Freder von Holk Trommeln der Hölle
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Freder von Holk Trommeln der Hölle
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Neu bearbeitet von Heinz Reck Copyright © 1978 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt Agentur Transgalaxis Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet weiden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Franz-Josef-Straße 21, A-5020 Salzburg Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1, Telefon (0 40) 33 96 16 29, Telex 02 161 024 Printed in Germany Oktober 1978 Scan by Brrazo 03/2006
1. Die Sage ist eine Form der geschichtlichen Überlieferung. In Südamerika, zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean sollen im unerschlossenen Gebiet am Oberlauf des Amazonas weiße Indianer leben. Die Sage wird belächelt und ins Reich der Fabel verwiesen. Aber sie hält sich trotzdem. Am Oberlauf des großen Stroms sind viele Hunderttausende von Quadratkilometern Land noch unerforscht. Dort leben die »Weißen Indianer«, und sie sorgen dafür, daß kein Forscher und kein Abenteurer ihr Gebiet betritt. Sie wollen unentdeckt bleiben. Sie wünschen keine Verbindung mit der Welt, töten jeden, der in ihren Bereich gerät. So weiß es die Sage. Viele verlachen sie, aber nicht alle. Einzelne Abenteurer stoßen von Manaus aus westwärts oder von den Anden aus ostwärts vor. Das Unbekannte lockt sie. Sie kommen nicht wieder. Man hört nichts mehr von ihnen. Ihre Namen waren unbekannt und bleiben unbekannt. Es ist nicht der Mühe wert, sich um sie zu kümmern. Doch dann rüstet man Expeditionen aus – eine, zwei, die dritte. Die ganze Welt weiß von diesen Expeditionen. Die Medien haben ausführlich berichtet. Die Männer, die das Geheimnis jener unbekannten 5
Gebiete lösen wollen, tragen bekannte Namen. Die Expeditionen kommen nicht wieder. Man wartet Monate. Man wartet Jahre. Keiner der Teilnehmer läßt sich wieder sehen. Sie sind verschollen, untergegangen, gestorben. Jetzt schlägt die Presse Alarm. Die ganze Welt horcht auf. Sollte es etwa doch solche »Weißen Indianer« geben, die jene gutausgerüsteten Expeditionen verschwinden lassen? Behält die Sage recht? Oder schiebt man nur geheimnisvollen »Weißen Indianern« in die Schuhe, was Schuld des Amazonas ist? Dieser Strom! Achtzig Kilometer ist er an seiner Mündung breit. Seine Länge beträgt rund fünftausend Kilometer. Er schneidet einen großen Erdteil in zwei Hälften und besitzt einige hundert Nebenflüsse, von denen mehr als ein Dutzend ein paar tausend Kilometer lang sind. Das Gebiet, das durch den Amazonas bewässert wird, umfaßt eine Fläche von siebeneinhalb Millionen Quadratkilometern. Und wenn der Strom alljährlich zur Regenzeit um zehn bis fünfzehn Meter ansteigt, liegt ein beträchtlicher Teil davon unter Wasser. Die Weißen, die bis jetzt zu den riesigen Ländern um seinen Oberlauf vorgedrungen sind, kann man bald an den Fingern abzählen. Und für jene, die zurückkamen, braucht man noch nicht einmal eine Hand. 6
Denn dort gibt es tausend Arten zu sterben und kaum eine einzige, um zu leben. Das Unheil war nicht zu verhüten, obgleich Sun Koh selbst am Steuer des Flugzeugs saß. Sie flogen ziemlich tief, fast schon in den violetten, dunstigen Schleiern, die der unermeßliche Urwald in die Höhe atmete. Die Sonne stand übermäßig groß in dunklem Brandrot über dem Horizont. Die Geschwindigkeit war gering. Sun Koh und seine beiden Begleiter wollten etwas von diesen geheimnisvollen Ländern am Amazonas sehen. Sie nutzten die Minuten. Die bald anbrechende Nacht würde sie zwingen, wieder Geschwindigkeit und Höhe zu gewinnen. Viel war nicht zu sehen. Wald, Wald und wieder Wald, dessen Einzelheiten sich von oben her nicht erfassen ließen. Dazwischen blinkten verästelte Flußläufe auf, gelegentlich auch verschlammte Seen. Lebewesen bemerkte man hier und dort, aber insgesamt lohnte es sich kaum, dauernd hinunterzustarren. Hal Mervin machte nach einer Weile seiner Enttäuschung Luft. »Offengestanden«, murrte er, »das hatte ich mir anders vorgestellt. Ich möchte wissen, warum diese Gegend so verrufen ist.« »In genügender Entfernung verlieren alle Schrekken ihre Wirkung«, erwiderte Sun Koh. »Der Urwald wird nur aus der Vogelschau so harmlos aussehen. 7
Übrigens wird wohl bald Sturm aufkommen.« Nimba wies nach vorn. »Dort schiebt sich eine Wand hoch, die wie schmutzige Butter aussieht. Sie kommt sehr schnell.« »Schon da«, murmelte Sun Koh. »Seht euch die Instrumente an. Die Luft ist geradezu unglaublich geladen. Gehen wir lieber nach oben.« Zu spät! Der elektrische Sturm, der schon seit Stunden über dem Urwald gebrütet hatte, brach so plötzlich los, als hätte ihn das heranschießende Flugzeug gezündet. Er packte die Maschine, warf sie einige Kilometer vorwärts, säbelte die Spitzen der Bäume mit ihr herunter und drückte sie gegen die Erde. Eine Tragfläche knickte widerwillig ab. Der Rumpf drehte sich im Kreis, schmierte sich fest gegen den Boden und kam zur Ruhe. Den drei Insassen war einige Minuten lang zumute gewesen, als befänden sie sich in einer Hexenschaukel. Sun Koh hatte sich am Sessel festgehalten, Nimba war eine innige Verbindung mit dem Instrumententisch eingegangen, und Hal hatte sich in letzter Not an Nimbas Körper geklammert. »Ich lebe noch!« stöhnte Hal, als das Flugzeug nach dem letzten Ruck endlich zur Ruhe gekommen war. »Nicht mehr lange, wenn du nicht bald meinen Bauch losläßt«, knurrte Nimba. 8
Sun Koh löste sich vom Steuer und half den beiden hoch. Das Flugzeug stand ziemlich normal, so daß sie wenigstens wußten, was unten und oben war. Glücklicherweise hatte sich keiner von ihnen etwas gebrochen. Sie hatten sich an verschiedenen Körperstellen geprellt, aber das machte ihnen nicht viel aus. »Also noch gut abgegangen«, stellte Sun Koh befriedigt fest. »Na, ob das die richtige Bezeichnung ist?« seufzte Hal, während er probeweise hin und her humpelte. »Mich muß einer durch die Kaffeemühle gedreht haben. Man soll eben nicht so gutmütig sein. Das sage ich dir gleich, Nimba: Das nächstemal halte ich dich nicht fest, sondern lasse dich hinrasseln, wie du willst.« Nimba stierte ihn aus aufgerissenen Augen an. »Du willst mich … Mann, du hast dich doch an mir festgehalten!« »Wie bitte?« Hal winkte ab. »Na ja, Undank ist eben der Welt Lohn. Das Flugzeug ist wohl Bruch, Sir?« »Im Mindestfall eine Tragfläche, und der Rest… Aber ich muß erst einmal nachsehen.« Die Kabinentür klemmte. Er mußte sie mit Gewalt angehen. Nachdem sie einmal in Bewegung geraten war, rollte sie jäh zurück. Durch die Öffnung wuchtete der Sturm herein. Seine Gewalt war derartig groß, daß Sun Koh zurückgeworfen wurde und seine 9
beiden Begleiter lang hinschlugen, obgleich sie sich seitlich von der Tür befanden. Das war keine Luftbewegung mehr, sondern eine mächtige Faust, eine harte Körperlichkeit, die sich wie Bleiplatten auf die Augen legte und wie fester Stoff in die Lunge hineindrückte. Der gewöhnliche Atem war zu schwach, um dagegen anzukommen. Die Lungen mußten die Luft unter Aufbietung aller Kraft hinauspressen. So begannen die drei wie auf Befehl ungeformte Schreie aus der Kehle zu würgen. Man hörte die Schreie nicht. Man konnte sie höchstens aus der Verzerrung der Gesichter erraten. Der Sturm nahm alle Geräusche weg. Er machte sie unter seinem eigenen Toben unhörbar. Pfeifend, heulend, krachend und berstend raste er über das Flugzeug hinweg. Dabei war er mit unerträglicher Hitze geladen. Die Luft brannte und glühte wie der heiße Atem eines Backofens, der den Schweiß in Strömen aus den Poren jagt und den Menschen innerhalb von Minuten zu einem weichen, schlaffen Bündel macht. So erschlaffend wirkte diese feuergetränkte Wärme, daß keiner der drei mehr die Kraft fand, sich gegen den Sturm aufzurichten. Sun Koh versuchte, sich abzustemmen, um wieder an die Tür zu kommen, aber die Kraft seiner Muskeln löste sich gleichsam in Schweiß auf. Plötzlich zerriß die schwarze, dicke Dunkelheit. Bläulichweiß stand die Helligkeit im Flugzeug und 10
beleuchtete die drei Männer, die innerhalb von Minuten aus der gefahrlosen Höhe in die Hölle des unbekannten Landes hinuntergeschmettert worden waren. Ein ohrenbetäubender Schlag! Prasselnd und knatternd polterte es hinterher, scharfer Ozongeruch biß sich in den Nasen fest, und dann raste das Gewitter. Blitz folgte auf Blitz und Donner auf Donner. Die Erde wurde nicht mehr dunkel, die Welt war ein einziges zuckendes Flammenmeer, und die Donnerschläge vereinigten sich zu einem einzigen, kaum erträglichen Getöse, das wie durch ein Wunder die Trommelfelle noch nicht zerfetzt zu haben schien. Ein entsetzlicher Aufruhr der Natur tobte um das verlorene Flugzeug. Die Erde schien aufzubrechen und der Himmel einzustürzen. Nichtig und nebensächlich wurde das winzige Leben, das unter der Wucht des Sturmes gepreßt lag. Alles Bewußtsein, alles Denken und Fühlen schrumpfte zusammen bis auf die kaum geahnte Erwartung der letzten Sekunde, in der einer dieser zahllosen Blitze den Körper im Krampf zusammenziehen würde. Die Luft schien unter Tausenden von Blitzen zu brennen. Wie Feuer und brennender Schwefel stand sie um die Körper herum. Da – ein furchtbarer Schlag und ein Krach, den die Ohren nicht mehr aufnehmen wollten. Dann Stille. 11
Tödliche Stille, die schrecklicher war als das infernalische Toben. Und plötzlich begann es leise zu rauschen, schwoll an, immer mehr und mehr, bis in feierlichem Brausen die Erlösung niederstürzte. Regen! Die Luft wurde kühl und frisch. Wie sanfter, würziger Duft strich sie herein und umspülte die Glieder. Der Regen strömte. In langen Fäden hing er erst wie Tausende von Fransen vor der offenen Kabinentür, dann vereinigte er sich zu Stricken, dann zu dikken Bündeln, und dann wurde es eine einzige Flut, die vom Himmel herunterstürzte, wie ein Strom in die Kabine hineinquoll und sie zu füllen drohte. Sun Koh taumelte eben noch rechtzeitig hoch und schloß die Tür. Das schwere Brausen der fallenden Wassermassen wurde zum eintönigen, dumpfen Geräusch eines fernen Geschehens. In der abgeschlossenen Kabine wagte sich das Leben schnell wieder hervor. Bei Hal Mervin ging es vor allem ins Mundwerk. Das war in mancher Hinsicht eine glückliche Veranlagung, denn seine Schnoddrigkeit half über manche unerträgliche Lage hinweg. »Du lieber Gott, hier Blitzableiter zu verkaufen – das wäre ein Geschäft. Ich bin für die nächsten fünfzig Jahre bedient, soweit es meinen Bedarf an Gewittern angeht.« 12
Damit löste sich die Spannung. Über Sun Kohs Gesicht huschte ein Lächeln, und Nimba grinste, als er sich aufrichtete. »Jetzt kommt dir die Gegend doch nicht mehr so alltäglich vor, nicht wahr?« erkundigte sich Sun Koh. Hal schüttelte das Wasser aus seiner Kleidung. »Nein, Sir. Solche Gewitter gibt’s ja nun bei uns zu Haus doch nicht. Hoffentlich können wir uns bald wieder von hier verdrücken.« »Hoffentlich«, stimmte Sun Koh zu. »Vor morgen früh können wir aber den Zustand des Flugzeugs wohl kaum untersuchen.« Hal deutete auf das Wasser am Boden. »Sieht schon jetzt mehr aus wie ein Kahn, der leck geworden ist.« »Zieht euch um«, sagte Sun Koh. »Das Wasser können wir jetzt nicht hinausschaffen. Wir wollen versuchen zu schlafen, solange uns der Regen ohnehin festhält. Es kann sein, daß wir morgen unsere Kräfte brauchen.« »Zum Schwimmen!« sagte sich Hal ahnungsvoll. Trotzdem lag er eine Viertelstunde später in festem Schlaf. Und draußen strömte eintönig der Tropenregen weiter. Mit der Plötzlichkeit, mit der elektrisches Licht im Zimmer aufflammt, waren Tag und Sonne da. Der übergangslose Wechsel wirkte schmerzhaft auf die 13
Augen, die sich nur zwinkernd an die Flut des Lichts gewöhnten. Wie helles, durchsichtiges Gold lag die Sonne auf der Landschaft. Es dauerte freilich nicht lange, und ihre Strahlen wurden bleicher und weißer. Mit dem aufsteigenden Tag wandelten sie sich mehr und mehr zu einem flimmernden, leicht rötlichen Glutmeer, über dem die Sonne selbst wie eine verschwimmende, brennende Scheibe stand. Sun Koh, Hal Mervin und Nimba blickten hinaus. Nicht weit vor ihnen stachen zwischen blinkenden Wasserflecken Schilfstengel auf. Violette Schleier hingen zwischen ihnen, die träge davonzogen und sich auf die Wasserfläche legten, die jenseits der schmalen Schilf wand sichtbar wurde. War das ein Fluß oder ein See? Die Wasserfläche schimmerte breit gedehnt, wurde aber jenseits durch eine dunkle Kante abgeschlossen. Langsam trieb ein mächtiger Baum, dessen Wurzelwerk sich wie ein Klumpen dunkler Schlangen weit über die Oberfläche erhob, in das Blickfeld hinein. Also doch ein Fluß! Die Augen gingen über das Schilf zurück. Unmittelbar am Flugzeug war freies Land zu sehen, gelblicher Lehm, auf dem schmierige Pfützen standen, dazu Buschwerk und junge Bäume. Auf einem Streifen von annähernd hundert Meter Breite hatte der Urwald aus unverständlichen Gründen auf das Recht 14
seiner Vorherrschaft verzichtet. Dieser Streifen zog sich vom Ufer des Wassers aus ein ganzes Stück gerade in das Land hinein, bis er sich langsam krümmte und nicht mehr erkennen ließ, ob er sich fortsetzte. Auf beiden Seiten stand hoch der Urwald an, dort wie eine dunkle Kulisse, über der ein farbensprühender Schleier lag, hier am Flugzeug wie ein phantastischer Fiebertraum von Bäumen, Lianen, Orchideen, dicken, giftgrünen Polstern, langen, dünnen Gräsern, zähnefletschenden Affen, zahllosen buntfarbigen Schmetterlingen und grauen Schwärmen von Moskitos. Nach dem Rundblick stiegen die Männer aus, um den Zustand des Flugzeugs zu prüfen. Sie wußten bald Bescheid. Die eine Tragfläche hing zwanzig Meter hoch zwischen Ästen und Lianen, die andere steckte fast zur Hälfte im Lehmboden. Es war geradezu ein Wunder, daß der Rumpf fast unbeschädigt geblieben war. Er hatte einige Einbuchtungen abbekommen, sonst aber nichts. Sie standen stumm vor der Ruine. Ihre Gesichter waren ernst. Hal Mervin platzte endlich tröstend heraus: »Bestimmt gibt das noch einen brauchbaren Kahn.« »Möglich«, gab Sun Koh geistesabwesend zu. »Jedenfalls ist es kein Flugzeug mehr. Wir können es nicht reparieren.« »Reif zum Verschrotten«, murmelte Nimba. 15
»Und keine Reparaturwerkstatt in der Nähe«, seufzte Hal. »Im Umkreis von einigen tausend Kilometern wohl kaum«, sagte Sun Koh. »Wir müssen das Flugzeug aufgeben und versuchen, zu Fuß weiterzukommen.« »Vielleicht können wir ein Auto mieten?« »Laß deine Witze«, verwies Sun Koh ungehalten. »Unsere Situation ist ernst genug. Wir befinden uns praktisch ohne Hilfsmittel im Urwald des Amazonas, inmitten einer mörderischen Natur und im Bereich von Bewohnern, die uns bestimmt nicht freundlich aufnehmen werden. Nach menschlichem Ermessen wird es uns schwer fallen, lebend aus diesem Gebiet herauszukommen.« Hal zog ein klägliches Gesicht. »Wenn das meine Lebensversicherung wüßte, würde die glatt einen Hubschrauber herschicken. Können wir nicht Hilfe heranholen?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ich habe das Funkgerät probiert, während ihr schlieft. Fehlanzeige.« »Ist das dort drüben der Amazonas?«fragte Hal. »Wohl kaum, höchstens einer seiner zahlreichen Nebenflüsse oder der Nebenfluß eines Nebenflusses. Wir können uns nicht mehr genau orientieren. Der Sturm hat die Instrumente beschädigt. Da uns der Sturm jedoch nicht weit trug, könnten wir uns unge16
fähr an der Stelle befinden, die ich kurz vorher ablas. Sofern die Kartenangaben etwas taugen, wäre das also das Gebiet zwischen Jurua, Amazonas und Yavari.« »Schon Oberlauf, nicht wahr?« »Ja, eine Gegend, in die wohl noch kein Weißer vorgedrungen ist. Tausende von Kilometern im Umkreis um uns herum befindet sich unerforschtes Gebiet, die berüchtigte grüne Hölle des Amazonas.« »Und ausgerechnet hier müssen wir hineinplumpsen«, seufzte Hal. »Ich bin neugierig, ob wir uns wieder herausschlängeln.« Sun Koh hob die Schultern. »Versuchen werden wir es auf alle Fälle. Leider fehlt es uns am Nötigsten. Noch nicht einmal eine Axt haben wir zur Verfügung. Wir brauchen aber Äxte oder schwere Haumesser, wenn wir durch diesen Urwald hindurchkommen wollen.« »Und wenn wir auf dem Wasser fahren?« »Dann fehlt uns ein Boot.« »Die Bäume?« »Ja, aber es wird uns viel Mühe kosten, bis wir aus einem dieser Bäume ein Boot herausgeholt haben. Wahrscheinlich muß es aber sein. Wir können nur auf dem Wasserweg den Versuch machen, auf den Amazonenstrom zu gelangen und dann solange flußabwärts zu fahren, bis wir eine Siedlung treffen.« »Aber das kann doch wochenlang dauern«, meinte Hal. 17
»Monatelang«, sagte Sun Koh. »Vielleicht brauchen wir sogar Jahre, bevor wir aus diesem Gebiet herauskommen.« »Bis dahin sind wir alt und grau und haben längst vergessen, wie es in der Welt aussieht.« Nimba faßte Sun Koh plötzlich am Arm. »Da…« Sun Koh sah gerade noch eine flüchtige Bewegung zwischen Gras und Busch. »Was war?« »Ein Mensch«, flüsterte Nimba. »Ein Eingeborener, ganz nackt, mit einer dünnen Stange auf dem Rücken. Er erschrak, als er uns sah, und machte sofort kehrt.« In der Ferne rasselten Trommeln. Dünn und hölzern klang es, fast so, als ob Kinder auf Blechtrommeln schlügen. Und doch lag in diesem fast unbeholfenen Klappern eine furchtbare Drohung. Die drei am Flugzeug griffen unwillkürlich nach ihren Pistolen. »Das ist die Antwort auf die Nachricht, die der Mann gebracht hat«, sagte Sun Koh leise. »Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind die Indianer hier. Das Trommeln kommt näher. Klettere auf das Flugzeug hinauf, Nimba. Du hast von oben eine bessere Sicht. Du besetzt das vordere Fenster, Hal. Nicht schießen, bevor es nicht zum Äußersten kommt. Aber gebt gut acht. Wir müssen mit Giftpfeilen rechnen.« 18
Die beiden bezogen stumm ihre Plätze. Minuten vergingen. »Bewegung im Busch«, meldete Nimba von oben. »Mindestens zwei Dutzend Leute. Man sieht aber nur ab und zu einen Kopf.« »Die Eingeborenen scheinen klein zu sein.« »Ja. Ah, da kommt jemand hinter ihnen hergerannt.« Die Trommeln dröhnten stärker. Nimba berichtete hastiger. »Jetzt hat er die anderen eingeholt. Er schwingt ein Gewehr.« Sun Koh streckte sich. »Ein Gewehr?« »Ja.« »Rätselhaft!« Das Trommeln brach plötzlich ab. Im Busch wurde es still. »Der Mann kommt allein vor. Die anderen bleiben stehen.« Nun sah auch Sun Koh den einzelnen Mann herankommen. Er brach mit schnellen Schritten durch Büsche und Gras, wobei er über seinem Kopf einen grünen Wedel schwenkte. In der herabhängenden Hand hielt er einen Gegenstand, der tatsächlich ein Gewehr sein konnte. Genaues ließ sich von Sun Kohs Platz aus nicht sagen, da die Gräser noch verdeckten. 19
»Nicht schießen!« warnte Sun Koh halblaut. »Der grüne Zweig ist wohl das Zeichen der friedlichen Annäherung. Beobachte die anderen, Nimba.« Der Mann wurde deutlich sichtbar. Er trug außer einem Laubschurz nichts auf dem Leib. Über die Schulter lief jedoch ein schmutziggrauer, breiter Kordstreifen, an dem flache Patronentaschen saßen. Die linke Hand hielt tatsächlich ein Gewehr, während die Rechte immer noch den grünen Busch schwenkte. Die Haut des großen, kräftig gebauten Mannes war rotbraun. Sie war mit Rissen, verheilten Schürfungen und alten Narben förmlich übersät. Es war nicht die Haut eines Indianers, sondern die eines Weißen, die durch jahrelangen Aufenthalt in diesen Breitengraden gegerbt worden war. Oder hatten sie es doch mit einem Eingeborenen zu tun? Gewehr und Patronengürtel, Körpergestalt und Haut sprachen für einen Weißen, auch Augen und Haare wirkten verhältnismäßig hell. Andererseits war der Mann unglaublich verwildert. Der Körper starrte von Schmutz, ebenso der üppige Vollbart und die lang über die Schulter fallenden Haare. Er kam über die letzten zwanzig Meter im Laufschritt heran. Er stieß dabei Rufe aus, die keiner der drei verstand. Schließlich stand er vor Sun Koh und redete in wirren Lauten durcheinander. Offensichtlich wurde er von einer ungeheuren Erregung geschüttelt. 20
Sun Koh hielt schließlich seinen Arm fest. »Ruhig. Sprechen Sie englisch?« Es war, als ob diese wenigen Worte ein Tor aufrissen. Der Mann stand plötzlich ganz still, holte tief Atem und sagte dann mit erschütternder, holpriger Einfachheit: »Das war es. Ich mußte Sie sprechen hören, um zu wissen, daß ich noch englisch sprechen kann. Ich habe es jahrelang nicht getan und es darüber fast vergessen. Ich heiße Jerry Recife. Wie kommen Sie hierher?« »Ich heiße Sun Koh. Dort auf dem Flugzeug sehen Sie meinen Freund Nimba, und dort am Fenster steht Hal Mervin. Wir befanden uns auf einem Flug, wurden von einem Sturm überrascht und stürzten ab.« Jerrys Augen gingen über die Trümmer des Flugzeugs. »Glück gehabt«, murmelte er. »Aber vielleicht wäre es besser für Sie gewesen, wenn Sie tot hier unten gelandet wären. Das hätte Ihnen viel erspart.« »Sie sehen unsere Lage schwarz, nicht wahr?« Jerry stieß einen rauhen Laut aus, den man zur Not für ein Lachen halten konnte. »Nun, mit mir ist zwar auch nicht viel los, aber in diesem Fall hat mich das Schicksal als rettender Engel hierher verschlagen. Sie wären jetzt schon tot, wenn ich nicht diese verrückten Puhadas zurückgehalten hätte.« »Puhadas?« 21
Jerry nickte und beschrieb mit dem Arm einen Halbkreis. »Dort hinten liegen sie. Jeder hat sein Blasrohr und ein Dutzend Giftpfeile bei sich. Sobald einer dieser Pfeile Ihnen auch nur die Haut ritzt, sind Sie verloren.« »Wie kommen Sie …« »Warten Sie«, unterbrach Jerry Recife. »Ich muß zunächst zu den Puhadas zurück. Wir haben soviel zu erzählen, daß wir in ein paar Minuten ohnehin nicht fertig werden. Und sehr lange warten sie nicht. Man muß sie sehr vorsichtig behandeln, denn wenn sie schlechte Laune bekommen, blasen sie uns ihre Pfeile ins Gesicht. Bleiben Sie hier. Ich werde die Puhadas heranholen. Sie brauchen vorläufig nichts zu befürchten. Mein Einfluß ist gerade groß genug, um sie friedlich zu halten. Sie werden bestimmt nichts Feindliches unternehmen, solange sie neugierig sind. Man wird Sie zu den Hütten führen. Kommen Sie ruhig mit, nachdem Sie Ihr Flugzeug dicht gemacht haben. Ich werde dafür sorgen, daß Sie zurückkehren können, bevor es Abend ist. Dann wollen wir alles Weitere besprechen.« »Einverstanden«, sagte Sun Koh. Jerry lief zurück. »Wer ist das?« erkundigte sich Hal. »Ein Weißer, der irgendwie hierher verschlagen wurde. Er kommt gleich mit den Eingeborenen zu22
rück. Seid vorsichtig in euren Bewegungen und Mienen. Er sieht eher wie ein Buschneger als wie ein Weißer aus. Sind Ihnen die furchtbaren Narben an seinem Körper aufgefallen?« »Mir ist noch mehr aufgefallen. Er sieht wie ein Mensch aus, der jahrelang in der Hölle gelebt hatte.« »Die Indios kommen«, meldete Nimba. 2. Die Puhadas kamen. Sie glitten zwischen Büschen und Gräsern heran, kaum mehr als eineinhalb Meter groß. Ihre Körper waren hager und zierlich, ihre Beine dünn, doch traten die Bäuche gewölbt vor. Die Gesichter wirkten sehr flach und ausdruckslos, die kleinen Augen blickten scheu und unruhig, dabei aber stumpf und unbelebt. Die Haare lagen in schwarzen Strähnen weit über der niedrigen Stirn. Sie waren dicht über den Augen ponyartig weggeschnitten. Die schmutzigen, ölverschmierten Körper waren nackt. Bei einigen wirkte die Haut wie brauner, stumpfer Samt, aber bei der Mehrzahl verband sich die ursprüngliche Hautfarbe mit einer undefinierbaren Kruste. Die Nacktheit wurde nur durch einen dünnen Lianenstrick, der um die Hüfte lief, unterbrochen. An ihm hingen Taschen aus Binsengeflecht, in denen sich die sorgfältig in Blätter eingehüllten Gift23
pfeile befanden. Die Bewaffnung der Puhadas bestand aus einer kurzen Keule aus hartem glänzendem Holz, die in der linken Hand getragen wurde. In der rechten hielten sie ein langes Rohr – das Blasrohr, mit dessen Hilfe sie die Giftpfeile abschossen. Neugierig starrten die Puhadas auf die drei Fremden. Einige Zudringliche wagten sich dichter heran und versuchten Sun Koh zu betasten. Ein scharfer Ruf Jerrys veranlaßte sie, wieder Abstand zu nehmen. Es waren rund zwei Dutzend Männer. Ihre Lippen bewegten sich fast ununterbrochen, plapperten und zischten unverständliche Laute. Einer von ihnen gurgelte und schnatterte Jerry etwas ins Gesicht. Dieser übersetzte es. »Die Puhadas laden ihre neuen Freunde ein, sie in den Hütten zu besuchen. Bitte folgen Sie.« Umgeben von den lautlos dahinhuschenden Eingeborenen schritten Sun Koh und seine beiden Begleiter neben Jerry her. »Wie heißt der Fluß hinter uns?« erkundigte sich Sun Koh. »Er wird wohl auf keiner Karte verzeichnet sein. Es ist ein unwichtiger Nebenfluß, der irgendwie mit dem Amazonas zusammenhängt. Die Indianer nennen ihn den Fluß der großen Schlange. Das hat aber nichts zu bedeuten. Beim nächsten Stamm heißt 24
er schon wieder anders.« »Gibt es hier keine Giftschlangen?« fragte Hal und wies auf die nackten Füße der Eingeborenen. »Mehr als genug, aber die Puhadas wissen schon, wie man ihnen aus dem Weg geht. Sie sind von Kindheit an in diesem Urwald und kennen ihre Umgebung besser als andere ihre Heimatstadt. Übrigens nehmen sie es nicht tragisch, wenn einer von einer Schlange gebissen wird. Er ist dann eben tot.« »Haben die Puhadas Angst vor uns?« fragte Sun Koh. »Angst?« Jerry wunderte sich. »Wieso? Wenn Sie etwa meinen, daß sie Ihre Pistolen fürchten, haben Sie sich geirrt.« »Das nicht, aber ich hatte den Eindruck, daß auf den Gesichtern ein Ausdruck von Angst liegt.« Jerry nickte. »Das meinen Sie. Ja ja, ich vergaß, daß Sie diese Leute zum erstenmal sehen. Ich entsinne mich, daß ich anfangs auch diesen Eindruck hatte. Aber er täuscht. Sie haben keine Angst. Sie sehen immer so aus. Aber vielleicht kann man es auch Angst nennen. Die Puhadas sind außerordentlich scheu und stehen unter der Gewalt einer Natur, von der Sie sich wohl kaum eine richtige Vorstellung machen können. Hier ist der Mensch kein Herrengeschöpf, das stolz und sieghaft über die Erde schreitet, sondern ein kärglich ausgestattetes Tier, das sich nur unter tausend Vor25
sichten, Schlichen und Listen kläglich zu halten weiß. Die übermächtige Natur erdrückt den Menschen. Er schleicht geduckt durch den Urwald und ist froh, wenn er den zahlreichen Schrecknissen ausweichen kann. Diese Puhadas leben nicht, sondern vegetieren. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen…« »Vollkommen«, sagte Sun Koh. »Wir haben ja gestern das Gewitter erlebt.« »Dann haben Sie wenigstens einen kleinen Vorgeschmack bekommen. Betrachten Sie es als Anfang – und vielleicht als Anfang vom Ende.« Der lianenverhangene Urwald trat weiter zurück. Voraus wurde blauschimmerndes Wasser sichtbar, das von Schilfstreifen eingerahmt war. Nicht weit vom Wasser standen einige Hütten, die nur aus hölzernen Pfeilern und Dach bestanden. Drei von ihnen waren auffallend hoch, die vierte war tief geduckt. In den hohen Hütten hingen Dutzende von Hängematten über- und nebeneinander. Zwischen ihnen stieg blauer Rauch nach oben, so daß Hal fragte: »Dort brennt es wohl?« »Es brennt schon«, bestätigte Jerry nicht ohne Humor, »aber absichtlich. Unten wird ein Feuer in Gang gehalten. Der Rauch streicht Tag und Nacht durch die Hütten, um die Moskitos fernzuhalten.« Vielfaches Geschrei schallte den Ankömmlingen entgegen. Zwischen den Hütten wimmelte eine ganze Menge Menschen herum, Männer, Frauen und Kin26
der, alle gleich nackt, alle gleich scheu und alle gleich neugierig. Die flachen Gesichter sollten wohl Freundlichkeit ausdrücken, trotzdem wirkten sie aber nur wie komische, verzerrte Fratzen. Die Freundlichkeit wirkte keinen Augenblick recht glaubhaft, zumal die Trommeln fast dauernd rasselten. In der kleinen Hütte hockte über einem qualmenden Feuer ein verunglücktes Lebewesen und rührte mit einem Stab in dem Gefäß herum, das auf dem Feuer stand. Irgendeiner der Puhadas redete auf Sun Koh und seine beiden Leute ein, als sie auf dem Platz zwischen den Hütten angekommen waren. Sie hörten mit unbewegten Mienen zu. Jerry übersetzte wieder: »Das ist eine Einladung zum Essen. Ich werde sie in Ihrem Namen annehmen.« Er gab dem Redner der Puhadas in deren Sprache eine wort- und gestenreiche Antwort, dann winkte er Sun Koh. »Kommen Sie, dort zum Feuer.« Sie hockten sich auf der bloßen Erde um das Feuer herum nieder. Die Eingeborenen nahmen gegenüber Platz oder bildeten einen Kreis, machten dabei aber nicht den Eindruck, als ob sie sich noch übermäßig für die Fremden interessierten. Ältere Frauen brachten auf großen Blättern verschiedene Speisen, die sie vor den Fremden auf die Erde legten. Hal konnte sich nicht enthalten, mißtrauisch zu schnüffeln. 27
»Das können Sie ruhig essen«, beruhigte Jerry. »Das Fleisch stammt von Affen und schmeckt nicht schlecht, das andere sind Bananen, Maniokwurzeln und Paranüsse, geröstet und miteinander vermischt.« »Gar nicht schlecht«, lobte Sun Koh, nachdem er zugelangt hatte. »Das Fleisch schmeckt sehr fade, nicht wahr?« »Es ist ungesalzen. Dieser Stamm kennt das Salz überhaupt nicht.« »Ich wundere mich schon, daß sie sich überhaupt zu solchen Nahrungsmitteln aufgeschwungen haben?« Jerry hob die Schultern. »Gott, sie essen auch noch anderes Zeug. Als größter Leckerbissen gelten Maden und Engerlinge, die sich die Puhadas aus verfaulten Baumstämmen herausholen.« Hal schüttelte sich. »Wie steht’s mit Fischen?« fragte Sun Koh. »Fische gibt es genug, aber die Eingeborenen fangen sie nicht, sie haben keine Angeln.« »Andere wilde Völker fangen die Fische mit Pfeil und Bogen oder mit dem Speer.« »Diese Waffen sind bei den Puhadas unbekannt. Außer der Keule ist ihre einzige Waffe das Blasrohr, aus dem sie ihre giftigen Pfeile herausblasen.« Einer der Eingeborenen sagte etwas zu Recife. Dieser antwortete und wandte sich dann wieder an Sun Koh. 28
»Die Leute wollen noch auf die Jagd, wundern Sie sich also nicht, wenn sie nach und nach verschwinden. Ein paar werden immer hierbleiben.« Tatsächlich löste sich die Runde kurz darauf auf, so daß sich Jerry mit den drei Ankömmlingen ziemlich ungestört unterhalten konnte. »War das der Häuptling des Stammes?« erkundigte sich Sun Koh. Jerry schüttelte den Kopf. »Einen Häuptling gibt es nicht. Unsere Begriffe sind für das Zusammenleben dieser Menschen nicht recht anwendbar. Diese Puhadas sind genau genommen eine zusammengelaufene Horde, die nur deshalb zusammen wohnt, weil einer zum Schutz des anderen wird. Im allgemeinen lebt jeder mit seiner Familie für sich, keiner kümmert sich um den andern. Ein Oberhaupt anerkennen sie nicht. Der einzige Mann, der etwas mehr Bedeutung besitzt, ist der Alte dort in der kleinen Hütte. Er spielt so etwas Ähnliches wie einen Zauberer, seine Hauptaufgabe liegt jedoch in der Zubereitung des Pfeilgiftes. Dafür, daß er die Männer mit dem nötigen Gift versorgt, erhält er seine Lebensmittel, so daß er nicht auf die Jagd zu gehen braucht.« »Ist das Gift sehr stark?« »Ein Ritz in die Haut, eine winzige Spur ins Blut, und man ist tot. Innerhalb weniger Minuten rührt man kein Glied mehr. Es ist ein ungeheuer wirksa29
mes Gift. Wenn die Puhadas einmal hinter einem Menschen her sind, dann ist er so gut wie verloren. Sie bewegen sich fast geräuschlos, und den Pfeil, den sie aus dem Rohr blasen, hört man nicht kommen. Der Tod kommt über den Menschen, bevor er es recht begriffen hat.« Sie erhoben sich und wanderten zwischen den Hütten bis zum Wasser hinunter. »Ich will Ihnen etwas zeigen«, sagte Jerry, »was für uns von größter Bedeutung sein wird.« Als sie am Wasser ankamen, hielt er an und wies auf einen dunklen Baumstumpf, der halb im Wasser stand. »Das ist es nicht, was ich Ihnen zeigen will, aber das wird Sie auch interessieren. An diesen Pfahl binden die Puhadas die Männer und Frauen, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht haben. Die Krokodile wissen schon Bescheid und holen sich ihre Beute ziemlich schnell.« »Diese Eingeborenen bestrafen den Ehebruch so scharf?« »Ja. Sie können zwar für drei Hundezähne eine Frau kaufen, aber sie müssen sie dann auch behalten und ihr treu bleiben. Das Familienleben der Puhadas ist bei aller Einfachheit ziemlich eng. Wer Ehebruch begeht, kommt vor die Krokodile.« »Sie sprachen von Hundezähnen?« »Das ist hier die übliche Münze. Geld gibt es 30
nicht, die einzigen Wertgegenstände sind die Eckzähne von Hunden, die oft von weit her kommen, denn die Puhadas besitzen selbst keine Hunde. Diese Zähne ersetzen das Geld und dienen gleichzeitig als Schmuck. Außerdem gibt es noch Wertgegenstände, die aber noch seltener sind als Hundezähne – das sind die geräucherten Köpfe von menschlichen Feinden. Sie werden abgeschlagen, ausgehöhlt, mit Sand gefüllt und dann monatelang über dem Feuer geröstet. Sie schrumpfen bis auf die Hälfte ihrer Größe zusammen, halten sich aber dafür jahrzehntelang.« »Eine barbarische Sitte.« Jerry nickte. »Den Toten kann es ja gleich sein, aber für die Überlebenden ist es ein entsetzlicher Anblick, wenn er die Köpfe seiner Freunde als Räucherwaren wiedersehen muß. Doch lassen wir das vorläufig.« Das hatte so herb und bitter geklungen, daß Sun Koh weiter keine Frage stellte. Stumm schritten sie am Ufer weiter. Nach einigen hundert Metern bot sich ihnen ein überraschender Anblick. Zwischen Gras und Busch stand eine Reihe von Kisten, die meisten aus Blech, einige verlötet, alle verschlossen. »Was ist das?« fragte Sun Koh erstaunt. Jerry machte eine umfassende Handbewegung. »Diese Kisten, ich und ein halbes Dutzend eingeschrumpfter Köpfe in der Hütte des Giftmischers 31
sind alles, was von einer stattlichen Expedition übrigblieb, die vor langen Jahren auszog, um diese Landgebiete am Oberlauf des Amazonas zu erforschen. Fragen Sie nicht weiter, ich werde Ihnen alles noch im Zusammenhang erzählen. Wir wollen jetzt nichts tun, als uns klar zu werden, um dann so schnell wie möglich zu handeln. Zunächst: Haben Sie die Absicht hierzubleiben?« »Natürlich nicht. Wir wollen unter allen Umständen versuchen, zivilisierte Gegenden zu erreichen.« »Darf ich mich Ihnen anschließen?« »Selbstverständlich. Sie werden uns damit sogar einen großen Dienst erweisen, denn Sie kennen die Gefahren dieses Landes.« Jerry nickte befriedigt. »Gut, ich hatte das nicht anders erwartet. Als einzelner habe ich es nicht gewagt, mich durch den Urwald zu schlagen, aber als ich Sie sah, da stand mein Entschluß fest. Nun das zweite: Wie steht es mit Ihrer Ausrüstung?« »Sehr schlecht. Ich glaube, uns fehlt das Notwendigste. Pistolen haben wir zwar, aber das ist auch alles. Uns fehlen Gewehre.« Jerry wies auf eine der Kisten. »Dort liegt ein halbes Dutzend Gewehre sorgfältig eingeölt, daneben mehr Munition, als wir tragen können.« »Wir haben keine Medikamente.« 32
»Diese ganze Kiste ist voll Chinin.« »Äxte oder Haumesser?« »Hier liegt ein Dutzend schwerer Macheten.« Sun Koh atmete tief auf. »Sie nehmen mir eine schwere Sorge vom Herzen. Mit diesen drei Dingen ausgerüstet, wird es uns leichter fallen, durch den Urwald zu kommen.« »Es ist noch mehr da. Wir waren gut ausgerüstet. Vor allem werden wir Hängematten brauchen, von denen eine ganze Anzahl in einer der Kisten liegen muß. Wir dürfen natürlich auch nicht zuviel mitnehmen, weil wir keine Träger haben.« »Wie ist es möglich, daß die Indianer diese Kisten jahrelang so ruhig stehen ließen?« »Sie haben keine Verwendung dafür. Die Einzelstücke, die hier überall herumlagen, haben sie im Laufe der Zeit weggeschleift, aber ohne jemals davon Gebrauch zu machen. Diese Kisten ließen sie stehen. Ich brachte ihnen bei daß böse Geister in ihnen stecken.« »Ein Glück für uns. Werden die Puhadas es dulden, daß wir die Kisten forttragen?« Recife blickte nachdenklich zu Boden. »Ich führte Sie absichtlich so schnell wie möglich hierher, weil ich das Gefühl habe, daß wir bald handeln müssen. Die Indianer sind wie die Kinder – jetzt freundlich und gutwillig, im nächsten Augenblick unerbittlich grausam. Ich habe ihnen vorhin vorge33
schwatzt, daß Sie gekommen sind, um die bösen Geister fortzuschaffen. Sie schienen es zu glauben, aber man weiß nie, wie sie in einigen Stunden darüber denken. Ich wollte Ihnen daher vorschlagen, die Kisten sofort aufzubrechen und alles zu Ihrem Flugzeug zu schaffen, was wir verwenden können. Die Männer sind größtenteils auf die Jagd gegangen, so daß wir hier ungestört arbeiten können. Haben wir die Sachen einmal aus dem unmittelbaren Bereich der Indianer heraus, so mögen sich die Dinge entwickeln wie sie wollen.« Sie machten sich sofort an die Arbeit. Jerry Recife staunte nicht schlecht, als die drei Fremden aus den Stahlschnallen ihrer Gürtel winzige, kaum sichtbare Klingen herauszogen und damit die Blechkisten aufschnitten, als ob sie aus Papier beständen. »Ich merke«, seufzte er, »daß ich jahrelang außer der Welt gewesen bin. Solche Messer habe ich noch nicht kennengelernt.« »Sie sind auch jetzt noch sehr selten«, erwiderte Sun Koh leichthin. »Hoffentlich haben Sie nicht vergessen, Rasiermesser mitzubringen?« Sun Koh lächelte. »Sie werden sich nachher wieder menschlich herrichten können. Kleider haben wir auch an Bord.« »Es wird mir nicht leicht fallen, mich wieder daran zu gewöhnen. Hier sind die Macheten.« 34
Säuberlich geordnet, eingewickelt und geölt lagen die schweren Haumesser in der Kiste. Kein einziger Rostfleck trübte die blanken, breiten Klingen. Hal Mervin hieb mit einer der Macheten sausend durch die Luft. »Donnerwetter«, meinte er, »das sind Dinger. Damit muß man doch ganze Bäume durchschlagen können?« Jerry lachte kurz auf. »Haben Sie eine Ahnung. Die Messer sind zwar schwer wie drei Äxte und scharf wie Rasierklingen, aber sie reichen trotzdem nur gerade hin, um sich durch das Lianengewirr hindurchzuschlagen. Wenn man vom frühen Morgen bis zum Abend ununterbrochen mit der Machete arbeitet, kommt man doch höchstens fünf Kilometer vorwärts, und dann hat man noch nicht einmal eine regelrechte Gasse gehauen, sondern nur einen Durchschlupf, der in einigen Tagen schon wieder überwuchert ist.« »Da können wir uns ja auf etwas gefaßt machen«, murmelte Hal ahnungsvoll. Sie holten nacheinander Gewehre, Patronen, Hängematten, Chinin und andere Dinge aus den Kisten heraus, packten sich alles auf und traten den Rückweg an. Die Eingeborenen, die sich im Dorf befanden, schnatterten erregt auf sie ein, aber es gelang Jerry, sie zu beschwichtigen. Man hielt sie nicht auf. Sie kamen ungefährdet zum Flugzeug zurück. 35
Jerry war sichtlich erleichtert. »Das schwerste Stück haben wir geschafft«, sagte er. »Selbst wenn uns die Puhadas noch angreifen, haben wir immer noch die Möglichkeit zur Flucht. Ich würde auf jeden Fall raten, daß wir uns gleich ein Boot beschaffen. Wir verankern es im Schilf. Das Flugzeug liegt so günstig, daß wir es vor dem Zugriff der Indianer schützen können. Und ob wir morgen noch Zeit genug haben, das Boot fertig zu machen, wage ich zu bezweifeln.« »Ein Boot?« erwog Sun Koh. »Werden wir dazu nicht längere Zeit brauchen?« »Eine halbe Stunde.« »Aber…« »Doch. Man muß nur den richtigen Baum kennen. Wenn ich nicht irre, stehen flußaufwärts einige Palmettos. Kommen Sie.« Sie gingen ein Stück flußaufwärts. Jerry wies auf einige Bäume von verhältnismäßig heller Farbe. »Das sind Palmettos, eine der schönsten Gaben, die dem Menschen in dieser Wildnis von der Natur geschenkt werden. Wir werden gleich diesen Baum nehmen.« Die Äxte schlugen dumpf in das weiche Holz. Der Stamm war über zwei Meter dick, stürzte aber trotzdem schon nach zwanzig Minuten mit einem dumpfen Krach durch das Lianengewirr hindurch in das sumpfige Ufer hinein. 36
»Ein herrlicher Baum!« lobte Jerry. »Er ist die Rettung für alle, die ihr Heil auf dem Wasser suchen müssen. Im Handumdrehen ist ein Boot fertig. Es ist ein bißchen wacklig, trägt aber bei einigem Geschick sicher durch diese Hölle hindurch. So, jetzt können wir mit dem Aushöhlen beginnen.« Sie hatten von dem zwei Meter starken Stamm ein ungefähr acht Meter langes Stück abgeschlagen. Nun holten sie aus diesem Stück das Holz heraus, so daß eine Art Trog entstand. Ein merkwürdiger Baum war dieser Palmetto schon. Er bestand eigentlich gar nicht aus Holz, sondern aus einer zähen, festen Rinde, die ein markähnliches Innere umhüllte. Die weichen, saftreichen Fasern ließen mühelos herausschlagen. Vorn und hinten blieben auf Jerrys Anweisungen hin doppelte Schichten des Marks stehen, zwischen die dicker Lehm gepreßt wurde. Damit war das Kanu fertig. Sie stellten noch schnell einige Paddel her, dann drückte Jerry das Boot ins Wasser und ließ es flußabwärts bis zu der Stelle treiben, an der sich das Flugzeug befand. Dabei wich er geschickt einem riesigen Krokodil aus, das sich dem zerbrechlichen Fahrzeug in träger Neugier in den Weg legen wollte. Als Sun Koh mit seinen beiden Begleitern beim Flugzeug angelangt war, machte Jerry das Boot schon im Schilf fest und gesellte sich wieder zu den 37
dreien. Auf seinem Gesicht zeigte sich zum erstenmal Hoffnung. »Jetzt können die Puhadas kommen«, meinte er. »Ich glaube, wir werden ihnen entwischen.« »Sie fürchten sie sehr, nicht wahr?« »Mehr als alles andere, was es sonst noch in diesem verrückten Land gibt«, gestand Jerry unumwunden. »Dann bleiben Sie am besten gleich bei uns. Oder möchten Sie zu den Hütten zurückkehren?« »Ich werde mich hüten. Ich habe keine Lust, mein so lange aufbewahrtes Leben in dem Augenblick zu opfern, in dem ich wieder angefangen habe zu hoffen.« Wie eine Unterstreichung kam aus der Ferne das Rasseln der Trommeln, hölzern und kindlich einfach und dennoch drohend. Von Mittag bis Abend saßen sie zu viert im Flugzeug. Jerry Recife sah jetzt wesentlich verändert aus. Die Kleidungsstücke Sun Kohs, die er trug, gaben ihm das Aussehen eines Europäers. Sein struppiger Bart war gefallen. Ein scharfkantiges, energisches Gesicht war darunter zum Vorschein gekommen. Auch die Haare hatte er sich geschnitten und gewaschen. Insgesamt machte er wieder einen menschlichen Eindruck. Lange herrschte Schweigen. Sun Koh und seine beiden Begleiter spürten, daß der Augenblick ge38
kommen war, in dem Jerry erzählen wollte. Sie ließen ihm Zeit und warteten, während er vor sich auf den Boden starrte. »Ich glaube, ich muß Ihnen eine Menge erzählen«, begann er endlich zögernd. »Ich weiß bloß nicht, wie ich anfangen soll. Wissen Sie, was ein Seringueiro ist?« »Nein.« »Ein Kautschuksucher. Ich war Seringueiro, fast solange ich denken kann. Ich wurde irgendwo in der Stadt Recife an der Küste geboren. Man fand mich vor einer Hütte liegend. Mein Vater soll ein Engländer gewesen sein, meine Mutter eine Quadronin. Genaues konnte ich nicht erfahren. Ich habe jedenfalls meine Eltern nie gekannt. Irgendwo bin ich am Rand der Stadt groß geworden. Ich war noch keine zwanzig Jahre, als ich in den Urwald ging – als Kautschuksucher.« »Ich hielt diesen Beruf für ausgestorben«, warf Sun Koh ein. »Kautschuk wird doch heute in Plantagen gewonnen, so daß sich die Arbeit eines Kautschuksuchers kaum mehr lohnen wird.« Jerry schüttelte den Kopf. »So leicht stirbt der Kautschuksucher nicht aus, wenigstens nicht, solange es noch Menschen gibt, die für ein paar Eimer Kautschukmilch ihr Leben wagen. Seringueiros sind Männer, die nichts mehr zu verlieren haben. Die finden schon einen Händler, der sie 39
auf Kredit ausrüstet und ihnen nachher die Mühe von Monaten mit einem Schandgeld bezahlt. Dieser Kautschuk ist billig, viel billiger als der Plantagenkautschuk, und deshalb wird es immer Seringueiros geben. Und den Seringueiro treibt es immer wieder in den Urwald, obgleich dieser die Hölle für ihn bedeutet und obgleich er tausendmal schwört, keinen Fuß wieder in ihn hineinzusetzen. Aber sobald er heraus ist, zieht es ihn mit Gewalt wieder zurück. Er kommt nicht los. Es ist eine Art Sehnsucht, eine Art Gefesseltsein. Und dazu kommen dann natürlich die wirtschaftlichen Verhältnisse. Das schwer verdiente Geld ist in wenigen Tagen oder Wochen verjubelt, so daß dem Seringueiro schließlich nichts anderes übrig bleibt, als das Angebot des Händlers anzunehmen.« »Schwere Arbeit, nicht wahr?« Jerry lachte kurz und verbissen auf. »Schwer? Das reicht kaum. Sie werden es besser beurteilen können, wenn Sie erst einmal ein paar Tage durch diesen Wald gewandert sind. Zunächst einmal dauert es oft viele Wochen, bevor man nach mühseligem Suchen eine Estrada gefunden hat, also einen Platz, an dem die Gummibäume dichter beieinander stehen. Aber machen Sie sich keine falschen Vorstellungen. Eine derartige Estrada umfaßt ein ausgedehntes Gebiet. Die Bäume stehen nicht einer neben dem anderen, sondern Hunderte von Metern voneinander entfernt. Ein einziger Rundgang durch 40
die Estrada dauert gewöhnlich einen ganzen Tag. Und jede Tageswanderung bietet hundert Gelegenheiten zu sterben. Man haut sich mit der Machete durch den Wald hindurch, klettert über gestürzte Bäume, watet durch Sümpfe, läßt sich von Blutegeln und Zecken halb auffressen und ist froh, wenn man Krokodile, Buschmeister oder Korallenottern rechtzeitig bemerkt. Ein feines Leben, sage ich Ihnen, von dem sich niemand etwas träumen läßt, der es nicht selbst mitgemacht hat.« »Sie ritzen die Gummibäume an, um den Kautschuk zu gewinnen?« »Ja. Man schlägt Kerben in die weißen Stämme hinein und hängt alte, verrostete Blechbüchsen darunter. In einige Stunden haben sie sich mit dem weißen, zähen Saft gefüllt. Der Saft wird in Eimern zum Lagerplatz getragen. Manchmal trinkt der Seringueiro in seiner Verzweiflung auch die Milch, wenn ihm nicht Zeit bleibt, einen Affen zu schießen. Sie schmeckt gut, aber sie ist ungesund. Deshalb hütet man sich gewöhnlich davor. Affenfleisch ist jedenfalls besser.« »Ich kann mir größere Delikatessen denken«, murmelte Hal. »Im Urwald ist man oft genug froh, einen Affen schießen zu können, obgleich es Tiere in Hülle und Fülle gibt. Ich finde das Fleisch nicht schlecht, und man gewöhnt sich daran.« 41
»Wie wird aus der Kautschukmilch der feste Kautschuk gewonnen?« fragte Sun Koh. »Er wird geräuchert«, gab Jerry Auskunft. »Man räuchert ihn über offenem Feuer. Dabei wird er allmählich fest. Er entwickelt aber scharfe, giftige Dämpfe. Eine unangenehme Arbeit, aber sie muß eben erledigt werden. Wenn der Seringueiro Frau und Kinder mit in den Wald genommen hat, müssen diese das Räuchergeschäft übernehmen.« »Frauen und Kinder?« Jerry hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Was wollen Sie? Die meisten Seringueiros sind Halbindios, die nicht das Geringste dabei finden. Der Mensch stumpft auch gegen die größten Gefahren und gegen die unangenehmsten Lebenslagen ab. Man gewöhnt sich so sehr an alles, daß man sich nicht einmal mehr um die Blasrohrindianer sorgt. Finden sie einen, so hat sich der Fall eben erledigt, denn gegen Giftpfeile gibt es kein Mittel. Außerdem hat der Gummisucher gar keine Zeit, sich dauernd selbst zu bewachen. Wer Glück hat, wird von den Indios nicht entdeckt, und viele haben dieses Glück jahrelang.« »Und Sie sind als Gummisucher bis hierher verschlagen worden?« Jerry schüttelte den Kopf. »Als Gummisucher? Nein, so wahnsinnig bin ich denn doch nicht gewesen. Das kam ganz anders.« Er schwieg eine ganze Weile, bevor er nachdenklich 42
fortfuhr: »Ich habe zehn Jahre meines Lebens als Gummisucher im Urwald verbracht. Von der Welt weiß ich nicht viel – nicht mehr als das, was man gelegentlich einmal hört oder in einer alten Zeitung liest –, aber den Urwald kenne ich genau. Ich kenne ihn vielleicht sogar besser als sonst irgendwer. Nicht jeder kommt als junger Kerl hinein und hat das Glück, immer wieder herauszukommen. Soweit es um den Urwald geht, bin ich ein alter Hase. Und das stach gewissen Leuten in die Nase. Als ich eines Tages wieder einmal meine Klumpen Kautschuk herausbrachte, erzählte mir mein Händler, daß in Manaus ein paar Leute auf mich warteten, die wild darauf waren, mich ein gutes Stück Geld verdienen zu lassen. Ich sollte sie unbedingt aufsuchen. Nun, warum nicht? Er brauchte mich nicht lange zu überreden. Ich setzte mich in mein Boot und paddelte nach Manaus. Dort warteten sie tatsächlich auf mich, und es waren ein paar sympathische Burschen dabei. Sie brauchten jemand, der sich im Urwald auskannte. Sie hatten einen verrückten Plan gefaßt. Sie wollten den Oberlauf des Amazonas erforschen. Ich lachte sie natürlich zunächst aus.« »Warum?« Jerry seufzte. »Warum? Nun, weil ich vom ersten Augenblick an eine Ahnung hatte, wie diese Expedition ausgehen würde – und wie sie dann ja tatsächlich auch ausge43
gangen ist. Die Leute waren zwar unternehmungslustig, kluge Köpfe und tüchtige Wissenschaftler, aber vom Amazonas hatten sie wirklich nicht viel Ahnung. Wenn sie die gehabt hätten, wären sie zu Haus geblieben. Sie wußten zwar, daß das ganze Gebiet für Weiße noch unerschlossen ist, und sie kannten aus ihren Büchern auch alle Gefahren des Urwalds, aber sie machten sich eben doch falsche Vorstellungen, weil sie den Urwald noch nicht am eigenen Leib erlebt hatten. Deshalb fühlten sie sich den Gefahren gewachsen. Ich warnte sie vor den Indios, aber sie schüttelten die Köpfe und meinten, daß sie genug Leute wären, um sich die Giftpfeile vom Hals zu halten. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß die Nebenflüsse, in die sie eindringen wollten, nur noch aus Stromschnellen bestanden, aber sie zweifelten keinen Augenblick, daß sie es trotzdem schaffen würden. Ich wies darauf hin, daß sie die Verbindung mit der Welt verlieren würden, aber sie verließen sich auf ihren Funkapparat. Ich warnte sie, sich in ein Gebiet zu begeben, in dem sie in weitestem Umkreis die einzigen Weißen sein würden, aber sie antworteten, daß sie ja gerade die ersten Weißen sein sollten, die durch dieses Gebiet hindurchzogen.« »Nun, ein Forscher und Entdecker muß ja schließlich so sprechen, nicht wahr?« »Sicher, sicher«, gab Jerry zu. »Ich hätte an Stelle dieser Leute wohl auch nicht aufgegeben. Offenge44
standen hätte es mir sogar leid getan, wenn aus der Expedition nichts geworden wäre. Trotz meiner düsteren Ahnungen reizte mich die Sache nämlich. Im Grunde genommen kam es den Leuten gar nicht so sehr darauf an, vom Urwald her zum Gebirge hinaufzukommen, sondern sie hofften, die weißen Indianer zu finden.« »Die weißen Indianer?« »Ja, darum ging es. Sie redeten darum herum, aber letzten Endes galt die Expedition doch den weißen Indianern. Und ich hatte am Strom immerhin von den weißen Indianern munkeln hören. Deshalb war ich selbst neugierig, und deshalb entschloß ich mich schließlich trotz meiner Ahnungen, an der Expedition teilzunehmen. Natürlich war es Unsinn. Es war von vornherein klar, daß wir niemals dazu kommen würden, weiße Indianer zu sehen, weil wir vorher zuviel braunen Indios begegnen würden.« »Gibt es hier weiße Indianer?« fragte Hal interessiert. Jerry zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt hat sie noch niemand gesehen. Aber die Sage hält sich eben schon lange. Es heißt, daß im oberen Stromgebiet weiße Indianer leben. Wer das verbreitet hat, weiß ich nicht. Die Puhadas und andere Stämme der Blasrohrindianer schweigen sich hartnäckig darüber aus. Sie kennen jedoch die Sage ebenfalls. Wenn man einen von ihnen stellt, so hat 45
man immer das Gefühl, daß er mehr über diese weißen Indianer weiß. Ich habe mich mit dem alten Giftmischer drüben bei den Hütten wiederholt darüber unterhalten, aber gewöhnlich hat er meine Fragen nach besten Kräften nicht beantwortet. Nur gelegentlich, wenn er besonders guter Laune war, gab er zweideutige Hinweise von sich. Einmal, als ich ihm einen saftigen Tapirbraten brachte, behauptete er sogar, die weißen Indianer lebten dort, wo der Fluß der großen Schlange herkommt. Das wäre also ungefähr im Quellgebiet des Yavari und des Juras. Vielleicht hat er das nur so hingesagt, aber ich denke doch, daß hinter dem Gerücht von den weißen Indianern etwas Ernsthafteres steckt.« Hal wandte sich jetzt an Sun Koh. »Was halten Sie davon, Sir? Gibt es weiße Indianer?« »Woher soll ich das wissen?« fragte Sun Koh zurück. »Ich glaube eher, daß solche Gerüchte nicht mehr als eben Gerüchte sind. Weiße Indianer sollte es beispielsweise auch im Stromgebiet des Atrato geben. Diesem Gerücht ist man einmal gründlich nachgegangen. Dabei hat man die überraschende Feststellung gemacht, daß es in jener Gegend tatsächlich weiße Indianer gibt. Sie sind aber eben keine Weißen, sondern Albinos.« »Hm, dann gibt es hier am Amazonas vielleicht auch solche Albinos?« überlegte Jerry laut, aber Sun Koh schüttelte den Kopf. 46
»Das würde mich überraschen. Die räumlichen Voraussetzungen sind doch ganz andere. Diese Indios hier am Amazonas besitzen genügend Bewegungsfreiheit und haben keinen Anlaß, die Albinos zur Fortpflanzung zuzulassen. Naturgebundene Völker sorgen doch gewöhnlich dafür, daß solche Irrtümer der Natur wieder ausgemerzt werden. Das geschieht am einfachsten dadurch, daß man den Albinos die Heirat untersagt.« »Die Leute von der Expedition dachten jedenfalls nicht an Albinos«, nahm Jerry nachdenklich den Faden wieder auf. »Sie vermuteten ganz unbekannte, geheimnisvolle Völkerstämme, die mitten zwischen den Puhadas leben sollten. Einer von ihnen sagte mir einmal: Wir hoffen, daß wir ähnlich aufsehenerregende Entdeckungen machen wie einst die Spanier unter Pizarro. Ich halte es durchaus nicht für ausgeschlossen, daß die Angaben unserer Karten völlig danebentreffen. Vielleicht liegt zwischen den Strömen noch einmal ein Gebirge, das die Existenzmöglichkeiten für eine höhere Kultur bietet. Vielleicht lernen wir in den sagenhaften weißen Indianern ein Volk wie das der Inkas kennen, ein Volk also, das in strengster Abgeschlossenheit eine eigene hohe Kultur mit eigenen Bauten, Sprache, Schrift, Kunst und so weiter entwickelt hat. Dieses Volk wollen wir entdecken, selbst auf die Gefahr hin, daß wir seinen Frieden zerstören.« 47
»Ein interessanter Gedankengang«, meinte Sun Koh lächelnd. »Halten Sie es für möglich, daß sich in diesem unerforschten Gebiet ein Gebirgszug befindet, von dem die Welt noch nichts weiß?« »Hm, ausgeschlossen wäre das nicht. Es handelt sich ja immerhin um eine Million Quadratkilometer oder mehr. Da paßt ganz Mitteleuropa hinein, und es wäre mächtig gewagt, zum Beispiel den Schwarzwald abstreiten zu wollen, weil man in Paris und Umgebung noch nichts von ihm bemerken kann. Unter diesem Urwald können noch Dutzend Gebirgsrücken oder Hochplateaus stecken, die noch auf keiner Karte verzeichnet wurden.« »Dann sind auch alle anderen Folgerungen nicht unberechtigt. Das unbekannte Land bietet unbekannte Möglichkeiten. Doch lassen wir diese Vermutungen. Sie wollten von Ihren weiteren Erlebnissen berichten?« Jerry nickte. »Es kam alles, wie es kommen mußte. Wir redeten damals in Manaus hin und her, aber schließlich schloß ich mich eben doch der Expedition an. Sie bestand aus vierzehn Europäern, dazu kamen ich und ein zweiter Seringueiro als Führer und Dolmetscher, ferner eine Anzahl Indios und Mischlinge als Träger. Wir fuhren los, als das Wasser zu sinken begann, zunächst den Amazonas aufwärts, dann den Jurua hinauf. In den ersten Tagen ging alles gut, aber dann 48
begann allmählich das Drama. Eine Woche nach unserer Abreise kippte ein Boot um. Vier Träger und zwei Expeditionsteilnehmer wurden innerhalb einer Minute von den Piranhas skelettiert. Ich habe nie so blasse Gesichter bei Männern gesehen wie damals bei den Leuten der Expedition. Wie gesagt, bereits nach einer Woche ging uns ein Boot mit allen Insassen verloren. Dann folgten kleinere Unannehmlichkeiten, Schlangenbisse und andere Dinge, die nicht der Rede wert sind. Solange wir uns auf dem Amazonas befanden, war es ja überhaupt nur eine Spazierfahrt. Der Strom ist breit genug, daß man den Gefahren ausweichen kann. Anders wurde es, nachdem wir hundert Kilometer den Jurua hinaufgekommen waren. Die Leute waren erstaunlich zäh und unerschrocken. Sie hätten es erleben sollen, wie wir uns durchgeschlagen haben. Ich kann Ihnen das nicht beschreiben, aber Sie werden es begreifen, wenn wir selbst ein paar Wochen durch den Urwald gezogen sind. Selbstverständlich schied einer nach dem anderen aus. Bald war es eine Korallenotter, die einen von uns erwischte, bald eine Sucuriju, die einen Mann zerdrückte. Die Krokodile bekamen ihre Beute, und das Fieber holte sich diesen und jenen. Die Europäer hielten sich fast besser als die Indios. Dafür waren diese eines Nachts verschwunden, so daß wir die Lasten selbst tragen mußten. Die Kerle hatten eine gute Nase und ahnten, was die Trommeln zu 49
bedeuten hatten, die wir aus der Ferne hörten. Einen Tag nach ihrem Verschwinden wurden wir zum erstenmal von den Puhadas überfallen. Ich hatte glücklicherweise für gute Wache gesorgt. Die Expedition wurde rechtzeitig gewarnt, so daß wir uns die Indios vom Leib halten konnten, wenn auch einige an Giftpfeilen starben.« »Demnach muß die Expedition schon ziemlich zusammengeschmolzen sein.« »Stimmt. Wir waren noch elf Mann, dazu fünf Halbindios. Das war nicht einmal schlecht, denn wir waren immerhin schon ein gutes Stück ins Unbekannte hineingestoßen. Wir wurden aber nun die Puhadas nicht mehr los. Sie verfolgten uns Tag und Nacht, so daß wir gezwungen waren, ausschließlich auf dem Wasserweg vorzudringen. Auf dem Wasser hat man einige Umsicht und gewöhnlich genügend Abstand von den Giftpfeilen, während man sich im Urwald kaum gegen die hinterlistigen Angriffe schützen kann. Aber selbst auf dem Wasser blieb die Fahrt schrecklich genug. Ständig hörten wir von irgendwoher die Trommeln, die den Tod bedeuteten. Es schien, als wären sämtliche Indianer im weitesten Umkreis gegen uns aufgeboten. Wir hofften, den Stamm, der uns angegriffen hatte, schnell loszuwerden, indem wir immer weiter vordrangen. Im allgemeinen entfernen sich nämlich die Puhadas nicht weit von ihrem Wohnsitz. Sicher gelang es uns auch, 50
jenen Stamm abzuwimmeln, aber er hatte seine Nachbarn rebellisch gemacht. Wir kamen in den Bereich anderer Stämme, aber diese waren genauso erbittert hinter uns her.« »Wäre es nicht ratsam gewesen umzukehren?« »Wir erwogen es oft genug, aber erstens paßte es den Leuten nicht zu kneifen, und zweitens hätte es auch wenig Zweck gehabt. Nach einigen Wochen hatten wir ebensoviel Feinde hinter uns wie vor uns. Wir ließen es also darauf ankommen und drangen immer weiter vor.« »Bis hierher?« »Bis die Katastrophe kam. Ich habe an die letzten Tage nur eine undeutliche Erinnerung. Daran war eine Sucuriju schuld. Sie erwischte mich aus dem Boot heraus. Wir hielten uns zeitweise dicht am Ufer, um nicht unnötig gegen die Strömung arbeiten zu müssen. Ich muß hier einflechten, daß wir alle schon ziemlich fertig waren. Wie wir ausgesehen haben, können Sie sich kaum vorstellen. Heute bin ich gesund und leidlich genährt, während wir damals seit Wochen nur vom Notwendigsten lebten und dabei ungeheure Strapazen durchstanden. Die Europäer hatte der Hunger geschwächt, das Fieber saß ihnen im Blut, und der Urwald hatte ihnen mitgespielt. Wir waren gelbe, abgezehrte Gespenster, die nur durch ihren verrückten Willen und die Drohung der Trommeln vorwärtsgetrieben wurden. Ich habe nie solche 51
Männer kennengelernt. Tausend andere hätten sich schon lange vor der Katastrophe hingelegt und wären nicht wieder aufgestanden. Aber das waren Fanatiker, die nicht locker ließen, solange sie noch ein Glied rühren konnten. Also jedenfalls hatten wir Anlaß, unsere Kräfte zu schonen, und hielten uns deshalb ziemlich am Ufer. Ich hatte gerade meinen Fieberanfall und paßte nicht genau auf, obwohl ich im ersten Boot die Führung hatte. Beides zusammen wurde mir zum Verhängnis oder auch – wenn man die späteren Ereignisse berücksichtigt – zum Glück.« »Sie sprachen von einer Sucuriju?« »Ja, das ist die größte Schlange, die es am Amazonas gibt. Der Umfang ihres Leibes ist gelegentlich so stark wie der eines erwachsenen Mannes, und ihre Länge beträgt zehn bis zwanzig Meter. Ein riesiges Tier! Sie ist nicht giftig, aber es ist fast unmöglich, von ihr wieder loszukommen, wenn sie den Körper einmal umschlungen hat. Sie zermalmt ihre Opfer durch ihre ungeheure Kraft. Dabei hat sie die Angewohnheit, auf dicken Baumästen zu ruhen und ihren Opfern aufzulauern. Ich bemerkte diese Sucuriju jedenfalls zu spät. Sie riß mich aus dem Boot heraus und nahm mich in ihre stinkende Umklammerung, so daß ich fast augenblicklich das Bewußtsein verlor. Meine Kameraden handelten aber schnell. Sie schossen und hieben mit ihren Macheten zu, so daß sie mich frei bekamen.« 52
»Das geschah auf diesem Fluß?« »Nein, auf einem anderen, der einige Kilometer weiter drüben parallel zu diesem fließt. Die Expedition hat diesen Fluß überhaupt nicht kennengelernt. Ich war in den folgenden Stunden nur gelegentlich bei Bewußtsein. Die Schlange hatte mir den Leib fast zerdrückt und mich derartig verbogen, daß ich mich kaum rühren konnte. Vielleicht wollten mir nun meine Kameraden Gelegenheit geben, mich gründlich auszuruhen, vielleicht wurden sie auch durch die offene Lichtung verlockt, jedenfalls gingen sie am nächsten Tag seit langer Zeit wieder einmal an Land. Sie betraten von der anderen Seite her diese Lichtung, die sich hier quer durch den Wald zieht. Es kann auch sein, daß sie den Flußarm hinaufruderten bis zu der Stelle, an der die Kisten liegen. Ich kann das nicht genau sagen. Jedenfalls war es unklug, überhaupt an Land zu gehen.« »Wurden sie nicht durch die Indianer daran gehindert?« »Die Indianer haben nie jemand daran gehindert, ans Ufer zu kommen. Im Gegenteil, sie haben sich nichts Besseres gewünscht. Übrigens hatten wir in jenen Tagen gerade Ruhe vor ihnen. Seit langen Wochen waren zum erstenmal die Trommeln verstummt. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Expedition ein festes Lager bezog. Man wähnte sich wohl sicher, vermutete im weiten Umkreis keinen Einge53
borenen mehr und glaubte vielleicht auch, daß die verhältnismäßig gute Sicht, die die Lichtung bot, als Schutz genügen würde.« »Besonders gut finde ich die Sicht eigentlich nicht«, warf Sun Koh ein. »ich habe Sie erst sehr spät bemerken können.« »Gegenüber dem Urwald ist sie geradezu großartig. Für den Fall eines Angriffs genügt sie auch vollkommen. Die Indianer müssen ziemlich nah heran, wenn sie mit ihren Blasrohren Erfolg haben wollen.« »Die Expedition wurde überfallen?« »Ja und nein. Nach meiner dunklen Erinnerung und nach dem, was ich später aus den Puhadas herausholte, bemerkten meine Kameraden erst nach der Landung die Hütten der Eingeborenen. Sie werden vielleicht gesehen haben, daß sie vom Standort der Kisten aus verdeckt sind. Da die Trommeln schwiegen, versuchte es die Expedition mit einer freundlichen Annäherung. Das schien ihnen zu gelingen. Ich sagte Ihnen, daß diese Puhadas äußerst verschlagen und falsch sind. Sie stellten sich freundlich. Man ließ sie an das Lager heran, sie beschnüffelten alles, radebrechten mit dem Dolmetscher herum, ließen sich mit Hundezähnen beschenken und teilten sich dabei bereits ihre Opfer auf. Am nächsten Tag kamen sie wieder und ermordeten innerhalb von drei Minuten die gesamte Expedition. Fast gleichzeitig bekam jeder einen oder mehrere Giftpfeile, so daß es zu einem 54
Kampf überhaupt nicht kam. Ich blieb als einziger am Leben.« »Warum wurden Sie verschont?« Jerry Recife zuckte mit den Schultern. »Es ist so gut wie unmöglich, in die Gedanken dieser Wilden einzudringen. Soviel ich herausbekommen habe, nimmt der Mann, der einer Sucuriju entronnen ist, bei ihnen eine besondere Stellung ein – ungefähr so wie der Besessene bei anderen wilden Völkern. Wahrscheinlich verschonten sie mich deshalb, vielleicht aber auch weil in mir nicht mehr viel Leben war. Sie schleppten mich mit zu ihren Hütten und überließen mich dort der gelegentlichen Pflege durch die Frauen. Ich weiß nicht, wie lange ich hilflos und zum großen Teil ohne Bewußtsein herumgelegen habe, sicher sind es aber viele Wochen gewesen. Allmählich erholte ich mich, lernte gleichzeitig die Sprache der Puhadas und wurde mit ihren Sitten vertraut, soweit das möglich war. Als ich dann zum erstenmal aufstehen konnte, hatten sich diese Wilden schon soweit an meine Gegenwart gewöhnt, daß sie mich zu töten vergaßen. Der seelische Stumpfsinn rettete mir gewissermaßen das Leben.« »Seitdem wohnen Sie mit den Wilden zusammen?« »Ja, viele Monate lang. Meine Zeitrechnung ging verloren, aber mir ist, als seien es Jahre gewesen.« »Sie machten keinen Versuch zu fliehen?« 55
Jerry lachte kurz auf. »Zu Anfang dachte ich natürlich daran, aber dann wurde ich zu stumpfsinnig, um mir noch viel Gedanken über meine Zukunft zu machen. Es hatte ja nicht den geringsten Zweck. Ich wäre als einzelner nicht weit gekommen. An eine Wanderung im Urwald war gar nicht zu denken, und im Boot muß man mindestens zu zweit sein – einer, der rudert und steuert, und einer, der das Gewehr schußbereit in der Hand hält. Es wäre Wahnsinn gewesen zu fliehen. Die Puhadas hätten mich in Stunden oder Tagen erwischt und mir einen ihrer verfluchten Pfeile in die Haut gejagt. Hören Sie?« Wie eine düstere Drohung drang das hölzerne Rasseln der Trommeln in die Kabine herein. Sie standen auf und blickten hinaus. »Sie kommen schon«, sagte Jerry leise. »Sie sind sehr schnell mißtrauisch geworden.« »Eigentlich kein Wunder, nachdem wir mit den Packen an den Hütten vorbeigezogen sind.« »Allerdings, aber ich dachte nicht, daß sie vor morgen früh kommen würden. Es ist eigentlich nicht Sitte bei den Puhadas, eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang noch einmal hinauszuziehen. Sie bleiben lieber bei ihren Hütten am Feuer, solange es dunkel ist.« »Wir hätten doch eigentlich schon unterwegs sein können? Wenn wir gleich losgefahren wären, so wä56
re unsere Flucht den Puhadas gar nicht aufgefallen.« »Stimmt schon, aber was hätte uns das genützt. Die Trommeln geben unsere Flucht so und so weiter. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, daß Sie wochen- und monatelang noch Hunderte und Tausend von Puhadas auf der Jagd nach unserem Trupp bemerken. Es kommt auf die zwei Dutzend wirklich nicht an. Mir sind die paar Stunden in ihrer Flugzeugkabine mehr wert als tausend Puhadas. Verstehen Sie, daß ich erst einmal eine Gelegenheit haben mußte, um wieder Mensch zu werden?« »Ich verstehe das. Wir kommen ja morgen auch noch zeitig genug weg.« »Und genauso gefahrlos, wenn wir die Minuten nach Sonnenaufgang benutzen. Bevor die Puhadas heran sind, fahren wir schon auf dem Wasser. Doch jetzt will ich mich erst einmal mit den Leuten unterhalten. Schießen Sie gut?« »Vollkommen sicher.« »Dann will ich mich sehen lassen. Achten Sie auf die Blasrohre. Es kann sein, daß einer der Burschen, den ich nicht im Auge habe, mir einen Pfeil in den Körper blasen will.« »Sie können sich auf uns verlassen, seien Sie aber trotzdem vorsichtig.« Die Puhadas, ungefähr ein Dutzend Männer, waren bis auf zwanzig Meter herangekommen, als Jerry Recife in die offene Kabinentür trat. Er rief die Ein57
geborenen an, erhielt einen Zuruf als Antwort und sagte dann schnell und erregt einige Sätze. Die Folge war, daß die Puhadas nicht weiter herankamen, sondern stehen blieben. Nun folgte ein Wechselgespräch, das wesentlich aus einem gegenseitigen Angurgeln und Anzischen zu bestehen schien. Es wurde von beiden Seiten ziemlich lebhaft geführt und endete damit, daß sich die Puhadas zurückzogen. Aufatmend trat Jerry Recife in die Kabine zurück, deren Tür von Sun Koh sofort wieder geschlossen wurde. »Wie ich mir gedacht habe«, knurrte Jerry. »Die Kerle sind bis obenran voller Haß und Wut. Ich lasse mich hängen, daß sie es mit Ihnen genauso machen wollten wie mit der Expedition. Ich bin ihr bester Feind, weil ich ihnen den Streich vereitelt habe. Sie forderten mich auf, mit Ihnen zusammen zu den Hütten zu kommen und dort über Nacht zu bleiben, aber das mußte ich ihnen natürlich abschlagen. Darauf wünschten sie zu erfahren, was wir beabsichtigten. Ich habe ihnen eine ganze Menge vorgeschwindelt und ihnen vor allem versprochen, morgen zu den Hütten zu kommen. Zu glauben schienen sie es nicht recht, aber da die Sonne kurz vor dem Untergang steht, blieb ihnen nichts übrig, als abzurücken. Morgen früh haben wir sie bestimmt auf dem Hals. Ich würde raten, daß wir alles zurechtlegen, damit wir 58
innerhalb von fünf Minuten abfahrbereit im Boot sitzen, denn sonst kommen wir den ganzen Tag nicht fort.« Sun Koh wies auf die Waffen und die anderen Gegenstände, die in der Kabine lagen. »Ich zweifle nicht daran, daß wir innerhalb von fünf Minuten auf dem Wasser sein werden. Viel mehr als dies haben wir ja nicht mitzunehmen. Fraglich ist nur, wohin wir uns überhaupt wenden wollen – flußaufwärts oder flußabwärts?« Jerry pendelte mit dem Kopf hin und her. »Tja, die Frage ist ja nun nicht leicht zu beantworten. Genau genommen wird es sich darum handeln, ob wir zum Amazonenstrom oder zu den Anden kommen wollen. Im ersten Falle müßten wir flußabwärts fahren und würden dann früher oder später wahrscheinlich den Jurua erreichen, von diesem aus dann den Amazonenstrom. Wir würden also den Weg, den ich bereits mit der Expedition gemacht habe, rückwärts benutzen. Wenn alles gut geht, könnten wir in einigen Wochen leidlich in Sicherheit sein. Dieser Weg würde den Vorteil bieten, daß ich Ihnen als Führer dienen kann. So ungefähr behält man ja die Strecke in Erinnerung.« »Und die andere Möglichkeit?« »Wir könnten den Weg fortsetzen, den die Expedition nehmen wollte, also immer flußaufwärts bis zu den Quellen, bis zum Gebirge. Dieser Weg ist kür59
zer, aber er hat natürlich seine erheblichen Nachteile. Erstens einmal ist er mir selber völlig unbekannt, und zweitens führt er durch ein Gebiet, das vielleicht noch viel wilder ist als dieses hier. Wir können auf Indianerstämme treffen, denen gegenüber die Puhadas harmlose Kinder sind. Die Natur kann uns mit Schrecknissen den Weg versperren, von denen wir einstweilen noch keine Ahnung haben. Möglicherweise stoßen wir sogar auf die berühmten weißen Indianer, falls es solche gibt.« »Welche Wahl würden Sie treffen?« Jerry zuckte mit den Schultern. »Gott, im Grunde genommen bleibt es sich gleich. Wir haben nach rückwärts und nach vorwärts nur eine Chance von eins zu hundert durchzukommen. Mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit erreichen wir weder den Amazonas noch das Gebirge.« »Das scheint Ihnen ziemlich gleichgültig zu sein?« »Das nicht«, erwiderte Jerry ruhig, »aber Sie haben sicher auch schon beobachtet, daß man gegen Gefahren abstumpft. Je schlimmer die Lage ist, desto weniger macht man sich Gedanken darüber. Die Natur hilft einem in diesem Fall, denn wenn man unsere Aussichten mit normalen Maßstäben richtig werten würde, bliebe uns nichts anderes übrig, als uns schleunigst eine Kugel in den Kopf zu schießen. Wenn die Gefahren wirklich bedeutend sind, hat der 60
Mensch weder Zeit noch Lust, sich ihre Größe auszudenken. Man nimmt sie eben hin und versucht, damit fertig zu werden. Das ist noch nicht einmal Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod. Im Gegenteil, wenn es hart auf hart geht, dann kämpft man bis zur äußersten Verzweiflung, um das nackte Leben zu retten. Das besorgt der Körper von ganz allein, er bemüht sich nach besten Kräften, am Leben zu bleiben, ohne das Gehirn groß zu bemühen.« »Sie haben gut beobachtet«, sagte Sun Koh. »Der Selbsterhaltungstrieb des Körpers reißt den Menschen oft selbst dann noch hoch, wenn der Wille zerbrochen ist. Sie meinen also, daß es sich im Grunde genommen gleich bleibt, ob wir zum Amazonas oder zum Gebirge fahren?« »Ja. Entscheiden Sie, in welche Richtung es gehen soll.« Sun Koh überlegte nicht lange. »Wir fahren flußaufwärts«, sagte er bestimmt, »also dem Gebirge zu. Für mich ist entscheidend, daß wir so am schnellsten in eine Landschaft kommen, die der Gesundheit zuträglicher ist, als dieser feuchtheiße Urwald. Die Gefahren werden hier wie dort die gleichen bleiben. Und offengestanden lockt es mich auch etwas, möglicherweise mit jenen weißen Indianern in Berührung zu kommen. Und schließlich tritt man keinen Rückweg an, solange es noch einen Weg nach vorwärts gibt.« 61
Jerry Recife lächelte flüchtig. »Sie sind genau wie die Männer von der Expedition. Nur immer vorwärts, niemals rückwärts. Sie vergessen dabei, daß der Weg zum Amazonas für Sie ja gar keinen Rückweg bedeuten würde.« Sun Koh nickte. »Gewiß, aber da uns der Zufall gerade an diese Stelle geführt hat, an der die Expedition ihr Ende fand, kommt es mir vor, als müßte ich nun deren Aufgabe weiter zu lösen versuchen. Wir nehmen Richtung auf das Gebirge. Oder sind Sie damit nicht einverstanden?« »Doch, vollkommen. Wenn Sie anders entschieden hätten, würde ich versucht haben, Sie zum Gegenteil zu überreden. Wenn ich mich schon monatelang durch den Urwald schlage, so will ich dann hinterher wenigstens die Genugtuung haben, daß ich der erste Weiße bin, der von Manaus aus quer hindurch zum Gebirge gekommen ist.« Sie schüttelten sich die Hände. Die Nacht lag schon eine ganze Weile über dem Urwald. Auf der einen Seite des Flugzeugs ragte er dunkel wie eine mächtige Wand zum Himmel. Gelbleuchtend ging der Mond auf, aus dem Wasser stiegen in dünnen Schleiern violette Dünste und zogen sich zum Schilf hinüber. Über der Lichtung breitete sich eine Schicht weißen Nebels aus. Um das Flugzeug herum schwirrten grünleuchtend die Glühwür62
mer, setzten sich zu Dutzenden an die hohen Gräser und bildeten dort ein funkelndes Geschmeide. Die Sterne wurden sichtbar, soweit das Licht des Mondes sie nicht überdeckte, erst ein paar große, dann eine unbeschreibliche Pracht zahlloser, blitzender und tanzender Lichtfunken. Sie standen nicht fest, sondern sie schwammen dauernd hin und her, tanzten einen märchenhaft schönen Reigen, der durch die heißen Luftschichten der tropischen Gegend verursacht wurde. Jenseits der Lichtung zog sich der Urwald wie eine dunkle Wand hin. Das Geschrei der Affen kam herüber, untermischt mit dem gelegentlichen Aufschmettern von Vogelstimmen. Ab und zu stieg ein kurzes Jaulen auf, das den streifenden Jaguar verriet. Über das Schilf zog eine ganze Reihe fliegender Hunde von der einen Seite des Urwaldes auf die andere. Wie unheimliche Gespenster taumelten sie über die Lichtung. Plötzlich dröhnte von drüben ein unbeschreibliches Brüllen herüber, so stark und laut, daß sich die Insassen der Kabine fast die Ohren zugehalten hätten. »Das sind Aluates«, erläuterte Jerry Recife. »Brüllaffen. Sie haben einen Kehlkopf, der mehr Ähnlichkeit mit einer Trommel hat als mit einem Kehlkopf. Sicher sitzen sie drüben am Waldrand, heben die Köpfe in die Höhe und singen ihren Chor, 63
ein paar Dutzend nebeneinander.« Ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, hörte das Gebrüll wieder auf. Tiefe Stille setzte ein, in die sich allmählich das vielfältige Gewirr der Urwaldgeräusche wieder hineindrängte. Sie legten sich schlafen. Trotz aller vorangegangenen Erlebnisse, trotz der ungewohnten Umgebung und trotz der gefahrdrohenden Zukunft schliefen sie alle vier tief und fest. Sun Koh und seine beiden Begleiter hätten vermutlich sogar verschlafen, wenn nicht Jerry Recife gewesen wäre. Ihm saß das jahrelange Vertrautsein mit dem Urwald im Blut. Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang weckte er seine neuen Freunde. Sie brauchten nicht mehr viele Vorbereitungen zu treffen. Als sich die Sonne blitzartig über den Horizont hob, luden sie schon alles, was sie mitnehmen wollten, in das Boot ein. Drei Minuten nach Sonnenaufgang stießen sie durch das Schilf hindurch auf das freie Wasser und wandten sich flußaufwärts. Von den Puhadas war noch nichts zu sehen. »Wir wollen ein paar Minuten warten«, schlug Jerry vor, »damit Sie sehen, wie lebendig die Burschen sind. Sie können uns hier nicht gut bemerken, wir können sie aber beobachten.« Unter der Deckung eines weit über dem Wasser hängenden Baumstamms machten sie Halt und blickten auf die Lichtung zurück. Da kamen die Indianer 64
schon, erst einzeln zögernd, dann der gesamte Stamm. Sie hüpften herum und schrien mit greller Stimme zu dem Rumpf des Flugzeugs hinüber. »Sie nehmen an, daß wir noch drin stecken«, sagte Recife leise. Als sich im Flugzeug nichts rührte, gingen die Indianer weiter heran und kletterten schließlich darauf herum. Und dann versuchten sie, mit ihren Keulen Löcher hineinzuschlagen. »Fahren wir weiter. Lange wird es nicht mehr dauern, dann wissen sie ganz genau, daß wir fort sind. Die Fenster haben sie ja bald eingeschlagen.« »Wenn Sie sich da nur nicht täuschen«, sagte Hal. »Das sind nämlich Fenster, die sogar von einer Gewehrkugel nicht durchschlagen werden.« »Trotzdem wird ihnen unsere Flucht kein Geheimnis bleiben.« Sie griffen zu den Rudern. Das Boot schoß gegen die Strömung, die hier am Rand nicht stark war, lebhaft vorwärts. Damit begann für Sun Koh und seine Begleiter die Fahrt durch das unbekannte Gebiet voller Geheimnisse und voller Schrecken. Und sie waren noch keine halbe Stunde unterwegs, als in der Ferne hinter ihnen die Trommeln rasselten und dröhnten.
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3. Unbeschreiblich ist der unbekannte Weg durch den Urwald – voll wunderbarer Schönheiten, voll entsetzlicher Schrecken und dabei doch grauenhafter Eintönigkeit. Vier Männer suchten den unbekannten Weg durch den Urwald am Amazonas. Tage waren sie schon unterwegs, immer flußaufwärts, immer der Strömung entgegen, auf die Quellen zu. Die Quellen lagen irgendwo im Westen im Gebirge – und das Gebirge war die Rettung. Gleichförmig tauchten die Ruder in das Wasser und drückten das zerbrechliche und so leicht kippende Boot aus dem weichen Holz des Palmettostammes vorwärts. Ruhig glitten die Wasser zurück. Hellblau waren sie jetzt, wunderbar zart, so daß der heiße Körper ein brennendes Bedürfnis spürte, sich hineinzustürzen. Aber schon warnten die dunklen, breiigen Stellen dort am Ufer unter den riesigen Luftwurzeln herabgestürzter Bäume. Dort blinzelten tückisch unter der schillernden, blasenaufwerfenden Oberfläche die Krokodile. Und die Schwärme der Piranhas sind blitzschnell heran und schälen das Fleisch von den Knochen, bevor man noch sein letztes Gebet sprechen kann. Das Wasser fiel von den vorschwenkenden Pad66
deln, und die fallenden Tropfen gaben eine unaufhörliche eintönige Melodie. Es war heiß wie all die Tage. Die Sonne stand wie eine gelbrote, dunstige Scheibe über den Köpfen, um die sich die Glut wie feurige Klammern legte. Jeder Atemzug bereitete Qual. Die Luft schoß wie Flammen durch die Lunge und lastete wie Blei, das flüssig geworden ist, auf den schmerzenden Augen. Der Schweiß floß wie Wasser am Körper herunter, ätzte sich in die wunden Stellen an Arm und Bein hinein, die durch die ständigen Ruderbewegungen aufgerieben worden waren. Leer starrten die Augen nach vorn. Aber tief im Grunde der Pupillen saß ein fiebernder Brand wie tödliche Verzweiflung und irrsinnige Wut. Die Augen von Wahnsinnigen waren es, die irgendwo das erlösende Ziel suchten. Oder suchten sie schon gar nicht mehr? Sie starrten unentwegt auf Sun Koh, der mit dem Gewehr im Arm in der Spitze des Bootes stand. Nur Jerry wandte sich von Zeit zu Zeit ab, wenn die bösartigen, wilden Flüche seine verkniffenen Lippen auseinanderrissen und Himmel wie Hölle verwünschten. Die Pest über dieses verfluchte Land! Sun Koh schwieg. Seine Lippen legten sich schmaler aufeinander, aber er ließ seine drei Begleiter fluchen. Sie wären verrückt geworden oder zu67
sammengebrochen, wenn sich ihnen nicht von Zeit zu Zeit das Ventil der Verwünschung geöffnet hätte. Wenn er sich umblickte sah er Gespenster der Hölle hinter sich. Wie Stein lagen die Backenmuskeln hart verkrampft unter der gelbgefleckten, vom Fieber durchgifteten Haut der beiden Weißen und unter dem verfallenen, dunstigen Schwarz Nimbas. Wie Stiche standen die Lippen, und die Augenhöhlen waren wie von Säure ausgefressen. Das verfluchte Fieber! Eigentlich merkwürdig, daß es Nimba auch gepackt hatte. Er war es so wenig gewöhnt wie Hal und litt doch stärker als der Junge. Jerry war es gewöhnt. Er machte sich nicht viel daraus und wußte, daß jeder Anfall vorüberging, wenn seine Zeit vorbei war. Das Fieber mordet! Der Anfall beginnt mit einem schweren Gefühl von Mattigkeit. Die Glieder werden schwer wie Blei. Durst quält, doch ist der Körper zu matt, um ihn zu stillen. Nur nicht bewegen, nur kein Glied regen! Dann beginnt allmählich die Kälte hochzusteigen, durch die Adern zu schleichen und die Glieder starr zu machen, als wären sie in einen Eismantel gehüllt. Aber sie sind gar nicht starr. Die Kälteschauer schütteln sie hin und her, daß die Zähne wild aufeinander klappern. Ruckweise nur ringt sich der Atem aus der keuchenden Brust heraus. Eine Stunde lang dauert das, eine Stunde, in der das Gehirn in wilden Phanta68
sien tobt. Dann kommt die Müdigkeit, die tiefe Schwäche, die in Schlaf übergeht. Nach Stunden hat man alles vergessen, aber in zwei oder drei Tagen ist der neue Anfall da. Chinin, Chinin und abermals Chinin! Es bewahrt nicht vor dem schüttelnden, verzehrenden Fieber, aber es nimmt ihm die furchtbarsten Schrecken und scheucht die grinsende Maske des Todes zurück. Die drei Männer an den Rudern hatten sich stark verändert. Hal Mervin war nur noch eine Erinnerung an sein früheres Aussehen. In seinem gelbgefleckten Gesicht lagen die Augen ganz tief und brennend heiß. Er hatte keine Sorgen mehr um seine Sommersprossen, die ihm sonst manchen Kummer bereitet hatten. Seine Backen waren hohl, als steckte kein Gramm Fleisch in ihnen. Die Knochen traten scharf hervor. Der Junge war vollkommen fertig, fertig nach wenigen Tagen Urwald. Nur sein verbissener Wille hielt ihn aufrecht und ließ ihn wie die anderen Stunde um Stunde paddeln. Sun Koh versuchte, ihn zu schonen, aber dann wurde er rasend. Die Wut bleckte dann aus ihm heraus, und aus seinen Augen sprangen die Tränen, während seine Lippen Verwünschungen und falsche Versicherungen heraussprudelten. Er wollte nicht schlapp machen. Nur wenn ihn das Fieber packte, lag er als hilfloses, erbarmungswürdiges Bündel im Boot. Gelbfleckig war auch das Gesicht Jerry Recifes. 69
Aber Jerry war ein Mann, und sein Körper hatte sich in Jahren an all das gewöhnt, was Hal als neues Schrecknis überfiel. Jerry preßte die Kiefer aufeinander, so daß sich die Muskeln in scharfen Strängen abzeichneten, er fluchte, wenn es ihm zuviel wurde, er unternahm sogar in der halben Raserei eines Anfalls von Tropenkoller tätliche Angriffe gegen die anderen, aber im übrigen arbeitete er ununterbrochen, zäh und beharrlich, ein unermüdlicher Helfer und Berater in der unbekannten Wildnis. Wenn einer Aussicht besaß, sich durch diese Hölle hindurchzuschlagen, so war es Jerry. Er besaß wie Hal einen Willen aus Stahl, dazu aber einen Körper, der in tausend Schrecknissen abgehärtet und immun geworden war. Und Nimba? Der Hüne war unter der Tropensonne geboren und aufgewachsen. Er blieb unberührter als die beiden anderen. Nur das Fieber, das ihn wider Erwarten doch gepackt hatte, nahm ihn jedesmal schwer mit. Außerdem litt er unter der unzureichenden Ernährung. Seine Wangen waren ebenfalls hohl geworden, und die gewaltigen Muskelstränge seines Körpers zeichneten sich ohne die mildernden Fettpolster hart unter der Haut ab. Gleichmäßig, unermüdlich und eintönig schlugen die Paddel in das Wasser hinein. Die Augen der drei, die im Boot saßen, hingen unentwegt an Sun Koh. Es war fast, als zögen sie aus 70
seinem Anblick die Kraft, die überanstrengten Arme immer wieder von neuem zu bewegen. Reglos und schweigend stand die schlanke Gestalt vorn im Boot und blickte voraus. War es nicht, als ging ein kühler, erfrischender Atem von ihr aus? Kühl war das edelgeformte Gesicht, trotz der brütenden Hitze kühl und unbewegt wie eine Maske. Die Augen gingen ruhig forschend hin und her. Sun Koh litt am wenigsten. Fast unberührt ging er den schrecklichen Weg in die unbekannte Ferne. Das machte vor allem, daß er vom Fieber verschont blieb, genau so verschont blieb wie diese Blasrohrindianer, die zwischen den violetten Dünsten groß geworden waren. Seine Kraftreserven waren so groß, daß ihn die Anstrengungen dieser Fahrt nicht erschöpften und aufzehrten. Und schließlich war seine Seele stark genug. Sie duckte sich nicht unter den Schrecken dieser Tage und Nächte. »Caramba!« heulte Jerry am fünften Tag in einem sinnlosen Anfall auf. »Stehen Sie mit dem Teufel im Bund, daß Sie verdammter, blutiger Anfänger mich fertig machen können, ohne einen Tropfen Schweiß zu verlieren?« Sie hatten vom frühen Morgen an die Paddel geschwungen, Sun Koh vorn, Jerry unmittelbar hinter ihm. Jerrys zähe Kraft war im Laufe des Vormittags geschwunden. Die unermüdliche Arbeit hatte ihn mürbe gemacht, die Hitze ihn ausgedörrt und die 71
Sonne sein Gesicht mit tausend Pfeilen gemartert, bis er tobsüchtig aufkochte. Sun Koh aber hatte vor ihm gesessen und gepaddelt, als ob er eben erst angefangen hätte. Seinem Körper und seinen Bewegungen hatte man keine Anstrengung und keine Hitze anmerken können. Das war für Jerry zuviel gewesen. Sun Koh wandte sich zu ihm um und blickte ihn fest an. »Es wird zuviel für Sie, Jerry«, sagte er leise. »Gehen Sie vor und nehmen Sie das Gewehr. Hal wird weiterpaddeln.« Diese sanfte, kühle Bestimmtheit ließ die rote Flamme in Jerrys Gehirn vollends hochschlagen. »Tod und Teufel!« entfuhr es ihm wütend, während seine Hand gleichzeitig zur Pistole griff. »Was fällt Ihnen ein, mir Vorschriften zu machen? Wenn einer hier zu bestimmen hat, dann bin ich es. Ich lasse mir von einem Neuling nicht erzählen, was ich tun soll. Wenn Sie etwa glauben, daß Sie mir zu befehlen haben, dann verdammt noch einmal…« In diesem Augenblick bekam er von Sun Koh einen kurzen Schlag unter das Kinn, der ihn lang in das Boot streckte, das gerade noch mit Mühe und Not im Gleichgewicht gehalten werden konnte. Als er wieder aufwachte, hatte sich der Rausch bereits verflüchtigt. »Sie hatten einen Anfall«, bedauerte Sun Koh. 72
»Ich mußte Sie hart anfassen, damit Sie kein Unheil anrichteten. Sie vergaßen, daß wir auf Leben und Tod miteinander verbunden sind.« Jerry wagte nicht, ihn anzublicken. »Ich war verrückt«, murmelte er. »Daran ist diese verfluchte Hölle schuld. Es wird nicht das letztemal gewesen sein, daß der Koller über mich kommt. Ich habe früher manchen Kameraden auf ähnliche Weise umlegen müssen, und es ist gut, wenn Sie das auch bei mir rechtzeitig tun. Ich denke natürlich nicht ernsthaft daran, mich Ihren Anordnungen zu widersetzen.« Damit war der Zwischenfall erledigt. Seitdem hingen die Augen Jerrys wie die der beiden anderen an Sun Koh und saugten sich Kraft aus ihm. Und ununterbrochen tropfte es von den Paddeln ins Wasser. Der Strom hatte sein Aussehen wieder verändert. Eben war er noch gelbbraun gewesen. Das kam von den roten Uferbänken, von denen vor kurzem ein Stück in die Fluten gestürzt sein mußte. Jetzt wurde er dunkel und schwarz, eine schwere, mattgurgelnde Brühe, die das Boot festhalten wollte. Peng! Ein Krokodil, das sich quer vor das schwankende Boot legen wollte, zuckte hoch. Eine feine Blutbahn quoll in das Wasser, dann trieb der weiße Bauch des Reptils an dem Boot vorbei. 73
Weiter! Nach einem Krokodil sah man sich nicht mehr um. Es gab unzählige hier im Strom. Plötzlich schrammte das Boot auf und bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Schwer hoben sich die Köpfe. »Diablo!« murrte Jerry. »Wir sind festgefahren. Wahrscheinlich liegt ein alter Baumstamm auf dem Grund. Raus mit dir, Schwarzer, wir wollen das Ding wieder flott machen.« Sie sprangen beide gleichzeitig in das Wasser, das ihnen bis über die Hüften reichte. Hal griff nach dem Gewehr, das neben ihm lag. Peng! Ein Krokodil wendete sich. Die beiden im Wasser warfen keinen Blick hin. Selbst Jerry weiß jetzt, wie sicher Sun Koh schießt. Man kann sich auf ihn verlassen. Er holt die grünen Lichtfunken aus den Augen der schuppigen Biester heraus. Peng – wieder ein Krokodil! Wenn nur die Piranhas nicht kommen, diese schnellen, spannenlangen Teufel, die mit ihren furchtbaren Gebissen das Fleisch abschälen. »Beeilt euch!« mahnte Sun Koh drängend. Hau ruck! Das Boot schwankte und drohte zu kippen, als Nimba seine riesige Kraft auf der einen Seite ansetzte. Es bekam Luft und glitt mit einem weichen, schnappenden Laut zurück. 74
»Herein mit euch!« Ein Nicken über die Bootsränder hinweg, dann schwangen sich die beiden Männer gleichzeitig aus dem Wasser hoch, während sich Hal weit auf die Seite legte, an der sich Jerry aufstemmte. Sie machten das nicht zum erstenmal und wußten, welchen Trick sie anzuwenden hatten, um gleichzeitig schnell hereinzukommen und doch das Boot nicht umzuwerfen. Höchste Zeit! Schon schossen die Piranhas gierig in die Strudel hinein, die von den beiden zurückgelassen worden waren. Weiter arbeiteten die Paddel. Die Ufer verschlammten. Die Victoria regia tauchte wieder einmal in Massen auf. Zu Hunderten lagen die riesigen Tellerblätter auf dem Wasser, Blätter mit einem Durchmesser von zwei bis drei Metern. In ihrer Mitte schimmerten in bleichem Weiß die kopfgroßen Blüten. Eine herrliche Pflanze! Die Pest über diese herrlichen Pflanzen. Die Orchideen waren auch herrlich, aber dabei stanken sie wie Leichen und zogen brennende Blasen auf der Haut hoch, wenn man ihnen zu nahe kam. Der ganze Urwald war herrlich, aber es wäre besser gewesen, ihn im Film zu sehen. Nur wenn die Augen nicht im Fieber glühen, kann man sich der wunderbaren Blütenschleier über den mächtigen Bäumen freuen, der 75
neugierigen Affen, die zähnefletschend von Ast zu Ast tanzten, der buntfarbigen Vögel und der zarten Schmetterlinge, die sich am Ufer hin und her wiegen. Ruck! Das Boot erhielt einen harten Stoß und schnellte zurück. Zugleich kam langsam der Wurzelballen eines Urwaldriesen, der dort seit Jahr und Tag modernd gelegen hatte, vom Grund hoch. Klatsch! Sun Koh war auf den Ruck nicht vorbereitet gewesen. Sein Körper schlug nach vorn, und bevor er zugreifen konnte, lag er im Wasser. Dicht neben dem aufschießenden Baumstamm kam der Körper eines mächtigen Krokodils hoch. Mindestens acht Meter lang war es, und sein gähnender Rachen mit den gelben Dolchzähnen klappte wie der Rachen des Todes selbst auf. Peng! Peng! Nimba war vernünftig genug, das Gewehr schnell wieder fallen zu lassen und zum Paddel zu greifen. Das Boot entfernte sich immer mehr von Sun Koh. Eine zweite Panzerechse tauchte neben der ersten auf, und da kamen von rechts und links noch mehr sich kräuselnde Furchen herangezogen. »Schießt, verdammt noch mal!« keuchte Jerry. Hal schoß, und er schoß nicht schlecht. Sun Koh schien trotzdem verloren zu sein. Sein nächster Feind, das mit dem Baum hochgekommene Krokodil, schnappte rasend vor Wut nach dem Stö76
renfried. In letzter Sekunde schnellte sich Sun Koh aus dem zähen Schlamm heraus zur Seite, so daß die harten Kinnladen leer zusammenklappten. Dann stieß er sich auf die Baumwurzel zu. Schon öffnete sich der riesige Rachen wieder. Wenn nur die Wurzel hielt! Sun Koh riß sich mit einem Ruck hoch, stemmte sich auf die armstarke Wurzel hinauf und gleich höher zur nächsten. Peng! Peng! Das Wasser wurde im Todeskampf der riesigen Leiber zu Schlamm. Still trieben die hellen Bäuche davon. Jetzt war das Boot wieder an der Wurzel. Sun Koh schwang sich hinein. Ein kleiner Zwischenfall! Weiter! Rudert, Kameraden! Jeder Paddelschlag bringt euch einen Meter aus dieser Hölle heraus. Entfernten sie sich wirklich aus dem Zentrum des Urwaldes oder fuhren sie immer tiefer hinein? Sie legten sich kaum Rechenschaft darüber ab. Sie wußten nur, daß sie flußaufwärts fuhren und dabei mehr und mehr nach Südwesten kamen. Aber streng genommen wußten sie auch das nicht genau. Manchmal befanden sie sich plötzlich auf einem Wasser, das mit ihnen in gleicher Richtung strömte, obgleich sie sich kurz vorher noch gegen eine Strömung gestemmt hatten. Und die zahlreichen Windungen wiesen im Laufe des Tages nach so vielen Himmelsrichtungen, daß sie am Ende nicht mehr sa77
gen konnten, in welcher Richtung sie die größte Strecke zurückgelegt hatten. Sie fuhren auf einem Fluß, aber der Fluß war von zahllosen Inseln durchsetzt und verästelte sich in tausend Nebenströmungen, die verschlungene Labyrinthe bildeten. Es war ihnen unmöglich zu sagen, ob sie sich auf dem Fluß, einem Nebenfluß oder einem Seitenarm befanden, ja, sie wußten nicht einmal, ob sie den Hauptfluß bisher überhaupt schon zu Gesicht bekommen hatten. Eine scheußliche Ungewißheit, die nur dadurch nicht qualvoller wurde, daß sie größere Sorgen hatten. Früher oder später würden sie schon herauskommen. Hauptsache war jetzt, das Paddeln nicht zu vergessen. Hunger? Nun, sie spürten ihn kaum. Aber heute gab es auf alle Fälle eine Rast, ein glühendes Feuer mit gebratenen Fischen und vielleicht einem frischen Affen oder einem Wasserschwein. Es tat schon not, wieder einmal anständig zu essen. Schlimm war der Durst! Wasser gab es genügend. Seit Tagen befanden sie sich auf dem Wasser. Aber wer mochte diese sumpfige, gelbe Brühe trinken, die von kribbelnden Kleinlebewesen wimmelte, wenn nicht die äußerste Not dazu zwang? Die violetten Dünste über Nacht waren schon schlimm, aber in diesem Wasser lag der Tod noch unvermittelter und wirkungsvoller. 78
Tausend Dollar für eine eisgekühlte Limonade! Jerry stieß einen kreischenden, heiseren Laut der Freude aus. Sein Arm wies nach vorn. Verwundert blickten die anderen auf. »Wasser!« Er lachte in unbegreiflicher Glückseligkeit auf. »Endlich! Herrliches Wasser!« Sun Koh sah ihm scharf in die Augen. War Jerry verrückt geworden? Die faulige Brühe hatte sich noch nicht verändert. Jerry spürte die Zweifel. Er nickte heftig. »Doch, doch! Ich bin nicht übergeschnappt. Dort ist das Wasser. Ich suche seit Tagen nach einer solchen Stelle. Ran an das Ufer, dort unter die Lianen.« Die Besorgnis der anderen verschwand nicht ganz, aber sie taten ihm den Gefallen und drückten das Boot zum Ufer hin. Dort schwankten in wundervoll farbigen Schleiern die Blumen an grünen, langen Strängen, die braunrot gesprengelt waren. Jerry griff gierig nach einem dieser Stränge, durchschlug ihn mit der Machete, so daß das rote Kernholz unter der grünen Schale sichtbar wurde. Mit einigen weiteren Hieben spitzte er das Ende zu, und schon – o Wunder! – kam klares Wasser in starkem Strahl herausgeschossen. Jerry trank in langen, durstigen Zügen, bis ihm das herrliche, wohlschmeckende Naß rechts und links herunterlief. Dann gab er die unerschöpfliche Liane weiter. 79
Sie tranken alle, bis sie überladen zusammensanken. In diesen Minuten schenkten sie dem Urwald zum erstenmal wieder einen freundlichen Gedanken. »Davon müssen wir eine Ladung mitnehmen«, schlug Hal, noch schnaufend vom Schlucken, vor, aber Jerry schüttelte den Kopf. »Das ist leider nicht möglich. Die Lianen sind derartig lang, daß unser Boot nicht eine einzige tragen würde. Wir können nicht mehr tun, als uns gründlich satt zu trinken und zu hoffen, daß wir bald wieder auf solche Wasserlianen stoßen. Vielleicht treffen wir aber auch einmal auf Milchlianen, sie enthalten eine Flüssigkeit, die wie Milch aussieht und auch so ähnlich schmeckt.« Sie tranken alle noch einmal, dann fuhren sie weiter. Die Moskitos, die an der Schattengrenze des Urwaldes auch bei Tag zu Millionen schwärmten, waren schon lästig geworden. Rasende Biester, diese Moskitos! Die ersten Tage waren die schlimmsten. Man fühlte jeden der hundert oder tausend stechenden Rüssel einzeln als scharfen Schmerz, und das Blut wurde wild unter dem Gift, das ihm an unzähligen Stellen zugleich eingespritzt wurde. Doch allmählich gewöhnte man sich an die stete Plage. Und seltsam – die Moskitos schienen sich den Geschmack am Menschenblut schnell abzugewöhnen. Toll war es immer nur in der ersten halben Stunde nach Sonnenuntergang, wenn ein neuer 80
Schwarm von Millionen über die vier herfiel. Wenn ein paar hundert die Opfer heimgesucht hatten, ließen die anderen ab. Sie schwärmten weiter herum, aber sie stachen nicht mehr. »Es bleibt dabei«, sagte Sun Koh etwas später. »Wir werden heute ein Feuer anzünden und uns neuen Fleischvorrat beschaffen. Die Trommeln sind verstummt. Die Indianer scheinen nichts mehr von uns zu wissen.« »Das ist damit noch lange nicht gesagt«, warnte Jerry, »aber im übrigen bin ich auch für ein Feuer. Wir brauchen Fleisch. Übrigens müssen wir auch an einen neuen Palmetto denken. Unser Boot löst sich in seine Bestandteile auf.« So war es. Das Boot zeigte sich schon bedenklich mürbe. Stellenweise machte es den Eindruck, als wollte es auseinanderweichen. Gegen Abend fanden sie eine Stelle, die ihnen günstig schien. Der Urwald schob sich nur dünn über einen Bodensattel hinweg. Dort hinauf kamen die Fieberdünste nicht, und man konnte die Umgebung bewachen. Das Feuer konnte freilich dafür um so leichter die Indianer anlocken. Krachend schob sich das Boot in das Schilf und stieß mit seiner Nase gegen den festen Lehm. Die vier nahmen Waffen, Macheten und alles andere auf die Schultern und stiegen schwerfällig aus. Die Füße waren es schon fast nicht mehr gewöhnt, auf festem 81
Land zu stehen. Aber trotzdem war es ein köstliches Gefühl, auf die Erde zu treten und durch das hohe Gras zu stampfen. »Verdammt!« Sie begannen fast gleichzeitig zu fluchen, zu hüpfen und mit wilden Handbewegungen am Körper hin und her zu fahren. »Verfluchte Grasblutegel!« schrie Jerry und gab damit zugleich die erforderliche Erklärung. »Reißt euch die Biester vom Leib und lauft nicht weiter, sonst werdet ihr sie überhaupt nicht los. Hölle und Teufel, wenn wir wenigstens schon ein Feuer brennen hätten.« Die widerlichen, dunklen Schläuche der Blutsauger hingen zu Dutzenden auf der nackten Haut und schwollen langsam an. Sie hatten sich so fest gesaugt, daß es eines gewaltsamen Rucks bedurfte, um sie loszureißen. Und oft genügte auch dieser nicht. Der saugende Kopf blieb im Fleisch sitzen, während der zerquetschte Körper davonflog. Am einfachsten war es, man nahm das Messer und schnitt sich einen Punkt Fleisch weg. Jetzt waren die vier Männer vorsichtiger. Sie entfachten vor allem ein Feuer und schlugen sich mit brennenden Ästen eine Bahn durch das Gras bis zu der Stelle, die sie sich als Lagerplatz ausgesucht hatten. Peng! 82
Ein dunkler Streifen fiel dicht vor Jerry ins Gras zurück. Verwundert blickte Jerry sich um. »Eine Schlange«, sagte Sun Koh, während er die Pistole zurücksteckte. Jerry beugte sich neugierig ins Gras. »Teufel noch mal – eine Sucurubu! Wenn Sie nicht getroffen hätten, wäre ich jetzt erledigt. Feiner Schuß! Dank Ihnen.« Endlich flammte das eigentliche Lagerfeuer auf. Hal bekam seinen Fieberanfall. Die Hängematten wurden gespannt. Sie legten ihn hinein. Nimba blieb als Wache. Sun Koh und Jerry gingen auf die Jagd. Sie kamen gerade mit einem erlegten Wasserschwein zurück, als Hal einen verzweifelten Schrei ausstieß und sich mit einem wilden Ruck aus der Hängematte herauswarf. »Was ist los?« schrieen die drei Männer gleichzeitig und stürzten auf den Jungen zu, der sich wie irrsinnig hin und her wälzte. Wieder bewährten sich die Kenntnisse Jerrys. Nach einem prüfenden Blick knurrte er: »Caraputos. Schnell, die Sachen herunter. Heiße Asche, Nimba.« Sie rissen dem Jungen die Kleidung vom Leib. Jetzt sah auch Sun Koh die winzigen Zecken, kaum so groß wie ein Stecknadelkopf. Sie waren zu Hunderten aus dem Baum heruntergefallen und auf die Haut ihres Opfers gerieselt, in die sie sich nun mit schraubenden Bewegungen hineindrehten. 83
Nimbas Hände schütteten heiße Asche auf den nackten Körper. Sun Koh und Jerry rieben sie ein und wischten dabei die Zecken herunter. Jerry holte sich noch ein glühendes Holzscheit und hielt es an die Stellen, an denen sich die Zecken schon eingefressen hatten. Hal brüllte erst unter dem Fieber, dem bohrenden Schmerz der eindringenden Zecken und dem Brand des brennenden Holzstücks wild auf, aber dann biß er die Zähne aufeinander und schwieg. Er konnte es nur nicht verhindern, daß ihm Tränen in hellen Bächen aus den Augen herausliefen. Endlich war die Gewaltkur zu Ende und der Körper von den Zecken befreit. Aufatmend sank Hal in die zwischen zwei anderen Bäumen gespannte Hängematte und schlief ein. »Maria purisima!« Jerry atmete auf. »Das war höchste Zeit! Eine verfluchte Pest, diese Caraputos. Wenn man nicht aufpaßt, muß man ein halbes Pfund Fleisch herausschneiden, um eine einzige Zecke loszuwerden. Ein paar von der Sorte im Fleisch, und der Mensch ist zu nichts mehr zu gebrauchen.« »Der arme Hal!« brummte Nimba. »Ausgerechnet auf diesem Baum mußten sich die Biester aufhalten. Ich möchte nur wissen, wovon sie leben, wenn sich niemand darunter legt.« »Kann mir gleich sein«, knurrte Jerry. »Die 84
Hauptsache ist, daß sie sich nicht gerade uns aussuchen, um dick und fett zu werden. Jetzt sieht man sie kaum, aber wenn sie ein Opfer erwischen, mästen sie sich, bis sie platzen.« »Zecken sind merkwürdige Lebewesen«, meinte Sun Koh. »Die gewöhnliche Zecke, wie sie in den europäischen Wäldern zu finden ist, kann achtzehn Jahre lang ohne Nahrung auskommen. Dieses Fastenvermögen über so lange Zeit gibt ihr die Aussicht, ein zufällig vorbeistreifendes Opfer zu finden.« »Achtzehn Jahre?« Nimba staunte. »Na, ich muß schon sagen – für mich wäre das nichts. Mir knurrt der Magen jetzt schon, und wenn ich so das Fleisch vor mir sehe, möchte ich es am liebsten gleich roh essen.« Der Horizont flammte purpurn auf, dann kam jäh wie immer die Nacht. Das Feuer wurde entfacht, ein zuckender, glühender Mittelpunkt in einer unendlichen Weite. Das Abendkonzert des Urwalds begann. Die Moskitos summten in dichten Schwärmen heran, tanzten um den Rauch und hüllten die Männer in ein giftiges, spitzes Zischen, das eintönig auf- und niedersank. Die großen Sterne wurden sichtbar, dann die Myriaden der kleinen, bis sich der Himmel wie eine kaum aufgehellte Samtkugel wölbte, an der Tausende von Edelsteinen sprühten. Hier und dort verdunkelten sich die schwimmenden Funken, wurden verdeckt durch die unförmigen Körper der flie85
genden Hunde, die über die Bäume taumelten. In der Ferne brüllten Aluates im Chor auf, nicht weit jaulte ein Jaguar und kreischte ein gestörter Affe. Gewöhnlich verschlang jedoch das unbestimmbare, tausendfältige Geräusch des Waldes die Einzelheiten. Als der Braten fertig war, hatte sich Hal soweit von seinem Fieberanfall erholt, daß er sich am gemeinsamen Essen beteiligen konnte. Sie aßen, und dabei wurde jedem bewußt, wie groß der Hunger des anderen gewesen sein mußte, so gierig stopften sie das Essen in sich hinein. Sie aßen, dann warfen sie sich in die Hängematten, um zu schlafen. Sun Koh blieb am Feuer und lauschte in die Nacht hinein. Er hielt für die anderen Wache. Eine merkwürdige Nacht! Während sonst das abendliche Konzert des Urwaldes nach einiger Zeit abzuflauen pflegte, nahm es heute an Stärke zu. Sun Kohs Nerven spürten die Unruhe, die in Wellen an ihn heranspülte. Er lauschte und starrte. Waren diese heimtückischen Blasrohrindianer unterwegs, die ihre vergifteten Pfeile aus dem Hinterhalt heraus geräuschlos auf ihre Opfer bliesen, um dann die Trommeln triumphierend aufklappern zu lassen? Unwahrscheinlich. Die Eingeborenen schlichen immer auf dem Grund des Waldes und brachten ihn wohl kaum in solche Aufregung. Außerdem lieb86
ten sie die Nacht nicht und blieben lieber solange in ihren Hütten. Was geschah in dieser Nacht? Gegen die hellere Linie des Wassers, in dem sich die Sterne widerspiegelten, zeichneten sich flüchtig die Gestalten vorbeihuschender Tiere ab. Tierhufe klapperten gehetzt. War das nicht ein Jaguar, der eben am Rand der Dunkelheit vorbeihuschte, ohne sich um den lauschenden Menschen zu kümmern? Etwas Grausiges bereitete sich vor, und doch zeigte sich außer den immer schärfer anschwellenden Geräuschen ringsum nichts Besonderes. Der Urwald lag dunkel, so weit das Auge reichte. Sun Koh erhob sich und weckte Jerry. »Aufstehen, Jerry. Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Ich kann nicht feststellen, um was es sich handelt. Sie besitzen mehr Erfahrung als ich.« Jerry sprang trotz seiner Schlaftrunkenheit aus der Hängematte heraus. Er stolperte und stieß einen Fluch aus. Darüber wurden auch Nimba und Hal wach und merkten, daß etwas Besonderes vorlag. »Was ist denn?« fragte Jerry. »Horchen Sie.« Jerry schüttelte den Kopf, nachdem er eine Weile gelauscht hatte. »Hm, heute scheint der ganze Wald verrückt zu sein. Haben Sie die flüchtenden Tiere bemerkt?« »Ja, ich beobachte sie schon eine ganze Weile. Ir87
gend etwas treibt sie fort. Ich dachte an einen Waldbrand, aber vorläufig fehlt jeder Feuerschein und Brandgeruch.« »Dieser Wald brennt nicht«, murmelte Jerry. »Es ist viel zu feucht. Ich möchte nur wissen …« Die Zeit verstrich. Das jammervolle Schreien des Urwalds schien abzuflauen. Oder hatten sich die Ohren nur daran gewöhnt? Immer spärlicher wurden die Tiere, die noch vorbeihuschten. Plötzlich war ringsum ein feines Knistern, das zum schwachen Rauschen anschwoll. Es war zum Wahnsinnigwerden. Dieses Knistern und Rauschen – das war die Gefahr. Sie kam heran. Sie mußte sich ganz in der Nähe befinden. Aber sie wußten immer noch nicht, um was es sich handelte. Ein Lufthauch trug einen eigentümlichen Geruch heran. »Verdammt!« Sie schrieen es gleichzeitig und griffen gleichzeitig nach ihren Beinen, an denen es plötzlich an mehreren Stellen zugleich schmerzhaft zwickte. Und jetzt heulte Jerry auf. »Tocandeiros! Fort! Lauf!« »Was ist es?« fuhr Sun Koh ihn an. »Wanderameisen! Ich Idiot! Ich hätte es wissen müssen.« Er wollte davonlaufen, aber Sun Koh riß ihn zurück. 88
»Ihre Machete und Ihre Sachen, Jerry. Wollen Sie alles liegen lassen?« »Alles unwichtig!« brüllte Jerry. »Lauft, es geht ums Leben!« Trotzdem stürzte er jetzt nicht mehr besinnungslos weg, sondern raffte erst noch auf, was ihm gehörte, und die anderen folgten seinem Beispiel. Jetzt sahen sie die Gefahr. Wie ein schwach leuchtendes Meer schob es sich rings um die Anhöhe heran, eine hohe Flut zahlloser Ameisen, Milliarden und Abermilliarden, die wie ein Strom heranflossen. »Zum Boot!« Unmöglich, zum Boot zu kommen. Schon schob sich eine breite Zunge von Ameisen zwischen die Lagerstelle und das Wasser. Die vier Männer verzichteten. Sie rannten in die Richtung, in der sich die wenigsten Ameisen befanden. Es waren immer noch genug, die unter den Sohlen knirschten und krachten. Ameisen, Ameisen! Blitzschnell liefen sie an den hastenden Körpern hinauf, verbissen sich in die Haut, in die Lippen, in die Achselhöhlen, spritzten Säure ins Blut und Unruhe in die Gehirne. Dabei hatten die Männer nicht einmal die Hände frei. Sie konnten nur mit Ellbogen, Armen und zuckenden Schultern gegen die winzigen Bestien angehen. Sun Koh lief schweigend. Er riß Hal die Last aus dem Arm und lud sie sich auf. 89
Die anderen liefen wie die Irren, tobten vor Schmerz und fluchten wie die Teufel. Endlich hatten sie die vorgeschobene Spitze der lebenden Flut überholt. Sie liefen nicht mehr auf Ameisen, sondern auf Gras. Da warfen sie alles ab, was sie in den Händen hatten, und rissen sich die Ameisen vom Leib herunter. »Weiter!« drängte Sun Koh. »Die Ameisen kommen.« Da rieselte es auch schon heran. Sie setzten sich wieder in Bewegung, liefen durch die Nacht und gewannen Abstand. Aber jetzt wurde der Wald mit jedem Schritt dichter. Sie konnten nicht mehr einfach durchbrechen. Das Dickicht ließ sich nur noch mit den Macheten durchschlagen. Eine kurze Verständigung, dann nahmen Jerry und Hal die Waffen und alle Lasten auf ihre Schultern. Sun Koh und Nimba schwangen die Haumesser, und sie schwangen sie so schnell, daß die Luft unter dem Stahl pfiff. »Beeilt euch!« rief Jerry trotzdem. »Die Ameisen sind schnell. Wenn sie uns erreichen, bleiben nur unsere Gerippe übrig. Die Biester lassen nur leeren Wald hinter sich.« Die beiden Männer arbeiteten fieberhaft, aber es ging trotzdem langsam. Dabei ahnten die überreizten Sinne dauernd den knisternden Tod, der sich wie ei90
ne Wasserwelle durch den Urwald vorschob. »Das Boot?« erinnerte Hal einmal. »Zum Teufel!« knurrte Jerry. »Ist auch nicht schlimm. Einen neuen Palmetto finden wir schon. Wenn uns nur die Ameisen nicht erwischen.« Sun Koh arbeitete mit der Kraft und der Regelmäßigkeit einer Maschine. Nimba mußte trotz seiner riesigen Kräfte nach einer Weile verschnaufen, weil das Tempo für ihn zu scharf war. Jerry sprang für ihn ein. Er ließ eine Weile später fluchend die Machete aus seinen bleischweren Armen fallen. Nimba nahm sie wieder auf. Die Nacht sang ein Lied von Verzweiflung, geheimer Todesfurcht und unbändiger Willenskraft. Als der Morgen graute, besaßen sie die Gewißheit, daß sie den Ameisen entronnen waren. Der knisternde Strom hatte eine andere Richtung genommen als sie. Die Gasse durch den Wald, die sie in dieser Nacht geschlagen hatten, war ihre Rettung geworden. Sie war so lang, daß drei Männer zwei volle Tage gebraucht hätten, um sie nachzuschlagen. Und jeden Schritt markierten Schweiß und Flüche. Sun Koh hatte bis an die Grenze seiner Kräfte gearbeitet. Als die Sonne ihre ersten Strahlen blitzend aus dem Wasser in ihre Augen warf, als sie den Fluß vor sich sahen, von dem sie nicht einmal wußten, ob es ihr alter Fluß oder ein anderer war, da brachen die 91
Männer zusammen. Sie taumelten und schlugen wie gefällte Baumstämme hin. Hal durchforschte das Gras ringsum nach Blutegeln, Zecken und Schlangen. Dann stellte er sich mit dem Gewehr im Arm neben die erschöpften Männer und hielt einsame Wache. 4. Sie legten eine zweitägige Rast ein, während der sie gedörrtes Fleisch herstellten, ein neues Boot aus einem Palmetto hieben und nicht zuletzt sich einmal gründlich ausruhten. Da sie Wasserlianen in der Nähe fanden, wurde die Rast recht angenehm. Am Abend des zweiten Tages hatte sich ein guter Teil der scharfen Anspannung und Überreizung aus den Gesichtern verloren. Sie waren wieder fähig, sich ruhig und vernünftig zu unterhalten. Begreiflicherweise drehten sich ihre Gespräche fast alle um den wichtigsten Punkt. Wie lange würde die Fahrt durch den Urwald noch dauern? Niemand konnte diese Frage beantworten, aber sie drängte sich immer wieder auf. Wie lange noch? »Vielleicht ein paar Wochen?« beantwortete Jerry schulterzuckend eine dieser Fragen. »So wichtig ist das ja schließlich nicht, solange alles weiter so gut verläuft wie bisher.« »Gut ist originell«, brummte Nimba. »Mir ist es 92
noch nie so schlecht gegangen wie jetzt.« »Die besseren Herren sind eben ein feines Leben gewöhnt.« Jerry grinste. »Ich finde jedenfalls, wir können von Glück reden. Bis jetzt haben wir noch keinen Mann verloren, und die Indianer scheinen auch nicht auf unserer Spur zu sein. Ebenso gut könnten wir schon irgendwo tot im Wald liegen.« »Das ist auch meine Meinung«, sagte Sun Koh. »Wir müssen zufrieden sein, daß wir so weit gekommen sind. Und wenn alles so weiter geht, haben wir in einigen Wochen den Urwald hinter uns. Unsere Hauptrichtung haben wir sicher eingehalten. Sie muß früher oder später zum Gebirge führen.« Am nächsten Morgen setzten sie ihre Fahrt fort. Sie bot nicht viel Neues. Die Leiden und Schrekken der vergangenen Tage wiederholten sich bis zur Abstumpfung. Am zweiten Tag nach ihrer Rast retteten sie das Boot und sich mit Mühe aus dem Angriffsbereich einer Riesenschlange heraus. Am Tag darauf gerieten sie in ein Sumpfgebiet. Tagelang trieben sie sich auf den Rinnsalen zwischen schwammigem Boden, Schilf und Baumflecken herum, bis sie von dem ewigen Aufenthalt im Boot ganz steif waren. Der sonst so verhaßte Urwald wurde zu einem ersehnten Ziel, denn dort gab es wenigstens festen Boden, auf dem man nachts die Glieder strekken konnte. Am fünften Tag dieser Fahrt durch die Sümpfe 93
entdeckte Sun Koh halbrechts voraus einen blauen Streifen am Horizont. Er machte die anderen aufmerksam, und nun starrten sie zu viert in die verschwimmende Ferne. »Es sieht fast wie ein Höhenzug aus«, stellte Sun Koh fest. »Gerettet!« Hal atmete tief auf. »Noch nicht«, dämpfte Jerry. »Es kann noch lange dauern, bis wir dorthin kommen.« Immerhin – es war eine Hoffnung. Die Kräfte schienen zurückzukehren, und das Boot nahm eine Geschwindigkeit an, wie es sie nur in den ersten Tagen besessen hatte. Die Gunst des Schicksals hielt an. Am Abend stießen sie wieder auf festes Land. Aufatmend betraten sie den unnachgiebigen Boden. Noch nie schliefen sie so fest und so freudig ein wie an diesem Abend. Und noch nie war das Erwachen schrecklicher als in dieser Nacht! Nimba hockte beim Feuer und spähte und horchte in den Wald hinein, obgleich er viel dafür gegeben hätte, schlafen zu dürfen. Die trotz ihrer Vielfalt monotonen Geräusche des Urwalds passierten sein Ohr. Seine Sinne überprüften halb unbewußt alles, was ringsum vorging. Und sie waren in seiner Jugend, die er im afrikanischen Wald verbracht hatte, gut geschärft worden. Kein Wunder, daß er plötzlich aufhorchte. Etwas 94
Ungewohntes war da. Eine feine, aber doch deutlich vernehmbare Unruhe kam von der Landseite her. Ein Affe kreischte ärgerlich, einige Vögel, die sonst nur bei Tag zu hören waren, schimpften. Nimba erhob sich und warf Holz auf das Feuer, so daß es heller aufloderte und in den Wald hineinzuckte. Dann weckte er Sun Koh. »Etwas Ungewöhnliches im Wald, Sir«, flüsterte er. »Ameisen?« fragte Sun Koh sofort hellwach. »Nein, etwas anderes. Vielleicht Indianer. Ich will nachsehen, aber es ist besser, wenn Sie Bescheid wissen. Und vielleicht wäre es besser, wenn sich niemand gegen den Feuerschein stellen würde.« »Gut.« Sun Koh stand auf. Nimba glitt weg. Außer der Lichtgrenze stellte er sich mit dem Rücken gegen einen Stamm und verschmolz mit der Dunkelheit. Höchste Zeit! Nicht weit voraus verriet ein feines Brechen, Knacken und Schleifen die Annäherung der nächtlichen Ruhestörer. Nimba strengte seine Augen an. Nichts zu sehen! Doch da … Die Ahnung bestätigte sich. Das war ein Mensch, der durch das Gewirr von Busch und Lianen glitt. Weiter seitlich von ihm mußten sich andere auf gleicher Höhe befinden. Indianer! Nimba ahnte die starre Linie eines Blasrohrs und 95
schoß. Die Kugel jagte peitschend hinaus. Rollend kam der Krach aus den dichten Laubdächern zurück. Der huschende Schatten brach mit einem gellenden Schrei zusammen. Plötzlich rasselten Trommeln auf, zornige, drohende Trommeln der Indianer. Sie klapperten so nahe, daß Nimba wild in den Wald hineinschoß, einfach in Richtung dieser hölzernen Trommeln. Er wußte, daß er verloren war, wenn ihm einer dieser Indianer nahe kam. Dann sprang er zurück, über das Feuer hinweg. Jenseits warf er sich dicht am Fluß neben den drei anderen nieder, die inzwischen Stellung bezogen hatten. Wenn die Indianer sie dort erreichen wollten, mußten sie über den erhellten Lagerplatz hinweg oder sich dicht am Ufer anschleichen. In beiden Fällen aber würden die Kugeln schneller sein als die Pfeile. Peng! Peng! Die Schüsse knallten in schneller Folge. Die Trommeln rasselten. »Achtung, Nimba!« schrie Sun Koh, als sich Nimba eben neben ihm niederwarf. Die Pfeile waren schnell. Sie zischten durch die Luft, ein bunter Schwarm vergifteter Todesboten. Im Augenblick, in dem sich Nimba bereits in Sicherheit glaubte und sich gegen die Erde duckte, spürte er auf dem Unterarm einen feinen Stich. 96
Ein Giftpfeil! So locker hing er an der Haut, daß er bei der nächsten Bewegung wieder abfiel und im Gras verschwand. Getroffen! Im Bruchteil der Sekunde schob Nimba alles durch den Kopf, was er von Jerry über die Wirkung der Giftpfeile gehört hatte. Er war verloren, rettungslos verloren. In Sekunden oder Minuten würde der Tod eintreten. Vorbei! Sun Koh bemerkte den Giftpfeil an Nimbas Arm im gleichen Augenblick wie dieser. Der Schreck sprang ihn wie Eis an. Nimba warf sich neben ihm nieder. Sun Koh schnellte hoch. Die Bewegungen begegneten sich so jäh, daß sie von den beiden richtig vollendet wurden. Aber eine halbe Sekunde nach dem Auftreffen des Pfeils lag Sun Kohs Hand bereits wie ein Schraubstock um Nimbas Oberarm. »Ich bin getroffen, Sir«, keuchte Nimba. »Leben Sie wohl und nehmen Sie auf mich keine Rücksicht mehr.« »Schießt!« schrie Sun Koh den beiden anderen zu und riß dabei das Messer aus dem Gürtel. »Beiß die Zähne zusammen, Nimba.« Bevor Nimba noch recht begriffen hatte, floß das Blut schon in zuckenden, dicken Strömen aus seinem Arm. Sun Koh fuhr rücksichtslos mit dem Messer hinein und zerschnitt die Oberseite des Unterarms in 97
der Umgebung der unsichtbaren Wunde, so daß die Muskelstränge bis auf die Knochen auseinanderklafften. »Au …«, brüllte Nimba im ersten, überraschenden Schmerz auf. »Schrei!« Sun Koh fuhr mit weiteren Querschnitten durch die ohnehin schon gräßliche Wunde hindurch. Nimba verstummte. Jetzt erst begriff er, was Sun Koh wollte. Wenn das Leben schon verloren war, so konnte ein letzter, verzweifelter Versuch nichts schaden. Auch tödliches Gift braucht Zeit, braucht Schläge des Herzens, um sich über den Körper zu verteilen. Wenn man ihm keine Zeit ließ, sondern es mit dem ausströmenden Blut wieder herausschwemmte … Und wurde die Wirkung von Giften erfahrungsgemäß nicht übertrieben? Von manchem Gift hatte es schon geheißen, daß es blitzartig wirke, und doch brauchte es lange Minuten, bevor es einen Mann umwarf. Was wußte man von der Wirkung der Giftpfeile anderes als das, was Jerry berichtet hatte? Wie das Blut floß! Über der Verwunderung, daß er soviel Blut in seinen Adern besaß, verlor Nimba das Bewußtsein. Jerry und Hal schossen immer noch. Die Pfeile waren seltener geworden. Die Kugeln hatten sich ihre Opfer geholt. Jetzt blieben die bunten Todesboten ganz aus. Der Klang der Trommeln än98
derte sich. »Sie reißen aus!« schrie Jerry voll Triumph. Er hatte lange genug unter den Eingeborenen gelebt, um die Sprache der Trommeln zu verstehen. Und dann wurde es still. Die Trommeln schwiegen. Die Schüsse knallten nicht mehr. »Die haben wir zum Teufel geschickt.« »Vorsicht!« warnte Hal. »Dort bewegt sich noch etwas.« Sein Schuß peitschte hinaus. »Stop!« knurrte Jerry. »Ich will versuchen den Kerl zu fangen.« Er rannte über die Lichtung. Nach den vorausgegangenen Erfahrungen schien das Leichtsinn zu sein, aber Jerry kannte eben die Gewohnheiten dieser Eingeborenen. Der Indianer versuchte, sich durch den Busch fortzuschleppen. Jerry riß ihn hoch und schleppte ihn zum Feuer. »Was hast du?« höhnte er dabei wild. »Schmerzen? Zeig her. Ah, Bauchschuß! Geschieht dir recht, Bursche, warum greifst du fremde Leute an. Ihr habt Nimba auch erledigt.« Dann ging er in das Idiom der Puhadas über und versuchte, sich mit dem Schwerverletzten zu verständigen. 99
Hal trat zu Sun Koh. »Nimba ist tot?« fragte er mit unsicherer Stimme. »Noch nicht«, antwortete Sun Koh, während er einen Verband um Nimbas Arm legte. »Ich habe ihn zur Ader gelassen. Vorläufig lebt er noch, und ich hoffe, daß es dabei bleiben wird.« Hal atmete tief auf. »Das wäre das Feinste, was uns passieren könnte.« »Ja.« Sun Koh nickte. »Hoffen wir, daß seine Natur ihm hilft. Blut hat er genug verloren. Was ist mit den Indianern?« »Fort. Jerry hat einen Verwundeten.« Der Indianer stieß einen gräßlichen Schrei aus, dann wimmerte er leise weiter. Jerrys Stimme wurde drängend und scharf hörbar. Nimba wurde unruhig. Seine Glieder zuckten. »Die Krise beginnt«, murmelte Sun Koh. »Wir müssen mit allem rechnen. Schneide einige Lianen herunter.« Er hielt den immer heftiger um sich schlagenden Körper fest, bis Hal zurückkam. Dann band er Nimbas wunden Arm um dessen Brust fest, schnürte den anderen Arm an die Hüfte und fesselte die Beine. Nimba verfügte über Riesenkräfte, die unter Fieber und Gift leicht übermächtig werden konnten. Es mußte verhütet werden, daß er sich die Glieder zerschlug. Jetzt kam Jerry heran. 100
»Nimba lebt noch?« rief er überrascht. »Ich dachte, Sie machen ihn schon für die Erde fertig.« »Ich habe die Wunde aufgeschnitten. Vielleicht kann er die Giftspuren, die in seinem Körper blieben, bewältigen.« Jerry schüttelte nachdenklich den Kopf. »Hoffen wir es, aber es ist verflucht unwahrscheinlich. Ich habe noch keinen, der von einem dieser Pfeile getroffen wurde, fünf Minuten später am Leben gesehen.« »Was ist mit dem Indianer?« »Tot«, erwiderte Jerry. »Er ist mir unter den Händen gestorben. Bauchschuß.« »Warum schrie er so auf?« »Ich mußte ihm den Mund öffnen. Er wollte nicht sprechen.« »Und – was haben Sie erfahren?« Jerry winkte ärgerlich ab. »Nicht der Rede wert. Der Kerl sprach wieder einen anderen Dialekt als die Puhadas, deren Sprache ich gelernt habe. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, waren es zwanzig Mann, die uns angriffen. Ich wollte wissen, wieso sie uns gefunden haben, aber da sagte er etwas von Trommeln und Krokodilmännern, aus dem ich nicht klug werden konnte.« »Krokodilmänner?« »Ja, aber das dürfen Sie nicht so genau nehmen. Die Indianer schwatzen zwar stundenlang, aber ihre 101
Sprache ist arm an Worten. Sie müssen eine Menge Umwege machen, wenn sie etwas bezeichnen wollen, was nicht zu ihren täglichen Erfahrungen gehört. Er sprach von Männern, die hart und unverwundbar wie Krokodile sind und die das Feuer blasen.« »In welchem Zusammenhang sprach er von diesen Männern?« »Das habe ich nicht richtig herausgekriegt. Er redete ziemlich sinnlos durcheinander. Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß die Indianer den Krokodilmännern dafür verantwortlich sind, daß niemand den Fluß hinauffährt. Er kann aber auch genau das Gegenteil gemeint haben.« Sun Koh blickte nachdenklich vor sich hin. »Männer, die unverwundbar wie Krokodile sind und das Feuer blasen – finden Sie das nicht merkwürdig?« Jerry zuckte mit den Schultern. »Sie machen sich zuviel Gedanken. Wer weiß, was der Unsinn bedeuten soll.« »Wir blasen das Feuer«, warf Hal ein. »Eben daran dachte ich«, sagte Sun Koh. »Für die Indianer, die nur das Blasrohr als Waffe kennen, müssen wir Männer sein, die das Feuer blasen.« »Hm, das stimmt ganz genau«, bestätigte jetzt auch Jerry. »Diese Bezeichnung gebrauchten die Puhadas üblicherweise für die Weißen. Aber als unverwundbar haben sie noch keinen bezeichnet.« 102
»Das glaube ich, denn dann müßten die Weißen gewissermaßen in Eisen gehüllt sein.« »In eine Rüstung«, meinte Hal. »Leder würde zur Not auch genügen.« Jerry schnippte mit den Fingern. »Von mir aus Nickelstahl. Ich zerbreche mir den Kopf nicht darüber. Werde lieber mal nachsehen, wieviel Indianer auf der Strecke blieben.« Hal schloß sich ihm an. Sie fanden insgesamt elf Leichen in der Umgebung der Lichtung. Das war in Anbetracht der schlechten Schußverhältnisse eine erstaunlich hohe Zahl, die sich nur durch die Unvorsichtigkeit der Angreifer erklären ließ. Den Indianern mußten die Gewehre und ihre Wirksamkeit ganz oder fast ganz unbekannt gewesen sein, sonst wären sie besser auf Deckung bedacht gewesen. »Die Hälfte haben wir bestimmt erwischt«, stellte Jerry fest. »Ich glaube nicht, daß sich der Rest noch einmal heranwagt.« »Was machen wir mit den Toten?« »Wir müssen sie ins Wasser werfen. Hier geht es sehr schnell mit der Zersetzung.« »Ins Wasser?« Sun Koh zögerte. »Dort wimmelt es von Krokodilen.« »Wir brauchen uns keine Gedanken zu machen. Die Indianer kennen kein anderes Verfahren, um ihre Toten loszuwerden. Sie werfen sie immer den Krokodilen vor.« 103
»Dann also ins Wasser.« Jerry und Hal gingen an die Arbeit. Sie waren froh, als sie die Leichentransporte hinter sich hatten. Die Nacht verging ohne weitere Störung, ebenso die folgenden Tage. Die nächtliche Schießerei mußte tatsächlich so stark auf die Eingeborenen gewirkt haben, daß sie sich nicht wieder heranwagten. Nimba schwebte tagelang zwischen Leben und Tod. Obgleich nur winzige Spuren des Gifts in seinen Körper eingedrungen sein konnten, sah es so aus, als würden ihn selbst diese Winzigkeiten überwältigen. Drei Tage lang kämpfte er wie ein Tobsüchtiger gegen die Lianenfesseln, die ihn hielten. Drei Tage lang schrie und brüllte er immer wieder in den Urwald hinein. Endlich war die Kraft des Gifts gebrochen. Die Ausbrüche wurden matter und hörten schließlich ganz auf. Das verzerrte Gesicht glättete sich, der Atem wurde ruhiger und gleichmäßig, das Fieber schwand. Am vierten Tag schlug er nach langem Schlaf zum erstenmal wieder die Augen mit Bewußtsein auf und erkannte Sun Koh. Zwei Tage später fühlte er sich bereits kräftig genug, um die Fortsetzung der Fahrt vorzuschlagen. Sein gesundes Blut baute mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf. Freilich verschlang er auch erstaunliche Mengen von Nahrungsmitteln. Die Wunde 104
heilte zusehends. Dann stellte sich heraus, daß die Vergiftung auch eine angenehme Nachwirkung besaß. Nimba müßte am siebten Tag seinen Fieberanfall bekommen. Dieser blieb jedoch aus. »Ich merke nicht das Geringste«, versicherte er. »Mir ist vollkommen wohl und genauso, als hätte ich nie am Fieber gelitten.« »Vielleicht hat das Gift das Fieber vertrieben?« erwog Sun Koh. »Immerhin möglich. Dann könntest du jetzt immun sein. Nun, wir werden ja sehen.« Die nächsten Tage zeigten, daß die Vermutung zutraf. Nimba bekam keinen Anfall mehr. Er blieb gesund, obgleich weiterhin alle Möglichkeiten vorlagen, das Fieber wieder ins Blut zu bekommen. Damit erhielt Sun Koh zugleich einen Anhalt dafür, warum er selbst vom Fieber verschont blieb. Am neunten Tag nach dem Überfall bestiegen sie ausgeruht und reichlich mit Vorräten versehen von neuem das Boot, um die Fahrt durch das unbekannte Gebiet fortzusetzen. Drei Tage lang hoben und senkten sich eintönig die Paddel, drei Tage lang tropfte das gelbe Wasser neben dem Kanu her, drei Tage lang lief der Schweiß von den verzerrten Gesichtern, glühte die Sonne auf den Köpfen und spien die Lippen wieder Flüche zu den tückisch schielenden Krokodilen hinüber. Dann kam die Verheißung. 105
In den träge dahinfließenden Strom, den sich das Boot hinaufschob, mündete ein schmaler Nebenfluß ein. Die vier hatten in diesen Wochen zahllose Nebenflüsse und Seitenarme bemerkt, aber noch nie hatte sich das Wasser mit solcher Gewalt in den Hauptstrom gepreßt, und noch nie war der Unterschied in der Beschaffenheit so auffallend gewesen wie hier. Das einströmende Wasser war gegenüber der lehmigen Brühe fast klar. Die zahllosen Kleinlebewesen, die man sonst mit dem bloßen Auge bemerkte, fehlten. Das Wasser war so sauber, daß man es ohne Ekel trinken konnte. Sicher war es nicht besser als das Wasser von hundert europäischen Flüssen, aber im Vergleich zu allem, was die vier bisher auf ihrer endlosen Fahrt kennengelernt hatten, wirkte es wie ein Labsal. Und das Wasser dieses Nebenflusses war kühler! Auf Jerrys verkrampften Mienen flackerte ein Grinsen. »Verdammt will ich sein, wenn das nicht ein gutes Zeichen ist.« Das Gesicht Sun Kohs war ebenfalls heller geworden. »Das ist ein gutes Zeichen. Der Fluß kommt vom Gebirge. Das beweist seine Strömung, seine Temperatur und seine Sauberkeit. Er wird uns den Weg zeigen.« 106
»Endlich siegt die Tugend!« Hal atmete auf und schlug dem vor ihm sitzenden Jerry kräftig auf die Schulter, worauf Jerry herumfuhr und damit das Boot fast zum Kentern brachte. »Bist du verrückt?« »Nein, nur freudig erregt.« »Wenn wir an Land sind, werde ich auch einmal freudig erregt sein«, knurrte Jerry. »Das wird dir dann eine kilometerlange Zahnarztrechnung einbringen.« »Lächerliches Großmaul!« meinte Hal geringschätzig. »Hoho, ich…« »Gib auf, Jerry«, fing ihn Nimba ab. »Es hat keinen Zweck, sich mit Hal zu streiten. Er will sich ohnehin im nächsten Zoo als Krokodil anstellen lassen.« »Wieso?« erkundigte sich Hal mißtrauisch, und damit war er hereingefallen. Nimba strahlte über das ganze Gesicht. »Wegen konkurrenzloser Großmäuligkeit. Soweit kann kein Krokodil den Rachen aufreißen wie du.« Jerry wieherte vor Lachen. »Bravo, gut gegeben. Bravissimo!« »Dämliche Meckerei!« fauchte Hal. »Wie kann ein erwachsener Mann nur so kindisch sein. Du hast dich von dem Giftpfeil noch nicht erholt, Nimba. Schwerer Gehirnschaden!« 107
»Hoho!« »Hähä!« »Vergeßt das Rudern nicht«, mahnte Sun Koh. »Die lachen doch nur, damit sie nicht zu paddeln brauchen.« »Weiter.« Sie schwiegen wieder, aber die Gesichter blieben heller, als sie in diesen Tagen gewesen waren. Der Fluß mußte nach menschlichem Ermessen die Rettung bedeuten. Doch es machte sich ein Nachteil bemerkbar. Die Strömung dieses Flusses war erheblich kräftiger. Dadurch sank die Geschwindigkeit des Bootes. Sie mußten schärfer paddeln als bisher und kamen trotzdem langsamer voran. Zwei Tage lang stemmten sie sich flußaufwärts, dann erreichten sie einen Wasserfall. Jerry fluchte, aber Sun Koh lachte. »Sie sollten froh sein, daß wir schon so bald auf einen Fall stoßen. Er bringt uns dreißig Meter höher. Glaubten Sie, wir können aus dieser Sumpflandschaft herauskommen, indem wir einfach den Fluß schräg hinauffahren. So stark ist der natürliche Fall nicht. Wenn der Fluß ohne Wasserfälle wäre, würden wir viele Wochen brauchen, um auf Höhe zu kommen. Ein Wasserfall spart uns eine Woche Ruderarbeit. Wir können uns nichts Besseres wünschen als eine ganze Kette solcher Fälle, denn dann sind wir 108
bald im Hochland.« Jerry pendelte mit dem Kopf. »Hm, schon richtig, aber wir müssen jeden Fall am Ufer umgehen, und das kann böse für uns werden, falls Indianer in der Nähe sind.« »Sicher«, sagte Sun Koh. »Erzwingen müssen wir uns aber den Weg ohnehin. Heute werden wir wohl ohne Gefahr durchkommen. Man scheint im Augenblick nichts von uns zu wissen. Also zum Ufer! Wir bleiben heute hier und schlagen uns morgen durch den Wald.« Die Umgehung des Wasserfalls, der nicht einmal besonders groß war, erforderte einen vollen Tag. Sun Koh und Jerry hieben mit den Macheten die Spur. Nimba schleppte das Boot, und Hal übernahm die Sicherung. Sie befanden sich am Abend dieses Tages nur dreißig Meter höher, und doch bemerkten sie einige Veränderungen. Die Luft war weniger dunstig und giftig, die Hitze nicht ganz so drückend, und der Wald schien insgesamt nicht mehr so faulig-wild zu wuchern, sondern fester und klarer zu sein. Das dröhnende Geräusch fallenden, frischen und bewegten Wassers war Musik in ihren Ohren. Nachdem sie wochenlang das trübe, stehende und verseuchte Sumpfwasser der Niederung um sich herum gehabt hatten, kam ihnen die zerstiebende Flut am Fall wie ein Geschenk des Himmels vor. Die Ver109
krampfung in ihnen löste sich. Vier Tage harter Paddelarbeit brachten sie an die nächste Bodenwelle und damit an den nächsten Wasserfall heran. Trotz aller Mühe halfen ihnen diese Tage, aus Verzweifelten wieder zu trotzigen und kampfbereiten Abenteurern zu werden. Die Natur erdrückte sie nicht mehr, obgleich nach wie vor ringsum der Urwald wucherte. Sie besaßen jetzt gleichsam ein Existenzminimum, an das sie sich halten konnten. Wasserfall! Paddelarbeit auf dem strömenden Fluß. Wieder ein Wasserfall. Und dann erlebten sie das Wunder. Die Umgehung dieses Wasserfalls hatte soviel Zeit in Anspruch genommen, daß sie erst mit anbrechender Nacht ihr Ziel erreicht hatten. So schoben sie erst am nächsten Morgen das Boot in den Fluß oberhalb des Falls. Hal bemerkte das Wunderbare. Seine Hand schwankte, als er auf das Wasser wies, und in seinem Schrei zitterte es wie ein Schluchzen, als er herausstieß: »Sir! Sehen Sie! Dort! Sand! Sand!« Sand! Wochen und Ewigkeiten hatten sie nichts gesehen als blasenwerfenden Schlamm, dunstigen Morast und weiche Lehmbänke. Jetzt lag dort Sand, reiner Sand, der aus lauter einzelnen festen Körnchen bestand. 110
Es war für sie das Wunder schlechthin. Sie starrten ergriffen auf die winzige Sandbank, bis Hal mit einem Schwung seine Waffen wegwarf. »Und jetzt – jetzt hinein!« Bevor die anderen noch recht begriffen hatten, war er wollte, hatte er sich mit einem Satz ins Wasser hineingeworfen, direkt auf die sandige Stelle zu. Und dann lag er mit sämtlichen Sachen im Wasser und kreischte vor Vergnügen. »Die Piranhas!« rief Jerry ihm erschreckt zu. »Hier wird es wohl keine geben«, beruhigte Sun Koh. »Bleiben Sie hier oder wollen Sie auch ins Wasser?« »Wenn das eine Frage sein soll?« Jerry grinste. »Moment, ich bin gleich wieder da und lasse Ihnen dann den Vortritt.« Schon lag er im Wasser, und Nimba folgte ihm gleich darauf. Sun Koh beherrschte sich und ließ die drei sich austoben. Irgendwer mußte ja schließlich Wache halten. Erst als Jerry triefend wie ein Wassergott und strahlend wie ein Geburtstagskind wieder herausstieg, warf er sich ebenfalls in das herrliche Bad. Sie fühlten sich wie neugeboren, als sie weiterpaddelten. Das Bad hatte wie ein Jungbrunnen gewirkt. Außerdem waren ihre Sachen, die vom Schmutz steif geworden waren, einer Reinigung unterzogen worden – soweit man Kleidungsstücke in 111
kaltem Wasser ohne Seife eben reinigen konnte. Jetzt war die Fahrt durch den Urwald wundervoll, eine Fahrt durch den herrlichsten Blumengarten der Welt. Das bißchen Paddeln – nicht der Rede wert. In Kürze würden sie von einer Anhöhe oder vom Gipfel eines Berges aus auf die Niederungen blicken, die sie bezwungen hatten. Sie waren gerettet. Dachten sie. Aber am Spätnachmittag bemerkten sie seit langer Zeit wieder den ersten Indianer. Das wischte die freudige Stimmung innerhalb von Sekunden weg, als wäre sie nie vorhanden gewesen. Noch lauerte rechts und links der Tod. »Das kann gemütlich werden«, knurrte Jerry besorgt. »Sie werden uns mit ihren Pfeilen spicken, daß wir wie eine Schmetterlingssammlung aussehen.« »Solange wir auf dem Fluß sind, können sie uns nicht viel anhaben«, beruhigte Sun Koh. »Und wenn ein Wasserfall kommt?« »Dann werden wir eben kämpfen.« In dieser Nacht blieben sie auf dem Fluß. Sie hatten zwar keinen weiteren Indianer bemerkt, aber aus der Ferne den trockenen Klang der berüchtigten Trommeln gehört. Sicher alarmierte dieser Kundschafter seinen ganzen Stamm. Ein Baumstamm, der quer über das Wasser gefallen war, gab dem Boot Halt und Deckung. Im Falle 112
eines Angriffs würde es leicht fallen, rechtzeitig die Mitte des Stromes zu gewinnen. Insgeheim wünschten sich alle vier, daß sich ihnen in nächster Zeit kein Wasserfall hindernd in den Weg stellen möchte. Sie gaben sich jedoch keinen großen Hoffnungen hin. Das ferne Dröhnen, das in ihren Ohren lag, kam sicher schon vom nächsten Fall. Die Nacht verlief ohne Störung, ebenso die Stunden des nächsten Vormittags. Gegen Mittag wußten sie jedoch bereits, daß sich ihre Ahnung bestätigte. Vor ihnen lag ein neuer Wasserfall. Sie erreichten ihn gegen Abend. Da es zu spät war, um ihn noch zu umgehen, blieben sie unterhalb des Falls im Strom. Diesmal mußten sie aber ziemlich dicht an das Ufer heran, weil sie sonst gezwungen gewesen wären, wenigstens einen Mann die ganze Nacht hindurch paddeln zu lassen. Auch diese Nacht blieb ruhig. Es sah überhaupt so aus, als wären sie der Gefahr entronnen. Die Indianer ließen sich weder hören noch sehen. Dann kam der Morgen. »Der Wald ist nur mäßig dicht«, stellte Sun Koh befriedigt fest. »Wir werden nicht allzuviel mit der Machete zu schlagen haben. Zunächst wollen wir aber einmal sehen, ob Indianer in der Nähe sind. Beobachte drüben das Ufer, Nimba.« Er zog die Pistole heraus und feuerte einen Schuß ab. 113
»Da!« rief Nimba. »Drüben zwischen den Bäumen!« Flüchtig waren einige Köpfe sichtbar geworden. Die Neugier hatte die lauernden Feinde, die sich bis jetzt geschickt verborgen gehalten hatten, verraten. »Das mußten wir wissen«, sagte Sun Koh. »Auf dieser Seite hat sich niemand sehen lassen. Vorwärts, an Land. Du nimmst wieder das Boot, Nimba. Jerry wird den Weg schlagen, soweit es nötig ist. Hal und ich decken. Sollte der Wald zu dicht werden, löse ich Jerry ab.« Sie betraten das Ufer. Hal konnte sich nicht versagen, den Indianern auf der anderen Seite eine lange Nase zu drehen. Ob sie diese Gebärde verstanden oder ob sie die Geheimhaltung nun für überflüssig hielten – jedenfalls wurden sie jetzt sichtbar. Es waren rund dreißig Mann, die kreischend am jenseitigen Ufer herumtobten. Einzelne bliesen sogar gefiederte Pfeile herüber, aber sie erreichten nur die Mitte des Stroms. »Hoffentlich kommen sie nicht herüber!« meinte Nimba bedenklich. »Kaum zu befürchten«, antwortete Jerry. »Die Kerle haben es noch nicht einmal gelernt, ein Boot zu bauen und über das Wasser zu lenken.« Sie marschierten los. Der Charakter des Waldes hatte sich immerhin schon so stark geändert, daß man von Marschieren sprechen konnte. Freilich 114
mußten sie häufig riesige Moderstämme umgehen, sich durch kaum entwirrbare Bäume hindurchschlängeln und Lianenvorhänge durchbrechen. Die Machete brauchte aber nur selten in Tätigkeit zu treten. Unangenehm machten sich die Saubas bemerkbar, eine Ameisenart, die zwar nicht in Massen auftrat, aber außerordentlich bissig war. Grasblutegel und Zecken gab es hier und dort auch, aber sie wurden kaum besonders beachtet. Indianerpfeile waren schlimmer. Jerry hätte seiner Gewohnheit gemäß gern geflucht, aber Sun Koh hatte Anweisung gegeben, still durch den Wald zu brechen, um die Annäherung von Indianern möglichst früh wahrnehmen zu können. Nach einigen Stunden näherten sie sich oberhalb des Wasserfalls wieder dem Ufer. Es war schneller gegangen, als sie gehofft hatten. Sie sahen das Wasser schon durch die Stämme blinken, als Sun Koh halblaut warnte: »Achtung! Deckung!« Sie duckten sich sofort hinter die nächsten Stämme. Jerry rettete sich durch die schnelle Bewegung das Leben. Ein Pfeil schwebte genau dort durch die Luft, wo er eben noch gestanden hatte. Der Schütze brach schon unter der Kugel Sun Kohs zusammen. Sein Todesschrei mischte sich mit dem Knall des Schusses. »Mindestens ein halbes Dutzend«, verständigte Sun Koh. »Seid vorsichtig! Jerry und Nimba, ihr ver115
sucht, euch zum Wasser zurückzuziehen!« Peng! Einzelne Pfeile schwirrten zwischen die Bäume. Peng! Sun Koh traf zum zweitenmal. Gleich darauf holte sich Hal den dritten Indianer. »Sie ziehen sich zurück.« »Wir uns auch. Komm.« Sie wechselten vorsichtig ihre Standplätze und folgten Jerry und Nimba. Die Indianer machten sich nicht wieder bemerkbar. Ungehindert erreichten sie das Ufer und konnten das Boot besteigen. Irgendwo in der Ferne klapperten die Trommeln, aber das hölzerne Rasseln besaß jetzt nicht mehr die lähmende Wirkung wie unten in den Niederungen. Eine Stunde vor Sonnenuntergang wurde ihnen das zweite Wunder dieser Flußfahrt beschert. Aus der Mitte des Strombetts stieß eine nackte Klippe heraus. Nackter Felsen! »Hier wollen wir über Nacht bleiben«, schlug Sun Koh vor. »Einen besseren Platz können wir kaum finden.« Sie sprangen heraus, zogen das Boot hoch und hatten gerade noch genügend Platz, um ihre Glieder zu strecken. Der Boden war hart, aber gerade deshalb war es herrlich, auf ihm zu schlafen. Das Rauschen des Wassers störte sie so wenig wie der wilde Chor der Brüllaffen. 116
Am nächsten Morgen waren sie kaum eine Stunde unterwegs, als sie auf beiden Seiten des Flusses Indianer entdeckten. Rechts und links wurden die nackten, fahlbraunen Gestalten zwischen den Bäumen sichtbar, zunächst nur flüchtig, weil sich die Indianer in Deckung hielten, später fast dauernd, weil von den Männern auf dem Fluß keine Gefahr zu drohen schien. Es waren die gleichen platten Gesichter wie bei den Puhadas, doch waren die Körper beträchtlich größer. »Vermutlich zwei verschiedene Stämme«, urteilte Jerry nach längerer Beobachtung. »Über den Fluß kommen sie nicht, aber unsere Anwesenheit ist hüben wie drüben bekannt, und nun hofft wohl jeder Trupp, daß er unsere wertvollen Köpfe erwischt. Hübsche Situation.« Er hatte nun mit den anderen zusammen genug damit zu tun, das Boot vorwärts zu drücken und gleichzeitig auf Strommitte zu halten. Auf das letztere kam es an. Solange sie das Boot in der Mitte des Stroms halten konnten, hatten sie nicht viel zu befürchten. Es gelang ihnen den ganzen Tag über, aber dafür kamen sie nur langsam vorwärts. »Höchstens halb so weit wie gestern«, zensierte Nimba, als sie gegen Abend das Ergebnis überblickten. »Macht nichts«, tröstete Sun Koh. »Lieber eine 117
Woche länger rudern als jetzt einen Wasserfall umgehen zu müssen. Wir haben auf jeder Seite einige Dutzend Begleiter, und es wäre unangenehm für uns, wenn wir uns durch so starke Trupps hindurchschlagen müßten. Gott sei Dank ist von einem neuen Fall noch nichts zu hören.« »Wenn sie uns nur nicht auch ohne Wasserfall erwischen«, murmelte Jerry. »Ich suche mir die Augen aus dem Kopf, aber dieser verdammte Fluß bleibt glatt wie ein Tisch. Was soll über Nacht werden?« »Wir werden das Boot auf dem Wasser verankern. Ein Lianenseil und eine Machete werden schon genügen. Doch vielleicht treffen wir auch noch auf Felsen.« Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Sonne stand schon kurz vor dem Untergang, aber im Strom ließ sich immer noch kein fester Punkt finden, an dem sie das Boot hätten befestigen können. Sun Koh band nun eine Machete an ejn dünnes Lianenseil, gab das eine Ende Nimba in die Hand, legte seine Kleidung ab und sprang ins Wasser. Jerry und Hal hielten das Boot auf der Stelle. Nach einer Weile kam Sun Koh wieder hoch, blieb aber im Wasser. »Laßt die Paddel ruhen. Wir wollen sehen, ob die Verankerung hält. Der Boden besteht aus Sand und Schlamm. Ich habe die Machete so weit wie möglich hineingestoßen.« 118
Die Strömung nahm das Boot ein kleines Stück mit, dann straffte sich das Seil, ruckte und blieb straff. Die Verankerung hielt. Sun Koh schwang sich mit aller Vorsicht wieder in das Boot hinein. »Geglückt!« stellte er erleichtert fest. »Einer von uns muß freilich immer die Liane halten. Wir können in das Boot keine Machete hineintreiben.« Dazu gab es nichts zu bereden. Einer mußte ohnehin immer wachen. Die Nacht wurde etwas unbequem, vor allem für den Wächter, der jeweils das Boot gegen die Strömung halten mußte, aber sie hatten schlimmere Nächte erlebt. Wieder kam ein neuer Morgen. Wieder kämpften sie sich einen ganzen Tag lang den Strom aufwärts, immer unter den aufmerksamen Augen der lauernden Indianer. Der Strom nahm stellenweise den Charakter eines Wildflusses mit Untiefen und Wirbeln an, wurde aber zwischendurch immer wieder glatt und stetig. Der Wald lichtete sich rechts und links so weit, daß man ein Stück in ihn hineinsehen konnte. Die Lianenvorhänge wiesen beträchtliche Lücken auf. Mittags verzehrten die vier im Boot ihre letzten Vorräte. »Jetzt werden wir den Gürtel enger schnallen müssen«, prophezeite Hal, aber sein Pessimismus wurde von den anderen nicht geteilt. »Hier gibt es Fische«, wandte Jerry ein. »Rohe Fi119
sche schmecken auch, wenn man Hunger hat.« »Ewig werden ja die Indianer nicht nebenherlaufen«, murmelte Nimba. In dieser Nacht legten sie das Boot auf eine schmale Barre, die bis dicht unter die Oberfläche des Wassers heraufstieg. Erstaunlicherweise nutzten die Indianer die Gelegenheit nicht. Die Barre zog sich bis zum Ufer hin. Die Indianer hätten sich nur die Füße naß gemacht, wenn sie auf ihr entlang an das Boot herangekommen wären. Sie schienen jedoch eine abergläubische Furcht vor dem Wasser zu haben. Gegen Mittag des folgenden Tages drang aus der Ferne leiser Donner an die Ohren der Männer. »Ein Wasserfall!« »Gute Nacht und kein Bett!« seufzte Hal. »Jetzt werden wir doch noch zu Spickbraten.« »Zu Räucherköpfen.« Jerry grinste kümmerlich. »Jetzt wissen wir wenigstens, warum die Indianer soviel Ausdauer gezeigt haben. Sie wollen uns am Wasserfall erwischen. Ich glaube, jetzt werden hüben und drüben Wetten abgeschlossen, welche Seite wir uns wohl aussuchen.« Überraschenderweise blieben die Indianer im Lauf des Nachmittags zurück und verschwanden schließlich gänzlich, nachdem sie hüben wie drüben noch einmal heftig getrommelt hatten. »Sie geben auf.« 120
»Quatsch! Sie schlagen einen Bogen und überholen uns, damit sie sich in aller Ruhe in den Hinterhalt legen können.« Diese Vermutung besaß die höchste Wahrscheinlichkeit. Deshalb bedeutete das Verschwinden der Eingeborenen auch keine Erleichterung. Bisher hatte man den Gegner wenigstens gesehen. Jetzt mußten sie sich an den Feind herantasten und jederzeit mit einem Angriff rechnen. Der unsichtbare Feind war gefährlicher als der sichtbare. Sie bekamen den Wasserfall am Vormittag des nächsten Tages zu Gesicht. Es war der größte, den sie bisher gesehen hatten. Er besaß eine Höhe von ungefähr achtzig Metern. Und er stürzte über eine Felsenkante hinweg in die Tiefe. Sun Koh wies hinauf. »Dort beginnt das Hochland, das Gebirge. Wenn wir dort oben stehen, haben wir das Schlimmste überwunden.« »Wenn…« »Wir müssen hinauf. Die Macheten werden wir kaum brauchen. Das Boot lassen wir zurück, so daß wir die Hände zur Verteidigung frei haben. Es wird alles davon abhängen, daß wir uns gut umsehen und genügend auf Deckung achten. An sich sind wir ja mit unseren Waffen den Indianern überlegen.« »Aber wir besitzen dann kein Boot mehr.« »Vielleicht finden wir einen neuen Palmetto?« 121
»Wenig wahrscheinlich. Der Palmetto wächst nur in der Niederung, halb im Wasser.« »Es gibt andere Bäume. Wir müssen es darauf ankommen lassen. Das Boot würde mindestens einen von uns zwingen, ungedeckt zu bleiben.« »Die Macheten?« »Nehmen wir mit.« Sie hielten auf das Ufer zu. Acht Augen durchforschten sorgfältig den Rand des Waldes. Kein Indianer zu sehen. Der erwartete Pfeilhagel blieb aus. Sun Koh feuerte einen Schuß ab. Ein paar Affen jagten kreischend in voller Flucht davon, aber kein braunes, plattes Gesicht ließ sich sehen. Einen Augenblick schien es Sun Koh, als dröhnte in der Ferne eine dumpfe Trommel, aber er wußte nicht, ob er sich nicht täuschte. Das Brausen des Wasserfalles füllte die Ohren bereits zu stark. Ans Ufer! Fester Boden, unter dessen Humus man den Felsen zu spüren glaubte. Sie traten erst eine ganze Weile am Wasser hin und her. Ihre Glieder waren fast nicht mehr daran gewöhnt zu stehen und zu gehen. Sie waren durch das ständige Hocken im Boot steif geworden, und es konnte notwendig werden, sich schnell zu bewegen. »Vorwärts!« Die Hände fest um das schußbereite Gewehr gelegt, den Blick in angespannter Aufmerksamkeit nach vorn, nach oben und nach den Seiten gerichtet, 122
so drangen sie in den Wald ein. Und jeder Schritt in das warme Halbdunkel hinein verschärfte die Spannung. Wann würde der erste bunte Pfeil fliegen? Wo würde er herkommen? Wann würden die Trommeln anfangen zu klappern? Es war ein Beweis für die gute Selbstzucht und Beherrschung der vier, daß sich kein Schuß löste, obgleich sie alle ständig den Finger am Abzug hatten. Bei tausend anderen Männern hätte die Gefahr und die Anspannung zusammen mit der Überreizung der Sinne schnell zu sinnlosen Schüssen geführt. Eine Stunde verging. Das Gelände stieg scharf an. Wieder eine Stunde. »Verdammt!« fluchte Jerry, der die Spannung kaum mehr ertragen konnte. »Wo bleiben die Indianer? Wollen sie uns erst ein paar Stunden verrückt machen, bevor sie uns ihre Pfeile in den Pelz jagen?« Die dritte Stunde! Keine Spur von den Indianern. Nur Affen huschten zwischen den Bäumen. Die Hoffnung stieg allmählich auf. Sollten es die Eingeborenen doch aufgegeben haben? Das wäre … »Achtung!« rief Sun Koh. Peng – peng, peng – die Schüsse peitschten wie Maschinengewehrfeuer hinaus. Mit einem Schlag wimmelte es ringsum von In123
dianern. Sie lagen hinter den Bäumen, saßen auf den Ästen und hockten in den Büschen. Ein Hagel von Pfeilen prasselten gegen die vier Abenteurer. Die Läufe wurden heiß. Das waren keine dreißig, sondern hundert und mehr Indianer, die hier im Hinterhalt lagen. »Was sind das für Burschen?« brüllte Nimba in heller Wut seinem Nachbarn zu. »Weiß nicht«, schrie Jerry zurück. »Sie tragen einen Lendenschurz. Keine Amazonas-Indios.« »Das sind auch keine Blasrohre. Sie schießen mit Bogen.« Die Pfeile verrieten es schon. Es waren starke, fast halbmeterlange Pfeile, die zitternd in den Bäumen stecken blieben. »Deckung!« mahnte Sun Koh. Du lieber Gott, so viele Bäume gab es gar nicht um einen Mann herum, um sich gegen alle Pfeile zu decken. »Verdammt!« fluchte Jerry. »Mich hat’s erwischt. Macht’s gut, ich werde diesen Höllenhunden …« Er hielt sich für verloren, rechnete mit dem Tod. Und nun zeigte er, wie verwegen sein Charakter war. Er warf sein Gewehr in den Busch, riß seine beiden Pistolen heraus und stürmte aus seiner Deckung heraus. Unbekümmert um die Pfeile, die durch die Luft schwirrten, stürzte er auf die Büsche hin, hinter denen die Indianer lagen. 124
Es war schrecklich, ihn zu sehen. Schrecklich für seine Kameraden, aber wohl noch viel schrecklicher für die Eingeborenen. Ein Stöhnen lief durch die Büsche, ein panischer Schrei stieg hoch, und dann krachte und huschte es überall. Die Indianer flohen! Jerry blieb schließlich mit leeren Waffen stehen. Er taumelte, aber schon stand Sun Koh neben ihm und riß ihm einen Pfeil aus dem Arm und einen zweiten aus dem Halsfleisch. »Sie türmen!« keuchte Jerry. »Ihr habt Luft. Wenigstens etwas. Möchte nur wissen, wie lange das mit dem Gift dauert.« Sun Koh hielt den zweiten Pfeil dicht an seine Augen. Jerry hätte schon tot sein müssen, wenn diese beiden Pfeile … »Jerry – die Pfeile sind nicht vergiftet!« »Sind nicht…« wiederholte Jerry, ohne zu begreifen. Dann standen sie steif und lauschten. Aus dem Wald klang der dumpfe, harte Klang einer Trommel, völlig unähnlich jener Trommeln, die sie bisher gehört hatten. 5. Sie standen wie gebannt. »Wir müssen uns auf einen neuen Angriff gefaßt 125
machen«, sagte Sun Koh. »Der Stamm scheint sehr kriegerisch zu sein.« »Kriegerisch?« fragte Jerry. »Hundert gegen vier – das ist ein Kunststück. Und trotzdem sind sie davongelaufen.« »Sie vergessen die Wirkung unserer Gewehre und Ihr erschreckendes Auftreten, Jerry. Hören Sie nur die Trommel. Sie schreit nach Krieg und Kampf. So leicht wird es uns nicht fallen, wieder an den Fluß heranzukommen. Aber wir müssen wenigstens versuchen, ebenen Boden zu erreichen. An diesem ansteigenden Berg sind wir zu stark benachteiligt.« »Fünf Minuten lang keine Bäume«, brummte Nimba, »dann wollen wir einmal sehen.« »Weiter.« Sun Koh übernahm wieder die Spitze, Jerry und Nimba hatten die Seitendeckung, Hal bildete den Schluß. Sie blieben nach Möglichkeit dicht beieinander, aber in erster Linie richteten sich ihre Bewegungen nach den Stämmen, zwischen denen sie hindurchglitten. Die Trommel schwieg. Eine halbe Stunde lang drangen sie unter Beachtung aller Vorsichtsmaßregeln vorwärts. Der Boden stieg noch immer, aber es sah aus, als hätten sie die Höhe fast erreicht. Plötzlich dröhnte die Trommel kurz und wild auf. »Dort vorn wird es licht!« rief Sun Koh, und dann: 126
»Achtung!« Ein Hagel von Pfeilen zischte zwischen den Bäumen. Die Luft gellte vom Aufheulen vieler Stimmen. Der Angriff! Sie standen und lagen hinter den Bäumen, hinter den Büschen und auf den Ästen, Dutzende von braunen Gestalten. Die Deckung war gut, brachte sie aber auch in Nachteil. Das Dickicht ließ die starken Pfeile nicht gut durch und deckte auch die vier Männer, die hinter den Bäumen Schutz gefunden hatten. Sie schossen ununterbrochen, und ihre Geschosse wurden durch keine Liane abgelenkt. Und die Eingeborenen mußten immer wieder ihre Deckung aufgeben, um ihre Bogen zu spannen. Sie brachen zu Dutzenden zusammen. Jede Sekunde forderte ihr Opfer. Die Männer blieben auch nicht verschont. Hal’s linke Hand wurde von einem Pfeil durchbohrt, Nimba zerrte sich mit einem Ruck einen Pfeil aus dem Bein, Sun Koh sah gleich zwei Stück nebeneinander in seinem stecken, und Jerry griff nach seinem Ohrläppchen. Aber sie ließen sich dadurch nicht aufhalten. Die Pfeile waren nicht vergiftet. Kaum zwei Minuten dauerte der ungleiche Kampf, dann stürzten die Überlebenden mit schrillen Schreien davon. In geringer Entfernung sang zornig die Trommel. Aufatmend erhoben sich die vier. 127
»Gut gegangen.« Hal grinste, so gut es eben ging. »Ich habe mir eine Theaterhand zugelegt – mit Notausgang.« »Verdammte Bande!« Jerry betastete sein Ohr. »Jetzt kann ich für den Rest meines Lebens mit einer zerfetzten Ohrmuschel in der Weltgeschichte herumlaufen.« Sun Koh zog sich die Pfeile aus dem Arm. »Ein Glück, daß die Widerhaken so grob sind. Ein menschenfreundlicher Stamm. Das Verbandszeug, Nimba. Ihr Ohr lassen Sie am besten verharschen, Jerry. Deine Hand muß verbunden werden, Hal. Bei mir wird ein Pflaster genügen.« »Fein muß ich aussehen«, murrte Jerry. »Mir ist der ganze Saft über das Gesicht gelaufen.« »Wie ein frisch abgestochenes Schwein«, gab Hal sachverständig sein Urteil ab. »Für eine Schönheitskonkurrenz bist du nicht mehr zu gebrauchen.« »Du auch nicht. Überhaupt habe ich schon schönere Männer gesehen als dich, falls man so was wie dich schon als Mann bezeichnen darf.« Nimba hatte inzwischen die flache Blechkiste mit den Medikamenten von seiner Schulter heruntergeschnallt. Er wollte sie öffnen, hielt aber in der Bewegung inne und starrte auf ein rundes, durchgebeultes, ausgefranstes Loch, das sich in der Stirnwand des Kastens befand. »Nanu, das ist doch ein Kugeleinschlag? Hat einer 128
von euch auf mich geschossen?« Die anderen wurden aufmerksam. »Unmöglich«, sagte Sun Koh erstaunt. »So schlecht schießt keiner von uns«, meinte Hal entrüstet. »Ein Querschläger?« vermutete Jerry. Sun Koh beugte sich prüfend über das Loch. »Nicht von uns. Unsere Stahlmantelgeschosse würden das Blech glatt durchschlagen, und ein Querschläger würde ein ganz anderes Loch reißen. Vielleicht ein Pfeilschuß, aber solche Durchschlagskraft haben Pfeile auch nicht, und überhaupt…« Er öffnete den Kasten. Eine Schachtel aus Blech, die an der Stirnwand lag, zeigte die gleichen Löcher. Hinter ihr lagen Binden. In der ersten fand er den Übeltäter. Ein breitgeschlagenes Bleigeschoß, genauer eine abgeplattete Bleikugel. Sie blickten sich überrascht an. »Also hat doch jemand auf mich geschossen«, murmelte Nimba unsicher. »Dann müssen doch die Indianer auch Gewehre haben?« »Mit Bleikugeln?« höhnte Jerry. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das ist das Rätselhafteste, was uns bisher begegnet ist. Ich habe keine Schüsse gehört und keinen Gewehrschützen gesehen, aber diese Bleikugel ist eine Tatsache. Irgend jemand muß mit einem alter129
tümlichen Gewehr auf uns geschossen haben. Vielleicht hat sich irgendwann in den vergangenen Jahrhunderten einmal eine solche Waffe zu diesen verborgenen Völkern verirrt?« »Dann muß sich das Pulver aber märchenhaft gehalten haben.« »Ja, auch das ist seltsam. Aber vielleicht ist es weniger geheimnisvoll, als es jetzt scheint. Wenn diese Anhöhe die Ausläufer der Anden sind, können die Indianer in ihrem Hinterland Beziehungen zur zivilisierten Welt besitzen. Doch darüber können wir später grübeln. Jetzt wollen wir so schnell wie möglich weiter vorstoßen, bevor sich die Indianer,zu einem neuen Angriff gesammelt haben.« Nach Minuten drangen sie weiter vor. Plötzlich hörte der Wald auf. Vor ihnen lag eine Fata Morgana. In ihrem Rücken schwang sich die grüne Mauer des Urwalds nach rechts und links zu einem sanften Bogen, der sich in der Ferne verlor. Das Gelände vor ihnen war frei von Wald, fast baumlos bis auf wenige Haine, die hier und dort wie Inseln standen. Das Land streckte sich eben hin, so weit die Augen sehen konnten. In der Ferne verlief eine helle Linie, jenseits davon verschwamm eine Höhenzug im Dunst. Links strömte irgendwo der Fluß und brauste der Wasserfall. Heiß, aber klar stand die Sonne am Himmel. Die Luft strich würzig und herb über die Gesichter. 130
Eine herrliche Entdeckung, aber noch kein Wunder. Das Wunder konnten sie mit ihren Händen greifen. Sie standen nicht auf nacktem Felsen, nicht auf trockener Steppe und nicht zwischen hohem Riedgras. Sie standen vor einem Maisfeld, vor grünen Schäften und dicken Kolben. Und das war kein wildes, regelloses Erzeugnis der Natur, sondern ein von Menschenhänden kunstgerecht angelegtes und bebautes Feld. Dort rechts wurde es durch einen Pfad begrenzt, jenseits dehnten sich andere Felder. Büsche und Stauden unterbrachen sie. Kleine Wasserläufe funkelten. Es war ein Paradies, das vor ihnen lag, aber es war ein nüchternes, zweckmäßiges Paradies, in dem keine Pflanze mehr wuchs, als Menschen gewollt hatten. »Wir haben’s geschafft.« Jerry stöhnte behaglich. »Hier laßt uns Hütten bauen«, schlug Hal vor. »Dort steht schon eine«, sagte Nimba. Als wohlerzogene Leute vermieden sie es, quer durch das Feld hindurchzugehen. Sie benutzten den schmalen Pfad, um weiterzukommen. Am Ende des Feldes stand eine kleine Hütte, gerade groß genug, um zwei Bewohnern Unterkunft zu gewähren. Sie war jedoch fest gebaut. »Eine Wachhütte«, vermutete Sun Koh. »Die Indianer werden ihre Felder wohl überwachen müssen, um Raubtiere und feindliche Stämme fernzuhalten.« 131
In der Hütte befand sich weiter nichts als ein einfaches Lager, eine Feuerstelle und einige tönerne Gefäße. Sie hielten sich nicht erst mit einer genauen Untersuchung auf, sondern setzten ihren Weg fort. Dabei spähten sie nach allen Seiten. Die Indianer mußten sich irgendwo aufhalten. Hal zeigte nach vorn. »Dort – ein Dorf.« Halbrechts vor ihnen stand in einer Entfernung von ungefähr einem Kilometer eine Gruppe von Bäumen. Zwischen den Bäumen tauchten Hütten auf. Über die Wipfel stieg Rauch. Sie kamen noch ungefähr hundert Meter näher, dann wurden zwischen den Bäumen Menschen sichtbar. Gleichzeitig dröhnte die Trommel auf. Andere Trommeln fielen ein. Das Wirbeln kam von vorn, aber auch von rechts und von links. Auf drei Seiten wurde es lebendig. Vom Dorf, vom Fluß und von der entgegengesetzten Seite her bewegten sich Trupps auf die vier Abenteurer zu. Die beiden seitlichen Gruppen zogen sich auseinander und nahmen Fühlung mit dem Wald auf. Sun Koh blieb stehen. »Sie wollen uns umzingeln. Das kann unangenehm für uns werden, aber wenn wir uns zum Wald zurückziehen, wird es noch unangenehmer. Hier haben wir wenigstens nach allen Seiten freie Sicht und können uns die Angreifer vom Leib halten.« 132
Sie blieben und beobachteten die Anrückenden. »Allerhand Tempo«, staunte Hal. »Die Kerle laufen wie die Hasen.« Es war schon auffällig, daß die Leute rannten, aber noch auffälliger war, daß die Sonnenstrahlen an ihren Körpern aufblitzten. »Unbegreiflich!« sagte Sun Koh leise. »Seht ihr, daß diese Leute Panzer tragen?« »Panzer?« Sie warteten noch eine Weile, dann gab es keinen Zweifel mehr. Die Männer, die in drei Gruppen von je zwanzig Mann herangelaufen kamen, trugen Rüstungen – Eisenpanzer, wie sie sonst nur noch in den Museen zu finden sind. Der ganze Rumpf war in einen geschlossenen Panzer eingehüllt. An den Beinen befanden sich glänzende Schienen, und auf den Köpfen saßen regelrechte Eisenhauben mit heruntergeklappten Visieren. Das waren keine Indianer, sondern mittelalterliche Ritter, die sich näherten. Erstaunlich blieb, daß die Leute mit den schweren Rüstungen bei dieser Hitze überhaupt so schnell laufen konnten. Jetzt wurden auch die Waffen erkennbar, die sie trugen. Einige Männer hatten schwere, altertümliche Musketen in der Hand. Andere trugen lange Spieße, wieder andere mächtige Schwerter, die fast so hoch waren wie sie selbst und an die Zweihänder des Mittelalters erinnerten. 133
»Wir träumen vielleicht«, seufzte Hal. »Phantastisch!« flüsterte Sun Koh. »Sollten sich die Indianer diesen Schutz angelegt haben, um vor unseren Schüssen sicher zu sein? Haltet euch bereit. Es wird Zeit, ihnen eine Warnung hinüber zu schikken.« Die Trommeln dröhnten herausfordernd. Sun Koh nahm sein Gewehr hoch und schoß. Die Entfernung betrug noch einige hundert Meter, aber einer der Eisenmänner ruckte, als wäre er gegen eine Wand gelaufen, und stürzte. Die Gruppe, zu der er gehörte, hielt an. Die eine Trommel wechselte die Tonart. Wenig später setzte sich der Trupp jedoch wieder in Bewegung und rückte wie die anderen weiter vor. »Wir lassen sie bis auf hundert Meter heran«, entschied Sun Koh, »und geben dann Schnellfeuer. Die Entfernung wird genügen, um sie uns vom Leib zu halten.« Gleich darauf riß er jedoch sein Taschentuch, das man mit viel gutem Willen als weiß bezeichnen konnte, heraus und winkte damit. »Wir wollen doch erst versuchen, den Leuten auf friedlichem Weg zu begegnen«, erklärte er. »Diese Felder gehören einem größeren Volk, das kaum mehr aus lauter Wilden besteht. Vielleicht läßt sich mit den Leuten reden.« Die Anstürmenden, die nun schon fast einen wei134
ten Ring um die Gruppe bildeten, blieben stehen. Das weiße Tuch war bemerkt worden. Wenig später flatterte drüben ebenfalls ein weißes Tuch. »Sie sind bereit, mit uns zu verhandeln.« Sun Koh atmete auf. »Ihr bleibt hier. Ich gehe ihnen ein Stück entgegen.« Er legte seine Waffen ab und schritt auf den Ring der Eisenmänner zu. Wenig später löste sich aus diesem ebenfalls ein Mann und kam ihm entgegen. Sie trafen sich in der Mitte zwischen den beiden Gruppen. Sie näherten sich bis auf drei Meter. Sun Koh hatte die Arme über der Brust gekreuzt. Der andere ließ seine eisengepanzerten Arme locker herunterhängen. Er trug ebenfalls keine Waffen. Sun Koh musterte seinen Gegner aufmerksam. Es war gerade, als würde ein Stück Geschichte wieder lebendig. So mußten die Eisenknechte vor vierhundert Jahren über das Feld gegangen sein. Sun Koh deutete eine Verneigung an. Der andere hob die Hand und klappte das Visier hoch. Weiße Indianer! Ein braungetöntes, aber verhältnismäßig helles und junges Gesicht wurde sichtbar. Es verriet auf Anhieb Intelligenz und Mut. Und es war auf den ersten Blick hin klar, daß es nicht zu einem Indianer gehören konnte. Das war das Gesicht eines Europäers: kräftige Nase, gerade, feste Lippen, die Augen hell, die Stirn breit angesetzt. Das Gesicht war bart135
los, aber die Brauen waren blond, und das Kopfhaar war wohl auch blond. Weiße Indianer! Sun Koh erwartete unwillkürlich, daß ihn dieser Mann in einer europäischen Sprache ansprechen würde. Es waren jedoch fremde Laute, die er von sich gab, wohllautende Worte einer Sprache, die Sun Koh nie gehört hatte, offenbar ein Gemisch verschiedener Sprachen. Er erfaßte jedoch den Sinn und konnte sich selbst verständlich machen. »Du gabst das Zeichen des Friedens«, sagte der Jüngling in Eisen. »Jetzt sprich. Ich bin Hajno und will dich anhören, bevor wir gegeneinander kämpfen.« »Ich bin Sun Koh«, antwortete Sun Koh, während er sich in die schwere und etwas feierliche Sprechweise des anderen hineintastete. »Ich gab das Zeichen des Friedens, weil wir nicht gegen euch kämpfen wollen. Wir sind vier Männer, die durch ein ungünstiges Geschick in den Urwald verschlagen wurden und seit Wochen den Weg zu den Bergen und zur Rettung suchen. Wir möchten keinen Kampf mit euch, sondern wollen nur friedlich durch dieses Land ziehen, um wieder in unsere Heimat zu kommen.« Über die Lippen Hajnos ging ein spöttisches Lächeln. »Ihr sprecht so, wie ich es erwartete. Ihr gehört zu den Völkern, die einst über die großen Wasser zu 136
diesem Erdteil kamen?« »Man kann es so sagen«, bestätigte Sun Koh, denn er wollte sich nicht auf eine Auseinandersetzung über seine Abstammung einlassen. »Was wollt ihr von uns?« »Wir wollen weiter nichts, als aus diesem mörderischen Urwald herauszukommen und unsere Heimat zu erreichen.« Wieder lächelte Hajno spöttisch. »Natürlich sucht ihr weder Gold noch Edelsteine?« »Natürlich nicht. Wie kommst du auf solche Fragen?« »Ihr seid harmlos wie die Tauben, die über die Felder fliegen, nicht wahr? Welche Torheit wäre es doch, euch wie einen Jaguar zu töten, der durch den Wald schleicht und tückisch seine Opfer anspringt.« »Ich verstehe dich nicht«, sagte Sun Koh. »Wir lassen uns nicht belügen«, antwortete Hajno härter. »Wir werden dich und deine Begleiter töten.« »Warum?« »Es ist Gesetz in unserem Land, daß jeder Fremde getötet wird, vor allem aber jeder Weißhäutige, der aus den Ländern jenseits des großen Waldes kommt. Ihr müßt sterben.« Jetzt lächelte Sun Koh. »Dir und deinen Leuten wird es nicht leicht fallen, uns zu töten. Wir besitzen Waffen, die euren weit 137
überlegen sind. Eure Panzer können euch gegen unsere Geschosse nicht schützen.« Die Brauen des eisernen Jünglings zogen sich zusammen. »Wir sahen es, aber das ist nur ein Grund mehr, euch zu töten. So wie ihr kamen einst die Männer, die durch Verrat und Mord die großen Reiche vernichteten. Auch sie besaßen Waffen, die überlegen waren und gegen die es keinen Schutz gab. Aber sie eroberten die Reiche nicht durch ihre Waffen, sondern durch Verrat und Feigheit der Männer, die jene Reiche führten.« »Du sprichst vom Reich der Inka?« »Ja.« »Wir sind aber keine Abenteurer, die euer Reich vernichten wollen, um Gold und Edelsteine zu gewinnen.« »So sprachen jene Männer auch. Geh jetzt zurück, wir werden kämpfen.« In Sun Koh stieg der Zorn auf. »Das ist Unsinn!« sagte er scharf. »Ihr seid alle tot, bevor ihr an uns herankommt.« »Wir sind sechzig Mann, die zu kämpfen verstehen und den Tod nicht fürchten.« »Ihr seid sechzig Dummköpfe!« gab Sun Koh kalt zurück. »Unsere Gewehre töten die doppelte Anzahl, bevor ihr uns gefährlich werden könnt.« »Dann werden wir eben sterben.« 138
»Wie sinnlos!« Hajno schüttelte den Kopf. »Wir werden sterben, aber bevor ihr eine Stunde weitergekommen seid, werden euch nicht sechzig, sondern sechstausend gegenüber stehen. Und keiner dieser sechstausend wird sich schlafen legen, bevor ihr nicht getötet seid.« »Wozu der Aufwand?« wehrte Sun Koh ab. »Wir wollen ja nicht als Sieger durch euer Land ziehen. Wir wollen weder herrschen noch Beute machen. Wir wünschen weiter nichts, als daß ihr uns unbehelligt unseren Weg fortsetzen laßt.« Der junge Krieger verzog keine Miene. »Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit sprichst oder die Lüge. Es bleibt sich aber gleich. Selbst wenn ihr nur hindurchziehen wollt, so werdet ihr in eurer Heimat von diesem Reich, von dem die Welt nichts weiß, berichten. Dann werden die Männer zu Hunderten und Tausenden kommen, um unser Land zu erobern. Es steht geschrieben, daß das Reich so lange sicher steht, solange es ringsum von Urwald geschützt wird und kein Weißer erfährt, daß dieses Reich besteht.« Sun Koh sah plötzlich einen Weg, der aus dieser scheußlichen Lage herausführen konnte. »Tötet ihr auch einen Feind, der waffenlos ist und sich nicht zur Wehr setzt?« Stolz zuckte es in dem Gesicht des anderen auf. 139
»Sind wir Indianer? Unsere Feinde fallen nur im Kampf.« »Was würde mit uns geschehen, wenn wir euch waffenlos gegenüber ständen?« »Ihr seid nicht waffenlos«, gab Hajno abwehrend zurück. »Nimm an, daß wir es wären, und antworte.« »Dann würden wir euch gefangennehmen und in die Stadt bringen. Ihr würdet ebenfalls sterben, aber das Gericht der Führer des Volkes würde euch einem schimpflichen Tod überliefern. Es ist besser für euch, wenn ihr kämpft. Meine Freunde brennen darauf, mit Männern zu kämpfen.« »Deine Freunde sind Narren wie du, denn sie werden nicht gegen Männer kämpfen, sondern gegen Gewehre, gegen Maschinen. Ich habe aber keine Lust, euch sinnlos sterben zu sehen. Wir werden nicht kämpfen, sondern euch waffenlos gegenübertreten.« Hajnos Gesicht zeigte Verachtung. »Hast du nicht den Mut, als Mann zu sterben?« In Sun Kohs Augen blitzte es zornig auf. Heftig erwiderte er: »Hüte deine Zunge, Knabe. Wir kommen aus dem Urwald, der hundertmal mehr Gefahren bietet als ihr mit euren lächerlichen Schwertern und Musketen. Keiner von uns fürchtet den Tod, ich will aber kein sinnloses Schlachten. Ihr würdet für eure Heimat sterben, wir aber noch nicht einmal um unser 140
Leben kämpfen. Es gehört für uns mehr Mut dazu, uns euch waffenlos auf Gnade und Ungnade auszuliefern, als bis zum letzten Atemzug zu töten. Nun geh zurück zu deinen Kameraden und sage ihnen, daß wir mit leeren Händen freiwillig kommen werden, um uns als Gefangene fortführen zu lassen.« Stumm und gehorsam wandte sich Hajno ab und ging. Sun Koh schritt zu dem Platz, auf dem seine drei Begleiter warteten, zurück. Mit kurzen Worten unterrichtete er sie. »Wir haben hier ein starkes Volk gegen uns, vielleicht ein Zweig der Inkas, der sich hier in einer abgelegenen Gegend über die Jahrhunderte hinweg gehalten hat. Der Mann, mit dem ich sprach, sah allerdings harrgenau wie ein Europäer aus. Der Kampf gegen dieses Volk ist so gut wie aussichtslos, weil die Leute sich uns fanatisch bis zum letzten Mann entgegenstellen würden. Es gibt für uns nur zwei Möglichkeiten – entweder müssen wir in den Urwald zurück oder wir müssen uns waffenlos ausliefern. Zu der ersten Möglichkeit brauchen wir uns nichts zu sagen. Im zweiten Fall müssen wir damit rechnen, daß man uns früher oder später tötet, falls es uns nicht gelingt, diese Menschen von unserer Harmlosigkeit zu überzeugen. Gehen wir in den Urwald zurück, so berauben wir uns der Möglichkeit, dieses rätselhafte Volk näher kennenzulernen. Diese Eisenmänner sind die Menschen, die man seit Jahrhun141
derten als weiße Indianer bezeichnet.« »Hölle und Teufel!« fluchte Jerry. »Wenn’s nach mir ginge, würden wir uns auf Tod und Leben hier durchschlagen.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das scheidet aus. Ich will nicht Hunderte von Menschen töten, wenn der Kampf sowieso aussichtslos ist. Ich bin entschlossen, nicht in den Urwald zurückzukehren, sondern mich in die Hände dieser Männer zu geben.« »Ausbrechen können wir allemal noch«, meinte Hal. »Wir haben uns noch aus ganz anderen Situationen herausgewunden, und so übermäßig fest werden die Gefängnisse ja auch nicht gerade sein.« »Mir ist es gleich«, knurrte Jerry. »Ich glaube, es ist das Gescheiteste, wenn wir das machen, was Sie für richtig halten.« Sie legten ihre Waffen auf einen Haufen zusammen, dann schritten sie auf die eiserne Runde zu. Die Geharnischten standen abwartend. Sie ließen die vier bis auf zwanzig Meter herankommen, erst dann stieß Hajno, der ihnen gerade gegenüberstand, einen Ruf aus, worauf sich die Männer zusammenzogen und sich um die vier scharten. »Wir sind deine Gefangenen«, sagte Sun Koh mit einem kleinen Lächeln, als er an Hajno herangekommen war. »Unsere Waffen liegen hinter uns. Ich bitte dich, sie sorgfältig zu verwahren, damit du sie 142
uns später zurückgeben kannst.« »Du bist voll törichter Hoffnungen«, erwiderte Hajno kurz. »Wir werden euch jetzt in die Stadt führen.« * Das Dorf, in dem sie rasteten, war eine Überraschung. Es bestand nicht aus einfachen Indianerhütten, sondern aus festgefügten Holzbauten, die breit und wuchtig rechts und links von der durchgehenden Straße lagen. Irgendwie erinnerten sie an europäische Bauernhäuser. Sie wurden sehr sauber gehalten, obwohl ihre Bewohner Indianer waren. Offensichtlich wohnten die Eisenmänner nicht in diesen Häusern, in deren Türen und Fenstern sich die dunklen Gesichter von Indianern zeigten. Die Eisenmänner gehörten in den mächtigen Steinbau, der sich in der Mitte des Dorfes erhob. Er bestand aus einer ganzen Reihe würfelförmiger Gebäude, die durch Bogengänge und Säulenhallen miteinander verbunden waren. Als Baumaterial hatte man sauber bearbeitete Felsblöcke verwendet, die fast fugenlos aneinanderlagen. Sun Koh wurde lebhaft an die Bauten der Inkas erinnert, die er in Cuzco und anderen Ruinenstätten der Inkas kennengelernt hatte. Sie wurden in den Hof des kastellartigen Gebäudes geführt und durften auf Steinbänken, hinter ei143
nem langen, steinernen Tisch, Platz nehmen. Bereits nach einigen Minuten brachte man ihnen gebratenes Fleisch und eine Art Maisfladen, beides sehr schmackhaft zubereitet. Hajno und ein paar andere leisteten den Gefangenen Gesellschaft. Die Kameraden Hajnos waren ebenfalls junge Leute. Einige von ihnen zeigten fast den gleichen Typ wie ihre Anführer, andere waren dunkler getönt und besaßen in ihrem Gesichtsschnitt eine überraschende Ähnlichkeit mit den Berginkas. Nach dem Essen verließen sie das Dorf in Begleitung Hajnos, der noch zehn andere eisengepanzerte junge Leute mitnahm. Über eine Stunde lang marschierten sie durch die Ebene, zwischen fruchtbaren Feldern hindurch, dann standen sie vor einer mächtigen Mauer, die sich quer durch die Landschaft zog. Sie war acht Meter hoch und aus sorgfältig behauenen Steinblöcken zusammengefügt, mit Zinnen gekrönt und in Abständen von annähernd einem Kilometer von mächtigen Türmen überragt. Auf einen dieser Türme führte der Weg zu. Als sie bis auf fünfzig Meter heran waren, zeigte Hajno in die Runde. »Das ist die große Mauer der Cibjas. Drüben liegt unser Reich, wohlgetrennt von diesem Vorland, in dem die Parunas wohnen.« »Ihr habt euch gut gesichert«, sagte Sun Koh bewundernd. »Es wird keinem Feind so leicht fallen, 144
diese Mauer zu besteigen.« Hajno lächelte. »Es wird auch keinem Feind leicht fallen, die Mauer zu erreichen. Seht dort.« Je näher sie herankamen, desto deutlicher erkennbar wurde der tiefe Graben, der sich vor der Mauer befand. Er war fast zwanzig Meter breit und mit Wasser gefüllt. Hajno wies hinunter. »Würdet ihr wagen, durch diesen Graben hindurchzuschwimmen?« Sun Koh schüttelte den Kopf. Dort unten wimmelte es förmlich von Piranhas, jenen gefräßigen Fischen, die einen Menschen innerhalb einer Minute skelettierten. Über den Graben führte eine Brücke, deren innerer Teil an starken, eisernen Ketten hing. Da war eine regelrechte Fallbrücke, wie sie bei einer mittelalterlichen Burg üblich gewesen war. Dahinter gähnte die Wölbung des Tores. Als sie hindurchschritten, bemerkten sie über sich die drohenden Eisenspitzen eines Fallgatters. In der Torwölbung selbst standen zwei Dutzend Bewaffnete, die ähnlich wie Hajno und seine Kameraden in eisernen Rüstungen gehüllt waren. Die beiden Gruppen tauschten kurze Worte, dann führte Hajno seine Gefangenen weiter. Jenseits der Mauer zeigte die Landschaft dasselbe 145
Bild wie bisher. Einförmig dehnten sich die Felder. Nur die Straßen waren erheblich breiter geworden und besaßen glatte Steinpflasterung. Außerdem tauchten häufiger Dörfer auf, die durchgängig aus niedrigen Steinbauten bestanden und einen außerordentlich sauberen Eindruck machten. Auf den Feldern waren häufig Menschen zu sehen, arbeitende Männer und Frauen. Sie trugen eine einfache Kleidung, die im wesentlichen aus einer langen Hose und einem kittelartigen Übergewand bestand. Ab und zu flogen Zurufe zwischen den Geharnischten und jenen Leuten hin und her, aber im allgemeinen schien die Neugierde nicht übermäßig groß zu sein. In den Dörfern, die sie passierten, erregten die Gefangenen schon mehr Aufsehen. Frauen und Kinder drängten sich neugierig heran. Es war erstaunlich, wie viel schöne Menschen es hier gab. Man sah den Frauen an, daß sie schwere Arbeit leisteten, aber trotzdem zeigte jede einzelne in Gesicht, Haltung und Bewegung ausgeglichene Harmonie und einen gewissen Adel. Dasselbe galt in noch viel höherem Maße für die Kinder. Hajno drängte unaufhaltsam vorwärts. »Wie groß ist euer Reich?« erkundigte sich Sun Koh. »Wir müssen zehn Stunden marschieren, bis wir 146
die Stadt erreicht haben, und die Stadt liegt ungefähr in der Mitte unseres Reiches. Die Mauer beschreibt einen plattgedrückten Kreis, und wir nähern uns von der engsten Stelle aus.« Die Mauer, die sich demnach um das gesamte Land herumziehen mußte, bildete also eine Ellipse. Aus der Zeitangabe und der ungefähren Marschgeschwindigkeit konnte Sun Koh leicht errechnen, daß das Reich der Cibja annähernd fünf zehntausend Quadratkilometer umfassen mußte. Es war nicht viel, aber doch schon ein ganz ansehnliches Staatswesen, das hier in der Verborgenheit bestand. Sun Koh sah nach der Sonne, die bereits blutrot dicht über dem Horizont stand. »Dann erreichen wir die Stadt heute nicht mehr?« »Nein, wir werden im nächsten Dorf bleiben. Es wird nicht lange dauern, so sind wir angelangt.« »Weißt du, wieviel Cibjas euer Volk umfaßt?« »Fünfhunderttausend Menschen.« »Und wieviel Parunas gibt es außerhalb der Mauer?« »Nicht mehr als fünfzigtausend.« Die Sonne ging unter. Sie marschierten in der Dunkelheit weiter. Die Straße leuchtete wie ein weißes Band, so daß es ihnen keine Mühe machte, den Weg zu finden. Eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang erreichten sie wieder ein Dorf. Dort blieben sie. Die vier 147
Gefangenen wurden gemeinsam in einem der Bauernhäuser untergebracht. Man bewachte sie sorgfältig, behandelte sie aber gut und gab ihnen reichlich zu essen. Die Inneneinrichtung eines solchen Hauses war für Sun Koh ebenfalls eine Überraschung. Die Wohnräume waren peinlich sauber gehalten. Eigentliche Möbel gab es nicht, nur schwere Holztische und lange Truhen, die mit Hilfe zahlreicher, kunstvoll gestickter Kissen in bequeme Lager verwandelt werden konnten. Die steinernen Böden waren mit Matten aus Bambusgeflecht bedeckt und die Wände teils mit Holz, teils mit schweren, gestickten Stoffen bekleidet. Dadurch wirkten die Räume einesteils wundervoll klar und schlicht, andernteils aber auch sehr gemütlich. Nur ein Volk mit hoher Kultur konnte so wohnen. Der reine Stil war um so erstaunlicher, als es sich um die Wohnung von Bauern handelte. Aber diese Menschen schienen verhältnismäßig scharf zwischen Wohnräumen und Arbeitsräumen zu trennen. Es fiel Sun Koh auf, daß die Leute jetzt am Abend wesentlich anders gekleidet waren, als tagsüber, und daß sie auch sonst alles abgelegt zu haben schienen, was sie mit der Arbeit des Tages verband. Das Ehepaar, das ihnen beim Essen Gesellschaft leistete, verriet kaum etwas von der Beschäftigung des Tages. Sun Koh und seine Begleiter wurden sofort nach 148
dem schweigsam eingenommenen Mahl allein gelassen. Hajno kam und bat sie, sich schlafen zu legen. Er wünschte ihnen sogar einen guten Schlaf. Sie ließen sich nicht lange mahnen, sondern machten es sich auf den zur Verfügung gestellten Kissen bequem. »Nicht schlecht«, brummte Jerry behaglich. »Die Leute verstehen zu leben. Ich komme mir vor, als sei ich ganz aus Versehen in den Himmel geraten.« »Geht mir ganz ähnlich«, meinte Hal. »Sie wollen uns zwar abmurksen, aber das kann mir ganz egal sein. Die Leute sehen alle nicht so aus, als ob sie Menschenfresser wären.« Jerry wandte sich an Sun Koh. »Sie meinen, daß das hier die weißen Indianer sind?« »Indianer sind es natürlich nicht. Es sieht eher so aus, als ob hier Weiße und Reste der Inkas zusammengestoßen wären. Mir ist noch sehr vieles rätselhaft, ich hoffe aber, in der Stadt bessere Antworten auf meine Fragen zu erhalten, als Hajno sie gibt. Nun sollten wir aber schlafen. Ich glaube, wir können es alle vier gut gebrauchen.« Ungestörter, gefahrloser Schlaf tat ihnen tatsächlich mehr not als alles sonst auf der Welt. Drei Minuten später schliefen die vier tief und fest. * 149
Am nächsten Morgen setzten sie die Wanderung fort. Dreimal während des Tages trafen sie auf turmbesetzte Mauern mit breiten Wassergräben, die sich quer in ihren Weg stellten. »Es sind Mauern wie jene, die du bereits kennenlerntest«, beantwortete Hajno eine Frage Sun Kohs. »Das Reich der Cibjas ist früher klein gewesen, und diese Mauer hat einst zu seinem Schutz gedient.« »Die Mauern sind heute noch so gut, daß man sich hinter ihnen verteidigen könnte«, erwiderte Sun Koh. »Ja, denn sie sind für eine Ewigkeit gebaut.« Im allgemeinen unterhielt sich Sun Koh während des Marsches mit seinen Leuten, besonders mit Jerry, der vieles nicht begreifen konnte, weil ihm die Voraussetzungen fehlten. Die Stunden vergingen. Sie marschierten ohne Pause. Einmal wandte sich Hajno von selbst an Sun Koh, was sonst nie geschah, und fragte: »Fühlt ihr euch müde? Der Marsch ist lang, und ich will euch gern Gelegenheit geben zu ruhen.« »Wir sind nicht müde«, wehrte Sun Koh ab. »Mich wundert nur, daß es dir und deinen Kameraden nicht beschwerlich ist, in diesen schweren Eisenrüstungen so lange durch die glühende Sonne zu wandern.« Hajno schüttelte stolz den Kopf. »Ein Cibja marschiert drei Tage und Nächte ohne 150
Ruhepause, ohne Speise und Trank und ohne seine Rüstung abzulegen, sonst ist er kein Cibja.« Es war wirklich erstaunlich, wie mühelos diese eisernen Jünglinge marschierten. Nach sechs Stunden gingen sie genauso frisch wie beim Aufbruch, obwohl die Rüstung eine bedeutende Last darstellen mußte. Außerdem glühte die Sonne mit mörderischer Kraft. Man befand sich ja immerhin unter dem Äquator. Die einzige Annehmlichkeit war ein kühlerer Lufthauch, der fast fortwährend über die Ebene strich. So ganz eben blieb das Land freilich nicht. Weite, muldenartige Senkungen wechselten mit Hügeln, und dann stieg das Gelände allmählich gleichmäßig zu einem Berg an, der das ganze Reich der Cibjas beherrschen mußte. Auf diesem Berg lag die Stadt. Es war ein einzigartiger Anblick. Dunkelgrün legte sich ein breiter Waldstreifen um den Fuß des eigentlichen Berges herum. An ihn schloß sich nach oben zu ein Streifen freien Landes an, dann stieß eine gewaltige, ringsum laufende Mauer auf, die in den Flanken des Berges verschwand. Sie umschloß einen mächtigen, sich zur Spitze des Berges verjüngenden Park, zwischen dessen Bäumen zahlreiche helle Steinbauten sichtbar wurden. Mit zunehmender Höhe traten die Bäume zurück, die Bauten drängten enger zusammen, riesige Anlagen wurde sichtbar, und ganz 151
oben leuchtete eine Gruppe von Gebäuden wie ein riesiger gelber Edelstein, von dem das Licht der Sonne zurückgeworfen wurde. Diesen Anblick hatte man jedoch nur aus einer immerhin noch beträchtlichen Entfernung. Je näher man kam, um so schwieriger wurde es, noch eine Übersicht zu bekommen, denn die Stadt war außerordentlich groß und bedeckte sicher einige hundert Quadratkilometer Boden. Endlich durchschritten sie durch ein mächtiges, durch Fallbrücken und Wachen gesichertes Tor die Umfassungsmauer der Stadt. Bereits eine Viertelstunde später bedeutete ihnen Hajno vor einem festungsartigen Gebäude, daß das Ziel des Marsches erreicht sei. In diesem aus behauenen Quadern ausgeführten Gebäude sah Sun Koh nichts Besonderes. Um so stärker interessierte ihn ein Haus, das auf der anderen Seite der Straße stand. Es war erheblich kleiner und zeigte ganz erstaunliche Abweichungen in seiner Bauart. Man hatte es als Fachwerkbau errichtet, also aus Holz mit getünchten Zwischenfeldern. Die zwei oberen Stockwerke sprangen ein ganzes Stück vor, der Giebel stieß hoch und spitz in die Luft. Zierliche Erker, buntfarbige Malereien und eine Reihe anderer Kleinigkeiten machten das Haus dem Steingebäude so unähnlich wie nur möglich. Nur zwei völlig verschiedene Kulturen konnten zwei so völlig verschie152
dene Häuser errichtet haben. Das Steingebäude verriet die Kultur der Inkas, das andere aber die Kultur des europäischen, besonders des deutschen Mittelalters. Das Haus dort drüben war ein Patrizierhaus, wie man es heute noch in manchen deutschen Städten sieht. Sun Koh stellte eine Frage an Hajno, aber dieser schüttelte den Kopf. »Es wird später Zeit sein, deine Fragen zu beantworten, jetzt bitte ich dich, mir in das Haus zu folgen.« Wenn dieses Haus ein Gefängnis sein sollte, so war es sicher ein sehr angenehmes. Die Räume zeichneten sich durch die gleiche stilvolle Behaglichkeit aus wie die jenes Bauernhauses, in dem sie übernachtet hatten. Der Innenhof wies ein geräumiges Schwimmbecken mit durchfließendem Wasser auf, das man ihnen zur Reinigung zur Verfügung stellte. Einer der Jünglinge brachte als Ersatz für die verschmutzen zerrissenen Kleider neue Gewänder, Hosen und blaue Überwürfe aus feinen weichen Stoffen, dazu lederne Sandalen. Ein anderer kam mit Seife und einem erstaunlich scharfen Rasiermesser und machte mit viel Geschick ihre Gesichter menschlich. Anschließend setzte man ihnen ein reichhaltiges Essen vor. Kein Wunder, daß es den vieren nicht schlecht gefiel. 153
Eine Stunde lang blieben sie sich selbst überlassen, dann erschien Hajno wieder. »Der König will euch sehen«, sagte er. »Bitte, folgt mir.« Sie verließen das Haus, gingen durch die Stadt wie durch einen wundervollen, villenbesetzten Park, über Straßen, die fugenlos mit Steinplatten belegt waren, unter herrlichen Bogengängen hindurch und kamen endlich in ein weitläufiges Gebäude. Es wirkte von außen nüchtern und fast festungsähnlich, aber innen war es wie ein Märchentraum. Der nackte Stein war nirgends mehr zu sehen. Die Wände waren mit Gold und Edelsteinen verkleidet, so daß einem fast die Augen wehtaten, wenn man hindurchschritt. Und doch wirkte dieses Innere nicht barbarisch, sondern kunstvoll und majestätisch. Nachdem sie eine gewaltige Säulenhalle, die domartig aufwärtsstrebte, durchschritten hatten, gelangten sie in einen kleinen, behaglich mit Holz verkleideten Saal. Dort erwartete sie der König der Cibjas inmitten seiner zehn Ratgeber. Dieser König war blond und helläugig wie Hajno, zeigte aber sonst in seinen Zügen mehr Ähnlichkeit mit den Inkagesichtern. Sun Koh schätzte ihn auf vierzig Jahre und staunte zugleich innerlich über die Kraft dieser wahrhaft königlichen Erscheinung. Die Ratgeber, die ringsum saßen, waren nicht viel älter als der König selbst und zeigten ähnlich ein154
drucksvolle Gesichter. Die Kleidung der Männer unterschied sich in nichts von der, die Sun Koh und die drei anderen trugen. Es waren die gleichen Stoffe und die gleichen Stücke, ganz ohne Rangabzeichen und ohne Schmuck. Dieser König saß auch nicht auf einem Thron, sondern auf einem hölzernen, allerdings kunstvoll geschnitzten Stuhl. Sun Koh und seine Begleiter verbeugten sich, der König der Cibjas und seine Ratgeber erwiderten die Verbeugung, dann wandte sich der König an Sun Koh und begann zu sprechen: »Mir wurde gesagt, daß du unsere Sprache sprichst?« Sun Koh hielt den prüfenden Blick der starken Augen ruhig aus. »Es ist richtig, ich spreche eure Sprache.« »Wie kommt das?« »Ich weiß es nicht. Ich muß sie in meiner Jugend, deren Vorgänge meinem Gedächtnis entschwunden sind, gelernt haben.« »Du gibst uns damit ein Rätsel auf, das wir jetzt nicht zu lösen vermögen. Wer bist du, und wer sind deine Begleiter?« Sun Koh nannte die Namen. »Unser Feldmeister Hajno nahm euch gefangen«, fuhr der König fort, »als ihr den Boden unseres Landes betratet. Ihr habt euch geweigert zu kämpfen?« Sun Koh antwortete: »Ja, wir wollten nicht kämp155
fen, weil dieser Kampf sinnlos schien.« »Du weißt, daß ihr sterben müßt?« »Es wurde mir gesagt, daß die Gesetze dieses Reiches den Tod jedes Fremden verlangen. Ich hoffe jedoch, daß euch der Wortlaut dieses Gesetzes nicht hindern wird, seinen Sinn zu erfüllen. Jene Männer, die dieses Gesetz einst schufen, hätten sonst wohl nie in diesem Land Wohnung finden können.« In dem Gesicht des Königs zuckte es überrascht auf. »Du sprichst seltsame Worte, Fremder. Was weißt du von der Geschichte dieses Reiches?« »Ich sah«, erwiderte Sun Koh schlicht. Der König schwieg eine Weile, dann sagte er: »Wo kommt ihr her?« »Aus den Ländern, die jenseits des Urwaldes liegen.« »Ihr seid ausgezogen, um unser Reich zu finden? Spricht man in jenen Ländern von uns?« »Nein, nur dann und wann erzählen sich die Männer von den weißen Indianern, die inmitten des großen Urwaldes leben sollen. Wir kamen nicht, um euch zu finden, sondern wir stürzten mit unserem Flugzeug in den unbekannten Wald und suchten einen Weg, um herauszukommen. Es ist ein Zufall, daß wir dabei auf euer Reich trafen.« »Woher seid ihr gestürzt?« erkundigte sich der König. 156
»Aus einem künstlichen Vogel stürzten wir ab«, gab Sun Koh Aufklärung. »Wir flogen durch die Luft. In unseren Ländern werden solche künstlichen Vögel gebaut.« »Ich weiß.« Der König nickte überraschenderweise. »Wir besitzen zwei solcher Vögel, die auf unserem Boden niedergingen.« »Ah, dann sind wir nicht die ersten Fremden, die in den letzten Jahren hierherkamen?« »Nein«, gab der andere kurz zurück. »Ihr seid nicht die ersten Fremden, die durch das Gesetz der Cibjas sterben müssen. Doch habt ihr recht, nicht das Wort soll erfüllt werden, sondern der Sinn. Es wird euch die gleiche Gerechtigkeit widerfahren wie jenen anderen. Geht jetzt, ihr werdet hören, was über euch beschlossen wird.« Hajno führte sie wieder zurück. Am nächsten Tag erschien ein Mann bei ihnen, den sie in der Nachbarschaft des Königs gesehen hatten. »Ich bin Picano«, sagte er, »und komme im Auftrag des Königs, um euch zu sagen, was über euch beschlossen ist. Ihr steht unter dem Gesetz, und dieses Gesetz verlangt den Tod. Es läßt jedoch eine Ausnahme zu. Sie besagt: Wenn Fremde in das Land kommen, die guten Blutes sind, so soll man sie nicht gleich töten. Man soll sehen, ob sie im Wettstreit des Krieges und des Friedens das gleiche zu leisten ver157
mögen wie die Jünglinge der Cibjas. Falls sich das erweist, soll man sie fragen, ob sie gewillt sind, eine Tochter der Cibjas zum Weib zu nehmen und bis zu ihrem Ende im Reich zu leben. Wenn sie das bejahen und zugleich beschwören, die Gesetze des Reiches zu halten und zu befolgen, so soll man ihnen das Leben lassen und ihnen Land, Haus und Hof geben, damit sie ihr Leben halten, wie es bei den Cibjas üblich ist. Erfüllen sie jedoch eine dieser Bedingungen nicht, so soll man sie um das Wohl des Reiches willen töten.« Sun Koh sah den anderen fest an. »Ein sehr weises Gesetz. Du bist gekommen, um uns zu fragen, ob wir von dieser Ausnahme Gebrauch machen wollen?« »Ja.« »Und du erwartest sofort Antwort von uns?« Picano schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht meine Aufgabe, euch zu drängen. Das Gesetz verlangt vor allem, daß ihr mit den Jünglingen unseres Volkes in den Wettstreit tretet. Ihr sollt zehn Tage Zeit haben, um euch zu ernähren und auszuruhen, damit ihr dann kräftig und gewandt seid. Zehn Tage habt ihr Zeit, dann werdet ihr gegen unsere Jünglinge kämpfen. In dieser Zeit werde ich euch Gesellschaft leisten. Der König hat mich beauftragt, bei euch zu bleiben und eure Fragen zu beantworten.« 158
»Damit erweist du mir einen großen Dienst, und ich hoffe, daß du meiner Fragen nicht müde wirst. Doch vor allem sage mir, was von euren Jünglingen und von uns im Wettstreit gefordert wird?« »Ein schneller Lauf von dreihundert Schritten und ein Lauf um die Mauer dieser Stadt herum, ein weiter Sprung und ein hoher Sprung, der Wurf mit dem Speer und der Wurf mit dem Stein, schwimmen, der waffenlose Kampf von Mann gegen Mann, der Kampf der stumpfen Schwerter und der Wettstreit der Gewehre.« »Es wird von uns verlangt, daß wir in jedem Wettstreit das gleiche leisten wie die besten eurer Jünglinge?« »Nicht wie die besten, aber wie die meisten. Und es wird euch nicht zum Schaden gerechnet werden, wenn ihr einen der Kämpfe nicht besteht. Der Sinn des Gesetztes liegt darin, daß ihr zeigen sollt, ob eure Körper und Seelen gesund und stark sind.« »Wird man uns Gelegenheit geben, in den nächsten Tagen die Jünglinge der Cibjas beim Wettstreit zu sehen?« »Ihr werdet sie Tag für Tag sehen können. Es steht euch auch frei, mit ihnen zusammen eure Kräfte zu üben.« Picano entfernte sich. Sun Koh gab den anderen den Inhalt der Unterredung wieder. 159
Nimba grinste, als er von dem Wettkampf hörte. »Denen werden wir aber zeigen, was eine Harke ist, nicht wahr, Sir?« »Klar«, rief Hal. »Mit den Blechbüchsenindianern nehmen wir’s allemal auf.« Jerry zuckte mit den Schultern. »Gott, ich laufe ja nicht schlecht, aber ob es ausreichen wird?« »Wir wollen uns noch keine Sorgen darüber machen«, schloß Sun Koh ab. »Picano sagte ja nachdrücklich, daß man sich nicht in jedem Wettstreit Lorbeeren zu holen braucht. Diese Cibjas wollen ja nur wissen, ob wir wertvoll genug sind, um in den Bestand ihres Volkes aufgenommen zu werden.« »Das ist doch gar nicht unsere Absicht«, sagte Hal. »Ich denke gar nicht daran zu heiraten und mir eine zahlreiche Familie zuzulegen. Am Ende sitze ich mit sechs Kindern da, wenn ich zwanzig Jahre alt bin.« Die anderen lachten. »Es ist auch nicht meine Absicht«, erwiderte Sun Koh, »hierzubleiben. Wir gewinnen aber vorläufig Zeit, und ich kann sehr viel erfahren, was ich wissen möchte. Außerdem würde es mich reizen, diesen Wettkampf zu bestehen.« »Warum wollen Sie eigentlich nicht hierbleiben?« fragte Jerry. »Von mir aus würde ich es ganz hübsch finden, wenn wir uns hier niederließen.« »Das ist für Sie möglich«, gab Sun Koh zurück, 160
»für uns aber leider nicht. Die Zukunft könnte zeigen, daß sich unsere Wege hier trennen. Ich kann nicht hierbleiben, und Hal und Nimba werden mich begleiten, wenn ich dieses Land wieder verlasse. Übrigens glaube ich auch nicht, daß die Cibjas ernstlich erwägen, Nimba als Stammitglied aufzunehmen. Seine dunkle Haut ist ihnen nicht geheuer, und ich vermute stark, daß man vorläufig nur noch nichts gesagt hat, weil man das Ergebnis der Wettkämpfe abwarten will.« »Und wenn diese zu unseren Gunsten ausfallen?« »Dann müssen wir neue Entscheidungen treffen – aber auch erst dann. Zehn Tage sind lang.« 6. Picano erschien zur angesetzten Zeit, aber aus dem Rundgang durch die Stadt wurde nicht mehr viel. Sun Koh blieb bereits an dem Haus hängen, das ihm aufgefallen war. »Löse mir das Geheimnis dieses Hauses«, bat er Picano. »Es gibt kein Geheimnis bei diesem Haus.« »Für dich vielleicht nicht, wohl aber für mich. Befinden sich noch mehr solche Bauten in der Stadt?« Picano nickte. »Sie liegen überall verstreut. Du wirst weiter oben eine ganze Straße voll von ihnen kennenlernen, aber 161
wenn du willst, so wollen wir uns dieses Haus ansehen.« Sun Koh bat darum, und sie traten in das Gebäude ein. Das Innere bestätigte mit seinen getäfelten Räumen, seinen gewundenen Holztreppen und den geschnitzten Möbeln durchaus den Eindruck, den Sun Koh bereits von außen gewonnen hatte. Das Haus war ein guterhaltenes Museumsstück eines mittelalterlichen Wohngebäudes. Sogar die Butzenscheiben waren vorhanden, nur bestanden sie nicht aus Glas, sondern aus dünnen Häuten, die zwischen Bleirahmen gespannt waren. Von einem vorgebauten Erker aus wies Sun Koh auf das gegenüberliegende Gebäude mit seinen starken, kunstvoll gefügten Mauern. »Du sagst, Picano, daß es kein Geheimnis um dieses Haus gibt? Ist es dir verboten, darüber zu sprechen? Meine Augen sind nicht blind, und diese beiden Häuser nebeneinander sind ein Rätsel, dessen Lösung ich gern von dir hören möchte.« Picano lächelte. »Es ist mir nicht verboten, darüber zu sprechen, aber ich glaubte nicht, daß die Vergangenheit meines Volkes dich so sehr fesseln könnte. Diese Häuser sind von unseren Ahnherren gebaut, das Haus, in dem wir uns befinden, schon vor fast vierhundert Jahren. Die Geschichte meines Volkes reicht viele tausend Jahre zurück. Die Cibjas gehörten einst zu 162
dem großen Volk der Sonnensöhne, das jenseits der Sümpfe und Wälder unter den schneebedeckten Gipfeln des Hochgebirges wohnte.« »Jenseits der Sümpfe und Wälder, sagst du?« Sun Koh horchte auf. »Sprichst du von dem Gebirge, hinter dem die Sonne versinkt?« »Ja.« »Also hängt euer Reich nicht unmittelbar mit dem Gebirge zusammen, sondern es befinden sich Wälder und Sümpfe in jener Richtung?« »Ja«, sagte Picano leicht verwundert zum zweitenmal. »Man sieht von hier aus jenes Gebirge nicht, so wenig man uns von ihm aus sehen kann. Man müßte viele Wochen der untergehenden Sonne durch den Urwald folgen, wenn man das Gebirge erreichen wollte.« »Dann ragt dieses Hochland wie eine einzelne Insel aus der Niederung der Ströme heraus?« »So ist es.« Diese Mitteilung erklärte, warum das Reich der Cibjas so völlig unbekannt geblieben war. Da sich zwischen ihm und den Anden noch einmal Hunderte von Kilometern dieses mörderischen Urwaldes befanden, war es kein Wunder, wenn die Cibjas keine Beziehung zur sonstigen Welt hatten. »Sprich weiter«, bat Sun Koh. »Du sagtest, daß die Cibjas einst zu den Inkas, jenem Volk im Gebirge, gehörten?« 163
»Vor tausend und mehr Jahren wohnten die Ahnen der Cibjas auch im Gebirge. Aber dann zog ein Trupp von ihnen der aufgehenden Sonne entgegen, drang durch den Urwald vor und erreichte dieses Gebiet. Die Männer und Frauen, die den furchtbaren Nöten entgangen waren, gründeten hier eine neue Heimat. Von ihren Brüdern im Gebirge hatten sie sich für immer getrennt, denn der Weg zu ihnen war zu beschwerlich, und außerdem waren sie in Feindschaft geschieden. Nur dann und wann drangen Nachrichten durch den Urwald hindurch in diese Einsamkeit.« »Die Cibjas bauten sich hier eine Stadt?« »Ja. Sie kämpften gegen die wilden Indianer und gegen die Tiere des Waldes, der damals unser Reich bedeckte, sie rodeten den Wald und bauten Straßen und Häuser. Vor vierhundert Jahren war das Reich so groß wie jetzt die Stadt. Diese Umfassungsmauer dort gab die Grenzen ab. Die Cibjas lebten zu jener Zeit nicht schlecht, aber es gehörten immer nur ein paar tausend Menschen zu ihnen. Der Wald und die Indianer forderten sehr viele Opfer, und die Cibjas kämpften auch untereinander um die Herrschaft über diese Stadt. In jener Zeit, vor vierhundert Jahren also, kamen die Fremden in dieses Land.« »Ach, die Eisenmänner?« Picano sah ihn überrascht an. »Du weißt?« »Ich ahne. Rüstungen wie jene, die eure Jünglinge 164
tragen, sah ich ebenfalls jenseits des großen Meeres.« Picano nickte. »Du vermutest richtig. Eines Tages stieg ein Trupp Männer aus dem Urwald herauf. Es waren zweiundvierzig Mann, alle in Eisen gehüllt und mit fremdartigen Waffen versehen. Ihr Haar war blond, und ihre Augen waren hell, auch die Farbe ihrer Haut unterschied sich von der der Cibjas. Sie hatten breite, starke Körper und kräftige Gesichter, aber es gab keinen unter ihnen, der nicht verwundet oder krank gewesen wäre. Die Cibjas verteidigten ihre Stadt gegen jene, aber die Fremden kämpften wie Verzweifelte, und sie kämpften anders als die Indianer. Sie verstanden es, auf die Mauer zu kommen und wehrhafte Männer der Cibjas zurückzuschlagen. Nach langen Tagen blutigen Streites wurde zwischen den Cibjas und den Fremden der Friede geschlossen – die Fremden wurden in unser Volk aufgenommen.« »Wo kamen sie her?« »Sie kamen aus Deutschland. Dort lebte ein Mann, der sich Welser nannte. Er war sehr reich und schenkte dem Kaiser Karl, der über das Land herrschte, große Mengen Gold. Dafür versprach ihm der Kaiser eine Provinz, ein Gebiet in diesem Erdteil, von dem die Kunde damals gerade über das Meer gedrungen war. Welser vertraute ihm und schickte ein Heer über das Meer in das Land, das ungefähr in 165
der Richtung der Mittagssonne liegt.« »Das müßte Venezuela sein?« »Der Name ist mir nicht bekannt. Das Heer jenes Welser besetzte jedenfalls die Küsten des Landes und baute eine Stadt. Der Kaiser Karl aber wollte, daß die Deutschen Gold und Edelsteine für ihn erobern sollten. So kam es zum Streit, und schließlich besetzte er die Stadt der Deutschen und ließ seine Krieger gegen die Männer des Welser kämpfen. Diese wichen dem Verrat, soweit sie nicht getötet wurden. Ein Trupp von ihnen suchte sich den unbekannten Weg quer durch das Land hindurch, durch Sümpfe, Flüsse und Urwälder, um das Gebirge zu finden, in dem sie sich niederlassen wollten. Unzählige wurden getötet oder starben am Fieber, an den Schlangen und an Schrecknissen der verschiedensten Art. Der Rest erreichte diese Stadt. Hier blieben die Männer, die von den Deutschen noch lebten, und vermischten sich mit den Cibjas. In unseren Adern fließt heute das Blut der Inkas und der Deutschen.« Sun Koh blickte nachdenklich vor sich hin. Diese Aufschlüsse waren noch überraschender, als er vermutet hatte. Ein Zug deutscher Landsknechte nach Südamerika war ihm bis dahin unbekannt gewesen, aber er zweifelte nicht daran, daß die Worte Picanos die geschichtlichen Ereignisse ziemlich genau wiedergaben. »Die Vermischung der beiden Völker ist zum Se166
gen für die Cibjas geworden?« fragte er. »Von jener Zeit an wurde aus der Cibja-Stadt ein Cibja-Reich. Die eisernen Männer brachten mannigfache Künste mit, die unserem Volk bis dahin nicht bekannt waren. Ihre Waffen und Rüstungen schützten vor den Angriffen der Indianer, sie verstanden es, das Eisen zu schmieden, Stoffe zu weben und dem Boden reiche Frucht abzugewinnen. Sie hatten starke Herzen und kühne Köpfe. Einer von ihnen wurde der König der Cibjas. Von jenem Tag an gab es keinen Bruderstreit mehr in unseren Mauern. Sie nahmen sich Frauen der Cibjas und zeugten zahlreiche Kinder, die gesund, stark und klug waren. Sie schufen vor allem Gesetze, die unser Reich so fest gründeten, wie es heute besteht. Es war ein glücklicher Bund.« »Trotzdem seid ihr so hart gegen die Fremden, die sich wie jene in euer Gebiet verirren?« Picano schüttelte den Kopf. »Du hörtest doch, daß wir euch wie jenen anderen Fremden die Möglichkeit geben, bei uns zu bleiben. Freilich, wir töten die Fremden, die nicht guten Blutes sind oder sich als untüchtig erweisen, wir töten auch jene, die unser Land wieder verlassen wollen, aber diese Gesetze stammen nicht von Cibjas, sondern von den Deutschen, die damals aufgenommen wurden. Du kennst die Geschichte unseres Stammvolkes aus den Bergen?« »Ja.« 167
»Die eisernen Männer, die damals zu uns kamen, kannten sie auch«, sagte Picano sehr ernst. »Sie hatten ihre Heimat verlassen, um neues Land zu finden, um Städte und Dörfer zu gründen, um den Boden zu bebauen. Sie verabscheuten aus tiefstem Herzen jene Männer, die wie die Räuber durch die Gebirge gezogen waren und alles vernichtet hatten. Sie sahen unser Gold und unsere Edelsteine, wie ihr sie sehen werdet, denn das Land ist reich daran. Aber sie lachten darüber, denn sie suchten Häuser und Felder. Sie wußten aber auch, daß andere nicht so denken würden wie sie, sie wußten, daß das Reich zerstört werden würde, wenn jener Kaiser oder seine Truppen von ihm hören würden. Deshalb schufen sie die Gesetze, die heute noch gelten. Kein Cibja darf die Grenzen des Reiches um mehr als eine Stunde Marsch überschreiten, kein Cibja darf die Länder aufsuchen, die jenseits des schützenden Urwaldes liegen. Die Welt soll von uns nichts erfahren.« Sie verließen das altertümliche Haus und wanderten auf den breiten, sauberen Straßen den Berg hinauf. Es war ungefähr fünf Uhr nachmittags, die Sonne stand noch weit über dem Horizont, aber die Luft war angenehm frisch. Sun Koh richtete deswegen eine Frage an Picano. Dieser antwortete: »Nein, wir leiden eigentlich nicht so sehr unter der Sonne. Wir haben uns daran gewöhnt, und dann streicht dieser kühle Wind fast 168
ständig über unser Land. Vergeßt nicht, daß die Sümpfe, durch die ihr gekommen seid, fast tausend Meter tiefer liegen.« Zwischen den Bäumen wurden niedrige Steinmauern sichtbar, dann öffnete sich ihnen der Blick auf eine einzigartige Sportanlage. Hunderte von Metern breit und lang, dehnte sich vor ihnen eine riesige, völlig ebene Fläche, die mit feinem rötlichem Sand bedeckt war. Sie war in Übungsplätze für die verschiedensten Sportarten unterteilt und enthielt auch ein zweihundert Meter langes, völlig in polierten Felsen eingefaßtes Schwimmbad. In diesem Sportforum trainierten sich einige hundert Jungen. Picano führte die vier von einer Gruppe zur anderen. Die Sportler grüßten freundlich, ließen sich aber sonst nicht stören. Spezialisten in irgendeiner Sportart gab es nicht, wie Picano auf Sun Kohs Frage versicherte. »Was hat es für einen Sinn, wenn einer jahrelang nur darauf übt, daß er recht schnell laufen kann?« fragte Picano. »Damit kann er sich bei uns keinen Ruhm erwerben. Nicht wer in einer Sportart etwas leistet, gilt bei uns als Sieger, sondern wer in allen sportlichen Übungen der Beste ist.« Sie schwiegen, denn jetzt schnellten die Jungen vor ihnen aus Startlöchern und jagten über die Bahn. »Donnerwetter«, murmelten Hal und Jerry halblaut, und Hal fügte hinzu: »Mann, die legen aber ei169
nen Zahn vor.« Sun Koh war besorgt. Die Laufgeschwindigkeit war tatsächlich außerordentlich hoch. Nach seiner Schätzung waren die Jungen nicht mehr als zehn Sekunden über hundert Meter gesprintet. Was sollte da aus Jerry werden? Auch Hal würde seine Not haben, einigermaßen Platz zu halten. »Wie schnell laufen eure Jungen?« erkundigte sich Sun Koh. Picano gab ihm eine Zeit- und Streckenangabe, die Sun Koh jedoch fremd war. Erst in den nächsten Tagen erfuhr er, daß die Cibjas, deren Zahlensystem sich auf der zwanzig aufbaute, die kurze Strecke über genau hundert Meter liefen und zehn Sekunden als Durchschnittsgeschwindigkeit betrachteten, die häufig unterboten wurde. Sie gingen zu den Weitspringern. Als sie diese verließen, kratzten sich Jerry und Hal bedenklich hinter den Ohren. Was sie hier gesehen hatten, nahm ihnen so gut wie alle Hoffnungen. Der Aufenthalt bei den Hochspringern erheiterte sie auch nicht gerade. Sprünge unter zwei Meter schienen diese Cibjas überhaupt nicht zu kennen. Sie flogen nur so über die Latte, scheinbar gänzlich mühelos. »Stundenlang könnte man zusehen«, knurrte Jerry, »aber es wird mir dabei flau im Magen. Denn ich muß immer daran denken, daß ich gegen diese Leute 170
antreten soll. Da ist es besser, wenn ich von vornherein darauf verzichte.« »Das werden Sie nicht tun«, erwiderte Sun Koh bestimmt. »Sie werden zwar nicht erreichen, was diese hier leisten, aber zu einer guten Durchschnittsleistung sollte es immerhin langen. Ich halte es für das beste, wenn Sie mit Hal zusammen von morgen an ins Training gehen, dann haben Sie eine gute Woche Zeit, um sich vertraut zu machen. Aufgegeben wird nicht.« »Natürlich nicht«, murmelte Jerry, »ich meinte ja nur so.« Von den Springern aus kamen sie zu den Speerwerfern, von diesen zu den Steinstoßern, dann zu den Schwimmern. Überall fanden sie die gleichen hervorragenden Leistungen, die dort anfingen, wo die Bestleistungen zivilisierter Leute meist aufhörten. Sie verließen das Forum. Picano führte sie zu dem Haus zurück, in dem sie wohnten. Sie hatten es kaum erreicht, als die Sonne sank. * Der Tag des Wettkampfes kam. »Wie fühlt ihr euch?« fragte Sun Koh seine Begleiter am Morgen. »Ausgezeichnet«, rief Nimba lachend. »Topfit«, meinte Hal grinsend. 171
»So lala«, meinte Jerry leicht gedrückt. »Für mich wird das eine Riesenblamage.« Picano erschien, obwohl es erst wenige Minuten nach Sonnenaufgang war. »Ich bitte euch, mir zu folgen«, bat er. »Es ist beschlossen worden, daß ihr nicht in der größten Hitze des Tages kämpfen sollt, weil man euch nichts Ungebührliches zumuten will. Man gesteht euch zu, in den Stunden der untergehenden Sonne weiterzukämpfen.« Sie folgten ihm. Auf den amphitheatralisch aufsteigenden steinernen Sitzbänken des großen Sportforums, das nur bei festlichen Anlässen benutzt wurde, saßen Zehntausende von Cibjas. »Sie haben in der Nacht die Dörfer verlassen, um euch kämpfen zu sehen«, gab Picano die Erklärung. »Sehr schmeichelhaft«, knurrte Jerry. Sie zogen sich um, dann wurden sie mit den Kämpfern der Cibjas bekannt gemacht. Sun Koh stellte dabei fest, daß man ihnen nicht die allerbesten gegenüberstellte, sondern junge Leute, die den üblichen Durchschnitt leisteten. Das war sehr anständig, doch dieser Durchschnitt entsprach eben immer noch der Weltbestleistung. Der König schüttelte ihnen ebenfalls die Hand. Er bewegte sich unter den Männern des Volkes wie jeder andere. 172
Dann standen sie in der gewaltigen Arena, über der das dumpfe, aber sehr beherrschte Geräusch der vielen Menschen lag. Hundertmeterlauf. Jerry trat als erster an. Das war seine schwächste Leistung. Er lief gegen zwei Cibjas, hatte aber nicht viel mehr als zwei Drittel der Strecke hinter sich, als jene durchs Ziel gingen. Die Zuschauer raunten dumpf. Hal lief mit den beiden nächsten. Er blieb wenige Meter hinter ihnen und errang sich damit einen achtbaren Erfolg. Nimba ging als dritter vom Start. Er berührte das Zielband als erster, so daß die Runde überrascht aufmurmelte. Sun Koh lief von Anfang an mit voller Geschwindigkeit. Er ging durch das Ziel, als seine Gegner noch zehn Meter hinter ihm liefen. Brausend donnerte der Beifall auf. Weitsprung. Jerry gab sein Äußerstes her. Er sprang auf Tod und Leben, hatte Glück, daß er nicht stürzte, und erreichte fast die Marke seiner Partner. Hal und Nimba blieben ein Stück hinter seiner Leistung zurück, aber offensichtlich waren die Cibjas auch damit recht zufrieden. Sun Koh strengte sich sehr wenig an und übersprang fast ohne Anlauf die Marke seines Vorgängers. 173
Die Geringfügigkeit seiner Anstrengung war Picano nicht entgangen. »Gefallen dir die Jünglinge nicht, die mit dir kämpfen?« fragte er. »Ich sah, daß du viel weiter springen könntest.« Sun Koh lächelte etwas. »Du hast gute Augen, Picano. Ihr hättet gegen mich eure besten Kämpfer stellen sollen.« Picano verschwand für eine Weile. Hochsprung. Jerry erreichte nur 1,60 Meter und blieb damit weit hinter den Ergebnissen der anderen zurück. Hal schaffte zehn Zentimeter mehr und konnte damit nicht imponieren, obwohl es unter normalen Umständen ein beachtlicher Sprung gewesen wäre. Nimba kam über zwei Meter hinweg, während seine Partner 2,20 Meter sprangen. Bevor Sun Koh antrat, erschien Picano mit zwei neuen Jünglingen und sagte: »Das sind unsere Besten. Wenn es dir gefällt, kannst du gegen sie kämpfen. Es wird dir nicht zum Schaden gerechnet werden, wenn du ihre Leistungen nicht erreichst.« Sun Koh nickte nur. Der erste der beiden warf die Latte bei 2,40 Meter, der andere erst bei 2,55 Meter. Wahrhaft erstaunliche Sprünge. Die Zuschauer zeigten sich lebhaft interessiert. Sun Koh ließ die Latte bei drei Metern auflegen 174
und erregte damit bedenkliches Kopf schütteln. Als sein Körper mühelos darüber hinwegfegte, fiel die Ruhe von den Cibjas ab. Sie schrieen vor Staunen, Bewunderung und Überraschung. Langlauf über fünf Kilometer. Sie traten in vier Staffeln an und liefen gleichzeitig los. Die Bahnlänge betrug gerade einen Kilometer, so daß sie fünfmal runden mußten. Das war bei der Hitze, die bereits herunterglühte, gar keine so geringe Leistung, zumal die Cibjas gleich sehr scharf vorlegten. Sun Koh und seine Partner gingen gleich in Führung, Sun Koh aber lief den beiden einfach davon. Er wirbelte seine fünfte Runde herunter, als seine Gegner noch bei der vierten waren. Die anderen Gruppen lagen um diese Zeit noch im Anfang der vierten Runde. Nimba hielt ausgezeichnet mit seinen beiden Partnern Schritt, er blieb mit ihnen ständig auf einer Höhe. Der Endspurt mußte entscheiden, wer zuerst ankam. Hal lag eine Viertelrunde zurück. Das war recht befriedigend. Seine langen Beine und seine schmächtige Gestalt kamen ihm zustatten. Ganz schlecht stand es um Jerry. Er erreichte erst die Mitte der dritten Runde, als Sun Koh die Mitte der fünften durchlief. Seine Partner waren fast eine Runde voraus. 175
Er lief ein aussichtsloses Rennen. Jerry wußte das, aber er war nicht der Mensch, der aufgab. Sun Koh lief auf ihn auf und verhielt etwas. »Wie steht’s?« »Gut«, knurrte Jerry, »aber die Kerle jagt der Teufel. Kunststück, wo sie von Jugend auf trainiert haben.« Sun Koh hatte einen Einfall. »Wir werden sie mal ein bißchen überholen. Achtung.« Bevor Jerry noch recht erfaßte, was Sun Koh beabsichtigte, wurde er mit einem Ruck hochgehoben und lag bäuchlings über den Schultern Sun Kohs. Er wollte sich wehren, aber Sun Koh befahl ihm: »Bleiben Sie still, verloren haben Sie ohnehin.« Da blieb er ruhig und beobachtete staunend, wie Sun Koh mit ihm davonlief. Die Zuschauer waren einen Augenblick sprachlos, dann tosten sie in rasendem Beifallsgeschrei auf. Und dann wurden sie atemlos still. Sun Koh lief mit der gleichen Geschwindigkeit, die er vorher innegehabt hatte. Die Last auf seinen Schultern schien ihn kaum zu stören. Er rückte zusehends auf. Als er an Hal vorbeikam, schrie dieser: »Mich auch mitnehmen!« »Lauf du nur«, rief Sun Koh. Als die Gegner Jerrys in die fünfte Runde gingen, war er ihnen schon ziemlich dicht auf den Fersen. 176
Die Mitte erreichte er eine Weile eher als sie. Hundert Meter vor dem Ziel setzte er Jerry ab. »Nun los, jetzt werden Sie siegen.« Jerry setzte sich in Trab. Er verhielt aber seinen Schritt, bis seine Gegner heran waren, erst dann wurde er wieder schneller. Er ließ sich absichtlich überholen. Der Trick hatte ihm Spaß gemacht, aber natürlich mußten die besseren Leute den Sieg haben. Die Zuschauer begriffen die Anständigkeit solcher Gesinnung durchaus und wußten sie zu würdigen. Brausendes Beifallsgeschrei begleitete die letzten fünfzig Meter. Picano eilte heran. »Noch nie sahen die Cibjas einen solchen Läufer wie dich«, sagte er begeistert zu Sun Koh. »Höre ihren Jubel.« »Ich hoffe, daß er auch meinen Kameraden gilt«, erwiderte Sun Koh lachend. »Sie sind wahrhaftig gut gelaufen.« »Ausgezeichnet«, lobte Picano nickend. »Und dieser Mann, den du Jerry nennst, hat…« »Er ist den Lauf nicht gewöhnt«, sagte Sun Koh. »Er hat am schönsten gesiegt«, sagte Picano lächelnd. »Wir wissen den Adel der Seele zu würdigen. Höre, wie sein Name gerufen wird.« Die Cibjas brachten dem verblüfften Jerry tatsächlich Ovationen dar, so daß er verlegen zu Hal sagte: »Die müssen ja eine schlechte Meinung von uns ge177
habt haben, weil sie sich über so eine Selbstverständlichkeit aufregen. Ich kann mir doch nicht einen Lorbeerkranz umhängen lassen, weil ich Huckepack getragen worden bin.« »Aber wegen deiner malerischen Haltung«, feixte Hal. »Du sahst aus wie ein Hammel, der Trockenschwimmübungen machen will.« »Blöder Quatsch«, murmelte Jerry verächtlich. Zum Abschluß der Vormittagskämpfe kamen Schießübungen. Man stellte Scheiben auf und schleppte schwere Musketen herbei. Das waren altertümliche Modelle, die ungefähr den Waffen entsprachen, die im siebzehnten Jahrhundert in Europa üblich gewesen waren. Die Cibjas hatten die Hakenbüchsen der Landsknechte weiter entwickelt, aber lange nicht in dem Maße, wie es die Europäer getan hatten. Die Musketen waren immer noch außerordentlich klobig und schwer. Von Zündnadelgewehren hatten die Cibjas keine Ahnung, von gezogenen Läufen und ähnlichen Dingen erst recht nicht. Sie luden immer noch von vorn und schossen mit einfachen Bleikugeln. Hal stemmte mißvergnügt eine der Musketen an. »Damit können wir vielleicht Freiübungen machen, aber nicht schießen. Können wir nicht unsere Waffen bekommen, Sir?« Sun Koh sprach schon mit Picano darüber. Dieser wiegte bedenklich den Kopf und meinte: »Die Be178
dingungen des Kampfes müssen die gleichen sein.« »Es steht euren Jünglingen frei, unsere Waffen zu benutzen«, erwiderte Sun Koh entschieden. »Seit wann ist es Sitte, daß der Herausgeforderte unter fremden Bedingungen kämpfen muß.« »Eure Waffen sind besser.« »Gewiß, das ist unser Vorteil. Aber eure Jünglinge sind auch von früher Jugend an für diese Kämpfe ausgebildet worden, sie haben sich an das Klima gewöhnt und was noch alles, aber wir haben uns trotzdem nicht beklagt.« »Du hast recht«, gab Picano zu. »Ich werde eure Waffen bringen lassen, damit ihr mit ihnen kämpfen könnt.« Es dauerte eine ganze Weile, bevor die vier ihre vertrauten Pistolen und Gewehre wieder in den Händen hielten. Sie waren tadellos in Ordnung, die Cibjas hatten sie anscheinend sorgfältig aufbewahrt. Auch die Munition war unversehrt. Die Cibjas schossen nicht schlecht. Sie holten aus ihren ungefügen Büchsen das heraus, was herauszuholen war. Einzelne Schüsse gingen sogar ins Schwarze, die meisten in die Zentrumsringe. Aber im Vergleich zu dem, was Sun Koh und seine Begleiter zeigten, fielen sie vollkommen ab. Selbst Jerry, der von den vieren am schlechtesten schoß, war turmhoch überlegen. Das heißt nicht etwa, daß Jerry schlecht schoß. Er 179
jagte eine Kugel nach der anderen ins Schwarze hinein und hatte keinen einzigen Fehlschuß. Nur mit der Pistole war er nicht so gewandt und so sicher wie die anderen. Aber die Pistolen blieben ja bei diesem Wettkampf eigentlich aus dem Spiel. Wenn Sun Koh im Anschluß an die eigentlichen Kämpfe noch mit ihnen schießen ließ, so um den Cibjas eindrucksvoll die Schießkunst zu beweisen. Sie feuerten jeder ein paar Schüsse in die Scheiben hinein, dann schossen sie ohne Jerry ein paarmal nach hochgeworfenen Steinen, und schließlich stellte sich Hal vor eine der großen Scheiben, und Sun Koh schoß die Umrisse seines Körpers aus. Die Cibjas waren bald andächtig still, bald tobten sie vor Begeisterung. Rückhaltlos anerkannten sie die Leistung der Fremden. Damit war die erste Hälfte der Wettkämpfe beendet. Am Nachmittag wurden sie fortgesetzt, als die größte Hitze vorüber war und der kühle Wind über das Stadion strich. Diesmal waren vor allem die waffenlosen Kämpfe von Mann gegen Mann erwähnenswert. Bei den Cibjas hatte sich ein eigener Kampfstil – ein Mittelding zwischen Ringen und Jiu-Jitsu – entwickelt, wobei aber auch gewisse Schläge zulässig waren. Picano teilte Sun Koh mit, daß man ihn und 180
seine Freunde nicht darauf festlegen wolle, sondern daß jede Kampfweise erlaubt sei. Es käme einzig und allein darauf an, den Gegner kampfunfähig zu machen. Sun Koh lächelte, als er das hörte, und gab seinen Leuten entsprechende Anweisungen. Die Cibjas waren außerordentlich stark, zäh und schnell, aber sie konnten nicht boxen. Im Ringkampf hätten es Jerry und Hal schwer gehabt, aber nun mußte der Kampf auch für die beiden leicht werden. Er wurde leicht. Jerry, der wieder als erster antrat, ließ seinen Gegner gar nicht erst aufkommen. Als dieser ihn ansprang, punktete er ihm einen Schlag auf die Kinnspitze und legte seine ganze Kraft dahinter. Der Cibja ruckte mit dem Kopf nach hinten und legte sich in den Sand. Die Zuschauer brauchten eine ganze Weile, bevor sie begriffen, daß dieser Kampf schon aus war. Dann sparten sie jedoch nicht mit ihrem Beifall. Aus diesem Beifall wurde ein betroffenes Schweigen, als Hal Mervin seinen Gegner ganz ähnlich absackte. Er ließ ihn anlaufen, rannte ihm die Faust in die Magengrube und hieb dann mit Behagen nach, so daß der ungedeckte Cibja ein paar Minuten liegen blieb. Das wirkte um so stärker, als der schmächtige Hal dem muskelstarken großen Cibja von vornherein stark unterlegen sein mußte. Die Gegner Nimbas und Sun Kohs versuchten et181
was vorsichtiger zu sein, aber das half ihnen nur wenig. Sie wurden mattgesetzt, bevor sie richtig angefangen hatten. Die Zuschauer jubelten, aber man merkte doch, daß sie enttäuscht waren. »In euren Fäusten steckt eine große Kunst«, sagte Picano zu Sun Koh, »aber es ist schade, daß sich unsere Jünglinge nicht besser wehren konnten.« »Ihr müßtet eben ein halbes Dutzend gleichzeitig gegen einen von uns stellen«, erwiderte Sun Koh, »dann dauert’s vielleicht etwas länger.« »Sprichst du im Ernst?« fragte Picano hoffnungsvoll. »Warum nicht?« Picano, der wohl für dieses ganze Schauspiel mehr oder weniger verantwortlich war und für die Unterhaltung der Zehntausend bedacht sein mußte, lief schleunigst davon. Er brachte einen ganzen Trupp frischer Kämpfer mit, als er zurückkehrte. Sun Koh nickte Nimba zu. »Jetzt wirst du dich wieder einmal austoben können. Dort sind fünf Mann, traust du dich, es mit ihnen aufzunehmen?« »Oh!« Nimba strahlte. »Das wäre eine Gelegenheit, Sir. Sie dürfen aber nicht mitmachen, sonst nehmen Sie mir die besten Leute weg.« »Keine Sorge«, beruhigte ihn Sun Koh. Picano war sehr erstaunt, als ihm Sun Koh vor182
schlug, er solle die fünf Jünglinge gleichzeitig gegen Nimba kämpfen lassen, aber selbstverständlich hatte er nichts zu erwidern. Nimba war außer sich vor Vergnügen, als die fünf gegen ihn anliefen. Er freute sich, daß er sich wieder einmal ausarbeiten durfte. Es war ein großartiger Boxkampf. Nimba war hervorragend in seiner Beinarbeit und prachtvoll in seinen Schlägen. Wo seine mächtige Faust einmal aufknackte, da schied sie endgültig einen Gegner aus. Er hatte es einesteils leicht, weil die Jünglinge auch jetzt nicht an Deckung dachten, andernteils war der Kampf auch gar nicht so einfach. Er hatte immerhin fünf hervorragende Sportler gegen sich, die sehr stark und außerordentlich gewandt waren. Sie warfen sich rücksichtslos gegen ihn an und hätten ihn sicherlich einfach in den Sand gerollt, wenn er nicht so vorsichtig gewesen wäre. Aber Nimba wich äußerst geschickt aus und sorgte dafür, daß seine Gegner sich genügend selbst behinderten, ohne ihm gefährlich zu werden. Auch das gelang ihm nicht immer, aber dann kam ihm die überlegene Schwere seines muskelbepackten Körpers zustatten. Er fing den stärksten Anprall auf, ohne sich groß erschüttern zu lassen. Als der fünfte Mann seinen linken Schwinger erhielt und ein paar Meter seitwärts taumelte, raste ein Orkan des Beifalls hoch. 183
»Herrlich! Hervorragend!« pries Picano in allen Tönen. »Könnt ihr alle so gewaltig kämpfen?« »Selbstverständlich«, sagte Sun Koh lächelnd. Picano atmete tief. »Wir werden stolz sein, euch bei uns aufnehmen zu dürfen. Doch sage, kämpft ihr nicht auch ohne diese furchtbaren Schläge, bei denen unsere Jünglinge gar keine Zeit finden, sich anzustrengen?« »Doch«, sagte Sun Koh. »Wenn es dir Spaß macht, kannst du noch einen Mann gegen mich stellen, damit wir einmal ohne Schläge gegeneinander kämpfen.« Picano ließ sich das nicht zweimal sagen. Er brachte einen neuen Mann ins Treffen. Sun Koh ließ diesen Mann sich ruhig ein bißchen anstrengen. Er stand einfach ruhig da und lächelte. Dann hob er ihn hoch und warf ihn zu Nimba hin. Nimba gab ihn zurück. Sun Koh schickte ihn zum zweitenmal auf die Reise, erhielt ihn zurück. Dann packte er ihn im Genick, riß ihn los und drückte ihn langsam in den Sand hinunter. Jetzt gab der Cibja auf. Er sprang hoch, als ihn Sun Koh losließ, verbeugte sich und sagte respektvoll: »Ich bin besiegt. Es war vermessen von mir, gegen dich zu kämpfen. Du bist stärker als zwanzig Cibjas zusammen.« Da es nur noch wenige Minuten bis Sonnenuntergang waren, mußten die Kämpfe beendet werden. 184
Unter andauerndem jubelndem Beifall der Zuschauer verließen sie die Kampf statte. * Vierundzwanzig Stunden später. Sun Koh und seine Begleiter marschierten zum Forum – zum Richtplatz. Sie waren ungebunden, aber von einem so dichten Gürtel von aufmerksamen, bewaffneten Kriegern umgeben, daß sie zunächst nicht an ihren letzten Versuch denken konnten. Man hatte ihnen angeboten, Cibjas zu werden, aber Sun Koh hatte abgelehnt. Dafür drohte ihnen jetzt der Tod. Sie wollten kämpfen und hatten sich einen Plan ausgedacht, aber es war fraglich, ob er sich durchführen ließ. Die steinernen Sitzbänke des Forums waren dicht besetzt, fast dichter noch als bei dem Sportkampf. Es herrschte heute jedoch tiefstes Schweigen. Als sie sich innerhalb des weiten Runds befanden, wurde die Lage hoffnungsvoller. Der Haupttrupp der Krieger trat seitlich zurück, die Gefangenen blieben in der Obhut einer kleinen Schar. Der König trat in Begleitung Picanos heran. »Der Tod wartet auf euch«, sagte er ernst. »Ich bitte dich und deine Freunde noch einmal, eure Entscheidung zu ändern.« »Nein«, lehnte Sun Koh kurz ab und ließ dabei 185
seine Augen unauffällig prüfend herumgehen. In ihrem Rücken lag einer der Zugänge zum Stadion. Er war unbewacht. Wenn man direkt darauf zulief … Freilich, die Cibjas waren sehr schnell und würden Jerry wie Hal bald eingeholt haben. Man mußte diesen beiden also zunächst den Rücken decken, die Verfolger aufhalten, bis sie einigen Vorsprung hatten. Dann konnte man immer noch den Cibjas davonlaufen. Waffenlos waren sie schlecht aufzuhalten. Aber es würde kein Kunststück sein, dem ersten das Schwert aus der Hand zu reißen und damit zu kämpfen. Die Kugeln waren wohl nicht sehr zu fürchten, denn die Cibjas würden in dem entstehenden Getümmel kaum zum Schießen kommen. Sun Kohs Plan stand in rohen Umrissen fest. Er beachtete kaum, wie sich die beiden Cibjas mit verschlossenen, düsteren Mienen vor ihm verneigten und davongingen. Flüsternd verständigte er seine Begleiter. Diese nickten. Aus der Gruppe der Krieger trat der Anführer heraus und kam auf sie zu, wahrscheinlich um sie an den richtigen Platz zu stellen. »Dort kommt mein Schwert«, sagte Sun Koh. »Achtung, sobald er heran ist, lauft ihr zu dritt los.« »Jawohl, Sir«, antwortete Hal. »Junge, Junge, jetzt 186
heißt es aber die Beine in die Hand nehmen, sonst…« Er sprach seinen Satz nicht aus. Sun Koh vollendete seine Bewegung, die er bereits angesetzt hatte, nicht mehr. Der Cibja kam nicht weiter heran. Wie ein Nebel glitt es plötzlich über die Gehirne der vier, über die Gehirne der Krieger und der Tausenden von Cibjas im weiten Oval. In einer einzigen Sekunde brachen sie alle zusammen, fielen zur Erde oder rutschten auf den Steinbänken seitlich gegeneinander. Hoch über dem Stadion wurde ein Punkt sichtbar. Er wuchs zusehends und formte sich blitzschnell zu einem Flugzeug, das in die Tiefe stürzte. Zwischen Sun Koh und den Kriegern der Cibjas setzte es auf den Sand auf. Ein Mann sprang heraus, dessen bleiches, fast dreieckiges Gesicht mit den glühenden Augen und dem schwarzen Spitzbart etwas Satanisches an sich hatte. Ihm folgte ein untersetzter Japaner mit ausdruckslosem, unbeweglichem Gesicht. Manuel Garcia lachte spöttisch, während er in die Runde blickte. »Mir scheint, wir sind gerade zurecht gekommen, um die Leutchen um ihr Eintrittsgeld zu bringen. Haben Sie die Maske?« »Hier ist sie.« 187
Garcia nahm den maskenähnlichen Gegenstand zu sich, beugte sich über Sun Koh und preßte ihn auf dessen Gesicht. »Besser als ein Riechfläschchen«, murmelte er dabei vergnügt. »Passen Sie auf, wie unser Freund wieder von den Toten aufersteht.« Nach einer halben Minute schlug Sun Koh die Augen auf. Erstaunt blickte er in das Gesicht, das sich über ihn beugte, dann richtete er sich auf, blickte umher, sprang auf und sagte schließlich: »Sie, Manuel Garcia? Wie kommen Sie hierher? Was ist geschehen?« »Wie fühlen Sie sich? Ich flog zufällig hier vorbei und verlor mein Schlafpulver. Wenn ich nicht irre, hat die ganze Gegend davon geschluckt.« »Sie haben gewußt, daß wir uns hier aufhalten?« Garcia zwinkerte. »Gewußt ist gut. Wir haben uns die Augen blutig gesucht, als Sie nicht ankamen. Drei Fernseher sind total unbrauchbar dabei geworden. Endlich hatten wir Sie, gerade rechtzeitig genug, um Sie aus der Klemme herauszuholen. Aber nun will ich erst mal die anderen Freunde mit meinem Riechfläschchen traktieren.« »Sie haben Gas abgelassen?« »Natürlich, oder dachten Sie, die Leutchen wären von allein umgefallen?« Sun Koh packte ihn hart an der Schulter. 188
»Sie haben doch nicht etwa Giftgas abgelassen?« Garcia grinste. »Warum denn nicht? Diese hoffnungsvollen Brüder wollten Sie doch abmurksen?« »Sie sind ein verbrecherischer Narr«, fuhr Sun Koh ihn an. »Wie können Sie wegen uns drei ein paar tausend Menschen töten?« »Mancher König hat ein paar hunderttausend um seinetwillen töten lassen. Sie haben ein zu zartes Gewissen, Verehrtester. Aber trösten Sie sich, in einer Stunde sind sie alle wieder mobil.« Sun Koh atmete auf. »Sie haben sich noch immer nicht gebessert.« Hal wurde munter, starrte in Garcias Gesicht. »Ach du dicke Berta«, murmelte er, »nun bin ich doch in der Hölle gelandet.« »Liebenswürdige Schmeicheleien als Dank für wunderbare Lebensrettung«, beschwerte sich Garcia, während er Nimba wieder zum Bewußtsein zurückholte. Dieser schob die Maske schon energisch beiseite, ehe er noch die Augen aufgeschlagen hatte. Wahrscheinlich träumte er unangenehm. »Ein rabiater Bursche«, rief Garcia. »Der hatte sich wahrscheinlich vorgenommen, kräftig um sich zu schlagen, bevor er umfiel.« »Was? Was?« gurgelte Nimba, während er hochkam. »Mach langsam«, beruhigte Hal. »Du störst sonst 189
den Schlaf der Cibjas. Jerry müssen Sie auch noch auf die Beine bringen.« Manuel Garcia bemühte sich auch noch um Jerry, der dann ebenfalls erwachte. Er war reichlich verwirrt und erstaunt, aber Sun Koh beschränkte sich in seinen Erklärungen. »Dieser Herr, Manuel Garcia, ist ein Freund von uns. Er hat uns entdeckt und konnte gerade rechtzeitig eingreifen. Die Cibjas schlafen augenblicklich unter der Wirkung eines besonderen Gases.« »Dann können wir also fort?« Sun Koh nickte. »Ja, aber wir werden das Flugzeug benutzen.« »Was denn, wieso denn?« protestierte Manuel Garcia. »Ich kann doch nicht die halbe Welt mitnehmen. Darauf bin ich nicht eingerichtet.« »Haben Sie sonst noch Begleiter?« fragte Sun Koh. »Das nicht, aber ich wollte mir doch auch ein paar von diesen Brüdern hier mitnehmen und sie meiner Sammlung einverleiben.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Sie haben Einfälle, Garcia. Wir fliegen also mit Ihnen.« »Ihr habt bloß Angst«, feixte Hal. »Daß ich in dein großes Maul hineinfalle«, sagte Garcia. »Das kann schon sein. Wie wär’s mit dem Einsteigen?« 190
»So eilig?« fragte Sun Koh. Garcia zuckte mit den Schultern. »Besser ist besser, schließlich schlafen die Leute hier nicht eine halbe Stunde, sondern bloß zehn Minuten. Sie denken wohl, ich will mich von den eisernen Kerlen kitzeln lassen?« »Immerhin wundert es mich, daß Sie gar nicht so neugierig sind wie sonst.« Garcia kniff die Augen zusammen. »Warum soll ich neugierig sein?« Sun Koh wies in die Runde. »Diese Stadt ist schon einige Neugier wert.« Garcia machte eine wegwerfende Bewegung. »Die kenne ich doch schon lange. Als ich jung und hübsch war, habe ich mich nachts stundenlang hier herumgetrieben und habe mir alles in Ruhe angesehen.« »Sie kannten das Reich der Cibjas?« vergewisserte sich Sun Koh. »Natürlich.« Garcia feixte. Sun Koh blickte nachdenklich auf Jerry. »Für uns löst sich ja nun alles sehr einfach, aber – was wird aus Ihnen? Haben Sie immer noch die Absicht, hier zu bleiben?« Jerry wiegte den Kopf hin und her. »Unter gewöhnlichen Umständen wäre ich gern hier geblieben. Aber ich denke, man wird es mir sehr krumm nehmen, wenn Sie auf einmal fort sind, und 191
ich stehe allein noch da. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll.« »Ich werde hoch einmal mit dem König sprechen.« Sun Koh winkte Garcia. »Bitte nehmen Sie die Maske mit, wir müssen noch einen dieser Leute zum Bewußtsein bringen.« Garcia folgte ihm, und Sun Koh sagte weiter: »Unser vierter Mann heißt Jerry Recife. Wir haben ihn im Urwald getroffen. Er ist uns eine wertvolle Hilfe gewesen. Er hat als einziger von uns die Absicht, sich gewissen Bedingungen dieses Volkes zu unterwerfen und für dauernd bei ihm zu bleiben. Ich glaube, das würde das Beste für ihn sein, deshalb will ich mit dem Führer dieses Volkes sprechen. Vielleicht findet sich unter den veränderten Umständen ein gangbarer Weg.« »Sie sollten wohl auch hierbleiben?« »Ja.« »Kann ich mir denken, daß die Cibjas solche Feinschmecker sind.« Der König der Cibjas schlug die Augen sehr schnell auf, nachdem ihm einmal die Maske aufgesetzt worden war. Es dauerte aber eine ganze Weile, bevor er die Lage einigermaßen begriffen hatte. Sun Koh half etwas nach. »Du siehst, daß uns plötzlich Hilfe zuteil geworden ist. Deine Leute schlafen. Sie liegen am Boden 192
und sind nicht imstande, die Waffen zu heben, während wir uns frei bewegen. Bevor sie erwachen, wird uns der künstliche Vogel in die Luft tragen.« Der andere erhob sich schwerfällig. »Deine Freunde sind aus der Luft gekommen?« »Ja, ich sagte dir ja, daß es leicht ist, den Urwald zu überwinden, da man ihn in ein paar Stunden überfliegen kann.« Der König der Cibjas deutete auf Garcia, der ihn stillvergnügt musterte. »Woher wußte dieser, daß ihr hier seid?« »Er sah uns«, antwortete Sun Koh. »Außerdem hat er schon vor Jahren euer Reich kennengelernt, aber er hat euch keine Gelegenheit gegeben, ihn zu fangen.« »Du sprichst seltsam wie immer. Willst du dich nun rächen, bevor du uns verläßt? Und wirst du nun dafür Sorge tragen, daß die Fremden in großen Scharen kommen, um unser Reich zu zerstören?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Keins von beiden. Ihr habt so gehandelt, wie es eure alten Gesetze verlangten. Das nehme ich euch nicht übel. Es ist auch nicht meine Absicht, die Welt auf eure Existenz aufmerksam zu machen. Aber ich wiederhole mein Angebot. Es ist um der Sicherheit eures Volkes notwendig, daß ihr euch auf kommende Gefahren vorbereitet. Ich bitte dich daher, alles noch einmal zu bedenken, was ich dir gestern bereits sagte.« 193
In den Augen des Königs lag tiefe Bewunderung. »Du machst mir abermals jenes Angebot, obgleich du ohnehin frei bist?« »Ja. Glaubtest du gestern, daß ich so sprach, um mein Leben zu retten?« »Ja«, gab der andere zu. »Dann bitte ich dich, meinen Vorschlag noch einmal zu überlegen, nachdem du weißt, daß ich nicht um meines Lebens willen sprach. Aber nun zunächst etwas anderes. Du weißt, daß Jerry gern bei euch bleiben möchte. Er hat den Wunsch auch jetzt noch, fürchtet aber, daß ihr ihn nicht mehr aufnehmen werdet, nachdem wir uns eurer Gewalt entzogen haben.« Der König blickte nachdenklich vor sich hin. »Ich hatte den Kriegern, die euch töten sollten, Anweisungen gegeben, nicht auf ihn zu schießen. Er sollte leben und trotz eures Todes ein Cibja sein. Wenn ihr nun fort seid, so werden viele Fragen an mich kommen, und es wird mir nicht leicht fallen, den Cibjas alles zu erklären. Aber Jerry kann trotzdem bleiben. Er ist uns willkommen wie vorher.« »Ihr werdet ihm die gleichen Rechte gewähren wie jedem anderen deines Volkes?« »Ja.« »Ich danke dir. Jerry wird sich freuen, wenn er das hört, und sicher wird er deinem Volke sehr nützlich sein. Und nun bitte ich dich, mit zu den anderen zu kommen, denn wir wollen uns verabschieden, bevor 194
dein Volk erwacht.« »Willst du mir nicht erst Zeit geben, deine Vorschläge neu zu überlegen?« fragte er. Sun Koh lächelte. »Ich gebe dir Zeit. Du kannst mit Jerry darüber sprechen, falls du zu der Einsicht gekommen bist, daß es richtiger für dein Volk ist, meinen Ratschlägen zu folgen. Er wird zukünftig mit mir in Verbindung bleiben, wir werden durch die Luft hindurch miteinander sprechen, so daß ich jederzeit erfahren kann, was du beschlossen hast.« Dann wandte sich Sun Koh an Garcia. »Sie haben doch ein Kurzwellengerät bei sich?« »Gewiß.« »Dann lassen wir Ihnen eines hier.« Jerry freute sich, als er hörte, daß er bleiben durfte. Er freute sich noch mehr, als ihm Sun Koh das Sprechgerät aushändigte und ihm zeigte, wie man es benutzte. »Ich werde es als meinen kostbarsten Schatz hüten«, versprach er. »Offengestanden ist es mir ganz lieb, daß ich wenigstens nicht ganz von der Welt abgeschnitten bin, sondern so noch etwas Verbindung behalte. Man weiß nie, was noch kommen wird.« »Es ist leicht möglich«, erwiderte Sun Koh, »daß in absehbarer Zeit noch Zuzug von außen kommt. Früher oder später werden sich die Cibjas entscheiden, ihr Volk den Kampfbedingungen der Außenwelt 195
anzupassen. Dann werden Sie als Mittler dienen müssen. Und nun wünsche ich Ihnen viel Glück.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Jerry zog ein komisches Gesicht dabei. Man merkte ihm an, daß ihm die Trennung nicht leicht fiel. Hal rettete mit sicherem Instinkt die Stimmung. »Na, weine nur nicht, Großer«, sagte er tröstend. »Im Notfall schicken wir dir ein Flugzeug und holen dich ab.« Nimba verabschiedete sich ebenfalls und brachte seine guten Wünsche für die Zukunft an, dann reichte Manuel Garcia als letzter dem Zurückbleibenden die Hand. »Viel Spaß, verehrter Freund«, sagte er und schritt auf das Flugzeug zu. »Aber wir schicken dir das Flugzeug nur im Notfall«, rief Hal, während er zur Maschine ging, »nicht etwa, wenn du von deiner Frau oder von deiner Schwiegermutter eine Gardinenpredigt bekommst.« »Kommt gar nicht in Frage«, antwortete Jerry lachend, dem etwas freier geworden war. »Na, sage das nicht«, meinte Hal bedenklich. »Wenn du meine Erfahrungen hättest, würdest du über den Punkt anders denken.« »Großschnauze!« »Letztes zärtliches Kosewort bei einer Trennung für ewig. Du hast einen Geschmack im Leibe! Da geht doch die ganze Poesie zum Teufel.« 196
Wenige Minuten später erhob sich die Maschine mit den Männern in die Luft. Der schweigsame Japaner, der sich während der ganzen Zeit kaum bewegt hatte, saß am Steuer. Das weite Rund schlief noch immer. Nur hier und dort kamen die ersten unsicheren Lebensäußerungen. Die Erde fiel zurück. Auf dem freien Platz zwischen den schlafenden Kriegern blieben die zwei Männer allein nebeneinander – der König der Cibjas und Jerry, der Seringueiro und Abenteurer. Klein und zierlich wurden ihre Figuren. Das gewaltige Forum verwandelte sich in ein Stück Spielzeug, das Reich der Cibjas wurde übersehbar, dann tauchte unendlich wie ein dunkelgrünes Meer der Urwald auf. Erleben wandelte sich zur Erinnerung, Wirklichkeit wieder zur Sage, die scheu durch die wuchernde Hölle geistert. ENDE
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Als SUN KOH-Taschenbuch Band 10 erscheint:
Freder van Holk
4000 Meter unterm Meeresspiegel Ein Tauchboot geht mit Mann und Maus auf hoher See verloren, liegt aber wenige Tage später an der Küste. Harry Shurman hat eine Spur gelegt, und es nützt ihm nichts mehr, sich in die Tiefen des Meeres zurückzuziehen. Merry Owen findet ihn auf der Suche nach ihrem Bruder, und Sun Koh findet ihn, obwohl er nur ein Stück Land an der Küste kaufen wollte. Und dann fällt die Tauchkugel in die schwarzen Tiefen des Meeres hinein, bis die unterseeische Wand über ihr zusammenbricht und sie festklemmt. Es geht um Leben und Tod, und im Kampf um die Zeit und den letzten Atemzug retten nur mehr die kühlen Nerven Sun Kohs und ein Stück Zucker. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vierwöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.