TÖRICHTE HERZEN Roman von Leni Behrendt
Wäre Tante Beate, die lebenserfahrene und kluge Frau, nicht in einer Erbschafts...
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TÖRICHTE HERZEN Roman von Leni Behrendt
Wäre Tante Beate, die lebenserfahrene und kluge Frau, nicht in einer Erbschaftsangelegenheit zu ihrem Neffen Dr. Diederich Brendor gekommen, wer weiß, was dann aus dessen zarter, verwöhnter und zum Freitod entschlossenen Frau Elonie geworden wäre. Tante Beate versteht es mit Geschick und Klugheit ganz schnell und bestimmt zu ar-
rangieren, daß Elonie erst einmal das Haus ihres Gatten verläßt und zu ihr gewissermaßen zur Kur mitfährt. Dr. Diederich Brendor ist damit einverstanden, denn bisher waren alle seine Überlegungen buchstäblich an verschlossene Türen abgeprallt. So gelangt denn das körperlich und seelisch kranke Vögelchen Elonie in eine Familie, in der sich alles nicht nur nach fest geregelten Grundsätzen abspielt, sondern in der auch Freude, Fröhlichkeit und Harmonie herrschen. Und so muß sich Elonie, nach einigen Wochen wieder körperlich gesundet, wohl oder übel in die Gesetze dieser Familie schicken. Hier stellt sich heraus, daß offenbar schwerwiegende Mißverständnisse, Intrigen, die junge Ehe dieser beiden Menschen bis zum Zerreißen zerrüttet haben. Wie aber sollen Brücken gebaut werden…
Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz. Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.), Mühlenstieg 16-22,2000 Hamburg 70, Postfach 70 10 09, Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax (040) 68 28 95 50, Fernschreiber: 213.126 Verantwortlich: Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten. Gesamtherstellung: Norhaven Rotation A/S Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr. Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman. Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßigen Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden. Printed in Denmark.
Mit einem konventionellen Lächeln sah die junge Frau der stattlichen Dame entgegen, die nach Anmeldung des Dieners das luxuriöse Zimmer betrat. Hüben wie drüben ein forschender Blick – und dann umschlang ein Band von Sympathie die beiden ungleichen Frauen. »Seien Sie mir willkommen«, sprach die jüngere zaghaft. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind.« »Wie formell!« lachte die andere. »Den Ton wollen wir erst gar nicht zwischen uns aufkommen lassen, mein Kind. Du bist immerhin die Frau meines Neffen, und ich bin daher die Tante Beate, die sogar auf deiner Hochzeit war.« »Entschuldige, bitte, Tante Beate – aber da waren so viele. Bitte, nimm Platz. Darf ich dir eine Erfrischung anbieten?« »Gegen eine Tasse Kaffee hätte ich nichts einzuwenden«, Frau Beate Norber ließ sich in einen der tiefen Sessel sinken, die den Kamin umstanden. »Es ist so richtiges Hubberwetter draußen, das bis auf die Knochen geht. Da ist ein heißer Kaffee schon angebracht. – Praktisch!« meinte sie, nachdem die junge Frau durch das Haustelefon die Bestellung aufgegeben hatte. »Da braucht man die dienstbaren Geister nicht erst herbeizuklingeln. Du hast es überhaupt wunderschön hier.« »Ja, das habe ich.« Es klang so sonderbar, daß Beate ihr Gegenüber forschend betrachtete. Und was sie da sah, ließ sie betroffen werden. »Bist du krank, Elonie?« fragte sie leise. »Oder hat dein – verzeih – erbärmliches Aussehen einen anderen Grund?« »Nichts von beiden, Tante Beate«, kam es bitter über die zuckenden Lippen. »Ich war und bleibe eben ein verzärteltes Treibhauspflänzchen.« Der Eintritt des Dieners riß Beate aus ihren Gedanken. Er schob den Servierwagen vor sich her – mit einer Miene, die etwas Herablassendes hatte. »Ist gut, Jan, Sie können gehen«, wurde er von der Herrin verabschiedet, die dann den niedrigen Tisch zwischen den Sesseln deckte, ihren Gast aus der Maschine mit Kaffee versorgte und den Teller mit Gebäck vor ihn hinstellte.
»Bitte, Tante Beate, greif zu«, sagte sie mit einem Lächeln, das der menschenkundigen Frau mehr verriet, als viele Worte es vermocht hatten. Hier saß ein Mensch, der Weg und Steg verlor – und den sie spontan in ihr mitfühlendes Herz schloß. »Der Kaffee ist gut«, schlug sie absichtlich einen munteren Ton an. »Wie geht es Diederich?« »Ich weiß es nicht, Tante Beate«, kam es gleichgültig zurück. »Er war vier Wochen unterwegs. Ich glaube, er ist heute nacht zurückgekehrt.« »Aber, aber – hat er dich denn nicht begrüßt?« »Nein.« »Auch heute früh nicht?« »Ich pflege bis elf Uhr zu schlafen.« »Und wer kümmert sich um den Hausstand?« »Ein Phämonen von Hausdame und ein ebensolcher Diener. Sie sind länger als ich in diesem Haus und ihrem Herrn treu ergeben. Iß doch bitte, Tante Beate.« »Nein, mein Kind!« Sie stellte energisch die Tasse auf den Unterteller. »Mir würde der Bissen im Hals steckenbleiben. Denn wer dich früher gekannt hat und dich heute sieht, dem muß sich das Herz krümmen vor Jammer. Wie konntest du nur so herunterkommen!« »Das liegt an mir«, erfolgte die Antwort wie eingelernt. »Zu essen gibt es hier in Hülle und Fülle.« »Und was gibt es noch?« »Alles, was zu einem Luxusgeschöpf gehört. Ein Faulenzerleben, schöne Kleider, Schmuck, Reitpferd, Auto.« »Und einen goldenen Käfig«, Warf Beate trocken ein, »an dessen Stäben du wahrscheinlich so lange gerüttelt hast, bis du erschöpft zusammenbrachst. Du mußt 'raus von hier, Elonie, sonst gehst du ganz kaputt. Halb bist du es nämlich schon.« »Sicherlich legt Diederich es darauf an«, zuckte sie gleichmütig die Achsel. »Dann wird er wenigstens die Last auf anständige Art los, die er sich vor einem halben Jahr in einer Anwandlung von Edelmut aufbürdete.«
»Kind, es ist doch fürchterlich, was du da sagst.« »Aber es ist die Wahrheit, ungetünchte Wahrheit. Denn der reiche Industrielle Diederich Brandor übernahm mit dem verkrachten Konkurrenzunternehmen des Herrn Reigert auch dessen Tochter, dieses von maßloser Elternliebe überzüchtete Treibhauspflänzchen, weil er doch nun mal ein großmütiger Mensch ist.« »Na du, nach Großmut sah es mir bei eurer Hochzeit nicht aus. Man war allgemein der Ansicht, daß der Bräutigam ganz gehörig in seine bezaubernde Braut verliebt sei. Es gab wohl keinen, der nicht eine glückliche Ehe prophezeite.« »Doch, einen gab es.« Die Mundwinkel zogen sich spöttisch nach unten. »Ich habe nämlich selbst gehört, wie ein männlicher Gast zu dem anderen sagte: >Ziemlich gewagt von dem guten Brendor, sich nach all den feurigen Granatblüten seines bewegten Junggesellenlebens eine feine weiße Lilie als Hüterin seines Heims und Herdes zu wählen. Wenn die Ehe man gutgeht. - Damals war ich natürlich empört«, setzte sie hinzu, »doch heute geb' ich dem Mann recht. Und nun wollen wir das Thema fallenlassen, Tante Beate. Es ist unerquicklich und führt zu nichts.« »Also gedenkst du hier immer weiter zu vegetieren. Denn leben kann man das wohl nicht gut nennen.« »Ich will ja auch gar nicht leben.« »Sondern?« »Sterben.« »Großer Gott, Kind, du bist wohl nicht recht gescheit! Dieser Gedanke ist direkt frevelhaft für ein blutjunges Geschöpf.« »Tante Beate, ob man da zwanzig Jahre zählt oder achtzig. Wenn man lebensmüde ist, will man eben sterben. Wäre ich nicht so feige, hätte ich längst diesem Leben ein Ende gemacht, das keinem etwas bedeutet. Aber es wird auch so klappen, denn mein Herz schlägt immer träger.« »Hast du denn einen Herzfehler?« »Wahrscheinlich.« »Was sagt Diederich dazu?«
»Nichts – weil er keine Ahnung hat.« »Elonie, du mußt es ihm sagen.« »Dazu habe ich keine Gelegenheit, weil er sich fast ständig auf Reisen befindet. Und wenn er mal hier ist, steckt er im Werk.« »Hast du wenigstens einen netten Bekanntenkreis?« »Nein.« »Besuchst du Vergnügungen?« »Nein.« »Treibst du Sport?« »Nein.« »Betätigst du dich im Haushalt?« »Nein.« »Ja, um alles in der Welt, womit vertreibst du dir denn die Zeit?« »Ich schlafe lange, lese, musiziere, stümpere ein bißchen Handarbeit und gehe mit den Hühnern zu Bett.« »Und das mit zwanzig Jahren. Kind, du bist mir direkt unheimlich. Könntest du nicht wenigstens in ein Bad fahren, das dir wahrscheinlich notwendig ist?« »Gewiß könnte ich das.« »Und warum tust du es nicht?« »Weil ich nicht will.« Der Fernsprecher schlug an, sie hob den Hörer ab, meldete sich und sprach gleich darauf: »Guten Tag, Diederich. Ja, es geht mir gut. Eine Verabredung hast du für heute abend und ißt daher außerhalb? Wäre mir schon recht. Aber wir haben einen Gast. Tante Beate Norber. Da wirst du dich schon herbemühen müssen. Gut, ich gebe den Hörer an sie ab.« Sie tat es, und Beate sprach: »Jawohl, Diederich, ich bin's höchst persönlich. Ich muß dich sprechen, daher bin ich hier. Nein, am Telefon kann ich dir das nicht sagen, es handelt sich um eine Familienangelegenheit. Du kommst, das ist nett. Tu es aber bald. Ich muß noch heute nach Hause zurückfahren. Also bis nachher.«
Zehn Minuten später trat er ein. Ein Typ von Mann, auf den die Frauen sozusagen fliegen. Hochgewachsen, blond, blauäugig, markantes Gesicht, hartgeschnittener Mund, um den es humorvoll, aber auch ironisch zucken konnte, mit dem herrischen Gebaren des Gebieters und dem Fluidum des Mannes von Welt. Das war der Industrielle Diederich Brendor. Im Werk beliebt, von der Konkurrenz gefürchtet. Artig begrüßte er die Schwester seiner Mutter, für die Gattin hatte er einen ebenso flüchtigen Handkuß wie Blick, was Beate nicht wenig empörte. Diesem arroganten, selbstherrlichen Menschen mal die Meinung sagen zu dürfen, eine wahre Wonne müßte das sein. »Darf ich mich verabschieden, Tante Beate? Hab Dank für deinen lieben Besuch – hoffentlich wiederholst du ihn«, sagte Elonie. Ehe die Dame noch etwas erwidern konnte, war die erschreckend schmale Gestalt verschwunden wie ein Schemen. Mit einem unterdrückten Seufzer wandte sich Frau Norber dem Mann zu, der sich ihr gegenüber niederließ und bedauernd sagte: »Ich habe dich wohl beim Kaffeetrinken gestört, Tante Beate?« »Nein, das hast du nicht«, entgegnete sie kühl. »Laß bitte abräumen, ich genieße sowieso nichts mehr.« Er beordnete den Diener, der lautlos seines Amtes waltete und ebenso lautlos verschwand. Unbehaglich zog Beate die Schultern hoch. »Gräßlicher Kerl«, sprach sie hinter ihm her. »Falsch und hintergründig. Nicht eine Stunde möchte ich ihn um mich haben – na ja – nun paß mal auf, Diederich. Ich bin hier, um mit dir über Tante Henriette zu sprechen. Ist die dir überhaupt ein Begriff?« »Ja. Ein verhutzeltes Weibchen, das ständig Pillen schluckte. Was ist mit ihr?« »Sie ist vor einer Woche gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen. Somit treten die gesetzlichen Erben an – und das sind wir beide.«
»Wieviel Pillen hat sie denn zu vererben?« fragte er lachend, doch sie winkte unwirsch ab. »Laß den Spott, Diederich.« »Aber Tante Beatchen, warum denn so knurrig? Darf ich dir ein Glas Wein anbieten, damit du gemütlich wirst?« »Nein, danke. Laß uns zum Ende kommen, meine Zeit ist knapp bemessen. Es handelt sich nicht um Pillen, sondern um einen Strumpf.« »Um was, bitte?« »Um einen Strumpf«, mußte sie jetzt über sein verdutztes Gesicht lachen. »Um eine Männersocke, grau, selbstgestrickt und mit Goldstücken halb gefüllt. Wir fanden sie im Strohsack. Junge, sieh doch nicht so dämlich drein.« »Du verlangst wahrscheinlich viel von mir, Tante Beate. Welcher Mensch schläft heute noch auf einem Strohsack.« »Henriette tat's, das muß dir genügen. Sie war nämlich sehr konservativ. Trug Kleider aus dem vorigen Jahrhundert und einen Kapotthut.« »Ach du liebes Bißchen! Wie alt war sie denn, als sie starb?« »Vierundneunzig.« »Dann allerdings. Wer hat sie gepflegt?« »Da gab es nichts zu pflegen. Am Abend war sie noch munter wie ein Wiesel, morgens fanden wir sie tot im Bett.« »Beneidenswert. Und was ist nun mit dem Strumpf?« »Der liegt jetzt beim Notar. Gleichfalls eine Zigarrenkiste, in der sich kostbarer Schmuck befindet, und ihr Sparkassenbuch, in dem mehr als fünftausend Mark vermerkt sind.« »Und das alles befand sich im Strohsack?« »Ja. Nun erwartet der Notar die beiden Erben.« »Auch das noch«, hob er abwehrend die Hände. »Hab Erbarmen und verschone mich.« »Das geht nicht, Diederich. Du gehörst nun einmal zu den Erben.« »Hab' ich eben gehört.« Er hielt ihr sein kostbares Zigarettenetui hin. »Danke, ich rauche nicht.«
»Dann darf ich?« »Bitte.« Er steckte eine Zigarette in Brand, legte sich im Sessel zurück, schlug ein Bein über das andere und sah nachdenklich auf die Frau, die wie das blühende Leben vor ihm saß. Groß, kräftig, mit einem vollwangigen Gesicht, hellen, blauen Augen unter blondem Haar, glich sie einer Gestalt aus den alten Sagen. Seine Mutter hatte ganz anders ausgesehen. Zierlich, brünett, mondän. »Nun starr mich nicht so an, sondern entscheide dich«, wurde die Tante nervös. »Wann können wir zusammen zum Notar gehen?« »Ich muß morgen früh wieder eine längere Reise antreten, Tante Beate. Also wird vor Weihnachten kaum etwas aus der Regelung des Nachlasses werden. Aber es eilt damit auch wohl nicht sehr, nicht wahr?« »Nein, obwohl ich es gern recht bald erledigt hätte. Doch deine Zusage ist auch schon was wert. Und die habe ich doch?« »Ja.« »Danke. Es wäre ja nun an der Zeit, mich zur Bahn zu begeben«, stellte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest. »Nun, wenn es einen Zug später wird, schadet es auch nichts. Ich möchte nämlich mit dir über deine Frau sprechen. Fahr nicht hoch, laß mich erst reden! Hinterher kannst du mich meinetwegen zurechtweisen oder auch hinauswerfen. – Diederich, als ich heute Elonie sah, war ich entsetzt, was aus dem strahlendschönen Geschöpf in einem halben Jahr geworden ist. Sie ist krank, ernstlich krank. Und wenn nichts unternommen wird, löscht sie langsam, aber sicher aus wie ein trübes Licht. Hast du denn wirklich nicht gewußt, wie krank sie ist – nicht nur körperlich, sondern auch seelisch?« »Nein«, seine Brauen zogen sich finster zusammen. »Ich habe sie seit einem Vierteljahr kaum zu sehen bekommen. Ich war viel unterwegs, und wenn ich zwischendurch nach Hause kam, stand ich vor verschlossener Tür.«
»Hm. Nun mal eine Gewissensfrage, Died: Hast du deine Frau aus Liebe geheiratet?« »Ja. Aber sie hat es fertiggebracht, die Liebe in mir zu töten.« »Inwiefern?« »Sie verlangte, daß ich ihr ständig am Rock hing, was während der sechswöchigen Hochzeitsreise ja auch der Fall war. Als wir jedoch nach Hause zurückkehrten, konnte ich mich ihr natürlich nicht mehr ausschließlich widmen, da ich ja Besitzer großer Werke bin, um die ich mich kümmern muß. Das sah sie aber um alles nicht ein. Zuerst käme sie und dann das Werk. Zuerst versuchte sie mir das mit Schmeicheln und Betteln klarzumachen. Als das nichts half, gab es Tränen, dann folgten die heftigsten Szenen, die mich allmählich so zermürbten, daß ich förmlich aus dem Hause floh. Die Reise, die ich geschäftlich antreten mußte, hielt sie für eine Ungeheuerlichkeit. Und als ich hoffnungsvoll zurückkehrte, daß die Trennung die kleine Furie zur Vernunft gebracht haben würde, fand ich eine verschlossene Tür, die sich für mich auch nicht mehr öffnete. Das ist, was ich dir zu sagen habe, Tante Beate. Und was ist dir von der anderen Seite zugetragen worden?« Fast wörtlich gab sie es wieder und setzte dann hinzu: »Sie scheint ernstlich auf den Tod zu warten und könnte, wenn sie des Wartens müde ist, durch irgend etwas nachhelfen.« »Ach was, dummes Geschwätz!« »Diederich, ich warne dich, diese schwerwiegende Angelegenheit zu bagatellisieren. Es hat sich schon manch ein Mensch in einem unzurechnungsfähigen Augenblick das Leben genommen. Du mußt mit Elonie sprechen.« »Erst können«, lachte er hart dazwischen. »Dann müßte ich erst die verschlossene Tür einschlagen – denn gutwillig öffnet sie mir diese nicht. Was will sie überhaupt? Geht es ihr hier nicht gut? Sie hat doch alles, was nur ein Mensch haben kann.«
»Nur dich nicht, Died.« »Könnte sie auch haben, wenn sie nicht so entsetzlich halsstarrig wäre.« Als Beate durch die Halle ging, stieß sie auf eine Dame, die sie auf der Hochzeit hier kennengelernt hatte und die ihr schon damals unsympathisch gewesen war. Doch nun sie in das süßlächelnde Gesicht sah, verstärkte sich das Gefühl noch, wurde zur Abneigung. Sie mochte wohl eine hervorragende Hausdame sein – aber bestimmt auch eine solche Intrigantin. »Guten Tag, gnädige Frau«, grüßte das lange, hagere, tadellos gekleidete Wesen katzenfreundlich. »Suchen Sie jemand?« »Ganz recht, die Herrin des Hauses.« »Die wird leider nicht zu sprechen sein.« »Das überlassen Sie gefälligst mir. Ich bin nämlich die Tante der gnädigen Frau, falls Sie das noch nicht wissen sollten.« »O ja, das weiß ich, gnädige Frau.« »Also!« Brüsk wandte Beate sich ab, etwas vor sich hin murmelnd, das ganz nach >ekelhafte Viper< klang. Langsam stieg sie die Treppe hinauf, die mit Läufern belegt war, in denen der Fuß fast versank. Überall, wohin man auch schaute, Glanz und Pracht – und doch war die Herrin all der Herrlichkeit ein armes, bemitleidenswertes Geschöpf, ein flügellahmes Vöglein in einem goldenen Käfig. In der ersten Etage, die viele reichgeschnitzte Türen aufwies, mußte Beate erst an verschiedene klopfen, bis hinter einer eine unwillige Stimme hörbar wurde: »Ich möchte nicht gestört sein.« »Auch nicht von mir, Elonie? Du kannst mich doch nicht wie einen Bettler vor der Tür stehen lassen.« Das half. Ein Schlüssel wurde gedreht, die Tür spaltbreit geöffnet, und flugs schob Beate sich hindurch. »So weit wäre es ja nun geschafft«, bemerkte sie gemütlich, dabei scharf die junge Frau musternd, die zitternd vor ihr
stand, sie mit großen, bittenden Augen ansah. »Verzeih, Tante Beate, ich konnte ja zuerst nicht wissen, daß du es bist.« »Schon gut. Geh ins Bett zurück. Und dann wollen wir beide mal miteinander reden wie Mutter und Tochter. Denn eine Mutter hast du bestimmt nötig, du armes Kind.« Da wandte Elonie sich schweigend ab, legte sich ins Bett, auf dessen Rand die Tante sich niederließ. Ihr Blick schweifte durch das Zimmer, das man mit luxuriös bezeichnen konnte, bis der prüfende Blick an dem Nachttisch hängen blieb, auf dessen Platte er einige Fläschchen und Röhrchen entdeckte. »Großer Gott, Kind, das schluckst du doch nicht womöglich alles?« fragte die Arztfrau entsetzt. »Doch, Tante Beate.« »Also bist du doch nicht zu feige, um dich langsam umzubringen. Aber das werde ich verhindern, verlaß dich darauf.« Damit griff sie nach den Medikamenten, steckte sie in die Handtasche und besah sich kopfschüttelnd das junge Geschöpf, das da halbverhungert in den spitzenüberrieselten Kissen lag. »Armes Ding«, sagte sie mitleidig. »Hast du Vertrauen zu mir?« »Ja, Tante Beate.« »Na, Gott sei Dank, damit ist schon viel gewonnen. Um selbst zu handeln, dafür bist du viel zu elend, daher werde ich es für dich tun. Zuerst kommst du einmal in ein Sanatorium.« »Nein, Tante Beate – nein!« »Ja, warum denn nicht? Da bist du bestimmt besser aufgehoben als hier.« »Aber ich will doch nicht in ein Sanatorium«, wehrte sie sich verzweifelt. »Da käme ich ja nie wieder heraus!« »Nun schlägt's dreizehn. Deine Hirngespinste sind ja noch ärger, als ich dachte. Ein Sanatorium pflegt die Patienten nur so lange zu behalten, wie es erforderlich ist – « » – oder sie ins Irrenhaus zu überweisen.«
»Gott in deine Hände! Elonie, du bist doch nicht allein, du hast doch einen Mann – « » – der mich um alles gern los sein möchte.« Ja, da war die kluge Beate mal erst am Ende mit ihrer Weisheit. Ratlos sah sie auf die junge Frau, die das Gesicht ins Kissen gedrückt hatte und so jammervoll weinte, daß der weichherzigen Beate auch die Tränen kamen. Angestrengt dachte sie nach, wie dem verirrten jungen Menschenkind wohl zu helfen sei. Endlich fiel ihr etwas ein, zu dems sie sich spontan entschloß. Erbarmend umfaßte sie mit beiden Armen den elenden Körper, hob ihn zu sich hoch. »Sei still, Elo«, beschwichtigte sie mit tränendunkler Stimme. »Sei ganz still. Ich nehme dich mit nach Hause. Dort wirst du Menschen finden, denen du vertrauen kannst. Die dich verstehen und liebhaben, du verirrtes Seelchen, du. Paß mal auf: Da hin zuerst einmal ich. Dann Onkel Fritz, ein ebenso guter Mensch wie Arzt. Dann gibt es noch die Itt mit den lachenden Blauaugen und den langen blonden Zöpfen. Zehnjährig, manchmal unartig, aber größtenteils lieb. Unser großer Bengel ist ein lustiger Studiosus, der sich öfter mal zu Hause einfindet, um sich an Mutters Fleischtöpfen gütlich zu tun. Dann ist da Huschchen, ein liebes Altjüngferlein, das alle päppelt und es auch bei dir tun wird, bis du aus allen Nähten platzt. Else, das Hausmädchen, ist fleißig, gut und treu. Dann haben wir noch einen Hund, eine Katze, allerlei Geflügel und das alte Doktorhaus. Es ist längst nicht so pompös wie dieser Palast, aber es ist ein Haus, in dem die Liebe wohnt.« »Ist das auch alles wahr, Tante Beate? Gibt es denn wirklich so was wunderbar Schönes?« »Das Doktorhaus liefert den Beweis.« »Der Student und die Itt, sind das deine Kinder?« »Ja. Knut ist ungefähr so alt wie du, und Birgit ist ein Nachkömmling.« »Und Onkel Fritz?« »Ist der gute Onkel Doktor. Er wird in dem Städtchen verehrt von jung und alt.«
»O Tante Beate, nimm mich mit! Bitte, nimm mich mit. Fahren wir gleich?« »Na, nun mal langsam. Ich muß doch erst bei deinem Mann die Erlaubnis einholen.« »Ach ja – «, ließ Elonie sich entmutigt in die Kissen zurücksinken. »Er wird bestimmt dagegen sein.« »Abwarten. Ich gehe jetzt zu ihm. Indes kannst du dich anziehen.« »So sicher bist du, Tante Beate?« »Jawohl, so sicher.« Wenig später betrat sie das Zimmer, wo der Herr des Hauses ihr skeptisch entgegensah. »Was hast du erreicht?« »Eine ganze Menge.« Sie ließ sich in den Sessel sinken. »Ich habe allerdings etwas getan, bei dem mir jetzt nicht ganz wohl in meiner Haut ist. Es könnte nämlich mit Recht deinen Unwillen erregen.« »Da bin ich aber gespannt.« »Diederich, ich habe Elonie versprochen, sie mit mir nach Hause zu nehmen.« »Das habe ich geahnt«, entgegnete er zu ihrer Überraschung gelassen. »Und Elonie will tatsächlich mit dir gehen?« »Ja. Hast du etwas dagegen?« »Nein. Ich halte es jedoch für meine Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen, daß du mit Elonie einen Störenfried in euer harmonisches Familienleben bringen würdest.« »Inwiefern?« »Weil sie unnachgiebig und eigensinnig ist. Sie wird alle beherrschen wollen, und wenn sie auf Widerstand stößt, wird sie die gleichen Methoden anwenden wie hier: Trotzen, sich einschließen und in den Hungerstreik treten.« »Trotzdem möchte ich es mit ihr versuchen.« »Na schön. Aber – ich habe dich gewarnt. Und wie soll ich mich weiter verhalten?« »Das wird dir Onkel Fritz sagen, der, wie du ja weißt, ein ganz guter Psychiater ist. Und wenn er einen Sanatoriumaufenthalt für erforderlich hält, wird er dafür sorgen, daß
Elonie einer zuteil wird. Sieh dir mal diese Medikamente an.« Sie hielt ihm die geöffnete Handtasche hin. »Die habe ich auf ihrem Nachttisch gefunden. Also darf sie auf keinen Fall immer länger sich selbst überlassen bleiben. Da du nun viel auf Reisen bist und dich daher nicht um sie kümmern kannst, müssen es eben andere tun. Siehst du das wenigstens ein?« »Und ob ich das einsehe«, fuhr er sich nervös durch die Haare. »Ich sehe auch ein, daß Elonie tatsächlich nicht ganz normal sein kann. Sonst könnte sie sich doch unmöglich systematisch zugrunde richten wollen, zumal sie keine Veranlassung dazu hat. Sie vermißt doch nichts.« »Nur ein bißchen Liebe, Diederich.« »Tante Beate«, sagte er zwar gelassen, aber sie merkte ihm an, daß er sich nur mühsam beherrschte, »ich habe sie aus Liebe geheiratet. Ich habe auch nach den Flitterwochen eine Zeitlang ihr zänkisches Wesen, ihre Launen, ihre hysterischen Ausfälle hingenommen – aber ihr ständig am Rock hängen konnte ich nicht. Das durfte ich bei meiner verantwortungsvollen Position nicht. Dann wäre ich ja direkt gewissenlos und nicht meiner bevorzugten Stellung wert.« »Du hast vollkommen recht, Diederich. Aber das nützt dir leider nichts. Du hast nun mal die Torheit begangen, ein von den Eltern vergöttertes Kind zu heiraten und mußt nun so oder so die Konsequenzen tragen.« »Also sei es. Es bleibt mir ja auch nichts anderes übrig, als eure großmütige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich mit meiner Frau nicht fertig werde. Mit der Frau, die einst in mir ihren Heros sah, wie sie immer wieder in ihrer überschwenglichen Art beteuerte. Na, ist ja egal. Wann wollt ihr fahren?« »Möglichst bald.« »Bist du mit dem Auto gekommen?« »Nein, mit der Bahn. Das Auto muß Onkel Fritz jederzeit zur Verfügung stehen. Aber Elonie hat ja wohl ihren eigenen Wagen?«
»Den hat sie. Doch es wäre nicht ratsam, sie in der miserablen Verfassung ans Steuer zu lassen, zumal sie seit Monaten nicht mehr gefahren ist. Der Chauffeur kann euch mit meinem Wagen hinbringen.« »Brauchst du ihn denn nicht?« »Das schon. Da muß ich mich heute eben behelfen, und morgen, wenn ich abreisen muß, sind ja Wagen und Chauffeur wieder zur Stelle.« In dem Moment trat die Zofe ein, die Beate genauso mißfiel wie Hausdame und Diener. »Was wollen Sie, Kathi?« fragte ihr Herr kurz. »Die gnädige Frau läßt fragen, was für Sachen sie einpacken soll.« »Darum werde ich mich kümmern« erklärte Tante Beate unfreundlich. »Sie brauchen dabei nicht zu helfen.« »Du bist ja kurzangebunden«, meinte Diederich unbehaglich, nachdem das Mädchen gekränkt abgewippt war. »Das bin ich immer, wenn ich eine so freche Visage sehe. Ich gehe jetzt, um Elonie beim Packen der notwendigen Sachen zu helfen.« Als sie nach geraumer Zeit zurückkehrte, sagte sie aufatmend: »Das wäre nun auch geschafft. Jetzt möchte ich noch meinen Fritz sprechen, um ihn auf unseren Gast vorzubereiten. Darf ich den Apparat benutzen?« »Selbstverständlich. Warte, ich stelle die Verbindung her.« Wenig später bekam sie den Gewünschten in die Leitung und sagte lachend: »Fritzchen, du brummst ja wie ein mißgestimmter Bär. Paß mal auf: Ich bringe einen Gast mit, Elonie Brendor. Erschrick nicht, wenn du sie siehst, denn sie hat sich sehr verändert, ist das, was du halblebendig nennst. Was ihr fehlt, sollst du feststellen. Jawohl, Diederich ist einverstanden, du kannst da ganz beruhigt sein. Huschchen soll das größere Fremdenzimmer gut lüften und dann die Heizung anstellen. Jawohl, wir brechen bald auf. In Diederichs Auto nebst Chauffeur. Also dann bis bald, Alterchen.«
Sie legte auf und sagte zufrieden: »So, nun wäre auch das erledigt.« »War Onkel Fritz nicht sehr erstaunt?« »Eigentlich nicht. Er wollte nur wissen, ob du mit allem einverstanden bist. Weiß der Chauffeur Bescheid?« »Das Auto steht schon bereit.« Nach einer halben Stunde hatte man die Stadt erreicht, die ungefähr fünfzigtausend Einwohner zählte. Das Doktorhaus lag ein wenig außerhalb. Nicht sehr günstig für einen Arzt. Doch dieser war der Ansicht, daß diejenigen, die Wert auf seine Behandlung legten, ihn schon finden würden, was denn auch der Fall war. Zu ihm kamen mehr Patienten als zu den anderen Ärzten, die ihre Praxis mitten in der Stadt hatten. Frau Norber sagte dem Chauffeur, wie er fahren solle, und so langte man gut und sicher an. Kaum, daß der Wagen hielt, wurde die Tür geöffnet, und eine helle Kinderstimme rief: »Endlich bist du da, Mamilein. Ich wußte vor Ungeduld kaum noch, was ich anfangen sollte.« »Das sieht dir ähnlich, du Firlefanz«, lachte die Mutter dieses reizenden Töchterleins amüsiert. »Wo ist der Papi?« »Hier hängt er.« Mit diesen Worten trat aus der Haustür ein Mann, der mehr einem Landwirt als einem Arzt glich. Groß, breit, mit frischem Gesicht, blondem Schopf und vergnügten Blauaugen, deren Blicke sich nun forschend auf den Gast hefteten, der indes ausgestiegen war. »Guten Abend, Elonie«, grüßte er munter. »Nett, daß du uns besuchst. Sei herzlich willkommen.« Er nahm ihren Arm und zog sie in die Diele, wo ein Airedaleterrier angehetzt kam und der Fremden sein prachtvolles Gebiß zeigte. »Benimm dich, Adolar«, wies Herrchen ihn zurecht. »Das hier ist ein liebes Frauchen, zu dem du freundlich zu sein hast, verstanden?« Als Antwort setzte sich das Stummelschwänzchen in Bewegung, und somit war der Gast gnädig anerkannt.
Jetzt trat auch die Hausherrin ein. Hinter ihr kam der Chauffeur, der zwei große Koffer abstellte und dann Haltung annahm. »Ich möchte mich abmelden.« »So eilig? Wollen Sie nicht noch eine Erfrischung nehmen?« »Besten Dank, Herr Doktor. Ich habe Befehl von meinem Herrn, unverzüglich zurückzufahren.« »Dann allerdings. Befehl ist Befehl.« Er ging mit dem Mann hinaus, und Beate sagte herzlich: »Leg ab, mein Kind. Hat dich die Fahrt sehr angestrengt?« »Ja, Tante Beate. Ich bin eben ein altes Wrack.« »Na, nun wird's Tag«, lachte der Hausherr, der soeben eintrat. »Bist ja noch nicht einmal hinter den Öhrchen trokken, du Heimchen. Gehen wir ins Wohnzimmer, da kannst du in aller Ruhe verschnaufen.« Es war ein weites Gemach, das sie aufnahm. Mit schönen, gepflegten Mahagonimöbeln, weichen Polstern, einem dicken Teppich und ebensolchen Brücken. Im Kamin prasselte helles Feuer, eine Stehlampe erhellte heimelig den Raum. »Wie schön – «, sagte Elonie leise. »Das ist wie ein Nachhausekommen.« »Du bist hier ja auch zu Hause«, sagte Tante Beate herzlich. »Nimm in dem Sessel dort Platz und halte die Hände ans Feuer, sie sind eiskalt.« Als sie saß, schlängelte sich die kleine Tochter des Hauses zu ihr hin und betrachtete sie mit schiefgeneigtem Köpfchen. »Du bist ja noch so schrecklich jung!« platzte sie heraus. »Und hast so einen alten Mann wie Vetter Diederich Brendor. Wie die Mutti mir erzählte, ist er schon dreißig Jahre.« »Also ein Greis«, lachte der Vater, gleich den anderen. »Wie kann man bloß einen so steinalten Vetter haben!« »Dafür bin ich auch ein Nachkömmling der Sippe«, tat sie altklug ab. »Komm, Elonie, zieh die Schuhe aus. Wenn du kalte Hände hast, sind die Füße auch kalt.«
Geschäftig streifte sie der Base die leichten Pumps von den Füßen und bemerkte kopfschüttelnd: »Sind die Fusselchen aber klein, die passen bestimmt in meine Pantoffel. Warte, ich hole sie rasch.« Damit wirbelte sie ab, und die Mutter lachte. »Da hat unsere Itt aber mal was zum Betreuen. Gib uns etwas zur Stärkung, Alterchen. Wir haben sie uns redlich verdient.« Schmunzelnd kam er dem Wunsch nach, nahm wieder Platz und hielt dem Gast das Glas entgegen, in dem es rubinrot funkelte. »Prosit, kleine Elonie. So was frischt wunderbar die Lebensgeister auf. Nicht nippen, sondern trinken. So ist es recht.« Jetzt erschien Birgit wieder auf der Bildfläche, in jeder Hand ein Pantöffelchen tragend, hellblau, mit weißem Pelz verbrämt. »Es sind meine schönsten«, erklärte sie eifrig, vor Elonie niederkniend. »Schlüpf hinein. Bißchen zu klein sind sie, aber das macht nichts. Papi, bekomm' ich auch einen Schluck?« »Dehnbarer Begriff«, meinte er trocken. »Man kann mit einem Schluck nämlich auch das Glas leeren. Wollen mal sehen, wie weit deine Bescheidenheit geht.« Und es war bescheiden – das reizende Mägdlein mit den langen blonden Zöpfen und den leuchtenden Blauaugen, wie ein Prinzeßlein aus dem Märchenbuch war es anzuschauen. Zutraulich setzte es sich auf die Sessellehne zu dem Gast und sagte ernsthaft: »Du siehst blaß aus, Elonie. Aber laß man, bei uns wirst du bald rote Backen kriegen. Nicht wahr, Papi?« »Ehrensache, das bißchen kriegen wir schon hin. Bist du müde, mein Kind?« »Ja, Onkel Fritz.« »Dann husch, husch ins Körbchen. Birgit, du bleibst hier.« Zwar zog die Kleine ein Schnutchen, tat jedoch wie ihr geheißen.
Elonie streifte die Pantöffelchen ab, schlüpfte in die Schuhe, bot leise den Gutenachtgruß und ging mit Tante Beate hinaus. Diese führte sie durch die nett eingerichtete Diele, die breite, reichgeschnitzte Treppe hinauf, deren dicke Läufer die Schritte dämpften. Man gelangte in einen Gang, der zu beiden Seiten weißlackierte Türen aufwies. Eine davon öffnete Beate Norber, knipste das Licht an, und man betrat ein Zimmer, in dem alles licht und hell war. Das breite, weiße Bett mit der lichtgrünen Daunendecke machte einen vielversprechenden Eindruck. »So, Elo, das ist dein Reich«, sagte die Tante munter. »Fühle dich wohl darin!« »Das werde ich bestimmt, Tante Beate. Hab Dank für deine Güte, die ich gar nicht verdiene.« »Das wollen wir erst einmal abwarten. Da stehen ja auch schon deine Koffer. Entnehmen wir einem nur das, was du heute brauchst, alles andere packen wir morgen aus. Setz dich hin, damit du nicht womöglich umfällst. Den Eindruck machst du nämlich.« Elonie ließ sich auf dem Bettrand nieder und sah zu, wie die Tante dem Koffer das Nachtzeug entnahm. Alles sehr elegant, sehr teuer, wie es sich für die Gattin des reichen Brendor gehörte. »So, meine feine Dame, jetzt werde ich mal Zofe spielen. Also heraus aus den Kleidern, das Bad schenken wir uns. Himmel, bist du kalt – wie eine Eisfee. Das kommt davon, weil du zu wenig Blut hast. Da wollen wir mal für künstliche Erwärmung sorgen. Kriech indes unter die Decke, ich bin gleich wieder da.« Sie ging, und als sie zurückkehrte, trug sie ein Tablett, auf dem ein Teller mit einer Butterschnitte und einer Banane stand. Daneben ein Glas mit einem Gemisch aus Pepsinwein, Baldrian und einigen Essenzen. Unter dem Arm klemmte eine Gummiwärmflasche, die Tante Beate der jungen Dame vorsichtig an die eiskalten Füße legte. »Ist sie zu heiß?«
»Nein, danke, sie tut gut.« »Dann ist ja der Zweck erfüllt. Nun sperr mal dein Schnäbelchen auf, damit ich dich atzen kann, du zerpliesertes Vöglein. Hinterher schlürfst du diesen Trank, den der gute Onkel Doktor so wunderbar zu mixen versteht. Danach wird einem so richtig wohl. Und ehe man sich versieht, wechselt man hinüber ins Land der Träume.« Während sie sprach, steckte sie abwechselnd Brot und Banane in den Mund ihres Pfleglings, der zwar widerwillig, aber immerhin schluckte. Hinterher kam der Trank, der sehr bald seine Wirkung tat. In das blasse Gesichtchen stieg ein schwaches Rot, das Spitzengeriesel des Nachtkleides erzitterte unter tiefen Atemzügen. Elonie Brendor schlief so ruhig, wie sie es wohl schon lange nicht mehr getan hatte. Beate knipste die Nachttischlampe aus und verließ leise das Zimmer. Als sie in der Diele war, rief der Gong zum Abendessen. Die Familie fand sich im Speisezimmer zusammen, das mit seinen geschnitzten, schweren Möbeln einen wohlhabenden Eindruck machte. Man sprach zwar über den jungen Gast, hielt sich jedoch zurück, da die aufgeweckte Birgit dabei war. Wie sagt doch der Volksmund? Kleine Kessel haben auch Ohren. Erst als diese außer Hörweite waren, machte Huschchen ihrem bedrängten Herzen Luft. Zwar hatte sie Elonie nur flüchtig gesehen, wußte jedoch von Frau Beate, wer sie war, die Gattin des reichen Brendor, den sie von den früheren Besuchen im Doktorhaus kannte. »Da hat der Mensch nun Geld wie Heu, und seine Frau sieht aus, als könnte man ihr jeden Augenblick die Augen zudrücken«, sagte sie bekümmert. »Wie kann ein Mann seine Frau nur so verkommen lassen!« »Sie ist nicht verkommen, sie ist krank«, klärte der Arzt sie auf. »Da der vielbeschäftigte Brendor viel auf Reisen sein muß, hat er seine Frau zu uns geschickt, damit sie sich bei ihrem elenden Körperzustand nicht allein überlassen bleibt. Kapiert, Huschchen?« »Ach, so ist das, Herr Doktor. Na, Sie werden das arme Ha-
scherchen bald gesund machen, und ich werde es pflegen. Wenn der Herr Gemahl kommt, soll er sein Frauchen nicht mehr wiedererkennen.« Mit dieser Zuversicht im Herzen huschte sie ab, und das Ehepaar ging ins Wohnzimmer hinüber, wo man zuerst immer noch nicht freiweg reden konnte, weil der >kleine Kessel< auch hier dabei war. Erst als er sich auf die allzeit gespitzten öhrchen gelegt hatte, brauchte man kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen. Beate erzählte, schilderte alles anschaulich und ausführlich. Aufmerksam hörte der Gatte zu, dabei sein Abendpfeifchen schmauchend. »Jetzt weißt du Bescheid«, schloß sie ihren Bericht. »Jetzt schilt mich aus, daß ich über deinen Kopf hinweg einen Menschen ins Haus gebracht habe, der uns wahrscheinlich viel zu schaffen machen wird.« »Warum soll ich schelten? Ich hätte genauso gehandelt wie du.« »Da bin ich aber froh. Was für einen Eindruck hast du von Elonie?« »Ein junges, haltloses Menschenkind, das Weg und Steg verlor.« »Genau diesen Gedanken hatte ich auch, als ich sie sah. Diederich hätte seine Frau nicht so viel allein lassen dürfen, hätte sie wenigstens ab und zu auf seinen Reisen mitnehmen müssen – – « »um sich auch da noch von der hysterischen kleinen Person die Hölle heiß machen zu lassen«, warf er trocken ein. »So ein vielbeschäftigter Mann auf einem so verantwortungsvollen Posten sollte nie ein von den Eltern vergöttertes Mädchen heiraten, das sich selbst anbetet. Diese Abgötter können zu kleinen Teufel werden, wenn sich nicht alles ausschließlich um ihre werte Person dreht. Wenn sie mit ihren Szenen nichts erreichen, fangen sie an zu trotzen. Es wundert mich gar nicht, daß Elonie die Tür vor dem Gatten verschloß und in den Hungerstreik trat. Solche Herzchen sind mir aus meiner Praxis wohlbekannt. Es geht ihnen zu gut. Das wird ihnen zum Verhängnis, das größtenteils zur
Ehescheidung führt. Und ich fürchte, daß es auch hier der Fall sein wird.« »Nun aber mal aufgewacht, du Murmeltierchen!« riß eine Stimme Elonie Brendor aus dem Land der Träume in die Wirklichkeit. Die Augen öffneten sich, schauten verwirrt umher und blieben dann an der Tante hängen, die vor dem Bett stand. »Na endlich!« sagte sie lachend. »Ermuntere dich, die Zeit deines täglichen Erwachens ist da, das Frühstück wartet.« »Ist es denn tatsächlich schon elf Uhr?« »Sogar schon darüber hinaus. Rappel dich mal hoch.« Sie tat es und sah abweisend auf das Tablett, das die Tante ihr zuschob. »Das kann ich unmöglich alles essen.« »Du wirst es essen, mein Herzchen. Zwei Tassen Kaffee und zwei Brötchen sind zum Frühstück wahrlich nicht zuviel.« »Tante Beate – bitte!« »Nichts da, hier wird Order pariert.« So blieb denn Elonie nichts anderes übrig, als alles aufzuessen. Satt wie schon lange nicht mehr, ließ sie sich zurückfallen, und die Tante nickte zufrieden. »Na also. Nun verpuste dich ein wenig, und dann steh auf. Mußt dich allerdings allein ankleiden, du verwöhntest Prinzeßchen, eine Zofe gibt es hier nicht. Das Bad liegt deinem Zimmer gegenüber.« Ihr aufmunternd zunickend, nahm sie das Tablett, das sie dann in der Küche ablieferte. Sie ging dann ins Wohnzimmer, wo der Gatte sie schmunzelnd empfing. »Hast du mit deinem Samariterwerk bereits begonnen, du resolute Frau mit dem weichen Herzen? Wird wohl ein schwieriges Amt werden, wie?« »Das glaube ich noch nicht einmal«, meinte sie zuversichtlich. »Die Kleine scheint Respekt vor mir zu haben, und das ist schon viel wert. Was hast du da für einen Zettel in der Hand?« »Diederich rief an und gab mir seine erstmalige Reiseroute bekannt, die ich hier notierte. Wenn die überholt ist, dann
meldet er sich wieder, damit wir immer wissen, wo wir ihn auf alle Fälle erreichen können. Nimm bitte den Zettel an dich, weil du es ja sein wirst, der mit ihm in Briefwechsel tritt.« »Der Not gehorchend!« Sie schnitt eine Grimasse. »Was sagte der hohe Herr sonst noch?« »Nichts Besonderes. Er bedankte sich dafür, daß wir seiner Frau so großmütig Gastfreundschaft gewähren. Wie geht es ihr?« »Ich mußte sie nach elf Uhr aufwecken, so fest war der Schlaf nach deinem altbewährten Schlaftrunk.« »Hat sie etwas gegessen?« »Sie wollte nicht, aber sie mußte. Denn gute Pflege ist meiner Ansicht nach die Hauptsache.« »Da hast du recht. Und soweit ich dich kenne, wird es dir gewiß gelingen, deinen Pflegling hochzupäppeln.« »Wie ist es nun mit unserer lebhaften Itt? Soll ich sie Elonie fernhalten?« »Nein, laß das Kind ruhig gewähren. Wenn wir Rücksicht auf sie nehmen, machen wir sie ja auch hier zur Hauptperson, um die sich alles dreht – und das muß unbedingt vermieden werden. Dieses von den Eltern vergötterte Geschöpf muß endlich erkennen lernen, daß es auch andere Götter neben ihm gibt. Du verstehst doch, wie ich es meine?« »Ja, Fritz, ich werde mich danach richten.« »In Ordnung, Liebste. Ich mache jetzt zwei Krankenbesuche und hoffe, mich pünktlich zu Tisch einzufinden.« Adolar lag zu Frauchens Füßen und schnarchte. Die Katze Rosamunde mit dem schneeweißen Fell, dem schwarzen Stern am Hals und den schwarzen Pfötchen, saß auf dem breiten Fensterbrett unter den blühenden Topfblumen und wusch sich, dabei behaglich schnurrend. Von der Fahrstraße, die in einem Abstand von ungefähr fünfzig Meter am Haus vorüberführte, klang das Getöse der Laster nur gedämpft in das friedliche Gemach, das Elonie eine Weile später betrat.
»Da bist du ja!« empfing die Tante sie freundlich. »Nimm Platz. Einigermaßen ohne Bedienung ausgekommen?« »O ja, Tante Beate.« Sie streichelte den Hund, der aufgesprungen war und sich nun zutraulich an ihr Knie schmiegte. »Ich habe sogar schon die Koffer ausgepackt und die Sachen eingeräumt.« »Für deine Verhältnisse immerhin eine Leistung. Erschrick nicht, hinter dir auf der Sessellehne sitzt Rosamunde.« »Wer ist denn das?« »Schau dich um, dann wirst du es wissen.« »Oh, eine Katze, wie reizend. Ob sie mich mag?« »Sicherlich. Sonst hätte sie dich gemieden. Siehst du, jetzt klettert sie gar noch auf deinen Schoß und schnurrt. Einen größeren Sympathiebeweis kannst du wohl nicht verlangen.« In dem Moment trat Birgit ein – und schon kam Leben in die Bude. »Tagchen auch, Elonie!« rief sie strahlend. »Und Rosamunde sitzt auf deinem Schoß? Du, darauf kannst du dir aber was einbilden. Sie ist sonst sehr scheu Fremden gegenüber. Aber du bist ja auch keine Fremde, du gehörst zur Sippe.« Die Mappe flog auf einen Stuhl, Mantel nebst Mütze folgten – und dann senkte das Mägdlein unter dem strafenden Mutterblick beschämt den Kopf. »Ist ja schon gut, Mutti«, brummte es, trug die Sachen hinaus, und Frau Beate lachte. »Sie versucht es immer wieder, obwohl sie weiß, daß sie damit nicht durchkommt. – Da bist du ja wieder, du Tunichtgut. Ich schau mal nach, wie weit Huschchen mit dem Essen ist. Unterhalte indes Elonie, aber fall ihr dabei nicht auf die Nerven.« Eingedenk der Mahnung hielt die kleine Plaudertasche ihr Zünglein zuerst noch im Zaum. Doch so nach und nach ging es durch. Sie fragte der Base die Seele aus dem Leibe, bis der Eintritt des Vaters dem ein Ende machte. »Da bist du ja, Fritz«, sagte die Hausfrau, als sie hinzutrat. »Wunderbar, da können wir gleich essen.«
Das Mahl bestand aus drei Gängen und war vorzüglich zubereitet. Zuerst hatte Elonie das Gefühl, nicht einen Bissen herunterzukriegen. Doch allmählich aß sie sich gewissermaßen ein, und zuletzt schmeckte es ihr sogar. Es berührte sie wohltuend, daß keiner ihr etwas aufnötigte, sondern sie gewähren ließ. Selbst Birgit machte keine Bemerkung, wie sie ja überhaupt nicht in die Unterhaltung der Erwachsenen dreinreden durfte, was der kleinen Plaudertasche sichtlich schwerfiel. Erst beim Nachtisch erhielt sie vom Vater Redeerlaubnis, die sie dann weidlich ausnutzte. Nach dem Essen ging man in ein kleines trauliches Gemach, wo man den Mokka zu trinken pflegte, von dem Birgit natürlich ausgeschlossen war. Aber auch Elonie wurde er von dem Arzt verboten, was sie zu Widerspruch reizte. »Den Mokka darfst du mir nicht verbieten, Onkel Fritz. Er ist das einzige, was mich hochhält – « » – und den du daher kannenweise getrunken hast«, warf er trocken ein. »Kein Wunder, daß deine Nerven so zerrüttet sind. Sieh zu, daß sie in Ordnung kommen, dann wird ein Täßchen Mokka nach Tisch dir gewiß nicht schaden. Eine Zigarette doch sei dir bewilligt.« »Danke – «, lehnte sie schroff ab. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen, wie sie es von Hause aus gewohnt war, sofern man ihrem starren Willen Widerstand entgegenzusetzen wagte. Hier wagte sie das denn doch nicht – und war somit gezwungen, sich zum erstenmal in ihrem verwöhnten Leben Selbstbeherrschung aufzuerlegen. Das Ehepaar wußte wohl, was in ihr vorging. Selbst das zehnjährige Kind ahnte etwas davon. Doch bevor es noch eine unangebrachte Bemerkung machen konnte, stand der Vater auf. »Da nichts Besonderes vorliegt, darf ich mir erlauben, mich für ein Stündchen aufs Ohr zu legen. Und du, kleiner Spatz, machst dich an deine Schularbeiten.«
»Och, Papi, ich muß mich erst noch erholen.« »Wovon denn?« »Von den anstrengenden Schulstunden. Die greifen nämlich die Nerven an – und nicht zu knapp.« »Nun, soviel werden sie schon noch hergeben«, sprach er todernst, während es ihm verdächtig um Mund und Augen zuckte. »Wenn du mit den Aufgaben fertig bist, legst du dich hin und schonst deine angegriffenen Nerven. Mutti gibt dir einen Löffel Lebertran.« »Papichen, so arg ist es nun auch wieder nicht«, unterbrach sie ihn hastig. »Ich glaube, ich werde es auch ohne das schaffen.« Weg war sie, und ihre Eltern lachten sich an. »Mit dem Trick kommt sie nicht mehr«, meinte er gemütlich. »Wie ist es, Elonie, willst du nicht auch ein Mittagsschläfchen halten?« »Nein, Onkel Fritz. Ich könnte ja doch nicht schlafen, und ruhen kann ich auch im Sessel.« »Wie du willst. Also gehabt euch wohl. Nach einer Stunde erscheine ich wieder auf der Bildfläche.« Vergnügt vor sich hin pfeifend ging er davon, und Elonie sagte hastig: »Wenn du auch ein Mittagsschläfchen halten willst, Tante Beate, dann laß dich durch mich nicht aufhalten.« »Das würde ich auch gewiß nicht tun«, kam es freundlich zurück. »Aber ich schlafe mittags nie, da ich ja nachts ungestört schlafen kann, während Onkel Fritz so manches liebe Mal hinaus muß. Da schläft er denn, sofern es möglich ist, über Mittag ein Weilchen. Aber wie gesagt, sofern es möglich ist. Wenn er dringende Krankenbesuche zu machen hat, muß er auf den Mittagsschlaf eben verzichten.« »Da hast du wohl nicht viel von deinem Mann?« »Je nachdem. Im Sommer zum Beispiel, wenn viele seiner Patienten verreist sind, kann er sich seiner Familie sogar mehr widmen als einer, der feste Dienststunden hat. Der kann ja seiner Frau auch nicht ständig am Rock hängen, muß ja schließlich seinem Beruf nachgehen, muß Geld
verdienen. Denn wovon soll der Schornstein rauchen!« setzte sie lachend hinzu. »Wenn der Mann durch seine Arbeit den Herd nicht schürt, dann bleiben ihm nebst seiner Familie die Füße kalt, und der Magen bleibt leer. So ist es von jeher gewesen und wird immer so bleiben.« »Sag mal, Tante Beate«, Elonie zupfte an ihrem Taschentuch herum, »wird dir eigentlich nie die Zeit lang?« »Nein, mein Herzchen. Für mich ist manchmal noch der Tag zu kurz.« »Ja – ach so – hat Onkel Fritz seine Praxis in der Stadt?« »Nein, hier im Haus. In einem kleinen Anbau mit separatem Eingang. Er selbst kann sein Sprechzimmer von der Diele aus erreichen.« »Tante Beate, darf ich weiter fragen?« »Man immer zu. Was willst du wissen?« »Wie kommt es, daß du so ganz anders bist und aussiehst als meine Schwiegermutter. Sie lebte zwar nicht mehr, als ich heiratete, aber ich kannte sie früher von den Geselligkeiten her. Wie können Schwestern nur so verschieden sein!« »Ganz einfach, mein Kind. Ich gleiche dem Vater, sie glich der Mutter. Das heißt: nur im Aussehen, im Wesen war sie anders. Denn mein liebes Mamachen war ein richtiges Hausmütterchen, das nur für Mann und Kinder lebte, während Rena ohne den gesellschaftlichen Klimbim einfach nicht leben konnte. Und da ihr Mann genauso geartet war, standen sie sich in nichts nach.« »Sind sie oft hier gewesen?« »Nicht oft, dazu fehlte es ihnen an Zeit. Außerdem paßten wir nicht so ganz zu diesen reichen, exklusiven Leuten. Zogen uns daher immer mehr von ihnen zurück.« »Auch von Diederich?« »In seinem ersten Jahrzehnt hatten wir ihn öfter mal hier. Doch dann kam er ins Internat, studierte, ging anschließend auf Reisen, so daß wir kaum noch mit ihm zusammentrafen. Auf den Begräbnissen seiner Eltern, sowie auf seiner Hochzeit, die wir ja wohl oder übel als nahe Ver-
wandte mitmachen mußten, sprachen wir uns auch nur flüchtig, und so entfremdeten wir uns schließlich ganz.« »Und warum suchtest du ihn gestern auf?« Als Elonie es wußte, sagte sie leise: »Diese Tante Henriette soll gesegnet sein. Denn ohne die Notwendigkeit, ihre Hinterlassenschaft zu regeln, wärst du nicht zu Diederich gekommen, hättest mich nicht mitgenommen – und ich hätte weiter dieses furchtbare Leben führen müssen – das Leben der Verlassenheit.« Mit einem harten Aufschluchzen drückte sie das Gesicht in die Hände, die vor Erregung nur so flatterten. Schon war Beate bei ihr und schloß sie mütterlich in die Arme. »Du darfst jetzt nicht mehr daran denken, hörst du, Elonie?« sagte sie eindringlich. »Du sollst nur daran denken, körperlich sowie seelisch wieder hochzukommen. Dann wirst du alles mit ganz anderen Augen ansehen. Wirst vielleicht über das lächeln, was du jetzt so tragisch nimmst. Und wenn du mal wieder so richtig lachen kannst, wie es sich für ein so junges Menschenkind gehört, dann wirst du auch wieder das Leben lebenswert finden.« Allein bis dahin sollten noch Wochen vergehen, denn eine so schwere Nervenkrise ist natürlich nicht von heut' auf morgen behoben. Auch nicht ein so elender Körperzustand. Also ging Frau Beate erst einmal daran, ihren Pflegling aufzupäppeln, der zuzeiten recht widerspenstig sein konnte, was jedoch in aller Gelassenheit ignoriert wurde. Das eigenwillige Personellen mußte außer den Mahlzeiten auch noch die Stärkungsmittel nehmen, die der Arzt verordnete. Der Erfolg blieb dann auch nicht aus. Das hagere Gesichtchen begann sich zu runden und bekam Farbe. Die matten, verschleierten Augen belebten sich, wurden leuchtender mit jedem Tag. Die eckigen Körperformen wurden zur grazilen Schlankheit, und selbst das stumpfe Haar sprühte auf in metallischem Glanz. Auch in ihrem Wesen ging eine tiefeinschneidende Veränderung vor. Langsam taute sie aus ihrer starren Zurückhal-
tung auf, ging mehr und mehr aus sich heraus. Als sie zum erstenmal hell herauslachte, erschrak sie selbst darüber. Jedenfalls erkannte man nach sechs Wochen das erbarmungswürdige, mit sich zerfallene Menschenkind nicht wieder, als das Beate Norber es ins Haus gebracht hatte. Es war kurz vor Weihnachten, als Elonie das Wohnzimmer betrat, in dem das Ehepaar geruhsam saß. Weich umschloß der Nerz die grazile Gestalt, unter dem Pelzmützchen ringelten die gleißenden Locken hervor. Die Augen strahlten, der Mund lachte. »Wir gehen zum Weihnachtsmann«, verriet Birgit, die vor Aufregung zappelte. »Komm endlich, Elo, damit ich dir zeigen kann, was ich im Schaufenster für – « Schon hielt Elonie ihr den Mund zu, zog sie mit sich fort, und die Gatten sahen ihnen lachend nach. »Kaum zu glauben, was aus dem halblebendigen Dinglein geworden ist«, sagte der Mann, behaglich dabei sein Pfeifchen schmauchend. »Daß sie sich in dieser Umgebung körperlich wie seelisch erholen würde, daran hegte ich von vorneherein keinen Zweifel. Aber daß sie sich so prachtvoll herausmachen würde, das überrascht mich denn doch. Und das ist dein Werk, liebste Frau. Hast du eine Ahnung, wie stolz ich auf dein Werk bin, das du da vollbracht hast.« »Das ist ja nun übertrieben!« Sie errötete unter seinem liebevollen Blick wie ein junges Mädchen. »Was hab' ich schon viel getan? Ich habe diesem jungen Geschöpf die Nestwärme gegeben, die es immer noch braucht und die ihm trotz aller Vergötterung auch im Elternhaus fehlte. Elonie hat gefroren, und jetzt ist ihr warm. Das ist alles.« »Jedenfalls hast du dir Gotteslohn um sie verdient«, beharrte er. »Denn ohne dein Eingreifen wäre sie verkommen, was der Herr Gemahl vielleicht gar nicht weiter tragisch genommen hätte.« »Das können wir nicht beurteilen, Fritz. Dafür kennen wir ihn zu wenig. Übrigens bekam ich mit der Morgenpost einen Brief von ihm, in dem er seinen jetzigen Aufenthaltsort angab. Er befindet sich in Andalusien.«
»Also mittenmang so feurige Granatblüten«, bemerkte er trocken. »Was schreibt er sonst noch?« »Hier liegt der Brief.« Nachdem er ihn gelesen hatte, erklärte er ironisch: »Gar wohlgesetzte Worte. Na ja: Worte sind der Seele Bild.« »Demnach scheint er eine korrekte Seele zu haben«, lachte sie. »Laß gut sein, Alterchen. Uns tut es nicht weh – und Elonie auch nicht. Ich habe so den Eindruck, als ob sie mit ihm fertig ist; denn sie erwähnt ihn nie. Daß sie um ihn Kummer trägt, ist kaum anzunehmen. Ich glaube, sie wird ihm jetzt ganz gehörig ihre Zähnchen zeigen und nicht einfach resignieren, wie sie es getan hat.« »Hoffentlich kauft Elonie keine großartigen Geschenke.« »Na, wenn schon! Wie sie mir neulich erzählte, erhält sie von Diederich ein sehr nobles Nadelgeld, das er monatlich auf ihr Konto überweist. Da sie seit Monaten nichts mehr abgehoben hat, weil sie in ihrer Einsiedelei nichts brauchte, ist eine stattliche Summe zusammengekommen. Nun wird sie sich für genossene Gastfreundschaft hier revanchieren wollen. Also lassen wir sie gewähren, es trifft ja keinen Armen.« »Ob sie auch an ein Geschenk für ihren Mann denken wird?« »Das glaube ich nicht. Sie könnte es ihm ja gar nicht zukommen lassen, da sie nicht weiß, wo er sich zur Zeit befindet. Denn daß er mit uns in Verbindung steht, davon hat sie keine Ahnung. Sie erwähnt ihn überhaupt nicht. Tut so, als ob er gar nicht existiert.« »Kaum zu glauben, daß zwei Menschen, die sich in Liebe fanden, sich so sehr auseinanderleben können.« In dem Moment stürmte Birgit herein und brachte einen Hauch von kalter Winterluft mit. Die Wangen waren vom Frost gerötet, die Augen blitzten. »Ich will euch rasch was erzählen, bevor Elonie kommt.« Sie senkte die Stimme zum Flüsterton. »In einem Geschäft trafen wir eine Dame, die Elo beide Hände entgegenstreckte. Doch diese wich zurück, stand steif wie ein Stock da
und sah die Dame an – ich glaube, man nennt so was verächtlich.« »Sagte die Dame denn etwas?« fragte die Mutter interessiert. »O ja«, flötete die Kleine so süß, daß die Eltern kaum das Lachen zurückhalten konnten: »So sagte sie: >Liebe gnädige Frau, welch eine Freude, Sie wiederzusehen. Kann ich etwas für Sie tun?< >Ja< – sagte die Elo, so wie man mit einem spricht, vor dem man sich ekelt. >Sie können etwas für mich tun, Fräulein Böse – mich nicht belästigen!< Dann ließ sie die Dame einfach stehen und ging mit mir fort. Sie sah so verärgert aus, daß ich gar nicht zu fragen wagte, wer die Dame war.« »Womit du recht tatest, Birgit«, fiel der Vater ihr ins Wort. »Das ist eine Angelegenheit, die Elonie allein angeht. Erwähne die Dame nicht mehr, hörst du?« »Aber ja doch, Papichen, ich werde es bestimmt nicht tun. Ich geh' jetzt, um den Einkauf zu verstecken. Was hab' ich bloß für eine Freude!« Damit wirbelte sie ab, und Beate sah den Garten vielsagend an. »Ich glaube, bei dieser widerwärtigen Person liegt der Schlüssel zu der Entfremdung der jungen Gatten. Weil sie auch nach der Verheiratung ihres Brotherrn weiter Alleinherrscherin sein wollte, wird sie gegen die Hausherrin auf raffinierteste Art intrigiert haben, um sie sozusagen herauszubeißen.« Da es vor Weihnachten im Doktorhaus noch alle Hände voll zu tun gab, half Elonie fleißig mit. Jetzt war sie dabei, die große Tanne zu schmücken, wobei Birgit ihr eifrig half. Der Sohn des Hauses, der gestern angekommen war, bot zwar auch seine Hilfe an, die man jedoch ablehnte, weil der übermütige junge Mann ja doch nur Schabernack getrieben hätte. So begnügte er sich damit, eßbaren Baumschmuck zu stibitzen, die beiden Emsigen zu necken, Schnurren und Späßchen vorzutragen, so daß man aus dem Lachen nicht
herauskam. Als sein Repertoire erschöpft war, ging er nach der Küche, wo er solange Unfug trieb, bis Huschchen ihn kurzerhand hinauswarf. Schließlich landete er in dem kleinen Zimmer, wo die Mutter dabei war, die vielerlei Geschenke zu sortieren. »Hier ist Eintritt verboten!« rief sie ihm zu, doch er hob ihr flehend die Hände entgegen. »Hab du doch wenigstens mit deinem Kronensohn Erbarmen, geliebte Mutz. Er hat nirgends eine bleibende Stätte, überall wirft man ihn hinaus.« »Dann bleib schon hier«, wurde ihm gnädig gestattet. »Setz dich hin, aber halt mich nicht von der Arbeit ab.« Also ließ er sich auf dem einzigen Stuhl nieder, der unbelegt war, und sagte bewundernd: »Das ist hier ja das reinste Warenlager. Findest du dich da überhaupt durch?« »Wenn du mir nicht alles durcheinanderbringst, dann ganz bestimmt. Gieß dir einen Schnaps ein und rauch eine Zigarette.« Was er mit dem größten Vergnügen tat. Ein Weilchen sah er der geschäftigen Mutter zu, dann sagte er versonnen: »Die Elonie ist doch ein verflixt hübsches Frauenzimmer.« »Knut!« unterbrach die Mutter ihn ärgerlich. »Einen derartigen Ausdruck möchte ich nicht noch einmal hören.« »Na, Mutz, so arg ist er nun auch wieder nicht«, brummte er mit rotem Kopf. »Dann ist sie eben ein schönes Mädchen.« »Mädchen pflegen nicht verheiratet zu sein.« »Bist du aber penibel. Schön, nehme ich den dritten Anlauf: Elonie ist eine bezaubernd schöne Frau, über deren Anblick ich nicht wenig erstaunt war. Denn gemäß deines Briefes habe ich ein halbverhungertes Wesen erwartet.« »War sie auch, als ich sie Anfang November hierherbrachte. Gute Pflege und Nestwärme haben sie zu dem gemacht, was sie heute ist.« »Und ihr Mann? Kümmert er sich etwa nicht um sie?«
»Um sie direkt nicht. Er läßt uns nur immer wissen, wo er sich zur Zeit befindet.« »Die Ehe scheint ja ganz nett zu wackeln. Und wenn sie in die Brüche geht, was wird dann aus Elonie?« »Die bleibt bei uns.« »Na großartig. Gegen so eine Schwester hätte ich nichts einzuwenden.« »Dann sind wir uns ja einig, mein Sohn. Leg mal die Handtasche weg. Sonst knipst du solange an dem Schloß herum, bis es kaputt ist. Schau mal nach, was der Vater macht. Das dürfte einen Medizinstudienten doch interessieren.« »Kann ich nicht, ich muß gleich zum Rendezvous.« »Du meine Güte! So richtig unter der Normaluhr?« fragte sie lachend, und er schlug sich an die Brust. »Ehrensache!« »Darf ich wissen, wer die Auserkorene ist?« »Du kennst sie nicht, Mutschechen.« »Ist sie hübsch?« »Solala. Sie hat krumme Beine und schielt.« »Jetzt mach aber, daß du rauskommst, du Schlingel!« drohte sie, worauf er sie umfaßte, einen Kuß auf ihre Wange drückte und dann lachend entschwand. Mit Mutterstolz sah sie ihm nach. Er war schon in Ordnung, der Junge. Wenn er so blieb, konnte sie mit ihm zufrieden sein. Denn bis jetzt hatte er den Eltern noch keine Sorgen gemacht. Das Mittagsmahl wurde heute schneller als sonst eingenommen. Dann ging man wieder an die Arbeit und war bis zum Kaffee mit den Vorbereitungen fertig. Doch noch während man ihn trank, wurde der Arzt vom Krankenhaus angerufen. »Ja, Kinder, da hilft nun nichts«, sagte er bedauernd. »Haltet den Daumen, daß ich bald wieder hier bin. Willst du mitkommen, Knut?« »Mit Vergnügen kann man in diesem Fall wohl nicht sagen. Also denn: Ich bin bereit.« Nachdem die beiden gegangen waren, begann für die Zurückbleibenden eine Wartezeit, die sie auf eine harte Probe
stellte. Hauptsächlich für das aufgeregte Kind, das sich immerhin leidlich genug hielt. Und als die Ersehnten dann endlich erschienen, mußte erst noch das Abendessen eingenommen werden, mit dem Huschchen sich so viel Mühe gemacht hatte. Man durfte sie nicht kränken. So wurde es acht Uhr, bis endlich mit der Bescherung begonnen werden konnte. Allein auch dann gab es noch eine Unterbrechung. Denn als man gerade die Kerzen am Baum entzündet hatte, schrillte die Haustürklingel, was allgemeine Bestürzung hervorrief. Sollte am Ende auch jetzt noch der Arzt fortgeholt werden? »Laß nur, Else«, winkte dieser ab, als das Hausmädchen gewohnheitsmäßig zur Haustür eilen wollte. »Ich sehe selbst nach.« Er ging, und die Zurückbleibenden hielten lauschend den Atem an. Und was sie dann durch die offene Tür vernahmen, überraschte sie nicht wenig. »Diederich – du- ?« hörten sie den Hausherrn sagen. »Na, das ist mal eine Überraschung. Tritt ein, kommst gerade zur Bescherung zurecht.« »Habt ihr die noch nicht hinter euch, Onkel Fritz?« »Nein.« »Dann möchte ich nicht stören.« »Unsinn!« schnitt ihm der Onkel das Wort ab. »Von stören kann gar keine Rede sein. Komm, leg ab. Bist ja mit Päckchen beladen wie ein Weihnachtsmann.« Jetzt waren Birgit und Knut nicht mehr zu halten. Sie eilten davon, um den unverhofften Gast zu begrüßen. Auch die Mutter wollte folgen, verhielt jedoch den Schritt, als ihr Blick auf Elonie fiel, die stocksteif dastand, blaß bis in die Lippen. Als Frau Beate den Arm um sie legte, merkte sie, wie sehr die junge Frau zitterte. »Jetzt mal Haltung, Elonie. Oder willst du uns allen die Weihnachtsfeier verderben?« »Nein, Tante Beate – nein!« »Na siehst du. Brauchst nichts weiter zu tun, als deinen
Mann freundlich zu begrüßen. Alles andere findet sich dann von selbst.« Mehr konnte sie nicht sagen, da die anderen sichtbar wurden. Der Gast legte die Päckchen ab, trat auf sie zu und neigte sich über ihre Hand, die sie ihm bot. »Verzeih mein formloses Eindringen, Tante Beate«, klang seine sonore Stimme auf. »Ich nahm an, daß um diese Zeit die Bescherung vorüber sein müßte, sonst wäre ich nicht gekommen.« Langsam wandte er sich seiner Gattin zu – und in seinen Augen blitzte es überrascht auf. Zwar hatte die Tante ihm in ihren kargen Berichten mitgeteilt, daß Elonie sich gut herausgemacht hätte, doch daß es so grundlegend geschehen war, damit hatte er nicht gerechnet. »Guten Abend, Elonie«, begrüßte er sie freundlich. »Ich freue mich, dich so frisch und munter vor mir zu sehen. Ganz wunderbar hast du dich herausgemacht.« »Das hat sie«, bestätigte der Arzt schmunzelnd. »Und nun wollen wir zusehen, daß wir endlich zu unserer Bescherung kommen.« Birgit sagte zuerst das obligate Weihnachtsgedicht auf, durch das sie leidlich kam, weil Elonie hinter ihr stand und soufflierte. Dann machte sich das reizende Persönchen wichtig, indem es am Flügel Platz nahm und sich umständlich zurechtsetzte. Zuerst wollten die Fingerchen nicht so recht, griffen ständig daneben, bis sie sich beruhigt hatten und fast fehlerfrei über die Tasten glitten. Da erst setzte die Geige ein, die unter den zarten Händen sang und klang. Niemand – außer der kleinen Itt – hatte bisher gewußt, daß Elonie Geige spielen konnte – auch der Gatte nicht. Wie gebannt hingen die Blicke aller an der hellgekleideten Gestalt, die lässig am Flügel lehnte und den Geigenbogen mit sicherer Hand führte. Feierlich klangen die weichen Töne der alten und doch immer wieder neuen Weihnachtslieder durch das Zimmer. Zart läutete das Glockenspiel hinein, das sich auf der Tannenspitze drehte. Die Kerzen verströmten ihren milden Schein, das Flitterwerk am Baum klirrte
leise. Es war eine Atmosphäre, die das Herz aufgehen ließ. Nachdem der letzte Ton verklungen war, sprang Birgit auf und nahm stolz das Lob entgegen, das man ihr reichlich spendete. Dann kam Elonie an die Reihe, die lachend abwehrte. »Die einfachen Lieder zu spielen, war nun wahrlich keine Kunst.« »Warum hast du uns verschwiegen, daß du Geige spielen kannst?« »Spielen ist dafür ein zu hochtrabendes Wort, Tante Beate. Nennen wir es: ein bißchen herumstümpern. Ich nahm als Backfisch Stunden, weil ich mir einbildete, Talent zu haben. Von dem Wahn wurde ich langsam geheilt, gab nach zwei Jahren die Stunden auf und legte die Geige ad acta, die dann später wohl mit in die Versteigerungsmasse kam.« »Und woher hast du dieses Instrument?« forschte Beate weiter. »Ich kaufte es, um Itt beim Spiel zu begleiten. Wir übten heimlich als Überraschung, die uns ja auch gelungen ist.« »Kann man wohl sagen. Aber nun wollen wir mal sehen, was alles das Christkind uns beschert hat.« Und somit war man für die nächste halbe Stunde untergebracht. Jeder hatte sich bemüht, dem anderen Wünsche abzulauschen und diese nach Möglichkeit zu erfüllen. Es gab einen fröhlichen Tumult, wie ihn der Gast noch nicht erlebte. Natürlich hatte Elonie als Kind reicher Eltern alles bekommen, was sie sich wünschte. Sie hatte aber nie rechte Freude darüber empfunden, hatte alles als selbstverständlich hingenommen. Genauso wie das vergötterte Töchterlein es tat, das so maßlos verwöhnt wurde von den vernarrten Eltern. Der Gatte setzte dann diese Verwöhnung fort, was ihm gnädigst gestattet wurde. Jedenfalls hatte er seine Frau noch nie so gesehen wie heute. Wie ein fremdes Wesen kam sie ihm vor in ihrer strahlenden Freude. Von allen wurde sie umarmt, gestreichelt und
geküßt. Selbst von dem Herrn Studiosus, dem sie mit der kostspieligen Kamera einen langersehnten Wunsch erfüllt hatte. Sie schien sich hier ganz als Kind des Hauses zu fühlen, mit allen ein Herz und eine Seele zu sein. »So, Diederich, jetzt habe ich endlich auch für dich Zeit.« Die Tante ließ sich aufatmend ihm gegenüber nieder. »Das übermütige Völkchen kann einen schon in Atem halten. Was sagst du zu Elonie?« »Ich erkenne sie nicht wieder. Was hast du nur angestellt, aus dem verstockten Geschöpf ein so frischfröhliches zu machen?« »Dazu haben wir alle beigetragen, doch am meisten tat es wohl unser harmonisches Familienleben. Aha, da kommt Fritzchen mit der Weihnachtsbowle. Wer Durst hat, der finde sich ein.« Dann folgte die zweite Bescherung, die der Gast bereitete, indem er jedem ein mit Namen versehenes Päckchen überreichte. Selbst an Huschchen hatte der Mann gedacht, was ihm hoch angerechnet wurde. Lächelnd sah er zu, wie man die unverhofften Gaben auspackte, und die erste, die ihr Entzücken kundtat, war die kleine Itt. Und zwar über die Spieluhr mit dem reizenden Schneewittchen, das bei jedem vollen Glockenschlag von den sieben Zwergen umtanzt wurde. Beim zwölften Schlag trat sogar der Königssohn in Erscheinung. Auch Beate betrachtete entzückt ihre Uhr unter dem Glassturz. Da tanzte ein zierliches Rokokopärchen nach den silbernen Klängen eines Menuetts. Der Arzt besah sich schmunzelnd einen Brieföffner von alter, wertvoller Arbeit, sein Sohn berauschte sich an dem Anblick eines goldenen Zigarettenetuis, das bescheidene Huschchen bestaunte andachtsvoll eine aus feinstem Leder gearbeitete Briefmappe nebst Inhalt, und Elonie hielt ein Pelzjäckchen in Händen, weich, mollig, federleicht. Alle Gaben stammten aus fernen Ländern, die große Freude verursachten. Nur das Jäckchen tat es nicht. Dafür erhielt der spendable Geber keinen Dank.
Um so herzlicher fiel der aller anderen aus. Hände streckten sich dem Mann entgegen, von Birgit wurde er sogar umhalst und geküßt. Nachdem der frohe Tumult sich gelegt hatte, hob man die Gläser und trank auf das Wohl des noblen Spenders. Auch Elonie tat mit – gezwungenermaßen – wie sie ja so manches tun mußte, seitdem sie im Doktorhaus weilte, wo selbst von dem zehnjährigen Kind ein artiges Benehmen verlangt wurde, vielmehr denn von einem erwachsenen Menschen. Anfangs war die verzogene Elonie, die sich nie hatte zu beherrschen brauchen, öfters mal aus der Rolle gefallen. Bis sich der Onkel das einmal ganz energisch verbat und ihr klarmachte, daß so ein unbeherrschtes Betragen die Menschen abstieß. Seitdem nahm sie sich zusammen, lernte immer mehr sich in Selbstbeherrschung zu üben, bis sie zur Selbstverständlichkeit wurde. Hätte sie das nur immer getan, dann wäre ihre Ehe nicht so kläglich gescheitert. Denn gerade ihre Unbeherrschtheit, verbunden mit Wutausbrüchen, hatte den allzeit beherrschten Gatten angewidert. Also kein Wunder, daß er sein frauliches Heim< zu meiden begann und sich mehr auf Geschäftsreisen begab, als unbedingt nötig gewesen wäre. Nun hatte das Ehepaar Norber angenommen, daß der Neffe seine Ehe lösen würde, war daher nicht wenig überrascht, als er heute unerwartet erschien und alle so nobel beschenkte. Wahrscheinlich als taktvolles Entgelt für die seiner Frau gewährte Gastfreundschaft. Aber daß er sich dazu ausgerechnet den Weihnachtsabend aussuchte, den man doch allgemein in der Familie verbrachte, ließ Familienzugehörigkeit vermuten. Und als er gar noch die Einladung des Ehepaares annahm, die Feiertage hier zu verleben, machte das diese Vermutung zur Gewißheit. Es war am anderen Morgen um zehn Uhr, als Diederich Brendor das Frühstückszimmer betrat, wo er eine fröhlich schmausende Gesellschaft vorfand. Elonie sowie die beiden Kinder des Hauses hatten bereits eine Skitour hinter sich.
Birgit hatte heute auf den Brettern, die sie nebst dem Dreß gestern beschert erhielt, ihr Debüt gegeben und war über das Ereignis immer noch aufgeregt. »Elo sagt, daß ich gar nicht so viel gefallen bin«, berichtete sie eifrig, »Sie hätte sich ungeschickter angestellt, und jetzt läuft sie wunderbar. Bedeutend besser als Knut.« »Das tut sie«, gab er neidlos zu, dabei nach dem Schinkenbrötchen angelnd, das auf der Base Teller lag. »Frech wie gewöhnlich«, lachte sie ihn an. »Aber du kannst ja nichts dafür.« »Nein – «, nickte er zustimmend. »Was du ererbt von deinen Vätern hast.« „ »Jetzt hör aber auf, du Schlingel«, drohte der Vater ihm lachend. »Ich bin in deinem Alter ein schüchterner Jüngling gewesen. Stimmt das, teures Weib?« »Keine Ahnung, da ich dich damals noch nicht kannte.« »Aber du glaubst es?« »Unbedingt.« Der Gast lauschte amüsiert dem lustigen Geplänkere. Man betrachtete ihn übrigens gar nicht mehr als Gast, sondern zählte ihn bereits zur Familie. Man war zu ihm von einer herzlichen Vertrautheit – bis auf Elonie, die stand ihm gleichgültig gegenüber. Sie war die beiden Feiertage, die herrliches Winterwetter brachten, wenig im Haus, tummelte sich mit Birgit und Knut auf den Skiern. Wenn man am Abend zusammensaß, war sie frohgemut und guter Dinge, wobei sie jedoch den Gatten geflissentlich übersah. Gleichmütig nahm er es hin, bis zum Dienstagmorgen, dann begann die Abrechnung. Als er zum Frühstück erschien, fand er die Tante allein am Tisch vor. »Nanu, Diederich, heute schon so früh?« begrüßte sie ihn in ihrer charmanten Liebenswürdigkeit. »Und gleich mit dem Köfferchen? Du willst doch nicht etwa schon fort?« »Nicht wollen, sondern müssen.« Er setzte sich an seinen Platz und nahm die gefüllte Tasse dankend entgegen. »Es genügt ja, daß meine Frau euch hier zur Last liegt, da darf
ich es nicht auch noch tun.« »Na hör mal, Junge, so kraß wollen wir es nun wirklich nicht bezeichnen«, wehrte sie ab. »Wir haben uns über deinen Besuch ehrlich gefreut – und Elonie haben wir gern hier.« »Weil ihr gütige Menschen seid, Tante Beate. Andere hätten sich mit so einem verstockten Geschöpf erst gar nicht befaßt.« »Was sich aber lohnte, Diederich. Du wirst ja selbst gemerkt haben, wie sehr Elonie sich zu ihrem Vorteil verändert hat.« »Mir gegenüber nicht. Oder willst du abstreiten, daß sie mich einfach als Luft betrachtete?« »Nein, dafür war es zu offensichtlich.« »Also, ich habe sie im Verdacht, daß sie die kleine Itt gebeten hat, nicht von ihrer Seite zu weichen, um einer Aussprache mit mir zu entgehen. Doch um die kommt sie nicht herum, dazu bin ich ja schließlich hergekommen. Ich habe sie bis heute verschoben, um euch nicht die Feiertage zu verderben. Sei bitte so gut und sorge dafür, daß ich sie ungestört unter vier Augen sprechen kann.« »Und was wird dabei herauskommen?« »Das wird sich aus ihrem Verhalten ergeben.« Das war so hart gesagt, daß es der Tante bang ums Herz wurde. Denn daß der Starrsinn Elonies ganz und gar gebrochen war, daran glaubte sie nicht – und der Mann schien zum Äußersten entschlossen zu sein. Er wird nicht lange fackeln, sondern kurz und bündig vorgehen, was man ihm nicht verdenken konnte. Denn wie Elonie sich in den beiden Tagen dem Gatten gegenüber benommen hatte, war so verletzend gewesen, wie er es sich als Ehemann nicht bieten lassen durfte – auch wenn er manches auf dem Kerbholz haben sollte. »Ist gut, Diederich«, entgegnete sie, einen Seufzer unterdrückend. »Diese Aussprache steht dir natürlich zu, aber – « Weiter kam sie nicht, da Elonie eintrat, von der kleinen Itt treulich gefolgt. Sie begrüßte die Tante mit einem Wangen-
kuß, nickte dem Gatten flüchtig zu und nahm dann ihren Platz ein, wo sie sich das Frühstück mit bestem Appetit schmecken ließ. Dabei lachte und schwatzte sie mit Birgit, die Schweigsamkeit der beiden anderen völlig ignorierend. Als sie jedoch das Kind zum Skilaufen aufforderte, erklärte die Tante kurz: »Birgit bleibt im Haus – und du auch. Ich nehme an, daß du deinem Gatten, der extra deinetwegen am Heiligabend herkam, etwas zu sagen haben wirst, nicht wahr? Geh mit ihm in das kleine Zimmer, dort seid ihr ungestört. Komm, Birgit.« Sie zog diese mit sich fort, und Elonie sah ihr erschrocken nach. Dann wandte sie sich dem Mann zu und sagte spöttisch: »Zwar wüßte ich nicht, was ich dir noch zu sagen hätte, aber wenn Tante Beate es wünscht – « Achselzuckend ging sie ihm voran und ließ sich in dem lauschigen Gemach in einen Sessel sinken. Auch er nahm Platz, steckte eine Zigarette in Brand, legte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und betrachtete sein Gegenüber angelegentlich. »Laß das Angestarre!« sagte sie schroff. »Was willst du von mir?« »Dich fragen, was du dir so eigentlich denkst.« »Das dürfte dich wohl kaum interessieren.« »Leider muß ich mich dafür interessieren, weil du meine Frau bist.« »Gewesen, mein Lieber, gewesen«, höhnte sie. »Seitdem ich dein Haus verließ, betrachte ich mich nicht mehr als deine Frau. Oder besser gesagt: als deine Nebenfrau.« »Willst du mir das vielleicht näher erklären?« »Warum nicht!« Sie versuchte gleichmütig zu tun, was ihr jedoch nicht ganz gelang. An den bebenden Händen, ihrem verdunkelten Blick bemerkte er ihre Erregung und machte sich auf eine widerliche Szene gefaßt, die er so gut kannte. Doch davon sollte er zu seiner Überraschung verschont bleiben. Sie schluckte nur einige Male schwer, fuhr
sich nervös über die Stirn und sprach dann weiter: »Nun, ich über der Sache stehe, ist es mir möglich, das zu sagen, was ich dir bisher verschwieg – und was mich so unsagbar demütigte. Du hast mich wohl in einer Anwandlung von Großmut geheiratet – aber so richtig als deine Frau hast du mich nie betrachtet. Das war für dich eine andere, die sicherlich besser zu dir paßt.« Wieder schluckte sie, als müsse sie etwas hinunterwürgen. Dann fuhr sie zu sprechen fort, erregter zwar, aber immer noch beherrscht: »Ich schnappte an unserem Hochzeitstag die Bemerkung eines Herrn auf, die er einem anderen gegenüber fallen ließ. Ich wiederhole sie wörtlich: Ziemlich gewagt von dem guten Brendor, sich nach all den feurigen Granatblüten seines bewegten Junggesellenlebens eine feine weiße Lilie als Hüterin seines Heims und Herdes zu wählen. Wenn die Ehe man gutgeht! Wie recht der Mann hatte, sollte mir bald mit grausamer Deutlichkeit klarwerden. Und zwar, als wir nach der Hochzeitsreise wieder in dein Haus kamen. Da schobst du mich nach und nach ab, weil du meiner überdrüssig geworden warst. Das konnte und wollte ich zuerst nicht begreifen. Ich bettelte, weinte, flehte – doch umsonst, du entglittest mir immer mehr. Und als du deine Reisen machtest, da verlor ich dich ganz. Jetzt kann ich es dir sagen, daß ich wahnsinnig gelitten habe unter der trostlosen Verlassenheit. Zumal ich diesen widerwärtigen Menschen -Hausdame, Diener und Zofe – denen du so blindlings vertrautest, schutzlos ausgeliefert war. Und als erstere mir noch den Beweis erbrachte – ich nehme wenigstens an, daß sie es war –, wie sehr du in den Banden einer feurigen Granatblüte schmachtest, da zerbrach etwas in mir. Es waren also keine Geschäftsreisen, die du unternahmst, sondern solche zu deiner Geliebten – « »Moment mal«, unterbrach er sie kurz. »In welcher Form erhieltest du den Beweis?«
»Durch einen Brief, den die Böse wahrscheinlich unterschlug und mir auf den Schreibtisch legte. Es war ein furchtbarer Brief – so – so – nun, ich würde mich zu Tode schämen, aber nicht so was an einen Mann schreiben.« »Und warum hast du mir nichts von diesem Brief gesagt, Elonie?« »Weil du nicht da warst. Außerdem hätte ich bei dir kein Gehör gefunden. Sofern ich nur den Mund aufmachte, wandtest du dich angewidert ab. Zuerst empörte mich das, dann verletzte es mich, und zuletzt fühlte ich mich so gedemütigt, daß ich alles schweigend in mich hineinfraß.« »Interessant. Und was wurde aus dem Brief?« »Ich ließ ihn angeekelt liegen. Wo er dann blieb, das weiß ich nicht.« »Aber ich weiß es«, lachte er kurz auf. »Ich fand ihn nämlich unter der anderen Post auf meinem Schreibtisch, als ich von der Reise zurückkehrte.« »Dann ist ja alles in Ordnung.« »Auch daß du einer üblen Intrigantin so lieb und brav in das raffiniert aufgestellte Netz getappt bist? Sieh mich nur so groß an, es ist genauso, wie ich sage. Der Brief war – nun, um bei der Bezeichnung zu bleiben – von einer feurigen Granatblüte, die ich längst vor meiner Ehe abtat. Aber da eben solche Blüten sehr anhänglich sind, bombardierte sie mich mit Briefen, die ich genauso angewidert wie du in den Kamin warf – aber ungelesen. Ein solches Geschmiersel muß der Böse in die Hände gefallen sein, das sie zu ihren Gunsten ausnutzte. Du glaubst mir natürlich nicht. Daher ist es zwecklos, weitere Worte zu verlieren. Wann kommst du nach Hause?« »Überhaupt nicht mehr. Reich die Scheidungsklage ein. Ich bin bereit, alle Schuld auf mich zu nehmen.« »Und wie denkst du dir deine Zukunft?« »Ich bleibe hier, wo ich ein trautes Zuhause fand.« »Und willst somit immer weiter den Menschen auf der Tasche liegen. Halt, fahr nicht auf, laß mich zuerst ausreden. Das tätest du nämlich, da du nach der Scheidung mittellos
wärst. Denn eine Unterstützung hättest du von mir nicht zu erwarten.« »Ich würde die von dir auch nicht annehmen!« Ihr Kopf flog in den Nacken. Die Augen sprühten nur so vor Aufsässigkeit. »Man betrachtet mich hier ganz als ein Kind des Hauses und wird daher auch für mich sorgen.« »Was ich diesen gütigen Menschen ohne weiteres zutraue.« Er blieb immer noch gelassen. »Wohl fühlst du dich als Tochter des Hauses – aber du bist es nicht, Elonie. Wirst trotz aller Zuneigung, die man dir in der Familie entgegenbringt, immer nur das sogenannte fünfte Rad am Wagen sein. Aber wie ich deinem vertrotzten Gesicht ansehe, bist du so vernagelt und verbohrt, daß ich mit goldenen Zungen reden könnte, ohne dich zu überzeugen. Ich möchte dich nur darauf aufmerksam machen, daß dir mein Haus jetzt noch offensteht.« »Danke – «, unterbrach sie ihn schroff. »Ich habe in deinem Haus genug gelitten – so sehr, daß ich sterben wollte. Was wahrscheinlich auch geschehen wäre, hätte Tante Beate mich nicht aus dieser Hölle befreit. Ich habe Angst, dahin zurückzukehren«, gab sie nun ihrer Erregung nach. »Angst vor der Verlassenheit, Angst vor den Bediensteten, die nicht die Herrin in mir sahen, sondern ein von dem Hausherrn geduldetes Wesen, dem gegenüber man sich jede Frechheit und Unverschämtheit ungestraft erlauben durfte. Sie haben mir das notwendige Essen vorgeworfen wie einem aus Gnade und Barmherzigkeit geduldeten Hund.« Jetzt gaben ihre Nerven der ungeheueren Anspannung nach. Sie weinte auf, hart und stoßweise, gepeinigt und gequält. Doch dann riß sie sich zusammen und sagte müde: »Laß uns das Gespräch beenden – ich ertrage es nicht länger.« »Na schön – «, gab er nach, während er sich erhob. »Überlege dir das, was ich dir gesagt habe, bis ich die Reise hinter mir habe, die für längere Zeit die letzte sein wird. Ich spre-
che dann wieder hier vor, um mir deinen endgültigen Bescheid zu holen.« Die Tür fiel hinter ihm zu – und Elonie drückte aufstöhnend das Gesicht in die Hände. »Nun, was hast du erreicht?« fragte die Tante den Neffen, dessen Gesicht hart und blaß war. »Ist Elonie zur Vernunft gekommen?« »Sie wünscht die Scheidung, Tante Beate.« »Und du?« »Ich gebe ihr Bedenkzeit, bis ich von der Reise zurückkehre, was in ungefähr sechs Wochen der Fall sein wird. Willst du sie noch solange behalten?« »Das ist doch selbstverständlich, Diederich. Aus welchem Grund will sie sich scheiden lassen?« »Weil sie nicht mehr länger als – Nebenfrau – von mir geduldet sein will. Meine Geschäftsreisen bezeichnet sie als Fahrten zu meiner Geliebten, einer feurigen Granatblüte, in deren Banden ich schmachte. Damit hätte ich meine rechtsmäßige Frau, die ich als Nebenfrau betrachte, gewissenlos der Willkür einer unverschämten Dienerschaft überlassen, die ihr das notwendige Essen vorwarf wie einem aus Gnade und Barmherzigkeit geduldeten Hund. Leider ist es Tatsache, daß ich der Böse vertraute. Im Verein mit ihren Kreaturen intrigierte sie erfolgreich. Sie spielte Elonie einen Brief erwähnter, längst abgetaner >Blüte< zu – und zwar so geschickt, daß dieses unerfahrene Kind ohne weiteres auf das niederträchtige Machwerk hereinfiel. Daß ich den Kreaturen vertraute, das ist es, was ich mir vorwerfen muß – während das andere – nun, da ist wohl jeder Kommentar überflüssig.« »Das ist allerdings fatal«, sagte Tante Beate betroffen. »Es wird schwer sein, Elonies Mißtrauen zu entkräften.« »Der Ansicht bin ich auch. Daher habe ich erst gar nicht versucht, mich zu rechtfertigen. Denn jedes Wort wäre auf Granit gefallen. Ich kann jetzt nichts weiter tun, als meine Frau dir zu überlassen, Tante Beate. Vielleicht gelingt es dir, sie zur Vernunft zu bringen.«
»Worauf du dich verlassen kannst, mein Sohn. Fahr du nur ruhig zu deiner Granatblüte, ich werde indes deine weiße Lilie hüten.« »So ist dir der Vergleich, den Elonie am Hochzeitstag aufschnappte, auch bekannt?« »Ja. Den offerierte sie mir, als ich im November wegen der Erbschaft in dein Haus kam. Die ist übrigens immer noch nicht ad acta gelegt. Wollen wir das nicht heute in Ordnung bringen?« »Ist von meiner Seite bereits geschehen, Tante Beate. Ich habe am Heiligenabend dem Notar mitgeteilt, daß ich auf meinen Anteil verzichte, weil er mir gar nicht zukommt. Somit fällt diese sonderbare Erbschaft dir allein zu. Den Bescheid wirst du wohl in den nächsten Tagen vom Notariat erhalten.« »Aber Diederich, das kann ich doch nicht so ohne weiteres annehmen.« »So – und ich soll es ohne weiteres annehmen, daß du dich mit meiner starrsinnigen Frau abgeplagt hast und dich wirst immer weiter mit ihr abplagen müssen. Da steht dir doch wenigstens eine Anerkennung zu. Nimm sie nur – es trifft ja keinen Armen.« »Hast recht«, lachte sie. »Wenn man dir gibt, nimm, wenn man dir nimmt, schrei.« »Also, dann sind wir uns ja einig. Hab Dank für die schönen Tage, die ich in deinem behaglichen Heim verleben durfte. Nun habe ich doch einmal ein Familienleben kennengelernt, wie es mir vorschwebte. Aber leider bin ich kein Onkel Fritz, und Elonie ist keine Tante Beate. Grüß bitte die Deinen von mir und übermittle auch ihnen meinen Dank.« »Soll geschehen, Diederich. Wir haben uns aufrichtig über deinen Besuch gefreut und hoffen auf baldige Wiederholung.« Sie gab ihm bis zur Haustür das Geleit, sah zu, wie er in den noblen Wagen stieg, machte >winke, winke< und suchte dann unverzüglich das Zimmer auf, wo Elonie immer
noch auf ihrem Platz verharrte. »Ist er endlich fort?« fragte sie trotzig. »Ja, er ist fort.« Tante Beate ließ sich seufzend in dem Sessel nieder, in dem vorhin ihr Neffe gesessen hatte. »Es ist dir glänzend gelungen, ihn zu vertreiben.« »Tante Beate, du tust mir unrecht.« »Davon muß ich mich erst überzeugen, mein Kind. Wie er mir erzählte, willst du dich von ihm scheiden lassen. Auch daß er dir eine Frist zugebilligt hat, dir diesen sehr gewagten Schritt ernstlich zu überlegen, hat er mir gesagt.« »Hat er dir auch gesagt, warum ich die Scheidung wünsche?« »Auch das. Ich fürchte jedoch, daß du bei dem vagen Beweis schlecht abschneiden wirst, meine liebe Elonie.« »Aber Tante Beate, ich habe den Beweis doch schwarz auf weiß – den ehelicher Untreue. Und das ist doch wohl ein triftiger Scheidungsgrund.« »Elonie, du bist noch sehr jung und kennst daher so gut wie nichts vom Leben, zumal du als behütetes Töchterchen keine Gelegenheit hattest, das wahre Leben kennenzulernen. Sonst müßtest du wissen, daß der Schein oft trügt. Und bei dem ominösen Brief tut er es, das kannst du mir schon glauben. Du bist dabei einer ganz gemeinen Intrige unterlegen, das wird dir Diederich auch gesagt haben, nicht wahr?« »Ja, Tante Beate. Aber ich kann ihm nicht glauben.« »Sag lieber, du willst ihm nicht glauben, weil du dich in dein Mißtrauen zu sehr verrannt hast. Doch lassen wir das. Wissen möchte ich, was du deinem Mann vorzuwerfen hast.« »Daß er fast unausgesetzt auf Reisen war und mich einer gemeinen Dienerschaft skrupellos überließ.« »Eine Schuld, die er bereits zugegeben hat. Aber deine Schuld war, daß er, wenn er dich bei seiner Rückkehr sprechen wollte, vor verschlossener Tür stand. Und deine weitere Schuld war, daß du ihm Szenen machtest, sofern es nicht nach deinem eigenwilligen Köpfchen ging. Damit triebst
du ihn ja förmlich aus dem Hause.« »Tante Beate, du bist erbarmungslos.« »Es ist die Wahrheit, Elonie. Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn ich meinem Mann Szenen machen wollte, wenn er seiner Arbeit nachgehen muß, wie du es bei dem deinen tatest. Da würde bei meinem Fritz wohl die Gemütlichkeit aufhören. Wenn du nun die Scheidung durchsetzen solltest, was willst du dann beginnen?« »Hierbleiben, Tante Beate. Oder würdest du mich dann nicht behalten?« »Gewiß würde ich das. Aber ob es dir mit der Zeit genügen würde, das Haustöchterchen zu sein, das möchte ich denn doch bezweifeln. Du bleibst ja nicht immer zwanzig Jahre, Elonie, wirst mit jedem Tag älter und reifer. Es liegt nun einmal in der Natur der Frau, ein eigenes Heim zu haben und nicht ständig von anderen abhängig zu sein.« Die beiden Gespräche, die Beate mit Elonie und Diederich führte, übermittelte sie dem Gatten, als die andern zu Bett gegangen waren. Fast wörtlich gab sie die Gespräche wieder, und interessiert hörte er zu, dabei sein geliebtes Pfeifchen schmauchend. Als sie mit ihrem Bericht zu Ende war, sagte er bedächtig: »Tja, dagegen läßt sich vorläufig nichts machen. Diese schwierige Angelegenheit muß man langsam reifen lassen. Jedenfalls ist es von Diederich eine noble Geste, der aufsässigen kleinen Frau eine Bedenkzeit zuzubilligen. Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte, wenn meine Frau mir so starrsinnig gekommen wäre. Denn was Elonie sich ihm gegenüber erlaubt hat, ist eines Mannes unwürdig.« »Vergiß bitte nicht, daß er Schuld auf sich lud, indem er seine blutjunge, unerfahrene Frau nicht nur fast ständig allein ließ, sondern sie auch noch so nichtswürdigen Kreaturen auslieferte, da er nun diese Schuld erkennt, gibt er seiner Frau die Chance, noch einmal zu ihm zurückzukehren.« »Und schlägt sie diese aus, beweist sie damit ihre Unversöhnlichkeit, und er hat im Scheidungsverfahren einen
Pluspunkt mehr«, gab der erfahrene Mann zu bedenken. »Das, was Elonie sich in der Ehe zuschulden kommen ließ, wiegt schwerer als sein Verschulden. Daß er seine Frau soviel allein ließ, ja, du lieber Gott, das müssen andere Männer in seiner Position auch. Allerdings hätte er dafür sorgen müssen, daß seine unerfahrene Frau in zuverlässigen Händen war. Daß er sich dieser Sorge enthob, darin liegt seine Schuld. Das andere mit der ominösen >Granatblüte< ist weiter nichts als böse Verleumdung, gegen die er rücksichtslos vorgehen wird. Also würde bei einer Scheidung Elonie als schuldiger Teil erklärt werden und auf einen Unterhalt keinen Anspruch haben. Das alles müßte ihr nachdrücklich klargemacht werden – aber von wem? Wir können es nicht tun, ohne bei ihr den Verdacht zu erregen, sie loswerden zu wollen, und Diederich würde sie erst gar nicht anhören. Es ist nicht einfach, was wir uns da übernommen haben.« »Und woran ich die Schuld trage«, sagte Beate bekümmert. »Hätte ich Elonie damals nicht ins Haus gebracht – « »Dann wäre sie langsam, aber sicher zugrunde gegangen«, warf er mahnend ein. »Was du tatest, Frauchen, war einfachste Menschenplicht. Bisher hatten wir mit“ Elonie ja auch noch keinen Kummer. Sie hat sich so prachtvoll herausgemacht, daß es eine wahre Freude ist. sie läßt sich sonst auch ganz gut lenken, wird nur zum sturen Böckchen, wenn es um ihren Mann geht. Wann gedenkt er von der Reise zurück zu sein?« »In ungefähr sechs Wochen.« »Also hat sie Zeit genug, darüber nachzudenken, worauf du sie ernstlich hingewiesen hast, wie du mir erzähltest. Ob es nicht doch besser ist, auch ohne glückliche Ehe Herrin eines reichen Hauses zu sein, als von einer Familie abzuhängen, zu der sie blutmäßig nicht gehört. Von der sie ihren Lebensunterhalt als Geschenk annehmen muß, während sie als Ehefrau ein Recht darauf hat. Das gabst du ihr doch zu bedenken, nicht wahr?«
»Das tat ich. Wenn auch mit anderen Worten, so ist doch der Sinn derselbe Übrigens habe ich mit Diederich wegen der Erbschaft gesprochen. Zu meiner Überraschung erfuhr ich, daß er auf seinen Anteil verzichtet hat. Die Erklärung ließ er schriftlich dem Notar zugehen, quasi als Weihnachtsgeschenk für mich. Er meinte, ich soll es ruhig nehmen, der Verzicht trifft keinen Armen.« »Was hast du darauf erwidert?« »Wenn man dir gibt, nimm, wenn man dir nimmt, schrei. Sieh mich nicht so mißbilligend an, Fritz, ich konnte es nicht zurückweisen. Damit hätte ich Diederich verletzt, und das konnte ich nicht, weil er mir schon leid tat. Die schroffe Unzulänglichkeit Elonies scheint ihm doch mehr zuzusetzen, als er selbst wahrhaben will. Blaß sah er aus und verbittert. Ich glaube, daß er kurzen Prozeß machen wird, wenn Elonie so halsstarrig bleibt.« »Was ihm nicht zu verdenken wäre. Nun, warten wir ab, und halten wir uns möglichst aus der heiklen Angelegenheit heraus.« Das war nun leichter gesagt als getan. Da Beate sich Elonies angenommen, hatte sie deren Angelegenheiten zu den ihren gemacht und somit auch zu denen des Gatten. Sie machten sich mehr Gedanken darüber, was aus der Ehe werden würde, als es die junge Frau zu tun schien. Denn diese lebte unbekümmert dahin. Nahm alles dankbar an, was ihr geboten wurde. Sah gesund und blühend aus und war stets frohgemut und guter Dinge. Den Gatten erwähnte sie überhaupt nicht, so daß man annehmen mußte, er sei für sie endgültig erledigt. Dieser Ungewisse Zustand währte bis Mitte Februar. Da meldete Brendor seine Ankunft an, die Elonie gelassen hinnahm. Sie blieb es auch, als er an einem Sonntagvormittag erschien. Draußen war es bitterkalt, doch im trauten Wohngemach verbreiteten Heizung und Kamin eine mollige Wärme. »Da bist du ja«, begrüßte Onkel Fritz den Neffen mit lär-
mender Fröhlichkeit. »Komm, leg ab, mach es dir gemütlich.« Was dann auch geschah. Als er Platz genommen hatte, setzte Birgit sich zu ihm auf die Sessellehne, Adolar legte den Kopf auf seine Knie, und Rosamunde sprang ihm auf den Schoß. »Da bist du ja nun eingerahmt«, lachte die Tante. »Wenn dir die Gesellschaft lästig wird, schieb sie ruhig ab. Wo hast du deinen Wagen?« »Nebenan in der Garage. Ich weiß ja, daß man aus dem Doktorhaus nicht sobald loskommt.« »Gut, daß du das einsiehst. Wann bist du zu Hause eingetroffen?« »Vor zehn Tagen. Da ich das Haus abgeschlossen hatte, gab es viel Arbeit, um es wieder bewohnbar zu machen. Ich habe nämlich, bevor ich auf Reisen ging, die gesamte Dienerschaft entlassen«, führte er weiter aus. »Habe das Haus gewissermaßen mit eisernem Besen ausgekehrt. Inzwischen ist es mir gelungen, eine Hausdame einzustellen, die bisher bei einem Bekannten segensreich wirkte. Da dieser jedoch mit seiner Familie auswanderte, wurde die Dame aus ihrem Vertrag frei und mit ihr die gesamte Dienerschaft, bestehend aus Köchin, Zofe, Hausmädchen und Diener. Die Referenzen, die ich über diesen Stab einholte, waren so vorzüglich, daß ich ihn in Bausch und Bogen kurzerhand für mein Haus verpflichtete. Seit vier Tagen sind sie nun da – und der Rückkehr der Hausherrin steht nichts mehr im Wege. Nun, Elonie, was hast du mir daraufhin zu sagen?« Aller Augen hingen an ihr, die steif dasaß, den Kopf gesenkt. Auf dem Gesicht wechselte die Farbe in rascher Folge, der Mund war wie zum Weinen verzogen, die verkrampften Hände im Schoß bebten, die Brust hob sich in kurzen Atemzügen. Die anderen, die vor Spannung den Atem anhielten, spürten wohl, ein wie heißer Kampf da gekämpft wurde, der selbst dem zehnjährigen Kind nicht entging. Verschüchtert
stahl sich dessen Hand in die der Mutter. Jetzt hob sich der gesenkte Kopf mit dem flimmernden Gelock. Die Blicke hasteten hin und her, sahen jedoch in lauter verschlossene Gesichter. Denn in diesem Kampf wollte ihr keiner beistehen, den mußte sie ohne Hilfe ausfechten. »Ist gut, Diederich«, sprach sie endlich leise, den Kopf wieder senkend. »Ich will es versuchen.« »Das freut mich«, entgegnete er in seiner beherrschten Art, so daß man nicht wußte, wie er ihren Entschluß aufnahm. Er hatte jedenfalls getan, was er konnte. Hatte, wie er selbst sagte, sein Haus mit eisernem Besen ausgekehrt. Hatte eine neue, schon bewährte Dienerschaft eingestellt. Es lag nun an der Hausherrin, wie sie sich bei den unvoreingenommenen Menschen einführen würde. Es lag auch an ihr, wie sie mit dem Gatten auskommen würde. Mehr, als er seiner Frau bereits entgegengekommen war, würde er wahrscheinlich nicht tun, was der Onkel richtig fand, der seinen männlichen Standpunkt vertrat. Aber auch Frau Beate war der Ansicht, daß Diederich seiner Frau nicht mehr Zugeständnisse zu machen brauchte. »Diederich, es ist nicht nett von dir, daß du die Elo fortholst.« Birgit zog ein Mäulchen. »Ich werde gar nicht wissen, was ich ohne sie anfangen soll. Fährst du nicht bald wieder weg?« »Nein, kleine Itt. Jetzt bleibe ich für eine gute Weile zu Hause. Wenn du Sehnsucht nach deiner Elo hast, kannst du sie ja besuchen.« »Aber schöner ist doch, wenn ich sie hier habe!« »Birgit, jetzt hör aber auf«, unterbrach die Mutter sie unwillig. »Elonie gehört zu ihrem Mann, der ihr erlaubte, solange bei uns zu bleiben, wie er sich auf Reisen befand – « Weiter kam sie nicht, da die Tochter davonlief, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die ihr übers Gesichtchen purzelten. Elonie, die auch nur mit Mühe die Tränen zurückhielt, ging ihr nach – und dem guten Onkel Fritz war gar nicht wohl in seiner Haut.
»Na ja, die Trennung kommt beiden schwer an«, brummte er wie zur Entschuldigung. »Auch wir sehen Elonie ungern scheiden. Sind aber wiederum auch froh, daß sie zu dir zurückkehrt, Diederich. Es sah nämlich nicht so aus, daß sie zur Vernunft kommen würde.« »Es bleibt ihr eben nichts anderes übrig, Onkel Fritz«, bemerkte der Neffe achselzuckend. »Denn nachdem ich ihr eröffnete, daß sie nach der Scheidung mit einem Unterhalt meinerseits nicht zu rechnen hätte, wird sie wohl überlegt haben, daß sie dann vollständig von euch abhängen würde. Ist sie jetzt ganz gesund, Onkel Fritz?« »Ja, Diederich. Es war nicht gut um sie bestellt, als sie herkam. Aber jetzt ist sie gesund an Leib und Seele. Du wirst noch Freude an ihr haben.« Darauf erwiderte der Neffe nichts. Doch dem spöttischen Lächeln konnte man entnehmen, daß er von des Onkels Zuversicht keineswegs überzeugt war. Dieser brach dann auch das Gespräch ab, fragte nach den Reisen und staunte, wo der Mann in den sechs Wochen überall hingekommen war. »Junge, das muß ja eine gute Hetze gewesen sein. So was kann doch keinen Spaß machen.« »Geschäftsreisen sollen ja auch keinen Spaß machen, Onkel Fritz. Ich bin froh, sie endlich hinter mich gebracht zu haben, wenigstens für geraume Zeit. Wenn es in meinem Betrieb auch noch so viel Arbeit gibt, so ist sie dennoch nicht so zermürbend wie dieses ewige Auf-derAchseliegen.« Der Gong machte dem Gespräch ein Ende. Man ging ins Speisezimmer hinüber, wo sich auch Elonie und Birgit einfanden. Huschchen kam auch hinzu, und man konnte mit dem Mittagsmahl beginnen. Birgit sah den Vater so flehend an, daß er sich der kleinen Plaudertasche erbarmte. »Nun erleichtere dein Herz«, brummte er – und schon ging es los: »Elo hat mir versprochen, mich mit ihrem Auto abzuholen und wieder nach Hause zu bringen. Du hast doch nichts
dagegen, Diederich?« »Wie sollte ich wohl!« Er besah sich lächelnd das reizende Mägdlein. »Elonie besitzt das Recht, Gäste in ihr Haus zu laden. Es ist aber lieb von dir, auch meine Erlaubnis einzuholen. Da zeigt sich wieder einmal die Erziehung deiner Eltern. Du bist ein braves Kind, kleine Itt.« »Danke – «, strahlte sie ihn an. »Ich mag dich schrecklich gern, großer Vetter. Du bist so human.« Über den Ausdruck mußte man lachen, weil er gar zu komisch aus dem Kindermund klang. Birgit freute sich mit und hielt dann brav ihr Schäbelchen. Als die Tafel aufgehoben war, griff sie nach den Händen Elos und zog sie mit sich fort. »Komm, Elo, wir packen erst zu Ende, damit wir diese unangenehme Arbeit hinter uns haben.« So gingen denn die beiden nach oben und die anderen nach dem lauschigen Zimmerchen. Sie tranken genüßlich ihren Mokka und unterhielten sich dabei angeregt, bis die beiden Packerinnen erschienen. »Endlich sind wir fertig«, berichtete die Kleine, hochrot vor Eifer. »Komm, Elolein, setzen wir uns nach der anstrengenden Arbeit.« »Nein – «, widersprach diese. »Wenn ich schon von hier fort muß, dann so schnell wie möglich.« »Ein so rascher Aufbruch ist zwar unhöflich gegen die Gastgeber, aber ich kann's nicht ändern.« Brendor erhob sich achselzuckend. »Ich hol' den Wagen. Mach dich indes fahrbereit, Elonie.« Rasch und sicher glitt der Wagen über das weiße Band der Straße. Ab und zu warf der Mann am Steuer einen Blick auf seine Nachbarin, die regungslos dasaß, immer noch die Augen voll Tränen. Als diese jedoch wieder überliefen, sagte er gereizt: »Wenn dir der Abschied so schwer fällt, hättest du mir nur einen Ton zu sagen brauchen – « »Bitte nicht«, wehrte sie ab, die Tränen hastig wegwischend. »Dieser rasche Abschied tut nicht so weh, als wenn ich ihn
in die Länge gezogen hätte. Fort mußte ich ja doch einmal.« »Warum mußte?« fragte er schroff dazwischen. »Weil ich nicht ganz und gar zur Familie gehöre.« »Gut, daß du das einsiehst«, lachte er kurz auf. »Dann habe ich ja Aussicht, in Gnaden von dir aufgenommen zu werden. Oder gedenkst du weiter in deinem Starrsinn zu verharren?« »Nein – natürlich nicht – du mußt nur – Geduld – mit mir haben – « »Na schön. Ich gebe dir nur zu bedenken, mein liebes Kind, daß meine Geduld nicht unerschöpflich ist. Wenn sie mal reißt, dann aber endgültig. Vor allen Dingen möchte ich dich bitten, dich der Hausdame, Frau von Gehldorn, gegenüber nicht wie ein störrisches Kind zu benehmen. Ich glaube kaum, daß diese feine, beherrschte Dame dafür Verständnis hat. Und ich – nun – ich möchte mich meiner Frau nicht schämen müssen. Du verstehst doch, was ich damit meine?« »Ja.« »Dann richte dich danach. Ich habe jedenfalls alles getan, um dir deine Rückkehr in mein Haus zu erleichtern. Es befinden sich jetzt Menschen darin, die dich als Herrin respektieren werden – solange du dich wie eine solche benimmst. Und nun laß uns, wenn auch nicht Frieden, so doch einen Waffenstillstand schließen. Denn um ersteres zu tun, dafür sind wir beide zu verbittert. Aber guter Wille vermag viel. Ich habe ihn. Und wenn auch du ihn hast, kann unsere Ehe sich noch ganz erträglich gestalten.« »Und warum hast du denn nicht in eine Scheidung gewilligt, Diederich?« »Weil ich dann nie das Schuldgefühl loswerden könnte, das ich dir gegenüber habe.« »Du meinst das Verhältnis mit deiner – deiner – « »Ist doch bloß gut, daß du stotterst«, unterbrach er sie ge-
lassen. »Ich habe kein Verhältnis. Das ist eine Verleumdung böswilliger Intriganten, denen du in deiner Unerfahrenheit zum Opfer fielst. Daß ich dich diesen Kreaturen überließ, während ich auf Reisen war, das ist meine Schuld. Mir eine andere gewissermaßen in die Schuhe zu schieben, dagegen verwahre ich mich ganz entschieden. Nun Schluß damit. Das war mein letztes Wort in dieser Angelegenheit.« Der Wagen hielt, Brendor gab ein bestimmtes Signal, und schon öffnete sich das breite, schmiedeeiserne Tor so geräuschlos, als würde es von Geisterhand bedient. Der Wagen fuhr durch, das Tor schloß sich wieder, und Elonie hatte das Gefühl, eine Gefangene zu sein. Scheu glitt ihr Blick an dem Prachtbau hoch, in dem sie ein Vierteljahr lang nicht wie eine Herrin, sondern wie ein armseliger Mensch gelebt hatte. »Elonie, wir sind da«, hörte sie eine mahnende Stimme neben sich. Da riß sie sich zusammen, ließ sich von dem Gatten aus dem Wagen helfen und schritt an seiner Seite die Freitreppe hinauf. In der Halle trat ihnen die Hausdame entgegen, während sich der Diener im Hintergrund hielt. Sie war eine gutaussende Dame Ende Vierzig, mittelgroß, schlank, elegant, gewandt, beherrscht, taktvoll – also ganz die distinguierte Hausdame eines distinguierten Hauses. Brendor stellte ihr seine Frau vor, die sie mit gewinnender Liebenswürdigkeit begrüßte: »Guten Tag, gnädige Frau. Ich kann Sie als Herrin des Hauses nicht gut willkommen heißen, aber ich darf Ihnen sagen, daß ich mich auf Ihre Ankunft gefreut habe.« »Danke, Frau von Gehldorn«, entgegnete Elonie zurückhaltend und ließ sich vom Diener aus dem Mantel helfen. Als auch der Hausherr abgelegt hatte, ging man nach dem gemütlichen Frühstücksstübchen, wo auf dem einladend gedeckten Tisch die Kaffeemaschine summte. »Der Platz des Hausherrn ist mir bereits bekannt«, sagte Irene von Gehldorn zögernd. »Doch der der Hausherrin – « » – ist hier.« Elonie zog das inmitten des Tisches stehende
Gedeck zu sich heran. Während man Platz nahm, sagte die Hausdame entschuldigend: »Es ist nämlich nicht so einfach, sich in einem fremden Haus ohne Einführung zurechtzufinden. Daher fürchte ich, manches verkehrt gemacht zu haben. Hauptsächlich in Ihren Zimmern, gnädige Frau, die ja unbedingt gesäubert werden mußten. Dabei kann etwas verkehrt gestellt worden sein.« »Wenn schon!« Elonie winkte hastig ab. »Die Fehler lassen sich leicht in Ordnung bringen.« »Dann bin ich beruhigt, gnädige Frau.« »Und ich möchte Sie bitten, das >gnädige< bei meiner Frau zu verschlucken«, sagte Brendor lachend. »Sie ist noch zu jung, um sich von einer – pardon – älteren Dame so ansprechen zu lassen. Bist du nicht auch der Ansicht, Elonie?« »O ja – «, erwiderte sie verlegen unter dem Blick der klaren Augen, die so viel Wärme ausstrahlten. Obwohl die eigenwillige Elonie sich dagegen sträubte, nahm die Art dieser Frau sie mehr und mehr gefangen. Sie hatte sich doch fest vorgenommen, der Hausdame von vornherein die Herrin zu zeigen, damit diese gleich wußte, woran sie bei ihr war. Und nun? Nun hatte sie sogar Hemmungen dieser wirklichen Dame gegenüber. Diese würde sie höchstens um etwas bitten können, aber ihr nie Befehle erteilen – und somit genausowenig Herrin im Hause sein, wie sie es bei der Böse gewesen war. In den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr wußte Elonie nichts mit sich anzufangen. Wenn sie wenigstens so wie früher bis elf Uhr hätte schlafen können, dann wäre der Tag nicht so lang geworden. Aber da sie im Doktorhaus spätestens um acht Uhr aufgestanden war, wurde sie auch jetzt um die Zeit wach und konnte, so große Mühe sie sich auch gab, nicht wieder einschlafen – und Hunger hatte sie auch. Also erschien sie um halb neun unten am Frühstückstisch. Frau von Gehldorn, die um halb acht mit dem Hausherrn zusammen frühstückte, ließ jetzt immer noch ein Plätzchen
frei, wie sie lachend sagte, um auch mit der Hausherrin zu essen. Denn allein schmeckte es nun einmal nicht so gut. Und dieses Frühstücksstündchen wurde Elonie bald so lieb und vertraut, daß sie es nicht mehr missen mochte. Das kleine Zimmer war ihr noch nie so heimelig erschienen wie jetzt, überhaupt ihr ganzes Zuhause nicht. Sie war sich darin immer so fremd vorgekommen, so verlassen und verloren. Hatte sich vor der Böse direkt verkrochen wie vor einer schleimigen Viper. Nun, das war ja jetzt vorbei, das Haus war von der Viper befreit – Gott sei Dank! Das dachte auch Beate Norber, als sie an einem Vormittag das Brendorhaus betrat und von dem Diener in Empfang genommen wurde. Der gefiel ihr schon bedeutend besser, als sein Vorgänger, sogar gut gefiel er ihr, und von Frau Gehldorn war sie direkt entzückt. »Ich bin Elonies Tante«, führte sie sich ein. »Was ist denn mit der Kleinen? Die läßt ja gar nichts von sich hören. Ist sie krank?« »Gottlob nicht, gnädige Frau.« »Bitte nicht so offiziell«, lachte Beate. »Ich finde meinen Namen Norber auch schön. Schläft Elonie etwa noch?« »Nein. Sie befindet sich wie immer um diese Zeit im Tattersall. Wenn sie gewußt hätte, daß ihr der Besuch der geliebten Tante bevorstand, hätte sie sich gewiß nicht aus dem Haus gerührt. Sie muß aber bald erscheinen. Indes müssen Sie schon mit mir vorliebnehmen.« Als sie sich im Wohnzimmer gegenübersaßen, fühlten sie sich mehr und mehr zueinander hingezogen. So zurückhaltend beide sonst auch gegen Fremde waren, kam zwischen ihnen ein Fremdsein erst gar nicht auf. Man spürte sofort, daß man einander vertrauen konnte. Also ging Beate nicht wie die Katze um den heißen Brei, sondern sprach freiweg: »Ich weiß nicht, wie weit Sie in die Verhältnisse hier eingeweiht sind, Frau von Gehldorn. Aber wie ich meinen Neffen kenne, wird er nicht sehr mitteilsam gewesen sein, stimmt's?« »Ja«, wurde lächelnd bestätigt. »Was Herr Doktor Brendor
mir sagte, waren nur Stichworte. Trotzdem glaubte ich ganz gut im Bilde zu sein. Es gehörte kein großer Scharfsinn dazu, mir das Gesagte mit dem Unausgesprochenen zusammenzureimen, da die Ehe ja eine der alltäglichen ist.« »Wie meinen Sie das, Frau von Gehldorn?« »Nun, der Mann viel auf Geschäftsreisen, die Frau weiß nichts mit sich anzufangen. Wenn da noch Intrigen um sie gesponnen werden und so weiter – tja, dadurch ist schon manch eine Ehe in die Brüche gegangen. Und diese hier – entschuldigen Sie bitte – hängt wohl auch nur noch an einem seidenen Faden.« »Leider – «, seufzte Beate. »Ist es Ihnen bekannt, daß Elonie ein Vierteljahr in meiner Familie weilte?« »Ja.« »Auch warum es geschah?« »So mitteilsam war Herr Doktor Brendor nicht.« »Dann werde ich es Ihnen näher erklären, damit Sie die richtige Einstellung bekommen.« Kurz erzählte sie, was sich zugetragen hatte, und als sie mit dem Bericht zu Ende war, sagte Frau Irene betroffen: »So arg habe ich es mir allerdings nicht vorgestellt. Wenn Sie nun nicht wegen der Erbschaftsangelegenheit das Haus Ihres Neffen hätten aufsuchen müssen, wäre da ein junges, verzweifeltes Menschenkind zugrunde gegangen. Also kann man wohl sagen, daß da wieder einmal eine höhere Macht noch gerade so zur Zeit eingegriffen hat. Armes Ding, was mag es ausgehalten haben.« Weiter kam sie nicht, da Elonie eintrat. Zuerst stand sie da wie erstarrt, doch dann jubelte sie auf: »Tante Beate, ist das mal eine freudige Überraschung! Du bleibst doch länger, nicht wahr?« »Zuerst laß mal meinen Hals los«, wehrte sie sich lachend gegen die feste Umschlingung. »Wenn du mich würgst, bleibt mir die Antwort in der Kehle stecken.« »Entschuldige, Tante Beate – aber ich freue mich doch so sehr. Jetzt bist du frei, nun beantworte meine Frage, aber enttäusche mich damit nicht.«
»Über Mittag bleibe ich bestimmt hier. Onkel Fritz mußte nämlich in eure Stadt zu einer Ärztezusammenkunft und nahm mich bis hierher mit. Die beste Gelegenheit, dir einen Gegenbesuch abzustatten, der eigentlich ein Vierteljahr dauern müßte«, fügte sie lachend hinzu. »Aber rechnen wir für jeden Monat eine Stunde, das genügt auch.« »Bißchen wenig«, kam es von der Tür her, durch die der Hausherr soeben schritt – distinguiert und selbstbewußt, so der richtige Gebieter. »Schönen guten Tag auch, Tante Beate. Wie nett, daß du dich hierher verirrst.« »Werde nicht ironisch, mein Sohn.« »Tante Beatchen, wie dürfte ich das wagen. Wo ist der liebe Onkel Fritz?« »In diesem Städtchen bei einer Ärztesitzung. Wenn die beendet ist, holt er mich hier ab.« »Na wunderbar. Aha, da ist ja auch Niklas, um uns zur Futterkrippe zu holen. Sie ist für unseren Gast doch gut gefüllt, Frau von Gehldorn?« »Er wird satt werden, Herr Doktor.« Man ging ins Speisezimmer hinüber, das Beate von ihren früheren Besuchen her kannte und das ihr doch irgendwie fremd vorkam. Verstohlen sah sie sich in dem kostbar eingerichteten Raum um, was sich darin wohl verändert haben mochte. Doch nichts Neues konnte sie darin entdecken, es war alles genauso wie früher. Mußten es also die Menschen sein, die das feudale Gemach verändert erscheinen ließen. Die eine Atmosphäre um sie schufen von gelassener Vornehmheit, während man früher immer das Gefühl hatte, als sei sie elektrisch geladen. Und zwar durch die Nervosität des Ehepaares, das immer in Eile war, immer in Hast. Der Mann durch seine Geschäfte, die Frau durch das Gesellschaftsleben, in dem sie als persona grata galt. Die Mahlzeiten wurden nie in Ruhe eingenommen, wenn man sie hier überhaupt einnahm, statt in einem Lokal. Immer dabei auf die schlanke Linie bedacht. Immer nach der Devise: Wer rastet, der rostet. Nun, sie hatten beide dieses unvernünftige, aufreibende
Leben durch einen verhältnismäßig frühen Tod bezahlen müssen. Die ausgemergelten Körper waren nicht widerstandsfähig genug gewesen, um der bösartigen Grippe standzuhalten, die sie in wenigen Tagen fast gleichzeitig dahinraffte. Und der Sohn? Der glich seinen nervösen, fahrigen Eltern in keiner Weise. Der hatte die Ruhe weg, wie man so sagt, sich selbst zu Nutz und Frommen. Denn unter seiner ausgeglichenen, bedachten Leitung hatte der große Betrieb, der ihm als Erbe zufiel, einen erheblichen Aufschwung genommen. Er stand jetzt auf der produktiven Höhe, nach der Brendor sen. wie besessen gestrebt hatte. Und was ihm trotz aller Besessenheit nicht gelang, erreichte sein Sohn in ruhiger, konzentrierter Arbeit. Das alles schoß Beate Norber durch den Sinn, während sie sich das vorzüglich zubereitete Mahl gut munden ließ, welches der Diener mit der Würde des >Hochherrschaftlichen< servierte. Den Mokka trank man in einem Stübchen, das eigentlich nur aus Teppichen nebst Polstern bestand, und unterhielt sich dabei mit der Friedfertigkeit des Gesättigten. Bald darauf erschien auch Onkel Fritz, mit freudigem Hallo begrüßt. Nachdem er Platz genommen hatte, sagte er mit einem Blick auf den Neffen zufrieden: »Wenn du in diesem luxuriösen Gemach Pfeife rauchst, darf ich das auch.« Sprach's, stopfte seine >geliebte Braunesüßen Herrin< zu schlafen, doch Frau von Gehldorn winkte freundlich ab. So saß sie denn wieder auf stiller Wacht, wie sie es bei ihrem Mann hatte oft tun müssen. Silbern tickte die Uhr auf dem Kamin, der Regen klopfte gegen die Fensterscheiben. Kein Wunder, daß die Hüterin bei dem monotonen Geräusch einschlummerte. Allerdings so leicht, daß sie bei einem Husten der Erkrankten auffuhr und verwirrt zum Bett eilte, wo ihr Elonie mit dickverquollenen Augen entgegensah. »Ich habe schrecklichen Durst«, klagte sie, worauf die Hausdame ihr das Glas mit dem gemixten Trank an die Lippen setzte, aus dem die Durstende gierig ihren Durst stillte und sich dann erquickt in die Kissen sinken ließ. »Wo haben Sie sich bloß diesen heftigen Schnupfen geholt?« fragte Irene und strich ihr das nasse Haar aus der Stirn. »Und noch dazu den Husten. Tut Ihnen etwas weh?« »Nicht mehr, als es bei einer Erkältung zu tun pflegt. Wie spät haben wir es?« »Kurz vor Mitternacht.« »Und dann sind Sie noch nicht im Bett?« »Zuerst möchte ich noch einmal die Temperatur messen, dann strecke ich mich auf dem Lager, das ich mir auf dem Diwan bereitet habe, aus.« »Nein, Frau von Gehldorn, daraus wird nichts. So krank bin ich doch nun wirklich nicht, daß Sie bei mir wachen müssen. Sie haben nach des Tages Müh und Plage wahrlich Ihre Ruhe nötig.« »So arg ist diese Plage gar nicht«, lächelte Irene. »Ich führe in Ihrem Hause ein recht geruhsames Leben. Außerdem könnte ich keine Ruhe finden, wenn ich Sie hier allein las-
sen sollte.« Bevor sie noch das Thermometer eingelegt hatte, schlief Elonie bereits wieder. Gottlob, die Temperatur war nicht gestiegen, und somit hatte sich der Zustand nicht verschlechtert. Also durfte Frau Irene es wagen, sich zur Ruhe zu begeben, was sie denn auch tat. Doch es wurde ein unruhiger Schlaf, aus dem das geringste Geräusch sie aufschrecken ließ. Also kein Wunder, daß sie sich müde und unausgeschlafen am Morgen erhob. Doch nach einem kühlen Bad und dem heißen, starken Kaffee fühlte sie sich frisch wie eh und je. Dann ging sie wieder zu ihrem Pflegling, der warm zugedeckt im Sessel saß und ihr als Morgengruß ein herzhaftes >Hadschi< zunieste. »Gesundheit!« sagte die Eintretende lachend, wurde dann jedoch ernst, als sie das Häuflein Unglück betrachtete. Die Augen verquollen, die Nase heiß und rot. Frau Irene war Nanny behilflich, das Bett zu beziehen, damit die Kranke sich so schnell wie möglich hineinstrecken konnte. Kaum daß sie lag, klopfte es, und Doktor Norber erschien, gefolgt von der Gattin. »Onkel Fritz, du –?« fragte die Nichte nicht wenig erstaunt. »Was willst du denn hier?« »Komische Frage, mein Herzchen. Was soll ein Arzt schon bei einer Kranken wollen.« Prüfend ging sein Blick über sie hin, die Finger griffen gewohnheitsmäßig nach dem Puls. Als Elonie sich gegen die Untersuchung sträubte, fuhr er sie so barsch an, daß sie ihn eingeschüchtert gewähren ließ. Er horchte mit dem Stethoskop Brust und Rücken ab, untersuchte Augen, Hals, Nase, Ohren und meinte dann bedächtig: »Noch ist es eine tüchtige Erkältung, also muß man vorbeugen, damit es nicht mehr wird. Bestellen Sie bitte ein Glas Milch, gnädige Frau, heiß und mit Honig gesüßt. Indes werde ich mal dein Ärmchen pieken, mein Liebling, so für alle Fälle.« Elonie ließ resigniert alles über sich ergehen. Trank auch die Milch, in die der Arzt eine Tablette getan hatte, und
schlief ihm dann unter den Händen ein. »Na also«, nickte er. »Die ist für eine gute Weile verwahrt und aufgehoben. Gehen wir. Auch Sie, gnädige Frau. Hier gibt es für Sie nichts zu tun. Aber mir können Sie ein opulentes Frühstück servieren lassen.« »Ich wüßte nicht, was ich lieber täte, Herr Doktor. Sie werden zufrieden sein.« Das konnte er auch. Denn das Frühstück war delikat, das er vorgesetzt bekam und an dem der ausgehungerte Mann sich labte. Er war erst gegen Morgen von der Gebärenden zurückgekehrt, hatte vier Stunden wie ein Toter geschlafen, zum Frühstück nur eine Tasse Kaffee getrunken. Nun holte er alles nach, was er versäumte. Schmunzelnd griff er in die Kiste, die Frau von Gehldorn ihm reichte, steckte die vorzügliche Importe in Brand und legte sich mit Behagen im Sessel zurück. »Jetzt bin ich bereit, alle Fragen zu beantworten«, zwinkerte er den beiden Damen vergnügt zu. »Denn ich sehe sie ja förmlich auf den Lippen brennen.« »Gewiß kein Wunder«, bemerkte Frau Beate. »Was ist nun mit Elonie?« »Sie hat eine tüchtige Erkältung, und ich hoffe, diese mit Spritze und Tablette eingedämmt zu haben. Den Verlauf muß man nun abwarten, wobei Vorsicht geboten ist. Auch wenn sie sich in den nächsten Tagen gesund fühlen sollte, sie muß trotzdem eine Woche im Bett bleiben. Lieber zu vorsichtig als zu wenig, da ihr Mann nicht zu Hause ist und wir allein die Verantwortung tragen müssen.« »Wenn er sich nun meldet und die Reiseroute angibt, soll ich ihn dann von der Erkrankung seiner Gattin unterrichten, Herr Doktor?« »Unbedingt, gnädige Frau. Er könnte Ihnen sonst Vorwürfe machen. Jetzt muß ich leider aufbrechen, damit ich noch zur Sprechstunde zurechtkomme. Ich laß die Tabletten hier, von denen Elonie dreimal am Tag eine in heißer Milch nehmen muß. Sollte sich ihr Zustand verschlechtern, was ich jedoch nicht annehme, rufen Sie mich sofort an.
Sonst komm' ich übermorgen wieder her.« »Und wie steht es mit der Kost?« »Geben Sie ihr, was sie verlangt, es wird vorerst ohnehin nicht viel sein. Und Sie, gnädige Frau, holen den versäumten Schlaf nach. Sie sehen nämlich ziemlich mitgenommen aus. Mag indes die Zofe auf ihre Herrin achten. Und nicht den Kopf hängen lassen, gnädige Frau. Immer daran denken, daß meine Frau und ich zu jeder Zeit für Sie da sind.« Man konnte bei Elonie den Ausspruch anwenden, daß sie nur gerade so mit dem blauen Auge davongekommen war. Denn die starke Erkältung ging nur gerade so knapp an einer Lungenentzündung vorbei. Jedenfalls war sie nach vier Tagen von Schnupfen und Husten befreit, schaute wieder mit klaren Augen um sich. Lachte vergnügt Tante und Onkel entgegen, die soeben bei ihr eintraten. »Na, da haben wir endlich unsere alte Elo wieder«, schmunzelte letzterer. »Drei Tage war der Spatz so krank, jetzt zwitschert er wieder -Gott sei Dank!« »Birgit stand schon Angst aus, daß du bis Ostern nicht gesund werden könntest«, erzählte die Tante. »Obwohl sie immer noch nicht weiß, ob sie hierherkommen darf. Sie lernt jetzt mit Eifer und ist auch sonst lammfromm.« »Das allein wäre schon eine Belohnung wert«, meinte Irene. »Wollen Sie da nicht ein Auge zudrücken, wenn das Zeugnis nicht ganz nach Wunsch ausfallen sollte?« »Nein, Frau von Gehldorn«, kam es mit Entschiedenheit zurück. »Wenn ich nein sage, soll sie wissen, daß es auch nein bleibt. So nur kann ich bei dem gerissenen Persönchen meine Autorität wahren.« Dabei blieb sie, und keine noch so schönen Worte hätten ihren Standpunkt erschüttern können, der ja auch der richtige war. Jetzt würde die kleine Birgit diese Strenge wohl nicht begreifen, aber später ihrer Mutter dafür dankbar sein. Denn ein von den Eltern guterzogener Mensch hat es im Leben bedeutend leichter als ein verzogener. Der wird Lehrgeld zahlen müssen an allen Ecken und Enden. Das nächste Beispiel dafür war Elonie Brendor. Hoffentlich
mußte sie mit dem Lehrgeld nicht doch noch ihre Ehe bezahlen, damit sah es nämlich trauriger aus denn je. Viel schien der Mann für seine Frau nicht übrig zu haben, sonst hätte er sich von seiner Reise bestimmt schon gemeldet. Aber nichts. Nicht mal eine armselige Karte, geschweige denn ein Brief. »Ist von meinem Neffen immer noch keine Nachricht da?« fragte Frau Beate, als man mit Irene unten angekommen war. Diese schüttelte bekümmert den Kopf. »Nein, Frau Norber. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich davon halten soll. Herr Doktor Brendor ist doch sonst so korrekt. Man könnte fast fürchten, daß ihm unterwegs etwas zugestoßen ist.« »Da sei Gott vor«, seufzte Frau Beate. »Man kommt aus der Sorge um diese beiden törichten Menschen nicht mehr heraus. Wie nimmt Elonie sein Schweigen auf?« »Keine Ahnung, da sie den Gatten gar nicht erwähnt. Es ist schwer, klug aus ihr zu werden.« »Genauso wie aus ihm«, brummte Norber. »Die geben ihren Mitmenschen Rätsel auf, die sie wahrscheinlich selbst nicht lösen können. Bin nur neugierig, wie Diederich sein Schweigen erklären wird.« Das sollte zuerst Frau von Gehldorn erfahren. Es war zwischen Mittag und Kaffee, also eine Zeit, die ihr gehörte. Daher war sie ziemlich ungehalten, als der Diener bei ihr erschien. »Was wünschen Sie denn, Niklas?« fragte sie kurz. »Sie wissen doch, daß ich um diese Zeit nicht gestört zu werden wünsche.« »Sehr wohl. Aber der Herr Doktor ist von seiner Reise zurückgekehrt und läßt fragen, ob die gnädige Frau zu sprechen wäre.« »Das ist natürlich etwas anderes. Bestellen Sie dem Herrn Doktor, daß ich so schnell wie möglich bei ihm erscheinen werde.« Fünf Minuten später begrüßte sie den Heimgekehrten, der sich höflich erkundigte, wie es ihr indes ergangen wäre.
»Nicht besonders, Herr Doktor«, entgegnete sie kühler, als es sonst ihre Art war. »Ihrer Gattin ging es nicht gut, sie war krank.« »Und weshalb haben Sie mich nicht davon benachrichtigt, Frau von Gehldorn?« »Weil ich Ihre Anschrift nicht wußte, Herr Doktor.« »Nanu, ich habe doch eine Karte an meine Frau geschrieben und ihr darauf meine jeweilige Adresse mitgeteilt.« »Ihre Gattin hat diese Karte nicht erhalten.« »Wissen Sie das genau?« »Ganz genau. Da Frau Brendor am Tag Ihrer Abreise erkrankte, hätte ich die Karte gleich der anderen Post in Empfang nehmen und sie ihr ans Bett bringen müssen. Es waren aber nur Reklamen, die der Postbote mir in den Tagen überreichte.« »Dann muß die Karte verlorengegangen sein. Erzählen Sie mir bitte, was sich in den Tagen meiner Abwesenheit hier zugetragen hat.« »Kurz nachdem der Chauffeur den Koffer geholt hatte, kam Ihre Gattin aus dem Tattersall zurück. Sie war blaß, klagte über Kopfschmerzen sowie Frostgefühl und meinte, daß sie wahrscheinlich den Schnupfen kriegen würde. Ich war natürlich besorgt und wollte das Werk anrufen, in der Hoffnung, daß ich Sie dort noch erreichen würde. Doch das lehnte Frau Brendor ganz entschieden ab, wollte Sie auf keinen Fall von der Reise abhalten. Auch einen Arzt lehnte sie ab, worauf ich zuerst auch einging. Als das Fieberthermometer jedoch über 38 zeigte, rief ich trotz des Protestes Ihrer Gattin den Hausarzt an. Der befand sich jedoch auf einer Tagung, und einen fremden Arzt zu konsultieren wagte ich nicht. Da wandte ich mich in meiner Besorgnis telefonisch an Herrn Doktor Norber, der jedoch zu einer Entbindung fort mußte, die, wie er betonte, sich bis zum Morgen hinziehen könnte. Er erkundigte sich nach dem Zustand der Kranken und sagte dann, daß ich, falls das Fieber steigen sollte, Herrn Doktor Holter herbitten müßte, der von seinem Fach etwas versteht. -
Gottlob stieg das Fieber nicht, so daß der erwähnte Arzt sich nicht herzubemühen brauchte. Am Morgen erschien dann Herr Doktor Norber nebst Gattin. Er stellte eine heftige Erkältung fest, so daß sie gerade noch so knapp an einer Lungenentzündung vorbeiging. Vier Tage darauf war die Kranke wieder munter, mußte jedoch auf Anordnung des Arztes noch drei Tage im Bett bleiben und ist gestern zum erstenmal wieder aufgestanden. Das ist alles, Herr Doktor.« Aufmerksam war er dem Bericht gefolgt, dann sagte er ungehalten: »Ausgerechnet dieses Mal mußte eine Karte von mir verlorengehen, was noch nie der Fall war. Zwar hätte meine Frau mir nicht geantwortet, das tut sie ja nie aber Sie hätten von meiner Anschrift erfahren und mir die Erkrankung mitteilen können. Selbstverständlich hätte ich dann meine Reise abgebrochen und wäre auf schnellstem Wege nach Hause gekommen. Wo ist meine Frau jetzt?« »Sie ging nach dem Mittagessen wieder zu Bett. Ob sie schläft, weiß ich allerdings nicht. Soll ich ihr Bescheid sagen, daß Sie zurückgekehrt sind, Herr Doktor?« »Nein, ich möchte meine Frau in ihrer Mittagsruhe nicht stören. Außerdem muß ich gleich ins Werk. Zum Abendessen finde ich mich ein. Also bis dann.« Rasch entfernte er sich, und Frau Irene ging schweren Herzens in ihr Zimmer zurück. Daß Brendor die Karte geschrieben hatte, daran hegte sie keinen Zweifel. Aber seine Frau tat es bestimmt, die ohnehin voller Mißtrauen steckte. Und er würde auch diesmal nichts tun, um dieses Mißtrauen zu entkräften. Und damit hatte sie recht. Als er vor dem Abendessen die Gattin begrüßte, sprach er sein Bedauern darüber aus, daß sie gerade in seiner Abwesenheit hatte erkranken müssen. »Du hättest mir ja doch nicht helfen können«, meinte sie leichthin. »Dank Frau von Gehldorns aufopfernder Pflege und Onkel Fritz' ärztlicher Betreuung bin ich wieder wohlauf.«
»Es beruhigt mich, daß du so treue Menschen um dich hattest. Wie mir Frau von Gehldorn sagte, hast du meine Karte nicht erhalten?« »Nein.« »Das tut mir leid.« »Mir auch.« Damit war die Angelegenheit erledigt. Man ging ohne jede Auseinandersetzung zur Tagesordnung über. Eigentlich recht erfreulich – dachte Frau Irene. Wenn es nur nicht so unnatürlich wäre. Geht das so weiter, können diese beiden Menschen nicht mehr zueinander finden. Das kann unmöglich ein gutes Ende nehmen. Der Meinung war auch Tante Beate, als der Neffe bei ihr anrief und sich bei ihr bedankte, daß sie und vor allem Onkel Fritz sich um Elonie bemüht hatten. Ostern fiel in diesem Jahr auf Ende März, und die Natur hatte sich zu dem Empfang des Frühlingsfestes herrlich geschmückt. Die Birken umwallten zartgrüne Schleier, Leberblümchen und Buschwindröschen blühten, Krokusse leuchteten auf den gepflegten Rasenflächen, auf den Beeten prangten die ersten Gartenblumen. Lachend behauptete Frau von Gehldorn, daß Elonie sich in einem Frühlingstaumel befinde. Sie konnte nicht genug kriegen von der erwachenden Natur. Frühmorgens war sie schon draußen und erschien beim Frühstück, das sie jetzt auch in Gesellschaft des Gatten einnahm, nie ohne eine Handvoll Blumen. Tagsüber flitzte sie in ihrem kostbaren Wagen durch Wald und Flur, immer in Begleitung Frau von Gehldorns, an die sie sich immer fester anschloß. Den Gatten bekam sie nur zu den Mahlzeiten und einige Stunden am Abend zu sehen. Wenn er jedoch verhindert war, auch dann noch nicht einmal. Geschäftlich verhindert, hieß es – wofür Elonie ein verächtliches Lächeln hatte. So führten denn die Gatten jeder sein Leben für sich und schienen damit zufrieden zu sein. Nie gab es zwischen ihnen Meinungsverschiedenheiten, nie ein böses Wort. Ideal – aber unnatürlich.
Man saß an einem Tag kurz vor Ostern gerade beim Mittagessen, als ein Anruf für Elonie kam. Am anderen Ende wurde Birgits Stimme hörbar, die sich vor Aufregung fast überschlug. Wohl war es wirr und kraus, was da hervorgebracht wurde, aber immerhin so verständlich, daß das Zeugnis der Kleinen keine Vier aufwies und sie daher die Osterferien im Brendorhaus verleben durfte. Die Feiertage über mußte sie noch zu Hause bleiben, und für den zweiten Feiertag wären Frau von Gehldorn, Elonie und Diederich herzlich eingeladen. Auf der Rückfahrt käme sie dann mit, sie müßte allerdings noch Diederich fragen. Da gab Elonie den Hörer an ihn ab, und er bekam dasselbe zu hören. Nur noch eine lange Frage dazu, die er mit >Ja< beantwortete. Dann wurde er verabschiedet und legte den Hörer lachend auf. »Das Firlefänzchen ist vielleicht aufgeregt. Da wird ihre arme Mutti in den nächsten Tagen nichts zu lachen haben.« »So arg war es nicht«, erklärte sie, als am Zweitfeiertag die Gäste sie danach fragten. »Sie hatte ein Spielzeug, das sie wohltuend von mir ablenkte.« »Und es ist süß, das Spielzeug«, sagte die Kleine strahlend. »Doch jetzt ist es abgemeldet, jetzt habe ich euch. Elo, kommst du mit mir nach oben, um mir zu sagen, was ich einpacken soll? Mutti meint, daß vieles, was ich gern mitnehmen möchte, unnötig wäre.« »Dann stimmt es auch, Itt.« »Ach, Elo, du bist manchmal genauso pedantisch wie ein Erwachsener.« Sie zog ein Mäulchen und konnte nicht begreifen, daß man über ihre Bemerkung lachte. »Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt«, meinte sie vorwurfsvoll. »Du hast doch selbst gesagt, Mutti, daß Elonie sich manchmal wie ein ungezogenes Kind gebärdet.« »Ei Backe!« lachte Knut, der sich über die Feiertage im Elternhaus eingefunden hatte. »Da hat der kleine Kessel wieder mal Ohren gehabt, Muttchen.« »Die ich ihm gleich langziehen werde«, drohte sie, worauf der >kleine Kessel< es vorzog, sich durch Flucht der stra-
fenden Hand zu entziehen. »Das ist doch ein ganz gräßliches Gör«, seufzte die Mutter, nachdem das Töchterlein verschwunden war. »Altklug und naseweis bis dort hinaus. Bei Knuts Erziehung hatte ich es bedeutend leichter.« »Muttchen, hast du aber ein kurzes Gedächtnis«, blinzelte er ihr verschmitzt zu. »Es ist noch gar nicht so lange her, als du mich einen gräßlichen Bengel nanntest.« »Jetzt fang du auch noch an«, wollte sie ärgerlich werden, mußte dann jedoch mit den anderen lachen. Es wurde ein so gemütlicher Nachmittag, wie man ihn im Doktorhaus erwarten durfte. Brendor genoß diese Gemütlichkeit mit Behagen. Er amüsierte sich stillvergnügt über die trockene Art des Onkels, über die resolute Tante, über den schlagfertigen Knut und über die jetzt so brave Itt. Die mußte wohl ihre Mutter kennen, die es fertigbekommen würde, bei einer Unart ihrer Tochter auch jetzt noch gewissermaßen vor Toresschluß den Ferienaufenthalt im Brendorhaus zu verbieten. Unschuldig wie ein Engel saß sie da in ihrer lichten Blondheit. Die Blicke der großen Blauaugen flitzten umher, die rosigen öhrchen waren gespitzt, damit ihnen nur ja nichts entging, was getan und gesprochen wurde. Ein aufgewecktes Dinglein, an dem man seine Freude haben konnte. Die kleinen Unarten fielen kaum ins Gewicht, selbst sie konnte man mit liebenswert bezeichnen. Daß sie nicht Überhand nahmen, dafür sorgte schon die Mutter. »Darf ich jetzt etwas sagen?« hob sich das Fingerlein wie in der Schule. »Ich möchte Elo bitten, mit mir nach oben zu kommen und den gepackten Koffer zu revidieren. Dafür wird es jetzt so langsam Zeit.« Elonie tat ihr den Gefallen, und kaum, daß die beiden außer Hörweite waren, brach das Gelächter los, das sie nur mit Mühe zurückgehalten hatten. »Na, Muttchen, unseren Firlefanz hast du ganz gut kleingekriegt«, schmunzelte der Gatte. »So viel Artigkeit ist direkt beängstigend. Gefällt es dir?«
»Das wird nicht lange vorhalten, Alterchen. Unsere Itt kommt jetzt nämlich in die sogenannten Flegeljahre. Da muß man gleich mit der Schere stutzen, was wild hervorschießen will. Wenn sie ungezogen werden sollte, schick sie nach Hause, Diderich.« »Das verlangst du doch nicht im Ernst von mir, Tante Beate? Wie sollte ich es wohl übers Herz bringen, einem so reizenden Mägdlein weh zu tun.« »Die Ritterlichkeit im Manne«, blähte Knut sich auf. »Ich bekäme das auch nicht fertig. Ich ziehe höchstens an den Zöpfen, wenn so ein Gör patzig wird.« »Das kann unter Umständen auch ganz nett weh tun«, lachte Frau von Gehldorn herzlich. »Ich für meinen Teil finde die Kleine allerliebst, lange nicht so unartig wie die meisten Kinder. Zum Beispiel die der Familie, bei der ich war, bevor ich ins Brendorhaus kam. Das waren die richtigen Rangen, frech und flegelhaft bis zum Greuel. An mich wagten sie sich nicht damit heran, aber die Dienerschaft hatte sehr darunter zu leiden. Wenn ich da nicht vermittelnd eingegriffen hätte, wäre es jeden Monat zu einem Wechsel gekommen.« »Und was sagten die Eltern dazu?« fragte Knut interessiert. »Für die waren die lieben Kleinen natürlich die herzigsten Kinder der Welt. Nun, sie werden später das ernten, was sie säten, so was bleibt nie aus.« Weiter konnte sie nicht sprechen, da Elonie und Birgit eintraten. »Mutti, es ist nicht zuviel, was ich einpackte«, berichtete die Kleine eifrig. »Elo sagt, das muß ich haben. Zwei Wochen sind ja auch eine lange Zeit.« »Sollst mal sehen, wie rasch sie vergehen«, dämpfte der Bruder ab. »Eh du dich recht versiehst, sind sie um.« »Wenn sie bloß erst da wären«, seufzte die Kleine. »Darf ich jetzt schon, Muttichen, damit die Zeit schneller vergeht?« »Erst wenn ihr abfahrt, Birgit. So war es vereinbart, und so wird es geschehen.« Also galt es, sich weiter in Geduld zu fassen. Als es dann
endlich soweit war, flitzte das Kind ab, und als es wiederkam, trug es einen kleinen Hund, den es Elonie strahlend überreichte. »Nimm ihn schon«, drängte sie, als die junge Frau wie erstarrt stand. »Diederich erlaubt, daß ich ihn dir schenke. Ist er nicht ein goldiger Kerl? Echter Airedaleterrier, ein Sohn von unserm Adolar. Er ist jetzt sechs Wochen alt und bereits stubenrein. Ist das nicht eine Leistung?« »Allerdings.« Elonie wurde langsam munter. »Und das Prachtexemplar soll ich haben?« »Aber ja doch, ich sage es schon immerzu. Von meinen Ersparnissen habe ich ihn gekauft, um dir eine Freude zu machen.« Da griff Elonie endlich zu. Sie strahlte jetzt ebenso wie Itt. Und ein strahlender Blick verirrte sich auch zu dem Gatten hin. »Died, du erlaubst es wirklich, daß ich den Hund behalte?« »Gern sogar. An dem Kerlchen werden wir bestimmt noch unsere Freude haben.« »Ich hätte ihn ja am liebsten behalten«, gestand Birgit. »Mutter meint, daß zwei Hunde für uns zuviel sind. Und dann wollen wir auch Adolar nicht kränken, der sehr eifersüchtig auf seinen Sohn ist. Auch Rosamunde mag ihn nicht leiden. Als ich einmal mit ihm spielte, hat sie ihn geohrfeigt, und Adolar verkriecht sich, sofern die Kleine nur sichtbar wird. >Hurtig< habe ich ihn getauft, weil er doch so flink ist wie ein Wiesel. Im Stammbaum führt er allerdings den Namen >PrinzHurtigHurtig< vergnügten. Sie warfen einen Ball, dem er nachtapste und sich bemühte, ihn zwischen die Pfoten zu klemmen. Aber immer wieder rollte das runde Ding ab, was ihn unwillig knurren ließ. Darüber wollten die beiden sich totlachen, und auch Frau Irene, die im Ses-
sel saß, sah dem munteren Treiben vergnügt zu. Wie auch der Hausherr, der unbemerkt in der Tür stand. Erst als er amüsiert auflachte, fuhren die Köpfe zu ihm herum. »Du bist hier?« Elonie sprang überrascht auf. »So außer der Zeit?« »Ich habe es mir erlaubt«, entgegnete er spöttisch. »Oder darf ich das nicht?« »Red doch keinen Unsinn«, winkte sie unwillig ab, und auch Birgit, die auf ihn zutrat, sagte vorwurfsvoll: »Aber wirklich, Died, wie kannst du bloß. Wir freuen uns doch immer, wenn du kommst.« Sie reckte sich hoch, umhalste ihn und drückte einen Kuß auf seine Wange, was er sich schmunzelnd gefallen ließ. Dann kniff er ein Auge zu und fragte neckend: »Na, mein Kätzchen, was willst du dir mit dem Küßchen denn erschmeicheln, hm?« »Pfui, Diederich, das war häßlich!« entrüstete sich die Kleine. »Muß man denn immer gleich von einem Menschen etwas haben wollen, wenn man lieb zu ihm ist?« »Wenn ich nun aber mal die Erfahrung gemacht habe?« tat er zerknirscht, während seine Augen lachten. »Ach was, ich bin dir böse.« »Wie schade. Dann wirst du wohl auch ausschlagen, mit mir auf den Rummel zu gehen, wie?« »Rummel -?« Ihre Augen wurden groß und rund. »Gibt's den denn hier?« »Und wie! Mit allem Drum und Dran.« »Ach Diederich, ich glaube, daß ich dir doch nicht so recht böse sein kann.« Jetzt platzten die anderen mit dem Lachen heraus, das sie nur mühsam zurückgehalten hatten. »Wenn du keine rechte Eva bist, kleines Bäschen! Also auf zum Bummel über den Rummel. Die Damen halten doch mit?« Dazu waren sie gern bereit, und so zog man denn frohgemut von dannen. Unmittelbar an dem großen Platz war keine Parkstelle. So
brachte denn Brendor den Wagen in einer naheliegenden Garage unter, und man ging die letzte Strecke zu Fuß. Sie waren bestimmt nicht die einzigen, die dem Platz zustrebten; denn ein Jahrmarkt ist immerhin ein Ereignis. Zumal dann, wenn er so viele Vergnügungen bietet, wie dieser es tat. Da gab es aber auch alles, was das Herz begehrte. Karussells, Schau-, Würfel- und Schießbuden, Glücksräder, Schwebebahnen, Hippodrom, Panoptikum, Irrgarten, Teufelsmühle und manches Vergnügliche mehr. Dazu dudelte, knatterte, plärrte, quietschte es an allen Ecken und Enden. Lachende Menschen wogten durch die Gänge, so daß man aufpassen mußte, sich in der Masse nicht zu verlieren. »Laß meine Hand nicht los, Birgit, damit du nicht von uns abgedrängt wirst«, ermahnte der große Vetter das Bäschen, das mit strahlenden Augen in den Tumult schaute. »Frau von Gehldorn hält deine andere Hand, und du, Elonie, hak dich bei mir ein, damit wir alle hübsch zusammenbleiben. « So traut vereint zog man denn ab, bereit, all den netten Unsinn mitzumachen. Bei der blutjungen Frau und dem Kind war es gewiß kein Wunder, aber bei der seriösen Dame und dem herrischen Mann erstaunte es. Jedenfalls hatte Elonie den Gatten noch nie in einer so ausgelassenen Stimmung gesehen. Selbst während der Flitterwochen war er nicht so aus sich herausgegangen wie heute. Bei allem, was Birgit vorschlug, machte er eifrig mit. Wenn einer der Untergebenen den strengen Chef so hätte sehen können, wäre er wohl baß erstaunt gewesen. Das Kleingeld, das in den Hosentaschen des vergnügten Mannes klimperte, schien unerschöpflich zu sein. Nicht nur das Kinderplatschen wurde immer wieder damit gefüllt, sondern auch die schlanken Hände der beiden Damen. Zuerst besorgte man sich lustigbunte Bastkörbchen, worin man den erwürfelten, erlosten oder am Glücksrad gewonnenen Segen bergen konnte. Er bestand zumeist aus stan-
niolumhüllten Leckereien und niedlichen Kleinigkeiten, die kunterbunt im Körbchen schillerten, woran nicht nur das Kind, sondern auch die Erwachsenen ihre Freude hatten. Man wollte sich totlachen, als ausgerechnet der distinguierte Mann bei den Losen einen Haupttreffer zog und dafür einen großen weißen Eimer erhielt, der mit einer Flasche Wein – gewiß nicht vom besten -Speck, Wurst und Konserven gefüllt war. Stolz hing, der Gewinner seinen Schatz über'n Arm, was bei seiner stolzen Erscheinung so komisch wirkte, daß alle Umstehenden herzlich lachen mußten. »Died, willst du etwa so losziehen?« fragte Elonie, und erstaunt sah er sie an. »Na, was denn sonst? Der Staatseimer ist ehrlich erworben. Schieb du deinen Arm unter seinen Bügel, Birgit faßt in den Bügel des Körbchens, so bleiben wir weiter treulich vereint.« Weiter gings, von manch einem lachenden Blick oder Schmunzeln gefolgt; denn der Industrielle Brendor und seine bezaubernde Gattin waren stadtbekannte Persönlichkeiten. Man nannte ihn allgemein den großen Brendor und war mächtig stolz, ihn zum Mitbürger zählen zu dürfen. An einer Bude, wo Würstchen geröstet wurden, machte er halt und fragte augenzwinkernd: »Wollen wir?« Und wie man wollte! Vergnügt schmauste man die zwischen einem Brötchen steckenden knusprigen Würste, was bei Diederich etwas schwierig war, da auf einem Arm der Eimer, auf dem anderen der Bastkorb hing. Doch er nahm lieber die Unbequemlichkeiten mit in Kauf, als daß er sich von seinen Schätzen trennte, was Birgit aber auch gar nicht gefiel. »Diederich, ich möchte doch so gern im Karussell fahren«, bettelte sie. »Aber dazu mußt du die Arme freihaben, um mich festzuhalten. Wenn wir überall gewesen sind, wohin ich doch so schrecklich gern möchte, kannst du deinen Gewinn wieder stolz tragen. Bitte, bitte, lieber Died!«
»Na schön«, gab er nach, sich mit seinem charmanten Lächeln an die schmucke Maid am Röster wendend. »Mein liebes Fräulein, würden Sie die Güte haben, unsere Schätze für eine Weile aufzubewahren. Ja? Das ist aber mal nett.« Jetzt konnte man unbehindert weiter seinem Vergnügen nachgehen. Es zog Birgit mächtig nach dem einen Karussell, das da so glitzernd auf- und niedersauste. Aber noch mußte sie ihre Ungeduld zähmen, weil der große Vetter an einer Bude stehenblieb, wo man Pfefferkuchenherzen am langen Seidenband erwürfeln konnte. Er tat es solange, bis er seinen Begleitern je ein Herz um den Hals hängen konnte. An seinem baumelten sogar zwei. Schmunzelnd las er, was auf dem aufgeklebten Buntpapier geschrieben stand: »Alle Tage ist kein Sonntag – sehr richtig. Und was steht hier? Küssen ist keine Sund' – ist es auch nicht. Und was rät dir dein Herzchen?« »Jung gefreit, hat niemand gereut.« »Richte dich danach, kleine Itt. Warum freuen Sie sich denn so, Frau von Gehldorn?« »Weil ich mir das Geschriebene zu Herzen nehmen werde, nämlich: Such dir einen Schatz.« »So was kann nie schaden. Und dein Herz, Elonie, was sagt das?« »Die Ehe ist ein Übel.« »Altbekannte Weisheit. Nur hätte die Fortsetzung dazu stehen müssen: Sie ist wie eine Zwiebel, man weint dabei und ißt sie – doch.« »Abscheulich!« lachte Elonie, während er sie mit sich zog, dorthin, wo man Jägerhütchen und Papierblumen erschießen konnte. Der gute Schütze tat's und alle wurden versorgt, und so, herrlich geschmückt, erreichte man das Karussell. Kaum, daß es stand, kletterte Birgit hinein, Frau von Gehldorn mit sich ziehend und sie in einen buntglitzernden Wagen drängend. Die jungen Gatten nahmen dahinter Platz – und der Wirbel begann. Huiii -! – Wie das flitzte, so über Berg und Tal mit rasender Geschwindigkeit. Die Mädchen kreischten, die Burschen
johlten, und dazwischen dudelte die Musik. Birgit hielt Frau Irene umklammert, die sich wiederum an dem Griff festhielt. Gleichfalls tat es Elonie mit ängstlichem Gesicht. Sie hatte gar nichts dagegen, daß der Gatte sie dicht zu sich heranzog. Sie schmiegte sich fest in seinen Arm mit dem Gefühl, daß ihr jetzt nichts mehr passieren könnte. Man blieb in dem Wirbel so lange, bis selbst die unersättliche Itt genug hatte und Frau von Gehldorn auszusteigen bat. Als man wieder festen Boden unter den Füßen spürte, atmete man wie befreit auf. Aber schadet nichts, schön war's doch! Gut, daß die Hütchen mit Gummiband versehen waren, sonst hätten sie sich wohl bei dem tollen Wirbel selbständig gemacht. Wohl saßen sie schief auf den Köpfen, wurden zurechtgerückt, und auf ging's zum Hippodrom, wo sich selbst die seriöse Frau von Gehldorn auf eines der geduldigen Pferde setzte. In einer Schaubude bewunderte man den dicksten Mann der Welt, machte in der Teufelsmühle den spektakelnden Unsinn mit, besah sich die Figuren im Panoptikum und wollte sich im Irrgarten über die verzerrten Spiegelbilder kaputtlachen, wie auch alle anderen Besucher. Aus allen Ecken hörte man schallendes Gelächter. »Sind wir nicht ein schönes Paar?« Diederich zeigte auf einen Spiegel, der ihn und Elonie Arm in Arm zurückwarf. Klein und kugelrund, die Vollmondgesichter zu breitem Grinsen verzogen. »So sehen wir entschieden schöner aus. Also wollen wir uns zu dieser Fülle aufmästen.« »Wird gemacht«, nickte sie. »Gutgenährt heißt gutgelaunt.« In dem Moment öffnete sich eine Tür, wo man sie in dem Spiegellabyrinth nicht vermutet hätte, und lachende Menschen verließen die vergnügliche Stätte. Mittlerweile war die Dämmerung hereingebrochen, doch auf dem Rummelplatz war es strahlend hell. Die vielen Lampen verströmten ihr Licht in allen Farben. Da auf einem Rummel erst abends der Hochbetrieb einsetzt, füllten
sich die Gänge immer mehr. Es wogte nur so von Menschen, unter denen sich bestimmt auch üble Elemente befanden, die hauptsächlich die Weiblichkeit anrempelten in unflätiger Weise. Dem wollte Brendor die Seinen nicht aussetzen und mahnte daher zum Aufbruch, mit dem selbst Birgit einverstanden war. Mühsam schlängelte man sich durch die Menschenmenge, bis man endlich die Bude erreichte, wo die schmucke Maid hinter dem Röster ihnen vertraulich entgegenlächelte. Obwohl Hochbetrieb war, fertigte sie den Mann, der ihr doch so gut gefiel, sofort ab. Eifrig reichte sie ihm die Körbchen nebst dem Eimer hin und erhielt als Dank außer einer Konfitürenschachtel eines der Pfefferkuchenherzen, das er von seinem Hals löste und über den hübschen Mädchenkopf streifte. »Nehmen Sie es sich zu Herzen, was darauf steht«, sagte er lachend. »Küssen ist keine Sund'. Besten Dank, mein Fräulein, für die Aufbewahrung unserer kostbaren Schätze.« Er reichte den Seinen die ihnen zukommenden Schätze, schob Eimer nebst Korb über die Arme und ging unter dem Gelächter der Umstehenden stolzerhobenen Hauptes davon zur Garage, wo man sich müde in die Polster sinken ließ. Und mit dem Moment wurde aus dem übermütigen, jungenhaften Diederich wieder der seriöse Industrielle Brendor, der Gebieter über ein großes Werk. Schade, daß die Hemmungen, die sich während der frohen Stunden zwischen den Gatten so erfreulich gelockert hatten, nun wieder da waren. Nun ja, alle Tage ist kein Sonntag. Die Sonntagslaune verflog, und die Alltagssorgen und nöte machten sich geltend. Die hätte es zwischen diesen Eheleuten nun wahrlich nicht zu geben brauchen. Sie hatten viel Geld, ein luxuriöses Heim, Gesundheit, körperliche Schönheit – aber sie hatten törichte Herzen. Allein bei Birgit hielten diese frohen Stunden noch an. Sie mußte sich immer weiter freuen über die niedlichen Klei-
nigkeiten, zu denen die drei Erwachsenen auch die ihren schütteten. Alles bekam die kleine Itt, außer Hütchen und Pfefferkuchenherzen. Glückselig saß die Kleine auf dem Teppich und sortierte eifrig. Rechts kamen die Süßigkeiten, links die reizenden Sächelchen wie kleine Püppchen, Äffchen und anderes mehr. Und als später der abendliche Bericht an die Eltern kam, überschlug sich das Stimmchen vor freudiger Erregung. Wie alles, was alles, wie schön und so weiter. Der Gutenachtkuß für die Anwesenden fiel heute ganz besonders herzlich aus. Diederich bekam sogar zwei, weil er doch derjenige war, dem sie den schönen Nachmittag und die schönen Sachen zu verdanken hatte. »Died, so einen Mann wie dich wünsche ich mir auch«, bekannte sie treuherzig. »Du bist so lieb, so gut – so, so – ritterlich – na, überhaupt ein feiner Kerl.« »Danke verbindlichst«, schmunzelte er. »Aber vielleicht bekommst du mich noch einmal zum Mann. Ich warte, bis du achtzehn bist, dann laß ich mich von Elonie scheiden und heirate dich.« »Diederich, was denkst du eigentlich von mir«, blitzte sie ihn empört an. »Ich werde doch Elo nicht den Mann wegnehmen. Außerdem bist du viel zu alt für mich. Wenn du so anfängst, will ich gar nichts mehr von dir wissen.« »Schade, ich hätte so gern wieder mit dir so einen vergnügten Bummel gemacht.« »Du, darauf fall' ich nicht mehr rein. Du willst mich bloß umgarnen.« Sprach's, nahm ihre Herrlichkeiten und trollte sich. »Das nennt man abgeblitzt«, lachte Diederich. »Die Kleine ist richtig, die kann so bleiben.« Lange saß man an diesem Abend nicht mehr zusammen, da man von dem Wirbel ermüdet war. Als Elonie sich beim Gutenachtsagen bei dem Gatten für den netten Nachmittag bedankte, fühlte sie selbst, daß dieser Dank hätte weniger kühl ausfallen dürfen. Aber es ging etwas so Unnahbares von ihm aus, daß sie fürchtete, ihm mit Herzlichkeit zu
belästigen. Er war eben fertig mit ihr. Ließ die Ehe wohl nur bestehen, weil eine Scheidung in der Gesellschaft Staub aufwirbeln würde. Und er haßte nichts mehr, als im Blickfeld des Klatsches zu stehen. Hastig wandte sie sich ab und betrat ihr Schlafzimmer, wo ihr vom Tisch das buntbemalte Papier des Pfefferkuchenherzens entgegenleuchtete. Die schwarzen Buchstaben hoben sich kraß von der lustigen Buntheit ab, als wollten sie jeden Leser warnen. Die Ehe ist ein Übel. Nun, wenn Elonie ehrlich sein wollte, so übel war die ihre nun auch wieder nicht – sie war nur nicht glücklich. Aber welche Ehe ist das schon? Wenigstens eine schon länger bestehende? Doch, eine gab es, die der Norbers. Da waren aber auch zwei Menschen zusammengekommen, die vortrefflich zueinander paßten. Die einer des andern kleine Schwächen mit Nachsicht trugen, sie sogar liebenswert fanden. Elonie horchte auf, als nebenbei eine Melodie gepfiffen wurde, deren Text sie unwillkürlich mitsprach: »Du, du liegst mir im Herzen, du, du liegst mir im Sinn. Du, du machst mir viel Schmerzen, weißt nicht, wie gut ich dir bin-« Kommt ganz darauf an, wen du damit meinst – dachte Elonie erbittert. Mich doch wahrlich nicht. Ach, es hatte ja keinen Zweck, wieder alles in Herz und Hirn aufzuwühlen, was überwunden werden mußte. Es bestanden ja so viele Ehen, in denen der Mann eine Liebschaft hatte. Wenn die alle geschieden werden sollten, dann würde wohl nur ein kläglicher Rest übrigbleiben. Alle Tage ist kein Sonntag – pfiff es jetzt nebenan. Da klingelte Elonie nach der Zofe und ließ sie ihres Amtes walten. Als sie später in ihrem luxuriösen Bett lag, fiel ihr ein Ausspruch von Otto Reutter ein: Ich möchte erwachen bei Sonnenschein, und alles müßte wie früher sein. -Ein sehn-
süchtiger Wunsch, der sich jedoch nicht erfüllte. Denn als Elonie am nächsten Morgen erwachte, war der Himmel grauverhangen, und es regnete unentwegt. So schlief sie denn, bis Birgit erschien und sie kurzerhand aus dem Bett holte. »Heraus aus den Federn, du Faulpelz! Wie kann man bloß bis in den Mittag hinein schlafen.« »Es ist noch längst nicht Mittag, mein Herzchen.« Die junge Frau streckte sich gähnend. »Hättest auch ruhig länger im Bett bleiben sollen. Der Tag wird ohnehin lang genug werden, da wir bei dem scheußlichen Wetter nichts unternehmen können.« »Man muß ja nicht immer etwas unternehmen«, wurde sie von der Kleinen belehrt. »Man kann sich auch zu Hause die Zeit vertreiben.« »Mach schon, daß du hinauskommst, du Gouvernante!« Elonie warf lachend ein Pantöffelchen nach ihr, das jedoch nicht sie traf, sondern den Kopf der Zofe, der sich durch den Türspalt steckte, um zu erspähen, ob die Herrin immer noch nicht wach wäre. Das gab ein fröhliches Gelächter, von dem die Hausdame, die sich in ihrem Zimmer aufhielt, angelockt wurde. »Na, hier geht es ja fidel zu!« Auch sie steckte den Kopf durch den Türspalt. »Vorsicht, hier wird scharf geschossen!« rief Birgit ihr übermütig zu. »Nanu, wer ist denn so angriffslustig?« »Elo natürlich. Wer anders dürfte sich das schon erlauben als die vergötterte Herrin des Hauses.« Geschickt wich sie dem nächsten Geschoß aus und entschwand gleich der Tante Irene lachend. Eine halbe Stunde später erschien Elonie zum verspäteten Frühstück, wo der Diener meldete, Herr Doktor hätte telefonisch durchgesagt, daß er dem Mittagsmahl fernbleiben müßte, was Elonie gleichmütig hinnahm; denn es war ja nichts Neues. Sie mußte daran denken, daß sie damals den Gatten wo-
chen-, ja monatelang nicht zu Gesicht bekommen hatte, daß sie in Gesellschaft die der widerlichen Böse hatte zu Tisch sitzen müssen, bedient von einem nicht weniger widerlichen Diener. Wieviel besser ging es ihr doch jetzt, da sie zwei liebe Menschen um sich hatte, da die Dienerschaft ihr treu ergeben war. Auf Birgit würde sie ja bald verzichten müssen, aber die andere würde ihr bleiben. Es war ein warmer Blick, der zu Frau von Gehldorn hinging, die gerade über eine drollige Bemerkung Birgits lachte. Welch ein feiner Mensch sie doch war, herzlich und voll Güte. Wie es auch immer kommen mochte, bei dieser Frau würde sie stets Verständnis finden. Von nebenan kam >Hurtigs< unwilliges Bellen. Gleich darauf kugelte er herein, ein Staubtuch in der Schnauze, das die hinter ihm hereilende Nanny ihm entreißen wollte. Elonie sowie Birgit eilten zu Hilfe, und schon war eine frischfröhliche Balgerei im Gange. Helles Lachen erfüllte die Räume, wurde fern und ferner und verlor sich dann ganz, und Frau Irene hatte ihre Freude daran. Kleine, geliebte Herrin – dachte sie zärtlich. Jetzt bist du so, wie ich dich immer sehen möchte. Aber wenn die lustige kleine Itt erst fort ist, dann wird sie allen Frohsinn mit sich nehmen. Da es unentwegt weiter regnete, mußte man auch am Nachmittag zu Hause bleiben. Aber das machte Birgit gar nichts aus, sie vertrieb sich schon die Zeit. Erschien in der Küche, wo die Köchin stets einen besonderen Leckerbissen für sie bereit hielt, heftete sich der junge Nanny an die Fersen, die doch so nett mit ihr herumalbern konnte, und beehrte selbst den würdigen Diener mit ihrer Anwesenheit, um ihm die Seele aus dem Leib zu fragen. Am Spätnachmittag setzte sie sich an den Flügel, um das zum besten zu geben, was sie in der Klavierstunde gelernt hatte. Als ihr Repertoire erschöpft war, wandte sie sich Elonie zu, die nebst Frau Irene in der Sesselecke saß und an einer kniffligen Handarbeit stichelte.
»Elo, kannst du das Lied spielen: Alle Tage ist kein Sonntag?« »Ich glaube schon.« »Dann tu's doch, bitte. Ich möchte es so gern lernen.« »Das kannst du nur nach Noten. Such mal in dem Liederband nach, da findest du es bestimmt.« »Ich kann euch hier doch unmöglich etwas vorklimpern. Du spielst doch so gut. Bitte, Elo!« »Es sei, du Quälgeist.« Sie erhob sich seufzend und trat an den Flügel, der schwarzglänzend und vornehm im Wohngemach seinen Platz behauptete. Frau von Gehldorn hatte ihre junge Herrin noch nicht spielen hören und war nun auf ihren Vortrag gespannt. Doch schon bei den ersten Anschlägen ließ sie ihre Handarbeit sinken und lauschte mit Genuß dem Spiel, das keineswegs meisterhaft, aber ungemein reizvoll war. Das fand auch der Mann, der zuerst in der Tür verharrte und dann vorsichtig näher trat, unhörbar auf dem dicken Teppich, so daß Elonie und auch Birgit ihn nicht bemerkten. Frau von Gehldorn, die es tat, sah den Finger auf seinen Lippen. Behutsam ließ er sich in den Sessel gleiten und hörte zu. Jetzt setzte auch die Stimme ein: »Alle Tage ist kein Sonntag, alle Tage gibt's keinen Wein, aber du sollst alle Tage recht lieb zu mir sein – « Weich und süß klang die junge Stimme durch das Gemach, in dem die Scheite im Kamin knisterten. Rotleuchtend huschte der Schein im Zimmer umher, ließ das Haar der Sängerin aufsprühen wie pures Gold. Strahlte auch das feine Antlitz an, die grazile Gestalt, so daß der lauschende Mann den Blick nicht von ihr wenden konnte, so sehr nahm ihn das alles gefangen. Wie ein fremdes Wesen mutete sie an, die doch seine Frau war, mit der er sechs Wochen lang ein ungetrübtes Glück genossen hatte. Die ihm wahrscheinlich ganz entglitten wäre, hätten nicht andere Menschen sich ihrer erbarmt und sie dem Leben zurückgegeben, das sie systematisch zerstören wollte, weil sie es nicht mehr lebenswert fand – es nicht
mehr finden wollte. »Und wenn ich einmal tot bin, sollst du denken an mich, am Abend, bevor du einschläfst – aber weinen darfst du nicht-« klang es wehmütig zu ihm hin. So sang sie weiter bis zum Schluß: »Wir warten, wir zwei, und wir glauben alle Tage, die Mainacht herbei-« Die Stimme verklang, die Hände glitten von den Tasten, und die Zuhörer applaudierten. »Bravo«, lobte der Mann. »Das war wirklich ein Genuß, Elonie.« »Du bist hier, Diederich?« Sie sprang erschrocken auf und trat langsam und sehr verlegen auf ihn zu. »Wenn ich das gewußt, so hätte ich nicht – « » – gesungen und gespielt«, sprach er weiter, als sie unter seinem merkwürdigen Blick verwirrt schwieg. »Und warum hättest du es nicht?« »Weil du in bezug auf Musik sehr anspruchsvoll bist.« »Nun, ich meine, du kannst dich schon hören lassen – auch auf der Geige. Willst du sie nicht holen?« »Und wer begleitet mich?« »Vielleicht ich«, lächelte Frau Irene ihr ermunternd zu. »Ich habe allerdings lange nicht mehr gespielt und muß daher um Nachsicht bitten.« »Zugebilligt«, griff der Mann das Angebot rasch auf. So blieb Elonie nichts anderes übrig, als die Geige zu holen – und bald war ein Konzert im Gange, das über den Dilettantismus hinausging. Allerdings waren es keine schwierigen Sachen, die gespielt wurden, aber solche, die sich ins Ohr schmeichelten. Wenn die Spieler aufhören wollten, baten die Zuhörer um Zugabe, bis Elonie streikte. »Endgültig Schluß«, erklärte sie energisch. »Ich habe bereits Blasen auf den Fingerspitzen.« Am Sonntag hieß es für Birgit Abschied nehmen, weil am Dienstag die Schule begann. Der Vater hatte versprochen, sie abzuholen. Nach dem Mittagessen wollte er abfahren,
und so stand denn das Kind gerüstet da und wartete, bis die Eltern endlich um die Kaffeezeit kamen. »Papi, wie konntest du mich bloß so lange warten lassen!« empfing sie ihn aufgeregt. »Ich hatte mir fest vorgenommen, dir Vorwürfe zu machen. Aber jetzt kann ich es nicht – jetzt freu' ich mich.« »Na also!« Er löste schmunzelnd die Kinderarme von seinem Hals, um so der Erwürgung zu entgehen. »Vorsicht, Frauchen, jetzt kommst du an die Reihe.« Nachdem auch sie die Prozedur überstanden hatte, konnte man Platz nehmen und sich fürs erste aufs Zuhören beschränken; denn das Plappermäulchen stand nicht still. Was gab es aber auch alles zu erzählen. Was hatte man aber auch alles erlebt. Und die Geschenke mußten sofort vorgeführt und von den Eltern bewundert werden, da erst kam die gnädige Erlaubnis: »So, jetzt könnt ihr reden.« »Zu gütig«, lachte die Mutter. »Aber ich glaube kaum, daß wir so redebegabt sind wie du.« Es kam nun noch ein gemütliches Kaffeestündchen, dann ging es ans Abschiednehmen, was sich von Seiten Birgits stürmisch, von der ihrer Eltern herzlich dankend gestaltete. Das Auto fuhr ab, und die Zurückbleibenden sahen ihm bedauernd nach. »Schade«, sagte Brendor, als man langsam ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Sie wird uns sehr fehlen, die kleine Plaudertasche.« »Das wird sie«, bestätigte Frau von Gehldorn. »Kinder bringen immer Fröhlichkeit ins Haus, wenn sie so sind wie die kleine Itt. Es gibt aber auch andere, die ständig Ärger verursachen.« O ja, die gab es. Sehr bald sollte sich das bestätigen. Denn kaum zwei Stunden später meldete der Diener den Besuch einer Frau Isbeck, die gleich hinter ihm sichtbar wurde, ein neunjähriges Kind an der Hand. »Ja, Diederich, da staunst du!« Sie schob den Diener zur Seite und ging auf den Hausherrn zu, der ihr befremdet
entgegensah. »Bin auf der Durchreise und wollte mal nachschauen, wie es dir geht. Man hört ja gar nichts mehr von dir. Ach, das da ist wohl deine Frau – und die andere?« »Die Dame ist Frau von Gehldorn, eine liebe Hausgenossin«, stellte er frostig vor. »Nimm Platz, und dann berichte, wo du so plötzlich herkommst.« »Ich sagte es dir doch schon.« Sie ließ sich posiert in den Sessel sinken und zog ihr Töchterlein mit betont liebevoller Geste an sich. »Ich befinde mich auf der Durchreise. Habe nämlich meinen Wohnsitz gewechselt und will nun dahin fahren. Bis wir jedoch ankämen, wäre es Mitternacht – und wir sind ohnehin schon lange genug unterwegs. Müssen unbedingt eine Rast einlegen. Ja, mein Liebling, du bekommst gleich etwas zu trinken«, beschwichtigte sie die Kleine, die ihr etwas ins Ohr flüsterte. »Bitte den lieben Onkel darum.« »Du, Onkel, ich will etwas zu trinken und auch zu essen«, maulte das Kind. »Aber etwas Gutes, alles eß ich nicht.« In dem Moment erschien der Diener mit der Meldung, daß angerichtet sei. »Legen Sie zwei Gedecke mehr auf, Niklas«, gebot der Hausherr, was ihm einen seelenvollen Augenaufschlag der Besucherin eintrug. »Es ist lieb von dir, Diederich, uns behalten zu wollen«, flötete sie süß. »Können wir uns hier ein wenig frischmachen?« »Niklas wird dir den Waschraum anweisen.« »Tausendfachen Dank. Komm, mein Herzblatt.« Damit rauschte sie ab, und der Mann zuckte bedauernd die Achsel. »Tut mir leid, Elonie, aber wir müssen diesen Besuch in Kauf nehmen. Frau Isbeck ist eine entfernte Verwandte von mir.« »Ich bitte dich – «, unterbrach sie ihn hastig. »Du kannst in deinem Haus doch aufnehmen, wen du willst.« »Meinst du? Na schön. Gehen wir essen.« Sie mußten auf den Gast warten, ohne den man sich ja
nicht gut zu Tisch setzen konnte. Und als sie dann endlich erschien, riß sie ihre Augen auf wie ein erschrockenes Kind. »Oh, ihr habt auf uns gewartet? Das tut mir aber leid. Wo sollen wir uns setzen? Ach da, tausend Dank. Komm, mein herziges Kindlein, nimm hier Platz und sei hübsch brav.« »Nein, ich bin nicht brav, ich will was zu trinken.« »Aber ja doch, mein Engelchen. Hören Sie mal, mein Lieber, bringen Sie dem Kind ein Glas Fruchtsaft«, wandte sie sich herablassend an den Diener, doch schon schrie die Kleine dagegen: »Ich will nicht Fruchtsaft, ich will Limonade.« »Du wirst das trinken, was deine Mutter für richtig hält«, sagte der Hausherr gelassen, man merkte ihm jedoch an, daß er sich nur mühsam beherrschte. Und schon plärrte das widerlich verzogene Kind los, das an einen so energischen Ton nicht gewöhnt war. »Seht, mein Herzblatt, sei hübsch still«, beschwichtigte die Mutter. »Du bist übermüdet, das weiß ich. Da bekommst du auch deinen Fruchtsaft. Trink mal erst einen Schluck, dann wirst du sehen, wie gut er schmeckt.« Endlich ließ der Abgott sich herbei, den schmeichelnden Worten der Mutter zu folgen. Er trank und zwar so gierig, daß im Nu das Glas geleert war. Beim Essen mäkelte das Gör solange herum, bis der Hausherr dem Diener befahl: »Halten Sie sich nicht so lange mit dem Kind auf, Niklas. Wer nicht essen will, läßt es bleiben.« Nun, um zu streiken, dazu war die Kleine denn doch zu hungrig und aß das, was die Mutter ihr auf den Teller legte. Sie maulte zwar dabei, unterließ jedoch jede laute Aufsässigkeit. Nach dem Essen nahm man an, daß die ungebetenen Gäste sich verabschieden würden, aber Livia ging den Hausherrn ganz ungeniert um Nachtquartier an. »Nur bis morgen, Diederich«, schlug sie bittend die Hände zusammen, was bei einem kleinen Kind wohl niedlich wirkt, bei einer Frau über Dreißig jedoch höchst lächerlich.
»Ich kann mit dem übermüdeten Kind unmöglich durch die Stadt ziehen und in den überfüllten Hotels nach Unterkunft suchen.« Wenn Diederich Brendor nicht der vornehme, ritterliche Mann gewesen wäre, dann hätte er die unverfrorene Person einfach an die frische Luft gesetzt. Aber das bekam er nun mal nicht fertig, zumal Viola sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. Also gab er den Auftrag, ein Fremdenzimmer herzurichten – und die raffinierte Frau hatte erreicht, was sie erreichen wollte. Solche Elemente pflegen wie Parasiten zu sein. Wenn sie sich erst einmal festgesetzt haben, lassen sie sich nicht wieder abschütteln. Das wußte die lebenserfahrene Frau Irene und rechnete erst gar nicht damit, daß man diesen Parasiten am nächsten Tag loswerden würde. Und sie sollte recht behalten. Denn Livia erwachte mit Schnupfen und leichtem Fieber, was ihr sehr gelegen kam. Glück muß der Mensch haben! Als Brendor am Frühstückstisch von dem Malheur erfuhr, meinte er achselzuckend: »Unter den Umständen kann Frau Isbeck ihre Reise natürlich nicht fortsetzen. Wenn sie sich dabei eine ernstliche Krankheit zuziehen sollte, müßte ich mir Vorwürfe machen. Also muß ich Ihnen zu meinem Bedauern die Erkrankte und deren ungezogene Tochter aufbürden, Frau von Gehldorn – du aber hältst dich von ihr fern, Elonie.« Ich weiß auch warum, dachte sie und sah ihm erbittert nach, als er nach flüchtigem Gruß das Zimmer verließ, um seiner Arbeit nachzugehen. Du fürchtest, daß diese Livia etwas ausplaudern könnte, was ich nicht wissen soll. Denn der Brief, den mir die Böse zuspielte, war mit Li unterschrieben. Außerdem war da von einer kleinen Tochter die Rede, die sie nun endlich aus der Pflegestelle holen könnte, da deine Großzügigkeit es ihr ermöglichte, sich eine süße kleine Wohnung einzurichten. Jedenfalls war Elonie fest davon überzeugt, daß diese Li mit der Livia identisch sei. Peinlich für Diederich, daß sie nun
sogar in sein Haus kam. Nun, er konnte beruhigt sein. Dieser >Dame< würde sie bestimmt aus dem Weg gehen. Auch Frau von Gehldorn sollte es möglichst tun. Es war eine Zumutung von Diederich, von dieser feinen, vornehmen Frau zu verlangen, daß sie ein so minderwertiges Subjekt betreuen sollte. Unfreundlich sah sie Viola entgegen, die dem Hund nachlief und ihn zu fangen versuchte. Der verschüchterte kleine Kerl sprang an Elonie hoch, die ihn rasch auf den Schoß hob. Sie konnte gerade noch die Kinderfaust fassen, die auf des Tierchens Kopf niedersausen wollte. »Das laß gefälligst bleiben!« schob die Empörte das Mädchen ab. »Er hat mich gebissen, dafür muß er Schläge haben. Ich konnte nur keinen Stock finden.« »Wage es, du gräßliches Gör!« drohte Elonie. »Dann kriegst du von mir mit dem Stock, worauf du dich verlassen kannst.« »Pöh, vor dir hab' ich auch gerade Angst!« streckte das herzige Kindlein die Zunge raus. »Meine Mami sagt, du hast hier gar nichts zu melden. « Schon hatte Frau Irene sie beim Nacken gepackt und schob die wie wild um sich Schlagende aus dem Zimmer. Das Geplärre klang ferner und verlor sich dann ganz. Wahrscheinlich hatte die Hausdame den kleinen Teufel nach dem Zimmer der Mutter gebracht. Als Irene dann wieder erschien, wies ihre zarte Hand einen feuerroten Fleck auf. »Was haben Sie denn da, Frau von Gehldorn?« fragte Elonie. »Hat das Gör Sie etwas gebissen?« »Ganz recht. Und zwar in Gegenwart der Mutter, die das ganz in Ordnung fand. Sie meinte, wir sollten mit dem Hund nicht so ein Theater machen und ihn über ein Kind stellen. Falls ich noch einmal wagen sollte, ihr herziges Kindlein anzufassen, dann würde sie dafür sorgen, daß ich von dem Hausherrn in die Schranken der Domestiken zurückgewiesen werde.« »Na, so eine bodenlose Unverschämtheit!« fuhr Elonie
empört auf. »Wenn mein Mann nicht dafür sorgt, daß diese Kreatur aus dem Haus kommt, dann geh' ich und nehme Sie mit, Frau von Gehldorn.« »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, das schwer sich handhabt wie des Messers Schneide – sagt Schiller-«, lächelte die weit- und menschenkundige Frau nachsichtig. »Sie wissen doch, wie sehr Ihr Gatte Zwistigkeiten im Hause haßt, das ihm ja schließlich ein Ruhepol sein soll nach des Tages Müh' und Plage. Daher möchte ich raten, daß wir uns zusammentun und alles allein mit den unangenehmen Gästen ausfechten.« »So wollen Sie sich denn von dieser – na ja – immer weiter beleidigen lassen?« »Diese – na ja – kann mich gar nicht beleidigen«, kam es lachend zurück. »Ich werde mich auch nur gerade so viel um sie kümmern, wie unbedingt nötig ist. Betreuen kann sie unsere Köchin Ottilie, mit deren Mundwerk selbst diese – na ja – nicht mitkommen dürfte. Das kleine Teufelchen zähmen wir schon, unterstützt von der gesamten Dienerschaft, die bereits Front gegen es macht. Sind wir uns nun einig, Frau Elonie?« »Ja, Frau von Gehldorn. Was sind Sie doch nur für ein prächtiger Mensch! Wie froh bin ich doch, Sie im Hause zu haben.« »Das war ein gutes Wort«, entgegnete die Dame leise. »Ein so gutes, daß ich nun gegen alle niederträchtigen Worte gefeit bin. Und jetzt werde ich >Hurtig< in die Küche bringen und dort Anweisung geben, daß man ihn während der Invasion in den Wirtschaftsräumen behält. Dort ist er vor den Quälereien des herzigen Kindleins sicher. Denn sofern das reizende Wesen da auftauchen sollte, macht man grimmig von seinem Hausrecht Gebrauch.« Sie nahm den Hund, brachte ihn hinaus, und als sie wieder erschien, lachte sie über das ganze Gesucht. »Das Hausrecht ist bereits in Kraft getreten. Ich war gerade in der Küche, als das herzige Kindlein aufkreuzte. Zur Begrüßung streckte es erst mal allen die Zunge raus, worauf
Ottilie mit Vehemenz den Kochlöffel schwang. Ihr: Rrrraussss –! – klang so laut und drohend wie Kanonendonner. Dem hielt selbst die Frechheit der kleinen Kreatur nicht stand. Feige flüchtete sie und wird nun wohl der lieben Mami die Ohren vollplärren.« »Wie recht hatten Sie doch, Frau von Gehldorn, als Sie gestern sagten, daß Kinder wie die Itt Fröhlichkeit ins Haus bringen. Daß es aber auch solche gibt, die ständigen Ärger verursachen. Zu denen gehört Viola. Ein schlechtes Kind.« »Vielleicht ist sie noch gar nicht mal so schlecht«, meinte Irene. »Bei einer so hirnverbrannten Erziehung kann selbst ein gutgeartetes Kind verdorben werden. Und später muß es dann auslöffeln, was die >liebevolle< Mutter ihm einbrockte. Wenn Frau Norber das mit ansehen könnte, würde sie vor Entsetzen die Hände überm Kopf zusammenschlagen.« »Das glaube ich auch«, lachte Elonie. »Seht, da naht schon das Verderben!« Das galt Viola, die eben nahte, einen Stock in der Hand, den sie drohend schwang. »Ist der Hund da?« fragte sie in ihrer frechen Art. »Nein«, gab Elonie Antwort. »Willst du ihn etwa schlagen?« »Natürlich. Meine Mami sagt, ich darf das.« »Hast du aber eine herzige Mami, du herziges Kindlein. Geh rasch wieder zu ihr, damit sich gleich zu gleich gesellt.« »Sie hat mich runtergeschickt. Sie sagt, ich fall' ihr auf die Nerven, die durch ihre Krankheit angegriffen sind. Dabei hat sie bloß ein bißchen Schnupfen und könnte ruhig aufstehen. Sie stellt sich bloß krank an.« »Liebevolle Tochter«, bemerkte Frau Irene. »Wir wären dir sehr verbunden, wenn du uns von deiner holden Gegenwart befreien würdest.« »Na, Sie haben hier doch gar nichts zu sagen. Sie sind doch bloß --« »Jetzt aber raus!« unterbrach Elonie sie so drohend, daß die Angst über die Frechheit siegte. Schleunigst zog das un-
glaubliche Gör ab und ließ sich nicht mehr blicken. Erst an der Mittagstafel tauchte sie auf, wo sie dem Hausherrn klagte, wie häßlich man zu ihr wäre. Doch zu ihrer Enttäuschung fand sie auch hier keinen Beistand. »Du wirst dich auch danach betragen haben«, war die Antwort auf ihre Klage. »Willst du etwa mit uns essen?« »Natürlich.« »Na du, so natürlich ist das nicht. Denn wie ich gestern beobachtet habe, verstehst du dich nicht zu benehmen. Und ich möchte bei Tisch meine Ruhe haben.« Diese Ruhe wurde ihm jedoch nicht zuteil. Es war Viola eben unmöglich, manierlich zu sein. Und als sie dem Diener gar ein Glas Milch aus der Hand schlug, ging dem Hausherrn sozusagen der Hut hoch. Ein Zustand, der sich bei ihm nicht wie bei den meisten Menschen geräuschvoll bemerkbar machte, sondern durch eiskalte Gelassenheit, die im Werk gefürchtet war. Was Wunder, wenn einem Kind dabei angst und bange werden mußte, und wenn es da noch so frech und dreist war. Ehe man sich so recht versah, war Viola verschwunden, und man konnte ohne unliebsame Zwischenfälle die Mahlzeit beenden. Als man dann wie gewöhnlich nach dem Essen in dem lauschigen Stübchen den Mokka einnahm, fragte Brendor die Hausdame nach dem Ergehen Frau Isbecks. »Obwohl ihr Zustand durchaus nicht besorgniserregend scheint, wäre es gut, einen Arzt zu konsultieren«, sagte sie vorsichtig. »Dann kann man wenigstens beruhigt sein, nichts versäumt zu haben.« »Da haben Sie recht, Frau von Gehldorn. Also werde ich morgen unseren guten Onkel Doktor herbeordern.« Dieser erschien dann auch am Vormittag und wurde von der Hausdame zu der Erkrankten geführt, die nichts von seinem Kommen wußte. Frau Irene hatte sie absichtlich nicht davon unterrichtet, weil sie ahnte, daß die gerissene Livia sich gegen den Besuch eines Arztes sträuben würde, weil ihr nichts fehlte. Also mußte sie vor die vollendete Tatsache gestellt werden.
Als man vor der Tür stand, flüsterte Irene dem Arzt mit unterdrücktem Lachen zu: »Auf in den Kampf! Wenn meine Kräfte erschlaffen sollten, kommen Sie mir bitte zur Hilfe, Doktorchen.« »Ich glaube, im Bilde zu sein«, schmunzelte er. »Keine Sorge, mein Fell ist dick, und meine Geduld ist lang.« Frau von Gehldorn klopfte, trat ein und ließ einen Spalt die Tür offen, damit der Arzt hindurchlugen konnte. Und was er da sah, ließ ihn noch intensiver schmunzeln. Wohlig rekelte die >Kranke< sich im Bett, aus einer großen Schachtel genüßlich Konfitüren naschend. Abwechselnd verschwand so eine Köstlichkeit in ihrem Mund und in dem des herzigen Kindleins, das auf dem Bettrand saß. »Was erlauben Sie sich, so ohne weiteres hier hereinzuplatzen!« wurde die Eintretende angefahren. »Können Sie nicht anklopfen?« »Ich habe geklopft.« »Glaube ich nicht. Na, ist ja egal. Was wollen Sie?« »Melden, daß der Arzt hier ist, um Sie zu untersuchen.« »Was -??!!« schnellte die >Leidende< wie ein Gummiball hoch. »Ein Arzt? Sind Sie verrückt geworden!« »Nicht daß ich wüßte.« »Frech wollen Sie auch noch werden? Wer gibt Ihnen das Recht, mir einen Arzt aufzudrängen – Sie – Sie Angestellte!« »Das hat der Hausherr getan, nicht ich als Angestellte. Er hat den Arzt gerufen und herbeordert.« »Was -?« wurde nun das vor Wut verzerrte Gesicht lang. »Das ist denn etwas anderes.« »Es ist immer etwas anderes, wenn zwei dasselbe tun«, sagte der Arzt und trat gemütlich ein. »Guten Tag, Gnädigste. Ich habe die Ehre, hier Hausarzt zu sein. Verarzte hier alles, was zwei Beine hat. Wo fehlt's denn, hm?« Und schon hub ein Klagen an, das der Mann sich mit stoischer Ruhe anhörte. Als die Stimme ermattet schwieg, sagte der gute Arzt und Menschenkenner: »Also durch und durch krank. Da kann nur noch das Kran-
kenhaus helfen – vielleicht.« »Herr Doktor, machen Sie mich nicht unglücklich! Ich habe ein Kind!« »Aber Gnädigste, dafür kann ich doch nichts«, verteidigte er sich entrüstet, dabei Frau Irene einen verschmitzten Blick zuwerfend, der sie fast um ihre Beherrschung brachte. Schleunigst enteilte sie und trat lachend in das Wohnzimmer, um Elonie Bericht zu erstatten. Und dann lachten sie ein fröhliches Duett, das den eintretenden Arzt schmunzeln ließ. Der vielbeschäftigte Mann enteilte. Ein glatzköpfiger Dicker mit Vollmondgesicht und hellen scharfen Augen hinter Brillengläsern. Stets helfend und tröstend, wo es nötig war, doch grob, wo man ihn zum Narren halten wollte. An der Tür wäre er fast über Viola gestolpert, die ihm in den Weg lief. »Hoppla, das war man gerade knapp«, lachte er. »Geh wieder nach oben, hier unten dürftest du doch nur Unheil stiften, du echte Tochter deiner Mutter.« Weg war er, und das Kind trat näher. Rekelte sich in einen Sessel und maulte: »Mir ist langweilig. Ich möchte gern fort, denn es gefällt mir hier gar nicht. Aber meine Mami sagt, wir müßten noch solange bleiben, bis sie wieder Geld kriegt. Sie hat nämlich keins mehr.« Die beiden Damen sahen sich vielsagend an, und Frau von Gehldorn fragte mit gespielter Harmlosigkeit: »Woher bekommt deine Mami denn Geld?« »Pension von meinem Papi«, antwortete sie verdrießlich. »Er ist gestorben, weil er schon so schrecklich alt war, sechzig Jahre oder so. Doch wir kommen mit dem Geld nie aus. Und dann fährt die Mami mit mir zu Bekannten oder Verwandten. Aber die wollen uns nicht haben, wir müssen immer bald abfahren. Ach, ich geh' jetzt. Bei euch ist ja auch nichts los.« Als sie fort war, sagte Frau Irene: »So scheint Herr Isbeck einer von den alternden Narren
gewesen zu sein, die sich von den verführerischen Künsten einer bedeutend jüngeren Schönen einfangen lassen. Eigentlich kann das Kind einem leid tun, daß ihm der Vater wegsterben mußte. An ihm hätte es bestimmt mehr Halt gehabt als an der minderwertigen Mutter – « Sie konnte nicht aussprechen, da der Hausherr eintrat. »Ist der Arzt dagewesen?« fragte er kurz. »Ja, Herr Doktor.« »Was sagt er?« »Daß Frau Isbeck einen leichten Schnupfen hat. Morgen wird sie bereits aufstehen.« »Das ist ja recht erfreulich.« Damit schien die Angelegenheit für ihn erledigt zu sein; denn er kam nicht mehr darauf zu sprechen. Allerdings sah man ihn an dem Tage auch nicht mehr, da er eine kurze Geschäftsreise antreten mußte, von der er abends nicht zurückkehrte. Der Tag verlief ohne unliebsame Zwischenfälle. Livia lag im Bett, betreut von Ottilie, der selbst diese impertinente Dame nicht gewachsen war. Gleich bei der ersten Unverschämtheit hatte sie eine Abfuhr erhalten, die sie sprachlos machte. Und mehr wollte die biedere Ottilie ja nicht. Was unbedingt zu reden war, na schön, doch alles andere war von Übel. Eben brachte sie für Mutter und Tochter das Abendessen. Gut und reichlich. Denn hungern sollte hier keiner. Das durfte sie als Köchin nicht zulassen. »Setz dich an das Tischchen«, gebot sie Viola, die widerspruchslos gehorchte – denn der drohende Kochlöffel saß ihr sozusagen im Nacken. Sie bekam ihre Mahlzeit, Livia gleichfalls, und als diese mit ungewohnter Höflichkeit fragte, ob Ottilie später die Kleine nicht zu Bett bringen wollte, wurde ihr kurz und bündig erklärt: »Nein, das kann ich nicht, weil ich keine Zeit habe, und das will ich nicht, weil ein so großes Mädchen sich allein ausziehen kann. Das Geschirr werde ich holen.« Das war Ottilie – und sie war Gold wert.
Es war am nächsten Vormittag. Die Hausdame befand sich gerade in der Küche, um mit der Köchin den Tagesplan zu besprechen, als Nanny hereingestürmt kam, schreckensbleich. »Viola schlägt den Hund«, keuchte sie atemlos vom schnellen Lauf. »Mit dem Stock – o, das arme Tier!« Schon war Ottilie an ihr vorüber. Frau von Gehldorn folgte, hinterher die Zofe und der Diener. So stark vereint, kam man dem Liebling des Hauses zu Hilfe, der sich unter den Stockschlägen des brutalen Kindes jämmerlich schreiend wand. Und die Frau Mama? Ja, die saß im Sessel und freute sich über die Heldentat ihres herzigen Kindleins. Allein, die anderen waren zutiefst empört- und Ottilie sah rot. Sie riß Viola den Stock aus der Hand und schlug auf die Übeltäterin ein, die wie am Spieß brüllte. Der Hund, der jetzt auf Nannys Arm saß, winselte herzzerreißend – und Livia kreischte. In den Tumult sprach eine gebieterische Männerstimme hinein: »Was geht hier vor?« Die Köpfe fuhren herum, und sechs Augenpaare starrten den Mann an, der wie ein drohendes Unheil in der Tür stand. »Das üble Subjekt hat mein Kind geschlagen!« kreischte die Mutter hysterisch. »Ruhe!« gebot die herrische Männerstimme, die gewissermaßen durch Mark und Bein ging. »Frau von Gehldorn, ich bitte um Ihren Bericht.« Er bekam ihn, und erläuternd setzte die Dame hinzu: »Um das Tierchen nicht weiter quälen zu lassen, haben wir es in den Wirtschaftsräumen behalten, wo es trotz allen Aufpassens entschlüpft ist. Die Gelegenheit nahm Viola wahr, um sich zu rächen.« »Danke, das genügt mir. Wo befindet sich meine Frau?« »Im Tattersall, wie gewöhnlich um diese Zeit. Sie muß jeden Augenblick zurückkommen.« »Danke. Sie können alle gehen.«
Was sie nur zu gern taten. Sie hörten noch, wie die hysterische Frau kreischte: »So ungestraft entläßt du dieses Pack!« Da schloß Niklas als letzter die Tür, und so hörte man die Antwort des Gebieters nicht mehr. »Das ist kein Pack«, entgegnete er drohend. »Das sind anständige Menschen, denen du nicht das Wasser reichen kannst. Nimm deinen rüden Rüpel und verschwinde so schnell wie möglich, damit ich mich nicht doch noch an ihm vergreife. Wage es nicht noch einmal, hier einzudringen und Unheil zu stiften.« Er bemerkte die Gestalt im Reitdreß nicht, die soeben sichtbar wurde, weil er der Tür den Rücken kehrte. Aber Livia sah sie. Und schon setzte sie eine Niedertracht in Szene, worin sie ja groß war. Laut aufschluchzend, fiel sie dem Mann um den Hals und bettelte: »Aber Liebster, sei doch nicht so böse. Hast du denn alles vergessen? Oh – «, wechselte sie verschämt die Szene, ehe der überrumpelte Mann noch antworten konnte. »Da ist ja deine Frau – Verzeihung – das ahnte ich natürlich nicht. Komm, mein herziges Kindlein!« Es mit sich ziehend, verschwand sie schleunigst, und Diederich, der nun auch seine Frau bemerkte, trat auf sie zu, die da wie erstarrt zwischen Tür und Angel verharrte, blaß bis in die Lippen. »Ich hoffe, daß du dieser üblen Szene keine Bedeutung beimißt«, sagte er kurz. »Es ist nichts Wahres daran, das schwöre ich dir.« »Schwöre lieber nicht«, winkte sie müde ab. »Ich kann dir ja doch nicht glauben. Daß du Amouren hast, das weiß ich. Aber daß eine davon sogar in dein Haus kommt – diese Li – die dir so einen – schwülen -Liebesbrief schickte – « Ihre Stimme brach, und überrascht blitzte es in seinen Augen auf. »So hältst du Livia für diese – Li -?« »Na, für wen denn sonst?« »Wunderbar«, lachte er hart auf. »Mein liebes Kind, wenn
ich auch kein Heiliger bin – oder es wenigstens vor meiner Ehe nicht war –, so tief bin ich denn doch nicht gesunken, um mir meine Techtelmechtel ins Haus kommen zu lassen. Das habe ich von jeher rein gehalten. Ich habe mir eine weiße Lilie erwählt als Hüterin meines Heims und Herdes – « setzte er ironisch hinzu und merkte, wie sie zusammenzuckte. »Livia Isbeck ist eine entfernte Verwandte von mir, mit der ich nie etwas zu tun hatte«, sprach er gelassen weiter. »Ich ignorierte sogar ihre Bettelbriefe. Wahrscheinlich befand sie sich wieder einmal in Geldnöten, ein chronischer Zustand bei ihr. Dann pflegt sie sich bis zur neuen Zufuhr bei Bekannten oder Verwandten einzunisten, was sie auch hier versuchte. Wenn sie nicht unpäßlich geworden wäre, hätte sie bereits am nächsten Tag mein Haus verlassen müssen. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe, Elonie.« Seine Blicke hingen an der grazilen Gestalt im eleganten Reitdreß, die doch bestimmt einen erfreulichen Anblick bot. Und doch verfinsterte sich der Blick des Mannes immer mehr, bis er ihn brüsk abwandte. »Ich sehe, daß ich wieder einmal tauben Ohren gepredigt habe«, sagte er erbittert. »Du steckst voller Mißtrauen bis zur Halskrause. Dieses Mißtrauen ist es, das unsere Ehe langsam, aber sicher völlig zerstören wird. Denn sich verdächtigen lassen, immer wieder grundlos verdächtigen lassen, das hält kein Mensch auf die Dauer aus.« Er wandte sich ab, ging davon – und Elonie hatte das Gefühl, als habe er ihr mit brutaler Hand das Herz aus der Brust gerissen. »Nicht weinen – nur nicht weinen – «, sprach sie sich selber gut zu, als sie das Zimmer verließ, die Halle durchquerte und die Treppe emporstieg, ganz langsam, als trüge sie Blei an den Füßen. In ihrem Wohnzimmer ließ sie sich in den nächsten Sessel sinken und drückte aufstöhnend das Gesicht in die Hände. Dieses Mißtrauen ist es, das unsere Ehe langsam, aber sicher zerstören wird.
Er hatte ja so recht. Aber das Mißtrauen war doch nun einmal da. Fraß sich in ihrem Herzen weiter wie ätzendes Gift. Sie schrak zusammen, als es klopfte und Nanny eintrat, um ihrer Herrin beim Umkleiden zu helfen. Mühsam riß Elonie sich zusammen, durfte sich um alles in der Welt nicht gehenlassen. Die Kleine achtete ohnehin schon ängstlich auf ihre Stimmung, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Doch heute war sie unaufmerksamer als sonst. Und als Elonie sie lächelnd ermunterte, doch ja nur ihr Herz zu erleichtern, da sprudelte es nur so über die Lippen der niedlichen Maid. Überrascht horchte Elonie auf. Sie war ja nicht dabei gewesen, als der Entrüstungssturm sich gelegt hatte. Fand ja nur den Gatten vor, an dessen Hals die bettelnde Livia hing. »Gnädige Frau hätten nur sehen sollen, wie brutal das vermaledeite Gör unsern süßen Hund schlug!« Die Stimme schwankte bedenklich. »Und die Mutter saß im Sessel und sah lachend zu. Mein Gott, das sind ja gar keine Menschen! Nur gut, daß unser Herr dazukam«, fuhr sie triumphierend fort. »Sonst wäre diese Furie – Verzeihung, aber sie benahm sich so – Ottilie womöglich noch an den Kopf gegangen. Denn solche Wei… Verzeihung – Damen – kriegen das nämlich fertig, wenn sie in Rage sind. Aber jetzt ist sie fort, gott sei Dank! Und mit ihr ist das Veilchen verduftet. Denn Viola heißt doch Veilchen, nicht wahr, gnädige Frau?« »Richtig«, lachte Elonie, so wenig ihr auch danach zumute war. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Wenn ein Mensch seinen Namen zu Unrecht trägt, dann diese Viola. Denn die ist alles andere, nur kein bescheidenes Veilchen.« »Eben – «, brummte die Kleine. »Ich kann Veilchen jetzt nicht mehr leiden.« »Ich bin froh, den Klamauk nicht mitgemacht zu haben«, sagte Elonie. »Da muß es ja heiß hergegangen sein.« »Zuerst ja, gnädige Frau. Aber als unser Herr erschien, da
hatte man das Gefühl, in einen Eiskeller geraten zu sein, so viel Kälte strömte unser Herr aus. Als er sagte, daß wir gehen sollten, taten wir es nur zu gern.« Elonie konnte sich denken, wie er gewesen war. Hatte sie doch schon öfter dieser Eiseskälte standhalten müssen. Sie wirkte einschüchternder, als wenn er toben und schreien würde. Allerdings hatte sie ihn noch nie so gesehen, den allzeit beherrschten Mann, aber seine Wut müßte leichter zu ertragen sein als diese furchtbare Kälte. »Ob unser Herr – diese – hinausgeworfen hat?« fragte das Zöfchen erwartungsvoll. »Wahrscheinlich, Nanny. Der fackelt nicht lange, wenn er auf Geheimheiten stößt.« »Uijeh, das weiß ich. Aber er ist ein guter Herr, ein gerechter Herr. Vornehm bis in die Fingerspitzen.« »Nanny, wo haben Sie diese Bezeichnung denn aufgeschnappt?« lachte Elonie hell heraus, und fröhlich fiel die Kleine ein: »Frau von Gehldorn sagte es einmal. Und die muß es ja wissen. Sie ist so eine feine, gebildete Dame.« »Das ist sie«, bekräftigte ihre Herrin. »Aber nun wollen wir machen, daß wir fertig werden, damit ich nicht an der Tafel zu spät erscheine.« Sie kam auch nur gerade so zurecht. Denn als sie das Speisezimmer betrat, fand sie Frau von Gehldorn und den Gatten bereits darin vor. Scheu tastete sich ihr Blick zu seinem Gesicht hin, doch es war verschlossen wie immer. Nichts in seinem Benehmen ließ darauf schließen, daß er der Gattin irgendwie gram war. Auf den Besuch kam er nicht mehr zu sprechen. Die kurze, stürmische Episode war wohl für ihn abgetan. Beim Mokka sagte er in seiner gelassenen Art: »Ich habe bei der Auflösung eines Gestüts einige Reitpferde übernehmen müssen. Die beiden schönsten möchte ich für uns behalten. Nachdem mein altes, treues Pferd an Altersschwäche einging, habe ich mir kein anderes angeschafft, da ich während Neueinrichtungen im Werk ständig auf Achse liegen
mußte. Das ist nun vorbei. Ich habe jetzt mehr Zeit für private Dinge, zumal ich über einen vorzüglichen Mitarbeiterstab verfüge. Der tägliche Ritt bot mir von jeher einen gesunden Ausgleich für meine Arbeit. Du kannst dir nachher das Pferd einmal ansehen, Elonie. Wenn es dir gefällt, darfst du es behalten.« Entzückt hatte sie seiner sonoren Stimme gelauscht, die ihr heute mehr denn je wie Musik klang. Scheu sah sie ihn an und sagte leise: »Danke, Diederich. Ein eigenes Pferd zu haben ist schon lange mein Wunsch.« »Dann kannst du ihn dir jetzt erfüllen.« Er reichte ihr die Mokkatasse, die sie unter die Maschine hielt, ihre Hand zitterte dabei. Eine halbe Stunde später schritten die jungen Gatten durch den Park, der an diesem herrlichen Sonnentag, den der launenhafte April den Menschen heute gnädig gewährte, wie verzaubert anmutete in seinem frischen Grün, den samtenen Rasenflächen und dem bunten Blumenflor. Langsam ging das Paar dahin, beide im Reitdreß, der ihren prachtvollen Wuchs so richtig zur Geltung brachte. Sie mit ihrem leichten, schwebenden Schritt, er fest auftretend, sicher und unbeirrt, wie es einem Gebieter zukommt. Ein schönes Paar, ein distinguiertes Paar, das auffiel, wohin es auch kam, ohne etwas dazu beizutragen. Wohl gerade deshalb wirkte es so interessant. Eine hohe Mauer, oben mit einzementierten Glasscherben und Stacheldraht versehen, trennte den Park vom Fabrikgelände. Brendor schloß die in die Mauer eingelassene Bohlentür auf, schloß sie hinter Elonie wieder sorgsam zu, und vor ihnen lag ein Riesenkomplex mit hohen Gebäuden, langen Hallen, Speichern und Schuppen. Das war das Reich des Mannes, der Elonie Brendor laut Gesetz gehörte, was sie zum erstenmal mit Stolz erfüllte, ihr ein Gefühl der Bevorzugung gab. Vor einem kleinen Gebäude aus roten Backsteinen machte er halt und winkte dem Mann freundlich zu, der unter der
breiten Tür stand und über das ganze wie aus Leder gegerbte Gesicht lachte. Es war ein Werkveteran, der schon immer die Reitpferde der Herrschaft betreut hatte und nun auch die beiden betreute, die seit gestern in dem sauberen Stall standen. »Das sind schon zwei Racker«, berichtete er strahlend. »Rasse und Klasse, olala! Hoffentlich gibt es bei der gnädigen Frau keine Karambolage.« »Sie scheinen mir ja wenig zuzutrauen«, lachte sie den biederen Alten so lieblich an, daß es ihm warm unter der Joppe wurde, schmunzelnd wandte er sich ab und führte die beiden gesattelten Pferde vor, einen Schimmel und einen Braunen, beide edles Blut. Elonie trat auf den weißen Prachtkerl zu, beäugte ihn eingehend und strahlte dann den Gatten an. »Danke, Diederich. Den gebe ich nicht wieder her.« Schon saß sie im Sattel und meisterte das Pferd mühelos, das natürlich mal erst versuchte, seine Kapriolen zu machen. Doch bald gab es auf, die kleine Faust schien aus Eisen zu sein. Diederich sah seine Frau zum erstenmal im Sattel; denn nach dem Tode ihrer Eltern hatte sie das Reiten eingestellt. Hatte erst damit wieder begonnen, nachdem sie aus dem Norberhaus zurückgekehrt war. Und da sie im Tattersall ritt, hatte er keine Gelegenheit gehabt, sie dabei zu beobachten. Tadellose Schule – dachte er jetzt. Da kann ich ganz zufrieden sein. Jetzt saß auch er auf, und die Pferde tänzelten ab. Über das Werksgelände, durch das Tor, den Feldrain entlang in den Wald hinein, dessen schmale Kiesstraße wenig Verkehr hatte. Wenn ihnen ein Gefährt entgegenkam, war es ein Bauernwagen oder ein Fahrrad. Autofahrer benutzten diese abgelegene Straße selten. Lächelnd schaute der Reiter auf seine Begleiterin, an der alles leuchtete. Die Augen, das einzig schöne, wunderbar gepflegte Haar, selbst der lichtblaue Pullover, der den
Oberkörper warm umschloß. Sie war schön, sinnverwirrend schön. Und doch ließ der Mann sich davon nicht betören, wie er es schon einmal tat. Wie sagt Rückert: Wahres und Gutes wird sich versöhnen, wenn sich beide vereinen im Schönen. Und darauf wollte er warten. »Wie ist es, Diederich, wollen wir zu Norbers reiten?« fragte sie erwartungsvoll, doch er schüttelte abwehrend den Kopf. »Nein, Elonie, das ist fürs erste zu weit, auch wenn wir uns über Nebenstraßen den Weg erheblich abkürzen würden. Da mußt du noch trainieren, sonst hältst du nicht durch.« »Schade – «, sagte sie enttäuscht, und forschend sah er in ihr gesenktes Gesicht, auf den trotzigen Mund. »Meine liebe Elonie«, sprach er langsam und betont. »Dein Eigenwille ist mir nur zu gut bekannt – und dein Ungehorsam. Laß es dir ja nicht einfallen, dir eigenmächtig den Wunsch zu erfüllen, den ich dir aus Vernunftsgründen versagen muß. Obwohl du erstaunlich gut im Sattel sitzt, bist du immer noch nicht fit, um ohne Begleitung zu reiten. Außerdem ist es auf diesem abgelegenen Weg nicht ungefährlich, es treiben sich genug Wegelagerer herum. Du hast mich doch verstanden?« »Ja, Diederich.« Sie sah ihn freimütig an. »Auch ohne deine Warnung wäre ich nicht ohne dich geritten. Dafür bin ich zu ängstlich.« »Danke, das genügt mir. Ich werde es so einrichten, daß ich täglich mit dir ausreiten kann.« »Du sprachst doch heute von den Morgenritten, die dir von jeher gutgetan hätten. Wirst du die wieder aufnehmen?« »Ja.« »Und weshalb willst du mich da nicht mitnehmen?« »Weil ich dir ein so frühes Aufstehen nicht zumute. Ich reite nämlich schon vor dem Frühstück, und zwar bei Wind und Wetter.« »Das macht mir gar nichts aus«, versicherte sie eifrig. »Versuch es doch mal mit mir.« »Meinetwegen«, gab er lächelnd nach. »Du wirst schon von
selbst damit aufhören.« Doch da sollte er sich getäuscht haben. Pünktlich war sie immer zur Stelle, stets frohgemut und guter Dinge. Es war doch aber auch wunderbar, mit dem Gatten Seite an Seite zu reiten durch die Natur, die sich immer prächtiger schmückte zum Empfang des Götterknaben Mai, der immer näher rückte. Und wie schön war es doch, der sonoren Stimme zu lauschen, die so schmiegsam sein konnte, aber auch hart mit metallischem Klang. In die Augen zu sehen, die so hart und finster blicken, aber auch lachend aufblitzen konnten. Sein stillvergnügtes Schmunzeln zu sehen und das humorvolle Zucken um Mund und Augenwinkel. Langsam begann sich ihr Mißtrauen zu verfluchten, Vertrauen keimte auf. Ein Mann mit so hohen Ehrbegriffen, einer so ernsten Lebensauffassung konnte doch eigentlich nicht lügen und betrügen. Der mußte doch klar und lauter sein wie Gold. Sie mußte jetzt viel an den Spruch denken: Wo Glaub' und Vertrauen fehlen im Haus, da fliegt die Liebe zum Fenster hinaus. Und so war es geschehen. Denn geliebt hatte Diederich sie, als er um sie freite. Davon war sie überzeugt, wenn sie an die erste Zeit ihrer Ehe zurückdachte, da er sie in Liebe und Zärtlichkeit eingehüllt hatte wie in einen warmen, weichen Mantel. Aber dann, als er sich nicht mehr ausschließlich um sie kümmern konnte, weil er seiner Arbeit nachgehen mußte, da hatte sie ihn mit ihren Launen und Szenen gepeinigt, bis er aus dem Haus geflohen war – und mit ihm die Liebe. Der Mai war gekommen, sieghaft und strahlend schön, ein Liebling der Götter. Im Brendorhaus befand man sich auf der Terrasse beim Frühstück. Es war heute später als sonst. Denn an Sonn- und Feiertagen – und der erste Mai ist ja ein Feiertag – schlief selbst der Gebieter über Haus und Werk länger, wenn er nicht auch dann geschäftlich auf Posten sein mußte. Also war es jetzt zehn Uhr, und der tägliche Morgenritt stand noch aus.
»Tante Beate rief an«, verkündete Diederich soeben. »Sie lud uns herzlich ein, schon zum Mittagessen. Ich habe zugesagt, recht so?« »Aber natürlich«, entgegnete Elonie. »Ich freue mich sehr.« »Hm. Wie wäre es, wenn wir beide hoch zu Roß dort erscheinen würden?« »Da fragst du auch noch? Es wäre fast zu schön, um wahr zu sein.« »So lassen wir es wahr werden. Wir reiten, und Frau von Gehldorn fährt der Chauffeur hin.« »Aber wozu denn meinetwegen die Umstände«, wehrte sie ab. »Ich kann doch wohl zu Hause bleiben.« »Können schon, aber nicht dürfen. Sie kommen mit, da gibt es kein Pardon!« »O strenger Gebieter!« blinzelte sie ihm verschmitzt zu. »Am ersten Mai befiehlt des Volkes Stimme.« »Und: des Volkes Stimme ist des lieben Gottes Kesselpauke – sagt ein persisches Sprichwort«, lachte er amüsiert. »Möge denn diese >Zunge< gnädig sein.« »Sie ist es«, tat sie herablassend. »Ich ergebe mich freiwillig.« Eine halbe Stunde später brach man auf. Frau Irene im Auto, die jungen Gatten hoch zu Roß. Sie benutzten nicht die belebte Verkehrsstraße, sondern ritten durch Wald und Au, durch Flur und Hain. Die Sonne schien, die Vöglein sangen, und ein Flüßchen wies den Reitern den Weg. Wenn sie den entlangritten, konnten sie ihr Ziel nicht verfehlen. Denn das Wasser floß munter dem kleinen See zu, der vor den Toren der Stadt lag und ein beliebter Ausflugsort war. Elonie war es heute so leicht ums Herz, so froh und unbeschwert. »Heut' macht die Welt Sonntag für mich«, sang sie verhalten vor sich hin, und vergnügt pfiff der Reiter dazu. Lustig schnaubten die Rosse, das Sattelzeug knirschte – es war einfach traumhaft schön. Elonie tat es direkt leid, als die Stadt erreicht war. Sie hätte noch stundenlang dahinreiten mögen durch die lachende Natur. Vor dem Doktorhaus wurden sie mit Hallo empfangen.
Alle standen sie da. Das Ehepaar, Frau von Gehldorn, Birgit, Huschchen, selbst Knut, der sich wieder einmal im Elternhaus eingefunden hatte. »Na, dann komm schon her, du kühne Amazone!« Mit diesen Worten hob er Elonie aus dem Sattel. »So viel Schick und Schneid hätte ich dir gar nicht zugetraut!« Schon hatte er einen >Mutzkopf< weg, von zarter Hand, die er galant küßte und somit feurige Kohlen auf ihr Haupt sammelte. Die Itt interessierte sich sehr für die Pferde, auf die soeben ein Mann zutrat und nach den Zügeln griff. »Geben Sie ja gut auf die Tiere acht«, schärfte der Arzt ihm ein. »Futter kann ruhig feiertagsmäßig ausfallen.« »Das wird es sowieso«, griente der Alte und trollte mit seinen Schützlingen ab. »Er ist ein Pfleger der Pferde des Reitervereins«, wandte Norber sich jetzt seinem Neffen zu. »Er beherbergt auch Gastpferde, die vorbildlich betreut werden. Also kannst du ganz beruhigt sein.« »Nett, daß du an die Unterkunft gedacht hast, Onkel Fritz.« »Das ist doch selbstverständlich. Doch nun kommt endlich weiter, die Menschen werden bei der Ansammlung bereits stutzig. Sie nehmen am Ende noch an, daß ein Streik ausgebrochen ist.« So traten sie denn näher. Als sie im Wohnzimmer angelangt waren, sagte Elonie: »Entschuldigt meinen Anzug, bitte, in dem ich ja auch bei Tisch erscheinen muß.« »Aber Herzchen, du bist doch nicht nackt.« Knut besah sich die bezaubernde Reiterin. »Dann allerdings würdest du öffentliches Ärgernis erregen – oder auch nicht.« »Sei bloß still, du Bengel«, verwies die Mutter ihn, gleich den anderen lachend. »Du bist ja gar nicht gefragt worden.« »Aber Mutzichen, ich rede doch so gern.« »Merkt man. Wie ist es, trinken wir vor dem Essen einen Aperitif?« Damit waren sie alle einverstanden, ließen sich von Vater und Sohn versorgen. Birgit, die an Elonie gelehnt stand,
bekam einen Schluck aus ihrem Glas, wofür das Kind sich bedankte. Unwillkürlich mußte die junge Frau an Viola denken. Verglich die beiden Mädchen miteinander, wobei >das VeilchenOmi< Irene dagegen protestierte. »Schlingel, halt ein!« rief sie lachend. »Unser Butzi ist doch nicht ein junger Hund.« Ein Stichwort für >Hurtig