1.
Das Erwachen war wie an jenem Tag in der Steppe, als wir das Einhorn jagten. Es war heiß, und die Trage schaukelte ...
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1.
Das Erwachen war wie an jenem Tag in der Steppe, als wir das Einhorn jagten. Es war heiß, und die Trage schaukelte leicht. In das Gefühl des Schwindels und der Übelkeit mischte sich ein stechender Schmerz im Hinterkopf, der den strahlend blauen Himmel schwarz vor meinen Augen werden ließ – so schwarz wie das grinsende, schweißbedeckte Gesicht Malaubs, dessen weiße Zähne blitzten, als er rief: »Hoa! Halt! Ubali ist wieder bei uns!« Ich erinnerte mich, wie wir ausschwärmten, und an das Stampfen der mächtigen Beine des Kolosses, an den gewaltigen Schädel, der plötzlich im hohen Gras vor mir auftauchte, das schimmernde Horn zum Stoß gesenkt. Danach an den Schmerz. Diesmal fehlte Malaubs Gesicht, sonst wäre diese Erinnerung vollkommen gewesen. Einen Augenblick wenigstens, dann wußte ich, daß es Bilder aus meiner Kindheit waren und daß Shi-buts Steppen in unendlicher Ferne lagen. Andere Erinnerungen quälten mich und gaben mir das Gefühl von Gefahr und sagten mir, daß der blaue Himmel fremd war, in den ich mit zusammengekniffenen Augen starrte.
Das sanfte Schaukeln war nicht das einer Trage, sondern glich mehr dem eines Schiffes. Das war seltsam. Dann geisterte Arrics Gesicht mit einem verschlagenen Lächeln durch mein erwachendes Bewußtsein, und ich setzte mich mit einem Ruck auf. Der Schmerz löschte einen Augenblick lang alles aus. Meine Hände krallten sich an den Kopf und fanden die Wunde. Ich erinnerte mich der angriffslustigen Wolke und ihrer Wehrhaftigkeit, als Arric mit dem Feuer auf sie losging. Der Steinhagel. Und ausgerechnet mich mußte es treffen. Immerhin, ich lebte noch. Mit halbgeöffneten Augen starrte ich um mich. Was ich sah, erschreckte mich. Ich lag auf einem weißen, weichen Gebilde, das der Wind vor sich herzutreiben schien. Ich versuchte mich aufzurichten, aber es war schwierig bei den schaukelnden Bewegungen. Als ich stand, sah ich den auf und ab tanzenden Horizont weit entfernt. Der Anblick verursachte mir Übelkeit. Es war nicht wie auf dem Luftschiff des Königs, es war mehr, als triebe man im Einbaum in rauher See. Aber das Entsetzen vertrieb die Übelkeit rasch. Ich befand mich auf der Wolke, und des Königs Götter mochten wissen, wie ich hierherkam. Der Wind trieb mich irgendwohin. Ich war allein. Damit hatte Arric freie Hand. Und er würde sie nützen. Ich versuchte an den Rand der Wolke zu gelangen, aber irgend etwas warnte mich eindringlich – wie eine
innere Stimme. Ich blieb in sicherer Entfernung, obwohl es sehr unbefriedigend war, weil ich nichts von dem Land unter mir sehen konnte, nur den Horizont ringsum, und der bestand aus den Wipfeln von Bäumen, so weit das Auge reichte. Es war alles andere denn ermutigend. Ich wußte nicht, wie lange ich schon auf dieser Wolke trieb – Stunden? Tage? Ich hatte es oft genug gesehen, daß es Tage währen mochte, bis der Geist wieder in den Körper zurückkehrte, wenn der Schlaf kräftig genug war. Der Wind mochte mehrmals gewechselt haben, und wenn ich mich recht erinnere, besaß die Wolke nicht zu unterschätzende eigene Bewegungsmöglichkeiten. Ich hatte nicht die geringsten Anhaltspunkte, wo ich mich befand, noch in welcher Richtung das Weltentor lag. Ich ließ mich nieder, als mich erneut ein Schwindelgefühl befiel. Als es nachließ, versuchte ich mir auszumalen, was geschehen war. Das letzte, woran ich mich erinnerte, war der Hagel von Steinen, der vom Himmel herabkam, und Arrics rennende Gestalt. Ich hatte das Gefühl, daß jemand meinen Gedanken lauschte, so als redete ich vor mich hin, und jemand hörte mir zu. Und nach einem Augenblick ertappte ich mich dabei, daß ich tatsächlich laut sprach. Aber es machte keinen Unterschied, denn ich war allein.
Wenn jemand mir zuhören konnte, war es die Wolke oder der Wind. Vielleicht war es die Wolke. Etwas stimmte mir zu. Ich schüttelte verwundert den Kopf. Das beendete für eine Weile alle tiefschürfenden Gedanken. Ich hatte die Wunde vergessen, und der Schmerz kostete mich meine ganze Kraft. Als er nachließ, spürte ich eine Welle von Bedauern. Jemand bedauerte mich! Diese Jahre in Begleitung König Dragons hatten mich vieles gelehrt, auch daß in den Kräften der Natur nichts Dämonisches ist, daß hinter aller Magie meist ein Mensch zu suchen ist und daß alles Dämonische im Menschen selbst ist. Aber der alte Glauben unseres Stammes lehrte mich eine andere Wahrheit – daß die Götter in den Dingen schlummern und uns mit den Augen der Dinge sehen und uns mit den Kräften der Dinge richten. Das alles ging mir durch den Kopf, während ich dieses Bedauern fühlte. Ich hatte keine Furcht. Wer oder was immer mich bedauerte, schien mir freundlich gesinnt. Aber wer oder was mich bedauerte, konnte mir vielleicht auch helfen. Ich war durch ein Weltentor gegangen. Ich wußte nichts von dieser Welt. Es waren die unbekannten Dinge, die Gefahr bedeuteten. Menschen hatte ich nie gefürchtet, und der Panther starb von meiner Klinge ebenso wie die schuppige Echse der Flüsse in meiner
Heimat. Aber hier mochte Gefahr überall lauern, in jeder Gestalt. Ich mußte versuchen zurückzukommen zum Weltentor und zu Arric. Vor allem zu Arric. Aber mir war klar, daß ich in jedem Fall zu spät kommen würde. Wenn Arric den Angriff der Wolke überlebt hatte, dann war er längst mit dem Götterwagen auf und davon und hatte wahrscheinlich das Weltentor zerstört, um Dragon und mir jede Möglichkeit zu nehmen, ihn zu verfolgen. Es war ja alles für die Vernichtung des Tores vorbereitet. Aber selbst ohne die Vernichtung wäre es unmöglich gewesen, ihn zu verfolgen, denn es mußte eine Reise von Jahren in unbekannter eisiger Wildnis sein bis Myraniens Küsten, und wer konnte sagen, wo Arrics Ziel lag. Der Götterwagen mochte ihn überall hintragen. Nein, ich wußte, es war unmöglich, Arric wiederzufinden. Aber zum Tor mußte ich zurück. Nur dort konnte ich hoffen, den König wiederzufinden. Viel Feuer und Rauch, dachte ich verwundert. Feuer und Rauch? Donnernder Berg. Donnernder Berg? Ich war drauf und dran, erneut den Kopf zu schütteln, dachte aber rechtzeitig an den Schmerz. Jemand wollte mir etwas mitteilen, jemand, der offenbar in meinen Kopf hineinsehen und meine
Gedanken hören konnte. Die Wolke? Ich hielt es nicht für unmöglich. Sie war das einzige in meiner Nähe. Sie hatte mich wohl am Kampfplatz aufgelesen. Natürlich – sie mußte wissen, was mit Arric geschehen war und mit dem Tor. Vielleicht konnten diese Wolken denken wie die Menschen. Es war eine andere Welt, von der das Mädchen Danila viel wundersames berichtet hatte. Ich zweifelte nicht daran, daß ich auf einer dieser Wanderwolken gefangen war. Und es sah so aus, als würde ich ebenso verschleppt wie das Mädchen. Kein sehr erfreulicher Gedanke. Aber ich konnte nicht viel tun. Nicht bevor die Wolke irgendwo landete. Aus der Erzählung des Mädchens wußte ich, daß die Wolken landeten und Nahrung brauchten. Das war beruhigend. Ich spürte zwar selbst keinen Hunger, aber meine Kehle war wie ausgedörrt, und der Gedanke eines kühlen Tuches auf meinem Hinterkopf oder gar eines Bades war äußerst verlockend. Gab es eine Möglichkeit, diese Wolke zum Landen zu bewegen? Ich sah mich um. Drei oder vier Schritte weit sah die Oberfläche ziemlich fest aus. Dahinter wirkte sie wie ein leichtes Gespinst. Trotzdem, ich mußte einen Blick in die Tiefe riskieren. Wahrscheinlich änderte es nichts an meiner Lage, aber ich mußte sehen, was unter mir war. Es mochte mir später helfen, mich zurechtzufinden.
Vorsichtig kroch ich auf den Knien zum Rand. Wieder dachte ich, daß es gefährlich war, aber das waren nicht meine Gedanken. Die Wolke versuchte mir klarzumachen, daß ich mich in Gefahr begab. Aber diesmal ließ ich mich nicht abschrecken. Der Boden wurde ein wenig nachgiebiger unter mir, das erhöhte meine Vorsicht. Mein Kopf schmerzte von der Anstrengung. Ich mußte innehalten und warten, bis die Schwärze vor meinen Augen verschwand, dann rutschte ich auf dem Bauch an den Rand vor. Das Gespinst hielt, aber es war schwierig, mich festzuhalten. Der Wind schien heftiger und der Flug der Wolke unruhiger geworden zu sein. Aber ich konnte hinabsehen. Wir schwebten ein gutes Stück über den Baumwipfeln. Der Wald erstreckte sich endlos in allen Richtungen. Mutlosigkeit befiel mich bei dem Anblick. Ich wußte, daß ich zu Fuß niemals durch diesen Wald zurückfinden würde. Ich kannte die Urwälder an den Grenzen Shi-buts. Aber sie waren nicht von der erdrückenden Dichte wie hier. Ich sah keine Lichtung, so weit das Auge reichte, nur ein unergründliches Meer von Pflanzen. Ich schauderte unwillkürlich bei dem Gedanken, ich könnte hinabstürzen. Es war nicht der tödliche Aufprall, der mich erschreckte, sondern die Möglichkeit, in diesem sonnenlosen Dschungel weiterleben zu müssen.
Ich tastete an meinen Gürtel, und der kühle Griff des Schwertes beruhigte mich. Auch das Messer steckte in seiner Hülle. Daß ich meine Waffen noch hatte, ein Umstand, der mir erst jetzt auffiel, hob meine Laune beträchtlich. Lediglich der Durst war quälend. Eine Weile mühte ich mich ab, mich zu orientieren, denn der Wald war nicht eben, sondern erstreckte sich über den Hügel und niedere Bergrücken. Aber es gab keine auffallenden Punkte. Alles war so vollkommen überwuchert. Doch dann tauchte etwas auf, das mein Herz höher schlagen ließ. Ein See. Er war nicht groß, aber allein der Glanz der Sonne auf seiner glatten Oberfläche hob ihn wie einen silbernen Schild aus dem grünen Meer heraus. »Wasser!« sagte ich laut, nein, brüllte ich. Wenn diese Wolke tatsächlich verstand, was ich fühlte und dachte, und mir, wie es den Anschein hatte, sogar Mitgefühl entgegenbrachte, dann sollte sie wissen, daß ich im Augenblick nichts mehr begehrte, als in diese schimmernden Fluten zu tauchen. Tatsächlich verstand es mein seltsames Luftschiff. Ja, dachte ich, trinken. Aber es waren nicht meine Gedanken. Die Wolke änderte ihre Flugrichtung leicht und hielt nun auf den See zu. Dabei legte sie sich ein wenig schräg, und ein Teil ihrer selbst fächerte aus wie ein großes Segel. Ich betrachtete es mit Staunen und
Bewunderung. Welch ein Himmelsschiff, das selbst lenkte und dachte. Es hatte viel gemeinsam mit dem Götterwagen des Königs. Wenn es mir nur gelänge, daß es nach meinem Willen fuhr. Aber ich verbarg die Gedanken sorgfältig. Ich wollte nicht riskieren, daß sie mich aussetzte. Nur sie konnte mir den beschwerlichen Weg durch den Dschungel ersparen. Nur sie wußte, in welcher Richtung das Weltentor lag. Ich begann mich zu fragen, wie klug sie war. Viel Feuer und Rauch, hatte sie mir zu verstehen gegeben. Und: Donnernder Berg. War das im Zusammenhang mit Arric? Wenn ja, dann bedeutete es vielleicht, daß der Rote das Weltentor zerstört hatte. Und was die Wolke beschrieb, war nichts anderes, als entfesseltes Donnerpulver. Sicher ließ sich mit Geduld Gewißheit verschaffen. Ich durfte nichts überstürzen. Ich fragte mich, wo der König und Danila jetzt sein mochten. Vielleicht irgendwo in diesem Wald da unten? König Dragon war ein tapferer Mann, ein halber Gott mit Erinnerungen an ein längst vergangenes Leben. Aber hier würden sie ihm nicht viel nützen. Die Wolke hatte den See fast erreicht. Sie ging tiefer, und ich kämpfte gegen das schwindelerregende Gefühl, zu fallen. Dann streiften wir fast die Baumwipfel am Ufer des Sees. Ich schloß geblendet die
Augen, so hell gleißte das Wasser. Irgendein betäubender Geruch lag in der Luft. Verwundert merkte ich, daß es mir schwerfiel, die Augen wieder zu öffnen. Eine lähmende Müdigkeit lockte mit der Dunkelheit des Schlafs. Instinktiv schrie ich auf. Es war mehr als Schlaf, es war ein Abgrund, der sich auftat – hungrig ... Und mitten in mein Schreien mischte sich ein Kreischen. Die Wolke schwang hoch, aber nur ein Stück. Dann war es, als würde sie von unsichtbaren Fäden festgehalten. Sie sank zurück. Der Boden unter mir begann sich aufzulösen. Ich wollte auf die Beine, aber weiße Arme legten sich um mich und hielten mich bewegungslos. Etwas zischte. Ein Luftwirbel riß die Wolke erneut hoch, wobei sie sich um sich selbst wirbelte. Es ging schnell und mit großer Gewalt, und ich war zu sehr mit meinen Eingeweiden beschäftigt, um Einzelheiten zu sehen. Aber ich spürte, wie die Wolke freikam, wie ihr Triumph mich erfüllte, danach Schmerz. Während wir hochglitten, sah ich voll Entsetzen, daß die spiegelnde Wasseroberfläche sich zum größten Teil aufgelöst hatte in einzelne winzige funkelnde Teilchen, die im Wind schwankten. Glänzende Blätter, zwischen denen mächtige Ranken in die Luft peitschten und vergeblich die Wolke zu erreichen versuchten. Sie schienen zum Teil Erfolg gehabt zu haben, denn große weiße Stücke
verschwanden in dem zuckenden Blättermeer. Wir stiegen und stiegen. Der Wind zerrte an uns. Die Wolke zitterte. Ob vor Schmerz über die verlorenen Teile oder einfach nur vor Erleichterung über den Sieg, konnte ich nicht erkennen. Der Wind trieb uns über den tödlichen See hinweg, der nur eine Falle war, hinter der hungrige Pflanzen lauerten. Als er weit hinter uns lag, war er wieder glatt und ruhig – dunkel und lockend. Langsam richtete die Wolke sich auf, bis ich wieder sicher auf ihrer Oberfläche lag. Ihre weißen Arme, die mich so sicher festgehalten hatten, gaben mich frei. Ein Wort war plötzlich in meinen Gedanken, das ich zuvor noch nie gehört hatte: Skortsch. Angst schwang darin mit. Todesangst. Einen Augenblick lang hatte ich sie auch verspürt, als diese Ranken nach uns peitschten und die Blätter sich öffneten wie Reihe um Reihe spitzer, schimmernder Zähne. Ein Mann sieht einem Feind furchtlos ins Auge, Mensch oder Tier. Aber dieser grauenhafte Tod mußte dem Tapfersten das Blut in den Adern gefrieren. Langsam, während wir mit dem Wind trieben, schwand das Grauen. Auch die Wolke gewann ihre Zuversicht rasch wieder.
Der Schmerz schien vergessen, die verlorenen Teile schienen nicht mehr von Bedeutung. Der Durst wurde nicht besser, aber ich hütete mich vor weiteren Wünschen. Dennoch begriff sie, daß ich Wasser brauchte und schien eine andere Möglichkeit entdeckt zu haben, mir zu meinem Bad zu verhelfen. Der Boden unter mir gab ein wenig nach, so daß ich in einer kleinen Mulde lag. Gleich darauf wurde die seltsame Haut der Wolke feucht, wie von Schweiß. Tropfen begannen zu fließen, immer mehr, bis sich um meine Füße eine kleine Lache gebildet hatte. Erst wollte ich davor zurückweichen, voller Ekel, doch dann spürte ich, wie belebend kühl und wie rein dieses Wasser war. Ich zweifelte nicht daran, daß es Wasser war. Es war ganz natürlich, regnete es doch sonst von den Wolken herab. Ich trank und löschte den brennenden Durst. Dann wusch ich die Wunde und genoß die kühlende Wirkung. Ich machte keinen Hehl aus meiner Dankbarkeit. Ich erhielt zwar keine Antwort, aber ihr Flug wurde ein wenig wilder, und ich hatte das Empfinden von Freude. Wenigstens deutete ich es so. Dabei begann ich den leisen Verdacht zu hegen, daß sie mich entführt hatte, um einen Gefährten zu haben, einen, der denken und sprechen konnte, mit dem sie sich unterhalten konnte auf ihren langen Flügen. Ich konnte mir vorstellen, daß solch eine Gemeinschaft für den
menschlichen Teil sehr reizvoll sein mochte, sofern er bei der Bestimmung des Weges mitzureden hatte. Und sofern er einen Magen hatte, der sich nicht bei jeder Schlingerbewegung umdrehte. Ich fing an, auf sie einzureden. Ich erzählte ihr, wie wichtig es war, daß ich an das Weltentor zurückkehrte. Aber ich bekam keine Reaktion, obwohl ich spürte, daß sie in meinen Gedanken lauschte. Sie schien es nicht zu verstehen. Sie war wie eine Katze, sie lauschte zufrieden schnurrend dem Fluß meiner Gedanken, aber nicht dem Sinn. Entmutigt gab ich es schließlich auf, sie von meinen Plänen überzeugen zu wollen. Später, wenn sie an mich gewöhnt war, konnte ich sie vielleicht lenken. Aber dann mochte es zu spät sein. Mein Ärger schien sie zu erschrecken, und um mich zu besänftigen, begann sie wieder Wasser auszuscheiden, was ich erneut weidlich genoß. Aber mir war klar, daß ihr Wasservorrat begrenzt sein mußte, was mir Hoffnung auf eine Landung gab. Die Sonne brannte herab auf ihren Rücken, soweit man bei einer Wolke von Rücken sprechen konnte. Ich nannte sie Waramau, ein Wort aus meiner Muttersprache das soviel bedeutete wie Himmelssegler. Wir trieben bis zum späten Nachmittag, ohne daß der Wind seine Richtung änderte. Als die Sonne bereits ziemlich tief stand,
spürte ich, wie Waramau die Richtung änderte. Ich war wohl ziemlich schläfrig geworden und in der angenehmen Abendluft halb eingenickt, denn ich schrak hoch, als sie sich leicht neigte. Sie hatte ihr Hauptsegel ausgebreitet und kreuzte mit dem Wind. Ich fühlte mich frischer. Ich hatte eine gute Stunde geschlafen, dem Sonnenstand nach zu schließen, doch war diese Schätzung trügerisch, denn ich wußte nichts über diese Welt – weder über die Zeit, noch über Richtungen. Der Wald war noch immer unter uns, aber vor uns am Horizont kündigte ein wachsender, im Widerschein der Sonne rötlich glänzender Streifen sein Ende an. Wasser lag vor uns, und mochten die Götter geben, daß es nicht wieder eine Falle war! Bald zeigte sich, daß die Küste eines Meeres vor uns liegen mußte. Das bedeutete, daß auch offenes Land nicht weit weg war. Waramau schien durch meine plötzliche Zuversicht sehr angeregt, denn sie nahm die Böen waghalsiger, und wir bekamen mächtig Fahrt drauf. Das war auch gut, denn die Aussicht auf offenes Land weckte den Appetit auf frisches Fleisch. Ich war mit einem Mal hungrig. Ich hoffte, daß es nicht zu schwierig sein würde, Waramau beizubringen, daß sie mich auf die Jagd gehen lassen mußte, wenn sie auf meine Gesellschaft weiter Wert legte.
Als die Sonne wie ein rotes Fanal unter den spiegelnden Horizont tauchte, schwebten wir über dem Meer, und ein salziger Wind machte Waramau zu schaffen. Ich mußte mich festhalten. Wir folgten der Küste, die felsig und unzugänglich war. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit tauchte offenes Land vor uns auf. Ich stand auf Waramaus Rücken und balancierte während des halsbrecherischen Fluges in den Küstenwinden. Dann war die hügelige Steppe unter uns. »Hinunter, Waramau!« rief ich. Bei den Göttern, es würde gut sein, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Es gab keinen Ärger in dieser Frage. Ich nahm an, daß sie ohnehin die Absicht hatte, zu landen. Sie hielt auf einen Hügel zu, der einen guten Überblick über das Land bot, frei nach allen Seiten. Dort ging sie nieder, und ich glitt von ihrem Rücken wie ein Seefahrer, der seit Jahren kein Land mehr betreten hatte. Eine ganze Weile schwankte der Boden unter mir.
2.
Waramau schien das Interesse an mir verloren zu haben. Sie gab sich ganz einer Tätigkeit hin, die mir klarmachte, daß auch sie Hunger hatte. Sie äste, oder wie immer man das bei Wolken nennen mochte. Sie schwebte in der Dunkelheit knapp über dem Boden und fraß das hohe, gelbe Steppengras. Für mich war die Nacht zu rasch gekommen. Ich kannte das Gelände nicht. Es mochte viele Gefahren geben, die ich nicht kannte, und die Aussicht auf Beute war in dieser Finsternis gering. Ich sah, daß der Himmel sich aus der Richtung, aus der wir gekommen waren, immer mehr bedeckte. Die eine Hälfte war bereits pechschwarz und ohne Sterne. So beschloß ich, hungrig zu schlafen und am Morgen auf Jagd zu gehen. Trotz des heftigen Windes vom Meer her war die Nacht nicht zu kalt. Ich sah mich nach einem geeigneten Schlafplatz um. Wenn ich nicht mit dem Dolch in der Faust schlafen wollte, gab es nur eine Wahl. Ich stolperte in der Finsternis hinter Waramau her und kletterte auf ihren Rücken. Sie schien zu erschrecken und versuchte mich abzuwehren – aber nur einen Augenblick, dann erinnerte sie sich und half mir hoch. Dann lag ich und starrte in den Himmel, und es erschien mir sehr seltsam, daß das alles kein Traum war.
Ein Gefühl furchtbarer Angst weckte mich. Es war nicht meine Angst. Es Waramaus Angst. Ich begriff nicht sofort, was geschah. Die Welt schien in Aufruhr. Sie war pechschwarz und im nächsten Augenblick erfüllt von Feuer, das vom Himmel zuckte. Donner rollte über uns hinweg, daß die Erde bebte. Aber gleich darauf erkannte ich, daß es nicht die Erde war, die bebte, sondern Waramau. Sie zuckte, daß ich Mühe hatte, mich aufzurichten. Himmelsfeuer und Donner folgten Schlag auf Schlag. Es war vollkommen windstill, und die Luft roch nach Regen. Er mußte jeden Augenblick beginnen. Noch nie war ich diesen magischen Himmelsgewalten so nah gewesen. Es sah aus, als wollten sie uns zerschmettern. Aber ich hatte gelernt, sie in Demut hinzunehmen. Die Götter verachteten Furcht. Ich spürte, wie Waramaus Angst wuchs. Ich versuchte ihr zuzureden, ihr klarzumachen, daß ihre Furcht nur den Zorn der Elemente wecken mußte, und daß es nur einen Weg gab, die Prüfung zu erdulden. Doch während ich sprach, zuckte das Himmelsfeuer nicht weit von uns in einen Präriebaum, der in Flammen aufging, während der Donner wie ein fühlbarer Schlag über uns hinwegfegte. Mit einem Aufschrei, in dem ich das Wort Skortsch zu hören glaubte, fuhr Waramau hoch. Ich hatte Mühe,
mich festzuhalten. Ich erkannte sofort, daß kein Ziel in ihrem Tun lag. Sie war blind vor Furcht und Entsetzen. Und mir begann es ähnlich zu gehen, als wir steil in den Himmel schwebten, und der brennende Baum kleiner und kleiner wurde. Es war, als ob Waramau vor dem Feuer floh, doch der ganze Himmel bot keine Sicherheit, denn die Feuer ließen ihn aufflammen wie am hellen Tag. Und das Donnern war so laut, daß Waramau meine beschwörenden Rufe gar nicht hören konnte, selbst wenn sie auf mich gehört hätte. Ihr ganzer Wolkenkörper war von einem Pfeifen erfüllt, als ob viele Münder aus vollen Backen bliesen. Sie raste blind durch die Nacht, zuckte zusammen unter den herabzuckenden Feuerpfeilen und wirbelte im Donner wie in einem gewaltigen Wind. Meine Panik war in dieser verzweifelten Lage nicht geringer. Jeden Augenblick konnte ich in die Tiefe stürzen. Es gab nichts, woran ich mich hätte festhalten können. Doch was immer Waramau auch mit mir verband, es war stark genug, daß sie mich nicht vergaß. Arme legten sich um mich und hielten mich wie schon einmal fest. Ich konnte nicht mehr fallen, aber meine Lage schien mir dadurch nicht viel besser. So wie Waramau durch die Lüfte raste, mußte sie früher oder später gegen ein Hindernis prallen, und die Götter mochten wissen, was dann geschah. Manchmal sah ich im Licht des Himmelfeuers die Prärie knapp unter uns,
dann wieder rasch entschwinden. Aber ich merkte, daß Waramau müde wurde, wie eine Herde auf der Flucht vor dem Präriefeuer ihre panische Furcht schließlich anhielt, so erlahmte rasch ihre Kraft. Ich versuchte beruhigend auf sie einzureden. Plötzlich begann es zu regnen. Große, schwere Tropfen kamen herab, und was ich nicht vermocht hatte, schafften sie. Ruhe kam über die Wolke, trotz des Feuers, das noch immer den Himmel aufflammen ließ. Sie schwebte ruhig im Regen, der bald in dichten Schleiern herabfiel und schien aus ihm neue Kräfte zu schöpfen. Innerhalb eines Augenblicks war ich vollkommen durchnäßt, aber während das Wasser an mir abfloß, sog sie es auf wie ein Schwamm. Es regnete einen guten Teil der Nacht. An Schlaf war dabei nicht zu denken. Der Prärieboden unter uns sah nicht viel anziehender aus als die Oberfläche der Wolke, so daß mir gar nicht erst der Wunsch kam, sie zu verlassen. Aber ich dachte an eine behagliche, trockene Höhle, bevor ich endlich einschlief.
Die Sonne weckte mich. Sie drang gedämpft durch das Dach meiner Höhle. Höhle? Es dauerte eine Weile, bevor ich mich zurechtfand. Wenn ich bisher auch noch Zweifel gehabt hatte darüber, ob Waramau wirklich denken konnte, und in
meinen Gedanken lesen, so hatte ich nun den Beweis. Denn ich lag in keiner Höhle, sondern noch immer auf meiner Himmelsseglerin. Aber aus ihrem hautartigen Gespinst hatte sie ein Dach über mir errichtet, das mich vor Regen und heißer Sonne schützen konnte. Ich sagte: »Hab Dank, Waramau.« Ich hatte auf eine Antwort gehofft, aber es kam keine. Ich erwartete zuviel, weil ich ungeduldig war. Gewiß, es schien, als ob sie mich verstand. Sie erkannte meine Wünsche und Nöte, meine Gefühle. Aber es war wohl zu schwierig für sie, ganz meinen Gedanken zu folgen. Immerhin hatte sie bereits mit mir gesprochen, und ich war ziemlich sicher, daß ich sie richtig verstanden hatte. Das Weltentor war zerstört, oder wenigstens hatte Arric den Versuch gemacht. Es war ein niederdrückender Gedanke, in dieser fremden Welt gestrandet zu sein. Meine einzige Hoffnung lag daran, daß ich den König fand. Wenn einer noch einen Ausweg finden konnte, dann er. Eine trübe Zukunft. Urgor und Myra waren nur Erinnerungen, und alles sprach dafür, daß sie es auch blieben. Und Shi-but war so weit wie die Sterne weg. Aber ich war nie ein Mann von Träumereien gewesen. Erst an des Königs Seite hatte ich ein wenig begonnen, wie er zu denken – daß es eine Zukunft gab, und eine Vergangenheit, und daß es falsch war, nur in
der Gegenwart zu leben. Ich war immer ein Abenteurer gewesen, der für den Augenblick lebte, aber nie einer, der seinen Weg allein ging. Es hatte immer jemanden gegeben, dessen Kampf ich focht, immer jemanden, für dessen Sache ich die Klinge führte, immer jemanden, der mir sagte, was zu tun war. Aber erst an des Königs Seite lernte ich, daß kein Mann die Klinge nur um der Klinge willen führen sollte, und daß die Weisheit unter den Dingen nicht nur ein guter oder böser Zauber war, den sich der Magier zunutze machte, sondern wie wahre Kraft, die jedermann leiten sollte. Erst in König Dragons Diensten bin ich ein Mann geworden, der sein Schwert nicht nur mit der Faust führte. Vielleicht half mir der Verstand auch, Waramau dazu zu bringen, daß sie mich flog, wohin ich wollte. Es war einen Versuch wert, um so mehr als eine Wanderung durch den Dschungel ungleich mehr Zeit in Anspruch nehmen mußte. Aber ich wußte, daß es eine harte Geduldsprobe werden würde. Vorerst hatte ich nagenden Hunger. Ich verließ meine ungewöhnliche Kajüte. Waramau schwebte knapp über den Boden. Vor uns erstreckte sich eine endlose, flache Prärie. Ein leichter Wind schaukelte die Wolke. Sie schien noch immer Gras in sich hineinzustopfen. Sie hatte bereits eine ganz gelbe Färbung angenommen. Verwundert bemerkte ich, daß
sie mit einem Teil ihres Gespinstes eine Art Ankertau gebildet hatte, mit dem sie sich am Boden festhielt. Sie erinnerte mich immer mehr an ein Schiff. Ein Schiff der Lüfte. Ich ließ mich an diesem Tau hinab auf den Boden. Waramau schien nichts dagegen einzuwenden zu haben. Nun würde sich entscheiden, ob ich ihr Gefangener war, wie Danila sich gefühlt hatte, oder ob sie mich als Gefährten betrachtete. »Ich gehe auf die Jagd, Waramau«, sagte ich. »Ich habe Hunger. Ich komme hierher zurück – wenn du auf mich wartest.« Keine Antwort. Sie fraß ruhig weiter an dem hohen Präriegras. Ein wenig unsicher begann ich mich zu entfernen. In der Tat schien ich frei, zu tun und lassen, was ich wollte. Plötzlich hatte ich Angst, sie würde nicht mehr da sein, wenn ich zurückkam. Dann saß ich hier fest, mit nur einem einzigen Anhaltspunkt – dem Wald, der am Horizont begann. Das war die Richtung des Sonnenaufgangs, also Osten. Vielleicht hatte ich in der kommenden Nacht mehr Glück und konnte mir einige Sterne zur Orientierung einprägen. Dann aber trieb mich der Hunger vorwärts. Ich brauchte etwas zu beißen. Nach Norden und Osten war die Prärie eben. Das Meer lag hinter den Hügeln. Ich konnte die Brandung deutlich hören. Da es gleich
war, wo ich meine Suche begann, lief ich auf die Hügel zu, erklomm den nächsten und sah mich um. Viel war nicht zu sehen, und vor allem keine Tiere. In der weiten Ebene regte sich nichts, außer dem sanften Wogen des Grases im Wind, der von Nordosten herkam und die Prärie wie ein gelbes Meer erscheinen ließ. Es erinnerte mich sehr an meine Heimat. Was ich mir sehnlichst wünschte, war ein Bogen. Ich war zwar immer ein guter Läufer, aber es war eine mühsame Sache, allein mit einem Dolch oder einem Schwert in der offenen Steppe zu jagen. Irgendwie wirkte diese Prärie trostlos, und der Wind trug den Gestank von Fäulnis mit sich. Ich schüttelte mich unwillkürlich. Der knurrende Magen setzte meine Beine in Bewegung. Ich lief in dieses gelbe Meer hinein, und es war gut, wieder zulaufen. Bis die Sonne im Zenit stand, hatte ich eine ziemlich große Strecke zurückgelegt, so daß ich an Umkehr dachte. Ich hatte absolut nichts gefunden, nicht einmal Fährten. Wenn es hier etwas Eßbares gab, dann hielt es sich gut versteckt. Auch den Himmel hatte ich immer wieder vergeblich abgesucht. Ich war müde, und der Hunger war nicht besser geworden. Meine Augen brannten, und die Kopfwunde schmerzte wieder. Außerdem war ich unsicher, ob Waramau warten würde, und schalt mich, daß ich nicht früher diese nutzlose Suche abgebrochen
hatte. Ich befand mich also in nicht gerade bester Stimmung. Einzig meinen Durst konnte ich aus dem Beutel stillen, den ich vorsorglich aus den Vorräten der Wolke gefüllt hatte. Auf eine Wasserstelle war ich nicht gestoßen. Diese Wasserlosigkeit mochte auch der Grund sein, warum hier nichts lebte. Der Boden hatte den Regen der Nacht vollkommen aufgesogen. Die Erde war bereits wieder trocken und rissig, wo kein Gras wuchs. Es gab vereinzeltes Buschwerk, aber auch dieses barg nichts Eßbares. Ich machte kehrt. Meine einzige Hoffnung war nun Waramau – oder der Dschungel. Der Rückmarsch war nicht erfolgreicher. Das Land war leergefegt, als hätte jemand verkündet: Hier kommt Ubali, und der ist hungrig! Wenn ihr nicht in seinem Magen enden wollt, dann macht euch unsichtbar!
3.
Die Sonne stand bereits ziemlich tief im Westen, als ich wieder Küstennähe erreichte. Der Wind war stärker
geworden. Er kam noch immer aus östlicher Richtung, vom Dschungel her. Plötzlich glaubte ich einen Schrei zu hören. Ich hielt an und sah mich um. Ich vernahm ihn erneut, schrill vor Angst und Schmerz. Diesmal wußte ich sofort, wer schrie, denn ich hatte den Schrei nicht mit den Ohren vernommen, sondern mit den Gedanken. Waramau war in Gefahr! Im nächsten Augenblick sah ich im Glanz der tiefstehenden Sonne eine Bewegung über den Hügeln. Ich hielt die Hand schützend über die Augen, dann sah ich, daß dort nicht nur eine Wolke schwebte, sondern drei. War es möglich, daß es Feinde waren? Feindliche Wanderwolken? Meine Müdigkeit verflog unter Waramaus Hilfeschreien. Ich lief auf die Hügel zu, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was ich gegen zwei Wanderwolken ausrichten sollte. Als ich näher kam, entdeckte ich mehrere Gestalten auf den beiden angreifenden Wolken. Sie hielten lange Spieße in den Händen und bearbeiteten sowohl ihre eigenen Wolken als auch Waramau. Diese Spieße schienen so etwas zu sein wie Zügel und Sporen für ein Pferd, denn diese Wolken gehorchten den Männern wie ein gutes Pferd. Aber die Speere waren auch der Grund für Waramaus schmerzerfüllte Schreie. Die Männer versuchten sie sich gefügig zu machen, und es
gab kein Entkommen für sie, denn die Männer lenkten ihre Wolken geschickt immer wieder um sie herum und drückten sie langsam zu Boden nieder. Ich zählte die Männer und kam auf ein Dutzend. Je zwei sprangen auf Waramau über und bearbeiteten sie weiter auf erbärmlichste Weise mit ihren Speeren. Es war kaum zu ertragen. Es war mir, als fühlte ich selbst den Speer in den Eingeweiden, wie er herumgedreht und herumgerissen wurde. Sie entdeckten mich erst, als ich bereits den Hügel hinanklomm mit dem Schwert in der Faust. »Halt!« rief ich. »Das ist meine. Laßt die Finger davon!« Ich war nicht sicher, ob sie meine Worte verstanden. Mißverstehen konnte sie mich schwerlich. Sie taten es auch nicht, und sie waren offenbar nicht gewillt, ihre Beute gehenzulassen. Sie griffen nach ihren Waffen und trieben ihre Wolken auf mich zu. Offenbar wurden die vier auf Waramau bereits allein mit ihr fertig, was mich in eine verdammt unangenehme Lage brachte, denn mit acht konnte ich es nur schlecht aufnehmen, wenn diese noch dazu auf Wolken dahergeritten kamen. Sie waren ein wilder Haufen, dunkle, sonnengebräunte Gesichter, nicht eines ohne Narben. Die meisten trugen wadenlange Beinkleider, einige nackte Oberkörper, ein paar Umhänge, die sie mit einem breiten Gürtel zusammenrafften. Sie wären in
Jellis Piratenbruderschaft nicht aufgefallen, und ich erwartete nicht viel Gutes von ihnen. Ich sah, daß sie keine Bogen hatten, nur Schwerter und Dolche, abgesehen von den langen Spießen, mit denen sie die Wolken lenkten. Das bot mir eine Fluchtchance, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. Hätten sie Bogen gehabt, wäre ich nicht weit gekommen. Ich blickte ihnen so zuversichtlich entgegen und versuchte gleichzeitig, an ihnen vorbeizukommen, um die bedrängte Waramau zu erreichen. Dabei bemerkte ich, daß das Lenken der Wolken nicht so einfach schien, denn sie hatten Mühe, mir den Weg abzuschneiden. Der Wind war es, der ihnen zu schaffen machte. »Ho! Schwarzhaut!« rief einer. »Deine, sagst du?« Sie waren mir nah genug, daß ich nicht ohne Kampf an ihnen vorbeikam. Die drei Wolken waren hinter dem Hügel verschwunden, aber noch immer drang deutlich Waramaus Schreien in meine Gedanken, wenn auch schwächer. »Ja, meine«, erwiderte ich und ließ sie nicht aus den Augen. Sie grinsten. »Was fällt euch auf?« fragte einer. »Seht ihr einen Wolkenspeer?« »Weit und breit nichts«, meinte ein anderer. »Vielleicht lenkt er sie mit schönen Worten«, schlug ein dritter vor, und sein Grinsen verbreiterte sich.
»Sie versteht mich«, erklärte ich. »Sie versteht meine Gedanken ...« Sie lachten, und einer drehte seinen Speer, der eine halbe Körperlänge in der Wolke steckte, mit einem Ruck herum. Ich vernahm nichts, keinen Schrei, aber ich sah, wie sich die Wolke aufbäumte, daß die vier Mühe hatten, sich auf den Beinen zu halten. »Das ist es, was sie verstehen, Schwarzhaut. Sonst gar nichts. Und das wird dein Baby auch in Kürze heraushaben.« »Wer weiß«, meinte ein anderer, »wenn er soviel gemeinsam mit ihr hat, versteht er vielleicht auch diese Sprache am besten.« Er zog seinen Speer aus der Wolke und richtete ihn auf mich. Ich spannte mich und beobachtete ihn abschätzend, ohne die anderen aus den Augen zu lassen. Es wurde ernst. Ich hoffte, daß er den Speer warf, aber er war klug genug, es nicht zu tun. Es hätte mir leicht eine wesentlich vorteilhaftere Waffe verschafft, als mein Schwert es im Augenblick war. »Ich will keinen Streit«, sagte ich. »Schon möglich, Schwarzhaut.« Sie begannen ihre Wolken auf mich zuzutreiben. Ich wich zurück. »Das kannst du alles Darraco erzählen.« »Darraco? Wer ist das?« »Unser Anführer. Ich schätze, es wird ihn interessieren, was eine Schwarzhaut hier zu suchen hat.
Wenn du klug bist, wirfst du dein Schwert fort und kommst freiwillig mit.« Ich hatte nicht vor, das zu tun. Dieser Darraco interessierte mich zwar, aber ich hatte keine große Lust, ihn als Gefangener kennenzulernen. Wenn es mir gelang, ihnen eine dieser Wolken abzujagen! Aber meine Chancen gegen acht dieser Kerle standen nicht sehr gut, obwohl die Tatsache, daß sie mich lebend haben wollte, mir bestimmt Vorteile verschaffen würde. Während ich in Gedanken versuchte, Waramau zu erreichen, zog ich mich vorsichtig zurück und beobachtete, wie sie ihre Wolken mit den langen Speeren nähertrieben. Je zwei der Männer lenkten sie, während die anderen ihre Schwerter zogen. Einer besaß offenbar nur ein Messer, und er hielt es in der Hand, als ob er es werfen wollte. Es sah so aus, als wollten sie mich im Zweifelsfalle auch tot zu ihrem Anführer schaffen. Da ich selbst ein recht guter Werfer bin, noch dazu mit der linken, nahm ich auch meinen Dolch aus dem Gürtel. Es war nicht klar festzustellen, ob es den anderen beeindruckte, denn die Wolke bäumte sich auf, als der eine Steuermann sie gegen den Wind zu lenken versuchte, und alle vier hatten einen Moment damit zu tun, sich festzuhalten. Waramau antwortete meinen rufenden Gedanken
nicht. Ich hörte sie auch nicht mehr schreien. Ich konnte nur raten, was hinter dem Hügel geschah. Ich komme wieder, dachte ich. Waramau, ich komme wieder, und dann werden sie jeden Speerstich bezahlen! Mit einem kribbelnden Gefühl wandte ich mich um und lief in die Richtung, aus der der Wind kam. Der Wald war ziemlich weit weg, und so wenig einladend er mir noch vor kurzem erschienen war, nun wünschte ich, er wäre näher. Ein Blick zurück zeigte mir, daß die Wolkenreiter sich redlich bemühten, mir auf den Fersen zu bleiben. Aber mein Verbündeter, der Wind, machte ihnen schwer zu schaffen. Sie mußten gegen den Wind kreuzen, wie Boote. Ich konnte meinen Vorsprung rasch vergrößern, aber langsam machte sich meine Müdigkeit bemerkbar und die Tatsache, daß ich seit geraumer Weile nichts gegessen hatte. Lange hielt ich den Lauf nicht mehr durch. Ich brauchte einen Unterschlupf, oder einen güngstigen Platz für einen Kampf. Beides konnte mir nur der Wald bieten. Die Wolken waren nun weit hinter mir, und ich fiel einen Augenblick in gemächlichen Schritt, um wieder zu Atem zu kommen. Scharf beobachtete ich die fernen Hügel, aber von Waramau war nichts zu sehen. Etwas anderes fiel mir jedoch auf und ließ mich sofort wieder mein Tempo beschleunigen. Auf den verfolgenden Wolken waren nur sechs der acht Männer zu erkennen.
Das konnte nur eines bedeuten: zwei waren abgestiegen und zu Fuß auf meiner Spur. Und sie waren sicher besser ausgeruht als ich. Leise fluchend hielt ich an und versuchte sie in dem hohen Gras zu entdecken. Nach einem Augenblick hatte ich sie gefunden. Sie waren mir bereits verdammt nahe. Ich mußte es bis zum Wald schaffen. Wenn ich sie hier erwartete, dann mußten die Wolkenreiter uns einholen, bevor der Kampf vorüber war. Ich fürchtete die beiden nicht, aber ein Kampf würde den Vorsprung, den mir der Wind verschafft hatte, gefährlich schrumpfen lassen, deshalb hastete ich weiter. Ich kam dem Wald noch ein ganzes Stück näher und vergrößerte auch den Vorsprung beträchtlich, bevor es mir zu riskant wurde, meinen Verfolgern länger den Rücken zuzuwenden. Die beiden kamen zielstrebig auf mich zu. Vor mir lag eine weite Mulde, in der dorniges Buschwerk wuchs. Kluge Leute hätten sie umgangen, aber mir blieb keine Wahl. Außerdem gelangte ich dabei für kurze Zeit aus dem Blickfeld der Männer. Es war kein idealer Kampfplatz, aber ein besserer, als ich erwartet hatte. Mit Dolch und Schwert bahnte ich mir einen Weg durch das Buschwerk. Spuren zu verwischen, hätte wenig Sinn gehabt. Sie wußten, daß ich hier war, und daß ihnen nichts weiter übrig blieb, als hinter mir herzulaufen, wenn sie mich haben
wollten. Es wurde verdammt dicht. Ich achtete nicht mehr auf die Dornen. Sie waren das kleinere Übel. Die beiden hinter mir besaßen längere Stachel! Bald erreichte ich den Grund der Mulde. Hier war der Boden noch immer feucht von den Regenfällen der vergangenen Nacht. Allerlei Pflanzen wucherten ringsum, aber nirgends entdeckte ich ein Tier. Selbst der bloße Anblick hätte dieses nagende Hungergefühl vertrieben. Ich fröstelte. Von der Hitze der Savanne war hier nicht viel zu spüren. Einen Moment hielt ich an und lauschte. Weit hinter mir erklang das Brechen von Ästen. Sie hatten sich nicht abschrecken lassen. Ich eilte weiter. Der Boden stieg wieder an. In kurzer Zeit mußte ich wieder die offene Prärie erreichen. Damit war nichts gewonnen. Kurzerhand ließ ich mich ins Buschwerk fallen und wartete mit dem Dolch in der Faust. Mit dieser Schwarzhaut würden sie ihre Erfahrungen machen, dachte ich grimmig. Bald näherten sich hastige Schritte und fluchende Stimmen. Gleich darauf sah ich den ersten auftauchen. Er kam auf mich zu, stürmte an mir vorbei, dicht gefolgt von dem zweiten. Sie verschwanden im Dickicht. Plötzlich trat Stille ein. Sie mußten gemerkt haben, daß sie die deutliche Spur verloren hatten. Ich sah sie nicht mehr, hörte aber ihre Stimmen, in denen
Ärger und Verblüffung mitschwangen. Sie suchten meine unmittelbare Umgebung ab, aber sie dachten nicht, daß sie mich bereits überholt hatten, und kamen meinem Versteck nicht nahe genug. Nun, da ich der Verfolger war, mußte ich meine gewaltig verbesserten Chancen nutzen, bevor die Wolkenreiter zu nahe kommen konnten. Ich verließ mein Versteck und schlich vorsichtig hinter den beiden her. Ich vernahm sie rechts und links, konnte sie aber nicht sehen. Offenbar hatten sie sich getrennt. Um so besser. Ich nahm den rechten. Es war nicht schwer, ihn aufzustöbern. Er trampelte wie ein aufgescheuchtes Wild durch die Büsche und fluchte halblaut über die Dornen, an denen er mit den Kleidern immer wieder haften blieb, und von denen er sich nur mühsam losreißen konnte. So war es nicht schwierig, lautlos an ihn heranzukommen. Er muß mich für einen leibhaftigen Dämon gehalten haben, als ich so plötzlich hinter ihm auftauchte. Er riß die Augen auf und den Mund für einen Schrei. Ich hatte ihn an der Kehle und holte mit dem Schwertknauf aus, um ihn für eine Weile von der Sorge um seine mißlungenen Pläne zu befreien. Doch er war von einer unerwarteten Schnelligkeit. Er riß die Arme hoch und drehte sich mir zu. Mein Griff löste sich, und mein Schlag traf ihn an der Schulter. Er stöhnte und brachte sein Schwert
herab. Instinktiv parierte ich mit dem Dolch. Ich hätte den gewaltigen Schlag niemals aufgehalten, aber die Götter wollten es, daß das Messer die Schwertklinge ablenkte und sich in vollem Schwung in seine Brust grub. Der Fremde starb lautlos mit einem vergeblichen Versuch, Luft für einen warnenden Schrei in seine Lungen zu bekommen. Ich wartete, bis seine verkrampften Arme schlaff wurden, und ließ ihn zu Boden gleiten. Angestrengt lauschte ich. Nichts war zu hören, auch keine Geräusche von meinem zweiten Verfolger. Das beunruhigte mich etwas. Es war möglich, daß er den Kampf bemerkt hatte. Zu sehen war nichts. Ich bückte mich rasch zu dem Toten. Ich nahm ihm den breiten Ledergürtel ab und schnürte ihn mir um die Mitte. Neben zwei Messern enthielt er zwei Beutel, deren Inhalt interessant sein mochte. Ich konnte sie während des Weges untersuchen. Um den Hals trug er eine Kette aus Metall. Diese nahm ich ihm ebenfalls ab. Sie schien aus gewöhnlichem Eisen zu sein und war auch nicht besonders kunstvoll angefertigt worden. Aber vielleicht war sie ein Schutz gegen Dämonen in dieser Welt. Hastig sah ich mich um, bevor ich mich erhob. Ohne besonders auf Lautlosigkeit zu achten, setzte ich meinen ursprünglichen Weg in die Richtung des
Waldes fort. Mehrmals hielt ich kurz an und lauschte, aber niemand schien mir zu folgen. Die Überraschung erwartete mich am Ende der dornigen Mulde. Als ich aus dem Buschwerk auftauchte, stand der Kerl plötzlich vor mir. Er hielt sein Schwert stoßbereit in der Rechten und sagte grinsend: »Ich dachte mir‘s doch, daß du nicht umkehren würdest. Jetzt setzen wir erst unsere Unterhaltung ...« Er brach ab, als er die Kette und den Gurt bemerkte. Sein Grinsen erstarb. Sein Gesicht wurde bleich. »Was ist mit Verino?« »Er war unvorsichtig«, antwortete ich gleichmütig. »Du verdammter schwarzhäutiger Hund hast ihn umgebracht!« entfuhr es ihm. Er sprang auf mich zu. Daß ich nicht zurückwich, sondern nur die Klinge ein wenig hob, um sie für die Abwehr bereit zu haben, hielt ihn von einem Angriff ab. Er starrte mich nur wütend an. »Verino war mein Freund«, zischte er. Ich zuckte die Achseln. »Ich wollte keinen Streit. Jetzt geh mir aus dem Weg.« Das brachte ihn völlig aus der Fassung. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf mich. Er schien trotz seiner Erregung nicht unbesonnen. Ein wahrer Hagel von Schlägen prasselte auf mich los. Während ich parierte, tänzelte ich um ihn herum, so daß ich mich bald in einer besseren Stellung befand, denn er mußte
gegen mich hochkämpfen. Auch konnte ich die westliche Savanne übersehen. Die Wolkenreiter waren ziemlich nahe herangekommen. Mein Gegner war nicht besonders gut mit der Klinge, und sein Arm begann zu erlahmen, als seine Wut verraucht war. Die Hiebe kamen langsam. Er holte weiter aus, um mehr Kraft hineinzulegen. Das war unverzeihlich unvorsichtig. Ich nutzte den Augenblick zwischen zwei Schwertstreichen und bohrte ihm meine Klinge in die Schulter. Er schrie auf und sackte zusammen, als ich mein Schwert herausriß. Ich hätte ihn töten können, aber nichts wäre damit gewonnen gewesen. Als Gegner konnte er mir ohnehin nicht mehr gefährlich werden. »Sag deinem Anführer, daß er Ubali ein Leben schuldet.« »Fahr zur Hölle«, würgte er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich überhörte seinen Wunsch. »Wenn du dich laut genug bemerkbar machst, werden deine Freunde dich schon finden«, erklärte ich. Die Wolken arbeiteten sich langsam heran. Es wurde Zeit für mich. Der Wald war greifbar nahe. Ich setzte mich wieder in Trab. Die Reiter auf den Wolken entdeckten mich und schüttelten drohend ihre Waffen. Nach einer Weile sah ich, daß sie ihren Genossen entdeckt hatten und sich um ihn kümmerten. Das hielt
sie beträchtlich auf, und ich dachte schon, sie würden die Verfolgung aufgeben. Aber kurz bevor ich den Wald erreichte, kreuzten sie bereits wieder.
4.
Die Düsternis des Waldes nahm mich auf. Ich warf einen letzten Blick auf die beiden Wolken, die sich mühsam herankämpften. Weit in der Ferne glaubte ich Waramau zu sehen, aber ich konnte mich auch irren. Ich war erschöpft. Der Hunger war fast unerträglich geworden. Daran änderte auch der Fäulnisgestank nichts, der mich umgab. Ich versuchte, mir einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Nach wenigen Schritten war vom Himmel nichts mehr zu sehen. Es wurde dunkler, aber nicht kühler. Die feuchte Hitze nahm mir fast den Atem. Die Stämme der mächtigen Bäume waren kaum zu erkennen, so sehr waren sie von Büschen und Ranken umwuchert. Eine seltsame Stille herrschte, als wäre der Dschungel ohne Leben. Nur der Wind rauschte und raschelte am Waldrand entlang. Hier drinnen bewegte sich kein Blatt. Mir war nicht sehr wohl zumute. Nur mühsam unterdrückte ich den Drang, wieder hinaus in die freie Steppe zu laufen, um dieses bedrückende Gefühl
loszuwerden. Selbst die Aussicht, den Wolkenreitern entgegentreten zu müssen, erfüllte mich mit weniger Unbehagen. Unwillkürlich griff ich nach der Metallkette, die ich dem Toten abgenommen hatte. Sie fühlte sich kühl an – unberührt von der düsteren Drohung des Dschungels. Es beruhigte mich. Ebenso kühl mußte ich sein. Von irgendwoher kam der betäubende Duft von Blüten, süßlich und schwer wie myranischer Wein. Ich sah mich um, konnte aber nicht feststellen, woher es kam. Hundert verschiedene Schattierungen von Grün wucherten in jeder Richtung. Trotz der Reglosigkeit konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich alles um mich zusammendrängte. Der Gedanke verursachte mir ein Kribbeln im Nacken, und ich dachte an den dämonischen See, dem Waramau nur mit knapper Not entronnen war. Hastig starrte ich auf das Laub um mich und schalt mich einen furchtsamen Narren. Nichts regte sich. Keiner der Äste senkte sich herab, kein Blatt bewegte sich. Das Dach über mir war grün und geschlossen. Aber ich sah die Lücke im Gebüsch, durch die ich gekommen war. Sie beruhigte mich. Ich wußte, daß es nur die unglaubliche Dichte des Waldes und dieser Geruch nach faulenden Pflanzen waren, die mich unruhig machten. Stimmen kamen von irgendwoher. Es mußten die
meiner Verfolger sein. Sie erklangen erneut, zu meiner Rechten. Ich hatte den Waldrand hinter mir vermutet. Es zeigte mir, wie rasch man in diesem Dickicht die Orientierung verlieren konnte. Ich verhielt mich ruhig. Es war ein Zufall, wenn sie mich hier fanden. Wenn sie ebenfalls die Beklemmung verspürten, würden sie nicht lange nach mir suchen. Andererseits waren sie in dieser Welt zu Hause und mochten den Dschungel als ganz natürlich empfinden und seine Gefahren kennen. Dennoch war es besser, wenn ich wartete. Das unvermeidliche Geräusch meiner Flucht hätte sie nur erst recht auf meine Spur gebracht. Eine Weile geschah nichts. Ich untersuchte den ersten der beiden Beutel des Toten. Er enthielt eine Art trockenes Kraut, das angenehm roch, und eine glatte, gebrannte Tonschale. Das ließ darauf schließen, daß diese trockenen Blätter mit heißem Wasser aufgegossen wurden und wahrscheinlich ein Getränk ergaben. Diese Überlegung brachte mir den Hunger wieder voll ins Bewußtsein. Ich schnürte den Beutel wieder zu und öffnete den zweiten. Die Götter meinten es gut mit mir. Er enthielt gebratenes Fleisch. Rückschlüsse auf das Tier ließen sich keine mehr ziehen. Es schmeckte ungemein gut. Deshalb brachte ich erst einmal meinen knurrenden Magen zur Ruhe. Es reichte bei weitem nicht, das große Loch in mir zu füllen, aber es gab mir
Kraft zurück. Außerdem ließ der Umfang des Beutels vermuten, daß sie mit ihren Wolken keine allzu weiten Ausflüge machten. Im Umkreis von ein, zwei Tagen mußte es jagdbares Wild geben. Darraco würde sein Lager nicht in einem Gebiet aufschlagen, in dem er mit seinen Männern hungern mußte. Andererseits war ein Tag Umkreis für Wolkenreiter eine riesige Entfernung. Waramau hatte mich in einem halben Tag über ein Stück Dschungel getragen, zu dessen Durchquerung ich einen halben Mond brauchen würde. Aber ich machte mir keine allzu großen Gedanken darüber. Ein Dschungel wie dieser mußte einfach etwas Eßbares bieten – wenn keine Tiere, dann wenigstens Beeren oder Früchte. Eine Weile war das Problem ja nun aufgeschoben. Ich befestigte den leeren Beutel wieder am Gürtel und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Waldrand rechts. Die Stimmen waren nähergekommen. Ich vermeinte, sie jetzt aber links zu hören. Seltsam. Ich lauschte mit angehaltenem Atem. Ja, sie kamen von links. Ich konnte auch einige Wortfetzen verstehen. Es ging darum, daß sie sich nicht einig waren, ob sie in den Dschungel eindringen sollten. Einige warnten davor. Einer meinte, der Dschungel würde die Schwarzhaut schon schaffen, denn hier wären nur die wenigsten wieder lebend herausgekommen, und die wenigen besessen von Teufeln, die sich in ihre Seelen
genistet hatten. Kein sehr angenehmer Ausblick. Aber ein anderer drängte darauf, daß sie sicherlich in Darracos Gunst steigen würden, wenn sie ihm die Beute mitbrachten. Weit konnte der Schwarze ja noch nicht gekommen sein. Und Verinos Tod sollte auch nicht ohne Sühne bleiben. Es war wohl doch besser, wenn ich tiefer im Dschungel verschwand. Aber ich war mir nicht mehr klar über die Richtung. Vorhin hatte ich die Stimmen von rechts gehört, nun von links. Der Waldrand konnte aber nur in einer Richtung liegen. Ich war sicher, daß ich mich nicht von der Stelle bewegt, oder gedreht hatte. Der mächtige, verwachsene Baum befand sich noch immer in meinem Rücken, die winzige Lichtung vor mir. Gleich darauf vernahm ich das Brechen von Ästen, als die Männer sich in den Dschungel arbeiteten. Es kam von links. Dann fiel mir etwas anderes auf: Das Buschwerk um mich war wie eine Wand – undurchdringlich. Nicht die kleinste Öffnung zeigte sich mehr. Ich war eingeschlossen! Ich unterdrückte das panische Angstgefühl. Irgend etwas Unheimliches ging vor, und die Bewegungslosigkeit des Laubes um mich schien mir plötzlich wie eine Tarnung, hinter der etwas lauerte. Auch das Laubdach über mir war näher. Ich fühlte
mich mit einemmal wie in einer Falle! Der Blütenduft war betäubend, aber nirgends in dem Grün war eine Blüte zu erkennen. Dennoch verschwamm mir alles vor den Augen wie im Rausch, wie unter dem Einfluß der Kräuter, die wir in Mlmau am Lagerfeuer rauchten. Halbblind tastete ich mit dem Schwert um mich. Ich mußte hier weg! Ich schlug taumelnd die Blätter auseinander, aber ich fand nicht die Kraft, mich durchzudrängen. Alles war wie gelähmt. Ein Schrei kam aus dem Dschungel, spitz und schrill vor Grauen. Gleich darauf war es, als hielte der Dschungel den Atem an, um zu lauschen. In der Stille hörte ich ein mahlendes, schlürfendes Geräusch – wie von einem riesigen Mund. Ich bin nicht furchtsam, aber nun spürte ich, wie sich mir die Nackenhaare aufzustellen begannen. Dann erscholl ein zweiter, markerschütternder Schrei. Gleich darauf aufgeregte Stimmen, darunter eine, die ein paarmal einen Namen rief. Brechen von Ästen und Rascheln folgte. Zweifellos hasteten die Männer zu ihren Wolken zurück. Und ich hatte gute Lust, das gleiche zu tun. Plötzlich hieb ein Schwert durch die Laubwand, die mich umgab, und einer der Männer zwängte sich durch die Äste. Mit Entsetzen sah ich, daß alles
verwachsen um mich war zu einem Käfig. Erneut fiel mir der See ein. Die kalte Furcht drängte das Schwindelgefühl in den Hintergrund, das sich meiner wieder zu bemächtigen drohte. Der Mann starrte mich an. Sein Gesicht war bleich, aber ein Zug von Triumph belebte es, als er erkannte, daß er mich aufgestöbert hatte. Er wollte auf mich zu. Dabei kippte er nach vorn, aber er fiel nicht. Entsetzt sah ich, daß seine Beine regelrecht von Schlingpflanzen umwachsen waren. Auch seine Arme hingen bereits halb in grünen Schlingen. Er schrie und kämpfte verzweifelt gegen das immer dichter werdende Gewirr, das ihn immer schneller umschlang. Hinter ihm war eine regelrechte Wand aus Ästen. Ich nahm alles nur undeutlich wahr. Es verschwamm vor meinen Augen. Der Kopf des Mannes kam hoch. Seine Augen starrten mich flehend an. Irgendwo im Innersten war der Wunsch, ihm zu helfen, nicht tatenlos mit anzusehen, wie die Schlingen sich immer dichter um seinen Körper legten und zusammenzogen. Aber es war so unendlich schwer, den Arm zu bewegen. Die Muskeln fühlten sich an, als wären sie aus Eisen, so starr. Plötzlich richtete sich der Blick des Mannes auf einen Punkt über mir, und solches Grauen verzerrte sein Gesicht, daß ich trotz der lähmenden Starre den Kopf hochruckte. Was ich sah, ließ mir einen
Augenblick das Herz stillstehen. Das Blätterdach hatte sich geöffnet. Ich starrte in den riesigen Kelch einer weit geöffneten violetten Blüte, deren betäubenden Duft ich bereits kannte. Sie bedeckte die ganze Lichtung, und sie kam langsam herab. Vier lange, fleischige Stiele krümmten sich herab wie gigantische Raupen. Das Innere öffnete sich zu einem runden, tief roten Schlund, der von Zähnen eingesäumt schien. Es gab ein schmatzendes Geräusch. Mit einem Aufschrei schüttelte ich die Lähmung ab. Ich handelte noch immer ungelenk wie im Traum, aber ich handelte. Ich stolperte auf den hilflosen Mann zu, der gequält schrie, als sich die Schlingen fester zuzogen. Sein Umhang riß. Blut quoll aus der Haut. Ich brachte meinen Arm hoch und hieb in die Schlingen. Mehrere rissen und gaben einen Teil seines Gesichtes frei. Sie zuckten nach mir. Ich hieb erneut zu. Und wieder, und mit jedem Hieb wurde es leichter. Der Bann fiel immer mehr von mir ab, je wilder ich auf die Äste und Schlingen einschlug. Einen Moment später hatte ich den Mann frei. Er fiel zu Boden. Es war nicht zu erkennen, ob er noch lebte. Ich konnte mich auch nicht um ihn kümmern. Die riesige Blüte hatte mich fast erreicht. Verzweifelt hieb ich auf das Astwerk ein. Ein Wimmern erfüllte die Lichtung. Etwas berührte mich heiß an der Schulter. Blind schlug ich um mich und durchschnitt das raupenartige Gebilde, das nach
mir gegriffen hatte. Ekel erfüllte mich. Eine grüne Flüssigkeit quoll hervor und übergoß mich. Ihre Berührung war wie Eis. Sie verdoppelte meine Kräfte. Die Wand vor mir riß auf. Ich taumelte durch, wandte mich um, griff blind nach den Beinen des Mannes und zog ihn hinter mir her. Keinen Augenblick zu früh. Mit einem knirschenden Geräusch senkte sich der violette Kelch auf den Boden. Die spitzen Blütenblätter rammten sich in die Erde, als wären sie aus Eisen. Daraus hätte es kein Entfliehen mehr gegeben. Ein raschelndes Geräusch drang von innen heraus, und ich konnte mir vorstellen, wie die grünen Raupen über den Boden tasteten, um nach der Beute zu suchen – um nach mir zu suchen. Ich schüttelte mich und zog erschöpft die leblose Gestalt hinter mir ins harmlos scheinende Unterholz. Schwäche war in meinen Knien. Ich versuchte, den Mann auf meine Schultern zu heben, aber ich schaffte es nicht, so schleifte ich ihn am Oberkörper mit. Schließlich glaubte ich mich weit genug weg von dieser teuflischen Gefahr. Erschöpft sah ich mich um. Nirgends war ein Ende des Dickichts zu erkennen. Ich versuchte mich zu orientieren, mußte aber erkennen, daß ich jeden Sinn für Richtung verloren hatte. Ich bückte mich zu dem Wolkenreiter und fühlte
nach seinem Herzen. Es schlug ganz leicht, aber er war nicht bei sich. Seine Verletzungen waren nicht gefährlich. Die Haut war an mehreren Stellen aufgerissen, aber die Knochen hatten dem Druck standgehalten. Er würde früher oder später aufwachen. Ich wußte nicht, ob ich darüber froh sein sollte. Ich ließ mich neben ihm nieder, um auszuruhen. Die Geräusche in einiger Entfernung kündeten deutlich, daß die hungrige Blüte noch immer nach dem verlorenen Leckerbissen suchte. Davon abgesehen war es totenstill. Die Gefährten des Wolkenreiters waren entweder alle tot, oder hatten den Ausgang aus dem Dschungel gefunden. Wir hatten diese Entscheidung noch vor uns, und ich war gar nicht sicher, wie sie ausgehen würde. Vorerst konnte ich nicht viel mehr tun, als warten, bis mein unfreiwilliger Gefährte aufwachte. Es waren nicht nur menschenfreundliche Gefühle, die mich dazu veranlaßten. Schließlich war er ein Bewohner dieser Welt. Und wenn einer sich hier zurechtfand, dann er. Wenn er klug war, sah er ein, daß wir zu zweit eine bessere Chance zu überleben hatten. Unsere Feindschaft konnten wir ja später wieder aufnehmen, wenn wir der gemeinsamen Gefahr entronnen waren. Ich jedenfalls wollte nicht von seiner Seite weichen. Aber ich war längst nicht mehr so sicher, daß ich Waramau oder den König je wiedersehen würde.
Er hatte es nicht eilig, in diese Welt zurückzukehren. Auch der Dschungel zeigte vorerst keine weiteren feindseligen Absichten. Vielleicht war es nur eine Verschnaufpause, die mir gegönnt war. Ich fragte mich, welchen Gefahren wohl König Dragon und Danila ausgesetzt waren, und ob sie sie heil überstanden hatten. Seine Chancen, am Leben zu bleiben, waren nicht größer als die meinen. Es war eine grausame Ungewißheit. Er mochte längst tot sein. Aber er hatte Gefahren überlebt, wie sie nur wenigen Sterblichen widerfuhren, und die nur wenigen Sterblichen vergönnt waren, durchzustehen. Es war etwas Magisches an ihm, etwas beinah Göttliches. Wem sonst sollte es gegeben sein, mehr als tausend Jahre zu schlafen und aufzuerstehen – als einem Gott? Auch der Wolkenreiter zu meinen Füßen hatte einen Beutel mit Fleisch bei sich. Ich nahm ihm die Hälfte ab. Der kleine Vorrat beruhigte mich. Das Fleisch war gesalzen. Das machte sich bereits unangenehm bemerkbar. Ich hatte Durst. Mit einigem Glück mochten wir eine Quelle finden. Mit etwas weniger Glück mochten wir auch daran vorbeigehen. Aber ich bin nicht so leicht zu entmutigen. Es hatte alles schon schlechter ausgesehen. Und ich lebte noch! Keinen Augenblick ließ ich die Bäume und Büsche aus den Augen. Ich war mißtrauisch wie ein Einhorn.
Alles sah friedlich aus. Es gefiel mir nicht. Denn ich spürte die Gefahr. Sie lauerte überall um uns. Ein paarmal schlug ich den Mann leicht ins Gesicht und kniff ihn, für den Fall, daß er sich nur schlafend stellte. Er war jedoch noch immer fort. Das spärliche Licht schwand langsam. Es wurde finster. Wahrscheinlich sah man während der Nacht nicht einmal die Hand vor Augen. In dieser Schwärze umherzuirren, hätte wenig Sinn gehabt. Ich begann mich nach Brennbarem umzusehen, fand jedoch nichts. Es gab keine dürren Äste oder welken Blätter. Es gab keine toten Pflanzen. Alles war mit Leben erfüllt. So hieb ich einige grüne Äste ab. Dann nahm ich dem Schlafenden den Umhang ab, riß mehrere Stücke davon ab und brachte sie in kurzer Zeit zum Brennen. Das Feuer hatte eine seltsame Wirkung. Ich hatte das Gefühl, daß die Umgebung plötzlich weiter wurde, der Raum um mich freier, als wiche alles vor den Flammen zurück. Als ich die Äste darauf werfen wollte, sah ich, daß sie sich krümmten und wanden wie Schlangen, und versuchten, das Buschwerk zu erreichen. Ich sprang nach und trampelte darauf herum. Aber sie verloren nichts von ihrer Lebendigkeit, so oft sie auch geknickt waren.
Das brennende Stück Stoff erlosch, und ich stand in der Dunkelheit. Alles war schwarz, bis auf das leichte Glimmen der Aschenreste. Etwas kroch an meinen Füßen hoch und wand sich um meine Beine. Ich stolperte zurück und fiel, als sich einer der Äste um meine Knöchel zusammenzog. Kaum daß ich die Erde berührte, waren sie an mir, an Armen und Hals. Es war ein mörderisches Gefühl. Ich wand mich und bekam den Dolch aus dem Gürtel. Mit mehreren Schnitten befreite ich mich von den lebendigen Fesseln und taumelte zum Lagerplatz zurück. Hinter mir raschelten die Äste über den Boden. Ein Lufthauch erfüllte die Lichtung, als wäre etwas Großes in Bewegung. Mit zitternden Fingern brachte ich ein weiteres Stück Tuch zum Glimmen. Im Licht der ersten kleinen Flamme sah ich jedoch, daß sich nichts verändert hatte. Nur von einem der Bäume kroch ein Stück Liane über den moosigen Boden. Ich war nicht sicher, ob sie schon vorher dagewesen war. In ihrer Richtung befand sich der Kopf meines unfreiwilligen Gefährten, und ich ging kein Risiko ein. Ich hob seinen Oberkörper hoch und lehnte ihn gegen mich. Lange würden wir nicht aushalten. Der Stoff verbrannte zu rasch. Ohne Feuer aber würden wir die Nacht nicht überleben. Tausend grüne Finger konnten in der Finsternis
nach uns greifen. Sie sahen so wenig wie wir, aber sie fühlten uns. Mein Herz schlug verräterisch laut in der Stille. Der Mann wurde wach in meinen Armen. Ich hielt ihn ein wenig weg von mir und tastete nach seinem Dolch und seinem Schwert im Gürtel. So würde ich rechtzeitig sehen, ob er danach griff. In der Tat fuhr seine Hand zum Dolch, gewahrte dort meine. Er richtete sich stöhnend auf. »Wer bist du?« »Ubali«, sagte ich. »Die Schwarzhaut, auf die ihr so scharf wart.« Er schwieg einen Augenblick. »Du hast mir das Leben gerettet?« »Es ist das zweite, das mir Darraco schuldet. Bring mich zu ihm.« »Nichts lieber als das. Wenn du mir den Weg aus diesem verdammten Dschungel zeigst!« »Den hoffe ich von dir zu erfahren«, erwiderte ich. »So sind wir verloren«, entfuhr es ihm. »Verflucht die Stunde, da ich dir begegnet bin ...!« »Ich war auch nicht erfreut über unsere Begegnung«, sagte ich schroff. »Ich könnte jetzt ...« »Was ist das?« unterbrach er mich heftig. Ich hörte es auch, das Rascheln ganz in unserer Nähe. »Sie kommen wieder«, stellte ich fest.
»Wer?« Furcht war in seiner Stimme. »Die Pflanzen.« Ich griff nach einem weiteren Stück Stoff und mühte mich ab, es zu entzünden. »Hilf mir«, sagte ich. »Rasch. Das Zeug ist das einzige, das brennt.« Mit zitternden Händen machte er sich an meiner Seite zu schaffen. Als der Stoff endlich aufglomm, und er ihn sorgfältig zur hellen Glut blies, sah ich erschrocken, daß der ganze Lichtungsboden von Lianen bedeckt war, die nun halb aufgerichtet lauerten und sich vor der Glut zurückkrümmten. »Blasen«, rief ich, als er innehielt und starr vor Entsetzen auf die Pflanzen stierte. Gleich darauf brannte der Stoff. »Wir müssen hier fort. Varins Erbarmen, wir müssen hier fort!« stammelte er. »Ja«, stimmte ich bei und half ihm hoch. »Aber wohin?« »Egal wohin.« In seiner Stimme war ein wimmernder Klang. »Nur fort von hier. Oh, Varin, hilf mir!« »Ist das dein Gott?« fragte ich ihn. »Ja, ja«, erwiderte er hastig. »Dann hoffe ich, daß er mächtiger ist als die meisten, die ich kenne«, stellte ich fest. »Ich habe mir abgewöhnt, die Götter um Hilfe anzurufen. Die meisten taugen zu nicht viel mehr als zum Fluchen.«
»Es geht aus! Es geht aus ...«, jammerte er. Rasch hielt ich den Rest des Stoffes über die verlöschenden Flammen. Er loderte hell auf. Bevor er mich aufhalten konnte, rannte ich unter die hastig zurückweichenden Lianen und schleuderte ihnen den brennenden Lappen entgegen. Sie waren nicht rasch genug. Die Flammen leckten nach ihnen. Sie begannen zu brennen. Wie trockenes Holz flammten sie knackend auf. Sie wanden sich und steckten andere an. Prasselnd breitete sich der Brand aus, griff nach den Bäumen, hüpfte von Ast zu Ast wie ein Dämon. Die Lichtung war hell wie am Tag und in einen wahren Gluthauch getaucht. Es war äußerst befriedigend zu sehen, wie diese höllischen Pflanzen verzehrt wurden. Der Wolkenreiter kam grinsend an meine Seite. »Ich bin Larkin«, sagte er mit einem halben Grinsen. Erleichterung schwang in seiner Stimme. »Sieht so aus, als hättest du dieses Leben schon wieder gerettet.« Ich nickte. »Ich hoffe, dieser Darraco weiß das zu würdigen.« »Dafür kann ich nicht garantieren«, meinte er. »Aber ich werde es nicht vergessen.« »Noch sind wir nicht draußen«, sagte ich warnend. »Außerdem greift das Feuer so rasch um sich, daß uns nicht viel Zeit bleibt. Verbrennen ist auch kein Tod nach meinem Geschmack ...«
»Besser als gefressen werden ... von Pflanzen ...!« Er schüttelte sich. »Dann vorwärts, Larkin«, drängte ich. »Solange wir dieses Licht haben. Dort drüben muß die Stelle sein, an der du mich gefunden hast, wenn mich nicht alles täuscht. Denkst du, daß du von dort aus den Rückweg findest?« »Ich weiß es nicht. Aber es ist einen Versuch wert. Warte ...« Er schüttelte den Kopf. »Das ist eigentümlich. Ich ... das Feuer treibt von uns weg ... genau in die andere Richtung. Das muß der Wind sein. Um diese Jahreszeit ist der Ostwind am heftigsten. Das muß bedeuten, daß die Steppe in dieser Richtung liegt. Wir brauchen nur dem Feuer zu folgen.« »Der Wind könnte umschlagen«, warf ich ein. »Ich bin ziemlich sicher, daß wir aus der anderen Richtung ...« »Nein. In einigen Tagen wird sich der Wind ändern, aber jetzt ist es noch zu früh.« »Also gut«, stimmte ich zu. »Folgen wir dem Feuer. Es ist auch der sicherste Weg.« Das Feuer loderte hoch auf, aber es wirkte auf mich irgendwie kraftlos. Etwas Seltsames geschah: Statt sich weiter auszubreiten, schien es, als würde es eingedämmt. Tatsächlich schienen die Pflanzen so etwas wie einen Selbstschutz auf die Beine gestellt zu haben. Die Luft war plötzlich erfüllt von feinem Regen,
der stark nach Holz roch, als käme er direkt aus dem Herzen der Bäume. »Sie löschen es«, rief Larkin halblaut. Er hatte recht. Qualm stieg auf. Der Regen verdichtete sich. In wenigen Augenblicken war das große Feuer erstickt. Dunkelheit senkte sich herab, so schwarz und undurchdringlich wie zuvor. »Was jetzt?« fragte Larkin. »Wir gehen in dieser Richtung weiter«, schlug ich vor. »Dann haben wir uns nach wenigen Schritten verloren. Ich kann die Hand nicht vor den Augen sehen. Warum bleiben wir nicht bis zum Morgen hier auf der Lichtung. Es ist alles verbrannt und verkohlt. Wir sind ziemlich sicher ...« »Das glaube ich nicht«, entgegnete ich. »In kurzer Zeit ist das alles wieder überwuchert. Sie kriechen über den Boden wie Schlangen. Wir müssen weg hier. Aber nicht vorwärts, sondern zurück.« »Zurück? Bist du von Sinnen? Noch tiefer in den Dschungel?« »Im Gegenteil. Dort hinten liegt der Weg ins Freie. Ich bin sicher, daß wir aus dieser Richtung kamen.« »Aber das Feuer ...« »Was immer das Feuer in diese Richtung trieb, war nicht der Ostwind. Bis das Feuer ausbrach, war hier nicht der leichteste Lufthauch zu spüren. Kein Blatt hat
sich bewegt. Der ganze Dschungel ist eine Falle, Larkin. Ich hörte anfangs eure Stimmen von rechts, gleich darauf von links, obwohl sich nichts verändert hatte. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich jedes Gefühl für Richtungen verloren. Das ist kein Zufall. Das ist Absicht ...« »Das ist Unsinn, Schwarzer«, unterbrach er mich. »Ich heiße Ubali«, knurrte ich. »Gut, Ubali also. Es ist Unsinn. Diese Bäume denken nicht. Sie sind Pflanzen, und nicht mehr, auch wenn sie Fleisch fressen.« »Möglich. Aber sie sind verdammt unersättlich. Bis jetzt haben wir nicht ein einziges Tier gesehen, nicht einmal eine Fliege. Und draußen in der Steppe war auch alles leer. Jedes Lebewesen scheint diese gefährliche Gegend zu meiden. Nur Narren wie wir sehen die Gefahr nicht. Und ich könnte mir vorstellen, daß sich der Dschungel im Laufe der Jahre auf diese Art von Beute eingestellt hat. Jedes Lebewesen paßt sich an oder stirbt. Das ist im Busch in meiner Heimat Shi-but nicht anders.« »Vielleicht hast du recht. Schw ... Ubali. Aber in dieser Dunkelheit werden wir niemals den rechten Weg finden. Wir sind erledigt, bevor wir auch nur ein paar Schritte über diese Lichtung hinaus getan haben. »Wir haben noch unsere Beinkleider ...« »Die nicht brennen werden, weil sie naß vom Regen
sind«, wandte Larkin ein. »Wir müssen es versuchen«, sagte ich ärgerlich. »Oder willst du lieber tatenlos verrecken?« Das rüttelte ihn ein wenig auf. Ich hörte ihn gleich darauf, wie er seine Beinkleider aufriß und sich fluchend mit dem Dolch daran zu schaffen machte. Wenig später schlug er Funken mit wenig Erfolg. Es war unheimlich still und drückend. Jeden Augenblick erwartete ich, daß sich etwas um meine Beine schlang, oder um meinen Hals. Das Schwert lag klamm in meiner Hand. Larkin hatte kein Glück mit dem Feuer. Ich dachte an die getrockneten Kräuter in dem einen Beutel. Sie mochten vielleicht ein guter Zunder sein, der auch das feuchte Zeug in Brand steckte. »Ich griff nach dem Beutel und hielt überrascht inne. Durch das Dickicht vor uns kam ein fahles, grünes Leuchten. Es bewegte sich. Es schien aus mehreren hellen Punkten zu bestehen. »Larkin«, flüsterte ich und tastete in der Finsternis nach seiner Schulter. Er hielt inne. »Siehst du es?« »Ja«, antwortete er. »Was mag das sein?« »Das wissen die Götter. Wir werden es uns näher ansehen. Jedenfalls ist es eine Art von Licht. Und wir brauchen Licht am allernotwendigsten. Komm.« Gleich darauf zeigte sich, daß wir gar nicht darauf zuzugehen brauchten. Die gespenstischen Lichter kamen direkt auf uns zu. Aber wir konnten nicht
erkennen, was es war, bis es durch das Buschwerk brach und auf die Lichtung kam. »Menschen!« entfuhr es mir. »Larkin gab keine Antwort. »Dank sei Varin«, murmelte er nur. Sie kamen hintereinander auf die Lichtung. Sie waren zierlich und kleiner als ich, kleiner selbst als Larkin, den ich um einen Kopf überragte. Ihre Haut war dunkel, das konnte ich selbst in dem fahlen, grünlichen Licht erkennen, das von fackelartigen Holzstücken ausströmte, die sie in Händen hielten. Es war kein Feuer, sondern ein Licht, das nicht flackerte, nur glühte. Doch die Glut reichte aus, ihnen den Weg zu zeigen. Nicht jeder hielt ein solches Licht in der Hand. Viele hatten kleine Bogen mit angelegten Pfeilen, manche Speere. Bis auf einen knappen Lendenschurz waren sie unbekleidet. »Die sehen nicht sehr freundlich aus«, meinte Larkin. Ja, den Eindruck hatte ich auch. Meine anfängliche Freude darüber, in diesem Teufelsdschungel menschlichen Wesen zu begegnen, legte sich rasch. Fünf oder sechs Dutzend der Gestalten drängten sich auf die Lichtung, die unter den Lichtern ziemlich hell wurde. Ihre kleinen Augen musterten uns irgendwie kalt. »Was tun wir?« flüsterte Larkin.
Ich zuckte die Achseln. »Abwarten«, sagte ich. »Ich würde lieber die Beine in die Hand nehmen«, entgegnete er. »Es sind zu viele, und sie haben den Vorteil, daß sie sich hier auskennen. Du würdest nicht weit kommen«, warnte ich. »Ich bin kaum einem Stamm begegnet, dessen Krieger nicht von Furchtlosigkeit beeindruckt gewesen wären. Laß dir lieber nicht anmerken, daß du Angst hast. Wenn es zum Kampf kommt, bleib in meinem Rücken ...« »Dazu wird es gar nicht kommen. In dem Augenblick, in dem wir das Schwert heben, sehen wir aus wie die Stachelschweine.« »Ein rascher Tod«, erwiderte ich. »Er schreckt mich nicht.« »Mich schon. Und sie sehen uns an, als ob sie uns schon in ihrem Kochtopf hätten.« Da hatte er recht. Sie standen um uns herum, schweigend, und starrten uns mit ihren glitzernden Augen an. Irgendwie wirkten sie knorrig mit ihrer runzeligen Haut, den faltigen Gesichtern, den dünnen Armen und Beinen, deren Gelenke wie Knoten waren. Nach einem Augenblick trat einer aus der Menge, der ihr Anführer schien. Er kam furchtlos heran bis auf eine Manneslänge Abstand und begutachtete uns wie
Rindvieh auf dem Markt. Larkin empfand es wohl ebenso, denn er trat fluchend einen Schritt auf den Mann zu und hob wütend sein Schwert. Im nächsten Augenblick war der Boden vor ihm gespickt mit Pfeilen. Mit einem Aufschrei hielt er inne. Damit schien die Lage geklärt. Ohne ein Wort wandte sich der Anführer um und winkte einigen seiner Leute. Sie stellten sich wie eine Eskorte auf beiden Seiten auf. Mir lagen ein paar Fragen auf der Zunge, aber diese Männer waren offenbar nicht sehr für Erklärungen. Kein Wort war gefallen, seit sie auf die Lichtung gekommen waren. Ich hatte das Gefühl, daß ich die Antworten auf meine Fragen früh genug selbst herausfinden würde. Und ich war sicher, daß sie mir nicht gefallen würden. Inzwischen war nicht viel mehr zu tun als abzuwarten. Die Lage hatte sich immerhin verbessert. Wir hatten Licht und Gesellschaft. Larkins Gesicht war blaß. Ich nickte ihm beruhigend zu. Diese weiße Haut taugte nicht viel. Sie verriet zuviel von dem, was im Innern eines Mannes vorging. Unsere Eskorte setzte sich in Bewegung, und wir auch, nachdem sie uns mit den Speeren vorwärtsdrängten.
5.
Der Dschungel sah seltsam verzaubert aus im Schimmer des fahlen Lichtes. Man konnte nur einen kleinen Umkreis erkennen. Knorrige Äste wirkten wir Arme, wie Gesichter, Beine und verwachsene Leiber – mitten in der Bewegung erstarrt, als hätte der Lichtschein sie ertappt bei einer mörderischen Tat. Ich konnte mich eines Schauderns nicht erwehren, und Larkin empfand es wohl ebenso, denn er ging leicht gebückt vor mir her, so als suchte er in seiner Eskorte Schutz. Im Augenblick war ich ebenfalls dankbar für unsere Begleitung. Lange hätten wir allein in dieser Dunkelheit nicht überlebt. Es war ein langer Weg, mit einer leuchtenden Karawane vor uns und einer ebenso langen hinter uns. Die Männer schienen keine Angst zu haben. Mehrmals machten wir Umwege um mächtige Stämme, kleine Lichtungen und eine kleine Wasserstelle. Der Durst machte sich bei ihrem Anblick wieder bemerkbar. Einer der Krieger aus nächster Nähe deutete meine Lippenbewegung offenbar richtig, denn er bückte sich nach etwas auf dem Boden und warf es in den Teich. Voller Grauen sah ich, wie die spiegelnde Oberfläche sich auflöste wie unter einem
starken Regenschauer, aufschäumte, und zu tausend spitzen funkelnden messerartigen Blättern wurde, die über dem Gegenstand zusammenschnappten, den der Mann geworfen hatte. Ein scharfes, schabendes Geräusch erklang, das mir eine Todeskälte den Rücken hinabjagte. »Varin, Erbarmen!« flüsterte Larkin vor mir. Und mir war der Durst vergangen. Endlich schienen wir am Ziel angelangt zu sein, obwohl in meinen Augen bereits ein Flecken dieses Urwaldes wie der andere aussah. Vor uns befand sich ein gewaltiger Baum. Drei Dutzend der Krieger hätten ihn nicht mit ihren Armen umspannen können. Von seiner Rinde war nichts zu sehen. Sie war umwuchert von Schlingpflanzen. Die ersten Krieger begannen an ihm hochzuklettern. Sie benutzten ganz bestimmte Stellen, auf denen sie kletterten. Es sah von unten aus wie unsichtbare Stufen. Sie hielten sich auch kaum fest, während sie hochstiegen. Als wir an die Reihe kamen, entdeckte ich, daß gleichmäßige Streben wie die einer Leiter aus dem Baum ragten, an denen man wie auf Stufen hochklettern konnte. Die Krieger besaßen eine unglaubliche Gewandtheit. Ich selbst mußte mich ständig an den Lianen festhalten, und Larkin erging es nicht anders. Auch erfaßte mich bald ein
Schwindelgefühl, wie ich es selbst auf Waramaus Rücken nicht verspürt hatte. Vielleicht lag es an der Schwärze unter mir, und daß ich wußte, welch tödliche Gefahren da unten lauerten. Die gewundene Schlange der grünen Lichter verschwand über mir im Laubdach. Ein Ende unserer Kletterei war nicht abzusehen. Larkin stapfte keuchend voran, und auch ich fühlte, wie meine Kräfte schwanden. Aber es gab kein Einhalten. Die Krieger hinter uns stießen uns mit ihren Lanzen vorwärts. Vom Boden war bald nichts mehr zu sehen. Die scheinbar bodenlose Schwärze wich dem Grün eines vielschichtigen Laubgewirrs, das uns fast wie ein Raum in einer Hütte umgab und ein Gefühl der Behaglichkeit vermittelte. Die unsichtbare Drohung, die bei jedem Schritt auf mir gelastet hatte, schwand immer mehr. Ich fühlte mich frei und sicher. Nur müde. Der Aufstieg nahm wahrhaftig kein Ende, nur gewann ich nach einer Weile den Eindruck, daß der Stamm des Baumes merklich dünner wurde und freier von Lianen. Da und dort sah man die dunkle Rinde. Einmal gab es eine Pause. Vor uns, scheinbar auf Plattformen, die auf Ästen errichtet worden waren, standen viele der Krieger mit ihren Lichtern. Was geschah, war nicht zu erkennen. Niemand sprach ein
Wort. Es war, als ob sie überhaupt nicht sprechen könnten. Als ob sie stumm wären. Auch Geräusche gab es keine, die etwas über die Vorgänge hätten aussagen können. Nur als ich erschöpft meinen Kopf gegen die Rinde preßte, war es mir, als hörte ich einen langgezogenen, menschlichen Schrei, der nach unten hin verklang. So als käme er aus dem Innern des Baumes. Dann ging es weiter. Sie zerrten Larkin hoch, der sich wütend gegen die zudringlichen Arme wehrte. Mich stießen die Lanzen wieder in die Kehrseite, was mich auch zunehmend mehr mit Ärger erfüllte. Sie hatten uns die Waffen seltsamerweise nicht abgenommen, und der Drang, nach dem Schwert zu greifen und diese knorrigen Kerle vom Baum zu fegen, war manchmal übermächtig. Wohl auch in Larkin, denn ich sah ihn manchmal nach dem Knauf greifen. Ich fragte mich ernsthaft, wie groß unsere Chancen waren, wenn wir es zum Kampf kommen ließen. Etwa zwei Dutzend Krieger befanden sich unter uns. Zu viele. Außerdem waren sie wesentlich gewandter, und wie gut ihre Bogen waren, davon hatten sie uns ja bereits eine Kostprobe gegeben. Andererseits erschien mir unsere Lage ziemlich aussichtslos, wenn wir erst in der Krone dieses Baumes angekommen waren. Es machte eine Flucht beinahe unmöglich. Sie konnten uns jederzeit mit Leichtigkeit
einholen. Wir erreichten die Stelle, an der es den Aufenthalt gegeben hatte. Es waren keine richtigen Plattformen, sondern eine so starke Umwucherung der Äste mit rankenartigen Pflanzen, daß sich zwischen den Ästen ein fester Boden gebildet hatte. Niemand befand sich mehr hier, und unsere Eskorte kletterte weiter hinauf. Die Götter mochten wissen, wieviele Stunden wir hier hochsteigen mußten, bis dieser Baum ein Ende hatte. Knapp über der natürlichen Plattform sah ich eine große dunkle Öffnung in der Rinde. Ein ekelhafter Geruch strömte daraus hervor, und ich war froh, als wir es hinter uns ließen. Ich merkte mir die Stelle jedoch. Sie mochte ein guter Schlupfwinkel für eine Flucht sein. In diesem Gestank würde niemand nach uns suchen. Einen augenblicklichen Fluchtgedanken gab ich jedoch auf, denn dieses mehr oder weniger bequeme Hochsteigen hatte auch noch einen Vorteil. Wenn der Tag anbrach, mußten wir aus dem Wipfel des Baumes sicherlich des Ende des Dschungels und die Prärie sehen können. Wenn nicht von diesem Vater aller Bäume, dann wohl von keinem anderen. Ich war ganz zufrieden bei dem Gedanken. Die Götter hatten es nicht so unübel mit uns gemeint. Wir hätten ein Dutzend Bäume unter allergrößten Schwierigkeiten besteigen können, ohne Gewähr, daß wir auch wirklich
über die anderen hinwegsahen. Hier hingegen schien es mir ziemlich sicher. Also aufwärts – und wenn dort nichts anderes war als das Ende der Welt! Ich hatte auch den Eindruck, daß es bereits ein wenig heller geworden war, obwohl der grüne Lichtschimmer noch immer einen geschlossenen Raum aus Laub ausleuchtete. Es war schwer abzuschätzen, wie hoch wir uns bereits befanden. Dreißig oder vierzig Manneslängen vielleicht. Wir hatten den mächtigen Stamm ein gutes Dutzend mal umrundet. Er war nun bereits recht dünn geworden – wenigstens im Vergleich zu unten, denn noch immer bedurfte es wenigstens eines halben Dutzends, um ihn zu umspannen. Wieder tauchte eine dicht umwucherte Schicht von Ästen auf, auf der man bequem stehen konnte, und diesmal schien das Ziel erreicht. Ein wenig war ich enttäuscht, denn noch immer bot das Grün ringsum keinen Ausblick in die Welt dahinter, auf den Sternenhimmel. Nichts wäre mir in diesem Augenblick lieber gewesen, als einen Stern zu sehen. Larkin sank erschöpft vor mir nieder. Ich lehnte mich keuchend gegen den Stamm. Erst jetzt bemerkte ich, daß die Plattformen weit auf die Äste hinausreichten, und daß darauf runde Gebilde standen, die in dem fahlen Licht wie Hütten aussahen, die
jemand aus Ästen und Laub errichtet hatte. Auch Gestalten waren zu erkennen. Die Lanzenspitzen trieben uns vorwärts, auf die Hütten zu. Der Boden war nachgiebig und federnd. Ich hatte Mühe, mich aufrecht zu halten. Larkin torkelte vor mir her. Nach ein paar Schritten sah ich mich um, als das Licht immer düsterer wurde. Unsere Eskorte war zurückgeblieben und starrte uns nach. Einige der Männer winkten drohend mit den Speeren und warfen sie, als ich innehalten wollte. Es waren verdammt gute Würfe. Kurz vor unseren Füßen bohrten sich die Speere schwankend in die Äste. Einer verschwand in den Lianen zwischen meinen Füßen. Ich griff danach und faßte den hölzernen Schaft, bevor er ins Bodenlose verschwinden konnte. Rasch drehte ich mich herum und stieß Larkin vorwärts, einesteils, um den Speer zu verbergen, den ich erbeutet hatte, andererseits, um weiteren Würfen zu entgehen. Man wollte offenbar, daß wir uns zu den Hütten begaben. Die Gestalten, die uns dort erwarteten, waren unbewaffnet, soweit ich das erkennen konnte. Sie hatten auch keine Lichter. Konnte es sein, daß sie Gefangene waren wie wir? »Vorwärts«, drängte ich Larkin. »Es gefällt mir nicht«, keuchte er. »Wer sind die da vorn?«
»Das werden wir gleich wissen.« Ich warf einen erneuten Blick zurück. Sie standen noch immer um den Stamm und warteten. Ich fragte mich, wie weit sie ihre Speere werfen konnten. In der Stille vernahm ich einen Ton, den ich am wenigsten erwartet hätte. Das Schreien eines Säuglings.
6.
»Die wollten uns wohl zu unserem Glück zwingen«, meinte Larkin. »Es hat den Anschein«, stimmte ich zu. »Dein Varin scheint es tatsächlich recht gut mit uns zu meinen. Das ist der erste menschliche Laut, den ich in dieser Nacht höre, wenn ich von deiner Gesellschaft absehe.« Zwei der Gestalten kamen uns entgegen. Sie waren ziemlich klein. Als sie heran waren, erkannten wir, daß die eine ein junger Mann war, fast ein Knabe. Die andere war ein Mädchen, ebenfalls fast noch ein Kind. Beide waren vollkommen nackt und trugen langes Haar, das über die Körpermitte hing. Das Mädchen
trug ein Kind, das nicht mehr lange bei ihr sein würde, dem stark geschwollenen Leib nach zu schließen. Sie sahen uns neugierig an. Furcht war in ihren Augen und eine Mutlosigkeit in ihren Zügen, wie ich sie oft bei Sklaven gesehen hatte. Sie sprachen nichts. Larkin sagte völlig überflüssigerweise: »Wohnt ihr hier? Ist das euer Lager?« Er deutete auf die Hütten. Sie antworteten ihm nicht. Sie hatten nur Augen für mich. Es kam mir in den Sinn, daß sie vielleicht noch nie einen schwarzhäutigen Menschen gesehen hatten. Sie mußten hier völlig abgeschieden leben, wie viele der Stämme meiner Heimat und tief im Süden des Landes. Vielleicht war es die Furcht in ihren Augen, die mich bewog, vielleicht auch nur ein unbewußtes Mitleid, das ich selbst nicht verstand – ich streckte den beiden meine Hände entgegen und lächelte. Sie wichen ein wenig zurück, aber dann schwand die Furcht aus ihren Augen. Sie versuchten mein Lächeln zu erwidern, aber es war, als hätten sie noch nie gelächelt. Dann griffen sie zögernd nach meinen Händen, vorsichtig, berührten sie und faßten sie nach einem Augenblick mit festem Griff. Larkin hob den Speer auf, den ich neben mich auf den Boden gelegt hatte, und die beiden wichen erschrocken zurück.
»Habt keine Angst«, sagte ich rasch, ungewiß, ob sie mich verstanden. Jedenfalls verstanden sie den beruhigenden Tonfall meiner Stimme. »Er ist ein Freund. Larkin.« Ich deutete auf ihn. »Ich bin Ubali.« »Larkin«, wiederholte der Junge. »Ubali«, sagte das Mädchen. Sie sahen einander an und nickten. Dann wandten sie sich um und gingen ein paar Schritte auf die Hütten zu. Sie blickten zurück, ob wir ihnen folgten, was wir auch taten. Ich warf meinerseits einen Blick zurück zum Stamm, wo noch immer die Krieger standen, reglos, wie kleine Statuen. »Vorwärts, Ubali«, drängte Larkin. »Ich will diese Kerle nicht mehr sehen. Es kribbelt mich bei ihrem Anblick. Mit denen stimmt etwas nicht. Haben sie dich angefaßt?« »Nein«, entgegnete ich. »Ihr Griff ist hart wie diese verdammten Lianen, aus denen du mich befreit hast. Die sind nicht aus Fleisch und Blut wie wir ...« »Bestimmt irrst du dich«, widersprach ich. »Sollte mir recht sein«, murmelte er. »Varins Blut, ich bin müde. Darraco wird mir niemals glauben, was ich hier gesehen habe.« »Du hast einen guten Zeugen«, sagte ich.
»Du kommst wahrhaftig mit?« Er schüttelte mutlos den Kopf. »Es sieht allerdings so aus, als sollten wir unser Leben auf diesem Baum beschließen. Eine kümmerliche Aussicht.« Mit einem halben Grinsen fügte er hinzu: »Obwohl mir die Kleine gefällt ...« Die beiden deuteten auf eine Hütte, vor der sich bereits eine ganze Schar angesammelt hatte. Auf einen Blick sah ich, daß sie alle sehr jung waren, nicht viel mehr als Kinder. Die meisten der Mädchen waren schwanger. Auch ihre Gesichter waren erfüllt von Neugier und einer tiefen Furcht, die ein Teil ihres Wesens zu sein schien. Ihre Haut war weiß, ihre Gestalt zierlich – die der Knaben ebenso wie die der Mädchen. Wir traten in die Hütte. Drinnen befand sich nichts außer einer dichten Laubschicht, die als Lager diente. »Wenn ich das hier sehe, habe ich nur noch einen Wunsch, zu schlafen«, murmelte Larkin. Er ließ sich in das Laub sinken und schlief im nächsten Augenblick. Ich beneidete ihn darum. Die Müdigkeit brannte mir in den Augen, aber der Gedanke an Schlaf erfüllte mich mit Schrecken. Draußen war alles still und dunkel. Ich starrte aus dem Eingang. Unsere Eskorte war mit ihren Lichtern verschwunden. Es war gleichmäßig dunkel innerhalb und außerhalb der Hütte. Ob die versammelte Schar noch draußen stand, konnte ich nicht erkennen. Jemand berührte mich sanft und drängte sich an mir
vorbei, gefolgt von einem zweiten. Mit einem Seufzen sanken sie in das Laub und schliefen einen Augenblick später, wie ihre gleichmäßigen Atemzüge verrieten. Das mußten der Junge und das Mädchen sein. Und was blieb mir nun übrig, als das zu tun, wovor ich mich gefürchtet hatte. Aber alle schliefen, und das war nicht verwunderlich. In dieser Schwärze konnte man gar nichts anderes tun als schlafen. Ich fragte mich, wie der Tag hier oben aussehen mochte. Eine müßige Frage, denn ich würde ihn ja erleben. So rastlos ich war, es gab nichts mehr, das ich hätte unternehmen können. Jeder Schritt vor der Hütte mochte ein trügerischer Schritt in den Abgrund sein. Also ließ ich mich ebenfalls nieder und streckte mich zwischen den dreien aus. Ihr gleichmäßiges Atmen war beruhigend. Es war, als ob ich in meiner Hütte läge mit meinem Vater und seinen beiden Frauen. Alte Erinnerungen tauchten auf, während ich trotz aller Unruhe dem Schlaf nachgab. Doch irgend etwas hielt mich wach, etwas, das mich immer wieder an Larkins Bemerkung erinnerte: »Die sind nicht aus Fleisch und Blut wie wir ...« Der Satz geisterte durch meinen Kopf. Er war wie eine Tür, hinter der sich ein Geheimnis verbarg. Ich brauchte sie nur auf zustoßen. Und plötzlich wußte ich es: das Atmen! Dieses
beruhigende Atmen war der Schlüssel! Die ganze Zeit über war es mir nicht aufgefallen. Während Larkin und ich uns keuchend an dem Baum emporarbeiteten, hatten sie nicht einen Atemzug getan! Aber selbst mit diesem erschreckenden Gedanken schlief ich schließlich ein.
Als ich aufwachte, war das Lager neben mir leer. Die Bewohner der Hütte waren verschwunden, nur Larkin lag schnarchend am anderen Ende. Ich brauchte eine Weile, um mich zurechtzufinden. Dann stemmte ich mich überrascht hoch. Ein dämmriges Licht fiel in die Hütte. Es mußte Morgen sein. Oder Tag. Im Eingang stand ein Mädchen und starrte mich neugierig an. Sie hatte ein ernstes Gesicht, über dem der gleiche Schatten der Furcht lag, wie über den anderen Baumbewohnern, so als würden sie bereits damit geboren. Ich versuchte ihr zuzulächeln, aber es wurde mehr ein Grinsen, und mein entblößtes Gebiß erschreckte sie wohl, weil sie erwartet hatte, daß meine Zähne ebenso schwarz wie meine Haut wären. Sie verschwand rasch. Nachdenklich starrte ich in das dämmrige Grün hinaus. Das Bild wäre friedlich gewesen ohne diese
Furcht in ihren Augen. Ich weckte Larkin mit einem unsanften Stoß. »He, Larkin! Wach auf!« Als er mit einem Fluch hochfuhr, der wieder einmal mit seinem Varin zu tun hatte, stand ich auf und trat aus der Hütte. Ein halbes Hundert Menschen saß auf den weiten Plattformen herum, darunter eine Menge Kinder verschiedenen Alters. Nirgends sah ich Alte. Keiner schien mir älter als fünfzehn, sechzehn Sommer. Ich nickte grüßend, sie sahen mich an, die meisten von ihnen neugierig, einige der Mädchen verlangend, daß mir das Blut in den Kopf stieg. Das schwangere Mädchen aus der Hütte kam zu mir, nahm mich an der Hand und führte mich an eine Stelle der Plattform, auf der verschiedene Früchte lagen. Keine von ihnen hatte ich je zuvor gesehen. Sie nahm eine große, violette Frucht, die mich unangenehm an mein Erlebnis mit der violetten Blüte erinnerte. Sie brach sie, nahm einen großen Kern heraus, den sie fortwarf, und reichte mir den fleischigen Rest. Ich versuchte zögernd, aber sie schmeckte wirklich gut und war saftig genug, um auch den Durst zu stillen. Ich aß zwei davon, dann war ich ordentlich satt. Das Mädchen setzte sich neben mich und sah mir zu. Ein paarmal berührte sie meine Haut, ermutigt, als ich sie nicht abwehrte. Als ich fertig war mit dem
Essen, nahm sie meine Hände und drückte sie auf ihre kleinen Brüste. Dann, bevor ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, denn einen ähnlichen Brauch gab es auch in meiner Heimat, ließ sie mich los und schritt auf das ferne Ende der Plattform zu. Sie winkte mir, ihr zu folgen. Ich erhob mich schließlich und folgte ihr mit gemischten Gefühlen. Die Männer Shi-buts lagen nicht mit ihren Frauen, wenn sie Ungeborene trugen. Andererseits kannte ich hier die Bräuche nicht, und Bräuche waren für jeden Stamm etwas Heiliges. Auch wäre es unklug gewesen, die Gefühle meiner Gastgeberin zu verletzen. Und ich würde lügen, wenn ich sagte, daß ich nicht bereit dazu gewesen wäre, das Verlangte zu geben. Auch Larkin erlitt ein ähnlich erfreuliches Schicksal, dem er sich bereitwillig genug ergab. Danach schienen wir beide in den Stamm aufgenommen. Die Scheu war verschwunden. Ich versuchte mit ihnen zu sprechen, doch ohne viel Erfolg. Mein Fragenschwall ermutigte sie zu ein paar Worten, die ich nicht verstand, und die offenbar den Großteil ihres Sprachschatzes ausmachten. Sie bewunderten alles, was wir bei uns hatten und reichten es aufgeregt von Hand zu Hand, besonders die Dolche und Schwerter. Ich gab ihnen Verinos Gürtel, an dem sie das Innerste nach außen kehrten,
behielt aber meinen um, da es mir zu gefährlich schien, ihnen die Beutel mit Feuerstein und dergleichen zu überlassen. »Verinos Gürtel?« fragte Larkin unvermittelt. Sein Gesicht verdüsterte sich. Ich nickte. Er grinste plötzlich. »Er war nie ein guter Kämpfer. Hatte das Maul immer weit offen ...« »Du irrst«, erwiderte ich. »Er war verdammt flink, und er hätte mich beinahe erledigt.« Das Baumvolk lauschte unseren Worten verwundert. Noch nie hatte wohl jemand in ihrer Mitte ein so langes Gespräch geführt. Es schien auch völlig überflüssig, daß sie sprachen. Worüber auch? Sie saßen oder lagen herum, gaben sich der Leidenschaft ihrer Sinne hin, oder aßen. Sie spielten nicht. Irgendwie schien nichts aus ihnen selbst zu kommen, obwohl sie diese Neugier besaßen, uns, den Fremden gegenüber. Ich sah mich die ganze Zeit über gründlich um. Von unseren Entführern war nichts zu sehen. Das Laubdach besaß nirgends eine Öffnung. Die Plattformen erstreckten sich gute zwanzig Manneslängen in allen Richtungen. Dahinter verloren sich die starken Äste, die unter dem Gewicht der Bewohner kaum erzitterten, in der undurchdringlichen Wand aus Laub. Ich gab Larkin ein Zeichen und sagte ihm, daß ich
mich umsehen wollte, und daß er die Gesellschaft bei Laune halten sollte. Unbemerkt setzte ich mich bald darauf ab, nachdem ich vorgegeben hatte, etwas für mein leibliches Wohl zu tun, was die Bewohner an einer bestimmten Stelle in der Nähe des Stammes erledigten, wo das Ganze in großen Hohlräumen in den Ästen verschwand. Vorsichtig starrte ich dabei um mich durch halbgeschlossene Augen. Aber auch hier, in der Nähe des Stammes war nichts von den Bewachern zu sehen. Vielleicht waren sie verschwunden? Vielleicht waren wir gar nicht gefangen? Und sie hatten uns nur hierhergebracht, damit wir sicher waren vor den Gefahren am Waldboden, und weil sie uns für verwandt mit diesem Baumvolk hielten. Es gab ein paar Möglichkeiten, es herauszufinden. Zuerst einmal der Weg nach oben. Ich hoffte, daß auch weiter hinauf noch Stufen führten, denn den weiten Abstand zwischen den Ästen zu überbrücken war selbst einem guten Kletterer wie mir unmöglich. Ich schritt um den Baum herum und fand die Sprossen dieser gewaltigen Baumleiter. Sie führten hinauf. Und sie führten hinab. Dies war nur ein Stockwerk. Vielleicht eines von vielen. Und der Weg nach oben und nach unten war offen. Einen Moment überlegte ich, ob ich nicht gleich Larkin mitnehmen sollte, statt
mich allein auf dieses Wagnis einzulassen. Vier Augen sahen eine Gefahr rascher als zwei. Aber der Augenblick mochte nie wieder so günstig sein. Ich begann die Stufen hochzusteigen. Eine Stimme ließ mich herumfahren. »Ubali.« Der Junge, der die Hütte mit dem schwangeren Mädchen teilte, stand vor mir. Er sah mich angstvoll an. Mein erster Gedanke war, daß er mich wohl zum Kampf aufforderte, weil ich mit seinem Mädchen zusammengewesen war. Aber nichts dergleichen. Er deutete auf die Stufen und schüttelte den Kopf. Es war keine Drohung, nur Furcht in seinem Gesicht zu lesen. »Was willst du mir sagen?« fragte ich ihn. Er deutete erneut auf die Stufen. Wieder schüttelte er furchterfüllt den Kopf. Er wollte mich warnen. »Ich weiß, daß es gefährlich ist«, sagte ich in beruhigendem Ton. »Ich muß trotzdem gehen.« Er verstand mich nicht, aber er war erfreut, daß ich mit ihm sprach. Er ergriff mich am Arm und sagte erneut: »Ubali.« Dann deutete er auf seine Brust und sagte etwas, das wie Moao klang. Es war wohl sein Name, und ich bemühte mich redlich, ihn so wiederzugeben, wie er ihn gesagt hatte: »Moao.« Er nickte heftig. Dann winkte er mir, ihm zurück zu
den Hütten zu folgen. Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde nach oben steigen, Moao«, erklärte ich. »Vielleicht verstehst du es nicht, aber ich muß einen Weg hinaus finden. Ich kann nicht hierbleiben, auch wenn mir dein schönes Mädchen gefällt.« Während ich ihm das erklärte, nahm ich meinen Gürtel ab und hing ihn quer über meinen Oberkörper, damit mir das Schwert nicht hinderlich beim Klettern war. Ich wollte mich nicht davon trennen. Dann winkte ich dem Jungen zu und begann hochzusteigen. Einen Augenblick später war er aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich stieg rasch voran, und bald sah ich das Baumdorf unter mir. Larkin sah ich inmitten der Bewohner sitzen. Sie hörten ihm offenbar zu. Moao konnte ich nirgends entdecken. Zurückgelaufen war er wohl doch noch nicht, sonst wären aller Gesichter zu mir hochgerichtet gewesen. Doch da unten war alles friedlich. Und über mir sah es weniger friedlich aus. Es war ein verwirrendes Gefühl, hinunterzublicken. Es schien ein weiches Laubbett, das den Stamm vollkommen umgab. Es vermittelte den Eindruck, daß es ein herrliches Gefühl wäre, einfach hineinzufallen. Allein der Verstand warnte davor, er ließ sich nicht von solchen Gefühlen täuschen. Es würde ein endloser Fall
sein, bei dem der Körper bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert wurde. Dennoch blieb die Lockung, Niemand hielt mich auf, und langsam hatte ich den Eindruck, daß es heller um mich wurde, als würde das Laubdach dünner. Der Himmel mußte hinter jenen Blättern sichtbar sein, Ein Aufschrei ließ mich herumfahren. Er kam ganz aus meiner Nähe. Ich konnte nichts sehen, aber gleich darauf tauchte ein weißer Arm um die Krümmung des Stammes und suchte verzweifelt Halt. Mit einem neuen Entsetzensschrei hastete Moao die Stufen hoch, gefolgt von einem der Baumkrieger, der mit der Lanze zum tödlichen Stoß ausholte. Es blieb keine Zeit zu überlegen. Ich hatte meinen Dolch in der Faust und warf ihn. Der Speerstoß ging ins Leere. Der Mann verlor den Halt und stürzte in die Tiefe. Mehrmals hörten wir ein knirschendes Geräusch, wenn der Körper auf Äste prallte. Dann hatte ihn die Tiefe verschlungen. Moao starrte ihm mit weit aufgerissenen Augen nach, während ich mich umsah, ob der Angreifer der einzige gewesen war. Ich konnte aber keinen weiteren entdecken. Möglicherweise war es ein Wachtposten gewesen. Ich mußte vorsichtiger sein. Weiter oben mochten noch andere lauern. Dann zog ich den vor Entsetzen gelähmten Jungen zu mir hoch und redete beruhigend auf ihn ein. Ich war
alles andere als erfreut darüber, daß er mir gefolgt war, aber ich konnte ihn nicht allein zurückschicken. Er wäre eine zu leichte Beute für sie gewesen. Dieses Baumvolk schien vollkommen unkriegerisch, und ich wunderte mich immer mehr, wie das Zusammenleben mit dem anderen kriegerischen Stamm vor sich ging. Es mußte sicherlich eine sehr tapfere Tat für Moao gewesen sein, mir zu folgen, ein Entschluß, den ich keinem zugetraut hätte, so tatenlos und furchterfüllt, wie sie herumgelegen hatten. Moao beruhigte sich zusehends. Seine Starre löste sich. Er sah mich dankbar an, aber auch wie einen, der nicht mehr lange zu leben hatte. Daß ich den Krieger getötet hatte, war wohl ein ungeheures Verbrechen in seinen Augen. Plötzlich nahm er meine Hand, legte sie auf seinen Kopf, den er demütig senkte. Dabei sagte er ein neues Wort, das aber nicht viel anders klang als Moao. Aber ich verstand ihn trotzdem. Er wollte mir sagen, daß sein Leben nun mir gehörte, so wie ich meines für ihn riskiert hatte. Nun, wir waren beide noch recht lebendig, und wenn es nach mir ging, würden wir das auch bleiben. Moaos Gesellschaft war mir jetzt ganz recht. Er wußte wahrscheinlich, wo Gefahr lauerte. »Vorwärts«, sagte ich. Das verstand er. Ich ließ ihn an mir vorbei und folgte ihm.
Eine Weile kletterten wir ohne Zwischenfall. Plötzlich öffnete sich das Laubdach über uns. Es war nur eine kleine Lücke, aber es gab nichts, das ich lieber gesehen hätte. Und auch Moao starrte aufgeregt in das dunkle Blau. Ich fragte mich, ob er in seinem Leben überhaupt schon Farben außer grün und braun gesehen hatte. Wir arbeiteten uns rascher voran mit dem Ziel so greifbar vor Augen. Die Sprossen hörten mit einemmal auf, und das Weiterklettern war mühevoll. Doch die Äste waren nun nah genug beisammen, daß man sich von einem zum anderen ziehen konnte. Immer mehr öffnete sich das Laub über uns. Es gab keinen Zweifel mehr, wir hatten die Krone erreicht. Ah, ihr Götter, dieser Himmel war ein beseligender Anblick! Schließlich erreichten wir einen Punkt, von dem aus man das Dschungeldach überblicken konnte. Und vor uns, greifbar nahe, war die baumlose Steppe. Moao beobachtete sie mit glänzenden Augen. Ich glaubte weiße Punkte über dem Dschungelrand zu sehen. Drei an der Zahl. Vielleicht waren es die Wolken, unter ihnen Waramau. Es mochte wohl sein, daß sie auf Larkin warteten. Vielleicht auch auf mich. Es war teuflisch, Waramau so nahe zu sehen und sie nicht erreichen zu können. Ich versuchte mich zu orientieren. Ich hatte
mitgezählt. Wir hatten den Stamm ein Dutzend und ein halbes mal umrundet, bevor wir an den Ästen hochkletterten. Das bedeutete, daß das Baumdorf östlich des Stammes lag. Aber es war unmöglich, daraus Schlüsse zu ziehen, so wie es in diesem grünen Käfig unmöglich war, eine Richtung zu bestimmen. Bis wir am Boden anlangten, waren wir so verloren wie zuvor. Es gab keine Möglichkeit, diese Richtung im Auge zu behalten. Mutlos lehnte ich mich an den Stamm. Die Kletterei war umsonst gewesen. Wir waren so verloren wie zuvor. Wir wußten nur, daß die rettende Steppe zum Greifen nahe war. Der Abstieg war schwieriger, der stete Blick nach unten schwindelerregend. Wie von Sinnen spürte ich manchmal das Verlangen, loszulassen, hineinzuspringen in dieses grüne Bett. Krampfhaft hielt ich mich fest. Dann wurden wir noch auf etwas aufmerksam, das wir beim Aufstieg offenbar übersehen hatten. Moao rief plötzlich: »Ubali!« Dabei deutete er auf die Äste über uns. Sein Gesicht war angstverzerrt. Und auch meiner bemächtigte sich ein leises Grauen bei dem Anblick. Dutzende von menschenähnlichen Gestalten hingen an den Ästen wie Früchte. Ihre Knie waren an den Leib
gepreßt, der Rücken leicht gekrümmt, so daß der Kopf auf den Knien ruhte. Die Arme hingen ausgestreckt an den Ästen. Was aber am gespenstischsten aussah, waren die Speere, die sie zwischen die Schenkel geklemmt hatten, und die Bogen, die um ihre Schultern hingen mit dem gefüllten Köcher. Sie schienen zu schlafen. Aber ich hatte das drohende Gefühl, daß sie jeden Augenblick die Augen öffnen würden, um uns anzusehen. Es war ein grauenvoller Gedanke. Ich preßte den Finger warnend an die Lippen und hoffte, daß Moao diese Geste verstand. Das tat er sichtlich, denn er nickte mit weißem Gesicht. Vorsichtig kletterten wir weiter und brachten den Stamm zwischen uns und diese hängenden Gestalten. Doch auch hier waren die Äste voll von ihnen. Einer hing so nah, daß ich ihn mit dem Schwert hätte erreichen können. Wie hatten wir sie nur vorhin übersehen? Ich betrachtete die Gestalt genau, während ich so lautlos wie möglich daran vorbeikletterte. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß die Hände nicht um den Ast geklammert, sondern irgendwie mit ihm verwachsen waren. Wie bei einer Frucht, die am Stengel hing! Ich dachte an die vergangene Nacht. Wurden sie zu Menschen, wenn sie reiften, zu einer Art
Baummenschen? Die wahrhaftig denken konnten? Es war ein ungeheuerlicher Gedanke! Aber war nicht Cnossos mit seiner wandelbaren Gestalt ein ebensolches Wunder? Unangefochten erreichten wir das Dorf. Ich berichtete Larkin, was wir entdeckt hatten, und Moao sprach zu seinen Gefährten. Zum erstenmal erkannte er wohl, wie wichtig es war, Worte zu haben. Er merkte jedenfalls, daß sie ihm fehlten. Ein gutes Dutzend sprudelte er hervor, und zwei davon waren Ubali und Moao. Den großen Rest dazwischen aber füllte er mit Gesten und Grimassen. Es war sehr eindrucksvoll. Es wäre zum Lachen gewesen, aber keiner lachte über den Jungen, der zum erstenmal den Himmel gesehen hatte.
7.
Larkin drängte sofort zum Aufbruch, trotz meiner Warnung, daß wir keine Möglichkeit hatten, den richtigen Weg zu finden. Er glaubte, daß seine Gefährten keine weitere Nacht warten würden. Das
befürchtete ich auch, aber es erschien mir das kleinere Übel. Das größere war, daß ich die Sonne bereits ziemlich tief im Westen gesehen hatte. Das bedeutete, daß die Nacht bald kam, und wir hatten durch den überlangen Erschöpfungsschlaf keine Gelegenheit gefunden, uns mit den notwendigen Mitteln zur Flucht zu versorgen. Eines davon war Licht, das zweite ein Vorrat von Nahrungsmitteln. Beides konnten wir uns heute nacht beschaffen und dann am Morgen die Flucht wagen. Wir hatten außer dem einen, der Moao überfiel, keinen Wächter gesehen. Vielleicht schliefen sie alle am Tag. Vielleicht lagerten sie alle weiter unten. Das mußten wir herausfinden. Aber dazu war es heute bereits zu spät. Bis wir den Boden erreichten, brach die Dunkelheit an. Womit ich ihn schließlich überzeugte, war die Tatsache, daß die Steppe kaum zwei Marschstunden entfernt lag. Wenn wir früh am Morgen begannen, konnten wir mehrere Richtungen versuchen, den Weg markieren und wieder zurückgehen, wenn es der Falsche war. Die Chancen standen gut, daß wir auch den richtigen fanden. Aber nicht bei Nacht. Auch nicht mit Lichtern.
Es war ein ruheloses Warten auf den Abend. Das Baumvolk betrachtete uns mit großen, furchtsamen Augen, was wohl auf Moaos Erzählung zurückzuführen war. Larkin verschwand für eine Weile mit einem Mädchen. Auch ich war bald nicht mehr allein, aber welche bessere Art mochte es geben, die Zeit totzuschlagen, als in leidenschaftlichen Armen. Als die Dunkelheit hereinbrach und die Welt um das Dorf düster wurde, verschwand das Baumvolk nach und nach in den Hütten. Schließlich saßen nur noch Larkin und ich im Freien. »Wir müssen uns den Weg zum Stamm genau einprägen«, mahnte ich. »Ein falscher Tritt ist das Ende.« Er nickte. Plötzlich schlug er mit der Faust auf sein Knie. »Verdammt! Wir hätten es doch versuchen sollen!« »Unsinn. Morgen haben wir die besseren Chancen.« »Vielleicht ist es dann zu spät«, erwiderte er heftig. »Was weißt du noch?« fragte ich scharf. »Du hast irgend etwas erfahren, nicht wahr?« »Ja ... und nein.« Er schüttelte den Kopf. »Was ist es?« »Ich weiß nicht, ob ich sie recht verstanden habe. Sie reden ja mit Händen und Füßen ... aber es sieht so aus,
als würde der Baum zu bestimmten Zeiten ein Opfer aus ihrer Mitte wählen, und sie haben verdammte Angst davor ...« »Ein Opfer? Was geschieht damit?« »Das wissen sie nicht. Aber es verschwindet für immer.« »Wissen sie, wann?« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht heute. Wenn ich es richtig verstanden habe, kommen die Baummenschen mit ihren Lichtern und holen einen aus den Hütten – offenbar den nächstbesten, den sie erwischen ...« »Bei allen myranischen Göttern!« entfuhr es mir. »Das sagst du mir erst jetzt?« Wütend starrte ich ihn an. »Das kann auch einer von uns sein. Ist dir das klar?« »Es war bereits zu spät«, knurrte er. »Ich kam lange nicht dahinter, was sie meinten. Erst die Kleine, mit der ich vorhin zusammen war, brachte mich auf den Gedanken, daß heute nacht noch etwas los sein könnte. Sie wollte mich unbedingt in ihrer Hütte haben, und sie hatte verteufelte Angst. Als ich ihr zu verstehen gab, daß ich vorhatte, mit dir zusammenzubleiben, war sie einigermaßen erbost.« Er schwieg. Brütend saßen wir eine Weile. Ich griff nach meinem Schwert und legte er quer über die Knie.
»Wir werden ihnen die Lust nehmen«, sagte ich. »Vielleicht kommen diese armen Teufel dann auch auf den Gedanken, daß man sich wehren kann. Moao scheint in dieser Hinsicht schon einiges gelernt zu haben.« Er schüttelte den Kopf. »Sie sehen es anders, Ubali, und das kann man ihnen nicht aus den Köpfen reißen. Sie haben Angst, natürlich, wer hat nicht Angst vor dem Tod – vor solch einem Tod? Aber für sie ist es eine Art Bezahlung dafür, daß sie hier in Frieden ein glückliches Leben führen dürfen ...« »Glücklich?« unterbrach ich ihn. »Auf ihre Art, ja, glaube ich schon. Sie leben hier geschützt. Unten am Boden wären sie verloren. Sie kennen nichts anderes. Warum sollten sie unzufrieden sein? Und der Baum scheint seine Opfer nicht zu oft zu fordern. Wenigstens in solchen Abständen, daß genügend nachwachsen. Die meisten Mädchen tragen Kinder, und sie sind höchst erpicht darauf, diesen Zustand zu erreichen. Würde mich nicht wundern, wenn unter den Früchten, die ihnen gebracht werden, welche sind, die ihnen einheizen. Ich kenne selbst einige Säfte, die eine ähnliche Wirkung haben.« Ich nickte. »Das erklärt auch, warum es keine Alten hier gibt. Aber was geschieht mit ihnen?« »Ich kann mir nicht vorstellen«, erwiderte er mit heiserer Stimme, »daß in diesem Dschungel irgend
etwas nicht gefressen wird. Der Baum hat sich eine Vorratskammer angelegt. Und wir sind drin. Wie gefällt dir das, Freund Ubali?« Ich starrte ihn an und spürte eisige Kälte mein Rückgrat hochkriechen. Ich dachte an die übelriechende Öffnung, an der wir in der Nacht vorbeigeklettert waren. Das konnte nur eines gewesen sein: Der Mund. Allmächtige Götter! Und sie hatten jemanden hineingestoßen. Ich hatte seinen Schrei gehört. »Wir beide sind die ältesten hier«, sagte ich. »Sie werden vielleicht einen von uns holen.« Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und ich fuhr erschrocken herum. Moao stand neben mir. Er deutete drängend auf die Hütte. Ich nickte ihm zu. »Es ist besser, wir gehen rein. Streng deinen Kopf an, Wolkenreiter. Wir brauchen einen guten Plan. Einen verdammt guten Plan!« Es wurde stockdunkel – die zweite dieser Nächte begann. Das Baumvolk war in seinen Hütten, aber ich war ziemlich sicher, daß keiner schlief. Sie warteten alle. Moao und das schwangere Mädchen hatten sich in den Hintergrund der Hütte zurückgezogen und saßen
umschlungen in der Dunkelheit. Larkin und ich standen im Eingang und starrten in die Finsternis. Nichts regte sich. »Varins Blut, das Warten ist nichts für mich«, knirschte Larkin. Ich nickte stumm. Es zerrte auch an meiner Geduld. »Wenn nicht bald etwas geschieht, werde ich losgehen«, fuhr er bestimmt fort. »Und du wirst mich nicht aufhalten. Ich bin ein Wolkenreiter und kein Baumhocker!« Die Entscheidung wurde ihm jedoch abgenommen. Glühende Punkte erwachten überall am Baum, auf den Ästen, zwischen den Blättern, und tauchten alles in grünliches Licht. Es sah atemberaubend aus. Der Baum glühte wie mit unzähligen Kerzen übersät. »Ihr Götter!« entfuhr es Larkin. »Vielleicht hast du nicht so unrecht, wenn du meinst, daß sie Früchte sind. Ich habe hier soviel Teuflisches gesehen, daß ich alles glaube.« Dann beobachteten wir stumm, wie sich die glühenden Punkte zu bewegen begannen. Nicht alle jedoch, manche der schwächer glimmenden blieben hängen, aber ihre größere Zahl wanderte an den Ästen nach innen zum Stamm. Und schließlich kam eine lange Schlange von Lichtern die Stufen herab. Es waren so viele, daß wir den Gedanken an eine nächtliche
Flucht aufgaben. Was immer auch geschah, wir konnten nur warten. Der ganze Baum war lebendig, und tausend Augen würden jeden unserer Schritte bemerken. Larkin lehnte sich fluchend in die Dunkelheit der Hütte zurück. Ich beobachtete, wie sich eine große Anzahl von Lichtern auf unserer Plattform versammelte. Das bedeutete gar nichts Gutes. Eine lange Reihe von Lichtern verlor sich entlang des Stammes nach unten. Während ich sie mit angehaltenem Atem beobachtete, setzte sich die Gruppe in Bewegung auf unsere Hütten zu. »Sie kommen«, murmelte ich und griff nach dem Schwert. »Unsere Chancen stehen nicht besonders gut«, bemerkte Larkin gepreßt. »Warum verschwinden wir nicht gleich durch das Loch da hinten, so lange es draußen noch dunkel genug ist? Wenn wir uns außerhalb der Plattformen an die Äste hängen, fallen wir vielleicht nicht einmal auf ...« »Und wie lange, glaubst du, halten wir das durch? Nein, ich bin dafür, daß wir warten, und uns ansehen, was sie wollen. Vielleicht wollen sie nichts von uns, dann verhalten wir uns ruhig, bis sie am Morgen wieder auf ihren Ästen verschwinden. Still jetzt!« Das letzte zischte ich. Die ersten Krieger hatten den
weiten Platz vor den Hütten erreicht und hielten an. Sie gruppierten sich in einem Halbkreis und standen scheinbar abwartend. Einige lösten sich aus der Menge und traten an die erste Hütte am anderen Ende des kleinen Dorfes. Der ganze Platz war von den grünen Lichtern so hell wie am Tag. Eine weitere Gruppe von vier Kriegern begab sich in die Hütte neben uns. Wir lauschten mit angehaltenem Atem. Angstvolle menschliche Laute drangen von irgendwoher und verstummten wieder. Ein Schluchzen ertönte auch in unserer Hütte. Furchterfüllt klammerte sich das schwangere Mädchen an Moao. »Zurück«, flüsterte ich halblaut und drängte Larkin ins Hütteninnere zurück. Zwei Krieger tauchten im Eingang auf und hielten die Stiele mit den Lichtern ins Innere. In dem engen Raum war der Schein grell. Die Augen der Krieger glänzten dunkel wie die von Insekten, schwarze Kugeln ohne Augapfel, ohne Lider. Jetzt aus nächster Nähe erschienen mir auch ihre Gesichter weniger menschlich, ihre Nasen verwachsen, ohne Öffnungen, ihre Münder schmale klaffende Spalten. Es war ein grausiger Anblick. »Varin, steh mir bei«, entfuhr es Larkin, und ich ertappte mich dabei, daß ich ebenfalls hoffte, dieser Gott würde etwas unternehmen. Die Krieger kamen plötzlich ins Innere, und wir
sahen, daß ihnen zwei weitere folgten. Dann hatten wir keinen Blick mehr für das, was dahinter geschah, denn die beiden Kerle griffen nach Larkin. Ich nahm den rechten, und Larkin den linken, als hätten wir es abgesprochen. Mit Verinos Dolch in der Linken stieß ich die hölzerne Lanze beiseite. Gleichzeitig brachte ich die Klinge seitlich herab. Sie schnitt durch einen Panzer, der knirschend splitterte, als wäre er aus Holz, und sank tief in die weichen Teile darunter. Meinem Gegner entfuhr kein Laut. Er wehrte sich nicht sehr erfolgreich, indem er mit seiner Lanze mehrfach ins Leere stieß, dann trennte ich ihm mit einem weitausholenden Schwerthieb den Kopf vom Rumpf. Während der Kopf nach hinten kippte, erlosch das Licht, das er in der Linken hielt. Ich stieß die fallende Gestalt auf den Eingang zu, wo eben zwei ihrer Gefährten die Hütte betreten hatten. Sie taumelten unter dem Aufprall zurück und bohrten ihre Lanzen in den Toten. Ich gab ihnen keine Gelegenheit, sie wieder herauszuziehen. Mit zwei Hieben streckte ich sie mit gespaltenen Schädeln zu Boden. Hastig sah ich mich um. Larkin war weniger glücklich gewesen. Sein Arm blutete, und sein Gegner hatte seine Lanze losgelassen und hielt Larkins Kehle
umfaßt, während dieser sein Schwert immer wieder in den Leib des Gegners bohrte und sich dabei aus dessen Griff zu befreien versuchte. Aber die Hand hielt ihn unbarmherzig, und die Schwertstiche schienen dem Krieger überhaupt nichts auszumachen. Mit einem raschen Hieb machte ich dem gespenstischen Kampf ein Ende. Der Kopf schien das einzige zu sein, an dem man ihnen etwas anhaben konnte. Mit dem Verlöschen des letzten Lichtes wurde es wieder dunkel in der Hütte. In dem Schein, der von draußen hereinkam, sah ich Moaos schreckverzerrtes Gesicht. Während Larkin sich aus dem Griff der toten Hand befreite und stöhnend hochtaumelte, untersuchte ich die Toten und fand bestätigt, was ich mir insgeheim bereits gedacht hatte. Sie waren keine Menschen. Was mein Schwert durchschlagen hatte, war kein Panzer, keine Rüstung, sondern die Haut dieser Wesen. Sie war hart wie Holz an der Brust und am Leib und an den Gliedern, am Hals aber biegsam wie junge Äste. Innen befand sich etwas, das wie das Mark in manchen Schilfpflanzen aussah – weich und schwammig. »Du hast recht«, sagte ich zu Larkin, der sich zu mir beugte. »Sie sind nicht aus Fleisch und Blut.« »Woraus dann?« fragte er bleich. »Aus einer anderen Art von Fleisch, einer, die auf Bäumen wächst.«
»Dann denkt dieser Baum ...?« flüsterte er. »Auf seine Art«, gab ich zu. »Hier, ihre Lichter sind ein Teil ihres Körpers, sie sind mit der Faust verwachsen. Sie verlöschen, wenn sie sterben ...« Geräusche von draußen ließen uns aufhorchen. Da diese Wesen nicht miteinander sprachen, besaßen sie vielleicht eine andere Art, sich zu verständigen. Möglicherweise wußten die draußen bereits, was vorgefallen war. Mit angehaltenem Atem starrten wir aus dem Eingang. Eine weitere Gruppe kam auf die Hütte zu. Ein halbes Dutzend diesmal. Zwei von ihnen hatten Bogen. Sie würden ihnen im Handgemenge nicht viel nützen. »Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte ich Larkin. »Nur ein Kratzer«, erwiderte er. »Ich hoffe, ich kann meinen Dank abstatten.« »Dazu hast du vielleicht bald Gelegenheit«, murmelte ich und deutete auf die Herankommenden. »Bleib auf der anderen Seite des Eingangs. Die ersten beiden erledigen wir, wenn sie hereinkommen. Der Kopf ist ihr schwacher Punkt. Und behalte die Bogen im Auge.« Er nickte. Reglos warteten wir im Halbdunkel. Moao und das Mädchen gaben keinen Laut von sich. Sie starrten nur mit weit offenen Augen auf den Eingang, durch den sich die zwei Krieger zwängten.
»Jetzt!« Unsere Schwerter kamen herab, mähten die Köpfe wie zwei Blumen. Die Lichter verlöschten. Ich riß meinen Gegner zur Seite ins Innere und sah befriedigt, daß auch Larkin den gleichen Gedanken hatte. Die beiden folgenden Gestalten hatten offenbar noch gar nicht richtig begriffen, was geschehen war. Sie kamen mit unbewegten Gesichtern ins Innere und erlitten das gleiche Schicksal. Aber diesmal unterlief mir ein fataler Fehler. Ich bekam die fallende Gestalt nicht rechtzeitig zu fassen. Sie kippte nach draußen. Im nächsten Augenblick war die ganze Plattform in Bewegung. Zuckende Lichter huschten über den Platz, als die ganze Horde auf die Hütte zustürmte. »Ihr Götter!« rief ich. »Rasch, das Feuer!« Aber es war zu spät. Larkin beugte sich, um mit zitternden Händen Funken zu schlagen und unsere Beinkleider in Brand zu stecken, deren wir uns entledigt hatten. Es war das letzte brennbare Zeug, das wir an uns hatten. Aber er brachte sie nicht mehr zum Brennen. Die Hütte war plötzlich voller Gestalten, die wir nicht mehr aufhalten konnten. Ihre Leiber erdrückten uns fast. Es war unmöglich, mit dem Schwert einen guten Hieb zu tun. Nur mit dem Dolch gelang es mir noch, zwei Lichter zum Verlöschen zu bringen, bevor wir in ihren
Armen wie in Fesseln hingen, unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen. Sie zerrten uns aus der Hütte. Das letzte, was ich sah, war ein aufgewühltes Gesicht im Hintergrund der Hütte. Moaos. Auf der Plattform schwirrten sie um uns herum. Ihre dunklen, kalten Augen musterten uns mitleidlos. »Das war es wohl«, stellte Larkin fest. »Tut mir leid, daß ich mich nicht mehr revanchieren konnte. Du warst ein guter Kamerad, Schwarzhaut. Mit dir wär ich gern über Wosagan geritten. Ah, es gibt nichts Besseres, als auf den Wolken zu stehen und sie in den Wind zu steuern, und zu nehmen, was man möchte ...« Er stöhnte. Sein Arm schien zu schmerzen, und die Kreaturen nahmen darauf keine Rücksicht. »Verdammt!« rief er und versuchte sich vergeblich zu wehren. »Oh, Varin, sie verfüttern uns an diesen Baum. Nein!« Schreiend kämpfte er gegen die Wesen an. Nach einer Weile beruhigte er sich. Die Hilflosigkeit war vollkommen. Ich hielt noch immer das Schwert in der Faust, aber ich konnte es nicht bewegen. Ebenso den Dolch. Sie hielten uns umschlungen und stiegen mit unglaublicher Sicherheit die Sprossen hinab. »Ubali?« rief Larkin unter mir. »Ja, Larkin?«
»Sieht so aus, als ob ich der erste wäre.« »Sieht so aus«, stimmte ich zu. Es hatte wenig Sinn, ihm Mut zuzusprechen. Ich wußte, daß es das Ende war. Es gab noch immer die unwahrscheinliche Möglichkeit, daß sie uns am Boden aussetzten, wo sie uns gefunden hatten, aber daran glaubte ich nicht. Sehr ruhig entgegnete er: »Weißt du was, Schwarzhaut ...« »Ubali«, widersprach ich. »Ah, zum Teufel, was sind schon Namen? Ein Kerl ist, was er ist. An meiner Klinge klebt Blut – nicht immer gerecht vergossenes.« »Bedauerst du es?« »Manches ... ja.« »Weil du Angst hast ...?« »Nein. Nicht deshalb. Weil jetzt Zeit ist, daran zu denken. Varin, ich wünschte mir, durch eine Klinge zu sterben ... nicht auf diese ... Weise. Wenn du eine Hand frei hättest, würdest du mir diesen Wunsch erfüllen, Schwarzhaut?« »Nein«, erwiderte ich grimmig. »Wenn ich eine Hand frei hätte, würden eine ganze Menge dieser Teufel sterben!« »Ja«, sagte Larkin. »Ich bin doch ein verdammter Feigling.« Wir kamen rasch voran. Die Gefahr war noch immer nicht gegenwärtig genug, um mich die Angst
empfinden zu lassen, wie sie Larkin verspürte. Ich vermied es, an dieses stinkende Loch zu denken, an den langgezogenen Schrei, den ich gehört hatte. Ich beschäftigte mich nur mit einem Gedanken, meine Hände loszureißen, wenn sich der Druck nur ein wenig lockerte. Meine Handgelenke starben fast ab, so fest hielten mich die Kreaturen hinter mir, und mit den Beinen war es nicht anders. Es kostete mich eine große Willensanstrengung, das Schwert in der gefühllos werdenden Faust zu halten. Ich krümmte mich plötzlich zusammen. Die unerwartete Bewegung brachte den Zug ein wenig ins Schwanken, aber das war alles. Keuchend gab ich die Gegenwehr auf. Unter uns tauchte die Plattform auf. Das war das Ende, dachte ich. Und welch ein Ende! In einer fremden Welt als Futter für Pflanzen. Aber ich hatte gesehen, wie sie in Keomoa gefesselte Kinder als Köder für Raubkatzen aussetzten. War das ein besserer Tod? Ist der Tod nicht immer der gleiche, nur die Furcht nie dieselbe? Mit einem Gefühl des Grauens dachte ich an den Teich, der mit messerscharfen Blättern lauerte, an die violette Blüte und ihre sich windenden, schleimigen Raupengebilde. Was mochte hier drinnen in diesem Baum lauern, erfüllt von der Gier nach Fleisch?
Es geschah alles sehr rasch. Wir erreichten die Plattform, und nun bestand kein Zweifel mehr über unser Schicksal. In Windeseile trugen sie uns um den Stamm herum auf die Öffnung zu. Der Geruch war betäubend. Mein Körper schüttelte sich vor Ekel. Vor mir schoben sie Larkin auf die Öffnung zu. Er begann sich wieder zu wehren. Ich hörte ihn schreien. Dann verschwand er im Baum, und sein Schrei verhallte. Aus, dachte ich mit kalter Wut über die Hilflosigkeit. Ich wappnete mich, als sie mich vorwärtsstießen. Aus dem Innern des Baumes kam ein mahlendes Geräusch. Ich hatte plötzlich ganz erbärmliche Angst. Ich hatte dem Tod schon oft ins Auge gesehen, und noch nie hatte ich ihn gefürchtet. Gleich darauf stellte sich heraus, daß sie mit mir andere Pläne hatten. Ich war offenbar für eine spätere Mahlzeit vorgesehen. Sie rissen mir die Waffen aus den Händen, hoben mich zu einem Ast hoch, von dem sich dünne Ranken um meine Gelenke schlangen. Dann ließen sie mich los. Als ich hing, verschwendeten sie keinen weiteren Blick mehr an mich. Sie verschwanden der Reihe nach in der Tiefe, vermutlich, um neue Beute
heranzuschaffen, denn von der kleinen menschlichen Herde da oben konnte solch ein gewaltiger Baum nicht satt werden. Es wurde dunkel um mich, je weiter sich ihre Lichter entfernten. Bald sah ich nichts mehr, außer der schwarzen Öffnung direkt unter mir, aus der in regelmäßigen Abständen Geräusche kamen, die mich an das Kauen eines mächtigen Gebisses erinnerten. Ich versuchte nicht an Larkins Tod zu denken. Sein Gott Varin hatte es nicht gut mit ihm gemeint. Ich kämpfte gegen die würgende Übelkeit an. Mehr und mehr überwog aber schließlich der Schmerz in den Armen und Handgelenken. Er steigerte sich bis zur Unerträglichkeit, so daß es Augenblicke gab, da ich den Tod da unten beinah herbeisehnte. Unter mir lagen mein Schwert und Varinos Dolch, und es war noch einmal so peinvoll, sie so nutzlos dort liegen zu sehen, wenn ein einziger Schnitt mich von allen Qualen befreien konnte. Einige Male versuchte ich die Schlingen an meinen Gelenken gewaltsam abzustreifen, aber sie zogen sich nur noch fester zu. Wie lange ich so hing, war sehr schwer abzuschätzen. Mir erschien es eine Ewigkeit. Alles war still und dunkel, der Dschungel um mich lautlos, als lauschte er auf die Qualen der Lebenden.
Plötzlich vernahm ich ein leises Geräusch am Stamm hinter mir. Ich versuchte mich umzudrehen, aber ich sah nichts, und jede Bewegung war schmerzvoll. Kamen sie, um mich loszuschneiden und in den Schlund hineinzuwerfen? Ich lauschte mit angehaltenem Atem, und was ich vernahm, erleichterte mich über alle Maßen. Es war das Atmen eines Menschen. Gleich darauf huschte eine Gestalt auf mich zu. Undeutlich sah ich, wie sie sich nach den Waffen bückte. In diesem Augenblick leuchteten mehrere der Lichter hinter mir auf. Die gebückte Gestalt fuhr überrascht hoch, mit dem Schwert in der Faust. Es war Moao! Er warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, dann hatte ihn die erste der Baumkreaturen erreicht. Der Instinkt lenkte Moaos Klinge, daß sie den Speer abwehrte und den Krieger am Schädel traf. Ich wußte, daß es nur Zufall war, und es war unglaublich qualvoll, so hilflos hier zu hängen und zusehen zu müssen, wie das Unabwendbare geschah. Der Krieger verlöschte und fiel, aber die Lanzen der beiden nächsten durchbohrten den Jungen, der einen Augenblick zappelte wie ein Fisch und mit brechenden Augen zu mir hochsah, als sie ihn in den Schlund stießen.
Tränen der Wut kamen mir in die Augen. Während die Baumkrieger so rasch verschwanden, wie sie erschienen waren, machte ich mir bitterste Vorwürfe. Es war meine Schuld, daß Moao tot war. Ich hatte den Widerstand in ihm wachgerufen. Ich hatte ihm gezeigt, daß man das Schicksal nicht einfach hinnehmen mußte. Und er war gekommen, um mich zu retten, um zu zeigen, daß er verstand, daß Tapferkeit in ihm war. Ich war schuld, daß das schwangere Mädchen nun allein in ihrer Hütte schlummerte. Aber ich wußte gleichzeitig, daß diese Beschuldigungen nur ein Ausdruck des Gefühls waren, nicht der Vernunft. Denn im Grunde hatte mein Vorbild nichts geändert. Es hätte ihm höchstens eine Chance gegeben. Früher oder später hätte er hier den unvermeidlichen Tod erlitten, der dem ganzen Baumvolk bestimmt war. Und es war weniger grausam, als es mir mein Gefühl einzureden versuchte. Es war ein Abkommen – einer gab dem anderen. Ich hatte den Jungen in mein Herz geschlossen, und hatte dabei vergesse, daß er nicht mehr als eine Art Zuchtvieh war, und daß ich nichts daran ändern konnte. Selbst wenn ich frei wäre.
Man kann nur eine bestimmte Zeit auf den Tod warten. Wenn es zu lange dauert, beginnt man wieder an das Leben zu denken. Während ich hier hing, fragte ich mich, ob mich jemand bewachte, und ob die Krieger, die Moao getötet hatten, hier in der Nähe lagerten oder ihm bereits von weiter oben auf den Fersen gewesen waren. Es konnte meine Lage nicht verschlimmern, wenn ich es feststellte. Ich versuchte den Ast in schwingende Bewegung zu versetzen, vielleicht brach er. Aber ich merkte bald, daß er zu unnachgiebig war. Dann versuchte ich eine Weile, ihn mit den halb abgestorbenen Fingern zu erreichen, aber auch darin war ich nicht sehr erfolgreich. Immerhin bekam ich die Lianen zu fassen. Ich sammelte Kraft und stieß meinen Körper in einer Rolle hoch. Mit einem verräterischen Rascheln im Laub landete ich mit dem Bauch am Ast, wo ich erst einmal keuchend liegenblieb. Niemand kam. Offenbar erwarteten sie nicht, daß ich mich aus dieser hoffnungslosen Lage befreien konnte. Sie würden sich wundern. Ich war plötzlich voller Tatendrang. Ich fühlte bereits, wie sich meine Hände erholten, nun da sie nicht mehr in den erbarmungslosen Schlingen hingen. Aber ich erkannte auch, daß ich sie nicht lösen konnte. Ich bekam die Hände nicht nahe genug zusammen.
War es doch hoffnungslos? Dann fiel mir etwas anderes auf. Nein, ich war nicht ganz wehrlos. Die Kette an meinem Hals. Verinos Kette. Wer hätte gedacht, daß dieser Tote mir so gute Dienste leisten würde. Sein Eigentum wenigstens. Vorsichtig ruckte ich am Ast vor, bis ich den Kopf nahe der rechten Hand hatte. Es war ein Geduldsspiel, aber schließlich konnte ich meine Finger um die Kette krallen und sie vom Kopf ziehen. Der Gedanke, daß sie meinen Fingern entgleiten und hinunterfallen könnte, verursachte mir ein eisiges Kribbeln. Dann hatte ich sie los und sah erleichtert, wie sie auf meinen Arm glitt. Selbst wenn ich sie losließ, würde sie nun an meinem Arm hängen bleiben. Danach brauchte ich eine kurze Verschnaufpause. Ich zitterte am ganzen Körper. Um mich regte sich nichts. Sie waren auf meine Tätigkeit noch nicht aufmerksam geworden. Dann begann ich mit den scharfen Kanten der Kettenglieder die Liane zu bearbeiten. Es war eine mühsame Tätigkeit, aber sie war schließlich von Erfolg gekrönt. Ich bekam eine Hand frei. Danach war es nicht mehr schwierig, auch die zweite Hand zu befreien. Eine Weile saß ich und massierte meine wunden Gelenke, bis ich das volle Gefühl in den Händen wiederhatte. Dabei überlegte ich meine nächsten Schritte. Hier
konnte ich nicht bleiben. Sicher hatten sie nicht vor, mich noch einen Tag hier hängen zu lassen. Ich verwettete meine schwarze Haut, daß sie noch im Lauf der Nacht kamen, um das hungrige Maul des Baumes zu stopfen. Aber nicht mir mir! Jetzt hatte ich wieder ein wenig mitzureden. Es war inzwischen fast stockdunkel geworden. Ich sah kaum noch den Boden unter mir. Dort mußte irgendwo der Dolch liegen. Das Schwert hatte Moao mit in die Tiefe genommen, und ich hoffte, daß es diesem gefräßigen Baum in der Kehle stecken blieb. Ich war waffenlos, und der Dolch reizte mich. Aber es erschien mir doch zu riskant. Ich würde im Dunkeln kaum mehr auf diesen Ast zurückfinden. Wohin ich auch kletterte, hinauf oder hinab, überall würde ich früher oder später auf die Krieger stoßen. Aber diese kleineren Zwischenäste, die dicht von Laub umwuchert waren, mochten mir genügend Schutz bieten. Dieser hier war noch zu gefährlich. Ein Blick nach oben mit ihren Lichtern, und sie mußten mich sehen. Aber es waren weitere über mir, die ich leicht erreichen konnte. In dieser Dunkelheit allerdings war es ein Wagnis. Ich tastete vorsichtig über mich. Es war unglaublich schwierig, auf dem Ast Gleichgewicht zu halten, wenn die Augen nichts sahen, als Schwärze. Langsam
richtete ich mich ein Stück auf und fand Blätter über mir, und gleich darauf den Ast. Er war kräftig genug, und ich zog mich daran hoch. Ich lauschte. Noch immer regte sich nichts. Auch zu sehen war nichts, außer einigen schwachen Lichtpunkten weit über mir und weit unten. Ich rutschte den Ast entlang, immer weiter hinaus. Er war sehr kräftig und gabelte sich in zahllose Nebenäste. Schließlich fand ich eine breite Gabelung, in der ich bequem liegen konnte. Hier würde ich es eine Weile aushalten. Es gab Augenblicke, da nickte ich ein. Ich hatte überhaupt kein Maß für die Zeit. Aus einem dieser Augenblicke des Schlafs schreckte ich hoch durch Geräusche unter mir. Angespannt starrte ich nach unten. Die Plattform war hell erleuchtet, und eine Menge Krieger schwirrten auf und ab. Kein Zweifel, sie vermißten mich. Genaues konnte ich nicht erkennen, denn die Blätter verdeckten den Ausblick. Darüber war ich auch froh, denn sie schützten mich vor Entdeckung. Sie waren ein verdammt gründlicher Haufen, und ich dachte schon, sie würden ihre Suche überhaupt nicht mehr abbrechen. Als sie es endlich doch taten, war der größte Teil der Nacht vorbei. Ich rührte mich nicht aus meinem Versteck, bis der Morgen sein düsteres Licht durch das Laubdach schickte.
Mit verglimmenden Lichtern huschten die Baumwesen schließlich hoch hinauf in die Krone. Ich nahm an, daß sie sich auf den Ästen verteilten, um ihren Tagesschlaf zu beginnen. Manche verlöschten ganz in meiner Nähe, und ich wußte, daß ich sehr vorsichtig hinunterklettern mußte. Daß sie auch am Tage aufwachen konnten, hatte ich ja bereits erfahren. Schließlich war alles ruhig, und ich wagte mich an den Abstieg. Nun im Licht war es einfacher, auf dem Ast zurückzuklettern. Zwei der Baumwesen hingen direkt über meinem Pfad. Mit angehaltenem Atem glitt ich an ihnen vorbei, jeden Augenblick auf ihr Erwachen gefaßt. Aber ich erreichte die Plattform ohne Zwischenfall. Der Dolch lag noch an seiner alten Stelle. Ich nahm ihn auf und fühlte mich weniger nackt. Einen Moment lang stand ich unentschlossen. Sollte ich hochklettern und versuchen, das Baumvolk mit mir zu nehmen. Nein, sie wären eine zu leichte Beute am Boden. Vielleicht würde ich eines Tages zurückkehren. Wenn ich je einen Weg aus diesem Dschungel fand. Ich machte mich an den langen Abstieg.
8.
Seit Stunden lief ich durch den Dschungel. Es gab überall Tod, der auf den Unachtsamen lauerte, und mancher Schritt führte mich fast in mein Verderben. In der ewigen Düsternis hungerte alles nach Fleisch und kämpfte darum mit Tricks, für die sie ein Magier beneiden mußte. Der Dolch war es, der mehrmals mein Leben rettete. Ohne ihn wäre ich verloren gewesen. Am gefährlichsten waren die Lianen, die ein eigenes Leben zu besitzen schienen und wie Schlangen über Bäume und Boden krochen. Immer wieder geschah es, daß sie unvermutet herabzuckten und sich mit gefährlicher Schnelligkeit um meinen Körper wanden. Auch ihr Druck war wie der eine großen Würgeschlange. Ich hielt den Dolch immer bereit, um diese lebenden Fesseln rasch zu zerschneiden, bevor sie sich mit tödlicher Kraft zusammenzogen. Aber das waren nicht die einzigen Gefahren, die von oben drohten. Äste peitschten herab, und grünliche, giftige Säfte ergossen sich über mich, die auf meiner Haut wie Feuer brannten. Ich hatte mich an meinen Plan gehalten und hatte meinen Weg markiert. Als mir schien, daß ich lange
genug unterwegs war, daß ich den Dschungelrand hätte erreichen müssen, kehrte ich um. Ich fand den Weg zurück auf eine kleine Lichtung in der Nähe des Baumes, auf dem ich gefangen gewesen war. Von dort aus schlug ich eine andere Richtung ein. Ich verfuhr wie beim erstenmal, wieder ohne Erfolg, und fand auch hier wieder den Weg zurück. Inzwischen mußte längst Mittag sein, und ich war zu Tode erschöpft. Dies war die dritte Richtung, und sie sah nicht vielversprechender aus. Aber ich durfte mir keine Rast gönnen. Ich wußte, daß ich eine weitere Nacht nicht mehr überleben würde. In dem Beutel befand sich noch immer das Fleisch, das ich Larkin abgenommen hatte, aber es roch nicht mehr gut, und ich aß es mit Widerwillen, und nur, um den nagenden Hunger zu stillen. Nirgends hatte ich bisher Früchte gesehen, wie ich sie im Dorf des Baumvolkes gegessen hatte. Der Durst wurde immer quälender. Ich blutete aus zahllosen Wunden, und das Blut schien diese höllischen Pflanzen direkt anzuziehen. Ich hatte manchmal das Gefühl, daß sie hinter mir herwaren, daß sie einander verständigten und mir auflauerten. Aber diesmal schien ich Glück zu haben. Vor mir wurde es heller. Das konnte nur eines bedeuten – daß der Dschungel da vorne irgendwo ein Ende nahm. Das erfüllte mich mit neuen Kräften, und ich kämpfte mich
rascher vorwärts. Das zunehmende Licht machte mich unvorsichtig. Ich glaubte mich schon frei, und war es nicht. Die Büsche taten sich vor mir auf und gaben den Blick auf eine wunderschöne Blume frei, die meinen Blick magisch anzog. Ich konnte gar nicht anders, als in ihren breiten, feurigen Kelch zu blicken, der sich mir zuneigte, majestätisch und von vollkommener Anmut. Etwas unleugbar Weibliches haftete ihr an und lockte mit Freuden, die ich nur erahnen konnte. Ohne Furcht schritt ich vorwärts. Eine ungeheure Erwartung war in mir und erfüllte jede Faser meines Körpers. Nur irgendwo im Hintergrund, im letzten Winkel meines Seins, warnte mich etwas vor einer drohenden Gefahr. Aber es war so fern, so ungreifbar, im Vergleich zu den Lockungen. Plötzlich barst das Feuer vor mir. Ich hob schützend die Arme vor die Augen. Mein Körper fühlte sich an, als hätte jemand tausend Nadeln in ihn gestochen, die brannten wie das wahrhaftige Feuer in dem Kelch. Gleichzeitig fiel der Bann von mir ab. Ich nahm die Arme von den Augen. Eine furchtbare Angst erfüllte mich. Der Kelch vor mir schloß sich wie das Maul eines großen Fisches. Er war häßlich und abstoßend, ein hungriger Mund, wie alle Pflanzen in diesem Dschungel. Ich war halb von Sinnen vor Schmerzen. Ich
entdeckte, daß mein ganzer Körper übersät war von winzigen Pfeilen, die grün aus meiner Haut ragten. Selbst Kinn und Hals waren voll davon. Ich versuchte sie herauszureißen und gab es nach einigen sehr schmerzhaften Versuchen auf. Sie saßen fest in der Haut, und während ich sie betrachtete, verloren sie ihre grünliche Färbung. Dafür wurde meine Haut grünlich rund um die Einstiche. Gift, dachte ich. Nun ist alles aus. Ich konnte nur zusehen, wie es in meinen Körper floß. Ich konnte nicht mehr tun, als meine Unvorsichtigkeit verfluchen. Halb blind vor Schmerz taumelte ich vorwärts. Ich wollte wenigstens nicht in diesem Dschungel sterben, wenn die Freiheit so nahe war. Ich wollte wenigstens die Prärie erreichen. Alles drehte sich um mich. Ich stürzte in einen bodenlosen Abgrund, aber er war nicht so tief, wie ich gedacht hatte, denn ich schlug gleich darauf hart auf, und das erlöste mich von allen Qualen.
Ich hatte einen Traum. Nein, die Wirklichkeit konnte es nicht gewesen sein, obwohl die letzten Tage meines Lebens ein einziger Alptraum gewesen waren. Aber dies war ein schöner Traum, einer voller
Leben. Ich sah, daß ich eine Erde fand, in der ich gedieh, in der meine Wurzeln reiche Nahrung fanden. Ich fühlte, wie ich wuchs, wie meine Blätter höher und höher kletterten zwischen mächtigen Stämmen, und den tarnenden Vorhang bildeten. Es ging so rasch. Und schließlich war meine Blüte bereit sich zu öffnen, reif und voll von ekstatischer Erwartung, einen Beweglichen zu befruchten ... Ich mußte diesen Ort finden, an dem ich aufwachsen konnte. Und nichts würde mich daran hindern ... Ich erwachte durch einen starken Schmerz am ganzen Körper. Ich schnappte nach Luft. Meine Lungen drohten zu platzen. Ich brauchte Luft. Als ich die Augen öffnete, sah ich, daß mich mehrere Lianen umschlungen hatten und sich daran machten, ihre Beute zu zerdrücken. Mit einem unartikulierten Schrei rollte ich mich herum und spannte die Muskeln. Einen Augenblick war der Schmerz unerträglich, aber dann zerrissen die Pflanzen wie ein morsches Tau. Ich schleuderte sie von mir. Ich verstand nicht, woher diese Kräfte kamen, aber ich spürte sie deutlich in mir, und eine rasch auflodernde Wut auf alles, das sich mir entgegenzustellen wagte. Der vage Schmerz in meinem Fleisch bedeutete nichts. Er war nicht wichtig. Nicht
jetzt und nicht später. Nichts konnte mich aufhalten. Ich schleuderte den Dolch von mir. Er war nutzlos. Meine Fäuste waren diesem Dschungel gewachsen. Sie würden beiseiteräumen, was sich mir in den Weg stellte. Ich stapfte vorwärts mit gefletschten Zähnen. Wie das mächtige Einhorn lief ich durch den Dschungel und rannte nieder, was sich mir in den Weg zu stellen versuchte. Eine dunkle Erinnerung war in mir – an Schwäche, Blut und Schmerzen, an Hilflosigkeit, an ein anderes, zielloses Leben. Ja, ein Leben ohne das Ziel! Ich schüttelte wild den Kopf, denn diese Erinnerungen waren hartnäckig. Dann preschte ich durch das letzte Dickicht. Die weite Steppe lag vor mir. Sie mußte ich überqueren. Ich setzte meinen Weg fort. Die Richtung war nicht von Bedeutung. Jenseits dieser Steppe war Erde für mich, war ein Reich für mich, mit Beweglichen, wie es sie vor langen Zeiten auch in diesem Dschungel gegeben hatte, die meinen Samen in alle Winde tragen würden. Nichts hielt mich nun auf. Ich war rasch wie der Wind, meine Beine trugen mich voran wie Flügel. Aus den Augenwinkeln sah ich große weiße Gebilde. Es waren Wolken, die tief über der Prärie hingen. Meine Erinnerungen jubilierten. Irgend etwas
an den Wolken war mir vertraut. Ich hielt an und beobachtete sie. Etwas warnte mich. Waramau, dachte ich plötzlich. Ich war nicht sicher, was es bedeutete. Es war in den Erinnerungen meines Trägerleibes verankert. Dann gewahrte ich Bewegliche auf den Wolken. Sie stießen mit großen Speeren in die Wolken. Sie kamen auf mich zu. Es gefiel mir nicht, wie rasch sie näher kamen. Sie wollten kämpfen. Pah, wenn sie kämpfen wollten, so sollten sie den Kampf haben! Ich wartete, bis sie heran waren, dann bewegte ich mich so schnell, daß sie dachten, ein Sturmwind wäre in ihre Reihen gefahren. Ich war auf der ersten Wolke mit einem gewaltigen Sprung und warf die Beweglichen in hohem Bogen in die Tiefe, daß ihre langen Speere splitterten und ihre Knochen barsten wie fauliges Holz. Ich sah, wie das Entsetzen sie erfaßte, wie sie ihre Wolken voranzutreiben versuchten und mit den Speeren in ihre Seelen stießen, daß mich die stummen Schreie ihrer Qual in Raserei brachten. Die Beweglichen schrien, als ich die zweite der Wolken erklomm, und die Gestalten wie dürres Holz in meinem Arm zerdrückte. Ihre Waffen vermochten mir nichts anzuhaben. Meine Haut war hart wie ein Stamm. Die übrigen drei Beweglichen hatten die letzte
Wolke verlassen. Sie dachten mir auf ihren schwachen Beinen zu entkommen. Ich holte sie ein, einen nach dem anderen. Sie hätten ebensogut versuchen können, dem Wind zu entkommen. Dann war Stille auf der Prärie, die stummen und die lauten Schreie erloschen, und ich spürte, wie mein Trägerkörper müde wurde. Ich ließ mehr von meinen Kräften in ihn strömen, aber er war verbraucht. Er war reglos. Eine fremde Ausstrahlung kam von irgendwo. Gedanken, die ich nicht verstand, die nicht mir galten, die etwas fast Vergessenes weckten ... etwas, das Ubali hieß ... Mich ... mich ... Etwas hob mich sanft hoch. Ich schaukelte leicht im Wind. Ein gelbliches Dach war über meinem Kopf und schützte mein Gesicht vor den heißen Strahlen der Sonne. Ich spürte, daß ich nicht allein war, daß etwas mitfühlend in meinen Gedanken lauschte. Und ich erinnerte mich. Waramau! Ich setzte mich auf. Ha, ich war auf Waramau. Wir trieben im leichten Ostwind eine Lanzenlänge über dem wogenden Gras. Der Alptraum war vorüber!
Der Dschungel war ein dunkler Strich am Horizont. Dann sah ich, daß noch zwei Wolken von der Größe Waramaus uns folgten. Sie waren leer. Ich erinnerte mich an den Traum. War es doch kein Traum gewesen? Hatte ich die Wolkenreiter besiegt? Hatte ich wahrhaftig diesen dämonischen Kampf überlebt? Waramaus freudige Empfindungen bestätigten es. Ich hatte den Eindruck, daß sie mich für einen gewaltigen Helden hielt. Aber es war etwas in mir, was ich nicht verstand. Ich war nicht allein. Anfangs dachte ich, daß es Waramaus Gedanken und Empfindungen wären, oder jene der beiden anderen Wolken. Diese spürte ich auch manchmal, aber schwächer, als wären sie abgestumpft unter der Herrschaft ihrer Reiter, und entwickelten sie jetzt erneut, da sie frei waren. Waramau sah es mit Stolz, daß sich die beiden ihr anschlossen, und daß sie mich bewunderten, und daß ich ihr Nicht-Reiter war. Das war eines der wenigen direkten Worte, die sie verwendete. Nicht-Reiter. Das bedeutete soviel wie Freund. Sie gab mir Wasser, um meinen Durst zu löschen, und danach, um mich zu baden. Dabei erkannte ich, daß es Stellen an meinem Körper gab, an denen die Berührung mit Wasser alles andere denn angenehm war.
Mir war klar, daß ich eine Menge Wunden davongetragen haben mußte. Aber ich fand nicht einen Kratzer, nicht einen Schnitt. Dafür entdeckte ich etwas anderes, das mich mit Furcht erfüllte. An den Stellen, an denen das Wasser schmerzte, besaß die Haut eine grünliche Färbung. Und sie war hart und knotig, wie die eines Kaktus. Waramau spürte meine Furcht. Ich versuchte ihr klarzumachen, daß ich nichts fürchtete, das mit ihr zusammenhing, sondern daß ich etwas Fremdes in mir spürte. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was ich meinte. Ich stimmte überrascht zu, als sie fragte, ob ich vielleicht meinte, daß ich einen Reiter hätte. Reiter, das bedeutete für sie Feind und Schmerz und Zwang – das, was sie in den letzten Tagen in der Gewalt der Wolkenreiter erlebt hatte. Diese übermenschlichen Kräfte während des Kampfes waren nicht meine gewesen, daran zweifelte ich nicht mehr. Ich erinnerte mich an die Blume und die Wolke von Stacheln, die sie auf mich abgeschossen hatte. Und dann an den Traum. Ich wollte wachsen und gedeihen in fruchtbarer Erde und mir alles Bewegliche Untertan machen ... Ich erschrak über diese Gedanken, weil sie von solcher Kraft waren. Ich erinnerte mich an das grüne Gift, das aus den
Stacheln in meinen Körper geflossen war. Das war es, was ich in mir hatte. Etwas, das stark war, und das herrschen wollte. Etwas, das neuen Lebensraum suchte. Das Bewegliche wie mich als Trägerkörper benutzte. Ich wurde bleich bei den Gedanken. Auch die schwarze Haut kann erbleichen. Noch besaß ich die Oberhand. Aber wie lange noch? Oder besaß ich sie überhaupt noch? Wie gefährlich war dieses Etwas in mir? Ich konnte diese Frage nicht beantworten. Ich konnte nicht einmal raten. Ich spürte, wie sich Waramau angstvoll vor meinen Überlegungen zurückzog. Sie verstand mich nicht mehr. Ihr Wesen war einfach, ihr Herz gerade. Sie mochte mich, aber sie verstand den Widerstand nicht. Ich mußte handeln, solange ich noch handeln konnte. »Waramau«, bat ich sie. »Bring mich zurück!« »Zurück?« »Wo du mich gefunden hast?« »Gefunden?« Ich versuchte mich an das Weltentor zu erinnern und in Bildern zu denken. Nach einer Weile verstand sie mich. Aber sie sagte nicht ja und nicht nein. Sie gab mir keine Antwort. Sie trieb nur im Wind.
Ich sagte ihr, daß ich sterben würde, wenn sie mich nicht zurückbrächte. »Sterben?« Mir fiel das Wort ein, das sie gebraucht hatte, um ihre größte Furcht zu beschreiben. »Skortsch«, sagte ich. Ich spürte, wie sie zusammenzuckte. Und dann tröstete sie mich auf ihre Art mit beruhigenden Gedanken und Gefühlen. Sie änderte die Richtung. Es fiel mir erst nicht auf, nur als der Wind an ihr rüttelte, erkannte ich, daß sie gegen den Wind kreuzte. Ihre beiden Begleiterinnen folgten getreulich. Ich ließ sie meine Freude fühlen und meine Erleichterung. Waramau war sehr froh, daß ihr Nicht-Reiter seine dunklen Gedanken verloren hatte. Freude war eine ihrer liebsten Empfindungen. Dafür würde sie bis ans Ende der Welt fliegen. Ich legte mich wieder unter das Dach und genoß die Sicherheit und Geborgenheit. Vielleicht würde ich den König wiedersehen. Myra. Die Freunde, die ich an seiner Seite gefunden hatte. Gewiß war nur eines: Es würde ein langer Weg werden.
9.
Der Kampf begann ein wenig später, als wir noch immer über der Prärie kreuzten. Das Fremde in mir war nicht einverstanden mit der Richtung, die wir eingeschlagen hatten. Es lehnte sich auf! Es tobte in meinem Körper, daß ich mich rasend vor Schmerzen wälzte. Weit entfernt vernahm ich Waramaus angstvolle Gedanken. Dann verstummten auch sie. Ich rief nach ihr, aber eine unüberbrückbare Wand schien uns zu trennen. Ich verlor das Gefühl für meinen Körper. Das Fremde hatte ihn in seiner Gewalt. Als ich wieder zu mir fand, lief ich über die Prärie mit dem Wind im Rücken. Ich lief nach Westen. Es galt die Steppe zu überqueren. Jenseits lag das Ziel. Manchmal, wenn ich mich umsah, bemerkte ich hinter mir drei Wolken tief über dem Gras, die mir in sicherem Abstand folgten. Sie weckten Erinnerungen in mir, die aber wieder erloschen, bevor ich mich darauf besinnen konnte. Auch eine rufende Stimme glaubte ich manchmal zu hören, die einen Namen rief, der mir fremd und bekannt zugleich war. Ubali!
Aber ich kümmerte mich nicht darum. Es durfte keine Zeit mehr vergeudet werden. Alles reifte in mir und schrie nach der Erde des Waldes, den ich am westlichen Horizont wachsen sah. Bald jedoch wurde mein Lauf langsamer, und ich verfluchte meine Schwäche. Ich kam kaum zu Atem, und ich verfluchte das Atmen. Ich sank zu Boden trotz des wütenden Drängens in mir, weiterzulaufen. Während ich mich in das Präriegras fallen ließ, entdeckte ich, daß meine ganze Brust grün geworden war und hart wie der Panzer von Insekten. Aber nur ein Teil meiner selbst schauderte. Der andere schien es als ganz natürlich zu empfinden. Schluchzend grub ich meinen Kopf in den Boden. Ich merkte nicht einmal, daß die Nacht hereinbrach. Seltsame Bilder gaukelten durch meinen Kopf. Oder waren sie wirklich? Ich sah einen Menschen, der halb Blume war – ein schwarzer Kopf auf dem Kelch, aus dessen Innerem eine Stimme kam. Sie sprach seltsame Worte, die ich nicht deutlich genug hören konnte, um sie zu verstehen. Ich wußte, daß das Bild nur ein Traum war. Aber ich spürte ganz deutlich, daß jemand zu mir zu sprechen versuchte. Ich hatte plötzlich das Empfinden, daß es gut war, was mit mir geschah. Daß ich einen Zweck
erfüllte. Ich sah die pralle Blüte aufbrechen und ihre Wolke von kleinen Pfeilen hinausschleudern, und es war mein Leib, aus dem sie kam. Dann verschwand der Fieberspuk plötzlich. Ich spürte die kühle Nachtluft, roch das Gras, die Erde. Ich wußte, was geschehen war. Ich spürte die Veränderungen meines Körpers, aber keine Schmerzen. Ein völlig unmenschliches Gefühl trieb mich nach Westen. Gleichzeitig spürte ich ein anderes, ein menschliches Gefühl – Hunger. Ganz einfach Hunger. Es sah so aus, als hätten wir uns geeinigt – das Fremde und ich. Als hätten wir erkannt, daß keiner viel ohne die Hilfe des anderen tun konnte. Und es galt ein paar Dinge zu tun. Das Fremde würde mich gewähren lassen, meinen Hunger zu stillen, und ich würde es gewähren lassen, den Ort zu finden, nach dem es suchte. Auf dem Weg kam ich an die Stelle, an der wir die Wolkenreiter geschlagen hatten. Ich nahm einem der Toten ein Schwert ab, einem anderen einen Dolch. Damit konnte ich meinen Hunger stillen, wenn jagdbares Wild auftauchte – Bewegliche, wie es sie nannte. Das Fremde erhob keinen Einspruch. Einen guten Teil der Nacht war ich unterwegs. Dann brauchte ich Rast und schlief, bis die Sonne aufging.
Der Wald lag nah vor uns. In einiger Entfernung hingen drei kleine Wolken reglos in der Luft. Arme Waramau. Sie verstand nicht, was vorging. Aber jetzt war keine Zeit, es ihr klarzumachen. Jetzt galt es erst Dinge zu tun, nach denen alles mich drängte. Ich setzte mich wieder in Bewegung auf den Wald zu. Waramau war nicht einverstanden mit dem, was geschehen war. Ich hatte sie aus Gründen verlassen, die ihr nicht ganz klar waren Die Verwandlungen in mir waren zu verwirrend rasch vor sich gegangen. Nicht ich hatte verlangt, abzusteigen, sondern das Fremde in mir. Einen Augenblick las sie meine Gedanken, im nächsten die anderen. Es verwirrte ihren einfachen Verstand. Sie wußte nur eines: daß sie dabei war, ihren geliebten Nicht-Reiter zu verlieren. Irgendwo im Hintergrund meiner Gedanken empfand ich es auch als schmerzlich. Ich hörte, wie sie mich rief. »Ubali! Ubali!« »Ja, Waramau?« »Willst du nicht gegen den Wind?« »Gegen den Wind?« dachte ich verwundert. Nein, ich wollte nicht gegen den Wind. Was ich suchte, lag vor mir. Mit dem Wind! Im Westen. Im Wald vor mir. Nein, nicht gegen den Wind. Da kam ich her. Da
wuchs ich. Ich? Ubali? Verwundert schüttelte ich den Kopf. Bilder von einem Götterwagen waren plötzlich in meinem Kopf. Aber sie schienen so unendlich fern. Ein Gesicht tauchte auf, das eines Königs. Dragons. Königin Amees. Parthos. Nabibs. Iwas. Etwas zog einen dunklen Vorhang vor die Bilder. Es nahm mir Stück um Stück meines Ichs. Ubali starb. Wurde nach und nach vergessen. »Leb wohl, Waramau« dachte das Fremde in mir. »Da vorn ist mein Ziel. Dort werde ich für alle Zeiten bleiben.« »Nein!« rief ich entsetzt, aber meine Gedanken hallten wider wie in einer kleinen Kammer. »Nein, ich will nicht. Waramau, hilf mir!« Aber ich konnte sie nicht erreichen. Das Fremde hatte mich eingeschlossen. Ich war mein eigenes Gefängnis. »Leb wohl, Ubali. Leb wohl, Nicht-Reiter!« kamen traurig Waramaus Gedanken. Dann sah ich schluchzend, wie sie sich entfernten, wie sie langsam mit dem Wind über den Wald trieben und höher stiegen – drei gelblich weiße Punkte im dunklen Blau des Himmels. Ich setzte mich in Bewegung auf den Wald zu.
Ich war rasch. Ich verspürte wieder die ungeheuren Kräfte in mir. Sie trieben mich wie mit Flügeln vorwärts. Die Erfüllung war so nah. Der Wald war so anders als der andere, den ich bereits kannte. Er war erfüllt von Leben. Nichts roch nach Tod oder Fäulnis. Ich zitterte vor Erwartung, und während ich langsam über den fruchtbaren, lebensvollen Boden schritt, fühlte ich meine Eingeweide schwellen, meine Arme spreizten sich wie Blätter. Meine Füße schienen sich mit jedem Schritt in den Boden zu wühlen. Das Kreischen von Vögeln erfüllte die Luft, und es gab andere Geräusche von größeren Beweglichen. Plötzlich waren meine Füße fest. Sie bewegten sich nicht mehr vom Boden. Etwas Grauenvolles geschah, und ich wehrte mich dagegen. Aber es war zu spät. Eine tiefe Befriedigung war in mir, die mich mit Schauder erfüllte. Etwas noch Fremderes berührte meine Gedanken, hieß mich Geduld zu haben und geschehen zu lassen, was geschah. Aber ich schrie plötzlich und wehrte mich. Ich war Ubali, und Shi-buts heilige Götter konnten es nicht geschehen lassen, daß ich hier starb. Ich riß mich aus der Erde los und begann wieder zu laufen. Meine Wut und Furcht rissen die Wände meines Käfigs auf. Ich war wieder ich! Ich fühlte Hunger, Schmerz,
leidenschaftliches Verlangen zu leben. Wie ein von einem Dämon besessener, wie ein Berserker raste ich durch den Wald und kam unvermutet auf eine Lichtung. Überrascht blieb ich stehen. Eine Gazelle graste friedlich und unbesorgt, als gäbe es keine Gefahren. Verwundert dachte ich, was dieser Steppenbewohner hier auf einer Dschungellichtung zu suchen hatte. Der Anblick des Wildes weckte sofort das vergessene Hungergefühl. Jagdleidenschaft ergriff von mir Besitz und unterdrückte die tobenden Kräfte in meinem Innern. Im nächsten Augenblick sah es aus, als ob ich um meine Beute betrogen wäre. Ich hatte den Dolch bereits in der Faust, und hielt mitten in der Bewegung inne. Aus den Büschen jenseits der Lichtung trat eine große, gefleckte Raubkatze und beobachtete ebenfalls die Gazelle. Aber sie machte keine Anstalten, ihre Beute anzufallen. Es war ein Leopard, ein mächtiges, ausgewachsenes Tier, und ich war nicht erpicht darauf, mich mit ihm anzulegen. Er machte keine Anstalten zu verschwinden, im Gegenteil, er versetzte mich noch mehr in Verwunderung. Er lief auf die Gazelle zu, die ihm entgegensah und nicht wegzulaufen versuchte. Entweder war sie von seinem plötzlichen Auftauchen gelähmt, oder ...
Aber mir fiel kein anderer Grund ein, warum sie sonst so ruhig bleiben sollte im Angesicht des Todes. Jetzt hatte er sie erreicht, doch nichts geschah. Die beiden so ungleichen Tiere beäugten sich, dann graste die Gazelle ruhig weiter, während die Raubkatze ihren Weg fortsetzte. Ich war darüber so verwundert, daß ich zu spät bemerkte, daß die gefleckte Katze direkt auf mich zukam. Für eine Flucht war es bereits zu spät. Sie hatte mich gesehen. Sie hielt an. Dann kam sie einige Schritte näher, während ich langsam mein Schwert aus dem Gürtel zog. Ich beging nicht den Fehler, zurückzuweichen. Das ist etwas, das die meisten Raubtiere zum Angriff reizt. Ich blieb ruhig stehen mit dem Schwert in der Rechten und dem Dolch in der Linken. Sie kam noch einige Schritte näher, aber nicht zum Sprung geduckt, sondern mit blitzenden, neugierigen Augen. Dann senkte sie den Kopf ein wenig, und ich sah einen länglichen Streifen auf Schädel und Nacken, wie ich ihn noch auf keinem Leoparden gesehen hatte. Dann verschwand die große Katze seitlich im Gebüsch. Ich lauschte, bis das Brechen des Unterholzes in der Ferne verklang. Aufatmend steckte ich mein Schwert zurück. Die Beute gehörte nun mir. Ich schlich mich näher an die Gazelle heran, bis ich den Augenblick für einen
guten Wurf sah. Der Dolch stieß genau ins Herz, ich hatte nichts verlernt. Mit einem klagenden Laut brach das Tier zusammen. Als ich es erreichte, war es tot. Ich riß den Dolch heraus, öffnete den Einstich weit und nahm einen Schluck des Blutes, das aus dem Herzen hervorströmte. Es belebte mich, und ich trank erneut. Es war wie ein innerlicher Balsam, der den Schmerz linderte, den Durst löschte und mich wach machte, viel wacher, als ich in den letzten Stunden gewesen war. Ich begann mich wieder menschlich zu fühlen. Mein Blick fiel auf den Kopf des Tieres. Verwundert bemerkte ich wie auch bei dem Leoparden einen weißen Streifen auf Hinterkopf und Nacken. Aber das konnte nur Zufall sein bei zwei so verschiedenen Tieren. Die Gazelle würde einen guten Braten abgeben, wie ich ihn seit einer Ewigkeit entbehrt hatte. Wenigstens kam es mir so vor. Ich mußte mir einen geschützten Lagerplatz besorgen. Wenn ich erst satt war, ließen sich Pläne schmieden. Irgendwo im Norden mußte das Volk der Wolkenreiter leben. Wenn ich es fand, würde es vielleicht auch möglich sein, den König zu finden, oder Danilas Stamm, und zum Tor zurückzukehren. Als ich das Tier hochheben wollte, fiel mein Blick auf den Waldrand. Ich erstarrte.
Ein gutes Dutzend großer, schwarzer Gestalten stand dort. Gleich darauf vernahm ich das Brüllen eines Gorillabullen, und die ganze Horde hetzte wie schwarze Teufel auf mich zu. Ich ließ die Gazelle los und lief, was die Beine hergaben. Im Laufen riß ich das Schwert aus dem Gürtel, aber wenn der ganze Haufen über mich herfiel, blieb nicht viel von mir übrig. Zwei oder drei mochte ich erledigen mit einigem Glück. Aber einer ihrer Schläge konnte meinen Schädel zertrümmern wie eine Nußschale. Ich hatte es schon einmal mit eigenen Augen mit angesehen während eines Jagdzugs in einem Gebiet weit nördlich von Mlmau. Die meisten Krieger fürchteten die großen Affen mehr als den Panther, mehr als den Elefantenbullen. Als ich den schützenden Wald erreicht hatte, wagte ich einen Blick zurück auf die Lichtung. Verwundert sah ich, daß sie mir nicht gefolgt waren, sondern sich aufgeregt um die Gazelle scharten. Sie schüttelten drohend ihre mächtigen Arme in meine Richtung. Es war eine fast menschliche Gebärde, aber in vielen Stämmen Shi-buts waren die Gorillas mehr als nur Affen. Man nannte sie auch die Mau-anos, die wilden Waldmenschen. Sie waren zweifellos kluge Tiere, und wenn ich nur halb so klug war, dann machte ich mich aus dem Staub. Als ich aber sah, wie sie die Gazelle hochhoben und auf
den jenseitigen Waldrand zumarschierten, überwog meine Neugier. Es war so gar nicht nach Art der Affen. Ich umrundete vorsichtig die Lichtung. Es war nicht schwer, ihnen auf der Spur zu bleiben, denn sie stapften geräuschvoll durch den Wald, als wären sie die Herren, und niemand könnte ihnen etwas anhaben. Vielleicht waren sie es. Ein beunruhigender Gedanke. Das Verhalten der Tiere, die ich bis jetzt gesehen hatte, war sehr seltsam gewesen. Aber das war eine andere Welt. Das mochte vieles erklären, wenn ich es auch noch nicht verstand. Früher oder später würde ich dahinterkommen – wenn ich lange genug lebte. Danilas Welt barg viele Geheimnisse. Und ich hatte erst einen kleinen Teil gesehen. Es würde viel zu erzählen geben an den Lagerfeuern, wenn wir lebend zurückkehrten. Ich blieb in sicherer Entfernung. Bald waren sie auf einem ausgetretenen Pfad. Sie hatten es ziemlich eilig. Sie wandten sich nicht einmal um. Aber nicht weit vor mir teilten sich plötzlich die Büsche am rechten Pfadrand, und der Leopard trat heraus. Ich hielt an. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Aber er mußte es, wenn er den Kopf in meine Richtung drehte. Ich hielt den Atem an. Wenn es zum Kampf kam, würden auch die Affen aufmerksam werden und über mich herfallen, wenn ich überlebte.
Die Katze blickte nicht in meine Richtung. Sie lief hinter den Affen her. So groß aber war meine Neugier nicht, daß ich weiter folgte. Ich brauchte einen Unterschlupf und etwas zu essen. Die belebende Wirkung des Blutes hatte nachgelassen, und ich fühlte mich müde und leer. Ich dachte an Waramau. Und dann erinnerte ich mich an das Fremde in mir. Ich starrte an meinem Körper hinab. Die grüne Färbung war fast verschwunden. Die Haut fühlte sich geschmeidig an. Nur am Bauch schimmerte noch Grün durch. Ich lauschte in mich hinein. War ich allein? Eine undeutliche Erinnerung geisterte durch meine Gedanken, ein vergessener Drang, nach einer Erde zu suchen, in der ich gedieh und wuchs. Der Traum einer Blume. Ich schüttelte den Kopf. Ich mußte sehr krank gewesen sein, daß die Dämonen des Fiebers von mir Besitz ergreifen konnten.
10.
Wenig später gelang es mir, ein kleineres Tier zu erlegen. Wiederum überkam mich der Drang, das noch warme Blut zu trinken, und wiederum belebte es mich durch und durch. Das Merkwürdige daran ist, daß ich nie bei allen meinen früheren Jagden auch nur das geringste Verlangen nach frischem Blut hatte. Im Gegenteil, der Geschmack erfüllte mich mit Ekel. Es mußte wohl mit diesem Fieber zusammenhängen, denn mein Kopf wurde klar und frei. Bald darauf fand ich einen geeigneten Lagerplatz. Ich trug brennbare Äste zusammen und hatte bald darauf ein Feuer. Ich häutete meine Beute und briet sie, und der Duft von frisch gebratenem Fleisch war noch einmal so belebend wie das Blut. Satt und voller Wohlbehagen wie ich war, sah Danilas Welt mir plötzlich paradiesisch aus. Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich mein Lager abbrach. Bis zum Abend konnte ich noch ein ganzes Stück Wegs zurücklegen. Ich hatte allerdings nicht vor, mich durch den Urwald zu kämpfen. Ich wollte zur Prärie zurückkehren und dem Waldrand in nördlicher Richtung folgen, bis ich auf Spuren der Wolkenreiter stieß. Der Wald war längst nicht so dicht und verwachsen
wie der Dschungel, in den ich vor den Wolkenreitern geflohen war. Es gab immer wieder Ausblicke auf den freien Himmel, auch zahllose Lichtungen. Der ganze Wald atmete, er erstickte nicht an seiner Fäulnis wie der andere. Und er war erfüllt von Leben, wie die Wälder meiner Heimat. Ich schlug eine ungefähre nordöstliche Richtung ein, dann würde ich früher oder später die Prärie erreichen. Nicht ganz ohne Unbehagen beobachtete ich die Bäume und suchte sie nach meinen Freunden, den Affen ab. Unvermutet kam ich zu einem kleinen Teich. Er lag dunkelgrün inmitten beinah undurchdringlichen Dickichts. Ich hatte Mühe, mir einen Weg durch das Gestrüpp zu hauen. Dann lag seine Oberfläche dunkel und glatt und wenig einladend vor mir, und mein Verlangen zu trinken schwand rasch. Es lag an dem ungewohnten Geruch, der von dem Wasser aufstieg. Er war nicht abstoßend, aber auch nicht einladend. Außerdem wirkte das Wasser ölig dick, als ich mit einem Ast hineintauchte. Die Wellen glätteten sich fast sofort. Dennoch schöpfte ich schließlich eine Handvoll. Es wirkte angenehm kühl und war ganz klar. Dennoch sah man nicht auf den Grund, nicht einmal am Ufer. Gerade wollte ich es kosten, als ich ein Zischen ganz
in meiner Nähe vernahm. Ich erstarrte. Ganz langsam brachte ich die Hand mit dem Wasser an meinen Körper und ließ es lautlos an meinen Schenkeln hinabfließen. Dann tastete ich so langsam, daß es kaum wie eine Bewegung aussah, nach meinem Dolch und zog ihn aus dem Gürtel. Während ich den Kopf zu drehen versuchte, um zu sehen, wo sich die Schlange befand, ertönte das Zischen erneut, dicht hinter meinem Ohr. Ich hielt sogar den Atem an. In der Stille zischte sie wieder, länger anhaltend diesmal, und ich sah ihren Kopf aus den Augenwinkeln in mein Blickfeld pendeln. Ich kannte genug Schlangen meiner Heimat und hatte viele gefangen, um das Gift dem Priester unseres Stammes zu bringen, aber solch eine hatte ich noch nie gesehen. Sie war fast schwarz mit roten Flecken am ganzen Rücken. Sie war nicht sehr groß, sie mochte ebensogut ein Würger wie eine Giftschlange sein, und ich hatte nicht vor, es herauszufinden. Ich griff zu, bekam den Kopf zu fassen, riß ihn zu Boden, um ihn mit dem Dolch festzunageln. In diesem Augenblick krümmte sich der Leib um mich, und der Stoß ging daneben. Keuchend taumelte ich hoch, ohne den Kopf loszulassen. Er war nun meine einzige Chance. Während mir unter dem Druck des Schlangenleibes
fast schwarz vor den Augen wurde, brachte ich den Kopf in die Nähe meines Messers – und schnitt. Als der Kopf sich löste, verlor auch der Körper seine Kraft. Ich bekam Luft und versuchte mich auszuwickeln. Unter dem Gewicht verlor ich plötzlich meinen festen Stand und torkelte fast bis zum Hals in die kühlen Fluten des Teiches. Der Schlangenkörper löste sich von mir. Ernüchtert, aber von angenehmen Prickeln durchschauert, genoß ich das unfreiwillige Bad einen Moment. Dann aber machte ich, daß ich ans Ufer kam. Ich konnte nicht wissen, welches Tierzeug hier zu Hause war. Das eine Erlebnis reichte vorerst. Fröstelnd stieg ich aus dem Wasser. Es war verdammt kühl. Während ich mich noch schüttelte, ließ mich ein Plätschern herumfahren. Erstaunt sah ich den Kopf eines Mädchens, der aus dem Wasser aufgetaucht war. Sie war dunkelhäutig wie ich, hatte schwarzes Haar und schwamm mit kräftigen Stößen ans Ufer. Als sie aus dem Wasser stieg, betrachtete ich bewundernd ihren schwarzen Körper. Sie war wunderschön. Ich konnte den Blick nicht von ihrem Gesicht wenden, das mich unverwandt ansah. Ihre Lider waren halb gesenkt. Aber jetzt öffnete sie sie weit, und ich erschrak. Ihre Augen waren glutrot, dunkler und kräftiger als die eines Albinos. Sie hielt meinen Blick magisch fest. Es war
unmöglich, ihn abzuwenden. Fast hilflos wartete ich, als sie auf mich zukam. Sie öffnete den geschwungenen Mund und entblößte ihre Zähne. Ein Zischen kam dazwischen hervor. Sie neigte den Kopf hin und her, und ihre Zunge zuckte wie die einer Schlange zwischen ihren Zähnen hin und her. Sie kam ganz nahe. Dann schlugen ihre Zähne in meine Schulter. Der Schmerz befreite mich augenblicklich aus dem Bann. Mit einem Aufschrei griff ich nach ihrem Haar und riß sie zurück. Sie zischte gefährlich. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie griff erneut an, umklammerte mich, wand sich um mich wie ein Reptil und versuchte wieder, ihre Zähne in meinen Körper zu schlagen. Ihre Kraft war erstaunlich. Ich rang nach Luft. Noch immer scheute ich davor zurück, eine Waffe zu benützen, obwohl ich deutlich genug fühlte, daß ich kein Mädchen vor mir hatte, sondern eine Bestie. Mit einem gewaltigen Ruck kam ich frei und schleuderte sie von mir. Sie ringelte sich zusammen, während sie fiel und erhob sich mit einer fließenden, beinah schlangenartigen Bewegung. Sie zischte gefährlich. Ich war einen Augenblick nicht sicher, ob es aus ihrem Mund kam. Als sie erneut auf mich losschnellen wollte, hatte ich das Schwert in der Rechten zum Hieb erhoben.
Sie war kein menschliches Wesen. In ihren roten Augen war kein Funken Vernunft. Sie war ein Dämon, den ich aus seinem Teich aufgestört hatte. Und nun hatte ich Mühe, ihn wieder loszuwerden. Das Schwert schreckte sie nicht ab. Sie griff erneut an. Wütend. Kalt. Tödlich. Und dennoch brachte ich es nicht fertig, ihr das Schwert in den Körper zu stoßen. Aber ich ließ sie meine Faust fühlen. Sie ging zu Boden, nur halb betäubt und ich versetzte ihr einen zweiten Schlag. Dann lag sie still. Keuchend ließ ich mich neben ihr nieder und drehte sie auf den Rücken. Ich betrachtete nachdenklich ihr Gesicht. Es war menschlich und doch nicht menschlich. Es war ohne Wärme. Und sehr schön, wie ihr Körper. Sie war ein menschliches Raubtier. Und sie wäre eine interessante Gefährtin. Ich nahm meinen Gürtel ab, rollte das Mädchen auf den Bauch und fesselte ihr die Hände auf den Rücken. Dies tat ich sehr gründlich. Ich wollte sicher sein, daß die kleine Bestie mich nicht so schnell wieder in ihre Arme bekam. Dabei fiel mein Blick auf ihren Rücken. Ich erschrak. Über das Rückgrat hinab zog sich ein deutliches Muster roter Flecken – so wie die Schlange sie besessen hatte! Konnte es sein, daß ...
Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. Sie mußte eine Göttin sein. Sie war in menschlicher Gestalt auferstanden. Vielleicht war sie eine Zauberin, die hier in diesem Teich wohnte. Rasch löste ich die Fesseln wieder. Ich hatte schon genug ihres Zorns auf mich geladen, auch wenn es keine Absicht gewesen war. Je mehr Abstand zwischen mir und diesem Teich lag, desto besser. Ich kam nicht sehr weit. Am Schweigen der Vögel merkte ich, daß ich nicht der einzige Eindringling in diesem Gebiet war. Die Stille ließ nichts Gutes ahnen. Ich beobachtete die Bäume. Es war möglich, daß die Affen sich an meine Spur gehängt hatten. Auf einer Lichtung hielt ich an und wartete im hohen Gras. Es dauerte nicht lange, und die Gestalten erschienen im Waldrand. Mehr als zwei Dutzend. Sie beobachteten die Lichtung, als wüßten sie, daß ich mich noch hier verborgen hielt. Ich wand mich durch das hohe Gras und erreichte den jenseitigen Waldrand, als sie sich in Bewegung setzten. Sie holten rasch auf. Bald hörte ich sie links und rechts, dann vor mir, und dann kam der Augenblick, den ich gefürchtet
hatte. Ein halbes Dutzend der Tiere sprang von einem Baum direkt vor mir und versperrte mir drohend den Weg. Auch hinter mir standen sie abwartend. Ich war etwas erstaunt darüber, daß sie nicht sofort angriffen. Aber ich wußte, sie würden es jeden Augenblick tun. Ich starrte auf die mächtigen, dunklen Schädel mit den vorspringenden Schnauzen und die muskelbepackten Schultern. Ihre Blicke ruhten ebenso abschätzend auf mir. Der Bulle trat schließlich auf allen vieren einen Schritt vor und entblößte sein Gebiß. Er hob den rechten Arm und deutete den Weg zurück, den ich gekommen war. Die Geste war eindeutig. Sie wollten mich irgendwo hinbringen. Das war ungewöhnlich. Dachten diese Tiere? Oder gehorchten sie jemandem? Oder waren sie wirklich wilde Halbmenschen? Ich war jedenfalls ihr Gefangener, was sie auch immer waren. Ich ließ das Schwert sinken. Es war klüger, nachzugeben. Gegen diese Horde konnte ich nicht viel ausrichten. Ein halbes Dutzend umringte mich. Einer nahm mir das Schwert aus der Faust, ein anderer den Dolch. Dann stießen sie mich vorwärts. Sie behielten mich ständig in ihrer Mitte. Die Nähe ihrer Körper machte mir erst recht bewußt, wie stark sie waren. Ohne das Schwert hatte ich keine Chance. Wir kamen an dem Teich vorbei, an dem noch
immer das Mädchen lag. Sie hoben es auf und trugen es mit sich. Es erinnerte mich daran, wie sie die Gazelle weggetragen hatten. Sie wirkten sehr zielstrebig. Eine Stunde mochte vergangen sein, als wir endlich haltmachten. Das Mädchen begann zu sich zu kommen. Sie standen fürsorglich um sie herum und sprangen brüllend auseinander, als das Mädchen zischend hochfuhr und den erstbesten in den Arm biß. Es gelang ihm, sie abzuschütteln, aber sie ging immer wieder zum Angriff über. Schrille Laute ausstoßend, sprangen die Affen um sie herum, bis sie sie an den Armen zu fassen bekamen. Ein ständiges Zischen kam aus ihrem Mund. Ich nutzte den Augenblick. Ich entriß dem einen neben mir mein Schwert und stieß ihn zur Seite. Mit drei Sprüngen stand ich vor dem überraschten Bullen. Es war meine einzige Chance. Ich wußte, daß die Bullen um die Führerschaft der Horde kämpften – bis zum Tod. Er sollte wissen, daß ich nicht sein Gefangener war, sondern sein Rivale. »Kämpfe!« sagte ich. Das verstand er vielleicht nicht, aber was ich wollte, mußte er erkennen. Die Affen hatten sich von ihrer Überraschung erholt. Sie stürmten auf mich zu, und ich hob drohend das Schwert. Zwei oder drei würde ich mitnehmen. Der Anführer hob seinen Arm, und die
Heranstürmenden hielten inne. Er schlug mit der geballten Faust gegen seine Brust. Meine Herausforderung schien angenommen. Während die Affen einen Kreis um uns bildeten, winkte der Anführer einem zu, der ihm etwas zuwarf. Erstaunt bemerkte ich, daß es sich um meinen Dolch handelte. Der Anführer fing ihn geschickt, ließ ihn mehrmals zwischen beiden Händen hin und her wirbeln und trat mir einen Schritt entgegen. Er entblößte sein Gebiß zu einem Grinsen. Das war wenigstens der Eindruck, den ich hatte. Die Zuschauer knallten die Fäuste gegeneinander, offensichtlich erfreut über das Schauspiel. In einem Wirbel von Bewegung kam der Affe auf mich zu. Sein Dolch klirrte gegen mein abwehrend erhobenes Schwert. Seine Faust traf mich an der Brust, und die Wucht des Schlages fegte mich zu Boden. Einen Moment war mir schwarz vor Augen. Undeutlich vernahm ich das begeisterte Kreischen der Affen, dann war ich wankend auf den Beinen. Ich zweifelte nicht mehr länger, daß er mehr als ein Affe war, vielleicht auch die anderen, denn er benahm sich nicht wie eine wilde Bestie. Er wartete, bis ich mich erhoben hatte, bevor er wieder angriff. Diesmal war ich gewappnet. Ich wehrte seinen Dolch nicht ab, sondern wich ihm aus. Während der
Schwung ihn vorwärtsriß, hieb ich mit der Klinge zu. Es war ein gewaltiger Hieb, der einen schwächeren Gegner niedergestreckt hätte. Nicht ihn. Mit einer tiefen Schnittwunde quer über die mächtigen Schultern rollte er sich ab und kam unter einem Schauer von Blutstropfen auf die Beine. Die Zuschauer waren still geworden. Ich wartete nicht, bis er vorwärtsstürmte. Ich sprang ihm entgegen. Der Dolch zuckte in meinen Arm, während meine Klinge ihn durchbohrte. Ich wartete nicht, bis sich die Zuschauer von ihrer Überraschung erholten. Ich zog das Schwert aus seinem toten Körper und ließ ihn zu Boden gleiten. Ohne mich um meine Armwunde zu kümmern stieg ich aus dem Kreis und schritt den Pfad entlang in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich wollte aus ihren Augen sein, bevor sie es sich anders überlegten. Aber sie hatten nicht die Absicht, mich gehen zu lassen. Sie schwirrten hinter mir her, wie ein Schwarm wütender Hornissen. Mit dem Rücken zu einem Baum erwartete ich sie. Flucht wäre sinnlos gewesen. Sie sollten sehen, daß sie einen entschlossenen Gegner vor sich hatten. Tatsächlich bremste sie meine Kampfbereitschaft einen Moment. Wir standen uns abschätzend gegenüber. Dann stürzten sie mit schwingenden
Armen auf mich los. Sie hatten knorrige armdicke Äste in den Fäusten, die sie wie Keulen schwangen. Ich sprang mitten unter sie und bohrte die Klinge in ihre schwarzen Leiber. Vier oder fünf streckte ich zu Boden, bevor mich der erste Schlag erwischte. Ich ging zu Boden wie ein Stein. Ein zweiter Hieb traf meine Brust, und ich sah erstaunt, wie mein Brustkorb sich nach innen krümmte, und alles rot wurde von Blut. Dann traf ein weiterer mein Gesicht und löschte alles aus. Es war nicht das Ende. Ich erwachte durch eine schaukelnde Bewegung. Meine Augen waren rot verschleiert und ich fühlte die warme Klebrigkeit von Blut überall im Gesicht. Über mir schwankte das Baumdach des Dschungels, manchmal aufgerissen, mit einem Stück tiefblauen Himmels darüber. Sie trugen mich irgendwo hin. Ich sah undeutlich schwarze Gestalten um mich. Meine Brust schmerzte, aber nicht sehr. Es war, als gehörte sie nicht zu mir. Ich hatte auch kein Gefühl in den Armen und Beinen. So ähnlich mußte es sein, wenn man starb – daß man kein Gefühl mehr besaß. Aber noch spürte ich den Schmerz. Schwach. Ich wußte, daß ich sterben würde. Dann wurde es wieder dunkel um mich.
Ich träumte. Ich lag auf einer Lichtung. Ich befand mich nicht allein dort. Das Schlangenmädchen lag nicht weit von mir. Sie wehrte sich und wand sich zischend, aber sie war festgebunden. Um mich lagen die stillen Formen der toten Affen – alle, die ich erschlagen hatte. Eine stattliche Zahl, dachte ich. Sie hatten meinen Tod teuer bezahlt. War ich tot? Es war alles so still. Ich spürte nichts. Nur, daß ich lag. Dann sah ich das Mädchen. Ihre Augen waren auf mich gerichtet. Sie war dunkelhäutig. Das schwarze Haar fiel in dichten Strähnen über ihre Brüste. Bis auf einen Gürtel aus einem goldenen Geflecht und ein seltsames Amulett, das funkelnd zwischen ihren Schenkeln lag, war sie nackt. Ein unergründliches Lächeln war auf ihren Lippen, halb verwischt von einem traurigen Zug. In der rechten Hand hielt sie einen weißen Stab, wie das Zepter einer Königin. Auf ihr Zeichen kam wie auf die ausholende Bewegung eines Magiers Bewegung in die lautlose Szene, und ich hörte ihre melodische Stimme: »Es ist viel Blut geflossen. Bringt sie in den Teich des Lebens, meine Freunde. Es ist Vitus Wille!«
Die großen Affen, die ihr wie Schoßtiere gehorchten, begannen ihre toten Gefährten aufzunehmen und zu einem großen Teich zu tragen. Sie warfen sie in das dunkle Wasser. Dann kamen sie erneut und hoben mich auf. Ich spürte es nicht, aber ich sah das Wasser auf mich zukommen. Ich wollte schreien, aufbegehren, aber wie in allen Träumen, gibt es nichts, das man tun kann. Träume, heißt es in meinem Volk, sind die Spiele der Götter. Ich sank tiefer und tiefer, als hätte dieser Teich keinen Grund. Lungen brauchen Luft. Und meine brauchten sie so dringend, daß ich einen stummen Schrei zu den Göttern schickte. Sie erhörten mich, denn gleich darauf durchbrach ich die Oberfläche des Wassers und konnte meine Brust mit guter, kühler Luft füllen. Ein Grollen kam aus meiner Kehle. Es war schwierig zu schwimmen. War doch alles kein Traum gewesen? Ich fühlte mich lebendig, jeder Muskel geballt vor Kraft, keine Müdigkeit, kein Schmerz. Es war dunkel, und die Nachtluft war voll vom Geruch brennenden Harzes. Zahlreiche Fackeln erhellten das Ufer. Eine merkwürdige Gesellschaft erwartete mich am Ufer. Ein Dutzend dunkelhäutige Männer standen um ein Mädchen geschart, das ich im
Traum bereits gesehen hatte. Und weiter im Hintergrund standen die Affen. Sie alle blickten andächtig in den Teich. Sie schienen auf mich zu warten, und irgend etwas versetzte sie in Aufregung. Sie winkten mir zu. Ich sah mich um, ob etwas hinter mir war, das sie sehen mochten. Nein, da war nichts. Endlich erreichte ich Grund. Ich rief ihnen zu. Es war ein halbes Brüllen, wie von einem Raubtier, das aus meiner Kehle kam. Es erschreckte mich. Ich machte, daß ich aus dem Wasser kam. Am Ufer schüttelte ich mich. Ich wollte mich aufrichten ... Und erstarrte! Ich stand auf breiten schwarzen Tatzen. Aus meinem schwarzen Fell tropfte noch immer das Wasser. Mit einem Aufschrei, der wie ein Grollen klang, sprang ich zurück zum Wasser. Im hellen Fackellicht, das sich im Wasser spiegelte, starrte mich der gewaltige Schädel eines schwarzen Panthers an. Hilfesuchend wandte ich mich zu den Männern und dem Mädchen um. Ich hatte mehr Angst vor mir als sie. Sie schienen es ganz natürlich zu finden. »Willkommen, Ubali«, sagte das Mädchen freundlich. ENDE
Während Dragon zusammen mit dem Mädchen Danila längst die relativ sichere Zone erreicht hat, in der die Mitglieder von Odaliks Stamm leben, dem auch Danila angehört, ist Ubali, der sterbend in einen von Vitus Teichen geworfen wurde, zu neuem Leben erwacht – im Körper eines Schwarzen Panthers ... Über Ubalis weitere Abenteuer lesen Sie im nächsten Dragon-Band. Der Roman ist ebenfalls von Hugh Walker verfaßt und erscheint unter dem Titel: IM REICH DER TIERMENSCHEN