatte er damit sogar recht gehabt, so wie meistens. Aber seine Logik wies einen Fehler auf. Wenn ein Mensch starb und als Vampir zurückkehrte, verlor er ein Stück seiner Menschlichkeit. Und mit jeder vergehenden Nacht verlor er ein Stück mehr davon. Arkeley war einst ein leidenschaftlicher Kreuzritter gewesen, ein Monsterkiller. Jedes Mal, wenn er jetzt in seinen Sarg kroch, kroch ein Stück weniger von ihm wieder heraus. Am Ende verwandelte sich nämlich jeder Vampir in die gleiche Kreatur. Er wurde zu einem Junkie, der Blut brauchte. Zu einem Soziopath mit sadistischer Ader. Zu einem skrupellosen Killer. Ein Bimmeln ertönte in der Aufzugskabine, dann glitten die beiden Türhälften auseinander. Caxton betrat die zweite Etage mit der Pistole auf Schulterhöhe. Sie hielt sie mit beiden Händen im Anschlag, hatte Augen und Ohren offen und bemühte sich, für alles bereit
zu sein. Sie bemühte sich, auf den Augenblick vorbereitet zu sein, da sie ihn sah, da sie Arkeley sah. Sie war bereit, das Feuer sofort zu eröffnen. Arkeley hatte sich nie als ihr Mentor betrachtet. Sie war ihm auf eine sehr beschränkte Weise nützlich gewesen, also hatte er sie sich als Partnerin zuteilen lassen. Manchmal hatte er sie dazu benutzt, die Beinarbeit für ihn zu machen, so wie sie nun Glauer benutzte. Meistens hatte Arkeley sie jedoch als Köder benutzt. Sie hatte lernen müssen, das nicht persönlich zu nehmen - er hatte es auch nicht persönlich gemeint. Er war ein getriebener, besessener Mann, und er hatte sie als nützlich betrachtet. Indem sie sich von ihm benutzen ließ, hatte sie viel gelernt. Alles, was sie über Vampire wusste, hatte sie von ihm erfahren, entweder in der Form widerstrebender Antworten auf ihre ständigen Fragen oder durch sein beispielhaftes Han 5
dein. Als er noch unter den Lebenden gewesen war, hatte sie oft die Befürchtung gehabt, dass es Dinge gab, die er sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihr zu erzählen und seit er gestorben und zurückgekehrt war, verfolgte sie dieses Gefühl noch viel öfter. Geheimnisse, die er für sich behalten hatte. Nun war wohl die Zeit gekommen, das herauszufinden. Vor ihr erstreckte sich ein langer Korridor mit hellweiß gestrichenen Metallwänden, die mit zahllosen Türen versehen waren. Einige der Lagerräume hatten die Größe eines Kleiderschranks, andere waren groß genug für ein Auto. Sie warf einen Blick auf die Riegel. An jeder Tür baumelte ein schweres Vorhängeschloss, manche mit Kombinationsschlössern mit roten oder gelben Drehscheiben, andere wiederum benötigen nur einen Schlüssel zum Öffnen. Verbarg sich Arkeley in einem dieser Lagerräume? War das hier sein Versteck? Vielleicht hing er ja wie eine riesige Fledermaus an den Füßen von der Decke. Die Vorstellung ließ sie beinahe lächeln. Vampire und Fledermäuse hatten nichts gemeinsam. Fledermäuse waren Tiere, ganz normale Organismen, die mehr Respekt verdienten, als sie erhielten. Vampire aber, das waren... Ungeheuer. Nichts weiter. Sie studierte die Türen, die sich alle auf den Korridor hin öffneten, suchte nach der einen ohne Schloss. Nicht einmal ein Vampir konnte sich von innen in einem dieser Lagerräume einsperren. Sie schaute die Türreihen entlang, bis zum Ende, wo ein weiterer Korridor abzweigte. Stumm zählte sie die Schlösser - Schloss, Schloss, Schloss. Schloss. Wieder ein Schloss. Dann... da! Fast am anderen Ende gab es eine schmale Tür ohne Schloss. Vermutlich würde es so einfach auch wieder nicht sein. Dennoch musste sie es überprüfen. Langsam ging sie den Korridor entlang, den Rücken zur Wand, die Pistole im An '5 schlag. Ihre Schuhe knirschten auf dem groben Zementboden, ein Geräusch, dem jeder hätte folgen können. Als sie ihr Ziel erreichte, blieb sie daneben stehen, löste den Riegel mit der linken Hand und zog kräftig. Quietschend schwang die Tür auf nicht geölten Angeln auf. Nichts sprang heraus. Mit zwei Schritten passierte Caxton die Tür und drehte sich auf dem Absatz herum, bis sie vor dem Lagerraum stand. Dabei schob sie den Sicherungshebel der Pistole zurück, warf einen Blick hinein - und erkannte sofort, dass der Raum leer war. Es hatte kein Vorhängeschloss gegeben, weil niemand dieses Lager gemietet hatte, das war wohl alles. Langsam atmete sie aus. Und erstarrte mitten im nächsten Atemzug, als heiseres Gelächter den Gang erfüllte, von den Türen widerhallte und sie alle auf ihren Angeln erzittern ließ. Caxton fuhr herum, unfähig zu erkennen, aus welcher Richtung das Gelächter kam, und...
Am Ende des Ganges, hinten an den Aufzügen, stand eine bleiche Gestalt im Schatten zweier Leuchtstoffröhren. Sie war groß, ihr Kopf war rund und haarlos, mit zwei großen dreieckigen Ohren. Ihr Mund war mit langen und bösartigen Zähnen gefüllt, ganzen Reihen davon. Caxtons Herz setzte einen Schlag lang aus - und schlug dann doppelt so schnell weiter, als sie sah, dass der Vampir eine Schrotflinte hielt.
2.
Caxtons Gedanken wirbelten durcheinander und lähmten sie eine kritische Sekunde lang. Vampire trugen keine Waffen. Niemals. Sie brauchten sie nicht - in Gettysburg hatte sie miterlebt, wie ein einziger Vampir eine ganze Abteilung Nationalgardisten mit Sturmgewehren niedergemacht hatte. Ihre Krallen und vor allem ihre Zähne waren die einzigen Waffen, die sie verwendeten. Die Beretta in ihrer Hand hatte sie vergessen, Caxton konnte nur die Schrotflinte anstarren, während der Vampir sie hochriss und in ihre Richtung zielte. Der weiße Finger krümmte sich um den Abzug, und sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich in Bewegung zu setzen. Irgendwie riss sie sich genug zusammen, um sich hinter die offenstehende Tür des leeren Lagerraumes zu werfen. Schrot prasselte gegen die Tür und grub Hunderte langer Furchen in den weißen Wandanstrich. Als sich Caxtons Gehör nach dem Detonationslärm wieder normalisierte, hörte sie nackte Füße über den Betonboden klatschen und auf sie zurennen, während sie in den Lagerraum huschte und die Tür hinter sich zuzog. Dumm, dachte sie - da hatte sie etwas sehr Dummes getan. Aus dem Lagerraum gab es keinen Weg nach draußen, und man konnte die Tür auch nicht von innen versperren. Die Tür selbst würde einen Vampir auch kaum aufhalten, vor allem keinen, der eben gerade das Blut der zwei Männer unten am Eingang getrunken hatte. Vampire waren immer sehr stark und so gut wie kugelsicher, aber nachdem sie Blut getrunken hatten, wurden sie noch weit stärker. Sie wich rückwärts zurück, tastete mit der einen Hand umher, bis sie die Rückwand des Lagerraums erreichte, und hob die Pistole. Bevor er die Tür aufriss, um sie sich zu schnappen, hatte sie vielleicht eine Chance - sie konnte blindlings durch die Tür feuern und hoffen, ihn irgendwie ins Herz zu treffen, seine einzige verwundbare Stelle. Traf sie ihn jedoch anderswo, würden die Wunden augenblicklich wieder heilen. All die Kugeln ihrer Beretta würden ihn nicht einmal langsamer werden lassen. Sie richtete die Mündung auf die Tür. Zielte auf eine Stelle 6
in der Höhe ihres eigenen Herzens, dann korrigierte sie die Höhe um sechs Zoll nach oben. Arkeley war größer als sie. Arkeley... Das Bild des Vampirs in dem Gang hatte sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt. Wie er da stand und die Schrotflinte auf sie richtete. Die Schrotflinte mit beiden Händen hielt. Vampire heilten jede Wunde, die sie nach ihrer Wiedergeburt davontrugen, aber alte Verletzungen aus ihrer menschlichen Existenz behielten sie für alle Ewigkeit bei. Dem Vampir Arkeley würden noch immer die Finger einer Hand fehlen. Dieser Vampir dort hatte aber zehn Finger gehabt, mit denen er die Schrotflinte halten konnte. Scheiße, dachte sie. Er ist es nicht. Das war gar nicht Arkeley. Sie hatte diese Tatsache nicht verarbeiten können, als er auf sie geschossen hatte, aber jetzt, als sie darauf wartete, dass er kam und sie tötete, konnte sie das nicht mehr verdrängen. Wer auch immer dieser Vampir sein mochte, es war jedenfalls nicht ihr früherer Mentor. Was die Sache noch viel schlimmer machte.
Ein Vampir konnte sich nur auf eine Weise fortpflanzen, und dafür war direkter Blickkontakt nötig. Außerdem gab es nur zwei Vampire auf der Welt, die den Fluch überhaupt weiterreichen konnten - Arkeley und Justinia Malvern, eine hinfällige alte Untote, die Arkeley ständig in seiner Nähe aufbewahrt hatte. Wenn die beiden nun aber neue Vampire erschufen, wenn Arkeley zum Vampir Zero geworden war... Jemand donnerte gegen die Tür. Sie stählte sich, griff ihre Beretta fester. In der nächsten Sekunde würde sie schießen, wenn sie ihre Chance für gekommen hielt. Sollte er erst anfangen, die Tür aus den Angeln zu reißen. Wieder wurde gegen die Tür geschlagen. Dann hörte sie ein metallisches Klicken und wusste sofort, was geschehen war. Der Vampir wollte die Tür überhaupt nicht aufreißen. 7
Stattdessen hatte er den Riegel mit einem Vorhängeschloss verschlossen und sie eingesperrt. Er musste eins in der Tasche gehabt haben, nur für diese Möglichkeit. Wer auch immer er war, er war schlau. Offenbar schlauer als sie. Sie verfluchte sich. Man rannte einfach nicht in einen Raum mit nur einem Ausgang - noch etwas, das Arkeley ihr beigebracht hatte. Daran hätte sie denken müssen. »Wer bist du?«, rief sie. »Willst du mich nicht umbringen?« Sie rechnete mit keiner Antwort, und sie bekam sie auch nicht. Sie lauschte angestrengt, als ihre Stimme von den Metallwänden des Lagerraums widerhallte, hielt Ausschau nach einem Anzeichen, dass er möglicherweise direkt vor der Tür stand. Doch sie hörte nichts. Dann, einen Augenblick später, klatschten wieder nackte Füße über den Boden. Er ging weg. »Verdammt«, hauchte sie. Lief er jetzt weg? Vielleicht war die Verstärkung eingetroffen, und er floh vom Tatort. Das durfte sie aber nicht zulassen - sie durfte nicht noch einen Vampir davonkommen lassen. Jeder von ihnen, der sich dort draußen herumtrieb, bedeutete weitere schlaflose Nächte und eine endlose Suche. Sie hatte Arkeley immer dafür bedauert, wie sein hoffnungsloser Kreuzzug sein Leben aufgefressen hatte - er hatte mehr als zwanzig Jahre mit dem Versuch verbracht, die Vampire auszurotten, nur um im letzten Augenblick völlig zu scheitern. Aber allmählich verstand sie, was ihn so getrieben hatte. Allmählich verstand sie, dass man manchmal keine Wahl hatte, dass Ereignisse einen antreiben konnten, ohne jede Rücksicht auf die eigenen Wünsche zu nehmen. Wenn sie diesen Kerl erwischte, und Arkeley und Malvern -die Vampire, die es ihrer Einschätzung nach noch gab - wenn sie die alle erwischte, dann durfte sie aufhören. Bis dahin aber konnte sie bloß weiterkämpfen. 7
Es musste etwas geben, das sie tun konnte. Caxton betrachtete die Wände, aber die bestanden aus verstärktem Blech. Sie würde sich niemals einen Weg hindurchtreten können. Die Tür schloss dicht mit dem Rahmen ab. Sie war unmöglich aufzustemmen; sie würde nicht einmal die Finger dazwischen bekommen, um zu ziehen. Dann schaute sie in die Höhe. Die Lagerräume reichten nicht bis zur Decke - dort oben gab es fünfundvierzig Zentimeter freien Raum. Die Decke des Lagers bestand nur aus dünnem Maschendraht. Zwar kam sie so nicht daran, aber vielleicht konnte sie es mit einem Sprung schaffen. Sie schob die Beretta ins Holster - natürlich gesichert -, rieb sich die Hände und machte einen zaghaften Sprung. Ihre Fingerspitzen berührten den Draht, aber sie konnte sich nicht festhalten. Also versuchte sie es erneut und schaffte es nicht einmal annähernd. Beim dritten Mal klappt es, versprach sie sich und ging tief in die Knie.
Die Finger der linken Hand schlüpften durch die Lücken im Draht. Sie schloss sie sofort zur Faust, als sie zurückfiel - und nahm das Drahtgeflecht mit. Es schnitt ihr die Finger auf, bis sie vom Blut ganz glitschig waren, und der Lärm war ohrenbetäubend, als der Maschendraht durch ihr Gewicht zerriss. Aber nun hatte sie genau über sich ein Loch, durch das sie sich möglicherweise hindurchwinden konnte. Sie griff mit der anderen Hand nach dem herabbaumelnden Drahtgeflecht und arbeitete sich nach oben. Es fühlte sich zwar an, als würde man ihr die Finger in Scheiben schneiden, doch sie hatte keine andere Wahl - sie musste hier heraus. Als sie den Vampir draußen im Korridor hörte, erstarrte sie. »Was tust du da drin?«, fragte er belustigt. Die Stimme verwirrte sie. Irgendwie klang sie anders als die Stimme von 8
der Aufnahme, die sie in dieses Gebäude gelockt hatte. Weniger guttural, weniger unmenschlich. Sie sparte sich die Mühe einer Antwort, hangelte sich dagegen immer weiter nach oben, bis sie sich auf die Trennwand zum Nachbarlager schob. Dort warf sie einen Blick nach unten. Pappkartons, ein Paar Ski und Milchkästen aus Plastik voller Schallplatten füllten den engen Stauraum. Von ihrer Position aus konnte sie sich in den Korridor herablassen, obwohl der Vampir dort auf sie wartete, alarmiert von dem Lärm, den sie verursacht hatte. Vampire hatten wesentlich bessere Reflexe als Menschen und reagierten auch schneller. Sich auf einen zu stürzen würde vermutlich Selbstmord bedeuten. Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte. Sie streckte den Kopf nach vorn und schaute in den Korridor. Genau unter ihr befand sich der weiße kahle Kopf des Vampirs. Er lehnte sich gegen die Tür des leeren Lagers und presste ein Dreiecksohr gegen die Tür, die lange, pfotenähnliche Hand auf das weiße Metall gelegt. Caxton zog die Waffe - und sprang. Ohne weiter nachzudenken. Sie landete hart auf seiner Schulter und musste ihn völlig überrascht haben, denn er ging gleich zu Boden, landete auf dem Rücken - und sie saß oben auf ihm drauf. Sie entsicherte und schoss in einer flüssigen Bewegung, nahm sich nicht einmal die Zeit zu zielen. Die Kugel sprengte die Haut seiner Schulter und schleuderte Gewebe durch die Luft, und sie erkannte ihren Fehler, erkannte, dass sie sein Herz verfehlt hatte. Unwillkürlich bäumte er sich auf, und sie schlug instinktiv mit dem Kolben zu, genau auf seinen Mund. Reißzähne zerbrachen und flogen in alle Richtungen. Er fing an zu husten und zu würgen, dann spuckte er die Reißzahnsplitter aus und enthüllte ganz normale weiße Zähne darunter. Caxton starrte mit wildem Blick in seine blauen 8
Augen und wurde sich der leuchtenden Haarstoppeln auf seiner Kopfhaut bewusst. »Ach, Scheiße«, stieß sie hervor. Sie packte ein Dreiecksohr und riss es ab. Es bestand aus Schaumgummi.
3.
draußen kniete ein SWAT-Team im Schnee, Sturmgewehre auf die Glastüren des Eingangs gerichtet. Blaue und rote Lichter blitzten in Caxtons Augen, die sie fortblinzeln musste. »Beweg dich, du Idiot«, sagte sie und stieß den Festgenommenen auf die Straße. Er wimmerte, als die angeschossene Schulter belastet wurde. Das SWATTeam entspannte sich sichtlich, als die Handschellen zu sehen waren, die seine Hände fesselten. Aber die Männer sicherten die Waffen erst, als sie den Befehl gab. »Glauer«, rief sie, und der große Cop kam um das Gebäude gelaufen, wo er den Notausgang bewacht hatte. Guter Soldat, dachte sie. »Glauer, rufen Sie einen Krankenwagen. Ein Verwundeter.«
Er starrte sie an, begriff offenbar überhaupt nichts. Die SSU war nicht dazu da, Vampire zu verhaften, und mit Sicherheit besorgte sie keine ärztliche Versorgung für sie. Sie war vielmehr dazu da, sie auszurotten. »Er ist ein Möchtegernblutsauger«, erklärte sie und riss dem Verdächtigen das andere Gummiohr ab. Darunter kam ein rundes, normales, fleischfarbenes menschliches Ohr zum Vorschein. Sie musste zugeben, dass er die Täuschung gut hinbekommen hatte. Unter den schlechten Lichtverhältnissen hatte nicht einmal sie den Unterschied zwischen diesem Jungen und einem echten Vampir erkannt. Natürlich hätte sie es sehen müssen. Echte Vampire waren unnatürliche Kreaturen. In ihrer unmittelbaren Nähe fühlte man, wie kalt ihre Körper waren. Die Härchen auf den Armen stellten sich auf. Sie hatten einen unverkennbar tierhaften Geruch. Der Möchtegernblutsauger hatte das nicht fälschen können, und hätte sie die Nerven behalten, wäre es ihr auch aufgefallen. Sie hatte Arkeley so verzweifelt finden und ihre Arbeit zu einem Ende bringen wollen, dass sie einen bösen Fehler gemacht hatte. Was, wenn sie ihn getötet hätte ? Was, wenn sie ihm drei Kugeln ins Herz gejagt hätte, einfach so, aus Prinzip ? Der Möchtegernblutsauger hatte zwei Menschen getötet und dann eine Waffe auf eine Polizeibeamtin im Dienst abgefeuert. Hätte sie ihn erschossen, wäre das mehr als ausreichend gewesen, um sie vor dem Gefängnis zu bewahren. Es entsprach beinahe einem Lehrbuchbeispiel von gerechtfertigter Gewalt, aber selbst wenn die interne Untersuchung der State Police sie von allen Vorwürfen entlastet hätte, hätte sie das dennoch nicht vor einer Zivilklage geschützt, falls die Familie des Jungen der Ansicht gewesen wäre, dass sie übertriebene Gewalt eingesetzt hätte. Die Special Subjects Unit war brandneu. Sie konnte keine Klagen - oder derartige dumme Fehler - überleben, und ohne die SSU würde die Bevölkerung von Pennsylvania in Gefahr schweben. Überall würden Menschen in Gefahr schweben. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, auf diese Weise Mist zu bauen. Glauer holte seinen Wagen, einen Streifenwagen mit der Aufschrift SSU auf der Motorhaube. Es war ihr einziges offizielles Fahrzeug. Caxton half, den Möchtegernblutsauger auf den Rücksitz zu verfrachten, und drückte seinen Kopf nach unten, damit er sich nicht am Türrahmen stieß. Dort konnte er auf das Eintreffen des Krankenwagens warten. Die verletzte Schulter hatte sie bereits mit einem Notverband versehen. Wo sie ihn mit der Pistole an der Unterlippe getroffen hatte, bildete sich bereits ein übler Bluterguss, aber dagegen ließ sich nicht viel machen. »Nehmen Sie das hier«, sagte sie zu Glauer. Sie gab ihm die Schrotflinte des Festgenommenen und das blutverschmierte Jagdmesser, das sie aus seinem Gürtel gezogen hatte. Mit großer Sicherheit hatte er dieses Messer bei den beiden Männern in der Lobby benutzt. Es wies eine hässliche Säge an der einen Seite auf, die er dazu benutzt haben konnte, den Arm des Hausmeisters abzutrennen. Angewidert schüttelte sie den Kopf und schaute sich ihre Hände an. Sie waren mit Blut und weißer Schminke verschmiert. Sie wollte sie nicht an der Hose abwischen - es war ihre beste Uniformhose -, also nahm sie eine Handvoll Schnee vom Boden und säuberte sie damit. »Wie heißen Sie?«, fragte Glauer. Er war neben dem Jungen in die Hocke gegangen und sprach durch die offenstehende Tür des Streifenwagens. »Sie müssen mir das auch nicht sagen, wenn Sie nicht wollen. Sollen wir jemanden anrufen?« Caxton starrte ihren Beamten an, als hätte er den Verstand verloren. Dann begriff sie, dass er den Verdächtigen nur beruhigen wollte. Das war einer der Gründe, warum Caxton Glauer in ihrem Team brauchte - um mit Menschen zu sprechen, die Angst hatten und litten. Sie war noch nie besonders gut mit anderen Leuten klargekommen. »Rexroth«, sagte der Möchtegernblutsauger.
»Und Ihr Vornahme? Oder ist er das schon?«, fragte Glauer. Caxton lehnte sich an den Wagen und schloss die Augen. Es würde eine Weile dauern, bis der Krankenwagen da war, und selbst dann würde sie mit dem Kerl nicht fertig sein. Was für eine Zeitverschwendung. 10 »Sorgen Sie dafür, dass er seine Rechte kennt«, sagte sie reflexartig. Aber Glauer konzentrierte sich weiter auf den Jungen. »Was haben Sie sich heute Abend erhofft - dadurch?« Rexroth - mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein Deckname, entschied sie - schluchzte jetzt. Mit auf den Rücken gefesselten Händen konnte er weder Tränen noch Rotz abwischen, also sammelten sie sich in öligen Bahnen auf seinem geschminkten Gesicht. »Ich sollte sterben. Sie sollte mich töten.« Caxton versteifte sich. Der Kerl hatte Selbstmord begehen wollen: Selbstmord durch Polizei, wie man es in den Medien nannte. Er hatte in einer wilden Schießerei aus dem Leben scheiden - und die berühmte Vampirjägerin Laura Caxton vielleicht sogar noch mitnehmen - wollen. Vielleicht hatte er geglaubt, das würde reichen, um ihn in einen echten Vampir zu verwandeln. Denn man musste Selbstmord begehen, wollte man Mitglied dieses besonderen Clubs werden, und es war ganz egal, wie man es machte. Natürlich musste man vorher dem Vampirfluch ausgesetzt worden sein - was voraussetzte, dass man einem echten Vampir zu begegnen hatte. Dieser Junge war einem echten Vampir niemals näher gekommen als in einem schlechten Film an einem verregneten Samstagnachmittag. Caxton starrte in die Dunkelheit und beschwor den Krankenwagen, sich zu beeilen. Je früher er eintraf, desto eher durfte sie nach Hause und zurück ins Bett. Sie bezweifelte zwar, schlafen zu können, aber wenigstens konnte sie sich hinlegen, die Augen schließen und so tun als ob. Etwas in ihrem Inneren löste sich, und sie sackte gegen den Wagen. Plötzlich war ihr dieser Idiot Rexroth und alles andere, das sie von ihrem Bett fernhielt, vollkommen gleich. We lange war es her, dass sie mal eine Nacht ganz durchgeschlafen hatte ? Dass sie auch nur sechs armselige Stunden für 24
sich gehabt hätte ? Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern. Im Augenblick hatte sie einfach zu viel im Kopf, um sich überhaupt wirklich entspannen zu können. »Trooper?«, fragte Glauer. Sie riss die Augen auf. Wie lange hatte sie sie geschlossen gehabt? Sie wusste es nicht. »Was soll ich tun?«, fragte er. »Seine Rechte«, erwiderte sie. »Lesen Sie ihm jetzt seine Rechte vor. Dann bringen Sie ihn ins Krankenhaus. Wenn er entlassen wird, verfrachten Sie ihn in irgendeine Zelle. Nehmen Sie alles auf und beschuldigen Sie ihn zweier Morde. Beschuldigen Sie ihn... was weiß ich. Gefährdung eines Polizeibeamten. Was immer Ihnen einfällt.« »Wo... in welche Zelle?« Das war sogar eine gute Frage. Die SSU hatte keine Möglichkeit zur Gefangenenunterbringung. Caxton war nie der Gedanke gekommen, jemals eine eigene Zelle zu brauchen. »Das Gefängnis hier wird reichen. Koordinieren Sie alles mit der Ortspolizei - das kann ihr Fall sein, dafür sind wir nicht zuständig.« Glauer nickte, aber er wirkte unzufrieden. »Was noch?«, wollte sie wissen. »Wollen Sie ihn denn nicht selbst verhören?« »Jetzt nicht.« Sie hielt nach ihrem Wagen Ausschau und entdeckte ihn dort, wo sie ihn bei ihrem Eintreffen geparkt hatte. Als sie noch geglaubt hatte, zu ihrem letzten Kampf mit Arkeley zu fahren. Was für ein Witz. Sie setzte sich in Bewegung.
»Hey«, rief Glauer, »wollen Sie nicht hier bleiben?« »Nein«, erwiderte sie. »In vier Stunden muss ich wieder raus und mich anziehen. Ich muss zu einer Beerdigung.« -11
Als die Sonne das Küchenfenster in ein hellblaues Rechteck verwandelte, war Laura Caxton mit dem Frühstück fertig und hatte angefangen sich anzuziehen. Draußen berührte das Morgenlicht die dunklen Konturen des leeren Schuppens hinter dem Haus, erhellte eine der Wände des Gebäudes, in dem Deannas Kunstwerke gehangen hatten. Laura hatte sie vor einiger Zeit abgenommen, sorgfältig zusammengefaltet und auf dem engen Dachboden in einer Kiste verstaut, zusammen mit dem Rest von Deannas Sachen, die sie nicht übers Herz gebracht hatte wegzuwerfen. Der Morgen beleuchtete auch den Zwinger - ebenfalls leer. Die letzten drei Hunde, die Laura dort untergebracht hatte, drei gerettete Greyhounds, waren inzwischen alle in ein besseres Zuhause umgesiedelt. Seitdem hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, neue Hunde aufzunehmen - obwohl es genug gab, die ihre Hilfe brauchten. Das Haus fühlte sich kalt und dunkel an, selbst dann noch, als die Sonne an Kraft gewann. Laura band die Krawatte um den Kragen des weißen Hemdes und schlüpfte in ihre einzige Anzughose. Sie hielt nach ihrem schwarzen Blazer Ausschau und erkannte, dass sie ihn im Schlafzimmerschrank hatte hängen lassen. Gerade wollte sie ihn holen, als Clara aus dem Schlafzimmer kam, in einem schlichten schwarzen Kleid. Ihr dunkles Haar, das bis zu den Ohren reichte, war sauber und glänzte seidig. Laura hatte sich so sehr bemüht, leise zu sein, um Clara nicht zu wecken - dabei musste sie sich die ganze Zeit über fertig gemacht haben. »Hier.« Clara reichte ihr den Blazer. »Wir müssen los. Das ist mindestens eine Fahrt von anderthalb Stunden. Und noch länger, wenn wir die Polders einsammeln.« Laura holte tief Luft. »Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht mitkommen musst. Du hast ihn immer gehasst.« Clara lächelte warmherzig. Viel warmherziger, als Laura verdiente. »Das habe ich, und ich tue es noch immer. Aber zurzeit gehören Beerdigungen zu den wenigen Augenblicken, in denen ich mal Zeit mit dir verbringen kann.« Laura trat einen Schritt auf sie zu, um den Blazer entgegenzunehmen, dann zog sie Clara in eine enge Umarmung. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Dass sie versuchen wollte, dies zu ändern, um mehr Nächte zu Hause zu verbringen? Dieses Versprechen konnte sie nicht geben. Clara war der einzige Lichtblick, den sie noch hatte. Das Einzige, was sich gut anfühlte. Und sie war schon dabei sie zu verlieren. Das wusste sie auch. »Okay. Willst du was essen?« »Jetzt nicht«, sagte Clara. »Soll ich fahren?« Laura nickte. In den vergangenen zwei Monaten waren sie zu vielen Beerdigungen gegangen. Gettysburg war ein Erfolg gewesen -jedenfalls aus der Sicht des Touristikverbandes. Die Zivilbevölkerung der Stadt hatte überlebt, weil Caxton sie einen Tag vor Beginn der Kämpfe evakuiert hatte. Aus Sicht der Polizeibehörden war es jedoch ein Fiasko gewesen. Cops der Ortspolizei, SWAT-Beamte aus Harrisburg und sogar junge Männer der Nationalgarde waren zu Dutzenden gestorben. Sie hatten ihr Leben geopfert, um zu verhindern, dass die Vampire an die Zivilbevölkerung herankamen. Danach hatte mehr als nur eine Familie Caxton Hassbriefe geschickt. Aber sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nach Möglichkeit jedes Begräbnis zu besuchen. Das hier war allerdings etwas anders. Nein, es war sogar ganz anders. Sie sprachen auf dem Weg nach Centre County nicht 11
viel miteinander. Laura drohte immer wieder einzunicken, schreckte aber jedes Mal hoch, bevor sie richtig einschlief. Es war ein vertrautes Gefühl, wenn auch kein willkommenes. Ein Stück vor State College verließ Clara den Highway und fuhr tief in ein Gebiet steiler Höhenzüge und toter Felder hinein, die braun, golden und voller Schnee waren. Sie passierten verwitterte Farmhäuser und Scheunen, die aussahen, als wären sie von Bunker brechenden Bomben getroffen worden; ein paar von ihnen waren einfach auf die Seite gekippt. Sie fuhren an einer Herde unglücklich aussehender Kühe vorbei, und dann bog Clara erneut ab, und zwar auf einen Feldweg, den man leicht übersehen konnte, wenn man nicht wusste, wo er sich befand. Vor einem Farmhaus, das sich in einem besseren Zustand als die meisten anderen zu befinden schien, hielten sie an. Dazu gehörten eine Scheune und ein Silo, die beide mit Hexenzeichen versehen waren. Die Polders warteten vor dem Haus. Urie Polder trug wie immer seine Caterpillar-Baseball-mütze, aber er hatte einen schwarzen Parka über sein fleckiges weißes T-Shirt gezogen. Die Jacke verbarg den größten Teil seines Holzarms, aber nicht die drei zweigähnlichen Finger, die aus dem Ärmel ragten. Polder kratzte sich damit an der frisch rasierten Wange, und Laura sah, dass sie sich bewegten, so flink wie menschliche Finger. Diese merkwürdige Hand war tatsächlich stärker und geschickter als seine normale. Vesta Polder trug das gleiche Kleid wie immer, das bis zu den Füßen reichte, am Hals zugeknöpft war und die Handgelenke bedeckte. Allerdings war das ungebändigte blonde Haar mit Haarnadeln zurückgesteckt, und ein schwarzer Schleier verbarg ihr Gesicht. Sie waren die seltsamsten Leute, die Laura je kennen gelernt hatte. Aber sie hatten sich als gute Freunde erwiesen. Nachdem der Wagen angehalten hatte, winkte Urie dem ?.8
Haus mit der Holzhand zu. Ein kleines Mädchen kam herausgerannt, vielleicht zwölf Jahre alt. Es trug die kleinere Version von Vestas Kleid, aber sein blondes Haar war von einer weißen Spitzenhaube bedeckt. Die Augen waren sehr groß. Laura war leicht geschockt. Sie wusste schon seit einiger Zeit, dass die Polders eine Tochter hatten, aber sie war ihr noch nie zuvor begegnet. Als sich das Paar auf den Rücksitz des Wagens gesetzt und das Mädchen es sich auf dem Schoß der Mutter bequem gemacht hatte, räusperte sich Urie lautstark. »Das hier ist Patience, sie ist ein braves Mädchen.« »Es ist schön, dich kennenzulernen«, sagte Clara und lehnte sich über den Fahrersitz. »Ich bin Clara, und das ist Laura.« »Ja, Ma'am, ich kenne Sie beide«, erwiderte das Mädchen. »Die Karten haben Sie mir gezeigt. Sie sind die Geliebte, und sie ist der Killer.« Laura verzog den Mund. So hatte sie sich diese Begegnung nicht vorgestellt. Sie sah Vesta an, aber die ältere Frau wies ihre Tochter keineswegs zurecht. »Ich glaube, das stimmt«, sagte Clara und weigerte sich, sich davon beeindrucken zu lassen. Sie warf Urie einen Blick zu. »Vermutlich geht es mich ja nichts an, aber ich weiß nicht, ob das für ein kleines Mädchen ganz das Richtige ist. Haben Sie keinen Babysitter bekommen?« Urie Polder grinste breit. »Die kleine Patience ist noch nie von einem Fremden beaufsichtigt worden, seit ihrer Geburt nicht. Und damit wollen wir auch jetzt nicht anfangen.« »Oh«, machte Clara, legte stumm den Gang ein und fuhr zur Straße zurück. Die Beerdigung sollte auf einem Friedhof außerhalb von Bellefonte stattfinden - was nicht weit entfernt war. Sie passierten den Campus der Penn State University, dann kamen sie in eine idyllische kleine viktorianische Stadt. Die Straße ;0
führte an einem zugefrorenen Teich vorbei, der von kleinen Pavillons und Häusern umgeben war, die mit lebkuchenähnlichem Schnitzwerk verziert waren. Laura war immer schon der Ansicht gewesen, dass die Stadt den Eindruck erweckte, hier müsste jeden Augenblick plötzlich eine Parade losgehen, mit Blaskapelle und Ballköniginnen auf dem Rücksitz von Kabrioletts. Es war ein flüchtiger Blick auf ein Pennsylvania, wie es vor Jahrzehnten einmal gewesen war, bevor die Kohlenminen erschöpft und die Stahlwerke geschlossen worden waren, weil sie mit ausländischen Produkten nicht mehr hatten mithalten können. Das Pennsylvania, in dem ihre Großeltern aufgewachsen waren. Arkeley hatte ein Haus in Bellefonte besessen. Es war beinahe zwanzig Jahre lang seine Operationsbasis gewesen. Jetzt würde man ihm in dieser Stadt einen Gedenkstein setzen. Der Friedhof, der außerhalb der Stadt lag, bestand aus einem großen Gelände voller gelblicher Hügel, wo das tote Gras selbst noch so spät am Morgen vor Frost funkelte. Der größte Teil des Schnees war geschmolzen oder von den Grabstellen geräumt worden. Clara hatte den Streckenplan von der Webseite des Friedhofs heruntergeladen, und nun steuerte sie selbstbewusst durch die endlosen Wege voller Obelisken und Familiengräber. Kleinere, bescheidenere Grabsteine ragten in ordentlichen Reihen auf. Sie fuhr weiter in weniger bevölkerte Regionen hinein. Ein kürzlich gewaschener Pickup mit einer verlängerten Fahrerkabine parkte am Straßenrand, und Clara hielt dahinter an. Dann stiegen sie alle aus und gingen über das knisternde Gras bis zu der Stelle, an der bereits drei Leute warteten. Ein älterer Mann, der so ähnlich wie Urie Polder gekleidet war, dessen Jeans an den Knien aber - deutlich sichtbar - noch fadenscheiniger waren - und zwei junge Leute im Alter von Collegestudenten. Arkeleys Kinder. 3°
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Ich halte das noch immer für eine lausige Idee. Soll das der Familie nun Trost spenden oder sie verhöhnen?«, wandte sich Laura an Vesta Polder. Aber Urie antwortete. »Das ist für Sie.« »Was?« »Damit Sie sich an die Vorstellung gewöhnen, dass er kein Mensch mehr ist. Damit Sie bei ihrer Begegnung nicht mehr denken, er sei noch derselbe Mann.« Laura schüttelte verwundert den Kopf. Ihr fehlte im Augenblick die geistige Energie, um das jetzt ergründen zu können. Dazu wären noch weitere Fragen nötig gewesen, aber plötzlich waren sie schon in Hörweite des Trios, das an dem Grabstein stand. Sie nahm die Sonnenbrille so beherrscht wie sie konnte ab und studierte die schlichte Aufschrift auf dem einfachen Stein: JAMESON ARKELEY 12. MAI 1941 - 3. OKTOBER 2004 Irgendwie war sie erfreut, dass da nicht »Ruhe in Frieden« oder eine andere Beschreibung stand, darüber wie er gelebt oder gestorben oder wiedergeboren worden war. Nur der Name und die Daten hatten eine gewisse Würde, und so verzweifelt sie Arkeley finden und zur Strecke bringen wollte, das gönnte sie ihm doch. Die kalte Form des Steins mit seiner soliden Gegenständlichkeit beruhigte sie etwas. Jedenfalls genug, um aufzusehen und die Leute zu mustern, die sie geduldig betrachteten. Der Älteste der Drei - Arkeleys Bruder Angus - hatte das gleiche faltige Gesicht, das sie so gut kannte; allerdings funkelte in seinen Augen eine Heiterkeit, die Arkeley nie gezeigt hatte. Er schüttelte ihr die Hand und murmelte eine Höflichkeit, die sie nicht verstand. Die beiden Kinder waren zwar konservativer gekleidet als ihr Onkel, aber sie
teilten dennoch eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem Mann, dem man zu ihren Füßen gedachte. »Raleigh, richtig?«, fragte Laura und streckte die Hand aus. Arkeleys Tochter nickte, machte aber keine Anstalten, die Hand zu ergreifen. Sie trug ein formloses schwarzes Kleid und einen schweren Wintermantel, der wie ein Zelt an ihrem Körper herunterhing. Da war kein Make-up zu sehen, und ihre Brauen und Wimpern wirkten beinahe so farblos wie ihr Kleid. »Wir haben telefoniert.« »Ja, Trooper. Hi. Schön, Sie kennenzulernen.« »Gleichfalls.« Laura wandte sich Arkeleys Sohn zu. »Und Sie müssen Simon sein. Ihr Verlust... tut mir so leid.« »Mein Vater ist ja nicht tot«, erwiderte er. »Können wir diese Scharade vielleicht hinter uns bringen? Ich muss heute Abend wieder auf der Uni sein, und es ist eine lange Bahnfahrt.« Simon Arkeley hatte scharf geschnittene blasse Züge, eine lange dünne Nase und Augen, die schmalen Schlitzen glichen. Sein schwarzes Haar war nachlässig gekämmt. Er trug einen blassblauen Anzug, der für dieses Wetter nicht dick genug erschien. »Sie studieren in Syracuse, richtig? Was ist Ihr Hauptfach?« Sein Blick schien sie zu durchbohren. »Biologie.« »Wir sind... alle da«, verkündete Urie Polder. Laura erkannte, dass sie den Stein blockierte. Sie hätte genau auf dem Grab gestanden, hätte es denn eins gegeben. Alle anderen hatten so etwas wie einen unregelmäßigen Kreis um sie herum gebildet. Sie stellte sich zwischen Clara und Patience. Das kleine Mädchen nahm ihre Hand. Vesta Polder trat einen Schritt vor und hob die Hände. An ihren Fingern steckten Dutzende gleicher Ringe. Langsam griff sie nach dem Schleier. Laura wurde sich bewusst, dass die Frau kein Wort gesagt hatte, seit sie sie abgeholt hatten. Jeder verfolgte gebannt, selbst Simon, wie sie den Schleier langsam hob und ihr Gesicht entblößte. Sie schob ihn auf die Schultern und gab ihr dichtes blondes Haar frei. Ihre Augen waren geschlossen. Als sie sie aufschlug, waren sie rot und geschwollen, als hätte sie geweint; ein fiebriger Schein funkelte darin. Ihre Lippen waren fest aufeinander gedrückt. Sie schaute einen nach dem anderen an, hielt ihrer aller Blicke fest, bis sie wegsahen. Das galt selbst für Urie und Patience. Dann ergriff sie das Wort. »Früher«, sagte sie mit lauter und klarer Stimme, »gab es keine Winterbegräbnisse. Starb ein Mann im Winter, wickelte man seine Leiche in ein Laken und legte ihn ganz hinten in die Speisekammer, dorthin, wo es am kältesten war, und ließ ihn dort liegen, bis an den Bäumen die ersten Knospen blühten.« Raleigh runzelte die Stirn. »Warum denn? Brachte der Winter Unglück?« Vesta Polder schien die Unterbrechung nicht zu stören. »Nein. Der Boden war einfach zu hart zum Graben. Damals wurde nämlich jedes Grab mit der Schaufel gegraben. Ein Mann konnte sich den Rücken brechen bei dem Versuch, die gefrorene Erde auszuheben. Heute haben wir natürlich Bagger. Gräber werden das ganze Jahr über gegraben. Aber hier gibt es kein Grab. Nur einen Stein - nicht einmal einen Grabstein, sondern einen Kenotaph.« »Was ist ein Kenotaph?«, fragte Patience. Vesta lächelte ihrer Tochter nicht zu, sah sie nicht einmal an. »Das ist ein Gedenkgrabmal für einen Mann, des14
sen Knochen woanders liegen. Dieser Stein erinnert uns an einen Mann, der gestorben ist. Einen Mann, der es verdient hat, dass man sich an ihn erinnert. Jameson Arkeley hat sein Leben unserem Schutz gewidmet. Dem Schutz der ganzen Menschheit. Hier können wir seines Opfers gedenken.«
Seines Opfers. Laura biss sich auf die Lippe, um nichts zu sagen. Arkeley war verkrüppelt worden, er hatte nicht mehr Auto fahren, sich nicht einmal mehr selbst die Krawatte binden können. Diese Verletzungen hatte er im Kampf gegen die Blutsauger davongetragen. Der Vampirfluch hatte ihn jedoch wieder gesund und stark gemacht. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das vermutlich auch noch als Opfer betrachtet. Mittlerweile hielt er es wohl aber eher für ein Geschenk. Er hatte die Chance bekommen, den Beweis anzutreten, dass sein Tod seinen Sinn gehabt hatte. Nachdem er ihr Leben gerettet hatte, hätte er zu ihr zurückkehren können. Er hätte sich eine Kugel ins Herz schießen lassen können. Das wäre ein wirkliches Opfer gewesen. Stattdessen hatte er die Flucht ergriffen und war untergetaucht. Vielleicht hatte er geglaubt, den Fluch irgendwie besiegen zu können. Vielleicht hatte er auch geglaubt, auf irgendeine Weise ein Mensch bleiben zu können. Der Mann, mit dem sie einmal zusammengearbeitet hatte, hätte es besser gewusst, aber der Fluch konnte sehr überzeugend sein. Sein Opfer war von Gier zunichte gemacht worden. Blutgier. »Aber wir können diesen Stein auch als Warnung begreifen. Eine Warnung, dass er noch immer da draußen ist.« Vesta sah Laura Caxton an. Sie streckte die beringten Hände aus, und Caxton ergriff sie. Vesta schaute ihr direkt in die Augen. »Trooper, das ist eine Warnung und eine Mahnung für Sie. Wir haben hier einen Ort für ihn geschaffen, an dem er ruhen kann. Wir haben für diesen Mann ein sehr nettes Grab geschaffen. Jetzt liegt es an Ihnen, es auch zu füllen.« 3 =1 Caxton blieb das Herz stehen. Sie wollte etwas erwidern, aber was? Da gab es keine richtigen Worte. »Ich arbeite daran« wäre schrecklich unangebracht gewesen. »Ich werde mein Bestes tun« klang auch nicht angemessen. »Nein!«, sagte Simon, ergriff Vestas Arm und zog sie von Caxton weg. Die ältere Frau schwankte, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. Eine Sekunde lang fühlte sich Caxton schwindlig, dann kam sie wieder zu Sinnen. Sie sprang zwischen Simon und Vesta und drängte den Jungen vom Grab fort, aus dem Trauerkreis heraus. »Was sollte das?«, fauchte sie und führte ihn außer Hörweite. »Wie können Sie es zulassen, dass diese Frau so über meinen Vater spricht?« »Sie ist meine Freundin. Und sie hatte vollkommen recht.« »Ich will aber nicht, dass Sie meinen Vater töten.« Caxton schüttelte den Kopf. »Er ist nicht länger Ihr Vater. Er ist ein Vampir. Ich weiß nicht, ob Sie begreifen, was das wirklich bedeutet...« Simon stieß ein bellendes Lachen aus, das allerdings vollkommen bitter klang. »... doch es ist meine Aufgabe, ihn zur Strecke zu bringen. Und das werde ich auch tun. Er ist eine Gefahr für die Gemeinde. Für jeden!« Simon schwieg einen Moment lang mürrisch, bevor er antwortete. »Verraten Sie mir etwas. Keine Meinung, nur die Tatsachen, in Ordnung? Haben Sie nur einen einzigen Beweis dafür, dass mein Vater auch nur einem Menschen etwas getan hat? Haben Sie Leichen gefunden?« »Nun, nein, aber...« »Dann lassen Sie ihn verdammt noch mal in Ruhe.« Er wandte sich ab, um zurück zum Grab zu gehen. Sie ergriff seinen Arm, doch er riss sich mühelos los. Es hätte sie nicht 15 überrascht, hätte er Vesta Polder auf der Stelle angegriffen, aber stattdessen ging er an ihr vorbei auf die Wagen zu. »Ich muss gehen!«, rief er und verschränkte die Arme. Das war alles, was er noch zu sagen hatte.
6.
Die Trauergäste lösten den Kreis bereits auf und gingen zu den Wagen hinüber anscheinend hatte keiner mit der unerfreulichen Feier weitermachen wollen. Caxton eilte auf Angus und Raleigh zu, die in den Pickup stiegen. »Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte sie. »Sie könnten etwas wissen, das mir wirklich dabei helfen würde ihn aufzuspüren.« »Also, das bezweifle ich doch sehr«, sagte Angus. »Ich habe meinen Bruder seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Andererseits...« Er hielt mitten im Satz inne, musterte Caxton von unten bis oben, von den Beinen bis zur Brust, kam aber nicht bis zu ihrem Gesicht und den Augen. »Ich wollte eine Dusche nehmen und dann ein Nickerchen machen. Wenn Sie heute Abend etwas mit mir trinken möchten, dann ist das in Ordnung. Ich wohne in einem Motel in der Nähe von Hershey. Dachte mir, wenn ich schon den ganzen Weg herüberkomme, dann kann ich mir auch den Freizeitpark ansehen. Was ist mit dir, Süße? Willst du mit der Polizistin sprechen?« Raleigh schaute zu Boden und errötete. »Bitte, Trooper. Verstehen Sie das nicht falsch. Mein Onkel ist ein guter Mensch, er ist bloß in Armut aufgewachsen. Er ist kein solcher...« Sie schob die Schultern nach vorn und schaute in den Himmel, suchte nach den richtigen Worten. Schließlich fiel ihr ein: »... Ignorant, wie es vielleicht den Anschein hat.« 16 »Ich bin selbst in ziemlich ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen«, sagte Caxton. »Als Tochter eines Sheriffs in einer sterbenden Kohlenstadt nördlich von hier. Ich weiß, wie ich einen Hinterwälder zu nehmen habe.« Das ließ Angus kichern. »Aber Sie haben die Frage nicht beantwortet. Haben Sie etwas dagegen, mit mir zu sprechen? Ich weiß, dass es Ihnen im Augenblick schwerfallen könnte, über Ihren Vater zu reden.« Das Mädchen rieb sich die Hände. »Nein. Nein, das ist schon okay. Aber nicht hier, ja? Friedhöfe machen mich nervös.« »Das ist schon in Ordnung«, sagte Caxton. »Wir können ja einen Termin ausmachen Sie wohnen in Emmaus, nicht wahr?« »Da in der Nähe.« Damit war Caxton fertig. Es erschien ihr unwahrscheinlich, dass Simon zu einem Gespräch bereit war, also würde sie ihn auch in Ruhe lassen. Allerdings war er noch nicht damit fertig, ihr Schwierigkeiten zu machen. Er sprach lange mit Clara, leise aber aufgeregt. Schließlich seufzte sie verzweifelt und kam mit vor der Brust verschränkten Armen auf Caxton zu. »Er will zum Bahnhof gefahren werden.« »Das lässt sich einrichten«, erwiderte Caxton und sah Angus an. Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Er will, dass ich ihn fahre. Weil er mich nicht kennt, und das bedeutet, dass er mich noch nicht hasst. Er sagt, er will nicht mehr mit seiner Familie fahren. Er sagt, sie hätten Arkeley verraten. Ich meine Jameson Arkeley«, verbesserte sie sich nach einem Blick auf Angus und Raleigh. »Er sagt, dass sie ihn allein deshalb schon verraten haben, weil sie mit dir sprechen. Er will auch nicht mit dir fahren, weil du seinen Vater töten willst.« 16
Caxton kniff die Augen zusammen. Irgendwie war ihr nicht klar, wieso das jetzt ihr Problem sein sollte. Aber dann dachte sie an Glauer. Er wies sie doch ununterbrochen darauf hin, sensibler für die Bedürfnisse der Öffentlichkeit und die Gefühle von Zivilisten zu sein. »Okay. Das bekommen wir schon hin. Hat er auch ein Problem mit Vesta?« »Ja«, sagte Clara, »aber weniger als mit dir. Oder seiner Familie. Sagt er.«
Caxton sah Angus an. »Können Sie mich bis nach Harrisburg mitnehmen? Dann könnte Clara Ihren Neffen zum Bahnhof fahren und unterwegs die Polders absetzen.« »Hast du was dagegen, hinten zu sitzen, Süße?«, fragte Angus seine Nichte, die den Kopf schüttelte.. Das war nervig, fand Caxton, die reine Zeitverschwendung. Die Arbeit wartete auf sie eine Besprechung in der SSU am Nachmittag -, und sie würde Zeit brauchen, sich darauf vorzubereiten. Simons Wutanfall beschränkte ihre Arbeitszeit. Aber so sah für die meisten Leute nun einmal der Alltag aus: ständig kleine Verhandlungen und Verpflichtungen und Zumutungen. All die Dinge, die Jameson Arkeley bei seiner Jagd auf Vampire zur Seite gewischt hatte. Und so hatte er auf jeden, der ihn kennengelernt hatte, wie ein Arschloch gewirkt - Caxton eingeschlossen. Vielleicht hätte sie etwas verständnisvoller sein sollen. Sie verabschiedete sich von den Polders. Urie und Vesta schenkten ihr ein warmherziges Lächeln, aber die kleine Patience ergriff ihre Hand und wollte nicht loslassen, bevor sie ihr ins Gesicht schaute. »Trooper, ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken, dass Sie mir erlaubt haben, an Ihrer Gedenkfeier teilzunehmen«, sagte das Mädchen und ratterte die Worte heraus, als hätte sie sie auswendig gelernt. »Es war ein großes Vergnügen.«
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»Äh... gern geschehen«, sagte Caxton. Das Mädchen streckte die Hand aus, und Caxton schüttelte sie. »Es ist meine ehrliche Hoffnung«, sagte Patience, »dass Sie den Unhold erschlagen, bevor er Sie erschlägt. Selbst wenn die Chancen dafür ganz schlecht stehen.« Damit drehte sie sich um und stieg in den Wagen. Kleine Mädchen sollten nicht so ehrlich sein, dachte Caxton. Clara lehnte sich aus dem Fahrerfenster und warf ihr einen Handkuss zu. Dann fuhren sie los, Simon auf dem Beifahrersitz. Er drehte sich nicht einmal um. Caxton seufzte und ging zu den beiden Arkeleys zurück, die auf sie warteten. Angus hatte den Fuß bereits auf das Trittbrett seines Pickups gestellt, während sich Raleigh nach hinten quetschte. Als Caxton auf den Beifahrersitz stieg und den Sicherheitsgurt anlegte, versuchte sie alles auszublenden, was gerade passiert war. Es war Zeit, in den Verhörmodus zu wechseln, Fragen zu stellen, sich die Antworten genau anzuhören und zu versuchen, dabei keine Urteile zu fällen. Sie bezweifelte, dass die Arkeleys ihr etwas Brauchbares sagen konnten, aber man konnte ja nie wissen - das war die erste Regel bei der Polizeiarbeit. Die letzte Person, von der man es erwartete, lieferte immer die beste Spur. Die erste Überraschung erlebte sie, als sie sich zurücklehnte und umsah. Das Wageninnere wirkte makellos - selbst die Bodenmatten sahen frisch gereinigt aus, obwohl der Wagen mehr als hunderttausend Meilen auf dem Tacho haben musste. Angus war genau die Art von Mann, der in einem weißen T-Shirt und einer an den Knien durchgescheuerten Jeans auf einem Begräbnis auftauchte - aber auf sein Auto war er unglaublich stolz. Das Einzige, was hier störte, war eine offene Packung Beef Jerky auf dem Armaturenbrett. 17 »Hab ich noch nicht ganz auf«, sagte er, als er ihren Blick bemerkte. Dann lächelte er breit und zeigte einen völlig zahnlosen Mund. »Das Schöne an Jerky ist, dass es zuerst ganz hart ist, aber wenn man es lange genug im Mund behält, wird es weich. Ich habe drei Packungen für die Hinfahrt mitgenommen, und ich brauchte auf dem ganzen Weg nichts anderes zu essen.« Caxton öffnete den Mund, wusste aber einfach nicht, was sie sagen sollte. »Ich habe versucht, Sie zu warnen«, sagte Raleigh vom Rücksitz aus.
Für den Rest der Fahrt nach Harrisburg brachten sie es zu kaum mehr als Smalltalk. Caxton konnte es kaum erwarten, mit der Befragung der Arkeleys zu beginnen, aber sie brauchte sie allein in kontrollierten Umgebungen, wo sie ihre Worte aufnehmen und klar genug denken konnte, um sich die Fragen einfallen zu lassen, die überhaupt einen Sinn hatten, gestellt zu werden. Der Pickup war nicht für eine sanfte Fahrt gebaut - sie bekam jede Unebenheit und vor allem jedes Schlagloch zu spüren. Und so konnte sie nur die eine Frage stellen, die sie am meisten beschäftigte. »Raleigh«, sagte sie, »Ihre Mutter. Sie war gar nicht auf der Beerdigung.« Das Mädchen seufzte schwer. »Nein. Ich habe sie zwar angefleht, aber sie schien nicht interessiert. Sie sagte, sie wolle keine Erinnerungen an Dad teilen, nicht mit Fremden. Und vor allem nicht, wenn Vesta Polder dabei ist.« Caxton runzelte die Stirn. »Sie kennen sich?«
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»Von früher. Vor langer Zeit hat Mom Dad den Polders vorgestellt. Wir lebten zu dieser Zeit in State College. Vor vielleicht zehn Jahren hatten Mom und Vesta dann einen Streit. Seitdem waren sie nicht mehr zusammen an einem Ort, und keine von ihnen scheint daran etwas ändern zu wollen. Aber ich weiß wirklich keine Einzelheiten. Tut mir leid.« Caxton hatte immer schon eine gewisse morbide Neugier verspürt, was Arkeleys Ehefrau Astarte betraf. Sie hatte die Frau nie kennengelernt, hatte nicht einmal ein Foto von ihr gesehen. Arkeley hatte sie auch nur selten erwähnt und nicht einmal ein paar flüchtige Informationen über sie zum Besten gegeben. Caxton glaubte, dass sie noch immer in Bellefonte wohnte, aber sie war sich da nicht sicher. »Ich würde wirklich gern mit ihr sprechen. Können Sie sie für mich anrufen?« Raleigh schenkte ihr ein höfliches aber hoffnungsloses Lächeln. »Ich kann... es versuchen.« »Okay«, sagte Caxton, die einen Anflug von Kopfschmerzen spürte. »Könnten Sie mir dann vielleicht ihre Nummer geben, damit ich sie anrufen kann?« Das Mädchen nickte und sagte die Nummer aus dem Gedächtnis auf. Caxton tippte sie in ihr Handy und drückte auf Wählen. Am anderen Ende klingelte es endlos, ohne dass die Voicemail oder auch nur ein Anrufbeantworter ansprang. Schließlich trennte Caxton die Verbindung. Kurz darauf erreichten sie Harrisburg und das Hauptquartier der State Police. Caxton machte einen Termin mit Raleigh, dann stieg sie aus und betrat das Gebäude. Ihr Ziel war ein Raum im Kellergeschoss. Einst war es ein Klassenraum für angehende Trooper gewesen, wo sie die Feinheiten von Verhörtechniken und Festnahmeformalitäten lernten. Fenster gab es keine, dafür aber zwei wandlange weiße Tafeln und ein Dutzend Erwachsenenschulmö 18
bei, was Caxton sehr nützlich fand. Außerdem gab es einen Regalschrank, den Caxton selbst organisiert und neben der Tür aufgestellt hatte. Hier standen größtenteils Aktenordner voller fotokopierter Dokumente - jeder Polizeibericht über Vampiraktivitäten, jeder Nachrichtenschnipsel, den sie hatten finden können, und auch die wenigen wissenschaftlichen Berichte, die es über Vampire gab. Darauf lag ein Laptop, der hier unten im Keller jedoch nur unzuverlässigen Wi-Fi-Empfang hatte. Sie warteten noch immer auf die nötige Finanzierung, um alles digitalisieren lassen und eine Datenbank mit Suchfunktion anlegen zu können. Der größte Teil des SSU-Budgets wurde dafür verwendet, die kostenlosen Telefonleitungen für Hinweise aus der Bevölkerung offenzuhalten und Caxtons und Glauers dürftige Gehälter zu bezahlen.
Neben dem Regal standen drei gewaltige Aktenschränke aus Metall, die größtenteils noch leer waren und für die Abschriften der Anrufe und Caxtons detaillierte Berichte bestimmt waren. Glauer war bereits da und schrieb etwas auf die Tafel. Er hatte von Dunkin' Donuts Kaffee mitgebracht, zusammen mit einem Stapel Pappbecher. Er bot Caxton eine Tasse an, aber sie stillte ihren Koffeinbedarf größtenteils mit Diätcola. Im Erdgeschoss gab es zwar einen Automaten, doch sie hatte jetzt keine Zeit mehr, hinaufzulaufen und sich eine zu holen. Die Besprechung fing gleich an. Sie setzte sich auf eine Tischkante in der Nähe der Tafel und begrüßte jedes eintreffende Mitglied der SSU. Glauer war der einzige Vollzeitbeamte der Einheit, aber es gab ungefähr ein Dutzend Cops, die zu den Einsatzbesprechungen kamen und stets auf Abruf bereit standen, falls sie sie brauchte. Die SSU stellte eine abteilungsübergreifende Einsatzgruppe dar, die verschiedene Zuständigkeitsbereiche umfasste. Es gab State Trooper wie Caxton, Angehörige des Area Response 19
Teams (bei der State Police von Pennsylvania das Äquivalent eines SWAT-Teams) sowie Trooper vom Bureau of Investigation, der Kriminalpolizei. Sie kamen als Erste vermutlich weil sie schon im Gebäude waren und vor der Mittagspause noch Zeit totzuschlagen hatten. Später stießen noch einige Cops aus den lokalen Gemeinden dazu, viele davon aus Gettysburg. Einige waren Überlebende des Vampirmassakers. Andere kamen aus so weit entfernten Orten wie Pittsburgh, Philly und sogar Erie. Bei ihnen handelte es sich um ganz normale Cops, die sich ein paar Überstunden aufschreiben lassen wollten. Sie dienten in diesen entfernten Städten als Caxtons Augen und Ohren, erweckten allerdings keinen besonders aufmerksamen Eindruck. Es schien immer, als hätten sie anderswo wichtigere Dinge zu erledigen, aber immerhin kamen sie, und nur das allein zählte. Die letzte Person, die eintrat, war ein Mann in einem schwarzen Anzug mit roter Krawatte. Er trug ein kleines Abzeichen am Revers - einen Stern in einem Kreis. Caxton hatte es das erste Mal in jener Nacht gesehen, in der sie Arkeley kennen gelernt hatte. »Deputy Marshal Fetlock«, stellte er sich Glauer vor. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, hatte aber noch immer volles rabenschwarzes Haar, das aus einer hohen Stirn gekämmt war. Seine Koteletten waren ergraut, aber so kurz geschnitten, dass man schon schon genau hinsehen musste, um das zu erkennen. »Ich bin nur hier, um mir ein Bild zu machen.« Es überraschte Caxton nicht, ihn hier zu sehen, obwohl sie ihn keineswegs eingeladen hatte. Der Mann war U.S. Marshal, genau wie Arkeley einer gewesen war. Arkeley war lange bevor er zum Vampir geworden war aus dem Dienst ausgeschieden, doch sie wusste, dass Fetlock und seine Vorgesetzten ihre Untersuchung mit großem Interesse verfolgten. Sollte Arkeley anfangen, Menschen in Stücke zu reißen, würde das die 19 Marshals in ein schlechtes Licht rücken, also hatten sie genügend gute Gründe, ihr falls das möglich wäre - zu helfen. Caxton fing an, sobald sich Fetlock gesetzt hatte; ein Becher mit lauwarmem Kaffee stand unberührt neben ihm am Boden. Sie stellte sich den neuen Gesichtern vor und dankte jedem für sein Kommen, während die Männer ihre PDAs und Notizblöcke zückten. Dann kam sie sofort zur Sache. Glauer hatte ein paar Fotos auf die weiße Tafel geklebt und Striche gemalt, die die verschiedenen Beteiligten bei der Untersuchung miteinander verbanden. »Denjenigen von Ihnen, die schon zuvor hier waren, wird gewiss etwas Neues auffallen«, sagte Caxton und zeigte mit einem Stift auf ein Stück der Tafel, das mit der Überschrift
VAMPIRMUSTER #2 betitelt war. Darunter klebte ein Foto von Kenneth Rexroth. Es sah wie ein Verbrecherfoto aus. Daneben hatte Glauer IN HAFT geschrieben. Unter dem Foto befanden sich zwei Kreuze mit Namen, die ihr unbekannt waren. Aber sie wusste, um wen es sich da nur handeln konnte - der Nachtwächter und der Hausmeister, die Rexroth umgebracht hatte. Eine Sekunde lang dachte sie an den abgetrennten Arm des Hausmeisters, dann brachte sie sich unter Kontrolle und fuhr fort. »Vergangene Nacht ging ich einem Bericht über Vampiraktivitäten in einer Lagerhalle in Mechanicsburg nach. Es stellte sich aber als Zeitverschwendung heraus. Der Verdächtige, ein gewisser Kenneth Rexroth, Adresse unbekannt, andere Namen unbekannt, erwies sich als ein ganz normaler Mensch, der sich bloß als Vampir verkleidet hatte. Ein Nachahmungstäter. Er hatte keinen direkten Kontakt mit Vampiren, es sei denn durch die Medien. Ich nahm ihn ohne großen Kampf fest, und für den Augenblick betrachte ich diesen Fall erst einmal als abgeschlossen. Aber wir wollten sichergehen, dass die Bevölkerung weiß, dass solche Dinge geschehen. 20
Dumme Jugendliche. Gelangweilte Jugendliche, die Vampire für cool halten. Ähnliche Berichte gab es schon zuvor, aber dieser Fall endete mit zwei Toten. Ich will das nicht noch einmal sehen - ehrlich gesagt habe ich auch keine Zeit dafür. Officer Glauer hat vorgeschlagen, eine Taskforce zu gründen, die den Jugendlichen an den Schulen zu vermitteln versucht, was für ein gefährliches Spiel sie da spielen. Das fällt nicht in mein Aufgabengebiet. Ich lasse ihn später noch über diese Idee berichten.« Sie ging zu dem Teil der Tafel mit der Überschrift VAMPIRMUSTER #i. Die ArkeleyUntersuchung. »Darum sind wir eigentlich hier. Sie ist noch nicht erledigt. Für die Neuen unter uns« - sie warf Fetlock einen Blick zu - »lassen Sie mich ein paar der Details wiederholen.«
8.
Auf der Tafel klebten drei Fotos. Das Erste zeigte ein Gesicht, das wie das einer Leiche aussah. Die Haut war verwest, es fehlte ein Auge. Der Mund hing offen und entblößte reihenweise einstmals bösartige Zähne, von denen aber etliche fehlten, während andere zu schwarzen Stümpfen verfault waren. »Das ist Justinia Malvern«, sagte Caxton. »Die älteste lebende Vampirin, auch wenn >lebendig< nur ein relativer Begriff ist. Vampire leben zwar ewig, wenn sie nicht getötet werden, aber im Gegensatz zu dem, was Sie vielleicht gehört haben, altern sie sehr wohl, und das keineswegs auf sehr ansprechende Weise.« Dies rief im Publikum ein paar Lacher hervor. Wenigstens waren sie wach. »Mit jeder weiteren Nacht, die vergeht, brauchen sie mehr Blut, um stark und aktiv zu bleiben, als noch in der Nacht zuvor. Nach dreihun 20
dert Jahren kann sich Malvern nicht einmal mehr in ihrem Sarg aufsetzen. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie harmlos wäre. Vor einem Jahr erschuf sie vier neue Vampire, und gute Menschen starben bei dem Versuch, sie auszuschalten. Sie war auch für das Vampirheer verantwortlich, gegen das wir im Oktober in Gettysburg kämpften und Sie alle wissen, wie böse das hätte ausgehen können. Den letzten Vampir, den sie erschuf, ist dieser Mann.« Sie zeigte auf das zweite Foto an der Tafel und dann auf das dritte: Jameson Arkeley wie er im Leben ausgesehen hatte. Und dann später im Tod. Das Vorher-Foto stellte einen alternden Mann mit einem so durchdringenden Blick dar, dass sie noch immer Schwierigkeiten hatte, sich ihm zu stellen. Das Nachher-Foto zeigte - wie sie fand lediglich einen typischen Vampir. Es handelte sich nicht um ein echtes Foto, sondern
um eine Computergrafik, die zeigte, wie Arkeley als Vampir aussehen würde. Sie hatte aber das Original gesehen und wusste, dass ihm das Bild nicht gerecht wurde. Es war nicht fürchteinflößend genug. »In der letzten Phase von Gettysburg empfing Arkeley freiwillig den Fluch. Er tat es, um Leben zu retten, und ich weiß nicht, was ohne ihn dort draußen geschehen wäre.« Sie schüttelte den Kopf. »Damals gab er mir das Versprechen, dass er sich stellen würde, sobald der letzte Vampir vernichtet war. Dann hätte ich ihn töten und der Sache ein Ende bereiten können. Seitdem sind zwei Monate vergangen, und bis jetzt hat er sich noch nicht gezeigt.« Glauer hatte GZ neben das Vampirbild geschrieben. Das stand normalerweise für »Gesuchter Zeuge« und bedeutete, dass man ihn wegen einer Befragung suchte, er bis jetzt aber noch nicht in direkter Verbindung zu einem verübten Verbrechen stand. »Wir haben keine Leichen gefunden, die wir ihm zuschreiben können. Wir haben keine Halbtoten gefunden, die er erschaffen hat...« 21
Hinten im Raum hob Deputy Marshal Fetlock die Hand. Sie machte sich nicht die Mühe, ihn anzusprechen. »Ein Halbtoter ist ein Vampirsklave. Sobald ein Vampir das Blut eines Menschen trinkt, sobald er einen tötet, haben sie die Fähigkeit, die Leiche wiederzubeleben. Dem Körper wird es nicht gefallen, und die Seele kann das nicht verkraften. Sie verfallen in beschleunigtem Tempo, darum bringen es die meisten Halbtoten bestenfalls auf eine Woche, bevor sie sich in ihre Einzelteile auflösen. Aber solange es andauert, tut man alles, was der Vampir verlangt. Wirklich alles, und wenn es darum geht, seinen besten Freund umzubringen.« Fetlock senkte die Hand und nickte. Sie hatte die Frage beantwortet. »Jameson Arkeley war mein Partner«, sagte sie, was größtenteils auch stimmte. Jedenfalls empfand sie es so, ganz gleich, was er in ihr gesehen haben mochte. »Er war ein guter Freund. Er hat mich gebeten, ihn zu töten, weil er wusste, was aus Menschen wird, die auch mit den besten Absichten zu Vampiren werden. In den ersten paar Nächten sind sie fast noch Menschen. Sie können edel sein und gut, auch weise. Aber dann werden sie durstig. Sie fangen an, über Blut nachzudenken. Sie denken darüber nach, wie es schmecken würde, und wie stark es sie machen könnte. Dass es so viele Leute gibt, die es in sich tragen, und dass da ruhig einer oder zwei verschwinden könnten, ohne dass es groß auffiele. Ich habe das erlebt. Ganz egal, wie stark ihre Willenskraft auch sein mag - und Arkeley war einer der willensstärksten Männer, die ich je kennengelernt habe -, sie erliegen ihm immer. Mit jedem Mord fällt es ihnen leichter. Es wird aufregender. Ihre Körper verlangen immer mehr Blut, immer mehr...« Sie drehte sich um und sah die Fotos an. Arkeleys Augen. Wie immer musste sie an diesen letzten Augenblick in Gettysburg denken, als er versprochen hatte zurückzukehren. Dass 21 er sie direkt in sein Herz schießen ließe. Er hatte geglaubt, dass er dazu fähig sein würde, aufrichtig geglaubt, dass er sich ihr so ausliefern konnte. Sie hatte es ebenfalls geglaubt. Doch irgendwann zwischen diesem Augenblick und dem Sonnenaufgang hatte er es sich anders überlegt. Er war in die Schatten geflohen, an einen Ort, an dem sie ihn nicht finden würde. Was hatte er sich dabei gedacht? Hatte er einfach nur Angst vor dem Tod gehabt? Das war nicht der Mann, den sie gekannt und respektiert hatte. Hatte er denn wirklich geglaubt, die Blutgier kontrollieren zu können? Dabei war doch er es gewesen, der ihr beigebracht hatte, dass das unmöglich war. Glauer räusperte sich. Sie blinzelte und wandte sich wieder ihrem Publikum zu. »Arkeley ist gefährlich. Er muss bei Sichtkontakt vernichtet werden«, betonte sie. »Er
kann gewaltigen Schaden anrichten. Er ist bedeutend kräftiger als ein Mensch und unendlich viel schneller. Außerdem kennt er jeden Trick, mit denen Menschen Vampire getötet haben. Aber am schlimmsten ist, dass er jederzeit zum Vampir Zero werden könnte.« Sie zückte einen Marker und malte ein einfaches Diagramm auf die Tafel. Unter Arkeleys Bild zeichnete sie zwei Kreise, von denen jeder durch eine kurze Linie mit dem Bild verbunden war. Unter die beiden Kreise malte sie vier, dann acht. Sie verband sie alle. »Das ist ein Begriff, den wir für die SSU erfunden haben. Wir haben ihn gewissermaßen der Epidemiologie entliehen. Wenn man die Ausbreitung eines Killervirus verfolgt, dann will man so weit zurückgehen wie möglich, bis zurück zu der ersten Person, die infiziert wurde. Diese Person nennt man Patient Zero. Man muss diesen Typen finden und ihn so schnell wie möglich aus dem Verkehr schaffen, bevor er noch andere Leute infiziert. Dies hier ist dasselbe.« 22
Sie tippte auf Arkeleys Bild. »Vampire können weitere Vampire erschaffen. Sie tun es, weil sie sich einsam fühlen, oder damit sie über jemanden verfugen, der sie füttert, wenn sie zu alt und verfallen sind, um sich selbst um sich kümmern zu können. Wenn sie glauben, in Gefahr zu schweben, erschaffen sie weitere Vampire, weil in der Menge ihre Sicherheit liegt. Das ist die größte Gefahr, die von ihnen ausgeht, ihre Fähigkeit zur Kooperation und die Fähigkeit, ihre Zahl zu erhöhen. Ausreichend motiviert kann ein Vampir in jeder Nacht ein paar neue erschaffen. Und jeder von den Neuen kann wiederum weitere erschaffen. Ihre Zahl wird dann sehr schnell sehr groß. Wir sprechen hier von einem krankhaften Organismus, der alle vierundzwanzig Stunden eine neue Generation erschaffen kann. Und jeder neue Vampir ist genauso tödlich wie der vorherige, und genauso schwer zu töten. Die einzige Möglichkeit, um sicherzugehen, dass das nicht passiert, besteht darin, Arkeley und Malvern jetzt zu finden. Sie zu finden und zu vernichten, ohne jedes Zögern, ohne Bedenken.« Sie hielt inne und sah sich im Raum um. Viele der Beamten hatten diese Rede schon zuvor gehört. Die Neuankömmlinge zeigten allerdings genau den Gesichtsausdruck, mit dem sie gerechnet hatte. Ihnen stand der Mund offen. Sie hatten die Augen weit aufgerissen. Sie hatten Angst. Gut. Genau das wollte sie auch. Fetlocks Hand hob sich wieder. Sie zeigte auf ihn. »Sie sagten, wir müssten auch Malvern finden. Ich dachte, sie wäre in Gewahrsam.« Caxton schüttelte den Kopf. »Sie befand sich in Arkeleys Gewahrsam, während er sich verwandelte. Ich bin danach zu ihr gegangen, aber sie war fort. Offensichtlich hat er sie mit 22
genommen, als er untertauchte. Vielleicht brauchte er einen Mentor, jemanden, der ihm in seiner Existenz Hilfestellung leistete. Vielleicht wollte er sie auch einfach nur beschützen. Das wissen wir ebenfalls über Vampire. Sie bleiben zusammen und passen aufeinander auf. Jetzt ist sie auch da draußen, und sie ist in mancherlei Hinsicht genauso gefährlich wie er.« »Gab es da nicht einen Gerichtsbeschluss, der sie vor der Hinrichtung schützte?«, fragte Fetlock. »Ja«, erwiderte Caxton. »Man hat ihn aber nach Gettysburg wieder aufgehoben. Das Rechtssystem hat endlich eingesehen, dass sie eine echte Bedrohung ist. Wenn ich sie
finde, habe ich das Recht, sie auf der Stelle zu töten. Und genau dies habe ich auch vor.« Sie zog die Kappe von ihrem Stift und schob ihn mit einem ploppenden Geräusch wieder drauf. »Wir haben einen Plan, wie wir sie beide erwischen. Ich verhöre Zeugen und verfolge Spuren, mit Trooper Glauers Hilfe. Von Ihnen allen brauche ich dabei ebenfalls Hilfe, ihr Versteck zu finden. Wir hoffen, dass es irgendwo in Pennsylvania ist, wo wir die Zuständigkeit haben. Es könnte überall sein, allerdings haben Vampire ganz spezielle Bedürfnisse, wenn es um ihren Ruheort geht. Es wird ein isolierter Ort sein, an dem neugierige Leute während des Tageslichts nicht herumschnüffeln. Vielleicht befindet er sich unter der Erde, oder zumindest teilweise. In der Vergangenheit haben sie stillgelegte Stahlwerke genutzt, Jagdhütten und leer stehende Stromstationen. Ich brauche Sie, um sie zu kontrollieren, aber bitte mit Vorsicht. Nähern Sie sich den Orten nur am Morgen, wenn es noch für lange Zeit Tageslicht gibt. Und bleiben Sie auch dann vorsichtig - die Halbtoten sind am Tag aktiv, und sie werden für jeden Fallen bauen, der ihren Herrn bedroht. Sollten Sie etwas finden, Anzeichen kürzlicher Benutzung, Dinge, die merkwürdig erscheinen, verlassen Sie den 5°
Ort sofort. Rufen Sie mich an, und ich komme und sehe es mir selbst an. So werden wir sie erwischen, Leute. So werden wir die Vampire ausrotten. Noch Fragen?« Es gab keine Fragen. Cops und Trooper erhoben sich und verließen den Raum, ein paar von ihnen sprachen noch kurz mit ihr, aber die meisten gingen wortlos. Fetlock war einer von ihnen. Sie hatte erwartet, dass er noch bliebe, aber als sie sich nach ihm umsah, war er bereits fort. Der Rest des Tages war arbeitsreich - Papierkram, was sie am meisten hasste. Sie musste einen vollständigen Bericht über die Ereignisse in Mechanicsburg in der vergangenen Nacht anfertigen. Danach musste sie eine endlose Konferenzschaltung mit dem Bezirksstaatsanwalt und dem Polizeichef von Mechanicsburg über sich ergehen lassen, die Beweise durchgehen und einen eindeutigen Fall konstruieren wollten, warum man Rexroth anklagen sollte. Eigentlich hätte das offensichtlich sein müssen. Er hatte zwei Menschen verstümmelt und ermordet. Aber die Mühlen der Justiz mahlten eben langsam, und als sie wieder auf der Straße war, war es vier Uhr nachmittags und die Sonne ging schon unter. Vor ihrem Feierabend musste sie noch mit Angus sprechen und versuchen, Arkeleys Frau zu erreichen. Das Letztere war leichter gesagt als getan. Sie rief die Nummer an, die Raleigh ihr gegeben hatte, und ließ es zehnmal läuten, bevor sie wieder auflegte. Eigentlich hatte sie auch nicht damit gerechnet, jemanden zu erreichen. Sie würde der Frau einen Besuch abstatten müssen, je früher, umso besser. Vermutlich war Astarte das letzte Familienmitglied, das ihn 5i gesehen hatte, bevor er den Fluch annahm. Im Augenblick würde sie sich jedoch mit Angus begnügen müssen, der ihr bereits gesagt hatte, dass er seit zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Bruder gehabt hatte. Angus wohnte in einem sehr heruntergekommenen Motel an der Straße nach Hershey, einem einstöckigen Gebäude mit Zimmern, die sich eine Veranda teilten. Der ganze Bau stand eher planlos mitten auf einem schwarz asphaltierten Parkplatz. Das ZimmerFrei-Schild summte emsig auf die Route 322 hinaus - nur zwei der Zimmer waren belegt. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein brachliegendes Feld mit abgestorbenem Unkraut und einigen Schneeflächen, die im letzten purpurfarbenen Tageslicht auf unheimliche Weise glühten. Caxton parkte in der Nähe der Motelrezeption und stieg in die Kälte hinaus. Seit der Gedenkfeier am Morgen war die
Temperatur beträchtlich gefallen, also griff sie nach ihrer Jacke auf dem Rücksitz. Als sie sich vorbeugte, sah sie aus dem Augenwinkel ein Aufglühen in den Schatten vor einem der Zimmer. Blutrote Zigarrenglut. Angus lächelte ihr aus der Dunkelheit zu und winkte sie heran. Er hatte zwei Stühle aus dem Zimmer geschleift und sie vor seiner Tür aufgebaut. Daneben standen eine Zwei-Liter-Flasche Cola und eine Flasche Maliburum. Er reichte ihr ein Motelglas, als sie sich setzte. »Dachte, wir könnten uns hier draußen unterhalten, falls Ihnen das recht ist, und wenn nicht, haben Sie Pech gehabt«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Ich darf im Zimmer nicht rauchen.« »Schon in Ordnung«, sagte sie und zog einen Digitalrekorder aus der Tasche. »Stört es Sie, wenn ich unsere Unterhaltung aufnehme?« »Nee«, sagte er. Sie schaltete das Gerät ein und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Versuchte, an die erste Frage zu denken. Glauer 24
hatte ihr immer gesagt, sie solle mit einem Scherz anfangen, um die Anspannung zu beseitigen, die jedes Polizeiverhör mit sich brachte, aber sie kannte keine Witze. Und wusste nur wenig über Smalltalk. »Angus und Jameson«, sagte sie in dem Versuch, das Eis zu brechen. »Sind das alte Familiennamen?« Angus kicherte. »Sie wollen etwas über unsere Familie wissen? Nun, die einzige ausgefallene Sache, die wir uns je leisten konnten, waren diese Namen. Wenn man so arm ist, dann nimmt man wohl das Beste, das man kriegen kann, und Namen kosten nun mal nichts. Unser Vater hat uns diese Namen gegeben. Er war ein echtes Original. Man nannte ihn auch Langbein Arkeley, weil er immer wegrannte, wenn die Polizei zu nahe kam. Er war die Sorte von Mann, die das Leben bis zur Neige auskosten. Was heißen soll: Er genoss seinen Whiskey, gute Zigarren und junge Frauen. Hat uns in seinen Siebzigern bekommen und wurde hundertundein Jahre alt. Seine letzte Freundin kam zu seinem Begräbnis. Unsere Mutter aber, Fae, die kam aus einer sieben Generationen alten Reihe von Hochlandfrauen aus North Carolina, was man bei denen ein Hexenbalg nennt. Sie konnte die Milch in der Kanne sauer werden lassen, wenn sie es wollte, und sie verfügte über einen bösen Blick, der den Lack eines Cadillacs abbeizte. Aber sie starb jung. Vermutlich hauptsächlich deswegen, weil sie versuchte, mit Langbein Arkeleys beiden Söhnen mitzuhalten.« »Ihr Vater mochte keine Polizei. Interessant. War er Schwarzbrenner?«, fragte Caxton. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Jameson mal so etwas erwähnt hatte. Angus nickte. »Yep. Eine Weile sah es so aus, als würde der junge Jameson den gleichen Weg einschlagen, ein Leben auf der falschen Seite des Gesetzes. Er und ich, wir waren richtige Draufgänger, als wir noch voll im Saft standen. Haben 24 uns allen möglichen Unfug einfallen lassen, weil es da, wo wir groß wurden, sonst nichts Vernünftiges zu tun gab.« »Wo war das?« Angus schüttelte den Kopf. »Hatte keinen richtigen Namen. Ein Stück Land in North Carolina, wo es vor den Sechzigern nicht mal elektrischen Strom gab, wenn Ihnen das was sagt. Wir nannten es Bald Hill, aber das werden Sie auf keiner Karte finden.« Caxton lächelte. »Schon komisch. Ich hätte ihn nie für einen Jungen vom Land gehalten.« Angus kratzte sich am Kinn. »Das ist verständlich, denn das war er auch nicht. Er machte sich so schnell aus dem Staub, wie er nur konnte. Wollte das Handwerk seines Vaters lernen, aber als den alten Langbein dann mal das Gesetz erwischte - nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal -, da ging Jameson zu seiner Ma und sagte ihr, er wolle dort weg. Sagte, er hätte eine Eingebung gehabt und wolle selbst ein Bulle werden, weil sie am Ende ja immer siegen. Die alte Fae grinste bloß von einem Ohr
zum andern, gab ihm vierzig Dollar, die sie in einer alten Pomadedose aufbewahrt hatte, und schickte ihn nach Raleigh-Durham zur Polizeischule. Soweit ich weiß, ist er nie nach Bald Hill zurückgekehrt. Eine Weile war er Streifenbeamter in der Stadt, aber das war auch nichts für ihn, also lernte er für das große Examen und bekam einen Job bei den Bundesbehörden.« »Den U.S. Marshals«, sagte Caxton. Angus nickte. »Langbein gefiel das gar nicht, kein bisschen. Sagte sich von ihm los und alles. Aber ich war der Ansicht, dass es das Beste war, das Jameson für sich tun konnte. Ich hab mir immer gewünscht, ich hätte die gleiche Idee gehabt. Stattdessen habe ich weitere vierzig Jahre damit verbracht, in den Bergen rumzuhängen und alles Mögliche zu tun. Die alte Fae hat mir was von dem beigebracht, was sie über Magie 25
wusste, auch wenn das nicht genug war, um mich in echte Schwierigkeiten zu bringen. Eine Weile habe ich Leuten die Zukunft vorhergesagt, ihnen gesagt, was sie hören wollten. In den Achtzigern ging es mir ganz gut, da hab ich Voodoosachen und so'n Zeugs an Farmarbeiter verkauft, aber als dann die Panik wegen der Satanisten aufkam, die überall Babys stahlen, war es schlagartig damit vorbei. Stellte sich heraus, dass das alles bloß ein Schwindel gewesen war, aber ich war ruiniert. Danach wechselte ich zu Religionsartikeln - Figuren des Heiligen Joseph, die man vorn im Garten vergräbt, wenn man sein Haus verkaufen will, Gebetsduftkerzen, wenn es um Geld oder Liebe geht. Sie wissen schon.« Caxton runzelte die Stirn. »Haben Sie Jameson oft gesehen, nachdem er Marshal wurde - also nachdem er nach Pennsylvania kam?« »Wie ich Ihnen schon sagte, da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe Jameson 1984 besucht, bei seiner Heirat. Davor muss es einmal in den Siebzigern gewesen sein, denn ich weiß noch, dass ich da noch schwarze Haare hatte.« In Caxton breitete sich Enttäuschung aus. Die ganze Fahrt war die reine Zeitverschwendung gewesen. »Da haben Sie ihn das letzte Mal gesehen? Haben Sie seitdem nie mit ihm telefoniert oder eine E-Mail geschickt oder so?« »Meistens nur zu Weihnachten.« »Ich verstehe.« »Natürlich hat er meistens nur gefragt, wie es mir geht, und ich habe gesagt gut. Dann habe ich ihn gefragt, was er so macht, und er sagte, er hätte viel zu tun, und dann gab er den Hörer an Astarte oder eins der Kinder weiter.« »Okay.« Angus drückte den Zigarrenstummel auf der Plastiklehne seines Stuhls aus, bis es zu zischen anfing. »Sie greifen nach Strohhalmen, was, Mädchen? Sie haben keine bessere Spur 25 als irgendetwas, das er zu mir gesagt hat - bei seiner Hochzeit.« Er sah ihr direkt ins Gesicht. »Das muss bedeuten, dass Sie nicht mal wissen, wo Sie mit der Suche nach ihm anfangen sollen.« Selbst in der Kälte brannten Caxtons Wangen. »Ich bin ihm auf der Spur. Ich finde ihn. Aber da es Sie so interessiert, nein, viele Anhaltspunkte habe ich tatsächlich nicht.« Angus zuckte ausdrucksstark mit den Schultern und trank einen Schluck. »Nun, falls Sie nichts gegen einen kleinen Rat einzuwenden haben, vor allem, da er Sie nichts kostet, ich sage Ihnen, Sie bellen hier den falschen Baum an. Sprechen Sie nicht mit seiner Familie.« »Ich muss jeden befragen, der ihn kannte, nur für alle Fälle.« Angus schüttelte den Kopf. »Sie müssen tun, was Sie tun müssen. Ich sage nur, dass es hier um einen Mann geht, der sich weniger für seine Familie interessierte als darum,
was es zum Frühstück gab. Haben Sie seine Kinder gesehen? Sie kennen ihn kaum, und eigentlich gibt es da nichts als Hass. Sie hassen ihn, weil er den größten Teil ihres Lebens nicht da war, weil er mit der Vampirjagd viel zu beschäftigt war, und war er doch einmal da, so hassten sie ihn, weil er nicht genug Liebe für sie übrig hatte. Es sind verdorbene kleine Bälger, beide, aber vielleicht haben sie dazu auch allen Grund. Jameson war einmal mein Bruder, mein kleiner Bruder, und trotzdem schaute ich zu ihm auf. Aber seit er diesen ersten Vampirfall bearbeitet hat, kurz vor seiner Hochzeit, ist er nicht mehr derselbe Mann gewesen, den ich kannte. Er war überhaupt kein Mann mehr.« Caxtons erste Reaktion auf Angus' Worte schockierte sie. Sie fühlte, wie sich etwas in ihrer Brust verkrampfte. Um ein Haar wäre sie aufgestanden. Sie war, wie ihr klar wurde, empört. Er war ein großer Mann, dachte sie. Er war ein Held. Aber vermutlich lag auch das nun weit hinter ihm. »Ach, Scheiße«, sagte Angus plötzlich. »Was zum Teufel macht der denn hier? Der sollte doch erst in ein paar Stunden kommen.« Caxton war noch immer viel zu sehr mit ihrer Wut beschäftigt, um zu begreifen, was er meinte. Dann drehte sie sich um und sah, dass eine weinrote Limousine älteren Baujahrs auf den Motelparkplatz einbog. Die Scheinwerfer blendeten sie eine Sekunde lang und erloschen dann, während der Wagen plötzlich ruckartig anhielt. Vielleicht war der Motor abgesoffen, vielleicht war der Fahrer auch betrunken. Sofort glitt ihr Blick zum Nummernschild, um es sich zu merken, nur für alle Fälle. »Haben Sie noch eine Verabredung?«, fragte Caxton. »Ich hab zwar noch ein paar Fragen, aber die können auch warten.« Sie hatte sich wieder Angus zugewandt, aber der starrte noch immer den Wagen an. Leise vor sich hinfluchend wuchtete er sich aus dem Stuhl. Caxton konnte nur ungläubig zusehen, wie er ein gewaltiges Hirschmesser aus der Tasche zog und die Klinge aufklappte. Die Fahrertür sprang auf und etwas sackte auf den dunklen Asphalt. Es war der Körper eines Mannes, und im ersten Augenblick hielt Caxton ihn für so betrunken, dass er nicht mehr richtig stehen konnte. Dann aber erkannte sie, dass es bloß ein Junge war, ein Teenager mit einem Kapuzenshirt. Er wandte ihnen das Gesicht zu, und es war aufgerissen und blutig, bleiche Hautstreifen baumelten von Wangen und Kinn. »Ein Halbtoter«, flüsterte sie und griff nach der Waffe. Angus war bereits auf halbem Weg zum Wagen, das Messer bereit. 26 Angus, zurück«, rief Caxton, sprang aus dem Stuhl und zog die Beretta. Der alte Mann war ein gutes Stück vor ihr und näherte sich dem Halbtoten schnell. »Keine Angst, junge Lady, mit dem hier komm ich schon klar.« Der Halbtote kniete auf dem Asphalt, hockte auf allen vieren, als wäre er zu schwach zum Stehen. Angus packte die Kreatur am Arm und riss sie brutal in die Höhe, bis sie auf den Füßen stand. »Du hast gesagt, du kämst um Mitternacht. So spät ist es noch nicht!« Caxton bewegte sich schnell, die Mündung der Pistole zu Boden gerichtet. Der Halbtote war nicht bewaffnet, und er schien kaum stehen zu können - tatsächlich schwankte er, als würde er fallen, sollte Angus ihn loslassen. Das bedeutete aber nicht, dass er ungefährlich war. Halbtote waren Vampiropfer, denen man erst das Blut ausgesaugt und die man danach von den Toten zurückgeholt hatte. Sie waren widerwärtige kleine Kreaturen, bösartig und grausam, und ihnen fehlten sämtliche menschlichen Qualitäten, über die sie im Leben verfügt hatten. Der Fluch, der sie belebte, griff sowohl ihre Körper als auch ihre Seelen an; der Körper eines Halbtoten begann beinahe auf der Stelle zu verfaulen, und nur selten hielt einer länger als zehn Tage durch, bevor er sich
in seine Einzelteile auflöste. Dieser hier sah mindestens eine Woche alt aus und roch fürchterlich, und dies selbst noch in der kalten Nachtluft. Aber so schwach er auch war, er konnte Angus durchaus noch beißen und ihm eine hässliche Infektion verpassen, wenn nicht Schlimmeres. »Lassen Sie ihn los und treten Sie zurück«, befahl Caxton, aber Angus tat so, als hätte er sie nicht gehört. »Vierundzwanzig Stunden, hast du gesagt«, brüllte er das Wesen an. »Du bist zu früh!« 27
Caxton hatte noch ein anderes Interesse an dem Halbtoten, als nur Angus zu schützen. Nur ein Vampir konnte einen Halbtoten wieder auferstehen lassen - was bedeutete, dass Jameson Arkeley es getan hatte. Was alle möglichen Schlussfolgerungen nach sich zog - und nur wenige gute. Es bedeutete, dass Arkeley einen Menschen getötet hatte, ein eindeutiger Beweis dafür, dass er auf die Seite der Dunkelheit gewechselt war. Wenn Caxton den Halbtoten noch eine Weile am Leben halten konnte, versprach das möglicherweise einen echten Durchbruch in ihrem Fall. Der Halbtote kannte möglicherweise Jamesons Versteck. Sie konnte ihn verhören. Sie konnte ihn so einschüchtern, dass er alles verriet, was er wusste. Solange Angus ihn nicht vorher erledigte. Sie hob die Waffe und war bereit, sie auf ihn zu richten, falls er nicht endlich ihren Anweisungen folgte. Und als der Halbtote zu reden anfing, erstarrte Caxton mitten in ihrer Bewegung. »Mein Meister wird ungeduldig«, krächzte er. Seine Stimme war schrill und unnatürlich, wie ein Nagel, den man aus einer verrotteten Planke zog. »Er hat dir ein Geschenk angeboten, und du hast es nicht angenommen. Du kennst die Alternative. Was sagst du dazu, Angus Arkeley?« »Wie wäre es hiermit?«, erwiderte der alte Mann und zog dem Halbtoten das Jagdmesser durch das Gesicht. Die Kreatur schrie auf und sackte zu Boden. Angus versetzte ihr einen gemeinen Tritt. »Wie klingt das? Meine Antwort lautet Nein, du Hurensohn. Er kann eine Million Mal fragen, und sie wird immer Nein lauten.« »Treten Sie zurück«, befahl Caxton. »Lassen Sie ihn in Ruhe!« Angus hatte bereits zu einem weiteren Tritt ausgeholt, aber jetzt starrte er sie an, sein Blick glitt an ihrem Arm herunter bis zu ihrer Pistole. »Scheiße«, sagte er. Speichelblasen be 27 fleckten seine Lippen und das Kinn. »Ich kann das schon selbst regeln. Sie sollten sich nicht hier rein verwickeln lassen.« »Dieses... Wesen ist ein Vampirdiener. Darum liegt es jetzt in meiner Verantwortung. Und jetzt treten Sie zurück«, sagte sie so ruhig, wie sie konnte. Ihr Herz pochte schnell. Angus hielt die Hände hoch, hielt das Messer hoch. An der funkelnden Klinge war kein Tropfen Blut zu sehen, nur ein paar schuppige Streifen graues Fleisch. »Ich schätze mal, Sie haben die größere Waffe«, sagte er. »Aber das hier ist mein Problem.« Sein Fuß schoss nach vorn und krachte in die Seite des Halbtoten, der ein Würgen ausstieß. »Sie sollen zurücktreten. Sie haben mich angelogen, nicht wahr? Sie hatten sehr wohl Kontakt mit Jameson. Stimmt das?« Angus grinste sie an, während er einen Schritt zurück machte. »Ich sagte, ich hätte Jameson seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen oder mit ihm gesprochen, und das ist die Wahrheit. Habe ich bis heute nicht. Ich habe diesen Burschen hier vergangene Nacht gesehen; er sagte, mein Bruder hätte ihn geschickt. Sagte, er hätte eine Botschaft für mich, eine Art Handel, und ich hätte vierundzwanzig Stunden, um darüber nachzudenken. Er wusste auch, dass Sie kommen und Fragen stellen würden. Sagte, wenn ich mit Ihnen kooperiere, würde das meinen Tod bedeuten.«
»Ich kann Sie beschützen. Hätte ich das gewusst... ich hätte Sie an einen sicheren Ort bringen können«, sagte Caxton kopfschüttelnd. Sie warf einen Blick auf den Halbtoten und sah, dass er sich nicht mehr rührte. »Ein Mann kümmert sich selbst um seine Familienangelegenheiten. Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Jameson ist mein Bruder, und das macht es zu meiner Aufgabe, ihn zu töten...« 28 Angus' Blick richtete sich auf den Wagen des Halbtoten und verharrte dort. Caxton hielt das für einen Trick, einen Vorwand, um sie abzulenken und noch einen Tritt landen zu können. Aber dann trat sie langsam zurück und schaute ebenfalls in die Richtung. Ein gewaltiger dunkler Schatten bewegte sich im Wageninneren. Rote Augen glühten auf dem Rücksitz. Caxton schwang die Waffe herum, um sie auf den Wagen zu richten, aber sie war zu langsam. Die hintere Wagentür explodierte förmlich, ein schwarzweißer Schemen schoss über den schwarzen Asphalt auf Angus zu. Er verlangsamte das Tempo noch gerade genug, um ihn an der Taille packen zu können. Und in diesem Augenblick sah sie genau das, was sie erwartet hatte. Es war Jameson Arkeley, der Vampir. Er trug ein schwarzes Hemd und schwarze Hosen, aber seine Füße waren nackt. Seine Haut hatte sämtliche Pigmente und Haare verloren, selbst die Wimpern. Seine dreieckigen Ohren, die roten Augen und der Mund - voll von hässlichen Zähnen - konnten jedoch nicht die Ähnlichkeit verbergen, die er noch immer mit seinem Bruder hatte. Aber wo Angus' Gesicht die Falten des Alters aufwies, waren Jamesons Züge glatt und makellos. Nur seine linke Hand war nicht unversehrt. Sämtliche Finger fehlten. Er war als Lebender verstümmelt worden, und nicht einmal der Vampirfluch konnte sie nun wieder wachsen lassen. Seine roten Augen starrten Caxton an. Es war ein Gefühl, als würde eine kalte Brise durch ihr Schädelinneres wehen, und sie hörte seine Stimme - seine menschliche Stimme. Sie hörte sie ihren Namen rufen, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten. Ihre Arme sackten schlaff herunter, ihre Lider senkten sich langsam. Caxton wusste genau, was da geschah. Sie hatte es schon zuvor erlebt, sogar viel zu oft. Er hypnotisierte sie. Ließ sie erstarren.
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An einem Band um ihren Hals hing ein Amulett, eine Spirale aus silbrigem Metall, ein Talisman, den Vesta Polder ihr gegeben hatte, damit sie diese Art von Zauber brechen konnte. Sie wollte danach greifen, während er sich bereits an ihrem Schlüsselbein erwärmte. Aber ihre Hände trafen auf Widerstand, als bewegten sie sich durch Gelatine. Jameson blieb genug Zeit, sie zu töten, bevor sie den Talisman packen und die Kontrolle über ihren Körper zurückerlangen konnte. Aber offenbar schien er das gar nicht zu wollen. Er beendete den Blickkontakt, und plötzlich war er aus ihrem Kopf verschwunden. Ihre Finger erreichten den Talisman, und sie spürte seine Hitze durch den Stoff, aber sie war bereits frei. Ihre andere Hand, ihre Schusshand, glitt in die Höhe, und sie zielte automatisch auf sein Herz. Zu langsam, viel zu langsam. Er war schon wieder in Bewegung, bewegte sich schneller, als sie ihn verfolgen konnte. Sie ließ sich auf ein Knie fallen, um besser zielen zu können, versuchte seinen Rücken ins Visier zu bekommen, obwohl sie wusste, dass die Chancen schlecht standen, auf diese Weise sein Herz zu treffen. Und noch viel schlimmer war, dass er sich Angus über die Schulter geworfen hatte! Aus vielerlei Gründen durfte sie nicht riskieren, den lebenden Bruder zu treffen. »Stehen bleiben!«, brüllte sie, aber sie konnte ihn in ihren Gedanken lachen hören, ein bösartiges, lang gezogenes Kichern, das erst verblich, als sich sein hypnotischer Bann endlich ganz auflöste.
Sie sprang auf die Füße und rannte hinter ihm her, aber sie kam nicht weit. Jameson lief direkt auf das Motel zu und trat die Tür zu Angus' Zimmer auf. Er schlüpfte zusammen mit seinem Bruder hinein. Die Tür schwang hinter ihm wieder zu. Caxton rannte auf das Zimmer zu und warf sich links ne 6.:
ben dem Eingang gegen die Wand. Falls Jameson wieder auf dem Weg hervorstürmte, den er gekommen war, wollte sie nicht dort stehen. Sie hob die Waffe auf Schulterhöhe und versuchte zu atmen, wollte ihren nächsten Schritt planen. Der Vampirjäger Jameson Arkeley hätte ihn gewusst, ohne nachdenken zu müssen. Einfach ins Zimmer stürmen und auf das Beste hoffen? Draußen darauf warten, dass der Vampir wieder herauskam? Er hätte sich diese Fragen nicht einmal gestellt. Aber Caxton konnte das nicht so schnell entscheiden. Eilte sie durch die Tür, so lief sie möglicherweise direkt in die Falle. Vampire liebten es, Fallen zu stellen. Jameson konnte neben der Tür warten und sie packen und in Stücke reißen, bevor sie ihn überhaupt wahrnahm. Aber wenn sie draußen auf ihn wartete - wer vermochte schon zu sagen, was er Angus antat? Ihre Pflicht galt dem lebenden Bruder, so entschied sie. Wenn sie die Chance haben wollte, ihn zu retten, dann musste sie schnell handeln. Sie hatte bereits kostbare Sekunden verschwendet. Mit bereitgehaltener Waffe warf sie sich gegen die Tür, vollführte mit eingezogenem Kopf eine Rolle ins Zimmer hinein und machte einen Hechtsprung hinter das Bett. Hob nur Augen und Hände über die Bettdecke mit dem Dschungelmuster und schwang die Beretta hin und her, deckte den ganzen Raum ab. Er war leer - doch die Tür zum Bad stand offen. Drinnen brannte kein Licht, sie konnte nur Schatten erkennen. Sie rollte sich über das Bett und eilte durch die offene Tür. Sie führ auf dem Absatz herum, zielte auf die Toilette, das Plastikwaschbecken, die Tür der Duschkabine. Als nichts versuchte, sie auf der Stelle zu töten, schaltete sie mit der linken Hand das Licht an. Die Duschtür war in Blut getaucht.
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Gott, nein - nicht deinen eigenen Bruder.« Caxton seufzte. Sie zögerte eine Sekunde lang, weil sie es eigentlich nicht wissen wollte, aber dann schob sie die Duschtür zurück. Sie bewegte sich viel zu leicht, die Schiene war mit nassem Blut geschmiert. Noch mehr Blut füllte die Duschtasse, bedeckte beinahe den ganzen Körper von Angus Arkeley. Der alte Mann lag verkrümmt da, einen Arm unter dem Körper, den anderen der Seifenschale entgegengestreckt. Seine Augen waren weit aufgerissen. Noch immer sprudelte Blut aus einer massiven Verletzung an seinem Hals. Das Protokoll verlangte, dass sie den Polizeinotruf wählte, und das tat sie auch obwohl sie wusste, dass Angus vor dem Eintreffen der Hilfe sterben würde. »Ich habe einen Verletzten in Zimmer Vier«, instruierte sie den Dispatcher, nachdem sie sich ausgewiesen und ihren Standort durchgegeben hatte. »Ich sehe hier einen massiven Blutverlust durch tiefe Wunden im Halsbereich. Ich brauche sofort einen Krankenwagen und jeden verfügbaren Officer.« Sie ließ ihr Telefon zuschnappen und griff nach einem gestärkten weißen Handtuch. Sie stopfte es in die Wunde, aber das Blut quoll daran vorbei in dicken Schüben, die nicht einmal angefangen hatten zu gerinnen. Angus' Augen drehten sich langsam, versuchten sich auf Caxtons Gesicht zu konzentrieren. Da waren keine Emotionen zu erkennen. Der alte Mann hatte nicht einmal mehr die Kraft, um Hilfe zu bitten. Caxton dachte daran, ihm Fragen zu stellen, doch sie wusste, dass er sie nicht beantworten konnte. Außerdem hatte er ihr bereits genug gesagt, auch wenn er sie angelogen hatte.
So schlimm Angus' Zustand auch sein mochte, es gab noch einen anderen Arkeley, um den sie sich sorgen musste. 30
Sie sah sich im Badezimmer um. Von Jameson war keine Spur zu sehen. Sie hatte alte Sagen über Vampire gelesen, die durch einen Spalt zwischen Tür und Rahmen schlüpfen konnten, aber in der Realität gab es das nicht. Jameson war ein großer Kerl, und er konnte sich nirgendwo in dem kleinen Raum verstecken. Ihr Blick fiel auf das Fenster über der Toilette. Es stand offen und ließ die kalte Nachtluft hereinströmen. Doch es sah zu klein aus, als dass sich Jameson hätte durchquetschen können - und trotzdem wusste sie, dass er genau das getan hatte. Der Metallrahmen des Fensters war nach außen hin verbogen. Mit genug Kraft und Entschlossenheit und einer völligen Missachtung von Schmerzen (was alles auf einen Vampir zutraf) konnte er es gerade so geschafft haben. Sie war versucht, aufzuspringen und ihm auf demselben Weg zu folgen, aber zuerst wandte sie sich wieder Angus in der Dusche zu. Das Protokoll verlangte von ihr, bei dem Mann zu bleiben, bis die Notfallsanitäter eintrafen. Simpler menschlicher Anstand verlangte das ebenfalls. Aber wenn sie wartete, würde sie Jameson nur eine Chance zur Flucht geben - und Angus würde trotzdem sterben. »Ich schnapp ihn mir«, schwor sie und sah in seine erlöschenden Augen. Mehr Trost hatte sie nicht zu bieten. Sie hoffte, dass er sie hören konnte und wusste, dass er nicht ungerächt sterben würde. Sie ignorierte seinen Blick, beugte sich über die Toilette und spähte aus dem Fenster. Sie konnte nicht das Geringste sehen. Die Lichter des Motels und des Highway vorn reichten nicht so weit. Sie glaubte, dass dort ein Feld war, vielleicht eine Anbaufläche, die man den Wnter über brach liegen ließ. Direkt unter dem Fenster konnte sie dicht wucherndes Unkraut ausmachen. Jameson würde dort draußen sein, nahe genug, um die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Aber ihr war klar, dass sie ihn niemals zu sehen be 30
käme. Seine schwarze Kleidung würde den größten Teil seines Körpers verbergen und die Schatten den Rest erledigen. Das Protokoll schrieb vor zurückzugehen, die Eingangstür zu benutzen und um das Gebäude herum nach hinten zu gehen. Das Protokoll legte ebenfalls nahe, dass sie immer einen Partner an der Seite hatte, zu allen Zeiten, jemanden, der ihr Rückendeckung geben konnte. Scheiß auf das Protokoll, dachte Caxton und schob die Waffe ins Holsten Sie stieg auf den Spülkasten und schob sich mit Kopf und Schultern voraus durch das Fenster. Dann griff sie nach unten, um sich abzustützen, ließ die Beine nachfolgen und landete angespannt in der Hocke. Das war der Augenblick. Es war ihr völlig klar. Das war der Augenblick, an dem Jameson angreifen würde, falls er es vorhatte. Wenn ihre Waffe noch im Holster steckte und sie sich nicht wehren konnte. Sie stählte sich, rechnete damit, dass er wie ein Frachtzug in sie hinein krachte, bevor sie etwas tun konnte. Nichts geschah. Nichts bewegte sich. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, während sie wieder die Pistole zog. Das graue Unkraut um sie herum endete etwa sechs Meter entfernt am scharf begrenzten Rand des Feldes. Auf der von Furchen durchsetzten Erde lag eine dünne Schneeschicht, die im Sternenlicht funkelte. Die flache weiße Ebene schadete Caxtons Tiefenwahrnehmung und schmerzte in ihren Augen. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich einen Moment später langsam auf, und sie... Warte, dachte sie. Dieses Gefühl kannte sie. Es war die kaum wahrnehmbare Empfindung von etwas Widernatürlichem, etwas Unnatürlichem in unmittelbarer
Nähe. Es war das Gefühl, das sie immer hatte, wenn Vampire in der Nähe waren. Jameson. Er war nicht geflohen. Er war in der Nähe geblieben, wartete auf sie. Spielte mit ihr. 31 Links ertönte ein kaum zu hörendes Knistern, und sie drehte sich herum und wäre dabei beinahe zur Seite gekippt. Ein Schatten löste sich von der dunklen Hinterseite des Motels - sie feuerte ohne zu zögern. Der Schuss zerriss die Dunkelheit um sie herum und dröhnte in ihren Ohren. Der Schatten raste auf das verschneite Feld zu, sie zog den Abzug erneut durch. Der Schuss traf, stieß Jameson zur Seite. Eine Sekunde lang konnte sie ihn genau sehen, das weiße Gesicht verschmolz mit dem Schnee, aber sein schwarzes Hemd zeichnete sich deutlich von der hellen Fläche ab. Sie sah, wie er die Hände zur Brust hob, als würde er eine Wunde halten. Es war eine Chance. Eine Gelegenheit. Sie verschwendete sie nicht. Sie stürmte auf den Schatten zu, schoss die dritte Kugel ab und wusste sofort, dass sie weit daneben gegangen war. Es fiel ihr schwer einzuschätzen, wie weit entfernt er war, aber sie rannte weiter und seine Silhouette wurde immer größer, bis er sie überragte, bis sie nahe genug war, um die Kälte seines Körpers zu fühlen, eine Kälte, die noch kälter war als die Nacht um sie herum. Er hob seine gesunde Hand, um sie aufzuhalten, aber sie stürmte weiter, mit gesenktem Kopf, um keinen Blickkontakt herzustellen und ihm keine weitere Chance zu geben, sie zu hypnotisieren. »Trooper«, sagte er, und seine Stimme glich einem tiefen Knurren. »Laura. Lassen Sie uns darüber reden...« Jameson Arkeley hätte in seinen Tagen als Vampirjäger in diesem Augenblick ganz genau gewusst, was zu tun war. Genauso wie sie es jetzt wusste. Caxton kam bis auf Kernschussweite heran, bis der Lauf ihrer Beretta nur Zentimeter von seiner Brust entfernt war, links vom Brustbein. Sie schoss, bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte. Die Kugel verließ den Lauf ihrer Waffe mit Überschallgeschwindigkeit. Sie traf genau ins Ziel und schleuderte ihn 31 zurück, als wäre er von einem Pferd getreten worden. Mit rudernden Armen und Beinen landete er auf dem Rücken. Es hätte reichen müssen. Die Kugel hatte genug Energie - über 600 Joule -, um Haut, Brustmuskeln und Rippen zu durchbohren. Danach würde sie noch genügend Energie übrig haben, um sein Herz zu durchschlagen. Caxton wusste, was eine Kugel auf diese Distanz mit einem Körper anstellte, selbst mit einem Vampirkörper. Es musste reichen. Sie hatte schon zuvor Vampire getötet. Sie wusste, dass sie zäh waren, manchmal sogar kugelsicher erschienen. Aber sie wusste auch, dass sie keineswegs unverwundbar waren. Fügte man einem Vampirherzen genug Schaden zu, dann blieb er auf dem Boden liegen. Für immer. Sie hatte ihn getötet. So sah es aus. So fühlte es sich an. Warum konnte sie es dann nicht glauben? Im Leben war Arkeley ein zäher Bastard gewesen. Als Untoter würde er zehnmal so schwer zu töten sein. Natürlich hatte sie schon Vampire getötet, aber dieser hier - der war anders. Sie musste sichergehen. Sie trat vor, spreizte die Beine ein Stück. Fasste ihre Waffe mit beiden Händen. Reglos lag er zu ihren Füßen, scheinbar bewegungsunfähig. Sie konnte die Wunde in seiner Brust nicht sehen, nicht in dieser Beinahe-Finsternis, aber sie musste entsetzlich sein. Sie dachte darüber nach, ihm noch einmal ins Herz zu schießen, einfach nur aus Prinzip. Der Gedanke widerte sie jedoch an. Als würde sie eine Leiche schänden.
Der Vampirjäger Jameson Arkeley hätte es trotzdem getan. Sie zielte sorgfältig, nahm sich Zeit, schoss erneut. Der Körper zuckte nicht. Wäre er nicht bereits tot gewesen, dachte sie, dann aber jetzt. Das reichte. In der Sekunde, in der sie die Waffe senkte, war er auf den Beinen, riss sie mit dem einen Arm an sich, schlug ihr die 32
Beretta aus den Fingern. Ihr Handgelenk protestierte, als der Hieb ihre Hand gewaltsam umknickte. Sie bemerkte nicht einmal, wo die Pistole landete. Sie sah nur noch seine Zähne. Sie waren groß und gezackt, voll von geronnenem Blut. Sie waren nur Zentimeter von ihren Augen entfernt. Sein Atem stank. Sein Atem stank nach dem Blut seines eigenen Bruders. »Machen Sie schon«, sagte sie. Sie konnte nicht atmen, konnte nicht denken - konnte nicht einmal Angst haben, das ließ ihr Gehirn nicht zu. Sie wusste, dass diese kleine Gnade nicht andauern würde. »Töten Sie mich. Nur machen Sie es schnell. Das schulden Sie mir.« Er kicherte, der Grabgestank aus seinem Mund stieg ihr in Nase und Hals und ließ sie den Kopf abwenden, ließ sie sich gegen seinen Griff wehren. »Ich schulde Ihnen viel mehr als das«, sagte er. »Und ich beabsichtige, Ihnen alles zurückzuzahlen.« Er drückte ihren Kopf in die Höhe, die Finger seiner unversehrten Hand gruben sich in das Fleisch unter ihrem Kinn. Er war so stark, dass sie nichts dagegen tun konnte. Ihre Blicke trafen sich, und jeder Gedanke flog aus ihrem Verstand -wie Fledermäuse bei Sonnenuntergang aus ihrer Höhle. Die Zeit hielt an - und als sie weiterlief, lag sie im Schnee und starrte in den dunkelblauen Himmel hinauf zu den silbrigen Sternen. So viele Sterne... Caxton setzte sich auf, griff sich an den Kopf und zwang sich, sich zu konzentrieren. Sah sich um, in alle Richtungen. Keine Spur von ihm zu entdecken, nicht einmal Fußabdrücke im Schnee. Aber - aber sie hatte ihn doch erwischt! Sie hatte ihm eine Kugel direkt durchs Herz geschossen. Wie hatte er nur wieder aufstehen und fliehen können? 32
1 2.
Stunden später. Im Osten beschmutzte ein verwaschener roter Fleck den Horizont. Nur wenige Minuten vor Sonnenaufgang. Sie fing schon an, sich wieder sicher zu fühlen, jedenfalls ein bisschen. Doch als Deputy Marshal Fetlock ihr von hinten auf die Schulter tippte, zuckte sie trotzdem zusammen. »Es tut mir leid, Trooper, ich wollte Sie nicht...« Sie blickte auf die Schuhe, bis ihr Herz aufgehört hatte in der Brust zu trommeln. »Schon gut. Man hat mir gesagt, dass Sie kommen. Ich hätte Sie in Empfang nehmen sollen.« Langsam löste sie die Arme. Sie hatte sich den Bauch gehalten. Fest. Sie streckte die Hand aus, und Fetlock schüttelte sie. »Es ist nur... es war eine sehr lange Nacht.« »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit mir zu sprechen«, sagte er und schenkte ihr ein geduldiges Lächeln. »Sie sind sicher sehr beschäftigt.« Sie zuckte mit den Schultern. Vor einer Stunde war sie sehr beschäftigt gewesen, als sie den Polizeieinsatz koordiniert, das Motel abgesperrt und ein Team Trooper angeführt hatte, das das Feld nach Spuren von Jameson abgesucht hatte. Als sie nichts gefunden hatten, hatte sie schließlich entschieden, jetzt ruhig nach Hause fahren zu können: dass es für sie an diesem Tatort nichts mehr zu tun gab. Dann hatte Fetlock angerufen und um Zugang zum Tatort gebeten. Das Timing war lausig - es war sechs Uhr morgens; sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und wollte einfach nur noch ins Bett. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn warten
zu lassen, bis sie sich ausgeruht hatte. Aber er hatte ihr versichert, es sei wichtig, dass er den Tatort unbedingt sehen müsse, solange er noch frisch war. Caxton war lange genug Cop, um zu wissen, wie die Hierarchie funktionierte. 33 Man sagte nicht nein zu einem Fed, das brachte einem nichts Gutes ein. Also hatte sie im Motel festgesessen, während sie auf ihn wartete. Sie hatte keine Ahnung, was er wollte. Er war bei ihrer Besprechung in der SSU gewesen, war aber wortlos gegangen, und jetzt drängte er sich in ihre Untersuchung. Nichts davon ergab einen Sinn. »Es ist nicht so, dass ich nicht froh bin, Sie zu sehen«, sagte sie, »aber vielleicht könnten Sie mir Ihr so dringendes Interesse an diesem Tatort erklären. Vor allem zu dieser Zeit am Morgen.« Er lächelte breit. »Ich schätze, ich bin eben ein Morgenmensch. Was mein Interesse angeht, es ist rein informeller Natur, das versichere ich Ihnen. Wenn Sie jetzt keine Zeit für mich haben, gehe ich Ihnen gern aus dem Weg.« Caxton schüttelte den Kopf. Sie hatte schon früher mit den Feds zusammengearbeitet, und sie wusste, dass sie vermutlich keine bessere Erklärung bekommen würde zumindest nicht, bevor er etwas von ihr wollte. »Nein, nein«, sagte sie. »Ich bin mir nur nicht sicher, wie ich Ihnen helfen soll.« »Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was hier passiert ist?« »Eine Routinevernehmung. Ich hatte einen Termin mit Angus Arkeley gemacht, Jamesons Bruder, und wir sprachen miteinander. Dann lief die Situation aus dem Ruder.« Sie schilderte ihm kurz die Ereignisse der Nacht und unterschlug lediglich ihre privaten Eindrücke - ihre Zweifel, die Augenblicke panischer Furcht, die Aussetzer, nachdem Jameson sie hypnotisiert hatte. Nachdem er sich ihren Bericht angehört hatte - kommentarlos -, zeigte sie ihm, was noch zu sehen war. Als Jameson sie verlassen und sie sich wieder sicher auf den Beinen gefühlt hatte, war sie zurück zur Vorderseite des Mo7i
tels gegangen. Zunächst war der angeforderte Krankenwagen erschienen, aber die Sanitäter hatten nicht gewusst, wo sie anfangen sollten, und Caxton hatte ihnen erst erklären müssen, dass es sich bei der Leiche auf dem Parkplatz nicht um ihren Patienten handelte. Das hätte eigentlich klar sein müssen. Die Überreste des Halbtoten stanken, als hätten sie Monate unter der Erde vor sich hingemodert, und von den Muskeln und inneren Organen war nur noch so wenig übrig, dass sie ihn mühelos mit einer Hand hätte aufheben können. Am Ende hatten die Sanitäter gelbes Absperrband um den Toten gezogen und einfach eine Decke über ihn geworfen. Jetzt schlug Caxton die Decke zurück, während gelbes Sonnenlicht über den Parkplatz kroch, damit Fetlock sehen konnte, wie er aussah. Der Fed zuckte deutlich sichtbar zusammen. Vielleicht lag es an dem Geruch, vielleicht auch am Aussehen des Halbtoten. »Die Identifizierung wird schwer fallen«, erklärte er. »Das können Sie laut sagen. Die Haut ist zu zerfallen für Fingerabdrücke, die Zähne sind alle zerbrochen, also fällt der Abgleich mit Zahnarztunterlagen aus. Er hat weder eine Brieftasche noch irgendeine andere Identifizierung dabei -oder im Wagen. Das habe ich bereits überprüft.« Was nicht unbedingt ein Vergnügen war. »Also hat Angus ihn zu Tode getreten?«, fragte Fetlock. »Das erklärt aber nicht die Verwesung.« Caxton schüttelte den Kopf. »Angus war ziemlich brutal, aber er hätte trotzdem so ausgesehen. Nein, die Todesursache hier ist Alter.« Fetlock runzelte die Stirn, aber sie zuckte bloß mit den Schultern und fuhr fort. »Jameson muss ihn vor mehr als einer Woche wiederbelebt haben, und seitdem ist er verwest. Dieser Kerl war keine
Bedrohung mehr. Er konnte nicht mal mehr stehen, geschweige denn eine Waffe halten. Ich glaube, das war Absicht.« J34 »Wie meinen Sie das?« »Jameson muss gewusst haben, wie gering die Lebensspanne seines Dieners war. Er hätte seine Botschaft von einer frischeren Leiche überbringen lassen können, aber hätte er das getan, dann hätte der Halbtote noch ein paar Stunden länger gelebt, und ich hätte ihn verhören und erfahren können, wo sich Jameson versteckt. Dieser hier sagt mir nichts mehr.« Sie schlug die Decke über das Gesicht der Leiche. Aus Harrisburg sollte eine spezielle Spurensicherungseinheit kommen, um ihn sich anzusehen, aber sie bezweifelte, dass sie noch etwas finden würden. Der Körper verweste noch immer mit beschleunigtem Tempo, und bis sie eintrafen würde er vermutlich nicht mehr als ein Haufen stinkender Matsch und zerbrochene Knochen sein. »Das könnte auch erklären, warum Jameson so früh kam. Der Halbtote sollte eigentlich um Mitternacht eintreffen, um Angus' Antwort einzuholen, aber er kam schon abends gegen sechs Uhr. Ich glaube, Jameson kam zu dem Schluss, dass sein Diener es nicht mehr bis um zwölf schaffen würde.« »Das erwähnten Sie schon. Dass Jameson seinem Bruder eine Art Angebot machte und Agnus ablehnte. Sie sagten aber nicht, um was für ein Angebot es sich da handelte.« »Nun, es hat sich auch niemand die Mühe gemacht, mir das zu verraten.« Caxton führte den Fed zu dem Motelzimmer. Zwei State Trooper bewachten die Tür, während drinnen Fotografen die letzten Augenblicke Angus Arkeleys dokumentierten. »Angus hat mich vorsätzlich belogen und mir nichts von dem Angebot erzählt. Es klang so, als würde er das für eine Familienangelegenheit halten. Dass er glaubte, Jameson selbst töten zu können. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was ihm das einbrachte.« Sie drängten sich in das kleine Badezimmer und schick 34 ten einen Fotografen und einen Corporal, der die Aufsicht und die Verantwortung über den Tatort hatte, hinaus. Caxton schob die Duschtür zurück und ließ Fetlock hineinsehen. Sie war leer. Dort lag kein Körper mehr. Die Sanitäter hatten Angus mitgenommen, ihn mit Blutplasma voll gepumpt und versucht, sein Herz bis zum Eintreffen im Krankenhaus am Schlagen zu halten. Es war aber sinnlos gewesen - man hatte ihn schon unterwegs für tot erklärt. Die Leiche lag jetzt unter sorgfältiger Bewachung in der Leichenhalle des Krankenhauses. Jameson hatte die Macht, seinen Bruder von den Toten zurückzuholen - in Gestalt eines Halbtoten wie dem auf dem Parkplatz. Caxton hatte zwar keinen Grund zu der Annahme, dass er dies auch täte - es würde ihr ja bloß Gelegenheit geben, Angus erneut zu verhören -, aber sie ging kein Risiko ein. »Jameson zerrte ihn hier herein, hauptsächlich um ihn von mir wegzubringen. Er war vielleicht fünf Sekunden mit seinem Bruder allein, bevor ich die Tür aufbrach und da war. Was sehen Sie hier?« Fetlock wandte den Kopf ein Stück. »Erdbeermarmelade. Literweise.« Caxton gestattete sich ein schmales Lächeln. Sie fing an, den Fed nicht zu mögen. Er ließ sich nicht in die Karten sehen, obwohl sie sich doch unterstützen sollten. »Das ist natürlich geronnenes Blut. Angus' Blut. Ich sehe hier einen Vampir, der vergangene Nacht bereits getrunken hatte.« »Das ist eine interessante Schlussfolgerung.« Sie nickte. »Ein hungriger Vampir hätte eine Möglichkeit gefunden, noch mehr zu trinken. Er hätte jeden Tropfen als kostbar betrachtet. Das ist einfach nur gedankenlose
Verschwendung. Jameson hat seinen Bruder nicht hier hereingeschleppt, um sein Blut zu trinken, er brachte ihn her, um ihn zu ermorden. So einfach ist das.« 35
»Den eigenen Bruder. Warum?« »Weil er ablehnte. Sie haben mich gefragt, was Jameson Angus angeboten hat, und ich erwiderte, ich wüsste es nicht genau. Aber ich glaube, ich kann es mir denken. Ein Vampir kann einem nur eines geben, und das ist sein Fluch. Ich glaube, Jameson Arkeley hat seinem Bruder angeboten, ihn zum Vampir zu machen. Er gab ihm vierundzwanzig Stunden, um darüber nachzudenken, und vielleicht war Angus sogar versucht, es zu tun - ewiges Leben muss für einen alten Mann ganz schön verführerisch klingen, selbst wenn er weiß, welchen Preis ihn das kostet. Als Angus strikt ablehnte, hat Jameson ihn getötet, bevor er mir noch etwas verraten konnte.« Zum ersten Mal zeigte Fetlock so etwas wie Überraschung. Er wurde einen Hauch blasser im Gesicht. »Er wollte seinen Bruder zu dem machen, was er selbst ist. Und wenn das nicht ging, wollte er ihn davon abhalten, mit Ihnen zu sprechen. Und er benutzte absichtlich einen verwesenden Diener, damit dieser Ihnen auch nichts verraten kann.« »Ja, diese Theorie klingt gut«, erwiderte Caxton. »Dann fürchtet er sich vor Ihnen.« Das ließ sie dann doch lachen. »Ja, genau. Ich bin seine größte Bedrohung.« Sie zeigte Fetlock das Fenster, durch das sie und Arkeley gekrochen waren. »Dort draußen«, sagte sie, »habe ich ihm auf kürzeste Distanz zwei Neun-Millimeter-Kugeln in sein Herz geschossen. Danach stand er auf, überwältigte mich und floh völlig unbehelligt vom Tatort. Und ob ich eine Bedrohung für ihn bin!« Wieder durchfuhr sie Angst, und unwillkürlich erschauderte sie. Fetlock musste sehen, wie verängstigt sie tatsächlich war. Sie konnte es nicht länger verbergen. Der Fed zuckte mit den Schultern. »Von allen Menschen auf der Welt sind Sie derjenige, vor dem er am meisten Angst hat. Sie kennen ihn am besten. Sie kennen seine Stärken, das 35 bedeutet etwas. Und Sie wissen mehr darüber, wie man Vampire tötet, als sonst jemand.« Aber nicht notwendigerweise als ein Untoter, dachte sie. Jameson hatte ihr alles beigebracht, was er wusste. Jetzt bewies er, dass er ein paar Geheimnisse nicht geteilt hatte. »Danke«, sagte sie spöttisch. »Es ist schön, das zu hören.« Und doch merkte sie, dass sie diese Worte irgendwie auch ernst gemeint hatte. Das Wissen, dass jemand an sie glaubte, half. »Nun. Wie wäre es denn, wenn Sie mir jetzt verrieten, warum Sie tatsächlich hier sind?« »In Ordnung«, sagte er und setzte sich auf die Toilette. »Ich bin gekommen, um Ihnen einen Stern anzubieten.« Einen Stern«, sagte Caxton stirnrunzelnd. »Sie wollen mir einen Stern verleihen. Was denn, wie ein Lehrer, der einem guten Schüler ein Sternchen ins Heft malt?« »Er ist aus Silber.« Er griff sich in die Jackentasche und holte einen Anstecker in der Form eines Sterns in einem Kreis hervor. Natürlich erkannte sie ihn sofort. Fetlock trug selbst einen. Jameson Arkeley hatte auch einen getragen. Special Deputy Jameson Arkeley vom U.S. Marshals Service. »Ich bin dazu autorisiert, nach eigenem Ermessen jeden Polizeibeamten zeitweise zum Deputy zu ernennen, und zwar für so lange, wie ich es erforderlich halte.« »Was denn, so wie ein Sheriff ein paar Cowboys für eine Posse verpflichtet?«
»Das trifft es beinahe genau. Der Marshals Service ist der älteste Teil des Justizministeriums. Ursprünglich hat man uns geschaffen, um an der Grenze für Recht und Ordnung
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zu sorgen. Viele Cowboys waren Marshals - Wyatt Earp, Bat Masterson, Bill Hickcock.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin kein großer Western-Fan.« »Frederick Douglass war auch einer von uns. Präsident Kennedy setzte uns an vorderster Front der Bürgerrechtsbewegung ein. Wir sind die Guten.« Er zwinkerte. Wortlos starrte sie das Abzeichen in seiner Hand an. Was zum Teufel ging hier vor? Als sie es nicht nahm, schloss er die Finger darum, steckte es aber nicht wieder weg. »Sie haben gefragt, warum ich hergekommen bin. Vermutlich haben Sie sich gewundert, was ich bei Ihrer SSU-Besprechung wollte. Mein Direktor hat mich geschickt. Er ist wegen Ihrer Untersuchung ausgesprochen besorgt, und er will, dass wir Ihnen auf jede erdenkliche Weise helfen. Vielleicht sollte ich damit anfangen, Ihnen ein paar Hintergrundinformationen zu geben, Ihnen unsere Seite der Dinge erläutern. Was ich damit zu tun habe.« Er machte eine Pause. »Ich wurde am 21. November in unserem Hauptquartier in Arlington, Virginia, gebeten, Jameson Arkeleys alte Akten aus unserem Archiv zu holen, und zwar alle. Ich sollte von allem Fotokopien anfertigen und Ihnen die Originale schicken. Unserem Onlinekatalog zu Folge gab es da nicht viel - ein paar Notizbücher, einige Ermittlungsberichte und sein persönliches Dossier. Nichts davon war digital, also musste ich persönlich ins Archiv gehen und die Dokumente heraussuchen. Ich machte eine beunruhigende Entdeckung. Jede einzelne Akte war verschwunden.« Er musterte sie, aber sie weigerte sich, eine Reaktion zu zeigen. Sie war nicht einmal zu einem Schulterzucken bereit, nicht, bevor sie mehr gehört hatte. »Mein nächster Schritt bestand natürlich darin, den Bibliothekar des Service aufzusuchen und das Zugangsregister ein 36
zusehen. Die von mir gewünschten Akten waren alle zusammen angefordert und nicht wieder zurückgebracht worden. Man hatte für sie unterschrieben. Ich wette, Sie ahnen, wessen Unterschrift auf dem Blatt stand. Jameson Arkeleys.« Caxton blinzelte, vielleicht zu schnell. »Klingt absurd, nicht wahr? Das war lange, nachdem er zum Vampir wurde. Mehr als ein Jahr, nachdem er aus dem Service ausschied. Er hätte einen Ausweis mit Foto vorweisen müssen, um dieses Material ausleihen zu können. Er hätte einen Ausweis haben müssen, nur um in das Gebäude zu kommen. Ich habe bei der Abteilung nachgefragt, die diese Ausweise ausgibt, und man sagte mir, dass sie die Ausweise vernichten sollen, wenn ein Deputy aus dem Dienst ausscheidet. Aber manchmal geben die Leute die Karte nicht zurück, wenn sie ihre Schreibtische räumen. Manchmal wollen sie sie als Souvenir behalten, manchmal vergessen sie es auch einfach. Die Ausweisabteilung kümmert sich nicht darum, auch nachzuprüfen, ob ein ausgegebener Ausweis zurückgegeben und vernichtet wurde oder nicht. Nun, ab jetzt werden sie es tun, das hat man mir versichert. Vermutlich wird das jemanden dort seinen Job kosten.« »Videoüberwachung«, sagte Caxton. Fetlock beobachtete sie, als wartete er darauf, dass sie noch mehr sagte, aber vermutlich wusste er ganz genau, worauf sie hinauswollte. »Sie meinen, ob der Eingang zum Archiv elektronisch überwacht wird? Natürlich. Ich habe die Aufnahmen selbst gesehen - selbstverständlich handelt es sich nicht um ein Videoband. Es sind alles komprimierte Dateien auf unseren Servern. Ich habe mir sechs Stunden bevor und
nachdem Arkeley - angeblich - diese Akten holte angesehen. Falls Sie sich fragen, ob ich einen großen Albino mit spitzen Ohren und kahlem Kopf sah, nein. Nichts dergleichen. Natürlich könnte er einen Halbtoten geschickt haben, aber der Biblio 37 thekar hätte vermutlich bemerkt, wenn jemand ohne Gesichtshaut hereingekommen wäre.« »Dann ein menschlicher Helfer.« Fetlock nickte. »Das muss es sein. Die Identität dieser Person ist zu diesem Zeitpunkt aber noch unbekannt. Als ich den Direktor über die Geschichte unterrichtete, die ich Ihnen jetzt erzählt habe, traf er eine schnelle Entscheidung. Wir können ein derartiges Sicherheitsleck nicht auf die leichte Schulter nehmen. Vielleicht sind Sie ja der Ansicht, dass der Diebstahl von Akten keine große Sache ist, aber es demonstriert etwas, das wesentlich mehr Besorgnis erregt. Es zeigt, dass er alle unsere Tricks kennt - und wie man sie umgeht. Jameson Arkeley hat konspiriert, um unbefugt an Eigentum des Service heranzukommen, zusätzlich zu anderen Verbrechen, die er möglicherweise auch begangen hat. Man betrachtet ihn jetzt als abtrünnigen Deputy des U.S. Marshals Service. Das bedeutet, dass er ganz oben auf unsere Major-Cases-Liste rückt - also unsere Version der Liste der Meistgesuchten vom FBI.« Caxton fragte sich, warum der Service Jameson wirklich so dringend erwischen wollte. Vielleicht war Fetlock bloß auf eine Beförderung aus und wollte die Lorbeeren dafür ernten, dass er ein schwebendes Verfahren zum Abschluss brachte. Vielleicht ging es auch einfach nur um schlechte PR. Schließlich würde ein Ex-Deputy, der zum Massenmörder wurde, den Service in ein sehr schlechtes Licht setzen. Aber vielleicht war sein Direktor auch einfach nur um die öffentliche Sicherheit besorgt. Wenn sie an ihre Erfahrungen mit Bundesbeamten dachte, bezweifelte sie das jedoch. Fetlock hob die geschlossene Faust und schüttelte den Anstecker wie ein Spieler seine Würfel vor dem Wurf. »Solange er noch niemanden verletzt hatte, haben wir seinen Namen von der Website heruntergehalten und nicht an die 37 Medien weitergegeben. Aber nach den Ereignissen dieser Nacht bezweifle ich, dass diese Option weiterbesteht. Wir sind entschlossen, ihn zu schnappen. Wir setzen jede unserer Ressourcen ein. Und wir wollen, dass Sie eine dieser Ressourcen sind.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe schon einen Job.« »Und Sie würden ihn behalten«, sagte er. »Das ist eine rein temporäre Ernennung zum Deputy. Sie gilt nur, bis Sie ihn erwischt haben. Dann machen Sie mit dem weiter, was Sie getan haben, bevor sie auf Vampirjagd gingen.« Wenn sie ehrlich war, war sie sich nicht einmal mehr sicher, was das war. Sie riskierte ihr Leben jetzt schon so lange, dass sie nie ausführlich darüber nachgedacht hatte, was sie tun würde, nachdem man die Vampire ausgerottet hatte. Vielleicht würde sie aus dem Dienst ausscheiden und als Hundetrainerin arbeiten. Das machte bestimmt Spaß. Aber noch nicht. Im Augenblick war sie ein Cop. »Was habe ich davon?«, fragte sie. Sie begriff es einfach nicht. Erwartete er denn von ihr, dass sie sich ohne Weiteres auf diese Chance stürzte? Er lehnte sich zurück und schien darüber nachzudenken, bevor er antwortete. »Es würde Ihnen eine Menge Türen öffnen. Zum einen könnten Sie einen Flüchtigen über Staatsgrenzen hinweg verfolgen. Sollte sich Jameson im Augenblick nach West Virginia bewegen, dürften Sie ihm - zumindest legal - nicht dorthin folgen.« Natürlich würde sie es trotzdem tun, ob es nun legal war oder nicht. Aber es könnte sich als nützlich erweisen, überall im Land über Polizeigewalt zu verfügen. Sie hatte oft darüber nachgedacht, was passieren würde, sollte der Vampir das Commonwealth von Pennsylvania verlassen. An seiner Stelle hätte sie das schon vor Monaten getan. »Sie hätten außerdem Zugang zu den Ressourcen unseres
38 Major Case Fugitive Program.« Er seufzte und stand auf. »Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen, das Sie möglicherweise bereits gesehen haben.« Er zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und zeigte auf den verbogenen Fensterrahmen. »Da.« Er wies auf einen winzigen Fetzen aus schwarzem Stoff, der in der Ecke klemmte. »Fasernbeweise. Vielleicht sind sie nützlich, vielleicht könnten sie Sie zu Jameson Arkeley fuhren.« »Vielleicht«, sagte sie. »Auch ich bin dort durchgestiegen. Es könnte von meiner Hose stammen. Wie dem auch sei, unsere Forensikeinheit ist bereits auf dem Weg. Sie machen ständig Haare und Fasern und DNS-Abgleiche. Bis jetzt habe ich noch nie erlebt, dass diese Art von Beweisen etwas gebracht hätten.« »Und warum sollten Sie auch? Ihre Einheit operiert in einer strikt beweismittelunterstützenden Rolle. Sie bauen den Fall auf, nachdem der Verdächtige in Haft ist. Wie lange brauchen sie für eine gründliche Untersuchung? Sechs Wochen?« »Ungefähr«, gab sie zu. »In sechs Wochen könnte es eine Menge Leichen geben. Meine Leute werden diese Fasern nehmen und sie mit jeder nationalen Datenbank abgleichen, damit sie Ihnen in vierundzwanzig Stunden Ergebnisse liefern können. Nur ein Anruf, und ich kann sie heute Mittag hier haben.« »Vampire haben keine Haare, und sie tragen auch nicht viel Kleidung. Falls sie überhaupt so etwas wie DNS haben, hat sie noch niemand gefunden.« Fetlock seufzte. »Also gut, aber was ist mit Arbeitskraft? Sie haben zwei Vollzeitkräfte in Ihrer SSU, Sie selbst eingeschlossen. Sie können es sich nicht leisten, noch jemanden einzustellen, also sind Sie auf Teilzeitfreiwillige angewiesen. Mit Bundesgeldern könnten Sie jeden einstellen, den Sie wollen, und zwar solange Ihre Untersuchung andauert.« 38
Das war verführerisch, sie musste es zugeben. »Wo ist der Haken?« Fröhlich zuckte er mit den Schultern. »Sie müssten den Richtlinien des Justizministeriums folgen. Der Papierkram ist schlimm. Aber Sie könnten jemanden einstellen, der die Formulare für Sie ausfüllt.« Er warf einen nachdenklichen Blick in die Dusche. »Und Sie würden für mich arbeiten.« »Aber ich würde die Untersuchung noch immer leiten«, sagte sie, weil das klar sein musste. Er lächelte. »Natürlich. Wie ich bereits sagte - Sie sind diejenige, die ihn zur Strecke bringt. Ich werde mich im Hintergrund halten und für Hilfe sorgen, wenn Sie sie brauchen. Ich bin nicht einmal ein Feldagent, nur ein Schreibtischtäter. Um ehrlich zu sein, ist so etwas nicht mein Ding.« »Ja«, sagte sie. »Bitte?« Sie hielt die Hand auf. »Ja, ich bin dabei. Alles, was mir hilft, ihn zu erwischen, ist okay. Und was muss ich tun? Einen Eid auf die Bibel leisten?« Er strahlte sie an. »Ich glaube, wir können uns die Formalitäten sparen. Das wird eine sehr profitable Beziehung, für uns beide.« Er reichte ihr den Stern und schüttelte ihr die Hand, dann verließen sie das Badezimmer und traten hinaus auf den Parkplatz. Die Sonne war eine orangefarbene Scheibe am Horizont, die von den schwarzen Asten toter Bäume in Stücke geschnitten wurde. Caxton kratzte sich am Kopf - ihr Haar fühlte sich fettig und dicht an - und ging auf ihr Auto zu. »Also gut, Fetlock. Schaffen Sie Ihre Faserexperten so schnell wie möglich her«, sagte sie, während sie den Marshalstern an das Jackenrevers steckte. »Wer weiß? Vielleicht finden sie ja was. Ich fahre zurück zum Hauptquartier, um meinen Commissioner zu informieren. Er sollte Bescheid wissen.«
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»Special Deputy?«, rief Fetlock, als sie die Wagentür aufriss. Zuerst begriff sie gar nicht, dass sie damit gemeint war. »Was?«, fragte sie dann. »Da ich jetzt Ihr Boss bin... könnten Sie mich da nicht als >Fetlock< ansprechen, sondern als >Deputy Marshal?« Caxton biss sich auf die Zunge, bevor sie sagen konnte, was sie davon hielt. Sie hatte nicht viel für den Marshals Service übrig. Zu lange war sie eine kleine Polizeibeamtin gewesen, um den Bundesagenten jemals wirklich vertrauen zu können. Aber wenn er bloß etwas Respekt verlangte, dazu konnte sie sich durchringen. »Natürlich«, sagte sie. »Bitte schaffen Sie Ihre Faserexperten so schnell wie möglich her, Deputy Marshal. Besser so?« »Für den Moment schon!«, erwiderte er. Aber da war sie schon eingestiegen und fuhr los. Auf ihrer Jacke fühlte sich der Silberstern seltsam an. Sie hatte noch nie zuvor ein Abzeichen getragen - State Trooper von Pennsylvania taten das nie. Ihr tadelloses Verhalten war Abzeichen genug; so hieß es sogar in ihrem Diensteid. Nun, sie würde sich wohl daran gewöhnen müssen. Es gab Millionen Dinge zu erledigen. Zuerst stand ein Nickerchen auf der Tagesordnung. Ihr Haus war zu weit entfernt, also fuhr sie zu der Kaserne der State Police auf der Cocoa Avenue in Hershey. Das war der nächste Ort, der ihr einfiel. Dort befand sich die Akademie - wo sie Dutzende von Kursen durchlaufen hatte -, und sie kannte den Ort gut genug, um sich dort sicher zu fühlen. Der Trooper, der in 39 der Frühschicht den Empfang besetzte, führte sie in einen Personalraum mit einer schmalen Pritsche und einem summenden Cola-Automaten. Es war nicht ungewöhnlich, dass Trooper kamen und das Bett benutzten. Troop T, die Mautstraßenpatrouille, arbeitete zu den unmöglichsten Zeiten und hatte ausgesprochen lange Schichten; man ermunterte sie, sich frisch zu halten und gelegentlich Ruhepausen einzulegen. Der Trooper stellte keine Fragen, als er eine Decke und ein Schaumstoffkissen für sie besorgte, obwohl er ihren neuen Stern unverhohlen anstarrte. Als sie sich weigerte, seinem Blick zu folgen, wünschte er ihr einen guten Schlaf und ließ sie allein. Sie schaltete das Licht aus, aber der Cola-Automat erfüllte den Raum mit einem unheilvollen roten Glühen. Sie ignorierte es und legte sich hin, das Kissen noch im Arm, und war eingeschlafen, bevor sie daran dachte, sich zuzudecken. Vier Stunden später riss sie die Augen auf - und war sofort wach. Mit protestierenden Knochen setzte sie sich auf; ihr Körper verlangte nach mehr Schlaf, aber ihr Verstand wusste es besser. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz nach Mittag war. Der halbe Tag war vorbei, und sie hatte nichts erreicht. Nun ja, sie war zu einem Fed ehrenhalber befördert worden, aber das fühlte sich nicht im Mindesten nach Wirklichkeit an. Noch nicht. Sie gab ihr Kissen und die sorgfältig zusammengefaltete Decke zurück und ging zu ihrem Wagen. Sie musste viele Leute über ihr neues Beschäftigungsverhältnis informieren einschließlich dem Commissioner der State Police und, was viel wichtiger war, Clara. Als sie in Richtung Harrisburg fuhr und dagegen ankämpfte, dauernd gähnen zu müssen, griff sie nach dem Handy, nur um sehen zu müssen, dass der Akku irgendwann während der Nacht den Geist aufgegeben hatte. Von der Sorge erfüllt, möglicherweise einen 39
wichtigen Anruf verpasst zu haben, steckte sie es in die Autoladestation. Sofort gab das Mobiltelefon einen Summton von sich. Sie hatte also neue Nachrichten: eine Textnachricht und mindestens eine neue Voicemail. Genau wie sie befürchtet hatte. Caxton las zuerst die SMS - und ließ das Handy fallen. Als sie es wieder aufhob und auf die Worte auf dem Display starrte, gefror ihr das Blut in den Adern.
Ergreifende Gedenkfeier, Laura, Zu Tränen war er gerührt.
Caxton biss einen Niednagel am Daumen ab. Die Nachricht trug keine Unterschrift. Unbekannte Nummer, sagte das Handy. Sie wusste genau, wer sie geschickt hatte. Justinia Malvern. Die uralte Vampirin konnte nicht sprechen, jedenfalls nicht bei ihrer letzten Begegnung. Sie war zu hinfällig, um sich im Sarg aufsetzen zu können. Ihre einzige Kommunikationsmöglichkeit waren kryptische Botschaften, die sie auf einer Computertastatur tippte. Offenbar hatte sie jetzt auch zu texten gelernt. Außerdem hatte es den Anschein, als hätte sie die Zeremonie an Jamesons leerem Grab verfolgt. Nein, dachte Caxton, das war unmöglich. Die Zeremonie hatte am Tag stattgefunden, als Malvern tot - für die Welt - in ihrem Sarg gelegen hatte. Was bedeutete, dass die Vampirin einen Halbtoten als Beobachter geschickt hatte. Während sie sich die ganze Zeit mit Jamesons Kindern herumgestritten hatte, musste ein untoter Freak in der Nähe gestanden und sie beobachtet haben. Sie fragte sich, wie lange Jameson und Malvern sie schon beobachteten. Die Vorstellung verschaffte ihr eine Gänsehaut. Nur um den Kopf klar zu bekommen, entschied sie, sich ihre Nachrichten anzuhören. Sie drückte die Kurzwahl für «40
die Voicemail, dann schaltete sie den Lautsprecher ein. »Sie haben sechs neue Nachrichten«, verkündete das Handy. »Die erste neue Nachricht.« »Trooper, hier ist Glauer. Ich wollte mich nur melden. Vermutlich fahre ich in einer oder zwei Stunden nach Hause, aber ich habe mein Handy dabei, wenn Sie mich brauchen.« »Nächste neue Nachricht.« »Hey, du Schöne! Ich bin's, die oft vernachlässigte aber noch immer wunderbare Clara. Ich bin gerade bei der Arbeit und kann eigentlich nicht reden. Der Sheriff und seine Jungs haben wieder ein Drogenlabor auffliegen lassen. Gott sei Dank gab es keinen Schusswechsel, alles lief glatt. Ich mache gerade Bilder von all diesen Tüten mit Heroin und Geldbündeln. Ich bring dir was Hübsches mit. Spaß! Eigentlich ruf ich an, weil ich dich vermisse, also so richtig, und ich werde hier um eins oder um zwei fertig sein und dachte, wir könnten zusammen mittagessen. So weiß ich wenigstens, dass du etwas isst. Ich vermisse dich. Hab ich das schon erwähnt? Das ist mein Ernst. Ruf mich an.« »Nächste neue Nachricht.« »Trooper, hier ist Glauer. Ich bin gerade zur Arbeit gekommen und habe gehört - nun, ich habe gehört, was passiert ist. Im HQ gibt es kein anderes Gesprächsthema. Ich war froh zu hören, dass Sie in Ordnung sind. Das mit Angus Arkeley tut mir leid. Das ist... ich schätze, dagegen haben wir uns die letzten beiden Monate gewappnet. Es ist komisch, ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Unter uns gesagt bin ich irgendwie erleichtert. Hören Sie, ich sitze hier ohne einen genauen Auftrag herum. Wenn Sie also nichts Bestimmtes für mich zu tun haben, mache ich mich an die Arbeit. Kenneth Rexroth hat mit der Polizei in Mechanicsburg gesprochen. Sie riefen gestern Abend an, er hat die beiden Morde so gut wie gestanden. Sie sagten, er hätte sich damit förmlich gebrüstet. Ich 80
will hinfahren und selbst mit ihm sprechen. Ich weiß, was Sie gesagt haben, dass er nur ein Möchtegernvampir und unsere Zeit nicht wert ist. Aber, Trooper, das ist ein
wirklich übler Typ. Es war gut von Ihnen, ihn von der Straße zu holen. Ich melde mich später. Sie können mich über Handy erreichen.« »Nächste neue Nachricht.« »Hier ist Clara. Wieder einmal. Bitte ruf mich an, sobald du kannst. Ich liebe dich.« »Nächste neue Nachricht.« »Trooper, hier ist noch einmal Glauer. Die Dinge haben eine seltsame, schlimme Wendung genommen. Ich bin etwa vor einer Stunde in Mechanicsburg angekommen. Ich habe die Cops gebeten, mit Rexroth sprechen zu dürfen. Man sagte mir, er schlafe er verschläft den ganzen Tag, weil er ja ein Vampir ist. Sie wollten ihn für mich wecken, aber ich kam zu dem Schluss, dass ich mehr aus ihm herausbekomme, wenn ich warte. Ich dachte schon, ich hätte die Fahrt umsonst gemacht, aber die Kollegen hier hatten Informationen für mich. Wie sich herausstellt, ist Kenneth Rexroth ein falscher Name, der Junge heißt in Wirklichkeit Dylan Carboy. Er ist neunzehn und lebt bei seinen Eltern oben in Northumberland County, in Mount Carmel. Lebt... lebte, sollte ich wohl besser sagen. Die Cops in Mount Carmel haben einen Wagen zu den Eltern geschickt, um mit der Familie Kontakt aufzunehmen, aber es kam niemand zur Tür. Sie brachen das Schloss auf und gingen rein. Sie fanden drei Leichen, alle im Stadium fortgeschrittener Verwesung. Die Opfer waren ... warten Sie einen Moment... Mark Carboy, der Vater, dreiundvierzig Jahre alt, Ellen Carboy, die Mutter, neununddreißig, und Jenny Carboy, die Schwester, siebzehn. Die Eltern sind mit Schüssen aus einer Schrotflinte getötet worden, das gleiche Kaliber wie bei der Schrotflinte, die Sie Dylan in dem Lagerhaus abgenommen haben. Die Schwester wurde 41
im Bett erdrosselt und hatte... mein Gott, sie hatte Bissspuren am Hals. Von menschlichen Zähnen, keine Vampirzähne. Ich glaube nicht, dass er sie vorher geweckt hat. Das glaube ich wirklich nicht. Ich will es auch nicht glauben. Sie haben in Dylans Zimmer eine Menge Zeugs gefunden. Notizbücher voller handschriftlicher Tagebucheinträge und Zeitungsausschnitte. Man hat das nach Mechanicsburg geschickt, wo ich es mir ansehen konnte. Ich habe die Kollegen hier gebeten, mir die Notizbücher ausleihen zu können, um sie Ihnen zu zeigen, und das ist in Ordnung, solange ich sie quittiere, für den Fall, dass sie sie für die Gerichtsverhandlung brauchen. Der Junge hatte so vieles, für das es sich zu leben lohnte, Trooper. Er ist einmal aktenkundig geworden, Besitz von Marihuana, aber der Richter hat die Anklage verworfen, unter der Voraussetzung, dass er wieder in die Schule geht. Er war auf dem Community College und wollte Koch werden. Sie müssen sich diese Notizbücher ansehen, Trooper. Ich finde, Sie sollten sie sehen. Dort steht überall Ihr Name. Ich fahre jetzt zurück nach Harrisburg. Ich habe mein Handy dabei, falls Sie mich brauchen.« »Nächste neue Nachricht.« »Laura, hier ist Clara. Ich habe gehört... ich habe... die Jungs hier reden andauernd darüber, sie reden über dich. Ruf mich einfach an. Bitte. Ich hab Angst. Ich habe Angst um dich, also ruf mich einfach an, ja? Ruf mich an, verdammt.« »Ende der neuen Nachrichten. Sie haben fünfundvierzig gespeicherte Nachrichten.« Caxton ließ das Telefon zuschnappen. Überlegte, wen sie zuerst anrufen sollte. Glauer sollte den Fall Rexroth nicht bearbeiten. Es war nicht einmal ein Fall! Jameson Arkeley zu finden und zu töten, das war das Einzige, was hier zählte. Sie wählte seine Nummer, landete aber sofort bei der Voicemail. Typisch. In den zwei Monaten, in denen sie eigentlich nicht 41
viel hatten tun können, war er immer an ihrer Seite gewesen, hatte immer auf seine nächste Anweisung gewartet. Und jetzt, wo sie eine Anweisung hatte, war er außer Handyreichweite.
»Officer Glauer, hier ist Caxton. Ich will, dass Sie mit der Herumspielerei aufhören. Sie haben gehört, was letzte Nacht passiert ist. Nun, Sie haben recht, darauf haben wir gewartet und uns vorbereitet. Und es passiert jetzt. Ich habe keinen Zweifel, dass Arkeley wieder töten will, und wir müssen ihn erwischen, bevor das passiert. Wenn Sie das hier also abhören, fangen Sie an, eine Maßnahmenliste zu erstellen, die wir an jeden in der SSU schicken können.« Sie warf einen Blick auf den Stern an ihrer Jacke. »Es wird ein paar Veränderungen in unserer Arbeitsweise geben, aber das erkläre ich Ihnen, wenn wir uns sehen. Konzentrieren Sie sich, Glauer. Lassen Sie mich nicht hängen.« Sie ließ das Handy zuschnappen. Holte tief Luft. Der nächste Anruf erforderte Ruhe und Gelassenheit. Sie scrollte bis zu Claras Nummer und wählte. Sie erwischte Claras Voicemail. Der Anschluss klingelte nicht einmal vorher. »Hi, Baby. Ich hab deine Nachrichten gehört. Hör zu, mir geht es gut. Nichts passiert.« Er wollte mir nicht einmal etwas tun, wollte sie sagen, hielt dann aber inne. Clara war keine Idiotin. Sie wusste, dass wenn ein Vampir einen nicht in der einen Nacht tötete, das lediglich bedeutete, dass er einen für das nächste Mal aufsparte, wenn er wieder Hunger hatte. »Lass uns zusammen essen, okay? Komm nach Harrisburg, ins HQ, wann immer du Zeit hast. Dann essen wir was und ich erzähl dir alles ganz genau. Ich vermisse dich auch.« Sie beendete den Anruf - und wollte sofort noch einmal anrufen, um zu sagen, dass sie Clara liebte, dass sie nichts lieber wollte als nach Hause zu fahren und mit ihr zusammen zu sein, in aller Abgeschiedenheit und Ruhe, ohne zu reden oder 42
an etwas denken zu müssen, einander eine Weile nur im Arm zu halten, ohne etwas tun zu müssen, ohne dass sie irgendwo hin musste. Sie sollte noch einmal anrufen, dachte sie. Wirklich. Sie griff sogar wieder nach dem Handy. Dann summte es. In der Annahme, dass es sich um Glauer oder Clara handelte, die zurückriefen, reagierte sie sofort. »Trooper Caxton.« »Guten Tag, Officer«, sagte eine Frauenstimme. Caxton erkannte die Stimme nicht. »Ich bin kein Officer. Ich bin State Trooper.« Sie dachte an ihren neuen Stern. »Seit heute bin ich außerdem Special Deputy des U.S. Marshals Service.« »Tatsächlich? Wie schön für Sie. Das ist ja der gleiche Rang, den Jameson hatte.« Caxton erschauderte, als sie den Namen des Vampirs hörte. »Wer ist denn da?«, knurrte sie, brachte sich aber wieder sofort unter Kontrolle. »Es tut mir leid. Darf ich fragen, wer mich da anruft?« »Natürlich. Hier spricht Astarte Arkeley. Die Witwe. Ich glaube, Sie wollten mich erreichen.« Ja, das wollte ich«, sagte Caxton. »Vielen Dank für Ihren Rückruf. Darf ich Sie fragen, wer Ihnen meine Nummer gegeben hat?« Offenbar hatte mittlerweile jeder ihre Telefonnummer - selbst Malvern. »Das dürfen Sie«, erwiderte Astarte. »Das war mein Sohn Simon. Er drängte sehr beharrlich darauf hin, dass ich Sie kontaktiere. Er schien der Überzeugung zu sein, ich könnte 42
an Ihre Gnade appellieren und Sie davon überzeugen, Ihre verzweifelte Jagd auf den Vampir einzustellen. Ich habe ihm aber gesagt, dass ich das auf keinen Fall tun werde.« Caxton fuhr an den Straßenrand und parkte. Das hier war wichtig - sie musste sich auf das Gespräch konzentrieren. »Da bin ich eigentlich erleichtert, das zu hören. Ich muss Ihnen etwas sagen, Mrs. Arkeley. Es ist vielleicht beunruhigend.« »Da bin ich ja froh, dass ich sitze. Bitte erzählen Sie.«
Caxton rieb sich die Stirn. »Jameson hat vergangene Nacht seinen Bruder ermordet. Er hat Angus getötet. Ich war dabei.« »Wie traurig. Ich vermute, der Vampir wird auch versucht haben, Sie zu töten. So sind sie natürlich.« »Eigentlich...« Caxton hielt inne. Sie wusste so gut wie nichts über Astarte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie weit sie ihr vertrauen konnte. Darum entschied sie sich, das Risiko vollkommener Offenheit einzugehen. »Eigentlich hat er das nicht getan. Eher habe ich versucht, ihn zu töten.« »Was im Grunde ja Ihr Auftrag ist.« »Ja. Ja, das ist es. Ich habe versucht, ihn zu töten, aber ich habe es nicht geschafft. Er war stärker als erwartet. Stärker als jeder Vampir, der mir bisher begegnet ist. Er hätte mich mühelos töten können, selbst mit seiner... beschädigten Hand, aber er tat es nicht. Er behauptete, er würde mir etwas schulden. Sie wissen nicht zufällig, was er damit meinen könnte, oder?« »Keine Ahnung.« »Okay. Also gut. Hören Sie, ich würde mich wirklich gern mit Ihnen treffen. Falls möglich noch heute. Ich möchte Ihnen in aller Ruhe ein paar Fragen über Jameson und den Augenblick stellen, an dem Sie ihn das letzte Mal gesehen haben. Wäre das machbar?« »Ich glaube nicht«, sagte Astarte. 9{
»Das ist aber sehr wichtig, Ma'am. Zwei Männer wurden bereits getötet, und andere werden sicherlich folgen. Ich würde Sie nicht darum bitten, vor allem nicht in Ihrer Zeit der Trauer, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass es helfen könnte, Menschen in Sicherheit zu bringen.« »Aber natürlich würden Sie das nicht. Doch ich muss sagen, dass ich kein Interesse dafür aufbringen kann, noch länger mit Ihnen zu sprechen. Ich habe mich bei Ihnen nur aus reiner Höflichkeit gemeldet.« »Ihr Mann tötet Menschen«, sagte Caxton. Sie bemühte sich, nicht zu brüllen. »Erlauben Sie mir, Sie zu korrigieren, was diesen Irrtum betrifft. Ich bezweifle sehr, dass man Sie in die geheime Doktrin der Theosophie eingeführt hat, also will ich versuchen, Ihnen zu erklären, was ich meine. Die mörderische Kreatur, die Sie da gerade versuchen zu stellen, ist keineswegs mein Ehemann. Als sich mein Ehemann das Leben genommen hat, hat er aufgehört, auf dieser Ebene zu existieren. Seine Seele ist verloren gegangen. Als Resultat wird er sich mit Sicherheit auf seinem Pfad zurückentwickeln und als Insekt reinkarniert werden oder, wenn er Glück hat, als irgendeine Art Pflanze. Das ist eine Schande, denn ich hatte gehofft, wir beide würden uns zusammen weiterentwickeln, aber das ist nun unmöglich. Sein Körper mag sich ja noch bewegen, aber das ist nicht mehr Jameson, es ist auch kein Teil des Wesens mehr, das einst Jameson genannt wurde. Haben Sie das begriffen?« Caxton hieb aufs Lenkrad. »Nein!« »Das habe ich befürchtet. Mit der Zeit lernen Sie aber vielleicht noch, den Blick nach innen zu richten. Ich fürchte allerdings, jetzt muss ich gehen. Da wir niemals wieder miteinander sprechen werden, möchte ich Ihnen danken.« »Mir danken? Wofür?« »Dass Sie das letzte Jahr von Jamesons Leben erträglicher 43
gemacht haben. Das körperliche Vergnügen, das Sie ihm bereiteten, muss eine Art Trost gewesen sein. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass Sie ebenfalls etwas von ihren Vereinigungen hatten. Er war ein erfahrener und leidenschaftlicher Liebhaber, wenn ich mich richtig erinnere.«
Caxton schlug die Hand vor den Mund, um ein Auflachen zu unterdrücken. »Sie glauben, ich hätte mit ihm geschlafen? Ach, ich bitte Sie.« »Es ist eine uralte Geschichte, Officer. Ein Mann und eine Frau zusammen in einer gefährlichen Situation werden voneinander angezogen, und zwar so unweigerlich, als wären sie Magneten. Es ist wirklich unnötig, so zu tun, als habe es sich anders abgespielt, meine Liebe. Ehrlich, ich vergebe ihnen beiden. Einen schönen Tag.« Die Leitung klickte, ein altmodisches Geräusch, als würde ein antiker Hörer auf die Gabel gelegt. »Magneten! Ja, ist klar, bloß dass der eine Magnet eine gottverdammte Lesbe ist«, brüllte Caxton ins Handy, als könnte Astarte sie noch immer hören. Sie hieb auf das Lenkrad ein, immer wieder, und als sie mit ihrem Wutausbruch fertig war, fuhr sie zurück auf die Straße. Astarte würde nicht mit ihr reden. Würde ihr nicht helfen. Nun, wenigstens würden Clara und sie etwas haben, über das sie beim Essen lachen konnten. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie das letzte Mal über etwas gelacht hatten. Sie eilte zurück nach Harrisburg zum Hauptquartier der PSP und parkte auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude. Ein paar Trooper aßen an den Picknicktischen neben dem Hintereingang - Männer mit kurz geschorenen Köpfen, die die vorgeschriebenen Uniformjacken mit den Kragen aus Schafswolle trugen und ihre Smokey-Bear-Hüte neben sich auf den Bänken abgelegt hatten. Sie aßen große Sandwichs mit Schinken und Provolone. Caxton lief das Wasser im Mund 44
zusammen, als sie sie sah. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und auch wenn ihr Morgennickerchen ihr Zeitgefühl durcheinander gebracht hatte, konnte es ihren Magen doch nicht davon überzeugen, dass sie keinen Hunger hatte. »Trooper«, sagte einer der Männer, als sie sie sahen. Er stand auf, auch wenn er nicht salutierte. »Wir haben das von gestern Abend gehört, und wir wollten nur...« »Mir geht es gut, danke«, sagte Caxton, ohne den Schritt groß zu verlangsamen. Sie stieß die Schwingtür auf und trat in eine Woge erhitzter Luft. Ihr war vorher gar nicht bewusst geworden, wie kalt es draußen doch war. Ihre Hände fühlten sich plötzlich wie eisige, knochige Klauen an, also rieb sie sie, bis sie zu schmerzen anfingen. Unten im Kellergeschoss organisierte Glauer die Bibliothek des Konferenzraums vermutlich suchte er verzweifelt eine Beschäftigung. Sie winkte ihm zu, dann ging sie weiter in ihr eigenes Büro am Ende des Korridors. Es war ein enger kleiner Raum, die Betonblockwände in grellem Weiß gestrichen, aber die Farbe blätterte an einigen Stellen ab und enthüllte den blassen beigen Untergrund. Er hatte die gleiche Farbe und Textur wie Rice Cracker. Dick isolierte Rohre hingen unter der Decke und führten weiter an einer Wand herunter. Seit der Herbst zum Winter geworden war, tropften sie manchmal auf ihren Schreibtisch und, was viel alarmierender war, auch auf ihren Computermonitor. Der einzige Wandschmuck bestand aus dem Zertifikat, das sie bei dem Abschluss an der Akademie bekommen hatte und das sie offiziell zum State Trooper erklärte. Vielleicht hätten ihr die Feds für den Aufstieg zum Special Deputy ebenfalls eins geben sollen, dachte sie. Sie hatte sich gerade an den Schreibtisch gesetzt und sah ihre E-Mails durch, als es an der Tür klopfte. Sie starrte auf den Bildschirm und war in eine sehr lange E-Mail vom U.S. 44
Marshals Service vertieft, die genau erklärte, welche Art Krankenversicherung ihr nun zustand. »Kommen Sie rein, Glauer.«
Die Hände, die ihre Schultern von hinten ergriffen, waren jedoch weiblich, mit kleinen dünnen Fingern. Sie gruben sich in ihre Muskeln und bearbeiteten die Knoten in ihrem Nacken. Caxton ließ den Kopf nach vorn sacken und versuchte, die Massage zu genießen. »Du bist fantastisch«, sagte sie. »Noch nie hat sich etwas so gut angefühlt.« Clara lachte, dann ergriff sie ihr Kinn und hob ihren Kopf für einen tiefen, leidenschaftlichen Kuss. »Lade mich öfter zum Essen ein, und vielleicht fühlst du bald etwas noch viel Besseres.« Das Gesicht der kleineren Frau verdunkelte sich. »Würdest du mich jeden Tag zu einer bestimmten Zeit anrufen, nur um mich wissen zu lassen, dass es dir gut geht...« »... dann würdest du dir nur noch mehr Sorgen machen als jetzt, sollte ich mich mal verspäten«, erwiderte Laura und zog ihre Partnerin zu sich auf den Schoß. Sie runzelte die Stirn. »Es war ganz schön schlimm. Vermutlich hast du die blutigen Einzelheiten alle schon gehört. Aber ich weiß, was ich tue.« »Was ist das?«, wollte Clara wissen. Laura schaute nach unten und sah, wie sie mit dem Daumen über das Abzeichen auf ihrem Revers strich. »Ich bin jetzt Special Deputy«, sagte sie. »Ich arbeite für den Marshals Service. Offenbar macht mich das zu einem Ehrencowgirl.« »Ein Special Deputy. Genau wie er.« Laura schüttelte den Kopf. »Das ist bloß eine Formalität, ehrlich. Es verleiht mir bundesweite Zuständigkeit, und anscheinend kann ich das Geld der Steuerzahler für die Untersuchung ausgeben. Es ist ein Werkzeug und soll mir dabei helfen, diesen Job zu erledigen.« »Zuerst bringt er dich in Gefahr. Er hat dich zu seinem 45
Vampirköder gemacht. Dann hat er dich zu einem echten Vampirkiller gemacht. Jetzt verwandelst du dich richtig in ihn. Vielleicht endest du auch genauso wie er. Dazu bereit, alles zu tun, nur um den Kampf fortzusetzen. Dazu bereit, schreckliche Dinge zu tun.« »Nein, nein, nein.« Laura umarmte Clara fest, vergrub das Gesicht am Hals ihrer Freundin. »So ist das nicht.« Aber natürlich war es das doch. Jeden Tag musste sie mehr zu Jameson werden. Ihr blieb gar keine andere Wahl - die Alternative bestand darin, sich auf irgendeine idiotische Weise umbringen zu lassen oder - was noch viel schlimmer war - die Vampire entkommen zu lassen. »Lass uns einfach zum Mittagessen gehen. Es ist schon zwei Uhr.« Clara entzog sich ihr und stand auf. Sie lehnte sich an den Türrahmen und sah Laura nicht einmal an. »Wo willst du hin? Wie wäre es mit dem Griechen?« Laura biss sich auf die Unterlippe. Sie begriff die Botschaft, die Clara schickte - diese Unterhaltung war vorbei. Beim Essen würden sie über alles Mögliche reden, nur nicht über ihre eigentlichen Probleme. Aber sie konnte dieses Spiel auch spielen. »Der ist so teuer.« »So oft, wie du mich zum Essen ausführst, können wir uns das leisten.« Laura stand auf und fing an, ihr zum Teil tödliches Waffenarsenal in einem abschließbaren Schrank neben ihrem Schreibtisch zu verstauen - ihre Handfeuerwaffe, ihr Pfefferspray, ihren ASP-Teleskopschlagstock. Fürs Essen brauchte sie nur die Brieftasche und das Handy. »Tatsächlich habe ich darüber nachgedacht«, sagte sie. »Wie wir fast jeden Tag zusammen essen könnten.« Sie folgte Clara in den Korridor. Clara drehte sich um und warf ihr einen misstrauischen Blick zu, gemischt mit dem Anflug eines Lächelns. »Wirklich?« 45
»Ja«, sagte Laura, aber da kam Glauer in den Korridor gestürmt. »Das müssen Sie sehen«, verkündete er und drückte ihr eine schwere Plastiktüte so energisch in die Hände, dass er sie beinahe zurückschubste. Die Tüte enthielt drei Notizbücher mit Spiralheftung, von denen das oberste einen getrockneten Blutfleck aufwies. ein Gott, Glauer. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, die Sache fallen zu lassen?« Caxton hatte sich geduldig gezeigt, die Tüte in den Konferenzraum gebracht und ihren Inhalt auf einem Tisch ausgekippt. Eines der Notizbücher fiel in ihren Händen auseinander und verwandelte sich in einen Haufen Papier. Das blutbefleckte ließ sich nur mühsam aufschlagen - das Blut war durch die Seiten gedrungen, und sie sträubten sich bei jedem Umschlagen, wölbten sich, platzten auseinander und bestäubten ihr Hosenbein mit einem funkelnden braunen Pulver. Sie legte dieses Notizbuch schnell zur Seite und nahm sich das, das sich von allen im besten Zustand befand. Rexroth - oder Carboy, so lautete ja sein richtiger Name - hatte den Umschlag mit der primitiven Zeichnung eines Halloweenkürbis mit spitzen Reißzähnen verziert, die denen eines Vampirs glichen. »Ich schätze, das ist die Halloween-Ausgabe«, sagte Caxton und schlug es auf. Auf der nächsten Seite standen nur sechs Wörter, aber die waren in riesigen Buchstaben geschrieben, man hatte viel Aufwand für sie betrieben. Sie waren mit Kugelschreiber geschrieben, und Carboy hatte so hart aufgedrückt, dass er an manchen Stellen das Papier zerrissen hatte. Die Botschaft selbst war simpel: 46
Caxton grunzte. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Also blätterte sie um. Die nächste Seite erwies sich als eine Art Tagebucheintrag, der in einer nur schwer zu entziffernden engen, schiefen Handschrift geschrieben war. Die Ecken waren mit unbeholfenen Zeichnungen von Vampiren verziert. Einem von ihnen ragte ein säuglingsgroßes Bein aus dem Rachen. Sie überflog den Text und fand schnell ihren Namen, der mehrere Male wiederholt wurde, meistens im Mittelpunkt einer weitschweifigen Drohung. »Laura Caxton wird... wird...«, las sie laut vor. »Was soll das heißen? Oh, ich werde bezahlen. Außerdem werde ich bluten - das wird dreimal wiederholt -, und dann wird er mit seinen Lieblingsstiefeln in meinem Blut tanzen. Er wird mich in kleine Stücke hacken, und wenn zu Halloween die Kinder kommen, wird er ihnen statt Süßigkeiten Stücke von mir geben. Offenbar verdiene ich das wegen der Dinge, die ich Kevin Scapegrace angetan habe. Interessant.« »Der Name sagt Ihnen doch was?«, fragte Glauer. »Scapegrace?« »Ja, natürlich. Vampir im Teenageralter.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ging genauso schnell zu Boden wie der Rest von ihnen.« Ihre Prahlerei konnte dennoch nicht ganz verhindern, dass sie die Schultern nach vorn krümmte und die Arme vor der Brust verschränkte. Scapegrace hatte sie gefangen genommen und gefoltert, bevor er starb. Sie wollte nicht daran denken. »Ich finde, Sie sollten auch den Rest lesen«, beharrte Glauer. »Ich hatte zwar selbst noch nicht die Gelegenheit, alles zu lesen, aber...« »Nein«, sagte sie. 46
»Was? Bereitet Ihnen das keine Sorgen?«, fragte er und blätterte zu der Zeichnung eines State Trooper um. Die Beamtin baumelte an einer Schlinge, den Smokey-BearHut noch immer auf dem Kopf, obwohl ihr Gesicht blau war und die Zunge aus dem Mund ragte. »Das stört Sie nicht?« »Es würde mich wesentlich mehr stören, säße Carboy nicht schon in Haft«, gab sie zu. »Aber das tut er. Also was soll's? Nach dem hier zu urteilen sollte ich zu Halloween sterben, und das war vor über einem Monat. Selbst nach seinem eigenen Zeitplan kam er also zu spät.« Sie ergriff den Arm des Cops. »Hören Sie. Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen. Aber Dylan Carboy war bloß ein einsamer Junge, der nichts Besseres zu tun
hatte, als Drohungen in ein Tagebuch zu schreiben und sich für einen Vampir zu halten. Vermutlich hat er meinen Namen aus der Zeitung gefischt, und dann hat er sich einfach darauf fixiert. Es ist wirklich traurig, dass ihn niemand aufgehalten hat, bevor es zu spät war, aber jetzt geht er ins Gefängnis, vermutlich für den Rest seines Lebens, und ich bin sicher.« Sie schlug das Notizbuch zu. »Also packen Sie alles wieder zusammen und bringen es zurück nach Mechanicsburg.« Glauer schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wäre ein Fehler. Hier ist etwas. Ich fühle es. Lassen Sie mich noch einen Blick darauf werfen.« Caxton verdrehte die Augen. »Also schön. Aber Sie haben nicht viel Zeit, die Sie dafür verschwenden können. Nach der letzten Nacht wird es viel zu tun geben, und zwar sehr bald. Am besten, Sie begleiten uns zum Essen - es gibt viel zu besprechen.« Clara hatte vor dem Konferenzraum gewartet. Sie sah etwas verwirrt aus, als sie hörte, dass sich Glauer ihnen anschließen würde, behauptete aber, nichts dagegen zu haben. Sie und der hünenhafte Cop waren immer gut miteinander ausgekommen, auch wenn sie sich nur selten begegneten. Caxton und Glauer nahmen den Mazda - Clara war in ihrem eigenen Wagen gekommen - und fuhren zu dem griechischen Restaurant, das nur wenige Minuten entfernt war. Bei gefüllten Weinblättern und Feta erzählte ihnen Caxton von Fetlock und ihrer Schlachtfeldbeförderung. »Das können sie einfach so machen? Den Zauberstab schwingen und, zack, man ist ein Fed?«, fragte Glauer. »Ich dachte immer, man müsste erst alle möglichen Tests machen und ihre Akademie besuchen.« Bei der Gründung der SSU hatte Caxton versucht, Glauer zum State Trooper ernennen zu lassen, aber man hatte ihr gesagt, dass das nicht so ohne Weiteres ginge. Technisch gesehen stand er noch immer auf der Gehaltsliste des Gettysburg Borough Police Department, obwohl die Pennsylvania State Police Gettysburg für sein Gehalt entschädigte und er schon seit Wochen nicht mehr mit seinem Polizeichef gesprochen hatte. »Anscheinend läuft das bei den Marshals anders. Das ist so, als würde ein Sheriff in die Stadt reiten und die örtlichen Revolverschwinger zu seinen Deputys machen, damit sie die schwarzen Hüte abnehmen. Es ist auch zeitlich begrenzt. Für den Augenblick macht es mich jedoch zur nationalen Ansprechperson für alle Vampirfälle, und es verleiht mir Polizeibefugnisse, die ich niemals gedacht hätte zu bekommen.« »Okay«, sagte Glauer. »Aber was bedeutet das für uns?« »Nun, eins nach dem anderen. Wir bekommen beide eine saftige Gehaltserhöhung.« Das ließ sie alle lächeln. »Außerdem kann ich Sie endlich offiziell einstellen.« Sie griff über den Tisch und schüttelte seine Hand. »Willkommen an Bord. Fetlock sagte mir, ich könnte einstellen, wen ich wolle, einschließlich jemanden für den Papierkram.« »Das wird eine Erleichterung sein.« Glauer lachte. Er griff nach seinem großen Glas Diätcola und trank durstig. »Vermutlich wollen Sie noch mehr Leute dazu holen, oder? Ich IOO
kann ein paar Männer empfehlen, die wir an unserer Seite haben sollten. Johnson, aus Erie - auf der High School war er Linebacker, das ist ein knallharter Teufelskerl.« Glauer verlagerte seine beträchtliche Masse auf dem Stuhl - er passte kaum drauf. »Dann wäre da Eddie Davis von Troop K. Ich kenne keinen, der so Auto fahren kann, er könnte unser Transportspezialist sein...« »Ehrlich gesagt gefällt es mir, die meisten unserer Leute nur auf Abruf zu haben«, gestand Caxton. »Ich will ein Team, dessen Kern aus wenigen Leuten besteht. Ich dachte da an uns drei. Sie, ich und sie.« Sie fasste nach Claras Handgelenk. Clara war gerade damit beschäftigt gewesen, eine Papierserviette zu einem Haufen winziger Fetzen zu zerreißen. »Schwachsinn«, sagte sie.
Caxton runzelte die Stirn. »Was?« Clara sah Glauer hilfesuchend an. »Du erzählst Schwachsinn. Was denn? Ich? Ich gehöre nicht zu deinem Team.« »Aber ich möchte das«, sagte Caxton. »Um was zu tun? Soll ich jedes Mal schreien, wenn ich einen Vampir sehe, damit du weißt, dass er in der Nähe ist? Vielleicht kann ich sie ja auch mit dem Blitzlicht meiner Kamera verwirren. Denn das ist meine Arbeit, Laura. Ich mache Bilder von Tatorten und Leichen und ekelhaftem Zeug. Ich bin sehr gut darin, aber ich glaube nicht, dass du in deinem Kernteam eine Fotografin brauchst.« »Du könntest meine Forensikexpertin sein. Wie bei CSI: Miami«, sagte Caxton. »Du könntest Haare und Fasern und DNS untersuchen.« Die Idee war ihr gekommen, als Fetlock sein Forensikteam zur Sprache gebracht hatte. Clara lachte bloß. »Was? Dir ist aber schon klar, dass die genau dafür vorher zur Schule gehen? Das sind Wissenschaftler. Ihre Ausbildung dauert Jahre, und sie lesen wissenschaftliche Zeitschriften und fahren zu Konferenzen, um mit anderen Eierköpfen darüber zu diskutieren, wie viele Beine eine bestimmte Art Küchenschabe hat. Ich habe auf Slippery Rock als Fach Kunstfotografie belegt, und ich benutze nicht mal alles, was ich gelernt habe.« Caxton schüttelte den Kopf. »Ich erwarte ja gar nicht, dass du dir alles aneignest, indem du ein paar Webseiten über Forensik liest. Aber du könntest die Leute vom Marshals Service koordinieren. Du kannst sie anleiten - du weißt viel mehr über Vampire als sie und kannst ihnen sagen, wonach sie Ausschau halten sollen, oder wie sie ihre Funde interpretieren müssen.« »Dafür sind so viele Leute besser qualifiziert als ich«, protestierte Clara. »Warum willst du ausgerechnet mich dafür haben?« »Du hast gesagt, dass wir nicht genug Zeit zusammen verbringen«, gab Caxton zu. »Du hast gesagt, ich arbeite zu viel, und wir sehen uns kaum noch zu Hause. Nun, so wären wir beide immer zur selben Zeit bei der Arbeit. Dann sehen wir uns ständig.« Clara schüttelte ungläubig den Kopf. »Nun?«, fragte Caxton. »Bekomme ich eine Antwort?« »Nein!«, sagte Clara. »Jedenfalls nicht sofort.« Sie verspeisten eine ordentliche Moussaka, ohne sich noch viel zu unterhalten. Clara entschuldigte sich, bevor ihre Baklava eintraf, weil sie zurück zur Arbeit musste. »Das gilt auch für uns«, sagte Caxton zu Glauer. »Kommen Sie. Wir können den Nachtisch auch mitnehmen.« Auf dem Rückweg zum HQ zählte Caxton die Dinge auf, I48
die zu tun waren. »Irgendwie müssen wir diesen Halbtoten vom Motel identifizieren. Es gibt nicht viel, was man da zum Arbeiten benutzen kann, aber vielleicht können wir ihn mit der Vermisstenkartei abgleichen. Wer weiß, vielleicht rinden wir ja jemanden. Dann gibt es da hinter dem Motel ein Feld. Ich habe es schon absuchen lassen, aber vielleicht haben wir im Dunkeln etwas übersehen. Besorgen Sie ein paar Leute, die sich dort umsehen sollen. Oh, und rufen Sie Raleigh Arkeley an und machen einen neuen Termin. Dann kontaktieren Sie die Feds und sehen nach, ob sie eine Akte über Angus Arkeley haben - er hat behauptet, vor langer Zeit Arger mit dem Gesetz gehabt zu haben. Er hat zwar nicht klar gesagt, ob er tatsächlich angeklagt oder verurteilt wurde, aber es könnte ja Akten geben. Außerdem habe ich eine Wache für seine Leiche abgestellt, aber die muss abgelöst werden, also finden Sie jemanden, der zur Leichenhalle gehen und sich darum kümmern kann. Ich versuche Kontakt mit seiner Familie aufzunehmen und die Erlaubnis zu bekommen, ihn sofort nach der Autopsie verbrennen zu lassen.« Es war Standardpraxis, die Überreste von Vampiropfern
einzuäschern. Sonst konnte der Vampir sie als Halbtote auferstehen lassen, wann immer er sie brauchte. Als sie das Hauptquartier erreichten, war es bereits vier Uhr. Die Sonne ging gerade unter; rosafarbene Wolken trieben am Himmel entlang. Caxton stieg aus dem Wagen und studierte den Horizont, als gäbe es dort einen Hinweis. Die Nacht brach herein, was bedeutete, dass Jameson Arkeley bald wieder aktiv sein würde. Bis jetzt hatte er mindestens zweimal getötet. Sie fragte sich, ob er in dieser Nacht wieder töten würde. Alle Vampire fingen als Menschen an, als individuelle Persönlichkeiten mit eigenen Moralvorstellungen. Am Ende waren sie aber alle gleich. Wie lange hatte Jameson durchgehalten, bevor er sein erstes Opfer tötete? Vermutlich länger als die meisten. Er hatte dagegen angekämpft, davon war sie überzeugt, mit jeder Faser seines Wesens. Er musste Nächte zusammengekrümmt in seinem Versteck verbracht haben, von dem verzweifelten Verlangen heimgesucht, nach draußen zu gehen, immer mit dem Wissen, wozu ihn das werden ließ. Andererseits... vielleicht hatte er auch schnell nachgegeben. Vielleicht hatte er gewusst, dass es unausweichlich sein würde und entschieden, dass es sich nicht lohnte, sich selbst so zu quälen, bloß damit ein paar Menschen noch einen Tag länger leben konnten. Vampire sahen den Tod - den Tod von Menschen - aus einem sehr anderen Blickwinkel. Für Vampire stellten Menschen einfach nur Jagdbeute dar. Eine Viehherde, die man nach Bedarf ausdünnte. Angus hatte Gelegenheit erhalten, zu einem der Raubtiere zu werden. Als er das Geschenk jedoch abgelehnt hatte, musste Jameson den Tod für das Nächstbeste gehalten haben - immerhin für seinen Bruder. Plötzlich zitterte sie unkontrolliert. »Alles okay, Caxton?«, fragte Glauer. Sie blinzelte und blickte vom Sonnenuntergang weg. Hinter ihren geschlossenen Lidern glühten Nachbilder wie Phosphor. »Mir geht es gut. Lassen Sie uns reingehen.« Unten im Keller fuhr sie ihren Computer hoch und fing an, ihren Bericht über die Ereignisse der vergangenen Nacht zusammenzustellen. Als sie mit Arkeley zusammengearbeitet hatte, als sie Malverns Brut vernichtet hatten, als sie später Gettysburg während des Massakers verteidigt hatte, da hatte sie nur selten an den Papierkram gedacht. Vielleicht hatte Jameson ja in jeder Nacht Berichte geschrieben, aber sie war hauptsächlich mit dem Überleben beschäftigt gewesen. Als Leiterin der SSU konnte sie sich nicht mehr davor drücken. Der Commissioner der State Police verlangte, ständig über 49 ihre Untersuchung auf dem Laufenden gehalten zu werden; jedes Mal, wenn sie eine Waffe abfeuerte, mussten auch Formulare ausgefüllt werden. Jedes Mal, wenn sie eine Leiche fand, musste sie den Untersuchungsbericht für nicht-verkehrsbezogene Todesfälle ausfüllen, ein bedeutend komplizierteres Formular als die Verkehrstotenberichte, die sie als Beamtin der Highway Patrol abgegeben hatte. Sie brauchte jeden Tag Stunden, um alle erforderlichen offiziellen Akten zu tippen, und noch mehr Zeit für die Erstellung der Dateien für die SSU-Datenbank. Sie hatte sogar auf der Akademie in Hershey einen Kurs im Zehnfingersystem besucht, nur damit es schneller ging. Trotzdem verschlang der bürokratische Unsinn zu viel von ihrem Arbeitstag. Irgendwann schaute Glauer rein und erstattete Bericht. »Wissen Sie, was das für ein merkwürdiges Haus ist, in dem Raleigh Arkeley da wohnt?«, fragte er dann. »Nein, warum?« »Das muss eine Art Krankenhaus oder Durchgangsheim für Frauen sein. Man sagte mir, Männer hätten dort keinen Zutritt.«
Caxton zuckte nur mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf den Schreibkram. Um fünf Uhr, als Leute mit normalen Jobs ihr Tagwerk beendeten (zumindest glaubte sie das, da sie nie einen normalen Job gehabt hatte), lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und rieb sich den Nasenrücken. Sie fing gerade erst an. Als Fetlock hinter ihr eintrat und sich räusperte, zuckte sie zusammen und stieß sich die Knie an der Tischunterseite. »Deputy Marshal.« Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig daran erinnert, wie sie ihn ansprechen sollte. »Ich habe gerade den Bericht geschrieben.« Er nickte und lehnte sich an die Tischkante. »Ich möchte natürlich eine Kopie haben. Schicken Sie sie mir an meine io50 Mailadresse.« Er steckte eine Visitenkarte zwischen zwei Tastenreihen ihrer Tastatur. »Schicken Sie mir von jetzt an jedes Dokument, das Sie erstellen. Nur damit der Marshals Service Unterlagen hat.« »Ja, natürlich«, sagte sie. »Ich habe Officer Glauer - ich glaube, Sie haben ihn bei der S SU-Besprechung kennen gelernt - beauftragt, die abschließenden Ermittlungen am Tatort im Motel zu organisieren. Er fährt morgen hin und sieht nach, was wir in der Dunkelheit übersehen haben. Ich habe noch nichts von Ihren Forensikern gehört...« »Die sind schon wieder weg, Special Deputy«, sagte Fetlock. »Sie werden morgen etwas für Sie haben.« Caxton nickte. »In der Zwischenzeit habe ich einen Posten bei Angus' Leiche und...« »Schön«, sagte er. Sie runzelte die Stirn, begriff nicht... »Wollen Sie das nicht hören?« »Nicht unbedingt. Wie wir schon sagten, das ist Ihre Untersuchung. Ich bin nicht gekommen, um Ihnen auf die Finger zu sehen, wenn Sie das glauben.« Er schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Ich handhabe die Dinge vielleicht etwas anders als die Leute, für die Sie bis jetzt gearbeitet haben. Etwas mehr aus der Distanz. Eigentlich bin ich nur gekommen, um Ihnen das hier zu geben.« Er reichte ihr einen braunen Umschlag mit ihrem Namen. Sie öffnete ihn in der Hoffnung, dass er ihr etwas Nützliches mitgebracht hatte - vielleicht eine Beschreibung des Mannes, der Jamesons Akten aus dem USMS-Archiv gestohlen hatte. Stattdessen fand sie eine dicke Broschüre, die auf billiges Papier gedruckt war. Es war das Angestelltenhandbuch der Bundesregierung, das unter anderem die Natur ihrer Beschäftigung als unabhängige Vertragsnehmerin beschrieb und sie über die Gehaltsstufen im öffentlichen Dienst informierte. 50 »Oh. Danke.« »Sie müssen bei nächster Gelegenheit die letzte Seite unterschreiben und mir faxen.« Sie nickte. Dann fing sie an zu lachen. Sie konnte es nicht verhindern. Er lächelte sie an, als würde nun er nicht begreifen. »Tut mir leid«, sagte sie und bedeckte den Mund. »Es ist nur, dass...« Sie schüttelte den Kopf, nicht dazu in der Lage weiterzusprechen. »Vor weniger als vierundzwanzig Stunden habe ich noch um mein Leben gekämpft. Jetzt soll ich über meinen Rentenplan nachdenken.« Er stand vom Tisch auf und zog die Ärmel seines Jacketts zurecht. Er wirkte leicht verärgert. »Es tut mir leid«, sagte sie und versuchte sich unter Kontrolle zu bringen. »Ich mache das zu meiner Priorität. Nun, gibt es noch etwas...?« Sie unterbrach sich, als ihr Handy klingelte. Sie sah ihn fragend an, er zuckte aber nur mit den Schultern. Sie zog das Telefon aus der Tasche und sah, dass der Anruf von Astarte Arkeley kam. Das wird lustig, dachte sie. Vielleicht wollte die alte Fledermaus sie wieder des Ehebruchs bezichtigen.
Sie klappte das Handy auf. »Hallo, Ma'am.« Astartes Stimme am anderen Ende klang sehr blechern und wurde von heftigen Störgeräuschen unterbrochen. Sie verstand nur wenig von dem, was die Frau sagte. »...Deputy, ich... Hilfe... sehr ernst...« Caxton fluchte lautlos. Sie hatte vergessen, wie lausig der Empfang im Kellergeschoss war. »Warten Sie, Ma'am. Ich kann Sie kaum verstehen. Geben Sie mir eine Sekunde, damit ich mir einen besseren Empfang suche.« Lautlos formte sie mit den Lippen Es tut mir leid in Fetlocks Richtung, schnappte sich im Vorbeigehen ihren Mantel, verließ das Büro und eilte zur Treppe. Astarte sprach 51
weiter. Vielleicht hatte sie nicht gehört, was Caxton gesagt hatte. »... wirklich... nicht getan, wenn nicht...« Auf der Treppe verlor sie einen weiteren Balken des Signals, also nahm sie zwei Stufen auf einmal. Oben stieß sie eine Tür auf und betrat die Hauptlobby des Gebäudes. Trooper versammelten sich um den Tisch des diensthabenden Sergeants und bekamen vermutlich gerade ihre Befehle für die Nacht. Caxton drängte sich zwischen ihnen weiter und trat durch den Haupteingang hinaus in Schneegestöber und Dunkelheit. Ver Balken. Gut. »Ma'am, können Sie das bitte wiederholen?«, sagte Caxton. »Die schlechte Verbindung tut mir sehr leid.« »Dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte Astarte. Ihre Stimme klang angespannt, aber das lag nicht an der Leitung. »Ich sagte es doch schon - er ist hier!«
18.
Mrs. Arkeley, bitte bleiben Sie in der Leitung«, sagte Caxton und nahm das Handy herunter. Sie eilte zurück ins HQ und zeigte auf den ersten Trooper, den sie sah. »Sie da - holen Sie Officer Glauer her. Er ist im Keller.« Sie zeigte auf einen anderen. »Sie, rufen Sie das örtliche Polizeirevier in Bellefonte an und teilen Sie ihnen mit, dass es einen Notfall gibt.« Sie sah auf ihr Handy und gab ihm Astartes Nummer, damit man die Adresse ermitteln konnte. Sie hasste es, normale Cops an einen Vampirtatort zu schicken - sie würden nicht auf das vorbereitet sein, was ihnen dort bevorstand - aber sie hatte keine andere Wahl. Sie würde mehr als 51 eine Stunde brauchen, um dort hinzugelangen, selbst wenn sie die ganze Strecke verantwortungslos raste. Astartes Leben hing möglicherweise von wenigen Minuten ab. »Ma'am, Astarte, sind Sie noch da?«, rief sie ins Handy. »Ja, meine Liebe. Im Augenblick noch. Er ist genau vor meinem Haus.« In der Ferne hörte Caxton ein leises Klirren. »Ah! Er hat gerade ein Küchenfenster eingeschlagen, glaube ich. Sie werden es nicht mehr rechtzeitig schaffen, oder?« »Ich habe schon Beamte losgeschickt. Wenn er die Polizei kommen hört, vielleicht verscheucht ihn das ja«, sagte Caxton und versuchte so zu klingen, als würde sie das selber glauben. »Ich komme, so schnell ich kann. Schließen Sie sich irgendwo ein, wenn das möglich ist - Hauptsache, es hält ihn eine Weile auf.« »Dann glauben Sie also, dass er es ernst meinte, als er sagte, meine einzige andere Möglichkeit sei der Tod? Ja, Laura, ich kann es Ihrer Stimme anhören. Das ist seltsam. Ich bin immer von der Annahme ausgegangen, dass ich den Sensenmann mit offenen Armen begrüße, wenn meine Zeit gekommen ist.« »Gehen Sie an einen sicheren Ort, so sicher es nur geht«, beschwor Caxton sie. »Ich fahre jetzt los!« Glauer kam die Treppe hinaufgelaufen und stürmte in die Lobby. Man musste ihm nicht sagen, was los war - als Caxton winkte und zum Parkplatz rannte, folgte er ihr einfach.
Eine dünne Schicht Pulverschnee lag auf dem Mazda. Caxton hatte keine Zeit, ihn fortzuwischen. Sie stieg ein, griff nach dem Blaulicht, das sie für Notfälle hatte, und befestigte es auf dem Wagendach, dann schob sie den Stecker in den Zigarettenanzünder. Sie hatte keine Sirene in den Wagen einbauen lassen, aber das Blaulicht würde zumindest verhindern, dass man sie unterwegs anhielt. Sie wartete, bis sich Glauer in den Beifahrersitz gequetscht hatte, dann trat sie das Gaspedal durch, schoss mit quietschenden Reifen vom Parkplatz los 52
und fuhr in Richtung Highway. Die Scheibenwischer fegten den Schnee vor ihr weg, aber neue Schwaden türmten sich auf der Motorhaube. An der Highwayauffahrt kämpfte sie sich durch den Rush-Hour-Verkehr - wenigstens dieses eine Mal machten ihr die Leute den Weg frei, als sie das Blaulicht sahen. Sie raste auf der zugeschneiten Fahrspur in Richtung Nordosten. »Es ist Jamesons Frau. Seine Witwe. Seine was auch immer«, erklärte Caxton. Glauer hatte nicht gefragt, aber sicher wunderte er sich, wo sie so eilig hinmussten. »Sie wird angegriffen.« Sie riskierte einen Blick zur Seite. Er sah geduldig geradeaus, die Hände auf dem Armaturenbrett, um sich jedes Mal abstützen zu können, wenn sie auf die Bremse trat. »Nach dem zu urteilen, was ich gehört habe, bleibt ihr nicht viel Zeit.« Glauer warf einen Blick auf den Tacho. »Wir werden es schaffen«, versprach er, obwohl er genauso gut wie sie wusste, dass das reiner Zweckoptimismus war. Sie warf ihm ihr Handy rüber. »Koordinieren Sie alles mit der Ortspolizei. Bellefonte kann kein großes Polizeirevier haben; das ist ein winziges Nest. Aber gibt es da nicht eine Kaserne der State Police?« »Ja. In Rockview Station. Das ist nur ein paar Meilen von der Stadt entfernt.« Er machte die nötigen Anrufe, trieb die Leute an. Bevor Caxton die halbe Strecke nach Bellefonte zurückgelegt hatte, hatte er drei Streifenwagen auf den Weg zum Tatort geschickt, und zwei weitere Wagen mit jeweils zwei örtlichen Polizisten parkten bereits vor dem Haus. »Da antwortet niemand. Sie wollen die Genehmigung, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Soll ich sie reinschicken?« Vermutlich werden sie getötet, wenn sie das tun, dachte Caxton. Astarte würde aber auf jeden Fall sterben, wenn sie es nicht taten. »Ja«, sagte sie. »Nur sagen Sie ihnen... sagen Sie ihnen, sie sollen vorsichtig sein. Sagen Sie ihnen, sie sollen vorgehen, als würden sie in ein Survivalistenlager voller Waffennarren eindringen. Sagen Sie ihnen, sie sollen sich nach Möglichkeit nicht umbringen lassen.« Kurz darauf erfolgte die Bestätigung, dass die Trooper einen Angriff auf das Haus anführten, während die Ortspolizei ihnen Rückendeckung gab. Es würden lange, angespannte Minuten vergehen, bevor sie sich wieder meldeten, aber Caxton riss Glauer das Handy aus den Fingern und hielt es gegen das Lenkrad geklemmt, bereit, in dem Moment ranzugehen, da es klingelte. Sie versuchte sich aufs Fahren zu konzentrieren. Die Straßenbedingungen waren keineswegs gut - eine Menge Schnee wehte über die Straße; auf jeder Brücke oder auf jedem schlecht gewarteten Stück Highway gab es vereiste Flächen. Der Mazda war nicht für eine solche Fahrt gebaut, und bei ihrer Geschwindigkeit - achtzig Meilen die Stunde oder mehr - brach er sofort aus, wenn sie den Griff um das Lenkrad lockerte. Sie musste mit der Geschwindigkeit drastisch heruntergehen, als sie durch State College raste. Die Straße führte direkt durch die Universitätsstadt, und sie konnte es nicht riskieren, einen Studenten anzufahren. Aber sobald sie die Nittany Mall passiert hatte, trieb sie den Motor erneut an seine Grenzen. Das Telefon in ihrer Hand summte, und um ein Haar hätte sie die Kontrolle über den Wagen verloren. Keine Zeit, die Freisprechanlage einzuschalten, entschied sie, und
klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr. »Sprechen Sie!«, brüllte sie beinahe hinein. »Trooper?«, fragte die Stimme am anderen Ende und klang irgendwie überrascht. »Sind Sie das?« Die Stimme war tief und knirschend, und im ersten Moment erkannte sie sie nicht. »Eigentlich heißt es Special Deputy. Was passiert da bei euch?« »Man hat Sie zum Special Deputy ernannt. Das ist faszinierend. Ich habe mein ganzes Berufsleben in der Annahme verbracht, dass ich einzigartig bin, dass niemand meine besondere Stellung einnehmen kann. Aber in dem Augenblick, als ich weg war, hat das Schicksal die frei gewordene Stelle mit jemand anderem besetzt. Haben wir den Kreislauf also vollendet?« »Oh, Scheiße«, sagte Caxton. Ihr Fuß glitt vom Gaspedal. Plötzlich hatte sie Angst, weiter so schnell zu fahren. »Jameson. Sie sind das, oder?« »Das ist eine Frage für die Philosophen. Meine Frau scheint da anderer Ansicht zu sein.« Caxton schluckte schwer. Wenn das Jameson am Telefon war, dann war er irgendwie an das Handy des Anführers der State Trooper gekommen, und das wiederum bedeutete, dass sehr viele schlimme Dinge geschehen sein mussten. »Sie sind zu Astarte gegangen. Sie haben ihr das gleiche Angebot wie Angus gemacht, oder? So wie Sie zu werden - oder zu sterben. Und sie hat sich ebenfalls geweigert.« »Es dürfte besser sein, wenn Sie sich eine Weile von meiner Familie fern halten, Special Deputy. Ich vermute, Sie sind gerade auf dem Weg hierher. Es wäre jedoch besser, Sie würden umdrehen und nach Hause fahren. Natürlich wissen wir beide, dass Sie das nicht tun werden.« »Wenn ich eintreffe, werden Sie auf mich warten?«, fragte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie wollte, dass er da war oder nicht. Das letzte Mal hatte sie ihm zwei NeunMillimeter-Kugeln direkt ins Herz gefeuert, und es hatte nicht gereicht. Würden drei reichen? Würde das ganze Magazin ihrer Beretta mit allen fünfzehn Kugeln reichen? »Ich werde mein Möglichstes tun, Sie noch nicht zu töten, Special Deputy. Ich habe nämlich einen Grund, warum ich Sie am Leben erhalten will. Aber wenn Sie sich dem Unheil in den Weg stellen, darf man mich nicht mehr für Ihre Sicherheit verantwortlich machen.« »Bleiben Sie nur. Ich bin gleich da«, erwiderte sie. Der Puls hämmerte in ihren Schläfen. »Bleiben Sie, dann können wir zu Ende bringen, was wir angefangen haben. Sie wollten nicht zu diesem Ungeheuer werden, Jameson. Können Sie sich noch daran erinnern? Sie haben den Fluch angenommen, um eine letzte gute Tat zu vollbringen. Um noch einmal ein Held zu sein. Das haben Sie nun alles zunichte gemacht, aber es muss doch nicht noch weiter gehen. Wir können noch immer etwas von Ihrem Ruf retten.« Sie sprach mit einer toten Leitung. Das Handy piepste zweimal, um sie darüber zu informieren, dass der Anrufer die Verbindung getrennt hatte. Caxton ließ das Handy fallen und schrie, hämmerte mit den Händen gegen das Lenkrad. Glauer griff zu, um es zu übernehmen, aber sie schüttelte sich ruckartig und sagte: »Nicht. Ich bin okay.« Aber natürlich war sie es keineswegs. Nicht einmal annähernd. Doch fahren konnte sie noch.
I9.
Die Straßen von Bellefonte waren so gut wie leer, als sie in die Stadt rasten, die Water Street entlang preschten, die dem Verlauf des Spring Creek folgte. Im Mondlicht und vom Schnee gesprenkelt wies die Stadt eine unheimliche Schönheit auf. Caxton war
bestimmt schon tausendmal an dem mit einem Damm versehenen Teil des Flussufers am westlichen XI54 Ende der Stadt vorbeigefahren und hatte die Parks dort bewundert. Aber nie zuvor hatten sie so gespenstisch, so von Geistern heimgesucht ausgesehen. Hör damit auf, rief sich Caxton zur Ordnung. Sie ließ zu, dass ihr die Geschehnisse der Nacht zusetzten. Sie riss den Stecker des Blaulichts aus dem Zigarettenanzünder, als sie in eine Seitenstraße einbog und die Geschwindigkeit zu einem Kriechen reduzierte. »Im Kofferraum liegt eine Schrotflinte«, sagte sie zu Glauer. »Ich dachte, das wäre Ihr Privatwagen.« Sie zuckte nur mit den Schultern. »Die letzten beiden Monate war ich immer im Dienst. Sie ist geladen, daneben liegt eine Schachtel Munition. Sie schnappen sie sich genau in der Sekunde, in der ich den Wagen anhalte, dann machen Sie genau das, was ich tue. Dies hier wird kein Kinderspiel.« »Verstanden«, sagte er. Sie fuhr eine Straße entlang, die von großen Bäumen gesäumt wurde. Dahinter erhoben sich Häuser im viktorianischen Stil mit Mansardendächern und aufwendigen Giebeln. Astartes Haus war nicht schwer zu finden. Sie hielt einfach nach dem mit den vielen Streifenwagen davor Ausschau. Caxton brachte den Mazda ein ordentliches Stück davor zum Stehen, parkte in der Straßenmitte für den Fall, dass sie hier schnell wieder verschwinden mussten - oder dass das ein anderer tat. Ihr Wagen würde den Hauptweg zurück zum Highway versperren. Das war ein Trick, den sie bei einem Kurs in taktischem Parken auf der Akademie gelernt hatte. Sie schaltete die Scheinwerfer aus und zog die Beretta aus dem Holster, bevor sie den Fuß auf den Asphalt setzte. Ihr Blick blieb fest auf die Straße vor dem Haus gerichtet, darum konnte sie nicht sehen, wie Glauer ausstieg. Aber sie hörte, wie er zum Kofferraum ging. Auf ihn konnte sie sich verlas 54
sen, das wusste sie. Darum arbeiteten sie auch so gut zusammen. Er tat immer genau das, was sie wollte. Die Waffe bereithaltend eilte sie zu dem Streifenwagen, der ihr am nächsten stand einer von der Ortspolizei. Sein Blaulicht rotierte wild auf dem Dach, und aus dem Funkgerät drangen gelegentlich Anfragen des Dispatchers von Bellefonte, aber sämtliche Sitze waren leer, sowohl Vorder- wie Rücksitz. Sie ging zum nächsten Wagen, dem anderen örtlichen Dienstfahrzeug, und hörte, dass der Motor noch immer lief. Er war genauso verlassen wie der erste, aber da war Blut auf der Windschutzscheibe. Innen. Die Cops von Bellefonte hatten nicht einmal die Chance gehabt aus dem Wagen zu steigen, bevor Jameson über ihnen war - wie eine Katze in einem Taubenschwarm. Sie biss sich auf die Lippe und versuchte nicht daran zu denken, dass sie ihren Einsatz autorisiert hatte. Sie war also unmittelbar für das verantwortlich, was ihnen zugestoßen war, aber darüber konnte sie sich später noch grämen. Ein Stück weiter die Straße entlang, an ihrem östlichen Ende, hatten die drei Dienstwagen der State Police eine Straßensperre errichtet. Ihre Blaulichter und Motoren waren ausgeschaltet, aber sie konnte sehen, dass auch sie verlassen waren. Nirgendwo lagen Leichen, auch keine Körperteile. Im Schnee auf Astartes Rasen waren lediglich Blutflecken, aber bei Weitem nicht genug, um für alle Cops zu reichen. Drei State Trooper und vier Stadtcops hatten den Zugriff vorgenommen - sieben Männer, und kein einziges Zeichen von einem von ihnen. Es sah einem Vampir nicht ähnlich, hinter sich aufzuräumen. Sie zog die Tatsache in Betracht, dass einige von ihnen durchaus noch am Leben sein konnten. Wenn dem so
war, musste sie schnell handeln. Sie gab Glauer ein Handsignal, stürmte die Stufen von Astartes Veranda hinauf und warf sich 55 links neben der Tür gegen die grüne Schindelwand. Dort hing ein poliertes Messingschild, auf dem die Umrisse einer Hand von Wellenlinien gekreuzt wurden. Darunter stand: MADAME ASTARTE WAHRSAGEN UND BERATUNG NUR NACH TERMIN ABSPRACHE Glauer kam die Stufen heraufgepoltert und ging auf der rechten Seite der Tür in Position. Er hielt die Schrotflinte, seine Taschen wölbten sich mit zusätzlichen Patronen. »Vermutlich gibt es eine Hintertür. Wir machen das genau so wie in Mechanicsburg, okay?«, flüsterte sie. Gegen Jameson würde seine Schrotflinte zwar kaum etwas ausrichten können, aber sie bezweifelte auch, dass der Vampir direkt in sein Schussfeld rennen mochte. »Sie übernehmen die Hinterseite, und lassen Sie keinen raus. Wenn ich das Signal gebe, kommen Sie schnell rein.« »Was ist das Signal?« »Wenn ich schreie, das ist das Signal.« Er nickte und verschwand um die Ecke der Veranda, seine Stiefel polterten über die Bodenbretter. Als sie seine Schritte nicht mehr hören konnte, trat sie die Tür auf. Sie war nicht verschlossen - die State Trooper hatten sie bereits für sie aufgebrochen -, und sie war in weniger Zeit drinnen, als ihr Herz brauchte, um zweimal zu schlagen. Eine einsame Lampe am anderen Ende des Raums tauchte die Eingangshalle in einen orangefarbenen Lichtschein. Einen Augenblick lang war sie davon geblendet, und sie wandte den Blick ab, damit sich ihre Augen daran gewöhnen konnten. Im Haus war es warm, warm genug, dass ihr in ihrem Wintermantel unbehaglich zumute war. Als sie wieder deutlich sehen konnte, blickte sie sich um. Auf dem Boden lag ein Persertep 55
pich, um einen runden Tisch standen dick gepolsterte Lehnsessel. Es sah wie die perfekte Kulisse für eine Seance aus. Links führte eine breite Treppe nach oben zu einer Galerie. An der Wand hing ein gewaltiger Wandteppich, schwarz mit goldener Stickerei, die eine Schlange zeigte, die ihren eigenen Schwanz fraß. In dem Kreis, den die Schlange bildete, standen die Worte: WIR KEHREN ALLE ZURÜCK. Caxton spähte die Stufen hinauf. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Astarte in einem großen Auftritt die Holzstufen hinunterkam, in einem schäbigen alten Kleid, das Haar zu einem lockeren Knoten gebunden. So hatte sie sich die Frau bei ihrem Telefongespräch vorgestellt, obwohl sie ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung hatte, wie Jamesons Witwe tatsächlich aussah. Drei Türen führten aus dem Foyer, aber sie waren alle geschlossen. Hinter jeder von ihr konnte sich Jameson verbergen. Caxton zwang sich, ganz ruhig zu atmen, versuchte auf die Härchen an ihren Armen zu hören, auf die empfindliche Haut hinter den Ohren. Wenn er in der Nähe war, würde sie ihn spüren, würde die Aura der Unnatürlichkeit spüren, die Vampire ausstrahlten. Sie zwang sich dazu, fünf Sekunden zu warten, bevor sie entschied, dass da überhaupt nichts zu fühlen war. Dann hörte sie etwas und hätte beinahe aufgeschrien. Es war ein sehr leiser Laut, ein kaum wahrnehmbares Knirschen, das sie an das Geräusch von fallendem Schnee erinnerte. Es kam vom Fundament der Treppe. Caxton setzte sich in Bewegung, aber die von der einsamen Lampe geworfenen Schatten machten es ihr unmöglich, irgendetwas zu sehen. Sie griff in die Tasche und holte ihre Maglite hervor. Ein Druck auf den Schalter der Stablampe - und sie ließ den grellen Lichtstrahl über die untersten drei Stufen wandern.
Da war wieder dieser Laut. Sie schwenkte das Licht nach 56 links und erkannte, wo er herkam. Ein schmales Blutrinnsal rann die Treppe herunter, tropfte leise auf jede Stufe. Caxton hob die Taschenlampe und folgte der Blutspur bis zum Treppenabsatz in der Höhe. Sie bemühte sich, sich so leise zu bewegen, wie ihr das möglich war, versuchte nicht zu laut und hastig zu atmen, und stieg die Treppe hinauf, setzte die Füße auf den Läufer am Stufenrand. Die Taschenlampe bereithaltend hob sie die Waffe auf Schulterhöhe, bereit, auf alles zu schießen, das den Kopf über das Geländer hob. Als sie den Treppenabsatz erreichte, drehte sie sich nach links, dann nach rechts, sicherte beide Enden der Galerie. Doch nichts zeigte sich. Die Blutspur hatte ihren Anfang unter einer Tür direkt vor ihr. Sie schimmerte in dem elektrischen Licht, das auf die Galerie fiel, weil die Tür einen Spalt offen stand. Caxton tippte mit dem Ende der Maglite sanft dagegen, sie schwang problemlos zurück und enthüllte den dahinter liegenden Raum. Das brennende Licht war nicht heller als die einsame Lampe unten in der Eingangshalle. Aber es zeigte genug: ein schmales Zimmer, das beinahe völlig von einem großen Himmelbett und einer Kommode ausgefüllt wurde. Ein hoher Vogelständer, der für einen Papagei bestimmt zu sein schien, war zurzeit unbenutzt. An den Wänden hingen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien, doch Caxton machte sich nicht die Mühe, sie sich anzusehen. Eine etwa fünfundvierzigjährige Frau lag auf dem Bett. Sie trug einen eleganten Midirock und eine schwarze Seidenbluse. Ihr kinnlanges Haar war beinahe vollständig silbern, abgesehen von einer einzigen pechschwarzen Strähne, die sich über ihre bleiche Wange schlängelte. Ihre Augen starrten zur Decke, aber sie nahmen nichts mehr wahr. Das Blut, das sich auf dem Boden gesammelt und dann auf den Treppenabsatz geflossen war, kam aus ihrem rechten Arm, der an der 56
Bettseite so herunterhing, dass die gekrümmten Finger beinahe den Boden berührten. Das Handgelenk war bis zur Arterie aufgerissen. So schlimm die Wunde auch sein mochte, zog man in Betracht, was Vampirzähne anrichten konnten, sah sie beinahe behutsam aus, als hätte Jameson noch genügend Menschlichkeit in sich gehabt, um den Tod seiner Frau so schmerzlos wie nur möglich zu gestalten. Caxton suchte nach einem Puls und fand keinen, genau wie sie es erwartet hatte. Er war schon immer gründlich gewesen. Caxton hatte nicht den geringsten Zweifel, dass das hier Astarte war, und ihr Ehemann musste ihr Mörder gewesen sein. Sie schloss die Augen und senkte die Waffe. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe versucht, rechtzeitig hier zu sein.« Es war albern, zu einer Leiche zu sprechen. Aber sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie hier versagt hatte, dass der Tod dieser Frau ihre Schuld war. Sie wandte sich ab. Es gab noch eine Menge Räume zu durchsuchen, vielleicht gab es vernünftige Beweismittel zu finden. Sie machte einen Schritt aus dem Zimmer, dann den nächsten zur Treppe. Die Lampe unten in der Halle zerbrach klirrend, und Dunkelheit erfüllte das Erdgeschoss, als hätte man einen Vorhang vorgezogen. Caxton hörte, wie sich dort unten etwas bewegte, ungeschickt gegen ein Möbelstück stieß. Jemand anders zischte aufgebracht. Zwei Leute, mindestens - und sie glaubte kaum, dass Glauer zu ihnen gehörte. 56
20.
Caxton trat in das Zimmer zurück, in dem sie Astartes Leiche gefunden hatte. Sie überlegte, die Tür hinter sich zu schließen, aber das einzige Licht im Haus fiel aus diesem Raum. Schloss sie sie, so würde unten jeder wissen, wo sie sich aufhielt, weil das Licht erlosch. Stattdessen ging sie auf der anderen Bettseite in die Hocke, wo keiner, der an der Tür vorbeiging, sie sehen konnte. Dabei entstand natürlich ein Problem. Es gab keinen anderen Ausgang. Sie hatte sich in eine Ecke manövriert, aus der es kein Entkommen gab. Angenommen, die Leute unten wollten ihr schaden - eine ziemlich sichere Annahme -, so konnten sie sie holen, wann immer sie wollten, und mit dem Rücken zur Wand würde sie sich nur schwer verteidigen können. Jameson hatte sie besser ausgebildet. Mehr als nur einmal hatte er ihr eingeschärft, sich nicht in genau diese Situation bringen zu lassen. Also musste sie in Bewegung kommen. Sie musste kühl nachdenken. Furcht vernebelte ihren Verstand. Sie musste sie abschütteln, wieder anfangen, taktisch zu denken. Was wusste sie? Mehrere Personen befanden sich zusammen mit ihr in dem Haus. Sie war sich ziemlich sicher, dass keiner davon ein Vampir war. Weder hatte sie eine Gänsehaut, noch hatte sie die Abartigkeit eines Vampirs gespürt. Das bedeutete, dass es sich bei den Eindringlingen mit ziemlicher Sicherheit um Halbtote handelte. Eine Handvoll von ihnen würde sie ohne zu große Probleme ausschalten können. Sie hatte von Jameson eine Menge darüber gelernt, wie man unfair kämpfte und seine Gegner aus dem Gleichgewicht brachte. Aber es würde kein einfacher Kampf werden. Die Eindringlinge hatten das Haus verdunkelt und warteten ver57
mutlich im Hinterhalt auf sie, bereit, sich auf sie zu stürzen, sobald sie sich zeigte. Außerdem hatte sie nicht die geringste Vorstellung davon, wie viele es waren. Ein einsamer Halbtoter war langsam und schwach, aber in Gruppen konnten die mörderischen Bastarde gefährlich sein. Sie überschlug ihre Möglichkeiten. Sie konnte die Treppe hinunterstürmen und zum Eingang laufen. Hatte sie das Haus verlassen, konnte sie in ihren Wagen springen und flüchten. Alles nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht vor der Tür warteten und auf dem Weg keine Fallen gestellt hatten. Es wäre sehr dumm, von dieser Annahme auszugehen. Ein viel besserer Plan würde es sein, Glauer das Signal zu geben, damit er mit donnernder Schrotflinte hereinstürmte und die Eindringlinge in Panik versetzte. Jameson hatte immer behauptet, dass Halbtote im Grunde ihres Herzens Feiglinge waren. Falls Glauer sie richtig überraschte, würden sie vielleicht einfach in alle Richtungen verschwinden und ihr die Flucht erlauben, ohne gegen sie alle kämpfen zu müssen. Caxton griff in die Tasche nach dem Handy, damit sie Glauer anrufen und den Überraschungsangriff koordinieren konnte. Ihre Finger tasteten jedoch ins Leere. Lautlos fluchte sie, als ihr einfiel, dass sie es im Auto gelassen hatte. Natürlich hätte sie um Hilfe schreien können, um ihm ein Zeichen zu geben (ein Schrei erschien so würdelos, auch wenn sie ihn ursprünglich als Signal ausgemacht hatten). Natürlich würde das jeden Halbtoten im Haus alarmieren und ihren Standort verraten. Sie konnten wie ein Heuschreckenschwarm über ihr sein, bevor Glauer durch die Tür kam. Hätte das Zimmer ein Fenster gehabt, hätte sie es öffnen und an der Hinterseite nach unten sehen können, um Glauer irgendetwas zu signalisieren. Aber das Zimmer hatte kein Fenster. Doch vielleicht einer der anderen Räume im ersten Stock. Einen Versuch war es wert. Sich langsam und geduckt bewegend schlich sie um das Bett herum und an Astartes baumelndem Arm vorbei. Sie durchquerte die Blutpfütze am Boden - die Vorstellung, durch das vergossene Leben eines anderen Menschen zu
gehen bereitete ihr leichte Übelkeit, aber sie hatte schon Schlimmeres tun müssen und passierte dann die Tür. Die Halbtoten streiften durch das Erdgeschoss. Schubladen wurden aufgerissen, dann hörte es sich so an, als würde jemand im Besteckkasten herumwühlen. Die Halbtoten bewaffneten sich, verteilten die Steakmesser in der Küche. Vermutlich leuchteten ihre kleinen Knopfaugen vor Entzücken. Halbtote benutzten niemals Schusswaffen, weil ihren verwesenden Körpern die nötige Koordination zum Zielen fehlte. Aber sie liebten Messer. Leidenschaftlich. Mit dem Rücken zur Wand schob sich Caxton nach rechts, auf die nächste Tür der Galerie zu. Sie passierte sie, dann tastete sie in die Höhe nach dem Glasknauf und drehte ihn. Die Tür öffnete sich so gut wie ohne jedes Quietschen, trotzdem hielt sie inne, erstarrte und lauschte. Die Halbtoten waren noch immer in der Küche beschäftigt - sie konnten sie nicht gehört haben. Sie zog die Tür ein Stück weiter auf und spähte hinein. Ordentliche Stapel sauber gefalteter weißer Laken und Tischdecken lagen auf Regalbrettern und rochen nach alter, sauberer Baumwolle. Also hatte sie den Wäscheschrank gefunden. Keine Zeit, ihr Pech zu verfluchen. Sie spähte über die Galeriebrüstung nach unten in die Finsternis, hielt nach Anzeichen von Bewegung Ausschau. Das einzige Licht kam von den Blaulichtern der Streifenwagen, die abwechselnd blaue oder rote Lichtstrahlen durch die Fenster schickten. Dort unten hätte alles Mögliche sein können, und sie hätte es nicht gesehen, selbst wenn sie sich bewegt hätten; der stroboskopähnliche Effekt der Blaulichter ruinierte ihre an die Dunkelheit angepasste Sicht bei jedem Aufblitzen. Sie bewegte sich so leise, wie sie konnte, und begab sich zur nächsten Tür. So weit reichten weder das Blaulicht noch der sanftere Schein aus Astartes Zimmer. Caxton hatte noch immer ihre Maglite, wagte aber nicht, sie zu benutzen. Im tiefen Zwielicht strich sie über das polierte Holz der Tür, dann ertastete sie einen Messingbeschlag mit Schlüsselloch. Ein paar Zentimeter darüber stieß sie auf einen wackligen Porzellanknauf, der sich mit einem kaum hörbaren Quietschen drehte. Langsam öffnete sie die Tür, immer nur einen oder zwei Zentimeter, bereit, in dem Augenblick innehalten, da die Türangeln quietschten. Nur noch ein kleines Stück. Sobald der Spalt groß genug war, würde sie hineinschlüpfen und die Tür wieder genauso lautlos hinter sich schließen. Ein schriller Schrei zerriss ihre Wahrnehmung, und ein ehemals menschlicher Körper krachte gegen sie und riss sie zu Boden. Ihr wurde lediglich bewusst, dass sein Atem entsetzlich stank, während er sie auf den Teppich drückte. Eine lange Waffe funkelte, als sie in die Höhe gehoben wurde - es sah aus wie eine Fleischgabel, dreißig Zentimeter lang und mit vier hässlichen Zinken versehen. Dann konnte Caxton gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite reißen, als die Gabel genau da landete, wo sich eben noch ihr linkes Auge befunden hatte. Der Halbtote, der auf ihr hockte, schrie erneut, und sie sah, wie die in Streifen gerissene Haut seines Gesichts herabbaumelte, während ihr sein Speichel auf Wangen und Oberlippe sprühte. Er wollte die Gabel zum nächsten Angriff heben, konnte es aber nicht. Die Spitzen hatten sich tief in den Holzfußboden gebohrt. Caxton hatte einen Grundkurs in Selbstverteidigung belegt, also wusste sie, was zu tun war. Sie brachte ein Knie zwi 58
schen die Beine des Angreifers und rammte es mit aller Kraft nach oben. Ob die Halbtoten empfindliche Hoden hatten oder nicht, das war jetzt nicht der Punkt; das Manöver sollte dieses Wesen von ihrem Körper befördern - und es gelang. Nun hätte sie sich auf ihn rollen und seine Arme nach unten drücken können, aber sie machte
sich gar nicht erst die Mühe. Stattdessen riss sie die Beretta aus dem Holster und rammte dem Halbtoten die Mündung unters Kinn. Er riss die Augen weit auf, bevor sie den Abzug durchzog. Danach erschlaffte, was von seinem Gesicht noch übrig war. Caxton nahm sich eine Sekunde, das tote Etwas zu betrachten, versuchte herauszufinden, was es einst gewesen war und was es in diesem Haus zu suchen hatte. Ein Blick auf die Kleider verriet ihr die ganze Geschichte. Die Kreatur trug das graue Hemd und die marineblauen Hosen eines State Trooper aus Pennsylvania. Es war einer von ihnen. Jameson musste im Haus gewartet haben, als die State Trooper eindrangen. Gewiss hatte er sie mühelos erledigt. Auch wenn Caxton versucht hatte, sie vor den Gefahren zu warnen, die auf sie lauerten, sie hatte dennoch gewusst, dass die Beamten nicht darin ausgebildet waren, ein blutdürstiges Monster zu bekämpfen. Nachdem er sie getötet hatte, waren sie zu seinen Spielzeugen geworden, und er musste sie von den Toten zurückgeholt haben, noch während Caxton am Tatort eingetroffen war. Darum hatte es keine Leichen in den Wagen vor dem Haus gegeben weil die Leichen zu diesem Zeitpunkt bereits im Haus gewesen waren. Also konnten mindestens sechs weitere Halbtote noch im Haus lauern. Sie hatte keine Zeit, sich schuldig zu fühlen. So schnell wie möglich rollte sie sich herum und sprang auf die Füße. Sie warf einen Blick durch die Tür, durch die ihr Angreifer gekommen war, in eine Art Butleranrichte vol59
ler Geschirrschränke. Der Raum enthielt auch einen einfachen Tisch, ein paar Stühle und am anderen Ende eine sehr schmale Treppe, die nach unten führte. Vermutlich in die Küche. Caxton konnte schon jetzt hören, wie weitere Halbtote die Stufen hinaufpolterten. Ihre Gedanken rasten. Auf der Innenseite der Tür ragte ein Messingschlüssel aus dem Schlüsselloch. Sie riss ihn heraus, knallte die Tür zu und schloss von außen ab. Als der Mechanismus klickte, hieb sie mit dem Knauf ihrer Waffe zu und brach den Schlüssel im Schloss ab. Ihr nächster Zug lag auf der Hand. Jede weitere Verstohlenheit war sinnlos geworden. »Glauer!«, brüllte sie so laut, wie sie konnte, nur für den Fall, dass er den Schuss nicht gehört hatte. »Glauer! Jetzt!«
21 .
Die Halbtoten in der Anrichte hämmerten gegen die Tür. Sie bebte wild im Rahmen. Aber sie bestand aus dicker Eiche, und Caxton ging davon aus, dass sie eine Weile standhielt. Sie eilte zur Treppe und brüllte weiter nach Glauer. Sie hoffte, dass er sie hören konnte. Falls nicht, steckte sie in echten Schwierigkeiten. Im Erdgeschoss polterten weitere Halbtote herum, aber sie konnte nichts sehen. Der Lichtstrahl ihrer Maglite zeigte nur verblichene Teppiche und Staubpartikel in der Luft. Sie würde einfach die Treppe hinunterlaufen und das Beste hoffen. Sie hatte ihre Beretta und genügend Munition, aber ihr war klar, dass sie in dem dunklen Haus nicht zielgenau schießen konnte. Also hielt sie die Lampe hoch und die Waffe niedrig, dann ging sie die Treppe hinunter, langsam und sorgfältig, eine Stufe nach der anderen. Auf halber Höhe segelte ein Messer an ihrer Wange vorbei und klirrte hinter ihr auf die Stufen. Es verfehlte sie so knapp, dass sie die Messingnieten im Holzgriff und die Zacken der Klinge sehen konnte - es kam ihr so nahe, dass sie sich zur Seite warf und das Gleichgewicht verlor. Sie stolperte drei Stufen herunter, ihre linke Hand griff Halt suchend nach dem Geländer. Sie erwischte es zwar, aber dabei verlor sie die Taschenlampe, die die Stufen hinunterfiel. Der wild umherspringende Lichtstrahl fuhr einen Augenblick lang über das verwüstete Gesicht eines Halbtoten und zeigte die
grauen, zuckenden Muskeln unter der abgerissenen Haut. Die Kreatur grinste breit aber dann hüpfte das Licht weiter und rollte am Fuß der Treppe herum, wo eine bleiche Hand danach griff und es ausschaltete. Caxton ging blitzartig in die Hocke - für den Fall, dass noch ein Messer geflogen kam und feuerte blindlings zwei Schüsse auf die Monster ab, die dort unten auf sie warteten. Eines schrie auf, in einem schrillen Jammern, das an ihren Nerven zerrte. Es war ein Geräusch wie von einer Katze, die man in eine Badewanne voll von eiskaltem Wasser warf. Aber es war kein Todesschrei. Sie musste ihr Ziel nur angeschossen haben. Das Aufblitzen der Schüsse reichte, um sie kurz zu blenden. Die Dinge hatten sich von schlecht zu katastrophal verändert, und dann wurden sie noch katastrophaler. Oben splitterte die verschlossene Tür und krachte gegen die Wand. Schritte eilten die Galerie entlang auf Caxton zu. Blind, von allen Seiten umzingelt, tat sie das Einzige, das ihr einfiel. Ihre Hand lag noch immer auf dem Geländer. Sie schob die Pistole ins Holster, packte das Geländer auch noch mit der anderen Hand und schwang sich von der Treppe in den leeren, lichtlosen Raum. 60
Eine Sekunde später trafen ihre Füße den runden Seance-tisch. Da sie nicht hatte sehen können, wo sie landen würde, hatte sie sich innerlich für eine Landung auf dem Teppich vorbereitet, vielleicht zweieinhalb Meter tiefer. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Tisch im Weg stand, also rutschten ihre Füße unter ihr weg. Schmerzhaft prallte sie mit der Seite auf die Tischplatte, rollte weiter und fiel auf den mit Teppichen ausgelegten Boden. »Wo ist sie hin?«, rief einer der Halbtoten. »Ich seh sie nicht!«, erwiderte ein anderer. Caxton wusste aus einer früheren Erfahrung, dass Halbtote im Dunkeln nicht besser sehen konnten als sie. Im Gegensatz zu ihren Vampirherren waren sie im gleichen Nachteil wie sie. Trotzdem verschaffte ihnen die Dunkelheit einen Vorteil. Caxtons einziger Vorteil war die Reichweite der Beretta gewesen, die ihr gestattet hätte, sie zu erschießen, bevor sie sie mit ihren Messern erreichen konnten. In der Finsternis nützte das aber nichts - wenn sie nicht sehen konnte, konnte sie auch nicht zielen. Wenn sie nicht zielen konnte, hätte sie mehr davon gehabt, blindlings mit dem Pistolenknauf zuzuschlagen und zu hoffen, sie alle zu Tode prügeln zu können. Sie konnte versuchen, einen Lichtschalter zu finden - aber dabei würde sie vermutlich einen Kerzenleuchter oder etwas anderes umstoßen und so ihre Position verraten. Wo zum Teufel blieb nur Glauer? Sie war aus dem Hinterhalt ausgebrochen, nur um in einer fast genauso schlimmen Lage zu enden. Die roten und blauen Blitze, die durch die Fenster drangen, zeigten ihr gar nichts. Dafür konnte sie hören, wie die Halbtoten ausschwärmten, um sie zu finden. Zeit für noch so einen stummen Fluch, der auf ihren Lippen hängen blieb. Wurde ein Opfer wieder als Halbtoter ins Leben zurückgerufen, starb die Seele zuerst; die Persönlichkeit wurde ausgemerzt und durch Hass und hämischen Blut 60 durst ersetzt. Aber sie behielten einen Teil ihrer Erinnerung. Diese Halbtoten waren Polizisten gewesen. Man hatte sie also darin ausgebildet, Zimmer zu durchsuchen und einen Verdächtigen an der Flucht zu hindern. Caxton hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie die drei Türen bewachten, die aus dem Foyer führten. Ihr blieben nur Augenblicke - bloße Sekunden, bevor sie eingekreist war. Beide Knöchel schmerzten, als sie sich an der hinteren Zimmerwand in die Höhe schob und wieder auf die Füße kam. Es schien unwahrscheinlich, dass sie sich etwas gebrochen hatte, aber selbst wenn dem so wäre, musste sie schnell handeln. Ihre beste
Chance bestand sicher darin, sich in den hinteren Teil des Hauses zurückzuziehen, also schob sie sich an der Wand entlang und tastete nach dem Wandteppich, der ihr beim Eintreten aufgefallen war. Da - ihre Hand berührte eine Ecke davon. Die Tür befand sich genau daneben. Sie griff nach dem Türknauf - und riss die Finger zurück, als die Tür dröhnte, als würde jemand dagegenschlagen. »Hier drüben!«, kreischte ein Halbtoter. Caxton hörte sie in der Dunkelheit angelaufen kommen. Einer krachte gegen einen Stuhl und stürzte mit einem erbärmlichen Jaulen der Länge nach zu Boden. Aber die anderen kamen näher. Caxton wusste nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Da öffnete sich lärmend die Tür, ein kräftiger Lichtstrahl streifte durch den Raum und beleuchtete zwei Halbtote mit hoch erhobenen Steakmessern. Als Nächstes schob sich der Lauf einer Schrotflinte durch die Tür und entlud sich brüllend, ließ Caxtons Ohren dröhnen und füllte ihre Nase und ihren Hals mit dem Gestank von Schießpulver. Sie würgte und hustete. Die beiden Halbtoten fielen aus dem Lichtkegel und krachten zu Boden; sie hatten nicht einmal Gelegenheit zu einem letzten Schrei gehabt. 61
Glauer kam durch die offene Tür, hebelte die nächste Patrone in den Lauf. Offensichtlich sah er den dritten Halbtoten nicht, den, der über den Stuhl gefallen war und jetzt direkt mit erhobenem Schürhaken auf ihn zukam. Caxton beugte sich so weit vor, wie sie konnte, und schnappte sich den Arm der Kreatur. Sie riss ihn ihr hart auf den Rücken, und der Schürhaken fiel polternd zu Boden. Glauer hob die Flinte, und sie konnte ihm noch zurufen, das nicht zu tun, aber es war schon zu spät. Der schwere Kolben krachte genau zwischen die Augen des Halbtoten und schlug ihm den Schädel ein. »Was meinten Sie damit, ich solle es nicht tun?«, fragte Glauer, als die Kreatur zu Boden fiel. Er leuchtete ihr mit seiner schweren Taschenlampe ins Gesicht. »Ich wollte ihn lebend haben, für eine Befragung«, erwiderte sie und drückte die Taschenlampe zur Seite. Das Licht schmerzte in ihren Augen. »Warum haben Sie so lange gebraucht?« Er zuckte liebenswürdig mit den Schultern. »Hier gibt es mindestens fünfzig Türen, und sie waren alle verschlossen.« Es spielte ja auch keine Rolle mehr. Er war da. Caxton rechnete schnell nach. »Ursprünglich gab es sieben von ihnen, vorausgesetzt, Jameson hat sie alle wiederbelebt.« »Sieben? Es wurden sieben Cops an diesen Tatort geschickt...« Offenbar wurde ihm erst jetzt klar, gegen wen er da gekämpft hatte. Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich habe oben einen erwischt.« Sie nahm ihm die Taschenlampe ab und richtete sie auf die beiden am Boden. Die Schrotladung hatte ihre Körper verkrümmt und völlig leblos gemacht. Sie richtete das Licht auf den mit dem eingeschlagenen Schädel. »Das macht vier.« »Zwei weitere haben versucht, in der Küche über mich 61 herzufallen«, sagte Glauer. »Sehen Sie.« Er versuchte, ihr einen bösen Schnitt am Arm zu zeigen. »Ging direkt durch Jacke und Hemd. Bloß ein kleines Schälmesser, aber der Kerl wollte mich unbedingt erwischen.« »Also sind sechs tot - damit bleibt einer«, zählte Caxton, viel zu sehr in die Situation vertieft, um sich um seinen Arm zu sorgen. Sie fuhr - von einer plötzlichen Intuition angeregt - herum und richtete den Lichtkegel auf die Eingangstür. Sie stand offen und ließ die Nacht herein. »Kommen Sie, schnell«, sagte sie, rannte auf die Veranda und weiter auf die Straße.
Zuerst sah sie nichts, da standen nur die Wagen auf der Straße. Sie hatte erwartet, dass der letzte Halbtote einen davon stahl und einen Fluchtversuch machte - und sie hatte bloß gehofft, dass das Monster nicht ihren Mazda nahm. Aber alle Autos waren da, wo sie hingehörten. »Dort«, sagte Glauer und zeigte auf die Straße. Seit ihrer Ankunft hatte sich eine dünne Schneeschicht auf dem Asphalt gebildet. Eine Spur aus Stiefelabdrücken führte in einem Bogen vom Haus fort nach Westen, auf den Highway zu. Glauer wollte in den Mazda steigen, aber sie schüttelte den Kopf. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Wir können ihn zu Fuß erwischen.« Sie rannte los. Das Licht der Straßenlaternen und das grelle Funkeln des Schnees ließen nach der Dunkelheit im Haus ihre Augen tränen. Aber sie hatte keine Probleme, der Spur zu folgen - die Fußabdrücke zeichneten sich dunkel auf der zugeschneiten Straße ab, und sie führten direkt nach Westen, wichen nie von der Richtung ab, als hätte der Halbtote über die Schulter geschaut, um zu sehen, ob er auch verfolgt wurde. In ihr stieg die böse Ahnung auf, zu wissen, was das zu bedeuten hatte. Trotz ihres kranken Humors und aller BösJ62 Willigkeit waren diese Halbtoten den Launen ihres Vampirs unterworfen. Sie konnten den Befehlen ihres Meisters genauso wenig widerstehen, wie sie sich selbst heilen und zurück ins Leben zu holen vermochten. Dieser hier floh nicht nur vor einem aussichtslosen Kampf - nein, er wäre bis zum bitteren Ende geblieben, hätte Jameson das so gewollt. Er befolgte einen ganz anderen Befehl. Caxton rannte so schnell, wie sie konnte, rutschte ständig in dem nassen Schneematsch aus. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, vernünftige Stiefel anzuziehen, sondern trug immer noch ihre Schuhe. Glauer trampelte hinter ihr her, mit sichererem Schritt als sie, aber nicht ganz so schnell. Und doch erblickte er den Halbtoten zuerst. Er rief und zeigte, und Caxton folgte der Richtung seines Fingers. Einen Block voraus rannte das Wesen. Es humpelte schlimm und eines seiner Hosenbeine war aufgerissen. Es hatte eine hässliche blutlose Wunde an der Wade, wo die Muskeln weggeschossen worden waren. Caxton wurde klar, dass dies derjenige sein musste, den sie mit ihren ungezielten Schüssen auf der Treppe verletzt hatte. Doch so behindert er auch war, er zwang sich zum Weiterlaufen. Sie hatte die Distanz zwischen ihnen auf einen halben Block reduziert, als sie bemerkte, dass sie die Straße verlassen würden. Vor ihnen beschrieb der Asphalt einen Bogen nach Süden, um dem Fluss zu folgen, aber der Halbtote rannte einfach geradeaus weiter. Sie versuchte, einen Sprint einzulegen, und stürzte um ein Haar mitten aufs Gesicht. »Glauer - schnappen Sie ihn sich, schnell!«, rief sie, und der große Cop trabte keuchend an ihr vorbei. Sie rannte hinter beiden her und traf gerade noch rechtzeitig an dem erhöhten Flussufer ein, um zu sehen, wie der Halbtote unbeholfen über den Rand sprang und wie ein Stein im pechschwarzen Wasser eintauchte. Er verschwand *3*
mit einem gurgelnden Jammern und war sofort aus der Sicht verschwunden. Glauer fing an, die Jacke abzustreifen, als wollte er ihm nachspringen, aber sie ergriff seinen Arm und riss ihn zurück. »Seien Sie kein Idiot«, stieß sie keuchend hervor. »Sie wären in Minuten erfroren.« »Aber er kommt davon!«, erwiderte Glauer aufgebracht. »Nein, das tut er nicht.« Caxton hatte sofort begriffen, was Jameson von seiner Kreatur verlangt hatte. Sie hatte keine Ahnung, ob das eiskalte Wasser ihr schadete, aber sie wusste, dass Halbtote nicht atmeten. Vermutlich verfügten sie nicht über viel Auftrieb. Er musste
wie ein Stein gesunken sein. Unter Wasser würde sein Gehirn einfrieren -und das war dann das Ende seines kurzen Nicht-Lebens. »Damals, als wir noch zusammengearbeitet haben - also ich meine Jameson und mich -, war es Standardpraxis zu versuchen, Halbtote zu fangen. Das war unsere beste Informationsquelle. Er wusste also, dass ich versuchen würde, mit dem hier zu sprechen, und er hat dafür gesorgt, dass ich keine Gelegenheit dazu bekam.«
Raleigh Ich habe lange auf dich gewartet. Endlich bist du gekommen. Heute Nacht werde ich trinken; bald trinken wir gemeinsam. E.E Benson, Das Zimmer im Turm 22.
Caxton und Glauer stapften durch den Schnee zum Haus zurück. Seit ihrer Ankunft in Bellefonte war es bedeutend kälter geworden, und der Himmel hatte jetzt die Farbe von Blei. Der Schneefall, der kurz nach Einbruch der Dämmerung angefangen hatte, hatte zwar wieder aufgehört, aber es sah so aus, als wären die Wolken für diese Nacht noch nicht fertig. »Wie sieht unser nächster Schritt aus?«, fragte Glauer. Seine Worte wurden von dem Lärm ihrer Schuhe beinahe übertönt, die den pulverigen Schnee zusammendrückten. In Caxtons Ohren klang das wie Zähneknirschen, wie grimmiges Zähneknirschen. Sie schüttelte den Kopf. Es war erst sieben Uhr, aber es fühlte sich schon sehr viel später an. »Wir sichern den Tatort. Rufen Sie die nötigen Leute an und warten auf sie.« »Ich meinte...«, setzte Glauer an, aber dann schüttelte er bloß den Kopf. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Astar-tes Haus war noch genauso, wie sie es verlassen hatten. Auf dem Streifenwagen hatte sich eine dünne Schneeschicht gesammelt, die nun den Schein der Blaulichter dämpfte, und statt in die Nacht zu blitzen glühten sie ruckartig, zuerst in der einen Farbe, dann in der anderen. Glauer wollte die Motoren der Wagen abstellen, doch Caxton verbot es - es war wichtig, die Integrität des Tatorts zu bewahren, und zwar bis ins letzte Detail. Sie kümmerte sich um die erforderlichen Anrufe. Ein einsamer Beamter des örtlichen Polizeireviers kam schnell, aber er tat kaum mehr, als gelbes Absperrband auszurollen. Das J63 Haus betrat er nicht. Als Nächstes kamen die Krankenwagen, aber die Sanitäter mussten auf den zuständigen Leichenbeschauer warten, damit jeder offiziell für tot erklärt wurde. Eine halbe Stunde später kam ein Mann vom Leichenschauhaus, ein verärgert aussehender Arzt in einem fellbesetzten Parka, dessen Kapuze hochgeschlagen war. Er betrat das Haus und kam fünf Minuten später wieder heraus. Er nickte den Sanitätern bloß zu, und sie gingen hinein. Nicht, dass es viel für sie zu tun gegeben hätte. In den anderen Häusern an der Straße erwachten Lichter zum Leben. Besorgt aussehende Leute schauten aus den Fenstern, aber keiner kam heraus, um sich alles genauer anzusehen. Glauer bot an, die Nachbarschaft abzugrasen, an den Türen zu klopfen und jeden zu fragen, ob er etwas gesehen hatte. »Ich bezweifle es zwar«, sagte er, »aber es wird sie beruhigen, wenn sie mit jemandem sprechen können.« Caxton war es ziemlich egal, was Astartes Nachbarn dachten, aber so hatte der große Cop immerhin etwas zu tun, und so ließ sie ihn mit einem erleichterten Seufzer gehen. Er war auf dem Bürgersteig auf- und abgegangen und hatte ausgesehen, als hätte er etwas zu sagen, ohne es dann aber tatsächlich auch auszusprechen.
Ihre eigene Anspannung stieg, sie wollte einfach hier weg. Es war Nacht - und es würde noch weitere zwölf Stunden Nacht sein. Sie wusste, dass sie sich vor Einbruch der Morgendämmerung nicht würde entspannen können. Da wartete Arbeit auf sie, aber sie konnte hier nicht weg, nicht, bevor sie den Tatort an jemanden übergeben hatte, der offiziell die Leitung übernahm. Ohne sich dessen bewusst zu werden fing sie selbst an, auf und abzutigern. Die Bewegung verhinderte wenigstens, dass ihre Beine einfroren. Ein Zivilfahrzeug jüngeren Baujahrs fuhr heran, und sie schaute mit zusammengekniffenen Augen durch das Licht der 64 Scheinwerfer und versuchte zu erkennen, wer dort drinnen saß- Es waren ein Mann und eine Frau. Sehr überrascht war sie, als sie dann ausstiegen: Fetlock und Vesta Polder. Der Deputy Marshal nickte ihr zu, dann ging er zu dem örtlichen Cop, der vor dem Hauseingang Wache hielt, um mit ihm zu sprechen. Vesta kam auf direktem Weg zu Caxton und ergriff ihre Hände. Die ältere Frau schaute über ihre Schulter und musterte die Bäume, die die Straße säumten, als erwartete sie, dort Geister zu sehen. »Astarte ist von uns gegangen«, sagte sie, und es war keine Frage. »Normalerweise wäre ich nicht gekommen, vor allem nicht zu dieser späten Stunde. Ich mag es nicht, nachts von meinem Zuhause... weg zu sein, wie Sie wissen. Aber ich muss sie sehen.« Caxton war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Es verstieß gegen jedes ihr bekannte Protokoll, einen Zivilisten an einen Tatort zu lassen, der noch untersucht wurde. Manchmal machte man Ausnahmen für direkte Familienangehörige, aber Vesta Polder war ja gar nicht mit den Arkeleys verwandt. Und sie wollte auch nicht erklären, warum es ihr so wichtig war, die Tote zu sehen. Sie starrte Caxton bloß in die Augen, als wollte sie sie hypnotisieren. »Kommen Sie«, sagte Caxton schließlich. Es war noch immer ihr Tatort, bis der Detective vom örtlichen PD eintraf, also war es auch noch immer ihre Sache, wer das Haus betreten durfte. Sie führte Vesta hinein, schärfte ihr ein, nichts anzufassen, und brachte sie in das Zimmer, in dem Astartes Leben sein Ende gefunden hatte. Die Witwe lag noch genauso da, wie Caxton sie aufgefunden hatte. Das Blut auf dem Boden hatte in der Wärme des Hauses zu trocknen angefangen, aber Vesta ging mit kleinen, behutsamen Schritten umher und achtete peinlichst darauf, nichts davon an ihre schwarzen Stiefel zu bekommen. Caxton 64
kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht bloß zimperlich war. Vesta trat ans Bettende und schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich zwar, aber Caxton konnte nicht hören, was sie sagte. Vermutlich ein Gebet. Als sie fertig war, blieb sie dort stehen, die Augen geschlossen, die Hände leicht vom Körper abgespreizt. Caxton fragte sich, wie lange das dauern würde. Nach ein paar Minuten räusperte sie sich, und Vesta öffnete die Augen. »Der Größe der Wunde nach zu urteilen würde ich sagen, dass er ihr keine großen Schmerzen zugefügt hat«, meinte Caxton und zeigte auf Aastartes Arm. »Als er Angus tötete, hatte er es sehr eilig, aber hier hat er sich Zeit gelassen.« Vesta nickte zustimmend. »Zuerst seinen Bruder. Jetzt seine Frau.« »Wissen Sie schon, warum er sie getötet hat?«, fragte Vesta. Sie selbst klang, als wüsste sie den Grund bereits und wollte nur hören, dass Caxton es laut aussprach. Das war ziemlich typisch für Vesta Polder. Sie sah alles und wusste alles - zumindest wollte sie das Glauben machen. Caxton war ziemlich davon überzeugt, dass es nur
Theater war, eine erprobte Technik, um Menschen aus der Reserve zu locken und sie dazu zu bringen, das zu verraten, was sie wussten. Sie fand es noch immer unheimlich. »Ich glaube, er hat beiden das gleiche Angebot gemacht. Sie konnten ebenfalls Vampire werden und sich zu ihm gesellen, oder sie konnten auf der Stelle sterben. Was den Grund betrifft, so verstehe ich ihn noch immer nicht so richtig.« »Er hat sie geliebt«, erwiderte Vesta Polder. »Er liebte sie, aber sie waren Menschen, und für einen Vampir ist menschliches Leben etwas Verachtenswertes. Er konnte diese beiden Emotionen nicht miteinander in Einklang bringen. Um diese Anspannung loszuwerden, musste er sie entweder zu seines 65 gleichen machen, sie auf seine Ebene holen, oder sie auslöschen.« »Das verstehe ich ja«, sagte Caxton mit einem Schulterzucken. »Aber Vampire betrachten uns als Beute. Als Nutzvieh. Er hat von keinem von beiden getrunken, er hat sie bloß verletzt und ausbluten lassen.« »Vielleicht ist das für Jameson ja jetzt eine Form der Zuneigung«, sagte Vesta. »Er schläfert sie ein, wie man es bei einem geliebten Haustier tun würde, statt sie wie eine Kuh oder ein Schwein zu einer Mahlzeit zu machen.« Sie ging um das Bett herum und beugte sich über Astartes Gesicht, nahe genug, dass Caxton warnend die Hand hob. Vesta fuhr mit der Hand an Astartes Mund vorbei und ließ dann die beringten Finger zuschnappen, als finge sie eine Fliege. »Sie ist fort von hier. Jameson wird sie nicht als Halbtote wieder auferstehen lassen können. Darum kam ich her. Darf ich ihre Augen schließen?« Wieder war das etwas, das man am Tatort eines Mordes einfach nicht tat, aber Caxton biss sich einfach auf die Unterlippe und nickte. Vesta schob die Lider der toten Frau sanft nach unten, mit zwei Fingern der linken Hand. Dann trat sie zurück. Offensichtlich war sie nun fertig. Aber bevor sie gehen konnte, hatte Caxton noch ein paar Fragen. »Die Nacht hat gerade angefangen. Ich habe die Sorge, dass er erneut zuschlägt.« »Heute Nacht nicht«, sagte Vesta und schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre blonden Ringellocken über die Schultern des strengen schwarzen Kleides strichen. »Das hier hat ihn gerührt. Es hat den Teil seines Herzens berührt, das noch lieben kann. Er wird in sein Versteck zurückkehren und schmollen.« Caxton konnte sich Jameson wirklich nicht schmollend 65 vorstellen, aber sie akzeptierte, was Vesta Polder gesagt hatte. Irgendwie wusste sie Dinge, die anderen Leuten verborgen blieben. Es war aber besser, sich die Frage zu verkneifen, woher sie sie wusste. »Sie wissen nicht zufällig, wo sich sein Versteck befindet, oder?« Vesta schüttelte erneut den Kopf. »Das bleibt mir und allen menschlichen Augen verborgen. Gute Nacht, Astarte«, sagte sie dann. Sie setzte sich in Bewegung, aber Caxton hielt sie auf. »Sie haben sich große Mühe gemacht, um heute Nacht herzukommen.« »Astarte war eine Freundin. Jemand musste kommen, um das zu tun, was ich tat.« Caxton war da anderer Meinung. »Raleigh hat mir bei der Gedenkfeier von ihnen beiden erzählt. Sie sagte, Sie und Astarte hätten sich entzweit oder so etwas. Verraten Sie mir, worum es da ging? Sie sagte, sie hätten seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen.« »Sind Sie selbst noch nicht darauf gekommen?«, fragte Vesta Polder und sah zur Seite. »Ich hatte natürlich eine Affäre mit Jameson.« Caxton konnte sich schon nicht vorstellen, wie Jameson in seinem Versteck schmollte, aber das konnte sie sich erst recht nicht vorstellen. Nicht in tausend Jahren.
Vesta Polder hob das Kinn und starrte zur Decke. »Das war 1987. Jameson und Astarte waren erst ein paar Jahre verheiratet, aber sie hatten bereits angefangen, sich zu entfremden. Natürlich war es eine Art arrangierte Ehe gewesen. Jameson war der schneidige Held, der die große Finsternis besiegt hatte - der Mann, der ganz allein die Vampire vom Antlitz der Erde getilgt hatte. Zumindest dachten wir das. Er erzählte keinem, dass Justinia Malvern überlebt hatte, jedenfalls anfangs nicht. Astarte kam aus einer sehr respektablen, 66
alten Familie. Sie konnte ihren Stammbaum bis zur Gründung dieses Staates zurückverfolgen.« »Sie meinen den Plymouth Rock, wo die Pilgerväter landeten?« Vesta lächelte. »Ich meine Salem. Aber sie passten nicht gut zusammen. Zumal er zwanzig Jahre älter war als sie. Sie waren niemals glücklich. Er verbrachte zu viel Zeit bei der Arbeit und ließ sie hier den Haushalt führen, so gut wie auf sich allein gestellt. Eigentlich schien er bloß vorbeizukommen, um sie zu schwängern - in jenem Herbst und dann im Winter des darauf folgenden Jahres. Sie musste die Kinder allein großziehen, eigentlich war sie eine allein erziehende Mutter. Ich half ihr dabei, so gut ich konnte - damals war ich weniger eingeschränkt in meiner Zeit. Sie müssen wissen, sie war meine beste Freundin. So habe ich Jameson kennengelernt. Damals habe ich ihn überhaupt nicht leiden können. Sicher, er hat sie nie geschlagen, das nicht, und jedes Wort aus seinem Mund war liebevoll, trotzdem hielt ich ihn aufgrund der Weise, auf die er sie vernachlässigte, für ein echtes Monster.« »Und doch haben Sie sich irgendwie auf ihn eingelassen«, sagte Caxton. »Einige von uns finden Monster sehr attraktiv«, sagte Vesta. Auf ihren Lippen lag ein wissendes, hämisches Lächeln, das Caxton innerlich zusammenzucken ließ. »So ein kräftiger Mann. Leidenschaftlich und besessen. Es ist sehr schwer, dieser Art Aufmerksamkeit zu widerstehen, wenn sie auf einen gerichtet wird.« Caxton kratzte sich an der Augenbraue. »Als ich kürzlich mit Astarte, äh, sprach, deutete sie, nun ja, an, dass er und ich ebenfalls... romantisch verbunden gewesen wären.« »Das ist sehr albern. Jeder mit Augen im Kopf sieht doch, dass Sie Frauen lieben.« 66
Die Unterhaltung hatte eine Richtung eingeschlagen, die ihrer Untersuchung nichts nutzen würde, entschied Caxton. Sie führte Vesta aus dem Zimmer und dann aus dem Haus. Fetlock wartete schon auf sie. Er wirkte ungeduldig. »Also kennen Sie diese Frau«, sagte er, als Vesta Polder wieder in seinen Wagen stieg. »Sie kam kurz nach Ihrem Aufbruch ins HQ der State Police und verlangte, auf der Stelle zu Ihnen gebracht zu werden. Ich wollte ihren Ausweis sehen, aber sie behauptete, dazu wäre keine Zeit.« »Vermutlich hat sie nicht einmal einen Ausweis. Sie lebt weit abseits... von allem. Aber sie gehört zu den Guten.« Fetlock nickte. Offenbar reichte ihm, dass sie für Vesta Polder bürgte. »Davon könnten wir mehr gebrauchen. Vor allem, da wir gerade sieben verloren haben.« Er wies mit dem Kopf in Richtung Haus. »Ihnen ist doch wohl klar, dass das nicht gut aussieht, oder? Das war gewissermaßen ein Desaster.« Caxton musste sich eingestehen, dass sie seine Sichtweise verstehen konnte. »Wenn man Vampire bekämpft, gibt es eben Opfer«, murmelte sie. Genau das Gleiche hätte auch Jameson sagen können. »Sagen Sie mir, dass es wenigstens eine Erfolgsmeldung gibt«, beharrte er. Caxton blickte ihm direkt in die Augen. »Ich weiß, wo er als Nächstes zuschlägt.«
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Also gut«, sagte Fetlock. »Sagen Sie mir, was Sie wissen. Und woher Sie es wissen.« Caxton setzte sich auf die Motorhaube seines Wagens. Die Wärme des Motors sickerte durch ihre Kleidung. »Er machte 67
seinem Bruder Angus ein Angebot - werde wie ich oder stirb. Heute Nacht hat er seiner Frau das gleiche Angebot gemacht. Er ist hinter seiner eigenen Familie her. Er glaubt, ihnen damit einen großen Gefallen zu tun, wenn er sie so unsterblich und mächtig macht, wie er selbst es ist. Sie sehen das aber anders, und soweit es ihn betrifft, blieb ihm bis jetzt nur die Möglichkeit, sie schmerzlos zu töten. Er kann sie einfach nicht in Ruhe lassen.« »Aber warum?«, fragte Fetlock. »Was hat er davon?« »Verstärkung. Er weiß, dass er nicht unverwundbar ist. Er hat zu viele Vampire getötet, um das zu glauben. Ganz egal, wie hart er auch sein mag, es wird eine Zeit kommen, in der er einfach nicht hart genug sein wird. Wenn ihn jemand endgültig erwischt. Ich glaube nicht, dass er sich wegen mir große Sorgen macht. Ich bin doch nur irgendeine Person... und er kennt meine besten Tricks, denn er hat sie mir ja beigebracht. Für sich allein genommen ist niemand stark genug, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Aber er ist schlau, und er weiß, dass er kräftemäßig unterlegen ist. Kann ich ihn nicht aufhalten, wird er es irgendwann mit mehr von meiner Sorte zu tun bekommen. Will er weiterhin Blut trinken - und er kann jetzt nicht mehr damit aufhören -, wird er um jeden Tropfen mit uns kämpfen müssen. Das weiß er. Erschafft er neue Vampire, können sie an seiner Seite kämpfen.« »Also ist er jetzt der Vampir Zero. Genau das, wovor Sie gewarnt hatten.« Sie nickte. »Zumindest versucht er, es zu werden. Angus und Astarte haben ihn beide zurückgewiesen.« »Sie glauben, er wird das Angebot auch anderen machen.« »Ja. Ich glaube, er wird auf jeden zugehen, den er einst als Mensch liebte - angeblich. Jameson Arkeley war vieles, aber ein guter Familienmensch war er nun wirklich nicht. Er hat so viel Distanz zwischen sich und seinen Bruder gelegt, wie 67 er nur konnte, und nicht einmal zurückgeblickt - sie hatten sich zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Er hat seine Frau betrogen und beinahe verlassen. Seine Kinder kannten ihn kaum. Seine Kinder...« »...sind die nächsten auf der Liste«, fuhr Fetlock fort. »Mein Gott.« Er drückte die Finger gegen die Schläfen und führte sie dann nach unten, die Wangen hinunter. »Es sind zwei, oder? Raleigh und Sam?« »Simon«, korrigierte Caxton. »Er ist zwanzig, sie ist neunzehn. Viel zu jung, um zu sterben. Ich weiß nicht, bei wem er es zuerst versuchen wird, aber ich habe bereits einen Termin mit Raleigh - morgen. Sie lebt außerhalb von Allentown. Das ist oben im Kohlenland, ich bin ganz in der Nähe aufgewachsen. Ich kenne die Gegend gut, also ist es ein passender Ort, um sich ihm zu stellen. Wenn ich dort sein kann, wenn Jameson auftaucht, kann ich einen Hinterhalt legen, und vielleicht ist es dann vorbei. Was Simon angeht, bin ich mir eher unsicher. Ich wollte mit ihm reden, aber er war nicht sehr zugänglich, um es höflich auszudrücken. Er wird nicht kooperieren. Er lebt auch weiter entfernt. Er studiert oben in Syracuse.« »Sie sind in Ihrer Zuständigkeit nicht mehr auf den Bundesstaat beschränkt, jetzt, da Sie ein Fed sind«, erinnerte sie Fetlock. »Ich kann ein paar Deputies vorbeischicken, um ihn zu holen. Ihn in Schutzhaft nehmen. Der Marshals Service verfügt über einige
Schutzverstecke, die wir benutzen können. Wir sind für das Zeugenschutzprogramm tätig - wir können den Jungen auf jeden Fall für ein paar Tage unterbringen.« »Aber nicht gegen seinen Willen. Wie ich bereits sagte, er wird nicht kooperieren. Jedenfalls nicht freiwillig.« »Nein. Aber wenn wir ihn davon überzeugen können, dass sein Leben in Gefahr ist, warum sollte er sich dann weigern? Wie sicher sind Sie, dass er jetzt hinter seinen Kindern her ist?« »Neunzig Prozent. Er hat mir am Telefon gesagt, ich solle 68 mich von seiner Familie fernhalten. Ich glaube, das war ein ziemlich deutlicher Hinweis, dass er...« »Was? Was war das?« Fetlock trat einen Schritt näher heran und beugte sich vor, als könnte er sie so besser verstehen. »Haben Sie gerade gesagt, dass Sie mit Jameson Arkeley am Telefon gesprochen haben?« Es war sinnlos, das abzustreiten. »Ja. Er hat sich das Mobiltelefon des Einsatzgruppenführers genommen. Ich rief die Nummer an, weil ich mit dem befehlshabenden Trooper sprechen wollte, aber da war der Mann bereits tot. Jameson antwortete an seiner Stelle und wollte mich warnen. Das wird alles in meinem Bericht stehen, ich schwöre es.« Fetlock richtete sich auf und kratzte sich an der Nase. »Das... das ist interessant.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe auch von Malvern gehört. Eine SMS.« Fetlock verlor etwas die Farbe. »Hören Sie«, sagte er. »Ich werde Ihnen ein neues Telefon besorgen. Wir wechseln einfach die SIM-Karte aus. Aber mit dem Telefon, das ich Ihnen gebe, können Sie Anrufe aufnehmen. Außerdem kann ich mithören. Falls er Sie erneut anruft, werden wir zumindest einen Mitschnitt von seinen Worten haben.« Caxton runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, wenn Sie meine Anrufe abhören. Das ist doch ein ziemlicher Einbruch in meine Privatsphäre, finden Sie nicht?« »Das ist ein Teil Ihrer Arbeit. Außerdem benutzen Sie Ihr Handy ja nicht für persönliche Anrufe. Es ist ein Diensttelefon, oder? Die Regierung zahlt für diese Einheiten, also gehören sie dem Steuerzahler und nicht Ihnen.« Caxton zwang sich zu einem Lächeln. »Also gut, Deputy Marshal .« *68 »Sieht aus, als wüssten Sie, was zu tun ist. Morgen fangen Sie damit an, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Aber was ist mit heute Nacht? Wird Arkeley noch irgendwo anders zuschlagen?« Caxton zuckte mit den Schultern. Sie dachte an Vesta Polders Worte - dass Jameson in seinem Versteck schmollte. Aber es gab noch einen besseren Grund für die Annahme, dass er für diese Nacht fertig war. »Vermutlich nicht. Er hat genug getrunken, um für eine Weile satt zu sein, und er hat noch nicht den Punkt erreicht, wo er zum Spaß tötet. Gott sei Dank.« Fetlock nickte. »Ich will alles wissen, was sich heute Abend hier abgespielt hat. Aber ich sehe, dass Sie erschöpft sind. Gehen Sie schlafen. Sie können alles in Ihren Bericht aufnehmen, den Sie mir morgen schicken.« Nach diesen Worten fuhr er los und nahm Vesta Polder mit. Kurz darauf traf der Polizeichef des Bellefonte Police Departments ein. Caxton schüttelte ihm die Hand und gab ihm einen kurzen Überblick über die Ereignisse. Sie wollte sich die blutigen Einzelheiten ersparen - die konnten ihm auch seine eigenen Leute erzählen. Nachdem sie ihm den Tatort offiziell übergeben hatte, konnte sie es gar nicht mehr erwarten, hier zu verschwinden.
Glauer ging noch immer von Tür zu Tür und informierte Astartes Nachbarn, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Sie rief ihn und teilte ihm mit, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war. »Ich fahre Sie zum HQ zurück. Wir sollten beide vor Mitternacht im Bett sein - morgen wartet ein arbeitsreicher Tag auf uns.« Er sagte kein Wort. Sie ging voraus zu ihrem Wagen, aber er blieb dort einfach stehen und starrte Astartes Haus an. Ein paar Lichter waren eingeschaltet worden, und die Haustür stand weit offen. Caxton konnte sehen, wie sich ein paar Cops 69 über die Leichen der drei Halbtoten beugten. Blitzlichter verrieten, dass ein Fotograf am Tatort war - was sie an Clara denken ließ. Clara, die zu Hause auf sie wartete. Vielleicht würde sogar eine warme Mahlzeit warten. »Kommen Sie, Glauer, ich bin müde«, sagte sie. Der große Cop drehte sich um und sah sie traurig an. Er machte keinerlei Anstalten einzusteigen. Sie wusste, was ihm unter die Haut ging. »Es hieß sie oder wir«, sagte sie. »Es waren Polizisten.« »Es waren Halbtote«, erwiderte sie. »Sie waren nicht mehr sie selbst.« »Sie waren aber Polizisten, bevor sie zu Halbtoten wurden«, sagte er. »Sie haben sie herbeordert. Sie haben sie in dem Wissen hergeschickt, dass er sie umbringt.« »Nein, da irren Sie sich«, beharrte sie. »Ich habe sie in dem Wissen hergeschickt, dass lediglich die Möglichkeit besteht, dass sie getötet werden könnten. In dem Wissen, dass das zu ihrem Job gehört. Polizisten bringen sich ununterbrochen in Gefahr. Dafür leisten sie einen Eid. Dafür haben auch wir einen Eid geleistet.« Er schüttelte den Kopf. »Es stimmt«, sagte er, »Polizisten haben es ständig mit Verbrechern zu tun, und manchmal, gelegentlich, wird auch auf einen ihnen geschossen. Manchmal wird sogar einer getötet. Das hier war aber etwas anderes, etwas weit Schlimmeres. Ich gebe nicht Ihnen notwendigerweise die Schuld an ihrem Tod. Aber der Leichenstapel wird immer höher.« »Darum tun wir das: um Jameson daran zu hindern, noch mehr zu töten.« »Wirklich?«, fragte Glauer. »Ja, verdammt!« Caxton sah den großen Cop stirnrunzelnd an. »Ja. Alles, was ich tue. Seit Oktober ist jeder Tag meines 69 Lebens dieser Aufgabe gewidmet. Jede Nacht riskiere ich mein Leben, und ich bitte niemanden, etwas zu tun, zu dem ich nicht selbst bereit wäre. Manchmal muss ich schwere Entscheidungen treffen. Ich muss sie schnell treffen. Manchmal treffe ich auch falsche Entscheidungen.« »So wie heute Abend. Ich sage ja bloß...« »Ich habe alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt. Steigen Sie ein, bevor ich mir den Arsch abfriere.« »Sie müssen vorsichtiger mit den Menschen in Ihrer Umgebung sein. Vielleicht ist es Ihnen ja egal, ob Sie leben oder sterben, aber die Familien dieser Männer...« »Steigen Sie in den gottverdammten Wagen!« »Ja, Deputy«, knurrte er und riss die Beifahrertür auf. »Es heißt Special Deputy!«, fauchte sie zurück und stieg ein. Wortlos fuhr sie ihn nach Harrisburg zurück. Als sie eintrafen, sprang er aus dem Wagen und lief ins Gebäude, ohne ihr auch nur einen Blick zu widmen.
24.
Reines, weißes Licht strömte durch Caxtons Fenster und weckte sie. Während der Nacht hatte es so viel geschneit, dass sich die weiße Pracht bis zur Scheibe auftürmte. Sie konnte nicht einmal mehr den Hinterhof sehen. Aus der Küche drang der Geruch von Schinken und Eiern. Zögernd trat sie die Heizdecke weg und ging im Schlafanzug zum Tisch. Clara strahlte sie vom Herd aus an. »So, wie du ausgesehen hast, als du gestern Abend reinkamst, dachte ich mir, du könntest bestimmt eine handfeste Mahlzeit gebrauchen.« 70 Caxton bemühte sich, das Lächeln zu erwidern, aber ihr Gesicht war einfach nicht dazu fähig. Als Clara eine Tasse Kaffee vor ihr abstellte, schlürfte sie einen Schluck, dankbar zwar, aber unfähig, es zu sagen. Sie wollte Clara alles erzählen, was passiert war. Sie wollte den Arm um ihr Bein schlingen und sie umarmen. Auch das brachte sie nicht zustande. »Ich habe nachgedacht«, sagte Clara, als sie mit ihren Omeletts fertig war und sie auf den Tisch gestellt hatte. »Was du da gestern gesagt hast. Es versteht sich doch von selbst, dass ich nicht deine Forensikspezialistin sein kann. Aber vielleicht könnte ich tun, was du gesagt hast. Du weißt schon, Koordination. Ich könnte mit dir zusammenarbeiten. Wenn dir damit geholfen wäre.« Laura riss die Augen auf. »Das wäre es.« Clara nickte und fing an zu essen. »Du kannst mich auch jeden Tag zum Mittagessen einladen. Falls du möchtest.« »Das tue ich«, erwiderte Laura. »Wo müssen wir dann heute hin?« »Äh...« »Äh?« »Da gibt es ein Problem«, sagte Laura. »Heute fahre ich nach Allentown. Um mit Jamesons Tochter Raleigh zu sprechen. Und vermutlich muss ich dort auch die Nacht verbringen.« »Natürlich«, sagte Clara und trat wieder an den Herd. »Hey«, sagte Laura so tröstend, wie sie konnte. »Bis jetzt warst du toll. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, um noch mehr Verständnis zu bitten. Aber ich brauche es trotzdem.« »Ja«, erwiderte Clara. »Ja, natürlich ist das okay. Ich vermute, sie schwebt in Todesgefahr, dieses Mädchen.« »Ihr eigener Vater will sie umbringen.« Clara drehte sich mit einem traurigen Lächeln um. »Damit 70 kann ich nicht mithalten. Fahr hin. Tu, was du am besten tust. Ich bin hier, wenn du heimkommst.« Laura küsste sie. Sie aß ihren Schinken und ihre Eier, auch wenn sie nichts davon schmeckte, weil sie mit den Gedanken anderswo war. Dann zog sie sich an. Eine halbe Stunde später war sie unterwegs zu ihrem Büro. Arbeit war zu erledigen. Zum einen musste sie ihren Bericht über die Katastrophe der vergangenen Nacht verfassen. Ihr neues Mobiltelefon wartete schon in seinem Karton auf ihrem Schreibtisch - Fetlock hatte es wohl während der Nacht liefern lassen. Denn die Feds reisen schnell, dachte sie. Es war größer und kompakter als ihr altes, mit einem winzigen schwarz-weiß Display. Seufzend fummelte sie die SIM-Karte aus dem alten Gerät, verfrachtete sie in die neue Bestie und schob sie in die Tasche. Bereits einen Augenblick später klingelte es. Fetlock rief an.
»Sie passen auf Raleigh auf?«, fragte er, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Gut. Lassen Sie sich nicht von mir aufhalten. Ich habe gesehen, dass Sie das neue Telefon aktiviert haben, also dachte ich mir, ich probier es mal für Sie aus.« »Anscheinend funktioniert es«, sagte sie. »Ja, hier auch. Hören Sie, ich habe Ihnen gerade eine E-Mail geschickt - sehen Sie bitte kurz rein. Ich warte.« Wahrend Caxton den Computer einschaltete, erklärte er: »Ich habe meine besten Leute auf die Videobänder aus unserem Archiv angesetzt. Ich dachte, wir könnten unseren Eindringling auf frischer Tat ertappen. Und es sieht so aus, als hätten wir da etwas.« Caxton öffnete die E-Mail und sah ein Bild. »Das ist der Kerl, der Jamesons Akten stahl?« »Ich glaube schon«, bestätigte Fetlock . »Wir haben ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde aufnehmen können, aber meine Leute haben das Bild digital analysiert und etwas aufhellen können. Ich war der Meinung, Sie sollten sich das ansehen.« r5°
Das Foto auf dem Bildschirm zeigte einen Mann im hellblauen Anzug, der den Metalldetektor passierte. Die Aufnahme war bestenfalls verschwommen, und das Gesicht war überhaupt nicht zu sehen - nur der Hinterkopf des Mannes. Sein Haar hätte braun oder schwarz sein können - das Bild war zu schlecht beleuchtet, um das genau sagen zu können. »Er benutzte Jamesons Ausweis, nicht wahr? Aber er ist es nicht.« »Sie glauben nicht, das könnte ein verkleideter Vampir sein?« Caxton runzelte die Stirn. »Möglich wäre es. Manchmal verändern Vampire ihr Erscheinungsbild. Sie setzen eine Perücke auf, benutzen Make-up. Ich kannte einen, der riss sich die Spitzen seiner Ohren ab, damit sie menschlicher aussahen.« Sie tippte auf den Bildschirm. »Aber das da ist anders. Diese Vampire würden niemanden hereinlegen können, höchstens auf große Entfernung. Man würde schon einen Maskenbildner aus Hollywood brauchen, damit sie so menschlich aussehen. Nein, ich bin immer noch der Meinung, dass das ein Mensch ist, der sich für Jameson ausgibt. Er hat einen menschlichen Helfer gefunden und ihn an seiner Stelle geschickt. Aber da ist noch etwas. Er hat alle Finger. Jameson fehlen alle Finger an der einen Hand.« »Er könnte eine Prothese tragen«, meinte Fetlock. »Ein Kerl betritt Ihre Behörde, mit Puder im Gesicht, einer offensichtlichen Perücke und einer falschen Hand.« Caxton verdrehte die Augen. »Selbst wenn das Make-up gut war, glauben Sie nicht, dass das jemandem aufgefallen wäre?« »Also war es definitiv nicht Jameson. Was nur weitere Fragen aufwirft.« »Ja. Nun, wenn es das war - ich muss los. Die Zeit rast«, sagte Caxton. Der Einbruch in das Archiv interessierte sie verhältnismäßig wenig. Die Aussicht, noch eines von JameiS71
sons Familienmitgliedern zu verlieren, beunruhigte sie viel mehr. Aber sie war noch nicht ganz so weit. Vor ihrem Aufbruch steckte sie den Kopf in den Konferenzraum. Sie hoffte, Glauer dort zu finden. Sie wollte sich bei ihm entschuldigen. Es war für alle eine schlimme Nacht gewesen, aber er hatte den Mist nicht verdient, den sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Er war genau da, wo sie es erwartet hatte, und er war fleißig gewesen. Er hatte sich die Freiheit genommen und die Tafel aktualisiert. Für das VAMPIRMUSTER #2 hatte er unter den Aufnahmen von Rexroths/Carboys Opfern Bilder der Familie Carboy angeklebt. Für VAMPIRMUSTER #1 hatte er Bilder der State Trooper und Polizisten aufgetrieben, gegen die sie in Astartes Haus gekämpft hatten, außerdem war da der anonyme Halbtote aus dem Motel, in dem Angus gestorben war. Jamesons Bruder und Witwe hatten beide ihre eigenen Plätze bekommen, mit Rot
eingekreist. Auf der Tafel wurde es allmählich eng; für zukünftige Opfer war nicht mehr viel Platz. Es war in Ordnung, dass er sich darum gekümmert hatte -aber als sie sah, was er sonst noch gemacht hatte, wäre sie um ein Haar ausgerastet. Er hatte eines von Dylan Carboys Notizbüchern genommen - das, das mit Blut zusammengeklebt gewesen war und alle Seiten voneinander getrennt. Sie lagen wie ein übergroßes Tarotspiel über alle Tische ausgebreitet. Sie hatte ihm ausdrücklich befohlen, sich nicht mehr um die Notizbücher zu kümmern. Offensichtlich hatte er aber entschieden, sich nicht an ihre Anweisungen halten zu müssen. Doch bevor sie explodieren konnte, hob er die Hände. »Ich kann es erklären. Ich weiß, dass Sie das alles für Müll halten. Und der größte Teil ist es fraglos auch. Da gibt es ganze Abschnitte, wo er bloß den Text seiner Lieblingslieder kopierte, auf manchen Seiten hat er Ausdrucke von Webseiten eingeklebt, manche ohne Sinn und Verstand. Anscheinend war er eine Weile völlig von dem Schulmassaker von Columbine besessen. Ich glaube, er plante etwas Ähnliches an seinem College - für den Anlass hat er vermutlich auch das Schrotgewehr gekauft.« Er klopfte auf einen der Tische. »Aber hier fangen die Dinge an, sich zu verändern. Keiner der Einträge ist datiert, aber er spricht von einer Fernsehserie, die er sah, und ich habe ein bisschen nachgeschlagen. Die von ihm erwähnte Episode lief in der ersten Oktoberwoche.« »Direkt nachdem Jameson den Fluch annahm«, meinte Caxton. »Genau.« Glauer hob eine Seite hoch. »Die Serie ist nicht wichtig, aber sie gibt uns einen Zeitrahmen für die Veränderung. Vor diesem Datum sind die meisten seiner Einträge langatmig und wirr: er ist der Meinung, dass ihn keiner versteht - und er fühlte sich sogar seiner Familie entfremdet. Dann kommt aber die hier. Zuerst sticht sie nur hervor, weil sie so kurz ist: >Heute Nacht sah ich ihn draußen vor meinem Fenster. Er ist jetzt nahe und kommt näherEr sagte mir, dass die Starken immer die Schwachen jagen werden. So sind die Gesetze der Natur. Er sagte: ist man schwach, hat man die Pflicht, stärker zu werden, oder man sieht zu, dass man den anderen nicht im Weg steht. Niemand ist so stark wie erer< ist Jameson. Sie glauben, er hatte irgendwie Kontakt mit Carboy. Und vermutlich nicht durch ihre MySpace-Seiten.« »Wir wissen, dass sie telepathisch kommunizieren können«, meinte Glauer zaghaft. Das konnte Caxton nicht abstreiten - in ihren Verstand waren schon mehr Vampire eingedrungen, als ihr lieb war. »Nach der zweiten Oktoberwoche fängt er an, auch von einer >sie< zu sprechen. Hier: >Sie war einst wunderschön, und sie könnte es wieder sein. Es wäre eine Ehre, sie zu nähren, sie gesund zu machen. Es wäre eine Tat der Liebe