Nr. 167
Träume des Vergessens Der Lordadmiral sucht Chapat - und gerät in den Bann der tödlichen Träume von Hans Kneif...
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Nr. 167
Träume des Vergessens Der Lordadmiral sucht Chapat - und gerät in den Bann der tödlichen Träume von Hans Kneifel
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Mitte Oktober des Jahres 2843. Lordadmiral Atlan, der seit seinem Besuch auf Komouir, dem auf der galaktischen Eastside gelegenen Fundort wertvoller Schwingkristale, gerade eine Serie von lebensgefährlichen Abenteuern hinter sich hat, die ihn und seine Begleiter zu hilflosen Spielbällen im Strudel unheimlicher Kräfte machten, entscheidet sich, kaum daß er die Sicherheit seines Hauptquartiers erreicht hat, erneut auf die Reise zu gehen – und zwar diesmal alein und als »Privatmann«. Grund für das Unternehmen Atlans ist das Wirken eines geheimnisvollen Fremden namens Chapat, der dem Lordadmiral sehr ähnlich sieht und der seit seiner Auffindung auf dem Mond Gostacker schnell von sich reden macht, als er auf Kantanong, dem Show-Planeten der Galaxis, erstmals auftritt. Lordadmiral Atlan fliegt nach Kantanong, um den Fremden zu treffen, doch er kommt zu spät. Chapat ist bereits geflohen. Atlan folgt der Spur des Flüchtigen und gerät in den Bann der TRÄUME DES VERGESSENS …
Träume des Vergessens
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Lordadmiral sucht seinen Sohn. Yisa Pindor - Sekretärin einer Künstleragentur auf Kantanong. Alfo Zharadin - Besitzer der TRAUMPALAST. Dr. Sassu - Zharadins Vertrauter. Chapat - Er kämpft um das Vermächtnis seiner Mutter. Kerilla Vhotan - Eine junge Kolonistin von Herieva.
1. Die zwei Zoll dicke Glasplatte rollte langsam zurück und verschwand in der Wand. Der hochgewachsene Mann im Wildlederanzug, der die Lichtschranke durchbrochen hatte, schien zu zögern. Sekundenlang zeichneten sich Unsicherheit und verborgene Qual in dem braungebrannten, kantigen Gesicht ab. Dann gab sich der Fremde einen Ruck und ging in den großen, kühlen Raum hinein. Hinter einem Schreibtisch aus Chrom und Glas stand ein junges Mädchen auf. Sie war auffallend gut zurechtgemacht. Sie schritt auf den Besucher zu, als müsse sie für jeden Schritt zahlen. »Sir?« fragte sie höflich. »Ich hätte gern eine Auskunft. Vielleicht habe ich auch eine Bitte!« sagte der Mann. Er nahm die dunkle Brille nicht ab, aber er wirkte keineswegs arrogant. »Für Auskünfte bin eigentlich ich zuständig!« »Gut. Sagt Ihnen der Name Chapat etwas?« Plötzlich schien es, als würde sich eine lähmende Stille im Raum ausbreiten. Die leise Hintergrundmusik wirkte nun auffallend laut und aufdringlich. »Chapat? Sagten Sie Chapat?« »Dies war der Name!« bestätigte der Besucher. Er befand sich im dritten Stockwerk eines mittelgroßen Gebäudes. Er war den Hinweisschildern gefolgt. Jetzt stand er in den Räumen der Künstleragentur Arctyre esclusiv und ahnte, daß er eine Spur gefunden hatte.
»Ich bin sicher, daß wir einen solchen Namen in unserer Kartei haben«, sagte die Sekretärin. Über ihrer linken Brust trug sie ein zierliches Schild. Der Fremde nahm die Brille ab und las: Yisa Pindor. »Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie mir einige Auskünfte über Chapat geben würden«, sagte der Mann. Sie nickte und winkte ihn an ihren Schreibtisch. Als sie genauer hinsah, sagte ihr eine nicht sehr ferne Erinnerung, daß sie diesen Mann kannte oder zumindest schon oft gesehen hatte. Schließlich fiel ihr der Name und die Bedeutung ein, und nun wurde Miß Pindor etwas verlegen. »Nehmen Sie bitte Platz!« sagte sie. »Danke«, entgegnete ihr Besucher und setzte sich in einen federnden Sessel aus Chrom und Fell. Das Mädchen schaltete die positronische Kartei ein und drehte den Bildschirm so herum, daß sie beide die Scheibe sehen konnten. Dann tippte sie einige Kodeziffern in die Tastatur, schließlich buchstabierte sie den Namen. Augenblicklich erschienen vier Zeilen in rasender Geschwindigkeit auf dem dunklen Schirm. »Hier, sehen Sie … Verzeihung, vielleicht wollen Sie nicht … aber Sie sind der Arkonide Atlan, nicht wahr?« Atlan nickte und entgegnete: »Das ist richtig. Aber Sie müssen es nicht gerade schnell unter die Leute bringen.« »Ich bin zur Diskretion verpflichtet!« antwortete Yisa. »Lesen Sie?« »Ich habe schon gelesen!« Auf dem Bildschirm standen dreieinhalb Zeilen. Über mehr Informationen verfügte der Speicher nicht. Chapat war bei Arctyre esclusiv als Ar-
4 beitsuchender registriert. Alfo Zharadin, Besitzer der TRAUMPALAST, engagierte Chapat und zahlte die Gebühr, obwohl keine Vermittlung durch das Büro stattfand. Chapat ist durch seinen blauen Kreisel in der Lage, ausdrucksvolle Frauenstimmen zu projizieren. Keine Adresse, keine weiteren Informationen. Atlan stand auf. Seine Finger öffneten und schlossen sich unruhig um die Kanten der dicken Glasplatte. Das Mädchen blickte ihn leicht verwirrt an. Sie war gewöhnt, mit Menschen umzugehen, die alle Formen von milder Verrücktheit und gesellschaftlichem Irrsinn zeigten; dies war eine der größten Künstleragenturen des Planeten Kantanong. Atlan aber, ruhig, verschlossen und zurückhaltend, voll innerer Probleme, paßte absolut nicht in dieses Schema. Die Erfahrung war für sie vollkommen neu. »TRAUMPALAST«, murmelte der Arkonide. »Ich bin vor kurzer Zeit gelandet, aber ein Schiff dieses Typs habe ich nicht sehen können.« »Vermutlich ist Chapat mitgeflogen. Das Schiff befindet sich meiner Information nach jetzt auf dem Flug nach Broelgir, der Ferienwelt.« »Ich verstehe!« sagte der Arkonide. Der Name Chapat ist gefährlich. Wiederhole ihn nicht zu oft! Er wird dich dazu zwingen, dich zu erinnern. Denk an den Schmerz dieser Erinnerung! flüsterte eindringlich der Extrasinn des Arkoniden. »Broelgir!« murmelte Atlan und stand auf. »Ist das der Planet im Giffar-System?« »Ja. Die teure Ferienwelt. Eine halbe Million Kolonisten und mehr als eine halbe Million Gäste. Sie sind alle steinreich dort!« »Die Gäste oder die Kolonisten?« fragte Atlan und rang sich ein Lächeln ab. Der Name Chapats, seines angeblichen Sohnes, brannte wie ein flammender Speer in seinen Gedanken. »Beide. Kann ich Ihnen sonst noch helfen?« Langsam schüttelte Atlan den Kopf. Bis hierher hatte ihn die Suche nach Chapat ge-
Hans Kneifel führt. Hier auf Kantanong endeten die Spuren – und führten weiter nach Broelgir. Er war unruhig und mußte diese Unsicherheit klären. »Sie haben mir sehr geholfen«, sagte der Arkonide langsam. Das Mädchen, das ihn beobachtete, wußte plötzlich, daß er unter starkem Druck stand und sich in einer Stimmung befand, die auf vielfältige Weise zu beschreiben war: melancholisch, niedergeschlagen, von Problemen erschüttert. Atlan verbeugte sich kurz und schloß: »Ich habe es eilig, und ich befinde mich nicht in der richtigen Stimmung. Ich würde mich gern erkenntlich zeigen.« Laut lärmend und lachend ging hinter ihnen eine Gruppe von Gästen oder Künstlern vorbei, dem Ausgang zu und verschwanden hinter der Glasscheibe. »Es ist mein Job, Auskünfte zu geben«, beharrte Yisa. »Es freut mich, wenn Sie etwas erfahren konnten. Sind Sie persönlich interessiert?« Atlan nickte und sagte nach einer kurzen Weile: »Es gibt im Augenblick nichts, das wichtiger ist. Ich bin mehr als nur interessiert. Ich bin verpflichtet.« Er lächelte ihr zögernd zu und verließ den Raum. Er ging mehrere Treppen hinunter, vorbei an exotischen, gepflegten Gewächsen. Der kleine Gleiter, den er gemietet hatte,brachte ihn langsam zurück zu seinem Hotel. Ununterbrochen drehten sich seine Gedanken um zwei Begriffe. Chapat … Broelgir … Verdränge den Namen aus deinem Gedächtnis! Sonst überfällt dich die Erinnerung jetzt! Es ist bald zu spät! Du mußt dein Hotelzimmer erreichen! dröhnte der Extrasinn. Der Gleiter bog in die Auffahrt zu dem kleinen Hotel in der Nähe des Raumhafens ein. Atlan warf die Tür zu und winkte den Robot herbei. Schweißüberströmt und mit bleichem Gesicht, die Augen hinter der dunklen Brille verborgen, ging er mit unmenschlicher Beherrschung geradeaus und
Träume des Vergessens an der Rezeption vorbei. Chapat … Als er sich in den Lift schwang, um den Höhenunterschied der drei Stockwerke zu überwinden, sah er, daß seine Hände zitterten. Entlang der Wirbelsäule fühlte er ein stechendes Kribbeln. Er knickte in den Knien ein, als er den Korridor erreichte und sich aus der Antigravröhre schwang. Chapat! Er ging auf die Tür zu und stolperte. Er kannte diesen Effekt. Jedesmal, wenn ein bestimmtes Schlüsselerlebnis oder die ständige Wiederholung eines Namens ein bestimmtes Geschehen in seiner Erinnerung aktivierte, schlug sein photographisch exakter Verstand zu. Er produzierte Erinnerungen, die eindringlicher waren als das reale Erleben, weil sie Atlan erschöpften, ohne daß er sich wehren konnte. Hinein! Schnell! Niemand darf deine hilflose Lage erkennen! Du bist der Chef der USO! Die Tür des Zimmers schloß sich hinter ihm. Er taumelte hilflos in den Raum und fiel schwer in seinen Sessel. Chapat … Atlan schloß die Augen. Er hing hilflos zwischen den Polstern. Der Name seines vermeintlichen Sohnes dröhnte in seinem Schädel. Immer mehr schmolzen die zwölf Jahrtausende zwischen dem wirklichen Ereignis und jetzt zusammen. Zu spät! Du wirst wieder an der Erinnerung leiden! schrie der Extrasinn. Atlan hörte die Warnung nicht mehr. Es war wirklich zu spät. Er erinnerte sich.
* Vor rund zwölf Jahrtausenden, auf der Suche nach dem Stein der Weisen, hatten sie das Raumschiff gefunden. Ratlosigkeit und der Zwang, zu handeln, hatten diese Monate und Jahre seiner frühesten Jugend gekennzeichnet. Und die Namen seiner Freunde: Fartuloon, Farnathia, Eiskralle, der aus sei-
5 ner Erinnerung verdrängt war, und … Ra. Ra, sein Freund und Widersacher. Auf dem Planeten Frossargon hatte Vorry, der Magnetier, das Schiff aufgebrochen. Ischtar, die Goldene Göttin, war bewegungslos unter der Energieglocke aufgebahrt gewesen. Sie lag da wie tot. Wie ein Blitz hatte es Atlan getroffen.
* Halb besinnungslos murmelte Atlan in das leere Zimmer hinein: »Ich hatte damals noch nicht die Möglichkeit, mich zu wehren. Ich war noch nicht reif. Alle diese Erfahrungen …« Ich unterlag Ischtars Ausstrahlung. Während Farnathia vor Eifersucht halb krank war, während alle anderen Freunde aus dem Schiff getrieben wurden, verführte Ischtar – was ihr leicht und schnell gelang – mich, den jungen Atlan. Diese Stunden sind noch heute frisch in meiner Erinnerung. Ich spüre ihre Haut unter meinen Fingerspitzen, ich weiß, wie sich ihr Haar anfühlte, ich erinnere mich an die Höhepunkte unserer Leidenschaft. Ich habe es nicht geglaubt. Aber sie sagte mir, daß wir einen Sohn zeugen würden. Sie kenne das Geheimnis des ewigen Lebens und würde es an ihn weitergeben. Unser gemeinsamer Sohn wird Chapat heißen … Das waren ihre Worte gewesen. Zuerst hatte ich mich gegen die Verführung gewehrt. Aber etwas wie ein hypnotischer Bann zwang mich damals, mich von ihr verführen zu lassen. Mein Widerstand war nicht sehr echt und nicht ehrlich, aber ich wollte Ra nicht verletzen, dessen Leidenschaft ihn halb wahnsinnig gemacht hatte. Und als ich das Schiff verließ, erschöpft und glücklich, aber skeptisch und in der Vorahnung kommender Gefahren und Auseinandersetzungen, drehte ich mich um und sah Ra, der den riesigen Eber ritt und auf
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Hans Kneifel
mich zupreschte. Ich konnte nicht mehr ausweichen, obwohl ich mit der Schnelligkeit reagierte, die mich Fartuloon gelehrt hatte. Ra ritt mich nieder und verletzte mich schwer. Und während ich hilflos dalag, mußte ich zusehen, wie Farnathia und Ischtar miteinander kämpften. Ischtar erschoß Farnathia, die starb, ohne mir zu verzeihen. Ischtars geheimnisvolle Geräte heilten mich in kurzer Zeit, während Vorry den Eber besiegte und Ra betäubt zurückschleppte. Der Wahnsinn war für kurze Zeit in der kleinen Gruppe unserer Freunde ausgebrochen. »Und nur Chapat ist geblieben … von all diesem Irrsinn!« murmelte ich. Ischtar zeigte mir die Spur des Kometen, dann, nach einer langen Zeit, in der Ra im Doppelpyramidenschiff blieb und mit verschlossenem Gesichtsausdruck zurückkam, startete das Schiff der Goldenen Göttin. Und ich wußte nichts mehr. Bis ich wieder mit dem Namen Chapat konfrontiert wurde und erkannte, daß dies mein Sohn sein mußte …
* Atlan öffnete die Augen und fand sich schwitzend, ausgelaugt und matt in dem Sessel seines Hotelapartments wieder. Langsam stand er auf und fühlte die Schwäche in seinen Knien. Du hast dich erinnert. Nur ein kurzer Abschnitt deines Lebens, aber ein inhaltsreicher, flüsterte der Extrasinn. Du wirst keine Ruhe haben, ehe du nicht deinen Sohn – oder den vermeintlichen Sohn, denn es kann ein Schwindel sein! – gefunden hast. Suche ihn! »Ich muß es tun!« sagte Atlan und zog sich langsam aus. Dann wankte er ins Bad, nahm ein Aufmunterungspräparat und gab sich der Robotbehandlung durch Duschen, Bestrahlungen und Massagen hin. Eine Stunde später fühlte er sich besser und konnte daran gehen, die nächsten Schritte seiner
Suche sorgfältig zu überdenken und die Lage zu analysieren. Er mußte nach Broelgir!
2. »Ich kann mir nicht denken, daß es einen Frachterkapitän gibt, der sich nicht ein paar Solar dazuverdienen möchte!« sagte der Mann, der neben dem Ersten Navigator auf dem Barhocker hing und einen äußerst eigentümlichen Eindruck machte. Unwillig hob Fram Enzyk die Hand und deutete auf einen bärtigen Mann am anderen Ende der Theke. »Fragen Sie ihn doch selbst!« murmelte er. »Sehen Sie nicht, daß ich mit dem Mädchen sprechen möchte?« Nicht mehr als vierzig Gäste saßen in der Raumhafenbar. Es war eine der vielen Kneipen, die sich hier befanden; ein schmaler Schlauch, ebenerdig, mit einer langen Theke, die fast die Hälfte des Raumes einnahm, einigen Bänken und Sitzen, tiefhängenden Lampen und dem dichten Qualm aus Rauch exotischer Tabake, menschlicher Ausdünstungen, den vielen Gerüchen fremder Pelze, Leder und Rauschmittel. Das Mädchen, mit dem der Navigator sprach, schien nicht hierher zu passen. »Ich sehe!« sagte der Fremde. Er hob sein Glas und nahm einen langen Schluck. »Wie heißt Ihr Käpten?« »West Eis.« »Wie?« »Sie haben sich nicht verhört, Mann. Vermutlich nimmt er Sie mit. Aber erwarten Sie nicht zuviel.« Der hochgewachsene Mann nickte, glitt vom Hocker und hinkte, indem er den linken Fuß nachschleppte, entlang der stehenden und sitzenden Gäste auf den Mann mit dem blauen Bart zu. Der Navigator warf ihm einen langen Blick nach, ehe er sich wieder seiner privaten Beschäftigung widmete. Was störte ihn an diesem Mann? Das schulterlange, schwarze Haar war über den Ohren mit breiten Lederbändern
Träume des Vergessens zusammengehalten. Die stechenden schwarzen Augen hatten einen kühlen, wissenden Ausdruck gehabt. Eine Narbe, die vom rechten Mundwinkel bis fast zum Ohr reichte, machte das Gesicht unsymmetrisch und gab dem Unbekannten etwas Dämonisches, Undurchsichtiges. Jedenfalls war er nicht der Typ des ruhigen, stillen Mannes, den es nicht ins Abenteuer trieb. Inzwischen hatte der Schwarzhaarige in seinem groben Leinenanzug den Kapitän erreicht und tippte ihm auf die Schulter. »Käpten Eis?« Ein mittelgroßer, breitschultriger Mann in abgetragener Uniform. Er drehte sich halb herum und legte den Kopf schief. »Ja?« »Ihr Navigator sagte mir, daß Sie vielleicht einen Passagier brauchen könnten. Ist das möglich?« Der Kapitän grinste listig und drehte sein leeres Glas um. Der Schwarzhaarige grinste. »Wohin wollen Sie?« »Genau dorthin, wohin Sie morgen früh starten.« Eine Hand streckte sich nach vorn, ergriff das Glas des Kapitäns und stellte es auf die klebrige Theke. Ein Wink, und das Barmädchen verstand. Sie wechselte das leere gegen ein volles Glas aus. Weißer Schaum stand auf dem honiggelben, eiskalten Bier. »Ich gehe mit einer Ladung Sportgeräte, Boote, Motoren und ähnlichem Kram nach dem Giffar-System.« »Ich möchte ins Giffar-System. Genauer: Ich möchte mich auf Broelgir umsehen. Haben Sie eine Passage frei, Käpten?« »Ist die Polizei hinter Ihnen her, die SolAb oder die USO?« Der Mann mit der Narbe lachte sarkastisch. »Nein. Auf Ehre. Nicht einmal die Gläubi_ ger. Ich kann zahlen. Nehmen Sie mich mit?« »Gepäck?« »Nicht viel. Zwei Koffer, eine Schultertasche.« »Hundert Solar. Verpflegung extra – wir haben einen guten Koch.«
7 »Also hundertfünfzig Solar. Wann startet die SANTA VERENA?« »Sie haben sich umgesehen, wie?« »Ja. Wann?« »Morgen vormittag elf Uhr. Sie können ausschlafen. Wir sind pünktlich, also kommen Sie nicht an den leeren Startplatz.« »Ich danke Ihnen. Anzahlung?« Der Kapitän sah den Mann mit der Narbe voll an. Unter lockigem, blauen Haar leuchteten grüne Augen, die Haut voller Falten. Der Bart war voll Bierschaum. »Jemand, der mein Bier bezahlt, braucht keine Anzahlung zu leisten.« Sie tauschten einen harten Händedruck, dann warf der Narbige einen Solar auf die Theke. Er grinste Käpten Eis an und bahnte sich dann einen Weg zur Tür. Als er kurz nach links blickte, sah er, daß die Hand des Navigators auf der Hand des Mädchens hinter der Theke lag. Leise sprach der Mann auf das Mädchen ein. Die Tür glitt hinter dem Mann mit der Narbe zu.
* Es herrschte die übliche, angenehm leise Atmosphäre eines teuren Speiserestaurants. An dem Fenster, das heruntergelassen worden war und einen vollen Ausblick auf den See ermöglichte, saßen nur zwei Personen. Ein Mädchen mit hellbraunem Haar und ein Mann, der unschlüssig mit dem Stiel des Weinglases spielte. »Sie sehen aus wie ein Mann, der Sorgen hat«, sagte Yisa Pindor leise. »Haben Sie Sorgen? Ich kann es mir nicht vorstellen. Sie haben doch alles, was Sie sich wünschen können.« »Vor allem Sorgen«, erwiderte Atlan und lächelte kurz. Er hatte sie angerufen und zum Essen eingeladen. Yisa war bereitwillig gekommen und hatte Atlan, der seinen Gleiter weggegeben hatte, vom Hotel abgeholt. Sie war noch zu jung und zu unerfahren, um verstehen zu können, welcher Druck auf Atlan lastete, aber sie wußte, daß er irgendwie litt.
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Hans Kneifel
»Wollen Sie es mir nicht sagen? Vielleicht erleichtert es Sie?« Atlan trank einen Schluck. »Es geht um einen jungen Mann. Er ist für mich von Wichtigkeit. Und ich habe durch Sie erfahren, daß er mit der TRAUMPALAST abgereist ist.« Yisa nickte und ließ sich Feuer für ihre Zigarette geben. »Ich habe mich nach Ihrem Besuch noch weiter erkundigt. Das Schiff gibt in einigen Tagen ein längeres Gastspiel auf dem Ferienplaneten. Das ist sicher. Es ist auf dem Flug und müßte eigentlich in Kürze landen. Warum schalten Sie die United Stars Organisation eigentlich nicht ein?« »Das ist meine Sache. Sehr persönlich«, antwortete Atlan. »Es hat mit der USO nichts zu tun.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich kann und darf es Ihnen nicht sagen, Yisa«, erklärte der Arkonide. »Es ist eine sehr persönliche Verbindung aus meiner Jugend. Die Geschehnisse sind eigentlich rund zwölf Jahrtausende alt. Ich schlage eine Brücke über diese Zeit, wenn ich mich mit diesem Fall … beschäftige. Ich muß allein operieren. Bitte, stellen Sie keine Fragen mehr, Yisa.« Sie war nicht älter als fünfundzwanzig. Die Jahre in der Künstleragentur hatten Yisa fähig gemacht, mehr zu verstehen und ein wenig tiefer denken zu können als andere Menschen in diesem Alter. Sie lächelte und fragte ruhig: »Was kann ich tun, um Ihnen zu helfen, Atlan?« »Sie können mir das Vergnügen eines netten Abends bereiten. Morgen verlasse ich den Planeten. Broelgir ist mein neues Ziel.« »Es wird auch für mich ein netter Abend werden. Ich bin sicher!« sagte sie und legte einen flüchtigen Augenblick lang ihre Finger auf seine Hand.
* Vor ihm lag ein schmaler, weißer Kunst-
stoffstreifen. Er enthielt eine lange Zahlenkombination, die er jetzt langsam und methodisch in die Tastatur des Interkoms eingab. Es war eine Geheimnummer, die in keinem Verzeichnis zu finden war. Ein winziger Schalter in den Rechenmaschinen der Vermittlung leitete die Verbindung weiter. Nach der letzten Ziffer ertönte aus dem Lautsprecher ein kurzer, scharfer Pfeifton. Dann erhellte sich der Schirm. »Fehlverbindung«, sagte eine Stimme. Der Gesprächspartner war nicht sichtbar, die Linsen des Gegengeräts erfaßten die weiße Wand eines unbekannten Raumes. »Entschuldigung«, meinte Atlan. »Ich bin daran interessiert, eine Nachricht zu hinterlassen. Kodewort Magellan.« »Magellan. Richtig. Mit wem spreche ich?« Das Kodewort war angenommen worden. Auf die weiße Wand fiel ein Schatten, dann schob sich der Oberkörper eines unauffälligen Mannes mit ernsten Augen auf den Bildschirm. Er war sichtlich verblüfft, Lordadmiral Atlan vor sich zu sehen. »Sie, Sir?« »Ja. Nur ein kurzer Kontakt. Ich verlasse in zwei Stunden den Planeten. Falls Sie Kontakt haben, können Sie mitteilen, daß ich nach Broelgir abgereist bin. Ich betreibe private Nachforschungen in einer absolut wichtigen Sache. Ich brauche die Organisation nicht – oder noch nicht. Sollte mich jemand ernsthaft suchen, geben Sie diese Meldung weiter. Das genügt. Ich danke Ihnen, Spezialist.« »Aber, Sir …« »Danke, Ende«, sagte Atlan und schaltete ab. Er zerbrach das Kärtchen, das sich zu verfärben begann und sich dann auflöste. Atlans Koffer war bereits gepackt. In vierzig Minuten würde er abgeholt werden. Er ging ins Bad – und der Mann, der einige Zeit später daraus zurückkam, hatte mit Atlan keinerlei Ähnlichkeit mehr. Der Lordadmiral verfolgte eine neue Spur. Sie war heiß, und es schien tatsächlich
Träume des Vergessens die Spur seines eigenen Sohnes zu sein.
3. Etwa ein Tag vor der Landung auf Broelgir. »Sehen Sie, Sassu, wir brauchen ganz einfach neue Sensationen. Dabei ist es mir ziemlich gleichgültig, wie diese Sensationen aussehen und woher sie kommen. Aber ich weiß intuitiv, daß dieser neue Mann uns eine Sensation bringt. Wir dürfen nur nicht ungeschickt vorgehen.« Alfo Zharadin lag schräg in dem Sessel, der mit kostbarem weißen Leder überzogen war. Die Stimme des Zwerges, der sich entschlossen hatte, ein Mann zu sein, war hoch und quäkend. Eine häßliche Kinderstimme. Sassu legte eine lange, spiralig gedrehte Zigarre in den Aschenbecher. Sie verbreitete einen strengen Geruch. »Sie haben diese Stimme gehört, nicht wahr?« Alfo küßte enthusiastisch seine Fingerspitzen und machte ein schnalzendes Geräusch. »Welch eine Stimme! Göttlich! Eindringlich und unmittelbar auch ohne jede Manipulation! Und dieser Einfaltspinsel kommt ausgerechnet zu mir, um sich zu verstecken und Sicherheit zu haben! Das war ein genialer Zug von mir, nicht wahr, Sassu?« Sassu war einer der Wissenschaftler des Schiffes TRAUMPALAST. Ein hagerer Mann mit schütterem Haar. Seine Forschungen und Entdeckungen erlaubten ihm, ein Leben zu führen, das er sich wünschte. Für Alfo arbeitete er, verglichen mit seinen anderen Einkünften, geradezu billig. Aber er schätzte die unzähligen Möglichkeiten des Schiffes. Eine Unmenge Menschen kamen und gingen: Künstler, Besucher, Fremde. Von welcher Seite man auch diesen Vorteil betrachtete, für jede Laune war etwas übrig, blieb jemand zur Verfügung. Immer dann, wenn Sassu Abwechslung nötig hatte, kam er zu Alfo.
9 »Genial, richtig. Aber Sie bewegen sich ständig am Rand der Legalität. Es ist faszinierend, aber auch gefährlich.« »Ich denke, gerade das reizt Sie so, Sassu?« »Sicher. Aber Sie sind für alles verantwortlich!« Zharadin kicherte selbstgefällig. Einmal hatte ihm ein Journalist, der ein Jahr lang in der TRAUMPALAST gelebt und einen Bericht zusammengestellt hatte, ein wahres Wort gesagt. Zharadin wäre kein unmoralischer Mann, sondern ein amoralischer. Er entbehrte jeglichen Gefühls, das ihm sagte, was erlaubt oder verboten, anständig oder verbrecherisch war. Nur eines zählte: Raffinesse, Macht und Geld, Einfluß und Unabhängigkeit. »Ich bin verantwortlich. Und ich habe alles in der Hand. Wir werden die verwöhnten Gäste auf Broelgir mit einer neuen Attraktion faszinieren.« »Noch sind wir nicht soweit. Was macht unser Schützling?« »Er bewundert seine neuen Kleider und verirrt sich immer wieder im Schiff.« Sie lachten. Das Gelächter des kleinen Mannes wirkte unschön in seiner schrillen Tonhöhe. Diese dreiundvierzig Jahre alte, nur hundertfünfundfünfzig Zentimeter große Person war ein Kind aus der Beziehung eines Terraners mit einer Mervanerin. Kinder aus solchen Verbindungen waren sehr selten und noch seltener schön, und außerdem waren sie immer geschlechtslos und unfruchtbar. Zharadin hatte sich dazu entschlossen, ein »Mann« sein zu wollen. Er hatte damit seine Schwierigkeiten. »Jedenfalls ist die Stimme, die aus diesem komischen blauen Kreisel kommt, eine Sensation. Sogar die schlechten Aufnahmen, die ich mit diesem Placback-Androiden gehört habe, waren sensationell. Eine ungeheure Bereicherung unserer Illusionsmaschinen.« Sassu tat einen Zug an seiner Zigarre und murmelte zustimmend: »Sie haben das Vertrauen des Naivlings?« »Ich denke schon«, kreischte die Stimme
10 des häßlichen, fischhäutigen »Mannes«. Hundert Kilogramm, verteilt auf hundertfünfundfünfzig Zentimeter, ergaben eine schwammige, fette Gestalt, die wie ein schlaffer Ballon im Sessel lag. Zharadins haarloser Kopf glich einer Kugel. Auch die Augen waren völlig weiß – bis auf die kleinen, stechend schwarzen Pupillen. Nach menschlichen Vorstellungen war Zharadin von abgrundtiefer, nicht mehr zu unterbietender Häßlichkeit. Aber die Natur hatte sich bemüht, gerecht zu sein. Als Entschädigung für einen Charakter, der diesen Begriff nicht verdiente, und einen Körper, mit dem man auch hartgesottene Männer erschrecken konnte, besaß Alfo eine Intelligenz, die eines Genies würdig gewesen wäre. Sie lag einige Punkte über der Zahl, mit der man Spitzenbegabung charakterisierte. »Und was wollen Sie tun, Zharadin?« erkundigte sich Sassu nicht ohne Sarkasmus. Für ihn war Alfo auch ein Mittel, seinen hohen Lebensstandard zu garantieren. Er kannte ihn sehr gut, so weit man Alfo kennen konnte. »Wir brauchen den Kreisel. Wir müssen den Kreisel in den illusionären Programmierungen der Traummaschinen haben. Er muß integriert werden. Finden Sie für mich heraus, wie das zu bewerkstelligen ist? Ich werde zwei freiwillige Techniker einschalten.« »Gut. Ich versuche es. Wie nennt er sein merkwürdiges Ding? Ischtar-Memory?« »Ja. Wir finden schon noch heraus, wie es funktioniert. Ich werde es, wenn die Apparate fertig sind, von einem unserer ›Fingerkünstler‹ stehlen lassen.« »Einverstanden. Ich verständige Sie, Alfo!« Alfo Zharadin hob seine fette, kleine Hand und krähte: »Brauchen Sie nicht zu lange, Sassu. Lassen Sie sich nicht zu lange von der Tänzerin ablenken!« »Keine Sorge. Sie inspiriert mich!« Sassu verließ den Raum. Ab und zu war ihm ein Gespräch mit Alfo, das länger als fünf Minuten dauerte, eine körperliche Qual.
Hans Kneifel Zharadin mit seiner absoluten Leidenschaftslosigkeit menschlichen Schicksalen gegenüber, nur von seinem Streben nach Macht und Reichtum, war eine Zumutung. Zweifellos eine kuriose Zumutung, aber ein Mittel für Sassus Zwecke. Die Tänzerin wartete auf ihn.
* Chapat schloß den magnetischen Knopf des rechten Hemdsärmels. Er verzog sein schmales Gesicht zu einem flüchtigen Lächeln. Alle hatten ihn verfolgt und ausgebeutet, weil er nichts verstand von der Welt, in die er hineingeraten war. Er verfügte über eine erstaunliche Menge von Kenntnissen, aber er wußte noch nicht, daß er sie hatte. Aber jetzt habe ich Freunde, dachte er und stand auf. In der Tür des schmalen Wandschranks befand sich ein Spiegel. Er betrachtete sein Bild darin und freute sich. Seine neuen Freunde, in deren Schiff er reiste, hatten ihn gut ausgestattet. Essen und Wasser, neue Kleidung und eine gemütliche Kabine, in der er in Ruhe ausschlafen konnte. Er griff in die Tasche der neuen Jacke und fühlte zwischen den Fingern das kühle Material des Memorys. »Ischtar … Mutter!« flüsterte er. Er wartete auf Alfo Zharadin, diesen merkwürdigen kleinen Mann, dem er vertrauen konnte. Als er sich wieder setzte und die farbigen Nähte an den neuen Mokassins anblickte, fühlte er die Vibrationen des Schiffes, das länger war als eintausend Meter. Vertrauen? In einer Welt, die Chapat nicht kannte, in der alle Begriffe für ihn ungenau waren, hätte er einen Lehrer gebraucht. Er lernte schnell und erfaßte die Bedeutungen, aber im Augenblick war er froh, nach Verfolgungen und Ärger endlich einen Mann gefunden zu haben, der für ihn Verständnis zeigte. Alfo Zharadin. Er drückte einen Knopf, dessen Bedeu-
Träume des Vergessens tung er kannte. Ein exotisch aussehendes Mädchen sah ihm von der Bildscheibe entgegen. »Ja? Was willst du?« »Ich möchte meinen Freund besuchen. Und das Schiff sehen. Führst du mich zu ihm?« Sie nickte kurz und warf ihm einen Blick unter langen Wimpern zu, den er wie vieles andere nicht verstand. »Ich komme. Aber wir landen in zwanzig Stunden. Die Zeit wird knapp.« »Ja, natürlich.« Er öffnete das hohe, schmale Schott und ging in den Korridor hinaus. Vor ihm glühten Symbole, Ziffern und Pfeile. Sie deuteten nach rechts. Er drehte sich halb herum und ging weiter hinein in den breiteren Gang. Dort wartete das Mädchen auf ihn. »Ich bringe dich zu Alfo!« sagte sie. Er nahm ihre Hand, dann blieb er plötzlich stehen. Er warf sich herum und rannte mit einigen riesigen Sätzen zurück in den schmalen Teil. »Was hast du, Chapat?« rief das Mädchen. Er bewegte sich mit der Schnelligkeit und Eleganz eines Raubtiers. Seine Hand schoß herunter und ergriff die Klinke. Das Schott wurde mit großer Gewalt aufgerissen und krachte dröhnend gegen die Wand. Chapat griff in die Tasche der Jacke und entspannte seine Muskeln, als seine Fingerspitzen das Memory berührten. »Ischtar!« Er steckte das Memory in die Tasche und schloß die Hand darum. Alles, was er hatte, konnte er verlieren. Nur das Ischtar-Memory nicht. Er ging wieder zurück und sah das Mädchen in der Tür stehen. »Warum bist du plötzlich so aufgeregt gewesen?« fragte sie verblüfft. Er sah sie erstaunt an und erklärte mit allem Ernst: »Ich habe nur meinen wertvollsten Besitz mitgenommen. Es ist der wertvollste, weil es der einzige ist!« Sie sagte, ihn an der Hand nehmend und
11 auf den Korridor hinausziehend: »Ich verstehe nichts.« »Ich auch nicht«, sagte er leise und folgte ihr in das sinnverwirrende System der TRAUMPALAST.
* Das Schiff sah aus wie eines der ZirkusSpezialraumschiffe vom Typ der »Queen«-Baureihe. Eintausendeinhundert Meter lang oder hoch, wenn es gelandet war, geformt wie die Aufeinanderfolge von Spitzkegel, Zylinder und Kugel. Dort, wo bei den anderen Riesenschiffen dieses Typs Tiergehege und Futtermagazine waren, befanden sich in der TRAUMPALAST Maschinen und Illusionsgeräte. Und dort, wo in anderen Schiffen die Zuschauerrundtribünen und ihre segmentförmigen Sitzbankreihen waren, gab es Kabinen und Gänge, Nischen und Kuppeln. Dort wurde verkauft, was die Maschinen erzeugten. Die technischen Einrichtungen und die Überwachungssysteme hingen in einer Kuppel im Zentrum der »Manege«, und jeder, der sich auf eine der zwölf Dutzend bekannten Arten berauschen oder illusionieren wollte, kam entweder hier oder weiter oben im Schiff auf seine Kosten. Nahezu sämtliche Möglichkeiten der eingebildeten Träume und der projizierten Laster waren hier zu kaufen. Aber Alfo Zharadins Ziel lag weiter entfernt, war für ihn interessanter und gleichzeitig gefährlicher. Mit der Macht aller technischen Möglichkeiten dieses Schiffes wollte er diejenigen, die kamen und Illusionen kauften, zu Opfern machen. Und waren sie erst einmal Opfer, konnte er sie auspressen wie einen Schwamm. Das Schiff näherte sich dem Planeten Broelgir. Noch fünfzehn Stunden bis zur Landung. Auf diesem Planeten machten Menschen Urlaub und erholten sich. Fünfundsiebzig Prozent aller Gäste des Ferien-
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planeten waren reich, jung, schön oder einflußreich. Während das Mädchen, eine persönliche Angestellte Zharadins, Chapat durch das Schiff führte und ihm Hunderte von Fragen so gut beantwortete, wie sie es vermochte, leitete Zharadin drei verschiedene Dinge ein. Erstens setzte er drei seiner besten Taschendiebe auf Chapat an, die das IschtarMemory gegen eine Kopie ersetzen sollten. Zweitens erkundigte er sich bei Sassu, wie weit er mit seinen Vorbereitungen wäre. Und drittens bereitete sich jeder auf die Landung des Schiffes vor.
4. Die Vibrationen hörten auf. Das Schiff federte noch einmal tief durch, dann wurden die Maschinen nacheinander abgeschaltet. Die TRAUMPALAST war gelandet. Auf einen Druck auf einen anderen Knopf aktivierte Chapat den Bildschirm erneut. Auf dem Interkom erschien ein Ausschnitt der Landschaft. Farbig, dreidimensional und gestochen scharf. Das Mädchen Loo hatte ihm erzählt, daß es auf Broelgir nur eine Siedlung gäbe. Das höchste Haus befand sich im Zentrum der Stadt Herieva, dann nahm nicht nur die Höhe der flachen Dächer ab, sondern auch die Dichte der Besiedlung. Gewundene Straßen gingen vom Zentrum nach außen und verloren sich in der Landschaft. Herieva lag auf einem ganz flachen Hügel, genau an der Scheidelinie zwischen Land und Meer. Die meisten Siedlungsgebiete, in denen die vielen Gäste untergebracht waren, befanden sich im Osten der Stadt. Das Schiff war im Norden gelandet, und deshalb sah Chapat den meisten Teil der Stadt, die Küste mit ihren vielen Buchten und unzählige Häuser, Zelte, Kuppeln, Boote und die vielen Wälder rund um diesen Teil des Landes. »Schön!« sagte er kurz und wußte nicht, wie es weitergehen sollte. Er griff in die Tasche und zog das Memory heraus. Dann
stellte er den kreiselartigen Gegenstand vor sich auf die Tischplatte, die er aus der Wand herausgeklappt hatte. Er wollte die Stimme noch einmal hören. Vielleicht sagte ihm Ischtar, was zu tun war. Er blickte den Spitzkegel an. Minuten vergingen. Chapat fühlte Schweiß auf der Stirn. Er verbot sich, zu denken, was er denken mußte. Das Memory. Es funktionierte nicht mehr. Was war geschehen? Seine Haut wurde kalt, seine Lippen trockneten aus. Er griff nach dem Kegel und hob ihn hoch. Etwas störte ihn. Suchend glitten seine Fingerkuppen darüber hinweg. Die Kerbe! Jetzt hatte er sie. Sein Herz schlug rasend schnell. Er murmelte mit versagender Stimme: »Es ist nicht das Memory! Sie haben mein Memory vertauscht! Wo? Wie?« Er sprang auf und fegte den Kreisel mit einer blitzschnellen Bewegung auf den Boden. Er stand vor dem geschlossenen Schott. Das Bild der Landschaft war vergessen. Er versuchte sich zu erinnern: Wie? Es mußte in einer der Illusionskabinen gewesen sein. Loo und er hatten sich in einer perfekten Illusion befunden. Nacheinander waren die verschiedenen Möglichkeiten an ihnen vorbeigezogen und hatten sie in Abständen von wenigen Minuten in andere Umgebungen versetzt, hatten sie zu Teilen dieses trügerischen Lebens gemacht. Loo hatte sich mehrmals an seine Schulter geworfen, hatte vor den Eindrücken Schutz gesucht, hatte seine Hände festgehalten und seinen bronzefarbenen Körper gestreichelt. Hatte sie ihm das Memory gestohlen? Nein. Es mußte der Mann gewesen sein, der mit unbewegtem Gesicht im Hintergrund gestanden war. Was hatte Alfo Zharadin gesagt? »Auf diesem Schiff passiert nichts, aber auch gar nichts, was ich nicht weiß oder befehle!« Also hatte Alfo das Memory stehlen lassen. Alfo? Nein! Er war der einzige Mann,
Träume des Vergessens der freundlich zu ihm gewesen war. Alfo war sein Freund. Er mußte ihn fragen. Chapat riß das Schott auf und stürmte hinaus auf den Hauptkorridor. Er mußte den Dieb suchen und finden. »Ich will das Memory zurückhaben! Ich muß es haben!« schrie er auf, als er den breiten Gang hinausrannte.
* Die Kabinen bestanden aus unzerbrechlichem, glasklaren Kunststoff, der hohe Belastungen ohne Verformung aushielt, gegen alle nur denkbaren Strahlungen isolierte. Zwei breite, auseinanderfaltbare Spezialsessel standen darin, eine Instrumentensäule verband in jeder Kabine Boden mit Decke, und neben den Sesseln befanden sich würfelförmige Elemente in sterilem Weiß. »Hier«, sagte Alfo und deutete auf die leeren Sessel. »Hier sind die Maschinen. Wie steht es mit Ihrem Arrangement, Sassu?« Doktor Sassu hielt die halbierte, unangezündete Zigarre zwischen den Zähnen und blickte genau auf den kahlen Kopf des kleinen, dicken Mannes. »Mein Arrangement ist klar. Ob es so funktioniert, wie wir es uns wünschen, ist die andere Frage.« »Warten wir den Versuch ab.« Alfo hob den Arm und schnippte mit den Fingern. Das Geräusch hallte in dem kahlen Vorraum wider wie ein Peitschenknall. »Wo sind die Freiwilligen?« Während sie sprachen, klappten langsam die Segmente innerhalb des Trichters auf. Hunderte von verschiedenen Kabinen und Nischen wurden sichtbar, in der Stadt wurden die ersten Gerüchte laut. In kurzer Zeit würde die Werbekampagne der zweiten Phase gestartet werden. Das Schiff, das bisher in einer Art technischem Halbschlaf gehalten worden war, erwachte immer mehr. Maschinen und Energieaggregate wurden eingeschaltet, Robotergruppen schwärmten aus, und in einigen Stunden würde alles bereit
13 sein für einen breiten Strom von Gästen und Kunden und – zukünftigen Opfern. Alfo Zharadin sah die beiden Techniker an. Es waren erfahrene Männer, die genau wußten, worum es hier ging. »Seid ihr fertig? Bereit für einen Versuchstraum?« »Natürlich, Chef«, erwiderte der ältere Mann, und der jüngere fügte hinzu: »Sonst hätten wir uns nicht gemeldet.« »Dann legt euch unter die Haube. Es gibt eine Extraprämie. Notiere, mein Kind!« Alfo bevorzugte für alle Arbeiten, die mehr oder weniger öffentlich abliefen, möglichst junge Sekretärinnen. Auch jetzt stand hinter ihm ein graziles Mädchen, mehr als einen Kopf größer, ausgesucht schön und unbedingt verläßlich. Sie drückte den Knopf eines Recorders und murmelte einige Sätze hinein. »Ist notiert!« Durchsichtige, schmale Türen öffneten sich in den Kabinen. Die Techniker gingen hinein und setzten sich in die Sessel. An hydraulischen Armen schwenkten zwei undurchsichtige, schwere Hauben heran und gingen in eine entsprechende Position. Sie waren mit dicken, vielfarbigen Kabelsträngen an die Instrumentensäule angeschlossen. »Können wir? Was haben Sie mit dem echten Memory gemacht, Sassu?« Sassu hatte sämtliche Illusionsmaschinen kombiniert, programmiert und mit Effekten ausgestattet. Etwa ein halbes Tausend verschiedener Nischen des Schiffes war allein von seinen Programmen abhängig. Ein Kunde kam, zahlte den ersten Traum und erlebte hundertprozentig echt – allerdings schlafend – eine andere Umwelt, in der er der Held war, in der er Kämpfe durchfocht und Sieger blieb. Wenn er ging, war er um einige Solar ärmer und um ein Erlebnis reicher, das aber schon nach Stunden bis zur Unkenntlichkeit verblaßt war. »Ich habe es aktiviert und zwischen Speicher und Gehirnwellengeräte geschaltet. Was die Techniker hier erleben, müßte eigentlich vom Ischtar-Memory beeinflußt
14 werden.« »Ich verstehe. Sie kennen unser technisches Ziel?« »Natürlich. Warum fragen Sie?« Der fette Humanoide warf ihm einen stechenden Blick voller Mißtrauen zu. »Weil dieser Planet ein hervorragendes Testgebiet ist. Die Besucher des Ferienplaneten zerstreuen sich in alle Richtungen, und wenn wir hier Erfolg haben, dann spricht es sich in der ganzen Galaxis herum. Dann haben wir überall Erfolg.« »Das habe ich mir ebenfalls überlegt.« »Dann können wir starten.« Sassu holte ein Feuerzeug aus der Tasche und brannte eine neue Zigarre an. Dann setzte er sich vor ein mittelgroßes Pult, begann zu schalten und legte seine Hand auf einen Kontakt. Er rief leise in ein Mikrophon: »Thar, Roms … seid ihr bereit? Entspannt euch!« Die Antworten kamen dumpf unter den Hauben hervor. »Bereit. Fangen Sie an, Doktor.« Die Türen zu den Kammern schlossen sich. Die Sessel kippten auseinander und bildeten Konturliegen. Beine und Arme wurden von breiten, gepolsterten Bändern festgehalten. Überall flammten kleine Lichter in allen Farben auf. Zwei Bildschirme zeigten die aufgeregten Kurven und Zacken der Gehirnströme von Roms und Thar. Zharadin schwang sich in einen Sessel, von dem aus er sowohl die Schaltungen des Doktors als auch die beiden Freiwilligen genau sehen konnte. Zwei Medorobots schwebten herein und nahmen vor den Türen Aufstellung. »Los!« Sassu nahm einen Zug aus der Zigarre, hüllte seinen Kopf in eine Rauchwolke und drückte den Kontakt. Ein erstes Reizprogramm wurde angefahren. Die Strahlungen versetzten binnen weniger Sekunden die beiden Techniker in einen leichten Schlaf, dann überflutete, langsam anlaufend und immer mehr verstärkt, das Hauptprogramm ihre
Hans Kneifel Sinne. Sassu hatte eines der Standardprogramme gewählt. Es schilderte den Besuch eines Mannes in einer fremden Stadt und die vielen Abenteuer, die er erlebte. Jedes dieser Abenteuer endete in der Sicht des Träumenden mit einem vollen Erfolg. Er beeinflußte mit seinen eigenen Wünschen den Ausgang der Illusion. »Wie lange dauert es?« Sassu deutete auf die Zeituhr. Eine Minute war vergangen. Leise beantwortete er die Frage seines Chefs. »Ich schalte nach neun Minuten ab.« Hinter dem dicken Mann stand regungslos und mit unbewegtem Gesicht die junge Sekretärin. Nur ihre grünen Augen bewegten sich ununterbrochen. Sassu konnte nicht im entferntesten ahnen, was das Mädchen dachte. Sie alle, fast achtzig Prozent der Besatzung der TRAUMPALAST, waren gefährdet. Sassu zweifelte nicht eine Sekunde lang daran, daß die United Stars Organisation mehr von dem Schiff wußte, als sie dachten. Aber bisher hatte sie noch nicht eingegriffen. Was sie offiziell taten, war keineswegs illegal. Und von den wirklich verbrecherischen Dingen wußte die USO nichts. Noch nicht. Auf einer Menge verschiedener Planeten der Galaxis, überall dort, wo die TRAUMPALAST einmal gelandet war, gab es Süchtige. Menschen und Humanoide waren süchtig geworden nach den Träumen des Vergessens, die Alfo Zharadin ihnen gebracht hatte. Sucht erzeugte Abhängigkeit, und diese brachte Alfo die Einkünfte, die das gewohnte Maß weit übertrafen. Sassu wußte, daß Zharadin plante, mit dem Memory-Zusatz der Illusionen alle die Menschen unentrinnbar in seinen Griff zu bekommen. Denn bis heute war es noch nicht befriedigend gelungen, die Menschen außerhalb der Träume, also im wachen Zustand, in einer Illusion gefangenzunehmen.
Träume des Vergessens Aufmerksam betrachtete Sassu die Bildschirme, deren Anzeigen mit bestimmten Kennlinien und verschiedenfarbigen Markierungen versehen waren. Er konzentrierte sich auf die Bewegungen, Schwankungen und Reduktionen der Gehirnströme, die durch auf und ab schwellende Linien angedeutet wurden. In den dreidimensionalen Anzeigen wirkten diese Linien wie Fäden, die in Luftströmen zitterten. Gelbe und rote, grüne und eisblaue Linien, die sich innerhalb zweier Maxima bewegten. Vier Minuten lang träumten die Freiwilligen. Sie waren eingeschlafen und aufgewacht. Jetzt erlebten sie die Illusion bei klarem Bewußtsein. Sie würden, was immer geschah, nicht vergessen. Die Wirkung sollte, das beabsichtigte Sassu, derjenigen eines realen Geschehens entsprechen. Dabei hatte er vor, jene Illusionen unten in den Nischen bei weitem zu übertreffen. Obwohl bei klaren Gedanken, mußte der Käufer hundertprozentig gefangengenommen werden. Fünf Minuten dauerte jetzt die Illusion. »Alles klar?« Die schrille Stimme Alfos unterbrach die Gedanken des Wissenschaftlers. »Bis jetzt ja. Ein ungewöhnlich intensiver Traum – Wachtraum sollte ich besser sagen – läuft ab.« »Sehr schön!« Zharadin rieb sich die Finger und kicherte. Das Gelächter verursachte Sassu eine Gänsehaut. Was die beiden Techniker, die sich inzwischen unruhig zu bewegen begonnen hatten, wirklich erlebten. Sassu wußte es nicht. Er wußte aber, daß sie bei Bewußtsein waren und eine Serie lebensechter Abenteuer erlebten. In welcher Umwelt bewegten sie sich? Was fügte das Memory hinzu, denn seine Instrumente zeigten Sassu, daß dieses rätselhafte Gerät arbeitete und aktive Impulse beisteuerte. In der sechsten Minute bemerkte Sassu auf dem linken Schirm eine Veränderung. Er drosselte den Input, er beugte sich vor,
15 und die Zigarre fiel aus seinen Zähnen. »Was ist das … verdammt!« keuchte er auf. Zwei Linien begannen wie wahnsinnig auf und ab zu zucken. Ihre Zacken durchstießen die Zone des Maximums. Die Ausschläge wurden größer und folgten innerhalb weniger Sekunden immer schneller aufeinander. Sassu zog den Regler noch mehr zurück. Die Linien zuckten noch mehr, noch aufgeregter. Eine Katastrophe bahnte sich an. Schweiß brach dem Doktor am ganzen Körper aus, und zwei Sekunden später kippte er einen Schalter. Gleichzeitig übertrug ein Lautsprecher aus der Zelle Thars einen langgezogenen Schrei. Sassu kannte diese Art von Schrei; es war die letzte kreatürliche Äußerung eines Menschen. Ein Todesschrei. Sassu sprang auf, nachdem er auch den zweiten Schalter gekippt hatte. »Schluß!« schrie er aufgeregt. »Etwas ist schiefgegangen!« Er riß die beiden Türen auf, bewegte die Schalter, und die Hauben hoben sich von den Köpfen der Männer. Die Medorobots glitten in die Kammern hinein. Verwirrt und bleich, mit zitternden Gliedern, richtete sich Roms auf. »Thar … Thar ist tot!« sagte er mit Bestimmtheit. Er stotterte. Sassu beugte sich über Thar, glitt dann zur Seite und ließ von der Maschine eine sekundenschnelle Untersuchung vornehmen. Dann ging er langsam hinaus und blieb vor Alfo Zharadin stehen. »Thar ist tot. Schock. Wir müssen alles genau untersuchen.« Alfo schwieg einige Sekunden lang. Dann sagte er ohne sichtbare Rührung: »Mädchen, notieren Sie: Roms bekommt die doppelte Prämie. Und jetzt werden wir uns anhören, was er zu berichten hat. Lassen Sie die Leiche wegschaffen, Doktor. Und untersuchen.« »Selbstverständlich.« Während die Medorobots sich um Roms kümmerten und zwei andere Maschinen den schlaffen Körper des Toten hinausschafften
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und in einen anderen Teil des Schiffs brachten, sah Alfo ein, daß er wohl an einer zu großen Aufgabe gescheitert war. Nach der Untersuchung würden sie erkennen, was hier vorgefallen war. Alfo ahnte nicht, daß es der Schock seines Lebens sein würde.
5. Erschöpft lehnte er sich gegen die plastiküberzogene Wand. Er schwitzte, seine Lungen stachen. Er wußte nicht mehr, wo er überall gewesen war. Hunderte hatte er gefragt, und niemand hatte ihm eine klare Antwort geben können. Dieses Labyrinth aus Stahl, Glassit und Kunststoff hatte ihn vollkommen verwirrt. Endlose Korridore, gerade und gekrümmt, Türen, Schotte, Durchgänge und Rampen, Treppen und verwirrende Aufgänge. Die Farben, die Gerüche und die Menschen hatten einander zu schnell und in einem viel zu verwirrenden Rhythmus abgelöst. Was soll ich tun? Wer hat mein IschtarMemory? überlegte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn und der Oberlippe. Er stieß sich von der Wand ab und ging weiter. Vor ihm sah er einen Pfeil und eine Schrift, die er kannte. Sie brachte ihn zum Eingang eines Antigravlifts. Vor dem Lift standen zwei professionelle Kartenspieler und wirbelten ihre Karten so schnell von einer Hand zur anderen, in vielfältigen Figuren und in Mustern, die das Auge nicht mehr aufzulösen vermochte, daß Chapat wegblickte. »Ich suche Zharadin!« sagte er leise. »Helft mir. Wo finde ich ihn?« Ohne das Wirbeln und Flattern der sechsundsiebzig Karten zu unterbrechen, sah einer der Spieler ihn an und erwiderte: »Um diese Zeit in seinen Büros. Hier nach oben, Freund. Noch nicht lange hier, wie?« Chapat zog die Schultern hoch. Plötzlich gefiel es ihm hier nicht mehr.
»Nein. Vielleicht auch nicht mehr lange.« Chapat schwang sich in den Antigravschacht und schwebte langsam aufwärts. Er wartete, bis er die Markierung Weiß erkannte, dann verließ er den Schacht und fragte sich bis zum Büro Zharadins durch. Er riß die Tür auf und stürzte in den Vorraum. Zwei Männer, die ihn augenblicklich erkannten, sprangen auf und stellten sich vor die Tür des inneren Büros. »Was willst du? Du kannst nicht herein, wenn es Alfo nicht erlaubt.« Chapat ergriff einen Mann am Oberarm und stieß hervor: »Ich muß zu Alfo. Er ist mein Freund!« Der Mann riß sich los und hob beide Hände. Der andere griff an den Gürtel und zog seine stumpfnasige Waffe. »Nichts da! Was willst du eigentlich!« »Sie haben mein Memory gestohlen! Ich muß es haben!« Der Wächter sprang zwei Schritte zurück. Beide Männer wechselten einen kurzen, bedeutungsvollen Blick. Chapat verstand: Sie wußten etwas davon. Er blieb stehen und blickte nach links und rechts. Der Wächter hielt seine Waffe locker in der Hand und sagte: »Sei vernünftig, Junge. Alfo wird dich rufen lassen, wenn er Zeit hat. Wir dürfen dich nicht hereinlassen.« »Aber ich muß ihn sprechen.« Er machte zwei Schritte und griff nach den schweren Griffen der gepolsterten Doppeltür. Von beiden Seiten kamen die Männer auf ihn zu. Er hatte darauf gewartet. Sein Haar floß um seinen Kopf, als er sich duckte, sich gleichzeitig drehte und den ersten Wächter ergriff. Er zog ihn an sich, wirbelte ihn an seiner Schulter vorbei und schleuderte ihn dann mit aller Wucht auf den anderen Mann. Beide stolperten rückwärts und fielen über einen Tisch. Chapat sprang nach rechts und griff den ersten an. Er benutzte die Handkanten und die Fäuste. Drei schnelle Hiebe, ein Abwehrschlag und eine rasche Drehung des Körpers beendeten diesen Kampf, dann riß
Träume des Vergessens er den zusammensackenden Mann zurück und schob den Körper in die Richtung der Waffe. »Du bist wahnsinnig!« keuchte der zweite Wächter auf und schwang sich hinter dem Bewußtlosen zur Seite. Er krachte mit der Schulter gegen die Wand, stieß sich ab, aber der Schuß, den er abgab, ging an Chapats Schulter vorbei in ein Möbelstück. Chapat sprang schräg auf den Mann los. Seine linke Hand zielte nach der Waffe, die rechte schmetterte hart gegen die Kehle des Wächters. Wieder krachte ein Schuß auf, aber dann schloß sich der stählerne Griff um die Hand. Der Wächter riß die Hand hoch und gurgelte auf. Chapat riß seinen Arm hoch. Die Waffe glitt aus den Fingern und beschrieb, sich überschlagend, einen Bogen in der Luft und klirrte gegen einen Bildschirm. Dann schlug Chapat den Gegner mit zwei schnellen Schlägen bewußtlos. Eine Sekunde lang stand er da und schöpfte Luft, dann stürzte er nach vorn und riß die beiden Flügeltüren mit einem einzigen Ruck auf. Er blickte in das gefüllte Büro hinein. Direkt vor ihm saß Alfo, hinter ihm stand ein Mädchen, und mindestens zwanzig verschiedene Männer saßen in zwei Gruppen links und rechts vor dem Schreibtisch. »Das Memory! Du hast mein Memory gestohlen!« schrie Chapat auf und sprang nach vorn. Er streckte beide Arme vor und wollte den blauen Kreisel ergreifen, der genau vor Alfo Zharadin auf der Schreibtischplatte stand. Die Blicke, die sich bisher auf den Kreisel konzentriert hatten, gingen nun zu der bronzehäutigen Gestalt, die jetzt den Tisch erreicht hatte. Aber Zharadin bückte sich nach vorn, riß das Memory vom Tisch und drehte sich um. »Faßt ihn! Er kennt die Wahrheit!« sagte er schrill. Die Männer sprangen auf. Ein Tumult entstand. Sie stürzten sich von allen Seiten auf Chapat. Er drehte sich, griff hinter sich und stieß sich von der Tischkante nach vorn. Es waren
17 zu viele Gegner. Nicht alle würden mit ihm kämpfen, aber es war keine Chance für ihn. Von beiden Seiten schloß sich die Zange um ihn, während hinter seinem Rücken Zharadin keifte und auf einen Safe zutrippelte. Flucht! Chapat reagierte mit gewohnter Schnelligkeit. Er rammte einen Mann mit der Schulter zu Boden, gab einem zweiten einen Stoß und nützte den Tumult aus. Er teilte Faustschläge, Tritte und Handkantenschläge aus und kämpfte sich durch die Reihen der Männer. Dann war er frei, spurtete durch das leere Vorbüro und schmetterte hinter sich die Schottür zu. »Aus dem Schiff! Auf dem Planeten kann ich mich verstecken! Sie werden mich töten, wenn sie mich erwischen!« stieß er hervor, während er auf den Lift zurannte und sich abstieß. Er glitt langsam, viel zu langsam, nach unten. Die Verfolger drückten die Tür auf, als er sich etwa in der Mitte des Schiffes befand. Noch rund fünfhundert Meter bis zur Arena.
* Sassu, das Mädchen und Alfo blieben in dem leeren Büro zurück. Die Geräusche der Verfolgung entfernten sich. Eben war der Chef der privaten Sicherheitstruppe aus dem Raum gerannt; er hatte genaueste Anweisungen Zharadins erhalten. »Jetzt haben wir den offenen Konflikt!« sagte Sassu düster. »Wenn uns Chapat die USO auf den Hals hetzt, dann gibt es nicht nur Schwierigkeiten.« »Das ist ein lokales Problem. Niemand weiß es außerhalb des Schiffes. Und außerdem … was geht das Memory die USO an?« »Ich bin nicht sicher. Der junge Mann sieht aus wie Atlan. Atlan und die USO bedeuten für uns eines und dasselbe.« »Sie sind ein elender Pessimist, Doktor. Gib ihm einen Schnaps, meine Kleine! Das wird ihn beruhigen. Zurück zu unserem Versuch. Was ist vorgefallen, Doktor?« Während Sassu zusah, wie ein Glas für
18 ihn gefüllt wurde, begann er zu berichten. »Der Mann ist an einem Schock gestorben. Wir haben ihn obduziert und genauestens untersucht. Er zeigt sämtliche Spuren eines Schusses aus einem uralten Nadler. Aber es gibt keinen Einschuß. Das sind die Fakten. Nun zu dem anderen Freiwilligen, der diese Illusion lebend überstanden hat: Hier ist seine Schilderung!« »Wir fanden uns, als wir wieder aufwachten, in einer völlig echt wirkenden Umgebung wieder. Nach wenigen Sekunden merkten wir nicht mehr, daß dies eine künstlich erzeugte Illusion war, sondern wir fühlten uns so, als ob wir bewußt alles erlebten.« Die stockende Stimme des Technikers, die von einem Band zu hören war, wurde immer sicherer und lauter. Der Mann befand sich noch immer im Bann der Erinnerung und ließ deutlich das Grauen erkennen, das ihn gepackt hielt. Sassu ließ das Band wieder anlaufen. »Wir waren ganz bestimmt auf einem arkonidischen Planeten. Typisch, diese Trichterhäuser und all das andere. Zuerst waren wir getrennt, aber dann erkannte ich in der Menge meinen Kollegen, und er sah in der gleichen Sekunde auch mich. Wir gingen weiter und kamen zu einer Art Markt. Es kann aber auch etwas anderes gewesen sein, also kein Markt. Jedenfalls wurde mein Kollege sofort als Fremder erkannt. Es gab Streit. Vielleicht dreißig Personen bildeten eine Gruppe. Plötzlich krachte ein Schuß auf. Ich sprang nach vorn und versuchte, durch die Menge zu kommen, aber auf dem Weg verschwand die Illusion. Ich weiß jetzt, daß Doktor Sassu abgeschaltet hat. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Jedenfalls war dieses Erlebnis so realistisch, daß ich noch jetzt nicht glauben kann, daß es nicht ein Zeitsprung oder so etwas war.« Sassu schaltete das Bandgerät aus. »Wir kennen jetzt den Unterschied zwischen unseren normalen Illusionen und den
Hans Kneifel Zutaten, die wir dem Ischtar-Memory verdanken. Das Ding, das dort in Ihrem Safe ist, bedeutet tatsächlich etwas.« Alfo Zharadin starrte ihn an. Er krümmte seine runden Schultern nach vorn und wirkte einen Augenblick lang wie eine fette Robbe, die einen Fisch gesehen hatte und nicht wußte, ob sie ihn fressen sollte, oder ob er vergiftet war. »Wir haben hier an eine Sache angerührt …«, begann er. »Eine verdammt große Sache. Wir sollten die Finger davon lassen«, meinte Sassu warnend und leerte sein Glas. Ein langer Blick aus den stechenden Augen traf den Wissenschaftler. Zu seinem Erstaunen bemerkte Sassu, daß Alfo in der Lage war, Empfindungen zu haben. Sein kahler Schädel glänzte. Die Deckenstrahler zeigten in ihrem Licht dicke Schweißtropfen. Das Schweigen in dem großen Raum wurde beängstigend. »Sie sind so ruhig, Alfo?« bemerkte er nicht ganz ohne Ironie. Als er daran dachte, daß auch er dieses Geheimnis angefaßt und vermutlich alle nur denkbaren Zusammenhänge einer gewaltigen Größenordnung in dem Memory vereint finden würde. Er mußte vor sich selbst sagen, daß ihm die Angelegenheit zu groß und zu gefährlich geworden war. Konnte er noch aussteigen? Seine Augen irrten ab und hefteten sich auf den Energieschirm vor dem Safe. »Ich warte auf ein Wort von Ihnen, Zharadin!« wiederholte er seine Aufforderung. »Offensichtlich hat der Impulszusatz des Memorys das bewirkt. Ein Mann, der im Traum oder in der Illusion seinen Tod erlebt, stirbt auch wirklich.« »Das sehen Sie ebenso scharf wie ich!« antwortete Doktor Sassu. »Die Traumwelt besitzt also eine deutliche Realität!« murmelte verblüfft und geschockt der Humanoide. Das Mädchen schwieg. »Ja. Aber welche, Alfo? Was bedeutet das Memory wirklich?« »Für Chapat bedeutet es alles. Deswegen
Träume des Vergessens rennt er um sein Leben!« schnappte Alfo Zharadin zurück. »Düstere Aussichten. Können Sie das Problem lösen, Doktor? Sie haben alle Unterstützung, die Sie innerhalb des Schiffes benötigen.« »Ich kann es versuchen. Aber ich kann nichts versprechen!« »Verstanden. Machen Sie sich gleich an die Arbeit. Inzwischen werden sie ja diesen Naivling gefangen haben.« Sassu lachte kurz und hart auf. »Vermutlich haben sich die ersten Kunden und Besucher und Chapat mit seinen Verfolgern zwischen Herieva und dem Schiff getroffen. Es entbehrt, Alfo, nicht einer gewissen Komik.« »Ich pfeife auf Ihre Ansicht, Doktor.« »Auch gut. Solange Sie mich bezahlen …« Sassu stand auf, nickte dem Mädchen zu und ging zur Tür. Er drehte sich um, den Kontaktgriff in der Hand, und sagte: »Ich hole mir das Memory, wenn ich es brauche. Zuerst muß ich die gesamte Anlage durchsehen. Guten Tag.«
6. Die Maschinen dröhnten, und auf dem Bildschirm der Panoramagalerie der SANTA VERENA erkannte der schwarzhaarige Fremde das gelandete Schiff, die charakteristische Form der TRAUMPALAST. »Sie sehen so angestrengt hin, Morris? Kennen Sie das Schiff?« Kapitän West Eis war sichtlich froh, wieder auf einem Planeten zu landen. Er gehörte zu den Männern, die nicht gern reisen. »Ich kenne es nicht, aber ich weiß eine Menge davon!« erklärte Morris und legte kurz seinen Zeigefinger an die lange Narbe an seiner Wange. »Mich interessiert hauptsächlich der Planet.« »Verstehe. Vielleicht eine reiche Urlauberin kennenlernen, ja?« Morris zuckte die Schultern und wartete auf den letzten Ruck, der ankündigte, daß sich die SANTA VERENA auf den Beton
19 des Raumhafens von Broelgir senkte und die Landestützen einfederten. »Vielleicht!« sagte er unbestimmt. Die United Stars Organisation würde ihm nicht helfen. Er war allein auf der Spur des gemeinsamen Sohnes von Ischtar und ihm selbst. Jagte er einem Phänomen nach? Aber diese Stimme, die er gehört hatte … es war Ischtars Lied gewesen. Er würde nicht aufgeben, ehe er nicht dieses Rätsel geklärt hatte. Der leichte Ruck ging durch das Schiff. Die Landesirene ertönte in allen Räumen. Morris wandte sich an West Eis und fragte: »Kennen Sie ein gutes, nicht zu großes Hotel? Ich hasse hohe Preise und Massenbetrieb!« »Gehen Sie ins Oasis. Liegt am Strand, in der Nähe der Wälder, und in zehn Minuten sind Sie mitten in Herieva.« »Danke für den Tip.« Morris verabschiedete sich vom Käpten und vom Navigator, holte seine beiden Koffer und hängte sich die Schultertasche um. Er verließ das Schiff, passierte die flüchtige Hafenkontrolle und ließ sich zum Oasis fahren. Das Hotel entpuppte sich als mittelgroßes Einhundertzimmer-Hotel, idyllisch gelegen, und genau am Schnittpunkt der drei Landschaftszonen. Morris suchte sich ein Zimmer zum Innenhof heraus, zahlte für eine Woche im voraus und packte aus. Dreimal hatte er Plakate und Reklametrupps gesehen und getroffen, und er wußte, daß heute abend die erste Welle der Gäste das Schiff TRAUMPALAST besuchen würde. Das war seine Stunde. Sämtliche Informationen, die es über Alfo Zharadin und die TRAUMPALAST gab, hatte er. Und er hatte auch noch sechs Stunden Zeit, sich vorzubereiten.
* Jetzt trug er wieder seinen leichten Leinenanzug. In den Taschen war nichts als das
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Notwendigste: Geld, falsche Ausweise, Schlüssel des Mietgleiters, andere Kleinigkeiten. In der Brusttasche steckte eine flache Schockwaffe. Atlan, der als Morris noch nicht ein einziges Mal erkannt worden war, lag ausgestreckt unter dem Sonnensegel des Dachgartens und blickte auf die riesige Bucht hinaus. Dort sah er die sichelförmigen Segel der Boote und die breiten Kielspuren der kleinen Jachten, auf denen die Gäste der Jagd auf den Wilden Zharg nachgingen. Hin und wieder blitzte eine Scheibe auf, unterhalb der Terrasse sah Atlan den riesigen Swimmingpool und dessen Besucher. »Was darf ich Ihnen bringen, Sir?« »Noch ein Tonicwasser«, sagte Morris. »Und dann einen Mokka.« »Selbstverständlich.« Wenn Morris alias Atlan den Kopf drehte, sah er in einer Entfernung von mehr als zehn Kilometern den zylindrischen und den kugelförmigen Teil der TRAUMPALAST. Er war unruhig. Chapat war dort drin.
* Einer seiner Verfolger feuerte senkrecht nach unten. Die Strahlerschüsse gingen fauchend an Chapat vorbei und detonierten am Boden des Schachtes. Es stank nach verbrannten Materialien. Zwischen dem ersten der Verfolger und ihm selbst war eine Distanz von mehr als zweihundert Metern; gut zu zielen war fast unmöglich. Chapat sagte sich, daß er im Schiff augenblicklich keinerlei Chancen mehr hatte. Sie hatten das Memory, und er war wertlos geworden. Der Mann, dem er am meisten vertraut hatte, war der größte Betrüger. »Mein Leben ist wichtiger!« murmelte er und sah schräg unter sich die Öffnung des Zentrallifts, der auf dem Boden der Arena endete. Hier rollten Roboter bereits farbige Teppiche aus, und überall gab es Bewegungen, Kommandos und Unruhe. Chapat winkelte die Arme an und begann zu rennen. In einem langen Spurt, der ihn immer schneller
werden ließ, erreichte er im Zickzack den Rand der trichterförmigen Arena und das große Rundtor, das soeben dekoriert wurde. Dann war er draußen in der Helligkeit. Sie blendete ihn sekundenlang. Er sah sich flüchtig um, aber er verringerte sein Tempo nur unwesentlich. Am anderen Ende des Platzes landete eben ein Schiff. Ein großer Transportgleiter löste sich aus dem Schatten eines langgezogenen Lagerschuppens und nahm Kurs auf die breite Gleiterpiste. Sie führte mit Sicherheit in die Stadt, auf alle Fälle aber aus der Gefahrenzone hinaus. Er hatte nicht einmal eine Waffe. Noch immer befand sich Chapat im Schatten des Schiffes. Jetzt bewegte er sich entlang der Trennlinie zwischen dem sonnenbeschienenen Spezialbeton und der dunkleren Fläche auf den langsam schwebenden Gleiter zu. Die Ladefläche kam immer näher. Chapat schlug einen Haken und rannte dann parallel zu dem Lastengleiter. Seine Hände bekamen einen Bügel zu fassen. Als der Gleiter mit einem Ruck beschleunigte, sprang Chapat hoch, machte einen Klimmzug und ließ sich flach auf die Ladefläche fallen. Er atmete heftig, aber er wälzte sich weiter und kam in den Schutz zwischen zwei hohen Containern, die hintereinander auf der Fläche standen. Vorsichtig hob er den Kopf. Einige Männer mit Waffen in den Händen rannten aus dem Tor hinaus und verteilten sich fächerförmig. Einige Sekunden später, als der Gleiter die Rampe über die Umgehungsstraße nahm, schwebte ein großer Gleiter aus dem Tor und hielt an. Die Männer kamen zurück, und zehn oder zwölf von ihnen verschwanden in dem Gleiter, der losschwebte und ebenfalls auf die Piste zufuhr. Sie waren ihm noch immer auf den Fersen. Einiges über den Planeten und die Stadt wußte er von Loo, dem Mädchen, das ihn herumgeführt hatte. Viel war es nicht. Er besaß nur, was er am Körper trug. Er hatte
Träume des Vergessens nicht einmal Geld, und langsam bekam er auch Hunger. Der Lastengleiter setzte seine Geschwindigkeit abermals herauf und raste auf Herieva zu.
* Nach einer kurzen Dämmerung mit einem farbenschillernden Sonnenuntergang war die Nacht über den Planeten Broelgir gekommen. Atlan in der Maske des schwarzhaarigen, narbigen Morris mit den dunklen Kontaktlinsen bestieg vor dem Hotel seinen kleinen Mietgleiter. Überall flammten jetzt die Lichter auf. Die gesamte Siedlung hatte sich vom Dachgarten des Hotels als mehr oder weniger sichelförmige Anordnung von Wohnstätten entpuppt, die um die riesige Bucht, zwischen der Brandung und dem Wald, gelagert war. Der Motor des offenen Gleiters brummte auf, als Atlan die Maschine startete und vorsichtig in die Richtung der breiten Gleiterpiste schwebte. Überall in der bewohnten Zone des Planeten, die nicht größer als dreißig Kilometer tief und hundert Kilometer lang war, machten sich Menschen auf, um die TRAUMPALAST zubesuchen. Gelangweilte und solche, die Abenteuer suchten … Und Süchtige. Seelische Sklaven einer raffinierten Maschinerie, die Alfo Zharadin mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeiten zur Verfügung stellte. Eine unruhige Stimmung hatte von der Stadt Herieva und der Umgebung Besitz ergriffen. Atlan spürte, daß Unheil in der Luft lag. Sei vorsichtig! Alfo darf nicht unterschätzt werden. Er ist unglaublich gerissen. In seiner Art ist er ebenso gut informiert wie Tekener. Oder Kennon! flüsterte der Extrasinn. Der Gleiter raste die Piste entlang. Broelgir verfügte noch nicht über eine zentrale, computergesteuerte Überwachungsanlage,
21 so daß ganze Schwärme und Rudel von Fahrzeugen aller Größen und Typen die Piste bevölkerten. Mehr als neun Zehntel fuhren in Richtung auf den Raumhafen; von allen Seiten drängten von den Zufahrten neue Fahrzeugströme auf den Hauptast hinaus. Atlan parkte seine Maschine abseits des großen Raumhafenfeldes, das als Parkplatz eingerichtet worden war. Tiefstrahler, hoch am Schiff angebracht, erhellten die breiten Wege zu den großen, runden Toren. Nachdenklich, langsam und zögernd ging Atlan auf einen der Eingänge zu. Du wirst bei Alfo Zharadin Verdacht erregen! warnte der Extrasinn drängend. Er wußte es. Niemand vermißte Chapat. Wenigstens mußte dies Zharadin denken, denn er hatte Chapat sozusagen als heimatlosen Vagabunden aufgelesen. Wenn sich jemand nach ihm erkundigte, dann würde dies den kleinen, fetten Mann mißtrauisch machen. Atlan blieb stehen und drehte suchend seinen Kopf. Sein Blick irrte umher, heftete sich argwöhnisch auf eine Gruppe von uniformierten Besatzungsmitgliedern, sah dort einen Schwarm sonnengebräunter Gäste, der auf den Eingang zuging, bemerkte an anderer Stelle die Männer der Schiffspolizei, registrierte überall Aufregung, Nervosität und jene Art von Spannung, die einen Menschen vor einem besonders großen Ereignis befällt. Sei vorsichtig. Alfo wird etwas erwarten! Er ist mit allen Wassern gewaschen! meldete sich abermals der Extrasinn. Ein ausgesucht schönes Mädchen, kaum älter als zwanzig Jahre, taumelte mit glasigen Augen an dem Arkoniden vorbei. Sie war beinahe mit ihm zusammengestoßen und bahnte sich mit schwingenden Armen einen Weg durch die Menge. Sie träumte, obwohl sie nicht schlief. Ein Opfer. Irgendwann würde sie, wenn ihr nichts geschah, zu sich kommen und entweder voller Abscheu reagieren oder Zeit ihres Lebens weiterhin nach solchen Träumen des Vergessens suchen. Vorsichtig, ohne aufzufallen, schob sich
22 Atlan weiter oder ließ sich mit anderen Gästen treiben. Er erreichte ein Tor und wechselte vom gelben Licht außerhalb des Schiffes in das psychedelische Lichtergewirr des Innern. Knapp achthundert Meter Durchmesser hatte der Kreis der Arena, wo das Unterteil des Schiffes eine Art Zelt bildete. Hoch oben sah der Arkonide das Flimmern der Energieschirme vor den verschlossenen Triebwerken. Und dann zog ihn der Wirbel aus Licht, Musik, dem Wirrwarr von Stimmen und Lautsprechern, Treppen und Antigravschächten, den vielen Nischen und den zahlreichen Anund Einbauten der ausgefahrenen Rampen in seinen Bann. In der absoluten Mitte der Arena sah er einen hell angestrahlten Turm, der wie eine Säule zwischen den Energieschirmen verschwand. Der Antigravschacht, der ins Schiffsinnere führte. Gib acht! Überall lauern die Polizisten der TRAUMPALAST! warnte die Stimme in seinen Gedanken. Atlan grinste kurz und ging im Zickzack, immer wieder ausweichend, auf einen Polizisten zu. Der Mann in seiner auffallenden Uniform warf ihm einen scharfen Blick zu. Erkannte er ihn etwa? »An wen wende ich mich, wenn ich Auskunft über jemanden von der Besatzung haben will?« fragte Atlan laut, um sich verständlich zu machen. »Personalbüro. Dieser Schacht, und im neunzigsten Stockwerk!« sagte der Polizist. »Wen suchen Sie?« »Einen flüchtigen Bekannten!« antwortete der Arkonide und sah, wie lange Menschenschlangen die Rampen zu den Illusionskabinen hinaufkletterten. Riesige Bilder und Projektionen erstellten sich vor den Nischen; sie zeigten die Landschaften der zu kaufenden Illusionen. Atlan nickte dem Posten zu und ging in die angegebene Richtung. Minuten später schwang er sich hinaus auf den weichen Boden eines kreisförmigen Platzes. Während noch innerhalb des Schachtes reger Verkehr geherrscht hatte – Menschen waren zu den
Hans Kneifel Spielkasinos und in die Zellen teurer und exklusiver Vergnügungen hinaufgeschwebt –, war es hier ruhiger. An einer Wand lehnte ein Polizist und kaute auf einer Aromawurzel. »Wohin, mein Herr?« murmelte er undeutlich. Atlan studierte die Schriften und die Hinweispfeile. Er entgegnete leichthin: »Personalbüro.« »Dort. Raum Sieben.« »Danke.« Als Atlan sich umdrehte und auf das leuchtende Schott zuging, fühlte er förmlich zwischen seinen Schulterblättern die neugierigen, aufmerksamen Blicke des Postens. Du fällst auf! sagte der Extrasinn scharf. Vor einem eingeschalteten Bildschirm machte Atlan Halt und drückte eine Taste. Ein kleiner Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe erkundigte sich nach seinem Wunsch und seinem Namen. Atlan sagte, daß er einen bestimmten Besatzungsangehörigen suchte und Paul Morris heiße. Das Schott schwang auf. Atlan kam in einen großen Raum, der nach Öl, Rost und Schweiß stank. Mit winselndem Summen arbeitete unregelmäßig eine überlastete Klimaanlage. Hinter einem zerschrammten Tisch saß der unscheinbare Mann mit der krankhaft blassen Gesichtsfarbe. Er schien seit Jahren das Schiff nicht verlassen zu haben. Mit einer leisen, aber schneidenden Stimme fragte er: »Wen wünschen Sie zu sprechen?« Atlan stützte sich auf den Tisch und bemerkte die klebrigen Ringspuren von Gläsern und Bechern. Ein knisternder Funke kam aus dem Motor der Klimaanlage. »Einen jungen Mann mit Namen Chapat. Groß, bronzefarbige Haut, weißes, langes Haar.« »Warum?« Atlan fühlte, wie der Zorn langsam in ihm hochstieg. »Ist das ein Verhör? Ich traf irgendwann Chapat, und er sagte zu mir, ich solle ihn besuchen. Ich weiß, daß er mit diesem Schiff hier gelandet ist.«
Träume des Vergessens »Verwandt mit ihm?« Atlan beschloß, ebenso dumme Antworten zu geben, um die Fragen gebührend zu kontern. »Geistesverwandt, ja. Haben Sie ihn in der Kartei?« »Ja.« »Sind Sie sicher? Sie haben nicht einmal nachgesehen.« Der kleine Mann lächelte mit gelben, großen Zähnen und erwiderte schroff, aber mit dem Unterton von Stolz: »Seit sieben Jahren sitze ich hier. Jeder, der das Schiff als Besatzungsmitglied betritt oder abmustert, steht dort, wo Sie stehen. Meine Kartei ist in meinem Gehirn, und Sie können sicher sein, sie funktioniert ebenso gut wie ein Computer. Ich brauche nirgendwo nachzusehen.« »Schön für Sie«, antwortete der Arkonide. »Dann können Sie mir sicher sofort sagen, wo ich mich mit Chapat treffen kann.« »Nirgends.« »Habe ich Sie richtig verstanden?« fragte Atlan, nahm seine Hände von dem schmierigen Pult und stellte sich gerade vor den Mann hin, der ihn völlig leidenschaftslos anstarrte. »Völlig richtig. Vor ungefähr sieben Stunden flüchtete Chapat unter Zurücklassung seiner Jacke aus dem Schiff. Er wurde kontraktbrüchig und wird natürlich von unserer Polizei verfolgt. Ich bin sicher, wir finden ihn bald. Die Möglichkeiten, sich in Herieva zu verstecken, sind gering.« »Geflüchtet. Das kann ich nicht glauben. Kann ich Ihren Vorgesetzten sprechen?« »Sie glauben mir nicht?« »Ich glaube Ihnen fast alles«, erwiderte der Arkonide. Jetzt waren sein Mißtrauen und auch seine Furcht, seinem »Sohn« könne etwas zugestoßen sein, erwacht. Was war geschehen? Hatten Sie Chapat umgebracht? Sei vorsichtig! Wenn du weiter forschst, wirst du noch mehr Mißtrauen erregen! Der Kleine sieht dich an, als wärest du sein persönlicher Feind! »Aber …«
23 »Ich muß mich vergewissern. Ich vermute, daß etwas höchst Unangenehmes vorgefallen ist, und irgendwie fühle ich mich als der Ältere ein bißchen verantwortlich für … Chapat.« Die kurze Pause vor dem letzten Wort war dem weißgesichtigen Mann aufgefallen. Er musterte Atlan sekundenlang vom Scheitel bis zu den Sohlen, als sähe er, daß sich der Arkonide verkleidet hatte. Atlan war in Versuchung gewesen, statt »Chapat« »mein Sohn« zu sagen. In letzter Sekunde hatte er seinen Fehler erkannt. Nur weiter so! Du verrätst dich vor lauter Sorge noch selbst! wisperte vorwurfsvoll der Extrasinn. »Einen Moment. Ich spreche mit dem Chef.« Der Mann drehte seinen Interkom herum, wählte einige Ziffern, deren Reihenfolge Atlan nicht sehen konnte, dann starrte er schweigend in die Linsen. Sechs Sekunden vergingen, in denen aus den Lautsprechern verworrenes Stimmengewirr zu hören war. Offensichtlich besaß dieser kleine, leidend aussehende Mann das uneingeschränkte Vertrauen Alfo Zharadins, denn er hatte direkt dessen Anschluß anwählen können. Eine Auszeichnung für den Personalleiter, denn dieses Schiff beherbergte mit Sicherheit dreitausend Insassen. »Ja?« Derjenige, der jetzt sprach, besaß eine unangenehm schrille Kinderstimme. Sie ging Atlan durch und durch. Etwa Zharadin? Die Antwort des Personalleiters enthob ihn weiterer Überlegungen. »Chef«, sagte der Weißgesichtige, »hier steht ein großer, schwarzhaariger Bursche, der bemerkenswert gut aussieht und eine Menge von Selbstbewußtsein zur Schau trägt, als wäre er Rhodan persönlich. Er fragt ausdauernd nach Chapat. Ich habe ihm gesagt, was vorgefallen ist, aber er wartet auf Ihr Wort.« Atlan konnte nichts erkennen und nichts hören. Er ahnte, daß Zharadin jetzt in rasender Eile überlegte. Diese Überlegungen dau-
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erten schätzungsweise dreißig Sekunden lang. Dann keifte die Kinderstimme schneidend: »Holen Sie einen Posten und schicken Sie den lästigen Menschen in mein Büro. Ich werde ihn hinauswerfen, wenn er mir nicht glaubt.« »Sofort!« »Ist das alles?« erkundigte sich Zharadin laut. »Ja, vorläufig.« »Schicken Sie diese Rhodan-Attrappe herauf! Er soll sich beeilen, ich habe nicht viel Zeit.« Der Kleine grinste. Dann deutete er wortlos auf die Tür und widmete sich wieder seinen Unterlagen, die auf der Tischplatte lagen. Atlan schluckte einige Flüche herunter und verließ den stinkenden Raum.
7. Der Lastengleiter, der von einem hochentwickelten Robot gesteuert wurde, schien ein festes Ziel zu haben. Er summte mit gleichmäßiger Fahrt über die breite Piste, und alle Sekunden hörte Chapat, der flach ausgestreckt auf der Ladefläche lag, das sausende Geräusch entgegenkommender Gleiter. Langsam hob er den Kopf und spähte zwischen den verkleideten Maschinenteilen, an den Containern vorbei, nach hinten. Vierhundert Meter oder noch weiter entfernt sah er den silberfarbenen großen Gleiter mit dem schwarzen T auf der Maschinenhaube. Dort saß ungefähr ein Dutzend seiner Verfolger. Was sollte er tun? Sie würden ihn früher oder später erwischen und zurück zum Schiff schleppen. Alfo, dieser Verräter, hatte das Ischtar-Memory und brauchte ihn persönlich nicht mehr. Plötzlich sah Chapat alles in einem ganz anderen Licht. Sie würden ihn umbringen oder quälen oder zumindest einsperren. Noch hielten sie sich zurück, aber es war eine Kleinigkeit, den schweren Lastengleiter zu überholen und während der Fahrt zu en-
tern. »Ich muß fort!« schrie er wütend. Er mußte sich durch diesen Schrei selbst Mut zusprechen. Er drehte den Kopf herum und sah, daß die Piste das flache Land um den Raumhafen verließ und der Gleiter auf den Wald zuschwebte. Wald bedeutete für ihn Schutz vor Verfolgern. Er mußte abspringen. Dicht über der schmutzigen Ladefläche robbte er im Schutz der Maschinenteile und der matt schimmernden Behälter nach vorn, bis er den Rücken des Führerhauses erreichte. Über sich sah er die großen Linsen, mit denen die Steuerung sich nach hinten orientierte. Wenn ich, so dachte er, mich aufrichte und vor die Linsen stelle, dann wird die Maschine eine Unregelmäßigkeit registrieren. Daraufhin hält sie mit einiger Sicherheit an. Wenn der Gleiter sein Tempo verringert, kann ich abspringen. Er wußte nicht, woher er dieses Wissen hatte, aber er war überzeugt, daß es zutraf. Die ersten überhängenden Äste scharrten an der Oberseite der hohen Container entlang. Ihm kam eine neue Idee. Er stand auf und blieb im optischen Schatten. Dann hing er halbwegs über dem Fahrerhaus und konnte nach vorn blicken. Er sah, daß die Piste ein ganzes Stück weit durch eine Schneise führte. Ununterbrochen zischten die Blätter dicht über seinen Kopf hinweg. Jetzt handelt er. Chapat sprang halb herunter und stellte sich direkt vor die Linsen. Er gestikulierte wild. Schon nach einer Sekunde merkte er, daß die Maschine ihn erfaßt hatte und ihre Maßnahmen einleitete. Der Lastengleiter wurde abgebremst. Chapat nutzte den Schwung aus, den sein Körper durch die negative Beschleunigung erhielt. Er schwang sich auf das Führerhaus, erkletterte rasend schnell das Dach und versuchte, in den Knien federnd, das Gleichgewicht zu halten. Er wurde nach vorn geschoben und hob die Arme. Ein dicker Ast kam
Träume des Vergessens ihm entgegen. Chapat zielte und duckte sich. Dann sprang er hoch und faßte nach dem Ast. Sein Körper beschrieb eine flache Kurve, und das mächtige Holzstück schlug schwer gegen seinen Brustkorb. Einen Augenblick lang hing er atemlos und mit schmerzenden Knochen dort oben, dann spannte er seine Muskeln und zog sich hoch. Der Gleiter fuhr, langsam geworden, unter ihm hinweg, und er hing über der leeren Piste. Auf der gegenüberliegenden Spur überholte eine Maschine eine andere. Chapat schwang hin und her und warf sich schließlich bäuchlings auf den Ast. Dann faßte er nach oben und richtete sich auf. Borke zersplitterte unter seinen Finger. Er durfte keine Zeit verlieren! Nur schnell weg! In Deckung! dachte er verzweifelt. Er ging mit langen Schritten, die Sohlen der Mokassins vorsichtig auf flache Stellen des Astes setzend, auf den Baumstamm zu. Er hielt sich an einem anderen Ast über seinem Kopf fest, wechselte dann die Griffe und hörte, als er den Stamm erreicht hatte, wie schräg unter ihm der Gleiter der Verfolger mit summenden Maschinen zum Überholen des Lastengleiters ansetzte, der ganz langsam weiterfuhr. Geschaft! durchzuckte es ihn. Er kletterte, jeden Ast und jeden Griff ausnutzend, am Stamm hinunter. Er sah sich um. Er befand sich in einem dichten Mischwald. Hin und wieder erkannte er, daß Stämme von beachtlichem Durchmesser gefällt worden waren. Dort hinten war die Straße, also flüchtete er in die Richtung, wo sich seiner Erinnerung und seiner Meinung nach das Meer und die Siedlungen befanden. Er brauchte jemanden, der ihm half. Er hatte nicht einmal einen Soli bei sich. Er spurtete los. Unter seinen Mokassins krachte hin und wieder ein dürrer Ast. Er sprang über gestürzte Baumstämme und fühlte, wie ihm Dornen und abgebrochene Äste die Kleidung zerfetzten. Gräser mit messerscharfen Schneiden ritzten seine
25 Haut. Im Zickzack rannte Chapat zwischen den Baumstämmen nach Süden oder Westen; er konnte die Richtung nicht genau erkennen. Der Planet Broelgir hatte ihn vorläufig gerettet. Die Zwischenräume der Bäume wurden größer, die Höhe der Ranken, Büsche und Grasinseln zwischen den hochragenden, knorrigen Wurzeln nahm ab. Chapats Rennen wurde schneller. Jeder Schritt brachte ihn um eine winzige Distanz von seinen Verfolgern weg. Chapat wußte nicht genau, wohin er lief. Er wußte nicht einmal andeutungsweise, was ihn erwartete, selbst wenn er der Kette der Polizisten des Schiffes entkam. Er wußte … überhaupt nichts. Die Hitze nahm zu. Langsam begannen seine Lungen zu stechen. Sein Atem ging rasselnd, aber er verlangsamte sein Tempo nicht. Als ob er sein Leben lang nichts anderes zu tun gehabt hätte, als durch einen Wald zu rennen, fand er sich zurecht. Insekten umschwärmten ihn. Blütenstaub kitzelte in seiner Nase. Er entdeckte die weißgewaschenen Kiesel eines Bachbettes, flankte über einen faulenden Stumpf und landete in den knirschenden Steinen. Er folgte den Windungen des schmalen, ausgetrockneten Rinnsals und hoffte, bald ein sicheres Versteck zu finden.
* Atlan saß auf der äußersten Kante des riesigen Schreibtischs, und je häufiger er das Büro, dessen Einrichtung und in dem Zentrum der Pracht den kleinen, fischhäutigen Humanoiden betrachtete, desto mehr begriff er. »Wir waren bei Chapat!« erinnerte er. »Sie sagen, er hat seinen Kontrakt gebrochen?« Jetzt war er wieder kühl und überlegen. Er kannte seinen Gegenspieler und dessen Beweggründe. Was die Natur dem Körper des unglücklichen Humanoiden versagt hatte, hatte sie in seinem Verstand wieder gutge-
26 macht. Alfo war klug, dachte blitzschnell und war klug genug, um Atlan zu beeindrucken und – zu überlisten. »Richtig. Ich habe ihn auf Kantanong aufgelesen und verpflichtet. Ich nahm ihn mit, kleidete ihn ein, und heute kurz nach Mittag rannte er aus dem Schiff, nachdem er mich bedroht hatte. Er glaubte, daß ich ihn betrogen hätte.« Atlan beendete seinen prüfenden Rundblick und bohrte seine Augen in die schwarzen Pupillen des Humanoiden. »Haben Sie ihn betrogen?« fragte er gedehnt. »Keine Spur. Wir waren verschiedener Ansicht über gewisse interne Probleme.« »Welche?« Zharadin belauerte ihn. Trotz seines Aussehens machte er den Eindruck einer ausgehungerten Spinne. »Unwichtig, wirklich. Es ging um die Bedingungen seiner Mitarbeit in der TRAUMPALAST.« »Wo ist Chapat jetzt?« »Geflüchtet. Zehn oder zwölf Mann sind hinter ihm her. Ich mag es nicht, wenn ich betrogen werde.« »In welcher Richtung ist er geflogen?« erkundigte sich Atlan. Merkwürdigerweise glaubte er dieser Aussage Alfos. »Nach meinen letzten Informationen schien er zu versuchen, Herieva zu erreichen. Welches Interesse haben Sie eigentlich an ihm?« »Flüchtiges!« sagte Atlan kurz. Er durchbohrt dich mit seinen Blicken. Vielleicht hat er dich erkannt? flüsterte der Extrasinn. »Sie machen nicht diesen Eindruck. Kenne ich Sie nicht von irgendwo her?« meinte Alfo in deutlicher Neugierde. »Das ist ziemlich ausgeschlossen«, erwiderte der Arkonide. Jetzt war auch er beunruhigt. »Ich war noch nie auf Broelgir oder in diesem Schiff.« »Aber ich war früher schon an allen möglichen Orten der Galaxis!« kicherte Zharadin.
Hans Kneifel »Dort war ich auch«, sagte Atlan und glitt von der Tischkante. »Möglich, daß wir uns kurz gesehen haben.« Er ging zur Tür und blieb stehen. »Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte er drohend. Zharadin schaukelte im Sessel nach vorn und hinten. Er grinste breit und deutete mit einer umfassenden Geste auf die Decke und alle vier Wände. »Mein Schiff steht Ihnen zur Verfügung. Sie können jeden fragen, der Ihnen über den Weg läuft. Es bleibt dabei: Chapat ist gegen Mittag geflüchtet.« »Danke für Ihre bereitwilligen Auskünfte!« schloß der Arkonide und ging hinaus. Der Extrasinn meldete sich deutlich und nachdrücklich: Er scheint nicht zu lügen. Chapat ist geflüchtet. Vermutlich sind die Männer auch wirklich hinter ihm her. Atlan ging bis zum Liftschacht und ließ sich nach unten transportieren. Eingekeilt in Tausende von Touristen dachte er über die Zeit im Schiff nach. Je länger er hier stand und überlegte, desto sicherer war er, daß seinem angeblichen Sohn Gefahr drohte. Dein ganzes Leben war Suchen und Finden. Mache dich auf den Weg! Finde Chapat, und du wirst Gewißheit haben, ob er dein und Ischtars Sohn ist! sagte hart der Extrasinn. Ohne einen Blick nach rückwärts zu werfen, verließ Atlan den Palast der Träume des Vergessens, bestieg seinen Gleiter und fuhr zurück in die Richtung der Stadt.
* Quakende und raschelnde Laute schreckten ihn auf. Wie eine Maschine, wie ein Automat, rannte er ununterbrochen durch den Wald und in den halbhohen Busch. Seine Hände, mit denen er vor sich die Zweige zur Seite schlug, bluteten aus zahlreichen kleinen Schnitten. Ein zurückfedernder Ast hatte ihm über
Träume des Vergessens dem Auge getroffen und eine tiefe Schramme gerissen. Noch immer sickerte ein breiter Blutfaden über seine Stirn und verklebte das Auge. Die Sohlen schmerzten, und das Knie schwoll langsam an. Chapat fühlte sich am Ende seiner Kräfte, aber er würde noch stundenlang weiterrennen, wenn er mußte. Wo bin ich? Der Wald schien kein Ende zu nehmen, obwohl Chapat seit geraumer Zeit den Geruch salzigen Wassers in der Nase hatte. Und noch immer hörte er, wenn er still stand und konzentriert lauschte, weit hinter sich die Geräusche, die seine Verfolger verursachten. Offensichtlich hatten sie keinen Gleiter, der sich höher als einige Handbreit über den Boden erheben konnte. Auch zu Fuß waren sie gefährlich. Hin und wieder hörte Chapat einen Schrei und ein Kommando oder einen Schuß. Es wurde kühler, und es roch nach Wasser. Chapat warf sich herum und rannte auf eine Barriere aus Büschen zu, die viel grüner aussahen als die Vegetation ringsum. Als er durch die lebende Mauer brach, sah er, daß er die Küste erreicht hatte. Er sah noch mehr: Die Sonne stand nur zwei Handbreit über dem Wasser. Es war fast Abend. Vor Chapat erstreckte sich eine kleine Bucht. Er sah Boote mit und ohne Segel. Ein paar Häuser auf Pfählen standen entlang des linken Ufers. Auf den Booten, auf dem einen weißen Steg und über das gesamte bewohnte Gelände verteilt erkannte Chapat Menschen. Jetzt würde er den Verfolgern überlegen sein. Aber auch diese Menschen konnten ihn verraten. Er schob sich weiter durch die Büsche und lief dann nach links, genau am Rand zwischen dem feuchten Sand und dem Wald entlang. Hinter ihm stob in kleinen Fontänen der Sand in die Höhe. Sein Ziel war ein schmaler, weißer Weg, der sich zwischen Gärten und Häusern einen Hügel aufwärts schlängelte. Schneller, weiter … immer geradeaus. Dann erfaßten seine scharfen Sinne eine Be-
27 wegung weit vor ihm. Er hielt sich noch mehr links und verschmolz fast mit dem Schatten der übermannshohen Büsche. Seine Schritte wurden lautlos. Chapat spannte seine Muskeln und konzentrierte sich auf die Stelle, an der er die sich bewegenden Zweige und das Aufblitzen von Metall gesehen hatte. Dann, als er noch zwanzig Meter von diesem Punkt entfernt war, teilte sich das Gebüsch, und ein Mann schob sich auf den Strand hinaus. Chapat sah das Metall einer Waffe in dessen Hand – er wußte nicht, welche Art Waffe es war. Sekunden vergingen in quälender Langsamkeit; der Verfolger drehte sich in die andere Richtung und beobachtete scharf die Menschen auf dem Steg, die in losen Gruppen beieinanderstanden. Er atmete schwer und war erschöpfter als Chapat. Dann drehte der Mann den Kopf und sah Chapat, der wie ein Rasender auf ihn zusprang. Ein Schuß fauchte auf und setzte schräg hinter dem Angreifer das Gebüsch in Brand. Noch drei Meter. Chapat duckte sich schräg unter dem Spurstrahl einer weiteren Entladung und hechtete nach vorn. Fast gleichzeitig krallten sich seine beiden Hände um das Handgelenk und um den Hals des Verfolgers. Eine Sekunde lang hatte Chapat die großen Magnetknöpfe der Uniform vor seinen Augen, dann hörte er das Röcheln des Mannes und den halb erstickten Schrei. Beide Körper prallten mit furchtbarer Wucht zusammen. Chapat drehte sich halb im Flug und breitete die Ellbogen aus. Dann stürzten sie beide in den feuchten Sand. Unter seinen Fingern spürte der junge Mann, wie sich der Griff des Polizisten um die Waffe lockerte. Chapat wandte einen besonderen Hebel an, und links neben seinem Ohr knackte ein Knochen. Der Mann stieß einen leisen Schrei aus und hustete kurz. Die Knie des Angreifers bohrten sich mit großer Wucht in den Brustkorb des Verfolgers. Zischend entwich die Luft durch die
28 Zähne. Chapat riß seine Arme hoch, wehrte einen Faustschlag des Mannes ab und verstärkte dann seinen Griff um die Kehle des liegenden, mit den Beinen wütend um sich schlagenden Mannes. Das Gesicht vor ihm wurde rot; rasselnd und fauchend keuchte der Unterlegene auf. »Ich bin weggelaufen, damit ihr mich nicht umbringt!« sagte Chapat mit langen Pausen zwischen den einzelnen Worten. Die Augen traten hervor, die Schläfenadern des Polizisten schwollen an. Seine Gegenwehr erlahmte langsam, aber seine Faustschläge trafen Chapat im Gesicht, an den Schultern und an den Seiten des Körpers. »Aber ihr wollt mich umbringen!« Er verstärkte den Druck. Die Bewegungen unter ihm wurden schwächer, die Fäuste fuhren ziellos durch die Luft. Die Lippen bewegten sich unkoordiniert. »Und ich werde euch entkommen und mein Memory zurückholen!« schrie Chapat auf und drückte ein letztes Mal zu. Der Körper unter ihm zuckte zusammen und wurde schlaff. Chapat löste seine Griffe und sprang auf die Füße. Er sah sich wild nach allen Seiten um. Die Menschen auf dem Steg blickten schweigend zu ihm herüber. Dann begannen alle auf einmal zu schreien. Ich muß verschwinden! dachte er, holte mehrmals Luft und suchte mit den Augen den Anfang des Pfades. Dann bemerkte er die neuen Blutspuren und fühlte den Schmerz eines schwellenden Auges. Keuchend und hustend lief er weiter und wünschte sich einen Moment Ruhe. Er hatte keine zwanzig Meter zurückgelegt, als mindestens an sieben Stellen der Büsche seine Verfolger aus dem Wald hervorsprangen und ihn im gleichen Augenblick sahen. Chapat schlug einen Haken und änderte seine Richtung. Jetzt lagen zwischen ihm und den Brandungswellen nur noch dreißig Meter. Die ersten, schlecht gezielten Schüsse fauchten und krachten auf. Rechts und links von seinen Füßen dampfte und kochte
Hans Kneifel der Sand. Noch zwanzig Meter! Er lief um sein Leben. Der Schaumkamm der sich überschlagenden Welle kam näher. Die Brandung donnerte und rauschte. Chapat warf sich nach rechts und links, entging haarscharf einem Wirkungstreffer und spürte unter den weichen Sohlen den nassen Sand. »Haltet ihn!« »Ich habe ihn getroffen!« »Seid ihr wahnsinnig? Alfo will ihn lebend!« Augenblicklich verstummten die Schreie, als sich Chapat mit nach vorn ausgestreckten Armen in die zurückflutende Welle warf. Schaum schlug über ihm zusammen; in seiner Erregung fühlte er das Salzwasser in seinen kleinen Wunden nicht. Die Welle riß ihn mit sich, schleuderte seinen Körper über Sand und kleines Gestein, hob ihn hoch und spülte in seinen Mund, als er verzweifelt Luft holen wollte. Eine Handbreit neben seinem Kopf fuhr ein Schuß aus einem schweren Strahler ins Wasser und verwandelte es in Dampf. Chapat wurde herumgewirbelt, mehrere Male umgedreht und an die Oberfläche gerissen. Er blickte, als er für eine Sekunde auftauchte und die nächste Brandungswelle auf sich zurollen sah, direkt in die Sonne. Er hustete würgend, spuckte Meerwasser und zog röchelnd Luft in seine Lungen, dann schloß er den Mund und die Augen. Er schwamm um sein Leben, denn inzwischen hatten mindestens zehn Männer das gezielte Feuer auf den undeutlich sichtbaren Kopf eröffnet. Chapat hörte es nicht … Ein Boot, getrieben von einem Innenborder mit mehr als hundert Pferdestärken, näherte sich direkt dem Schwimmer. Die drei Blätter des rasenden Propellers waren glattgeschliffen wie Messerschneiden. Sie rissen ein elf Meter langes Boot nach vorn und mit dem Bug in die Höhe. Das Boot, nur mit einer Person bemannt, nahm geraden Kurs auf die Stelle, an der hin und wieder, hochgehoben und von den Wellen
Träume des Vergessens zeitweilig verdeckt, der Kopf Chapats zu sehen war. Noch immer peitschten die Schüsse über das Wasser. Aber inzwischen waren mehr als hundert Gäste und Bewohner des Planeten auf die Schießerei aufmerksam geworden. Die planetare Polizei wurde angerufen. Chapat tauchte irgendwann auf, holte tief Luft und versuchte, sich zu orientieren. Aber er sah nur links das Land und geradeaus die Bugwelle und die nach beiden Seiten weit sprühenden Gischtwolken des messerscharfen Bootsbugs. Der neue Verfolger näherte sich von vorn. Chapat war verloren. Er schwamm wie ein Rasender und versuchte links das Ufer zu erreichen, ehe ihn der Propeller des Bootsmotors zerfetzte.
* Elf Uhr nachts. Atlan bremste den Gleiter ab, zog ihn scharf nach rechts und fuhr auf den erleuchteten Vorsprung zu, der wie eine Klippe aus Stahl und Milchglas aussah. Der Vorsprung war ein Restaurant mit Bar, befand sich dreitausend Meter vor der Stadtgrenze Herievas und erhob sich auf einer zweiten Klippe aus Granit hoch über die Felsen. Die Steine und Klippen zwanzig Meter unterhalb der Terrasse wurden von der donnernden und sprühenden Brandung in weißen Schaum getaucht, auf dem das Licht der Sterne schimmerte. Atlan blieb, nachdem er die Maschine abgestellt hatte, einige Zeit im Sitz des offenen Gleiters sitzen. Es war eine milde, wolkenlose Nacht. Ringsherum zirpten Insekten mit den Geräuschen von terranischen Grillen. Die Sterne waren klar zu sehen. Atlan legte den Kopf in den Nacken und blickte einige Sekunden senkrecht in den Sternenhimmel der Galaxis. Denk genau nach! Wie würdest du vor fünfzehntausend Jahren reagiert haben? Damals, als du jung und unerfahren warst? Er-
29 innere dich an Fartuloon, den Bauchaufschneider! Wohin ist Chapat geflüchtet? Der Arkonide horchte auf die Stimme seines Extrasinns. Er versuchte, dieser Aufforderung nachzukommen. Er stellte sich vor, wie ein verwirrter junger Mann handeln würde, wenn er aus diesem riesigen Schiff flüchtete. Atlan versuchte mit aller Kraft seiner Gedanken und seiner Erfahrung, die in diesem Moment nur bedingt zu gebrauchen war, sich in die Lage Chapats zu versetzen … Lautlos und angestrengt dachte er nach. Etwa eine Viertelstunde lang. Die Enttäuschung eines jungen Mannes. Tief und gravierend. Dazu eine gewisse Naivität, die sich auf die fremde Umwelt bezog. Das bedeutete, daß ein Flüchtender in Chapats Situation bestrebt sein mußte, zwischen sich und den Ort der Gefahren eine möglichst weite Entfernung zu bringen. Eine breite Gleiterpiste führte vom Raumhafen zur Stadt. Auf eine noch zu klärende Weise würde sie Chapat benutzt haben. Nicht zu Fuß, sondern mit einem Gleiter. Privatgleiter? Nein! rief der Extrasinn mitten in die Gedanken hinein. Nur ein Robotfahrzeug kommt in Frage. Denke an die verschiedenen maschinellen Systeme dieser Art. Atlan zog den Impulsschlüssel aus dem Schloß und ging, sich noch immer mit der vermutlichen Fluchtrichtung seines »Sohnes« beschäftigend, auf die Bar zu. Er handelte ziellos, und er wußte noch lange nicht, was er tun sollte. Zwei Dinge standen für ihn indessen unumstößlich fest: Erstens: Chapat war in Lebensgefahr – oder er lebte inzwischen nicht mehr. Eine Alternative dazu war, daß man ihn eingefangen und ins Schiff gebracht hatte. Würde er dort nachfragen, würde er ausweichende Antworten erhalten. Zweitens: Chapat trieb sich irgendwo im Umkreis der Stadt herum. Nach Zharadins Aussage besaß Chapat keinen Soli. Er würde, instinktiv wie ein junges Tier handelnd,
30 kaum das Zentrum der Stadt aufsuchen. Dort fiel er auf und würde für die Leitung der TRAUMPALAST ein sehr leichtes Problem sein. Atlan verbrachte eine Stunde damit, dieses Problem von allen Seiten zu betrachten, zu drehen und zu wenden. Warum alarmierst du nicht deine USO? Er gab sich selbst die Antwort. Es war sein Sohn und nicht das Kind seiner Organisation. Außerdem war es alles andere als klar, ob es wirklich sein Sohn war. Dieses Problem mußte er ganz allein klären, denn er war sich selbst gegenüber Rechenschaft schuldig. Atlan lehnte an der Bar, trank langsam und in Grenzen, schwieg und sah sich, während er in seinen Überlegungen den vermutlichen Fluchtweg dieses jungen Mannes nachvollzog, im überfüllten Raum um. Hier gab es nichts, was ihn persönlich betraf; abgesehen vielleicht von einer Handvoll gut aussehender Touristinnen und einem verblüffend guten Wandgemälde, das offensichtlich von einem Künstler angefertigt worden war. Schließlich, gegen Mitternacht, war er mit seinen Überlegungen fertig – und wußte, daß er diese Nacht nichts mehr würde erledigen können. In seinem Hotelzimmer angekommen, führte er sicherheitshalber ein Gespräch mit der Polizei der Stadt. Was ihm der Beamte sagte, alarmierte ihn! Schüsse in der Bucht des betrunkenen Strandläufers. Die meisten Zonen hatten solche Bezeichnungen. Es war das einzige Vorkommnis dieser Art an diesem Tag. Atlan überlegte minutenlang, nachdem er sich bedankt und den Kontakt unterbrochen hatte, ob er diese Stelle aufsuchen sollte, aber er entschloß sich, bis zum Morgengrauen zu warten. Dann legte er sich ins Bett und schlief fünf Stunden. Nach einem kurzen Frühstück machte er sich auf den Weg. Er suchte nach Spuren, die mit Sicherheit längst verwischt waren.
Hans Kneifel
* Einige Augenblicke lang überfiel die Panik Chapat. Er riß sich zusammen und führte einige schnelle, kraftvolle Schwimmbewegungen aus. Wieder dampfte neben ihm ein Wellenkamm auf. Er tauchte weg, kam wieder hoch, auf der anderen Seite einer Welle. Das Brausen und Gurgeln des aufgewühlten Wassers schlug an sein Ohr. Das Boot schlingerte durch die Wellen und kam direkt auf ihn zu. Der Bug wirkte wie eine Messerschneide. Chapat holte Luft. Wieder schossen die Verfolger hinter ihm her, aber kein einziger Schuß traf ihn. Ringsherum brodelte und kochte das Wasser auf. Der schnittige Bug kam näher, ragte hin und wieder hoch aus dem Wasser und schlug wieder schwer hinein. Gischt spritzte nach beiden Seiten. »Halt! Bleiben Sie ruhig! Ich hole Sie heraus!« schrie eine helle Stimme. Chapat trat Wasser und holte aus. Er schob seinen Oberkörper fast einen halben Meter hoch aus dem Wasser. Das Boot umrundete ihn halb und setzte wieder schwer in die Wellen ein. Die Bordwände schoben sich zwischen den Strand und den schwimmenden Mann. Chapat warf seinen Kopf in den Nacken. Das nasse Haar schlug aus seinem Gesicht. Er schaute schräg nach oben und sah ein Mädchen, das eben eine Badeleiter über die Bordwand kippte. »Halten Sie sich fest! Schnell!« Die Schraube bewegte sich nicht mehr, das Boot und Chapat wurden von den Wellen gehoben und wieder nach unten gedrückt. Chapat griff nach den Trittstufen und krümmte seinen Körper zusammen. Sein rechter Fuß berührte die unterste Sprosse. Er zog sich hoch und fiel nach vorn ins Boot. Eine dicke, federnde Unterlage fing seinen Sturz ab. Er fand sich auf einem Schaumpol-
Träume des Vergessens ster wieder. »Sie schießen noch immer. Festhalten!« sagte das Mädchen und kuppelte ein. Chapat, triefend naß und erschöpft, wurde auf der weißen Plattform nach hinten gewirbelt und krachte mit Knien und Schultern gegen die Heckwand. Das Boot bäumte sich hoch auf, drehte in einer engen Kurve und raste binnen fünfzehn Sekunden springend und hart schlagend über die Wellen. Das Heck deutete zum Ufer. Die Menschen auf den Stegen und auf den anderen Booten sahen noch immer herüber und winkten aufgeregt. In dem Boot stand das Mädchen mit durchfedernden Beinen da. Sie trug nichts anderes als die Andeutung eines Pullovers und eine enge, weiße Hose. Hinter dem Schiff kochte das Wasser in einem Dreieck auf. Zwei Bugwellen und die Heckwelle vereinigten und überschnitten sich. Das Boot wurde schneller und fuhr in einem weiten Bogen hinaus auf das offene Meer. Ein kühler Wind kam auf; die Sonne berührte den Horizont. Chapat lag einige Zeit bewegungslos da, atmete keuchend und begann zu frieren. Als das Boot die jenseitige Halbinsel mit ihren vorspringenden Felsen umrundet hatte, breitete sich vor ihm die riesige, geschützte Bucht von Herieva und Umgebung aus. Chapat richtete sich auf und strich sein triefendes Haar aus der Stirn. »Danke!« sagte er laut gegen das starke Summen des Doppelmotors. Das Mädchen drehte sich um und riß die Augen weit auf. »Nichts zu danken. Sagen Sie … Sind Sie nicht Atlan, der Arkonide?« Chapat schüttelte den Kopf. Er war verwirrt. »Ich heiße Chapat. Ich bin nicht Atlan.« Abermals setzte das Mädchen die Geschwindigkeit des Bootes herauf. Sie verließen den Bereich der höheren Wellen und kamen in das ruhige Fahrwasser der großen Bucht von Herieva. Die Wasserfläche war fast völlig unbewegt. Das Boot nahm einen Kurs, der es quer über die Bucht führte. Jetzt
31 hatte es sich fast ganz aus dem Wasser gehoben und berührte nur mit dem letzten Teil des Hecks das Wasser. Eine breite Bahn aus weißem Gischt breitete sich aus. Es gab um diese Zeit kaum noch andere Boote hier vor den Strandhäusern und den kleinen Hafenanlagen. Einige Leuchttürme begannen, ihre abgehackten Lichtmuster auszusenden. Das Mädchen bewegte einige Schalter und aktivierte den Autopiloten. Dann kam sie in den Knien federnd auf Chapat zu, hielt sich aber mit einer Hand an der Seereling fest. Sie blickte ihn rätselvoll ins bronzefarbene Gesicht. »Sie sind geflüchtet, nicht wahr?« »Ja«, sagte Chapat und sah ihr offen in die Augen. »Die Leute aus dem Schiff haben mich betrogen. Sie stahlen mir mein IschtarMemory.« Sie nickte, obwohl sie nur einen Teil verstand. »Ich bin Kerilla. Kerilla Vhotan. Warum haben sie auf dich geschossen?« Chapat zog langsam sein nasses Hemd aus und drückte das Wasser aus dem langen weißen Haar. »Mein Memory. Es ist kostbar. Für mich und die anderen. Es enthält das Erbe meiner Mutter.« Sie setzte sich neben ihn und deutete auf den Niedergang. »Du bist also kein Verbrecher oder so etwas?« »Nein«, sagte er. »Ich bin arm und habe nichts anderes als das Memory und die Kleider. Sie haben mich verfolgt, um mich zurückzubringen. In der TRAUMPALAST würden sie mich einsperren oder töten. Die Männer um Alfo Zharadin sind alles Verbrecher.« »Dort unten findest du Handtücher und Pullover, vielleicht auch eine trockene Hose. Du mußt dich verstecken?« »Ja, ich muß mich verstecken. Willst du mir helfen, Kerilla?« Sie nickte. »Ja. Kennst du Atlan? Du siehst fast genauso aus wie der Arkonide.«
32 »Ich kenne ihn nicht, aber Zharadin scheint Angst vor einem Mann zu haben, der diesen Namen hat.« »Begreiflich!« erwiderte Kerilla trocken. »Wir sind gleich beim Kanal.« Chapat machte sich im Augenblick keinerlei Sorgen. Er war in Lebensgefahr geraten und gerettet worden. Dieses Mädchen hatte er noch niemals gesehen. Sie gehörte nicht zu Zharadin und seinem Schiff. Langsam turnte er nach unten, trocknete sich ab und zog sich um. Das Boot raste noch immer über das Wasser und auf den weit hinaus auf die Felsen gebauten Leuchtturm zu. »Wohin bringst du mich?« fragte er, als er neben dem Steuerstand saß und ihr zusah, wie sie das Boot wieder hinaus auf das rauhe Wasser steuerte. Er mußte laut rufen, um sich verständlich zu machen. Er sah Kerilla in die Augen; sie hatte gute, ehrliche Augen. »In meine Jagdhütte. Ich habe Touristen herumgefahren und fahre jetzt zurück. Warum siehst du Atlan so verdammt ähnlich?« »Ich weiß es nicht.« Chapat war jetzt ruhig und nur noch hungrig. Die Verfolger waren weit hinter ihm und hoffnungslos abgeschlagen. Er würde einige Tage lang Ruhe haben. Er sah nun das Mädchen genauer an. Im letzten Licht des Tages wirkte ihr Gesicht entspannt und weich. Kerilla hatte dunkelbraunes Haar mit ein paar blauen Strähnen darin, ganz kurz geschnitten. Große Augen, eine kleine Nase und ein gutgeschnittener Mund. Ihre Haut war dunkelbraun und wie Samt. Es war die Farbe eines Menschen, der häufig der Sonne ausgesetzt war. Ihr Körper war groß und schlank und mit aufregenden Rundungen. Chapat hob die Schultern und hielt sich fest, als das Boot wieder rauhes Wasser erreichte. »Wenn du mich auch betrügst, bringe ich dich um!« versicherte er plötzlich übergangslos. Kerilla lachte auf und drehte den Kopf. Links vom Boot zog der Schaft des glänzenden Leuchtfeuerturms vorbei. Die
Hans Kneifel letzten Häuser verschwanden, der Wald am Ufer wurde dichter. »Der Kanal?« fragte Chapat. Sein Magen knurrte. Seine Lippen schmeckten noch immer salzig. »Ja. Ein kleiner Fluß. Brackwasser. Ich wohne in der Nähe. Du kannst ganz sicher sein, daß ich dich nicht verrate. Vielleicht hören wir etwas in den Abendnachrichten.« Das Boot wurde in einer scharfen Linkskurve auf die Flußmündung zugesteuert, glitt aus der rauhen Fahrt wieder in ruhiges Wasser und raste dann im Zickzack den Flußlauf hinauf. Chapat wurde müde und unaufmerksam. Er schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als das Boot langsamer wurde und auf einen kleinen Steg zutrieb. Kerilla stellte eine Maschine ab und sagte scharf: »Hilf mir bitte, das Boot zu belegen. Raus auf den Steg, und die Tampen um die Poller.« Irgendwie begriff Chapat, und wenige Minuten später lag das Boot sicher vertäut längsseits des Steges. Kerilla Vhotan kam herauf. Chapat zog sie an einer Hand hoch. Sie trug seine nasse Kleidung und eine große Tasche mit allerhand Utensilien. Es ging zweihundert Stufen aufwärts durch dichtes Gesträuch und niedrigen Wald, dann schob sich, nahezu überwuchert von vielfarbigen Pflanzen und Blüten, ein kleines Elementhaus aus der Dunkelheit. »Hier sind wir!« sagte Kerilla. »Wie lange mußt du dich verbergen, Chapat?« Der junge Mann, der Atlan angeblich so ähnlich sah, zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Du mußt mir helfen.« Sie schloß die Tür auf und deutete ins Innere. Lichter schalteten sich ein und zeigten einen riesigen Raum, der in vier verschiedene Zonen eingeteilt war. Chapat trat ein und fühlte sich augenblicklich geborgen. Farben, Strukturen der Teppiche, Stoffe und Möbel beeindruckten ihn und vermittelten ihm sofort das Gefühl der Ruhe und der Entspan-
Träume des Vergessens nung. Hinter ihm schloß sich die Tür. »Das Bad ist einen halben Stock tiefer. Ich mache uns etwas zum Essen und gebe deine Kleidung in die Maschinen. Der Robot bringt sie dir. Gut eine halbe Stunde?« Chapat lehnte sich unschlüssig und ein wenig verwirrt an die Wand. Er war es nicht gewohnt, daß ihm jemand grundlos Vertrauen und Sympathie entgegenbrachte. Unsicher starrte er Kerilla an und fragte leise murmelnd: »Warum tust du das alles? Warum hilfst du mir? Du kennst mich überhaupt nicht, Kerilla?« Sie lachte etwas verlegen auf. »Vielleicht findest du es heraus. Atlan, dein unbekannter Doppelgänger, war mein Jugendschwarm.« »Ich verstehe nichts!« »Das macht nichts. Nimm ein Bad und freu dich auf ein gutes Abendessen.« Sie zeigte ihm den Weg und wie man die Hebel und Knöpfe bediente, dann ließ sie ihn allein. Nachdem sie ihm versichert hatte, daß sie hier völlig ungestört und sicher wären, schloß sie die Tür des Bades und ging die Treppe hinauf, um das Essen vorzubereiten.
* Sie starrten sich einige Minuten lang schweigend an, dann sagte Zharadin mit seiner hellen, scharfen Stimme: »Es wird schwierig. Entweder handeln wir, oder man treibt uns in die Defensive, Sassu!« Der Wissenschaftler, der einen halben Tag lang hart gearbeitet hatte, warf seinen durchgekauten Zigarrenstummel in den riesigen Aschenbecher und erwiderte: »Ich habe geschuftet. Ich weiß nicht, was außerhalb des Schiffes passiert ist. Sagen Sie es mir, und ich werde entscheiden, ob ich abfliege oder weitermache. Ich bin mit dem Memory recht gut weitergekommen. Es arbeitet. Ich habe beim erstenmal zuviel Kraft auf die Trägerströmungen gegeben.«
33 Zharadin hob in einer dramatischen Geste beide kurze Arme und rief schrill: »Chapat ist ausgerissen. Meine Polizisten haben ihn verfolgt. Einen von ihnen hat er fast zu Tode gewürgt, und dann fischte ihn ein Boot aus dem Wasser. Und dann tauchte hier ein Mann auf, der mir irgendwie bekannt vorkam. Er sucht nach Chapat. Angeblich nur ein flüchtiger Bekannter, aber er tritt auf wie Perry Rhodan, wenn er übermütig ist.« »Sieht ungünstig aus!« knurrte Sassu. »Das Memory ist bei mir im Safe eingeschlossen.« »Gut. Das Geschäft heute abend und nacht ist hervorragend. Viele Gäste, und die meisten bevorzugen die teuren Träume und Illusionen. Wie weit sind Sie mit Ihrer Arbeit?« »Ich habe stundenlang diesen komischen Kreisel getestet. Er liefert ganze Programme in seltener Intensität. Aber es wird gefährlich, wenn man ihn stark einsetzt. Die Impulse, die dieses Ischtar-Memory abgibt, müssen gewaltsam gedrosselt werden.« »Das ist weitgehend Ihr Problem. Können wir in naher Zukunft dieses Gerät einplanen?« »Nicht heute, nicht morgen«, erklärte Sassu und holte aus seiner Brusttasche eine neue Zigarre. »Aber vielleicht in zehn Tagen. Vielleicht sogar früher. Ich habe die Sache noch nicht ganz im Griff. Wir brauchen einige Freiwillige.« »Vielleicht kann ich sie Ihnen beschaffen. Zehn Männer sind auf den Spuren von Chapat. Im Augenblick sieht es ungünstig aus, aber Herieva und Broelgir sind nicht besonders groß.« Sassu zündete seine Zigarre an und wunderte sich. Dieser Zwerg kämpfte seit Jahren gegen sich, seine eigene Natur und auch gegen alles, was sich ihm entgegenstellte. Zharadin würde gegen das Universum angehen, wenn es notwendig wurde. Widerstand stachelte ihn an. Schaden und Niederlagen trieben ihn zur Größe. Er war ein Sonderfall. Der Aufenthalt des Schiffes auf dem Raum-
34 hafen der Kolonie Broelgir war vom Erfolg abhängig, und wenn Sassu hinüber zu den graphisch angezeigten Einnahmen jeder einzelnen Stunde blickte, de blickte, wußte er, daß Alfo Zharadin ein hervorragendes Geschäft machen würde. Und auch er würde gut abschneiden. Er entschloß sich, dieses Problem mit mehr Energie und größerem Einsatz anzugehen. »Dieser Fremde, der sich nach Chapat erkundigte«, fragte Sassu, »was haben Sie darüber zu sagen?« Zharadin schnippte mit den Fingern. »Ich kenne ihn. Irgendwoher, ich bin nicht sicher. Er ist groß und selbstbewußt, und er sieht jemandem ähnlich, den ich genau kenne. Ich weiß nur nicht, wer es sein kann. Ich habe zwei Männer angesetzt, doch sie haben seine Spur verloren. Aber er wird wiederkommen. Er sucht Chapat. Wer Chapat sucht, geht auf Broelgir nicht verloren.« »Sie erwarten ihn?« Wieder kicherte der fette, weißhäutige Mann und entblößte seine Zähne zu einem bösartigen Grinsen. »Wer immer es ist, ich erwarte ihn. Ich bin gerüstet und habe mir alle meine Schachzüge sehr genau überlegt. Eines ist sicher, und das zu Ihrer Beruhigung: Sie sind sicher in diesem Schiff und in meiner Nähe.« »Das ist die Voraussetzung für meine weitere Arbeit.« »Sie sagen es. Wann sind Sie soweit?« Sassu stand auf und hob die Schultern. Er war unsicher und ahnte für die nächste Zeit gewaltige Schwierigkeiten. Andererseits vermittelte ihm die harte Selbstsicherheit des kleinen Mannes den Eindruck, im Schiff ungefährdet zu sein. Nur eines fürchtete er: die United Stars Organisation. Wenn sie zuschlug, dann waren die Stunden der TRAUMPALAST gezählt. »In einigen Tagen. Ich arbeite für mich, und ich arbeite schnell. Ich melde mich wieder, wenn ich das Ischtar-Memory richtig einsetzen kann.« »In Ordnung. Brauchen Sie etwas, Dok-
Hans Kneifel tor?« Sassu schüttelte den Kopf. Die Asche seiner Zigarre fiel auf den wertvollen Teppich. »Ich habe alles, was ich brauche. Halten Sie mir Störungen vom Leib, Alfo.« »Alles klar!« Alfo hob die kleine Hand mit den dicken Fingern und winkte aufmunternd. Dann, als sich die Tür geschlossen hatte, widmete er sich wieder den Einnahmen und den Aufnahmen derjenigen Gäste und Kunden, die vermutlich süchtig geworden waren. Der Anteil war überraschend hoch. Alfo kicherte lautlos, als er die Zahlen addierte.
8. Auch bei seinem zweiten Visiphongespräch mit der örtlichen Polizeistation nannte er seinen richtigen Namen nicht. Er gab sich als interessierter Bekannter eines flüchtigen Mannes aus und erhielt eine mehr oder weniger umfassende Schilderung des Vorfalls in der Bucht, wie ihn die unzuverlässigen Zeugen gegeben hatten. Den Namen des Bootes, in das der schwimmende Flüchtling umgestiegen war, konnte er nicht erfahren. Auf seine diesbezügliche Frage sagte man ihm, daß solche Boote auf Broelgir in großer Menge vorhanden waren. Niemand hatte Nummer oder Namen erkannt. Atlan dankte und trennte die Verbindung. Er ging hinaus auf die Terrasse seines Apartments und setzte sich in den Schatten. Seine Überlegungen sagten ihm, daß es für ihn sinnlos sein würde, auf diesem Planeten den offiziellen Weg zu versuchen. Die Polizei ging diesen Weg, und sie war trotz ihrer Kenntnis von Herieva und Umgebung nicht weitergekommen. Du kennst das Schema! Du mußt es Schritt nach Schritt versuchen, Arkonide. Erinnere dich an die vielen Male in deinem Leben, wo du mit diesen Versuchen Erfolg gehabt hast. Es geht um die Gewißheit, ob Chapat dein Sohn ist – oder nicht! drängte der Extrasinn. Atlan trank langsam seinen Kaffee aus
Träume des Vergessens und dachte über den Weg der nächsten Tage nach. So wie er hatten sich – das stand für ihn fest – auch Männer aus der Truppe des gierigen weißhäutigen Mannes auf den Weg gemacht und spürten Chapat nach. Was immer es war, dieser blaue Kreisel, den Chapat besessen haben sollte … es mußte für Zharadin einen ungeheuren Wert darstellen. Methodisch suchte Morris alias Atlan zusammen, was er brauchte. Nicht die Intelligenz der anderen Verfolger fürchtete er, sondern deren Zahl. Die Zeit begann zu drängen. Er mußte Chapat finden. Möglichst schnell! wisperte das Extrasinn. An der Rezeption zahlte Atlan für einige Tage; er wollte nicht in zusätzliche Schwierigkeiten geraten, falls er nicht mehr rechtzeitig ins Hotel zurückkam. Dann kletterte er in den Mietgleiter und steuerte sein erstes Ziel an. Es war acht Uhr morgens: Vorsichtig schob Atlan einen Zweig vor seinem Gesicht zur Seite und sah sich um. Abgesehen von den natürlichen Geräuschen des Waldes herrschte eine wunderbare, kühle Stille. Die Sonnenstrahlen hatten diesen Bereich des Ufers noch nicht erreicht. Mit allen seinen Sinnen konzentrierte sich der Arkonide, die flache Waffe in der rechten Hand, auf die Umgebung. Nichts! Niemand hier! beruhigte ihn die innere Stimme. Er trat auf den feuchten Sand hinaus, kletterte über den Ring aus Schwemmgut und sah die vielen Spuren, die von der Brandung nicht erreicht und verwischt worden waren. Fußabdrücke, die Spuren eines rennenden Mannes, eines anderen, der ihn verfolgte, die Abdrücke von Körpern. Dann andere Reihen von Spuren, die sich gegenseitig überschnitten. Je länger Atlan diesen Teil des Strandes betrachtete und sich vorstellte, was geschehen war, desto unruhiger wurde er. Chapats Spur riß genau an der Stelle ab, an der die Ausläufer der Brandungswellen den Strand gereinigt und begradigt hatten. Plötzlich spürte Atlan Angst. Er war einen
35 Augenblick lang absolut sicher, daß Chapat sein Sohn war. Dort endete seine Fußspur, ein verwischter Abdruck eines Fußes. An anderen Stellen suchten Zharadins Leute nach ihm. Atlan zuckte zusammen, drehte sich schnell um und ging zurück zum Gleiter. Er wurde immer schneller und als er die Maschine am Ende eines schmalen Weges stehen sah, rannte er fast. Er warf sich in den Sitz, startete die Maschine und raste über die schmalen Pfade hinunter zum größten und am weitesten hinausragenden Steg. Wimmernd bremsten die Vorausfelder den Gleiter ab. Atlan schwang sich auf die feuchten, glänzenden Bohlen und lief auf die Gruppe von Hobbyfischern, Bootsbesatzungen und Mechanikern zu, die gerade ihre Ausfahrt vorzubereiten schienen. Er rutschte auf zwei Fischer mit blauen Kappen zu und klammerte sich am Geländer fest. »Guten Morgen«, sagte er und musterte die teils gleichgültigen, teils interessierten Gesichter der rund zwanzig Umstehenden. »War jemand von Ihnen gestern abend kurz vor Sonnenuntergang hier?« »Polizei?« rief ein Techniker aus einer offenen Maschinenluke. »Sie waren doch schon ein paarmal bei uns?« »Nein«, erwiderte Atlan ungeduldig. »Ich bin vermutlich mit dem Verfolgten bekannt. Er ist, das weiß ich ganz genau, unschuldig und in Lebensgefahr. Ich gehöre nicht zu seinen Verfolgern.« »Keine Ahnung!« war eine Antwort aus der Gruppe. »Keiner von uns weiß, welches Boot ihn aufgefischt hat. Keines von unserer Crew.« Jetzt griff Atlan ein und fragte in einigen methodischen Schritten. »Es war kein Boot, das häufig hier ist. Also ein schweres – wie ich von der Polizei erfahren habe –, das selten hier verkehrt.« »Mit Sicherheit. Es fuhr in diese Richtung!« Atlan drehte sich um und sah den silberleuchtenden Turm des Küstenfeuers fast am
36 Horizont. »Dorthin. Mit dem aufgefischten Flüchtling?« »Ja. Das haben wir dem Polizisten auch gesagt. Die Männer am Ufer schossen wie verrückt hinterher, aber der Schwimmer und das Boot waren zu weit entfernt. Ich meine, als der Mann einstieg.« »Haben Sie gesehen, daß es ein Mann war?« »Ja!« Ein Steuermann gab diese Antwort. »Und im Boot schien auch ein Mann zu stehen. Jedenfalls hatte diese Person kurzes Haar. Mehr sah ich nicht in der Eile. Ich …« »Ausgezeichnet!« gab der Arkonide zurück. »Angenommen, Sie würden einen Flüchtenden bergen und sich mit ihm verstecken müssen. Wohin würden Sie fahren?« Um Atlan hatte sich eine Gruppe gebildet. Die Männer hatten jetzt etwas Neues. Inmitten des Urlaubs solche Aufregungen, und auch noch die Möglichkeit, bei der Aufklärung einer dramatischen Aktion mitzuarbeiten, das faszinierte alle Männer. »Wissen Sie, dort hinten an der Küste, auf der anderen Seite der Herieva-Bucht, gibt es Hunderte von privaten Häusern. Sie sind sehr alt, teilweise nicht mehr zu sehen.« »Mit einem Boot zu erreichen?« Ein Mann zündete sich und seinem Nachbarn Zigaretten an. Ein anderer bot Atlan einen Schluck aus der flachen Taschenflasche an. »Danke. Gibt es viele jener Häuser, die man mit einem schweren Boot dieses Typs erreichen kann?« »Alle am Ufer der nächsten Bucht!« Atlan fragte mehr und mehr. Langsam gelang es ihm, die möglichen Plätze einzuengen. Er bedankte sich nach einer Stunde und wußte, daß ihm eine lange und schwierige Suche bevorstand. Sie kostete viel Geld, was ihm völlig gleichgültig war, und viel Zeit; ein Faktor, der immer wichtiger wurde, je höher die Sonne stieg. »Und wo kann ich ein gutes Boot mieten?« Der Besitzer eines schweren, leuchtend
Hans Kneifel gelben Bootes mit auffallenden schwarzen Querstreifen hob den Arm. »Ich bin frei. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie überall hin. Es ist eilig, nicht wahr?« Atlan nickte und deutete auf seinen Gleiter. »Ich bringe nur die Maschine an einen Parkplatz. Wir können sofort starten!« Keine fünf Minuten später saß Atlan neben dem Piloten des mittelgroßen Bootes. Die Maschinen brummten auf, hinter dem zurückschnellenden Tau bildeten sich weiße Schaumwirbel, und der Bug hob sich hoch aus dem Wasser. Dann stürmte das Gleitboot auf den fernen Leuchtturm zu. Es war fast zehn Uhr.
* Chapat erwachte und öffnete die Augen. Schräge Lichtbalken fielen durch ein raumhohes Fenster. Er fühlte sich ausgeruht, ausgeschlafen und völlig sicher. Langsam stemmte er sich hoch und sah sich um. Die halbdurchsichtigen Vorhänge zeigtendas Pflanzengewirr außerhalb des Hauses. Chapat hörte ruhige Atemzüge neben sich, drehte den Kopf und sah Kerilla, die jetzt aufwachte und ihn anlächelte. »Unruhig?« fragte sie undeutlich und gähnte. Ihr braunes Haar schimmerte. Sie lagen in einer riesigen Schlafgrube in einer Ecke des Raumes, angefüllt mit Kissen und umgeben von leerem Geschirr, Gläsern, Interkomen und einem überfüllten Aschenbecher. »Ein bißchen«, gab er zurück. »In deiner Nähe fühle ich mich sicher.« Sie richtete sich auf. Die Decke fiel von ihren Schultern. In der vergangenen Nacht hatte er ihr eine Geschichte erzählt, die derartig verworren und phantastisch geklungen hatte, daß es keine andere Möglichkeit gab: Sie mußte Wahrheit sein. Die Erzählung war nicht das einzig Verworrene in dieser Nacht gewesen; Chapats Beziehungen zum weiblichen Geschlecht waren noch nicht ganz ausgeprägt gewesen. Jetzt hatte sich dieser Um-
Träume des Vergessens stand entscheidend geändert. »Ich nehme an, du bist hungrig?« fragte sie und reckte sich. »Ein bißchen. Ob sie noch hinter mir her sind?« Vom ersten Augenblick an, als er sich mit kraftvollen Bewegungen triefend die Badeleiter hochgezogen hatte, faszinierte er sie. Die Nacht hatte nichts von dieser einzigartigen Stimmung genommen. »Ich glaube, ich muß ins Schiff zurückkehren!« sagte er plötzlich und schwang sich aus der Grube. Er blieb zwischen den leergetrunkenen Gläsern sitzen und legte sein Kinn auf die Knie. »Bist du verrückt, Chapat?« erkundigte sie sich und lehnte sich in die Kissen zurück. »Ich habe heute keine Arbeit, und du bist vor ein paar Stunden knapp dem Tod entkommen. Du hast selbst gesagt, daß sie dich im Schiff umbringen!« Sie sah ihn verblüfft an und schüttelte langsam den Kopf. »Es ist nicht wegen mir«, erklärte Chapat stockend. »Es ist wegen … wegen des Ischtar-Memorys.« Er hatte Vertrauen zu ihr gehabt. Er hatte es noch, aber es trieb ihn zurück ins Schiff. Alles, was er selbst über den blauen, kleinen Kreisel wußte, hatte er Kerilla Vhotan berichtet. Auch sie hatte ihm das Geheimnis nicht erklären können. »Das Memory ist in den Klauen Zharadins!« sagte Kerilla aufgebracht. »Und du willst ins Schiff? Sie erwischen dich schon mitten in der Arena! Du siehst aus wie Atlan, jeder erkennt dich!« Sie setzte sich mit einem Ruck auf und deutete auf Chapat. Dann murmelte sie, mehr zu sich selbst: »Und du bist genauso männlich wie der Arkonide.« »Wer, verdammt, ist eigentlich dieser Atlan? Ich werde immer mit ihm verwechselt!« rief Chapat. »Es ist der Chef einer Organisation, die sich mit der Aufklärung von interstellaren Vergehen und Verbrechen befaßt. Er ist un-
37 sterblich. Er sieht dir wirklich bemerkenswert ähnlich. Oder du ihm.« »Er interessiert mich nicht. Tust du mir einen Gefallen?« »Soll ich das Memory für dich holen?« erkundigte sie sich ironisch. »Nein. Fährst du in die Stadt?« »Ja, ganz kurz. Ich muß einkaufen und etwas wegen der neuen Ladung Touristen erledigen.« Er schwieg. Deutlich sah sie, wie er mit sich kämpfte. Oder vielmehr, »es« kämpfte etwas in ihm. Deutlich unterschied er zwischen der vernünftigen Lösung seines augenblicklichen Problems und der halbverrückten Möglichkeit, die er versuchen mußte. Aber es zwang ihn, ins Schiff zu gehen und das Memory zu holen. Er hob den Kopf, sah Kerilla fast flehend in die Augen und murmelte: »Willst du aus der Stadt etwas für mich mitbringen? Ich hole das Memory und komme dann zurück zu dir. Wenn ich das Memory habe, bin ich frei und unabhängig. Ich will bei dir bleiben.« Er lächelte unsicher und setzte dann zögernd hinzu: »Falls du mich brauchen kannst. Und haben willst.« Sie stand auf und ging schweigend aus dem Raum. Kurze Zeit später kam sie, in einen knielangen Morgenmantel gekleidet, zurück. »Geht in Ordnung«, sagte sie. »Ich helfe dir, Chapat. Aber zuerst frühstücken wir.« »Du bist lieb«, sagte er und zog sie an sich.
9. Das Boot verringerte seine Fahrt, der Bug setzte schwer ein, und Gischt spritzte weit nach beiden Seiten. Atlan wurde schwer in den Sitz geschleudert. Er sah nervös auf die Uhr. Nachmittag, sechs Uhr. Das Datum: dreißigster Oktober. Sie hatten inzwischen etwa vierzig verschiedene Punkte angelaufen, hatten sich umgese-
38 hen und gefragt. Niemand wußte etwas. Atlan war überzeugt, die Wahrheit erfahren zu haben. Jedenfalls war hier nirgendwo jemand gesehen worden, der wie der junge Lordadmiral aussah. Das Boot hielt in der Mitte einer kleinen Bucht an. Sie befanden sich jetzt am äußersten Rand der großen Bucht, noch drei oder vier Häuser, und dann lag das weite Gebiet der fast unberührten Natur vor ihnen. Den ganzen Tag über hatten sie die Planetarier und die unzähligen Touristen beobachten können, die sämtlichen Arten von Sport nachgingen, hauptsächlich natürlich dem Wassersport. Die Zeit drängt! In der Nacht geschehen mehr Verbrechen als am Tag! erinnerte der Extrasinn. Atlan drehte sich zum Piloten herüber, der ihm bereitwillig geholfen hatte. Er sagte: »Eine Arbeit für Idioten. Aber zumindest sind wir ziemlich weit gekommen.« »Richtig. Warum interessieren Sie sich eigentlich so sehr dafür, Morris?« Atlan zögerte, überlegte eine Weile und sagte dann: »Können Sie schweigen? Wenn ich Ihnen etwas erkläre, dann darf dies auf diesem Planeten kein Mensch erfahren! Sichern Sie mir Verschwiegenheit zu, und Sie hören die Wahrheit. Oder fast die Wahrheit.« Er ging wenig Risiko ein. Der Mann neben ihm, den er länger als sechs Stunden kannte, gehörte einem bestimmten Typ an. Braungebrannt, etwa sechzig, mit den Spuren tiefer Erfahrung im Gesicht. Harte Hände, sichere Bewegungen, eine gewisse Verschlossenheit, alles Gesichtspunkte, die Atlan für den Skipper einnahmen. »Sagen Sie es, oder lassen Sie es bleiben. Ich helfe Ihnen gern!« war die Antwort, in fast gleichgültigem Ton gegeben. »Dieser Mann ist mit einiger Sicherheit mein Sohn. Ich weiß es nicht eher, bis ich ihn gefunden habe. Außerdem schwebt er in Lebensgefahr, denn diese Schurken aus dem Schiff wollen ihn verschleppen.« Das schlanke Boot driftete seitlich auf den
Hans Kneifel Steg zu. Beide Männer starrten schweigend das Haus an. Es war etwas verwahrlost, und die ganze Umgebung trug die Zeichen der Unbelebtheit. Hier wohnte im Augenblick niemand. Zwei Waldtiere sprangen davon; ein sicheres Zeichen. »Unbewohnt. Zurück!« sagte der Arkonide. »Ich habe einen fürchterlichen Verdacht, Mykal.« »Welchen?« »Daß wir Chapat nicht finden.« Das Boot drehte langsam, dann setzten die Maschinen wieder ein und schoben das Boot aus der Bucht hinaus. Wieder begann eine neue Reihe von Besuchen. Fragen und Antworten, Mißtrauen und Bereitwilligkeit wechselten einander ab, die Minuten und die Stunden vergingen. Als Mykal, der Pilot, inzwischen gähnend und hungrig, den letzten weißen Felsen umrundete, schlug er sich plötzlich vor die Stirn. »Morris!« sagte er laut und schob den Beschleunigungshebel ganz nach vorn. Das Boot begann in der Dämmerung einen rasenden Ritt durch die Wellen. Es sprang meterweit und hüllte sich in einen Nebel aus zerstäubtem Wasser. »Ich bin ein verdammter Narr.« »Übertreiben Sie nicht. Warum?« schrie Atlan und hielt sich krampfhaft fest. Seine Zähne klapperten und seine Knochen wurden durchgeschüttelt. »Ich habe nicht an Kerrie gedacht.« »Was ist Kerrie?« brüllte der Arkonide. »Eine Kollegin. Fährt Gruppen von sieben Touristen zu den besten Plätzen. Haßt Fische und Fischen.« »Was hat das mit uns zu tun?« Vor ihnen flatterte ein Schwarm Wasservögel auf und flog davon. »Kerilla Vhotan hat ein Haus hier hinten. Sehr versteckt! Sie hat es von ihrem Vater geerbt. Ein liebes, zurückhaltendes Mädchen!« Atlan zuckte zusammen. »Sie meinen, sie hat Chapat …?« »Wie?« Atlan wiederholte seine Frage und duckte
Träume des Vergessens sich tief unter die Scheibe. Das Boot erzitterte. Ein kalter Wind kam auf. Die Maschinen rissen den langen Rumpf vorwärts, aber die Wellen machten daraus einen wahnsinnigen Ritt über das Wasser. »Das kann leicht sein. Warten Sie! Sie hat alle zwei Tage eine Tour. Deswegen war sie heute nicht am Steg. Vielleicht hat sie … natürlich!« Sie wechselten einen langen Blick. Die Sonne war halb im Meer versunken und strahlte von achtern ins Boot. Von den Kanten und Einfassungen der Instrumente schienen rotglühende Lichter zu lodern. »Was, natürlich?« Er ist auf einer heißen Spur! Er glaubt, daß dieses Mädchen Chapat aus dem Wasser gezogen hat! schrie der Extrasinn. »Sie hat gestern eine Fuhre Gäste am Steg abgesetzt. Wir waren alle noch draußen oder gerade auf der Heimfahrt. Sie kann es gewesen sein!« schrie Mykal. »Warum habe ich nicht eher daran gedacht. Halten Sie sich fest, wir fahren zu ihr. Es dauert eine halbe Stunde.« »Geht es nicht schneller?« »Nur mit einem Raumschiff!« Eine rasende Fahrt begann, als sich Mykal bückte und eine zusätzliche Maschine aktivierte. Die Vibrationen der Schraubenanlage erschütterten das Boot und versetzten es in langwellige Schwingungen. Jeder Gegenstand begann zu klirren und zu dröhnen. Die drei Schrauben schoben das Boot noch schneller über das Wasser. Die Wellen faßten nach dem Rumpf, der über sie hinwegsprang und alle zehn Meter einsetzte. Das Cockpit krängte schwer nach Steuerbord oder Backbord, und beide Männer wurden hin- und hergeschleudert, hochgehoben und tief in die federnden Sitze geschleudert. In einer flachen Kurve, eingehüllt in Gischt und prasselnden Regen, vollführte das Boot einen weiten Bogen und raste dann in etwas ruhigerem Wasser auf die riesigen, uralten Bäume einer Flußmündung zu. Als dieser wahnsinnige Tanz sich beruhigte, schrie Atlan von Backbord herüber: »Haben Sie Kerilla nach diesem Abend gesehen oder ge-
39 sprochen?« »Nein! Wenn ihr Boot am Steg ist, ist sie auch in ihrem Haus.« Das Boot glitt, ohne seine Geschwindigkeit merklich zu verringern, durch das spiegelglatte Wasser oder besser darüber hinweg. Der Pilot schaltete fünf große Suchscheinwerfer an und strahlte das Fahrwasser und die Ufer der Mündung an. Der Rumpf legte sich gefährlich schräg, als das Boot den Windungen des Flusses folgte, der immer enger wurde. Schließlich drosselte Mykal den Motor, nahm die Fernsteuerung in die Hand und richtete einen mächtigen Balken kreideweißer Helligkeit auf das Boot, das am Steg festgemacht war. »Hier sind wir!« In einer eleganten Kurve legte er an der anderen Seite des Steges an. Atlan sprang mit steifen und schmerzenden Muskeln auf die Balken hinauf und registrierte verwundert, daß es plötzlich viel wärmer geworden war – ein Trugschluß, denn der Fahrtwind hatte aufgehört. Mit plötzlicher Ruhe sagte der Pilot: »Kerilla ist da. Gehen wir gemeinsam, oder ziehen Sie es vor, allein hinaufzugehen, Morris?« Atlan half, das Boot zu belegen, und entgegnete: »Kommen Sie bitte mit. Sie sind bekannt, ich bin es nicht.« Mykal nickte und sprang an Land. Zusammen gingen sie den Steg entlang und die Stufen hoch. Schließlich standen sie vor einer geätzten Stahlplatte. Nach einem fast unmerklichen Zögern ergriff er einen antik gestalteten Türklopfer und betätigte ihn. »Sie ist drin!« murmelte Mykal. »Hoffentlich finden Sie, Morris, was Sie suchen.« Die Tür öffnete sich einen Spalt. Atlan blickte in die großen Augen eines jungen Mädchens. Es hatte kurzes Haar; einer der Männer am Steg hatte richtig beobachtet. Ihm entging in diesem Augenblick nichts. Das Mädchen schien geweint zu haben. Die Mutlosigkeit und die Resignation
40 erfaßten den Arkoniden binnen einer einzigen Sekunde. Schweigend starrten sie sich an: das junge Mädchen, das für kurze Zeit versucht hatte, etwas Glück festzuhalten, und der uralte Mann, der aussah, als sei er jünger als vierzig, und der fast alles erfahren hatte, was das Leben zwischen den Sternen bot. Dann fragte er mit rauher, stockender Stimme: »Chapat ist weg, nicht wahr?« Sie nickte. Sie sah ihn an und begriff, daß er keiner der Männer war, vor denen sich Chapat fürchtete. »Ja. Vor zwei Stunden. Er ist zum Schiff. Kommen Sie rein. Und du, Mykal … was hast du …?« Die Tür öffnete sich. Verlegen kamen die beiden Männer ins Haus und wurden in den großen Zentralraum geführt. Mykal knurrte: »Wir suchen seit Sonnenaufgang denjenigen, der diesen Chapat aus dem Wasser gefischt hat.« »Ich war derjenige«, sagte sie. »Einen Drink?« Atlan blickte kurz auf die Uhr an seinem Finger und schränkte ein: »Die Zeit ist wahnsinnig knapp. Einen guten Cognac, und bitte, berichten Sie, was vorgefallen ist. Wohin wollte er?« Ins Schiff, du Narr! Steh hier nicht herum! Handle! dröhnte der Extrasinn laut. »Er wollte hierher zurückkommen. Er bat mich, nicht mitzugehen!« sagte Kerilla und füllte in drei große Gläser jeweils drei Finger hoch Cognac ein. Sie war allein. Aus den unsichtbaren Lautsprechern kam melancholische Musik. »Zurückkommen?« fragte Atlan und sah über den geschliffenen Rand des Glases das Mädchen scharf an. »Ja. Er mußte ins Schiff. Er war unruhig wie ein Kranker, der irgendwo Heilung sucht. Er wollte ein Ding, das er IschtarMemory nennt, holen und zurückkommen. Dann wäre er frei, sagte er.« Atlan nahm einen tiefen Schluck. »Das ist richtig. Und er … ist er so wie er war, ins Schiff gegangen? Wie kommt er ei-
Hans Kneifel gentlich dorthin?« »Ich holte verschiedene Gegenstände aus der Stadt und brachte ihn mit dem Gleiter an die Röhrenbahnstation. Jetzt etwa wird er im Schiff sein.« »Verflucht!« stieß Atlan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Das wird knapp. Erzählen Sie, Mädchen. Es geht um sein Leben.« Die Männer setzen sich in alte schwere Sessel. Sie hielten die Gläser zwischen den Fingern, und Mykal rauchte nervös. Kerilla Vhotan erzählte, was seit dem Augenblick vorgefallen war, an dem sie mit den gewünschten Ausstattungsstücken aus der Stadt zurückgekommen war. Es war ein Versuch, der schon von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Nur mit einer gewaltigen Portion Glück konnte Chapat Erfolg haben. Schließlich wandte sich Atlan an Kerilla. »Würden Sie mich zum Schiff bringen?« »Wenn es ihm hilft, ja.« »Jedenfalls schadet es ihm nicht. Mykal, wieviel schulde ich Ihnen? Abgesehen von einer Menge Dank?« fragte Atlan. »Überschlägig gerechnet sechzig Solar.« Atlan faltete eine Zweihundertfünfzig-Solar-Note zusammen, grinste Mykal kurz an und sagte: »Manche Dinge sind nicht zu bezahlen. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr. Sie haben einem Mann geholfen, der in gewisser Hinsicht wehrlos ist. Und ziemlich desperat!« Mykal knurrte etwas und steckte den Schein unbesehen ein. Dann stand er auf und sagte sarkastisch: »Sie sind etwa so hilflos wie ein Hurrikan, wenn es darauf ankommt. Ich hoffe, Sie haben mehr Glück als während des Tages.« »Ich hoffe es auch!« meinte Atlan und hob den Kopf. Kerilla kam herein und war für eine Fahrt im Gleiter bis zum Raumhafen entsprechend angezogen. Atlan fühlte das Metall der Waffe unter seiner linken Schulter und nickte. Die nächsten Stunden wurden über Erfolg und Mißerfolg entscheiden.
Träume des Vergessens Er drückte Mykal schweigend die Hand und verließ mit Kerilla Vhotan zusammen das Haus.
10. »Na, Alter, auch noch ein Träumchen?« lachte der Posten und schlug dem nach vorn gebeugten Mann leicht auf die Schulter. Der alte Mann mit dem weißen Haar und demrunzligen Gesicht zuckte zusammen und strebte dann, als schäme er sich vor sich selbst, schräg von dem Polizisten der TRAUMPALAST weg auf eine der Nischen zu. Klack, klack machte sein Stock auf dem Beton des Hafens, dann wechselte der Greis mit dem mächtigen, nach unten gebogenen Schnurrbart auf einen Teppich über. Das Geräusch verschwand. Eine ungünstige Stunde für einen solchen Besucher. Die meisten Gäste des Schiffes befanden sich in den Nischen, in den Boxen und unter den Illusionshauben. Andere wieder lagen oben im Schiff und genossen andere Freuden. Andere wieder spielten um hohe Einsätze, ebenfalls in dem Teil des Schiffes, der im Schaft oder in der Kugel lag. Neben dem Eingang zur Liftröhre blieb der Alte stehen und richtete sich mit einem leisen Ächzen auf. Er griff in die Tasche seiner ausgebeulten Hose und zog eine Handvoll neuer Münzen hervor. »Na? Ein Spielchen?« fragte er mit fistelnder Stimme einen Posten. Der Mann mit der schweren Schockwaffe am Gürtel deutete mit dem Daumen aufwärts. »Verspiele nicht deinen ganzen Sparstrumpf!« murmelte er. »Siebzigster Stock, Farbe Gelb.« »Danke, kleiner Mann!« krächzte der Alte. Er ging mit schlurfenden Schritten, auf seinen wuchtigen Stock gestützt, in den Antigravschacht hinein. Nur einige Sekunden lang blickten ihm die Posten nach. Ihr Interesse wurde abgelenkt von einer Gruppe kichernder Touristinnen, die alle Züge begin-
41 nender Süchtigkeit trugen. Sie wankten dem Ausgang zu, sie kamen aus einer Nische, in der sie ein deftiges Kollektiverlebnis gehabt hatten. Der alte Mann trug Mokassins und ausgebeulte Hosen, deren Säume ausgefranst waren. Ein halblanger, unmoderner Rock hing von den breiten Schultern. Der Mann schien einmal sehr stark und wendig gewesen zu sein. Der Schnurrbart sträubte sich in die Höhe und verlieh ihm ein streitbares Aussehen. Vor den Augen hatte er eine altertümliche Brille mit dicken Gläsern. Er schwebte langsam aufwärts. Der Stock in seiner rechten, bronzefarbigen Hand wirbelte langsam in einem Kreis umher und erzeugte ein leises sausendes Geräusch. Nur wenige Besucher waren jetzt, etwa acht Uhr abends, hier im Schacht. Der Ansturm des Nachmittags war vorbei, die zweite Welle würde in einer Stunde über die TRAUMPALAST hereinbrechen. Überraschend behende schwang sich der Mann aus dem Schacht. Es war ein anderes Stockwerk und eine andere Farbe. Vor der Öffnung sah er sich suchend nach beiden Seiten um. Er befand sich auf einem Vorplatz. Harmlose Strahlenbalken und ein wertvoller Bodenbelag sagten ihm, daß er sich in den wichtigen Stockwerken des Schiffes aufhielt. Wo der Platz in den gelben Korridor überging, standen zwei Posten. Sie rührten sich nicht, sahen ihm aber neugierig und mit der typischen mißtrauischen Wachsamkeit von Männern entgegen, die genau wußten, welche Geheimnisse sie schützen mußten. »He Alter, verlaufen?« rief einer gutgelaunt und sah zu, wie der Weißhaarige näherhumpelte. »Nein. Ich möchte spielen und gewinnen!« krächzte der Besucher und kam näher. Er vermied es, die Posten anzusehen und starrte in den Gang zwischen ihnen. »Du bist zu hoch hinauf geschwebt, Alter. Dort entlang, wieder zehn Stockwerke abwärts.« Er stand jetzt dicht vor ihnen und schüt-
42 telte seinen Kopf. Die Hände der Posten lagen an den Kolben der Waffen. Dann griff der Greis wieder in seine Tasche, holte die Handvoll neuwertiger Münzen hervor und ließ sie klimpern. »Wie stehen die Chancen heute?« murmelte er. Zwei Münzen fielen herunter und klingelten, als sie sich trafen, dann rollten sie in verschiedene Richtungen über den Teppich davon. Ächzend bückte sich der Alte. »Halt, Väterchen. Ich klaube das Zeug schon auf!« sagte der links stehende Posten und trat einen Schritt vor. Als er sich seinerseits bückte, richtete sich der Greis zur vollen Größe auf. Der Stock schnellte in überraschender Schnelligkeit nach beiden Seiten, traf die Hand des anderen Mannes und landete im Nacken dessen, der sich bückte. Der Mann stolperte und ging mit einem ächzenden Aufschrei zu Boden. Der Greis wirbelte herum. Sein Arm streckte sich aus, seine Handkante schmetterte gegen den Hals des zweiten Postens, der seinen Mund eben zu einem Warnschrei aufriß. Der Mann knickte in den Knien ein, sein Körper drehte sich spiralenförmig und fiel dann nach hinten. Der Greis packte ihn mit beiden Händen, hob den schweren Körper hoch und trug ihn, als wäre es ein Kind, in den Antigravschacht. Er stieß den bewegungslosen, schlaffen Bewußtlosen in die Öffnung, dann rannte er rasend schnell zu dem Niedergeschlagenen, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Seine Waffe war aus dem Halfter gerutscht. Der Greis steckte sie in den Gürtel, schlug den Saum der Jacke wieder zurück und schob auch den zweiten Mann in den Aufwärtsschacht. Beide Körper trieben langsam, sich unkontrolliert drehend, nach oben. Dann griff der alte Mann wieder nach seinem Stock und humpelte den Korridor entlang. Er bewegte sich sicher und schnell wie jemand, der den genauen Weg kennt. Niemand beobachtete ihn im Augenblick. Dann legte sich die linke Hand des Mannes auf die breite, geschwungene Klinke der Doppeltür.
Hans Kneifel Der Greis holte Luft, spannte seine Muskeln und riß mit einem einzigen wilden Ruck die Schottür auf. Dann warf er sich vorwärts und stand mitten im Vorraum von Alfo Zharadins Büro. Der schwere Stock wirbelte durch die Luft und traf den Leibwächter, dann riß Chapat die Waffe aus dem Gürtel und feuerte. Der Paralysator fauchte auf, der Schuß traf den zweiten Wächter in die Brust und warf ihn meterweit zurück. Sein Körper krachte gegen einen Aktenschrank und riß die Bänder und Kassetten heraus, glitt langsam an der Vorderseite herunter und wurde von dem Inhalt fast begraben. Der zweite Gegner hechtete durch die Luft, als Chapat herumfuhr und die Waffe auf ihn richtete. Der Schuß ging haarscharf am Kopf des Mannes vorbei, seine Finger krallten sich um die Hände des Eindringlings und rissen lange Kratzer. Dann fanden sie die Waffe und klammerten sich daran fest. Chapat holte aus und schlug zu. Ein furchtbarer Schlag traf die Herzgegend des anderen. Obwohl der Mann zusammenknickte und aufstöhnte, ließ der Wächter die Waffe nicht los. Er trat Chapat gegen das Schienbein. Ein glühender Schmerz, der ihn fast bewußtlos machte, durchfuhr den Körper des verkleideten jungen Mannes. Er rammte dem anderen das Knie in den Brustkorb und ließ die Waffe los. Zwei schnelle Hiebe trafen den Verteidiger, trieben ihn auf die Verbindungstür zu und warfen ihn gegen die dick isolierten Flächen. Er versuchte, die Waffe umzudrehen, aber ein kurzer Schlag schleuderte sie aus seiner Faust. Die Männer rangen schweigend, dann gab sich der Verteidiger eine Blöße, die Chapat ausnutzte. Ein Schlag hinter das Ohr machte den Mann bewußtlos. »Endlich!« stieß Chapat hervor, huschte zur Korridortür und schloß sie. Er erkannte den Mechanismus des biopositronischen Schlosses nicht und schob einen schweren Sessel davor. Er drehte sich herum, hob den Paralysator hoch und näherte sich, nachdem
Träume des Vergessens er den Körper zur Seite gezerrt hatte, der Verbindungstür. Dort ist mein Ischtar-Memory! dachte er, zugleich verzweifelt und fast zitternd vor Begierde. Nur eine Türplatte und einige Meter Abstand trennten ihn von dem Kreisel, der ebenso wichtig wie sein Leben war. Er öffnete die Tür. Sein Kopf drehte sich schnell nach rechts und links. Es war niemand in dem Raum, aber der Safe war offen. Auf einem Stapel dicker Kunststoffolien stand in dem würfelförmigen Raum hinter dem Energieschirm das Memory. Sein Leben, die Möglichkeit seiner Seelenwanderungen, die Stimme und die Seele seiner Mutter. Vorsichtig machte er zwei Schritte und schloß die Tür wieder hinter sich. Der Büroraum machte den Eindruck, als wäre er eben erst verlassen worden. Die Schreibtischplatte war übersät mit Unterlagen. Ein beißender Geruch wie nach versengten Federn lag in der Luft. Ein dünner Rauchfaden ringelte sich von dem Zigarrenrest im Ascher nach oben. Chapat warf sich mit drei Sprüngen vorwärts, flankte über die Tischplatte und landete neben dem Sessel, in dem Alfo Zharadin sonst saß. Er griff nach unten und kippte den Hauptschalter des Abwehrfeldes. Das Energiefeld erlosch augenblicklich. Chapat lächelte kurz und griff nach dem Memory. Von links kam eine donnernde, fauchende Entladung. Durch sein Handgelenk, durch die Finger und den Arm aufwärts zuckte ein betäubender, schrecklicher Schmerz. Die Waffe polterte nach unten und blieb vor dem Safe liegen. Rechts sagte die bekannte Stimme: »Die Falle ist zugeschnappt, Chapat! Ich wußte, daß du kommen würdest!« Chapats Hand krümmte sich um das Memory. Er holte den – echten! – Kreisel aus dem Safe und richtete sich auf. »Du Hund!« flüsterte er tonlos. Aus einer Ecke kam Doktor Sassu, aus der anderen trat Alfo. Beide hielten Waffen
43 in den Händen. Es waren Schockstrahler. Die beiden Männer waren hinter schmalen Türen verborgen gewesen, die sich in der Täfelung befanden und nicht sichtbar waren. Jetzt kam auch die junge Sekretärin mit dem unbeweglichen Gesichtsausdruck in den Raum. »Du verdammter Hund, Alfo!« sagte Chapat erbittert. »Und ich habe dir vertraut. Mein Memory!« Alfos kurzer Zeigefinger wies auf den Tisch. »Lege das Ding auf den Schreibtisch, schnell!« Chapat schüttelte den Kopf. »Es ist mein Eigentum. Ich werde die Polizei alarmieren. Ich habe es schon getan!« Alfo kicherte kurz, als amüsiere er sich über einen gelungenen Scherz. Dann wurde sein feistes Gesicht wieder ernst, und er knurrte drohend: »Lege den Kreisel auf den Tisch! Du hast ausgespielt, Chapat!« »Nein!« murmelte Chapat. Die Enttäuschung durchflutete ihn wie ein kaltes Fieber. Vorsichtig umrundete die Sekretärin die beiden Männer und blieb neben dem Schreibtischsessel stehen. Ihr zierlicher Finger drückte einen Knopf. Sie blickte Chapat völlig desinteressiert an. »Gegenwehr ist sinnlos!« sagte Doktor Sassu, zielte kurz und feuerte. Die rechte Hand des verkleideten Mannes wurde getroffen. Im Krampf schlossen und öffneten sich die Finger. Das Memory rollte auf den Tisch, beschrieb ein paar kreiselnde Bewegungen und blieb liegen. Chapat schrie auf und stürzte sich auf Alfo Zharadin. Von hinten sprang Sassu heran, drehte die Waffe um und ließ sie wuchtig auf Chapats Hinterkopf niedersausen. Im selben Augenblick kippte Chapat die Schulter nach vorn, der Schuß Zharadins ging an ihm vorbei in die Wand, und der kleine Mann wurde halb durch den Raum geschleudert. Der Kolben der Waffe traf Chapat an der Schulter. Dann wurden die Türen aufgerissen. Acht Männer stürmten in den Raum. Von
44 drei Seiten stürzten sie sich auf den Eindringling, der sich verbissen zur Wehr setzte. Sassu und Zharadin sprangen zur Seite und suchten Deckung hinter dem Tisch. Das Mädchen stand ungerührt hinter dem Sessel, nur ihre Augen gingen hin und her. »Haltet ihn fest! Schlagt ihn nicht tot!« schrillte die Stimme des geschlechtslosen Zwerges. Sassu donnerte laut: »Wir brauchen ihn für ein interessantes Experiment. Fangt ihn lebend und unbeschädigt.« Der erste Mann wurde von einem wuchtigen Tritt in den Magen getroffen und flog aufjaulend gegen seinen Hintermann. Beide gingen zu Boden. Chapat duckte sich unter einem Angreifer, der ihn ansprang, hinweg und riß seine Schultern wieder hoch. Er sah seine Hand an, die sich zur Faust geballt hatte. Er schwang seinen leblosen Arm herum und hämmerte die Faust gegen den Schädel eines weiteren Angreifers. Wie ein Pfahl kippte der Mann zur Seite, aber gleichzeitig hängten sich zwei Männer an Chapats Arme, ein weiterer sprang ihm in den Nacken und legte seinen Unterarm um die Kehle, noch ein anderer riß ihm die Beine unter dem Körper weg. Noch einmal zuckten die Knie und die Füße des weißhaarigen Mannes hoch. Sie trafen ihr Ziel, aber die Übermacht war zu groß. Stählerne Fesseln legten sich um die Knöchel Chapats, auch seine Handgelenke wurden zusammengeschoben und mit Fesseln versehen. »Ausgezeichnet!« sagte Zharadin befriedigt, steckte die Waffe weg und schwang sich auf den Schreibtisch. Er ließ seine Beine baumeln und blickte auf Chapat hinunter. »So«, sagte er ruhig und leidenschaftslos. »Dieses Kapitel ist zu Ende. Wir haben deinen Zauberkreisel und wir haben dich. Bringt ihn weg!« Sassu hob die Hand und brummte: »Legt ihn unter die Haube von Kabine eins. Schließt ihn an das Lebenser-
Hans Kneifel haltungssystem an, und dann werde ich ihn träumen lassen.« »Ihr Schufte. Ihr fühlt euch stark, weil ihr Waffen habt und alle Macht. Ich werde …« Alfo sagte hart: »Das ist der Lauf der Welt. Die Wahrheit ist böse! Die Wahrheit ist, daß du von uns in einen langen, intensiven Schlaf versetzt wirst. Versuche nicht, dich zu wehren. Es ist umsonst. Wir haben die Macht. Los, bringt ihn aus meinen Augen; er hat mich schon zu lange aufgehalten!« Die Männer hoben Chapat hoch und schleppten ihn hinaus. Sassu wandte sich an die Sekretärin und sagte: »Ich glaube, wir haben uns einen großen Schluck Cognac oder derlei verdient. Bringe uns zwei Gläser, Mädchen.« »Selbstverständlich!« sagte sie und öffnete das große Barfach hinter dem Schreibtisch. Während die Männer kurz über die neuerliche Verwendung des Memorys diskutierten – es lag vor ihnen auf der Tischplatte –, schleppte man Chapat auf einen Robotgleiter und schaffte ihn in die von Sassu modifizierten Traummaschinen. Dort fesselte man ihn in den riesigen Sessel, schloß ihn, der sich immer noch verzweifelt wehrte, an das Lebenserhaltungssystem an und senkte die Haube über seinen Kopf. Erst als einer der Assistenten den Hebel des Einschläferungsmechanismus betätigte, hörte Chapat auf, um sich zu schlagen und an seinen Fesseln zu zerren wie ein Wahnsinniger. Aber noch hatte der Traum nicht angefangen. Noch war das Ischtar-Memory nicht zwischen die verschiedenen Impulsabnehmer geschaltet …
11. Kerilla Vhotan ließ den Gleiter bis an die Außenfront der »Arena« heranrasen, dann bremste sie hart und schaltete ab.
Träume des Vergessens »Sie haben eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Chapat!« sagte sie leise und sah zu, wie sich Atlan aus dem Sitz schwang. »Wie meinen Sie das, Kerilla?« erkundigte sich Atlan beunruhigt. Hatte sie seine Maske durchschaut? »Er könnte Ihr Sohn sein. Er sieht Atlan, dem Arkoniden, ähnlich. Sie sehen Atlan nicht ähnlich, aber als Chapat mich verließ, da sah er sich auch nicht ähnlich. Was werden Sie dort drinnen tun?« Unschlüssig hob der Arkonide die Schultern und tastete nach der Waffe. »Ich weiß es nicht. Ich werde versuchen, Chapat zu finden. Wenn mir dies gelingt, dann haben wir ihn bald wieder.« »Und hoffentlich bringen Sie auch dieses verdammte Ischtar-Memory mit. Sie brauchen viel Glück, Morris.« »Ich weiß. Warten Sie hier?« Sie nickte traurig. »Zwei Stunden lang. Wenn Sie oder Chapat nicht kommen, dann … ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich bin traurig über alles.« »Glauben Sie es mir«, sagte Atlan düster und ergriff ihre Hand. »Ich bin es noch mehr. Dank für alles.« Er ging auf den nächsten Eingang zu. Er war jetzt sicher, daß Chapat in Gefahr war. Erreichte er selbst nichts, dann würde er die Polizei alarmieren und Alfo Zharadin wegen Menschenraubs anzeigen. Jetzt rächt sich dein Eigensinn. Die USO wird dir nicht helfen können! meinte der Extrasinn lakonisch. Atlan ging, noch immer in seiner Verkleidung als Morris, durch die Massen der Gäste. Er sah die Opfer mit glasigen Augen und den Bewegungen der Nachtwandler, er hörte die marktschreierischen Durchsagen und tauchte ein in die flackernden Lichter. Überall waren Menschen, unaufhörlich herrschte Bewegung. Er fühlte sich wie ein Taucher, der sich durch ungeheure Fischschwärme kämpfte. Rücksichtslos bahnte er sich einen Weg auf den Antigravschacht zu. Er haßte diese
45 Umgebung, weil er wußte, daß hier aus Neugierde Laster wurde und aus Vergnügungssüchtigen Opfer wurden. Endlich befand er sich am Eingang. Er kannte den Weg bereits. Der Posten wollte ihn aufhalten, aber vor dem Blick und dem entschlossenen Gesichtsausdruck erschrak er. Atlan schob sich an ihm vorbei und sprang in das Aufwärtsfeld. Du wirst diesmal kein Glück haben. Sie sind vorbereitet! Der Arkonide wußte, daß er sich äußerst geschickt verhalten mußte. Vielleicht gelang es ihm, gut genug zu bluffen. Er gab sich keinen Illusionen hin, denn Alfo war gerissen und würde sich von ihm kaum einschüchtern lassen. Er erreichte die Ebene und ahnte, daß er erwartet wurde. Vor ihm öffnete sich wieder das breite Schott zum Bürovorraum, und zu seiner Überraschung sah sich Atlan drei Sekretärinnen gegenüber. Oder zumindest Mädchen, die so taten, als würden sie die Maschinen und Interkome bedienen. »Ich möchte Alfo Zharadin sprechen«, sagte er. »Es ist persönlich. Und dringend. Ist das möglich?« Mit honigsüßer Stimme fragte ein Mädchen zurück: »Sie waren schon einmal hier, nicht wahr?« »Ja. Und ich werde vielleicht noch einmal kommen. Zharadin ist dort drin?« meinte Atlan grimmig. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er entschlossen war. Das Mädchen drückte einen Schalter, und langsam schwang die Tür auf. Atlan ging hinein und blieb einen Meter vor dem Tisch stehen. Alfo Zharadin starrte ihn mit undurchdringlicher Miene an. »Ja?« »Sie brauchen nicht zu fragen. Noch immer suche ich Chapat. Inzwischen weiß ich, daß er im Schiff ist.« Zharadin sah ihn erstaunt an und entgegnete kalt: »Dann wissen Sie, Mister Morris, mehr
46 als ich. Ich weiß nichts von Chapat. Ist er im Schiff? Niemand von meinen Leuten hat ihn gesehen.« Noch immer dachte Atlan an das Mädchen Kerilla, die vor dem Schiff wartete. Er selbst war im Augenblick noch sicher. Er konnte sich umdrehen und gehen. Sei nicht zu sicher …! Atlan holte Luft und sah Alfo ins Gesicht. Er entdeckte nichts. Ebensogut hätte er eine glatte Terkonitwand ansehen können. »Hören Sie, Zharadin«, sagte er langsam und lauernd. »Wir beide wissen es besser. Ein paar Polizisten wissen es auch, denn sie haben den alten Mann gesehen, der das Schiff besuchte.« »Wie Sie ebenfalls wissen, ist dieses Schiff exterritoriales Gebiet. Die Polizei der Stadt und des Planeten hat hier keinerlei Machtbefugnisse!« Zharadin kicherte etwas, wurde schlagartig wieder ernst und betrachtete den hochgewachsenen Fremden. Plötzlich kam in die Züge des Geschlechtslosen ein listiges Lächeln. »Warum eigentlich dieses auffallend große Interesse an Chapat? Schon der zweite Besuch!« »Weil ich mir Sorgen mache. Wußten Sie, daß die planetare Polizei im Fall von Menschenraub eingreifen muß?« »Beweisen Sie mir, daß ich Chapat gekidnappt habe!« Atlan begann sich ein wenig unbehaglich zu fühlen. Er hatte das Gefühl, Alfo durchschaue seine Maske. Es hatte den Eindruck, als würde sich der Zwerg über ihn lustig machen. »Ich werde es Ihnen beweisen. Lassen Sie mich die Polizei holen, und wir durchsuchen das Schiff.« Zharadin schaukelte in seinem Sessel und schien sich köstlich zu amüsieren. Er sagte unvermittelt: »Keine Polizei. Sie haben gute Augen. Ich drücke hier einen Knopf und sage in allen Abteilungen, daß sie überall ungehindert Zutritt haben. Suchen Sie Chapat. Wenn Sie
Hans Kneifel ihn finden, dürfen Sie ihn mitnehmen. Aber ich kann Ihnen auf Treu und Glauben versichern, daß er nicht im Schiff ist.« »Ich könnte Ihnen sagen, was Sie mit Ihrem ›Treu und Glauben‹ machen können«, knurrte Atlan. Die Angelegenheit entglitt ihm, das mußte er erkennen. »Vermutlich hätte ich gewisse Schwierigkeiten damit«, lachte Alfo. Es hörte sich sehr unangenehm an. »Vermutlich.« Alfo drückte den betreffenden Schalter und aktivierte damit das interne Kommunikationssystem der TRAUMPALAST. Dann sagte er ein paar Sätze, aus denen klar hervorging, daß ein Mister Morris sich überall im Schiff umsehen dürfe. Er suchte einen Verwandten, der sich vielleicht im Schiff aufhielt. Falls dies zutraf, ohne Wissen der Schiffsleitung. Man möge Mister Morris keine Hindernisse in den Weg legen. Er grinste in die Linsen und deutete dann zur Tür. »Nun, Mister Morris! Gehen Sie und versuchen Sie, im Lauf einer Woche zu finden, wen oder was Sie suchen.« Das riecht nach einer üblen Falle! bemerkte der Extrasinn. »Einverstanden!« sagte Atlan und stand auf. »Ich bin sicher, daß, wenn ich Chapat finde, er das Ischtar-Memory nicht hat.« Zharadin breitete die Arme aus und zuckte die Schultern. Er gab keine Antwort. »Haben Sie es?« fragte Atlan, noch immer ruhig. »Wollen Sie auch diesen Raum untersuchen?« lautete die Gegenfrage. Atlan spielte kurz mit dem Gedanken, den fetten Zwerg aus seinem Sessel zu ziehen und ihm den Schädel solange gegen die Wand zu hämmern, bis er die Wahrheit aus ihm herausgeschlagen hatte. Aber das würde ihn zum Freiwild innerhalb des Schiffes machen. »In Ordnung!« sagte der Arkonide entschlossen. »Ich gehe. Und ich werde mit einem Kreuzer der United Stars Organisation zurückkommen. Ich empfehle Ihnen, sich darauf einzustellen.«
Träume des Vergessens Zharadin stand auf und erwiderte nicht weniger entschlossen: »Ich weiß, daß Sie auf die Mithilfe der USO verzichtet haben. Die USO weiß nicht, wo Sie sich befinden. Sie suchen den Mann, von dem Sie vielleicht glauben, daß es Ihr Sohn ist, auf eigene Faust. Sie haben verloren, Lordadmiral!« Er deutete abermals zur Tür und schloß: »Sie können gehen und suchen!« Du bist erledigt! sagte kurz der Extrasinn. Atlan hatte verstanden. Der Schock lähmte ihn nur drei Sekunden lang, dann warf er sich herum und spurtete zum Schott. Er riß es auf rannte an den drei aufkreischenden Mädchen vorbei und hinaus auf den Korridor. Hatte er einmal den Liftschacht erreicht, war er in relativer Sicherheit. Aber vor dem Büro warteten sie bereits auf ihn. Fünfundzwanzig Männer etwa. Sie hatten Waffen in den Händen und zielten auf ihn. Mit dem ersten Blick erkannte er, daß es sich um schwere Strahler handelte, keine Schockwaffen. »Langsam näherkommen«, sagte ein mittelgroßer, gedrungener Mann mit einem faltigen Gesicht. Atlan gehorchte. Flüchtig dachte er daran, durchzubrechen, und er suchte schon jetzt nach einer Chance, aber er blieb etwa in der Mitte des Kreises stehen. »Die Waffe fallen lassen!« Mehr als zwanzig Strahler zielten auf ihn. Der Extrasinn schwieg, es gab nichts zu erklären. Der Griff von Atlans Finger um den Kolben löste sich, und die Waffe polterte dumpf auf den Teppich. »Was habt ihr vor?« fragte er kurz. »Wirst du schon sehen, Morris!« Die Durchsage war also das Signal für diese Truppe gewesen. Der Kreis schloß sich enger um Atlan. Er blickte schweigend um sich und suchte einen Ausweg. Dann hob er die Schultern und murmelte: »Gut. Ich gebe auf.« Vorsichtig näherten sich ihm zwei Männer. Sie hatten dünne Metallschnüre in den
47 Händen, die ein Eigenleben wie kleine Schlangen zu haben schienen. Sie blieben außerhalb der Schußlinie der anderen und fesselten Atlans Handgelenke. Die Metallschlangen legten sich eng an seine Haut. Er schauderte vor dem kalten Metall zurück, dann packte ihn einer der Männer am Arm. »Los, komm mit. Wir bringen dich an einen sicheren Ort.« Sie schleppten ihn mit sich. Dieses Mal waren es nur sechs Männer. Es ging einige Korridore entlang, ein paar Rampen hinunter, dann einen kleinen Nebenliftschacht hinauf, schließlich wieder ein System von sich abwechselnden Gängen und kleinen Kammern. Schließlich kamen sie in eine Region des Schiffes, die heller und freundlicher schien. Überall gab es raumhohe Glassitwände und farbige Büroräume. Türen und Schotte öffneten und schlossen sich. Plötzlich sah sich Atlan in einem kleinen Raum, der zweigeteilt war. Er blieb stehen. Zwei Männer bauten sich rechts und links der Tür auf. Mit einem langen Blick betrachtete Atlan die verschiedenen Zonen des Raumes. Er erkannte, wo er gelandet war. Dies ist eine doppelte Illusionskammer. Ein Mann liegt bereits unter der Haube der Träume des Vergessens, sagte der Extrasinn beschwörend. Versuche, dieser Gefahr zu entkommen! Eine der durchsichtigen Türen war fest verschlossen. Atlan mußte erkennen, daß dieser Schläfer bereits an ein kompliziertes Lebenserhaltungssystem angeschlossen war. Die beiden anderen Wächter stellten sich vor der leeren Zelle auf und bereiteten den schweren Sessel vor. Jetzt spätestens kennst du dein Schicksal! sagte der Extrasinn. Atlan entschloß sich und reagierte. Er hatte sich auf die nächsten Sekunden konzentriert und handelte präzise wie ein Roboter. Er trat einen Techniker nieder, schlug einem Mann beide Fäuste gegen die Schläfe und schleuderte mit dem anderen Fuß einen
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Schemel quer durch den Raum. Das Möbelstück schmetterte einen der Posten nieder. Atlan packte mit beiden Händen den Knauf und riß die Schottür auf. Dann war er im leeren Korridor. Du rennst um dein Leben! Schneller! schrie der Extrasinn. Atlan spurtete, so schnell er konnte, über ein Stück Korridor. Zwei Strahlerschüsse fauchten hinter ihm her. Einer streifte seine Schulter, der andere riß eine lange, flammende Bahn in die Wand. Atlan sprang im Zickzack in eine Abzweigung hinein. Sein photographisches Gedächtnis hatte den Weg festgehalten. Er wußte, daß er nur noch hundert Meter bis zum Antigravschacht vor sich hatte. Schüsse fauchten und krachten hinter ihm her. Er warf sich nach rechts und links und sah weit vor sich, als sich der Korridor weitete, den Eingang zum Liftschacht. Er rannte weiter und machte sich fertig, mit einem Hechtsprung in das Abwärtsfeld zu springen. Als er ein Schott passierte, riß Alfo Zharadin seine Bürotür auf, hob den schweren Schockstrahler und feuerte eine konzentrierte Ladung zwischen die Schulterblätter des Arkoniden. Atlan strauchelte, versuchte sich mit einem letzten Rest von Energie abzufangen und krachte zwei Meter vor der Öffnung zu Boden. Er blieb bewegungslos liegen.
12. Sein Erwachen war, als tauche er aus einer unendlichen Tiefe wieder auf. Er öffnete seine Augen nicht und versuchte, seine Lage festzustellen, ohne sich zu verraten. Du bist gefesselt! meldete sich der Extrasinn. Seine Handgelenke, die Oberarme, die Oberschenkel und die Knöchel waren fest mit breiten, gepolsterten Stahlbändern an der Unterlage befestigt. Ein Versuch, sich loszureißen, war mehr als zwecklos.
In seinen Venen fühlte er Kanülen und Pflaster, mit denen die dünnen Nadeln gehalten wurden. Er sah nichts, als er die Augen öffnete. Die Haube der Träume hatte sich bereits über seinen Kopf geschoben, aber er war noch bei vollem Bewußtsein. Eine weit entfernte Stimme sagte ruhig und unbetont: »Er ist wach. Schiebt die Haube hoch.« Es war nicht die Stimme Zharadins. Summend bewegte sich jenes Ding, das den Schall und das Licht fernhielt und mit stumpfen Sensorspitzen die Kopfhaut berührt hatte. Atlan blinzelte im Licht der Tiefstrahler. Er sah vor sich zwei Männer. Einer von ihnen war Alfo. Zharadin sah ihn lange an und sagte dann triumphierend: »Drehen Sie Ihren Kopf nach rechts.« Atlan gehorchte. Er fühlte sich unendlich elend. Er hatte verloren und mußte für seinen Leichtsinn und seinen Eigensinn zahlen. Dort drüben lag Chapat. Er schien tief zu schlafen. »Chapat«, murmelte er gebrochen. Es gab keine Hoffnung mehr. Er war in der Gewalt dieses weißhäutigen Geschlechtslosen. »Richtig. Ihr Herr Sohn. Er träumt. Niemand von uns weiß, wo er sich wirklich befindet, Lordadmiral!« bemerkte Alfo höhnisch. Der schlanke Mann neben ihm sah ihn nur an und schwieg. Zwischen seinen Zähnen steckte eine spiralige, unangezündete Zigarre. »Was habt ihr mit ihm gemacht, ihr Schufte?« knurrte der Arkonide wütend. »Er träumt. Er ist in einer lebensechten Illusion gefangen, weil wir zwischen unsere Leitungen das Ischtar-Memory geschaltet haben. Es sendet fremdartige, aber höchst wirksame Impulse aus.« Alfo hob die Hand und trat nahe an Atlan heran. »Hätten Sie einen Spiegel, würden Sie sehen können, daß Sie wieder wie Atlan aussehen. Tatsächlich, die Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden ist bemerkenswert. Ich persönlich zweifle nicht daran, daß es Ihr Sohn ist.
Träume des Vergessens Passen Sie auf: Wir haben einen Versuch mit zwei Freiwilligen laufen lassen. Sie wurden in eine fremde Umgebung versetzt. Sie war sehr echt, obwohl die beiden Versuchspersonen nicht schliefen, sondern alles im vollen Wachen erlebten. Einer wurde – in der Illusion – angegriffen und erschossen. Er starb. Leider nicht nur in der Illusion, sondern auch in der Wirklichkeit. Früher oder später wird sich in Ihren gemeinsamen Träumen ein ähnlicher Effekt einstellen. Sie sehen, wir brauchen Sie nicht einmal zu töten. Sie töten sich selbst in Ihrem Traum. Passen Sie also auf, daß Sie nicht in gefährliche Situationen geraten.« Atlan keuchte auf. »Ist das die Wahrheit, oder wollen Sie mich erschrecken, Sie Kretin?« Zharadin ließ jetzt die Maske der Beherrschung und der Zurückhaltung fallen. Er genoß diesen Triumph. Die United Stars Organisation war sein persönlicher Gegner, denn die Süchtigen auf vielen Planeten würden früher oder später entdeckt werden. Dadurch, daß er den Chef dieser Machtgruppe und zudem auch noch dessen Sohn in seiner Gewalt hatte, war er überlegen und konnte frei handeln. Er selbst zweifelte nicht daran, daß Chapat Atlans Sohn war. Aber natürlich hatte er keine Beweise. Er stemmte die Hände in die Seiten und sagte leise: »Es ist die Wahrheit. Sie werden es in Kürze selbst herausfinden.« Chapat träumte oder befand sich in einer Illusion. Langsam glitt die Haube wieder über den Kopf des jungen Mannes in der Verkleidung eines Greises. Atlan lag ruhig da und sah ein, daß er im Augenblick keine Chance hatte. Nicht die geringste Möglichkeit bot sich ihm. Er war machtlos. Zharadin freute sich sichtlich. Das Geschäft lief hier auf Broelgir hervorragend. Viele Personen waren zum zweitenmal und zum drittenmal hier und waren jetzt bereits süchtig. Zharadin hatte diese beiden wichtigen
49 Männer und würde sie auf Eis legen. Er konservierte sie sozusagen durch das Lebenserhaltungssystem, das außerdem noch den konstruktiven Vorzug hatte, leicht transportiert werden zu können. Später einmal, wenn alle Fragen geklärt und das Schiff von Broelgir gestartet war, würden Sassu und er herausfinden, was eigentlich wirklich mit dem Memory passierte. Schwindelerregende Möglichkeiten taten sich auf … »Warum quälen Sie ihn?« Fast mitleidig blickte der Geschlechtslose den Arkoniden an, dann erwiderte er laut: »Ich quäle ihn nicht. Aber ich habe auch kein Mitleid. Sehen Sie mich an. Ich bin Zeit meines Lebens ein Ausgestoßener gewesen. Und jetzt habe ich die Macht über andere Menschen. Ich benutze sie.« »Ich kann es nicht ändern«, sagte Atlan müde und erschöpft. Er spürte das Gewicht des Zellschwingungsaktivators auf seiner Brust. Dieses Gerät hatten sie ihm also nicht genommen. »Nein.« »Früher oder später schlägt auch Ihre Stunde. Ich halte Sie für intelligent genug, das selbst zu wissen!« meinte der Arkonide. »Aber bis zu diesem Punkt tue ich alles, was in meiner Macht steht. Sie können sicher sein.« Alfo schnippte mit den Fingern. Langsam senkte sich die Haube über den Arkoniden. Er wurde immer müder und begann zu schlafen. Und plötzlich, mit dem letzten Rest des Wachbewußtseins, wußte er, daß er verloren war. Sein Bewußtsein schwand. Selbst der Extrasinn schwieg …
* Sie wartete insgesamt vier Stunden. Als sie alle Zigaretten geraucht hatte und sich ihr Mund pelzig anfühlte, stand sie auf und ging auf einen Polizisten zu. Es war ein junger Mann aus Herieva, den sie flüchtig
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kannte. »Hören Sie«, sagte Kerilla. »Ich brauche Ihren Rat.« Der Polizist, der sie und den Gleiter schon seit längerer Zeit beobachtete, nickte ihr freundlich zu. »Ja? Was haben Sie für Probleme?« »Dort drinnen in der TRAUMPALAST sind ein junger und ein älterer Mann. Ich bin ziemlich sicher, daß es sich um Lordadmiral Atlan und seinen Sohn handelt. Sie werden von der Schiffsbesatzung festgehalten.« Der Polizist sah sie hilflos an und sagte aufgeregt: »Das Schiff unterliegt nicht der Gerichtsbarkeit dieses Planeten. Das Betreten erfolgt auf eigene Gefahr. Sind diese Männer entführt worden?« Kerilla schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Nein!« »Aber …?« »Sie werden im Schiff festgehalten!« »Haben Sie Beweise dafür?« »Nein. Sie verstehen nicht … passen Sie auf …« Kerilla Vhotan erzählte eine wilde Ge-
schichte. Der junge Polizist hörte sie sich fünf Minuten lang an, dann trat er einen Schritt zurück und legte höflich, aber ratlos die Hand an die Mütze. »Miß Vhotan«, sagte er im Amtston, »ich kann Ihnen nicht helfen. Ich glaube Ihnen zwar alles, aber wir können nicht eingreifen. Wir machen uns des Rechtsbruchs schuldig, wenn wir ins Schiff eindringen und alle Räume zu durchsuchen beginnen. Tut mir leid.« Kerilla sah ihn an. Sie merkte, daß sie gleich wieder zu weinen anfangen würde. »Es gibt also keine Hoffnung?« sagte sie stockend. »Nein. Es gibt keine Hoffnung«, erwiderte der Polizist und entfernte sich langsam vom Gleiter. Vor ihnen ragte das Schiff wie eine uneinnehmbare Festung aus Stahl in den Nachthimmel.
ENDE
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