Whitley Strieber
Transformation Eine wahre Geschichte
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Whitley Strieber
Transformation Eine wahre Geschichte
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»Transformation« ist eine aufregende Reise von den verborgenen Tiefen des Geistes in die unendlichen Weiten des Universums. Wieder steht der Autor im Zentrum höchst beunruhigender, rätselhafter Ereignisse. Und wieder erscheinen die seltsamen Besucher bei ihm. Wahngebilde? Außerirdische? Halluzinationen? ISBN 3-453-05314-1 Originalausgabe: TRANSFORMATION Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Brandhorst 1992 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH 4 Co. KG, München Umschlagillustration: Ted Jacobs
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Nach dem spektakulären Erfolg seines Tatsachenberichts »Die Besucher« (Heyne Nr. 01/7789) hat Whitley Strieber ein zweites Buch geschrieben, das auf Anhieb den Weg in die Bestsellerlisten fand. Von Whitley Strieber sind als HeyneTaschenbücher erschienen: Katzenmagie • Band 01/7666 Die Besucher • Band 01/7789 Der Kuß des Todes • Band 01/7828 Die Kirche der Nacht • Band 01/7888 Wolfsbrut • Band 01/7076 Todesdunkel • Band 01/8179
»Wir werden Wahrheiten über uns entdecken, die jeden von uns für alle Zeiten verändern werden.« Whitley Strieber
Transformation ist jenen gewidmet, die den Mut hatten, sich in diesem Buch als Zeugen meiner Erlebnisse nennen zu lassen: Barbara Clagman, Ed Conroy, Denise Daniels, Selena Fox, Lanette Glasscock, Annie Gottlieb, Bruce Lee, Roy Leonard, Barry Maddock, Philippe Mora, David Nigrelle, Dora Ruffner, Jacques Sandulescu, Martin Sharp, Patricia Simpson, Richard Strieber, Gilda Strutz, Mary Sue und Patrick Weathers, Yensoon Tfai und - zum Gedenken - Jo Sharp. Darüber hinaus möchte ich Dr. John Gliedman danken, der mir mit Aufgeschlossenheit und energischer Skepsis viele wichtige Erkenntnisse ermöglichte. Folgende Personen halfen mir mit guten Ratschlägen, die ich nicht nur benötigte, sondern auch sehr zu schätzen wußte: Beth Andreasson, Raymond Cowley, Stanton Friedman, Leonard Keave, Bruce Maccabee, Dr. Jesse Marcei, Dr. Jacques Vallée und William Moore. Mein besonderer Dank gilt Anne Strieber, deren Objektivität und Mut mir Kraft gaben, und Andrew Strieber, dessen ruhige Zustimmung mich inspirierte.
Inhalt VORWORT.......................................................................... 7 ERSTER TEIL GEHEIME REISEN ..................................... 11 DER VERSCHWUNDENE JUNGE ................................. 12 DIE GOLDENE STADT ................................................... 27 ÜBERAUS SELTSAM...................................................... 33 UNHEIL BAHNT SICH AN ............................................. 45 BLITZE .............................................................................. 55 DER WEISSE ENGEL ...................................................... 76 VERKLÄRTE NACHT ..................................................... 86 VERGESSENE SOMMER.............................................. 101 ZWEITER TEIL LEBEN IN DER FINSTERNIS .............. 121 DAS VERLORENE LAND............................................. 122 GEHEIMES WISSEN ...................................................... 131 DER SCHRECKEN DES REALEN ................................ 142 DAS FEUER DER FRAGE ............................................. 155 AUFRÜTTELNDE WAHRHEIT.................................... 163 FERNER ZEUGE ............................................................ 170 DRITTER TEIL JENSEITS DER DUNKELHEIT............. 180 DER WALD..................................................................... 181 IM ANGESICHT DES TODES ....................................... 189 ZORN ............................................................................... 204 SEELENREISE................................................................ 218
23. DEZEMBER 1986 ..................................................... 238 AUF DES MESSERS SCHNEIDE.................................. 248 DIE BESUCHER ZEIGEN SICH.................................... 259 JENSEITS DES ALPTRAUMS....................................... 281 ANHANG GESUNDHEIT .............................................. 288 WAHRHEIT..................................................................... 293 GÄLISCH......................................................................... 296 NACHWORT ................................................................... 298
VORWORT Ich bin tief im Dunkeln gewesen und habe dort erstaunliche Dinge entdeckt. Die Besucher verschwanden nicht, als ich Communion (Die Besucher, Heyne 01/7789) fertiggestellte. Ganz im Gegenteil: Sie drängten sich nach wie vor in mein Leben und ließen mich nicht in Ruhe. Inzwischen gibt es so viele Zeugen für meine Erfahrungen, daß es sich unmöglich um ein Phäno men handeln kann, dessen Ursachen in mir selbst liegen. Die beeindruckenden und faszinierenden Erlebnisse einiger Zeugen sowie ihre Glaubwürdigkeit beweisen meine Behauptung, daß die Besucher tatsächlich existieren und nicht etwa das Ergebnis von Halluzinationen oder Geistesstörungen sind. Selbst meine skeptischsten und lautesten Kritiker haben öffentlich zugegeben, daß ich nicht lüge. Ich bin sicher, die Realität der Besucher glaubhaft genug dargestellt zu haben, soweit das ohne einen konkreten Beweis möglich ist. Wenn sie eine nichtphysische Existenzform darstellen, so ist es vielleicht nie möglich, einen unmittelbaren Beweis zu erbringen. Was jedoch nicht bedeutet, daß man sie ignorieren sollte. Sie haben bereits einen beunruhigend großen, meistens jedoch verborgenen Einfluß auf unsere Gesellschaft, und deshalb halte ich es für angeraten, ihrer Präsenz mit dem angebrachten Ernst zu begegnen. Meiner Ansicht nach gibt es keine einfachen Erklärungen. Ich glaube nicht, daß wir es mit der Ankunft einer wissenschaftlichen Gruppe von einem anderen Planeten zu tun haben, deren Absicht darin besteht, uns zu untersuchen. Halluzinationen sind ebenfalls auszuschließen. Es handelt sich vielmehr um ebenso subtile wie komplexe Phänomene, die Erfahrungen an den Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit und des Verstehens bewirken. Vielleicht gibt es eine reale Welt -7-
zwischen Materie und Gedanke, ein veränderliches Universum, das sich im einen Augenblick als vollständige physische Wirklichkeit manifestiert - und im nächsten mit den Schatten verschmilzt. Die Besucher haben mich dazu veranlaßt, meine alte Weltanschauung wie eine verbrauchte, nutzlos gewordene Haut abzustreifen und eine neue Perspektive für den herrlichen, geheimnisvollen und so überaus vitalen Kosmos wahrzunehmen. Einiges deutet darauf hin, daß die Besucher schon sehr lange bei uns sind, vielleicht von Anfang an. Möglicherweise kam es in der Geschichte der Menschheit immer wieder zu Kontakten mit ihnen. Die Entführung durch nichtmenschliche Wesen gehört zum Mythenschatz der Völker. Ganz gleich, ob man die Entführer Dämonen, Götter, Feen oder Außerirdische nennt - für die Opfer sind entsprechende Erfahrungen geradezu verheerend. Wir haben es immer abgelehnt, uns eingehender damit zu befassen, und verharren deshalb in Unwis senheit. Auch aus diesem Grund belasten uns solche Erfahrungen ebenso stark wie vor tausend Jahren. Ich glaube, das läßt sich ändern. Den heutigen Entführten ergeht es ebenso wie jenen Menschen, die damals betroffen waren: Manche sterben, verlieren den Verstand oder verschwinden für immer. Doch die Mehrheit von ihnen nimmt ihre schwierigen, unverständlichen und in sozialer Hinsicht sehr störenden Erinnerungen schweigend hin. Begegnungen mit den Besuchern sind sehr anstrengend und können daher zerstörerisch wirken - oder eine goldene Tür zum inneren Verständnis öffnen. Aber es gibt auch eine dunkle Seite. Wer nicht in der Lage ist, damit fertig zu werden, läuft Gefahr, innerlich zu zerbrechen. Im besten Fall führen derartige Erlebnisse zu einer neuen Aufgeschlossenheit, zu dem -8-
Bestreben, den eigenen Horizont zu erweitern. Es ist keine ›besondere‹ Erfahrung, die sich auf einige auserwählte Personen beschränkt. Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen inzwischen solche Begegnungen hatten, aber eines steht fest: Es sind gewiß nicht wenige, und es werden immer mehr. Ich berichte von meinen eigenen Wahrnehmungen, davon, wie die Besucher mit mir verfuhren und wie ich darauf reagierte. Es liegt mir fern zu behaupten, daß meine Beobachtungen die tatsächlichen Ereignisse in allen Einzelheiten widerspiegeln, und meine Schlußfolgerungen müssen nicht unbedingt mit den Absichten der Besucher übereinstimmen. Aber ich möchte hier betonen, daß ich meine Erfahrungen mit der mir möglichen Objektivität und in aller Offenheit schildere. Ich beschreibe das Verhalten eines Mannes, der mit einer unbekannten Intelligenz konfrontiert wird. Tausende von Menschen finden sich mit der Erkenntnis ab, daß die seltsamen Wesen und hellen Objekte, von denen man immer wieder hört, weder optische Täuschungen noch Produkte überschäumender Fantasie sind, sondern ein echtes Rätsel. Präkognition, Telepathie, das Gefühl, außerhalb des eigenen Körpers zu schweben, sogar wahrhaftige physische Lévitation das sind häufige Nebenwirkungen von Kontakten mit den Besuchern. Ich finde diese Tatsache höchst erstaunlich, kann sie jedoch nicht leugnen. Hunderte von Briefen und persönliche Gespräche mit betroffenen Menschen - viele von ihnen erwähnten solche Effekte - überzeugen mit davon, daß es sich um Begleiterscheinungen direkter Begegnungen handelt. Sie erscheinen mir so bizarr, daß ich zögere, hier davon zu berichten. Aber einige dieser Phänomene habe ich selbst erlebt. Es fällt sehr schwer, Erfahrungen mit den Besuchern zu verarbeiten, aber dadurch werden sie keineswegs negativ. Die wichtigsten Entwicklungen des Bewußtseins gehen auf -9-
außergewöhnlich intensive Anstrengungen zurück. Die Furcht verwirrt uns, hält uns zurück. Sie ist das größte Hindernis. Indem man sie besiegt, wird ein Durchbruch möglich, der zu besserem Verständnis führt. Ich weiß nicht, ob Zufall oder Absicht dahintersteckte: Die Besucher begannen eine wunderbare und schreckliche Reise mit mir, und sie führte geradewegs durch das Labyrinth meiner Ängste. Was auch immer mich entsetzte - durch das direkte Erleben wurde alles noch hundertmal schlimmer. Die Fremden führten mich in das absolute Grauen des Todes, konfrontierten mich mit dem Furchtbaren. Ich wurde gezwungen, mich Schuld, Zorn und Kummer und jenen anderen Empfindungen zu stellen, die unter dem Fundament meiner Seele begraben lagen. Längst vergessene oder verdrängte Sünden kehrten unbarmherzig in den Fokus meines Ichs zurück. Ganz gleich, was Furcht in mir weckte - es kroch aus dem Unterbewußtsein und verlangte nach Aufmerksamkeit. Wir haben versucht, die Besucher unter dicken Schichten aus Verleugnung und falscher Sicherheit zu verstecken, aber nun kommen sie zu uns und bringen eine Botschaft, die wirklich aus dem Jenseits stammt. Sie weisen darauf hin, daß es in uns und im Universum mehr gibt, als wir bisher glaubten. Sie konfrontieren uns mit der Welt des Unbekannten. Es wird enorm schwer sein, echte Beziehungen zu den Besuchern herzustellen. Aber aufgrund meiner eigenen Erfahrungen zweifle ich nicht daran, daß uns Erstaunliches erwartet. Etwas außerordentlich Verblüffendes steht uns bevor.
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ERSTER TEIL GEHEIME REISEN Es war einmal ein Junge, der jeden Tag die Welt entdeckte. Und er wurde selbst zu dem ersten Objekt, das er sah. Jenes Objekt wurde dann Teil von ihm, für den ganzen Tag oder einen Teil des Tages. Oder für viele Jahre oder für viele Folgen von Jahren. WALT WHITMAN Der Junge, der die Welt entdeckte
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DER VERSCHWUNDENE JUNGE Die Nacht des 2. April 1986 war im Norden des Staates New York, wo wir eine Blockhütte haben, kühl und feucht. Mein Sohn hatte Ferien, und er, meine Frau Anne und ich verbrachten dort eine unruhige Woche. Eigentlich sollte die Hütte ein Ort des Friedens und der Entspannung sein, aber sie war inzwischen zu etwas ganz anderem geworden. Seit dem Oktober des vergangenen Jahrs kam es immer wieder zu bedrückenden nächtlichen Begegnungen mit fremden Wesen. Ich war das unmittelbare Opfer der meisten Kontakte, die mich sehr belasteten. Doch gleichzeitig faszinierten mich die seltsamen Erlebnisse. Betrafen sie tatsächlich ir gendwelche nichtmenschlichen Geschöpfe? Ich hatte mehrere medizinische und psychologische Untersuchungen hinter mir, und die Resultate bewiesen meine körperliche und geistige Gesundheit. Ich litt an keiner Krankheit, die Halluzinationen verursacht. Außerdem gab es Zeugen. In der Nacht des 4. Oktober 1985 wurden zwei Freunde, Anne Gottlieb und Jacques Sandulescu, von sonderbaren Lichtern und Geräuschen geweckt, und sie berichteten anschließend von eigenartigen Empfindungen, während ich mich einem regelrechten Angriff der Besucher ausgesetzt sah. Im März 1986 beobachtete eine Freundin meines Sohnes, wie eine kleine Scheibe an unserem Wohnzimmerfenster vorbeiflog, als wir das Abendessen einnahmen. Das Mädchen war sieben Jahre alt und wußte nichts von UFOs und dergleichen. Und in jener Nacht hatte ich ein besonders spektakuläres Erlebnis mit den Besuchern. Wir fürchteten uns, und der Aufenthalt in unserer Hütte war alles andere als angenehm. Die Fremden, denen wir begegneten, waren nicht die weisen, gütigen und wohlwollenden Wesen aus Filmen wie Unheimliche -12-
Begegnung der dritten Art. Sie entsetzten uns, kehrten immer wieder zurück. Meine Frau und ich dachten ernsthaft daran, die Blockhütte aufzugeben. Aber je mehr unsere Überzeugung wuchs, daß eine reale Grundlage für die Erfahrungen existierte, desto entschlossener wurden wir, nicht zu fliehen. Und wenn es sich wirklich um fremde Wesen handelte? Wenn sie zur Realität gehörten, durften wir sie nicht einfach ignorieren. Die Besucher mochten schrecklich sein, aber wir waren neugierig. Trotz unserer Furcht blieben wir also in unserer Blockhütte, doch ich schlief dort nicht mehr ruhig und friedlich. Häufig erwachte ich mitten in der Nacht und zitterte voller Grauen. Unserem Sohn Andrew erzählten wir nur wenig von den Ereignissen. Die Vorstellung, daß er mit hineingezogen werden könnte, erfüllte uns mit großer Besorgnis. War es falsch, ihn zur Hütte mitzunehmen? Wir wußten es nicht. Die Gesellschaft bot uns kaum Unterstützung oder Hilfe an. Die meisten Menschen hielten unsere Erlebnisse nicht für real und lehnten es ab, Gedanken daran zu verschwenden. Wir waren allein, wir und die Besucher - wenn es wirklich Besucher waren. Also trafen wir die Entscheidungen, die wir für richtig hielten. Und dann, in der Nacht des 2. April, bewahrheiteten sich unsere schlimmsten Befürchtungen. Mitten in der Nacht weckte mich etwas - jemand schien mich an der linken Schulter gerüttelt zu haben. Von einem Augenblick zum anderen war ich hellwach und spürte, wie Zorn in mir emporstieg. Hörte es denn nie auf? Das letzte Ereignis lag erst vierundzwanzig Stunden zurück! Wann ließ man mich endlich in Ruhe? Als ich in der Nacht des 1. April erwacht war, leisteten mir bereits zwei Besucher Gesellschaft. Wir befanden uns in einem -13-
grauen, gewölbten Korridor. Doch diesmal lag ich im Bett, und niemand war in der Nähe. Ich vermutete, daß mein Erwachen nicht auf einen äußeren Reiz zurückging; wahrscheinlich lag es an meiner eigenen Nervosität. Aufgrund der zurückliegenden Erfahrungen hatte ich mich gründlich über verschiedene Bewußtseinszustände informiert und nahm daher an, daß ich nun ein bekanntes Phänomen erlebte. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von ›nächtlichen Besuchern‹ hypnoseartige Trance beziehungsweise ein Wachtraum beginnt oft mit den Empfindungen, die ich zu jenem Zeitpunkt spürte. Aber diese Erklärung wurde nicht den Umständen gerecht. Es fehlten ›nächtliche Besucher‹, und es verharrten keine Traumbilder, als ich die Augen öffnete. Ich spürte auch nicht die für einen solchen Zustand charakteristische Lähmung. Ein typisches Erlebnis dieser Art beginnt mit plötzlichem Erwachen, so wie bei mir. Der Betreffende hebt die Lider und sieht Erscheinungen am Bett. Zuerst kann er sich nicht bewegen, doch wenn er sich aus der Starre befreit, verschwinden die Wesenheiten. Die in der wissenschaftlichen Literatur beschriebenen gewöhnlichen Erfahrungen in bezug auf ›nächtliche Besucher‹ sind völlig anders als mein Erlebnis vom 2. April 1986. Der Unterschied ist ebenso groß wie zwischen einem plätsche rnden Bach und dem Tosen eines riesigen Wasserfalls. Unvermittelt setzte ich mich auf und prüfte meine Wahrnehmung. An einen Traum konnte ich mich nicht erinnern, und ich entdeckte auch keine Anzeichen für eine halluzinative Trance. Ich war schlicht ein müder und verwirrter Mann, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Ich lauschte der Stille einer magischen Frühlingsstunde: Die jungen, noch nicht sehr laut quakenden Frösche schwiegen, und es wehte kein Wind mehr. Alles schien wie in einem Bann -14-
gefange n. In den vergangenen Monaten hatte man in unsere Region einige neue Häuser gebaut, aber die Blockhütte war noch immer recht isoliert und abgelegen. Sie stand am Rand eines großen Gebietes, das dem Staat gehörte - urwüchsiges, unberührtes und herrliches Land, das ich sehr liebte. Ich verließ das Bett und nahm mir vor, unten nach meinem Sohn zu sehen und vielleicht einen kleinen Spaziergang zu machen. Es war noch immer ziemlich kühl, und deshalb zog ich die Hausschuhe mit den Gummisohlen an und streifte mir einen dicken Frotteemantel über. Leise ging ich ins Erdgeschoß, und dort erwartete mich der größte Schrecken meines Lebens. Zunächst wirkte alles völlig normal. Die Treppenstufen knarrten leise unter mir, und die große Uhr tickte laut und beruhigend. Es war Viertel nach drei. Ich durchquerte die Küche und sah ins Schlafzimmer meines Sohnes. Alles schien in Ordnung zu sein: Die Laken bildeten ein langgestrecktes Bündel in der Mitte des Bettes. Ich trat ein, um sie zurechtzurücken und einen Blick auf meinen schlafenden Sohn zu werfen. Es war warm im Zimmer, und ich spürte eine menschliche Präsenz. Ich glaubte sogar, Andrew atmen zu hören. Doch er lag nicht unter der Decke. Ich griff nach unten, weil ich ihn am Fußende des Bettes vermutete. Dann tastete ich nach rechts und links. Nichts. Das Bett stand weiß und leer vor mir. Ich sah sogar darunter nach - keine Spur von meinem Sohn. Jähe Hoffnung erfaßte mich, als ich ins Bad eilte, doch dort fand ich den Jungen ebenfalls nicht. Mit der entsetzlichen Gewißheit eines Vaters wußte ich, daß sich Andrew nicht mehr im Haus befand. Vielleicht schlafwandelte er. Ich suchte im Kellergeschoß, in der festen Überzeugung, daß mein Sohn irgendwo in der Nähe sein müsse. Er konnte - durfte - nicht verschwunden sein. -15-
Aber die Suc he blieb erfolglos. Ich schauderte, und irgend etwas schnürte mir die Kehle zu, als ich daran dachte, daß vielleicht jene Wesen dahintersteckten, die ich ›Besucher‹ nannte. Zuvor hatte ich sie nur als Fremde oder Aliens bezeichnet, doch vieles an ihnen deutete darauf hin, daß sie uns Menschen gut kannten. Das Wort Alien gefiel mir nicht. Es legte etwas so Fremdartiges dar - etwas, das sich völlig von uns unterschied -, daß es unmöglich gewesen wäre, derartige Entitäten zu verstehen oder eine Beziehung zu ihnen herzustellen. Ich sehnte mich nach Verständnis, nach einer echten Beziehung. Als ich durchs Haus eilte, verfluchte ich mich selbst. Ich hatte mich von der Besucher-Hysterie anstecken lassen und Andrew mit meiner Angst infiziert. Wo mochte er sich jetzt versteckt haben? Lag er zusammengerollt unter dem Wagen? Zitterte er in der Nacht, weil sein Vater an überreizter Fantasie litt? Ich wollte schreien und seinen Namen rufen, blieb jedoch stumm, weil ich nach wie vor hoffte, daß der Junge irgendwo schliefe. Ich brauchte ihn nur zu finden und ins Bett zurückzubringen - dann konnten wir bis zum nächsten Morgen alles vergessen. Einige Minuten später setzte ich die Suche fort, sah in jedem Zimmer nach und öffnete die Schränke. Schließlich mußte ich mich der Erkenntnis stellen, daß mein Sohn um drei Uhr zwanzig nachts nicht zu Hause war. Es gab keine Möglichkeit, daß ich an Halluzinationen litt. Andrew befand sich nicht in der Hütte. Aus irgendeinem völlig unerklärlichen Grund war auch die Alarmanlage ausgeschaltet. Ich dachte daran, Anne zu wecken und den Sheriff zu verständigen. Schon wandte ich mich der Treppe zu, dann zögerte ich aber, gab einer letzten Hoffnung nach und beschloß, mich draußen umzusehen. -16-
Im vergangenen Sommer hatten wir Andrew ein Zelt von Sears gekauft. Es stand im Wald, nicht weit vom Haus entfernt. Vielleicht schlief mein Sohn dort? Obgleich ich mir kaum vorstellen konnte, daß Andrew mitten in der Nacht die Hütte verließ und durch den finsteren Wald wanderte. Zwar wußte er nur wenig von den Besuchern, aber wahrscheinlich hatte er bereits seine eigenen Erfahrungen mit ihnen gesammelt: Nach dem Einbruch der Dunkelheit wurde der arme Junge immer recht nervös. Ich lief zur Tür und hoffte inständig, ihn draußen zu finden. Es war wirklich sehr dunkel, und in meiner Hast verzichtete ich darauf, eine Taschenlampe mitzunehmen. Ich ging zum Ende der Veranda und entschied, dem Verlauf der Straße zu folgen, wo die Bäume nicht ganz so dicht an dicht standen. Dort gab es sicher mehr Licht, was mich in die La ge versetzen würde, das Zelt zu erreichen, ohne unterwegs zu stolpern und zu fallen. Entschlossen sprang ich von der Veranda herunter und machte mich auf den Weg. An dieser Stelle verwehrten die Baumwipfel nicht den Blick gen Himmel, und aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung. Ich blieb stehen, starrte verwirrt nach oben und rechnete damit, den üblichen Nachthimmel zu sehen. Statt dessen bot sich mir ein verblüffender Anblick. Ein kalter Schock erfaßte mich, und mein Herzschlag schien plötzlich aus zusetzen. In jenen Sekunden wurde ich aus der realen Welt gerissen und in die gräßliche Fremdartigkeit geschleudert, die uns seit einiger Zeit so häufig zusetzte. Gewaltige Schwärze schwebte am Firmament, etwa hundert Meter über den Bäumen. Sie bedeckte ein Drittel des Himmels, schluckte das Funkeln der Sterne - eine riesige, gestaltlose Leere. Sie glühte nicht, zeigte kein Licht, war einfach nur finster. Ein Loch im Gefüge der Wirklichkeit? Eine Scheibe, die lautlos über dem Wald hing? Der Eindruck von Bewegung -17-
wiederholte sich, ging auf Sterne zurück, die hinter dem Etwas verschwanden. Ich hielt das Ding zunächst für eine Wolke. Der Rand war erstaunlich klar abgegrenzt, aber dafür gab es sicher eine ganz normale meteorologische Erklärung - vielleicht eine besondere Art von Wind. Ich ging weiter, und die Wolke bewegte sich in perfekter Synchronisation mit mir, als bestehe eine direkte Verbindung zwischen uns, als sei die gewaltige Erscheinung ein Schatten, den ich nicht abstreifen konnte. Diesen Effekt ruft auch der Mond hervor, wenn er hinter den Bäumen scheint, doch dieses Objekt zeichnete sich nicht etwa vor einigen nahen Kiefern und Fichten ab, sondern vor fernen Sternen, woraus folgte: Entweder bewegte es sich tatsächlich, oder ich hatte es mit einer seltsamen perspektivischen Verzerrung zu tun. Eigentlich war mir der Grund gleich. Ich wandte mich von der ›Wolke‹ ab und wollte den Weg zum Zelt fortsetzen. Plötzlich erklang eine klar verständliche Stimme: »Kannst du allein ins Haus zurückkehren, oder sollen wir dir helfen?« Die Worte waren nicht besonders laut, aber sie zerfaserten das Gespinst der Stille. Ich verharrte erschrocken und hielt nach dem Sprecher Ausschau. Auf der anderen Seite der Straße sah ich drei dunkle Gestalten, die über den Büschen schwebten. Sie erschienen mir klein und kantig, wie von schwarzen oder dunkelblauen Tüchern umhüllt. Die Stimme hatte sehr fest, streng und unnachgiebig geklungen, und ich begriff plötzlich: Die ›Wolke‹ über mir war ein riesiges unbekanntes Flugobjekt, und mein Sohn befand sich darin. Ich störte die Besucher gerade bei einer ihrer Entführungen. Ich zitterte plötzlich, erbebte am ganzen Leib und spürte, wie ich die Kontrolle über mich zu verlieren begann. Schmerz stach in meiner Brust, und das Blut rauschte mir in den Schläfen. Ich empfand so etwas zum erstenmal in meinem Leben und -18-
befürchtete einen Herzanfall. Peinerfüllt krümmte ich mich zusammen - irgend etwas in mir versuchte offenbar, aus meinem Körper zu fliehen. Tiefer Kummer erfüllte mich, und ich wollte einfach nur stehenbleiben und weinen. Statt dessen taumelte ich weiter und hielt den Blick dabei auf das dunkle Objekt gerichtet. Dann verharrte ich erneut und bemerkte, daß die Sterne hinter dem Etwas wieder zum Vorschein kamen. Das Gebilde schien zu schrumpfen. Erleichterung vibrierte in mir. Vielleicht hatte ich es doch mit einem Wachtraum zu tun. Ja, natürlich: Ich erlebte einen entsetzlichen, grauenhaften Wachtraum. Das Objekt verschwand - und kehrte kurz darauf als flache, gelbe Scheibe zurück, etwa halb so groß wie ein Groschen. Das Glühen nahm eine rosarote Tönung an, und von einem Augenblick zum anderen raste die Scheibe nach Norden, wobei sie einen sternschnuppenartigen Schweif hinter sich herzog. Die Schlußfolgerung lag auf der Hand: Die Erscheinung war nicht etwa geschrumpft, sondern ziemlich schnell und völlig lautlos nach oben geflogen. In jenen Sekunden fühlte ich mich hilflos und allein. Viel zu deutlich erinnerte ich mich daran, was ich nach meiner eigenen Entführung durch die Besucher erlitten hatte. Die Vorstellung, daß es meinem Sohn nun ebenso erging wie mir, quälte mich sehr. Die Wesen wiederholten ihre Frage, und ich glaubte zu beobachten, wie sie etwas näher schwebten. Ohnmächtiger Zorn brodelte in mir. Ich rechnete nicht damit, Andrew jemals wiederzusehen. Wie sollte ich seiner Mutter oder dem Sheriff oder sonst jemandem - erklären, was geschehen war? Es gibt Arten von Schmerz und Pein, die sich kaum beschreiben lassen, selbst wenn man sie an Leib und Seele erfahren hat. Meiner Ansicht nach blieben mir nur zwei -19-
Möglichkeiten: Entweder bewahrte ich mir einen Rest von Würde, indem ich zur Hütte zurückkehrte - oder ich sank an Ort und Stelle zu Boden. Aber wenn ich mich weigerte, den Besuchern zu gehorchen... Bestimmt fand ich mich dann am nächsten Morgen im Bett wieder. Dann würde ich in einem leeren Haus erwachen, als leeres menschliches Wrack - ohne eine Ahnung, wohin man meinen Sohn gebracht hatte. Ich drehte mich um und ging zurück, kam mir dabei aber vor wie jemand, der zum Galgen ge führt wird. Meine Beine schienen immer schwerer zu werden, und die Knie verwandelten sich in Gummi. Ich konnte kaum etwas sehen, und das Gelände war uneben. Schweiß und Tränen bildeten einen dichten Schleier vor meinen Augen, und die Finsternis verhüllte alle Konturen. Zweige strichen mir durchs Gesicht. Lockere Steine gaben unter mir nach, und mehrmals hätte ich fast das Gleichgewicht verloren. Irgendein elementarer Bestandteil meines Ichs veranlaßte mich jedoch dazu, mit hoch erhobenem Kopf zu gehen. Ich wollte nicht zeigen, wie sehr ich mich fürchtete. Vielleicht befand sich mein Sohn jetzt in der Gesellschaft von erhabenen Wesenheiten, doch meine Instinkte behaupteten etwas anderes. Ich reagierte so, als sei er von wilden Tieren verschleppt worden. Ich wußte nur eines: Ich durfte die Besucher nicht verärgern und Andrew dadurch in noch größere Gefahr bringen. Langsam näherte ich mich der Hütte. Sie wirkte düster und unheilvoll, als gehörte sie zu einer andere Welt. Das matte Glühen von Andrews Nachtlicht filterte durchs Fenster seines Zimmers. Stille erwartete mich. Die vertraute Umgebung hatte plötzlich etwas Bedrückendes und Unheimliches. Die jüngsten Ereignisse waren so schrecklich, daß sie mein ganzes Weltbild zerschmetterten. Das Wohnzimmer bot sich mir als eine gespenstische Kammer dar, -20-
gefüllt mit bizarren Gegenständen. Ich sah mich um, betrachtete alles über eine breite Kluft hinweg, die mich vom Diesseits trennte: mein Sessel, der Tisch, die Lampe daneben, Fernseher und Videorecorder, der Ständer mit den Zeitschriften, das kleine Bücherbord neben der Treppe. Entsprach dies der Realität? Und galt das auch für die Ereignisse im Wald? Es gibt keine Worte, um das ganze Ausmaß meiner Niedergeschlagenheit zu jenem Zeitpunkt zu beschreiben. Wut vermischte sich mit Bitterkeit; ich fühlte mich hintergangen und betrogen. Wie erklärte die konventionelle Wissenschaft das riesige schwarze Etwas am Himmel? Ein derartiges Objekt durfte überhaupt nicht existieren. Aber wo befand sich dann mein Sohn? Ich hatte alles unternommen, um die Besucher abzuwehren: Es gab eine Alarmanlage in der Hütte, und hinzu kamen mehrere Bewegungsdetektoren. Die wissenschaftliche Welt war unterrichtet, selbst die Kirche. Mehrere qualifizierte Ärzte und Mediziner hatten mir ihre berufliche Unterstützung angeboten. Aufgrund ihrer Befunde konnte ich sicher sein, nicht an irgendwelchen bekannten Krankheiten oder Geistesstörungen zu leiden. Außerdem halfen sie mir mit ebenso wichtigen wie nützlichen Ratschlägen: Finde dich mit der Ungewißheit ab. Laß die Frage offen. Ich trug meine Erfahrungen mit den Besuchern auch zur Kirche, sprach mit einem Priester, dessen Herz voller Liebe ist. Es gibt Geistliche, die mich sofort aus ihren Pfarrhäusern geworfen und behauptet hätten, ich sei das Opfer von Dämonen. Doch ich begegnete einem verständnisvollen Priester. In aller Ruhe hörte er sich meine Schilderungen an, und seine Antwort lautete: »Ganz gleich, wer oder was die Fremden sind: Sie mehren nur den Ruhm Gottes.« An diesem 2. April 1986 waren aber keine Wissenschaftler, -21-
Ärzte oder Priester zugegen. Welchen Rat hätten sie mir angesichts der überwältigenden Macht der Besucher auch anbieten können? Das Problem betraf allein mich, stellte eine Bürde dar, die immer schwerer auf mir lastete. Einmal mehr dachte ich an die Anweisungen der Besucher. Ich wußte, was sie von mir wollten, und ging steifbeinig nach oben. Bei jedem Schritt starb ein Teil von mir. Schließlich erreichte ich das Schlafzimmer und nahm auf der Bettkante Platz. Ich spürte eine fremde Präsenz im Raum, achtete jedoch nicht darauf und fühlte mich wie gelähmt. Seltsam: Die Empfindungen an der Oberfläche meines Bewußtseins waren normal. Ich durchquerte ein Zimmer und setzte mich aufs Bett, während innere Alarmsirenen schrillten und mich an die Entführung meines Sohnes erinnerten. Jemand anderer schien meinen Körper zu kontrollieren, aber sonderbarerweise wehrte ich mich nicht dagegen, leistete keinen Widerstand. Ich zog Mantel und Schuhe aus, ließ mich auf die Matratze sinken und spürte herrlich angenehme Wärme, die meinen ganzen Körper erfaßte. Innerhalb weniger Sekunden fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich erwachte, war es hell draußen. Ich öffnete die Augen. Vögel zwitscherten, und ich sah zartes Frühlingsgrün an den Zweigen vor dem Fenster. Zuerst fühlte ich mich so erleichtert wie jemand, der aus einem schlimmen Alptraum erwacht und feststellt, daß alles in Ordnung ist. Der Morgen erschien frisch, unbeschwert und vielversprechend. Doch dieser Eindruck währte nur wenige Sekunden. Dann kehrte schwarze Nacht zurück, und mit ihr die Erinnerungen. Ich war völlig sicher, ein leeres Haus vorzufinden, wenn ich nach unten ging. Noch konnte ich keinen Muskel rühren. Neben mir lag Anne -22-
und atmete leise, und ein plötzliches Gefühl von Schuld drohte mich zu ersticken: Warum hatte ich meine Frau und unseren Sohn in dieses Haus am Rand der Hölle zurückgebracht? Dann vernahm ich etwas im Erdgeschoß. Zuerst wagte ich nicht, meinen Ohren zu trauen, doch unmittelbar darauf hörte ich die Schritte des Jungen. Er kam zu uns, wie an jedem Morgen, seit er imstande war, aus seinem Kinderbett zu klettern! Durfte ich meiner Wahrnehmung trauen? Oder erlag ich reinem Wunschdenken? Andrew kam lächelnd herein, seinen Plüschhund Puppy unter den einen Arm geklemmt. Ich brachte kein Wort hervor, blieb wie erstarrt liegen. Tränen strömten mir über die Wangen. Aber der Junge schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Er kroch zu uns, schmiegte sich zwischen mich und Anne, war warm und gegenwärtig. Ich schlang glücklich die Arme um ihn. Während der nächsten Stunden kehrte meine alte arrogante Selbstsicherheit zurück. Ich klammerte mich daran fest, brauchte sie, um mit der absoluten Macht der Besucher zu leben. Sie konnten ganz nach Belieben mit mir und meiner Familie verfahren. Ich empfand diese Erkenntnis als so unerträglich, daß ich sie verdrängte. Ich war erpicht darauf, den Wissenschaftlern, mit denen ich bereits gesprochen hatte, von dieser neuen Erfahrung zu berichten: ein hypnoseartiger Zustand mit außerordentlich intensiven Halluzinationen. Ich zweifelte nicht daran, wach gewesen zu sein, als ich nach draußen gegangen war und das Etwas am Himmel gesehen hatte. Aber das Objekt existierte ja nur in meiner Fantasie, ebenso wie die Besucher, die mich aufforderten, ins Haus zurückzukehren. Was die Abwesenheit meines Sohnes betraf... Nun, dafür gab es bestimmt eine vernünftige Erklärung. Den ganzen Morgen über erwies sich Andrew als besonders -23-
lebhaft. Er lachte oft und scherzte dauernd mit uns. Meistens ist er fröhlich, doch an diesem Morgen wirkte er wie die personifizierte Lebensfreude. Nach dem Frühstück gelangte ich zu der Ansicht, daß es nicht lohnte, die Ereignisse der vergangenen Nacht zu erwähnen. Es handelte sich nur um einen Alptraum, hervorgerufen von meiner Unruhe. Es war recht warm. Am Nachmittag holten Anne und ich Klappstühle, setzten uns auf die Veranda, genossen den Sonnenschein und lasen. Andrew spielte in der Nähe mit seinen Autos und Lastwagen, als ich plötzlich eine Veränderung bemerkte. Ich horchte und stellte fest, daß die Vögel nicht mehr zwitscherten. Vergeblich lauschte ich nach dem Summen der Insekten; sogar das Heulen einer fernen Kettensäge verstummte. Ich wandte mich Anne zu. »Hör nur«, sagte ich. »Es ist auf einmal so still.« Meine Frau starrte mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck auf ihr Buch hinab, schien überhaupt nichts zu sehen. Sie schwieg, und Andrew rührte sich nicht mehr. Völlig bewegungslos hockte er vor seinen Spielzeugen. Die Stille war wundervoll, und ich hatte das Gefühl, als sei etwas Heiliges in der Nähe. Diese herrliche Empfindung dauerte einige Sekunden lang, schien dann aber plötzlich zu enden und sich gleichzeitig zu einer Ewigkeit zu dehnen. Ein Schatten strich über uns hinweg, verdunkelte das Licht der Sonne. Dann kehrte das Leben langsam in die Welt zurück. Die Vögel setzten ihren Gesang fort, und der Rest des Aprilchors stimmte mit ein. Die Insekten summten wieder. In den sumpfigen Bereichen hinter der Hütte begannen die Zirpfrösche mit einem Konzert. Die Kettensäge heulte erneut, und ein Schmetterling flog vorbei, tanzte in der Luft. Andrew gab ein Geräusch von sich, das wie die Pfeife einer Lokomotive klang ein hoher, fast schriller Ton, der in meinem Herzen widerhallte. -24-
Er verlor das Interesse an seinem Spiel und kam zu mir. »Was liest du da?« »Ein Buch über Amerika im neunzehnten Jahrhundert. Es heißt Dream West.« »Dream West?« »Ja.« »Weißt du, ich habe nachgedacht. Die Realität ist Gottes Traum.« Ich sah den Jungen an und war ein wenig überrascht, nicht so sehr von der Bemerkung an sich, sondern eher von Andrews fest und überzeugt klingender Stimme. Die Realität ist Gottes Traum? »Was geschieht, wenn Gott erwacht?« Der Junge sah mich fragend an - und dann, lachte er glucksend. Der Nachmittag verstrich ohne Zwischenfälle. Wir fuhren in den Ort, um Lebensmittel zu kaufen. Später sagte Andrew: »Das Unterbewußtsein ist wie das Universum jenseits der Quasare - eine unbekannte Region, die wir erforschen möchten.« Als die Schatten länger wurden, als sich der Tag dem Ende entgege nneigte, dachte ich daran, daß solche Worte unmöglich von meinem Sohn stammen konnten. Eine gewisse Verlegenheit schloß sich an diese Überlegung an: Offenbar unterschätzte ich Andrew. Die Bemerkung kam von ihm. Kurz nach Sonnenuntergang saßen wir wieder auf der Veranda, und mein Sohn blickte in den Wald. »Weißt du, in der vergangenen Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Darin schwebte ich im Wald, und ein riesiges Auge sah auf mich herab. Komisch. Es fühlte sich alles ganz echt an, aber es muß ein Traum gewesen sein.« Er beobachtete die dunklen Schatten. »Es war doch ein Traum, nicht wahr, Dad?« -25-
»Was möchtest du glauben?« »Daß ich... geträumt habe.« »Dann hast du sicher recht.« Damit folgte Andrew dem Beispiel vieler Menschen, die Begegnungen mit den Besuc hern hatten - er hielt sie für einen Traum. Ich hütete mich davor, ihm zu widersprechen. Tief in meinem Innern wollte ich weinen. Doch andererseits... Seine Gedanken waren wunderbar, und es kam für mich einer Offenbarung gleich, sie von den Lippen eines Kindes zu hören. Realität ist Gottes Traum. Ja, und was verbirgt sich hinter den Quasaren? Ich stand neben meinem Sohn und glaubte zu spüren, wie sich die Erde unter uns in Richtung Nacht drehte. Wald und Himmel legten das Gewand aus Licht ab. Die ersten Sterne erschienen als winzige, helle Punkte am Himmel. Ich fragte mich, wie es jetzt jenseits der Quasare aussehen mochte. Was war dort? Was war wirklich dort? Vielleicht befindet sich jener ferne Ort in unmittelbarer Nähe der unauslotbaren Tiefen des menschlichen Bewußtseins. Vielleicht verschmilzt das Universum an den innersten und äußersten Grenzen. Vielleicht haben die Besucher einen kleinen Jungen benutzt, um eine Botschaft zu übermitteln, um uns darauf hinzuweisen, daß sich alles in einem einzigen Rätsel vereint. Wer sind wir? Was bedeutet der gewaltige Himmel? Finden wir die Wahrheit, wenn wir den verschlungenen Pfaden des Geistes und der Nacht folgen?
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DIE GOLDENE STADT Ich machte mir große Sorgen um meinen Sohn. Mir graute bei der Vorstellung, daß die Ereignisse in der Nacht des 2. April sich tatsächlich ereignet hatten. Schließlich brachte ich Andrew zu einem Psychologen, der sich mit ihm unterhielt und zu dem Schluß gelangte, daß er in geistiger Hinsicht völlig gesund war und auch nicht an Verhaltensstörungen litt. Anne und ich hielten ihn weiterhin von Gesprächen über die Besucher fern. Aber vielleicht begingen wir einen Fehler. Wenn ihn die Besucher tatsächlich entführt hatten, wäre es vielleicht besser gewesen, mit dem Jungen zu reden und ihm meine Unterstützung anzubieten. Doch wenn fremde Wesen in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle spielten, wenn es eine psychische Ursache gab, die wir noch nicht kannten, so verschlimmerten wir nur den Verwirrungszustand unseres Sohnes, indem wir ihn darauf ansprachen. Ich gewann den Eindruck, daß Andrew ebenso hilflos war wie ich - und daß ich ihm überhaupt nicht helfen konnte. In jenen Frühlingstagen fühlte ich mich sehr einsam. Zum erstenmal in meinem Leben spürte ich ganz deutlich, wie oft sich Menschen ge genseitig mit Verachtung begegneten. Ich glaubte, bei den Wissenschaftlern auf hochmütige Arroganz zu stoßen. Humanisten, Liberale und Intellektuelle, denen zuvor meine Bewunderung gegolten hatte, lehnten die von mir beschriebenen Phänomene als absurd ab. Jene Leute, von denen man Aufgeschlossenheit und objektive Intelligenz erwartet - sie wiesen das für sie Unvorstellbare überheblich zurück, weil es zum Volksglauben gehöre. Das Universum ist ein Rätsel, und die Theorien über seine Natur - und unsere eigene - verdeutlichen nur unsere Unwissenheit. Ich wandte mich vom Menschen und vom Tag ab, wählte statt -27-
dessen Natur und Nacht. Dabei fühlte ich mich von der Finsternis angezogen und gleichzeitig abgestoßen. Ich las andere Berichte über Erfahrungen mit Besuchern - und rang mit diesem Thema. Während ich Die Besucher schrieb, beobachtete ich wie ein ängstliches Tier jeden Schatten. Tagsüber gab ich mich zuversichtlich und überzeugte mich davon, das einzige Mitglied der Familie zu sein, das an der Besucher-Krankhe it litt; ich war sicher, sie irgendwie überleben zu können. Doch des Nachts schwitzte ich vor Furcht. Ich spürte, daß sich die fremden Wesen mir, Anne und Andrew immer mehr näherten. Manchmal hörte ich fast ihr Flüstern, und vor dem inneren Auge sah ich die bunten Lichter ihres Flugapparats - und die düsteren, schmucklosen Räume darin. Erinnerungsbilder zeigten mir immer wieder große, starrende Augen - in denen sich die verzerrte, Grimassen schneidende Karikatur eines menschlichen Gesichts widerspiegelte. Es wirkte wie eine Fratze des Entsetzens. Ich sah mich selbst. Es war eine sehr schwere Zeit für mich. Ich befürchtete, allmählich den Verstand zu verlieren und wandelte in einer Grauzone zwischen Vernunft und Wahnsinn. Meine Verzweiflung wuchs. Die Arbeit an Die Besucher erfüllte den Zweck eines Rettungsankers, ermöglichte es mir, in der Realität zu bleiben. Den ganzen Tag über schrieb ich wie ein Besessener und konzentrierte mich einzig und allein auf das Manuskript. Doch ich konnte dem Anderen nicht völlig entfliehen, des Nachts kehrte der Schrecken zurück. Selbst in New York City fand ich keine Ruhe. Auch dort hörte ich die Wahrheit im kühlen Seufzen des Windes: Wir sind klein, und die Welt ist riesengroß. Bei einer solchen Gelegenheit erschien mir ein erstaunlich detailliertes und schönes Bild. Damals hielt ich es kaum für -28-
erwähnenswert, doch wenn ich heute daran zurück denke, gibt es mir Kraft und Trost. Nur einmal sah ich das Bild der goldenen Stadt in aller Deutlichkeit, und dann verschwand es für immer. Es geschah in unserem Apartment in Manhattan, in der zweiten Aprilwoche. Eines Morgens kurz vor der Dämmerung schien die Welt plötzlich zu schimmern. Ich öffnete die Augen, fühlte mich leer und erschöpft. Meinen Blicken bot sich kein Feuer oder eine sich nähernde Lichtquelle dar, sondern ein völlig normales Schlafzimmer. Anne schlief neben mir, und jenseits der Jalousien wich die Nacht allmählich dem Tag. Ich sah auf die Uhr: kurz nach sechs. Ich schloß die Augen wieder und hoffte, noch eine Stunde schlafen zu können. Erneut flutete mir Licht entgegen, ein prächtiges goldenes Gleißen, das mich erfüllte, mich durchstrahlte und vereinnahmte. Auf einmal flog ich im Licht und sah hohe Türme, aus denen weißer Glanz in die unbarmherzige Dunkelheit strömte. Und dann stellte ich fest, daß ich über einer Stadt schwebte, über einer riesigen, außerordentlich komplexen Stadt mit vielen Straßen, Gebäuden, gemütlichen Winkeln - und ohne einen einzigen Bewohner. Nirgends regte sich etwas. Ich überquerte Dutzende, Hunderte von Straßen, beobachtete Tausende von Gebäuden, keines von ihnen sehr hoch, einige lang und niedrig, andere kompakt und quadratisch, wieder andere eine Mischung vieler unterschiedlicher Formen. Ich sah dunkle Fenster, offene Türen und alle paar Meilen ge waltige Stadien. Wenn ich mich einem davon näherte, flog ich tiefer und blickte in sie hinein. Flutlichter brannten dort, und ihr Licht war blendend hell. Die Reise ging weiter, und nach einigen Meilen erreichte ich ein anderes Stadion. Ich stieg höher und sah weitere in der Ferne, starrte auf eine Stadt hinab, die sich endlos von Horizont -29-
zu Horizont erstreckte. Irgend etwas regte sich in mir, und ich spürte eine Macht ohne Grenzen. Ein imaginärer Magnet schien mich hierhergebracht zu haben, zog mich nun über eine atemberaubende Landschaft, deren Einzelheiten von unbekanntem Leben kündeten. Ich schlug die Augen auf. Anne seufzte. Das leise Brummen eines Motors - draußen fuhr ein Wagen vorbei. Der Morgen besiegte die Nacht. Ein neuer ganz gewöhnlicher Tag begann... Dann senkte ich die Lider, und sofort kehrte die Vision von der goldenen Stadt zurück. Ich bewunderte sie, fragte mich, wie ein geistiges Bild so gewaltig und abwechslungsreich sein konnte. Einmal mehr schwebte ich über Straßen hinweg, blickte durch Fenster und sah graue Fußböden, graue Wände. Die Stadt blieb leblos, eine gespenstische Masse aus leeren Gebäuden. Ein bestimmtes Bauwerk faszinierte mich und fesselte meine Aufmerksamkeit. Jetzt erlebte ich die Einsamkeit der späten Kindheit, jene schmerzliche Phase, während der man begreift, daß die unbeschwerte Zeit zu Ende geht, daß die nächsten Abschnitte des Lebensweges viele Hindernisse bereithalten. Hier war nichts verborgen, aber es wurde auch nichts enthüllt. Ich flog weiterhin über der rätselhaften Stadt und näherte mich jenem Gebäude. Im einen Augenblick schwebte ich hoch oben und sah es in der Ferne. Im nächsten befand ich mich so dicht über den Straßen, daß ich fast die goldenen Pflastersteine zählen konnte. Sie waren auf eine Art zusammengefügt, die mich an das architektonische Geschick der Inkas erinnerte, und jeder einzelne von ihnen schien im Licht des Geistes zu erstrahlen. Kurze Zeit später stieg ich wieder auf, glitt an Türen, Fenstern, Simsen und Schieferdächern vorbei, bis ich eine Hö he von etwa dreißig Metern erreichte. Direkt vor mir befand sich jetzt das spezielle Gebäude, golden und braun und lang, eine so einfache, -30-
strenge und perfekte Konstruktion, daß ihre Umrisse Sehnsucht nach einem verlorenen Gleichgewicht in mir weckten. Ich entsann mich an die Tage meiner späten Kindheit, an das Paradoxon eines kleinen Jungen, der mitten in der Nacht wach im Bett liegt und nachdenkt... Und ich erinnerte mich auch an den schrecklichen Verlust, den ich im Anschluß an meine Entführung durch die Besucher am 26. Dezember 1985 gefühlt hatte, als mir klar wurde, daß Dunkelheit in mein bis dahin so glückliches Leben gekrochen war... Ich kam dem Gebäude noch näher, und es wirkte so exotisch und wundervoll wie ein Juwel. Unter den Fenstern des obersten Stockwerks bemerkte ich eine dicke rote Linie. Schwarze horizontale Jalousien verwehrten einen Blick in die Räume. Dieses Bauwerk schien direkt mit uns - der Menschheit - in Verbindung zu stehen. Ich sah darin einen Ort, wo man die Wahrheit über uns kannte. Als ich über dem Gebäude schwebte, vibrierte der Satz ›Ein Ort, wo man die Wahrheit kennt‹ in mir. Ich starrte hinab und widerstand der Versuchung, laut zu schreien. Eine unserer größten Tragödien besteht darin, daß wir nicht die Wahrheit über uns selbst kennen. Gibt es irgendwo jemanden, der Bescheid weiß? Ich flog zu den Fenstern. Hielten sich lebende Wesen in dem Bauwerk auf? Meine Neugier wuchs immer mehr, und ich versuchte, in die Räume zu sehen, glaubte dabei, hier einen Schatten hinter den dunklen Jalousien zu erkennen, dort Staub in einem Balken aus Licht. Ich sah eine leere Zimmerecke, und die Leere breitete sich auch in meinem Herzen aus. Noch etwas näher. Ein Ort, wo man die Wahrheit kennt! Ich schwebte näher und näher, bis ich nur noch die Hand auszustrecken brauchte, um eine der schwarzen Jalousien zu berühren. Doch dann stieg ich auf, so hilflos wie welkes Laub im Wind. -31-
Das Gebäude wich zurück, vereinte sich wieder mit der Stadt, mit den vielen anderen Bauwerken, den Lichttürmen und langen kalten Straßen. Mit den Stadien. Ich schwebte über ihnen, und das Licht darin war so grell geworden, das es alles überstrahlte. Wenn ich in der Lage gewesen wäre, den gleißenden Schleier zu durchdringen - was hätte ich dann gesehen? Vielleicht unser Leben, inszeniert auf einer seelischen Bühne. Die goldene Stadt dehnte sich aus, bis sie zu einem gewaltigen Ozean aus Licht wurde. Das kleine Bauwerk mit dem roten Streifen verlor sich im Meer der zahllosen Gebäude. Dann vernahm ich plötzlich ein zorniges Summen, und ein jäher Szenenwechsel folgte. Ich lag im Bett, und es war Morgen. Anne schaltete gerade den Wecker aus. Der Tag hatte begonnen. Es wurde Zeit, daß ich mich anzog und Andrew zur Schule fuhr. Ich stand auf, als Anne die Jalousien öffnete. Gewöhnliches Licht an einem gewöhnlichen Ort - New York City im Sonnenschein. Der Tag kam und ging, und es folgte eine weitere Nacht. Ich wartete wie auf eine Geliebte, aber das Bild der goldenen Stadt manifestierte sich nicht noch einmal, weder in dieser Nacht noch in einer anderen. Seit jenem Erlebnis hatte ich nie wieder eine so klare und detaillierte Vision. Es war, als sei ich über einen tatsächlich existierenden Ort hinweggeflogen - und vielleicht war das wirklich der Fall gewesen, zumindest in gewisser Weise. Ich habe mich nach der goldenen Stadt gesehnt und gehofft, sie wiederzusehen, aber sie blieb verschwunden. Vielleicht ist eine derartige Schönheit nicht für sterbliche Augen bestimmt. Zwar nehme ich an, daß ich in diesem Leben nicht zurückkehren werde, aber in meinem Herzen verlasse ich die goldene Stadt nie. Sie bleibt in mir, als Antwort auf Zorn, Hilflosigkeit und Verwirrung angesichts der Erfahrungen mit den Besuchern. -32-
ÜBERAUS SELTSAM Ich habe einmal einen Schwarzen gesehen, der in einem exklusiven Viertel meiner Heimatstadt San Antonio an der Bushaltestelle saß und lautlos weinte. Noch heute erinnere ich mich an die Tränen, die ihm über die Wangen rollten. Dieser Anblick hat mich in meiner Kindheit sehr beeindruckt, und das memoriale Bild hat bis heute nichts von seiner Schärfe verloren: Es enthält ein wortloses Etwas und teilt uns eine wesentliche Wahrheit mit, die sich jedoch unserem Verständnis entzieht. Die goldene Stadt ist ein Ort der Befreiung und Erlösung. Dort hat niemand die falsche Hautfarbe. Dort gehört niemand zur falschen Rasse oder zur falschen Religion. In der goldenen Stadt kann jede Seele ihr ganzes Potential entfalten. Es gibt viele Legenden über verlorene und himmlische Städte, über Paradiese, in denen man ewigen Frieden findet. Solchen Visionen liegt die gleiche Sehnsucht zugrunde, die einige Menschen den Besuchern näher brachte. Im April 1986 hatte ich mich halbwegs davon überzeugt, daß die angeblichen Begegnungen mit den Besuchern nur ein unterbewußter Versuch waren, dem allgemeinen Lebensstreß zu entkommen. Doch die Zweifel wurden stärker. Wenn Geisteszustände nicht auf eine bisher unbekannte Weise ansteckend sind, so kommt diese Erklärung wohl kaum für Andrews Beteiligung in Frage. Er war ein fröhlicher Junge; die Welt setzte ihn keineswegs unter Druck und außerdem hatten wir ihm überhaupt nichts von den Besuchern erzählt. Warum also wurde er ebenfalls in diese Sache verwickelt? Oder gab es für sein Verschwinden in jener Nacht - und die seltsamen Bemerkungen am nächsten Tag - einen ganz anderen Grund? Ich sehnte mich verzweifelt danach, endlich zu verstehen. Abends, kurz vor dem Einschlafen, erinnerte ich mich an die goldene Stadt, und morgens erwachte ich mit dem Gefühl, etwas -33-
Kostbares und Wunderschönes verloren zu haben. Das weckte Zorn in mir. Ich lehnte diesen Zorn ab. Ich kannte andere Menschen, die nach ihren Kontakten mit den Besuchern ihrem eigenen Zorn erlegen waren. Die Wut galt nicht allein den fremden Wesen, sondern auch den Reaktionen der Gesellschaft, die jeder Nachricht mit Gleichgültigkeit begegnete. Ich sah darin eine gefährliche Falle. Welchen Nutzen hatte eine Erfahrung, wenn man ihr erlaubte, nur Zorn und Wut hervorzubringen? Irgendwie wollte ich die Präsenz der Besucher nutzen, doch in diesem Zusammenhang gab es ein nicht unerhebliches Problem: Ich befürchtete noch immer, daß die Fremden aus meinem eigenen Unterbewußtsein stammten, daß sie wie ein giftiges, geruchloses Gas daraus aufstiegen, um meinen Verstand zu zerstören. Aber am 1. April war etwas geschehen, das durch und durch real gewesen sein mußte. Ich versuchte zunächst, diese Angelegenheit zu verdrängen, weil ich sie für viel zu sonderbar hielt. Die Erlebnisse schienen zwar in allen Einzelheiten echt und wahrhaftig gewesen zu sein, aber ich führte trotzdem alles auf meine Fantasie zurück. Ich hatte viel Fachliteratur gelesen und Nachforschungen angestellt, und daher brachte ich den Besuchern eine ausgeprägte Erwartungshaltung entgegen. Was am 1. April geschehen war, stand in einem krassen Gegensatz dazu. Ich gab mich sogar der Vermutung hin, daß mich mein Unterbewußtsein an der Nase herumgeführt hatte. Doch später geschah etwas, das ein völlig neues Licht auf alles warf. Wenn mir in jener Nacht jemand einen Streich hatte spielen wollen, so steckten die Besucher dahinter. Ich fand einen kleinen, aber bedeutungsvollen Hinweis, der mich zwang, meine bisherige Einschätzung der entsprechenden -34-
Ereignisse zu überdenken. Und konnte von da an nicht mehr sicher sein, mir zumindest einen Teil der bizarren Geschichte, die ich jetzt erzählen werde, nur eingebildet zu haben. Die Geschehnisse waren überaus seltsam, und vielleicht ist gerade das ein Anzeichen dafür, daß sie tatsächlich das Ergebnis eines Kontakts mit nichtmenschlichen Intelligenzen darstellen. Was ich in der Nacht des 1. April 1986 erlebte, wies eine in sich geschlossene logische Struktur auf. Man gab mir eine Botschaft, die mich viele Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen ließ, mir ein neues Verständnis ermöglichte. Hinzu kam: Alles war in höchstem Maße verwirrend; Menschen hätten Informationen ganz anders übermittelt. Aber auch so erreichten sie den Empfänger. Es fiel mir schwer, mich der Tatsache zu stellen, daß es sich nicht um einen Traum handelte. Wissenschaftler, die über fremde, intelligente Wesen spekuliert haben, vertreten die Ansicht, der Kontakt mit ihnen wäre zweifellos unglaublich seltsam. Nun, dieser Voraussetzung werde ich sicherlich gerecht. In der zweiten Märzhälfte begann ich zu überlegen, ob die Besucher gekommen waren, um eine wohlwollende Herrschaft über uns anzutreten und die Menschheit sanft zu einer besseren, glücklicheren und gerechteren Gesellschaft zu führen. Ich schmückte diese Vorstellung mit vielen Einzelheiten aus. Am 1. April reagierten die Besucher. Die Geschehnisse waren lehrreich, deuten auf Weisheit und Humor hin. Aber sie erschreckten mich auch und jagten mir Angst ein, obwohl ich mich nicht vor Kontakten mit den Besuchern fürchten wollte. Mein Wunsch bestand darin, daß sie funktionieren sollten worum auch immer es dabei ging. Doch diesmal wuchs mein Unbehagen immer mehr, verdichtete sich zu der Gewißheit, daß mich etwas Entsetzliches erwartete. Ich erinnere mich daran, daß ich erwachte und durch einen -35-
langen, gewölbten Korridor ging. Ich möchte hier in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß ich nicht etwa in einem Traum ›erwachte‹, sondern in einer greifbaren, physischen Welt, die ebenso real war wie unsere, wenn auch weitaus sonderbarer als ein Traum. Es ist wichtig, daß ich mein körperliches Empfinden so genau wie möglich beschreibe. Ich fühlte mich nicht so wie jemand, der auf einem Stuhl sitzt oder über den Bürgersteig wandert. Mein ganzer Leib prickelte, als ströme irgendeine Art von Energie durch ihn. Es war ein herrliches Gefühl, das sich bei manchen Begegnungen wiederholt. Aber so angenehm es auch sein mag: Wenn es vorbei ist, atme ich jedesmal erleichtert auf. Nun, ich stolperte, als ich plötzlich zu mir kam, schließlich erwartet niemand, mitten in einem Schritt aus tiefem Schlaf zu erwachen. Zwei etwa hundertfünfzig Zentimeter große Wesen mit dunkelblauer Haut führten mich, hatten kühle Hände um meine Finger geschlossen. Sie waren sehr kräftig gebaut, wirkten pummelig, fast korpulent, und ihre ebenfalls dunkelblauen Overalls wiesen viele Patten und Taschen auf. Ich trug nicht mehr den Pyjama, in dem ich geschlafen hatte, sondern ein weites Gewand, offenbar aus weichem weißem Papier. Das Kleidungsstück stand vom Körper ab, als sei es mit statischer Elektrizität geladen. In meinem körperlichen und geistigen Zustand zu jenem Zeitpunkt gab es keine traumartigen Aspekte. Ich befand mich einfach dort, in einer realen Welt, die mich mit einem gewölbten Korridor und zwei dunkelblauen Wesen konfrontierte. Sie waren wirklich verblüffend blau, was mich insbesondere deshalb erstaunte, weil es sich um eine im wahrsten Sinne des Wortes lebendige Farbe handelte, ausgestattet mit den subtilen Mustern, die in keiner Haut fehlen. Ich sprach den ersten Gedanken aus, der mir in den Sinn kam: »Ihr seid blau!« Als ich sprach, warf mir eines der beiden Geschöpfe einen Blick zu. Es hatte ein breites, flaches Gesicht, und ich bemerkte -36-
einen auffallend großen Mund. Schwere Lider hoben und senkten sich vor glänzenden Augen. »Früher waren wir wie eure Schwarzen, doch schließlich hielten wir blaue Haut für besser.« Das Gesicht wirkte ausgesprochen unheimlich, doch ich spürte auch schalkhaften Humor und war versucht, laut zu lachen. Dabei kam ich mir wie ein Narr vor. Ich habe mich nie für einen Rassisten gehalten, aber die Bemerkung des Wesens wies mich darauf hin, daß zumindest mein Unterbewußtsein zwischen Menschen mit weißer und schwarzer Haut unterschied. Tatsächlich habe ich an der Bürgerrechtsbewegung teilgenommen, und schon als Kind und Jugendlicher konnte ich keinen Rassismus ertragen. Doch die harmlos klingenden Worte des Blauen schockierten mich so sehr, daß ich taumelte. Sie rückten die verblüffende Realität verdrängter rassistischer Einstellungen ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit. Schamvolle Verlegenheit erfaßte mich: Tief in meinem Innern hielt ich mich selbst für wichtiger als meine beiden Begleiter. Jenes Wesen, das gesprochen hatte, wandte sich mir erneut zu und stöhnte kummervoll. Sofort empfand ich bedrückendes Unbehagen. Meine geheimsten Gedanken teilten sich den beiden Blauen so unmittelbar mit, als seien sie Teil meines Bewußtseins. Doch an ihrer von mir getrennten, unabhängigen Individualität konnte kein Zweifel bestehen. Wenn Ereignisse seltsam genug werden, fehlt es dem Geist an Kontext und Terminologie, um sie zu klassifizieren. In einem solchen Fall wird man innerlich stumm und beschränkt sich auf die Rolle des Beobachters. Als der spanische Konquistador Pizarro vor die Bürger der Stadt Cuzco trat, waren die erhabenen und kultivierten Inkas so verwirrt, daß es ihnen die Sprache verschlug. Ich nehme an, auch sie fielen einer Fremdartigkeit zum Opfer, die sie nicht verstehen konnten. -37-
Doch ich erinnere mich genau daran, was ich sah, hörte und fühlte. Der Korridor, durch den wir gingen, war grau und braun, und er wölbte sich sanft nach links oben. An der Innenwand zeigten sich große, dunkelbraune Schubladen, jede von ihnen mit einem Knauf in der Mitte. Sie mochten etwa hundertzwanzig Zentimeter lang und fünfundvierzig Zentimeter hoch sein. Darüber bemerkte ich ein dreißig Zentimeter tiefes Regal. An der höchsten Stelle, direkt über meinen Kopf, betrug der Abstand zwischen Boden und Decke knapp zwei Meter. Der interessanteste Aspekt des recht eintönigen und schmucklosen Korridors betraf die sehr intensiven Gefühle, die er in mir hervorrief. Ich habe keinen wundervollen Ort geschildert, weil es sehr schwer ist, die Auswirkungen auf mich zu beschreiben. Das Wechselspiel der Kanten und Winkel war aber herrlich. Linienführung und Gestaltung schienen ein sonderbares inneres Bedürfnis zu erfüllen, und ich gewann den Eindruck, daß nicht nur die beiden Blauen lebten und dachten, sondern auch dieser Ort. Meine Verwirrung wuchs. Ein lebender und denkender Korridor? Befand ich mich vielleicht im Innern eines Lebewesens? Gibt es Maschinen, die ein eigenes Bewußtsein entwickelt haben? Während des gleichen Monats - im April 1986 - wurde jemand anderes mit einem riesigen pulsierenden Licht konfrontiert. Die Begegnung fand im Wald unweit von Pound Ridge, New York, statt, kaum fünfzig Meilen von unserer Blockhütte entfernt. Der betreffende Mann meinte, er habe etwas ›Lebendiges‹ gespürt. Nun, man hat darüber spekuliert, ob UFOs vielleicht lebende Geschöpfe sind. Zu jenem Zeitpunkt hätte ich nicht daran gezweifelt. Nach einer Weile schritten wir durch einen Torbogen und -38-
erreichten ein großes Zimmer. Der Raum war rund, und Jalousien hingen an den Fenstern. Er wirkte wie die runde Version eines Regimentkasinos während der britischen Herrschaft in Indien; es fehlten nur Deckenventilatoren mit Mahagoniflügeln und Diener, die Turbane trugen und Gin und Tonic auf silbernen Tabletts servierten. In dem Zimmer hielten sich einige Geschöpfe auf, die sich von meinen Begleitern unterschieden - sie waren weiß, weiß wie Schnee. Die milchige Transparenz ihr Haut erinnerte an Termiten. Sie saßen an runden Tischen und trugen Uniformen, die erneut Assoziationen an die britische Kolonialzeit in mir weckten. Ich sah die weißen Wesen jetzt zum erstenmal. Später würde ich ihnen mit großer Ehrfurcht begegnen, sie als Ingenieure der Verwandlung erkennen. Da diese Geschöpfe weder in Sagen noch in der UFO-Literatur Erwähnung fanden, hielt ich sie zunächst für das Produkt einer gestörten Wahrnehmung. Am Abend des 3. März 1988 nahm ich in Los Angeles an einem Treffen von Personen mit Besucher-Erfahrungen teil. Zu meiner Überraschung erklärte eine Frau, sie sei ›Wesen mit Durchscheinender weißer Haut‹ begegnet, von denen eine starke verändernde Wirkung ausging. Es fiel ihr so schwer wie mir, sich an die Augen zu erinnern. Einige Leser, die nach der Publikation von Die Besucher mit mir korrespondierten, haben ebenfalls derartige Geschöpfe beschrieben - ich bin also nicht der einzige, der sie gesehen hat. Als ich mich ihnen näherte, spürte ich eine dichte Atmosphäre absoluter Förmlichkeit. Ich emp fand sie als so überwältigend, daß ich emotional in meine Militärzeit zurückkehrte und unwillkürlich Haltung annahm. Eines der weißen Wesen griff nach meiner Hand. Einige andere hockten wie niedergeschlagen an den Tischen, sie trugen Gazestreifen auf den Augen und am Kinn. Nur der Mund und -39-
die rudimentären Nasen blieben frei - die entsprechenden Geschöpfe schienen zu leiden. Zeigten sie mir, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie versuchten, die Herrschaft über uns Menschen anzutreten? Man führte mich in die Mitte des Zimmers, und dort sah ich einen kleinen braunen Kreis auf dem Boden. Ich blieb darin stehen, bis sich jemand an mich wandte, den ich für den Anführer der Gruppe hielt. Er war noch weitaus förmlicher als die anderen und schien außerdem voller Zorn und Verachtung zu sein. Eine Aura der Autorität ging von ihm aus. In einem strengen und scharfen Tonfall forderte er mich auf, ihm den Untergang des britischen Weltreichs zu erklären! Trotz meiner Überraschung spürte ich den Wunsch, ihm zu antworten. Und ich stellte erstaunt fest, daß mir viele Informationen zur Verfügung standen. Ich sprach also. Besser gesagt: Ich begann mit einem Vortrag, und meine Stimme hallte laut an diesem fast übernatürlichen Ort wider. Ausführlich schilderte ich die verschiedenen Expansionsund Stagnationsphasen des Empire und erläuterte, daß es gegen 1900 selbst den Anschein einer ökonomischen Allianz verlor und zu einem System wurde, das es einem Volk ermöglichte, andere auszubeuten. Es gründete sich auf Postulate rassischer Überlegenheit, die für sich genommen harmlos sein mochten, jedoch einen so starken Einfluß ausübten, daß die gesellschaftlichen Spannungen immer mehr zunahmen. Die Verbesserung des Bildungsniveaus und allgemeinen Lebensstandards in der kolonialen Bevölkerung ließ Unabhängigkeitsbewegungen entstehen. Die Weißen hörten mir mit großem Interesse zu, und ihre intensive Aufmerksamkeit war mir geradezu peinlich. Ich sprach weiter, nannte Namen und Daten, wurde dabei aber immer verlegener. Mein Ego schien sich aufzublähen, und das Bestreben, eine falsche Gelehrsamkeit zu demonstrieren, kam -40-
der grotesken Angeberei eines Narren gleich. Schließlich schnürte mir etwas den Hals zu, und ich schwieg. Kurze Stille folgte, und dann füllte sich der Raum mit aufgeregten Gedanken. ›Ist er nicht wundervoll?‹ - ›Er weiß so gut Bescheid!‹ - ›Ein sehr gebildeter Mann!‹ Ironie haftete diesen Gedanken an - die ich nicht etwa hörte, sondern eher fühlte. Eine kalte, erbarmungslose und gerechtfertigte Ironie. Ich stand weiterhin im Kreis und schauderte innerlich. Einige Sekunden später winkten die beiden Blauen an der Tür. Meine Zuhörer brachten keine übertriebene Begeisterung mehr zum Ausdruck, sie waren jetzt umgeben von einer Atmosphäre kühler Gleichgültigkeit. Es wäre nicht richtig zu behaupten, daß ich nach draußen schlich. Man kann nicht schleichen, wenn man ein langes Gewand trägt - früher oder später verheddert man sich darin. Wenn ich andere Kleidung getragen hätte, wäre ich vermutlich aus dem Zimmer gekrochen so beschämt fühlte ich mich. Die Vorstellung, den Besuchern könnte daran gelegen sein, über uns Menschen zu herrschen, war kein Witz, sondern viel schlimmer. Sie bewies eine gefährliche innere Schwäche. Das Gewand zwang mich dazu, wie ein arroganter Prinz zu gehen, und dadurch entstand eine weitere klaffende Wunde in meinem Stolz. Ich versuchte, möglichst würdevoll zu sein, als ich den Raum verließ. Wir schritten erneut durch den gewölbten Korridor, als einer der Blauen zu mir aufsah. Ich starrte in sein breites Gesicht hinab und fand es schrecklich. Die Augen glitzerten und schienen aus schwarzen Membranen zu bestehen, in denen sich immer wieder Buckel bildeten - offenbar bewegte sich etwas hinter ihnen. Das Wesen lächelte und entblößte die Spitzen poröser Zähne. Das andere Geschöpf zog eine Schublade auf. Das Fach enthielt blaue Körper, und sie erweckten den Eindruck, von Cellophan umhüllt zu sein. Die Augen standen weit offen, und das galt auch für die Münder. Die Gesichter -41-
wirkten überrascht. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Seltsamerweise wurde die Schublade mit einem eleganten Schwung geöffnet, und der Blaue starrte mich erwartungsvoll an. Er schien zu glauben, mir etwas Wunderbares zu zeigen. Erst viel später begriff ich, daß die Besucher damit begannen, mich von der Todesangst zu befreien. Vielleicht lebten sie normalerweise in einer anderen Existenzform und benutzten Körper, um in unsere Realität zu gelangen - so wie wir Taucheranzüge verwenden, um in die Welt des Meeres vorzudringen. Möglicherweise sind auch wir Menschen in der Lage, zwischen einzelnen Existenzniveaus zu wechseln. Aber wenn das stimmt, haben wir den Kontakt zu unserer fundamentalen Realität verloren und sind im Physischen gefangen. Nachdem ich einen Blick in das Fach geworfen hatte, wurde alles schwarz vor meinen Augen. Ich habe keine weiteren Erinnerungen an jene Nacht. Als ich am nächsten Morgen erwachte, entsann ich mich deutlich an den merkwürdigen Ausflug, insbesondere an das Gewand aus weißem Papier. Ich glaubte zu hören, wie es bei jeder Bewegung raschelte, fühlte erneut die statische Elektrizität, die es wie im Tanz von meinem Leib abstehen ließ. Nachmittags las ich dann E. S. Hartlands The Science of Fairy Tales und war sehr überrascht, als ich dabei auf folgende Geschichte stieß: Der kleine Gitto, ein walisischer Junge, verschwand für zwei Jahre. »Seine Mutter weinte bitterlich, weil sie ihn für tot hielt, doch eines Morgens, als sie die Tür öffnete, stand Gitto vor ihr und trug ein Bündel unter dem Arm. Er sah genauso aus wie damals, trug die gleiche Kleidung und schien keinen Zentimeter gewachsen zu sein. ›Wo bist du die ganze Zeit über gewesen?‹ fragte die Mutter. ›Aber ich bin doch erst gestern fortgegangen‹, erwiderte der Junge. Er öffnete das Bündel und holte ein -42-
Kleidungsstück hervor, das ihm kleine Kinder - so nannte er sie - gegeben hatten, damit er mit ihnen tanzen könne. Es bestand aus weißem Papier und wies keine Nahtstelle auf. Die Mutter verbrannte es vorsichtshalber.« Mehrmals las ich diese Stelle und spürte dabei eine Mischung aus Ehrfurcht und Verwunderung. Ein Gewand aus weißem Papier? Ist der Feentanz ein so großartiges Werk des Geistes, daß er den Teilnehmer aus dieser Raum- Zeit lösen kann? Wo hatte ich mich in jener Nacht befunden? Was hatte ich wirklich erlebt? Ich bin sofort bereit, die Möglichkeit zu berücksichtigen, daß meine Wahrnehmungen nicht die objektive Realität des Geschehens widerspiegeln. Fremdartigkeit verwirrt die Sinne, und meine Erlebnisse waren zweifellos sehr seltsam. Trotzdem begann ich zu glauben, daß ich einen tatsächlich existierenden Ort aufgesucht und wirklich weiße Kleidung getragen hatte. Darüber hinaus übermittelte man mir wichtige Informationen. Erstens: Die Besucher hielten meine Vorstellungen von einem interstellaren Reich für dumm und sogar gefährlich. Zweitens: Sie standen in anderer Beziehung zu ihren Körpern als wir. Der erste Hinweis versetzte mich in die Lage, keine Zeit mehr mit lächerlichen Spekulationen zu verschwenden. Der zweite ließ neue Ideen in mir entstehen, und in Hinsicht auf meine zukünftige Arbeit mit den Besuchern kam ihnen eine zentrale Bedeutung zu. Vielleicht war es den Fremden auf eine sehr reale und erstaunliche Weise gelungen, die körperlichen Fesseln abzustreifen und den Tod zu besiegen. Und waren auch wir dazu imstande? Wenn es eine Chance gab, dieses Rätsel durch engere Kontakte mit den Besuchern zu lösen, so war ich fest entschlossen, sie sofort wahrzunehmen. Ungeachtet aller Gefahren und der Furcht, daß irgendwelche -43-
schlauen und verschlagenen Entitäten versuchten, mich aus meinem Leben zu locken - ich würde nicht vor dem nächsten Schritt zögern.
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UNHEIL BAHNT SICH AN Am 5. April 1987 - einem Samstag - kehrten wir in die Stadt zurück. Äußerlich war ich völlig normal, doch in meinem Innern irrte ich durch absolute Finsternis. Ich erinnerte mich an breite blaue Gesichter, als das kleine Wesen die Schublade öffnete. Was geschah mit mir? Was hatte das alles zu bedeuten? Ich stand auf den glühenden Kohlen der Unwissenheit. An einem Tag war ich voller Mut und Entschlossenheit, und am nächsten zitterte ich vor Furcht. Innerer Aufruhr hinderte mich daran, an der magischen Stelle zwischen Dunkelheit und Licht zu verharren, dort, wo mir das Gleichgewicht zwischen Zuversicht und Schrecken die Möglichkeit gegeben hätte, mit meinen Erlebnissen fertig zu werden. Es ist eine Sache, die Frage offenzulassen - und eine ganz andere, Frieden zu finden. Meine Rollen als Vater und Ehemann sind mir wichtiger als alles andere, und deshalb war ich in großer Sorge um Andrew. Ein Psychologe hatte uns versichert, mit dem Jungen sei alles in bester Ordnung, aber niemand ist imstande, in den Geist eines anderen Menschen zu sehen - oder in seine Träume. Ich wollte unter allen Umständen vermeiden, daß mein Sohn ebenso litt wie ich. Manchmal erwachte ich mitten in der Nacht und eilte in Andrews Zimmer. Dann hielt ich ihn fest in den Armen und blickte zum Himmel hoch, so wie unsere Vorfahren aus ihren Höhlen in die Dunkelheit starrten. Ich umarmte den warmen, schlafenden Jungen, voller Zorn darüber, daß ich ihn nicht vor den Besuchern schützen konnte. Und ich verfluchte mich, weil ich ihn angesteckt hatte, weil es durch meine Schuld auch in Annes Leben bedrückende Ungewißheit gab. Andrews Unbekümmertheit und Annes unglaublicher Mut sowie ihr unerschütterlicher Optimismus gaben mir dringend benötigte Beispiele. Meine Frau blieb stets ruhig und voller -45-
Vertrauen. Trotz der Sonderbarkeit unserer Erfahrungen schien sie immer genau zu wissen, worauf es ankam. Sie allein brachte alle notwendigen Voraussetzungen mit, um den Besuchern zu begegnen. Und Andrew... Er war so unschuldig. Wer die fremde Präsenz leugnete, machte meiner Ansicht nach den gleichen Fehler wie jemand, der voreilige Schlüsse zog. Aber wie sollte man einer so mächtigen und provokativen Erscheinung mit dauerhafter Skepsis begegnen? Wie konnte man vor einer bewußten, lebenden Realität stehen und sagen: »Ich weiß es nicht?« Ich sah mich dazu außerstande - denn ich bin nicht besonders gut darin, mich selbst zu belügen. In jenen schweren Tagen hatte ich das entsetzliche Gefühl, langsam wahnsinnig zu werden. Wenn es mir besonders schlecht geht, bete ich häufig, und damit begann ich jetzt. Ich betete nicht nur, sondern besann mich auch auf die geistigen Übungen, die P. D. Ouspensky in seinen Werken beschrieben hat, besonders in seinem Buch In Search of the Miraculous. Ouspensky postuliert, der Mensch habe eigentlich gar keinen freien Willen, weil seine Aufmerksamkeit sowohl vom inneren Selbst als auch der Umwelt bestimmt wird. Doch man kann die Aufmerksamkeit verstärken. Ich verdoppelte meine Bemühungen, befreite das Bewußtsein von allem Ballast und spürte die Substanz meines Ichs als Teil der größeren Welt. Ich versuchte, meine Aufmerksamkeit zwischen dem äußeren Leben und den inneren Empfindungen zu teilen. Wenn ich irgendeine Art von Kontrolle in bezug auf meine Erfahrungen mit den Besuchern anstrebte, so mußte ich die Aufmerksamkeit verbessern und sie dem eigenen Willen unterwerfen. Allmählich gewann ich den Eindruck, mit einem Kampf zu beginnen, bei dem mehr auf dem Spiel stand als mein Leben. -46-
Vielleicht rang ich um meine Seele, um die Essenz meines Seins - um den unsterblichen Teil des Selbst. Ich glaube, es gibt Schlimmeres als den Tod. Reines Grauen schien nach mir zu tasten, um mich zu verzehren. Die Wissenschaftler und Ärzte, mit denen ich zusammengearbeitet hatte, verzichteten darauf, von Dämonen zu sprechen. Das hielt ich durchaus für vernünftig, denn derartige Erklärungen lehnten wir als absurd ab. Wir waren eine Gruppe von Atheisten und Agnostikern, viel zu gebildet, um archaische Vorstellungen von Dämonen und Engeln in Erwägung zu ziehen. Doch eines Nachts dachte ich über die legendäre Schläue von Dämonen nach. Warum blieben Anne und Andrew so zuversichtlich? Sie machten sich keine Sorgen, obwohl ich den Verstand zu verlieren schien. Ich beobachtete sie, hielt nach Anzeichen für drohendes Unheil Ausschau. Des Nachts lauschte ich nach Geräuschen, die mich auf Besucher oder Alpträume hinwiesen. Ich fragte mich auch, mit welchen Absichten die Besucher kamen, mich beeindruckte ihre Disziplin, mit der sie sich an einen geheimen Plan hielten, dessen Zweck wir nicht einmal erahnten. Damals begriff ich noch nicht die wahre Fremdartigkeit meiner Erlebnisse. Sie zeichneten sich zwar durch eine klare Struktur aus, aber im April 1986 war ich viel zu verwirrt, um dies zu erkennen. Ich nahm an, daß die Besucher von einem anderen Planeten stammten und sich erst seit kurzer Zeit auf der Erde befanden. Doch in diesem Zusammenhang ergaben meine Begegnungen mit ihnen keinen Sinn. Glücklicherweise fiel mir Jacques Vallées Buch Passport to Magonia in die Hände, dessen Lektüre mich davon überzeugte, daß die Besucher schon seit Jahrhunderten unter uns weilten und die Menschheit vielleicht sogar während ihrer ganzen Geschichte begleiteten. -47-
Kurze Zeit später hatte Anne eine Idee, die es mir erlaubte, wenigstens einen Teil meiner Verwirrung zu überwinden. Sie sprach von der subjektiven Natur unserer Erfahrungen und meinte, die scheinbare Trennung von der objektiven Realität werde vom Filter der individuellen Wahrnehmungen verursacht. Mit anderen Worten: Unsere Fähigkeit, zu sehen und zu verstehen, wird von einer Erwartungshaltung beeinflußt, die auf kulturelle Indoktrination zurückgeht. Anne fügte hinzu, ihrer Meinung nach benutzten die Besucher unsere verzerrte Wahrnehmung als ein Medium, mit dem sie dem inneren Empfinden der betreffenden Personen wichtige Botschaften übermitteln wollten. Wenn die modernen Konzeptionen in Hinblick auf die Natur der Besucher voll ausgeformt sind, so kommen sie der Realität vielleicht näher als frühere Erklärungsversuche. Trotzdem müssen wir alle Aspekte dieser Angelegenheit prüfen, denn es ist sehr wohl möglich, daß wir vieles nicht verstehen. Derzeit bleibt eine Menge rätselhaft. Um nur ein Beispiel zu nennen: Dem Forscher Leonard Keane ist es möglicherweise gelungen, die ›Sternensprache‹ zu entschlüsseln - manchmal wird sie unter Hypnose von Menschen gesprochen, die Besuchern begegneten. Keane hat ein außerordentlich interessantes und bisher noch unveröffentlichtes Manuskript geschrieben - es heißt Keltic Factor Red -, und darin schildert er die Besucher-Erfahrungen von Menschen mit keltischem Hintergrund. Betty Andreasson, eine bekannte Kontaktperson der Besucher, sprach unter Hypnose fremde Worte, und Keane stellte fest, daß sie wahrscheinlich aus dem Gälischen stammen. Es handelt sich keineswegs um einen Kommunikationscode aus dem Jenseits, sondern um die alte Sprache Irlands. Einige Iren beherrschen sie nach wie vor, aber nichts deutet darauf hin, daß Mrs. Andreasson sie jemals gehört hat - sie ist finnischenglischer Herkunft. -48-
Die Fähigkeit, eine Fremdsprache unter Hypnose zu sprechen, bezeichnet man als Xenoglossie. Für gewöhnlich führt man sie auf unbewußtes Lernen in der Kindheit oder Juge nd zurück. Doch Betty bekam nie Gelegenheit, Gälisch zu lernen; die Frage, wo, wann und wie sie ihre Kenntnisse erwarb, ist unbeantwortet. Während der Hypnose berichtete sie von einer außergewöhnlichen Begegnung mit einem Besucher namens Quaazga, und einmal wiederholte sie Wort für Wort die Bemerkungen des Fremden. Sie verhielt sich dabei wie eine Relaisstation, die eine Sendung empfängt und weiterleitet, wobei sie die Signale des ›Senders‹ direkt empfing, als telepathische Stimme. Nach einer Weile unterbrach sich Mrs. Andreasson und hörte eine Mitteilung in Englisch: »Basis 32 Basis 32 - Signalbasis 32.« Es folgte ein Zusatz in der fremden Sprache. Keane hat ihn versuchsweise übersetzt: ›Geräusch eines närrischen Sprechen und fruchtlose Projektion‹. Außerdem fand er heraus, daß die Hypnosesitzung in unmittelbarer Nähe eines Busbahnhofs stattfand, in dem es einen starken Radiosender gab. Er glaubt, daß der Sender zu jenem Zeitpunkt benutzt wurde und die telepathischen Botschaften für Betty störte - die ihrerseits nichts weiter waren als komplex modulierte Radiosignale. Bevor sich Mrs. Andreasson unterbrach, wiederholten sie einige Worte in der Sternensprache. Keane bemerkte, daß ihre phonetische Struktur große Ähnlichkeiten mit den gälischen Äquivalenten aufwies. Wenn man den Text liest und sich die Aufzeichnung anhört, muß man zwangsläufig zu dem Schluß gelangen, daß es sich wirklich um Gälisch handelt. Die Übersetzung klingt unheimlich: ›Die lebenden Nachkommen der nördlichen Völker irren durch alles umfassende Dunkelheit. Ihre Mutter trauert. Eine finstere Begebenheit kündigt sich an, wenn Schwäche an erhabenen Orten einen hohen Preis des Lebens erneuert; ein Intervall für Fehler an hohen Orten; ein Intervall -49-
für erschütternde Ereignisse.‹ Die phonetischen Parallelen zwischen Mrs. Andreassons Worten und ihren gälischen Äquivalenten sind zu offensichtlich, um sie zu ignorieren. Die Ähnlichkeiten fallen einem sofort auf eine entsprechende Gegenüberstellung befindet sich im Anhang. Aber damit noch nicht genug: Leonard Keane entdeckte, daß sich nicht nur der Name des Besuchers, dem Betty begegnete, aus dem Gälischen übersetzen läßt, sondern auch die vieler anderer. Quaazga - so hieß das Wesen, das sich Mrs. Andreasson mitteilte - entspricht phonetisch dem gälischen Caesadh, was ›vom Kreuz‹ bedeutet. Das könnte ein Hinweis auf den Schutzheiligen der Schotten sein, den Heiligen Andreas, dessen x- förmiges Kreuz ein uraltes Zeichen des Menschen und heute das nationale Symbol Schottlands ist. Es wäre natürlich auch möglich, daß sich dieses Wort auf Christus bezieht. Betty ist fest in der christlichen Tradition verwurzelt, und in ihren Begegnungen mit den Besuchern gibt es eine stark ausgeprägte Metaphorik, die offenbar in einem direkten Zusammenhang mit christlichen Vorstellungen von der Wiedergeburt steht. Trotzdem erstaunt es mich sehr, daß ein Besucher, der sich an eine Christin wendet und ihr ein beeindruckendes, von christlichen Inhalten bestimmtes Erlebnis vermittelt, ausgerechnet ›vom Kreuz‹ heißt. Ein anderer Name mit einem gälischen Äquivalent lautet Linn-Erri. Er wurde von einer hübschen Blondine genannt, die 1961 mit einem angeblichen Funkamateur kommunizierte. Übersetzt heißt er Lionmhaireacht, ein Wort, das im Englischen wie ›linnerich‹ ausgesprochen wird und ›Überfluß‹ bedeutet. Eine weitere Kontaktperson nannte den Namen Korendor, der sich vielleicht zu Cor-Endor transkribieren läßt und ›Schloß‹ beziehungsweise ›Kreis‹ oder ›Wall von Endor‹ - ein Orakel-Ort - bedeutet. -50-
Im Jahre 1952 erschien jemandem eine Entität namens Aura Rhanes. Daraus wird im Gälischen Aerach Reann, ›Himmlischer Körper aus Luft‹. Selbst im heftig umstrittenen Fall von George Adamski gibt es eine gälische Verbindung. Eines der Wesen, denen Adamski angeblich begegnete, hieß Fir-Kon. Wenn man fir oder fear als Vorsilbe verwendet, so bedeutete es ›Mann‹ oder ›Mensch‹, und Conn ließe sich mit ›Kopf‹ oder ›Haupt‹ übertragen. Es ist der Name eines irischen Königs aus dem siebten Jahrhundert, und die Legende berichtet uns, daß sein Sohn von einer schönen Frau mit einem Flugapparat entführt wurde. Im Gälischen bedeutet Fir-Kon ›Mann von Conn‹. Eines Tages, als Conn und sein Sohn auf den Höhen Usnas standen, trat eine seltsam gekleidete junge Frau auf sie zu. »Ich komme aus den Sphären der Unsterblichen, wo es weder Tod noch Sünde gibt«, sagte sie. Der Vater war verblüfft, denn er konnte niemand sehen oder hören. Er vernahm die Frau erst, als sie ihn direkt ansprach. Sie meinte, sie liebe seinen Sohn und wolle ihn mitnehmen nach Moy Mell, zur ›Ebene des Vergnügens‹. Nach einem Monat und dem völlig wirkungslosen Hokuspokus des Schloßdruiden holte die Frau den Sohn des Königs ab. In einem ›kristallenen Coracle‹ segelte sie mit ihm übers Meer. Der junge Mann kehrte nie zurück doch mehr als tausend Jahre später erschien er jemandem, der nicht ein einziges gälisches Wort kannte und nichts von den Ursprüngen des Namens Fir-Kon wußte! Keanes Entdeckungen lassen folgenden Schluß zu: Irgend etwas Rätselhaftes und für uns Unverständliches geschieht. Vielleicht werden wir Zeugen, wie eine äonenalte Verbindung neu geschaffen wird, wie eine Brücke entsteht zwischen uns und einem Etwas, dessen Natur wir nie richtig verstanden haben. Ich streite nicht die Möglichkeit ab, daß Außerirdische an dem Phänomen beteiligt sein könnten. Aber ich glaube, es hat Dimensionen, die wir erst jetzt zu erfassen beginnen, die ihren -51-
Niederschlag in der menschlichen Kultur befunden haben und zum Beispiel in Sagen und Legenden zum Ausdruck kommen. Die Entführungsforscher in der UFO-Gemeinschaft sind auf ein Problem aufmerksam geworden, das besonders furchterregende Aspekte hat: Es gibt Anzeichen dafür, daß die Besucher eine langfristig angelegte genetische Manipulation der Menschheit betreiben. Nach dieser Theorie stehlen die Fremden häufig Samen von Männern und Eizellen von Frauen. Außerdem zeigen sie den entsetzten Müttern gelegentlich mißgebildete Föten und Säuglinge. Hinzu kommt: Manchmal führen Kontakte mit Besuchern zu Fehlgeburten nach dem dritten Schwangerschaftsmonat. Vielleicht hat eine meiner Bekannten so eine Erfahrung hinter sich, und deshalb lehne ich derartige Möglichkeiten nicht von vornherein ab. Es gibt ohnehin zu viele Berichte von Zeugen, um so etwas einfach zu ignorieren. Wer solche Vorstellungen belächelt und vermutet, sie seien das Ergebnis von suggestiven Fragen, die hysterische UFOForscher hypnotisierten Zeugen stellen, sollte folgendes bedenken: Entführungen von Säuglingen durch Zwerge, Gnome und dergleichen sowie Kopulation mit Inkuben und Sukkuben werden in den Märchen praktisch aller Völker auf der Erde erwähnt. Vor kurzem schrieb mir eine Kontaktperson, deren zweijähriger Sohn das Gesicht auf dem Titelbild von Die Besucher wiedererkannt und ausgerufen hatte: »Er ist böse!« Das Kind fügte hinzu, der ›Mann‹ habe seine Spielzeuge genommen und nie zurückgebracht. Die Verfasserin des Briefes schilderte nicht nur ihre Erfahrungen mit den Besuchern, sondern wies auch darauf hin, daß in ihrem Haus viele Spielzeuge fehlten! Wenn es wirklich so abwegig ist anzunehmen, daß die -52-
fremden Wesen mit menschlichem Genmaterial experimentieren - warum stehlen sie dann Kinderspielzeug? Ich bezweifle jedoch, ob dieser besondere Aspekt der Erfahrungen mit den Besuchern die ganze Wahrheit widerspiegelt. Wahrscheinlich steckt noch wesentlich mehr dahinter. Ich bat einen Arzt darum, eine theoretische Entführung zu planen, und seine Antwort erstaunte mich. Selbst mit der gegenwärtig zur Verfügung stehenden medizinischen Technik wären wir imstande, einer ausgewählten Person Blut abzuzapfen, Zellen, Samen und Proben von Organen zu nehmen, ohne daß sichtbare Spuren oder schmerzhafte Wunden zurückbleiben. Wir könnten sie mit Drogen betäuben, so daß sie sich nach ihrer Rückkehr an nichts erinnert, nicht einmal unter Hypnose. Außerdem brauchten wir nur einige tausend Individuen, um ein genaues statistisches Porträt der ganzen Bevölkerung der Vereinigten Staaten zu erhalten. Für den Transport der betreffenden Männer und Frauen würden wir kleine Raumschiffe einsetzen, die etwa vier oder fünf Personen Platz bieten. Sie flögen ohne Licht und völlig lautlos, wären unsichtbar fürs Radar und kehrten anschließend zu Mutterschiffen zurück, die weit draußen im All warten. Das ganze Unternehmen könnte innerhalb von einigen Monaten durchgeführt werden. Zur Vorbereitung dienen genaue Informationen über die lokalen Kulturen - es genügt, die Radiound Fernsehsendungen zu empfangen und auszuwerten - und Fotografien der Planetenoberfläche mit einem Auflösungsvermögen von einem Quadratzentimeter. Um so etwas zu bewerkstelligen, fehlt uns nur die Möglichkeit, schnell und bequem durch den Weltraum zu reisen. Die Besucher führen keine wissenschaftlichen Forschungen durch - zumindest nicht in unserem Sinne -, obgleich allein in -53-
den USA Hunderttausende mit ihnen zu tun bekamen. Manchmal erschienen sie mit Flugkörpern, die viele hundert Meter maßen und so bunt schimmerten wie die Lichter eines Weihnachtsbaums. Ihre ›Untersuchungsinstrumente‹ sind groß und klobig, und was die Untersuchungen selbst betrifft: In meinem Fall waren sie so abscheulich, daß es nicht nur leicht fällt, sich an sie zu erinnern - man kann sie unmöglich vergessen. Wenn Furcht sie unter Amnesie begräbt, so werden sie durch die Hypnose wieder zugänglich. Zwar scheint den Besuchern daran gelegen zu sein, daß man sich an die Erfahrungen mit ihnen erinnert, aber sie sprechen in Rätseln oder benutzen uralte menschliche Sprachen. Wenn man ihre Botschaften übersetzt, so erscheinen die Absichten und Ziele der Fremden nur noch rätselhafter und geheimnisvoller. Nach den Ereignissen am 1. und 2. April sah ich mich genau diesem Dilemma gegenüber. Ich wußte, daß irgend etwas mit mir und meinem Sohn geschah, aber was? Ich ertrug die Ungewißheit nicht mehr und wollte unbedingt Bescheid wissen. Wenigstens kann es nicht noch schlimmer werden, dachte ich. Doch in Boulder, Colorado, hatte ich ein schockierendes Erlebnis, das mich zutiefst erschütterte. Danach gewann ich den Eindruck, daß die ganze Menschheit - nicht nur Whitley, Anne und Andrew - vor einer langen, gefährlichen Reise stand. Wir alle sitzen in einem zerbrechlichen Boot, das mitten in der Nacht übers stürmische Meer segelte, und der Wind wird immer stärker.
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BLITZE Am 6. April 1986 flog ich nach Boulder, um an der World Affairs-Konferenz in der Universität von Colorado teilzunehmen. Als ich im Flugzeug saß, dachte ich über die jüngsten Ereignisse nach und stellte dabei fest, daß ich mich wirklich sehr fürchtete. Vergeblich trachtete ich danach, Unruhe und Nervosität aus mir zu verdrängen. Ich war verwirrt und hatte nur wenige Antworten auf meine Fragen, aber irgend etwas drängte mich dazu, die Besucher herauszufordern. Ich wünschte nicht mehr, daß sie aus meinem Leben verschwanden - ich sehnte eine Konfrontation herbei. Ich begann damit, so zu denken und zu handeln, als seien die fremden Wesen völlig real. Das hielt ich für vernünftig. Wenn man mit einem Panther im Wald rechnet, verhält man sich wohl kaum so, als gäbe es ihn überhaupt nicht. Des weiteren ging ich von der Annahme aus, daß die Besucher nicht nur böse oder gut sind. Wenn sie wirklich existieren, so müssen sie mindestens so komplex sein wie wir Menschen. Ich versuchte, die üblichen Sciencefiction-Vorstellungen von Extraterrestriern zu vermeiden - hier die strahlenden Helden, dort die schleimigen Ungeheuer. Die Reise nach Boulder spielte eine große Rolle für mich. Ich beabsichtigte, zum erstenmal meine Erfahrungen mit den Besuchern angesehenen Wissenschaftlern und Mitgliedern der akademischen Gemeinschaft vorzutragen. Darüber hinaus wollte ich eine engere Arbeitsbeziehung zu Dora Ruffner herstellen. Sie war eine alte Bekannte, teilte jahrelang mein Interesse an den Ideen von P. D. Ouspensky und Georges Gurdjieff. Wir hatten beide die Gurdjieff Foundation in New York besucht und sie zur gleichen Zeit verlassen. Dora setzte ihre Suche nach einem größeren Bewußtsein fort und beschäftigte sich mit faszinierenden Dingen. Ihre Kenntnisse -55-
über alte Naturreligionen und Schamanismus weckten jetzt neues Interesse in mir. Dafür gab es einen besonderen Grund. Ich habe viele fragmentarische Erinnerungen an die Besucher, und in einer davon saß ich an einem Tisch und konzentrierte mich auf ein Anagramm. Das muß während meiner Kindheit geschehen sein. Schließlich bildeten die Buchstaben vor mir folgenden Satz: ›Wir handeln nach uralten Gesetzen.‹ Diese Worte hatten es Anne angetan. Wenn sie tatsächlich eine Botschaft vermittelten, so führte sie aus, sei es die bisher wichtigste Information über das Fremde, das uns bedrängte. Schon seit Jahren vermute ich, daß wir die früheren Naturreligionen und die ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen aufgaben, weil wir ein klares, einheitliches und wahres Bild vom Universum verloren. Unsere primitiven Vorfahren waren Schönheit und Brutalität der Natur wesentlich näher als wir und somit besser ausgestattet, um die Realität zu sehen. Von ihrem Wissen sind heute nur noch die Reste der alten Religionen übrig. Ein Beispiel ist Halloween* , der Vorabend von Allerheiligen. Heute feiern wir dieses uralte Fest, indem wir ein Chaos in den Straßen entfesseln und unsere Kinder mit Süßigkeiten vollstopfen. Kaum jemand erinnert sich daran, daß uns dabei früher die heute geleugnete und vergessene Welt der Geister nahe war, daß sie in den Feuern brannte, um uns an unsere Sterblichkeit und Größe zu erinnern. *
Ursprünglich handelte es sich um ein keltisch-angelsächsisches Fest (›Samhai‹) zur Feier des Winteranfangs, das mit Opfern, Feuern und Maskeraden vor allem Geister, Hexen und Dämonen vertreiben sollte. Gleichzeitig diente es dazu, Gesetze und Grundbesitztitel zu erneuern sowie Genealogien weiterzuführen. Heute wird Halloween mit vielen an die alten Traditionen anknüpfenden Bräuchen begangen. Symbolfigur in den USA ist der Jack O'Lantern (›Nachtwächter‹), ein ausgehöhlter beleuchteter Kürbis mit dämonischer Fratze. - Anmerkung des Übersetzers -56-
Ich fragte mich, ob die schamanische Sprache der Symbole und Mythen besseres Verständnis für die Motive der Besucher ermöglichte. Dora hatte diese Sprache vollkommen verinnerlicht, und ich war gespannt auf ihre Ideen. Als ich in Boulder ankam, erstaunte mich der Anblick eines kleinen, kompakten Ortes, der sich an die Vorberge der Rocky Mountains schmiegte - ein winziger menschlicher Vorposten in diesem noch wilden, urwüchsigen Teil der Welt. Vor dem gewaltigen Schweigen der Berge und des Himmels wirkten unsere Lichter und summenden Maschinen banal. Die World Affairs-Konferenz bot mir eine Woche lang Gelegenheit, viele neue Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln. Sie findet alljährlich statt und bringt Hunderte von Akademikern, Autoren, Künstlern, Journalisten und Wissenschaftlern zusammen. Geleitet und organisiert wird sie von einem spektakulären Rocky Mountain-Ikonoklasten namens Howard Higman, der mit einem beständigen Lächeln über seine Schar wacht. Die World Affairs-Konferenz stellt eine Institution dar, wie sie nur in den Vereinigten Staaten entstehen konnte, insbesondere im Westen. Sie ist offen, gastfreundlich, zwanglos - und unerbittlich. Zweifellos bot sie einen angenehmen Aufenthalt für den Mitautor von Warday und Nature's End, aber würde sie einen Schriftsteller willkommen heißen, der über so seltsame Erlebnisse berichten wollte wie ich? Der Condon-Bericht, dem es erfolgreich gelang, UFOForschungen in seriösen wissenschaftlichen Kreisen zu diskreditieren, war in der Universität von Colorado geschaffen worden. Sie gehörte zu den Bastionen des wissenschaftlichen Konservatismus - das glaubte ich wenigstens. Es erfüllte mich mit Unbehagen, einen Ort aufzusuchen, der für den Glauben an die feste, stabile Ordnung der Dinge einem -57-
Schrein gleichkam. In meiner Vorstellung sah ich in dezente Anzüge gekleidete Professoren, die mir mit langen, knochigen Zeigefingern auf die Brust klopften und mich davor warnten, den intellektuellen Gehalt unserer Kultur in Frage zu stellen. Doch die Konferenz war ganz anders. Wenn ich mutig genug gewesen wäre, zu ihren Teilnehmern zu sprechen, hätten sie mir aufmerksam zugehört - was im nächsten Jahr der Fall war, als ich mein Geheimnis mit der Veröffentlichung von Die Besucher preisgab. Die World Affairs-Konferenz ist eine echte Rarität, denn sie schätzt Aufgeschlossenheit und neigt gleichzeitig zum Dramatischen. Zweifellos gehört sie zu den besten intellektuellen Konferenzen der Welt und zeichnet sich durch Eklektizismus sowie einzigartige Vorurteilslosigkeit aus. Ich befürchtete so sehr, mir durch eine Erwähnung der Besucher den Spott der übrigen Teilnehmer zuzuziehen, daß ich mich einfach nicht dazu überwinden konnte, von meinen Erfahrungen zu berichten. Allerdings experimentierte ich ein wenig. Ich schnitt dieses Thema einem eingeladenen Astronauten gegenüber an. Er blieb höflich, aber ich begriff, daß er sich in einer hoffnungslosen Position befand. Wenn er meinen Erlebnissen mit Interesse begegnete, lief er Gefahr, seine Glaubwürdigkeit bei der planetaren wissenschaftlichen Gemeinschaft zu verlieren. Er wahrte Distanz zu mir, doch in seinen Reaktionen zeigte sich eine gewisse Faszination. Der Schriftsteller Mark Kramer - ein wahrer Gentle man und ein energischer Intellektueller - hörte mir interessiert zu. Als er zu ahnen begann, daß meine Ausführungen unser bisheriges Weltbild in Frage stellten, wenn die Besucher tatsächlich unabhängig von uns existierten, gelangte er zu dem Schluß, daß es für meine Wahrnehmungen eine innere geistige Ursache geben mußte. Auch er brachte mir weiterhin Höflichkeit -58-
entgegen, obgleich ihn meine Schilderungen ganz offensichtlich verunsicherten. Nun, in anderen Teilnehmern der Konferenz weckten die von mir dargelegten Probleme kein solches Unbehagen. Dr. John Gliedman war Psychologe und daher imstande, meine Berichte mit Gelassenheit und Humor hinzunehmen. Die National Public Radio-Journalistin Margot Adler fand die düsteren Implikationen meiner Geschichte zunächst sehr beunruhigend, was unsere Freundschaft belastete. Mit einer derartigen Reaktion wurde ich zum erstenmal konfrontiert: Margot ging von der Annahme aus, daß manche übernatürlichen Einflüsse gut seien, während andere das Böse verkörperten. Ich sollte noch häufiger auf diese Einstellung treffen. Mit solchen Vorstellungen konnte ich mich nicht abfinden. Die Besucher hatten eine enorm starke Wirkung auf mich und mein Leben gehabt, und der Gedanke, daß sie ›böse‹ waren, erschien mir unerträglich. Doch als ich mich an ihr Aussehen und Verhalten entsann, sah ich mich außerstande, derartige Möglichkeiten auszuschließen. Stellten sie wirklich die häßlichen, verschlagenen und monströsen Ungeheuer dar, für die man sie halten mochte? Ich reagierte mit meinem ganzen physisch-psychischen Selbst auf die Besucher. Des Nachts erwachte ich, starrte wie ein ängstliches Tier in die Dunkelheit und schwankte zwischen Entsetzen und Sehnsucht: Tagsüber sehnte ich neue Begegnungen herbei, und nachts fürchtete ich mich davor. Während jener von Kummer und Niedergeschlagenheit bestimmten Apriltage wußte ich nichts von dem raffinierten Plan der Besucher. Ich hatte auch keine Ahnung von der strahlenden Intelligenz, die sich dahinter verbarg. Mein Instinkt, mich an Dora Ruffner zu wenden, erwies sich als richtig: Sie erklärte, daß meine Erfahrungen vielleicht eine Art Einleitung darstellten, daß sie mich auf eine Reise in die -59-
Dunkelheit vorbereiten sollten, wo sich die Geheimnisse des Geistes befanden. Solche Reisen gehören zu den ältesten geistigen Traditionen der Menschheit. Ganz gleich, ob es den Besuchern um so etwas ging: Ich konnte ihre Aktivitäten nutzen, um die Tiefen meiner eigenen Seele zu erforschen. Ich schwitzte in Boulder, sprach tagsüber mit den Konferenzteilnehmern und dachte an die Besucher, wenn es dunkel wurde. Am Abend des 9. April begannen Dora und ich mit einer Meditation, die etwa eine Stunde dauerte und sich als beeindruckende Erfahrung für mich erwies. In aller Deutlichkeit spürte ich Doras lebendige, überaus bewußte Präsenz. Früher an jenem Abend nahmen John Gliedman, Mark Kramer und ich an einer Party teil und versuchten, uns gegenseitig mit unheimlichen Besucher-Theorien zu übertreffen. Als wir nach draußen gingen, bemerkten wir ein magentarotes Schillern am Himmel. Das Phänomen faszinierte uns sehr: Es ähnelte einem Nordlicht, doch das Glühen stammte aus dem Süden. Uns war unbehaglich zumute, und wir lachten zu laut. Wir hatten über Gedankenkontrolle und die Fähigkeit der Besucher gesprochen, sich im Unterbewußtsein einzunisten. Hinzu kam das seltsame Licht am Himmel und anschließend die Meditation mit Dora. Vielleicht bildete das alles die Grundlage für einen spektakulären Traum. Nun, wenn ich tatsächlich träumte, so handelte es sich um eine wahrhaft einmalige Traumerfahrung. Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht von einem Traum in dem Sinne sprechen, eher von einer Vision, von einer unmittelbaren Begegnung mit dem Licht des Verstehens. Aber auch diese Beschreibung wird der Wirklichkeit nicht ganz gerecht. Etwas Gewaltiges näherte sich mir, übertrug Gedanken und benutzte dabei als Medium das Glühen am Himmel. -60-
Diese Erklärung scheint richtig zu sein. Ich wünschte, ich könnte irgendwelche Beweise anführen, aber dazu bin ich leider nicht in der Lage. Daher präsentiere ich mein Erlebnis im vagen Kontext eines Traums, obwohl ich nach wie vor glaube, daß ich eine andere Form von Realität berührte. Etwa gegen Mitternacht suchte ich das Boulderado Hotel auf und ging zu Bett. Um halb drei weckte mich ein merkwürdiges Schimmern im Raum. Ich öffnete die Augen und sah zu meinem großen Erstaunen helles Scheinwerferlicht, das über die Gardinen glitt. Ich stand auf und ging zum Fenster, doch bevor ich es erreichte, vernahm ich ein lautes Donnern. Das war also der Grund: ein Gewitter. Mein noch immer halb im Schlaf gefangenes Bewußtsein verwandelte Blitze in das Licht von Suchscheinwerfern, die am Himmel nach geheimnisvollen Flugapparaten tasteten. Ich verharrte in der Mitte des Zimmers, beobachtete und lauschte, wünschte mir den Mut, zum Fenster zu gehen. Ein Lichtstrahl strich vorbei und tauchte alles in blauen Glanz. Er kehrte zurück, und für einen Sekundenbruchteil erschien mir das Licht wie ein lebendes, bewußtes Etwas. Ich hatte das Gefühl, nur die Augen schließen zu müssen, um eine mentale Verbindung herzustellen. Dann spürte ich das starke Bedürfnis, mich hinzulegen. Gewitter oder nicht - ich streckte mich auf dem Bett aus und fiel sofort in eine tiefe Trance, die ich für Schlaf hielt. Direkt hinter meiner Stirn spielte sich ein Drama ab. Was ich sah, hatte eine höchst ungewöhnliche Struktur und Konsistenz. Es war nicht so gleichförmig wie die gewohnte Realität, sondern wirkte deutlicher. Die Farben und Geräusche gewannen eine wesentlich stärkere Ausprägung. Der Effekt läßt sich kaum beschreiben, und deshalb möchte ich ein Beispiel benutzen: Im Vergleich dazu schien mich während meiner -61-
normalen wachen Wahrnehmung ein trüber Schleier von der Wirklichkeit zu trennen. Ich befand mich an einem sumpfigen Ort mit einigen langen, breiten und flachen Gebäuden, die ich mit einer Art Atomkraftwerk assoziierte, und näherte mich einem Gebäude, bei dem ich dicke Rohrleitungen an den Mauern beobachtete. Mein Blickfeld war beschränkt, und deshalb konnte ich nicht feststellen, ob sich die Rohre von der Innen- zur Außenwand durchzogen. Plötzlich platzte ein Rohr auseinander, und Wasser spritzte daraus hervor. Einige Sekunden später hörte ich das Krachen von Explosionen. »Aufhören!« rief ich. »Jemand soll dafür sorgen, daß es aufhört!« Qualm stieg empor, bildete eine dichte, unheilvolle Wolke. Ich vernahm Schreie und leises Stöhnen. Ein hochgewachsener blonder Mann erklärte mir etwas, obgleich ich ihn kaum verstehen konnte, sprang dann in eine alte schwarze Limousine und fuhr zu der brennenden Anlage. Ein jäher Szenenwechsel - von einem Augenblick zum anderen fand ich mich in unserer Blockhütte im Norden des Staates New York wieder. Ein lautes Donnern hatte mich gerade geweckt. Verwirrt setzte ich mich im Bett auf. Woher stammte das Geräusch? Es wiederholte sich: berstendes Krachen im Wald. Stille schloß sich an. Ich ging zum Fenster und sah nach draußen. Es war eine friedliche, vom Mondschein erhellte Nacht. Einige Sekunden lang glaubte ich, es sei alles in Ordnung. Dann blitzte etwas, gefolgt von neuerlichem Donnern und dem wie in die Länge gezogenen Knarren eines umstürzenden Baums. Ich sah zum Himmel hoch und bemerkte gewaltige Felsen, die sich völlig lautlos vom Rand des Mondes lösten. Der Mond explodiert. Und dann dachte ich: Oh, dies ist das Ende der Welt. -62-
Ich empfand es als schockierend und verblüffend, daß es auf diese Weise geschehen sollte - weder durch einen Atomkrieg noch durch ein ökologisches Desaster oder eine der anderen Katastrophen, die ich fürchtete. Statt dessen gab es eine himmelsmechanische Ursache. Wir fielen nicht uns selbst zum Opfer, auch keiner irdischen Kalamität, sondern einer Störung im gravitativen Gleichgewicht zwischen Erde und Mond. In meinem Traum brachte ich Anne und Andrew zu einem ganz bestimmten Platz im Wald. Wir umarmten uns fest, als es noch lauter krachte, als das Glühen der Mond-Meteore heller wurde, und ich sang Malvina Reynolds Lied ›Morningtown Ride‹. Auf diese Weise endete für uns die Welt. Und auch meine Vision. Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte ein nächtliches Gewitter silbrig glänzende Regennässe auf den Straßen hinterlassen und den Staub aus der Luft gespült. Zuerst dachte ich, der Alptraum ginge auf die Blitze und das Donnern zurück. Doch das war nicht die Antwort, und ich wußte es genau. An jenem Konferenztag verhielt ich mich wie ein Zombie: Ich nahm an den Diskussionen teil, doch eigentlich befand ich mich ganz woanders. Immer wieder beobachtete ich die riesigen Felsen, die sich vom Rand des Mondes lösten, durch den Weltraum schwebten und sich der Erde näherten. Ich konnte sie mit bloßem Auge sehen, was darauf hindeutete, daß sie viele Meilen durchmaßen. Ein derartiger Meteorregen mußte zwangsläufig unglaubliche Verwüstungen anrichten. Kein Zweifel: Die Explosion des Mondes hätte das Ende der Welt bedeutet. Doch das war nur der zweite Teil meines Erlebnisses. Beim ersten ging es um die Explosion eines Atomkraftwerks, das allerdings nicht über einen der üblichen betonumhüllten Reaktorkerne verfügte. Vielleicht handelte es sich nicht um ein Kraftwerk, sondern um eine Produktionsstätte für nukleare -63-
Sprengsätze. Bei Rocky Flats gibt es eine berühmt-berüchtigte militärische Anlage, aber die Bilder davon entsprachen nicht den Eindrücken, die ich gewonnen hatte. Die Vision war bedrückend und hatte mich so sehr erschüttert, daß ich sie noch am gleichen Tag - am 10. April - Dr. Gliedman schilderte. Die Bedeutung des ersten Teils blieb mir verborgen. Ich vermutete schließlich, daß sie mit meiner Furcht vor einer neuerlichen atomaren Katastrophe in der Art von Three-MileIsland in Verbindung stand. Der zweite Teil verwirrte mich nicht annähernd so sehr. Offenbar befürchtete mein Unterbewußtsein aufgrund der Begegnungen mit den Besuchern derart drastische innere Veränderungen, daß sie einer Apokalypse gleichkamen. Kontakte mit den Besuchern gehen häufig mit Prophezeiungen einher, die vor Katastrophen warnen. Die betreffenden Personen werden auf drohende Kriege, Erdbeben, heranfliegende Meteore, Verschiebungen der Polkappen und den Beginn neuer Eiszeiten oder Hitzeperioden hingewiesen. Ich habe zum Beispiel graphische Darstellungen gesehen, die den Tod unserer Atmosphäre demonstrieren, ganz zu schweigen von einem Planeten Erde, der schlicht und einfach explodiert. Wann immer sich ein fundamentaler Wandel des Bewußtseins ankündigt - und ich glaube, das steht nun bevor -, steigt die Furcht vor Katastrophen. In der Welt des alten Rom wimmelte es geradezu von bösen Omen. Als sich die damaligen Menschen den revolutionären Ideen des Christentums ausgesetzt sahen, glaubten sie das Ende ihrer Gesellschaft nahe, was in der Furcht vor einem physischen Weltuntergang Ausdruck fand. Den frühen Christen erging es ebenso wie den modernen UFOGläubigen: Sie rechneten jederzeit mit dem Ende der Welt. Das römische Reich ging unter, aber es wurde nicht von einer Naturkatastrophe zerstört, sondern von einer geistigen -64-
Umwälzung. Das Christentum veränderte die Denkweise der Römer so sehr, daß die antike Welt einen Kollaps erlitt. Der römische Staat und seine Wissenschaft wurden auf die Müllhalde der Geschichte geworfen, und der Westen brauchte tausend Jahre, um das Verlorene wiederzugewinnen. Es ist durchaus möglich, daß sich unsere Katastrophenangst auf ein oder zwei Ebenen des tiefen Wandels gründet, den wir bereits auf einem instinktiven Niveau spüren. Die erste Ebene besteht in der Realität der Besucher. Das Erscheinen nichtmenschlicher Intelligenzen wäre für unser gewohntes Weltbild vermutlich noch weitaus verheerender als der christliche Glaube fürs alte Rom. Als zweite Ebene kommen die Botschaften der Besucher in Frage. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ›nichts‹ geschieht, is t außerordentlich gering. Irgend etwas bahnt sich an, etwas Großartiges. Das menschliche Denken und Empfinden hat mehrere Möglichkeiten, darauf zu reagieren, unter anderem mit Warnungen vor Katastrophen in der physischen Welt. Viele dieser Prophezeiungen spiegeln zweifellos die innere Apokalypse in bezug auf die aktuellen geistigen Veränderungen wider. Aber gilt das für sie alle? Existieren apokalyptische Vorhersagen, die einen Sinn ergeben? Die meisten Prophezeiungen lassen sich kaum verifizieren, und es lohnt nicht einmal, über sie zu spekulieren, doch einige verdienen es, daß man sich näher mit ihnen auseinandersetzt. Bei meinen in Die Besucher dargelegten Warnungen in Hinsicht auf die Atmosphäre geht es sicher um eine sehr ernste Angelegenheit. Aber ich sollte betonen, daß mir die Problematik der Wissenschaft - zumindest in groben Zügen - bereits vor meiner Begegnung mit den Besuchern bekannt war. Deshalb ist hier die Bezeichnung ›Prophezeiung‹ unangemessen. Trotzdem läßt sich feststellen, daß mir der Ernst der Ozon-Krise vor vielen anderen Menschen klar wurde. Wie schon in Die Besucher erwähnt, zeigte man mir ein telepathisches Bild, das eine -65-
überaus komplexe Karte der irdischen Atmosphäre darstellte. Ich verstand sie nicht völlig, doch angesichts ihrer mentalen Präsenz fühlte ich mich von dunklen Ahnungen erfaßt. Sie erschien mir völlig real, und ihr Detailreichtum ähnelte dem Bild von der goldenen Stadt. In der medizinischen Literatur habe ich keinen Hinweis auf einen vergleichbaren Geisteszustand gefunden, sieht man einmal von einem fotografischen oder eidetischen Erinnerungsvermögen ab. Aber an was erinnerte ich mich? So eine Karte hatte ich noch nie zuvor gesehen: Zahllose Schichten aus verschiedenen Farben bewegten sich ständig und verschmolzen miteinander. Wie kann ein menschliches Bewußtsein etwas so Kompliziertes erfassen und alle Einzelheiten tagelang bewahren? Aufgrund der Karte habe ich mich gründlich über die Atmosphäre unseres Planeten informiert. Am 1. Januar 1988 berichtete die New York Times, daß die Ozonschicht weltweit dünner wird, und zwar wesentlich schneller, als man es bis dahin erwartet hatte. Es ist nicht bekannt, wann die hindurchfilternde ultraviolette Strahlung stark genug wird, um in einem globalen Ausmaß Ernten zu vernichten und das Immunsystem von Tieren und Menschen zu schwächen, aber wir wissen inzwischen, daß eine ultraviolette Überdosis so etwas bewirken kann. Eine andere erstaunlich glaubhafte Prophezeiung kam aus einer für mich sehr überraschenden Richtung. Einige Monate nach der Konferenz in Boulder machte mich jemand, der gute Kontakte zu hochrangigen Repräsentanten der katholischen Kirche unterhält, mit den angeblichen Inhalten eines Briefes vertraut, den Papst Johannes XXIII. 1960 öffnete und der die letzte Weissagung der Jungfrau Maria von Fatima enthielt. Jahrelang hat die ganze Welt über jenen Brief spekuliert. Er wurde in der Absicht geöffnet, seinen Inhalt allgemein bekanntzumachen, doch wenig später sah man Kardinäle, die das päpstliche Büro mit ›erschütterten‹ Mienen verließen. Bis -66-
heute blieb der Wortlaut des Briefes ein gut gehütetes Geheimnis. Vor kurzer Zeit hat die Kirche sogar seine Existenz geleugnet! 1917 sahen drei Kinder in Fatima, Portugal, eine Erscheinung, von der Katholiken glauben, es sei die Muttergottes gewesen. Im Laufe der nächsten Monate wurde das Phänomen zu dem am besten dokumentierten Wunder in der ganzen Geschichte. Tausende von Pilgern erlebten den spektakulären Höhepunkt und sahen in sonderbares, nordlichtartiges Glühen, das einen großen Bereich umfaßte. Auch andere Menschen nahmen das Schimmern wahr, Personen, die abseits standen und das Hauptereignis nicht beobachten konnten: Eine gewaltige Scheibe manifestierte sich, und man hielt sie für die am Himmel tanzende Sonne. Für die Geschehnisse in Fatima gibt es viele Zeugen, und ihre Realität kann nur von jemandem geleugnet werden, der nicht bereit ist, sich dem Unbekannten zu stellen. Es bleibt jedoch ein Rätsel, was jene Ereignisse verursachte. Die Kirche gelangte zu dem Schluß, daß sich den drei Kindern die Heilige Jungfrau Maria offenbarte. Sie bezeichnete sich nie als Muttergottes, sondern meinte nur, sie komme ›vom Himmel‹. Man fühlt sich an die schöne junge Frau erinnert, die dem Sohn des irischen Königs erschien und erklärte, sie stamme aus der ›Sphäre der Unsterblichen‹. Auch die angebliche Jungfrau Maria von Fatima konnte nur von den Personen wahrgenommen werden, denen sie ihre Aufmerksamkeit schenkte. Aber andere Zeugen sahen viele Manifestationen, die ihr Erscheinen begleiteten. Am 13. September beobachteten Tausende von Menschen eine Lichtkugel, die durch das Tal flog und sich dem Ort der Offenbarung - Cova de Ira - näherte. Wie schon einen Monat zuvor bildete sich eine weiße Wolke, und weiße ›Blütenblätter‹ fielen vom Himmel herab. Sie lösten sich auf, als sie den Boden erreichten. -67-
Am 13. Oktober erlebten siebzigtausend Menschen, wie eine glänzende silberne Scheibe aus der Sonne glitt, sich um ihre eigene Achse drehte und bunte Lichtstrahlen in alle Richtungen schickte. Rotes Licht verfärbte die Wolken, den Boden, Bäume und Zuschauer. Hinzu kamen violette, gelbe und andere Tönungen. Die Strahlen tasteten langsam umher, wodurch der Eindruck entstand, daß sich die Scheibe drehte. Das Gebilde schwebte der Menge im Zickzack entgegen - eine für moderne UFOs typische Bewegungsform. Nordlichtartige Effekte wurden noch dreißig Meilen vom Ort des Wunders entfernt beobachtet, selbst von Skeptikern und Spöttern; man kann also kaum behaupten, daß es keine objektive Ursache für die Manifestationen gab. Zwei Zeugen betrachteten die Scheibe mit Ferngläsern und berichteten später, sie hätten eine Leiter mit Wesen darauf gesehen. Nach meinen Informationen geht es bei der letzten FatimaProphezeiung unter anderem um eine Überschwemmung von Küstengebieten, die zwischen 1994 und 1997 stattfinden soll. Diese Vorhersage ist weitaus ernster als die meisten Ankündigungen von Katastrophen, und sie gibt insbesondere deshalb zu denken, weil sich eine andere Fatima-Weissagung bewahrheitete. Am 13. Juli 1917 verkündete die angebliche Jungfrau Maria: »Wenn ihr eine von unbekanntem Licht erhellte Nacht seht, so wisset, daß Gott dieses Zeichen schickt: Mit Krieg wird er die Welt für ihre Sünden bestrafen....« Diese Worte wurden erst zehn Jahre später, 1927, der Öffentlichkeit bekannt. Am 25. Januar 1938 (ich beziehe mich auf einen Artikel der New York Times vom nächsten Tag) wurde über weiten Teilen von Europa ein seltsames nordlichtartiges Phänomen beobachtet. Es war sonderbar genug, um in der damaligen Presse Erwähnung zu finden. In der Times hieß es: ›Die Bewohner von London sahen zwei strahlende Bögen im Osten und Westen, und davon gingen pulsierende Strahlen aus, die -68-
dem Licht von Suchscheinwerfern ähnelten. Sie leuchteten dunkelrot, grünblau und purpurn.‹ Wissenschaftler wiesen darauf hin, daß derart auffällige Nordlichter in Europa zum letztenmal im Jahre 1709 gesehen worden waren. Die Erscheinung von 1938 blieb einzigartig in Hinblick auf Farben und Struktur des Leuchtens. Es besteht kein Zweifel daran, daß es sich tatsächlich um eine Art Nordlicht handelte: Einige Tage vorher kam es auf der Sonne zu starken Protuberanzen, die einen magnetischen Sturm verursachten. Drei Monate später annektierte Deutschland Österreich, und damit begannen die Ereignisse, die zum Zweiten Weltkrieg führten. Es liegen eindeutige wissenschaftliche Beweise dafür vor, daß der Meeresspiegel steigt. Der Grund dafür ist ein langfristiger Erwärmungstrend der Atmosphäre: Dadurch bildet sich weniger Eis, und die Polkappen schmelzen langsam ab. Nach den letzten Untersuchungen und Messungen sind in den vergangenen vierzig Jahren etwa zwanzigtausend Kubikmeilen Polareis geschmolzen. Allerdings ist noch nicht geklärt, ob ein direkter Zusammenhang mit dem zunehmenden Treibhauseffekt durch die Verbrennung von Kohle und Erdöl besteht. Die Erde verbrachte achtzig Prozent ihrer geologischen Geschichte ohne Polkappen. In geologischer Hinsicht ist unsere Welt wärmer, als sie es während der ganzen Menschheitsgeschichte war. Wir setzen immer mehr Kohlendioxid frei, und damit fördern wir vermutlich eine bereits vorhandene natürliche Erwärmungsneigung in der Atmosphäre. Nimmt dieser Trend so dramatisch zu, daß er vielleicht noch vor Ende dieses Jahrhunderts in einem katastrophalen Abschmelzen der Eiskappen an den Polen resultiert? Ich habe keinen Wissenschaftler gefunden, der so etwas für möglich hält. Statt dessen bekam ich folgende Auskunft: »Es wird noch zweihundert Jahre dauern, bis man die Autos in Lower Manhattan gegen Kanus eintauschen muß.« -69-
Doch ich frage mich, ob derartige Zuversicht wirklich gerechtfertigt sein mag. Im November 1987 löste sich vom Ross- Eisschelf der Antarktis ein Eisberg, der doppelt so groß war wie Rhode Island - ein Umstand, der auf weitaus größere Instabilität in jenem Bereich hinweist, als die Wissenschaft bis dahin annahm. Dieses Ereignis gehörte zu einer ganzen Kette von Geschehnissen, die man in der Times vom 9. Februar 1988 als ›zwei Jahre außergewöhnlicher Gletscher-Veränderungen‹ bezeichnete. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, muß es früher oder später zu einer kritischen Störung des strukturellen Gleichgewichts im Polareis kommen. Im Juli 1987 stieg die Temperatur des Karibischen Meers zwei Grad über das langjährige Mittel, was eine erhebliche Gefahr für die Korallen bedeutete. Sie starben nicht ab, aber die Erwärmung wahr sehr ungewöhnlich und kann nicht mit normalen Naturphänomenen erklärt werden. Zwar fehlen Statistiken in bezug auf die weltweite Ozeantemperatur, doch das Erscheinen so riesiger Eisberge im Rossmeer sowie die erstaunliche Erwärmung der Karibik lassen vermuten, daß ein allgemeiner Temperaturanstieg begonnen hat, dessen Mechanismen unbekannt sind. Die Wissenschaft wurde von beiden Ereignissen überrascht. Wenn eines der antarktischen Eisschelfe ins Meer sänke, bliebe das nicht ohne erhebliche Folgen für den globalen Meeresspiegel. Ein Ergebnis bestünde in Überflutungen von Küstengebieten. Drei Dinge sind klar. Erstens: Wir haben es derzeit mit einem unerwartet starken Erwärmungstrend zu tun. Zweitens: Niemand weiß, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Drittens: Die Wissenschaft ist nicht darauf vorbereitet und kann uns angesichts des aktuellen Wissensstands keine Lösungen anbieten. Wenn die drei katholischen Kinder von Fatima die ihnen -70-
übermittelte Botschaft richtig verstanden, so legte die Jungfrau Maria Gebete als Gegenmittel für die prophezeiten Katastrophen nahe. Am 25. April 1986 explodierte Tschernobyl. Ich brachte dieses Desaster sofort mit dem ersten Teil meines Traums vom 9. April in Zusammenhang, rief Dr. Gliedman an und erörterte die Angelegenheit noch einmal mit ihm. Entweder war der Traum nur ein Zufall, oder er hatte mir tatsächlich die Zukunft gezeigt. Und wenn es sich um eine präkognitive Vision handelte - was sollte ich dann von dem zweiten Teil ha lten? Ließ die Tschernobyl-Katastrophe den Schluß zu, daß wirklich eine Explosion des Mondes drohte? Warnte der Traum vor einem konkreten Ereignis, oder kündigte er in symbolischer Form ein Zeitalter der Umwälzungen an? Ich empfand tiefe Erleichterung, als ich im Fernsehen die ersten Bilder von Tschernobyl sah: Ihnen fehlte jede Ähnlichkeit mit der nuklearen Anklage meines Traums. Dann stellte ich fest, daß jene ersten Aufnahmen ein anderes, ähnlich konstruiertes Atomkraftwerk in Italien zeigten. Spätere Übertragungen von Tschernobyl bestätigten meine Befürchtungen einer präkognitiven Vision. Jähe Angst erfaßte mich. Der erste Teil des Traums hatte sich bewahrheitet - sollte auch der zweite eine Entsprechung in der Wirklichkeit finden? Ich hatte genug über die Geologie des Mondes gelesen, um zu wissen, daß es dort überhaupt kein vulkanisches Potential gibt. Manchmal wird geringfügige Aktivität im Boden tiefer Krater beobachtet, aber es sind nur Lichtblitze, hervorgerufen von entweichendem Gas. Absolut nichts deutet darauf hin, daß auf dem Mond eine heftige Eruption möglich ist, ganz zu schweigen von einer so gewaltigen Explosion, daß sie den Trabanten der Erde zerreißt und die Trümmerstücke auf uns herabregnen läßt. -71-
Ich habe einige Planetologen gefragt, was geschehen würde, wenn der Mond auseinanderplatzt. Sie alle sprachen von apokalyptischen Konsequenzen. Der Meteorregen hätte eine verheerende Wirkung, und hinzu käme eine Verschiebung der Umlaufbahn, woraus sich ein klimatischer Kataklysmus ergäbe. Das Fehlen des Mondes müßte zu einer Reduzierung der Luftzirkulation führen und enorme Veränderungen der Gezeiten und Meeresströmungen nach sich ziehen. Betroffen wäre praktisch alles: maritimes Leben, Wetter, Wachstumsperioden der Pflanzen. Nach einem Artikel im Journal of Petroleum Geology ist es möglich, daß der Mond eine wichtige Rolle bei der Erzeugung des irdischen Magnetfelds spielt, indem er eine Gezeitenreibung im Erdkern bewirkt. Wenn das Magnetfeld verschwindet, wäre unser Planet wesentlich stärkerer solarer Strahlung ausgesetzt. Vielleicht hängt das Leben auf der Erde auch von der Existenz ihres Trabanten ab. Doch ein Auseinanderbrechen des Mondes erforderte gewaltige Energiemengen. Man brauchte zehn Milliarden Hundert-Megatonnen-Atombomben, um nur seine Umlaufbahn zu verändern. Soviel Energie ist schlichtweg unvorstellbar und übersteigt bei weitem das, was der Menschheit zu Verfügung steht oder ihr in absehbarer Zukunft zur Verfügung stehen wird. Mit anderen Worten: Der Mond wird nicht explodieren - es sei denn, es gibt uns unbekannte Einflußfaktoren in seiner Struktur oder jemand hat eine neue, ziemlich wirkungsvolle Bombe. Also basierte der zweite Teil meines Traums nur auf apokalyptischer Furcht, vergleichbar mit dem Bild der ›explodierenden Erde‹, das sich mir während der Hypnose in Hinsicht auf meine Besucher-Erfahrungen vom 4. Oktober 1985 offenbarte. Es zeigte mir, wie unser Planet ohne ersichtlichen Grund zerbarst. Ich werde nie die dicken Rauchsäulen vergessen, die aus der Erde wuchsen und wie Klauen in den Weltraum tasteten. Aber vielleicht gab es ein konkretes Ereignis, das beide Visionen miteinander verband. Vielleicht wiesen sie auf eine -72-
andere Art von Katastrophe mit ähnlichen Folgen hin. Warnten sie vor der Gefahr, daß Erde und Mond durch eine dichte Meteoritenwolke oder einen großen Asteroiden Vernichtung drohte? An dieser Stelle sollte ich erwähnen, daß die Nachrichtenagentur Reuters am 16. August 1987 einen Bericht anbot, den nicht alle Medien übernahmen. Der sowjetische Wissenschaftler Alexa nder Woitsekhowski behauptete darin, daß der 1983 entdeckte Asteroid 1983, in 127 Jahren, also 2115, mit der Erde kollidieren würde. Ein fataler Zusammenstoß ließe sich nur durch eine Bahnänderung des Asteroiden oder seine rechtzeitige Zerstörung vermeiden. Der russische Wissenschaftler führte die Entdeckung des Problems auf einige britische Kollegen zurück, die ich nicht identifizieren konnte. Mein Brief an Woitsekhowski blieb unbeantwortet. Es gibt viele andere Bedeutungen in bezug auf Vorstellungen von einem explodierenden Mond. In einigen Gedankengebäuden - ich möchte hier nur G. I. Gurdjieff anführen - ist der Mond ein Symbol für das Ende der Schöpfung. Schlafende Seelen werden als ›Nahrung für den Mond‹ beschrieben. Anders ausgedrückt: Nach der Ablösung vom Körper ist die Seele nicht etwa frei, sondern dem ehernen Willen der Natur unterworfen. Darüber hinaus symbolisiert der Mond den Traum und die Hypnose, die Kraft der Verwirrung, in deren Gespinsten der Mensch gefangen ist. Man assoziiert den Mond mit dem Schlafen und Träumen mit dem Unbewußten. In einem solchen Zusammenhang gewinnt meine Vision vom explodierenden Mond eine ganz neue Signifikanz. Vielleicht deutet sie darauf hin, daß uns die Zerstörung des ›Mondes‹ in unserem Innern endlich in die Lage versetzt, das Wirkliche und Reale klar zu sehen. In anderen philosophisch-religiösen Konzeptionen wird der -73-
Mond als Muttergöttin dargestellt. Wir wissen nicht, wie sehr das irdische Leben von den Gezeitenkräften abhängt, aber einige Spekulationen gehen davon aus, daß die von uns als normal erachteten Lebensformen nicht ohne den lunaren Einfluß existieren können - dadurch wird der Mond tatsächlich zu einer kosmischen ›Mutter‹. Die alten Ägypter versinnbildlichten den Mond als Thot, den Erwecker des schlafenden Bewußtseins, und die westliche Vorstellung vom ›Mann im Mond‹ geht letztendlich auf das Gesicht von Thot zurück. Plutarch schrieb ein faszinierendes Essay: ›Auf dem Angesicht des Mondes‹. Darin heißt es, daß die Guten in der Sphäre des Mondes wohnen, jedoch einen schrecklichen Anblick für alle bieten, die sich ihnen nähern. Dadurch soll verhindert werden, daß jemand die wahre Schönheit jenes Ortes sieht und in Versuchung gerät, Selbstmord zu begehen, um das himmlische Paradies eher zu erreichen. Daraus läßt sich natürlich nicht der Schluß ziehen, daß die Besucher vor Schicksal und Zukunft der Erde warnen. Ich meine jedoch, daß die Hinweise auf den Zustand der irdischen Atmosphäre und die mögliche Weissagung einer Überschwemmung von Küstengebieten ernst genommen werden sollten - der Treibhauseffekt wird schon jetzt spürbar, und vielleicht steht uns tatsächlich eine katastrophale Überflutung bevor. Es wäre denkbar, daß meine Vision vom explodierenden Mond einen tiefgreifenden Wandel ankündigt, der die Menschheit aus ihrer äonenlangen Hypnose weckt und sie gleichzeitig aus dem Schoß des Erde-Mond-Systems schleudert. Die Ankunft kosmischer Besucher könnte den Ausschlag dafür geben. Die World Affairs-Konferenz ging zu Ende, und ich flog wieder nach New York. Einige Tage verbrachte ich in der Stadt, -74-
dann kehrte ich dankbar zu unserer Blockhütte zurück. Dort saß ich neben dem Swimmingpool und beobachtete, wie der Mond über den Himmel glitt. Ich konnte jetzt die elisabethanische Vorstellung von Sphärenmusik verstehen, von der Melodie der Nächte und Tage. Ich dachte auch ans antike Rom und überlegte, daß unsere Welt vielleicht dem Ende zuging. Als die erste Atombombe über der Stadt Hiroschima explodierte, brachte sie nicht nur Tausende von Menschen um, sondern zerstörte auch unser bis dahin gültiges Weltbild. Wir können keinen Gesellschaften und Institutionen vertrauen, die uns mit dem Selbstmord der ganzen Menschheit drohen. Wir sind stumme, unbewußte Rebellen. Jene Einstellungen, die das erste atomare Chaos entfesselten, weichen einer neuen, intuitiveren und freieren geistigen Haltung. Sie wird wie ein Adler über unseren Ängsten schweben und endlich der Asche einer von Sorgen gezeichneten Vergangenheit entkommen. Aber führt ihr Flug auch über echte Asche hinweg? Der Mensch leidet an einer geringen Selbstachtung: Wir neigen dazu, uns als Versager zu sehen. Manchmal werden Katastrophen mit solcher Hingabe angekündigt, daß der Eindruck entsteht, die Propheten der Apokalypse freuen sich auf den bevorstehenden Weltunterga ng. - So etwas kann ich nicht akzeptieren. Ich halte weiterhin an der Hoffnung fest, daß wir uns eines Tages durchsetzen, daß irgendwann eine durch und durch gesunde Menschheit entsteht und im Einklang mit der Welt lebt, die uns schuf. Aber der Weg dorthin ist eine Gratwanderung.
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DER WEISSE ENGEL Der Frühling verging schnell, und es schloß sich der lange und warme Sommer des Jahres 1986 an. Der Verlag, der meine anderen Bücher publiziert hatte, schickte mir Die Besucher zurück. Ich bot das Manuskript anderen Herausgebern an und bekam einige ziemlich verächtliche Ablehnungen. Das bedrückte mich sehr: Ich glaubte, ein gutes Buch geschrieben zu haben - doch war es offensichtlich zu ketzerisch, um veröffentlicht zu werden. In der letzten Maiwoche begab sich Anne nach Dallas, um Freunde zu besuchen. Andrew und ich blieben für sieben Tage allein. Am 30. Mai, einem Freitag, fühlten wir uns gezwungen, zur Blockhütte zurückzukehren, obgleich wir das Wochenende eigentlich in der Stadt verbringen wollten. Nach der Schule meinte Andrew, er wolle unbedingt nach Norden fahren, obgleich ihm der Grund dafür ein Rätsel blieb. Ich war versucht, mit einem klaren Nein zu antworten, weil ich wußte, daß die Besucher Menschen dazu verleiteten, abgelegene Orte aufzusuchen. Gelegentlich hatten sie ganze Gruppen des Nachts aufs Land gelockt. Aber vor meinem inneren Auge zeigte sich das beharrliche Bild einer Hütte, die Ruhe und Frieden versprach. Ich stellte mir vor, einen alten Film auszuleihen und mit einer Schüssel Popcorn vor dem Fernseher zu sitzen. Allerdings vermutete ich noch immer, daß die Besucher am 2. April meinen Sohn entführt hatten, und wollte nicht riskieren, daß sich so etwas wiederholte. Aber auch ich verspürte den Wunsch, die Blockhütte aufzusuchen. Wir machten uns auf den Weg - und gerieten in einen enormen Verkehrsstau. Nach einer Stunde waren wir noch immer in Greenwich Village, und der Lincoln Tunnel erschien -76-
unerreichbar fern. Wir beschlossen, umzukehren und das Wochenende zu nutzen, um Museen und Kinos zu besuchen. Als wir uns der Garage näherten, wechselten wir einen kurzen Blick - und wendeten erneut. Es ging nicht nur darum, eine harmlose Entscheidung zu treffen: Es blieb uns gar keine andere Wahl, als zur Hütte zu fahren. Dann waren wir von halb fünf nachmittags bis um zehn Uhr abends unterwegs, brauchten also fast sechs Stunden für die nicht besonders lange Strecke. Aber schließlich gelangten wir ans Ziel. Wir betraten die Hütte und schalteten überall das Licht ein, um eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen, doch wir hatten unterwegs gegessen und waren müde. Schon kurze Zeit später gingen wir zu Bett. Am nächsten Morgen erwachte ich mit ausgeprägtem Unbehagen. Während der Nacht hatte mich irgend etwas gestört, doch als ich mich darauf zu konzentrieren versuchte, entstand roter Dunst inmitten meiner Gedanken. Roter Dunst? Was bedeutete das? Während der vergangenen Monate hatte ich viele Dinge in meinem Innern wahrgenommen, doch roter Dunst gehörte nicht dazu. Als ich die Versuche aufgab, mich an die vergangene Nacht zu erinnern, verflüchtigte sich der seltsame mentale Nebel. Warum ›dachte‹ ich überhaupt an Dunst? Ich hielt die substanzlose Erscheinung für ein Zeichen, für eine Art Alarm. Sie veranlaßte mich dazu, immer wieder über die Nacht nachzudenken. Ich wollte das rote Glühen aus meinem Selbst verbannen - wie konnte so etwas überhaupt in mir existieren? Am nächsten Tag fühlte ich die gleiche erschöpfte Beunruhigung, die früheren Begegnungen mit den Besuchern gefolgt war, aber ich führte zunächst alles auf überschäumende Fantasie zurück. Damit unterliefen mir zwei Fehler. Erstens: Ich ging von der Annahme aus, daß die Fantasie Teil des trivialen -77-
Bewußtseinsbereichs ist, obwohl sie sich wahrscheinlich im Kern des individuellen Ich befindet. Zweitens: Ich sah in Fantasie und Intellekt zwei entgegengesetzte geistige Phänomene; in Wirklichkeit sind sie so untrennbar miteinander verknüpft wie die Stränge der Doppelhelix. Ich versuchte nicht, den roten Dunst mit Hilfe von Hypnose zu durchdringen. Statt dessen führte ich die Routine meines Lebens fort und hoffte das Beste. Ich wünschte, Anne wäre bei mir gewesen. Ihre Kraft hätte mich in die Lage versetzt, mit den Besuchern fertig zu werden. Ich brauchte ihre Objektivität, ihre vorsichtige und intelligente Skepsis. Gerade sie bestand darauf, die Frage offenzulassen ohne daß sie die Realität meiner Erlebnisse bezweifelte. Auf diese Weise half sie mir, alles aus der richtigen Perspektive zu sehen. Doch jetzt mußte ich allein zurechtkommen. Ich hatte das Gefühl, daß ein externer Einflußfaktor meinem Bewußtsein etwas aufzwang, und dieses Empfinden belastete mich sehr. Das rote Glühen in mir war so seltsam. Warum bildete es sich immer dann, wenn ich an jene Nacht dachte? Was war geschehen? Für mich schien Annes Aufenthalt in Dallas eine Ewigkeit zu dauern. Ihre Schilderungen am Telefon deuteten darauf hin, daß sie viel Spaß hatte, aber ich vermißte sie und sehnte mich sehr nach ihr. Am Montag brauchte ich ihre Präsenz dringender als jemals zuvor. Am Dienstag verzweifelte ich fast und befürchtete, bis zum Donnerstag den Verstand zu verlieren. Der rote Dunst wogte immer dann heran, wenn ich meine innere Aufmerksamkeit auf Freitag nacht richtete. Entsetzen quoll in mir empor, weil ich den Eindruck gewann, daß meine Gedanken von einer fremden Macht kontrolliert wurden, ohne daß ich mich dagegen wehren konnte. Der mentale Nebel war gewiß kein Produkt meiner Fantasie. Er schien eher das Ergebnis einer posthypnotischen Suggestion zu sein. Schließlich kam der Freitag. Bald hatte ich wieder jemanden, -78-
mit dem ich offen sprechen konnte, eine Person, die Anteil nahm und mir mit ruhiger Objektivität zuhörte. Etwa fünfzehn Minuten vor Annes Ankunft geschah etwas Unglaubliches. Der rote Dunst verschwand plötzlich, und völlig klare Erinnerungen offenbarten sich mir. Jetzt entsann ich mich an die Ereignisse in der Nacht des 30. Mai. Zuerst hörte ich eine sanfte und hypnotische Stimme, die folgende Worte an mich richtete: »Du wirst dich erst erinnern, wenn Anne zurückkehrt.« Dann schaltete jemand das Licht im Schlafzimmer ein, und ein kleines, in Weiß gekleidetes Wesen kam rasch auf mich zu. Die Kleidung wies keine besonderen Merkmale auf, abgesehen von einem dunklen Gürtel. Die Gesichtszüge der Person - ob Besucher oder sonst etwas - blieben mir verborgen. Ich erinnere mich nur an den Eindruck von ungewöhnlich strahlendem Weiß und an hellblaue Augen. Ich weiß nicht, welche Form jene Augen hatten. Die Titelillustration dieses Buches ist nur eine Vermutung. Das Geschöpf nahm neben mir auf der Bettkante Platz. Es wirkte engelhaft, rein und weise. Als es sich zu mir vorbeugte, spürte ich, wie die Anspannung aus meinen Muskeln wich - sie schienen sich in Hafermehl zu verwandeln. Ich atmete weiterhin, doch die entsprechenden Geräusche kamen wie aus weiter Ferne, so als beobachtete ich einen atmenden Körper, der nicht mir selbst gehörte. Das Wesen sah mir direkt in die Augen und sagte: »Ich möchte mit dir über deinen Tod sprechen.« Als wir den Blickkontakt herstellten, sah ich nur noch Bläue, das Blau des Himmels. Eine andere Welt eröffnete sich mir. Die nächsten Ereignisse lassen sich nur schwer beschreiben. Eine Explosion erfaßte meinen Leib. Und dann kam Furcht. Sie war so kalt wie Eis, schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte fortspringen und fliehen. Ich wollte schreien, dem -79-
schrecklichen, herrlichen Blau und den grauenhaften Worten irgendwie entkommen. Offenbar spürte das Geschöpf meine Reaktion. Die Bläue wich zurück, und ich konnte wieder sehen. Das Wesen bewegte kurz den Arm - eine Geste, an die ich mich ga nz deutlich erinnere, weil sie eine nachhaltige Wirkung auf mich hatte. Die nächsten Sekunden werde ich nie vergessen. Auf den ersten Blick betrachtet schien kaum etwas Bemerkenswertes zu geschehen: Der Rand des weißen Ärmels strich über Mittel- und Zeigefinger meiner linken Hand, die auf der Bettdecke lag. Die Berührung war so wundervoll sanft, daß sie mich mit einem Frieden erfüllte, den ich in dieser Intensität zum erstenmal empfand. Es war, als kehrten all die angenehmen Stunden der Kindheit zurück - ich wurde wieder zu einem Knaben, der viele Nachmittage in Baumwipfeln träumte, sich jeden Morgen darüber freute, die Welt zu entdecken. Mich durchströmte etwas, das die Seele mit neuer Vitalität erfüllte, ihr eine Nahrung gab, von der ich bisher überhaupt nicht gewußt hatte, daß ich sie brauchte, und die sich gleichzeitig in etwas Unverzichtbares verwandelte. Ich verglich den Ärmel mit dem Tor des Paradieses, das vor mir aufschwang. Später habe ich mich gefragt, ob Engel und Dämonen die gleichen Wesen sind und sich nur in ihrem Erscheinungsbild voneinander unterscheiden. Oder ›moderner‹ ausgedrückt: Vielleicht handelt es sich um positive und negative Manifestationen einer essentiellen Energie des Universums. Dann sagte das Wesen: »Dein Metabolismus ist verändert worden. Wenn du weiterhin Süßes ißt, erwartet dich kein langes Leben. Und wenn du nicht auf Schokolade verzichtest, wirst du sterben.« Diese Worte entfalteten die Wirkung von Peitschenhieben, die mein inneres Selbst trafen. Aber da es doch nur um Süßigkeiten -80-
ging, konnte ich sie nicht ernst nehmen. Ganz im Gegensatz zu der nächsten Bemerkung. »In drei Monaten unternimmst du wegen deiner Mutter eine von zwei Reisen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Die eine Reise führt in den Tod. Die andere bietet dir das Leben.« Ich habe Anne von dieser Begegnung erzählt, den Hinweis auf Süßigkeiten jedoch verschwiegen, weil ich fest entschlossen bin, sie weiterhin zu essen. Außerdem wollte ich vermeiden, daß meine Frau in diesem Zusammenhang Druck auf mich ausübt. Ich wußte nicht so recht, was ich mit den Bemerkungen des Wesens anfangen sollte, rief meine Mutter an, und sie meinte, es sei alles in Ordnung mit ihr. Ende April war meine Oma gestorben, aber sie hatte an einer langen, schweren Krankheit gelitten, und deshalb kam ihr Tod einer Erlösung gleich. Mutter brachte diesen Meilenstein ihres Lebens würdevoll hinter sich. Es ging ihr körperlich und seelisch recht gut. Ich nahm einen Kalender zur Hand und markierte das Datum, an dem die Weissagung des Besuchers auf die Probe gestellt werden würde. Die Prophezeiung hatte am 30. Mai stattgefunden, und deshalb strich ich den 30. August an, einen Samstag. Das genügte bestimmt, um mich zu erinnern. Am 7. Juni (Samstag) fuhren wir erneut aufs Land. Nichts Ungewöhnliches geschah. Doch als ich am Sonntagmorgen Anne weckte, sah sie mich so seltsam an, daß ich sie fragte, ob etwas passiert sei. »Ich hatte einen Alptraum«, erwiderte meine Frau. »Er war erschreckend deutlich. Ich träumte davon, daß du Schokolade gegessen hast und einfach umgefallen bist, ohne jede Vorwarnung. Du warst ganz plötzlich tot.« In meinem Innern verkrampfte sich etwas. Anne wußte nichts von der Warnung vor Süßigkeiten. Weshalb hatte sie so etwas geträumt? -81-
Ich wollte nicht von den Besuchern kontrolliert werden, mir lag nichts daran, Befehle von ihnen entgegenzunehmen. Aber dieser Traum - woher stammte er? Ich bat Anne, Einzelheiten zu schildern. »Es war ausgesprochen sonderbar. Die Bilder wirkten sehr intensiv. Ich sah dein Gesicht, wie auf der Mattscheibe eines Fernsehers. Du hast einen Schokoladenriegel ausgewickelt und hineingebissen. Und einen Sekundenbruchteil später bist du zu Boden gesunken. Ich erinnere mich genau an deine Augen: Du warst tot.« Meine Verwirrung wuchs; Besorgnis und Nervosität gesellten sich hinzu. Das Besucher-Erlebnis war enorm beeindruckend und gleichzeitig sehr, sehr seltsam. Warum ging es plötzlich um Süßigkeiten? Als ich in der Nacht des 26. Dezember 1986 von den Besuchern entführt wurde, gaben sie mir eine weiße Substanz, die recht bitter schmeckte. Vielleicht hatte sie nicht nur das Gedächtnis blockiert, sondern auch mein Stoffwechselsystem verändert. Jemand drang des Nachts in die Hütte ein und entführte mich - um meinen Metabolismus so zu manipulieren, daß Süßigkeiten wie Gift auf mich wirkten? Lächerlich. Absurd. Dennoch stellte ich fest, daß die Vorstellung, Schokolade zu essen, Furcht in mir weckte. Zorn brodelte in meinem Innern. Was bezweckten die Besucher? Ich vermutete eine komplexe Strategie mit dem Ziel, meine Willensfreiheit einzuschränken. Trotz meiner Wut rührte ich keine Schokolade mehr an - und stellte verblüfft fest, süchtig danach zu sein. Ich kam in echte Schwierigkeiten, schwitzte, wanderte unruhig umher und nannte mich selbst einen Narren, weil ich von Pralinen und dergleichen träumte. Ich weigerte mich, den Anweisungen einer unbekannten Macht zu gehorchen - dadurch hätte ich Eigenverantwortung für -82-
mich selbst aufgegeben. Auf meinen eigenen Willen legte ich aber viel zu großen Wert, um ihn einem weiseren Ich - ob imaginär oder real - zu unterwerfen. Als ich mich mit dem Verlangen der Besucher auseinandersetzte, ein Opfer zu bringen, veränderte sich mein Verhältnis zu ihnen. Es vertiefte sich, obgleich mir das zunächst nicht bewußt wurde. Damals schreckte ich noch vor der Vorstellung zurück, eine echte Beziehung herzustellen. Die fremden Wesen ängstigten mich viel zu sehr - wer strebt schon die Freundschaft eines hungrigen Panthers an? Ich billigte den Besuchern keinen besonders positiven Einfluß auf mein Leben zu, und deshalb blieb mein Vorsatz, ihren Rat zu achten, nur von kurzer Dauer. Eines Nachmittags hielt ich mich in einem guten Café auf und beobachtete, wie eine frische Sachertorte angeschnitten wurde. Ich bestellte ein Stück und verspeiste es mit trotzigem Genuß - ohne daß irgend etwas mit mir geschah. Ich fiel keineswegs tot um, mir wurde nicht einmal schlecht. Ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich prächtig, als ich das Café verließ. Als die Tage vergingen und mein einundvierzigster Geburtstag näher rückte, gewann die memoriale Bemerkung des weißen Engels eine unheilvolle Bedeutung. »Ich möchte mit dir über deinen Tod sprechen.« Eine seltsame Melodie hatte diese Worte begleitet; sie hörten sich fast so an, als seien sie von einem Kind gesungen worden. Man stellt sich den Todesengel groß und finster vor. Und wenn er statt dessen als reines, weißes und unschuldiges Geschöpf kommt, das überhaupt nicht ahnt, mit welchem Schrecken es die betreffenden Menschen heimsucht? Doch in meinem Fall hatte das Geschöpf Bescheid gewußt. Deshalb hatte es den Arm bewegt, mich mit dem weißen Gewand berührt und mir diese Ekstase geschenkt. Zum erstenmal hatten die Besucher damit versucht, mich von Angst zu befreien. Oder hatte mich der Todesengel besucht? Versuchte -83-
ich, eine völlig unverständliche Erfahrung zu verarbeiten, indem ich ihr eine selbst geschaffene Bedeutungsstruktur verlieh? Konfrontation mit dem Tod und die Notwendigkeit, ein Opfer zu bringen - von alten Religionen verwendete Weihe-Rituale. Vielleicht hatte Dora Ruffner in diesem Punkt recht, soweit es meine Erlebnisse betraf. Sie vermutete, daß meine Erfahrungen vielleicht eine Art Einleitung darstellten und mich auf eine Reise in die Unterwelt vorbereiten sollten. Möglicherweise erwartete mich in drei Monaten ein überwältigendes Erlebnis, das zumindest einige meiner Fragen beantworten würde. Ich sollte ebenso mit dem Tod konfrontiert werden wie die schamanischen Novizen in prähistorischer Vergangenheit. Zwei Reisen wegen meiner Mutter - und ich konnte nur eine überleben. Ich wagte es nicht, mir über die andere Gedanken zu machen. Statt dessen dachte ich lange und gründlich darüber nach, was mit mir geschah. Es ging nicht nur darum, ob die Besucher tatsächlich existierten. Die Frage lautete vielmehr: Wie gut funktionierten ihre prophetischen Fähigkeiten? Manche Menschen glauben, daß ich paranormale Phänomene erlebe oder mir alles nur einbilde. Nun, das Fremde hat keinen inneren Ursprung, und die Bezeichnung paranormal bleibt ohne Inhalt für mich. Es gibt nur ein Kontinuum des Sonderbaren, und ein Teil davon manifestiert sich in der uns vertrauten Welt. Irgendeine unbekannte Erscheinung oder eine ganze Gruppe von Erscheinungen verursachte meine Wahrnehmungen. Ich halte die Begegnungen mit den Besuchern nicht für ›paranormal‹. Dies würde bedeuten, daß die Suche nach Erklärungen und Verstehen vergeblich sein muß. Ich dachte an die Götter der Antike, an jene Heimsuchungen und Erscheinungen, die - zusammen genommen - einen großen Teil unserer religiösen Erfahrung ausmachen. Sie haben unseren Glauben und praktisch alle religiösen Traditionen geprägt. -84-
Das Wesen in Weiß, das auf meiner Bettkante saß und über den Tod mit mir sprach - vielleicht repräsentierte es die stärkste und mächtigste all jener Kräfte, die unser Denken und Empfinden formten. Ein Engel in meinem Schlafzimmer...
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VERKLÄRTE NACHT An meinem Geburtstag am 13. Juni veranstalteten wir eine kleine Party. Anne, Andrew und ich waren zugegen; John Gliedman und Margot Adler kamen zum Essen. Andrew schenkte mir ein altes Radio, ein RCA-Gerät von 1937. Während der Party schalteten wir es ein und wählten die Frequenz eines New Yorker Senders, der Swing bringt. Inzwischen schoben sich die möglichen Beziehungen mit den Besuchern immer mehr in den Fokus meiner Aufmerksamkeit. Es genügte nicht mehr, sie zurückzuweisen oder zu wünschen, daß sie aufhörten, mein Leben zu beeinflussen. Ich erinnerte mich an die Weisheit und den Humor, die ich am 1. April erlebt hatte, und an die Bemerkungen meines Sohnes nach seinem vermutlichen Kontakt mit den fremden Wesen. Davor durfte ich nicht länger die Augen verschließen. Im Juni 1986 reifte die Entscheidung in mir heran, mich nicht mehr auf völlige Passivität zu beschränken, sondern den Besuchern auf halbem Weg entgegenzugehen. Ich hatte keine Ahnung, wie schwer - wie unglaublich schwer - es sein würde, diesen Beschluß in die Tat umzusetzen. Unsere kleine Party endete mit einem Kuchen. Andrew ging kurze Zeit später zu Bett, und wir anderen sprachen über die Besucher. Es wäre eine Untertreibung zu sagen, daß Die Besucher John und Margot beunruhigt hatte. Als Psychologe reagierte John mit großer Faszination auf das Fenster, das sich für einen sehr ungewöhnlichen Aspekt des menschlichen Verhaltens geöffnete hatte. Margot wollte die ganze Angelegenheit belächeln, aber dazu sah sie sich außerstande - weil sie spürte, daß ich nicht log. Sie und John hatten mein Manuskript gelesen, und durch ihre Hilfe vermied ich den Fehler, anzunehmen, es mit Besuchern -86-
von einem anderen Planeten zu tun zu haben. Wenn ich tatsächlich so verrückt sein sollte, Die Besucher zu veröffentlichen, so rieten sie mir wie Anne, die Frage nach der Herkunft offenzulassen. Während des Gesprächs bemerkte ich, daß mich eine physische Veränderung erfaßte. Ich empfand ein starkes Prickeln. Es fühlte sich angenehm an, und ich machte mir deshalb keine Sorgen, entsann mich aber vage daran, daß ich es schon einmal gespürt hatte. Ich dachte nicht genau genug darüber nach, um zu begreifen, daß sich solche Gefühle häufig einstellen, wenn Besucher in der Nähe weilen. Als ich an dem Radio vorbeiging, geschah etwas Seltsames. Die beleuchtete Einstellskala blitzte plötzlich auf, und die Lautstärke nahm jäh zu. Dann schaltete sich das Radio ab. Die aus dem Lautsprecher dringenden Geräusche verstummten nicht einfach: Nur der Knopf drehte sich, und ich hörte ein deutliches Klicken. John Gliedman stand in der Nähe und teilte mein Erlebnis. Er stieß einen überraschten Schrei aus. Kurz darauf lachten wir alle und vermuteten, daß es sich um ein klassisches Beispiel jenes falsch verstandenen Phänomens handelte, über das wir am Tisch gesprochen hatten. Bei der späteren Reparatur des Radios stellte sich heraus, daß die Knopfachse gebrochen war, wodurch das Gerät nicht mehr eingeschaltet werden konnte. Es lag also kein elektronischer Defekt vor, sondern ein mechanischer. Der Schalter hatte sich so heftig nach links gedreht, daß er brach. Das Prickeln hielt auch nach dem Ende der Party an, aber zu den nächsten sonderbaren Ereignissen kam es erst spät am Abend. Meistens bleibe ich ziemlich lange auf, und da ich an diesem Abend nichts zu lesen hatte, beschloß ich, mir einen alten Film im Fernsehen anzusehen. Ich schaltete den Apparat mit der Fernbedienung ein und ging die einzelnen Kanäle durch. Beim gebührenfreien Kabelkanal fiel mir etwas Seltsames auf: Ich beobachtete verdrehte Körper, und einige Sekunden lang -87-
wußte ich nicht, was die Darstellung bedeutete. Dann dämmerte es mir: Mein Blick fiel auf eine abscheuliche Perversion, bei der man auch Folter in Anwendung brachte. Unmittelbar darauf hörte ich eine laute Stimme im rechten Ohr. »Das gefällt uns nicht!« Tief in mir verkrampfte sich etwas, und die Mattscheibe wurde dunkel. Der Fernseher hatte sich nicht mit der Fernbedienung ausgeschaltet - ich mußte den Hauptschalter betätigen, um mir wieder ein Programm ansehen zu können. Dafür gab es eigentlich nur zwei Erklärungen: Entweder hatte jemand den Stecker gezogen, oder die Taste am Gerät gedrückt. Ein Stromausfall kam nicht in Frage; ich hatte kein Flackern des Lichts beobachtet. So etwas war noch nie zuvor mit unserem Fernseher geschehen, und es hat sich seitdem nicht wiederholt. Im Gegensatz zum Radio wies der Apparat keine Defekte auf. Ein spukender Fernseher mochte unheimlich genug sein, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was sich einige Wochen später ereignete. Am 5. Juli befanden wir uns wieder in der Blockhütte. Das Fest des 4. Juli fiel auf ein Wochenende, und zu diesem Anlaß hatten sich einige Gäste eingefunden. Andrew war an jenem Morgen ins Ferienlager gebracht worden. Mitten in der Nacht weckte mich ein Brummen und Surren, das über die Hütte hinwegglitt und vor ihr verharrte. Kurz darauf vernahm ich ein dumpfes Stöhnen, das seinen Ursprung dicht vor Andrews Zimmer zu haben schien. Es folgte eine Phase der Verwirrung, als ich versuchte, aus dem Fenster zu sehen und festzustellen, woher die Geräusche stammten. Ich blickte nicht etwa aus dem vorderen Fenster, wie ich beabsichtigt hatte, sondern trat an ein Seitenfenster. Von dort aus beobachtete ich zwei große Wölfe mit glühenden Augen, die im Garten standen. Sie starrten mich argwöhnisch und furchtsam an und verschwanden dann im dunklen Wald auf der anderen -88-
Seite der Straße. Ich gewann den merkwürdigen Eindruck, daß man sie ›hinausgelassen‹ hatte. Während der Nacht träumte ich davon, wie sie den Wald durchstreiften. Erstaunlicherweise spürte ich nicht die geringste Aufregung, ging wieder zu Bett und vergaß das Geräusch vor der Hütte. Ich erinnere mich sogar an vage Zufriedenheit darüber, daß es in den Catskills wieder Wölfe gab. Doch am nächsten Morgen wurde mir klar, daß im Umkreis von fünfhundert Meilen überhaupt keine derartigen Tiere existierten. Wölfe liegen mir sehr am Herzen, und zwei prächtige Exemplare an einem Ort zu sehen, wo diese Spezies seit Jahrhunderten ausgestorben ist, lenkte mich von den Ereignissen vor der Blockhütte ab. Was war geschehen? Vielleicht war ein Flugapparat der Besucher gelandet, und die Insassen nutzten mein Interesse an Wölfen, um mich geistig zu manipulieren und zu verhindern, daß ich sie bemerkte. Aber ist das die einzige mögliche Schlußfolgerung? Nein, sicher nicht. Am 26. Januar 1988 schrieb mir eine Leserin und schilderte Kindheitserinnerungen an einen kleinen Mann, der einen großen Kopf sowie ledrige Haut hatte und ›blaue Overalls‹ trug. Dieses Bild war mir natürlich aufgrund meiner eigenen Beobachtungen vertraut. Als Kind hatte die Frau auch einen Alptraum gehabt, in dem ihr eine ›große weiße Eule‹ am Fenster erschienen war. Darüber hinaus träumte sie von einem ›Rudel weißer Wölfe, die im Dunkeln glühten‹. Die Leserin führte beide Träume im Zusammenhang mit möglichen BesucherBegegnungen an. Sie konnte unmöglich von meiner WolfsVision gewußt, haben, da ich nichts darüber geschrieben hatte. Die Lektüre von Die Besucher hatte sie nur darauf hingewiesen, daß Eulen-Symbolik mit den Besuchern in Verbindung steht. Es verblüffte mich, daß sie mit diesen Bildern in einem Haus -89-
konfrontiert wurde, das kaum zehn Meilen von meiner Blockhütte entfernt ist. Ich habe keine weiteren Briefe bekommen, in denen Wölfe Erwähnung fanden, und ich kenne auch keine anderen Kontaktpersonen, denen sich derartige Visionen darboten. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, es sei eine ganz persönliche Wahrnehmung. Doch jetzt wußte ich, daß sie jemand mit mir teilte, und zwar ebenfalls im Kontext einer Besucher-Erfahrung. Außerdem: als die betreffende Person das Wolfsrudel sah, lebte sie in der Nähe meines gegenwärtigen Wohnsitzes. Bestimmt steckte mehr dahinter als nur ein Zufall. Ich wurde neugierig. Man ist versucht, über eine parallele Realität zu spekulieren, die manchmal in unsere Wirklichkeit übergreift. Vielleicht besitzen die Bewohner einer Parallelwelt eine Technologie, die es ihnen ermöglicht, zwischen beiden Welten hin und her zu wechseln und dabei ihre Tiere mitzunehmen - es sei denn, die Leserin und ich sahen tatsächlich einige ausgestorbene Wölfe der Catskills. Am nächsten Morgen erzählte einer der Gäste - offenbar hatten ihn meine Schritte im Raum über seinem Schlafzimmer geweckt -, er habe rosarotes Licht hinter den geschlossenen Jalousien gesehen. Es erschien ihm sonderbar, aber bevor er aufstehen und nach draußen sehen konnte, fiel er in einen tiefen Schlaf. Ich nehme an, daß tatsächlich etwas zur Hütte kam, aus unerfindlichen Gründen stöhnte, ir gendwelche Aktivitäten entfaltete und wieder verschwand. Dann kam die Nacht des 18. Juli. Weil uns Andrew keine Gesellschaft leistete, war es im Haus wesentlich ruhiger als sonst - normalerweise hört man immer Kinderstimmen. Tagsüber hatte ich das starke und beunruhigende Gefühl, daß man mich fortbringen würde. Dieses Empfinden gewann eine -90-
solche Intensität, daß es stundenlang meine Gedanken beherrschte. Ich glaubte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um die Besucher berühren zu können und ging sogar so weit, Anne eine kurze Nachricht zu schreiben, in der ich sie bat, sich keine Sorgen zu machen, wenn sie am nächsten Morgen vergeblich nach mir suchen sollte. An jenem Abend gingen wir ins Kino und sahen uns Roman Polanskis Piraten an. Anschließend fuhren wir nach Hause und gingen zu Bett, ohne daß es zu irgendwelchen Zwischenfällen kam. Anne las ein Buch, schlief jedoch schon nach wenigen Minuten ein. Ich konzentrierte mich auf Joseph Campbells Occidental Mythology und blieb noch etwas länger wach. Gegen halb zwölf schaltete ich das Licht aus, zog die Steppdecke hoch und schloß die Augen. Praktisch sofort hörte ich ein Rascheln in der Nähe. Es war ein sehr leises Geräusch, so als sänken Laken langsam herab. Als es nicht verklang, dachte ich, daß sich vielleicht eine Maus im Zimmer befände und nun über die Bettdecke kroch. Ich hob die Lider. Der Anblick verwirrte mich. Zuerst sah ich meine Hände direkt vor mir, und sie schienen zur Decke zu zeigen. Die Ärmel des Schlafanzugs reichten noch immer bis zu den Handgelenken. Die Zimmerdecke hatte sich verändert. Sie besteht aus Kiefernholz, steigt zur Mitte hin nach oben an und folgt damit der Schräge des Dachs. Doch jetzt wirkte sie völlig flach. Die Bretter waren nicht mehr zehn Zentimeter breit, sondern mindestens zwanzig. Und außerdem schien eine große rechteckige Vorrichtung an ihnen befestigt zu sein. Ich war vollkommen desorientiert. Eben noch hatte ich im Bett gelegen und ein leises Rascheln gehört. Als ich daraufhin die Augen öffnete, fand ich mich in einer so seltsamen Situation wieder, -91-
daß es mir die Sprache verschlug. Ich blieb reglos liegen und betrachtete die Szene. Nach einigen Sekunden begriff ich, daß eine Frau an der großen rechteckigen Vorrichtung klebte. Ich hatte das schreckliche Gefühl, daß sie in der nächsten Sekunde auf mich herabfallen würde. Dann bemerkte ich eine Steppdecke und Laken. Unsere Decke, unsere Laken. Neben der Frau zeigte sich eine leere Stelle. Damit war das Rätsel gelöst. Ich sah unser Bett, und die Frau hieß Anne. Neben dem Bett stand ein Tisch mit Objekten, die ich nun wiedererkannte: eine Lampe, das Radio, ein Buch. Ich stellte mich der Erkenntnis, daß ich nicht länger im Bett lag. Aber was war geschehen? Befand sich das Bett nun an der Decke, oder...? Plötzlich wurde mir klar, daß ich die Zimmerdecke unter dem Rücken spürte. Irgend etwas hatte mich hochgezogen. Sofort versuchte ich, Annes Namen zu rufen, sie zu wecken. Aber ich brachte nur eine Art Flüstern hervor. Meine Stimmbänder funktionierten nicht richtig. Ich zischte und ächzte, aber Anne schlief tief und fest - sie hörte mich nicht. Ich stieg noch höher, schwebte direkt in die Decke hinein, und aus den Augenwinkeln nahm ich ein fast blendend helles Licht wahr. In mehreren Phasen glitt ich nach oben, und jedesmal verwandelte sich das Holz um mich herum in einen warmen Wind. Das helle Licht flutete mir entgegen, schien mich von den Seiten und von oben zu umhüllen, meine Gestalt aufzulösen. Gleichzeitig wirkte das Strahlen dicht - es hatte die Konsistenz von Wasser. Und es wurde noch heller. Es weckte Empfindungen im Herzen wie Wahrheit: ein überwältigendes, wundervolles, schmerzhaftes Glänzen. -92-
Darüber hinaus spürte ich, daß sich Personen in meiner Nähe aufhielten, aber ich konnte sie nicht sehen. Ich wollte mich bewegen, doch irgend etwas setzte mir immer stärkeren Widerstand entgegen, lähmte Arme und Beine, auch den Torso. Die einzige motorische Kontrolle, die mir noch blieb, beschränkte sich auf das Gesicht. Kurze Zeit später sank ich in einer langen Spirale zum Bett zurück und landete weich. Es wiederholte sich etwas, das offenbar zu solchen Erlebnissen gehört: Anstatt meine Frau zu wecken und ihr aufgeregt zu erzählen, was gerade geschehen war, schloß ich die Augen und schlief sofort ein. Ich erinnere mich an normalen, ungestörten Schlaf. Ich bin nicht bewußtlos gewesen, als sich all dies ereignete. Ich habe auch nicht geschlafen. Es folgten weder Amnesie noch Benommenheit. In aller Deutlichkeit erinnerte ich mich daran, daß ich zur Decke schwebte, dort eine Zeitlang blieb und dann zum Bett zurückkehrte. Aber so etwas war schlicht unmöglich. Man schwebt nicht einfach durchs Zimmer. Ich möchte hier keineswegs dafür eintreten, daß so etwas geschehen kann. Es geht mir nur um folgende Feststellung: Ich habe genau das beschrieben, was ich wahrnahm. Selbst am nächsten Morgen spürte ich nicht mein normales Gewicht. Wenn ich einen Fuß vor den anderen setzte, hatte ich das Gefühl, jederzeit abheben zu können. Während ich Anne davon erzählte, fand ich heraus, daß dem Vorfall eine ganz andere Dimension zukam. Als mir meine Frau Fragen stellte, hörte ich, wie eine leise, aber recht deutliche Stimme an meinem rechten Ohr antwortete. Ich gebe den ursprünglichen Dialog hier so wieder, wie ich mich an ihn erinnere. Anne: »Warum seid ihr hierher gekommen?« Stimme: »Wir sahen ein Glühen.« Anne: »Warum tut ihr Whitley dies an?« -93-
Stimme: »Es ist Zeit.« Anne: »Woher kommt ihr?« Stimme: »Von überall.« Anne: »Was ist die Erde?« Stimme: »Eine Schule.« Danach veränderte sich die Stimme. Sie klang nicht mehr absolut akustisch, so als dringe sie aus einem kleinen Lautsprecher rechts von meinem Kopf, sondern bekam einen ausgeprägten telepathischen Aspekt. Ich vermute, mir erging es nun ebenso wie Medien, die ›Stimmen‹ hören. Über einen langen Zeitraum hinweg war so etwas integraler Bestandteil unserer Kultur und Zivilisation. Während der Antike gehörte das Hören körperloser Stimmen zum alltäglichen Leben. Die Orakel von Delphi und anderen Orten in der antiken Welt lassen sich als Empfänger von Signalen bezeichnen, die Antworten auf die Fragen von Bittstellern übermittelten. Die Intellektuellen jener Epoche strebten Kontakte mit dem Logos an und hielten die entsprechende Stimme für Wahrheit in absoluter Form. Durch Verbindungen mit dem Logos entwickelte die Antike das philosophische Fundament, das sie mit Leben erfüllte und ihr Bedeutung verlieh. Darüber hinaus manifestierte sich der Logos häufig im wahrsten Sinne des Wortes als eine ›Stimme im Kopf‹. Als sich das Christentum ausbreitete, erstarb die Stimme und erlangte nur gelegentlich in Form von Wundern neues Leben. Gemeint sind hier die Stimmen, die sich der heiligen Johanna von Orléans mitteilten, sowie die von der angeblichen Muttergottes in Lourdes und Fatima verkündeten Botschaften. Andere und persönlichere Ratgeber - zum Beispiel Philemon, an den sich C. G. Jung während seiner Meditationen wandte haben eine große Rolle in der modernen Kultur gespielt. Die Stimme, die ich hörte - und das gilt auch für die -94-
Wahrnehmungen der heutigen Medien -, ging also auf eine lange und erhabene menschliche Tradition zurück. Ich betone dies extra, um auf folgendes hinzuweisen: Selbst an diesem Höhepunkt perzeptiver Fremdartigkeit bewegte ich mich noch immer im Rahmen einer wohlbekannten menschlichen Erfahrung. Auch das Phänomen der Lévitation blickt auf eine lange Geschichte zurück. Seit einiger Zeit wird physisches Schweben mit einigen Fällen von UFO-Kontakten in Verbindung gebracht. Besonders bekannt ist der des anonymen französischen Arztes ›Dr. X‹ aus Südfrankreich. Am Abend des 1. November war Dr. X zu Hause und sah zwei UFOs. Er erlebte, wie zwei Wunden geheilt wurden und an seinem Unterleib ein dreieckiger Ausschlag entstand, ebenso wie am Bauch seines anderthalbjährigen Sohns. Später sammelte er zahlreiche Erfahrungen mit Telepathie, beeinflußte Uhren und - wie auch ich - elektrische Schaltkreise. Hinzu kam mindestens ein Levitationsphänomen. Noch heute stellt Dr. X fest, daß der dreieckige Hautausschlag gelegentlich zurückkehrt. Er ist gründlich von Dermatologen untersucht worden, und niemand hat eine Erklärung dafür. Abgesehen von dem Ausschlag sind unsere Symptome praktisch identisch. Im Januar 1988 lernte ich eine Frau kennen, die ebenfalls Kontakte mit Besuchern hatte und in meiner Nachbarschaft in Manhattan wohnt. Beim Mittagessen sprachen wir über unsere Erfahrungen. Als sie ihre anfängliche Unsicherheit überwunden hatte, erzählte sie mir von ihrem seltsamen Erlebnis in bezug auf die Begegnungen mit den fremden Wesen. »Ich bin geflogen«, sagte sie fast trotzig. »Und ich habe es mir nicht eingebildet.« Zwei Monate später hatte eine andere Frau ein Levitationserlebnis, das starke Parallelen zu meinem aufweist. Auch sie schlief nicht, als es begann. Sie schwebte zur Decke -95-
des Schlafzimmers empor und drehte sich, bis die Füße zum Fenster zeigten, und dann folgte eine Stunde absoluter Finsternis. Als sie das Bewußtsein wiedererlangte, kehrte sie ins Bett zurück. Verzweifelt versuchte sie, ihren Mann zu wecken, aber sie schaffte es nicht. Ihre nächste klare Erinnerung betrifft den Morgen. Ungefähr eine Woche vor diesem Ereignis traf ich ihren Mann beim Abendessen, und ich war erstaunt von der Mischung aus Faszination und Furcht, mit der er auf die Besucher reagierte. Aus irgendeinem Grund überraschte es mich nicht sonderlich, daß auch er und seine Frau mit den fremden Wesen konfrontiert wurden. Ich lernte, Schilderungen von Levitationserfahrungen nicht einfach als absurd abzulehnen. Vielleicht stellen die Besucher eine große Macht dar, vielleicht gehen ihre wissenschaftlichen Kenntnisse weit über die Grenzen unseres Verstehens hinaus. Ich fand auch heraus, daß sich Lévitation nicht nur auf Personen beschränkt, die sich an Kontakte mit den Besuchern erinnern. Einem sehr frommen jungen Mann, dem heiligen Joseph von Cupertino (1603-1660), war es möglich, frei in der Luft zu schweben, meistens während der Messe. Er war ein religiöser Fanatiker - schon in seiner Jugend trug er härene Hemden und gab sich der Selbstgeißelung hin. Im Jahr 1625 wurde er Franziskaner, und kurz darauf begann er immer öfter zu fliegen. Einmal schwebte er im Verlauf einer Messe über den Altar und flog so dicht über die Kerzen hinweg, daß sie sein Gewand in Brand setzten. Die kirchlichen Vorgesetzten nahmen dieses unerquickliche Ereignis zum Anlaß, ihm fünfunddreißig Jahre lang zu verbieten, bei öffentlichen Messen zu erscheinen. Seine späteren Erfahrungen mit Altarkerzen waren weniger traumatisch: Nach der ersten Katastrophe blieben die Flammen ohne Wirkung auf ihn, obwohl er sie beim Schweben manchmal berührte. Einmal flog er in den Wipfel eines Olivenbaums und rief um Hilfe, weil er nicht allein auf den Boden zurückkehren -96-
konnte. Josephs Levitationen wurden von vielen Personen beobachtet, unter anderem auch von Papst Urban VIII. Er starb einen friedlichen Tod als greiser Mann, und die katholische Kirche war umsichtig genug, ihn zum Schutzheiligen aller Flugreisenden zu erklären. Auch die heilige Theresia von Avila schwebte oft umher. Sie beschrieb ihre Erlebnisse als ›starke Kraft‹, von der sie nach oben gezogen werde. Da sie nicht viel vom Fliegen hielt, bat sie die anderen Nonnen, sie während ihrer Anfälle festzuhalten. Doch oft stieg sie auf, bevor jemand eingreifen konnte. In Levitationsberichten erscheinen die Namen von insgesamt über hundert katholischen Heiligen. Meine eigenen Erfahrungen deuten darauf hin, daß manchmal auch Sünder fliegen. Während des neunzehnten Jahrhunderts verblüffte ein umstrittenes Medium namens Daniel Douglas Home viele Männer der Wissenschaft mit seinen erstaunlichen Levitationskünsten. Einmal schwebte er in der Anwesenheit vieler Zeugen aus einem Fenster und kehrte durch ein anderes zurück - leider sah ihn niemand, während er sich draußen befand. Vielleicht ›flog‹ er an einem Sims entlang. Homes Levitationen führten zu vielen Kontroversen. Das britische satirische Magazin Punch verspottete sie, einige Wissenschaftler sprachen von Halluzinationen, andere von Schwindel. An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, daß Home sein Levitationsgeschick auch vor dem französischen Kaiserpaar demonstrierte, dabei jedoch auf völliger Dunkelheit bestand. Die Majestäten waren überzeugt, als die Kaiserin nach oben griff und Mr. Homes Schuh etwa dreißig Zentimeter über ihrem Kopf berührte. Nun, ich bin weitaus skeptischer. Meine Lévitation erschien mir völlig real. Sie hatte tatsächlich stattgefunden. Es gab keine andere Erklärung. Und doch: Es handelte sich um Lévitation. Wie konnte so etwas möglich sein? -97-
Ganz gleich, was in jener Nacht mit mir geschah: Ich sah mich dabei erneut der erstaunlichen und verblüffenden Kraft gegenüber, die der Menschheit bereits viele ungeklärte Erscheinungen beschert hat. Das Spektrum reicht von den Visionen des Apollon in Delphi bis hin zu dem großen UFO, das der japanische Pilot Kenjyu Terauchi und die Besatzung seiner Maschine in der Nacht des 17. November 1986 bei Anchorage sahen. Jene Kraft ließ mich schweben, um weiterhin zu versuchen, meinen Glauben an das akzeptierte Paradigma der Realität zu zerstören. Und sie war auf dem besten Wege, einen Erfolg zu erzielen. Man stellte irgend etwas mit mir an - etwas, das von einer sehr realen Naturkraft verursacht wurde. Als auslösender Faktor kamen die hochentwickelte Technologie der Besucher oder andere Ursachen in Frage. Es handelte sich nicht um ein ›paranormales‹ Erlebnis, sondern nur um ein ungewöhnliches; wie alle unsere Erfahrungen stammt es aus dem Kontinuum des Möglichen, das die Welt bestimmt. Am Morgen nach der Lévitation hatte ich das starke Gefühl einer nahen Besucherpräsenz. Während die ›radioartige‹ Stimme Annes Fragen beantwortete, konnte man den unmittelbaren Eindruck gewinnen, daß die fremden Wesen bei uns im Zimmer waren. Anne stellte auch weiterhin Fragen, als die Stimme verklungen war. Die Antworten kamen nun in Form eines leisen Flüsterns hinter meiner Stirn. Etwas später begaben wir uns in den Ort, um Lebensmittel zu kaufen. Anne nutzte die Hin- und Rückfahrt, um mir weitere Fragen zu stellen. Es war ein herrlicher Sommertag, und während ich den Wagen über die Straße steuerte, entfaltete sich ein ganzes Leben vor meinem inneren Auge. Ich erinnerte mich deutlich daran, zu einer ›Kindergruppe‹ zu gehören, die sich oft in einem runden, unterirdischen Zimmer traf. Häufig brachte ich ein tiefes Schuldgefühl mit, weil ich die anderen Kinder in -98-
Versuchung geführt hatte. Aber sie spendeten mir immer Trost. Ich entsinne mich an die aufmerksamen, hin und her huschenden Gesichter der Besucher, als sie Wort für Wort sprachen und dabei meine emotionalen Reaktionen beobachteten. Sie hatten mich irgendwie für das ›Experiment‹ verändert, so daß die Resonanzen eines jeden Wortes in meinem Herzen zum Ausdruck kamen. Als ich Liebe hörte, verband sich damit Sehnsucht nach Mutter, Vater, meiner Schwester, den Großeltern, meinen Freunden, dem Hund Cancy, unseren Katzen, den Gerüchen und dem Anblick unseres Hauses. Feuer hingegen weckte schreckliche Vorstellungen: Ich verbrannte, war in brennenden Zimmern gefangen, sah die züngelnden Flammen des Todes und so weiter... Vielleicht wurde damals eine Aufzeichnung von mir angefertigt. Wenn ich mich heute daran erinnere, scheint es sich um einen bemerkenswert wirkungsvollen Test in bezug auf meine Persönlichkeit und meine Reaktionen zu handeln. Darüber hinaus entwickelte ich dadurch eine ausgeprägte Affinität zu Worten. Für mich sind Worte immer sehr mächtige Talismane gewesen und nicht nur ein Mittel, um Informationen zu übertragen. Vielleicht geht dieses Empfinden auf jene Erfahrung zurück. Vielleicht gilt das auch für meine Karriere als Schriftsteller und die Bücher über die Besucher. Am Nachmittag kehrten wir zur Blockhütte zurück und verstauten die eingekauften Lebensmittel. Ich fühlte eine Mischung aus Freude und Erleichterung. Zum erstenmal hatte ich klare und detaillierte Erinnerungen an meine Kindheit. Bisher war ich von einigen wenigen, eher sporadischen Kontakten mit den Besuchern ausgegangen, doch nun begann ich zu begreifen, praktisch ein Doppelleben geführt zu haben. Ich fragte mich, ob meine Erinnerungen etwas Besonderes widerspiegelten, das nur mir und wenigen anderen Personen widerfahren war - oder ob ich auf diese Weise eine allgemeinere -99-
menschliche Erfahrung verarbeitete. Wir nahmen das Essen neben dem Swimmingpool ein, genossen den herrlichen Abend des warmen Sommertages und beobachteten, wie die ersten Sterne erschienen. Ich dachte daran, daß man mir die Freiheit gegeben hatte, mich an geradezu unvorstellbare Dinge zu erinnern. Sie erlaubten mir, die Natur unseres Lebens und der Welt aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen. Die Nacht der Sterne und Schatten war verklärt. Ich betrachtete keine Sterne mehr, die gewohnte Konstellationen bildeten, oder Planeten, die auf festgelegten Bahnen durchs All reisten. Statt dessen stellte ich mir ein Bewußtsein vor, das frei durchs Universum flog. Vielleicht erzeugt das Gehirn den Stoff der Gedanken und Gefühle nicht selbst. Vielleicht stammt er aus einer anderen Quelle, so wie das Feuer, das Prometheus von einem erhabenen Ort holte. Vielleicht ist er ein Geschenk der Besucher. Wenn das zutrifft, so wissen sie zweifellos viel mehr über uns als wir selbst. Zumindest in einer Hinsicht haben sie Kenntnisse, die wir - noch? - nicht teilen. Sie betreffen die wahre Struktur des Plans, der unser Leben betrifft.
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VERGESSENE SOMMER Im Laufe der Tage fielen mir andere Einzelheiten meiner Vergangenheit ein. Als mich Dr. Donald Klein am 5. März 1986 hypnotisiert hatte, kam es zu einem Erinnerungssprung. Ich entsann mich nicht nur daran, am 26. Dezember 1985 Besuchern begegnet zu sein, sondern erwähnte auch identische Wesen, die ich im Sommer 1957 gesehen hatte. Der Arzt teilte mir mit, daß die Opfer von Kindesmißhandlungen häufig spontane Erinnerungswechsel erleben, die sie emotional zu einem früheren und längst vergessenen schrecklichen Erlebnis zurückführen. So etwas geschieht dann, wenn in beiden Fällen die gleiche Person für das Trauma verantwortlich ist. Ich wußte nichts von diesem Effekt, als es bei mir zu dem memorialen Rücksprung kam. Die plötzliche Erinnerung an jenen lange zurückliegenden Sommer überraschte mich ebenso wie den Doktor. Nun, die Erklärung liegt auf der Hand: Das Wesen, dem ich am 26. Dezember 1985 begegnete, war mit dem identisch, das ich achtundzwanzig Jahre früher gesehen hatte. Wie war meine Vergangenheit wirklich gewesen? Was hatte ich damals erlebt? Ich versuchte, diese beiden Fragen zu beantworten, aber es fiel mir nicht leicht. Seit jenen Sommern ist rund ein Vierteljahrhundert vergangen, und ich versuchte jetzt zum erstenmal, mich an einzelne Tage und Stunden zu erinnern. Nach der Hypnosesitzung konzentrierte ich mich darauf, die einzelnen Teile dieses Puzzles zusammenzusetzen, und ich glaube, ich bin dabei relativ erfolgreich gewesen. Die Ergebnisse habe ich in Die Besucher beschrieben. Ich wußte nicht, was sich damals tatsächlich ereignete. Das ganze Ausmaß der Beziehungen zu den Besuchern entzog sich meiner Vorstellungskraft. Das Erinnerungsbild der Kindergruppe - es gewann erst nach der Fertigstellung von Die -101-
Besucher klare Bedeutung - ließ vermuten, daß es noch weitaus mehr gab, als ich bis dahin angenommen hatte. Es war nur eine kurze Szene, aber sie wirkte erstaunlich real. Während der Zusammenkünfte saß ich in einem Kreis aus zehn oder zwölf Kindern. Wir trafen uns in einem runden Zimmer. Für gewöhnlich fühlte ich mich ausgesprochen schuldig und spürte den Drang, mich bei den anderen Kindern zu entschuldigen. Einige von ihnen fürchteten sich sehr. Leider entsann ich mich an nichts anderes. Vergeblich suchte ich nach Worten oder Gesten, nach Hinweisen auf die Präsenz von Besuchern. Es frustrierte und verärgerte mich, daß mir ein großer Teil meiner eigenen Vergangenheit verborgen blieb. Vor dem inneren Auge beobachtete ich zahllose Bilder. Sie zeigten mir Streiflichter eines normalen Lebens und fragmentarische Beispiele für die Gegenwart der Besucher. Hinzu kamen viele Schirmerinnerungen, die mich von furchtgeprägten Reminiszenzen isolierten. Es wäre sicher eine große Hilfe gewesen, zwischen echten und falschen Erinnerungen unterscheiden zu können, aber mir fehlte ein Maßstab, der sichere Beurteilungen ermöglichte. Das Gedächtnis ist ein sonderbares und noch weitgehend rätselhaftes geistiges Phänomen. Offenbar speichert das Bewußtsein Erinnerungen aufeinander. Wenn sie älter werden, sinken einige von ihnen tief in die dunkle, formgebende Substanz des Selbst, und andere verschwinden einfach. Während mancher Gehirnoperationen erleben die Patienten bemerkenswert lebhafte Erinnerungen an die ferne Vergangenheit, das darauf hindeutet, daß irgendwo die ganze individuelle Existenz wie in Bernstein gefangen liegt. Außerdem kann einem das Erinnerungsvermögen die seltsamsten Streiche spielen. Ich habe einmal von einer Frau gelesen, die unter Hypnose genaue Erinnerungen schilderte, die -102-
man schließlich auf einen historischen Roman zurückführte, der zur Büchersammlung der Tante gehört hatte. Als Kind hatte die Frau nur kurz darin geblättert und den Inhalt auf einer unterbewußten Ebene erfaßt. Darüber hinaus neigt das Bewußtsein dazu, traumatische oder unverständliche Erinnerungen in den Mantel der Amnesie zu hüllen. Opfer von Vergewaltigungen oder Kindesmißhandlungen müssen oft hypnotisiert werden, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich an die schrecklichen Vorfälle zu erinnern. Wenn sich das traumatische Ereignis über einen langen Zeitraum hinweg häufig wiederholt, reicht Amnesie als Verdrängung nicht aus. In dem Fall entsteht eine falsche ›Erinnerung‹, die den Platz der echten einnimmt deshalb spreche ich in diesem Zusammenhang von Schirmerinnerungen. Gerade bei Kindesmißhandlungen treffen Psychologen und Psychiater häufig auf diese geistige Schutzreaktion. Vermutlich hatte ich viele Schirmerinnerungen, aber unglücklicherweise sah ich mich außerstande, den Unterschied zwischen falschen und echten Gedächtnisinhalten zu erkennen. Wodurch zeichnete sich eine Schirmerinnerung aus? Durch ein besonderes Gefühl? Durch andere Farben? Oder waren sie ebenso beschaffen wie reale Erinnerungen? Ich suchte nach Anhaltspunkten, nach Bestätigungen von Zeugen, nach Splittern sicheren Wissens, um das Geheimnis meiner Vergangenheit zu lüften. Stellte mein ganzes Leben eine Schirmerinnerung dar? Ich war bereit zu glauben, daß mir die Besucher schon seit vielen Jahren des Nachts Gesellschaft leisteten - so fühlte es sich jedenfalls an. Aber es gab ein Ereignis, das mich vielleicht in die Lage versetzte, zwischen Schirmerinnerungen und realen Reminiszenzen zu unterscheiden. -103-
In Die Besucher schrieb ich entgegen meiner früheren Annahme, daß ich mich nicht auf dem Campus der Universität von Texas befunden hatte, als der Massenmörder Charles Whitman am 1. August 1966 vom Library Tower aus das Feuer eröffnet und vierzehn Studenten erschoß. Jahrelang erinnerte ich mich daran, das Grauen unmittelbar erlebt zu haben, doch ich fand niemanden, der mich auf dem Universitätsgelände gesehen hatte. Als ich an Die Besucher arbeitete, kam ich zu dem Schluß, daß es sich um eine weitere Schirmerinnerung handelte. Meine Absicht bestand darin, in Die Besucher so ehrlich wie möglich zu sein, und deshalb behauptete ich, nicht an dem Drama teilgenommen zu haben - obgleich ich mich so deutlich daran erinnerte, daß ich die entsetzlichen Geschehnisse bei Interviews in allen Einzelheiten schilderte. Ich hätte diese Diskrepanz einfach verschweigen können, aber ich hielt es für sehr wichtig, in Die Besucher ganz offen zu sein. Der Umstand, daß meine Erinnerungen an den WhitmanZwischenfall so klar und detailliert waren, beunruhigte mich. Wenn Schirmerinnerungen so deutlich sein konnten, durfte ich nicht hoffen, das Rätsel meiner Vergangenheit zu lösen. Mit einem an Besessenheit grenzenden Eifer versuchte ich herauszufinden, wo ich gewesen war, als Whitman auf die Studenten schoß. Wenn nicht auf dem Campus wo dann? Der Zwischenfall hatte auf dem Gelände des Austin- Instituts der Universität von Texas stattgefunden, und ich stellte fest, daß ich dort nicht für den Sommerkurs registriert war. Da ich damals in San Antonio wohnte, brauchte ich einen Grund, um nach Austin zu fahren. Um Freunde zu besuchen? Um eine Prüfung abzulegen? Möglich: Mein Fernstudium dauerte schon seit zwei Jahren. Am 1. August fand ich einen Anlaß, der mich vielleicht nach Austin geführt hatte. Es war der hundertste Jahrestag von Sholtz', einer berühmten Studentenvereinigung. Möglicherweise -104-
hatte ich an der Feier teilgenommen, zusammen mit Hunderten von Studienkollege n. In einem solchen Fall müßte mich eigentlich jemand gesehen haben, doch ich fand niemanden, der meine Präsenz auf dem Campus bestätigte. Nun, ich entsann mich an einen Freund James Bryce -, der in der Tür des Gebäudes der Studentenvereinigung gestanden hatte, als der Heckenschütze angriff. Er wich zurück, als ich vorsprang und hinter einer niedrigen Mauer in Deckung ging. Ich fragte Jim, wo er während des Zwischenfalls gewesen war. Er antwortete, eine Zeitlang habe er vom Eingang aus das Geschehen auf dem Campus beobachtet ohne mich zu sehen. Er bestätigte jedoch die Richtigkeit meiner Erinnerung an ihn, was bedeutete, daß ich tatsächlich zugegen gewesen war. Außerdem gab es einen guten Grund dafür, daß sich niemand an meine Anwesenheit erinnerte: Ich hielt mich nicht lange genug auf dem Campus auf, um Freunden zu begegnen. Ich hatte den Wagen geparkt und ging gerade an dem Gebäude der Studentenvereinigung vorbei, als der Heckenschütze das Feuer eröffnete. Es war ein schreckliches, traumatisches Erlebnis. Um mich herum sanken junge Männer und Frauen zu Boden. Ich hörte die Schreie der Verwundeten und beobachtete, wie andere Studenten erschossen wurden, als sie den Verletzten zu helfen versuchten. Alles kam einem Alptraum gleich. Als Polizisten Whitmans Leiche aus dem Library Tower holten, verließ ich das Universitätsgelände mit einem tiefen Schock. Ich kehrte zu meinem Wagen zurück, stieg ein und fuhr nach San Antonio. Obgleich ich mit siebzig Meilen in der Stunde über die Straße raste, hielt ich den Kopf aus dem Seitenfenster und schrie mich heiser. Später saß ich auf der Veranda meiner Großmutter und sah mir Fernsehberichte des Massakers an. Erst als ich mit meinem Gedächtnis rang, erinnerte ich mich an diese Einzelheiten. Die unmittelbaren Ereignisse in bezug auf den Massenmord -105-
sind für mich immer völlig klar gewesen. Sie verbargen sich nie hinter einer Barriere aus Amnesie oder Schirmerinnerungen. Ich entsann mich in aller Deutlichkeit daran, konnte also sicher sein, daß es sich um ein tatsächliches Ereignis handelte, an das ich mich richtig erinnerte. Doch andere Reminiszenzen waren eher verschwommen und voller bizarrer Widersprüche. Ich nahm den Whitman-Vorfall als Orientierungspunkt in der Realität und hoffte, damit zwischen richtigen und falschen Geschehnissen in meiner Vergangenheit unterscheiden zu können. Die erste verdächtige Erinnerung reicht in den Sommer des Jahres 1947 zurück. Damals war ich gerade zwei Jahre alt. Ich befand mich auf der Veranda des Landhauses meiner Großeltern im Norden von San Antonio. Das große Gebäude stand auf einem Hügel, und die lange, breite Veranda bot einen herrlichen Ausblick. Das Haus war 1906 von meiner Urgroßmutter gebaut worden und hatte große Zimmer mit hohen Fenstern. Aufgrund der Hügellage wehte immer eine leichte, erfrischende Brise, selbst in den heißen Texas-Sommern. Ein Ort des Friedens obwohl ich diesen Aspekt als Zweijähriger wohl kaum bemerkte. Meine Erinnerungen an den Zwischenfall, um den es hier geht, sind unvollständig. Sie bilden keine kontinuierliche Szenenbeschreibung. Allerdings entsann sich auch meine Mutter zumindest teilweise an die damaligen Ereignisse; mit ihrer Hilfe konnte ich die Lücken füllen. Es war später Nachmittag, etwa fünf oder halb sechs. Die Familie saß auf der Veranda. Meine Großeltern und Eltern tranken etwas, und meine Schwester und ich spielten in ihrer Nähe. Die Veranda bestand aus Holz und verfügte nicht über ein Geländer. Der Höhenunterschied zum Vorgarten betrug gut einen Meter. Plötzlich standen alle auf, gingen ins Haus und ließen mich -106-
allein zurück. Furcht kroch in mir empor, und ich fühlte mich sehr einsam. Dann rief jemand meinen Namen, und als ich über den Vorgarten blickte, sah ich einige Gestalten, die ich für graue Affen hielt. Sie schritten über den Hügelhang und näherten sich mir. Gleichzeitig bemerkte ich eine große Scheibe am Himmel und dachte, es wäre der Mond. Dann erinnere ich mich daran, daß ich meinen Großvater beobachtete, der reglos am Fenster stand, den Kopf geneigt hielt und konzentriert zu lauschen schien. Meine Mutter meinte, sie wären ins Haus gegangen, um sich die Nachrichten anzuhören. Eine plausible Erklärung: Sie konnten praktisch jeden Sender von San Antonio empfangen. Aber warum zogen sie sich alle ins Haus zurück und nahmen meine Schwester mit, während sie riskierten, daß ich von der Veranda fiel? Meine Eltern waren sehr gewissenhaft. Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie mich einer solchen Gefahr aussetzten. Ich lief auf und ab und versuchte verzweifelt, die Aufmerksamkeit meiner Mutter zu wecken. Dann wird alles schwarz. Meine Mutter schilderte folgendes: Nach einer Weile kehrten sie alle auf die Veranda zurück und fanden mich auf dem Stuhl des Großvaters. Ich erzählte vom Mond über dem Tal, und Mutter erwiderte, der Mond sei nicht zu sehen gewesen. Das Highball- Glas meines Großvaters war leer, und die Erwachsenen vermuteten, ich hätte es ausgetrunken. Leider erinnerte sich meine Mutter nicht an das Verhalten ihres zweijährigen Sohns. Wirkte ich betrunken? Schlief ich vielleicht bis zum nächsten Morgen? Mein Großvater verwendete bei seinen Highballs das Anderthalbfache der üblichen Bourbon-Menge. Ich habe einen Kinderarzt gefragt, welche Wirkung soviel Alkohol auf einen -107-
Zweijährigen hätte. Seine Antwort lautete: Das Kind wäre ›völlig berauscht‹, litte an stark ausgeprägten motorischen Störungen und könnte sich vermutlich nicht mehr auf den Beinen halten. Hinzu käme die Neigung, auf der Stelle einzuschlafen. Der Pädiater betonte, es bestehe sogar Todesgefahr. Meine Mutter berichtete nichts von so dramatischen Folgen. Ich finde es seltsam, daß diese besondere Erinnerungssequenz sowohl graue Gestalten als auch eine schwebende Scheibe enthält. Deutete das vielleicht auf eine frühe BesucherErfahrung hin? Ich wußte es nicht. Es war außerordentlich frustrie rend, sich mit einer derartigen Erinnerung auseinanderzusetzen, ohne ihren wahren Bedeutungsinhalt erfassen zu können. Wenn ich während meines ganzen Lebens Kontakte zu den Besuchern gehabt hatte - was lag dem zugrunde? Warum hielten sich die Fremden im Verborgenen? Warum versteckten sie sich hinter meinem Bewußtsein? Daraus ließ sich nur ein Schluß ziehen: Sie benutzten mich und wollten nicht, daß ich den Grund dafür erfuhr. Diese Vorstellung bereitete mir erhebliches Unbehagen. Welche Motive lagen den Aktivitäten der Besucher zugrunde? Die Besucher war zu einem enormen Erfolg geworden und stand ganz oben auf den Bestsellerlisten. Und wenn die fremden Wesen eine Gefahr für die Menschheit darstellten? Dann verschlimmerte ich die Situation, indem ich dazu beitrug, daß wir uns an die Besucher gewöhnten. Und wenn sie gutmütig und wohlwollen waren? Dann mochte es die Mühe wert sein, sich der enorm schwierigen Aufgabe zu stellen, Zeugnis von ihnen abzulegen. Meine Verzweiflung wuchs, als ich gedanklich in die Vergangenheit zurückkehrte und nach Antworten suchte. Ich griff nicht auf Hypnose zurück, weil Dr. Klein - wie ich -108-
selbst - die Ansicht vertrat, daß sie kein zuverlässiges Werkzeug mehr war. Vielleicht begann mein Bewußtsein damit, Erinnerungslücken mit imaginären Dingen zu füllen. Der menschliche Geist bemüht sich um Amnesie, wenn er sich an etwas nicht erinnern will. Die ersten Hypnosesitzungen, als alles noch frisch gewesen war, erbrachten wahrscheinlich Ergebnisse, auf die ich mich verlassen konnte. Jetzt mußte ich damit rechnen, daß mich mein eigenes Unterbewußtsein hinters Licht führte. Ich besann mich wieder auf die Kindergruppe. Was bedeutete sie? Wo hatten die Zusammenkünfte stattgefunden? Meine ersten Erinnerungen daran stammten aus dem Herbst 1951. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich im Oktober krank wurde und wochenlang fast ständig an Erkältungen und Grippe litt. Drei Monate lang blieb ich der Schule fern, und während dieser Zeit dachte ich häufig an die Gruppe aus Kinder. Man untersuchte mich auf Mononucleosis* und ** Gammaglobulin- Mangelkrankheit . Der zweite Test mußte im Brooke General Hospital des Militärs stattfinden, weil die örtlichen zivilen Krankenhäuser nicht mit den entsprechenden Geräten ausgestattet waren. Man diagnostizierte eine Schwächung des Immunsystems, ohne daß sich der Grund dafür feststellen ließ. Nach einer Weile erholte ich mich, kehrte zur Schule zurück und vergaß die rätselhafte Krankheit. *
Mononucleosis infectiosa: eine Virusinfektion, die zu einer Hyperplasie und Hypertrophie des lymphatischen Gewebes mit charakteristischen Blutbildveränderungen führt. Erreger ist das Epstein-Barr-Virus, und die Übertragung erfolgt wahrscheinlich durch Tröpfchen- und Kontaktinfektion. - Anmerkung des Übersetzers ** Gammaglobulin-Mangelkrankheit: Die richtige Bezeichnung lautet Agammaglobulinämie, und es geht dabei um einen Mangel an Gammaglobulinen im Blut. Als diagnostischer Anhaltspunkt dient das Fehlen von B-Lymphozyten im Blut und den Organen des lymphatischen Systems. Anmerkung des Übersetzers -109-
Ich erinnerte mich daran, mehrere Kinder überredet zu haben, die Gruppe zu besuchen - und dann sah ich ihr Entsetzen. Ein Junge schrie immer wieder. Aber es gab keine Details. Ich entsann mich nicht an bestimmte Orte, Tage oder Uhrzeiten. Ich kenne zwar die Namen einiger Kinder, die damals zur Gruppe gehörten, aber bisher hat niemand von ihnen versucht, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Mein Gewissen verbietet es mir, meinerseits einen Kontakt zu ihnen herzustellen: Ich möchte auf keinen Fall ihre Erinnerungen verfälschen. Wenn ihnen eines Tages Einzelheiten der damaligen Ereignisse einfallen, so hoffe ich, daß sie mir ihre Erfahrungen mitteilen. Im Juni 1987 wandte sich eine Frau an den kanadischen Dokumentalisten David Cherniak und berichtete unter anderem davon, Mitglied einer seltsamen Kindergruppe gewesen zu sein. Ich habe mit ihr gesprochen, bin jedoch nicht sicher, ob eine gemeinsame Basis für unsere Erinnerungen existiert. Sie behauptete, mich gesehen zu haben, als sie sich in der Gesellschaft von einigen kleinen Kindern befand. Ich muß zu jenem Zeitpunkt etwa siebzehn gewesen sein, und die Frau fünf. Angeblich griff sie nach meiner Hand und sah zu mir auf. Nun, ich glaube mich daran zu entsinnen, daß ich als Jugendlicher mehreren Kindern in einem grauen Zimmer mit gewölbter Decke half. Eines von ihnen war ein Mädchen, das meine Hand hielt. Ich kann jedoch nicht bestätigen, daß die Frau mit dem Mädchen identisch ist. Außerdem bleibt es fraglich, ob dieses Erinnerungsbild mit einer Besucher- Erfahrung in Verbindung steht. Abgesehen von den in Die Besucher geschilderten Reminiszenzen erinnerte ich mich auch noch an andere sonderbare Zwischenfälle. Als ich im frühen Sommer des Jahres 1955 abends nach Hause ging, sah ich helles Licht, das vom Himmel herabglänzte. Es sank immer tiefer und verharrte dicht über der Küchenveranda unseres alten Hauses an der Elizabeth Road in -110-
San Antonio. Ich stand nur einige Meter entfernt, wie gelähmt vor Verblüffung und Ehrfurcht. Das Strahlen blendete mich, schmerzte in den Augen. Damals meinte ich, etwas Lebendiges zu sehen, ein Wesen aus Feuer. Ich erinnere mich an alle Einzelheiten jenes Ereignisses: Maikäfer stießen an die Fliegentür, und ich keuchte, weil ich gerade einen Sprint vom Nachbarhaus her hinter mir hatte; das Gleißen wirkte eindeutig wie etwas Vitales. Ja, ich erinnere mich genau daran. Aber was geschah dann? Ich weiß es nicht. Im Sommer 1956 fuhren mein Vater, meine Schwester und ich nach Port Aransas, Texas, um einige Tage am Meer zu verbringen. Meine Mutter hielt nichts von Ausflügen zur Küste und blieb in San Antonio. Ich glaube, wir wohnten im Tarpon Inn. Eines Tages mietete mein Vater ein Boot, und der Kapitän brachte uns in den Golf. Vermutlich wollte sich Dad als Hochseeangler versuchen. Ich ging mit an Bord und aß einige Pfirsiche, die Vater gekauft hatte. Plötzlich kam ein Sturm auf, und die Wellen wurden immer höher. Dann befand ich mich wieder im Hotel. An die dazwischenliegenden Geschehnisse erinnere ich mich nicht. Meine Schwester entsann sich ebenfalls daran und schrieb mir folgendes: »Ich weiß nicht genau, was sich während der Bootsfahrt zutrug, aber ich erinnere mich an einen plötzlichen Sturm und hohe Wellen. Offenbar hat es damals nicht geregnet, denn wir blieben an Deck, und auch an Land brauchten wir uns nirgends unterzustellen. Noch sonderbarer finde ich, daß ich zwar Dad, den Kapitän und mich selbst auf dem Boot und am Kai sehe, aber dich nicht. Nachdem wir angelegt hatten, wechselten Dad und der Kapitän einen stummen Blick, dessen Botschaft zu lauten schien: ›Wir behalten es beide für uns, wir sprechen mit niemand darüber.‹ Aus diesem Grund wußte ich, daß ich Dad nicht fragen konnte, was passiert war.« -111-
Was war passiert? Wie ist es möglich, daß ich viele Meilen von der Küste entfernt von einem Boot verschwand, ohne zu ertrinken? Ed Conroy, ein Reporter aus San Antonio, stellte 1987 umfassende Nachforschungen in Hinsicht auf meine Vergangenheit an. Er befragte Dutzende von Personen, die mich in den fünfziger Jahren als kleinen Jungen gekannt hatten, darunter auch einen Nachbarn, der einer meiner besten Freunde gewesen war. Er erläuterte mein Verhalten im Anschluß an eine Reise nach Madison, Wisconsin, im Sommer des Jahres 1957. Während der Hypnose am 5. März 1986 hatte ich mich spontan daran erinnert. Bei der Reise kam es zu einem spektakulären Besucher-Erlebnis: Ich sah ein Zimmer voller amerikanischer Soldaten, die Kampfanzüge trugen, auf Tischen lagen und von einem hochgewachsenen, hageren Wesen berührt wurden, das große schwarze Augen hatte und einen Kupferstab in der Hand hielt. In Die Besucher habe ich ausführlich darüber berichtet. In einem aufgezeichneten Gespräch erzählte mein Kindheitsfreund dem Reporter, daß ich nach der Reise aufgeregt von ›Soldaten‹ gesprochen hatte. Ich sollte hier erwähnen, daß er Die Besucher zu jenem Zeitpunkt noch nicht kannte. Im Sommer 1956 standen er und ich im Vorgarten unseres Hauses und sahen einen riesigen Feuerball, der über den Himmel flog. Kurze Zeit später bemerkten wir eine schwarze Limousine, die dorthin raste, wo das glühende Gebilde verschwunden war. Derartige Beobachtungen beschränken sich nicht nur auf mich. Viele Personen mit Besucher-Erfahrungen erwähnen Feuerbälle und schwarze Limousinen. Von einem klassischen Beispiel dieses Phänomens berichtete Mary Sue Weathers, die Mutter Patrick Weathers, der häufige Kontakte zu den Besuchern unterhielt. 1957 oder 1958, als Patrick ein Kind war, fuhr Mary Sue mit ihm über eine Straße in -112-
der Nähe von Meridian, Mississippi, als plötzlich ein Feuerball vom Himmel herabfiel und die Windschutzscheibe des Wagens nur knapp verfehlte. Die beiden Insassen wurden in gleißendes Licht getaucht, und dann ›sauste das Ding wieder gen Himmel‹, erzählte Patrick. Mrs. Weathers verständigte die Polizei von dem Vorfall und bekam zur Antwort, wahrscheinlich sei es ein Meteor gewesen obgleich der Zwischenfall am hellichten Tag stattfand und sich das Objekt ganz und gar nicht wie ein Meteor verhielt. In einer Sommernacht des Jahres 1967 sah meine Schwester eine ähnliche Erscheinung. Sie kehrte von einer Tanzveranstaltung in Comfort, Texas, heim und beobachtete ›helles Licht, das sich schnell bewegte‹ und wie ein ›sehr großer Meteorit‹ wirkte. Sie erzählte: »Es beschrieb einen langen Bogen von rechts nach links, überquerte die Straße und verschwand zwischen den Bäumen. Die Entfernung war recht groß, aber ich bin trotzdem sicher, daß ich einen Aufprall gehört hätte, wenn etwas zu Boden gefallen wäre. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter und fuhr nur noch im Schrittempo, aber ich hörte und sah nichts. Ein oder zwei Dutzend Meter neben der Straße stieg eine Eule auf und zeigte sich kurz im Scheinwerferlicht. Erstaunlicherweise flog sie ebenfalls von rechts nach links.« Eulen, Rotwild und andere Tiere mit großen Augen sind ein vertrautes Motiv bei verdrängten Besucher-Erfahrungen. Kurz nach dem Neujahrstag im Januar 1987 hörten meine nächsten Nachbarn seltsames Heulen und bemerkten Licht über unserer Blockhütte. Sie gingen nach draußen und beobachteten das Glühen eine Zeitlang. Dann verblaßte der Glanz, und das Heulen verklang. Uns fiel nichts auf, aber nach diesem Ereignis hatte ich zehn Tage lang besonders intensive BesucherErlebnisse. Mehrere Wochen später sahen einige unserer Nachbarn einen gewaltigen Feuerball, der über ihr Haus hinwegflog und auf der -113-
Wiese vor ihrem großen Wohnzimmerfenster niederging. Das strahlende Etwas glitt in die Mitte der Wiese und verschwand. Meine Blockhütte befindet sich direkt hinter dem Wald am Rand der Wiese. Am 20. Dezember 1987, um zwei Uhr nachts, beobachtete eine Nachbarin ein helles Licht über dem Wald. Sie sah, wie es sich plötzlich in Bewegung setzte und nach Norden raste. Feuerbälle und sonderbare Lichter suchen Menschen mit Besucher-Erfahrungen heim. Je eingehender ich mich mit meiner Vergangenheit beschäftigte, desto überzeugter wurde ich, daß die Besucher immer zu meinem Leben gehört hatten. Ein anderer alter Bekannter, David Nigrelle, erinnerte sich ebenfalls an meine Rückkehr von Madison. Damals erzählte ich ihm etwas, das er als ›noch fantastischer als Sciencefiction‹ bezeichnete. Es beunruhigte ihn so sehr, daß er unsere Freundschaft abrupt beendete. Angeblich erwähnte ich ein ›Wesen‹. Mr. Conroy sprach auch mit Lanette Glasscock, der Mutter eines Freundes aus meiner Kindheit. Lanette entsann sich daran, daß ich mich oft davor gefürchtet hatte, von Außerirdischen entführt zu werden. Einmal war ich in diesem Zusammenhang so entsetzt, daß sie mich nach Hause begleitete. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an einen Aufenthalt bei den Glasscocks erinnerte. Ich habe dort als Junge mehrmals bei meinem Freund geschlafen, und ich weiß jetzt auch, was mir damals einen solchen Schrecken einjagte: die Uhr im Zimmer von Lanettes Sohn. Ihre Form entsprach der einer Eule oder Katze, und die großen Augen waren in ständiger Bewegung, glitten von einer Seite zur anderen. Ich erinnere mich daran, daß ich in jenes Gesicht starrte und dabei gewisse Ähnlichkeiten -114-
festzustellen glaubte - womit? Ich hatte solche Angst, daß ich Lanette bat, mich nach Hause zu bringen. Heute weiß ich, daß die Besucher große, durchdringend blickende Augen haben. Fürchtete ich mich deshalb so sehr vor der Uhr? Offenbar hatte ich Lanette gebeten, mich nach Hause zu bringen - weil mir vor einer Entführung durch Außerirdische graute. Ich spürte diese Furcht, bevor ich Gelegenheit bekam, über fremde Wesen, Raumschiffe und dergleichen zu lesen. In der Mitte der fünfziger Jahre standen mir nur gewöhnliche Nachrichtenmagazine, Zeitungen und in der Schule Our Little Messenger zur Verfügung. Der klassische Entführungsfall von Betty und Barney Hill fand erst 1966 im Look-Magazin Erwähnung. Bis dahin hatte ich meine Ängste bereits verdrängt und vergessen, so daß ich überhaupt nicht auf den Artikel aufmerksam wurde. Inzwischen habe ich festgestellt, daß die Meldungen am 4. und 18. Oktober 1966 erschienen. Damals war ich bereits einundzwanzig und erinnerte mich nicht an die ›Außerirdischen‹ meiner Kindheit, brachte solchen Dingen nicht einmal genug Interesse entgegen, um einen groß aufgemachten Artikel zu lesen. Ich setzte die Reisen in meine Vergangenheit fort, hielt nach alten Freunden Ausschau und versuchte mit wachsender Verzweiflung zu verstehen, was geschehen war. Bekannte schrieben oder beantworteten telefonische Anfragen mit Bemerkungen wie: »Du bist wirklich ein wenig unheimlich gewesen. Dauernd hast du über fremde Wesen gesprochen.« Ein Mann teilte mir mit, seine Mutter habe mich als ›seltsames Kind‹ in Erinnerung, voller sonderbarer Vorstellungen über Außerirdische. In dem entsprechenden Brief heißt es: »Ich vermute, daß du ob absichtlich oder nicht - falsche Wahrnehmungen mit deiner Vergangenheit verbindest.« Und an einer anderen Stelle: »Du warst immer vom Ungewöhnlichen und ›Irrealen‹ fasziniert. -115-
Eine meiner dramatischsten Erinnerungen an dich betrifft deine Schilderungen von Ereignissen, die mit deinem Onkel in Zusammenhang standen. Du hast damals erzählt, er sei in der Nähe von Lubbock unterwegs gewesen, als ein großer Flugapparat vor ihm auf der Straße landete, wodurch der Motor seines Wagens plötzlich nicht mehr funktionierte.« Er fügte hinzu: »Für meine Mutter warst du ein merkwürdiger Junge, der immerzu von seltsamen und erschreckenden Dingen sprach...« Außerdem schrieb der Mann: »Vielleicht begannen wir zu jener Zeit damit, Sciencefiction-Bilder so zu verarbeiten, daß sie zum Mittel mythischer Intuition wurden.« Er kam sich manchmal selbst als Außerirdischer oder religiöser Mystiker vor. Offenbar bin ich kein Einzelfall gewesen: Auch andere Kinder in meiner Nachbarschaft nahmen an einem allgemeinen mythologisierenden Muster teil. Ging es tatsächlich auf einen Kontakt mit Sciencefiction zurück, oder gab es eine reale Grundlage? Vielleicht erlebten wir etwas Wirkliches und Unverständliches, das wir mit der uns bekannten Sciencefiction-Mythologie interpretierten. Hätten wir uns drei- oder vierhundert Jahre früher vor Gnomen und Kobolden gefürchtet anstatt vor Außerirdischen und Raumschiffen? Ich fand heraus, daß der im Brief meines Bekannten erwähnte ›Onkel‹ nicht etwa ein Onkel war, sondern der inzwischen verstorbene Leon Glasscock. Sein Sohn und ich hatten 1957 oder 1958 mit Mr. Glasscocks Hilfe einer Organisation geschrieben, die sich National Investigations Committee on Aerial Phenomena nannte (Nationales Untersuchungskomitee für fliegende Phänomene). Unsere Absicht bestand darin, seltsame Vorfälle zu melden. Ich sollte hier auch auf einige Träume hinweisen, die sich seit meinem zwölften Lebensjahr wiederholten. Ich habe einen Namen für diese Träume, bezeichne sie als ›dunkle Nachbarschaft‹. Sie ähneln sich sehr. Ich erwache darin mitten -116-
in der Nacht, irgendwann gegen Ende der fünfziger Jahre. Prickelnde Energie erfüllt mich. Ich stehe auf, ziehe Jeans und ein T-Shirt an und gehe ins Erdgeschoß. Das Haus ist völlig dunkel, und ich spüre die Kühle der Nacht. Ich hole mein Fahrrad aus der Abstellkammer und fahre über die finstere Elizabeth Road. Die Straßen sind leer, die Häuser dunkel und still. Mit fast übernatürlicher Geschwindigkeit rase ich über die Elizabeth und Eldon Road, erreiche dann die Terrell Road und nähere mich dem Broadway. Das Rad rollt über den Hügelhang, und wie ein Phantom sause ich unter den blinkenden Lichtern der Ampeln hinweg, bis mich wieder die Dunkelheit der Nebenstraßen umfaßt. Ich setze die Fahrt über die Patterson Avenue fort, und an einer bestimmten Stelle - in einer Kurve - halte ich an und schiebe das Rad auf einen Pfad. Der Weg führt zu einem unbewohnten Bereich im nördlichen San Antonio: Er heißt Olmos Basin. Der größte Teil davon stellt eine Schwemmebene dar. Es ist ein einsamer, sich selbst und der Dunkelheit überlassener Ort. Ich fahre über den Pfad, und das Vorderrad stößt immer wieder an kleine Steine. Schon nach wenigen Sekunden umgibt mich völlige Finsternis. Meistens erwache ich schweißgebadet nach einem Traum von der ›dunklen Nachbarschaft‹. Ich erinnere mich nicht daran, was in der Dunkelheit geschieht. Ganz gleich aber, was dort passiert: Es entsetzt mich sehr. Während meiner Kindheit und Jugend übte das Olmos Basin eine große Anziehungskraft auf mich aus. Ich entsann mich an eine Stelle, wo eine Eiche neben dem Bach stand und sich die Ruine einer alten Mühle in der Nähe befand - jener Ort bot Ruhe und völligen Frieden. Häufig versuchte ich, Mädchen dorthin mitzunehmen, aber ich konnte den Ort nicht wiederfinden. Als ich mit anderen -117-
darüber sprach, stellte ich fest, daß sich auch mein Bruder an die Stelle erinnerte und die gleichen angenehmen Vorstellungen damit verband - doch auch er war nicht in der Lage, sie zu finden. Im Herbst 1987 schrieb mir ein Mann, der sich während der fünfziger Jahre in San Antonio aufgehalten hatte. Er meinte, er habe mir einige interessante Dinge zu berichten. Als ich mit ihm sprach, war auch Ed Conroy zugegen. Der Mann hatte ein unbekanntes Flugobjekt über der Cambridge Elementary School in Alamo Heights gesehen - ein Vorort am Rande der Terrell Hills, wo ich wohnte. Er beobachtete das Objekt im Jahre 1957 und gewann dabei den Eindruck, daß es zum Olmos Basin flog. Als es über ihn hinwegschwebte und dabei Geräusche verursachte, die der Mann mit dem Zischen von Düsentriebwerken verglich, ›hörte‹ er drei Gedanken. Der erste lautete: »Wir werden beobachtet.« Der zweite: »Man darf uns nicht sehen.« Und der dritte: »Wir müssen diesen Ort verlassen.« Am 8. November 1957 berichtete der San Antonio Express, am Vortag sei ein großes UFO im Norden von San Antonio gesehen worden. Einige Journalisten hatten es beobachtet und wiesen ausdrücklich darauf hin, es sei eine sehr ungewöhnliche Erscheinung gewesen. Sie schlossen die Möglichkeit eines Flugzeugs oder Wetterballons aus. Es gab einen anderen subtilen Grund, der den Schilderungen des Mannes zusätzliche Glaubwürdigkeit verlieh. Er wußte nicht, daß sich der von ihm geschilderte Dialog durch jene dreiteilige Struktur auszeichnete, die ich aufgrund meiner Erfahrungen mit den Besuchern kannte. Manchmal hatte es den Anschein, daß sie ihre Gespräche von dem uralten Gesetz der drei Kräfte bestimmen ließen. Nach diesem Gesetz ist das Universum grundsätzlich in eine positive und negative Kraft -118-
geteilt, und der Ausgleich zwischen diesen beiden Energien verursacht Veränderungen in der Welt. Dieses schlichte Konzept bringt eine unleugbare Wahrheit zum Ausdruck. Es sind die Wechselwirkungen zwischen entgegengesetzten Kräften, die Licht und Wärme als unabdingbare Voraussetzungen für das Leben schaffen. Ich bezweifle, ob der Zeuge etwas von der verborgenen Struktur des Dialogs ahnte, und warum sollte er so etwas auch erfunden haben? Die erste Bemerkung: »Wir werden beobachtet«, war das positive Feststellen einer Tatsache. Die zweite: »Man darf uns nicht sehen«, deutete negative Konsequenze n an. Die dritte: »Wir müssen diesen Ort verlassen«, stellte einen Ausgleich her und regte aktives Handeln an. Der Mann erwähnte auch, daß er damals den Eindruck gehabt hatte, im Olmos Basin ginge irgend etwas nicht mit rechten Dingen zu. Er vermutete sogar, daß sich dort fremde Lebensformen herumtrieben. Auch er erinnerte sich an die Stelle am Bach mit der alten Mühle, doch im Gegensatz zu mir und meinem Bruder war er imstande, sie wiederzufinden. Er zeigte sie Ed Conroy. Angesichts seiner Erzählungen dachte ich mit neuer Verwunderung an meine Träume von der ›dunklen Nachbarschaft‹. Vielleicht bin ich in manchen Nächten tatsächlich durch die schlafende Stadt gefahren, mit einem völlig realen Fahrrad, das über völlig reale Straßen rollte - um im Olmos Basin den Besuchern zu begegnen. Und vielleicht nahm ich dort auch an den Zusammenkünften der Kindergruppe teil. Der Volksglauben der westlichen Welt enthält viele Geschichten über Personen, die mit übernatürlichen Wesen zu geheimen Treffpunkten flogen. Solche Erfahrungen stellten nichts Ungewöhnliches dar, wenn es um Hexerei und Magie ging, und unsere Vorfahren glaubten, es ginge dabei auch um eine Reise zum Gott Dionysos. -119-
Geschieht so etwas wirklich? Wartet jemand auf uns, in der Nacht und im Wald?
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ZWEITER TEIL LEBEN IN DER FINSTERNIS ›Jeder Engel ist schrecklich.‹ ›Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche, hinter den Sternen eines Schrittes nur nieder und herwärts: hoch aufschlagend erschlug uns das eigene Herz.‹ RAINER MARIA RILKE Die zweite Elegie
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DAS VERLORENE LAND Es fiel mir nicht sehr schwer, Personen aus meiner Kindheit zu finden, die sich daran entsannen, daß ich häufig über Außerirdische gesprochen hatte. Doch als ich das College besuchte, erwähnte ich solche Dinge nur noch selten. Ich diskutierte mit Freunden über die Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten, aber niemand erinnerte sich daran, daß ich Entführungen durch Besucher erwähnte. Im Jahre 1967 kam es zu einigen sonderbaren Ereignissen, aber dabei dachte ich nicht mehr an irgendwelche Extraterrestrier. Als ich 1968 in London wohnte, hörten sogar die Gespräche über den Weltraum und das Universum im allgemeinen auf. Ich habe in meinen unveröffentlichten Manuskripten nachgesehen, die ich von 1964 an schrieb. Das betreffende Werk umfaßt acht Romane, rund fünfzig Kurzgeschichten und Hunderte von Gedichten, und darin gibt es nirgends einen direkten Hinweis auf UFOs. Dieses Material sowie die Zeugenaussagen von Menschen, mit denen ich aufwuchs, lassen folgenden Schluß zu: Als Kind hatte ich große Angst, von Außerirdischen verschleppt zu werden, aber bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr wich diese Furcht so weit zurück, daß sie in meiner kreativen Arbeit keinen Niederschlag fand. Allerdings manifestierte sie sich in einer stark symbolisierten Form. Tatsächlich gibt es viele Hinweise darauf, in den unveröffentlichen Werken ebenso wie in den Romanen Wolfsbrut, Der Kuß des Todes und Katzenmagie. Überall geht es um intelligente, räuberische und nichtmenschliche Wesen. Ein 1968 stattfindendes Ereignis bewies mir, daß für meine Kindheitsängste eine reale Grundlage existierte. Ich habe es bereits in Die Besucher beschrieben. 1986 und 1987 konnte ich mich deutlicher daran erinnern, und daraufhin kamen einige -122-
erstaunliche Einzelheiten hinzu. 1968 lebte ich, wie gesagt, in London. Im Sommer verbrachte ich zwei bis sechs Wochen auf dem Festland, und meine Erinnerungen an diese Zeitspanne sind vage und verschwommen. Wie schon in Die Besucher erwähnt, überquerte ich den Ärmelkanal mit der Fähre und nahm einen Zug nach Italien. Während der Reise begegnete ich einer jungen Frau. Ich kenne sowohl ihren Namen als auch ihre Nationalität, aber es ist mir nicht gelungen, sie zu finden. Zuerst fuhren wir nach Florenz, dann nach Rom. In Rom geschah etwas, das mich zutiefst entsetzte. Meine Schirmerinnerung behauptet, daß ich mich in den Katakomben unter dem Vatikan verirrte. Was auch immer passierte: Ich kehrte eilig in die Pension zurück und packte meine Sachen. Im Zimmer sah ich etwas, das mir einen gehörigen Schrecken einjagte. Ich habe versucht, mich daran zu erinnern, stellte jedoch nur fest, daß ich damals einem Freund berichtete, mein Blick sei auf eine ›ausgestopfte Eule‹ gefallen. Wenn das stimmt... Kein Wunder, daß ich mich auf und davon machte! Bei dem Bemühen, mit Hilfe von Hypnose Details in Erfahrung zu bringen, blieb der erhoffte Erfolg aus. Die Ergebnisse erscheinen mir nicht zuverlässig. Ich weiß, daß Vorstellungen von Eulen in einem direkten Zusammenhang mit Besucher-Erfahrungen stehen. Eulen sind charakteristische Schirmerinnerungen, von denen viele Kontaktpersonen berichten. Meine Schwester und ich haben Eulen unter recht ungewöhnlichen Umständen gesehen, und während meiner Kindheit gab es eine Phase, in der wir immer wieder von einer besonders seltsamen Eule heimgesucht wurden. Vor einiger Zeit erlebte jemand eine gespenstische Konfrontation mit einer eulenartigen Erscheinung: Sie manifestierte sich in einem Haus, das nicht weit von meiner Blockhütte im Norden des Staates New York entfernt ist - ich komme darauf später in diesem Buch zurück. In Die Besucher -123-
habe ich die lange magische Tradition der Eule beschrieben und darauf hingewiesen, daß sie Weisheit versinnbildlicht und nicht nur das Symbol der Göttin Athena war, sondern auch das Zeichen der früheren ›Auge ngöttin‹ des Nahen Ostens. Sie spielte eine wichtige Rolle in der altorientalischen Stadt Mari. Damals hastete ich zum Termini- Bahnhof von Rom und nahm den nächsten Zug, der die Stadt verließ. Wie es der Zufall wollte, führte die Reise nach Norden, und ich stieg erst in Straßburg aus. Dort wählte ich einen anderen Zug - nur deshalb, weil er ebenfalls gerade losfuhr. Er brachte mich bis nach Port Bou in Südfrankreich, wo ich noch einmal umstieg. Schließlich erreichte ich Barcelona, und dort blieb ich im Hinterzimmer eines Hotels in den Ramblas. Nur abends wagte ich mich nach draußen. In Die Besucher beschrieb ich den Rest der diesbezüglichen Erinnerungen als ein heilloses Durcheinander. Heute glaube ich, daß ich einige Einzelheiten anführen kann. Ich saß in dem kleinen Hotelzimmer, als mich eines Abends eine Frau besuchte und mir ein Ticket der ägyptischen Fluggesellschaft anbot. Das war nicht so unmöglich und absurd, wie es zunächst den Anschein haben mag: 1968 ermöglichte Nasser viele Studentenflüge, und zahlreiche europäische Städte standen auf dem Flugplan von Egyptair. Allerdings - sie waren fast immer frei erfunden, denn die meisten Flüge fanden nie statt. Ich nahm das Ticket, entsinne mich jedoch nicht daran, den Flughafen aufgesucht zu haben. Das nächste klare Erinnerungsbild zeigt mir das Innere eines Flugzeugs und eine Tür im Boden, durch die ich geklettert war. Während der Reise wurde mir übel. Jemand, den ich für eine Stewardeß hielt, näherte sich mit einer Pipette und gab mir drei Tropfen einer klaren Flüssigkeit auf die Zunge. Die Luft im Flugzeug roch gräßlich, und die ganze Zeit über vernahm ich ein unangenehmes Summen und Brummen. Hinzu kamen heftige -124-
Stöße, die mich im Sitz hin und her warfen. Neben mir saß ein großer blonder Mann, der eine weiße Uniform trug. Er stellte sich mir als mein ›Lehrer‹ vor und las laut aus einem Buch, das offenbar aus weichem Tuch bestand. Ich verließ die Maschine durch die Tür im Boden, und vier Männer in blauen Uniformen begleiteten mich über eine weite Betonfläche. Sie waren klein, erheblich kleiner als ich, aber damals hielt ich das nicht für ungewöhnlich. Sie glichen den Gestalten, denen ich am 1. April 1986 begegnete und die mich am 26. Dezember 1985 entführten. Inzwischen weiß ich, daß sie auch von vielen anderen Personen mit Besucher-Erfahrungen gesehen wurden; man begegnet ihnen recht häufig. Für gewöhnlich sind sie freundlicher als die Wesen mit den großen schrägen Augen, und manchmal zeigen sie einen gut ausgeprägten Sinn für Humor. Rückschauend frage ich mich, wieso ich diese Erinnerungen als ›heilloses Durcheinander‹ bezeichnen konnte. Sie sind absolut fantastisch, ebenso deutlich wie detailliert. Was hatte es mit dem ›Lehrer‹ auf sich? Welche Stewardeß gibt einem Tropfen auf die Zunge, und welches Flugzeug riecht wie eine Schwefelgrube? Seit wann benutzen Passagiere eine Luke im Boden, um einzusteigen und die Maschine wieder zu verlassen? Später kehrte ich nach London zurück. Vielleicht waren nur einige Tage vergangen, vielleicht auch mehrere Wochen. In der Abenddämmerung fand ich mich plötzlich vor dem St. JamesHotel wieder, fühlte mich erschöpft und ausgelaugt. Bis heute weiß ich nicht, auf welche Art und Weise meine Rückkehr stattfand. Freunde, die mich zu jener Zeit kannten, berichteten mir, ich sei während des Sommers ziemlich lange fort gewesen. Es gibt keine Aufzeichnungen. Die Frage, wieviel Zeit verstrich, muß daher unbeantwortet bleiben. -125-
1972 offenbarten sich mir Erinnerungen, die mit dem Sommer des Jahres 1968 in Verbindung standen. Es ging dabei um eine Reise in eine große Wüste; darüber spannte sich ein lohfarbener Himmel, so hell, daß er fast blendete. In der Einöde wurde es nie dunkel. Die kleinen Männer brachten mich zu einer Art Oase. Am Rand davon wuchsen hohe, aber sehr dünne Bäume, und eine schmale Straße führte durch das Anwesen. Auf der anderen Seite des Weges erhob sich ein gewaltiger Bogen. Einer meiner Begleiter - er schien besonders fröhlich und lebhaft zu sein erklärte mir, der Bogen diene dazu, an die Leistungen der Gelehrten zu erinnern. Weiter vorn sah ich ein verfallenes Gebäude. Es stand auf einer Klippe an der Peripherie der Oase und war so alt, daß es den Eindruck erweckte, mit dem Gestein zu verschmelzen. Dahinter erstreckte sich die endlose Wüste. Wie ich erfuhr, stellte das Bauwerk eine Universität dar, ›tausend mal tausend Jahre alt‹. Ich konnte es gar nicht abwarten, das Gebäude zu betreten. Als wir näher kamen, fragte ich: »Ist es eine Ruine?« Die Antwort lautete: »Nein, aber die Gelehrten pflegen es nicht besonders gut.« Ich bemerkte einen imposanten Eingang, doch man führte mich zu einer Seitentür. Um sie zu erreichen, gingen wir über scharfkantiges vulkanisches Geröll. Die Steine waren schrecklich - jahrelang träumte ich immer wieder davon, über sie hinwegzuklettern und darauf zu achten, mich nicht zu verletzen. Einige Meter vor der Tür begegneten wir zwei größeren, hageren Männern mit riesigen schwarzen und mandelförmigen Augen. Sie waren nicht so freundlich wie die kleinen, in Blau gekleideten Gestalten. Als sie mich anstarrten, kam ich mir plötzlich nackt vor. In ihrer Nähe fühlte man sich alles andere als wohl. Einer von ihnen sagte: »Er ist noch nicht bereit.« Diese Bemerkung enttäuschte mich. Ich glaubte, auf dem richtigen Weg zu sein, und jetzt entstand Verzweiflung in mir. Warum war ich noch nicht bereit? Ich sehnte mich danach, das Innere -126-
des Gebäudes zu sehen. Die beiden hochgewachsenen Männer gingen, und einer meiner Begleiter sagte zu mir: »Sie behaupten, daß du noch nicht bereit bist, aber jetzt sind sie fortge gangen.« Wir betraten das Gebäude, und ich sah einen völlig normalen Korridor aus dunkelgrünem Stein. Staub bedeckte den Boden, der sich wie festgetretene Erde anfühlte. Ich bemerkte einige Türen, Licht glänzte unter ihnen hervor. Man brachte mich ins erste Zimmer, und dort wies der Boden einen Kreis auf. Ein großes Fenster gewährte Ausblick in die Wüste. Als ich in den Kreis trat, verspürte ich sofort den Wunsch, zu tanzen. Es erklang keine Musik, doch als ich tanzte, regten sich unbeschreibliche Empfindungen in mir. Die Bewegungen konfrontierten mich sowohl mit einem profunden Gefühl der Einsamkeit als auch mit großer Aufregung. Während ich tanzte, erweiterte sich mein Ich, dehnte sich zu anderen Personen aus und nahm an ihrem Leben teil. Ich wanderte über eine schmale, kurvenreiche Straße. Ein untersetzter rothaariger Mann lief auf mich zu. Er trug eine weiße Toga, und ich glaubte mich ins alte Rom versetzt. Der Tanz gewann eine intensive, leidenschaftliche Qualität. Ich wirbelte um die eigene Achse, segelte durch Tausende von Leben, suchte vertraute und unbekannte Orte auf. Meine Seele schien seit Jahren auf ein solches Erlebnis gewartet zu haben. Ich weiß nicht, wie lange ich tanzte, aber es war eine herrliche Erfahrung. Widerstrebend verließ ich die Universität, und man brachte mich zu einem anderen Gebäude. Das dreistöckige Bauwerk bestand aus Adobeziegeln, stand nicht weit von der Universität entfernt und enthielt ein Zimmer, das mir als Unterkunft diente. Es gab keine Möbel, und ich schlief auf dem Boden. Einmal erwachte ich und hörte, wie jemand laut englisch redete. Zwei Männer erschienen, und beide wirkten völlig normal. Sie trugen khakifarbene, militärische Kleidung, und ich glaubte, sie als -127-
Amerikaner zu erkennen. Einer von ihnen hatte eine Bell & Howell-Filmkamera, die er auf mich richtete. Sie standen vor der Zimmertür, hinter einem weißen Band. Der Mann mit der Kamera fragte: »Warum hat man dich außerhalb der Umzäunung untergebracht?« Ich erwiderte, daß ich den Grund dafür nicht wisse, und daraufhin wurde der Mann sehr wütend. Kurze Zeit später befand ich mich in der Gesellschaft einer Frau, die so blaß war, daß selbst ihre Lippen farblos wirkten. Sie reichte mir eine Frucht, die wie eine übergroße Feige aussah, und forderte mich auf zu essen. Ich wies darauf hin, daß ich nicht den geringsten Appetit verspürte. Die Frau antwortete, daß ich die Frucht essen müsse. Skeptisch biß ich hinein und schmeckte gräßliche Bitterkeit. Einige Sekunden später schien irgend etwas meinen Kopf zu zerschmettern. Als ich weiterging, bemerkte ich einige Personen, die hinter dem weißen Band standen und mich mit Tränen in den Augen beobachteten. Das Gras war dicht und weich. Ich ließ mich zu Boden sinken und blieb eine Zeitlang sitzen. Dann stand ich wieder auf, um zur Universität zurückzugehen, doch dort sah ich einen der beiden großen Männer, die mir mitgeteilt hatten, ich sei noch nicht bereit. Er winkte mich fort, und ich wollte es keineswegs auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen. Ich wanderte zu einigen Schuppen, errichtet aus Adobeziegeln und trockenen Zweigen, und sie erschienen mir schlicht, geradezu primitiv. In ihnen fand ich einfache Dinge wie Holzschüsseln und blaue, uniformartige Kleidung. Dort begegnete ich einigen kleinen Männern, und ihr spartanisches Quartier erstaunte mich so sehr, daß sie laut über mich lachten. Das ist alles. Unter meinen vielen Gedichten fand ich eines, das einen sonderbaren Bezug zu diesen Erinnerungen hat. Ich habe es im Sommer 1968 geschrieben, kurz nach meiner Rückkehr von der -128-
seltsamen Reise. Es heißt ›Barcelona‹, und einige Zeilen lauten: Wir scheinen so viele Dinge zu sehen, Schiffe, die niemals waren, Feen bei ihrem Reigen... Einmal, um Mitternacht, tanzten wir im Kreise, Im Lichte des abnehmenden Mondes, Des blutroten Mondes über dem Mittelmeer... Wir flogen, als wir tanzten - Wir tanzten vor langer Zeit... Ich erinnere mich gut an den wilden Tanz, an eine Reise durch die Essenz der Zeit. Mir scheint, der größte Teil meines Lebens hat im Verborgenen stattgefunden und ist in einem komplexen Labyrinth versteckt. Mir bleiben nur verworrene Erinnerungen daran, einige Streiflichter und fragmentarische Szenen - und vage Verse, die wundervolle Reisen und magische Dinge vermuten lassen. Ich hoffe und bete, daß es mir eines Tages möglich sein wird, mich an alles zu erinnern. Allerdings habe ich einige höchst interessante Dinge in Hinsicht auf meine Erlebnisse im Sommer 1968 herausgefunden. Im Dezember 1987 bekam ich die Fahnen von Jacques Vallées neuestem Buch Dimensions: A Casebook of Alien Contact. Man bat mich, ein Vorwort zu schreiben. Fasziniert stellte ich fest, daß die traditionelle Reise nach Magonia, dem ›Feenland‹, häufig mit drei Tropfen auf den Kopf oder das Gesicht des Reisenden beginnt. Vallée erwähnt eine junge Frau, der ›grüner Tau‹ ins rechte Auge geträufelt wurde, woraufhin sie viele wunderbare Dinge sehen konnte. Einer anderen gab man ›drei kostbare Tautropfen‹ aufs linke Lid, bevor sie die Reise antrat. Die ›Krankenschwester‹ ließ mir drei Tropfen auf die Zunge fallen. Ich bin ganz sicher. Schirmerinnerungen zeigen mir eine Stewardeß und ein Flugzeug. Eine Stewardeß hätte einem luftkranken Passagier höchstens Dramamin- Tabletten gegeben. Außerdem habe ich an Bord von Flugzeugen noch nie Übelkeit verspürt. -129-
Es gibt eine weitere Parallele: In den Traditionen vieler Völker, auch bei den Griechen, wird die Rückkehr aus dem Reich der Toten durch den Genuß einer bitteren Substanz eingeleitet, die Amnesie bewirkt - die alten Griechen nannten sie ›Milch des Vergessens‹. Bevor ich das verlorene Land verließ, gab man mir eine bittere Frucht zu essen. Nach meiner Entführung am 26. Dezember 1985 zwang man mich, ein milchiges Etwas zu schlucken, das einen gräßlichen Geschmack im Mund hinterließ. Kurze Zeit später fand ich mich in der Blockhütte wieder. Am 20. Mai 1950 wurde eine Französin entführt. Unmittelbar vor ihrer Rückkehr nahm sie einen ›gräßlichen, metallischen und sehr bitteren Geschmack‹ wahr... Verabreichte man uns Drogen, um das Gedächtnis zu blockieren? Und wenn das der Fall ist: Was hat es dann mit der Substanz auf sich, die Reisen nach Magonia ermöglicht? Handelt es sich um ein wirkungsvolles Halluzinogen - oder ein Mittel, das den Körper verändert, so da er durch die Raum- Zeit eine andere Welt erreichen kann? Ich mußte mit dem Feuer der Frage in mir leben. Vor meinem inneren Auge formte sich erneut das Bild der baufälligen Universität auf einer fernen Klippe. In Gedanken glitt ich durch zahlreiche Sommernächte und sah das Licht anderer Himmel. Ich werde nie vergessen, wie ich durch die Tür trat und das Glühen des Sonnenscheins auf dem Boden betrachtete. Ich beobachtete, wie meine Schritte Staub an jenem sakralen und geheimnisvollen Ort aufwirbelten. Hatte ich mich in einer Erweiterung der goldenen Stadt befunden, in einer tempelartigen Anlage, wo das Licht absolute Wahrheit verkündet? War die Oase in der Wüste wirklich so weit entfernt, oder ist sie Teil der Erinnerung und der Psyche eines jeden Menschen?
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GEHEIMES WISSEN Ich begriff, daß ich mich einer unangenehmen Realität stellen mußte. Ganz gleich, wie sehr ich mich bemühte: Ich war nicht imstande, meine wahre Vergangenheit von falschen Erinnerungen zu trennen. Allem Anschein nach hatte ich wirklich ein Doppelleben geführt, dessen Einzelheiten mir verborgen blieben. Das empfand ich um so unangenehmer, weil ich immer geglaubt hatte, ein gutes und zuverlässiges Gedächtnis zu besitzen. Es ist eines meiner wichtigsten Werkzeuge. Bücher wie Warday basieren auf ebenso umfassenden wie gründlichen Recherchen, die ich als Erinnerungen speicherte und zu einer erfundenen Geschichte verknüpfte. Ich war immer sehr stolz darauf, ganz genau zu wissen, wer ich bin und woher ich komme. Außer mir gibt es weitere Mysterien, die auf der Erde wandeln. Jeder Mensch ist ein Geheimnis. Niemand von uns weiß, wer er selbst ist. In jeder persönlichen Vergangenheit wimmelt es von Widersprüchen. Ich brannte vor Neugier und erhoffte mir einen Durchbruch, der es mir ermöglichte, in die Bastion des Erinnerns einzudringen doch dieser Durchbruch ließ nach wie vor auf sich warten. Also kehrte ich ins Gegenwärtige zurück und überließ die Vergangenheit niedergeschlagen sich selbst. Mir stand ein anderes wichtiges Betätigungsfeld offen: Es betraf meine Erinnerungen vom Oktober 1985 bis heute. Ich hatte sie gut strukturiert und übersichtlich gestaltet, denn als ich im Januar 1986 zu ahnen begann, daß meine Erlebnisse wichtig und bedeutsam sein konnten, führte ich ein detailliertes Tagebuch. Doch als ich beschloß, die Vergangenheit ruhen zu lassen, gewährte mir die Gegenwart komischerweise neue Einblicke in die möglichen Ereignisse von 1968. -131-
Anfang 1986 empfingen wir einen ungewöhnlichen Gast in der Blockhütte. Leider bat er mich darum, seine Identität für mich zu behalten. Der bekannte Filmemacher - er dreht in erster Linie Dokumentarfilme - kam mit einem gemeinsamen Freund, und wir veranstalteten eine kleine Party: unser Gast, sein Freund, Dr. John Gliedman und meine Familie. Der Filmemacher hatte sich in der Nähe aufgehalten, und ein gemeinsamer Freund erzählte ihm von meinen Erlebnissen. Er kam, um Erfahrungen mit mir auszutauschen. (Auf seine Bitte hin bleibt er anonym.) Er berichtete von einer seltsamen Begegnung, die zu Beginn der achtziger Jahre stattfand. Ein Mann wandte sich an ihn und stellte sich als Offizier der Luftwaffe vor. Das Treffen fand in einem Luftwaffenstützpunkt statt, in dem mein Gast zu jenem Zeitpunkt einen Dokumentarfilm vorbereitete. Man erlaubte ihm, einen Bericht zu lesen, in dem es um abgestürzte fliegende Untertassen und die Bergung der Leichen von Außerirdischen ging. Der Offizier betonte, daß er ihm das Dokument auf den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten hin zeigte. Sowohl die Unterlagen als auch die Hinweise des Offiziers erfüllten den Filmemacher mit großem Interesse. Aber es entstanden mehr Fragen, als beantwortet wurden. Das mit Schreibmaschine geschriebene Manuskript trug den Titel: ›Bericht für den Präsidenten der Vereinigten Staaten.‹ Es fehlte der Name eines bestimmten Präsidenten, und an ein Datum erinnerte sich der Filmemacher ebenfalls nicht. Man verweigerte ihm auch die Erlaubnis, sich sofort Notizen zu machen, aber er prägte sich alles gut ein. Das umstrittene Dokument tauchte 1987 wieder auf, und wie sich herausstellte, hatte sich mein Gast an alle wichtigen Einzelheiten erinnert. Der Bericht erwähnte einige abgestürzte UFOs bei Aztec und Roswell (New Mexico), Kingman (Arizona), und einen ähnlichen Vorfall in Mexiko. Angeblich hatte man -132-
nichtmenschliche Leichen aus den Flugapparaten geborgen und sie anschließend in Laboratorien untersucht. Man beschrieb die Wesen als etwa hundertzwanzig Zentimeter groß, grauhäutig und haarlos; im Vergleich zu den kleinen, zierlichen Körpern schienen die Köpfe bemerkenswert groß zu sein. Die Gesichter waren flach, ohne Ohren und Nasen, und die Münder bildeten nur einen dünnen Schlitz. Hinzu kamen große Augen. Aufgrund der grauen Haut bezeichnete man die Geschöpfe als ›Graue‹. Das Dokument schilderte einen direkten Kontakt zwischen Repräsentanten der Regierung und dem Überlebenden eines UFO-Absturzes. Das Wesen wurde Ebe genannt - ein Akronym für ›extraterrestrische biologische Entität‹. Die Regierungsvertreter erfuhren, daß die Grauen seit langer Zeit Einfluß auf die menschliche Gesellschaft nahmen und unsere biologische, soziokulturelle und religiöse Evolution manipulierten. Kurze Zeit später starb Ebe; die Todesursache konnte nicht festgestellt werden. Der Bericht erklärte, daß die Regierung seit den vierziger Jahren versuchte, Klarheit über Ursprung, Natur und Motive der fremden Wesen zu gewinnen - um die Situation unter Kontrolle zu bekommen oder sie wenigstens besser zu verstehen. Als der Filmemacher den Offizier fragte, warum man ihm die Lektüre des Berichts gestattet hatte, bekam er folgende Auskunft: Die Regierung beabsichtigte, ihm mehrere Filme zur Verfügung zu stellen, deren Aufnahmen aus der Zeit von 1947 bis 1964 stammten und abgestürzte fliegende Untertassen sowie extraterrestrische Leichen zeigten. Damit sollte sein Dokumentarbericht eine konkrete historische Grundlage bekommen. Das versprochene Material erreichte ihn nie. Hatte man ihm ein echtes Dokument gezeigt, oder war er das Opfer eines komplizierten Desinformationsplans geworden? Als die in Aussicht gestellten Unterlagen nicht eintrafen, war die Produktionsgesellschaft, für die der Filmemacher arbeitete, -133-
enttäuscht und strich den Dokumentarbericht aus ihrem Programm - was dem Wunsch der Luftwaffe entsprach, wie mein Gast glaubte. Während der nächsten Jahre stellte er Nachforschungen an. Er kam zu mir, um herauszufinden, ob es Verbindungen zwischen meinen persönlichen Besucher-Erfahrungen und den im Bericht ›an den Präsidenten‹ geschilderten Ereignissen gab. Als ich die ersten Kontakte mit den Fremden zu verarbeiten versuchte, hätte ich niemals in Erwägung gezogen, daß so etwas wahr sein könnte. Abgestürzte fliegende Untertassen? Vertuschungstaktik der Regierung? Schlicht und einfach Blödsinn. Aber inzwischen liegen mir Informationen vor, die das Gegenteil nahelegen. In Die Besucher wies ich darauf hin, daß der prominente Wissenschaftler Dr. Robert Sauerbacher einem UFO-Forscher schrieb. In dem Brief heißt es unter anderem: »Materialien, die angeblich von abgestürzten fliegenden Untertassen stammen, sind außerordentlich leicht und sehr fest.« Er fuhr fort: »Ich weiß noch immer nicht, warum man bei dieser Angelegenheit einen so großen Wert auf Geheimhaltung legt...« Dr. Sauerbacher starb 1986 nach einer langen und erfolgreichen Karriere. Er verfaßte ein Wörterbuch der Elektronik, das als fundamentaler Beitrag für die Wissenschaft gilt, arbeitete als Berater für Marine, Luftwaffe und das Verteidigungsministerium und war Dekan einer Lehranstalt des Georgia Institute of Technology und Direktor der General Sciences Corporation. Der Filmemacher kannte diese Geschichte und einige Leute, die Dr. Sauerbacher begegnet waren. Zu ihnen gehörte Stanton Friedman, ein bekannter UFO-Forscher. Im Herbst 1987 nahm ich Kontakt mit ihm auf. Er ließ mir einige außergewöhnliche Informationen zukommen, die er und sein Forschungskollege William Moore über ein Ereignis gesammelt hatten, das am 2. Juli 1947 in Roswell, New Mexico, stattfand. Die Luftwaffe hatte zunächst -134-
gemeldet, auf einer Ranch unweit der Stadt sei eine fliegende Untertasse abgestürzt. Die Reste wurden von Major Jesse Marcel gefunden, einem kompetenten Nachrichtenoffizier, der damals der 509. Bombergruppe zugeteilt war, dem einzigen mit Atomwaffen ausgestatteten Bombergeschwader der Welt. 1979 erklärte sich Major Marcel zu einem Interview für den Dokumentarfilm Fliegende Untertassen - es gibt sie wirklich bereit. Die dabei aufgezeichneten Bemerkungen des Majors sind unmißverständlich: »In einem Punkt herrscht gewiß kein Zweifel: Ich kenne mich mit Flugkörpern aller Art aus, und es handelte sich bestimmt nicht um einen Wetterballon, ein Flugzeug oder eine Rakete... Viele kleine Teile wiesen Symbole auf, die wir Hieroglyphen nannten, weil wir ihre Bedeutung nicht verstanden... Es [das Metall] war nicht dicker als das Stanniolpapier in einem Zigarettenpäckchen, aber ich konnte es nicht knicken...« Major Marcel fügte hinzu: »Dieser Vorfall ist der Öffentlichkeit deshalb dreißig Jahre lang verborgen geblieben, weil General Rainey eine falsche Erklärung abgab.« (Der General behauptete, die Trümmer seien als Reste eines abgestürzten Wetterballons identifiziert worden.) Der Major machte diese Aussage, nachdem er einige Jahre vor seinem Tod ehrenhaft aus dem Dienst entlassen worden war. Durch Mr. Friedman lernte ich auch den Sohn des Majors kennen, Dr. Jesse Marcel. Er wohnte im Westen der Vereinigten Staaten, führt dort eine erfolgreiche Arztpraxis und erinnert sich ganz deutlich an den UFO-Absturz. Er war damals elf Jahre alt. Eines Tages zeigte ihm sein Vater einige ungewöhnliche Iförmige Objekte. Sie stellten sich als sehr leicht heraus, und der Junge betrachtete mehrere violette Symbole. Major Marcel teilte seinem Sohn mit, daß die Gegenstände von einer fliegenden Untertasse stammten. Friedman und Moore haben viele Personen befragt, die mit dem Zwischenfall in Roswell zu tun hatten. Einige von ihne n waren unmittelbare Augenzeugen. Die beiden Forscher legten -135-
zweifelsfreie Beweise dafür vor, daß tatsächlich ein UFO abgestürzt war, aber die Presse begegnete ihnen trotzdem mit ausgeprägter Skepsis. Ich glaube, ich habe den Grund dafür entdeckt. Am 28. Februar 1960 zitierte die New York Times folgende Bemerkung des Admirals Roscoe Hillenkoetter, der zuvor Direktor der Central Intelligence Agency gewesen war: »Mit offizieller Verschwiegenheit und Spott wird der Bürger davon überzeugt, daß unbekannte Flugobjekte Unsinn sind.« Und: »Um die Fakten zu verbergen, hat die Luftwaffe ihre Mitarbeiter zu strengster Geheimhaltung verpflichtet.« Die Politik offizieller Verschwiegenheit und Spott bringt die Presse in eine hoffnungslose Lage. Wem soll sie glauben gewöhnlichen Bürgern, die verrückt klingende Geschichten erzählen, oder Repräsentanten der Regierung und berühmten Wissenschaftlern? Wahrscheinlich befand sich auch die Regierung selbst in einer sehr schwierigen Situation. Der CIA-Direktor Hillenkoetter schloß sich sogar einer UFO-Gesellschaft an, dem National Investigations Comittee on Aerial Phenomena (NICAP). 1962 wandte er sich von dem Komitee ab und meinte, die Luftwaffe habe alles getan, was ihr möglich sei. Die einzige andere Alternative bestehe darin, »auf eine Aktion der UFOs zu warten«. Wurde die US-Regierung von den Besuchern gezwungen, ihr Geheimnis zu wahren? Tatsache ist, daß uns die Fremden jederzeit ihre Präsenz offenbaren könnten. Doch sie ziehen es vor, im Verborgenen zu bleiben. Dadurch ist der Bürger allein, unwissend und völlig hilflos, wenn ihm die rätselhaften Entitäten einen Besuch abstatten. Gleichzeitig bedeutet es, daß man sich der Herausforderung stellen kann, wenn man die notwendigen Voraussetzungen mitbringt. Dieser Prozeß versetzt den Einzelnen in die Lage, -136-
sich neues Wissen anzueignen und eine Kraft zu gewinnen, die allein ihm zur Verfügung steht. Keine gewöhnliche soziale Institution - ganz gleich, wie gut ihre Absichten sind - kann ein solches Angebot unterbreiten. Mir scheint, daß Hillenkoetters UFOs tatsächlich aktiv werden. Es ist fantastisch: Die Fremden kommen zu uns, aber sie nehmen nicht etwa mit der anonymen Gesellschaft Kontakt auf, sondern mit einzelnen Individuen. Darüber hinaus befinden wir uns bei den Begegnungen nicht im üblichen Bewußtseinszustand, sondern in einem anderen, der uns einerseits verletzlicher werden läßt - und uns andererseits ein weitaus umfassenderes Verstehen ermöglicht. Der Filmemacher vertrat die gleiche Ansicht wie ich. Wir beide sahen in dem Bericht ›an den Präsidenten‹ einen Trick, der die Versuche meines Gastes, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, vereiteln sollte. Unserer Meinung nach handelte es sich um eine geschickt zusammengestellte Mischung aus Dichtung und Wahrheit. Indem wir seine Erinnerungen an den Inhalt des Dokuments mit meinen Reminiszenzen verglichen, hofften wir, das Wahre von den Lügen zu trennen. Acht Stunden lang unterhielten wir uns und tauschten Erfahrungen aus. Einige der Informationen stimmten mit Dingen überein, an die ich mich entsann. Mein Gast beschrieb mir das, was er über den ›Planeten‹ der Grauen wußte: eine Wüste, über der sich ein glühender, lohfarbener Himmel spannte; Gebäude aus Adobeziegeln. Das klang verblüffend vertraut. Bei meinen Erlebnissen im Sommer 1968 hatte ich einen solchen Ort gesehen. Der Filmemacher schilderte das Gelände jenseits der Bauwerke als öde Wüste und bot mir eine Erklärung für den Umstand an, daß es auf jener Welt nicht richtig dunkel wurde: Angeblich umkreiste sie einen Doppelstern, und nie versanken beide Sonnen gleichzeitig hinter dem Horizont. -137-
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich während einiger weniger Wochen einen fremden Planeten in einem ganz anderen Sonnensystem besucht hatte und anschließend wieder zurückgekehrt war. Vielleicht ging die entsprechende Erfahrung auf eine sehr realistische Simulation zurück, bei der eine Kombination aus Hypnose und halluzinogenen Drogen Verwendung gefunden hatte. Immerhin begann die Reise, als man mir drei Tropfen einer klaren Flüssigkeit auf die Zunge gab. Wir stellten auch fest, daß einige der Geschöpfe, die ich bei meinen Erlebnissen gesehen hatte, große Ähnlichkeit mit den im Bericht erwähnten Wesen aufwiesen. Die Besucher wartete zu jenem Zeitpunkt noch auf die Veröffentlichung; der Filmemacher konnte also nicht wissen, worum es bei meinen Beobachtungen ging. Trotzdem beschrieb er die kleinen grauen Wesen und ihre Heimat bis ins letzte Detail; er benutzte dabei seine Erinnerungen an das Dokument und die Aussagen von Augenzeugen, mit denen er gesprochen hatte. Ende 1987 entdeckten William Moore und Stanton Friedman den Bericht ›an den Präsidenten‹ und veröffentlichten ihn. Ich stellte fest, daß sich der Filmemacher recht gut an den Inhalt erinnert hatte. Einige offizielle Stellen bezeichneten das Dokument als Fälschung. Dr. Roger W. Wescott, ein Sprachwissenschaftler, der einen ausgezeichneten Ruf genießt, machte sich die Mühe, die Authentizität des Berichts zu überprüfen. In einem Brief vom 7. April 1988, in dem es um mehrere angeblich von Admiral Hillenkoetter verfaßte Dokumente ging, schrieb Dr. Wescott: »Es gibt nicht den geringsten Grund dafür, Fälschungen in diesen Unterlagen zu sehen oder zu glauben, sie stammten von jemand anderem als Hillenkoetter.« Er fügte hinzu: »Das gilt auch für den umstrittenen Bericht an den Präsidenten vom 18. November 1952.« Ich möchte noch einmal betonen, daß diese Bemerkung Dr. Wescott machte, ein forensischer Experte für Sprachen und Schrift; es kann also kein -138-
Zweifel an der Echtheit des unglaublichen Dokuments bestehen. Nach den Informationen des Filmemachers gibt es zwei grundsätzliche Arten von Besuchern: kleine Wesen mit großen, schwarzen Augen - und größere mit hellerer Hautfarbe, die humanoider wirken und bei Menschen keine solche Furcht wecken wie die Grauen. Ich habe diese beiden verschiedenen Besucher-Arten ebenso gesehen wie andere Kontaktpersonen. Darüber hinaus begegnete ich den bereits erwähnten kleinen Männern in blauen Uniformen und jenen hochgewachsenen Geschöpfen, die eine erhebliche verändernde Wirkung auf mich hatten. Die besten Beschreibungen der Grauen kamen von einer Frau, die mir von einem außergewöhnlichen Erlebnis schrieb, das am Tag stattfand. Zwar hatte sie später eine Gedächtnislücke, die mehrere Stunden umfaßte, doch sie sah die Wesen am hellichten Tag und bei vollem Bewußtsein. »Zwei der Geschöpfe ähnelten sich sehr, und das dritte war größer und dünner«, heißt es in ihrem Brief. »Die kleinen und dicken Wesen mochten etwa hundertzwanzig bis hundertvierzig Zentimeter groß sein, hatten breite, flache Gesichter und enorm große Augen, doch es gab nur Andeutungen dort, wo man Mund und Nase vermutet. Die entsprechenden Öffnungen sahen aus wie schmale Striche... Ich wußte instinktiv, daß es sich um männliche Arbeiter handelte. Die dritte Gestalt war weiblichen Geschlechts und knapp hundertsechzig Zentimeter groß. Sie... hatte ein sehr langes Gesicht, dunkle, durchdringend blickende Augen und ebenfalls nur Andeutungen dort, wo sich Nase und Mund befinden sollten.« Nach unserem langen Gespräch spürten der Filmemacher und ich eine gewisse Enttäuschung. Zwar hatten wir einige Fortschritte erzielt, aber im Grunde genommen ging es nur um Mutmaßungen, denen nach wie vor eine konkrete Basis fehlte. Die obengenannten Beschreibungen sind jedoch sehr exakt, und -139-
andere Aspekte in den Erfahrungen der Frau deuten darauf hin, daß sie den Fremden tatsächlich begegnete und ein reales Erlebnis schilderte. Gegen Abend beendeten der Filmemacher und ich unser Gespräch, und wir gingen ins Erdgeschoß, um zu essen. Seit dem frühen Morgen war der Himmel bedeckt, und jetzt nieselte es. Das bedauerte ich sehr, denn ich hatte unserem Gast den prächtigen Nachthimmel zeigen wollen. Nach dem Essen sahen wir uns einen alten Videofilm an, und plötzlich hörte ich dicht am linken Ohr eine radioartige Stimme. »Geh nach draußen«, sagte sie. Ich verließ die Blockhütte und blieb neben dem Swimmingpool stehen. Ein herrlicher, zutiefst beeindruckender Anblick bot sich mir. Die Wolken wichen zur Seite, öffneten sich wie die Tür eines großen Observatoriums. Ich rief die anderen, und gemeinsam beobachteten wir, wie die ganze Wolkenmasse von Norden nach Süden glitt, als werde sie von einem riesigen Lineal fortgeschoben. Es schien tatsächlich ein Tor aufzuschwingen: Der Wolkenrand war völlig gerade. Wir standen draußen und sahen zu den Sternen auf. Später gingen wir in die Sauna, von der aus man ebenfalls den Himmel sehen kann. John Gliedman ist Amateurastronom und bemerkte einen blassen Stern, der sich auf seltsame Art und Weise bewegte. Er näherte sich von Westen her und verharrte im Sternbild Leier. Eine Zeitlang schwebte er neben der Wega, und dann verschwand er plötzlich. Für Gliedman war das völlig unerklärlich. Nach einer Stunde kehrten die Wolken zurück. Am nächsten Morgen verabschiedeten sich unsere Gäste. Daraufhin wurde es sehr still im Haus. Mein entschlossenes Bestreben, mehr über die Besucher zu erfahren, verwandelte -140-
sich in Unbehagen und Furcht. Erneut war ich allein, und die fremden Wesen erschienen mir realer als jemals zuvor. Ich fühlte mich ganz und gar hilflos.
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DER SCHRECKEN DES REALEN Zwei Tage nach der Begegnung mit dem Filmemacher beschloß ich, selbst etwas zu unternehmen. Nur ein logischer Weg stand mir offen: Ich mußte mich meiner Furcht stellen. Es war mir durchaus klar, wie sich eine derartige Konfrontation herbeiführen ließ. Aber allein der Gedanke daran erfüllte mich mit Schrecken! Wenn es dunkel wird, scheint der Wald zu wachsen und unserer Blockhütte gierige Finger entgegenzustrecken. Außerdem hat man dabei oft das ausgeprägte Gefühl einer fremden Präsenz. Man glaubt, Schritte auf der Veranda zu hören oder Lichter zu sehen, die hinter den Fenstern schimmern. Manchmal hört man seltsames Flüstern am Himmel über dem Haus. Entsetzen erfaßte mich, als ich mir vorstellte, des Nachts nach draußen zu gehen. Ich brachte es kaum fertig, an die Fenster heranzutreten, geschweige denn, die Hütte zu verlassen. Jede Nacht schwitzte ich hinter Barrieren aus elektronischen Sicherheitssystemen. Ich konnte die Furcht einfach nicht aus mir verbannen, hatte ich doch bereits festgestellt, daß kein einziger Mensch etwas über die Besucher wußte, das jeden Zweifel um ihrer Ungefährlichkeit ausschloß. Je mehr sicheres Wissen eine Person beanspruchte, desto mehr Angst schien sie auch zu haben. Die Besucher versuchten nicht, mich zu beruhigen. Durch nichts gaben sie zu erkennen, daß sie darauf verzichten wollten, mich zu verletzen oder mir Schmerzen zuzufügen. Angesichts dieser verzwickten Situation sah ich nur einen Ausweg: Ich mußte meine Furcht und die Besucher selbst herausfordern - indem ich mitten in der Nacht die Blockhütte -142-
verließ und durch den finsteren Wald ging. In der Nacht des 22. August 1986 - an einem Freitag versuchte ich, diese Absicht in die Tat umzusetzen. Es war etwa halb elf. Ich wartete, bis Anne und Andrew schliefen und ging zur Tür, die zum Swimmingpool führte. Das Licht der Lampen im Haus spiegelte sich auf der unbewegten Wasseroberfläche wider. Jenseits des Beckens erhebt sich ein niedriger Hügel, und dahinter beginnt der Wald. Die Bäume schwiegen. Im Winter herrscht an diesem Ort manchmal eine wahrhaft erstaunliche Stille, aber jetzt war Sommer, und das Zirpen der Grillen und Zikaden verlieh mir ein vages Gefühl der Sicherheit. Ich beobachtete den dunklen Pfad, der zum Wald führte - und erinnerte mich daran, daß man mich einst über diesen Weg getragen hatte, während ich verzweifelt zu schreien versuchte. Langsam ging ich am Pool vorbei. Meine Gedanken rasten. Die Gesichter der Besucher zitterten vor dem inneren Auge, und ich hörte flüsternde raunende Stimmen. Dutzende von furchterfüllten Fragen vibrierten in dem Teil meines Bewußtseins, der sich danach sehnte, endlich zu verstehen. Die fremden Wesen waren Ungeheuer, Seelenfresser. Und ich wanderte durch die Finsternis, um sie in Versuchung zu führen. Am Tor, das den Pool- Bereich vom Hinterhof trennte, blieb ich stehen. Meine Hand zog, aber nicht stark genug. Ein inneren Widerstand hinderte mich daran, das Tor zu öffnen. Eine Zeitlang stand ich dort und starrte in die Nacht. Um ganz ehrlich zu sein: Meine Furcht war wesentlich größer, als ich bis dahin geglaubt hatte. Irgend etwas schnürte mir die Kehle zu. Ich bebte am ganzen Leib, konnte mich kaum mehr unter Kontrolle halten. Ein solches Grauen erlebte ich zum erstenmal. Das bewußte -143-
Ich fürchtete sich, doch was schlimmer war - unter dieser Schicht brodelte schieres Entsetzen. Angst floß durch meine Adern, brachte Schrecken zu dem Reptil, das tief im Innern eines jeden Menschen kauert. Warum? Wußte das Unterbewußtsein etwas über sie, das mein zentrales Selbst erst zu erahnen begann? Schließlich drehte ich mich um und kehrte ins Haus zurück. Soviel zu der Wanderung durch den Wald - ich schaffte es nicht einmal, den Bereich des Swimmingpools zu verlassen! In der nächsten Nacht zögerte ic h erneut am Tor und suchte vergeblich nach dem Mut, es zu durchschreiten. Die Augen der Besucher waren so furchtbar bewußt. Kein Wunder, daß ich mich davor fürchtete, ihnen gegenüberzutreten. Die Tage verstrichen, und schließlich erzählte ich einigen Wissenschaftlern, mit denen ich zusammenarbeitete, von meinem Versuch, eine nächtliche Wanderung zu unternehmen. Nicht einmal die skeptischen unter ihnen hielten das für eine gute Idee. Der größte Kritiker erwiderte: »Um Himmels willen! Nie zuvor habe ich so etwas Schreckliches gehört.« Ein anderer fügte hinzu: »Wenn Sie durch den Wald gehen und dabei etwas wie die Wölfe sehen - ganz gleich, wie ephemerisch die Erscheinung sein mag -, rate ich Ihnen, die Beine in die Hand zu nehmen.« Nun, selbst wissenschaftliche Objektivität ist kein ehernes Prinzip. Wohlgemerkt: Es handelte sich um Männer, die sicher waren, daß es für meine Erlebnisse eine völlig normale Erklärung gab. Wenn sich das Bewußtsein nicht fürchtet, so zittert das Herz. Und wenn das Herz Mut schöpft, so wird das Blut von Angst durchjagt. Bei mir erfaßte das Grauen jeden noch so abgelegenen Winkel meiner physisch-psychischen Existenz. Und dafür gab es einen guten Grund. All die vielen mit den -144-
Besuchern in Zusammenhang stehenden Was ist, wenn... wandten sich gegen mich. Ich fürchtete, daß die geringste zustimmende Geste genügen könne, um die Fremden zu veranlassen, mich zu holen und fortzubringen. Vielleicht töteten sie mich und fraßen meine Seele. Ich fragte mich, was der eine Wissenschaftler gemeint hatte, als er mich vor dem eigenen Wolf in mir warnte. Erneut ging ich meine Manuskripte durch. Abgesehen von Die Besucher und einer neulich geschriebenen Kurzgeschichte gab es keine direkten Bezüge zum UFO-Phänomen. Doch mein ganzes Werk schien das Bemühen widerzuspiegeln, mit einer gewaltigen, verborgenen und furchtbaren Realität fertig zu werden. Die frühen Gedichte enthalten viele Hinweise darauf, daß ich mich in der Zeit verirre und des Nachts tanze. In ihnen findet ein Blickwinkel Ausdruck, der nicht dem Üblichen entspricht: ›Gott ist wild, und ich bin zahm... Die Nacht bricht an und beendet ein Zeitalter... Wir rufen, und die Antwort ertönt durch dichtes Laubwerk, formuliert von Stimmen, die viel zu seltsam sind, als da sie von stammen könnten...‹ Die Wölfe waren grau, versteckten sich in den Ritzen des Lebens und nutzten ihre enorme Intelligenz, um Menschen zu jagen, ihre natürliche Beute. Ich dachte an Miriam Blaylock, die Vampirin aus Der Kuß des Todes. Sie trank Blut, weil es die Substanz der Seele enthielt, die Quelle ihrer Unsterblichkeit. Wenn ihre menschlichen Gefährten starben, blieben die Seelen für immer in den Körpern gefangen, bis in alle Ewigkeit. Miriam gehörte zur Natur, ebenso wie die Wölfe, und sie beschreibt sich als ›Teil der irdische n Gerechtigkeit‹. In Todesdunkel (Heyne 01/8179) geht es um die geheime Erforschung des Übersinnlichen und um Bewußtseinskontrolle. Und dann Kirche der Nacht (Heyne 01/7888): Zentrales -145-
Thema ist einmal mehr eine Kraft, die Seelen fressen kann. Habe ich in diesen Romanen versucht, die verdrängte Angst vor sehr realen Besuchern zu verarbeiten? Nur in Katzenmagie (Heyne 01/7666) erscheint jene Kraft in einem positiven Licht: Die ›Fee‹ manipuliert und kontrolliert die menschliche Gesellschaft, um das Erblühen der Seelen zu ermöglichen. Ich gab die Versuche auf, des Nachts durch den Wald zu gehen - hatte ich es doch nicht einmal fertiggebracht, das Tor am Swimmingpool zu durchschreiten. Am Morgen eines der nächsten Tage ergaben sich überhaupt keine Schwierigkeiten. Unbefangen ging ich umher und genoß den Sonnenschein. Blaue Kornblumen wuchsen an den Wegen, und würziger Kiefernduft erfüllte den Wald. Hohe Walnuß- und Ahornbäume beschatteten den Bach, der mein Grundstück begrenzte. Ich beobachtete kleine Fische unter Steinen, und das Wasser gluckerte glücklich und zufrieden. Plötzlich fühlte ich mich erschöpft und nahm mitten auf dem Pfad Platz. Ich wollte schreien, brachte jedoch keinen Laut hervor. Neben mir summte eine Hummel über dem Klee. Nach einer Weile stand ich wieder auf und beschloß, in der folgenden Nacht durch den Wald zu gehen. Diesmal würde ich nicht am Tor stehenbleiben. Um elf verließ ich die Blockhütte und spürte dabei eine seltsame Wachsamkeit. Wie ein nervöses Kaninchen schlich ich am Pool vorbei. Was für ein Narr ich war. Niemand fordert einen Tiger heraus. Trotzdem ging ich weiter, konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich erreichte das Tor. Deutlich roch ich das Gras und hörte das Rascheln der Blätter. -146-
Meine Beine fühlten sich an wie Blei, es lief mir kalt über den Rücken, und ich schauderte. Das Herz klopfte mir bis zum Hals empor, und ich konnte kaum mehr atmen. Um die Furcht zu überwinden, nutzte ich die Erfahrungen langjähriger Meditation und Selbstbesinnung. Mit mentalen Händen griff ich nach der nervösen Spannung und schob sie in den Schwerpunkt meines Körpers, hielt sie dicht unter dem Nabel fest. Dann ging ich die kurze Treppe hinunter und auf den Hinterhof. Plötzliche Windstöße und das Knacken von Zweigen erfüllten mich mit jäher Panik. Ich brauchte meine ganze Kraft, um am Rand der Wiese entlangzuwandern. Angst verwehrte mir den Weg zum Wald. Ich kehrte um. Kurze Zeit später im Haus trank ich einen Brandy. Ich brauchte ihn, um mich zu beruhigen, und gleichzeitig feierte ich damit einen kleinen Sieg: Immerhin hatte ich es endlich geschafft, das Tor zu durchschreiten. In jener Nacht schlief ich so gut wie schon seit Wochen nicht mehr. Der nächste Tag war ruhig, und ich verbrachte ihn mit gründlichen Überlegungen. Erneut wanderte ich im Sonnenschein und dachte über den Unterschied zwischen Dunkelheit und Licht nach. Tagsüber litt ich nicht an Furcht, doch mit der Finsternis kehrte das Entsetzen zurück. Das menschliche Verstellungsvermögen bevölkert die Schatten der Nacht mit Dämonen. Um elf Uhr am Abend des 27. August ging ich erneut nach draußen. Es fiel mir nicht leichter als vorher. Auch diesmal wartete ich, bis Anne schlief. Wir hatten über meine nächtlichen Ausflüge gesprochen, und sie vertrat ebenfalls die Ansicht, daß ich mich meiner Furcht stellen müsse, obgleich das gefährlich sein konnte. Anne verstand mein -147-
Bedürfnis, die innere Angst zu überwinden. Ich versuchte, die Kuppe des Hügels zu erreichen, an den sich der Wald anschloß. Als ich schließlich auf ihr stand und in die Dunkelheit starrte, fühlte ich mich fast wie gelähmt. Ich hörte das Plätschern des Baches, das gelegentliche Rascheln eines herabfallenden Blattes. Erneut sah ich mich außerstande, den Weg in die Schatten fortzusetzen und den gleichen Pfad zu beschreiten, über den ich am Tag gewandert war. Wieder ging ich am Rand der Wiese entlang. Auf der einen Seite endet sie an dichtem Gebüsch, und als ich jene Stelle erreichte, blickte ich zum Haus zurück, sah warme Lichter und die klar abgegrenzten Kontur en des Daches. Darüber funkelten Sterne. Eine Sternschnuppe sauste über den Himmel. Ich nahm an, daß sie zum Meteorschwarm der Perseiden gehörte, die man für gewöhnlich im August beobachten kann. Ich kehrte in die Blockhütte zurück, duschte und nahm dann im Wohnzimmer Platz, um zu lesen. Dr. Gliedman hatte mir seinen Essay ›Quantenkonflikte: Über Atomphysik und die Natur der Realität‹ gegeben, und ich kannte schon die ersten Kapitel. Ich setzte mich in einen Sessel am Fenster und griff nach dem Manuskript. Etwas glühte am Haus, doch der Glanz verblaßte sofort wieder. Es wurde völlig still. Ich war wach und aufmerksam, in jeder Hinsicht normal. Anne und Andrew schliefen. Unsere Katzen hockten auf der nahen Couch... Und wurden unruhig. Die Birmakatze richtete sich auf, und die Siamkatze schlich auf der Rückenlehne hin und her. In seinem Buch Catwatching führt Desmond Moris aus, daß Katzen bevorstehende Erdbeben und Vulkanausbrüche spüren. Außerdem fühlen sie elektrische Entladungen und reagieren auf Veränderungen des irdischen Magnetfelds. Es ist nicht sicher, ob sie auch in bezug auf Vibrationen und statische Elektrizität besonders sensibel sind. -148-
Die Birmakatze duckte sich und starrte zur Rückwand des Zimmers. Die Siamkatze hatte den Schwanz hoch erhoben, er war so buschig wie der eines Waschbärs. Ich rief ihren Namen, und sie sah mich an. Völlig untypische Furcht glitzerte in ihren Augen. Das sonderbare Verhalten der beiden Katzen ergab überhaupt keinen Sinn für mich. Ich vermutete, daß sie ein Tier witterten vielleicht hatte sich ein Hirsch der Blockhütte genähert -, und konzentrierte mich wieder auf Dr. Gliedmans Manuskript. Ich las den folgenden Satz: ›Das Bewußtsein ist nicht der dramatische Dirigent der Realität.‹ Dann vernahm ich ein Klopfen an der Seite des Hauses: ein deutliches Geräusch, unüberhörbar und bemerkenswert regelmäßig. Die zeitlichen Abstände zwischen dem Pochen waren genau gleich, so als werde das Geräusch von einer präzise eingestellten Maschine verursacht. Die beiden Katzen erstarrten vor Entsetzen und blickten noch immer zur Rückwand. Das Klopfen wiederholte sich, bildete drei Dreiergruppen, und die Sequenz endete mit einem leiseren doppelten Pochen. Ich lokalisierte die Stelle, von der die Geräusche kamen: Sie hatten ihren Ursprung dort, wo die Wand am Dach endete, gut fünf Meter über dem Kies der Zufahrt. Unmittelbar darunter standen zwei Fenster offen. Wenn jemand mit einer Leiter über die Zufahrt gegangen wäre, hätte ich die Schritte auf dem Kies bestimmt gehört. Außerdem hätten in einem solchen Fall die Bewegungsdetektoren reagieren und das Licht einschalten müssen. Doch jenseits der Fenster blieb alles dunkel. Ich halte es praktisch für unmöglich, auf dem Dach über dem Wohnzimmer der Blockhütte zu stehen. Im Bereich des Schlafzimmers weist das Dach nur eine geringe Neigung auf, aber hier ist es sehr schräg. Außerdem: Es wäre mir bestimmt nicht entgangen, wenn jemand auf der Hütte herumkletterte. Ich -149-
dachte an das Knarren der Balken, Bretter und Schindeln. Die Nacht war völlig still, und solche Geräusche hätte ich zweifellos gehört. Ich bin absolut sicher, daß ich mir die Klopfzeichen nicht einbildete. Es handelte sich auch nicht um das charakteristische Knacken von Holz. Ihre verblüffende Regelmäßigkeit ließ nur einen Schluß zu: Sie waren ganz bewußt verursacht worden. Ein von Nachbarn gespielter Streich kam ebenfalls nicht in Frage. Im Sommer 1986 hatten unsere Nachbarn noch keine Ahnung von meinen Besucher-Erlebnissen. Außerdem gab es praktische Erwägungen, die gegen eine solche Erklärung sprachen. Um die Stelle zu erreichen, von der das Klopfen stammte, brauchte man eine mindestens dreieinhalb Meter lange Leiter und einen Stock. Eine so große Leiter ist recht schwer, selbst wenn sie aus Aluminium besteht. Ganz gleich, wer sie auch getragen hätte. Er mußte über die Zufahrt gehen, ohne daß die Bewegungsdetektoren auf ihn reagierten, und anschließend sah er sich mit der überaus schwierigen Aufgabe konfrontiert, die Leiter auf dem Kies in Position zu bringen, ohne daß ich etwas hörte - obgleich ich nur knapp zwei Meter entfernt an einem offenen Fenster saß. Später stellte ich mit einem Experiment fest, daß so etwas völlig unmöglich war. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, daß es nur eine plausible Erklärung für das Klopfen gibt: Es stellte ein Zeichen der Besucher dar. Ich habe nicht das vage Pochen vernommen, wie man es mit spiritistischen Sitzungen assoziiert. Es war laut und deutlich und klar, und gleichmäßige Intervalle unterteilten es in drei Dreiergruppen, gefolgt von einem leisen Doppelklopfen. Die Katzen schienen außer sich vor Furcht zu sein. Die Siamkatze stakte steifbeinig auf dem Eßtisch umher. Die Birmakatze starrte aus weit aufgerissenen Augen an die Wand. Dann sausten sie beide fort. Die Siamkatze floh ins Zimmer -150-
meines Sohne s, und die Birmakatze versteckte sich im Bad, in einem Regal mit Wäsche. Erst um zwanzig nach neun am nächsten Abend verließ sie ihr Refugium, trank Wasser und verschwand dann in ihrem Korb. Als das Klopfen verklang, hatte ich auf die Uhr des Videorecorders gesehen: elf Uhr fünfunddreißig. Nach dem Aufhören der Geräusche blieb die Katze also fast vierundzwanzig Stunden lang in ihrem Versteck. Ich nahm das Pochen als einen Beweis dafür, daß etwas physisch Reales zugegen gewesen war, um sich mir mitzuteilen. Genau das wollen Menschen, die meine Begegnungen mit den Besuchern als das Produkt einer ausufernden Fantasie bezeichnen, nicht hören. Aber ich bin weder übergeschnappt noch ein Lügner, und ich leide auch nicht an einem organischen Hirnleiden. Manifestationen wie das Klopfen können unmöglich auf irgendeine Krankheit zurückgeführt werden. Sie stellen kein Symptom dar. Meine Katzen hätten wohl kaum auf etwas reagiert, das sich allein in mir selbst abspielte. Was ich schildere ist ein tatsächliches, reales Ereignis. Ich war wach und in einem ganz normalen Bewußtseinszustand, als ich das Pochen vernahm - es bot mir den ersten klaren Anhaltspunkt dafür, daß die fremden Wesen Teil dieser Welt sind. Sie beantworteten meine Versuche, eine Beziehung zu ihnen herzustellen und die Furcht in mir zu besiegen, indem sie mich auf ihre physische Existenz hinwiesen. Das erstaunliche Erlebnis vom 27. August 1986 bestärkte mich in meiner Entschlossenheit, weiterhin alles aus der richtigen Perspektive zu sehen und die Beant wortung aller Fragen offenzulassen. Wir haben es mit einer sehr ernsten Angelegenheit zu tun, die erst dann bewertet werden kann, wenn wir mehr in Erfahrung gebracht haben. Glauben wir in diesem Zusammenhang an etwas, das sich später als falsch herausstellt, so legen wir uns selbst Hindernisse in den Weg, hüllen wir die -151-
Besucher in ein weiteres Gespinst der Mythologie. Ich fürchte, während der Menschheitsgeschichte ist das häufig geschehen. Nach dem Klopfen eilte ich nach draußen. Und ich dachte dabei: Du bist noch nicht bereit. Geh ins Bett. Am nächsten Morgen glaubte ich, daß ich meinen eigenen Rat beherzigt hatte. Aber irgend etwas stimmte nicht. Während des Pochens war mein Bewußtseinszustand zweifellos normal, doch als ich aufstand, schien eine geistige Veränderung stattzufinden. Leider erinnerte ich mich erst Wochen später, was sich nach dem Klopfen zugetragen hatte. Am Morgen nach jenem Abend hatte ich das höchst unangenehme Gefühl, versagt zu haben. Die Besucher kamen, klopften an die Wand - und ich blieb wie erstarrt sitzen, fürchtete mich viel zu sehr, um die Tür zu öffnen! Ich weiß nicht, ob ich die späteren Erinnerungen selbst entwickelte, um mich besser zu fühlen, oder ob sie sich hinter einer Schirmerinnerung verbargen. Eines Tages sah ich auf die Uhr des Videorecorders und entsann mich plötzlich daran, daß sie 2:18 nachts angezeigt hatte. Ein weiteres Bild entstand vor meinem inneren Auge: In der Nacht des Klopfens stieg ich die Treppe hoch. Doch ich hörte das Pochen um elf Uhr fünfunddreißig, und bisher hatte ich geglaubt, einige Minuten später ins Schlafzimmer gegangen zu sein. Was war während jener drei Stunden geschehen? Mein Gedächtnis bot mir zwei verschiedene Erinnerungssequenzen für die gleiche Zeitspanne an. Ich entsann mich daran, daß ich im Sessel gesessen und das Manuskript beiseite gelegt hatte, daß ich dann aufstand und dachte, ich sei noch nicht bereit, den Besuchern direkt gegenüberzutreten. Gleichzeitig erinnerte ich mich deutlich daran, daß ich zur Tür ging und mich eine Zeitlang bemühte, sie zu öffnen - was mir schließlich gelang. -152-
Ich ging nach draußen in die Dunkelheit und sah mich um. Nichts. Als ich den Kopf hob, um nach oben zu blicken, fiel mir eine Bewegung neben dem rechten Bein auf, und deshalb starrte ich nach unten. In Taillenhöhe glühte etwas: Das durch die offene Tür fallende Licht glitzerte in drei Paaren großer schwarzer Augen. Unmittelbar darauf verwandelte sich meine Umgebung, und ich sah eine Vision. Vor mir erstreckte sich eine Wiese mit gelben Blumen, reichte bis zur Kuppe eines niedrigen Hügels. Am dunklen Himmel leuchteten so große und helle Sterne, daß ich den Eindruck gewann, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um sie zu berühren. Das Firmament mochte schwarz sein, aber trotzdem glänzte heller Sonnenschein auf die Blumen herab. Während ich sie beobachtete, spürte ich warmen Wind, der mir über den Rücken strich. Kinder aller Altersgruppen und Größen liefen an mir vorbei über die Wiese, lachten und tanzten, tollten über den Hügelhang. Sie bildeten eine lange Kolonne und winkten immer wieder; ich verspürte den intensiven Wunsch, mich ihnen anzuschließen. Sie liefen den Hügel hoch und direkt in den Himmel, eine Säule aus Kindern. Als sie das Himmelsdach berührte, platzte die Säule auseinander, und es entstanden viele neue Sterne. »Dies ist die Wiese, auf der die Sünden der Welt begraben werden«, sagte eine Stimme. Ich wollte zu den Blumen gehen, aber etwas hielt mich fest. Schmerzhafte Verzweiflung wuchs in mir, und nach einigen Sekunden wich sie reiner Freude darüber, daß ein solcher Ort existierte. Doch die Erinnerung, ins Schlafzimmer gegangen zu sein und mich ins Bett gelegt zu haben, betraf die gleiche Zeitspanne. Offen gestanden: Diese zweite Reminiszenz erschien mir realer, obwohl sie nicht annähernd so außergewöhnlich war wie die erste. -153-
Später erzählte ich meinem Bruder von diesem Erlebnis. »Seltsam«, erwiderte er. »Mein ganzes Leben lang haben mich Vorstellungen von einer Wiese mit gelben Blumen begleitet. Ich denke oft daran, wenn ich mich entspanne.« Im nächsten Frühling erwartete uns eine angenehme Überraschung vor der Blockhütte. Genau dort, wo ich sie im vergangenen August gesehen hatte, befand sich jetzt eine Wiese mit gelben Blumen. Wie sich herausstellte, hatte die Landschaftsgärtnerin im Oktober Knollen gepflanzt - ohne etwas von meiner Vision zu wissen. Mir war nichts von ihren Plänen bekannt gewesen, und die Blumen überraschten mich aus einem ganz bestimmten Grund. Es handelte sich um gelbe Narzissen.
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DAS FEUER DER FRAGE Während der Tage, die dem Klopfen folgten, fühlte ich mich überwältigt und erschüttert. Ich erinnerte mich an die gespenstische Präzision: drei Dreiergruppen, sorgfältig voneinander getrennt, sowohl die zeitlichen Abstände als auch die Lautstärke genau gleich. Und dann das leisere doppelte Pochen. Es schien nicht Teil der vorhergehenden Gruppe zu sein und sollte wohl die akustische Sequenz abschließen. Ich interpretierte das neunmalige Klopfen als eine Mitteilung, als einen Satz, und das zweifache Pochen am Schluß kam einem Punkt gleich, der ihn beendete. Ich habe versucht, das Klopfen nachzuahmen. Aus einiger Entfernung warfen wir Steine an die Hauswand. Ich kletterte aufs Dach, streckte mich darauf aus und schlug mit einem Stock nach unten. Damals gab es nicht einmal Regenrinnen, die festen Halt boten. Ich untersuchte den Erfassungsbereich der Bewegungsdetektoren: Niemand war imstande, sich des Nachts dem Haus zu nähern, ohne daß die elektronischen Sensoren reagiert hätten. Ich bat Freunde darum, mit Leitern zur Hütte zu schleichen. Ganz gleich, wie leise sie waren - ich hörte sie trotzdem. Wenn sie die Stelle erreichten, an der ich das Klopfen gehört hatte, konnten sie auch die geradezu schreckliche Regelmäßigkeit des Pochens nicht wiederholen. Ich hatte mich vielleicht geirrt, was den örtlichen Ursprung der Geräusche betraf? Ich saß im Wohnzimmer, während einige Personen an verschiedene Bereiche der Wand schlugen, und es fiel mir überhaupt nicht schwer, die jeweiligen Stellen zu lokalisieren. Ich rief sogar die Audubon Society an und fragte, ob es Vögel gäbe, die des Nachts an Hauswände pickten. Spechte kamen nicht in Frage. Und Eichhörnchen, Ratten, Mäuse oder Waschbären? Ebenso unwahrscheinlich wie ein an Schlaflosigkeit leidender Specht - das Klopfen hatte viel zu -155-
präzise geklungen. Ich experimentierte ein wenig mit den Katzen. An einem Nachmittag stellte ich eine Leiter zurecht, und abends - um genau elf Uhr fünfunddreißig - kletterte ich zum Dach und gab mir alle Mühe, das Pochen so gut wie möglich nachzuahmen. Sadie hob kaum den Kopf, und Coe reagierte überhaupt nicht. Ich klopfte so laut wie die Besucher, aber meine Katzen blieben gleichgültig. Schließlich zwang ich mich dazu, die Fakten zu akzeptieren. Für das Klopfen gab es eine reale, physische Ursache. Es war das Ergebnis eines aktiven, bewußten Wirkens, das physisch zu dieser Welt gehörte. Wer auch immer dahintersteckte: Er hatte mich aufmerksam beobachtet und festgestellt, daß ich mit meiner Angst fertig zu werden versuchte. Ich hielt das Pochen schließlich für eine direkte Reaktion auf meine Bemühungen, und sie ging weit über meine Erwartungen und Hoffnungen hinaus. Wäre ich den Besuchern mit wachem, unverändertem Bewußtsein begegnet, wenn ich nicht gezögert hätte? Was wäre geschehen, wenn ich sofort draußen nachgesehen hätte? Diese Überlegungen quälten mich. Ich zerbrach mir auch den Kopf über die mögliche Bedeutung des Klopfens. Immer wieder versuchte ich, die Botschaft der Besucher zu verstehen, doch ich mußte mich dabei auf Ahnungen und Vermutungen beschränken. Dabei hatte ich das Gefühl, eine unbekannte Welt entdeckt zu haben, die schon immer um uns herum existierte und vielleicht eine wesentlich größere Wirklichkeit darstellte. Ich erinnerte mich an die sonderbaren Stadien in der goldenen Stadt, an das helle Licht über ihnen. Damals hatte ich den Eindruck gewonnen, daß sich viele Personen in ihnen aufhielten. Waren die Straßen und Gebäude deshalb leer? Aber ich vernahm überhaupt keine Geräusche und konnte nicht weit genug aufsteigen, um in die gewaltigen Ovale zu sehen. Als ich -156-
schließlich hoch über der Stadt schwebte, hinderte mich das grelle Licht in den Stadien daran, Einzelheiten zu erkennen. Was geschah dort? Hätte ich unter anderen Umständen vielleicht unser Leben gesehen, das vor einem Publikum aus Engeln inszeniert wurde? Während jener Zeit veränderte sich meine Furcht. Zuvor enthielt sie ein abstraktes Element - tief in mir hatte ich stets angenommen, daß ich nur erwachen mußte, um selbst das schlimmste und schrecklichste Besucher-Erlebnis zu beenden. Offenbar wußten die fremden Wesen von meinen Versuchen, des Nachts in den Wald zu gehen. Ich fühlte mich mehr als nur beobachtet: Die Besucher schien in mir zu sein und aus meinem Innern zuzusehen. Die Angst vor einer Entführung kehrte zurück, und als ich genauer darüber nachdachte, wurde mir einmal mehr meine Hilflosigkeit klar. Wie sollte ich meine Familie schützen? Wie konnte ich verhindern, daß die Fremden Andrew verschleppten, oder mich und Anne, vielleicht gar uns alle? Das gräßliche Gefühl der Ohnmacht wurde immer intensiver. Gab es jemanden, den ich um Hilfe bitten konnte? Die Polizei? Das FBI? Diesen Organisationen ergeht es wie der ganzen Gesellschaft: Sie sind Opfer der vom CIA-Direktor Hillenkoetter beschriebenen Taktik, mit der die Präsenz der Besucher geleugnet und ins Lächerliche gezogen wird. Offiziell ignorieren sie die Fremden. Und inoffiziell lachen sie. Nein, ich durfte nicht auf Hilfe hoffen. Selbst meine besten Freunde konnten unmöglich verstehen, in welcher Situation wir uns befanden. Meine Familie und ich, wir sahen uns mit einem sonderbaren, erschreckenden Etwas konfrontiert, und wir waren ganz allein. Besser gesagt: Ich war ganz allein. Die unmittelbaren Kontakte bezogen sich auf mich, betrafen Anne und Andrew nur indirekt. Ich glaubte, dies alles nicht länger ertragen zu können - als -157-
mir das Klopfen plötzlich neues Verstehen in Aussicht stellte. Ich möchte hier nicht lügen und behaupten, die Furcht überwunden zu haben. Zumindest ein Teil des Entsetzens blieb in mir, weil ich begriff, daß die Besucher physisch existierten. Aufgrund dieser Erkenntnis mußte ich meine früheren Spekulationen über Bord werfen. Wie sollte ich mich angesichts einer konkreten, substantiellen Macht verhalten? Die Stärke der Religion, die Energie des Intellekts, die Kraft des Körpers Werkzeuge, mit denen ich nun nichts mehr anfangen konnte. Während des Klopfens hatte ich kaum Furcht empfunden, ich war eher schockiert und verblüfft gewesen. Die Angst entstand erst nachher, klammerte sich in mir fest. Wenn ich daran dachte, daß ich vielleicht nicht aus freiem Willen aufgestanden war, um das Haus zu verlassen, brannte das Grauen noch heißer in mir. Warum fürchtete ich mich so sehr? Warum fiel es mir so ungeheuer schwer, den primitiven Teil meines Selbst zu überwinden und ein wenig Mut zu zeigen? Ich rang mit diesen Gedanken, als mir plötzlich einfiel, daß den neun Klopfzeichen eine sehr spezielle und wundervolle Bedeutung für mich zukommen könne. Anfang der siebziger Jahre vermittelte mir ein Mann, dessen Intelligenz und Engagement für das Geistige ich sehr respektierte, einige Fragen, die ich mir in einer durch und durch verwirrenden Situation stellen sollte. Es waren insgesamt neun, und sie bildeten drei Gruppen, so wie das nächtliche Pochen. Sie lauten folgendermaßen: GRUPPE 1 GRUPPE 2 GRUPPE 3 Wie ist die Natur oder Substanz des Problems? Was ist sein Ursprung? -158-
Woraus setzt es sich zusammen? Welche Funktion hat es? Wer besitzt, kontrolliert oder verursacht es? Was halte ich davon? In welcher Beziehung stehe ich dazu? Welche Erwartungen verknüpfe ich damit? Welches Schicksal steht ihm bevor? Vielleicht gab es für die Aufteilung der Klopfsignale in drei Gruppen Gründe, von denen ich überhaupt nichts wußte. Aber sie hatten eine Erinnerung in mir geweckt, und ich konnte die neun Fragen nut zen, um Klarheit zu finden. Nur meine Fähigkeit, Fragen zu stellen, bewahrte mich vor Panik. Es kam natürlich darauf an, weder voreilige Schlüsse zu ziehen noch endgültige Antworten zu geben. Einfache Antworten schlossen Türen, und ich wollte, daß sie sich weiter öffneten! Ich setzte mich, nahm mir die neun Fragen vor und arbeitete mit der Verzweiflung eines Besessenen. Jetzt hatte ich endlich ein Instrument, von dem ich mir Hilfe erhoffte. Mit den Fragen konnte ich die einzelnen Dinge voneinander trennen, Grenzen bestimmen und vielleicht auch feststellen, was es zu unternehmen galt. Es folgt ein Auszug aus meinem Tagebuch: »Was ist die Natur der Besucher? Ich bewundere ihre Macht, und gleichzeitig fürchte ich mich davor. Einerseits möchte ich, daß sie bei mir sind, daß sie sich um mich kümmern, und andererseits jagen sie mir einen enormen Schrecken ein. Warum? Das Zauberwort heißt Kontrolle. Es gefällt mir nicht, Kontrolle aufzugeben, aber die Besucher üben einen starken kontrollierenden Einfluß aus. Sie fühlen sich wie etwas an, das sowohl tief in mir als auch weit entfernt ist. -159-
Der Ursprung? Oh, man behauptet dies und das. Manche Leute glauben, sie kommen von Zeta Reticuli, andere sind davon überzeugt, daß sie aus einem anderen Sonnensystem stammen, oder vielleicht gar vom Mars. Wenn sie auf einem anderen Planeten zu Hause sind was hat sie dann hierher verschlagen? Gibt es irgendwo Städte, in denen Tausende von ihnen wohnen? Existieren Straßenecken, wo sie sich treffen? Haben sie Bibliotheken und Restaurants und Namen? Warum sind sie alle gleich gekleidet? Warum lachen sie nicht? Kenne ich ihre Heimat? Ich weiß nur eines: Sie kommen aus der Nacht. Zusammensetzung? Diese Frage kann ich unmöglich beantworten. Haut, Fleisch, Blut, Knochen? Wie wäre es, sie zu küssen? Sind sie warm? Wie fühlen sich ihre Hände an? Kühl. Ja, und ich erinnere mich an ihren scharfen organischen Geruch. Ich möchte, daß sie mich berühren. Ich möchte sie in meiner Nähe. Aber sie verhalten sich wie hungrige Raubtiere. Funktion. Dabei geht es nicht um die Besucher, sondern um mich selbst. Ihre Funktion besteht nicht nur darin, mich zu erschrecken. Es geht ihnen auch noch um etwas anderes. Sie zwingen mich, zu wachsen. Sie setzen mich unter Druck, damit sich mein Bewußtsein weiterentwickelt. Mäuse. In den siebziger Jahren wurden solche Experimente mit Mäusen durchgeführt. Ein Streß-Test. Man verabreichte ihnen immer wieder Stromschläge, setzte sie einige Stunden täglich starken Belastungen aus. Und das Ergebnis? Ihre Ausdauer wuchs. Die Hirnmasse nahm zu. Sie wurden bessere, leistungsfähigere Mäuse... Ich glaube, Joseph Chilton Pearce erwähnte so etwas in Magical Child. Dora Ruffner hat mir von dem Buch erzählt. Und plötzlich sagte eine müde, junge Stimme ganz deutlich: ›Danke.‹ Sie. Ihre Funktion besteht darin, unsere Entwicklung zu fördern. Jetzt weiß ich wenigstens etwas. Wer kontrolliert wen? Einfach: die Besucher mich. Halt, nein, -160-
das stimmt nicht ganz. Wer ging in der Nacht nach draußen? Ich. Wer möchte, daß die Fremden zurückkehren? Ich. Ja, das ist die Wahrheit. Was ich davon halte? Ich weiß es nicht genau. Vielleicht sind sie die besten Freunde, die ich jemals haben werde. Freunde mit dem Mut, streng zu mir zu sein, damit ich wachsen kann. Aber sie sind so entsetzlich. Sie erscheinen mir sehr negativ. Nun, das ganze Universum existiert aufgrund der Reibung zwischen Negativem und Positivem. Atomare Reibung erzeugt die Wärme und das Licht der Sterne. Es findet eine ständige Auseinandersetzung zwischen positiven und negativen Kräften statt. Das ist eine schlichte, physische Realität. Werden negative Kräfte dadurch böse? Nein, sie sind ein wesentlicher Bestandteil in der Struktur unserer Welt! Diese Worte sprach Jesus (Matthäus 5,44): ›Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen...‹ O Jesus, du hast Bescheid gewußt, nicht wahr? Du wußtest, wie man mit einer solchen Kraft umgeht. Beziehung. Ja, eine große Beziehung! Ich habe tatsächlich eine Beziehung zu euch, und ihr seid real! Seid ihr die ganze Zeit über Dämonen gewesen, die uns über Jahrtausende hinweg in Versuchung geführt haben und die uns quälten, damit wir wachsen? Klingt ihr deshalb so müde? Was verspricht uns die Beziehung? Eine neue Welt! Erwartungen? Habe ich welche? Ich glaube schon! Tausende! Jetzt, da ich mich mit diesen Fragen auseinandersetze, erwarte ich zu wachsen. Trotzdem: Tief in mir verbleibt schieres, primitives Entsetzen; mit Worten allein läßt sich nichts dagegen ausrichten. Schicksal - ein Wort, das vom Wind und der Nacht erfüllt ist. Wenn ich ans Schicksal denke, stelle ich mir große Flotten vor, die über den Rand der Welt segeln. Das Schicksal ist ein Kind, -161-
das mitten in der Nacht lacht. Es ist die schwierigste Stunde, wenn sich das Morgengrauen ankündigt, wenn ich schlaflos im Bett liege und spüre, wie mir das Leben derjenigen, die ich liebe, zwischen den Fingern zerrinnt. Es ist ein giftiger Wind, der über die ganze Erde weht, Dioxin in einer Sommerbrise. Es ist die lächelnde alte Sonne. Es ist der Frieden, den wir alle suchen. Vielleicht ist es der tiefe, wahre Grund für die Entstehung des Lebens.« Die neun Fragen halfen mir sehr. Indem mich die Besucher daran erinnerten, gaben sie mir ein überaus nützliches Werkzeug in die Hand. Plötzlich war ich kein Opfer mehr. Bewaffnet mit guten Fragen wurde ich zu einem Partner meiner Erfahrungen, möglicherweise sogar zu ihrem Herrn. Vor den neun Fragen schienen die Besucher totale Kontrolle über mich auszuüben. Ich mußte ihnen gehorchen, ob ich wollte oder nicht. Jetzt kannte ich eine Wahrheit: Ich liebte sie, wünschte sie herbei, brauchte sie, hatte mich für sie entschieden und sie gerufen. Ich war verantwortlich dafür, daß die Besucher- Erfahrungen zu einem Teil meines Lebens wurden. Sie hatten mich nicht rein zufällig ausgewählt, um mir zuzusetzen. Ich sah uns auf unserem kleinen blauen Planeten, der sich in der ewigen Schwärze dreht, und plötzlich fühlte ich die Liebe eines gewaltigen, warmen und schrecklichen Etwas. Wir und die Besucher suchen gemeinsam die Wahrheit und unser Schicksal. Von allen Seiten bedrängt uns die Nacht. Die goldene Stadt glitt durch meine Gedanken. Ich kannte nun die Bedeutung ihrer Türme aus weißem Licht: In der goldenen Stadt hat die Nacht kein Ende. Und das gilt auch fürs Licht, denn es ist das ewige Feuer der Wahrheit - und auch der Glanz, der im Herzen eines jeden Menschen schimmert.
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AUFRÜTTELNDE WAHRHEIT Die neun Klopfzeichen veränderten mich, aber nicht die Menschen um mich herum. Offenbar begriff niemand, daß es jetzt einen klaren Beweis für die physische Realität der Besucher gab. Der Grund dafür: Nur ich hatte das Pochen gehört. Ich zog daraus den Schluß, daß man ein unmittelbares Besucher-Erlebnis haben mußte, um vollständig zu begreifen, was so etwas bedeutet. Beschreibungen, vorbehaltlose Offenheit und konkrete Hinweise genügten nicht, um die aufrüttelnde Wahrheit zu vermitteln. Im August hatte ich das Manuskript von Die Besucher meinem Bruder Richard geschickt. Wie meine Schwester zeigte er eine vielschichtige Reaktion auf das Buch. Beide, insbesondere jedoch meine Schwester, erinnerten sich an Dinge, für die es keine normalen Erklärungen gab. Gingen die entsprechenden Erlebnisse auf Kontakte mit den Besuchern zurück? Richard wollte sich in dieser Hinsicht nicht festlegen. Er glaubte sicher zu sein, daß etwas mit mir geschehen war, aber er lehnte eventuelle psychologische Ursachen ebenso ab wie die konventionellen UFO-Vorstellungen. In der Mitte der siebziger Jahre waren Richard und seine Freundin Ann Cotton im westlichen Texas unterwegs, und einmal sahen sie seltsame Lichter neben der Straße. Sie befanden sich in einer abgelegenen Region und hatten gerade einen Ort durchquert. Kurze Zeit später fuhren sie noch einmal durch die Ortschaft, in der gleichen Richtung. Richard erzählte mir damals davon, aber niemand von uns brachte diesen Zwischenfall mit einem Besucher-Erlebnis in Zusammenhang. Mein Bruder gab zu bedenken, Die Besucher wiese zu stark auf die Möglichkeit einer physischen Existenz der Besucher hin. Als ich ihm von den neun Klopfzeichen berichtete, hörte er -163-
interessiert zu, wirkte jedoch nicht sonderlich beeindruckt. Er beschloß, mich am Wochenende vom 12. bis 14. September in der Blockhütte zu besuchen. Er kannte sie nicht, wollte den Schauplatz der Geschichte kennenlernen und die ganze Angelegenheit ausführlich mit mir erörtern. Am Tag vor seiner Ankunft kam es zu einem kleinen, aber wichtigen Zwischenfall in New York City. Am sonnigen Nachmittag sah meine Frau eine silberne Scheibe, die von Süden nach Norden über die Stadt hinwegflog. Sie bewegte sich recht schnell, und wir hielten sie für eine Art Hubschrauber, weil wir uns nicht vorstellen konnten, daß derartige Erscheinungen unbemerkt bleiben. Monate später, im Januar 1987, stellte ich fest, daß die Besucher keineswegs den Himmel über Städten meiden. Einige Freunde sahen ein Objekt am Nachthimmel über New York. Sie beobachteten, wie es etwa eine halbe Stunde lang an Ort und Stelle schwebte und einen Helikopter zwang, ein Ausweichmanöver durchzuführen. Zu den Augenzeugen gehörte auch ein Scharfschütze, und er beschrieb das Objekt in allen Einzelheiten. Ich zweifelte nicht daran, daß es sich um eines der bumerangförmigen UFOs handelte, die man oft im Hudson Valley nördlich von New York gesehen hatte. Versuchsweise rief ich das zuständige Polizeirevier an, um die Erscheinung zu melden. Als der Beamte das Wort ›UFO‹ hörte, sagte er nur: »Sollen sie ruhig kommen«, und legte auf. Die Besucher sind durchaus in der Lage, sich auch in großen Städten zu manifestieren. Da unsere Gesellschaft ihre Existenz leugnet, können sie ganz nach Belieben schalten und walten. Wer von Begegnungen mit ihnen berichtet, wird für gewöhnlich ausgelacht, und das gibt den fremden Wesen völlige Freiheit. Ganz gleich, was sie auch anstellen: Sie können sicher sein, daß man sie ignoriert. Es ist seltsam, aber wahr: Diejenigen, die ihre Realität bestreiten, arbeiten ihnen direkt in die Hände. -164-
Ich notierte Annes Beobachtungen in meinem Tagebuch und ließ es dabei bewenden. Damals erschien sie als zwar interessanter, aber im großen und ganzen bedeutungsloser Zwischenfall. Am Freitag den 12. September holten wir Richard vom Flughafen ab und fuhren nach Norden. In der Blockhütte hielten sich nicht nur Anne, Andrew, Richard und ich auf, sondern auch eine Freundin der Familie, Denise Daniels. Der Samstag war herrlich. Gegen acht Uhr abends verließen wir das Haus und gingen zur Wiese jenseits des Waldes. Als wir an den Bäumen vorbeischritten, spürte ich großen Stolz auf mein Anwesen und die Bestseller wie Warday, die es mir ermöglicht hatten, das Grundstück mit der Hütte zu kaufen. Vielleicht wies ich meinen jüngeren Bruder zu deutlich darauf hin. Plötzlich vernahm ich eine laute, dumpfe Stimme. »Arroganz!« sagte sie. »Ich kann mit dir machen, was ich will.« Ich zuckte erschrocken zusammen. Meine Begleiter wanderten vor mir über den Pfad und schienen überhaupt nichts gehört zu haben. Als wir die Wiese erreichten, sahen wir im Osten, wie der Mond über die Baumwipfel stieg. Neben ihm zeigte sich ein heller Lichtpunkt, den ich für Jupiter hielt - in jener Nacht sollte er in der entsprechenden Richtung zu sehen sein. Einige Sekunden später sagte Richard: »Der Stern bewegt sich.« Wir alle beobachteten das Phänomen. Der helle Stern glitt dem Mond entgegen, verschwand dahinter und kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. Er wurde schneller, schwebte unter den Mond und sank tiefer. Dabei schwoll der leuchtende Punkt an und schien sich uns zu nähern. Ganz plötzlich hielt er inne, verharrte kurz und sauste davon. Das Glühen ließ nach, ve rblaßte ganz, um kurz darauf zurückzukehren. Diesmal raste der Punkt über den Himmel, verschwand zum dritten Mal und erschien nicht wieder. -165-
Kurze Zeit später bemerkte ich diffusen Nebel, der uns auf der Wiese umhüllte, und gewann den Eindruck, daß drei Gestalten durch die Dunstschwaden traten. Verwirrt rief ich meinen Sohn und wußte nicht mehr, wo sich Andrew befand - obgleich er direkt neben mir stand. Richard starrte wie gebannt zum Waldrand. Später erzählte er, daß er ebenfalls drei Personen gesehen hatte und gegen den fast überwältigenden Wunsch ankämpfen mußte, ihnen entgegenzugehen. Wir alle hatten die Bewegungen des seltsamen Lichtpunkts gesehen. An unseren Beobachtungen besteht kein Zweifel. Das Objekt wirkte nicht scheibenförmig und schien ein ganz gewöhnlicher Stern gewesen zu sein. Es war kein Flugzeug oder ein Meteor, denn es schwebte zu lange neben dem Mond, ohne seine Position zu verändern. Es hätte selbst dann nicht so lange unbewegt erscheinen können, wenn es in unsere Richtung geflogen wäre. Seine seltsamen Flugmanöver schlossen die Möglichkeit eines Satelliten aus. Jupiter kam ebenfalls nicht in Frage, denn das Ding sauste davon und verschwand. Für die enorm hohe Geschwindigkeit gab es keine normalen Erklärungen. Verunsichert kehrten wir zum Haus zurück. Ich berichtete von der Stimme, die ich gehört hatte, und als wir zu Bett gingen, fragte mein Bruder, ob uns eine friedliche Nachtruhe erwartete. Erstaunlicherweise schliefen wir alle gut; Störungen irgendeiner Art blieben aus. Die Beobachtunge n am Samstagabend veränderten Richard und Denise. Kein rationaler Mensch konnte so etwas auf eine bekannte Ursache zurückführen. Mein Bruder hörte mir jetzt mit neuem Interesse zu, Denise wandte sich von der üblichen Dasist-doch-alles-Unsinn- Version ab und rang sich zu der Erkenntnis durch, daß etwas Erstaunliches stattfand. Als wir am Sonntagnachmittag zum Flughafen fuhren, -166-
erwähnten sie beide, daß sie die Dinge nun aus einem anderen Blickwinkel sehen würden. Ich glaubte, daß sie das in erster Linie den Besuchern verdankten. Die Lektüre von Die Besucher blieb ohne nachhaltige Wirkung auf Richard und Denise, und das galt auch für meine Schilderungen. Aber als sie ein Licht am Himmel sahen, das nur als UFO interpretiert werden konnte, veränderte sich plötzlich ihr Standpunkt. Zweifellos gibt es eine Erklärung für die vielen hellen Objekte, die man am Himmel sieht, für die sonderbaren Erscheinungen des Fremden in unserem Leben: Die Besucher lehnen es ab, die sozialen Institutionen unserer Gesellschaft zu benutzen, um Kontakt mit uns aufzunehmen. Statt dessen wenden sie sich an einzelne Personen, an individuelle Seelen. Nach Richards Abreise dachte ich über die Stimme nach. Außer mir hatte sie niemand gehört, und wenig später beobachteten wir den Lichtpunkt. Gehe ich zu weit, wenn ich eine Verbindung zwischen ihnen herstelle? Wie üblich fehlt eine endgültige Antwort auf diese Frage. Die Stimme war laut und sehr real gewesen - und ausgesprochen streng. »Arroganz! Ich kann mit dir machen, was ich will.« Wurde ich zu arrogant? Ich fühlte mich nicht besonders stolz. Andererseits: Wird man sich eines solchen Empfindens bewußt? Kann man den eigenen Hochmut spüren? Am vergangenen Freitag hatte ich eine große Summe von einer Bank zur anderen überwiesen. Tatsächlich handelte es sich um das ganze Geld, das mir zur Verfügung stand. Ohne jene finanziellen Mittel hätte ich meinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen können und wäre pleite gewesen. Am späten Montagnachmittag rief mein Steuerberater an und teilte mir mit, das Geld sei verschwunden. Angeblich war dem Computer irgendein Fehler unterlaufen. Niemand hatte eine Erklärung für den Vorfall. Ich geriet außer mir vor Sorge, und bevor ich etwas unternehmen konnte, schlossen die Banken. -167-
Beklommenheit und Bestürzung begleiteten mich durch die Nacht. Ich besaß nur noch das, was sich in meiner Brieftasche befand. Wenn das verschwundene Geld nicht wiedergefunden wurde, wären wir plötzlich mittellos. Am Dienstagmorgen stellte sich folgendes heraus: Ein unerklärlicher Computerfehler hatte dazu geführt, daß mein Geld im wahrsten Sinne des Wortes elektronischer Vergessenheit anheimfiel. Glücklicherweise gab es Überweisungsscheine und andere Unterlagen, und damit konnte die Summe dem richtigen Konto gutgeschrieben werden. Die zuständigen Sachbearbeiter in den Banken versicherten mir, daß sie so etwas zum erstenmal erlebt hatten. Als ich den Telefonhörer auf die Gabel legte, kam Anne in mein Arbeitszimmer. Sie hatte eine zweite Scheibe gesehen, wie kurz vor dem ersten Anruf, und das Objekt flog in der gleichen Richtung. Der Punkt am Ende des Satzes... Besorgnis und Erleichterung bildeten eine prickelnde Mischung in mir. Ich war davon überzeugt, daß die Besucher gerade ihre Macht demonstriert hatten. Eine Lektion in Demut, außerordentlich gut geplant und durchgeführt - und enorm wirkungsvoll. Nachdem ich sah, wie sich das viele Geld einfach in Luft aufgelöst hatte, wurde ich sehr nachdenklich. Ich kann nie ganz sicher sein, ob wirklich die Besucher dahintersteckten. Die theatralische Natur der Lektion läßt mich aber glauben, daß sie den ›Computerfehler‹ verursachten. Ich begriff allmählich, daß solche Demonstrationen das wichtigste Kommunikationsmittel für die Fremden darstellten. Im Vergleich dazu spielten die Stimmen nur eine untergeordnete Rolle. Sie sorgten auch dafür, daß meine Erfahrungen während der vergangenen drei Wochen ein neues Realitätsniveau erreichten. Ich hörte die Besucher an meinem Haus, als ich völlig wach -168-
war. Und jetzt hatte ich gerade erlebt, was die fremden Wesen mit mir anstellen konnten, wenn ich nicht meine Arroganz zugab und mich zu ändern versuchte. Die letzten Septembertage begannen, und der Sommer ging langsam in den Herbst über. Ende des Monats fuhren wir wieder in die Stadt. Ich führte noch immer eine eher halbherzige Auseinandersetzung mit Süßspeisen, doch die Besucher kamen nicht auf dieses Thema zurück. Sie schienen sich aus meinem Leben zurückgezogen zu haben, und ich hoffte, sie endlich vergessen zu können.
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FERNER ZEUGE Als der Sommer dem Herbst wich, kehrten die Besucher zu mir zurück. Das letzte Wochenende im September erwies sich als recht mild. Wir waren in New York und fanden großen Gefallen daran, an dem allgemeinen Trubel des Samstagnachmittags teilzunehmen und einen Einkaufsbummel in der Bleecker Street zu machen. Andrew führten wir in einen Comics-Laden, und dort zog er das große Los, indem er vier Hefte fand, die er noch nicht kannte. Anne und ich besorgten uns einige Bücher und Schallplatten. Die Welt erschien mir unglaublich real und gleichzeitig fern, so als werde sie in Pfützen aus frisch gefallenem Regen reflektiert. Dieser Nachmittag fand ohne die Besucher statt. Ein blauer Himmel wölbte sich über uns, und wir atmeten warme Luft. Viele andere Menschen umgaben uns und versprachen Sicherheit. Ich ging über den Bürgersteig und leckte an einem Eis. Ganz plötzlich vernahm ich eine junge Stimme: »Hör endlich auf, so etwas zu essen!« Ich drehte mich um und erwartete, ein Kind zu sehen, doch es stand niemand hinter mir. Die Stimme schien von einem etwa achtjährigen Jungen oder Mädchen zu kommen. Die Warnung der Besucher vor süßen Leckereien fiel mir ein, und ich entschloß mich zu einem Experiment. Versuchsweise warf ich das Eis in einen Abfalleimer. Als es darin verschwand, hörte ich drei junge Stimmen, die synchron riefen: »Er hat ein Eis für uns weggeworfen!« Die Worte ertönten neben meinem Ohr, klangen klar und deutlich. Sie konnten nicht von jemandem gesprochen worden -170-
sein, der sich aus einem Apartmentfenster lehnte oder auf der anderen Straßenseite stand. Vor dem Beginn meiner BesucherErlebnisse habe ich nie körperlose Stimmen gehört. Unbehagen erfaßte mich, als ich an die klassischen Symptome von Schizophrenie dachte. Es war durchaus möglich, daß ich etwas vernahm, das auch zu den Wahrnehmungen von Schizophrenen gehörte. Ich hatte mich gründlich über diese Geisteskrankheit informiert und wußte daher, daß entsprechende Patienten alle nur denkbaren Stimmen hören. Aber dies war mein einziges Symptom. Einige Paranoiker vernehmen Stimmen, die ihnen häufig Befehle erteilen, doch in dem, was ich gehört hatte, fehlte jene Art von Schwülstigkeit, die ich mit paranoiden Wahnvorstellungen assoziierte. Ganz im Gegenteil: Es hatte erstaunlich normal geklungen. Ich gewann den Eindruck, daß die Stimmen von ganz gewö hnlichen Leuten stammten, die nicht versuchten, mir auf eine hochtrabende Art und Weise Anweisungen zu geben. Darüber hinaus waren sie bemerkenswert spontan. Absolut nichts deutete darauf hin, daß ich sie mir nur einbildete. Es hatte sich so angehört, als befände sich ein kleiner Radioempfänger in meinem Ohr. Es mangelte den Stimmen nicht einmal an dem blechernen Klang winziger Lautsprecher. Weitaus wichtiger für mich war die Tatsache, daß ich keine anderen Symptome einer Geisteskrankheit bei mir feststellte. Während der nächsten Wochen übermittelte man mir ähnliche Botschaften: Einge betrafen Süßspeisen, und in den übrigen ging es um andere Nahrungsmittel. Meine tägliche Diät wurde dadurch immer vegetarischer. Ich nahm kein Koffein mehr zu mir und bemühte mich ernsthaft, nichts Süßes zu essen. Allerdings fiel mir das sehr schwer. In diesem Zusammenhang waren die Stimmen aber so beharrlich, daß ich sie eines Tages in Gedanken fragte, warum ich auf Süßes verzichten sollte. Ich bekam sofort Antwort: »Wir werden es dir -171-
zeigen.« Damit begannen einige dramatische Botschaften, die einen guten Hinweis darauf lieferten, wie die Besucher Informationen übermitteln. Eine atemberaubende Erfahrung stand mir bevor. Ich stellte die Frage, als ich am 1. Oktober im Arbeitszimmer meines Apartments saß, und die rasche Antwort deutete daraufhin, daß ich mit einer unmittelbaren Reaktion der Besucher rechnen durfte. Ich wartete eine Stunde lang, doch nichts geschah. Schließlich stand ich verärgert auf, ging in die Küche, holte mir einen Schokoriegel und aß ihn mit Genuß. Am 2. Oktober, einem Dienstag, nahm ich das Mittagessen in Gesellschaft des australischen Regisseurs Philippe Mora ein. Wir hatten uns 1968 in London kennengelernt, und er erneuerte unsere Bekanntschaft, indem er mich zur ersten Aufführung seines neuen Films Death of a Soldier einlud. Nachher gingen wir in ein Restaurant, und ich erzählte ihm von meinen Besucher-Erlebnissen. Er hörte mit einem gewissen Interesse zu, doch anschließend sprachen wir über andere Dinge. Als wir uns verabschiedeten, erwähnte er seine Absicht, nach Australien zurückzukehren und an einem neuen Projekt zu arbeiten. Am 7. Oktober (der 8. Oktober in Sydney) saß ich wieder in meinem Arbeitszimmer, als das Telefon klingelte. Philippe rief mich von Sydney an. Ich schildere hier das Gespräch soweit ich mich daran entsinne: »Erinnern Sie sich an Martin Sharp aus der Zeit in London?« fragte Philippe. Ich hatte Martin seit fast zwanzig Jahren nicht gesehen, erinnerte mich jedoch recht gut an ihn. Während meines einjährigen Aufenthalts in London war ich mehrmals in seiner Wohnung an der King's Road in Chelsea gewesen. »Ja, ich erinnere mich an ihn.« -172-
»Seine Mutter hatte ein seltsames Erlebnis. Vielleicht haben Sie eine Erklärung dafür.« »Was ist passiert?« »Nun, gestern nacht erwachte sie unter höchst seltsamen Umständen. Sieben kleine Männer standen in ihrem Zimmer und trugen Hüte mit breiten Krempen. Sie sahen aus wie die Kopfbedeckungen asiatischer Bauern.« »Kleine Männer?« »Ja. Ich dachte in diesem Zusammenhang an die sonderbare Geschichte, die Sie mir erzählt haben. Vielleicht wissen Sie, was gestern nacht geschah. Die kleinen Männer trugen Martins Mutter zur Decke hoch und ließen sie anschließend wieder ins Bett sinken. Sie verletzten sie nicht, aber die arme Frau ist ziemlich durcheinander.« »Das kann ich gut verstehen«, entgegnete ich. »Glaubt sie an Feen, Geister und dergleichen?« »Nein.« »Interessiert sie sich für UFOs?« »Mrs. Sharp ist sehr konservativ. Vermutlich hat sie noch nie etwas von fliegend en Untertassen gehört. Wie erklären Sie sich ihr Erlebnis?« »Schwer zu sagen. Gibt es irgend etwas Ungewöhnliches an ihr?« »Nun, sie leidet an einer schweren Krankheit und ist bettlägrig. Wahrscheinlich stirbt sie bald.« »Was hat sie denn?« »Eine Form von Diabetes, die sich nicht behandeln läßt. Ziemlich schlimm.« Ich erstarrte förmlich. Die Besucher hatten mich aufgefordert, nichts Süßes zu essen. Als ich sie nach dem Grund dafür fragte, antworteten sie: »Wir werden es dir zeigen.« Und einige Tage später dieser Anruf: Eine Frau, die in einem indirekten -173-
Zusammenhang mit mir stand und an Diabetes litt, wurde von ›kleinen Männern‹ zur Decke gehoben. Mrs. Sharp starb Ende 1986, an Leberkrebs und Diabetes. Martin und Yensoon Tfai - ein guter Freund der Familie, der am Morgen nach dem Zwischenfall mit ihr sprach - berichteten mir 1987 davon. Yensoon, ein sehr traditioneller Chinese, schilderte die Ereignisse der Nacht und bezog sich dabei auf die Tagebucheintragungen, die Mrs. Sharp kurz nach ihrem Erlebnis gemacht hatte. Yensoon interpretierte die Erfahrungen von Martins Mutter mit durch und durch chinesischen Begriffen und beweist damit, wie sehr der kulturelle Hintergrund unsere Wahrnehmungen in bezug auf die Besucher bestimmt. Wahrscheinlich ist das schon seit vielen Jahrtausenden der Fall. Yensoon schrieb: »Am Abend des 7. Oktober 1986 trank Mrs. Sharp eine Tasse chinesischen Kräutertee.« (Anmerkung: Die dabei verwendeten Kräuter können keine Halluzinationen bewirkt haben, kurze Zeit später ebensowenig wie nach acht bis zehn Stunden.) »Nachts um vier Uhr erwachte sie, sah zur Decke und stellte fest, daß ihr rechter Arm nach oben zeigte. Plötzlich beobachtete sie, wie sieben kleine Chinesen erschienen und von der Decke herabschwebten. Sie waren kaum einen Meter groß und trugen alle chinesische Kuli-Hüte mit runden Krempen. Sie wirkten recht dick und zeigten verschiedene Farben: rot, grün, blau und gelb. Der gelbe Mann schien der Anführer zu sein. Er bedachte Mrs. Sharp mit einem riesigen, durchdringenden Blick. Sie schauderte und hatte das Gefühl, als bohre er damit ein Loch in ihren Kopf. Die anderen kleinen Männer erwiesen sich als freundlicher und lächelten. Der Blaue berührte sie an der Hand und murmelte tröstende Worte. Seine Haut schien feucht und weich zu sein. Der ›Anführer‹ bedeutete seinen Begleitern mit einem Wink, Mrs. Sharp zur Decke zu heben und sie anschließend auf den Boden herabzulassen. Sie protestierte und verlangte vergeblich, ins Bett gelegt zu werden. Auf einmal fand -174-
sie sich in einem grünen Park wieder. Die Sonne ging gerade unter. Die Umgebung war zwar eine Augenweide, aber nirgends sah sie etwas Lebendiges, hörte nur den Wind in den Baumwipfeln. Sie fühlte sich sehr einsam und verlassen, spürte auch Verzweiflung. Der kleine blaue Mann reichte ihr ein langes Gewand aus blauer Seide, und sie zog es erfreut an, denn Blau war ihre Lieblingsfarbe. Als sie es überstreifte, versank die Sonne hinter dem Horizont, und die kleinen Männer trugen sie durch die Dunkelheit. Mrs. Sharp verlor das Bewußtsein. Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Nach diesem Erlebnis kam es zu einer drastischen Verschlechterung ihres Zustands.« Yensoon schrieb auch, die kleinen Männer ähnelten ›chinesischen Pilzen‹, womit er sowohl ihre Gestalt als auch die Bescha ffenheit der Haut meinte. Einigen Menschen, die Besuchern begegneten, fiel diese Eigenschaft der Haut auf. Meiner Ansicht nach handelt es sich um die genaue Beschreibung einer bestimmten Subspezies der Besucher: Sie haben feuchtklamme Haut, sind klein, dick und ziemlich kräftig - ganz im Gegensatz zu den größeren Fremden, die eher fragil anmuten. Eines dieser Wesen ist auf dem Titelbild von Die Besucher dargestellt. Yensoon wies auch darauf hin, daß der oder die Verstorbenene bei einem chinesischen Begräbnis ein Gewand aus blauer Seide trägt. Ich sah darin einen Anhaltspunkt dafür, daß sich Besucher-Erlebnisse dem kulturellen Umfeld der betreffenden Personen anpassen. Die Botschaft der Fremden galt also nicht nur Jo Sharp und mir, sondern auch Yensoon. Ich möchte noch einmal betonen, daß Mrs. Sharp von den Besuchern physisch berührt wurde und die entsprechenden Gefühle genau beschrieb. Manchmal fällt es einem viel zu leicht, von der Vorstellung einer physischen Existenz der Besucher Abstand zu nehmen. Sie brachten die Zuckerkranke aus dieser stofflichen Welt in eine andere Realität, die offenbar ein Symbol des Todes darstellte. -175-
Als ich Yensoons Brief las, erinnerte ich mich an die Hypnose, während der ich mich an die Ereignisse der Nacht vom 4. Oktober 1985 entsann. Dabei hatte ich meinen Sohn in einem wundervollen, aber seltsam trostlosen Park gesehen. Ich hielt ihn damals für tot und war zutiefst erschüttert. Existiert irgendwo in einer parallelen Realität ein Ort, an dem die Toten in seltsamen Gärten verweilen? Wenn es die Seele gibt, so muß sie ein Teil der Natur sein, dann ist sie ihren Gesetzen und den Bedingungen der entsprechenden Wissenschaften unterworfen. Vielleicht trennten die ›kleinen Männer‹ Jo Sharps Seele vom Körper und zeigten ihr in klarer, symbolischer Form, was sie erwartete. Ich stellte mir den sonderbaren, leeren Park vor, dachte an den Wind, der in den Baumwipfeln seufzte, an die untergehende Sonne - viele Bilder des Todes, sanft und seltsam. Auch meine eigenen Kontakte zu den Besuchern waren voller Zeichen und Metaphern. Ich hielt die von Jo Sharp geschilderte Dramatik für ein charakteristisches Merkmal der Konfrontation mit den Fremden. Martin Sharp fügte in einem Brief hinzu: »Jo (meine Mutter) litt nicht an Halluzinationen... Es mangelte ihr nicht an Fantasie, aber sie war keineswegs sehr religiös. Tatsächlich sagte sie häufig: ›Das einzige, was es 'dort oben' gibt, sind Opossums auf dem Dach.‹ Womit sie durchaus recht hatte.« Später, als sie den Tod nahe fühlte und die Abstände zwischen den hyperglykämischen Komata kürzer wurden, gaben ihr die Ärzte Malzzucker, um sie aus den apathischen Phasen zu wecken. Während jener Zeit kam es zu einigen Zwischenfällen, die Martin beunruhigten. Jo Sharp sprach, wenn sie im Koma lag, und teilte ihr Ich dabei in zwei verschiedene Persönlichkeiten. Die eine erschien Martin fröhlich und kooperativ, während die andere äußerst seltsam war und es ablehnte, den Zucker zu nehmen. »Die andere Manifestation -176-
wirkte unheimlich. Meine Mutter schien völlig erschlafft und fast bewußtlos zu sein... Sie, beziehungsweise ›es‹, beobachtete mich aus halb geschlossenen Augen. Die ›Bewußtlosigkeit‹ war nur vorgetäuscht, und eine fremde, boshafte Intelligenz erfüllte Jo. Ihr Verhalten brachte Spott und Arroganz zum Ausdruck, und sie wies jede Hilfe zurück. Darüber hinaus offenbarte sie eine bemerkenswerte physische Kraft. (Meine Mutter war sehr zart.) Sie wurde böse, und die Atmosphäre im Zimmer veränderte sich. Ich fand das alles sehr besorgniserregend. Ihr Arzt wich mir aus, wenn ich ihn darauf ansprach. Die Entität weigerte sich, den Malzzucker zu nehmen, oder sie behielt ihn im Mund, um ihn später auszuspucken - allem Anschein nach wollte sie eine Rückkehr des Bewußtseins und damit die eigene Verdrängung vermeiden.« Martin fuhr fort: »Wenn der Zucker wirkte und Jo zu sich kam, erinnerte sie sich nicht an den ›Eindringling‹. Ich hielt es für sehr wichtig, über dieses Phänomen zu sprechen, aber der Arzt wollte nichts davon wissen. Wenn ich mehr über Exorzismus gewußt hätte, wäre ich vermutlich bereit gewesen, es damit zu versuchen.« Martin glaubte, seine Mutter sei von dem Geist oder der Essenz ihrer Krankheit besessen gewesen. Er schrieb: »Ich nehme an, der Geist, der meine liebe Mutter in jener Zeit beherrschte, benutzte sie als eine Art Fenster.« Ich brachte Mrs. Sharps erste Erfahrung bereits mit dem Tod in Verbindung, noch bevor ich Martins und Yensoons Briefe bekam, in denen sie mir von den Ereignissen erzählten. Die Wesen hoben sie zur Decke, um ein Zeichen zu geben, und dann transferierten sie die Kranke - oder ihre Seele - in eine symbolisierte Darstellung des Todes. Die Botschaft für mich war kristallklar: Wenn du weiterhin Süßes ißt, wirst du sterben. Die Besucher sahen sich in meiner Vergangenheit um und fanden die Mutter eines Mannes, den ich vor zwanzig Jahren gekannt hatte. Sie stellten fest, daß sie an Diabetes litt, und verfuhren mit ihr auf eine Weise, die sicherstellte, daß sich -177-
Philippe mit mir in Verbindung setzte. Das deutete zumindest auf eine außerordentlich gut ausgeprägte Beobachtungsgabe hin. Offenbar waren die Besucher imstande, individuelle Leben in allen Einzelheiten zu untersuchen - und sie wählten eine Person, die ihnen als nützliches Demonstrationsobjekt diente. Ich begann zu ahnen, daß die Fremden auf weitaus subtilere Art in der Lage waren, an unserem Leben teilzuhaben, als man zunächst glauben mag. Und was noch wichtiger ist: Sowohl meine eigenen Erlebnisse als auch die Erfahrungen von Mrs. Sharp und anderen Menschen lassen vermuten, daß die Besuc her Einfluß auf jene Dinge ausüben, die uns nach dem Tod erwarten. Es bereitete mir erhebliche Mühe, mich mit solchen Vorstellungen anzufreunden, denn sie weckten erneut das Gefühl der Hilflosigkeit in mir. Ich verspürte den dringenden Wunsch, mehr über die Seele zu erfahren. Damals erging es mir wie den meisten Menschen: Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob die Seele überhaupt existierte. Nun, ich beschloß, mich eingehender damit zu befassen. Doch zuerst kam die Botschaft der Besucher. Ich verstand sie nur zu gut: Hör auf, Süßes zu essen. Ich versuchte noch ernsthafter als vorher, diesen Rat zu beherzigen, und dabei stieß ich auf enorme Schwierigkeiten. Tatsächlich kam ich mir wie ein Narr vor, als ich unruhig umherging und ständig an die Schokoladenkekse in der Küche dachte. Bisher hatte ich geglaubt, an einer leichten Sucht nach Süßigkeiten zu leiden. Doch als ich mich wirklich bemühte, auf solche Leckereien zu verzichten, wurde die ›leichte Sucht‹ zu einer wahren Besessenheit! Ich dachte wieder an die Bedeutung des Opferns. Das Prinzip und sein Sinn waren mir durchaus klar, aber ich konnte einfach nicht die Bereitschaft dazu aufbringen. -178-
Zur Anfangszeit des Christentums gingen Gläubige in die Wüste, um Jesus mit Fasten und Beten nahe zu sein. Sie verbrachten Monate, Jahre oder ihr ganzes Leben damit, sich durch Selbstverleugnung und Entbehrungen einen Weg zum Himmel zu schaffen. Es gelang mir, vier Tage lang ohne Eiskrem auszukommen. Dann kaufte ich mir eine große Familienpackung mit Vanille und Schokolade und verspeiste die Hälfte davon. Ich begriff, nicht stark genug zu sein, um über mich selbst hinauszuwachsen. Mein Konsum an Süßigkeiten kehrte zum normalen Maß zurück, und ich fand diese Lebensweise weitaus vernünftiger. Ich hatte nicht die geringste Absicht, mir an den verrückten Eremiten des dritten Jahrhunderts ein Beispiel zu nehmen. Die Besucher reagierten nicht sofort. Sie warteten, bis sich ihre Enttäuschung in Ärger und Zorn verwandelte. Wahrscheinlich hielten sie sich deshalb zurück, weil sie meine Schwäche in gewisser Weise tolerierten. Aber ihre Geduld hatte Grenzen.
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DRITTER TEIL JENSEITS DER DUNKELHEIT ›Unsere Geburt ist nur Schlaf und Vergessen: Die Seele, die sich mit uns erhebt, unser Lebensstern, geht woanders unter und kommt aus weiter Ferne...‹ WILLIAM WORDSWORTH Ode: Andeutungen von Unsterblichkeit Aus: Erinnerungen an die frühe Kindheit
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DER WALD Früher oder später mußte ich in den dunklen Wald gehen. Meine Beziehungen zu den Besuchern ließen die Erkenntnis in mir entstehen, daß es einen wichtigen Unterschied darin gab, die Angst zu verdrängen oder mit ihr fertig zu werden. Ich mußte mich der Furcht stellen, sie empfangen und voll auskosten - und das war nur möglich, wenn mir dabei die Knie weich wurden, wenn ich glaubte, daß mir etwas die Kehle zuschnürte. Ich blieb länger als beabsichtigt in New York. Die Lichter der Stadt wirkten so beruhigend. Inzwischen zweifelte ich nicht mehr daran, daß ich es mit physisch existenten fremden Wesen zu tun hatte. Ganz bewußt versuchte ich, enge Kontakte zu knüpfen, obwohl nach wie vor die Möglichkeit bestand, daß Gefahren von ihnen ausgingen. Je mehr ich meine Ängste herausforderte, desto näher kamen mir die Besucher. Die Blockhütte wartete auf meine Rückkehr. Und der Wald wartete ebenfalls. Ich war mir ziemlich sicher, daß die Fremden jederzeit zu mir kommen und mich von dem Entsetzen befreien konnten. Wahrscheinlich verzichteten sie aus ethischen Gründen darauf. Indem sie mich im Dunkeln ließen, gaben sie mir die Möglichkeit, die Furcht aus eigener Kraft zu besiegen. Immer wieder kehrte die Bedeutung der Erlebnisse in mein Bewußtsein zurück. Ganz gleich, ob ich über den Bürgersteig ging, in einem Kino saß, meinem Sohn vorlas oder frühstückte: Es gibt sie wirklich, dachte ich. Mir war noch immer nicht klar, was sie sind. Aber das spielte auch keine Rolle. Ich beschloß, die Lösung dieser Probleme der Zukunft zu überlassen, oder den Besuchern. Ganz offensichtlich haben sie die Situation völlig unter Kontrolle. Vermutlich sind -181-
sie in der Lage, sich ganz offen zu zeigen. Aber sie bleiben im Verborgenen. Ich bezweifle, ob wir sie irgendwie dazu veranlassen können, den Plan zu ändern, der ihre Kommunikationsmethoden mit uns definiert. Ich überlegte nicht mehr, was sie darstellen. Statt dessen wollte ich nut zen, was sie uns anzubieten haben. Die Besucher fügten mir keinen Schaden zu, schienen mir vielmehr die Möglichkeit geben zu wollen, meine Schwächen zu überwinden. Ich begann, eine elegante und objektive Ethik hinter den erschreckenden Manifestationen und seltsamen Forderungen zu sehen. Wenn ich ihre Präsenz in meinem Leben ertrug, wenn ich den Sieg über Furcht und Schwächen errang dann würde ich außerordentliche Dinge lernen. Nun, solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, während die Lichter der Stadt um mich herum strahlten. Ich weiß nicht, warum ich mich in New York so sicher fühlte. Vielleicht wegen der vielen Menschen und der ständigen Aktivität. Am 26. September 1986 fuhren wir zu unserer Blockhütte und erreichten sie gegen fünf. Nach dem Essen sahen wir uns einen alten Videofilm an. Anschließend brachte ich Andrew mit einer Geschichte zu Bett und begab mich dann ins Wohnzimmer, um zu lesen. Um zehn ging Anne nach oben. Ich wartete bis Mitternacht, saß wieder in dem Sessel am Fenster und erinnerte mich an das Klopfen. Ich hätte es vorgezogen, früher nach draußen zu gehen, solange meine Nachbarn noch wach waren. Doch das Gefühl hilfloser Verwundbarkeit, das sich erst spät in der Nacht einstellt, erschien mir als unabdingbare Voraussetzung für eine vollständige Erfahrung. In einem Punkt war ich mir ganz sicher. Ganz gleich, wer oder was die Besucher sein mochten: Sie hatten die Möglichkeit, -182-
sich jederzeit physisch zu manifestieren. Ich fragte mich allerdings, wie weit sie in unsere Realität vordringen konnten wenn sie nicht zu ihr gehörten. Schließlich schlug die Uhr zwölf. Ich stand auf und holte tief Luft. Als das Glockenspiel verklang, herrschte völlige Stille. Ich ging zur Seitentür, öffnete sie und trat nach draußen. Alles wirkte vertraut. Wir hatten den Pool zugedeckt, und die dunkelgrüne Plane bildete einen langen Schatten vor mir. Ich vernahm das Zirpen der Zikaden, hörte hier und dort Ochsenfrösche im seichten Wasser hinter dem Haus. Furcht regte sich in mir, aber das Unbehagen galt nicht etwa dem gewöhnlichen Leben um mich herum. Hinzu kam tiefes, wachsendes Staunen. Die Besucher waren real. Man konnte sie anfassen, sie berühren. Die früheren Versuche, mit meiner Angst fertig zu werden, hatte sie mir näher gebracht. Stand mir jetzt eine unmittelbare Begegnung bevor? Ich wanderte am Swimmingpool vorbei. Mir zitterten die Hände, aber ich schaffte es ohne große Schwierigkeiten, das Tor zum Hinterhof zu öffnen. Es schwang mit einem leisen Knarren auf. Ich neigte den Kopf nach hinten und sah zum dunk len Himmel empor. Dann stieg ich drei Stufen hinunter - und hatte dabei den Eindruck, daß jederzeit etwas herabstürzen und mich packen konnte. Langsam ging ich am Hang des niedrigen Hügels hoch, an den sich der Wald anschließt. Auf der Kuppe verharrte ich, starrte in die Finsternis, drehte mich um und sah zur Blockhütte zurück. Nur hinter einem Fenster brannte Licht. Ich dachte an Anne und Andrew, die in ihren Betten schliefen. Wir Menschen sind so klein und unwissend und verwirrt. Und doch: Ein Mann kann um Mitternacht in den Wald gehen. Ich wandte mich der Schwärze unter den Bäumen zu und -183-
schaltete die kleine Taschenlampe ein. Ich hätte eine größere mitnehmen können, aber ich wollte nur genug Licht, um den Pfad vor mir zu erkennen. Langsam und zögernd ging ich über den Weg und verglich den Wald dabei mit einem Leoparden, der nur darauf wartete, daß ich näher kam. Ich erinnerte mich daran, als Junge nach Hause gerannt zu sein: Das Geräusch der eiligen Schritte hallte in der leeren Straße wider, und um mich herum lauerten höhnische Schatten. Damals wagte ich es nicht, gen Himmel zu blicken, weil ich fürchtete, daß große Augen auf mich herabstarrten. Schweiß tropfte mir in die Augen. Ich bebte am ganzen Leib, und mir wurde übel. Ich konnte es nicht schaffen: Der Pfad war zu dunkel, der Wald zu groß und die Besucher - Gott steh mir bei - zu real. In jenen Sekunden dachte ich: Dreh dich um, kehr zum Haus zurück und gib auf. Aber ich wollte nicht aufgeben. Ich lehnte es hartnäckig ab, mich umzudrehen und zurückzugehen. Dann fiel mir ein, daß man mich in der Nacht des 26. Dezember 1985 in diesen Wald entführt hatte. Die Furcht in mir schrie: Geh zurück! Bring dich in Sicherheit! Etwas glitt über den Weg. Das Zirpen der Zikaden verklang. Die Grillen verstummten. Bedrohliche Stille folgte, und ich hörte etwas - Blätter, die über weichen Stoff strichen? Das Geräusch kam über den Pfad und näherte sich mir. Ich hatte das schreckliche Gefühl, langsam zu ersticken. Das Herz pochte so heftig, als wolle es meine Brust sprengen. Ich dachte daran, daß es möglich war, aus Angst zu sterben. Reverend Robert Kirk - er schrieb The Secret Common-Wealth, eine frühe und brillante Abhandlung über das geheime Leben der Feen - starb an einem Schlaganfall, als er sich einem Ort -184-
näherte, an dem man vor einigen Tagen seltsame Wesen gesehen hatte. Ambrose Bierce, ein sehr guter und rätselhafter Horror-Autor, der sich mit okkulten Forschungen befaßte, verschwand einfach. Das Geräusch wurde immer lauter und deutlicher. Ich wußte nicht, ob ich die Flucht ergreifen sollte. Man läuft nicht fort, wenn man sich von einem Tier bedroht sieht. Aber in diesem Fall... Die Bewegungen hörten auf, und der Pfad schien sich in eine massive, feindliche Barriere zu verwandeln. Ich starrte in die Finsternis. Geh zurück, wiederholte die innere Stimme. Du brauchst dich nicht zu quälen. Geh ins Haus und leg dich ins Bett. Aber das war eine Lüge. Es blieb mir gar keine andere Wahl, als durch den Wald zu gehen. Das Schicksal verlangte es von mir. Ganz gleich, was auch geschah: Ich mußte den Weg fortsetzen. Zwar empfand ich keine Trauer, aber trotzdem strömten mir Tränen über die Wangen. Mein inneres Selbst weinte. Ich glaubte, daß jemand vor mir auf dem Pfad stünde, doch ich sah niemanden. Wie sollte ich feststellen, ob ic h tatsächlich bedroht wurde oder ob die Fantasie mit mir durchging? Als Schriftsteller bin ich daran gewöhnt, meine Vorstellungskraft als ein Werkzeug zu benutzen. Ich kannte sie gut. Aber angesichts einer derart extremen Situation wußte ich nicht, ob ich mich weiterhin auf sie verlassen durfte. Wie in Zeitlupe setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich streckte die Arme der Dunkelheit entgegen und winkte. Irgend etwas zischte und seufzte - der Wind, der die Blätter rascheln ließ - oder sie? Kiefernnadeln knirschten unter meinen Füßen. Die Bäume wirkten so groß, der Pfad so schmal. Das Licht der -185-
Taschenlampe genügte nicht, um die unmittelbare Umgebung zu erhellen, und verwirrt bahnte ich mir einen Weg durchs Unterholz. Schließlich fand ich den Pfad wieder und folgte ihm, schritt tiefer in die Dunkelheit und näherte mich der Wiese hinter dem Wald. Ständig rechnete ich damit, daß sich jemand - etwas aus den Schatten löste und mich berührte. Dieses Gefühl war unglaublich intensiv, und ich wurde fast wahnsinnig vor Entsetzen. Ich bewegte mich immer unsicherer, und es fiel mir zunehmend schwerer, das Gleichgewicht zu wahren. Panik streckte eisige Klauen nach mir aus. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich das Ende des von Bäumen gesäumten Pfads erreichte. Dann, ganz plötzlich, war ich dort. Vor mir erstreckte sich die nächtliche Wiese, eine breite, freie Fläche in der Dunkelheit. Der Himmel erweckte den Eindruck, als ob er sich ausdehne; ich verließ den Wald, und pure Magie erfüllte die Nacht. Eine Zeitlang blieb ich stehen, bevor ich zu den Bäumen zurückkehrte. Während ich ging, hörte ich eine Stimme. »Er kommt hierher«, flüsterte jemand. Ich verharrte. An dieser Stelle teilt sich der Weg. Die eine Abzweigung führte zur Hütte an der alten Straße, die andere beschrieb einen weiten Bogen und zog sich durch den dichtesten Waldbereich. Noch immer vibrierte Furcht in mir, aber gleichzeitig spürte ich eine seltsame Erregung. Der nächtliche Wald hatte etwas sehr Sinnliches, und die Stille kam einem kostbaren Schatz gleich. Ich nahm den längeren Weg, und schon nach kurzer Zeit wurde es um mich herum so finster wie in einer Höhle. Mehrmals blieb ich stehen, um zu lauschen, doch ich sah und hörte nichts. Als ich das Dickicht hinter mir zurückließ, sah ich plötzlich -186-
die Blockhütte wieder. Sie bot einen herrlichen Anblick, erfüllte mich mit Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit. Ich ging schneller, trat über die Schwelle... Vorbei. Ich hatte es endlich geschafft. Ich hatte in jener Nacht eine Begegnung mit den Besuchern erwartet, aber dazu kam es nicht. Allerdings lehrte mich der Ausflug etwas, das ich nie vergessen werde: Dort, wo das primitive Tier am Fundament meines Selbst kauerte, brodelte Grauen vor den fremden Wesen. Genau dort mußte ich aktiv werden. Es ging darum, die Wurzeln meines Ichs aufzusuchen und Licht in die Dunkelheit archaischer Angst zu bringen. Nur eine Veränderung im Kern meines Lebens würde mich in die Lage versetzen, inneren Frieden zu finden. Veränderung. Ließ sich das Herz eines Menschen überhaupt verändern? In dem Fall bestand wirklich Hoffnung für die Welt. Ich wünschte mir so sehr eine wohlwollende, gutmütige Natur der Besucher, daß ich Gefahr lief, sie nicht als das zu erkennen, was sie wirklich waren. Je mehr ich in mich hineinhorchte, desto größer wurde die Furcht. Während ich aber nach innen reiste, schien ich mich den Fremden zu nähern. An der Oberfläche meines Bewußtseins wollte ich die Besucher lieben und glauben, daß sie gekommen waren, um mir zu helfen. Doch in den primitiven Teilen meines tiefsten Selbst spürte ich nichts als Entsetzen. Wenn ich des Nachts durch den Wald schritt, wurde ich fast zu einem Tier, das lauschte, schnüffelte und Witterung aufnahm, das in jedem Schatten ein gräßliches Wesen mit großen schwarzen Augen vermutete. Ich erinnerte mich an den Schrecken der Katzen, als es neunmal an der Hüttenwand geklopft hatte. Es lief mir kalt über den Rücken, während ich überlegte, ob das Tier in mir vielleicht zu dem Teil meiner Seele gehörte, der die Wahrheit kannte. Es gab zwei Möglichkeiten, meine -187-
Erlebnisse zu interpretieren: Entweder wollte man mich befähigen, ganz allein mit meinen Ängsten fertig zu werden oder die Fremden versuchten, einen freien, anständigen Menschen mit List und Heimtücke in eine gräßliche Falle zu locken. Ich wußte nicht, welche dieser beiden Erklärungen zutraf. Wie sollte ich es herausfinden? Es gab keine Präzedenzfälle, niemanden, der mir helfen konnte. Und ich verlor die Überzeugung, daß so etwas auch mit anderen Personen geschehen war. Schließlich kenne ich keinen Menschen, der ebenfalls die Reise zur Furcht begann und später zurückkehrte, um davon zu berichten. Ich fragte mich, ob die Zeit allmählich knapp wurde.
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IM ANGESICHT DES TODES Einige Tage nach meinem nächtlichen Ausflug in den Wald kehrten wir nach New York zurück. Ich hatte eine höllische Anstrengung hinter mir und freute mich auf eine Zeit der Ruhe und des Friedens, doch als wir unser Apartment erreichten, bekam ich einen schockierenden Anruf von Richard. Er teilte beunruhigende und unerwartete Neuigkeiten mit. Unsere Mutter fühlte sich nach dem Tod ihrer eigenen Mutter im vergangen April sehr einsam. Sie brauchte mich. Ich war wie vom Donner gerührt. »In drei Monaten unternimmst du wegen deiner Mutter eine von zwei Reisen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Die eine Reise führt in den Tod. Die andere bietet dir das Leben.« Offenbar hatten die Besucher andere Vorstellungen von Pünktlichkeit: Seit ihrer Prophezeiung waren fast vier Monate vergangen. Außer mir wußte niemand von der Weissagung, die sich nun ganz plötzlich erfüllte. Ich konnte nicht einfach in New York bleiben. Meine Mutter brauchte mich, und deshalb mußte ich zu ihr. Richard schlug vor, daß ich gleich am nächsten Tag nach Texas fliegen solle, und ich erklärte mich einverstanden. Ich buchte den Flug und versuchte, das Chaos in meinen Gedanken zu ordnen. Die Prophezeiung eines sonderbaren Wesens, das im Mai neben mir auf der Bettkante saß - ich hatte sie für absurd gehalten, aber jetzt bewahrheitete sie sich. Im Mai deutete absolut nichts darauf hin, daß meine Mutter einige Monate später die Unterstützung ihres Sohnes benötigen würde. Sie war eine starke, selbständige und sehr intelligente Frau. Mit dem Tod ihrer eigenen Mutter hatte sie sich abgefunden, doch jetzt fühlte sie sich plötzlich niedergeschlagen und voller Kummer. Kein Zweifel: Es war meine Pflicht, mich sofort auf den Weg zu machen. -189-
Ich hatte niemanden in das Geheimnis der beiden Reisen eingeweiht und sah überhaupt keinen Sinn darin, Anne davon zu erzählen - warum sollte sie mit mir leiden? Und meine Mutter durfte ich gewiß nicht darauf hinweisen. Ich mußte an Bord des Flugzeugs gehen, ohne zu wissen, um welche der beiden Reisen es sich handelte. Führte sie in den Tod - oder bot sie mir das Leben? Es waren mehr als drei Monate verstriche n - bedeutete das, es bestand keine Gefahr mehr? Als ich am nächsten Morgen erwachte, fragte ich mich, ob nun der letzte Tag meines Lebens begann. Wie stellte ich mir den Tod vor? Als Schwärze und Vergessen? Als eine neue Existenzebene? Als Himmel oder Hölle? Diese Fragen quälten mich, als ich im Morgengrauen zum Flughafen fuhr. Ich wollte unbedingt Bescheid wissen. Ich hing sehr am Leben. Bevor ich das Haus verließ, ging ich ins Zimmer meines Sohnes und sah auf ihn herab. Verriet ich ihn, indem ich diese Reise unternahm? Wie sollte ich mich verhalten? Meine Mutter brauchte mich. Andrew hatte ein Recht auf seinen Vater, Anne auf ihren Ehemann. Jenseits meiner Familie erwartete mich ein dunkler Schatten: das Flugzeug, eine lange Reise. Ich wollte leben. Andrews Gesicht schwebte vor meinem inneren Auge. Ich hörte seine fröhliche, zuversichtliche Stimme: »Dad!« Und dann berichtete er mir von diesem oder jenem Triumph. Mein Leben gehörte ihm mehr als mir, Anne oder meiner Mutter. Und doch war ich nun bereit, ein enormes Risiko einzugehen. Ich zweifelte nicht eine Sekunde lang an der Existenz des Risikos, dazu empfand ich es als viel zu real. Der Start des Flugzeugs war für 7.30 Uhr vorgesehen, und es hielten sich nicht sehr viele Personen im Terminal des La Guardia Airport auf, als ich dort um 6.45 Uhr eintraf. Das -190-
Geräusch meiner Schritte erschien mir unnatürlich laut. Der Morgen zeichnete sich durch eine seltsame Weichheit aus, die ich seit langer Zeit nicht mehr wahrgenommen hatte. Der Geruch von Kaffee in den Fluren, die Stimmen der ersten Passagiere, ein Mann, der mit einer Aktentasche daherschlenderte, eine Frau, die einen Gepäckwagen vor sich her schob - und draußen die schlanken Konturen der wartenden Flugzeuge. Die Welt um mich herum wirkte verlockender als jemals zuvor. Ich beobachtete die anderen Reisenden und dachte, daß wir Menschen uns voreinander verschließen - aber der Grund ist nicht etwa Furcht, sondern ein Übermaß an Liebe. Wir hüten uns davor, das Herz zu öffnen und die wahren Gefühle unseren Mitmenschen zu zeigen, weil wir glauben, sonst zu großen, eigenen seelischen Schmerz ertragen zu müssen. Ich passierte die Kontrolle, nahm im Aufenthaltsraum Platz, trank Orangensaft und beobachtete das Geschehen im Bereich der Start- und Landebahnen. Flugzeuge rollten hin und her, und Versorgungswagen transportierten Frühstückspakete zu den Maschinen. Dann erinnerte ich mich an meine Flugreisen als Junge. Damals hatte ich meinen Vater begleitet: Kurz vor der Morgendämmerung fuhren wir zum Airport, wanderten über die weite Betonfläche und näherten uns einer DC-3 der Trans Texas Airways. Die damalige Aufregung und das herrliche Gefühl, der aufgehenden Sonne entgegenzufliegen, war längst der monotonen Routine des Jet-Zeitalters gewichen. Ich sah darin nurmehr Warteperioden, die einzelne Lebensphasen voneinander trennten. Meist bin ich ein recht nervöser Passagier gewesen. Manchmal packte mich reines Entsetzen hoch in der Luft, bis ich schließlich begriff, daß die Angst nicht etwa der Zuverlässigkeit des Flugzeugs und seiner Besatzung galt, sondern der Tatsache, daß ich die Kontrolle über mein Leben -191-
niemand anders überlassen wollte. Um mit der Furcht fertig zu werden, stellte ich mir vor, selbst im Cockpit zu sitzen. Schon nach kurzer Zeit fühlte ich mich besser, als ich mich der Erkenntnis stellte, daß der Pilot sein Handwerk verstand. Nach einer Weile ging ich zum Flugsteig, rief Anna und Andrew an und verabschiedete mich von ihnen. Ich gab mich dabei so fröhlich wie möglich, und sie ahnten nichts von meinen wahren Empfindungen. Dann kam der Aufruf, und ich betrat die Maschine. Als wir zur Startbahn rollten, dachte ich an die Beziehungen zu meiner Mutter. Ich liebe sie sehr und habe immer versucht, gut zu ihr zu sein - was hatte ich getan, um mit einer Todesreise bestraft zu werden? Nun, wir wissen nicht, was der Tod ist. Vielleicht bestand die Strafe darin, nicht die Todesreise zu beginnen. Vielleicht ist das Leben eine Verurteilung, die wir hinnehmen müssen, bis uns das körperliche Ende läutert. Vielleicht stellen wir erst nachher fest, wie närrisch unsere Ängste waren. Oder wird nach dem Tod alles noch schlimmer? Erwartet uns vielleicht immerwährendes Dunkel? Ich überlegte, daß die menschliche Seele das Potential der Unsterblichkeit hat, aber durchaus getötet werden kann, nachdem der Körper gestorben ist. Wir starteten, und die Maschine erbebte und schüttelte sich, als sie höher stieg. Moderne Jets schweben nicht wie die alten Flugzeuge. Sie fliegen nicht, sondern werfen sich dem Himmel entgegen, angetrieben vom brutalen Schub der Düsentriebwerke. Sie können auch nicht gleiten. Wenn die Triebwerke versagen, stürzen sie wie Steine zu Boden. Zum Glück sind die Motoren sehr zuverlässig. Ich lauschte den Geräuschen, hörte ein Surren, als das Fahrwerk zurückklappte und das lauter werdende Zischen des Winds, als unsere Geschwindigkeit zunahm. Weit unten sah ich, wie Manhattan im Sonnenschein schrumpfte. Ein anderes -192-
Flugzeug glitt in einem Abstand von einigen Meilen an uns vorbei. Ich stellte mir eine Kollision vor - lautes Krachen, dann der lange Fall. Vor einigen Monaten war in Japan eine 747 abgestürzt, und den Passagieren blieb Zeit genug, letzte Mitteilungen an ihre Familien zu schreiben: »Wir fallen jetzt schneller...« Wir flogen im Niemandsland zwischen Himmel und Erde. Auf der anderen Seite des Ganges bemerkte ich eine Frau, die leise weinte. Hinter mir saßen zwei Kinder, die ihre Mutter begleiteten, sie waren voller staunender Aufregung. Die Stewardeß reichte mir das Frühstück und zeigte dabei ein kurzes, routiniertes Lächeln. Das Brummen der Triebwerke klang völlig gleichmäßig. Nichts geschah. Alles war ganz und gar normal. Ich las die New York Times und wartete auf den Tod. Es half nicht, auf die Zeitung zu starren. Es brachte auch keine Erleichterung, ein Omelette zu essen und Orangensaft zu trinken. Der Boden befand sich tief, tief unter uns. Jedes ungewöhnliche Geräusch sorgte dafür, daß meine innere Anspannung zunahm. Eine Stewardeß runzelte die Stirn. Hatte sie etwas Verdächtiges gehört? Die Stimme des Flugkapitäns drang aus dem Lautsprecher und wies darauf hin, alles sei in bester Ordnung. Wollte er uns nur beruhigen? Bestand die Gefahr, daß die Maschine von einem Augenblick zum anderen explodierte? Eine Frau eilte zur Toilette, und ich zuckte heftig zusammen. Meine Hände zitterten so heftig, daß ich die Zeitung überhaupt nicht lesen konnte. Ich befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Das Flugzeug erschien mir wie ein Sarg, dessen Deckel sich bereits geschlossen hatte. Ich kämpfte gegen die plötzliche Versuchung an, zur Tür zu laufen. Erinnerungen an Flugzeugkatastrophen strömten in den Fokus meines Bewußtseins. Eine DC-8 fing -193-
Feuer und stürzte in den Rocky Mountains ab - wenige Sekunden vor dem Aufprall sprang ein Passagier aus dem Notausstieg... Die japanische 747, die sich um ihre eigene Achse drehte, fiel und fiel, während die Männer und Frauen an Bord schrien... Der traurige Gesichtsausdruck eines Toten, den ich an einer Straßenecke gesehen hatte... Gräber, Beerdigungen, Särge, Kinder vor Grabsteinen. Ich fiel - in die innere Dunkelheit, die uns mit dem Tod konfrontiert, in der wir stumm jammern. Doch die Schwärze hielt nichts für mich bereit! Ich dachte an die vielen Insekten, die ich zertreten hatte, an eine überfahrene Katze, an die Schlangen, die ich als Junge in Texas tötete, an den Tod des Großvaters, des Vaters und der Großmutter, an Alter und Weisheit, an die plötzliche, verblüffende Stille, die auf den Tod eines geliebten Menschen folgt. Die Stunden verstrichen. Ich stellte mir Andrew in der Schule vor, dachte daran, daß er jetzt an seinem Platz im Klassenzimmer saß, dessen Wände mit Zeichnungen geschmückt waren. Ich dachte an Anne, die an ihrem Buch arbeitete, langsam und stufenweise lernte, eine Schriftstellerin zu werden. Ich dachte an ihre Hoffnungen, ihre Liebe, an die Unkompliziertheit ihrer Partnerschaft mit mir. Ich dachte auch an die Besucher, die am Himmel entlangsegelten, an ihre seltsame, fremdartige Präsenz, die ich so nahe spürte. Wie hatte ich jemals glauben können, daß sie nicht Teil von mir waren? Sie gehörten zu mir, zu uns allen. In gewisser Weise stellten wir einen Kokon dar, aus dem sie Schmetterlingen gleich schlüpften. Und wer weiß? Vielleicht erschreckte der Schatten des Schmetterlings die arme Raupe ebenso sehr wie der des Vogels. Wir landeten in Dallas und starteten wieder, ohne daß es zu irgendwelchen Zwischenfällen kam. Als die Maschine auf der Landebahn von San Antonio -194-
ausrollte, war ich so erleichtert, daß ich fast den älteren Herrn neben mir geküßt hätte. Dann verließen wir das Flugzeug. Es war überstanden. Ich fuhr durch die vertrauten Straßen im nördlichen San Antonio und erinnerte mich an die alten Orte, an meine vergangene Jugend. Den Broadway hinunter, an Pat's Drugstore vorbei, wo ich so häufig Comics gekauft hatte, an Winn's - ich erinnerte mich an Papierdrachen und Spielzeuggewehre mit Zündplättchen -, an der St. Peter's Church - dort fanden meine ersten Auseinandersetzungen mit der Seelenfrage statt -, am Broadway Theatre, wo ich so manchen Samstag im Sommer damit verbrachte, in kühler Dunkelheit zu träumen, während draußen eine gnadenlose Texas-Sonne vom Himmel brannte... anschließend schlenderte ich unter den großen Bäumen am Straßenrand entlang und lauschte dem Zirpen der Zikaden. Und sonst? Und sonst? Warum hatte ich nach wie vor das intensive Gefühl, daß mir ein großer Teil des eigenen Lebens verborgen blieb? Welche Ereignisse versteckten sich im Schatten meiner Vergangenheit? Was bedeuteten jene anderen Reminiszenzen? Welche Botschaft brachten all die Feuerbälle, die ich vor dem inneren Auge sah? Wer war gekommen, um an meine Tür zu klopfen? Dann erreichte ich das Haus meiner Mutter. Die Tür öffnete sich, und dort stand sie, klein und traurig, und ich fühlte das Unbekannte, das den Glanz unseres Lebens umhüllt. Ich umarmte sie, und wir nahmen im Wohnzimmer Platz, sprachen über die alten Zeiten. Den Tod meiner Oma ließen wir praktisch unerwähnt, konzentrierten uns statt dessen auf die Geschehnisse, die sich in San Antonio während der fünfziger Jahre zugetragen hatten. Damals war die Stadt wesentlich kleiner gewesen und träumte unter der Sonne von Texas. Wir erinnerten uns an die vielen Stunden, die wir damit verbrachten, nach Beweisen für die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit -195-
unserer Seele zu suchen, an lange Sommerabende und an die Bücher, die wir liebten, an unser Interesse für Geschichte und Literatur, an die langen Diskussionen mit Pater Patrick Palmer, in denen es um den Sinn der päpstlichen Unfehlbarkeit und die Zukunft der Kirche ging. Die Kirche kehrte immer wieder in den Mittelpunkt unserer Gespräche zurück. Was bedeutete sie für uns? Welche Entwicklung stand ihr bevor? Damals hielten wir uns an die katholischen Traditionen, aßen kein Fleisch am Freitag und hielten es für eine Todsünde, sonntags nicht die Messe zu besuchen. Das Ritual der Messe spielte eine enorm wichtige Rolle für uns. Es kam uns nicht so sehr auf die Worte an, sondern eher auf das Mysterium, auf den erhabenen Augenblick des Hoc est corpus. Wir spürten die göttliche Präsenz in uns, wenn wir die Hostie entgegennahmen. Seit jener Zeit hatte sich viel verändert. Wir gingen nicht mehr annähernd so oft zur Messe wie damals. Dem neuen Papst begegneten wir mit Zweifel: Wir benötigten jemanden, der uns religiösen Halt gab, und gleichzeitig befürchteten wir, daß die Kirche versagt hatte - die einzige Erklärung dafür, daß sich viele Katholiken von ihr abwandten. Meine Mutter brauchte Zuwendung, doch ich wohnte weit von San Antonio entfernt. Der Umstand, daß ich mich in New York niedergelassen hatte, erfüllte mich mit einem ausgeprägten Schuldgefühl. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, jetzt in meine frühere Heimat zurückzukehren, den Jungen von der Schule zu nehmen, in der er so gut zurechtkam, mein eigenes Leben und auch das Annes drastisch zu verändern. Mutter erschien mir so klein. War sie immer so winzig und zart gewesen? Wir sprachen von der Zeit, die wir im Landhaus meiner Großeltern verbracht hatten. Damals beobachteten wir die untergehende Sonne und hörten Kuhglocken, wenn die Dämmerung zu den Farmen und Bauernhöfen im Tal kroch. Wir erinnerten uns auch an die abendlichen Spaziergänge - einmal -196-
trat ich dabei fast auf eine zwei Meter lange Klapperschlange und an unsere lebhaften, verspielten Hunde Prissy, Sidney, Candy und Carnahan. Wohin bringt uns der Tod? Meine Mutter - die Frau, die mich zur Welt gebracht hatte war jetzt blaß und traurig, kaum mehr als ein Schatten ihrer selbst. Ich fühlte ihre Hilflosigkeit, ihre Verzweiflung. Sowohl ihre Mutter als auch ihr Mann hatten sie verlassen, und nun stand sie selbst am Rande der Nacht. Ich befand mich noch immer im Licht, in der Wärme, doch diese kleine Frau spürte bereits den kalten Wind des Todes, und sie war zu schwach, um ihm lange Widerstand zu leisten. Wir sprachen über viele verschiedene Dinge, gingen gemeinsam essen und trafen Entscheidungen, von denen wir hofften, daß sie das zukünftige Glück der Familie gewährleisten würden. Meine wenigen Tage in San Antonio endeten, und ich bereitete mich auf die Rückkehr nach New York vor. Als ich zum Flughafen fuhr, fiel mir ein, daß der Rückflug ebenfalls Teil dieser schwierigsten Reise war. Eine neuerliche Konfrontation mit meiner Sterblichkeit... Ich neigte nicht dazu, dauernd über den Tod nachzudenken. Für gewöhnlich verdrängte ich solche Vorstellungen, und unsere Kultur half mir dabei. Wir halten den Tod für eine Katastrophe. Unser Konzept der Medizin dient einzig und allein dazu, den Tod von uns fernzuhalten. Wenn er doch kommt, stellt er eine Niederlage für Arzt und Patient dar und gibt allen Beteiligten Anlaß zu Kummer. Eigentlich trauern wir gar nicht um die Verstorbenen, sondern um uns selbst. Für die Toten ist das Leiden und Warten ebenso vorbei wie die Angst; sie haben eine Zustandsform erreicht, von der wir nichts wissen. -197-
Der dreitägige Besuch in San Antonio erschien mir nur wie eine Stunde. Mutter fühlte sich besser, und mich erwartete viel Arbeit in New York. Es hat mir nie gefallen, daß die Mitglieder unserer Familie an so vielen verschiedenen Orten leben, und es schmerzt ständig, mich von meine r Mutter zu verabschieden. Sie stand in der Tür und winkte. Wahrscheinlich werde ich die Beziehung zwischen Mutter und Sohn nie ganz verstehen, doch wie auch immer - es fällt mir stets sehr schwer, sie zu verlassen. Es herrschte kaum Verkehr auf den Straßen, als ich zum Flughafen fuhr und mich dabei wieder an das Wesen erinnerte, das neben mir auf der Bettkante gesessen hatte. Erneut glaubte ich, den weichen Stoff des Ärmels zu spüren... Stand mir jetzt der fatale Flug bevor? Ich fühlte mich so hilflos und unwissend. Wie konnte mir so etwas passieren? Der Rückflug fand mit einer neuen Maschine statt, einer Boeing 757. Wir stiegen einem wolkenlosen Himmel entgegen, und die kurze Reise nach Dallas verlief ohne jeden Zwischenfall. Während wir dort warteten, wies man uns auf eine Verzögerung hin. Der Grund: eine Schlechtwetterzone zwischen Dallas und New York. Ich saß im Flughafen und dachte an das Unwetter, das eine Barriere zwischen uns und dem fernen Ziel bildete. Schließlich starteten wir. Neben mir saß ein Pilot, der zu seiner Heimatbasis zurückkehrte; seine Frau und die beiden Kinder befanden sich ebenfalls in der Maschine. Ich versuchte, mich zu beruhigen: Dieser Mann würde sofort wissen, wenn irgend etwas nicht stimmte. Wenn es irgendwo knarrte und knirschte und eine Reaktion seinerseits ausblieb, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Der Flug war alles andere als angenehm. Durch die Fenster bemerkte ich flackernde Blitze, und die Maschine erbebte immer -198-
wieder, wenn wir in Turbulenzen gerieten. Ich hörte das Fauchen des Winds, und im Licht der Blitze sah ich, daß die oberen Bereiche der Wolken weit über unsere Flughöhe ragten. Für gewöhnlich fliegen Jets in einer Höhe von zehn- bis elftausend Metern - es handelte sich also um eine wirklich große Unwetterzone. Ich starrte auf die Täler und Schluchten in den Wolken hinab, sah den Zorn des Sturms. Der Pilot neben mir blickte ebenfalls nach draußen. Die Luftfeuchtigkeit im Flugzeug nahm immer mehr zu; die Klimaanlage konnte das schlechte Wetter nicht von uns fernhalten. Die Erschütterungen verstärkten sich, und wir wurden in den Sitzen hin und her geworfen. Die gleißenden Finger der Blitze tasteten über die Tragflächenspitzen, und das pulsierende Schimmern unserer Positionslichter spiegelte sich auf den Wolken weiter unten wider. Plötzlich knackte es im Lautsprecher, und der Kapitän verkündete, daß wir den Kurs ändern würden, weil ›New York Control‹, keine Maschinen durch das Unwettergebiet leiten konnte. Der Pilot neben mir war immer stiller geworden, und jetzt platzte es aus ihm heraus: »Das bedeutet, sie haben uns vom Radar verloren.« Er lachte nervös. »Ich hasse es, wenn uns die neuen Fluglotsen zwischen den einzelnen Routen hin und her jonglieren. Sie haben keine Ahnung, was hier oben geschieht. Bei Stürmen kommen sie einfach nicht mehr zurecht.« Dies war die Todesreise... Wir stießen mit einem anderen Flugzeug zusammen. Oder die Gewalten des Sturms zerrissen unsere 757. Oder wir wurden von einem Blitz getroffen. Oder wir zerschellten auf der Landebahn. Hinter uns schliefen die beiden Kinder des Piloten friedlich in den Armen der Mutter. Sie lehnte sich ans Fenster, mit einem Kissen am Kopf, und hatte ebenfalls die Augen geschlossen. Ich -199-
dachte an die anderen Passagiere. Und ich spürte eine überaus schmerzhaft e Sehnsucht nach meiner Familie. Wer würde Andrew ins Bett bringen, ihm eine Geschichte vorlesen oder mit ihm singen? Er war erst sieben. Und Anne? Ich erinnerte mich an die Aufzeichnung ihrer Stimme, als sie für Die Besucher hypnotisiert wurde: »Es geht fort... Und ich fühle mich einsam, so schrecklich einsam.« Als Kind war sie häufig allein gewesen, und sie genoß die Wärme und Nähe unsere Beziehung. Immer mehr gewann ich den Eindruck, in der Falle zu sitzen, und meine Verzweiflung wuchs. Ich glaubte zu sehen, wie die Besucher Fledermäusen gleich durch die Decke über uns kamen. Ich vernahm die Schreie der anderen Menschen an Bord, sah auseinanderbrechende Tragflächen, hörte das Krachen der Explosion - und spürte, wie mein Ich von triumphierenden Seelenfressern fortgetragen wurde... Verzweifelt überlegte ich, ob ich mich vielleicht doch in der Gewalt von Dämonen befand, die ihr Spiel mit mir trieben, mich aus reiner Freude leiden ließen. Leiden? Der Pilot neben mir war ebenfalls beunruhigt, aber seine ganze Familie begleitete ihn auf dieser Reise. Frauen verloren ihre Ehemänner, Kinder ihre Väter. Die ganze Zeit über starben geliebte Menschen. Aber deshalb endete die Welt nicht. Das Leben gleitet ständig einem unbekannten, unvorstellbaren Schicksal entgegen. Wenn ich in dieser Nacht starb, so würde Anne weinen, sich dann von ihrem Kummer erholen und mit einem neuen Leben beginnen. Ich dachte an meinen Sohn, der sich das Andenken seines Vaters tief im Herzen bewahren und dann ebenfalls die Trauer überwinden würde. Das war die Wahrheit. Ich mußte mich der Erkenntnis stellen, daß ihr Schicksal nur ihnen selbst gehörte. Statt dessen sollte ich über mein eigenes nachdenken. -200-
Es wartete viel Gedankenarbeit auf mich. Während der ganzen menschlichen Geschichte entwickelt en wir philosophische Sterbehilfen. Jede Religion, von den alten Ägyptern bis hin zu den Christen, bot der Seele eine Existenz nach dem Tod an, eine Möglichkeit, das göttliche Urteil in Empfang zu nehmen und einen neuen Platz zu finden. In einer aus Energie bestehenden Realität könnten Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes Dinge sein. Wenn in einer derartigen Wirklichkeit jemand stirbt, ohne ein klares Ziel vor Augen zu haben, so treibt er vielleicht dem tatsächlichen Ende entgegen, weil er sich nicht aus dem Kokon der Verwirrung befreien kann, in den ihn seine eigene Seele hüllt. Was für ein Tod stand mir bevor? Würde ich ein lautes Donnern vernehmen - und mich dann als lebendige, körperlose Entität unter einem anderen Himmel wiederfinden? Wer waren meine Richter, wo meine Schutzengel? Ich stellte mir vor, einfach nur dahinzutreiben, hilflos wie eine Wolke. Ich stellte mir vor, wie ich darauf wartete, daß irgend etwas geschah. Und wenn wir nach dem Tod unsere eigene Realität schaffen mußten? Dann mochte sich jemand, der ohne Erwartungen starb, in Schwärze und Vergessenheit verlieren. Vielleicht sterben heute viele Menschen auf diese Weise, in Schrecken und Verwirrung. Vielleicht spähen die Besucher hinter dem Jenseitsschleier hervor, um festzustellen, was nic ht in Ordnung ist - um herauszufinden, warum wir sie nicht mehr als Hüter der Himmelstore in Anspruch nehmen. Ist die moderne Plage der geistigen Leere ein Symptom für den Tod der Seelen? Ich konnte keine neue Kosmologie für mich erschaffen, während ich damit rechnete, in einem sturmumtosten Flugzeug zu sterben. Die Maschine zitterte, schlingerte und stöhnte. Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker, und meine Hände waren schweißfeucht. Verzweifelt rang ich nach Atem - und plötzlich -201-
kam es zu einer Veränderung. Ein jäher Wandel erfaßte mich. Im einen Augenblick war ich noch ein schwacher, erschrockener und panikerfüllter Mensch gewesen, und im nächsten offenbarte sich mir ein herrliches Gefühl der Freiheit. Ich möchte es als ein schlichtes, animalisches und reales Empfinden bezeichnen. Von einer Sekunde zur anderen fühlte ich mich wie ein Fohlen am Morgen, wie ein kleiner Junge, der zum erstenmal das Meer sieht. Der Tod streifte den dunklen Mantel des Entsetzens ab, und meine Furcht verflüchtigte sich. Das Sterben erschien mir nun richtig, hatte eine klar abgegrenzte Präzision. Es gehörte überhaupt nicht zur Finsternis. Ich sah mich als Teil der Dunkelheit, erachtete den Tod als Gnade der Natur. Die Angst löste sich auf. Ich nahm meine Situation hin und war bereit. Und dann sah ich durch die Wolken das warme Schimmern der Lichter von New York. Stewardessen schritten durch den Gang und forderten uns auf, die Sitze in eine aufrechte Position zu bringen und die Gurte anzulegen. Wir setzten zur Landung an. Das Flugzeug erbebte kurz, als es aufsetzte, und dann rollten wir über die Landebahn. Der Pilot schaltete die Triebwerke auf Gegenschub, und unsere Geschwindigkeit verringerte sich rasch. Kurz darauf erreichten wir das Terminal. Ein völlig veränderter Whitley Strieber verließ die Maschine. Ich hatte dem Tod direkt ins Auge gesehen. Natürlich erinnerte ich mich an meine Furcht, an den alles andere verdrängenden Wunsch, zu leben. Doch der Friede, den ich berührte, war so unglaublich, so transzendental erhaben, daß ich nun auch den Tod ein wenig liebte, ihn zumindest als eine unumstößliche Wahrheit und Präsenz in meinem Leben akzeptierte. In jener Nacht wurde ich von etwas befreit, das uns alle -202-
belastet: Wie fühlt sich der Tod an? Wie verhalte ich mich? Was geschieht dabei mit mir? Ich weiß nun, was mich erwartet. Ich bin bereits ein bißchen gestorben. Die Besucher hatten den Mut und die Weisheit, mir dieses Geschenk zu geben, diese einzigartige Freiheit. Wer wirklich liebt, schreckt nicht davor zurück, hart zu sein.
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ZORN Um mich herum explodierte das Leben, erblühte wie Blumen aus Gedanken und Gesprächen. Die Menschen schienen zu strahlen und eine süße Schönheit zu besitzen, die mir jetzt zum erstenmal auffiel. Schwierige, verschlossene Personen wirkten so unschuldig wie Kinder. Die Straßen von New York waren plötzlich voller magischer Wesen, und selbst die Gewöhnlichsten von uns erschimmerten in einem individuellen Licht. Doch es gab auch Furcht, die in jedem einzelnen Blick zum Ausdruck kam. Wir alle haben Angst vor dem Tod, und wir sehen sie erst dann bei anderen, wenn wir selbst sie verlieren. Normalerweise ignorieren wir den Tod, doch in Wirklichkeit ist jeder von uns ständig damit konfrontiert. Das Entsetzen begleitet uns die ganze Zeit über, findet seinen Niederschlag sogar in den überraschend ernsten Gesichtern der Schlafenden. Zu was für einem prächtigen, seltsamen Mysterium Menschen werden können. Ihre Gesichter kamen mir jetzt vor wie von einer gleichzeitig gräßlichen und wundervollen Hand berührt so daß sie mit einer Lebendigkeit erglühten, die mir fast unerträglich erschien. Das morgens auf den Frühstückstisch fallende Licht, die durchs Fenster unseres Apartments wehenden Geräusche, das Brummen der Lastwagen, verärgerte, mürrische Stimmen, das Lachen der Kinder an der Bushaltestelle - das alles vereinte sich zu etwas Wunderbarem und ging weit über sprachliche Kommunikation hinaus. Ich konnte es nicht benennen, spürte es jedoch als eine grundlegende, unbestreitbare Wahrheit, die sich nicht einmal mit den subtilsten aller Worte ausdrücken ließ. Jedes einzelne Auge schien die Essenz der Wahrheit zu enthalten. Ich sah die lächerliche Absurdität des Egoismus, der so viele von uns heimsucht, während unsere stolze alte -204-
Zivilisation dem Abend entgegentaumelt. Wir sind alle gleich, ob unschuldig oder erfahren, ob dumm oder weise. Wir alle sind winzige Partikel eines Etwas, für das wir keinen Namen kennen, dessen scharfe Intelligenz und überwältigende Leidenschaft aus dem Geheimnis hervorgeht, das uns schuf und in uns lebt, das mit uns identisch ist. Ich möchte es nicht Seele, Gott, Paraklet, Essenz oder christliches Bewußtsein nennen. Eines weiß ich: Es ist alt. Doch ich will sein Potential nicht schmälern, indem ich ihm einen Namen gebe, bevor es mich in sich aufnimmt. Vielleicht sterbe ich, ohne daß ich ein Wort dafür finde, aber dann bin ich wenigstens so weit Teil davon geworden, daß es mich dem Licht zuwenden kann. Wenn ich meine Gedanken auf den Tod konzentrierte, war ich wie ein Kind, das eine Wiese mit Narzissen bestaunt. Dann dachte ich: Was passiert nachher? Und ich begriff, daß mich die Furcht nach wie vor begleitete. Die Besucher hatten mir ein kostbares Geschenk gegeben, aber ich mußte Höllenqualen erleiden, um es zu bekommen. Jetzt besaß ich es endlich - und es bestand noch immer die Möglichkeit, daß es sich als Illusion erwies. Ich konnte mich nicht von der Vorstellung der Seelenfresser befreien. Regelmäßig unternahm ich nächtliche Spaziergängen, und wenn ich dabei den dunkelsten Bereich des Waldes erreichte, kehrte die flüsternde Angst zurück. Nach wie vor fehlte jeder Beweis dafür, daß meine Annahmen stimmten. Ich argwöhnte noch immer, daß es im Wesen der Besucher etwas Raubtierhaftes und Gefährliches gab. Fragmentarische Erinnerungen zeigten mir anzüglich grinsende Gesichter fremder Wesen, lange, klauenartige Hände mit vier Fingern. Ich schauderte voller Abscheu, wenn ich daran dachte, die Haut der Besucher berühren zu müssen. Meine Erlebnisse blieben wie hinter trübem Glas versiegelt. -205-
Ich wußte nicht, woher die Reminiszenzen stammten. Ihre Anzahl ließ sich kaum abschätzen. Mehr als hundert? Worauf gründeten sich die vagen Eindrücke? Auf die Wirklichkeit? Auf reine Fantasie? Waren sie meine von Furcht geprägte Apotheose der Besucher? Leider fand ich keine Antwort auf diese Frage. Und deshalb sah ich mich außerstande, das entsprechende Unbehagen aus mir zu verdrängen. Andererseits: Die Beziehung zu den Fremden trug erste wundervolle Früchte, und die wollte ich unbedingt genießen. Ich beschloß, nicht nur mit der Furcht zu leben, sondern ihre Tiefen zu erforschen, um sie besser kennenzulernen - indem ich die Kontakte zu den Besuchern intensivierte. Indem ich noch mehr über sie und mich selbst erfuhr. In Gedanken bat ich die Fremden, mir das zu geben, was ich besonders dringend brauchte. Ich saß im Arbeitszimmer unseres Apartments und flüsterte die Bitte, wiederholte sie immer wieder und spürte, wie sie aus dem Kern meines Selbst kam. »Gebt mir, was ich besonders dringend brauche. Zögert nicht!« Ich stellte keine Bedingungen. Ich überlegte nicht einmal, worum es bei meinem dringendsten Bedürfnis gehen mochte. Am nächsten Tag hörte ich eine Stimme, die mich erneut aufforderte, nichts Süßes mehr zu essen. Ich reagierte mit Ärger und Enttäuschung. Gab es nichts Wichtigeres? Was war mit dem Wachsen des Bewußtseins? Mit meinem Verständnis im Hinblick auf die wahre Natur unserer Beziehung? Nichts dergleichen erwartete ich. Statt dessen vernahm ich dumpfe, erstickende Stimmen, die mir verboten, Schokolade und Eiskrem zu essen. Diesmal gab ich mir wirklich Mühe, Verzicht zu üben, und die Ergebnisse erstaunten mich. Ich wurde immer nervöser, begann zu zittern und zu schwitzen echte Entzugserscheinungen stellten sich ein! Es erschien mir -206-
unglaublich und lächerlich, von so banalen Dingen abhängig zu sein. Ich schaffte es nicht, keine Süßspeisen mehr zu essen. Es fehlte mir an Kraft. Nach nur zwei Tagen begann ich von Plätzchen und anderen Leckereien zu träumen. Zorn entstand in mir. Warum sollte ich auf einen so harmlosen Genuß verzichten? Ich verstand nun, warum Menschen wie der heilige Antonius von Alexandrien ein zurückgezogenes Eremitenleben geführt hatten. Indem sie sich von den Wonnen der Welt abwandten, erreichten sie den Kern, das innere Zentrum der Existenz. Der Verzicht befreite sie von der Blindheit des Lebens und ermöglichte es ihnen, das Licht der Seele zu sehen. Als mich die Besucher vor Süßem warnten... Vielleicht wollten sie mich auf meine Abhängigkeit von äußeren Leben hinweisen? Vor meiner Auseinandersetzung mit Schokolade und so weiter hatte ich mich für jemanden gehalten, der an keiner Sucht in irgendeiner Form litt. Ich rauchte nicht, trank nur wenig Alkohol und überhaupt keinen Kaffee, nahm auch keine Drogen oder andere Dinge, die man sich im Zusammenhang mit Sucht vorstellt. Doch als ich versuchte, keine Süßspeisen mehr zu essen, spürte ich Entzugserscheinungen. Ich traf diese Feststellung auf einem intellektuellen Niveau, doch ich begriff nicht, daß es vielleicht auch eine körperliche Entsprechung gab. Vor allem bezweifelte ich, ob mich die Besucher zu einem neuen physischen Zustand führen wollten, der sich nur erreichen ließ, indem ich keinen Zucker mehr zu mir nahm. Doch eines wurde mir klar: Das nichterbrachte Opfer symbolisierte meine Niederlage; ich kapitulierte vor den Bedürfnissen der Seele. Trotzdem wollte ich nicht nachgeben, wollte alle Freuden des Lebens genießen - und dazu gehörten auch Süßigkeiten. -207-
Anfang November kehrten wir für eine Woche in die Blockhütte zurück. Während des Herbstes hatten wir uns dort häufig aufgehalten, ohne daß sich die Besucher manifestierten. Gegen elf Uhr an jenem Abend ging ich erneut in den Wald, und zum erstenmal verspürte ich dabei überhaupt keine Furcht. Ich akzeptierte sogar die Seelenfresser-Möglichkeit. Wenn sie mein Schicksal darstellte, so wollte ich sie hinnehmen. Ich hatte es als sehr schwierig und belastend empfunden, an den Demonstrationen der Besucher teilzunehmen - man denke nur an die Flugreise -, aber daraus ergaben sich auch unleugbare Vorteile für mich. Hauptsächlich ging ich jetzt von der Annahme aus, daß in den diesbezüglichen Bestrebungen der Fremden profunde Liebe zum Ausdruck kam. Allein wanderte ich durch den nächtlichen Wald und hörte das Rascheln von frisch gefallenem Laub. Der Himmel war bedeckt, und deshalb herrschte fast völlige Finsternis; ich mußte mich ganz und gar auf das Licht der Taschenlampe verlassen. Langsam schritt ich an den hohen Bäumen vorbei zur Wiese, dachte an die Schönheit der Nacht und die eigentliche Winzigkeit dieses Waldes. Der echte Wald begann eine Meile entfernt in der anderen Richtung. Dieser Ort, der mir zuvor solche Angst eingejagt hatte, war kaum mehr als ein kleines Gehölz, in dem einige Rehe und Waschbären lebten. Hier gab es nichts, das mich bedrohen konnte. Als ich über die Wiese wanderte, sah ich etwas am Himmel. Es wirkte wie ein Funken, wie eine Sternschnuppe, aber da es sich unter der dichten Wolkendecke zeigte, konnte es kein Meteor sein. Was dann? Ein Funken aus einem Schornstein? Wohl kaum. Dann hörte ich eine kindliche Stimme: »Geh zur Mitte der Wiese und sieh nach oben.« Ich kam der Aufforderung nach, blieb stehen und blickte gen -208-
Himmel. Nichts. Die Stimme erklang erneut, forderte mich auf, ein wenig zurückzuweichen und dann zur Seite zu treten. Als ich erneut aufsah, bemerkte ich einen runden, dunklen Schatten, etwa so groß wie eine Münze. Man ist daran gewöhnt, immerzu Bewegungen am Himmel zu sehen. Selbst ein schwebender Helikopter ist nicht völlig stationär. Doch in diesem Fall regte sich nichts. Ich beobachtete das Etwas aufmerksam, sah nur Schwärze ohne besondere Merkmale. Wenn ich den Kopf ein wenig drehte, verschwand das Objekt sofort. Ich hatte das Gefühl, durch den Spalt in einer Wand zu starren. Nach einer Weile bat ich die Stimme, noch einmal zu mir zu sprechen. Ich wartete. Nichts geschah. Mir wurde allmählich kalt. Kurz darauf verschwand die finstere Scheibe und kehrte nicht zurück. Schließlich ging ich wieder zum Haus. Der nächste Tag - ein Samstag - war grau und still. Der Herbst wich allmählich dem Winter, und wir verbrachten einige müßige Stunden damit, am Kamin zu sitzen und zu lesen. Am Abend hörten wir uns A Prairie Home Companion vom National Public Radio an und wechselten dann zu einem Folk-Programm aus dem nahen Albany: Hudson River Sampler. Um zehn brachte ich Andrew zu Bett, und um halb elf gingen Anne und ich in die Sauna. Erste Lücken entstanden in der dichten Wolkendecke, und hier und dort zeigten sich einige Sterne. Nach etwa fünf Minuten bemerkte ich ein sonderbares Objekt, das über den Bäumen jenseits des Swimmingpools erschien. Es leuchtete mit einem hellen zentralen Glühen, und an der deutlich gewölbten Unterseite sah ich rosarotes Schimmern. In unmittelbarer Nähe gleißte ein blaues Licht, und auf der anderen pulsierte ein weißes, wesentlich heller als das Positionslicht eines Flugzeugs. Inzwischen kannte ich nicht nur Dutzende von -209-
Beleuchtungskonfigurationen, die bei Flugzeugen üblich waren, sondern auch alle Flugrouten, die man von der Blockhütte aus beobachten konnte. Aus diesem Grund wußte ich sofort: Wenn es sich in diesem Fall um ein Flugzeug handelte, so benutzte es völlig ungewöhnliche Positionslichter und mußte eine private Maschine sein, da es weit abseits der normalen Routen flog. Das Objekt befand sich unter den Wolken, deren Höhe ich später auf etwa zweihundertfünfzig Meter schätzte. (Am nächsten Morgen rief ich den dreißig Meilen entfernten Flughafen an und erfuhr, daß die dortigen Wolkenhöhe ungefähr dreihundertdreißig Meter betragen hatte. Da die Blockhütte auf etwas höherem Gelände steht, fand ich meine Schätzung bestätigt.) Mit anderen Worten: Die vertikale Distanz des Objekts belief sich auf etwa zweihundertfünfzig Meter, und die horizontale betrug wahrscheinlich nicht mehr als dreihundert. Trotzdem vernahmen wir nicht das geringste Geräusch. Ein Hubschrauber wäre deutlich zu hören gewesen, auch eines der neuen ultraleichten Flugzeuge. Eine Privatmaschine hätte sich schneller bewegen müssen als diese Erscheinung, die nur langsam über den dunklen Himmel schwebte. Das Objekt entsprach keinem vertrauten Muster. Ich dachte zunächst, daß es sich vielleicht nur meinem Blick dargeboten hätte und beschloß, Anne indirekt darauf anzusprechen. Ich wollte sie nicht fragen, ob ihr etwas am Firmament auffiele - das hätte ihr einen zu deutlichen Hinweis gegeben. Statt dessen sagte ich, wie prächtig die Bäume vor dem Hintergrund der dahinziehenden Wolken aussähen. Anne hob den Kopf und erwiderte: »Was ist das?« Damit beantwortete sie meine Frage. Sie bemerkte das Objekt ebenfalls. »Ich glaube, sie sind es«, murmelte ich. -210-
Als ich diese Worte aussprach, verharrte die Erscheinung und kehrte zu den Konturen der Bäume zurück, als wolle sie sich dahinter verbergen. Einige Sekunden später beobachtete ich, wie sie sich dem Hügel näherte und an einigen Kiefern vor der Blockhütte vorbeiflog. Das Objekt befand sich jetzt nicht mehr als sechzig Meter über dem Boden. Plötzlich traf mich ein blauweißer Lichtstrahl mitten im Gesicht. Gleichzeitig sah Anne einen Balken aus hellem Glanz über dem Haus. Übelkeit quoll in mir empor. Ich hatte das Gefühl, langsam zu ersticken und verspürte nur noch den Wunsch, die Sauna so schnell wie möglich zu verlassen. Die Schwärze einer Ohnmacht wogte mir entgegen. Zusammen mit Anne kehrte ich in die Blockhütte zurück. Ganz deutlich spürte ich die nahe Präsenz der Besucher, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als die Treppe hochzugehen und das Schlafzimmer zu betreten. Anne sprach mich später nicht darauf an, aber ich glaube, wir waren beide betroffen: Innerhalb weniger Minuten schliefen wir trotzdem ein. Spät in der Nacht erwachte ich plötzlich. Jemand stand in unmittelbarer Nähe des Bettes, aber es war so dunkel, daß ich kaum etwas sehen konnte. Vage Umrisse zeichneten sich ab: eine Gestalt, die sich neben dem Nachtschränkchen duckte. Ich bemerkte große schwarze Augen und wußte Bescheid. Von einer Sekunde zur anderen fühlte ich mich auf unbeschreibliche Art und Weise bedroht. Es kam einer unerträglichen Qual gleich, im Bett zu liegen, aber ich konnte mich nicht bewegen, nicht einmal schreien. Ich lag reglos wie ein Toter und erlitt eine innere Agonie. Was auch immer sich in der Nähe befand: Es wirkte unglaublich monströs, schmutzig und finster und unheilvoll. Ja, die Besucher waren Dämonen. Es gab keine andere Erklärung. Sie wollten mich holen, vielleicht -211-
auch Anne und Andrew. Und ich konnte sie nicht daran hindern. Ich erinnere mich noch immer an das gräßliche Wesen, das neben dem Bett hockte, Arme und Beine wie die Gliedmaßen eines abscheulichen Insekts. Aus dunkle n Augen starrte es mich an. Und dann spürte ich Liebe, fühlte mich bemuttert und umsorgt. Schließlich richtete sich das furchtbare Insekt auf, wirkte wie eine riesige, hungrige Spinne. Die Augen glitzerten, als es den Kopf von einer Seite zur anderen neigte. Alle Muskeln in mir waren bis zum Zerreißen gespannt. Das Feuer des Entsetzens floß durch meine Adern. Geschmolzenes Blei füllte den Magen. Das Atmen fiel mir immer schwerer. Kurz darauf fühlte ich eine Berührung an der Stirn: ein weicher elektrischer Druck, der sanft zwischen meinen Augen vibrierte. Ich fand mich an einem anderen Ort wieder - ein Boden aus Stein, ein steinerner Tisch in der Mitte. Er war gut hüfthoch, und darauf sah ich mehrere eiserne Schellen. Ein Mann wurde Stufen herabgeführt und mit den Schellen gefesselt. Er befand sich direkt vor mir: Nur etwas mehr als ein halber Meter trennte uns voneinander, und als er mich anblickte, sah ich eine schier unerträgliche Trauer in seinen Augen. Er schien ein ganz normaler Mensch zu sein, hatte lockiges braunes Haar und war nackt. An dem muskulösen Körper fiel mir nichts Außergewöhnliches auf. Hinter ihm stand eine größere Gestalt, die schwarze Kleidung trug. Ich konnte jenes Individuum nicht genau erkennen, da es sich schnell bewegte und immer wieder mit den Schatten verschmolz. Der Schwarzgekleidete holte eine schreckliche Peitsche hervor und schlug damit auf den armen Mann ein. In aller Deutlichkeit sah ich die blutigen Striemen, die sich auf seiner Haut bildeten. Zuerst war ich enorm überrascht, dann zutiefst schockiert. -212-
Das Gesicht des Mannes verwandelte sich in eine schmerzverzerrte Grimasse, und vergeblich versuchte er, sich von den eisernen Schellen zu befreien. Hinter mir sagte jemand: »Er hat es nicht geschafft, daß du ihm gehorchst, und jetzt muß er die Konsequenzen dafür tragen.« Das Grauen nahm kein Ende. Der Mann litt weiter: Manchmal ließ er den Kopf hängen und schien bewußtlos zu werden, doch der nächste gnadenlose Hieb brachte ihn ins Hier und Jetzt zurück. Dann hörte ich eine andere, ältere Stimme - ich brachte sie mit dem weiblichen Wesen in Verbindung, das ich während der in Die Besucher geschilderten Erlebnisse sah -, und sie intonierte: »Es ist nicht real, Whitty. Es ist nicht real.« Dadurch fühlte ich mich keineswegs besser. Ich nahm an den Qualen des armen Mannes teil und wußte genau: Es ging dabei um den Umstand, daß ich weiterhin Süßes aß - so absurd das auch klingen mag. Während das Psychodrama andauerte, spürte ich Zorn auf die Besucher. Immer wieder schlug der Schwarzgekleidete mit seiner Peitsche zu, und gleichzeitig wiederholte die Stimme: »Es ist nicht real, Whitty, es ist nicht real...« Doch das gräßliche Geschehen vor mir wirkte völlig echt. Es war die reinste Hölle für mich, die Agonie des Mannes zu beobachten. Nie zuvor habe ich eine so starke Demütigung und Schuld gefühlt. Ich wäre sofort bereit gewesen, den Mann zu erlösen, indem ich seinen Platz einnahm. Aber eine solche Möglichkeit bestand nicht. Der Schwarzgekleidete schlug und schlug, bis der Gepeinigte nur noch eine blutige Masse war. Und dann befand ich mich wieder im Schlafzimmer. Die Besucherin - ich hielt sie für weiblich - stand neben dem Bett, und ich sah zu ihr auf, musterte ihr Gesicht. Den höhnischen Spott darin werde ich nie vergessen. Andrew schrie, und diesmal erlebte ich eine Art explosiven -213-
Schock. Ich wollte aufstehen, doch irgend etwas hielt mich fest. Schultern, Taille und Füße schienen gefesselt zu sein. Ich konnte mich nicht bewegen. »Er wird für deine Verfehlungen bestraft«, sagte die Besucherin. Ich hörte Andrews Schreie, und sie hallten in meiner Seele wider. Während ich sie vernahm, sehnte ich mich nur noch nach dem Tod. Ich wollte seinen Namen rufen, Anne wecken, irgend etwas unternehmen, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Tränen strömten über meine Wangen, und eine imaginäre Schlinge schnürte mir den Hals zu, erdrosselte mich. Das Gefühl der Heimsuchung war ebenso intensiv wie furchtbar. Ich gewann den Eindruck, als sei das ganze Haus voller stinkender, entsetzlicher Insekten, jedes einzelne so groß wie ein Tiger. Dann endete das Grauen. Plötzliche Stille herrschte, und die fremde Präsenz verschwand aus dem Schlafzimmer. Ich fühlte mich nicht mehr bedroht. Als ich aufstehen wollte, um zu meinem Sohn zu gehen, schlug mich jemand, versetzte mir eine schallende Ohrfeige. Ich sank aufs Bett zurück, und meine nächsten Erinnerungen betreffen den Morgen. Ich erwachte, lief in den Flur und eilte zu Andrew. Er schlief, und die Decke lag neben dem Bett. Er wirkte kalt. Als ich ihn zudeckte, öffne te er die Augen. Es schien alles mit ihm in Ordnung zu sein, ebenso wie mit Anne. »Sie kamen in der vergangenen Nacht«, sagte ich zu ihr. Sie antwortete: »Ich weiß.« Ich fragte, ob sie sich an irgend etwas erinnerte. »Nur an das Ding am Himmel. Anschließend gingen wir schlafen.« Ich kam mir wie ein Zombie vor, als ich mich anzog und aufbrach, um die Sonntagszeitung zu holen. Nach einigen Minuten wäre ich fast im Graben gelandet: Ich fuhr viel zu schnell auf der schmalen Straße. Mühsam nahm ich Gas weg und hielt am Rand des Weges. -214-
Tränen quollen mir in die Augen, und meine Hände zitterten so heftig, daß ich überhaupt nicht mehr steuern konnte. Erneut dachte ich an die Besucher. Sie waren so schrecklich, so monströs, so unbarmherzig und ich fühlte mich ihnen wehrlos ausgeliefert. Ich nahm den Geruch ihrer Präsenz wahr, wie ätzenden Rauch, der mir in der Nase brannte. Aber gleichzeitig spürte ich Liebe. Trotz der entsetzlichen Dinge, die ich während der Nacht erlebt hatte, vermißte ich die Besucher und sehnte mich nach ihnen! Wie war das möglich? Ich wollte, daß sie zu mir zurückkehrten! Ich weinte nicht nur aus Furcht, sondern auch aus Einsamkeit. Mein Platz schien nicht in dieser Welt zu sein, sondern in der anderen, in jener Kammer mit den eisernen Schellen. Sie wirkte weitaus realer und der Wahrheit näher. Nun bedauerte ich die Verachtung, die ich den Notwendigkeiten und Gesetzen jener anderen Welt entgegengebracht hatte, und ich verspürte den fast verzweifelten Wunsch, Abbitte zu leisten. Doch ich hatte den Zorn der Besucher herausgefordert und wußte nicht, was er bedeutete. Aber es gab noch etwas Schlimmeres. Ich erinnerte mich daran, einen flüchtigen Blick - mehr nicht - auf einen anderen Wesensaspekt der Fremden geworfen zu haben, und er erfüllte mich mit tiefem Unbehagen. Als die Stimme ihr: »Es ist nicht real, Whitty« intonierte, empfand ich einen Schmerz, der weit über den der Strafe hinausging. Es war die Qual der Liebe. Die Besucher hatten etwas für mich aufgegeben, und ich vermutete, es handelte sich um den Zugang zu einer hingebungsvollen Liebe, die einem mir unbekannten Etwas galt. Wenn die Besucher ein Element des Heiligen sind, so müssen sie die finsterste aller Dunkelheiten durchdringen, um in unsere Welt zu gelangen. Ich begriff, daß ich in meinem eigenen Selbst isoliert war, fern von dem Licht, das uns umgibt. -215-
Die Häßlichkeit, die ich in der vergangenen Nacht gesehen hatte... Vielleicht betraf sie mich selbst. Ich empfand solche Scham, daß ich mich fast übergab. Nachdem ich mit der Sonntagszeitung zurückgekehrt war, bereitete ich einige Pfannkuchen zu und bewegte mich dabei wie ein Roboter. Während ich arbeitete, hörte ich Andrews Schreie in der Nacht. Aber er wirkte so fröhlich wie immer und las die Witzseiten. Offenbar hatten ihm die Besucher nic hts angetan und mich nur darauf hingewiesen, daß ich ihn nicht schützen konnte. Ich wollte unbedingt vermeiden, daß er jemals für meine Schwächen litt. Zum erstenmal in meinem Leben verzichtete ich beim Frühstück darauf, die Pfannkuchen mit Sirup zu bestreichen. Ich kam mir deshalb wie ein Narr vor, hielt es jedoch für angeraten, die Besucher nicht noch einmal herauszufordern. Allein der Himmel mochte wissen, wozu sie fähig waren, wenn ich nach wie vor stur blieb. An jenem Tag aß ich keine Süßigkeiten und stellte fest, welche Kraft erforderlich ist, um eine eigentlich harmlose Angewohnheit zu überwinden. Seitdem ist meine Enthaltsamkeit alles andere als perfekt gewesen. Ich bin zuckersüchtig und werde zuckersüchtig bleiben. Manchmal gelingt es mir nicht, der Versuchung zu widerstehen, doch anschließend nehme ich den Kampf wieder auf. Und genau das scheint der Sinn zu sein: Man darf nicht aufgeben. Es ist etwas Kleines und Bescheidenes. Aber ich bin ein kleines, unbedeutendes Wesen, und deshalb halte ich einen bescheidenen Kampf für angemessen. Indem ich den Besuchern die Stirn bot, fand ich viel mehr über mich heraus, als es sonst der Fall gewesen wäre. Sie reagierten recht selten auf meine Bitten und Anfragen, setzten sich meistens nur dann mit mir in Verbind ung, wenn sie damit -216-
eigene Absichten verfolgten. Als ich ihnen trotzte, erlebte ich aber die Grenzen ihrer Toleranz mir gegenüber. Sechs Monate lang warteten sie darauf, daß ich ihren Rat beherzigte, und schließlich brachten sie ihren Zorn zum Ausdruck. Sie können also verärgert sein und Wut zur Grundlage ihres Verhaltens machen - wobei sie sich in meinem Fall auf ein Trugbild beschränkten. Ich aß die ungesüßten Pfannkuchen und fragte mich, ob die Fremden begriffen, wie schwer mir das fiel. Sofort ermahnte ich mich in Gedanken: Natürlich wußten die Besucher darüber Bescheid. Das war doch der Sinn der ganzen Sache, oder? Andrew beendete sein Frühstück und spielte vergnügt. Der Hinweis darauf, daß er als Mittel für meine Bestrafung dienen konnte, sollte mich vermutlich daran erinnern, daß es um sehr wichtige Dinge ging. Das wurde mir erst jetzt im ganzen Ausmaß bewußt. Meine bisherigen Erfahrungen waren nichts im Vergleich zu dem, was mich nun erwartete. Ich hatte den Zorn der Besucher gespürt und ergab mich damit ihrer Weisheit.
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SEELENREISE Als ich mich um vier Uhr nachmittags am 15. November hinlegte, geschah etwas Seltsames. Wir befanden uns wieder in der Blockhütte. Ich schlief nicht, hatte jedoch die Augen geschlossen und schob meine Aufmerksamkeit im Körper hin und her, um die Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern. Schon seit Jahren beschäftigte ich mich mit solchen Übungen und rechnete daher nicht mit ungewöhnlichen Nebenwirkungen. Diesmal hörte ich plötzlich mehrere bereits vertraute junge Stimmen, die sync hron sagten: »Oh, gut. Jetzt zeigen wir dir etwas.« Einige Sekunden später schien ich mich an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig zu befinden. Ich lag noch immer auf dem Bett, aber ein völlig bewußtes und sinnlich lebendiges »anderes« Ich stand neben einem neuen Cadillac, legte die Hände aufs Dach und spürte es. Vor dem Wagen standen einige Personen, die ich kannte, deren Namen mir jedoch nicht einfielen. Dann endete das duale Empfinden. Ich war verwirrt. Normalerweise liegt es mir fern, von Autos zu träumen. Das Interesse an ihnen beschränkt sich nur darauf, meinen eigenen Wagen zu pflegen. Am nächsten Tag stellte ich überrascht fest, daß sich ein Bekannter von mir einen Cadillac gekauft hatte. Der Wagen war am Vortag geliefert worden, gegen vier. Zu jener Zeit zeigte ihn der stolze Besitzer einigen Freunden - und auch mir! Ich fragte sie nicht, ob sie meine »Präsenz« gespürt hatten, ging aber davon aus, daß sie nichts von meiner Anwesenheit wußten. War ich wirklich zugegen gewesen? Und wenn die Antwort »nein« lautete: Woher wußte ich dann von dem Wagen? Der Käufer war kein Freund im eigentlichen Sinne, sondern nur ein Bekannter, und ich hatte ihn seit einigen Monaten nicht mehr gesehen. Am nächsten Tag erst erzählte mir ein gemeinsamer -218-
Freund - offenbar aus reinem Zufall - von dem neuen Cadillac. Anschließend erkundigte ich mich bei anderen Menschen mit Besucher-Erfahrungen, ob sie jemals das Gefühl gehabt hatten, daß sich ihr Bewußtsein vom Körper löste. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um ein weit verbreitetes Erlebnis. Eine Kontaktperson riet mir, Robert Monroes Buch Journeys Out of the Body zu lesen. Die Lektüre faszinierte mich, aber ich war nicht überzeugt. Mir schien, Mr. Monroe habe einen traumartigen Zustand beschrieben. Ich las das Buch Ende November 1986 und probierte die Methoden aus, die es angeblich ermöglichten, den Körper zu verlassen. Dabei entstand praktisch sofort ein Gefühl in mir, über das Mr. Monroe berichtet hatte. Er beschrieb es als eine Art Pulsieren, das bei der Vorbereitung auf die mentale Reise den ganzen Körper erfaßte. Das Empfinden wiederholte sich und war so deutlich, daß ich andere Personen bat, mich dabei zu beobachten. Anne entdeckte keine Veränderungen in meinem physischen Erscheinungsbild, wenn ich das Pulsieren spürte, und es führte auch zu keinen körperexternen Erlebnissen. In der Nacht des 27. November hatte ich einen erstaunlichen Traum, der mich zutiefst beeindruckte. Seine Intensität verblüffte mich geradezu. Im Gegensatz zu den Visionen vom explodierenden Mond, der Tschernobyl-Katastrophe (diese Bilder zeigten sich mir im April, als ich mich in Boulder aufhielt) und der goldenen Stadt handelte es sich ohne jeden Zweifel um einen normalen Traum. Ich stand am Ufer eines grünen Meeres. Kleine Wellen rollten an den Strand, und ich ahnte, daß sie Menschen auf ihren Reisen durch Erfahrungen symbolisierten. Jede Bewegung brachte ein wortloses emotionales Durcheinander zum Ausdruck, so als seien verschiedene Lebensphasen darin enthalten. Über mir wölbte sich ein blauer Himmel, so perfekt, daß er -219-
mein Herz mit Sehnsucht erfüllte. Ein großes Objekt hing an diesem Firmament und bestand offenbar aus Ton. An der einen Seite war es rund, an der anderen quadratisch, und es drehte sich langsam. Zwar wirkte es alt, verwittert und brüchig, aber es bot sich mir als etwas Wunderschönes dar: Perfektion an einem perfekten Himmel. Stimmen erklangen um mich herum. Einige Kinder näherten sich, und ich forderte sie auf, gen Himmel zu blicken. Das Objekt veränderte sich, während es weiterhin rotierte. Die runden und quadratischen Teile trieben auseinander und umkreisten sich. Die Bewegung weckte ein Gefühl tiefer Zufriedenheit in mir. Sie schien einen Ausgleich zwischen zwei gegensätzlichen Kräften zu schaffen, eine Art »Quadratur des Kreises«. Etwas vibrierte in mir, als die Kinder näher kamen. Sie trugen weite Kleidung in grünen, gelben und lohfarbenen Tönen. Einige von ihnen bezeichneten sich als Moslems, andere als Christen. Das beunruhigte mich nicht. Ganz im Gegenteil: Ich sah einen Glücksfall darin, denn es würde zu Reibung kommen, und Reibung schuf ein Gleichgewicht. Ich selbst spürte eine innere Balance und ging ins Wasser. Meine Füße berührten die kühlen Steine unter den Wellen. Am fernen Horizont glühte eine herrliche Sonne, verströmte weißblauen Glanz. Sie erschien mir als etwas Lebendiges, und ich wollte sie rufen. Ein seltsamer Laut entrang sich meiner Kehle und reichte weit durch die Stille. Als das Licht der Sonne verblaßte, fühlte ich meine Heimat weit entfernt. Nur ein Traum. Aber er rührte mich sehr an. Interessiert stellte ich fest, daß darin einmal mehr Kinder erschienen waren. Sie erwiesen sich als subtiles und wichtiges -220-
Motiv meiner Erfahrungen. Ich erinnerte mich an die Kindergruppe, zu der ich als kleiner Junge ge hört hatte, an Kinder, die über eine Wiese mit gelben Blumen an mir vorbeiliefen, an die Stimmen von Kindern. Und nun diese schönen Jungen und Mädchen. Hinzu kam: Die Besucher hatten mich aufgefordert, keine Süßigkeiten mehr zu essen, und solche mahnenden Worte richtete man für gewöhnlich an Kinder. Sowohl meine Reaktion darauf als auch die der Fremden waren kindlicher Natur. Ich fragte mich, ob das Bewußtsein in der körperlosen Form nicht weise und alt war, sondern weise und jung. Wir werden schnell alt und sterben, aber vielleicht gibt es ein hyperbewußtes Element unseres Wesens, das wesentlich langsamer reift. Vielleicht existiert auf dieser Ebene etwas, das uralt und gleichzeitig sehr jung ist. Am Nachmittag des 28. November kehrten wir nach kurzer Abwesenheit zur Blockhütte zurück. Als wir den Highway verließen und über den Mautplatz fuhren, stellten wir fest, daß in einem der Wagen neben uns eine ungewöhnliche Katze saß. Wir hielten sie für eine Siamkatze. Sie hatte ein langes, affenartiges Gesicht und große, starr blickende schwarze Augen. Andrew bemerkte sofort, wie sonderbar sie wirkte, und er wies mich und Anne darauf hin. Ich sah zur Seite und bemerkte etwas wirklich Verblüffendes im Fond des Wagens. Die Katze auf dem Beifahrersitz erschien mir recht ungewöhnlich, aber das Tier auf der Rückbank war einfach unglaublich. Ich konnte nur den oberen Teil des Kopfes und zwei spitz zulaufende Ohren erkennen, die größer zu sein schienen als die Hand eines Mannes. Das Geschöpf wirkte grau mit irgendwie unscharfen Konturen. Genau in diesem Augenblick sagte Andrew: »Dad! Sieh nur das Biest im Fond!« Ich hatte es bereits gesehen und hielt genauer Ausschau. Bei dem Wagen handelte es sich um einen etwa fünf Jahre alten -221-
BMW. Der Fahrer mochte gut vierzig Jahre alt sein und sah völlig normal aus. Das Tier neben ihm erschien sonderbar, aber man konnte es durchaus für eine Siamkatze halten. Das Wesen auf der Rückbank hingegen... Es hatte den Kopf noch immer nicht weit genug gehoben, um uns die Augen zu zeigen. Sprachlos starrte ich hinüber - der Schädel mußte einen Durchmesser von fast einem Meter haben! »Wo ist der Rest davon?« fragte Andrew. Ich hatte keine Erklärung für das, was sich unseren Blicken darbot. Ein Geschöpf mit einem so großen Kopf konnte unmöglich in den Fond eines BMW passen - es sei denn, es gab ein Loch im Boden. Ich machte Anne darauf aufmerksam. »Was meinst du?« erwiderte sie. »Die Riesenkatze im BMW.« »Ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen, was?« Ich zwinkerte verwirrt und stellte fest, daß die Rü ckbank jetzt leer war. Andrew und ich wußten nicht, was wir davon halten sollten. Wir beide hatten das Wesen gesehen, hatten es praktisch im gleichen Augenblick bemerkt. Dies war eines von jenen Erlebnissen, die wir meist ignoriert hatten - doch jetzt begriffen wir, daß ihnen eine größere Bedeutung zukam. Diesmal stellte ich mich der Wahrheit: Andrew und ich hatten - unabhängig voneinander und ohne vorherige verbale Kommunikation - ein unmögliches Tier im Fond eines nahen Wagens gesehen. Vielleicht eine Reflexion auf dem Seitenfenster? Möglich. Aber das Wesen hatte den Eindruck erweckt, feste Substanz zu haben und sich im Wagen zu befinden, obwohl ihm der Fahrer und die Katze auf dem Beifahrersitz überhaupt keine Beachtung schenkten. Als wir die Mautstelle erreichten, konnte ich erneut auf die Rückbank des BMW sehen. Nichts. Leer. -222-
Ich erzähle diese Geschichte nicht etwa deshalb, weil ich nicht weiß, was geschehen ist, sondern weil sie einige Stunden später - während einer der faszinierendsten Erfahrungen meines Lebens - ein Nachspiel hatte. An jenem Abend bemerkte ich zwei Gestalten vor der Blockhütte. Ich sah sie nur für ein oder zwei Sekunden, und dabei fiel mir keine besondere Form auf: Die Fremden wirkten menschlich und wanderten umher. Ich erinnere mich daran, daß sie hochgewachsen waren und weiße Uniformen trugen. Zwar ging ich sofort nach draußen und blickte mich um, aber weit und breit war bereits niemand mehr zu sehen. Später kam es zu einem Stromausfall, der vier Minuten dauerte. Er betraf nur unseren unmittelbaren Wohnbereich: Ich rief Freunde in der Stadt und an der Straße an, und bei ihnen funktionierte die Versorgung mit Elektrizität. Gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig ging ich wieder im Wald spazieren, ohne daß ich etwas Ungewöhnliches feststellte, doch war ich ziemlich nervös und zuckte heftig zusammen, als im Dickicht ein Hirsch schnaubte. Als ich zu Bett ging, wußte ich nicht, was mich in der Nacht erwartete. Ich schlief ungestört, bis ich, wie so oft, gegen halb fünf erwachte und aufstand, um ein Glas Wasser zu trinken. Anschließend trat ich ans Fenster und blickte in die dunkle Stille hinaus. Nach einer Weile legte ich mich wieder ins Bett und beschloß, es mit einem körperexternen Ausflug zu versuchen. In seinem Buch erklärte Robert Monroe, solche Erfahrungen fielen leichter, wenn »der Geist wach ist und der Körper schläft«. Ich glaubte mich in einem derartigen Zustand und wollte die gute Gelegenheit nutzen. Die vielen Jahre der Meditation erwiesen sich nun als eine gute psychische Investition. Ich trachtete danach, den Körper zu verlassen. Einen Sekundenbruchteil später sah ich ein seltsames Bild - es -223-
schien auf einem Fernsehschirm zu entstehen, der nur etwa dreißig Zentimeter vor mir schwebte. Ein Besucher streckte seine lange graue Hand aus und deutete auf einen Kasten, dessen Kantenlänge etwa sechzig Zentimeter betrug und der auf grauem Boden stand. Die Hand war außerordentlich lang und schmal, sie endete in vier Fingern. Der längste zeigte auf den Kasten. Aus irgendeinem Grund führte diese Geste zu einer explosiven sexuellen Reaktion in mir. Mein ganzer Körper erzitterte in einem akuten Anfall von Wollust. So etwas habe ich noch nie zuvor gespürt, und dieses Empfinden war um so eigentümlicher, da das Bild überhaupt keine sexuellen Aspekte aufwies. Ganz im Gegenteil: Die Hand wirkte eher abscheulich, und ein schlichter Kasten hat wohl kaum etwas Erotisches an sich. Das überaus intensive Gefühl dauerte nur einen Augenblick lang, aber seine Wirkung auf mich ging über alles hinaus, was ich für möglich und denkbar gehalten hätte. Die Entladung aus purer sexueller Energie löste Verbindungen in mir. Ich rollte aus meinem Körper und streifte die leiblichen Fesseln ab. Es war eine außerordentlich sonderbare Erfahrung, die sich kaum beschreiben läßt. Verwir rung und Desorientierung folgten, als das Laken, auf dem ich lag, durch mein Blickfeld strich. Dann befand ich mich über dem Körper, schwebte völlig frei und mühelos in der Luft. Ich beobachtete mich selbst die Augen halb geschlossen, die Lippen geöffnet, konnte mich aber nicht ganz mit mir selbst identifizieren. Später fand ich eine Erklärung dafür: Ich hatte mich noch nie von außen gesehen und kannte nur meine Spiegelbilder. Ich schlief nicht, hatte nicht einmal Gelegenheit gefunden, die Meditation zu vertiefen, sondern fühlte mich sogar sehr wach und aufmerksam. Deshalb war ich imstande, meine Situation gründlich zu prüfen und mit Bewegungen zu experimentieren. Ruhig und gefaßt, wie ich war, verspürte ich überhaupt keine -224-
Furcht. Gemächlich ließ ich den Blick umherschweifen, und dabei fiel mir auf, daß ich den ganzen Raum sehen konnte. Das nur matt erhellte Schlafzimmer hatte sich nicht verändert. Anne schlief noch immer im Bett und wirkte sehr lebendig. Im Vergleich zu ihr war mein Körper so starr und unbewegt wie ein Stein. Zwischen uns auf der Decke lag eine Katze. Das erstaunte mich, denn unsere Katzen befanden sich in der Stadt. Dieses Tier spürte meine Präsenz und sah zu mir hoch. Ich blickte in ein vertrautes Gesicht, das mich an Sadie, unsere Birmakatze erinnerte. Unter anderen Umständen hätte ich sie vielleicht für Sadie gehalten, aber ich wußte genau, daß sie nicht bei uns in der Blockhütte weilte. Die Katze stand auf und sprang vom Bett. Langsam und anmutig glitt sie zu Boden, als sei sie nicht schwerer als der Flügel eines Schmetterlings. Dann wanderte sie umher und beachtete mich nicht mehr. Wie ich feststellte, konnte ich mich ungehindert bewegen. Ich wollte das Fußende des Bettes erreichen und schwebte dorthin. Davor erstreckte sich ein breites Doppelfenster, und als ich nach draußen sah, bemerkte ich das Gesicht eines Wesens, wie es auf dem Titelbild von Die Besucher dargestellt ist. Doch diesmal war die Haut grau, und in den großen, mandelförmigen Augen glänzte weitaus weniger Leben als damals. Ich glaubte fast, es mit einer Maske oder einer Art Bild zu tun zu haben und interpretierte die Erscheinung als Warnung: Offenbar sollte ich das Zimmer nicht verlassen. Aber ich wollte meine neue Zustandsform auskosten, mich nicht darauf beschränken, durch einen Raum zu schweben, den ich gut kannte. Also näherte ich mich dem leeren Fenster. War ich imstande, es zu öffnen? Hatte ich Hände? Ich richtete den Fokus der Aufmerksamkeit auf mich selbst. Offenbar entsprach meine Form ungefähr der einer Kugel, und die Körperempfindungen waren nicht so stark ausgeprägt wie sonst. -225-
Ich atmete nicht und verspürte auch gar kein Bedürfnis dazu. Als ich versuchte, die Augen zu schließen, gelang mir das, aber ich fühlte keine Lider, die sich senkten. Statt dessen schien ich ganz bewußt auf eine visuelle Wahrnehmung verzichten zu wollen. Geräusche hörte ich keine, auch das leise Rauschen in meinem linken Ohr existierte nicht mehr. Ich glitt näher und streckte die Hand nach dem Fenster aus eine leichte Berührung, in jeder Hinsicht normal. Doch als ich das Fenster nach oben schieben wollte, durchdrangen die Finger das Glas. ›Hand‹ und ›Finger‹ bestanden nicht mehr aus Fleisch und Knochen, sondern bildeten eine graue, dunstige Pseudopodie, die aus dem Zentrum meines ›Körpers‹ wuchs, wenn ich etwas anfassen wollte. Das Ende war wie ein Fausthandschuh geformt. Ich konnte sowohl die Scheiben als auch die Fliegengitter dahinter durchdringen. Vor dem Fenster wuchs eine Schierlingstanne, und ich beschloß, einige Nadeln von den Zweigen zu lösen und ins Zimmer zurückzubringen. Auf diese Weise wollte ich herausfinden, ob es mir in diesem Zustand möglich war, Einfluß auf die physische Welt zu nehmen. Während ich Glas und Gitter durchdrang, spürte ich eine geringfügige Veränderung der Dichte, so als bewegte ich mich durch kühlen Rauch. Draußen zeigte sich mir eine völlig unveränderte Welt. Mit einer erstaunlichen Ausnahme: Die zum Haus führenden Stromkabel wirkten dick und aufgedunsen; eine graue, haarige Substanz haftete an ihnen fest. Das galt auch für das Telefonkabel, doch dort war die graue, struppige Patina nicht ganz so dicht. Es sah genauso aus wie Haare, die von statischer Elektrizität aufgerichtet wurden. Vielleicht beobachtete ich das elektromagnetische Feld der Kabel. Ich berührte den Baum und nahm einige Nadeln zwischen die Finger, sah sie ganz deutlich, aber gleichzeitig blieben sie am -226-
Baum. Offenbar hatte ich eine Art Belag von den Nadeln gelöst, etwas, das genau ihrer Form entsprach, aber aus einem anderen, subtileren Material bestand. Als ich ins Haus zurückkehren wollte, bot mir das Fliegengitter einen überraschend starken Widerstand. Einige Sekunden lang glaubte ich, ausgesperrt zu sein. Vielleicht war ich auch einen wirklich sonderbaren Tod gestorben - falls der Tod nicht immer so ist. Dann gab das Gitter nach, und ich schwebte wieder ins Schlafzimmer. Dort versuchte ich, Anne zu wecken. Ich konnte singen und wahrscheinlich sogar sprechen, aber meine Frau reagierte nicht darauf. Wenn sie wach gewesen wäre - hätte sie meine Stimme dann wie aus dem Lautsprecher eines kleinen Radios im Ohr gehört? Befand ich mich nun auf der primären Existenzebene der Besucher? Ich hielt vergeblich nach der Katze Ausschau. Dann betrachtete ich meinen Körper auf dem Bett. Ich regte mich nicht, schien tot zu sein. War ich tot? Ich spürte kein Unbehagen, nur den ruhigen und rationalen Wunsch, mit einem weiteren Experiment zu beginnen: Konnte ich in meinen Leib zurückkehren? Monroe schilderte in seinem Buch, daß Verbindungen zwischen dem physischen Körper und dem externen Bewußtsein existierten, aber ich sah nichts dergleichen. Mein leibliches Ich auf dem Bett bot einen gespenstischen Anblick. Ich lag völlig erstarrt. Nach einer Weile glaubte ich zu erkennen, daß ich atmete, aber es war eine kaum merkliche Bewegung. Anne hingegen strotzte vor Leben. Ihre Brust hob und senkte sich, und in ihrem Gesicht glühte Vitalität. -227-
Mein Körper erschien mir primitiv. Es reizte mich nicht sehr, in ihn zurückzukehren, und ich glaubte mich fähig, ihn für immer zu verlassen. Dann sah ich auf Anne hinab, und plötzlich bestand kein Zweifel mehr daran, wohin ich gehörte. Als ich zu meinem physischen Selbst sank, öffnete sich ein unsichtbarer Zugang und nahm mich auf. Doch ich fand keinen festen Halt im Innern, schwebte weiter und löste mich wieder vom Leib. Wie ein Blatt glitt ich zu Boden. Plötzlich kam es zu einer dramatischen Veränderung. Ich befand mich überhaupt nicht mehr im Schlafzimmer, sondern in unserem alten Haus in San Antonio. Mein Vater war bereits in aller Frühe aufgestanden typisch für ihn - und mähte den Rasen, eine Aufgabe, die ich später ebenfalls wahrnehmen wollte. Er sah zu mir auf und fragte: »Wann kommst du, um mir zu helfen?« Anscheinend nicht sehr bald - wie ein erschrockenes Kaninchen raste ich in meinen Körper zurück, und diesmal blieb ich darin. Ich hatte den Eindruck, gerade den Tod berührt zu haben. Einen Augenblick später wirkte alles wieder normal, und ich setzte mich auf. In der Phase bewußter Wahrnehmung gab es keine Lücken oder Unterbrechungen. Es fehlte die Benommenheit des Schlafs, und ich fühlte mich keineswegs so, als sei ich aus einem Traum erwacht. Doch erfüllte mich Kälte. Ich fröstelte und zitterte am ganzen Leib, obwohl es im Bett angenehm warm war. In Armen und Beinen spürte ich eine sonderbare Steifheit, als hätte ich sie seit langer Zeit nicht bewegt, ein Blick auf die Uhr sagte mir aber, daß nur zehn Minuten verstrichen waren. Ich hob erst die Arme, dann auch die Beine und hatte dabei das Gefühl, die Gliedmaßen einer Marionette zu steuern. Vorsichtig stand ich auf, schritt durchs Zimmer, trat ans Fenster und betrachtete die Schierlingstanne. Ein vertrauter Baum, aber auch von dem Geheimnis umhüllt, das ich schon mehrmals -228-
erahnt hatte, jenem Mysterium, das sich im Kern jeden Lebens befindet. Ich zog die Hausschuhe an, streifte den Morgenmantel über und ging nach unten. Völlige Stille herrschte im Haus. Andrew schlief in seinem Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Er bot ein Bild des Friedens. Ich ging nach draußen und näherte mich dem Swimmingpool. Alles war kühl und still. Ich empfand überhaupt keine Furcht, doch schienen sich im Schweigen des Waldes Geheimnisse zu verbergen, so als wüßten die Bäume alles, was unter ihnen geschehen war. Während die Kälte der Nacht unter den Morgenmantel kroch, stellte ich mir zwei bedeutsame Fragen: Was hatte sich gerade zugetragen? War es mir wirklich gelungen, den eigenen Körper zu verlassen? Es handelte sich gewiß nicht um einen konventionellen Traum. Vielleicht steckten Halluzinationen dahinter, aber das glaubte ich eigentlich nicht, ›Antworten‹ dieser Art klangen hohl. Nur eines ließ sich mit Bestimmtheit feststellen: Ich hatte etwas Wundervolles und Mysteriöses erlebt. Die einschlägige Literatur schildert nur wenige Fälle von körperexternen mentalen Ausflügen, bei denen der Geist so bewußt und fest in der Realität verwurzelt geblieben ist. Nun, meine Erfahrung mochte seltsam und ungewöhnlich sein, aber ich stand damit nicht allein. Der bekannte Psychiater Dr. George Ritchie hatte ein solches Erlebnis, als er während des Zweiten Weltkriegs dem Militär angehörte. Dr. Ritchie starb an Lungenentzündung, und seine sterblichen Überreste wurden im Leichenschauhaus von Camp Barkeley, Texas, aufgebahrt. Die Lungenentzündung ist eine Krankheit, die den Körper auszehrt, ihn mit Giftstoffen zerstört. Nach neun Minuten des klinischen Todes - während dieser Phase atmete er nicht, und es gab auch keine anderen -229-
Lebenszeichen - kehrte Dr. Ritchie ins Leben zurück. Dr. Donald G. Francy, der verantwortliche Sanitätsoffizier in Camp Barkeley, beschrieb diesen Vorgang als »erstaunlichsten medizinischen Fall, mit dem ich es jemals zu tun bekommen habe«. Er unterschrieb eine notariell beglaubigte Erklärung, in der es an einer Stelle heißt: »Für die Rückkehr des Gefreiten Ritchie aus dem Tod und seine vollständige Genesung kenne ich keine natürliche Erklärung.« Dr. Ritchie erinnerte sich ganz deutlich daran, was ihm während des Todes widerfahren war. In seinem Buch Return from Tomorrow beschrieb er in allen Einzelheiten, wie er den Körper verließ, nach Richmond, Virginia, flog, die Landschaft unter sich sah, schließlich eine Stadt erreichte und versuchte, einen Mann nach dem Weg zu fragen, der ihn weder sehen noch hören konnte! Sein Buch ist überaus lesenswert, denn es bietet vielleicht Einblick in die ersten Stadien des Lebens nach dem Tode. Mir bewies es, daß ich nicht der einzige Mensch war, der seinen Körper ganz bewußt verlassen hatte. Es existierten Präzedenzfälle, und in diesem besonderen Fall ging es dabei um die Erlebnisse eines prominenten Arztes. Mit der Ausnahme von Robert Monroe werden die meisten bewußten Trennungen des Psychischen vom Physischen in jener Literatur geschildert, die Erfahrungen in unmittelbarer Nähe des Todes betrifft. Doch es war nicht etwa das Fast-Sterben, das mich aus meinem Körper geschleudert hatte. Die sonderbare Vision des Kastens diente dabei wohl als auslösender Faktor. In meiner üblichen Traumwelt fehlen Bilder von grauen Kästen, die explosive sexuelle Erregung schaffen. Aber ich bin nicht die einzige Person mit Besucher-Erfahrungen, der ein solches Objekt gezeigt wurde. Ich habe von Kästen geträumt, und eine meiner beunruhigendsten fragmentarischen Erinnerungen zeigt mir die Hand eines Besucher, der einen Kasten an seinen Platz in eine m Gestell schiebt. Es gibt keinen -230-
memorialen Kontext, aber ich schaudere häufig, wenn ich daran denke. In den sechziger Jahren schrieb ich ein Gedicht, das ich »Mein Kasten« nannte. Ich werde gehen, wenn ich muß, Zum Urteil meines Kastens. Und dort suche ich Liebe Hinter der schwarzen Wahrheit des Lebens. Beziehen sich diese Zeilen auf einen Ort schmerzlicher und ekstatischer Kontemplation, wo die Seele nach dem Tod in den Säften des Gewissens kocht? Besteht der eigentliche Grund für unsere Furcht vor dem Sterben darin, daß wir uns anschließend der Wahrheit unseres Lebens stellen müssen? Aber ich spürte eine außergewöhnliche physische Erregung, als ich den Kasten sah. Ist der Tod geheime Ekstase? Eines steht fest: Die Vision des grauen Behälters übte eine so enorme Anziehungskraft auf mich aus, daß ich im wahrsten Sinne des Wortes aus der Haut fuhr. Ich kann nicht beweisen, daß ich meinen Körper verließ. Für mich selbst gab und gibt es aber keine andere Erklärung. Das Erlebnis war in jedem Detail so überwältigend, daß zumindest ich fest an seine Realität glaube. Die körperlosen Reisen des Bewußtseins sind umfassend dokumentiert worden. Viele Personen mit entsprechenden Erfahrungen, wie zum Beispiel Dr. Ritchie, genießen einen makellosen Ruf und haben praktisch unbestreitbare Geschichten zu erzählen. Trotzdem besteht unsere Gesellschaft darauf, solche Dinge als sonderbar und verblüffend zu bezeichnen. In wissenschaftlichen Kreisen nimmt man an, daß entsprechende Erlebnisse auf Träume oder Halluzinationen zurückgehen. -231-
Warum? Es mangelt nicht etwa an Beweisen für die tatsächliche Existenz dieses Phänomens, und auch der offensichtliche Gegensatz zu unserer bisherigen Auffassung vom Realen spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Unter anderen Umständen wäre eine Erscheinung, für die es so viele konkrete Hinweise gibt, längst gründlich untersucht worden. Ich glaube, wir begegnen unseren geistigen Erfahrungen außerhalb des Körpers mit der gleichen Furcht, die wir auch der Möglichkeit einer Reinkarnation entgegenb ringen. So etwas läßt vermuten, daß die Seele eine unabhängige Existenz hat. Und der Grund dafür: Die Vorstellung, nach dem Tod mit allen Einzelheiten unseres Lebens konfrontiert zu werden, erschreckt uns so sehr, daß wir es vorziehen, die Existenz der Seele zu leugnen. Diese Einstellung ist alles andere als rational, wenn man dabei die in diesem Bereich geleistete - und bisher weitgehend ignorierte - wissenschaftliche Arbeit berücksichtigt. Dr. Ian Stevenson, Professor für Psychiatrie an der Universität der Virginia Medical School, hat fünf Bücher mit Fallstudien veröffentlicht. Sie betreffen größtenteils Kinder unter vier Jahren, die sich an Einzelheiten früherer Leben erinnern. Einige von ihnen beschreiben sogar das Sterben und die spätere Reinkarnation. Die vielen Details der besten Fälle wurden von Dr. Stevenson und seinen Mitarbeitern verifiziert und bestätigen die Möglichkeit einer Reinkarnation. Woraus folgt, daß die Seele ebenso existiert wie der Körper. Vielleicht ist die Seele aber nicht nur real. Vielleicht wird der Fluß der Seelen zwischen Leben und Tod bewußt geleitet und mit Hilfe von Kunstfertigkeit und Technik kanalisiert. In der menschlichen Kulturgeschichte wird immer wieder der ›zweite Körper‹ beziehungsweise die Seele erwähnt. Die Griechen nannten sie Eidolon, die Römer Umbra. Ähnliche Bezeichnungen finden sich in praktisch allen Kulturen. -232-
1972 publizierte Dr. Harold Burr sein Buch Blueprint for Immortality: The Electric Patterns of Life. Es ist das Ergebnis vieler Jahre umfassender Forschungen und zeigt, daß jedes Lebewesen einen elektrischen Körper hat. Er ist von der Geburt bis zum Tod präsent und verändert sich nicht, während der Körper wächst. Darüber hinaus weist er bei jeder Spezies eine andere Beschaffenheit auf. Ich erinnere mich daran, wie sich die Nadeln der Schierlingstanne vor dem Fenster anfühlten, als ich sie während der geistigen Reise mit meinem ›elektrischen Körper‹ berührte. Ich spürte dabei eine seltsame Substanz, die eine Art Patina auf der Nadel bildete und sich unter me inen ›Fingern‹ löste. Handelt es sich um den Stoff des elektrischen Körpers? Wir leugnen die Realität der Seele nicht etwa, weil es einen guten Grund dafür gibt, sondern weil wir davor zurückschrecken, mehr darüber herauszufinden. Ich nehme an, mit geeigneten Instrumenten kann man sie messen und besser verstehen lernen. Ich beschäftigte mich eingehender mit Robert Monroes Werken und las sein Buch mit dem Titel Far Journeys, das ebenso interessant war wie das erste. Eine Woche verbrachte ich im Monroe Institut in West Virginia und befaßte mich dort mit den Methoden, die Monroe entwickelte, um den Zustand zu erreichen, der Erlebnisse außerhalb der leiblichen Existenz ermöglicht: »Der Geist ist wach, und der Körper schläft.« Monroe erwies sich als zuvorkommender und hochintelligenter Mann, und seine Techniken waren sehr wirkungsvoll. Mit ihnen gelang es mir praktisch mühelos, einen Zustand zu erreichen, der das Tor zu sehr außergewöhnlichen Erfahrungen öffnete. Das Institut hat es sich nicht in erster Linie zum Ziel gesetzt, Menschen zu körperexternen Reisen zu befähigen. Es lehrt vielmehr, wie man den eigenen psychisch-physischen Zustand verändert, um sich in ein energetischeres Existenzniveau zu transferieren. -233-
Während des Erlebnisses im November konnte ich keine Veränderungen meines Bewußtseins feststellen. Ich blieb nicht nur wach und aufmerksam, sondern bewahrte auch meine normale Wahrnehmung, als ich den Körper verließ. Ich dachte an die Katze. Ein Traum innerhalb eines Traums? Oder können Katzen ebenfalls als Plasma-Entität reisen? Vielleicht legten die alten Ägypter aus diesem Grund solchen Wert darauf, nicht nur Menschen zu mumifizieren, sondern auch Katzen. Vielleicht wußten sie etwas über die Tiere, das wir vergessen haben. Als ich die leiblichen Fesseln abstreifte, hatte ich ein spürbares, wenn auch geringes Gewicht, und außerdem fühlte ich die Grenzen meines ›Körpers‹. Ein Wunsch genügte, um Bewegungen zu veranlassen. Wenn ich etwas berühren wollte, wuchs eine Art Pseudopodie aus mir heraus, und der Tastsinn war im großen und ganzen normal. Mit einem wichtigen Unterschied: Wenn ich zu starken Druck ausübte, durchdrangen die ›Finger‹ das betreffende Objekt. Als ich in den Körper zurückzukehren versuchte, zunächst keinen festen Halt in ihm fand und neben dem Bett zu Boden sank, fühlte ich mich wie ein Blatt oder eine Feder. Dann sah ich meinen verstorbenen Vater. Er befand sich an einem ganz anderen Ort, stand im Freien, während Sonnenschein auf eine irdische Landschaft herabglänzte. Im Schlafzimmer herrschte diffuses Halbdunkel, doch als ich meinem Vater begegnete, war es taghell. Ich weiß, daß viele Menschen mein Erlebnis für einen Traum halten werden. Aber wer diesem Phänomen mit derartigen Einstellungen begegnet, ignoriert die Tatsache, daß solche Erfahrungen nicht während eines traumartigen Zustands stattfinden. Hinzu kommt Furcht vor den Konsequenzen in bezug auf die Seele. Es sind wahrhaft beachtliche Konsequenzen. Zuerst einmal: -234-
Offenbar gibt es einen Teil der individuellen menschlichen Realität, die außerhalb des Körpers leben kann. Die von mir wahrgenommenen Bewegungen und mein eigenes Verhalten während der geistigen Reise deuten auf eine Art Plasma hin. Allem Anschein nach ist es möglich, daß Lebewesen in energetischer Form existieren, ohne ein materielles System aus Gehirn und Körper. Läßt sich daraus der Schluß ziehen, daß es überall um uns herum von Seelen wimmelt, die alles sehen und hören? Dr. Ritchie berichtete, daß er an sinnliche Wünsche gebundene Seelen sah, die unsere Welt durchstreiften. Ins Leben zurückgeholte Selbstmörder erzählten, daß sie verzweifelt jenen folgen wollten, die sie im Diesseits zurückließen. Dr. Ritchie wies darauf hin, daß er die physische Welt deutlich sehen, allerdings keinen Einfluß auf sie nehmen konnte. Ich hatte den gleichen Eindruck gewonnen. Aber ich glitt auch in eine ganz andere Realität, begegnete meinem Vater in einem Augenblick, der die Reibung in unserer Beziehung zum Ausdruck brachte. Können Seelen zwischen strahlenden Welten hin und her wechseln, die sich im gleichen Raum wie unsere befinden und nur auf verschiedene Weise mit der Realität verbunden sind? Wenn das alles stimmt, so bedeutet es folgendes: Wir sind nicht allein, und unsere Geheimnisse liegen offen vor den Augen der anderen Welt. Vielleicht weisen wir solche Vorstellungen zurück, weil wir sie instinktiv als wahr erkennen. Für manche von uns wäre so etwas geradezu unerträglich. Der neuplatonische Philosoph Plotinus spricht vom ›Licht‹ der Seelen wie von ihrer primären Realität. Als die Besucher sagten, daß sie kamen, weil sie ›ein Glühen‹ sahen... Vielleicht handelte es sich da nicht um das Glühen unserer Städte, sondern um das unserer Seelen. Wie dem auch sei: Jene Erfahrung im November bewirkte -235-
eine weitere fundamentale Veränderung in mir. Mit neuer Entschlossenheit versuchte ich, jenes wundervolle Mysterium zu verstehen, das Teil meines Lebens geworden war. Ich dachte erneut an die Mahnungen der Jungfrau Maria in ihren vielen Manifestationen. Immer wieder fordert sie auf, zu beten, inneren Frieden anzustreben und sich dem Guten zu widmen. In diesem Zusammenhang fiel mir die Begegnung mit der Besucherin ein, deren Gesicht auf dem Titelbild von Die Besucher dargestellt ist: Sie riet mir, meinen inneren Kosmos zu erforschen und mich der Verantwortung für den Zustand meiner Seele zu stellen. Unsere Kultur gibt sich große Mühe, die Existenz der Seele zu leugnen. Doch ich halte das für eine Illusion: Wir versuchen uns damit nur einzureden, nicht für unser eigenes Leben verantwortlich zu sein. Ich vermute, daß jeder einzelne Augenblick unseres Lebens in der Erinnerung erstarrt, um später in der strengen Selbstprüfung zu erscheinen, die dem Tod folgt. Vielleicht schüren wir das Feuer der Hölle, indem wir uns so sehen, wie wir wirklich sind. Und der Trost des Himmels offenbart sich, wenn ein Ausgleich erfolgt. Man kann natürlich den bequemen Weg beschreiten und behaupten, daß ich lüge, daß die Beschreibungen in diesem Buch frei erfunden oder Halluzinationen sind. Aber das ist nicht der Fall. Ich schildere die Wahrheit meiner Erlebnisse, und die Schlußfolgerungen liegen auf der Hand. Wir sind nicht allein, und uns alle erwartet ein anderes Leben. Es findet in einem bisher noch fremden Bereich des Realen statt, in der primären Heimat der Besucher. Ich nenne sie Besucher, aber allmählich glaube ich, einen falschen Namen gewählt zu haben. Mir scheint, sie stellen sich als eine Art Familie vor, und vielleicht trifft diese Bezeichnung den Kern der Sache. -236-
Als ich während jener Novembernacht in der Stille schwebte, hatte ich das Gefühl, daß man mir einen Blick zwischen die Welten der Lebenden und der Toten gewährte. Unsere Zivilisation ist von Sünden geprägt. Skrupellos verschmutzten wir unsere Umwelt und ruinieren das Leben von Millionen Menschen. Wir lehnen jede Verant wortung für unser Handeln ab. Verleumdungen, Lügen, Attentate, Diebstahl, Mord und Selbstbefleckungen aller Art gehören zur gesellschaftlichen Routine. Jede Sünde wird verherrlicht und begangen, bis wir daran ersticken. Indem wir die Realität der Seele leugnen, glauben wir, daß unsere Verfehlungen geheim bleiben. Vermutlich haben wir überhaupt keine Geheimnisse. Ich verstehe jetzt, was es mit den Stadien in der goldenen Stadt auf sich hat: Im hellen Licht windet sich die menschliche Welt in ihrem eigenen Wahnsinn. Wer beobachtet uns? Diese Frage wurde einst mit Mythologie und Gottvertrauen beantwortet. Die Mythologie haben wir aufgegeben, den Glauben verloren. Ich schätze, wir müssen uns noch einmal mit dieser Frage auseinandersetzen, wenn wir unsere wahre Natur verstehen wollen. Vermutlich lüften wir damit auch das Geheimnis der Besucher.
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23. DEZEMBER 1986 Wir hatten uns eine Zeitlang in New York aufgehalten, und am 23. Dezember kehrten wir fürs Weihnachtsfest zur Blockhütte zurück. Ich verbrachte den Abend im Schlafzimmer und versuchte, Spielzeuge zusammenzubauen. Um halb elf gingen wir zu Bett. Früher am Abend hatte ich ein kurzes Aufblitzen auf der alten Straße hinter dem Haus bemerkt. Das Licht glänzte hell genug, um mich zu veranlassen, draußen nachzusehen. Ich nahm an, daß sich vielleicht jemand mit einem Schneemobil näherte. Alles war völlig normal. Um Viertel nach fünf hatte ich mit jemandem telefoniert und durchs Fenster etwas beobachtet, das wie ein sehr heller Stern aussah, der über den Himmel kroch. Für einen Meteor bewegte er sich zu langsam, und ich hielt ihn auch nicht für ein Flugzeug: Das Objekt flog zu tief und völlig lautlos. An jenem Abend geschah nichts Außergewöhnliches. Um halb vier in der Nacht erwachte ich und ging ins Bad. Als ich mich wieder ins Bett legte, spürte ich etwas Seltsames. Prickelnde, pulsierende Energie erfaßte den ganzen Körper, und ich schauderte. Dann gewann ich den Eindruck, daß jemand mit raschen, geschmeidigen Schritten ins Zimmer kam. Ich glaubte mich beobachtet, und dieses Empfinden war so intensiv, daß es mich faszinierte. Ich hatte es schon einige Male erlebt: Es fühlte sich an, als sei ein anderes Bewußtsein in mir präsent, als beobachte man mich von innen. Unmittelbar darauf wurde alles schwarz, und ich kam erst wieder zu mir, als ich eine Berührung an der Schulter spürte. Ich hob die Lider und sah einen Besucher neben dem Bett. Unter normalen Umständen wird es in unserem Schlafzimmer nie völlig dunkel, weil die Alarmanlage über mehrere Leuchtdioden verfügt und als Nachtlicht dient. -238-
Zuerst konnte ich den Anblick kaum ertragen und wünschte mir, es mit einer ganz normalen Person zu tun zu haben. Doch ich erkannte die Gestalt wieder und glaubte mich mit dem gleichen Wesen konfrontiert, dem ich am 26. Dezember 1985 begegnet war. Auch diesmal wirkte es weiblich, obgleich ich nicht sicher sein konnte, ob es bei den Besuchern überhaupt sichtbare geschlechtliche Unterschiede gab. Mit den ruckhaften Bewegungen eines Insekts neigte die Besucherin den Kopf zur Seite. Entsetze n packte mich. Doch ihre anderen Bewegungen - damit forderte sie mich auf, das Bett zu verlassen - ließen den Wunsch in mir entstehen, sie zu berühren. Gleichzeitig flutete mir ein emotionaler Strom entgegen, der geballter Drohung gleichkam. War es möglich, daß sich auch die Besucher fürchteten? Reagierten sie ebenfalls mit Angst, wenn sie einen Kontakt zu uns herstellten? Fühlte nicht nur ich kaltes Grauen, sondern auch die Fremde? Ein Jahr lang hatte ich auf diesen Augenblick gewartet. Ich war darauf vorbereitet - das glaubte ich wenigstens. Auf dem Nachtschränkchen stand eine automatische Kamera, mit einem neuen Film ausgestattet. Mein Körper prickelte noch immer, aber ich konnte mich ohne Schwierigkeiten aufsetzen. Entschlossen griff ich nach dem Fotoapparat. Dann sah ich, wie meine Hände ein gespenstisches Eigenleben entwickelten und von der Kamera fortwichen. Ich kontrollierte sie nicht, aber trotzdem bewegten sie sich auf eine normale Art und Weise - gegen meinen Willen. Sie gehörten nach wie vor zu meiner physischen Existenz, aber jemand anders steuerte sie. Einige Sekunden später stellte ich fest, daß ich aufstand. Ich überragte die Besucherin, aber der Größenunterschied war nicht so ausgeprägt, wie ich zunächst angenommen hatte. Die Fremde mochte rund ein Meter fünfzig groß sein; ich hatte sie mir -239-
kleiner vorgestellt. Als ich ihre einmal anmutigen und dann ruckartigen Bewegungen sah, konnte ich mir kaum vorstellen, daß es sich nicht um eine Art Maschine handelte. Doch sie lebte. Ganz deutlich spürte ich ihre bewußte Existenz. Und ich kannte sie gut. Die Besucherin strahlte nun etwas aus, das ich mit spöttischem Humor assoziierte. Sie stand vor mir, eine unbestreitbare physische Realität. Ich bemerkte, daß die Leuchtdioden am Bett nicht etwa rot glühten, sondern grün, und außerdem fiel mir Licht im Badezimmer auf. Warum war die Alarmanlage ausgeschaltet? Ich hatte völlig vergessen, sie zu aktivieren - wahrscheinlich steckten die Besucher dahinter. Die Fremde trat hinter mich, und plötzlich ging ich zur Tür, dabei griff ich nach dem Tonbandgerät auf dem Nachtschränkchen. Einmal mehr verweigerten mir die Hände den Gehorsam. Solange ich einen Fuß vor den anderen setzte, war alles in Ordnung. Aber wenn ich stehenblieb, begann ich zu schweben. Die Besucherin schob mich von hinten, berührte mich am verlängerten Rücken. Ein elektrisches Kribbeln ging von ihren Fingern aus. Ich hatte überhaupt keine Kontrolle über die Richtung, die ich einschlug. Ich bewegte mich nicht, ich wurde bewegt. Die Fremde hinderte mich daran, den Fotoapparat und das Tonbandgerät zu benutzen, und ich suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, die Realität meines Erlebnisses zu beweisen. Es schien sich um etwas zu handeln, das in der physischen Welt stattfand. Aber warum das traumartige Schweben, wenn ich verharrte? Meine Körperfunktionen waren normal, soweit ich das feststellen konnte. Ich sah und hörte. Ich fühlte die Bewegungen. Und die Besucherin dirigierte mich durch eine völlig reale Version der Blockhütte. -240-
Ich ging nun an der Couch im Wohnzimmer vorbei. Wir hatten unsere Katzen im Haus behalten; draußen war es zu kalt, und außerdem bestand dort die Gefahr, daß sie von Hunden oder Waschbären angegriffen wurden. Die Birmakatze Sadie hockte auf der Rückenlehne und duckte sich wie zum Sprung. Ich streckte die Hände nach ihr aus und nahm sie mit. Der Grund: Ich wußte, wie sie aussah und reagierte, und wenn sie mir weiterhin normal erschien, konnte ich mich auch auf meine anderen Wahrnehmungen verlassen. Wir näherten uns der offenen Tür, die zum Swimmingpool führte. Die Besucherin zögerte, und daraufhin blieb auch ich stehen. Ich drehte mich um und sah, daß die Fremde den kleinen Gummiring beiseite schob, der die Fliegentür daran hindert, sich automatisch zu schließen. Dann drückte sie die Tür behutsam zu. Wir setzten uns wieder in Bewegung, und meine Situation veränderte sich ganz plötzlich. Ich konnte nicht mehr normal sehen - glitzernde Schwärze erstreckte sich vor mir. Nach wie vor spürte ich Sadie in den Armen und war sehr froh über ihre Gesellschaft. Von einem Augenblick zum anderen befand ich mich in einem Zimmer. Es schien ein gewöhnlicher Raum zu sein. Vor mir stand ein großer, schlichter Schreibtisch, und dahinter bemerkte ich Regale mit Büchern: Bruce Cattons Werke über den amerikanischen Bürgerkrieg, eine Biographie von Madame de Staél, einige vage vertraute Romane aus den vierziger und fünfziger Jahren, ein Band von Kafka, mehrere Fachbücher über Mathematik und - halb hervorgezogen, als solle es Aufmerksamkeit wecken - Thomas Wolfes You Can't Go Home Again. Viele andere Wesen hielten sich in diesem Zimmer auf. Die Besucherin, die mich hierhergeführt hatte, wartete hinter mir. -241-
Am Schreibtisch saß ein Mann mit einem auffallend langen Gesicht und runden schwarzen Augen. Auf seinem Kopf sah ich ein geradezu lächerlich anmutendes schwarzes Toupet. Er trug ein grünes, kariertes Flanellhemd und lehnte sich so weit auf dem Stuhl zurück, daß ich seine khakifarbene Hose und einen breiten Gürtel bemerkte. Er wirkte wie jemand aus einer anderen Welt, der die Kleidung der vierziger Jahre gewählt hatte. Links neben mir stand ein hochgewachsener Mann in einem hellbraunen Overall mit vielen Taschen und Patten. Er war blond, hatte ein recht flaches Gesicht und mochte etwa eins neunzig groß sein, vielleicht sogar noch größer. Hinter ihm sah ich eine normale Holztür und gewann den Eindruck, daß es mir nicht erlaubt war, sie zu passieren. Ich möchte hier darauf hinweisen, daß ich mich keineswegs von dem Mann bedroht fühlte. Ganz im Gegenteil: als sich unsere Blicke begegneten, zeigte sich sanftes Mitgefühl in seinem Gesichtsausdruck. Er erinnerte mich an einen Sohn, der mit verzagter Liebe seinen senilen Vater musterte. Seit jener ersten Begegnung hatte ich weitere Kontakte mit ähnlich großen und blonden Wesen. Rechts neben mir stand eine Frau. Sie wirkte ganz und gar normal, war etwa ein Meter sechzig groß und trug einen blauen Overall unter einer Schürze, die bis zum Boden reichte. In der linken Hand hielt sie einen kleinen schwarzen Koffer. Sie hatte braunes Haar, das einen Knoten im Nacken bildete. Weniger als ein halber Meter trennte mich von ihr, und als ich mich ihr zuwandte, standen wir uns direkt gegenüber. Ich blickte ihr in die Augen und sah dort Sorge, ein wenig Mitleid und eine gehörige Portion Argwohn. Darüber hinaus spürte ich eine intensive Aura aus Wachsamkeit und Konzentration. Irgend etwas an oder in der jungen Frau deutete auf eine verblüffende Bewußtseinsschärfe hin. Sie hatte helle Haut, regelmäßig geformte Gesichtszüge und zeichnete sich durch eine konventionelle Attraktivität aus. Ich würde sie sofort wiedererkennen, wenn ich sie auf der Straße träfe. -242-
Das Geschöpf hinter mir schob einen Stuhl auf mich zu, und ich nahm recht abrupt Platz. Der Mann am Schreibtisch fragte mich auf englisch: »Warum hast du die Katze mitgebracht?« Ich hielt Sadie noch immer in den Armen, und sie sah sich aus großen Augen um. »Um die Realität zu testen«, erwiderte ich. Darauf folgte eine Verwirrung, die ich in diesem Ausmaß noch nie zuvor beobachtet habe. Die Wesen wechselten so verwunderte Blicke, als hielten sie mich für komplett übergeschnappt. Unmittelbar darauf nahm ich eine atmosphärische Veränderung im Zimmer wahr. Ich spürte eine Art mentalen Druck, der immer stärker wurde und mich zwang, die Wahrheit zu sagen, ganz offen die Anwesenheit der Katze zu erklären. »Die Katzen gehören zur Familie«, kam es aus meinem Mund, und ich zweifelte nicht daran, daß ich eine profunde, absolute Wahrheit verkündete. »Sie müssen ebenfalls mitgenommen werden, wenn man uns abholt. Sie haben ein Recht darauf, am Leben der Familie teilzunehmen.« Der Mann hinter dem Schreibtisch bedachte mich mit einem durchdringenden Blick. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Katze einzuschläfern.« Ich fühlte mich wie ein Mitverschwörer und begriff, daß ich schon einmal so empfunden hatte, obwohl die Frage nach dem Wann und Wo offenblieb. »Unmöglich«, antwortete ich. »Es ist die Katze meines Sohnes. Wie sollen wir es ihm erklären?« Kurze Stille schloß sich an. Schließlich sagte der Mann mit dem grünen Flanellhemd: »Nein, sie wird nicht sterben, nur schlafen.« Die junge Frau neben mir trat vor und holte etwas aus ihrem Koffer. Das Objekt bestand aus zwei dreieckigen Metallstücken -243-
mit runden Kanten. Sie preßte die flache Seite an Sadies Oberschenkel, und die Katze erschlaffte sofort. Ihre Brust hob und senkte sich zweimal, und dann schlief sie nicht nur, sondern regte sich überhaupt nicht mehr. Ich wußte, daß die Besucher imstande waren, sie jederzeit ins Leben zurückzuholen. Zu jenem Zeitpunkt erinnerte ich mich daran, daß ich das viele Male bei Menschen beobachtet hatte. »Wie können wir dir helfen?« fragte der Mann hinter dem Schreibtisch. Der psychische Druck nahm noch weiter zu. Ich hatte den Eindruck, daß eine überwältigende Kraft in mein Innerstes strömte und mir keine andere Wahl ließ, als die reine Wahrheit zu sagen. Es fühlte sich wie ein echter physischer Druck an, als habe sich ein körperloses Selbst in mir manifestiert und dabei Masse, Form und Kraft gewonnen. Ich hätte jetzt um einen konkreten Beweis für die Existenz der Besucher bitten können, darum, daß sie mit mir in meine Welt zurückkehrten, anstatt in dieser Halb-Realität zu verharren. Aber tief in meinem Innern waren mir solche Dinge gleich. Auf der tiefsten Ebene meines Denkens und Empfindens wußte ich genau, was ich besonders dringend brauchte. Wenn eine stabile und nützliche Beziehung zwischen mir und den Besuchern entstehen sollte, mußte ich die Furcht vor ihnen überwinden. »Helft mir, euch weniger zu fürchten«, entgegnete ich. Längeres Schweigen folgte. Dann bekam ich eine Antwort, die von allen Wesen gleichzeitig zu stammen schien: »Wir versuchen es, aber es wird sehr schwer sein.« Die junge Frau trat hinter mich und drückte mir die kleine Vorrichtung aus Metall an den Nacken. Am nächsten Morgen entdeckte ich dort, wo sie mich berührt hatte, einen winzigen Knoten mit einem roten Fleck. Meine nächste Erinnerung betrifft die Besucherin, die mich zu den anderen Fremden gebracht hatte. Sie führte mich in ein kleines, dunkles Zimmer. -244-
Während sie meine Bewegungen lenkte und mich erneut von hinten schob, spürte ich ein fast besitzergreifendes Interesse, das mir galt. Ich hatte das Gefühl, daß sie über irgend etwas zufrieden war, und ich beobachtete ihr schiefes Lächeln, als ich auf dem Stuhl Platz nahm. Jetzt wirkte sie plötzlich klein und schwach und alt und weckte meinen Beschützerinstinkt. Sie erschien mir nicht mehr allmächtig. Ich dachte sogar daran, sie in die Arme zu nehmen. Hinter mir erklang ein Geräusch, das wie ein höhnisches, verächtliches Schnauben klang. Begleitete mich jetzt eine stolze alte Kriegerin? Ich entsann mich daran, daß Robert Monroe in seinem Buch darauf hingewiesen hatte, daß man Geister um Dinge bitten konnte. Zum Beispiel um das, was man dringend benötigte. Oder darum, nicht verletzt zu werden. Meine Gedanken kehrten zu dem außergewöhnlichen Traum zurück, den ich vor einigen Wochen gehabt hatte. Erneut sah ich die wunderschöne Sonne, die dem seltsamen, mystischen Meer entgegensank. Genau in diesem Augenblick erreichten wir die Blockhütte. Für einen Sekundenbruchteil drehte sie sich unter uns, sah aus wie ein Spielzeug in der Nacht. Dann standen wir plötzlich neben dem Swimmingpool, und ich hielt Sadie in den Armen. Irgend etwas geschah mit mir, aber ich erinnere mich nur an vage, zusammenhanglose Bilder. Vielleicht fiel es mir deshalb so schwer festzustellen, welchen Ort wir aufsuchten, weil mich die Besucherin nicht an Bord eines Flugapparats oder zu einer verborgenen Basis brachte. Statt dessen begaben wir uns in ein völlig normales Gebäude. Wir betraten die Blockhütte. Nach wie vor trug ich Sadie und ging in das Zimmer meines Sohnes, der friedlich schlief. Die andere Katze, Coe, sauste davon und gab ein seltsames Geräusch von sich. Ich dachte, sie würde Andrew wecken, aber -245-
das war nicht der Fall. Also legte ich die noch immer schlaffe Sadie aufs Bett. Mir wurde plötzlich klar, daß mir nur noch wenige Sekunden mit der Besucherin blieben. Erneut dachte ich an den Traum und bat in Gedanken darum, zum Meer gebracht zu werden, über dem die herrliche Sonne leuchtete. Die Antwort bestand wieder aus höhnischer Verachtung. Als nächstes spürte ich, wie man mir einen Stoß gab, und ich fand mich in einem sonderbaren Zimmer mit hölzernen Wänden wieder. Verwirrt sah ich mich um. War dies der Ort, an dem ich die andere Sonne bewundert hatte? Mein Blick fiel auf ein Bett, in dem eine hilflos wirkende Frau schlief. Ich dachte: Wie kann diese Frau schlafen, obgleich jene Wesen hier sind? Dann traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Ich kannte die Frau. Sie hieß Anne. Und der Raum war mir vertraut: unser Schlafzimmer. Das Fremde fiel von meinem Körper ab, und ich fühlte mich wieder ganz normal. Ich drehte mich um und sah die Besucherin in der Tür. Als ich einen Schritt auf sie zutrat, verbannte sie irgendwie den Wunsch aus mir, mich ihr zu nähern. Mit einer Geste? Einem Geräusch? Einem geistigen Bild? Ich erinnere mich nicht. Die Besucherin wandte sich ab und schritt in die Dunkelheit jenseits der Tür. Ich war sehr müde - ein Gefühl, das ich aufgrund meiner früheren Erfahrungen erwartete. Einige Sekunden lang kämpfte ich dagegen an. Vergeblich. Ich sank aufs Bett, weckte Anne und sagte: »Ich bin gerade bei den Besuchern gewesen.« Sie murmelte: »Andrew?« Woraufhin ich ihr versicherte, es sei alles in Ordnung mit ihm. Kurz bevor ich einschlief, hörte ich, daß mehrere Personen durchs Haus wanderten. Eine leise Stimme schien zu lachen. Dann fielen mir die Augen zu. Am nächsten Morgen beschloß ich sofort, nach Sadie zu -246-
sehen. Ich fürchtete, sie könnte tatsächlich tot sein, und ich wollte unbedingt vermeiden, daß Andrew unmittelbar nach dem Erwachen ihren Kadaver fand. Sie hatte sich neben dem Kopf des Jungen zusammengerollt, schlief und blieb bis nach Mittag liegen. Anschließend trank sie auffallend viel Wasser. Einige Stunden lang hinkte sie ein wenig und zog das Bein nach, an dem die Fremde sie mit dem MetallObjekt berührt hatte, ich konnte jedoch keine gerötete Stelle finden. Einen Monat später, als wir wieder in New York waren, fiel selbst anderen Leuten das seltsame Verhalten der Katze auf. Manchmal rührte sie sich stundenlang nicht und starrte ins Leere. Sie schien sich zu fürchten; häufig nahm ich sie auf den Schoß und versuchte, sie zu beruhigen. Ein Freund von uns, der kanadische Filmemacher David Cherniack, meinte fünf Wochen nach dem Zwischenfall, sie erwecke den Eindruck, einen ›Schock‹ erlitten zu haben. Schließlich kam Sadie darüber hinweg und zeigte sich wieder so aufgeweckt und neugierig wie vorher. Aber ganz offensichtlich hatte sie ein traumatisches Erlebnis hinter sich, und deshalb werde ich sie nie wieder mitnehmen. Als Andrew an jenem Morgen aufstand, bedrängte er mich mit Fragen über die Besucher. Ich wußte nicht, ob im Verlauf der Nacht etwas mit ihm geschehen war, aber Annes schläfrige Frage ließ mich vermuten, daß sie einen Kontakt unseres Sohnes mit den Fremden erahnte. Wir erörtern dieses Thema nur dann mit ihm, wenn er uns selbst darauf anspricht, was nur selten geschieht. Er klagte über die Besucher und sagte: »Sie waren sehr streng mit mir.« Er schwieg über die Gründe für diese Bemerkung, und wir fragten ihn nicht danach. Statt dessen erkundigte ich mich, ob er die Besucher für real hielt. »Vielleicht sind sie es«, erwiderte Andrew. Meiner Ansicht nach war das eine sehr vernünftige Antwort, und beließ es dabei. -247-
AUF DES MESSERS SCHNEIDE Die Besucher begannen praktisch sofort damit, ihr Versprechen einzulösen und mir zu helfen, mit meiner Furcht ihnen gegenüber besser fertig zu werden. Sie klopften mir nicht etwa beruhigend auf den Rücken, sondern schufen Bedingungen, die mich direkt mit der Angst konfrontierten, so daß ich sie unmittelbar sehen und verstehen konnte. Was ich mit dem entsprechenden Wissen anfing, überließen sie mir. Am 27. und 28. Dezember sahen Anne und ich tagsüber einige prächtige Eulen in der Nähe des Hauses. Ich bemerkte eine große graue Eule, und gemeinsam beobachteten wir eine andere, die jedoch zu schnell davonflog, um sie zu identifizieren. Damals wußte ich bereits, daß Eulen oft in Schirmerinnerungen der Besucher erscheinen. Doch in diesem Fall handelte es sich nicht um illusionäre Bilder, sondern um reale, normale Eulen. Ungewöhnlich war nur, daß diese nachtaktiven Tiere am Tag zu sehen waren. Am Morgen des 29. Dezember rief mein nächster Nachbar an und teilte mit, gerade sei eine wundervolle Eule in Richtung der Blockhütte geflogen. Wir blickten nach draußen und entdeckten sie in einem Baum, nur wenige Meter vom Fenster entfernt. Ich staunte: Sie sah wie eine Sperbereule aus, die in unserer Region sehr selten sind. Mein Nachbar hielt sie für einen Waldkauz. Nach einer Weile flog sie vom Ast, griff eine Feldmaus auf dem Boden und begann damit, sie zu fressen. Das entsprach dem typischen Verhalten einer Sperbereule. Ein faszinierender Anblick bot sich mir dar, formte ein angemessenes symbolisches Bild: ein lauerndes, sehendes Geschöpf der Nacht, das zu dem hilflosen Bodenbewohner herabsegelte, um sich von seinem Fleisch und Blut zu ernähren. Wer die Natur beobachtet, lernt bald, daß wir viel vo n der -248-
einstigen Opfer-Raubtier-Beziehung vergessen haben. Es gibt Ebenen der Liebe, die wir in unserem Leben kaum jemals berühren. Wenn man die Gewalt des Angriffs sieht, das Drama des Todes, die seltsame Stumpfsinnigkeit des Fressens, so spürt man ein tie fes Geheimnis darin, eine wilde, leidenschaftliche Liebe, in der Leben und Tod enthalten sind. Wie fühlt sich der Überlebende? Zum Beispiel der Elch, der den Wolf vertreibt, die Maus, die das Gebüsch erreicht, bevor sich ihr die Krallen der Eule in den wehrlosen Leib bohren... Wolf und Eule bedrohen das Leben, aber damit zeigen sie auch seine Kostbarkeit. Ich dachte an meine Beziehungen zu den Besuchern: Sie konnten gleichzeitig gefährlich und erstrebenswert sein. Später an jenem Tag fuhren wir durch einen nahen Ort, als mich eine Stimme aufforderte, vor dem Haus der Familienfreundin und Glaskünstlerin Gilda Strutz zu halten. Gleichzeitig parkte ein anderer Wagen, gesteuert von einem großen, etwa dreißigjährigen Mann, der einen auffallend langen und dichten Bart hatte. Als wir das Haus betraten, stellte er sich als ein Freund Gildas vor; er hieß Barry Maddock. Die Besucher wartete noch auf die Publikation, und deshalb wußten weder Gilda noch er etwas darüber. Wir sprachen miteinander, und nach einer Weile erzählte ich von den Eulen, die Anne und ich gesehen hatten. Barry war überrascht und berichtete, in der vergangenen Nacht von einer Eule geträumt zu haben. Er schilderte Einzelheiten, und für mich klang es wie eine Schirmerinnerung nach einer Besucher-Erfahr ung. Barry hatte in einem Haus geschlafen, das er hüten sollte, bis die neuen Eigentümer einziehen würden. Ein seltsames Geräusch hatte ihn geweckt: Es hörte sich an, als trete jemand gegen ein Heizungsrohr im Keller. Er hatte bei dem Bau des Hauses geholfen und wußte, daß die Zentralheizung keine derartigen Geräusche verursachen -249-
konnte. Er ging ins Wohnzimmer, und dort bemerkte er zwei große, dunkle Augen. Als er später das Titelbild von Die Besucher sah, fiel ihm sofort die Ähnlichkeit auf. Damals glaubte er, daß sich ein riesiger Waldkauz mit großen schwarzen Augen im Zimmer befände. Die Eule trug ihn in einen gewölbten Saal, der ihn ans Sydney Opera House erinnerte, und dort verwandelte sie sich in einen Paradiesvogel. Barry erinnerte sich daran, daß er neben einem kleinen Mann gesessen hatte, der ihm wie ein Gnom oder Kobold erschien und einen gutmütigen Eindruck machte. An das Erscheinungsbild des Mannes entsann er sich nicht; er bezeichnete ihn nur als ›dunkel‹. Am nächsten Morgen fühlte sich Barry überaus sonderbar. Er schien in seinem Körper ›gelöst‹ zu sein. Darüber hinaus hatte er eine ›Gedächtnislücke‹. Er erinnerte sich deutlich daran, daß er aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen war, und dann folgte der eigentümliche Traum. Aber er entsann sich nicht an die Rückkehr ins Bett. Die von Barry geschilderte Verwirrung ähnelte meinen eigenen ersten Reaktionen auf die Besucher. Er bemerkte auch eine gerötete Stelle am Nacken. Bei jenem ersten Gespräch in Gildas Haus ließ er dies unerwähnt, und mir fie l auch nichts auf, aber angesichts der späteren Beschreibungen dachte ich in diesem Zusammenhang an den kleinen Knoten, den ich am Morgen des 24. Dezember an meinem eigenen Nacken fand. Der Traum verunsicherte Barry sehr. Ich beschloß, ihn besser kennenzulernen und herauszufinden, ob er sich im Laufe der Zeit an andere Einzelheiten erinnerte. Am Morgen des 30. Dezember wanderten wir durch den Wald und unterhielten uns. Dabei erwies sich Barry als einer der furchtlosesten Menschen, denen ich jemals begegnet war. Er hatte viele Reisen unternommen und bemerkenswerte -250-
Konfrontationen hinter sich. Im Dschungel von Mittelamerika war er von einem Jaguar verfolgt worden - und er bot mir diese Episode als ›Interessante Geschichte‹ an! Doch je mehr er von dem Traum sprach, desto deutlicher wurde seine Furcht. Offenbar drängte ihn alles danach, die Visionen als real zu bezeichnen, aber er wagte es nicht, weil er sie für so seltsam und absurd hielt. Das Haus, in dem er derzeit wohnte, war nicht weit von unserer Blockhütte entfernt. Es gehörte einem Ehepaar, das den Umzug vorbereitete. Ich stellte mich den neuen Nachbarn einige Wochen später vor, und dabei stellte sich heraus, daß die Frau einige Nächte vor meiner Ankunft ein merkwürdiges Licht am Küchenfenster gesehen hatte. Das Glühen weckte ihre Neugier, denn sie konnte sich nicht erklären, woher es stammte. Das Haus steht auf einer Klippe, und das Küchenfenster befindet sich ein ganzes Stück über dem Boden. Im Januar 1988 - ein Jahr später - entdeckte ich durch Zufall, daß ein Bewohner des Ortes ein helles Objekt gesehen hatte, das in einer Höhe von etwa hundert Metern über der alten Straße schwebte, rund zwei Meilen von der Blockhütte entfernt. Die Beobachtung erfolgte gegen fünf Uhr morgens am 1. Januar 1987. Mein Erlebnis und Barrys Traum fanden nicht in der gleichen Nacht statt, aber es schien alles auf eine starke Präsenz während jener Woche hinzudeuten. Damit noch nicht genug: Ein Die Besucher-Leser schrieb mir und erklärte, er und seine Familie hätten am Abend des 26. Dezember 1985 - in jener Nacht kam es zu meinem ersten bewußten Besucher-Erlebnis ein riesiges Objekt über dem Ort gesehen. Der Mann wußte nicht, daß er nur wenige Meilen von meiner Blockhütte entfernt wohnte. Ein anderer Leser schrieb von mehreren Träumen, in denen ihm ein weibliches Wesen erschienen war. Es berichtete ihm von einem längst vergangenen ›Zeitalter der Schwesterschaft‹ und wies große Ähnlichkeit mit der Titelbilddarstellung von Die Besucher auf. Er hatte die Träume -251-
in den siebziger Jahren gehabt, und sie betrafen eine spezielle Straße. Ihm war nicht bekannt, daß jene Straße von seinem Heimatort zu unserer Blockhütte führte. Doch Barrys Fall hatte eine besondere Bedeutung für mich. Zwischen ihm und den Besuchern schien es zu einem direkten Kontakt gekommen zu sein, und vielleicht existierte eine Verbindung mit meiner Situation. Für mich war die Botschaft seiner Begegnung völlig klar. Wenn ein so furchtloser Mann wie Barry mit Angst auf einen von den Besuchern geschaffenen ›Traum‹ reagierte, konnte ich meine eigene Furcht hinnehmen und brauchte sie nicht für eine Schwäche zu halten. Barrys Visionen ließen vermuten, daß die Verwandlung von einer Eule, die des Nachts Beute schlug, in einen Paradiesvogel Wesensaspekte der Besucher offenbarte, die ich zwar erahnte, für die bisher jedoch ein Beweis fehlte. Es war eine sehr nützliche Lektion, aber ich brauchte fast ein Jahr, um sie vollständig zu begreifen. Damals versuchte ich in erster Linie, meine Furcht zu unterdrücken. Ich hatte noch nicht gelernt, sie als natürliche Reaktion auf das Unbekannte zu akzeptieren. Die Ereignisse der vergangenen Tage - sie begannen mit dem unglaublichen Erlebnis am 23. Dezember - führten dazu, daß meine schon verdrängt geglaubten Ängste zurückkehrten und noch schlimmer wurden. In aller Deutlichkeit erinnerte ich mich daran, was in der Nacht des 23. Dezember geschehen war. Es handelte sich nicht etwa um Visionen, sondern um konkrete Realität. Die Geschöpfe waren physisch zugegen gewesen. Die Besucherin mit den großen Augen - wenn ich an sie dachte, spürte ich erneut ihre höhnische Verachtung - hatte mich berührt, meine Bewegungen kontrolliert, mich durch die Nacht geführt. Meine Beziehungen zu den Besuchern gewannen eine neue Qualität, wurden fast intim. -252-
Immer wieder befürchtete ich, daß sie ganz plötzlich zuschlugen, mich töteten oder entführten, irgend etwas mit meiner Familie anstellten. Doch diese Besorgnis war alles andere als rational und gründete sich nur auf den Umstand, daß die Fremden so zornig sein konnten und eine so umfassende Kontrolle ausübten. Es fiel mir noch schwerer als vorher, in den Wald zu gehen. Am 2. Januar unternahm ich einen vergeblichen Versuch, und in der nächsten Nacht folgte ein zweiter. Ein Teil meiner Furcht verwandelte sich in Verzweiflung. Als ich die Blockhütte verließ, fühlte ich mich so sehr bedroht, daß ich mit dem Gedanken spielte, sofort umzukehren. Statt dessen ging ich einige Schritte weiter, und die Dunkelheit vor mir schien sich zu verdichten. Dann bemerkte ich, daß die Lichter im Haus unnatürlich hell strahlten, als sei die Umgebung finsterer als sonst. Doch ich sah weder Nebel noch Rauch, auch keine anderen Ursachen, die ein solches Phänomen erklärten. Während meiner früheren nächtlichen Ausflüge hatte ich nie derartige Eindrücke gewonnen. Der Wald war so schwarz wie das Innere einer Höhle. Ich drehte mich um, kehrte in die Blockhütte zurück und glaubte, daß mir meine Angst einen gespenstischen Streich gespielt hatte. Die Besucher hatten versprochen, mir dabei zu helfen, mit meiner Furcht fertig zu werden. Diente Barry's Traum den Fremden als Mittel, um auch mich zu beeinflussen? Lockten sie all jene Eulen zu unserem Haus, um sicherzustellen, daß Barry und ich darüber sprachen, wenn wir uns begegneten? Oder ließ ich mich von der Furcht dazu hinreißen, dort Verbindungen zu sehen, wo überhaupt keine existierten? Diese Möglichkeit erschien mir unwahrscheinlich. Ich erinnerte mich daran, was Jo Sharp erlebt hatte. Wenn man solche Ereignisse Zufälle nannte, so leugnete man die Tatsache, daß eine kontrollierende Intelligenz hinter ihnen steckte - mächtige und -253-
überaus aufmerksame Entitäten, die Einfluß auf das Schicksal bestimmter Menschen nahmen. In der Nacht des 3. Januar forderte ich erneut den Wald heraus. Als ich die Blockhütte verließ, achtete ich darauf, daß die Tür zum Swimmingpool unverschlossen blieb. Anne duschte gerade, und ich wollte auf keinen Fall ausgesperrt werden. Ich ging an dem Becken vorbei und näherte mich den ersten Bäumen, fest entschlossen, die Wanderung diesmal fortzusetzen - ganz gleich, was auch geschehen mochte. Kurz darauf vernahm ich im Wald das schrecklichste Heulen, das ich jemals gehört habe. Ich weiß eine Menge über die nordamerikanischen Vögel und Säugetiere nun, es gibt kein einziges Geschöpf, das auf diese Weise heulen kann. Ich bin nicht einmal sicher, ob ein Mensch imstande ist, solche Geräusche hervorzubringen. Es klang wie der markerschütternde Schrei einer Todesfee. Das Kreischen hallte zwischen den Bäumen wider - und näherte sich. Was auch immer die Ursache sein mochte: Etwas glitt über den Wald hinweg, flog genau auf mich zu. Dann verharrte es. Ich vermutete eine Eule. Ich hoffte, daß es sich um eine Eule handelte. Aber alle Hunde im Tal waren entsetzt; deutlich hörte ich ihr Bellen und Jaulen. Dann erklang das Heulen erneut, dicht vor mir. Später beschäftigte ich mich eingehend mit den für Vögel typischen Geräuschen und sah die Außergewöhnlichkeit dessen bestätigt, was ich in jener Nacht vernommen hatte. Ich stand wie angewurzelt und begriff, daß ich unmöglich weitergehen konnte. Und dann erblindete ich plötzlich. Um mich herum wurde es immer dunkler. Ich senkte den Kopf und starrte zu Boden, sah nicht einmal meine eigenen Füße. Zutiefst erschrocken drehte ich mich zur Blockhütte um. Einmal mehr erklang das Heulen, -254-
und es näherte sich rasch. Die Hunde im Tal bellten und jaulten noch immer, sie waren völlig außer sich. Seltsamerweise wirkte das Licht im Haus tausendmal heller als sonst. Und hinter einem Fenster bemerkte ich einen Besucher. Er stand im Schein einer Lampe und beobachtete mich, sprang jedoch sofort zur Seite, als er meinen Blick spürte. Das Heulen senkte sich vom Himmel herab und glitt nun über den Pfad heran. Es schrillte hinter mir - und in der Blockhütte waren Anne und Andrew den Besuchern ausgeliefert. Hinzu kam die Schwärze, die einen dichten Schleier vor meinen Augen bildete. Ich wankte am Swimmingpool vorbei und erreichte die Tür. Entsetzen erfaßte mich - sie war verschlossen! Dann bemerkte ich das Rauschen der Dusche. Ich klopfte an die Tür, aber Anne hörte mich nicht. Ich wollte aufgeben, einfach zu Boden sinken und weinen, aber dazu war ich nicht imstande. Wenn mein Sohn erwachte... Er durfte seinen Vater nicht in einem solchen Zustand sehen. Ich lief ums Haus herum und stürmte zur offenen Kellertür. Ohne zu zögern sprang ich über die Schwelle, nahm drei Stufen auf einmal - und stellte fest, daß die Tür am Ende der Treppe verriegelt war. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Die Besucher befanden sich im Haus, bei meiner Familie; sie ve rwehrten mir den Zutritt, überließen mich dem Schrecken. Ich erwog die Möglichkeit, zu einem Nachbarn zu laufen, befürchtete jedoch, daß nicht mehr genug Zeit blieb. Außerdem konnte ich kaum etwas sehen. Panik zitterte in mir. Die Besucher waren raubtierha fte Wesen, die unsere Seelen fressen wollten. Sie kamen als Dämonen, um mich in die Hölle zu verschleppen. Sie stammten von einem anderen Planeten und beabsichtigten, uns alle zu entführen, um irgendwelche Experimente mit uns zu machen. Oder sie waren schlicht und -255-
einfach verrückt und hatten ein übernatürliches Ungeheuer im Wald freigesetzt, um sich zu vergnügen. Ich begab mich zur einen Seite des Hauses und lauschte der Dusche. Dann fiel mir plötzlich etwas ein: Wenn ich Steine an die Fensterscheibe warf, würde mich Anne gewiß hören und die Tür öffnen. Dann konnten wir uns dem Schrecken gemeinsam stellen. Ich sammelte einige Steine, holte damit aus und traf die Wand. Unmittelbar darauf vernahm ich Annes Stimme. »Oh, wirklich komisch«, sagte sie. Ich warf einen anderen Stein, und er klackte ans Fenster. Meine Frau schrie. »Gott steh mir bei!« entfuhr es ihr. »Whitley, bitte komm zurück! Whitley!« »Ich bin hier!« rief ich. »Hier unten.« Schließlich hörte sie mich, hüllte sich in ein großes Badetuch, kam herunter und öffnete die Tür. Wir umarmten uns. Das Heulen verklang, und ich konnte wieder sehen. Von einem Augenblick zum anderen war die Nacht ganz normal. Als ich Steine an die Wand geworfen hatte, glaubte Anne zunächst, ich klopfe an die Tür. Und als sie das Klacken am Fenster hörte, befürchtete sie, daß die Besucher zu ihr kamen, fühlte sich daraufhin von jäher Angst gepackt. »Als ich duschte, habe ich die ganze Zeit über ihre Präsenz gespürt«, sagte Anne. »Sie schienen in unmittelbarer Nähe zu sein.« Ich antwortete, daß ich einen der Fremden im Haus gesehen hatte. In jener Nacht gab meine Frau zum erstenmal zu erkennen, daß sie sich vor den Besuchern fürchtete. Und die Konfrontation mit der Angst ermöglichte es ihr, wenigstens zum Teil darüber hinauszuwachsen. Am nächsten Tag meinte Andrew: »Weißt du, ich fürchte mich überhaupt nicht mehr vor den Besuchern. Jedenfalls nicht sehr.« Er hatte keine Erinnerungen an unsere schrecklichen Erlebnisse. In der nächsten Nacht stellte ich mich wieder dem Wald. -256-
Ich schwitzte Blut, als ich die Blockhütte verließ und mich den Bäumen näherte, die wie dunkle, unheilvolle Phantome vor mir aufragten. Langsam schritt ich über den Pfad, tiefer in die Finsternis hinein, und dabei erinnerte ich mich an das Heulen. Ein Raubtier, irgendein Geschöpf, das mir die Seele aus dem Leib riß und damit verschwand? Ich fühlte mich klein und hilflos. Die Belastung wurde unerträglich. Ich begriff, daß ich nicht länger mit der Furcht leben konnte, aber ich durfte sie auch nicht einfach aus mir verdrängen, indem ich mir etwas vormachte, indem ich mir einzureden versuchte, daß die Besucher nur gute Absichten verfolgten und überhaupt keine Gefahr darstellten. Ich zwang mich dazu, weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen - ohne zu wissen, was mich am Ende der Wanderung erwartete. Tränen rannen mir über die Wangen; ich konnte sie nicht zurückhalten. Dann entdeckte ich auch noch etwas anderes in mir, neben der Furcht. Es war kein falscher Glaube, sondern eine stumme Hinnahme, das gleiche Akzeptieren, das ich auch an Bord des Flugzeugs gespürt hatte, als ich jederzeit mit einem Absturz rechnete. Ich begann damit, einen Ausgleich zu schaffen. Auf der einen Seite die verzweifelte Angst eines Mannes, der sich allein in der Dunkelheit einer namenlosen Bedrohung gegenübersah - auf der anderen etwas Gewaltiges, Stilles und Wundervolles, der Frieden, der tief im Innern eines jeden Menschen wohnt. Ich hielt den Frieden in der einen Hand, die Furcht in der anderen. Als ich den Wald verließ und die dunkle Wiese erreichte, glaubte ich nur an die Kraft meiner beiden Hände. Das uralte Licht der Sterne schimmerte auf die reglosen Grashalme herab. Ich sah mich um, glaubte mich in einem Schneegarten, hob die Arme und streckte sie dem Himmel entgegen. -257-
In dieser Haltung verharrte ich eine Zeitlang, balancierte zwischen Licht und Dunkelheit. Die Angst knisterte in mir hervor, knackte und knarrte wie ein Skelett. Direkt daneben wartete das Akzeptieren: Ich war ich selbst, befand mich an diesem Ort und wollte nicht zurückkehren. Die Schatten krochen näher. Ich holte tief und ruhig Luft, bereitete mich so gut wie möglich vor. Dann traten einige Tiere ins Sternenlicht: vier Rehe und ein junger, prächtiger Hirsch. Er blieb stehen und wandte sich mir zu; Rauhreif glitzerte auf seinem Geweih. Wir beobachteten uns gegenseitig. Die Sekunden dehnten sich, wuchsen in die Länge. Wir waren uns unglaublich nahe, so still und unbewegt wie die verschneiten Bäume. Der Hirsch erschien mir wie ein Freund, wie ein Kamerad und Leidensgenosse. Nervös scharrte das stolze Geschöpf im Schnee. Dann schnaubte es, als es die Rehe an mir vorbeiführte, zu einem Baum mit angenagter Rinde. Ruhig setzte die RotwildFamilie ihre Mahlzeit fort, die mein Erscheinen unterbrochen hatte.
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DIE BESUCHER ZEIGEN SICH Nach der Publikation von Die Besucher geschahen die erstaunlichsten Dinge. Das erste Ereignis fand Ende Januar 1987 in einem Buchladen der Upper East Side von Manhattan statt. Bruce Lee, der Cheflektor des Morrow-Verlags, und seine Frau betraten die Buchhand lung an einem kalten, windigen Samstagnachmittag. Mr. Lee zeigte seiner Frau mein Buch, das im fünften oder sechsten Regal direkt hinter dem Eingang stand. Das Titelbild fiel sofort auf. Das Ehepaar lobte den guten Platz des Buches, trennte sich dann und begab sich in verschiedene Bereiche des Ladens. Mr. Lee las den Klappentext eines Romans, als er zwei Personen bemerkte, die den Laden betraten und sich sofort dem Buch Die Besucher zuwandten. Fasziniert beobachtete er sie. Es war gerade erst ausgeliefert worden, doch die beiden Kunden griffen sofort danach. Ihr Verhalten deutete darauf hin, daß sie bereits davon gehört hatten - offenbar weckte es sofort großes Interesse. Mr. Lee näherte sich den Personen. Sie waren beide nur etwa ein Meter fünfzig groß und trugen dicke Schals, die bis zu den Lippen reichten, dunkle Brillen und tief in die Stirn gezogene Hüte. Sie schlugen das Buch auf und kommentierten bestimmte Passagen mit Bemerkungen wie: »Oh, das hat er ganz falsch verstanden!« Oder: »So war es überhaupt nicht.« Ihr Verhalten brachte zunächst Sanftmut und Humor zum Ausdruck. Mr. Lee stellte fest, daß sie ziemlich rasch blätterten und offenbar eine Schnellesemethode benutzten. Er trat an sie heran, stellte sich als Mitarbeiter des Verlages vor und fragte, was mit dem Buch nicht in Ordnung sei. Die beiden Fremden sahen zu ihm auf und gaben keine Antwort. Mr. Lee musterte sie und bemerkte, daß sich hinter den dunklen Brillen große, schwarze und mandelförmige Augen verbargen. »Kennen Sie den Blick eines Hundes, der gleich zubeißt?« fragte er mich später. »Etwas Ähnliches sah ich in ihren Augen. Ich wollte nicht gebissen -259-
werden, und deshalb wandte ich mich ab.« Unter normalen Umständen reagiert Mr. Lee ganz anders. Als früherer Reporter und Korrespondent von Newsweek und Reader's Digest hatte er über das Weiße Haus, den Hill, das Pentagon und das State Department berichtet. Er war an Begegnungen mit schwierigen Leuten gewöhnt, doch in diesem Fall fühlte er sich voller Unbehagen und geradezu schockiert. Er ging zu seiner Frau und zeigte auf die beiden Personen, als er die Ähnlichkeit ihrer Augen, mit denen des Wesens auf dem Die Besucher-Titelbild beschrieb. Das Ehepaar Lee hielt es für besser, den Laden rasch zu verlassen. Niemand, ich selbst ebensowenig wie die Lees, hat eine Erklärung für dieses seltsame Erlebnis. War es ein Beispiel für den sonderbaren Humor der Besucher? Sie bestätigten ihre Existenz, indem sie sich einem angesehenen und glaubwürdigen Mann zeigten, aber sie behaupteten auch, Die Besucher sei voller Wahrnehmungsfehler (ein Hinweis, der mich keineswegs überraschte). Dadurch bewiesen sie, daß ich recht hatte und mich gleichzeitig irrte. Bruce beschrieb die beiden Personen als männlich und weiblich. Ich versuchte, mir die kleine Frau vorzustellen, die zu ihm aufgesehen hatte, und dachte dabei an sie. Und wie stellte er geschlechtliche Unterschiede fest? »Sie wirkten wie Mann und Frau«, sagte er nur. Die beiden Besucher schienen sich sehr gefürchtet zu haben andernfalls hätten sie Mr. Lee wohl kaum eine so intensive emotionale Botschaft übermittelt. Soweit ich weiß, war der Abstecher in den Buchladen die erste öffentliche Erscheinung der Besucher. Allerdings wahrten sie auch dabei eine gewisse Diskretion, indem sie vermummende Kleidung trugen. In Mr. Lees Bericht gab es ein bedeutungsvolles Detail: Er wies darauf hin, daß die dicken Schals der beiden Fremden bis -260-
zu den Lippen reichten. Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang an eine Frau, die mir einen Brief geschrieben hatte und darin den Besucher schilderte, der sich ihr am hellichten Tage gezeigt hatte. Ihr war ein ›längliches Gesicht‹ aufgefallen. Mr. Lee und jene Frau kennen sich nicht, leben sogar in verschiedenen Ländern. Aber derart subtile Einzelheiten schließen jeden Zweifel darüber aus, daß sich etwas Konkretes und Reales manifestierte. Bestimmt gibt es Leute, die Mr. Lees Aussage mit Skepsis begegnen, weil er für den Verlag arbeitet, in dem Die Besucher erschien. Aber er log nicht und berichtete von einem Ereignis, das sich tatsächlich zugetragen hat. Während ich Autorenlesungen veranstaltete, um für Die Besucher zu werben, verzichtete ich darauf, diesen Zwischenfall zu erwähnen (nur ein einziges Mal erlag ich der Versuchung und sprach darüber) - ich wollte keine Zeugen benennen, die nicht objekt wirkten. Inzwischen ist das öffentliche Interesse so groß geworden, daß niemand mehr vermuten kann, Mr. Lee diene nur den Interessen seines Arbeitgebers. Der Morrow-Verlag braucht seine Aussage nicht, um Bücher zu verkaufen, und Mr. Lee vertritt die Ansicht, sein Erlebnis habe ihm nur unerwünschte Aufmerksamkeit beschert. Nun, das nächste Ereignis betrifft nicht etwa meinen Verleger, sondern einen Zeugen, der zu jenem Zeitpunkt noch gar nichts von Die Besucher wußte. Zwei Monate nach Bruce Lees Begegnung mit den beiden Fremden kam es in Chicago zu einem ähnlich seltsamen Zwischenfall. Der bekannte und renommierte Psychoanalytiker Dr. Lee Zahner-Roloff ging durch eine Buchhandlung, als etwas sehr Merkwürdiges geschah. Er schrieb mir: »Während ich an den Regalen vorbeiwanderte, bemerkte ich eine hochgewachsene blonde Frau, die ein beigefarbenes Kostüm trug. Ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht - was mir erst klar wurde, als ich einer Kollegin zu -261-
erklären versuchte, warum ich das Buch gekauft habe. Die Frau hielt Die Besucher in den Armen, und das Titelbild zeigte nach vorn. Als ich mich ihr näherte, spürte ich plötzlich den intensiven Wunsch, das Buch zu nehmen. Warum sollte ich nach einem Buch greifen, von dem ich überhaupt nichts wußte? Warum drängte mich alles danach, es zu kaufen? Ich versichere Ihnen: Dies ist ein höchst ungewöhnliches Verhalten für mich.« Im Postskriptum fügte Dr. Roloff hinzu: »Ich möchte noch einmal betonen, daß ich völlig die Kontrolle über meinen Willen verlor.« Er fuhr fort: »Am Abend begann ich damit, das Buch zu lesen. Nach einer Weile wurde ich müde und schlief ein. Noch nie zuvor habe ich so heftig und intensiv geträumt. In der nächsten Nacht erging es mir ähnlich, und es gab nur einen Unterschied: Die Träume waren noch chaotischer. Am folgenden Morgen erzählte ich einer Mitarbeiterin, sie müsse unbedingt dieses Buch lesen, und diesen Rat wiederholte ich auch allen anderen Kollegen gegenüber. Als ich die Frage beantwortete, wovon es handelte, starrte man mich verblüfft und ungläubig an... Nur eine Mitarbeiterin hatte Mitleid mit mir und ließ sich zu dem Buchladen begleiten, wo ich ihr Die Besucher kaufte und sie dringend bat, noch am gleichen Abend mit der Lektüre zu beginnen. Am nächsten Morgen erzählte mir ein Patient, von fremden Wesen geträumt zu haben - es war der erste Traum dieser Art in meiner beruflichen Laufbahn als Psychoanalytiker. Ich traf meine Mitarbeiterin beim Mittagessen, und sie erzählte aufgeregt, daß zwei andere Patienten vom Weltraum und von Außerirdische n geträumt hatten. Was sollte ich davon halten? Vor zwei Tagen war ich völlig unbekümmert gewesen, und nun sah ich mich mit drei höchst sonderbaren Träumen konfrontiert... Ab und an denke ich an die Frau im beigefarbenen Kostüm zurück, die Ihr Buch mit dem Titelbild nach vorn an den Regalen vorbeitrug. Man erlebt nicht häufig den Impuls, ein -262-
Buch zu kaufen, das man überhaupt nicht kennt und in dem es um seltsame Dinge geht. Während des Gesprächs beim Mittagessen fragte ich meine Mitarbeiterin, was sie von der Frau im beigefarbenen Kostüm hielte. ›Unglaublich‹, lautete ihre Antwort. Dem kann ich nur beipflichten.« Die Erlebnisse von Mr. Lee und Dr. Roloff waren außergewöhnlich. Sie wußten nichts von dem Filmemacher, den ich im vergangenen August als Gast in der Blockhütte empfing. Sie wußten auch nichts von dem ›Bericht an den Präsidenten‹ den er gelesen hatte und in dem kleine graue Wesen mit großen Augen erwähnt wurden - Geschöpfe wie die beiden Personen, denen Bruce Lee begegnet war. Der Bericht weist auch auf hochgewachsene und blonde Gestalten hin, eine klare Parallele zu der Frau, die Dr. Roloff sah. Außerdem hatte ich in der Nacht des 23. Dezember 1986 einen hochgewachsenen blonden Mann gesehen, der einen hellbraunen Overall trug. Er war gut eins neunzig groß, gehörte zu der Gruppe im Zimmer und schien die Tür zu bewachen vielleicht um zu verhindern, daß ich die Flucht ergriff. Interessant ist in diesem Zusammenhang: Man nimmt an, daß die Grauen eine im wesentlichen negative Kraft darstellen und sich im Konflikt mit den Blonden befinden. Von den beiden Personen, denen Mr. Lee begegnete, ging eine Art TollwütigerHund-Energie aus, die mir ebenfalls auffiel, und darüber hinaus machten sie negative Bemerkungen über Die Besucher obgleich mir ihre Negativität zu jenem Zeitpunkt wichtige Informationen lieferte. Ich erfuhr dadurch, daß sie physisch real und in der Lage sind, in die menschliche Welt zu wechseln. Sie wiesen mich auch darauf hin, daß manche Teile von Die Besucher falsch seien. Für mich bedeutet das auch, daß andere Abschnitte die Wahrheit widerspiegeln. Es war typisch für die Besucher, daß sie mir keine Möglichkeit gaben, das Falsche vom Richtigen zu unterscheiden, aber sie boten mir trotzdem eine bedeutungsvolle Erkenntnis. -263-
Das weibliche Wesen ve rhielt sich anders als die Grauen. Es zwang Dr. Zahner-Roloff regelrecht, das Buch zu kaufen. Doch wäre es eine zu grobe Vereinfachung, daraus den Schluß zu ziehen, daß die grauen Geschöpfe böse sind und die blonden gut. Einige Menschen hatten haarsträubende Erlebnisse mit den Blonden und angenehme mit den Grauen; es lassen sich also keine charakteristischen Eigenschaften bestimmen. Ich weiß nur, wie ich auf die beiden verschiedenen Arten der Besucher reagiere. Die Grauen erschrecken mich sehr, und ich bezweifle, ob ich jemals die Furcht vor ihnen verliere. Wenn ich den anderen begegne, fühle ich mich wesentlich wohler. Vielleicht liegt es allein an ihrem Aussehen. Ihr äußeres Erscheinungsbild stellte eine ziemliche Überraschung für mich dar. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß Wesen, die so menschlich wirken, extraterrestrischen Ursprungs sein könnten. Dieser Umstand erinnerte mich in aller Deutlichkeit daran, daß die Frage nach dem Ursprung der Besucher noch immer auf eine Antwort wartet. Die fremden Wesen - gemeint sind hier sowohl ›Graue‹ als auch ›Blonde‹ - entsprechen den alten Vorstellungen von Dämonen, Engeln und dem ›kleinen Volk‹. Der größte Teil meines Wissens stammt von den Grauen. Das Wort Dämon geht auf das griechische Daimon zurück, ein Synonym für Seele. Das Daimon (›göttliches Wesen‹) war Teil einer Person, die Wissen erwerben und umwandeln konnte. Für gewöhnlich kehrte das verwandelte Daimon zur Erde zurück, um andere an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Im Mittelalter war Wissen gleichbedeutend mit dem Bösen, und so wurde aus dem Daimon ein Dämon, Diener der Finsternis. In alten esoterischen Konzepten wird das Wissen als Ergebnis negativer Energie erachtet, da man es nur erwerben kann, indem man alt wird und schließlich stirbt. -264-
Diese Überlegungen richteten meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes, das mir bei den Besucher-Erfahrungen aufgefallen war. Sowohl Erlebnisse wie das von Mrs. Sharp als auch Dutzende von Briefen, die ich erhielt, deuteten darauf hin, daß es um die Seele ging. Kontaktpersonen hatten das Gefühl, als zerre man ihnen die Seele aus dem Leib. Was mich betraf: Ich hatte einen Zwischenfall hinter mir, bei dem es zu einer völligen Trennung zwischen Körper und Geist kam. Außerdem gibt es viele Menschen, die Besucher sahen, während sie auf der Schwelle des Todes standen. »Wir beschäftigten uns mit dem Recycling von Seelen«, hatten die Fremden erklärt. Ich zweifelte nicht mehr an der Existenz der Seele: Immerhin hatte ich mich in einem völlig wachen und bewußten Zustand außerhalb meines Körpers befunden. Diese kurze und doch sehr intensive Erfahrung ließ den Wunsch in mir entstehen, eine bewußte Verbindung mit der Seele herzustellen, einen Kontakt, der länger dauerte als nur einige wenige Minuten. Ich wollte sie spüren, an ihrem Leben teilnehmen. Also übte ich, indem ich ständig versuchte, den Körper zu verlassen, andere Menschen aufzusuchen und mich ihnen zu zeigen. Ich benutzte dabei die Methode, die ich im MonroeInstitut gelernt hatte, wartete, bis der Körper schlief, während das Bewußtsein wach blieb. Während dieser Phasen trachtete ich danach, die leiblichen Fesseln abzustreifen und zu individuellen Zielen zu gelangen. Meine Bemühungen galten mehreren Personen, unter ihnen auch Dora Ruffner, John Gliedman und einer Bekannten in Denver. Dora und John konnte ich nie erreichen. Im Februar 1987 rief mich die Bekannte in Denver an und berichtete mir von einem seltsamen Erlebnis. Als sie des Nachts erwachte, beobachtete sie den Umriß meines Gesichts im -265-
Zimmer. Später schrieb sie: »Etwa drei Sekunden lang sah ich dein Gesicht mit der Brille vor den Blättern der Pflanze, die neben der Tür des Schlafzimmers hängt. Es war völlig dunkel. Als ich das Licht einschaltete, fiel mir nichts Besonderes auf.« Es bleibt unklar, ob ich genau in jener Nacht versuchte, mich ihr zu offenbaren - die Bekannte konnte sich nicht an das Datum erinnern. Aber meine Versuche fanden in dem entsprechenden Zeitraum statt. Unter normalen Umständen hätte ich hier gar nicht darauf hingewiesen, aber das Phänomen wiederholte sich. Der aus Sendungen von Radio Chicago bekannte Roy Leonard - er wußte weder etwas von anderen Beteiligten noch von den oben beschriebenen Geschehnissen - erwachte in der Nacht des 7. Juni 1987 und bemerkte meine Präsenz im Schlafzimmer. Er berichtete später, er hätte mich ›fast‹ sehen können. In derselben Nacht, vielleicht sogar zur selben Zeit, hielt ich mich in einem kleinen Ort unweit von Madison, Wisconsin, auf und hatte ein recht ungewöhnliches Erlebnis. Dora Ruffner und Selena Fox, eine Repräsentantin des Runden Sanktuariums, waren als Zeugen und Teilnehmer zugegen. Das Runde Sanktuarium ist die Dachorganisation der WiccaReligion. Man bezeichnet sie auch als Hexerei, aber sie hat nichts mit Satanismus oder ähnlichem Unsinn zu tun. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat sie als legitime Religion anerkannt, und viele ihrer Geistlichen, zum Beispiel Mrs. Fox, können Trauungen vornehmen und den üblichen klerikalen Aktivitäten nachgehen. Dora, Anne und ich interessierten uns aus einem ganz bestimmten Grund für Wicca. Unter der dicken Patina aus Aberglauben verbirgt sich eine wesentliche Form des Schamanismus, der ältesten religiösen Tradition der Menschheit. In dieser Hinsicht weist Wicca große Ähnlichkeit mit uramerikanischen und afrikanischen Religionen auf und lehrt uns viel über die Liebe zur Erde. -266-
Das Runde Sanktuarium befindet sich im herrlichen Hügelland von Wisconsin. Dora und ich hatten unsere Familien mitgenommen, damit sie die Gemeinde kennenlernten und mehr über die Traditionen erfuhren, die hier bewahrt und fortgesetzt wurden. Wir trafen an einem warmen Nachmittag im Juni ein unsere Gruppe bestand aus vier Erwachsenen und drei Kindern , um das Wochenende im Sanktuarium zu verbringen. Während jener beiden Tage hörten wir viel über die Arbeit der Gemeinde und das Problem, ihre Ideen anderen Menschen mitzuteilen, die nur vage und häufig falsche Vorstellungen von den Wicca-Zielen haben. Der Sonntag abend war windig, und ein heller Mond leuchtete am Himmel. Selena, Dora und ich wanderten über eine Wiese mit hüfthohem Gras und vielen Blumen, gingen am Hügelhang empor und näherten uns Selenas zeremoniellem Steinkreis in einem Wäldchen aus alten Eichen. Der Wind rauschte in den Wipfeln, und Schatten tanzten über den Boden. Eine wundervo lle Atmosphäre umfing uns. Wir drei betraten den Kreis und standen uns in seiner Mitte gegenüber. Selena wollte gerade mit dem Ritual beginnen, als wir eine vierte Person hörten. Schritte näherten sich dem nördlichen Bereich des Kreises, und dann herrschte plötzlich wieder Stille. Ich runzelte verwirrt die Stirn und lokalisierte den Ursprung der Geräusche dort, wo der Mondschein über den Boden glitt, aber ich sah niemanden. Wir glaubten, es mit einem Besucher zu tun zu haben und riefen einen Gruß. Niemand antwortete. Selena ging zu der Stelle, wo wir die Schritte gehört hatten. Nichts rührte sich, doch sie spürte eine deutliche Präsenz. Das Unbehagen in mir verdichtete sich. Das Runde Sanktuarium sieht sich erheblichem Druck vom örtlichen Stadtrat und einer Interessengruppe aus Dutzenden von Bürgern ausgesetzt. Hinzu kommen Bestrebungen, das Gelände für eine urbane Erschließung zu nutzen. Lokale fundamentalistische -267-
Kirchen haben einen Film über Satanismus gezeigt und fälschlicherweise behauptet, er beschriebe die Wicca-Praktiken. Mit einigen juristischen Tricks sollten wiccanische Zeremonien auf dem Boden des Runden Sanktuariums verboten werden. Die American Civil Liberties Union hatte bereits zugunsten des Sankturiums interveniert. Also befürchtete ich einen Angriff von abergläubischen Leuten aus dem Ort. Die Dunkelheit schwieg, und ich fühlte mich verunsichert und hilflos. Dann hörte ich wieder die Schritte: Diesmal führten sie durchs Gebüsch und über einen Felsvorsprung hinweg! Wir warteten erschrocken, vernahmen jedoch keinen Aufprall. Früher an jenem Abend hatten zwei andere Personen seltsame Manifestationen beobachtet: eine helle Scheibe, die unter der Wolkendecke am Himmel entlangschwebte, und einen Feuerball, der über eine Wiese tanzte. Selena begann mit der Zeremonie. Zwar rechnete ich jeden Augenblick damit, daß wütende Männer auf uns zusprangen oder daß die Besucher erschienen, aber es gelang mir, das Ritual einigermaßen würdevoll hinter mich zu bringen. Die ganze Zeit über hörten wir leise Schritte um uns herum, sogar im Kreis. Einmal knirschte es direkt neben mir, aber ich sah nichts. Während Selena, Dora und ich für die Genesung der Welt meditierten, wurde es allmählich still. In der folgenden Nacht träumte ich davon, wie ein Geist durch endlose dunk le Wälder zu schweben und ein so finsteres Zimmer zu erreichen, daß ich überhaupt nichts darin erkennen konnte. Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, wie Roy Leonard einen Teil dieses Traums empfing. Für ihn war es ein harmloser Zwischenfall, den er bald wieder vergaß, aber ich dachte immer wieder darüber nach und fand ihn unerklärlich. Einen Moment später versuchte ich ganz bewußt, mein Ich zu einem anderen Menschen zu projizieren. Ich wählte dazu einen -268-
Mann, den ich seit vielen Jahren kannte. Zu jener Zeit steckte er in einer schweren Krise, und ich wollte ihm helfen. Gegen zehn Uhr abends legte ich mich aufs Bett in unserem New Yorker Apartment. Ich wartete, konzentrierte mich auf den Mann. Und plötzlich sah ich ihn. Er saß bei einigen anderen Personen und trug weiße Kleidung. Ein sonderbarer grauer Nebel strömte aus ihm heraus und verschwand in mir. Damit endete das Erlebnis. Am nächsten Morgen rief er mich an, was nur etwa dreimal im Jahr geschah. Seine Freundin hatte ihn aufgefordert, mit mir zu sprechen, weil sie in der vergangenen Nacht einen intensiven Traum gehabt hatte, in dem ich ihr erschienen war. Ich fragte ihn, womit er sich um etwa zweiundzwanzig Uhr beschäftigt und welche Kleidung er getragen habe. »Wir waren gerade mit dem Essen fertig und bei Freunden. Ich trug weiße Jeans und ein weißes Hemd.« Er fügte hinzu, er fühle sich so, als habe sich in jener Nacht eine Art Nebel in seinem Geist verzogen. Und er versprach mir, erneut zu versuchen, sein Leben in Ordnung zu bringen. In den folgenden Mona ten gelang es mir besser, mein Selbst zu projizieren - wenn diese Bezeichnung angemessen ist. Bald war ich imstande, ganz bewußt solche Reisen zu beginnen. Ich schildere hier keine Beispiele, wenn die betreffende Person nichts von meiner Präsenz spürte. Körperexterne Ausflüge gelten in unserer Kultur als so extrem unwahrscheinlich, daß die Beschreibungen einseitiger Erfahrungen keinen Sinn ergeben. Für gewöhnlich merken die Zielpersonen nicht, daß ich mich ihnen nähere. Manchmal scheinen sie mich völlig klar wahrzunehmen, aber wenn wir später miteinander sprechen, bleiben diese Erlebnisse unerwähnt. Da es dem Zweck meiner Reisen widerspräche, dieses Thema selbst anzuschneiden, kann ich unmöglich feststellen, ob sich die besuchten Menschen nicht an mich erinnern oder glauben, nur von mir geträumt zu haben. Wenn jemand wach ist, kann ich ihn nicht einmal auf einer unterbewußten Ebene erreichen. Bewußte Menschen scheinen -269-
sich im wahrsten Sinne des Wortes wie Roboter zu verhalten. Man könnte meinen, sie hätten den inneren Autopiloten eingeschaltet. Daraus ergibt sich ein ebenso erstaunlicher wie gespenstischer und erschreckender Effekt. Man stelle sich die menschliche Gesellschaft als eine gewaltige Maschine vor, in der wir alle kleine Räder sind. Nur wenn der Leib schläft, wenn uns die Angewohnheiten der individuellen Persönlichkeit nicht mehr fest im Griff haben, können wir eine höhere Form des Bewußtseins erreichen. Am Abend des 14. März 1988 sprach ich mit der Schriftstellerin Barbara Clayman und begriff, daß sie eine Information hatte, die ein bestimmter Mann dringend brauchte. Ich beschloß, Barbara einen geistigen Besuch abzustatten, um sie auf die Begegnung mit dem Mann vorzubereiten, sagte ihr aber nichts von meinen Überlegungen und beendete das Telefongespräch rasch, um ihr keine unterschwelligen Hinweise zu geben. Um vier Uhr dreißig in der Nacht fand ich mich an ihrem Bett wieder. Barbara wohnt tausend Meilen von New York entfernt. Ich beobachtete sie, sah auch den Ehemann neben ihr, und wie immer bei solchen Reisen spürte ich eine enorme Zuneigung, die Qual der Liebe. Ich empfinde selbst dann so, wenn ich bei Menschen bin, die mich verachten. Übrigens vermute ich, daß viele von uns vielleicht wir alle - derartige Ausflüge unternehmen, aber nachher erinne rn wir uns meistens nicht daran. Es dauert ziemlich lange, bis man fähig ist, anderen Personen mit echter, umfassender und ekstatischer Liebe zu begegnen. Vielleicht haben es mir die Besucher ermöglicht, dieses Niveau der Realität zu sehen, indem sie mir halfen, mit meiner Angst fertig zu werden. Ich fürchte mich nicht vor überwältigend starken Gefühlen. Ich projizierte meine Stimme in Barbaras Ohr. Es handelt sich um eine Art telepathische Kommunikation, und ich kann mich -270-
dabei nicht selbst hören. Nach meiner Erfahrung klingt es für den betreffenden Menschen so, als stecke ein kleiner Lautsprecher oder ein winziges Radio in seinem Ohr. »Ich bin's, Whitley«, sagte ich. »Barbara, ich bin es, Whitley.« Sie schlug die Augen auf. Furcht erfaßte sie, und ich beobachtete, wie sie tief Luft holte, um zu schreien. Das erschreckte mich, und ich versuchte hastig, sie zu beruhigen. Bei solchen Gelegenheiten bin ich wie ein Blatt im Wind: Wenn der Ehemann erwacht wäre, hätte ich mich nicht in der Lage gesehen, im Schlafzimmer zu bleiben. Barbara gab keinen Laut von sich, und ich informierte sie über den Mann, der eine überaus bedeutungsvolle politische Entscheidung treffen mußte. Dann erinnere ich mich daran, wie ich sanft in der Luft schwebte, an einem blauen Himmel. Am nächsten Morgen rief Barbara an und hinterließ eine ›wichtige‹ Nachricht. Ich wagte kaum zu hoffen, daß sie sich an unsere Begegnung entsann. Zu meiner großen Freude war sie voller Erstaunen und Verblüffung, als ich zurückrief. Ganz deutlich erinnerte sie sich an unseren nächtlichen Kontakt, auch an die Worte, die ich ihr ins Ohr ›geflüstert‹ hatte. Wie die Frau in Denver sah sie mein Gesicht, und es fehlte nicht einmal die Brille. Ich halte ihr Erscheinen keineswegs für einen Zufall oder ein Detail, das die Fantasie hinzufügte. Es gibt eine lange Tradition ›magischer‹ Brillen, die in alten Zeiten den Träger in die Lage versetzten, Dinge zu beobachten, die normalerweise unsichtbar bleiben. Im sechzehnten Jahrhundert fanden Labyrinth of the World-Brillen Erwähnung; angeblich hatten sie die Macht, Einblick in eine unsichtbare Welt zu gewähren. Ich vermute, daß die in diesem Kapitel beschriebenen Erlebnisse auf einen fundamentalen Bewußtseinswandel zurückgehen. Sie werden dann möglich, wenn die Menschen den ebenso alten wie falschen Glauben aufgeben, daß jeder von uns isoliert und in seinem Leib gefangen ist, daß die Seele eine Abstraktion ohne echte -271-
Bedeutung darstellt und daß die von den Besuchern aufgeworfenen Fragen keine ernsthaften Überlegungen wert sind. Die Fähigkeit, den Körper zu verlassen und geistige Reisen zu unternehmen, könnte sich in uns allen verbergen, aber die meisten von uns ignorieren sie und machen keinen Gebrauch davon. Im Sommer 1987 hatten viele Personen, die uns in der Blockhütte besuchten, eindrucksvolle Besucher-Erlebnisse. Die außergewöhnlichste Erfahrung betraf Philippe Mora, den Regisseur des geplanten Die Besucher-Films. Seit dem gemeinsamen Mittagessen im vergangenen Jahr hatten wir die vor zwanzig Jahren begonnene Freundschaft weiterentwickelt. Es erschien mir richtig und angemessen, daß man ihn mit Die Besucher beauftragt hatte. Auch bei Filmen wie Mad Dog Madigan und Death of a Soldier hatte er ausgezeichnete Arbeit geleistet. Er kam zu mir, um einen unmittelbaren Eindruck von dem Ort zu gewinnen, sich die Blockhütte anzusehen und durch den Wald zu wandern. Ich hatte ihm das gleiche Gästezimmer zugewiesen, in dem Jacques Sandulescu und Annie Gottlieb während des Oktober 1985 den Besuchern begegnet waren. Am Abend von Philippes Besuch bot der Himmel einen spektakulären Anblick. Einmal sahen wir drei Meteore und vier scheinbare Satelliten gleichzeitig. Einer der Satelliten pulsierte. Ein heller Stern setzte sich plötzlich in Bewegung und sauste nach Süden. Die Dunkelheit dort, wo er sich eben noch befunden hatte, flackerte zweimal. Ich notierte die Zeit: einundzwanzig Uhr vierzig. In der folgenden Nacht ging ich zur gleichen Zeit nach draußen und beobachtete den Himmel eine halbe Stunde lang. Er war völlig klar, doch es regte sich nichts. Die ›Satelliten‹ -272-
erschienen nicht noch einmal; seit jenem ersten Erscheinen haben wir sie nie wieder gesehen. Nach den auffallenden Bewegungen am Firmament begannen Philippe und ich mit einem Spaziergang durch den Wald. Später plauderten er, Anne und ich eine Zeitlang, und dann gingen wir zu Bett. Anne und ich begaben uns ins Obergeschoß und hörten, wie sich Philippe im Gästezimmer einschloß. Das nützt überhaupt nichts, dachte ich. Als wir im Bett lagen, sagte Anne: »Sie kommen heute nacht.« Für gewöhnlich hat sie mit ihren Einschätzungen im Hinblick auf die Besucher recht. Ihre zunehmende Sensibilität ging mit Rationalität und der unerschütterlichen Entschlossenheit einher, nur das zu berichten, was sie selbst sah und hörte. Aus diesem Grund nahm ich ihre Worte sehr ernst. Ich erzählte Philippe nichts von ihrem Hinweis. An jenem Abend fand ich kaum Ruhe und hatte nur einen leichten Schlaf; ich rechnete damit, daß uns eine neuerliche Konfrontation mit den Besuchern bevorstand. Um eins döste ich noch immer. Ich erinnere mich daran, die Uhr gehört zu haben. Aber später schlief ich offenbar fester, denn die nächsten Stunden sind leer und schwarz. Irgendwann zwischen zwei und fünf erwachte ich und hörte die Stimme einer Frau im Erdgeschoß. »Schreien Sie nicht, sonst wecken Sie Andrew«, sagte sie. Ich sprang nicht etwa aus dem Bett, als ich mitten in der Nacht und in meinem Haus diese Worte einer Fremden vernahm. Statt dessen schloß ich wieder die Augen und schlief tief und fest bis zum Morgen. Als ich aufstand, spürte ich keine Besucher-Präsenz in der Nähe. Mit Anne schien alles in Ordnung zu sein. Als ich sie fragte, ob die Besucher in der Nacht gekommen wären, zeigte sie eine seltsame Reaktion: Sie sah mich groß an und lachte. Beim Frühstück wirkte Philippe recht verwirrt und starrte immer wieder ins Leere. Schließlich meinte er: »Ich glaube, in -273-
der vergangenen Nacht ist etwas geschehen. Ich erwachte und sah helle Lichter am Fenster meines Zimmers. Ich war ziemlich erschrocken. Nach einer Weile stand ich auf und fand mich plötzlich in der Küche wieder. Anne sagte zu mir: ›Schreien Sie nicht, sonst wecken Sie Andrew.‹« Anne erwiderte, sie sei überhaupt nicht im Erdgeschoß gewesen. Später beharrte sie darauf, daß dies der Wahrheit entspräche. Die Stimme, die ich in der Nacht vernommen hatte, klang tatsächlich nicht vertraut. Ich lauschte ihrem mentalen Echo: Sie erschien mir jung und weiblich, durchschnittlich in bezug auf Tonfall und Timbre und hörte sich ruhig und sanft an. Philippe beschrieb ein großes Objekt, das über dem Swimmingpool geschwebt sei; Lichter wären über alle Fenster des Hauses geglitten. Später erwähnte er »ein Gesicht, das zu lächeln versuchte, obwohl es nicht den Eindruck erweckte, dazu imstande zu sein«. Darüber hinaus sah er ein dünnes Wesen, das die Hände bewegte und damit Signale zu geben schien. Jemand zeigte ihm kleine Behälter, aus denen sonderbare nichtmenschliche Arme und Beine wuchsen. Was hatte er erlebt? Handelte es sich nur um einen ungewöhnlich intensiven Traum, von der besonderen Umgebung stimuliert? Diese Möglichkeit leugne ich nicht. Aber meiner Ansicht nach wäre es dumm, dies für die einzig mögliche Erklärung zu halten. Es ist durchaus denkbar, daß Philippe einen konkreten Besuch von Wesen erhielt, die ihm ihr äußeres Erscheinungsbild demonstrierten und mit einem ungeschickten Lächeln auf ihre freundlichen Absichten hinwiesen. Wenn sie aus einer Realität kommen, die sich stark von der unsrigen unterscheidet vielleicht war ihr unbeholfener Versuch, einen Kontakt mit Philippe herzustellen, das Ergebnis jahrelanger Bemühungen, mit uns Menschen zu kommunizieren. Am 16. August 1987 beschlossen wir, die Harmonische -274-
Konvergenz in der Blockhütte zu feiern. Der Grund war nicht unbedingt unsere Überzeugung, daß die kalendarische Prophezeiung der Wahrheit entsprach. Es gab einen anderen Anlaß: Wir wußten, daß sich an diesem Tag überall auf der Erde Menschen zu einem guten Zweck zusammenfanden, und außerdem bestätigte das Ereignis die Zuverlässigkeit und vor allem das intellektuelle Potential der Ureinwohner Amerikas, das im Maya-Kalender Ausdruck fand. An unserer Feier nahmen folgende Personen teil: Dora Ruffner, ihr Freund Peter Frohe, die Psychologen John Gliedman, Kenneth Ring und Barbara Sanders, Alise Agar, Direktor der Omega Foundation, und zwei Personen mit Besucher-Erfahrungen. Am Morgen des 16. August begegneten sowohl ich als auch einer dieser Gäste - es handelte sich um eine Frau - den Fremden. Kurz vor dem Morgengrauen wurde sie aus ihrem Zimmer in den Meditationskreis gebracht, den ich vor einem Monat angelegt hatte. Sie erinnerte sich daran, von jemandem angesprochen worden zu sein, den sie als ›Mann‹ beschrieb und der einen Stab in der Hand hielt. Das Erlebnis erschöpfte und verwirrte sie, und ich machte mir Sorgen. Im Oktober 1985 hatten die Besucher einen Stab benutzt und mich damit dreimal an der Stirn berührt, wodurch meine Beziehung zu den Fremden begann. Die Frau verbrachte den Rest des Tages im Bett. Später, während der Heimfahrt mit dem Zug, vergaß sie typischerweise, wo sie gewesen war. Als sie die Grand Central Station erreichte, erinnerte sie sich nicht mehr an ihren Aufenthalt in der Blockhütte und brauchte eine Weile, um die Ereignisse des Tages zu rekonstruieren. Offenbar litt sie an einer traumatischen Amnesie, die ihren Besuch bei uns betraf. Kurz vor Sonnenaufgang saß ich im Wohnzimmer und wartete darauf, daß die anderen zum Kreis kamen, als ich plötzlich eine deutliche Stimme hörte. Sie sagte schlicht und einfach: »Whitley.« Es war eine autoritäre und gleichzeitig sehr -275-
traurige männliche Stimme. Unmittelbar darauf empfing ich ein mentales Bild: Etwas würde geschehen, und ich sollte ganz ruhig sein. Die Stimme bereitete mich gut auf das vor, was kurze Zeit später passierte. Einige von uns begaben sich zum Meditationskreis. Dort saßen wir zusammen und sprachen leise über die Gründe, die uns hierhergeführt hatten: unsere Hoffnung, daß die Menschen überlebten und die gewissenlose Verschmutzung der Umwelt nicht zu unserem Untergang führen würde, sondern zum Erwachen eines neuen Respekts vor den Bedürfnissen der Erde hinleiten könne. Ich brachte meinen Wunsch zum Ausdruck, daß eines Tages alle Menschen die Ureinwohner von Australien, Afrika sowie Nord- und Südamerika als jene einzigartigen und bedrohten Quellen der Weisheit sehen würden, die sie wirklich sind. Wir begegnen jenen alten und weisen Völkern mit derselben Gleichgültigkeit wie unseren alten und weisen Eltern. Anschließend sahen wir uns gegenseitig an. Ich hatte diese spezielle Erfahrung bereits mehrfach mit Dora geteilt, und auch jetzt schimmerte plötzlich helles Licht im Kreis, und ich beobachtete Dora durch einen goldfarbenen Dunst. Das Glühen umhüllte uns etwa eine Minute lang, und als es sich langsam auflöste, verglich ich diesen Vorgang mit dem leiser werdenden Läuten von Glocken. Explosive Energie blieb in mir zurück, begleitet von dem überwältigenden Wunsch, mit meiner Arbeit fortzufahren. Als wir den Kreis verließen, fragte ich alle Teilnehmer nach ihren Wahrnehmungen. Ken Ring hatte nichts bemerkt. John Gliedman litt an heftigen Kopfschmerzen. Als das Licht erstrahlte, sah ich, wie er die Stirn runzelte und innerlich fortwich; vielleicht gingen die Kopfschmerzen auf das Bemühen zurück, das Glühen zu ignorieren. Dora hatte den goldenen Glanz ebenso deutlich gesehen wie ich, und das galt auch für Anne. Sie sagte: »Es sah aus, als sei das Sonnenlicht plötzlich -276-
wundervoll klar geworden.« Den anderen fiel nichts auf. Für Dora, mich und insbesondere Anne begannen von diesem Zeitpunkt an erhebliche innere Veränderungen. Wer oder was die Besucher auch sein mögen: Ich vermute, daß sie für einen großen Teil der sogenannten paranormalen Phänomene verantwortlich sind. Das Spektrum reicht von den Erscheinungen angeblicher Götter, Engel, Feen, Geister und rätselhafter Wesen bis hin zu den Landungen von UFOs in den Hinterhöfen Amerikas. Was Mohammed in seiner Höhle erlebte, Christus in Ägypten, Buddha in seiner Jugend, was allen großen Propheten und Sehern widerfuhr - vielleicht handelt es sich dabei um exaltierte Versionen jener menschlichen Wahrnehmungen, die eine fliegende Untertasse am Himmel registriert haben oder feststellen, daß ein Besucher im Schlafzimmer erscheint und Licht in einem Freundeskreis erstrahlt. Wenn ich recht habe, stellen die Besucher die stärkste alle r in der menschlichen Kultur wirksamen Kräfte dar. Vielleicht sind sie Außerirdische und manipulieren die geistige Evolution des Menschen. Oder sie repräsentieren die Präsenz des Bewußtseins auf einer anderen Existenzebene. Vielleicht besteht unser Schicksal darin, die physische Welt völlig zu verlassen und den Besuchern in jener sonderbaren Hyperrealität zu begegnen, aus der sie zu kommen scheinen. Für mich kommt es jetzt darauf an, Methoden zu entwickeln, um die Fremden hierherzurufen und die von ihnen angebotenen Möglichkeiten zu nutzen. Ich habe solche Techniken bereits in groben Zügen beschrieben: Es geht darum, die richtigen Fragen zu formulieren und bereit zu sein, sich der eigenen Furcht zu stellen. Besonders wirkungsvoll ist es, sich zu öffnen und um das zu bitten, was man besonders dringend braucht - ohne dabei irgendwelche Bedingungen zu stellen. Ich hoffe, dieses Buch weist deutlich genug darauf hin, wie -277-
schwer eine Reise durch die Angst zum Fremden sein kann. Die wenigen Methoden, die ich gefunden habe, sind nur der Anfang. Wenn wir beschließen, die Kontakte mit den Besuchern zu intensivieren, so bin ich davon überzeugt, daß uns sehr fruchtbare Interaktionen mit ihnen bevorstehen. Das würde einen umfassenden Wandel in unserer Beziehung mit diesem Rätsel bedeuten. Wir wären dann keine passiven Teilnehmer mehr, sondern könnten eine praktisch gleichberechtigte Kontrolle ausüben. Meiner Meinung nach gibt es einen Grund dafür, daß sich die Art der Besucher-Erfahrungen verändert. Sie erscheinen realistischer und möglicher als vorher. Wenn man sie sich als Außerirdische vorstellt, kann man sie fast verstehen. Wahrscheinlich ist dieses Konzept deshalb so weit verbreitet, weil langsam Verständnis in uns keimt. Die Besucher-Erfahrung hat eine lange Tradition. Vor zweihundert Jahren wäre ein Farmer vielleicht mit folgenden Worten vom Pflügen zurückgekehrt: »Ich habe tanzende Feen im Tal gesehen.« Vor tausend Jahren hätte er fliegende Engel beobachtet. Vor zweitausend Jahren wäre von einem umherspringenden Dionysos die Rede gewesen. Vor viertausend Jahren hätte der Beobachter geglaubt, daß die Göttin Erde höchstpersönlich über die Hügelhänge gewandert sei, während ihr Umhang im reinen Licht der Magie glitzerte. Die moderne Zeit erweitert solche Erlebnisse um einen neuen Faktor: Heute sind wir imstande, eine objektivere Beziehung mit den Besuchern anzustreben. Bisher waren wir immer passiv. Wir knieten vor den Göttern, wurden von Feen und UFO-Piloten entführt. Wir haben nie versucht, eine echte Beziehung herzustellen und ihr Potential zu nutzen. Aus diesem Grund wissen wir nichts über die Fremden. In einer Partnerschaft versuchen beide Seiten, die andere zu verstehen und ihr zu dienen. Während unserer ganzen Geschichte haben wir uns dieser Kraft unterworfen oder wie die -278-
heutigen, von Furcht erfüllten ›Entlarver‹ versucht, sie zu ignorieren. Ihre Verdrängung ist noch schlimmer als die des Sexuellen und charakteristisch für die unmenschlichsten Aspekte der modernen Kultur. Das Interesse des Westens gilt in erster Linie der physischen Welt, aber komischerweise begreift er nicht, daß auch die Seele Wurzeln in der substantiellen Realität hat, aus ihr entspringt und von ihr abhängt. Sie ist ihre Quelle und gleichzeitig ihr direktes Ergebnis. Glücklicherweise scheint sich unsere Auffassung vom Universum zu verändern. Vielleicht gelangen wir bald zu einer vernünftigeren und objektiveren Einstellung einem Etwas gegenüber, das uns seit vielen Jahrtausenden verwirrt. Die Versuchung, keine Fragen zu stellen oder einfach »Ich weiß die Antwort« zu sagen, ist sehr groß. Ich habe lange damit gerungen. Ich sehnte mich danach zu glauben, daß die Besucher nur aus dem Nährboden meiner Fantasie gewachsen wären. Als Intellektueller fühlte ich mich enorm bedroht von der Vorstellung einer extraterrestrischen oder »anderen« Intelligenz. Sie gefiel mir nicht, und deshalb weigerte ich mich, sie in Betracht zu ziehen. Es fiel mir sehr schwer, mir selbst gegenüber zuzugeben, daß eine derartige Intelligenz existiert. Wir verstecken uns vor den Besuchern. Wir verbergen uns hinter falschen Überzeugungen. Die Fremden sind Götter, Zwerge, Elfen, Kobolde und Gnome. Sie sind Dämonen, Engel oder Aliens. Sie sind das Unbewußte, die Überseele. Andere Erklärungen lauten: Halluzination, Massenhysterie und Lüge n. Die Liste ließe sich nach Belieben fortsetzen, doch ein Punkt fehlt darauf: die Realität. Wir haben uns stur und hartnäckig geweigert, die reale Existenz jener Wesen für möglich zu halten. Doch wir können uns den Besuchern stellen. Und der erste Schritt dazu: Wir müssen zugeben, daß sie existieren und daß wir nicht wissen, was sie sind. Auf dieser Grundlage sollten wir damit beginnen, nach Erkenntnissen zu suchen und zu -279-
verstehen, was die Fremden für uns bedeuten. Um ein solches Ziel zu erreichen, müssen wir unsere Seite der Beziehung ruhig, objektiv und entschlossen entwickeln - um die Präsenz der Besucher für uns zu nutzen und ihnen Gegenleistungen anzubieten. Es wäre sehr töricht und vielleicht sogar tragisch, die Möglichkeit einer Beziehung mit ihnen weiterhin abzulehnen. In dem Fall verzichteten wir auf das Aufblühen eines neuen Verstehens, das nun in greifbare Nähe rückt. Wir haben diese erschreckende und provokative Realität lange ignoriert - weil ihre Bestätigung eine Konfrontation mit dem Kleinen und Schwachen in uns herbeiführen würde. Doch wenn wir ihr mit Offenheit gegenübertreten, wenn wir akzeptieren, daß es dabei um eine große und wundervolle Frage geht, die etwas ganz und gar Wirkliches betrifft - dann heben wir endlich den Blick und begegnen dem Himmel.
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JENSEITS DES ALPTRAUMS Ich hoffe, deutlich genug darauf hingewiesen zu haben, daß die Besucher-Erlebnisse einen konkreten Niederschlag in der Realität finden und keineswegs nur in der Fantasie der betreffenden Kontaktpersonen existieren. Darüber hinaus möchte ich noch einmal betonen, wie wichtig es ist, die Beantwortung vieler Fragen offenzulassen. Sowohl die Regierung als auch viele Wissenschaftler und Intellektuelle leugnen das Phänomen und versuchen immer wieder, es ins Lächerliche zu ziehen. Dadurch verharren wir in Unwissenheit. Ich glaube, dies entspricht den Wünschen der Besucher. Für meine Annahme gibt es drei Gründe. Erstens: Als der CIA-Direktor Hillenkoetter die Organisation NICAP verließ, meinte er, die Luftwaffe habe alles unternommen, was in ihrer Macht stehe; weitere Enthüllungen hingen allein von den Besuchern ab. Zweitens: Die Fremden können sich ganz offen zeigen, aber sie ziehen es vor, im Verborgenen zu bleiben. Drittens: Sie haben meine Bemühungen vereitelt, sie zu fotografieren oder ihre Stimmen aufzunehmen; sie kommen nur spät in der Nacht zu mir, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung besonders gering ist. Die Besucher legen deshalb so großen Wert auf Geheimhaltung, weil wir dadurch keine Informationen über sie gewinnen und ihnen hilflos ausgeliefert sind. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen halte ich diese Taktik für klug. Wenn sie mich nicht überrascht und dadurch von meinen vorgefaßten Meinungen befreit hätte, wäre ich kaum in der Lage gewesen, die Begegnungen als Grundlage für neue Erkenntnisse zu nutzen. Ich glaube, jeder einzelne von uns muß seinen eigenen Kontakt anstreben und ihn weiter entwickeln, wenn er -281-
schließlich erfolgt. Wir sollten ihn als Mittel für intellektuelles, emotionales und seelisches Wachstum verwenden, anstatt uns von der Furcht überwältigen zu lassen. Dazu müssen wir lernen, mit der Frage zu leben. Gerade ich weiß, wie schwer das ist. Aber uns bleibt gar nichts anderes übrig, wenn wir wirklich Einblick in das Fremde bekommen wollen. Als Dr. Do nald Klein und ich unsere Zusammenarbeit beendeten, gab er mir einen sehr wichtigen Rat: Lernen Sie, auf einem hohen Niveau von Ungewißheit zu leben. Nur damit erringen wir die klare und objektive Perspektive, die wir benötigen, um die Geschehnisse richtig wahrzunehmen. Ich will keine endgültigen Feststellungen über die Besucher treffen. Aber ich fühle mich verpflichtet, das anzuführen, was ich für wahr halte. Durch meine Erlebnisse habe ich einige bedeutungsvolle Dinge erfahren. 1. Die Besucher sind physisch real. Außerdem existieren sie auch auf einer geistigen Ebene, die ihre primäre Realität sein könnte. 2. Entweder sind sie schon sehr lange hier, oder sie versuchen, diesen Eindruck zu erwecken. Bisher ist die Einstellung ihnen gegenüber von unserem kulturellen Hintergrund bestimmt worden. Sie sind eine objektive Realität, die auf eine ausgesprochen subjektive Weise wahrgenommen wird. 3. Sie sind imstande, ins Bewußtsein einzudringen und die Gedanken zu beeinflussen. Mit dieser Fähigkeit können sie erstaunliche Dinge bewerkstelligen. 4. Sie haben mir deutlich gezeigt, daß zu meiner Existenz eine Seele gehört, die sich vom Körper trennen läßt. Meine Beobachtungen während der körperexternen Reise deuten darauf hin, daß die Seele aus bewußter - vielleicht elektromagnetischer - Energie besteht. 5. Die Besucher können die Seele beeinflussen und sie vom -282-
Leib lösen. Möglicherweise setzen sie dabei eine Technik ein, die hochenergetische Magnetfelder verwendet. 6. Sie richteten nur selten direkt ausgesprochene Worte an mich. Um sich mir mitzuteilen, benutzten sie das Werkzeug dramatischer Demonstrationen mit einer Fülle von Bedeutungssymbolen. 7. Als ich meine Furcht vor ihnen herausforderte, reagierten sie, indem sie mich auf eine Reise durch meine unterbewußten Ängste mitnahmen. Dadurch lernte ich, daß es keinen Sinn hat, den Schrecken zu unterdrücken und zu leugnen. Ich vermute, daß uns die Besucher schon seit langer Zeit Gesellschaft leisten. Ihr offensichtliches Interesse an der menschlichen Genetik deutet darauf hin, daß sie unsere Evolution direkt beeinflußt haben. Ich weiß nicht, warum wir jetzt damit beginnen, sie als demythologisierte Realität zu sehen - wenn das tatsächlich der Fall ist. Vielleicht wachsen wir allmählich über die Barrieren des Aberglaubens und der Verwirrung hinaus, die uns in der Vergangenheit daran gehindert haben, die Besucher richtig wahrzunehmen. Die kleinen grauen Wesen, denen ich begegnet bin, waren in eine sehr intensive Aura der Negativität gehüllt. In seinem Brief, mit dem mir Bruce Lee das Erlebnis im Buchladen beschrieb, fügte er folgenden persönlichen Kommentar hinzu: »Ich bin auf einer Farm aufgewachsen und kenne daher das Glitzern in den Augen eines Hundes, der gleich zubeißt. Ich habe tollwütige Hunde und Füchse getötet. Die gleiche Tollwütigkeit sah ich in den schwarzen Augen der Wesen...« Aber bei den Besuchern gibt es häufig mehr, als es zunächst den Anschein hat. Vielleicht begegnen wir unserer eigenen Wildheit, wenn wir ihnen gegenübertreten. Das Schrecklichste, was ich jemals gesehen habe, war mein -283-
Spiegelbild in den Augen eines Besuchers. Ich sah wie ein tollwütiger Hund aus. Als ich lernte, durch ihre furchterregende Wirkung meine Angst besser zu verstehen, bekam ich ein sehr nützliches Instrument in die Hand, um mit dem Grauen fertig zu werden: Je mehr mich die Fremden erschreckten, desto stärker wurde ich. Bei den ersten Kontakten nahmen sie überhaupt keine Rücksicht auf meine Stärken oder Schwächen. Erst als ich die anfängliche Panik überwand, beschloß ich, mich den Besuchern zu stellen. Der Grund: Ich hatte es satt, vor ihnen zu fliehen. Außerdem fanden meine Frau und ich die Möglichkeit einer realen Existenz der Wesen außerordentlich aufregend und interessant - obwohl ich noch einmal darauf hinweisen muß, daß sie durchaus gefährlich sein können. Meiner Ansicht nach lohnt es sich, ein Risiko einzugehen, wenn man die möglichen Vorteile eines Kontakts berücksichtigt. Als sich unsere Beziehung entwickelte, gingen die Besucher subtiler vor, führten mich Schritt für Schritt durch die Furcht. Sie schienen immer bereit zu sein, mich mit der schwierigsten Herausforderung zu konfrontieren, die ich ertragen konnte. Nie versuchten sie aber, mich mit etwas zu zerstören, das über meine Kraft hinausging. Man kann sie also kaum als böse bezeichnen. Auf der Grundlage dessen, was sie mit mir anstellten, halte ich sie für Freunde, die unser geistiges Wachstum stimulieren. Die Erlebnisse gaben mir weitaus mehr Kraft, als ich früher hatte. Ich habe jetzt keine Angst mehr, fürchte mich nicht einmal vor dem Tod - er ist zu einem bedeutungsvollen Potential meines Lebens geworden, zu einer speziellen Herausforderung, der man mit ruhigem Interesse begegnen sollte. Ich bekam Gelegenheit, einzigartige Erfahrungen zu sammeln, als sich mein geistiges Ich vom Körper löste. Daher bin ich sicher, daß die Seele ein unabhängiges Leben hat. Die Untersuchungen von Wissenschaftlern wie Dr. Ian Stevenson -284-
legen die Vermutung nahe, daß sie auch nach dem physischen Tod existiert. Reinkarnation ist offenbar eine sehr reale Möglichkeit. »Wir beschäftigen uns mit dem Recycling von Seelen«, haben die Besucher gesagt. Und auf die Frage, was die Erde sei: »Eine Schule.« Vielleicht ist sie das tatsächlich, ein Ort, an dem Seelen wachsen und sich zu einem Ziel hin entwickeln, das wir uns kaum vorstellen können. Vielleicht stellt das Schicksal der Seelen eine der großen universalen Fragen dar. Möglicherweise sind wir entstanden, um diese Frage zu stellen und gleichzeitig zu beantworten. Aufgrund meiner eigenen Bemühungen nehme ich an, daß unser Leben zumindest potentiell einen Ausgleich zwischen positiven und negativen Energien schafft. Die Begegnungen mit den Besuchern waren dann besonders zufriedenstellend, wenn ich mit meinen Ängsten und Erwartungen rang. Die Reibung verlieh mir Kraft. Ich finde die kleinen grauen Wesen nicht schrecklich, ich halte sie für nützlich, denn die Arbeit mit ihnen bietet eine gute Möglichkeit, gegen die dunklen Bastionen der Furcht zu kämpfen und die sich darin verbergende Weisheit zu erringen. Während unserer ganzen Geschichte haben wir das Negative abgelehnt und nur das Positive gesucht. Aber es gibt noch einen anderen Weg. Vielleicht kommt es darauf an, ein Gleichgewicht herzustellen. Es ist unsere Aufgaben, tief im Herzen der Menschheit den Ort des Ausgleichs zu schaffen. Wir müssen lernen, auf des Messers Schneide zu wandeln, zwischen Furcht und Ekstase - um das ganze Potential der Menschheit zu entfalten, um sie zur Blüte führen zu können. Ich habe viel über Nutzen und Sinn der Kommunikation mit den Besuchern gelernt. Es geht dabei in erster Linie um die Stärkung der Seele. Dieser Punkt hat eine zentrale Bedeutung in meiner Beziehung zu ihnen. -285-
Sie konfrontierten mich mit dem Tod, mit ihnen selbst, mit meinen Schwächen und dem tief in mir verwurzelten Entsetzen. Gleichzeitig zeigten sie mir, daß ich mehr bin als nur ein Körper und daß selbst dem Leib außergewöhnliche Zustandsformen möglich sind, zum Beispiel Lévitation. Um die Besucher-Erfahrung in etwas zu verwandeln, das wir direkt nutzen können, muß sich jeder von uns der Tatsache stellen, daß die Fremden Furcht erwecken. Erst dann begreifen wir, daß in jedem von uns Frieden wohnt, der nicht einmal von der stärksten negativen Kraft besiegt werden kann. Wer sich wirklich den Besuchern stellen will, muß bereit sein, enorme Furcht hinzunehmen - und sich dadurch von ihr zu befreien. Ich habe sehr oft gelitten und den boshaften Zorn der Fremden gespürt, sie als gewaltiges, überwältigendes Superbewußtsein empfunden, das die Kontrolle über uns an sich reißt. Wenn es uns gelingt, eine innere Balance zu erreichen, anstatt den Besuchern mit der Irrationalität in die Enge getriebener Tiere zu begegnen, so wird uns klar, daß der Kontakt mit ihnen großen Nutzen für uns hat. Bei dem Bemühen, die Beziehung mit ihnen zu erweitern, müssen wir einige sehr problematische Hürden überwinden. Eine fast unglaublich schwere Reise steht uns bevor, aber sie hält auch viele Wunder und Hoffnung für uns bereit. Wir wandern auf einem schmalen Pfad zwischen Gefahren. Links befindet sich ein kranker Planet mit dem ökonomischen Elend und den sozialen Spannungen, die sein Leiden begleiten. Rechts wartet das strenge, anspruchsvolle und weise Unbekannte, das von den Besuchern repräsentiert wird. Wir werden Wahrheiten über uns selbst entdecken, Wahrheiten, die uns alle für immer verändern. Dann bekommen wir die Möglichkeit, durch den Nebel unserer Blindheit zu -286-
blicken. Dann können wir endlich sehen.
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ANHANG GESUNDHEIT Ich möchte unter allen Umständen vermeiden, falsche Vorstellungen zu wecken oder gar einen neuen Mythos zu schaffen. Aus diesem Grund habe ich mich eingehend mit allen ›normalen‹ Erklärungen für meine Erlebnisse beschäftigt. Es gibt einige Hirnkrankheiten und Geistesstörungen, die Halluzinationen bewirken können. Das in diesem Zusammenhang bekannteste Leiden heißt Temporallappenepilepsie: eine vorübergehende Funktionsstörung im Schläfenlappen des Gehirns. Es verursacht starke Halluzinationen, die oft mit intensiven Gerüchen einhergehen; manchmal kommt auch die scheinbare Wahrnehmung von Geräuschen hinzu. Menschen mit Temporallappenepilepsie weisen gute sprachliche Fähigkeiten auf und neigen zum Philosophieren. Allerdings fehlt ihnen der Sinn für Humor. Paranoia und Schizophrenie werden ebenfalls mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen in Zusammenhang gebracht. Doch selbst wenn ich an einer derartigen Krankheit leide: Wie soll sie anderen Menschen - zum Beispiel Bruce Lee und Dr. Zahner-Roloff - so vielfältige Begegnungen mit den Besuchern ermöglicht haben? Die entsprechenden Erfahrungen können gewiß nicht auf Hysterie zurückgeführt werden. Dr. ZahnerRoloff hatte nie von mir oder meinem Buch gehört, und das gilt auch für Jo Sharp und Barry Maddock. Darüber hinaus fanden die meisten meiner Kontakte mit den Fremden an einem bestimmten Ort statt: in der Blockhütte. Die von den oben genannten Krankheiten verursachten Halluzinationen sind keineswegs an einen speziellen Ort gebunden. Wir ließen unser Trinkwasser auf Schadstoffe aller Art untersuchen - unter ihnen Pestizide und Schwermetalle -, aber die Analyse ergab nichts -288-
Außergewöhnliches. Wir überprüften die Luft im Keller, ebenfalls ohne Ergebnis. Trotzdem installierten wir einen Gasdetektor. Das Reinigungssystem für unser Wasser verwendet Chlor, einen Filter für Schwermetalle und Aktivkohle für die Absorption von Schadstoffen. In unserer Blockhütte gibt es keine Gase oder im Wasser gelöste Substanzen, die in der Lage sind, das Wahrnehmungsvermögen zu beeinflussen. Am 6. Dezember 1986 untersuchte man mich auf Anzeichen für Temporallappenepilepsie, und der Befund war negativ. Der Test wurde von Fachärzten durchgeführt, die sich mit dieser Krankheit gut auskennen. Man verwendete dabei Nasopharyngealtuben und künstlich herbeigeführten Schlaf derzeit gibt es keine bessere Methode, um TLE zu diagnostizieren. Das Ergebnis lautete: »Bei diesem EEG sind auch Nasopharyngealtuben benutzt worden, und es zeigten sich normale Werte sowohl im wachen als auch schlafenden Zustand des Patienten.« Doch manchmal läßt sich die Temporallappenepilepsie nur schwer diagnostizieren, und deshalb beschloß ich, mich weiteren Tests zu unterziehen. Eine dieser Untersuchungsreihen begann am 14. März 1988 im Universitätskrankenhaus von New York. Die Analysen umfaßten ein EEG (ohne Nasophryngealtuben, aber auch während einer Schlafphase), einen CAT-Scan meines Gehirns und einen MRI (das ist ein supersensitiver Hirn-Scan). Beide Tests (MRI = Magnetic Resonance Imaging; CAT = Computer Axial Tomography) hätten lokale epileptische Bereiche im Gehirn eines Erwachsenen festgestellt, der seit mindestens zwei Jahren an TLE leidet. Bei mir blieben konkrete Untersuchungsresultate aus. Der MRI-Test ergab jedoch etwas Interessantes. Es handelt sich um einen neuen Hirn-Scan, der weitaus detailliertere Bilder liefert als die CAT-Analyse. Dabei wird das Gehirn in ein starkes Magnetfeld gehüllt; von betroffenen Molekülen im -289-
Hirngewebe gehen Protonen aus, die der Computer zu Mustern verarbeitet. Auf diese Weise werden selbst winzige Einzelheiten erkennbar. Der untersuchende Arzt beschrieb die Entdeckungen folgendermaßen: »Die Ventrikel und Sulci sind normal. Es gibt weder Massenansammlung noch Verschiebungen oder Deformationen. Gelegentliche punktierte Foci hoher Signalintensität erscheinen bilateral in der weißen Hirnmasse der Stirnlappen und auch in der linken temporoparietalen Region.« Der Neurologe erklärte mir, daß man diese Strukturen als »unbekannte helle Objekte« bezeichnet. Manchmal zeigen sie sich bei Untersuchungen ganz normaler Gehirne. Man bringt solche Objekte mit Multipler Sklerose, Traumen und mikrovaskularen Erkrankungen in Zusammenhang. Sehr selten handelt es sich um Narben, die nach einem ungewöhnlichen Parasitenbefall zurückbleiben. Ich leide nicht an MS und hatte keine entsprechenden Symptome. Ganz abgesehen davon: Multiple Sklerose bewirkt ebensowenig Halluzinationen wie die anderen Krankheiten, die unbekannte helle Objekte in den genannten Hirnbereichen entstehen lassen. Ich hatte nie ein nennenswertes Trauma, und irgendwelche Parasiten kommen ganz bestimmt nicht in Frage. Mit dem sichtbaren vaskularen System meines Gehirns war alles in bester Ordnung; eine mikrovaskulare Krankheit ist also unwahrscheinlich. In Die Besucher erwähnte ich einige Erlebnisse, bei denen ich den Eindruck gewann, daß mir die Besucher Nadeln in den Kopf stachen. Das geschah am 26. Dezember 1985 (hinter dem rechten Ohr) und im März 1986 (durch das linke Nasenloch). Sind die unbekannten Objekte in meinem Gehirn eine direkte Folge davon? Derzeit gibt es keine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten. Aber wenn ein Test entwickelt wird, der noch genauere Ergebnisse liefert, werde ich mich ihm sofort unterziehen. Derzeit habe ich nicht die geringste Absicht, die -290-
betreffenden Strukturen herausoperieren zu lassen - ganz zu schweigen davon, daß sicher kein angesehener Neurochirurg zu einer solchen Operation bereit wäre. Immerhin sind die Objekte auch in normalen Gehirnen beobachtet worden und führen nicht zu feststellbaren neurologischen Konsequenzen. Aber es wäre bestimmt sehr interessant, wenn sich auch andere Personen mit ähnlichen Besucher-Erfahrungen dem MRI-Test unterziehen würden. Es ist ganz einfach. Im Gegensatz zum CAT-Scan braucht kein Jod injiziert werden, und es ist auch nicht nötig, das Gehirn radioaktiver Strahlung auszusetzen. Wenn eine große Anzahl von Kontaktpersonen die oben beschriebenen hellen Objekte im Hirn aufweist, so müßten wir diesen Umstand als Zeichen dafür interpretieren, daß die Besucher eine konkrete Spur hinterlassen haben. Ich habe auch einige psychologische Tests absolviert: den MMPI (ein Standardtest für die Feststellung von Persönlichkeitsanomalien), den Bender Gestalt-Test, den WAISR-Intelligenztest für Erwachsene, den Haus-Baum-Person-Test, den Rorschach-Test, den Thematischen Apperzeptionstest und den Zeichentest, bei dem es um die Darstellung menschlicher Gestalten geht. Sie fanden am 7. März 1986 statt, und der zuständige Psychologe hatte den Eindruck, daß ich unter ›ziemlich starkem Streß‹ stand, an ›Erschöpfung‹ und ›innerer Unruhe‹ litt. Die Ergebnisse beschrieben folgendes Bild: Ich fürchtete mich sehr - was meinem tatsächlichen emotionalen Zustand zu jener Zeit entsprach. Während jener Phase war meine Angst vor den Besuchern besonders groß. Ich habe lange und ausführlich mit einigen Psychiatern und Neurologen gesprochen, und niemand von ihnen entdeckte irgendein Anzeichen dafür, daß ich nicht das bin, was ich zu sein scheine: ein Mann mit ausgewogener Persönlichkeit, überdurchschnittlicher Intelligenz und gut ausgeprägten sprachlichen Fähigkeiten. Das ist der gegenwärtige Stand der Dinge. -291-
Wenn ein psychophysischer Zustand gefunden wird, der die Ursache meiner Erfahrungen ist, so werde ich in aller Deutlichkeit darauf hinweisen. Wie ich schon sagte: Es liegt mir fern, falsche Vorstellungen zu wecken. Ich bin sogar der erste, der die Möglichkeit einräumt, daß unsere derzeitigen Interpretationen der Besucher-Erlebnisse vielleicht falsch sind. Die meisten Ärzte, die es mit meinem Fall zu tun bekamen, baten darum, anonym zu bleiben. Deshalb verzichte ich darauf, hier ihre Namen zu nennen. Ich habe ihre Untersuchungsergebnisse Dr. John Gliedman vorgelegt und ihnen gestattet, meinen Fall offen mit ihm zu erörtern. Er respektiert ihren Wunsch nach Vertraulichkeit vorbehaltlos und ist bereit, mit zugelassenen Ärzten, Psyc hologen und interessierten Wissenschaftlern zu korrespondieren. Wir werden nicht auf die Briefe von ›Ermittlern und ›Forschern‹ reagieren, denen ein fundierter wissenschaftlicher, medizinischer oder psychologischer Hintergrund fehlt. Selbsternannte ›Entlarver‹, denen es nur darum geht, die Tatsachen zu verdrehen oder ihren eigenen emotionalen Bedürfnissen gerecht zu werden, dürfen ebenfalls nicht damit rechnen, Antwort von uns zu bekommen. Ich bin fest davon überzeugt, daß all den sonderbaren Erfahrungen und Wahrnehmungen, den Lichtern am Himmel und den fremden Wesen im Schlafzimmer, ein sehr wichtiges, bedeutsames und echtes unbekanntes Etwas zugrunde liegt. Und ich hoffe, daß wir eines Tages seine reale Existenz akzeptieren und ruhig, objektiv und rational versuchen, es zu verstehen.
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WAHRHEIT In Die Besucher habe ich von den Ereignissen eines Lügendetektor-Tests berichtet, dem ich mich vor der Publikation des Buches unterzog. Ich habe ihn bestanden. Es war immer mein Bestreben, die Besucher-Erlebnisse wahrheitsgemäß zu schildern. Philip J. Klass, ein überaus kritischer UFO-Forscher, schickte mir einen Brief, in dem er mir die öffentliche Erklärung erlaubte, daß er mich nicht für einen Lügner hält. Am 17. Dezember 1987 schrieb er: »Ich bin davon überzeugt, daß Whitley Strieber wirklich an die seltsamen, in seinem Buch Die Besucher geschilderten Begegnungen glaubt und sie nicht bewußt erfunden hat.« Er fügte hinzu, man werde sicher bald eine ›normale‹ Erklärung für meine Erfahrungen finden. Außerdem wies er darauf hin, daß er vermutete, ich litte an Temporallappenepilepsie. Angesichts der Tatsache, daß bei vielen gründlichen Untersuchungen weder Anzeichen dieser Krankheit noch irgendwelche anderen Anomalien gefunden wurden, lassen sich solche Theorien wohl kaum aufrechterhalten. Am 18. Mai 1987 begann ein zweiter Lügendetektor-Test. Er wurde auf Anfrage der British Broadcasting Corporation von den Polygraph Security Services in London durchgeführt und von der BBC bezahlt. Ich bestand ihn ebenfalls. Einige der Fragen lauteten: »Sind die Besucher, von denen Sie in Ihrem Buch Die Besucher schreiben, eine physische Realität?« »Sind Sie wirklich von den Besuchern berührt worden, während Sie ihre Präsenz spürten?« Ich bejahte, und meine Antworten wurden für wahr befunden. Man fragte mich auch, ob ich die Besucher erfunden habe, um einen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen. Ich antwortete mit Nein, was für wahr befunden wurde. -293-
Auf meine eigene Bitte hin fand für Transformation ein dritter Test statt. Der Polygraphist (Nat Laurendi, er hatte mich bereits für Die Besucher getestet) war sehr skeptisch, aber es stellte sich erneut heraus, daß ich die Wahrheit sagte. Bei Fragen, die mich zum Lügen herausforderten, nahm der Blutdruck zu, und ich begann zu schwitzen - was den Tester deutlich darauf hinwies, daß ich log. Diese instinktiven Reaktionen lassen den Schluß zu, daß ich gar nicht in der Lage wäre, einen Lügendetektor zu täuschen. Bei diesem dritten Test stellte man mir unter anderem folgende Fragen: »Glauben Sie wirklich, daß Transformation ein wahrer Bericht ist, der Ihre Begegnungen mit den Besuchern von April 1986 bis März 1988 schildert?« »Sind die genannten und ungenannten Zeugen in dem Buch tatsächlich lebende Menschen?« »Halten Sie die Besucher wirklich für physisch real?« »Sind Sie den Besuchern mindestens viermal begegnet, während Sie vollkommen wach und bei vollem Bewußtsein waren?« Ich bejahte alle Fragen, und meine Antworten wurden für wahr befunden. Dreimal haben mich polygraphische Experten getestet und mir klare, direkte Fragen gestellt. Daraus muß der Schluß gezogen werden, daß ich weder verrückt noch ein Lügner bin. Es gibt Wahrheit in meiner sonderbaren Geschichte. Ihre enorme Fremdartigkeit mag sogar der beste Beweis dafür sein, daß sie den Tatsachen ent spricht. Am 31. März 1988 unterzog Mr. Laurendi auch Bruce Lee vom Morrow-Verlag einem Lügendetektor-Test. Er fragte ihn, ob er die beiden Wesen im Buchladen für Besucher hielte und mit ihnen gesprochen habe. Mr. Lee bejahte beide Fragen, und -294-
seine Antworten wurden für wahr befunden. Als Nat Laurendi ihn fragte, ob ich ihm etwas Wertvolles angeboten habe, damit er seine Geschichte erzählte, antwortete er mit Nein, was der Detektor für wahr befand.
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GÄLISCH Eine der interessantesten und ungewöhnlichsten Dinge, die ich in diesem Buch erwähnt habe, betrifft Leonard Keanes Entdeckung. Er stellte fest, daß die von Betty Andreasson Luca während der Hypnose gesprochene Sternensprache mit dem Gälischen identisch sein könnte. Das erscheint um so erstaunlicher, da Mrs. Luca die Tochter französischneuenglischer Eltern ist. In seinem ausgezeichneten Buch The Andreasson Affair beschreibt Raymond Fowler ihre Erfahrungen in allen Einzelheiten. Jenes Buch stellt eine klassische Erzählung von Besucher-Erlebnissen dar und ist auch deshalb beachtenswert, weil es offen und deutlich auf die faszinierenden mystischen und religiösen Aspekte in Mrs. Lucas Erfahrungen hinweist. Nachdem sie Mr. Keanes Übersetzung der gälischen Worte gelesen hatte, schrieb mir Mrs. Luca folgendes: »Als ich die ersten beiden Zeilen von Mr. Keanes Übersetzung las, strömten mir plötzlich Tränen über die Wangen, und ich weinte fünf Minuten lang... Endlich bringt jemand die Wahrheit der Botschaften ans Licht.« Mit Mr. Keanes Erlaubnis gebe ich hier sein Glossar der ›Sternensprache‹ wieder. Die phonetischen Übertragungen stammen aus dem Buch The Andreasson Affair und wurden von Mr. Fowler geschaffen. Ich habe mir die ursprünglichen Aufzeichnungen angehört und festgestellt, daß er sehr gründliche und sorgfältige Transkriptionsarbeit geleistet hat. Sternensprache gälisches Übersetzung Äquivalent ohtookurah uatuaisceartach Nachkommen der nördlichen Völker bohututahmaw beo tutamail irren durch -296-
hulah duh
uile dubh
duwa maher Duh okaht turaht nuwrlahah tutrah aw hoehoe marikotot tutrah etrah meekohtutrah
dubhach mathair Dubh ocaid tuartha nuair lagachar tuachtarach athbheoite maireachtalacostas tuachtarach eatramh meancong tuachtarach eatramh indeacrachlach
alles umfassende Dunkelheit trauert Mutter Finsternis Gelegenheit ankündigen wenn Schwäche an erhabenen Orten erneuert Preis des Lebens hoch Intervall Fehler an hohen Orten Intervall für Erschütterndes
etro indra ukreeahlah Die Übersetzung lautet also: »Die lebenden Nachkommen der nördlichen Völker irren durch alles umfassende Dunkelheit. Ihre (Meine) Mutter trauert. Eine finstere Gelegenheit kündigt sich an, wenn Schwäche an erhabenen Orten einen hohen Preis des Lebens erneuert; ein Intervall für Fehler an hohen Orten; ein Intervall für erschütternde Ereignisse.«
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NACHWORT Es erscheint rätselhaft, warum sich die Besucher plötzlich zeigen, vielleicht sogar in ihrer wahren Form. Ich glaube, die Frage danach wenigstens teilweise beantworten zu können. Vielleicht erinnert sich der Leser: In Die Besucher habe ich darauf hingewiesen, daß die dünner werdende Ozonschicht eine erhebliche Gefahr darstellt; zunächst habe es den Anschein, als löse sich das Problem von ganz allein, aber kurze Zeit später würde die Lage noch weitaus schlimmer. Es wäre auch denkbar, daß die Zersetzung des Ozons zu einer unerwartet drastischen Zunahme des Treibhauseffekts führt. Die sich daraus ergebenden Folgen habe ich bereits in diesem Buch beschrieben. Als ich vorhersagte, daß zunächst eine Besserung eintritt, bevor die eigentliche Krise beginnt, deuteten alle wissenschaftlichen Untersuchungen auf einen langsamen und kontinuierlichen Zersetzungsprozeß hin. Im März 1988 stellte sich heraus, daß die Sonnenstrahlen selbst für den Beginn des solaren Maximums - damit ist ein Zyklus erhöhter Sonnenaktivität gemeint - erstaunlich stark war. Am 16. März 1988 berichtete die New York Times, das Ozonloch sei größer als erwartet, doch »die zyklische Intensivierung der Sonnenstrahlung, die Ozon in der Erdatmosphäre entstehen läßt«, werde einen Ausgleich schaffen. Selbst Wissenschaftler wurden vom Ausmaß der Strahlungszunahme überrascht. Ich möchte meine Leser daran erinnern, daß ich vor zwei Jahren, als Die Besucher entstand, weder etwas von diesem Effekt noch von der Intensität des gegenwärtigen solaren Zyklus wußte. Lassen Sie es mich hier noch einmal betonen: Die Besucher richteten meine Aufmerksamkeit auf die Gefahren, die unserer Atmosphäre drohen, und ihre Warnungen sollten sehr ernst genommen werden. Wir müssen jetzt handeln, obgleich während der nächsten Jahre der Eindruck entstehen wird, daß -298-
sich die Ozonschicht stabilisiert. Das Überleben der Menschheit steht auf dem Spiel. Vielleicht zeigen sich die Besucher, um uns in einer sehr schlimmen Situation zu helfen. Aber wer sind sie? Und woher kommen sie? Sie scheinen Außerirdische zu sein, und möglicherweise ist das tatsächlich der Fall. Aber wir wissen auch, daß ihr Erscheinen von der Realitätsperspektive der jeweiligen Kultur abhängt - sie wird zum Maßstab und zum Filter unserer Wahrne hmung. Wenn wir diesen Umstand und auch unser technologisch-kulturelles Entwicklungsniveau berücksichtigen, ist es geradezu unvermeidlich, daß wir die Fremden für raumfahrende Extraterrestrier halten. Meine Erlebnisse sind so schrecklich seltsam und so komplex, daß sie auf das bewußte, wohlüberlegte Handeln einer nichtmenschlichen Intelligenz hindeuten. Außerdem sind sie ausgesprochen nützlich. Bestimmt kommen wir in unserer Evolution einen ordentlichen Schritt voran, wenn wir bessere und direktere Beziehungen zu den Besuchern herstellen. Doch dazu müssen wir die Furcht besiegen. Ich habe die Konsequenzen aus meinen Erfahrungen gezogen und lehne Kontakte mit UFO-Forschern ab, die keine beruflichen Referenzen vorweisen können und nicht nur dumm und unwissend sind, sondern auch voller Angst. Viele dieser Leute hypnotisieren verzweifelte Menschen und drängen ihnen ihre eigenen Überzeugungen auf. Sie maßen es sich an, ohne Ausbildung und Zulassung als Psychologen und Therapeuten tätig zu werden. Wer Besucher- Erlebnisse hat, sollte in der Lage sein, sich an Spezialisten des Geistigen zu wenden, die aufgeschlossen sind und wissen, daß viele normale Menschen mit ausgewogener Persönlichkeit den Besuchern begegnen, daß man keine Psychopharmaka und aggressiven Therapien braucht, um ihnen zu helfen. -299-
Die gegenwärtige Modetorheit, ›Entführte‹ zu hypnotisieren als Hypnotiseure treten dabei Personen auf, die von derartigen Dingen überhaupt keine Ahnung haben -, muß zwangsläufig zu Leid, Nervenzusammenbrüchen und vielleicht sogar Selbstmorden führen. Die ›Forscher‹ und ›Ermittler‹ begehen den unverzeihlichen Fehler anzunehmen, daß sie dieses große Mysterium verstehen. Sie wenden mechanistisches Denken und einen aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden wissenschaftlichen Materialismus bei einem Problem an, das weit über die Grenzen der modernen Vorstellungskraft hinausgeht. Solche ungeschulten, meistens schlecht gebildeten und häufig sogar unfähigen Leute verbreiten die Seuche der Verwirrung und Furcht. Viele von ihnen sind - wie Budd Hopkins schrieb - der Ansicht, daß die Besucher zumindest derzeit außerordentlich ›destruktiv‹ wirken. Dieser Meinung kann ich mich nicht anschließen. Es stimmt schon: Oft reagieren wir mit Furcht und Entsetzen auf eine Begegnung. Wir erblicken dabei etwas so Seltsames, daß Panik unsere Wahrnehmung trübt. Aber es wäre verfrüht anzunehmen, daß unsere Erfahrungen negativ sind. Bei ihren ersten Flugreisen fielen Angehörige von Naturvölkern in eine Art katatonische Starre. Viele Afrikaner und Ureinwohner Amerikas befürchteten einst, daß ihnen Fotoapparate die Seele stehlen. Wenn jemand ein Foto von ihnen machte, sahen sie darin eine persönliche Katastrophe, von der sie sich nie erholten. Mr. Hopkins brachte erneut den Standpunkt eines großen Teils der UFO-Gemeinschaft zum Ausdruck, als er schrieb: »Entweder wissen die ›UFO-Insassen‹ nichts von den negativen psychologischen Wirkungen der Entführungen, oder sie sind Repräsentanten eines ›amoralischen Volkes‹ und denken nur an -300-
die Erfüllung ihrer wissenschaftlichen Bedürfnisse.« Diese Einstellungen gründen sich auf die Annahme, daß die ›UFO-Insassen‹ bei der Kontaktaufnahme zumindest halbwegs vertraute technologische Mittel verwenden und nachvollziehbare wissenschaftliche Ziele anstreben. Ich möchte nicht den geringsten Zweifel daran lassen, daß ich derartige Meinungen energisch zurückweise. Persönlich habe ich allerdings wenigstens gelegentlich den Eindruck, daß die fremden Wesen physisch real sind - und das ist alles. Wahrscheinlich haben wir noch nicht einmal damit begonnen, die Besucher zu verstehen. Sie sind uns weitaus rätselhafter als zum Beispiel der Gesang der Wale. Jahrelang haben wir uns damit beschäftigt, doch die bemerkenswerten Melodien der größten Tiere auf diesem Planet sind und bleiben geheimnisvoll. Um sinnvolle Antworten auf die Fragen zu finden, warum die Besucher-Erfahrungen oft so belastend sind und was sie letztendlich bedeuten, ist erhebliche intellektuelle Arbeit erforderlich. Und sie kann wohl kaum von den Leuten geleistet werden, die sich in UFO-Studiengruppen zusammenfinden und über fliegende Untertassen staunen. In der UFO-Szene gibt es viele gute Wissenschaftler und Laien, die sich wirklich Mühe geben. Aber häufig gehen sie von zu starren und simplen Annahmen aus. Wenn diese Arbeit Aussicht auf Erfolg haben soll, müssen wir dabei das beste uns zur Verfügung stehende Werkzeug benutzen: ein offenes, wißbegieriges und gebildetes Bewußtsein, das frei ist von Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen - und vor allen Dingen frei von Furcht. Wer dem Autor schreiben will, richte seine Briefe an folgende Adresse: Whitley Strieber # 188 -301-
496 LaGuardia Place New York, N. Y. 10012 Wissenschaftler und Ärzte, die sich mit Dr. John Gliedman in Verbindung setzen möchten, richten ihre Korrespondenz bitte ebenfalls an den Autor. Er leitet sie weiter.
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