Terra Astra 629
H. K. Bulmer
Tramps zwischen den Welten
Vierter Band des Dimensions – Zyklus
Scanned by Waldschrat
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Terra Astra 629
H. K. Bulmer
Tramps zwischen den Welten
Vierter Band des Dimensions – Zyklus
Scanned by Waldschrat
Die Hauptpersonen des Romans:
Polak und J. T. Wilkie - Zwei Freunde in der Gewalt einer grausamen Frau.
Contessa di Montevarchi - Die Beherrscherin der Weltentore auf Sklavenjagd.
Chamock - Leibwächter der Contessa
Soloman und Gangly - Zwei Porteure.
1.
Alle Valcini erhoben sich respektvoll, als die Contessa den hohen Konferenzraum betrat. Sie war eine beständige Drohung, und deshalb befleißigten sich alle eines überdankbaren, strahlenden Lächelns, unterbrachen abrupt ihre Gesten und beugten demütig die Köpfe, so daß die Deckenbeleuchtung schimmernde Reflexe auf ihre öligen Stirnen und Glatzköpfe warf. Der Raum war mit schwarzgoldenen Wänden ausgestattet, und an den hohen Fenstern hingen lange, korallenrote Vorhänge. Die Contessa geruhte die Valcini erst dann zur Kenntnis zu nehmen, als sie in ihrem geschnitzten Goldsessel mit den Drachenfüßen saß. „In meinen Minen hat es also schon wieder einen Unfall gegeben.“ Ihre Stimme war sirupsüß und kratzte an den Nerven der Männer. Heimlich wischten sie ihre schwitzenden Hände an den hellbraunen Hosen und Hemden ab. „Contessa, der Unfall war unvermeidlich“, begann ein grauhaariger Valcini, der rechts von ihr saß. „Unvermeidlich? Und warum, glaubt ihr, lasse ich euch Valcini leben? Damit ihr euch an meiner Großmut mästen könnt? Weil ich euch so unbeschreiblich liebe?“ Darauf wußten sie keine Antwort. Ihr weißes Gesicht war glatt und weich, weil es mit den kostbarsten Mitteln gepflegt wurde; ihre violetten Augen waren verführerisch. Sie trug eine weißseidene Robe, und in ihrem dunklen, hoch aufgetürmten Haar funkelten Juwelen. Sie beherrschte den Raum, der mit grimmigen, grausamen Männern angefüllt war. Sie zerrte an der Kette, die am Armband des linken Handgelenks befestigt war. „Wir sind glücklich, Ihnen dienen zu können, Contessa“, sagte der älteste Valcini voll kriecherischer Unterwürfigkeit. „Das hoffe ich auch, Doeltor. Deinetwegen.“ „Der Unfall wurde durch einen Einbruch in den neuen Stollen ausgelöst“, erklärte Doeltor. „Wir Valcini beschäftigen viele Außenweltler in den Minen, und manchmal wird von unintelligenten...“ „Manchmal!“ Wieder zerrte sie an der Kette, und diesmal stieß die Kreatur, die am anderen Ende dieser Kette hing, einen wimmernden Schrei aus. Das Wesen sah in seinem roten Samtanzug aus wie ein Leierkastenäffchen. Es hatte einen unverhältnismäßig großen, hochgewölbten Kopf, der teilweise mit einer blauen Samtkappe bedeckt war, aber die Feder darauf war an der Spitze abgebrochen. „Ruhig, Soloman!“ Ihre Stimme wurde scharf. „Bringt den verantwortlichen Ingenieur herein.“ Mit einem dumpfen Ton öffneten sich die Doppeltüren. Honschi-Garden mit breiten Froschgesichtern zerrten einen sich wehrenden Mann in grauer Tunika herein. Seine Kleidung war schmutzig und blutbefleckt. Die Honschi stießen ihn mit ihren Widerhakenspeeren vorwärts. „So, das ist also der elende Kerl! Schau mich an, du Dummkopf!“ Das Gesicht des Ingenieurs war wie graues Pergament. In seiner Verzweiflung blickte er auf. Seine Augen waren rotgerändert. Ein Arm war gebrochen und nicht einmal eingerichtet. Er stöhnte. „Pynchon, nicht wahr? Chefingenieur Pynchon? In meinen Minen hat es wieder einmal einen Unfall gegeben, und etliche Sklaven sind tot; Sklaven, die nur unter großen Kosten über die Dimensionen zu bringen sind. Und jetzt ist die Arbeit vieler Wochen umsonst gewesen, Pynchon. Was hast du mir dazu zu erklären?“ „Ich... Es tut mir leid, Contessa.“ „Leid tut es dir? Ah, ich verstehe. Und weiter?“
„Die Werkzeuge sind schlecht, Contessa. Nur die Erinelds verstehen etwas von Minenarbeit.
Die Sklaven sind nicht willig...“
„Du hast doch Peitschen und Wachtposten, die sie benutzen können. Ich höre, du bist
einer Ader gefolgt und hast dem nicht Rechnung getragen, daß sie einen Bogen beschrieb.
Deshalb bist du in weiches Gestein geraten, und damit hast du dann die Durikruste
heruntergebracht.“
Der Ingenieur ließ verlegen den Kopf sinken.
„Ich will nicht grausam zu dir sein, Pynchon. Viele Leute behaupten, ich sei grausam, aber
das ist nicht richtig. Zu dir will ich gut sein, Pynchon.“ Sie gab dem nächsten Honschi ein
Zeichen. „Töte ihn. Jetzt sofort!“
Das kurze Schwert stieß zu. Pynchon fiel tot vornüber.
Honschi-Garden brachten den Toten weg. Die Frau in Weiß brütete vor sich hin. Dann starrte
sie die wartenden Valcini an.
„Ich bin die Contessa Perdita Francesca Cammachia di Montevarchi“, erklärte sie in
arrogantem Stolz.
„Hier auf Irunium gilt als Gesetz nur mein Wille.“
Ölige Stirnen nickten eifrig.
„Ich werde einen anderen Ingenieur finden. Diesmal wird es aber ein richtiger Ingenieur aus
einer anderen Dimension sein, der sich auf diese Dinge versteht. Vielleicht von Slikitter,
vielleicht auch von der Erde. Er wird respektvoll behandelt, denn seine Tätigkeit ist wertvoll
für mich. Es ist fast unvermeidbar, daß er ebenso endet wie dieser Dummkopf, aber bei
fehlerhaften Werkzeugen ist das nicht anders zu erwarten.“
„Ja, Contessa.“
„Er wird die Sklaven in den Minen nicht sofort zu sehen bekommen, und er wird auch nicht
als Sklave behandelt. Habt ihr verstanden?“
„Jawohl, Contessa.“
Sie stand auf.
„Schön. Meine Minen müssen ununterbrochen Juwelen hervorbringen, die ich für meinen
interdimensionalen Handel benötige. Da wir einen Ingenieur brauchen, werde ich auch einen
finden.“
2.
Die Alarmsirenen rissen den Nachthimmel über Hudson auf. Aber J. T. Wilkie konnte sie nicht hören. Seine Lage war nicht nur äußerst unwürdig und gefährlich, sondern auch über alle Maßen unbequem. Oben mußten jetzt die Feuerwehrautos, die Ambulanzen und Rettungsmannschaften durch die kalte, rauhe kanadische Nacht zu Old Smokey hetzen, wo die Flammen wie gotteslästerliche Blumen des Übels zum Himmel wuchsen. Ein großes Minenunglück war immer eine herzzerreißende Sache, die an den Nerven zerrte. Unten im Stollen versuchte J. T. Wilkie seinen Kopf aus den Schienen der Lore zu ziehen, indem er seine verschütteten Arme gegen die warmen Metallgleise und den mit Kohlenstaub verkrusteten Boden stemmte. Kohlenstaub und Rauch füllten ihm Augen, Nase, Ohren und Mund, und in seinem Kopf schrillten unaufhörlich Trambahnklingeln. Aus der Richtung des Explosionsorts quollen Staubkissen und drohten J. T. zuzudecken. Er wußte, daß er keine Zeit hatte, Angst zu fühlen. Er mußte seinen Kopf, der zwischen den Schienen steckte, herauskriegen, wollte er nicht erwürgt werden. Mit übermenschlicher Anstrengung befreite er schließlich seinen Kopf und riß sich fast die Ohren dabei ab. Er taumelte zurück und stürzte über herumliegende Kohlenbrocken.
Die Dunkelheit war vollkommen. J. T. tastete nach seiner Taschenlampe an seinem Gürtel und blinzelte, als ein Strahl weißen Lichts durch die wirbelnden giftigen Wolken stieß.
Er hatte einen Hustenanfall und spie Kohlenstaub aus.
„Bist du's, J. T.?“
Die Stimme hustete ihm von einem Kohlenhaufen entgegen. Staub wirbelte auf, als Wilkie
dieser Stimme entgegenkletterte.
„Polak? Bist du's, Polak?“
„Ja.“
Der Kohlenhaufen bewegte sich, und eine Gestalt schob sich heraus. J. T. griff nach einem
dicken Arm und zog an.
„Hätte ich mir ja denken können.“ Er hustete, und die Tränen, die ihm dabei über die Wangen
liefen, gruben Rinnen in das schweißverklebte, schwarze Gesicht. „Um dich umzubringen,
Polak, ist schon mehr als ein Stolleneinbruch nötig.“
„Da hast du verdammt recht. Sonst noch jemand?“
Wilkie schüttelte den Kopf. „Keiner, fürchte ich.“
Polak schüttelte sich und schaltete sein Helmlicht ein. Alle Stollenlampen waren
ausgegangen, als das Dach herunterkam.
„Wir sind hier unten abgeschnitten, Polak“, stellte Wilkie das sowieso schon Offensichtliche
fest. „Der Stollen zehn ist, denke ich, runtergekommen. Wenn ich das Tageslicht wiedersehe,
werde ich mal tüchtig auf die Pauke hauen...“
„Du tust immer ein bißchen zuviel, Junge“, brummte Polak. „Du hättest die Arbeit vor Ort
den richtigen Hauern überlassen sollen. Ihr Zivilingenieure und eure phantastischen.
Maschinen...“
„Na, weiter! So sag's doch!“ fauchte Wilkie. Er ließ sich schwer auf das bewegungslose
Förderband sinken. Die ganzen Maschinen standen ja schon eine Weile still. „Ausgerechnet
die Maschinen für diesen Schlamassel verantwortlich machen! Damals, als ihr noch mit Hand
und Pickel arbeiten mußtet, ist wohl nie der Berg runtergekommen, was? Ihr habt doch
ständig darüber geredet, oder nicht?“
„Klar, in meinem alten Land hat's oft einmal Unglücke gegeben. Mensch, J. T., wir stecken
ganz verdammt in der Klemme.“
Da saßen sie nun tief unter der Erdoberfläche in einem verschütteten, luftleeren Raum, und
zur Gesellschaft hatten sie nur das Abbaugerät mit dem Hauerkopf, und die Ketten glitzerten
wie brutale Raubtierfangzähne.
Polak stolperte zur Felswand. Er hob ein Brecheisen auf und schlug damit gegen die Wand.
Er wartete. Dann schlug er erneut. Nach einer Weile warf der große, stämmige Kerl das Eisen
wütend weg.
„Nichts.“
„Sie werden uns schon finden. Sie lassen ganz bestimmt eine Sonde herunter, und dann... Nur
die Luft macht mir Sorgen.“
„Du bist ja der Ingenieur, Junge, auch wenn du erst ein Anfänger bist“, meinte Polak
brummig.
„Ich bin Bergwerksingenieur“, protestierte Wilkie gekränkt. „Und ich habe ein Diplom. Wenn
das kein Beweis ist...“
„Klar. Ein Fetzen Papier. Na, dann wedle doch mal damit und schau, wie du uns hier
rausbringst.“
Sie warteten lange. Polak schlug von Zeit zu Zeit an die Wand. Jedesmal lauschte er, ob nicht
doch ein antwortendes Klopfen käme, und jedesmal wurde er enttäuscht.
Pollak hatte irgendwie ein Kochgeschirr mit warmem Wasser gerettet. Wie lange würden sie
nun mit den paar Tropfen in all dem Staub ihren Durst ertragen müssen? Wilkie begann
darüber nachzudenken und fing zu jammern an.
„Oh, herrjemine, da stecken wir aber in einem schönen Schlamassel.“
„Du hast doch selbst gesagt, sie würden auf Klopfzeichen achten und eine Sonde...“, sagte
Polak fast grob. „Und höre jetzt gefälligst mit dem Jammern auf, J. T., verstanden?“
Polak wollte die Batterie seiner Helmlampe sparen, und deshalb blieben sie wartend in der
Dunkelheit sitzen. Wilkies Lampe lag zertrümmert neben dem Abbaugerät, und seine
Taschenlampe brannte auch nicht ewig.
Einmal brummte Polak: „Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich nie im Leben nach Kanada
gekommen, Mensch.“
Aber meistens schwiegen sie und schlugen nur gelegentlich an die Wand, weil sie weiterhin
auf ein Antwortklopfen hofften.
Bald roch die Luft faulig.
Dann rieselte über eine Wand Kohlenstaub. Das Geräusch sandte Wilkie einen Schauer über
den Rücken.
„Das Dach!“ rief er und sprang auf.
„Halte dich ruhig“, warnte Polak. Er bewegte sich ganz vorsichtig, knipste seine Lampe an
und leuchtete Wände und Decke ab.
Immer mehr Staub rieselte.
Dann brach ein riesiger Brocken aus der Decke und fiel polternd herunter. Noch einer folgte.
Beide Männer zogen sich so weit wie möglich zurück. „Da sind sie!“ schrie Polak.
„Aber aus der Richtung?“ fragte Wilkie verständnislos.
Ehe er noch mehr sagen konnte, kam die ganze Decke herunter. Es gab einen dumpfen
Donner, und Kohle, Steine und Staub erfüllten die enge Kammer. Dann war auf einmal ein
warmer gelber Schein da, und er kam immer näher und schien immer heller durch den Staub.
Hustend schirmten die beiden Männer ihre Augen gegen das Licht ab.
Der Spalt erweiterte sich; immer wieder kamen Brocken herunter.
Und dann - J. T. wagte seinen Augen noch nicht zu trauen - quetschte sich ein stämmiger,
brauner nackter Mann mit einem scharlachfarbenen Tuch um den kahlen Schädel durch. Mit
einem kleinen Pickel hackte er ein gezacktes Felsstück weg. Sein Gesicht glänzte von
Schweiß. Er sah entsetzt und doch irgendwie so drein, als treibe ihn etwas an. Er rollte die
Augen, als er die beiden Männer sah.
„Wer, bei allen langgeschwänzten Teufelchen, bist denn du?“ fragte Polak.
Der Stämmige quäkte etwas in einer Sprache, die keiner von ihnen beiden verstand. Dann
polterte wieder Kohle herunter, und ein zweiter stämmiger, brauner nackter Mann zwängte
sich durch.
„Aber sie sind durch die Decke gekommen“, sagte Wilkie erstaunt. „Und die Decke ist ein
verdammt dickes, solides Kohlenflöz. Gibt's ja gar nicht, so was...“
„Theoretisch gibt's das natürlich nicht, aber durchgekommen sind sie trotzdem.“
Die beiden braunen, kohlenstaubverschmierten Männer winkten ihnen.
„Die meinen, wir sollen durchkommen.“
Polak tat einen Satz vorwärts.
„Klar. Zurück geht's ja nicht. Und die Burschen müssen ja von irgendwoher gekommen sein.“
Die beiden braunen Männer halfen Polak und J. T. durch den Spalt.
Und dann standen sie in einem ovalen Raum, der absolut nicht den normalen Kammern glich,
die ein Hauer vor Ort aus einem Kohlenflöz herausschlagen konnte. Vor ihnen zeigte sich
eine unregelmäßige, gezackte Öffnung, und durch diese Öffnung fiel das weiche, gelbe Licht,
das so ganz anders war als eine grellweiße Helmlampe.
Ihre Retter drängten sie zum Tunnel, und den krochen sie nun entlang. Immer war um sie
diese gelbe Lichtstrahlung, die aus der glänzenden Kohle zu brechen schien. Wilkie hatte sich
wirklich außerordentlich bemüht, sich erstklassige Kenntnisse im Bergwerkswesen
anzueignen, aber er hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie sich bewegten. Polak schien
es intuitiv zu wissen.
Ihr Abbaugerät hatte in einem Winkel von sechs Grad zum Hauptstollen gearbeitet, aber dieser Tunnel hier war ohne Rücksicht auf die Gesteinsschichtung gerade durchgetrieben worden, so daß die eine Wand aus Kohle, die andere aus Fels bestand. Nun wurde die Luft plötzlich kälter. „Wir scheinen aber nicht nach oben zu gehen“, sagte Wilkie besorgt. „Ein verdammtes Glück, daß der Tunnel wenigstens breit genug für einen Mann ist“, sagte Polak und stieß mit dem Kopf an ein herausstehendes Kohlenbrett. Weiter vorn im Tunnel zogen sich diese gnomenhaften kleinen Männer zurück. Sie schienen den Weg zu den beiden Eingeschlossenen freigelegt zu haben und kehrten nun an die Oberfläche zurück. Der gelbe Lichtschein vor ihnen war ein breiter Lichtstrahl, der durch ein zerklüftetes Loch im Boden fiel. Die kleinen Männer sprangen nacheinander durch diese strahlende Säule. Wilkie schluckte heftig, wurde von Polak angestoßen und sprang. Er landete wie ein Frosch auf einem festgestampften Boden. Am Rande seines Gesichtsfeldes bewegte sich etwas. Schatten huschten durch die Höhle, Hände zogen ihn auf die Füße. Er blinzelte ins Licht, das von einem riesigen, pulsierenden Kristall ausging. Das konnte er jetzt endlich feststellen. Er kniff die Augen zusammen. Und noch immer konnte er nicht glauben, was er sah. Jenseits des pulsierenden Riesenkristalls öffnete sich die Höhle weit zu einer riesigen kathedraleähnlichen Säulenhalle. Die Männer trippelten vor ihm her und machten ihm den Weg frei. Wie ein in Licht gebadetes Standbild starrte die Frau in Weiß rätselhaft auf die beiden hinunter. J. T. sah das schneeweiße Kleid, die hochaufgetürmten dunklen Haare, in denen Edelsteine funkelten, sah das sanfte, weiße Gesicht mit dem Rosenknospenmund und sah auch,
allerdings ohne zu verstehen, das komische menschenähnliche Wesen, das schnatternd und
bibbernd am Ende einer glitzernden Silberkette herumtanzte. Ja, er sah das alles; glauben
konnte er es jedoch nicht.
„Ich weiß, daß du J. T. Wilkie bist“, sagte sie mit sirupsüßer Stimme. „Den anderen kenne ich
allerdings nicht. Willkommen, J. T. Wilkie. Ich habe dich aus einer Bergwerkskatastrophe
gerettet, und jetzt schuldest du mir dein Leben.“
Und so etwas passierte unter einer Kohlenmine?
So tief in den Eingeweiden der Erde?
Nein. J. T. Wilkie schüttelte nachdrücklich den Kopf. Nein, ihm war sicher nur ein riesiger
Kohlenbrocken an den Kopf geflogen, und er hatte Halluzinationen oder einen Alptraum.
Oder er mußte tot sein...
3.
„Ich bin die Contessa Perdita Francesca Cammachia di Montevarchi“, sagte die Frau. „Ihr könnt mich Contessa nennen.“ Sie zerrte an der silbernen Kette. J. T. schloß die Augen. „Du träumst nicht, J. T.“, fuhr die Frau fort. „Das ist alles wirklich, und es geschieht tatsächlich. Komm jetzt, denn wir haben eine weite Reise vor uns.“ Er hörte auch einen Mann sprechen, aber die zischenden, grunzenden und knarrenden Geräusche, die er von sich gab, verstand Wilkie nicht. J. T. öffnete die Augen. Der Mann trug ein blaues Hemd zu einem Lendenschutz, und an seinem breiten Ledergürtel hingen zahlreiche Waffen.
Die Contessa gab eine recht barsche Antwort, und das halbgezogene Schwert des Mannes fiel
klirrend in die Scheide zurück.
„Und wer ist der da?“ fragte die Contessa mit süßer Stimme.
„Ich bin Polak.“ Der große Polak drängte sich nach vorn.
„Du kannst uns begleiten. Jetzt aber vorwärts!“
Sofort marschierten alle durch die Höhle. Der glühende Kristall, der, wie Wilkie erstaunt
feststellte, nicht aufgehängt zu sein schien, schwebte ihnen durch die Luft nach.
Er zuckte davor zurück. Zum Teufel, das war doch nicht möglich!
Polak stieß ihn an. „Das ist ein Weib, J. T.!“
„Hm. Klar. Ein komischer Traum, was?“
„Ich glaub' nicht, daß das ein Traum ist, verdammt noch mal.“
Sie eilten voran. Die Höhle war ganz plötzlich zu Ende, und alle blieben stehen. Sie sahen
erwartungsvoll drein.
„Da geht doch kein Weg durch“, stellte Polak fest.
„Eine Dame, die einen Weg in eine Kohlenmine hinunter findet, weiß auch einen Weg aus
einer Höhle“, fauchte J. T. Wenn das alles echt war, dann mußte er es, verdammt noch mal,
auch so hinnehmen, als sei es echt.
„Und was jetzt, Contessa?“ fragte er.
Sie lächelte. Ein paar Trolle zuckten zusammen. Das bemerkte sie.
„Die Erinelds wissen, wann sie zu graben und wann sie zu verschwinden haben. J. T., du
scheinst Humor zu besitzen.“
„Wenn man da durchgraben will, braucht man Maschinen“, stellte Polak fest und schaute die
Frau herausfordernd an.
Sie starrte zurück. „Wir nehmen... einen anderen Weg.“ Sie zerrte heftig an der Kette.
„Soloman! Schicke uns durch! Zuletzt den Kristall.“
Er hüpfte herum, plapperte, blieb dann stocksteif stehen, als habe ihn eine Lähmung befallen.
J. T. Wilkie hätte schwören mögen, daß vor einem Augenblick noch viel mehr von diesen
kleinen braunen Männern, den Erinelds, dagewesen waren. Es schienen immer weniger zu
werden.
„Es war ungeheuer schwierig, ein Portal zu finden, das unmittelbar neben einer irdischen
Mine lag“, erklärte die Contessa. „Oh, natürlich gibt es etliche in West und Ostdeutschland,
auch ein paar in Ungarn und etlichen anderen eurer Zwergstaaten, aber in eurem Teil der
Welt...“ Fast verlegen schwieg sie.
Ein Erineld, der nur ein paar Meter von Wilkie entfernt dagestanden hatte, verschwand.
J. T. sperrte vor Staunen Mund und Augen auf. Ein weiterer Erineld ging an den Fleck, an dem vorher der Verschwundene gestanden hatte,
und ehe noch sein zweiter Fuß den Boden berührte, war auch er lautlos verschwunden. Und
dann verschwand auch der Mann mit dem blauen Lendenschutz.
„Jetzt du, Polak.“
Die Contessa deutete. Wie in einem Traum trat Polak einen Schritt vor und war weg.
„Das ist doch unglaublich“, murmelte J. T.
Er ging zu dem Fleck, auf dem vorher Polak gestanden hatte. Und dann befand er sich im
tiefen, üppigen Gras eines breiten Tales. Einen Moment später standen die Contessa und die
kleine Kreatur, die sie Soloman nannte, neben dem Kristall. Der Mann im blauen
Lendenschurz schrie etwas und gestikulierte heftig. Wilkie schaute in die Richtung, in die er
wies. Winzige schwarze Punkte zeigten sich auf den Höhen um das breite Tal und hoben sich
deutlich vom brennenden Himmel ab.
„Palachi“, stellte sie fest. Soloman schnatterte und zitterte, und sein riesiger Kahlkopf glänzte vor Schweiß. Diese schwarzen Kleckse ängstigten die, Erinelds, die sich zusammendrängten und mit hohen, schrillen Stimmen quiekten.
„Wir müssen uns beeilen, damit wir durch die Dimensionen kommen“, rief die Contessa und
rüttelte an der Kette.
Soloman hüpfte vor den anderen her, und der Kristall, dem jetzt kein Lichtschein mehr
entströmte, machte den Schluß. Soloman schniefte. Die Contessa trieb den Kleinen mit
Worten an, die diesen zusammenzucken ließen. Wilkie verstand allerdings nichts davon.
Etwa hundert Meter talaufwärts blieb Soloman stehen.
Wieder begannen die Erinelds zu verschwinden.
Und so, wie die Erinelds verschwanden, wurden die schwarzen Kleckse an den Talhängen
größer. Wilkie stellte fest, daß sie auf die schnell verschwindende Gesellschaft zuhielten.
Umrisse ließen sich nicht erkennen, aber es ging eine so eindeutige Drohung von ihnen aus,
daß die kleinen Männer immer schneller nacheinander verschwanden. Er war direkt froh, als
er die Erde unter sich schwanken fühlte; und dann fiel er auf rauhen Fels und Schotter. Um
ihn herum waren zerklüftete Berge, deren Gipfel unter dicken Schneehauben lagen. Die
Flanken waren Gletscherströme, die sich in Talnähe wie Fächer ausbreiteten.
Es war unbeschreiblich kalt. Sie machten sich alle wieder auf den Weg, diesmal auf einen
Gletscher zu.
Endlich blieb Soloman am Fuße eines Gletschers stehen.
„Ich habe, wie du siehst, viel Mühe aufgewendet, um dich vor einem sicheren Erdentod zu
bewahren“, sagte die Contessa freundlich.
„Ich bin auch wirklich sehr dankbar dafür, Contessa. Aber... Vorausgesetzt, das ist alles
wirklich könnten wir nicht aus dieser entsetzlichen Kälte heraus? Ich erfriere ja noch.“
Sie lachte, und ihre Heiterkeit erschien ihm etwas unangebracht.
„Das ist alles wirklich. J. T. Wir nehmen unseren Weg quer durch die Dimensionen und
kehren in mein eigenes Land Irunium zurück. Dort können wir ausruhen und uns erholen.
Aber jetzt...“ Sie zerrte brutal an der Kette, und Soloman quiekte. „Bring uns durch, Kleiner.
Aber schnell!“
„Dimensionen?“ wiederholte Wilkie verständnislos.
Diesmal glitten sie einzeln durch, und als Wilkie an der Reihe war, blinzelte er nicht einmal.
Allmählich gewöhnte man sich auch an die ausgefallensten Dinge.
Um ihn herum war lachendes, sonnengetränktes Land mit einer Atmosphäre, die sich von
dem vorigen Tal mit den schwarzen Klecksen deutlich unterschied. Zwischen grünen Hügeln
lagen Flecken dunkler Wälder, und hoch am strahlenden Himmel schwammen weiße Wolken.
Die Luft roch sehr süß.
Polak holte tief Atem. Er entdeckte einen Fluß.
„Ich könnt's ja wirklich vertragen, daß ich mir den Kohlenstaub vom Körper wasche“, sagte
er.
Die Erinelds waren jetzt nicht mehr so aufgeregt, sondern unterhielten sich schnatternd. Der
Mann mit dem blauen Lendenschurz warf sich in das Gras, riß einen langen Stengel ab und
begann nachdenklich zu kauen.
Die Contessa nickte. „Das nächste Tor ist ein Stück weit weg. Die Schiffe werden bald hier
sein.“
„Schiffe?“ wiederholte Wilkie. „Tore? Dimensionen?“
Sie lachte, und es klang wie ein silbernes Glöckchen. Wilkie fand sie sehr attraktiv.
„Du wirst bald alles verstehen, J. T. Meine Agenten auf der Erde waren in der Lage, von New
York aus direkt nach Kanada zu gelangen. Ich konnte dich auf diesem Weg allerdings nicht
sofort nach Irunium bringen. Wir mußten ganz außen herum.“
„Und das wohl deshalb, weil wir unten in der Grube waren?“ fragte der kluge J. T. Wilkie.
Ihr Rosenknospenmund wirkte in der Sonne noch röter als sonst. „Vergiß nicht, J. T., daß du
unten in einem eingestürzten Stollen eingeschlossen und damit praktisch schon tot warst. Die
Rettungsmannschaften waren noch nicht einmal bis zum Hauptstollen gelangt.“
„Sie werden es aber versuchen“, meinte Wilkie nachdrücklich. Aber dann wußte er, daß er einfach glauben mußte, was er hier erlebte; daß sie durch die Dimensionen hierhergekommen waren; daß sie die Old Smokey und die ganze Grubenkatastrophe auf der Erde zurückgelassen hatten; daß sie sich an einem seltsamen IRGENDWO befanden. Klar, das mußte er glauben. Er mußte einfach. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, wie ein Explosionsknall, so daß er den Kopf einzog und den Atem anhielt. „Du weißt doch, J. T., daß der Stollen, in dem du verschüttet warst, sehr tief unter der Erdoberfläche lag. Wir sind durch diese Dimensionen gekommen, deren Oberfläche höhenmäßig etwa der Tiefe des Minenschachts entsprechen. Sonst wären wir in meinem Land herausgekommen, und zwar festgebacken irgendwo tief in der Erde. Ich veranlasse Soloman, eine relativ einfache Route herauszusuchen, soweit es sich um natürliche Gegebenheiten handelt. Alle diese Dimensionen haben Ähnlichkeit mit Irunium, also auch mit der Erde. Ich habe eine riesige und unbeschreiblich schöne Karte von den Dimensionen, und aus der entnehme ich meine Kurse.“ Sie kicherte. „David Macklin würde seine Seele für diese Karte verkaufen!“ „Wer...?“ Wilkies Kopf fuhr in die Höhe. Doch sie sprach weiter: „Du hast also von unnatürlichen Dimensionen nichts zu fürchten, auch nicht von schaukelndem Boden, von Lavameeren oder verzerrten Zeitabläufen oder ähnlich unangenehmen Dingen. Schau mal, die Schiffe kommen!“ Polak kam zurück, als Wilkie sich aufrappelte. An dem riesigen Bergmann lief überall noch das Wasser herunter. Jetzt sah er wenigstens wieder so aus, wie er wirklich war: fleischig, mit kräftigen Muskeln und einem jetzt nassen, wilden Haarschopf, in dessen dunkler Fülle Wassertropfen funkelten. „Junge, wasch dich mal“, sagte er. „Ein bißchen Wasser macht wieder einen Mann aus dir.“ „Schau mal, Polak“, antwortete Wilkie und deutete. Wie Zubringerboote eines vor Anker liegenden Ozeanriesen kamen sie an. Wilkie sah keine Tragflächen, keine Propeller, keine Segel, keine Jets. Jedes Schiff sah so aus, als sei es nur ein ziemlich viereckiger, hinten abgerundeter Rumpf mit Aufbauten auf den oberen Decks. „Also, solche Flugzeuge habe ich bisher ja wirklich noch nie gesehen“, erklärte Polak und rieb sich dabei sein nasses Haar trocken. „Es sind auch keine Flugzeuge“, begann J. T. Wilkie, der es ja wissen mußte. „Sie sind...“ Er wußte nicht, was sie waren. „Schiffe“, sagte die Contessa. Jeder Rumpf war etwa achtzig Meter lang, und alle Schiffe hatten hohe Decksaufbauten. Es waren acht Schiffe, bunt bemalt und vergoldet, mit flatternden Fähnchen und Fahnen. Wilkie vermochte sich kaum von diesem faszinierenden Anblick loszureißen. Schließlich folgte er doch Polaks Vorschlag, ging hinunter zum Fluß, sprang hinein, prustete und strampelte und wusch sich so gründlich, wie es ohne heißes Wasser und Seife nur möglich war. Dann schlüpfte er schnell wieder in seine Grubenkleider und eilte zur Gruppe zurück. Das Führungsschiff, das noch immer rund hundertfünfzig Meter über dem Boden hing, hatte an einem Seil einen geflochtenen Korbkäfig heruntergelassen. Die Erinelds wurden paarweise hinaufgezogen. Polak folgte allein, und Wilkie kam mit dem Mann im Lendenschurz an die Reihe; seinem Gefährten schien diese luftige Fahrt gut zu gefallen. Er sagte etwas zu Wilkie, dessen dunkle Hintergründigkeit Wilkie kalte Schauer über den Rücken jagte. Über einen ausgefahrenen Ladebaum schwang der Korb auf Deck. J. T. Wilkie verließ ihn und stand auf dem Hauptdeck des Schiffes. Dort hatten sich zahlreiche Männer versammelt, die die Ankunft der Fremden beobachteten. Alle waren recht bunt und uneinheitlich gekleidet; etliche trugen lederne Hosen, andere
Hemden mit offenen Kragen, aber fast alle hatten irgendeine Waffe am Gürtel hängen. Sie
sahen fröhlich aus, lachten und machten auf Wilkie einen recht angenehmen Eindruck.
Als die Contessa kam, war die ganze Fröhlichkeit schlagartig zu Ende.
Die Frau würdigte die Mannschaft keines Blickes und schwebte majestätisch nach achtern zur
Kajüte.
Der Mann im blauen Lendenschurz schob Wilkie vor sich her. Er musterte das Schiff, die
Mannschaft und die Schnauzen der Geschützstände an den Breitseiten. Als sie das
Achterschiff erreichten, betraten sie eine niedrige Kabine, die mit Bänken und Tischen,
Diwans und Schränken ausgestattet war, und alles war solideste Handwerksarbeit.
Die Contessa blieb unten an einer Treppe stehen. Es handelte sich um eine richtige Treppe
und keine Leiter wie sonst auf Schiffen.
„Ich brauche Ruhe und Erfrischungen, ehe wir unseren Bestimmungsort erreichen“, sagte sie.
„Charnock wird sich um dich kümmern.“
Wilkie starrte sie verständnislos an, und sie warf ihm einen ziemlich ungehaltenen Blick zu.
Mit dem Mann im blauen Lendenschurz redete sie ein paar rasche, unverständliche Sätze. Er
nickte. Die Contessa schwebte hochmütig die Treppe hinauf, und Soloman hoppelte am Ende
der Silberkette hinter ihr drein.
Der Mann in Blau schrie einem Erineld etwas zu, der einen Packen auf den Schultern trug.
Diesen Packen öffnete der Mann und nahm eine flache Holzkiste mit Messingschlössern
heraus. Aus dieser Kiste fischte er ein Band, das aus flammenden Juwelen zu bestehen schien.
Dieses Band drückte er Wilkie in die Hand, rammte es auf Wilkies Kopf und drückte ihm die
Enden in die Ohren. Die Juwelen verschwanden fast ganz in seinem Haar.
„Beim Schwarzen Naspurgo persönlich, willst du jetzt Wein oder Wasser?“
Wilkie riß vor Staunen den Mund auf und verschluckte sich dabei. Seltsam, dieses
Juwelenband hatte übersetzt, was der andere sagte. Also konnte er jetzt wenigstens mit dem
Fremden reden. Und nun konnte er, als die Stimmen von allen Seiten auf ihn einbrandeten,
sogar verstehen, was die Mannschaft redete, was die Erinelds sagten - er konnte sich mit
ihnen sogar verständigen.
„Ich ...“, stotterte er. „Wein, glaube ich.“
Dieser Mann in Blau mußte also Charnock sein.
„Und hör mal, Bergmann, die Schiffe haben wir deshalb geholt, weil wir nicht wissen lassen
wollten, daß wir durch die Dimensionen gekommen sind. Verstehst du? Du wirst also mit der
Mannschaft nicht darüber sprechen.“
„In Ordnung.“
„He, J. T.“, schrie Polak. „Kannst du verstehen, was der Kerl da quatscht?“
„Ja, Polak. Aber frage mich nur nicht, wieso. Es ist Wein unterwegs.“
„Ah, das ist ja fein!“
Durch eine Innentür kam ein Mädchen mit einem Silbertablett auf sie zu. Die Flasche auf dem
Tablett war vielversprechend bereift. Drei Gläser standen dabei. Charnock nickte zufrieden.
Er nahm die Flasche am Henkel und goß die Gläser ein.
Wilkie musterte das Mädchen.
Sie hatte ein junges, frisches Gesicht, sah gesund und munter aus, aber nicht besonders
intelligent.
Polak nahm sein Glas und leckte sich die Lippen. Er hob es. „Na schön“, meinte er, „dann
trinken wir halt auf die Contessa.“
„Auf die Contessa“, sagte auch Wilkie und nippte.
Ehe Charnock noch etwas bemerken konnte, wurden sie von einem lauten, erregten Geschrei,
das von draußen kam, abgelenkt.
„Schiffe!“ schrie eine Stimme. „Schiffe! Es sind die verdammten Corforan!“
Sofort war das Schiff ein Hexenkessel.
Charnock goß das Getränk in sich hinein und zog sein Schwert. Sein Gesicht war wild und
kampflüstern.
„Jetzt haben wir den Salat“, stellte er fest. „Die Contessa wird sich freuen!“
4.
Alle liefen auf Deck durcheinander. Die Mannschaft schien in Verwirrung hin und her zu rennen, aber wenige Augenblicke später stellte Wilkie fest, daß jeder Mann an seinem Platz war. Einige zogen die geflochtenen Seile auf, welche die Bogen spannten; andere kamen mit ganzen Bündeln von Pfeilen an, deren scharfe Spitzen mit Widerhaken versehen waren. Wieder andere Männer streuten überall Sand, schleppten Eimer und säuberten die Decks von Taurollen und herumliegendem Holz. Das Schiff machte sich kampfbereit. „Herrjemine“, sagte J. T. Wilkie zu sich selbst. Links und rechts, vor und rückwärts, unter und über ihnen zeichneten sich klar und deutlich die furchtbaren, schwebenden Schatten von zehn Schiffen ab. Sie hielten genau auf den Bug jenes Schiffes zu, auf dem Wilkie sich befand. Neben ihm atmete jemand schwer. Wilkie drehte sich um und sah Polak, der mit einer lächerlichen Stahlkappe auf dem Kopf neben ihm stand und ein riesiges Schwert vom Typ Hirschfänger in der Faust hatte. „Bei allen Heiligen, ich werde den Kampf genießen'„ röhrte Polak. Die feindlichen Schiffe hatten sich nun zu einer Linie formiert, die im hellen Sonnenschein der anderen Linie entgegensegelte. Bald mußte also der Feind - die minderwertigen, abscheulichen Corforan - die Bogen spannen. „Kann denn der alte Seelenverkäufer nicht ein bißchen mehr Geschwindigkeit rausholen?“ erkundigte Wilkie sich höflich. Charnock würgte eine Antwort hinunter und suchte krampfhaft nach einer freundlicheren, ohne jedoch den Feind aus den Augen zu verlieren. „Ich hätte fast vergessen, daß du von der Dimension Durostorum ja nichts weißt. Das Geheimnis jener Kraft, welche die Schiffe antreibt, ist nur wenigen bekannt; aber jeder weiß, daß sie immer hundertfünfzig Meter über dem Boden schweben und immer mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Meilen pro Stunde fliegen müssen. Das sind die von der Wissenschaft vorgeschriebenen Gesetze, gegen die niemand verstoßen darf.“ „Dann können wir also nicht über den Feind kommen und Steine auf die Schiffe hinunterwerfen?“ „Nein. Deshalb haben wir ja auch den Turm.“ Charnock deutete auf den Mittelpunkt des Schiffes. Hier errichteten Männer einen Turm aus Holzlatten, den sie über Winden und mit langen Seilen gegen die Sonne aufrichteten. Ganz oben hatte der Turm eine Plattform mit Schanzkleid, in deren Boden sich zwei große Löcher befanden. „Bogenschützen verschießen von diesen luftigen Schießscharten aus ihre Pfeile“, erklärte Charnock grimmig. „Und Steine werden geworfen. Aber der Feind tut das alles auch.“ Die Türme auf den feindlichen Schiffen waren bereits errichtet, und Wilkie sah, daß sich oben auf den Plattformen viele Männer drängten. Ganze Körbe mit Steinen wurden hinaufgezogen, um die Leute mit Munition zu versorgen. Er schluckte heftig. „Vielleicht wäre es eine ganz gute Idee, wenn ich einen Helm finden könnte“, meinte er betont lässig. „Oder vielleicht sogar eine Rüstung?“ Polak musterte ihn. „Oder wenn es nur ein kräftiges Lederwams wäre...“ Polak grunzte.
„Oder könnte ich mir wenigstens deinen Grubenhelm ausborgen, Polak? Du hast ja dieses
Ding da.“
Ein unvermitteltes, ungeheuer lautes PÄNG unterbrach ihn. Er sprang in die Höhe, als habe er
Feuer unter den Sohlen. Im dicken hölzernen Schanzkleid vor ihm steckte ein federnder Pfeil,
dessen metallene Spitze ihn durch das Holz hindurch hämisch angrinste.
„Was, zum Teu...“
„Sie haben zu schießen angefangen“, schrie Charnock.
Und jetzt war die Luft mit Pfeilen angefüllt. Männer schrieen und starben. Über den Lärm
hinweg wurde ein Befehl gebrüllt, und im nächsten Moment waren alle Kampfstellungen
besetzt.
Und dann sausten auch schon die Pfeile zu den Schiffen der Gegner hinüber. Man
revanchierte sich.
Wilkie hüpfte wie ein siegreicher Indianer herum. „Das hat gesessen! He, das hat ihnen aber
jetzt nicht gepaßt!“
„Da kommt schon die nächste Breitseite.“
In diesem Augenblick großen emotionellen Einsatzes trippelte ein Erineld heran. Das
viereckige braune Gesicht war von Angst gezeichnet. , „Die Contessa sagt, du mußt sofort
hineinkommen! Sofort“, sagte er quäkend. „Hörst du nicht? Sofort sollst du hineinkommen!“
„Oh, alle Heiligen und sämtliche Spitzbuben, ausgerechnet jetzt, wo sich was rührt?“ tat
Polak empört. „Jetzt haben wir Vater und Mutter eines Kampfes auf einen Schlag!“
„Beim Schwarzen Naspurgo“, krächzte Charnock. „Wir müssen gehen. Aber der Kampf... die
Schiffe ...“
„Paß mal auf“, meinte der diplomatische J. T. Wilkie, als die zweite Pfeilbreitseite an ihnen
vorbeisirrte und feindwärts flog, „vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, jetzt in Deckung
zu gehen.“
Sie traten dem Erineld fast die Fersen ab, als sie ihm zum Achterdeck folgten. Die Contessa
empfing sie in höllischer Laune.
„Ihr seid doch unglaubliche Narren! Ihr unerträglichen Idioten!“ kreischte sie. „Habe ich
dich, J. T. Wilkie, durch so viele Dimensionen aus diesem tiefen Grubenloch geholt, damit du
jetzt in einem so blöden Scharmützel auf den Schiffen von Durostorum verkommst? Du bist
ja wahnsinnig!“
„Aber, Contessa“, redete ihr J. T. beruhigend zu. „Nun fassen Sie sich doch wieder...“
„Es sind die Corforan, die uns angegriffen haben, Contessa“, erklärte Charnock, und sein
böses, braunes Gesicht strahlte vor Kampfesbegierde. „Wir müssen doch...“
„Du mußt gar nichts, was ich dir nicht eigens und ausdrücklich sage! Ich weiß, Charnock, daß
du aus Durostorum bist, selbst wenn du nicht von den Besatzungen dieser Schiffe kommst,
aber du darfst niemals vergessen, daß du zu meiner Leibgarde gehörst und sogar ein hoher
Offizier bist! Und solltest du es je vergessen ...“ Mehr sagte sie nicht.
Charnock verlor ganz plötzlich alle Kampfeslust und schrumpfte zusammen. Sein braunes
Gesicht färbte sich grau.
„Jawohl, Contessa“, murmelte er. „Nein, Contessa, ich vergesse es ganz bestimmt nicht.“
„Soloman holt uns schon hier heraus. Wir nähern uns einem Portal, das uns nach Myxotic
bringt. Es ist ja keine sehr angenehme Dimension, aber von dort aus kommen wir weiter und
sind dann auch schon auf dem Weg nach Irunium. Ah, wie sehne ich mich danach, wieder in
meiner eigenen, fröhlichen Dimension zu sein!“
„Jawohl, Contessa“, murmelte Charnock unterwürfig.
„Moment noch“, sagte Polak, der jener für ihn ziemlich einseitigen Konversation gefolgt war.
„Heißt das, daß wir davonlaufen wollen? Daß wir denen da draußen den ganzen Kampf allein
überlassen? Die Feinde sind in der Überzahl, wissen Sie. Zehn zu acht. Und...“
Sie richtete sich hoch auf, und ihr Busen wogte. Ihre Augen funkelten.
„Was du tust, Polak, ist deine Sache“, rief sie. „Aber Soloman hier ist der einzige Porteur
tausend Meilen im Umkreis, sogar auf ganz Durostorum, wenn ich genau unterrichtet bin.
Und ich bin unterrichtet! Wenn du hierbleiben willst gut, dann bleibst du aber für immer hier.
Ich will ja nur J. T. und nicht dich.“
„Komm, Polak“, meinte Wilkie erschreckt. „Komm, es ist ja nicht unser Krieg. Wir bleiben
wohl besser bei der Contessa.“
„Ich gebe in einem Kampf nicht gerne Fersengeld, aber...“
„Gut. Abgemacht.“ Sie drehte sich um. „Solange du für mich arbeitest, Polak, denke lieber
daran, daß ich die Herrin hier bin.“
Polak kratzte sich den Schädel. Was sollte er auch sonst tun?
In der Kabine drängten sich die Erinelds und quiekten. Als die Contessa eintrat, schwiegen
sie. Charnock, Polak und Wilkie stellten sich zu ihnen. Soloman versteifte sich, und sein
Blick wurde starr.
„Mache es gut und schnell, Kleiner“, mahnte die Contessa.
Er nickte, dann wurden seine Augen blicklos; sein Körper zitterte und versteifte sich wieder.
Die Erinelds begannen zu verschwinden, einer nach dem anderen.
Es ging sehr schnell. Über Solomans kahlen Schädel lief der Schweiß. Polak verschwand,
Charnock verschwand, und schließlich fand sich Wilkie irgendwie in der Luft hängen.
Riesige Herden aus langen, grauen Rücken schwankten und schaukelten vorbei. Er
klammerte sich an die Reste eines zersplitterten Baumstamms und krallte sich in das morsche
Holz.
Polak hing neben ihm.
Die Contessa schwebte mehr oder weniger mit dem kreischenden Soloman an der Silberkette
über der röhrenden Flut graurückiger Ungeheuer und schrie ununterbrochen Warnungen und
Drohungen. Die Erinelds stützten sie und hielten sie auf einem morschen Floß fest; sie fanden
aber selbst kaum Boden unter den Füßen.
Allmählich sah Wilkie, daß die grauen Ungeheuer Schweinchenaugen hatten. Er sah ihre
Stoßzähne und die starren Bärte.
Sie klammerten sich weiter an ihren morschen Baumstamm. Selbst J. T. Wilkie sah ein, daß
es hier keinen Weg zurück gab.
Irgendwo brach dann das Floß auseinander, und die Stämme wurden wie Zündhölzer
zerknickt. Charnock, der auch um sein eigenes Leben Angst hatte, griff zu und half den
quiekenden Erinelds, die Contessa zu stützen. Soloman wurde in die Höhe gezogen und
klammerte sich wie ein nasses, frierendes Äffchen an die anderen.
Nach zwei Stunden Todesangst ließ die Flut der grauen Rücken nach; sie wurde immer
dünner und hörte endlich ganz auf.
„Wahhh!“ machte Polak.
„Das kannst du ruhig noch mal sagen“, pflichtete ihm J. T. bei.
5.
Obwohl J. T. Wilkie schon längst beschlossen hatte, alles zu glauben und für wirklich zu halten, was er erlebte, tat er einen abgrundtiefen Seufzer der Erleichterung, als die Helikopter zur Landung ansetzten. Sie hatten das wenig gastfreundliche Land Myxotic verlassen, drei weitere seltsame, spukhafte und unglaubliche Anderswelten und Dimensionen gekreuzt und erreichten nun eine weite Grasebene, auf der eben die italienischen Hubschrauber gelandet waren.
Der Flug in südlicher Richtung war ziemlich schnell, doch auch recht langweilig. Dann landeten sie in einem Gebiet von Irunium, das, wenn Polak mit seinen Berechnungen richtig lag, in ihrer eigenen Dimension der Insel Manhattan entsprach. „Jawohl, J. T.“, gab auch die Contessa zu, die mit Soloman neben ihm stand. „Da, wo wir jetzt sind, liegt New York. Aber selbst wenn du es dein Leben lang versuchtest, du könntest niemals in diese andere Dimension überwechseln. Du müßtest entweder ein Porteur sein oder das Lebensportal der Porvone besitzen ...“ Sie brach abrupt ab, als sie Charnocks scharfe Reaktion bemerkte, und lachte zornig. „Ich weiß, Charnock, daß man die Porvone mehr zu fürchten hat als die schlimmsten Foltern, die sich die Menschheit ausdenken kann, aber sie sind ja jetzt nicht da. Reiße dich zusammen, Mensch!“ Charnock murmelte eine Antwort. Sie gingen auf eine lange, zerklüftete und gezackte Mauer zu, die von der Abendsonne vergoldet wurde. Dahinter erhoben sich Türme, Türmchen und Minarette, und auf den Wällen gingen Wachen die Runden. Wilkie fühlte bleierne Müdigkeit in seinen Gliedern. Man hatte ihm ein Bad, Essen und ein Bett versprochen, das war alles, was er sich im Augenblick wünschte. Später, beschloß er, würde er sich wieder mit anderen wichtigen Dingen beschäftigen. Die kleine Stadt duckte sich an den Rand einer weiten Grasebene. Ein Fluß schlängelte sich daran vorbei. Innerhalb der Mauern herrschte Schweigen. „Man wird dir deine Wohnung zeigen, J. T.; Polak kannst du, wenn du willst, bei dir behalten. Auch er wird mir nützlich sein können.“ Die Contessa lächelte, als ein kleiner Elektrokarren mit dicken Ballonreifen lautlos heranfuhr. Sie zeigte nicht die geringste Spur von Müdigkeit, als sie sich setzte. Soloman legte ihr seinen großen Kopf auf den Schoß und schlief sofort ein. „Ich werde sofort alles in Auftrag geben, was du brauchst. Man wird dir eine Anzahl von Mädchen schicken, unter denen du deine Wahl treffen kannst. Aber vergiß nie, daß du mir dein Leben verdankst, deine Existenz, alles! Und jetzt gute Nacht.“ Der Elektrokarren verschwand lautlos in der Dunkelheit. „Mädchen?“ fragte der erstaunte, erschöpfte Wilkie. „Da ist irgendwo ein Hund begraben“, meinte Polak mißtrauisch. Finster und nachdenklich musterte er die schlafende Stadt. „Wahrscheinlich, Polak. Aber Mädchen hat sie gesagt!“ Polak lachte heiser. „Weißt du, Kleiner, ich geb's ja nicht gern zu und dir gegenüber am allerwenigsten, aber ich meine, nach alldem, was wir hinter uns haben, bin ich nicht allzusehr davon überzeugt, daß ich...“ „Ja“, meinte Wilkie enttäuscht. „Mir geht's ähnlich.“ Lachend, wie betrunken vor Müdigkeit und Erleichterung stolperten sie hinter Charnock drein. Er führte sie durch riesige, halbdunkle Räume zu einer reizenden, behaglichen Suite, von der aus man den Fluß sah. Charnock zeigte ihnen, wo alles war, und dann zog er sich zurück. „Du bist in Irunium jetzt ein sehr wichtiger Mann, J. T.“, bemerkte er unter der Tür. „Die Contessa ist hier absolutes Gesetz. Vergiß es nicht, denn es ist ungeheuer wichtig, viel wichtiger als alles andere. Gute Nacht.“ „Nacht“, antwortete Wilkie und gähnte herzhaft. „He, und was ist mit den Mädchen?“ rief er ihm nach. Aber die Tür war schon geschlossen. „Das Dingsda, das du da in deinem Haar hast, J. T., ist verdammt nützlich“, sagte Polak. „Erinnere mich doch morgen früh daran, daß ich mir auch eines besorge.“ „Okay, Polak.“ Sie badeten in warmem, parfümiertem Wasser und aßen herrliche Früchte, wohlschmeckendes Brot mit Butter und tranken ziemlich viel von dem feurigen Wein. Dann legten sie sich nieder.
„Schön. Wir sind jetzt in Irunium“, stellte Polak fest. „Ich möchte nur wissen, wofür dich die Contessa hier braucht. Was meinst du?“ Aber diese faszinierende Frage ließ Wilkie kalt, denn er schlief bereits fest. Am folgenden Morgen duschte er in einem erlesen schönen, modernen Badezimmer. Das Frühstück wurde von einem Burschen in einer Art grauer Livree gebracht und bestand aus knusprigem Brot und goldener Butter, aus Eiern und Schinken, Toast, Marmelade und Kaffee. Anschließend wurden sie von einem ausgeschlafenen Charnock in frischem blauen Anzug zum privaten Audienzzimmer gebracht. Zu dem blauen Anzug trug Charnock jetzt einen scharlachfarbenen, spitz zulaufenden Hut. Er stand ihm, und die Feder fügte eine arrogante Note hinzu. Sie kamen in den Hallen an anderen, ebenso gekleideten Männern vorüber, aber keiner hatte einen solchen scharlachfarbenen Hut auf; die anderen hatten sich scharlachfarbene Tücher um den Kopf gebunden, und von ihren spitzen Ohren schwangen goldene Glöckchen. „Das ist die Leibgarde der Contessa“, erklärte Charnock. „Und ich habe die Ehre, ihr als Captain anzugehören.“ „Prima, Charnock“, sagte J. T. Wilkie. „Und wann bekomme ich ein solches Translatordingsda?“ wollte Polak wissen. Wilkie gab dieses Begehren weiter. „Nun, darüber weiß ich gar nichts“, antwortete Charnock ein wenig zweifelnd. „Die Contessa hat dazu keine Anweisung gegeben.“ Polak zupfte ständig am Kragen seines neuen grauen Hemdes herum. Sie hatten die Kleider angezogen, die man ihnen gebracht hatte, denn die alte Grubenkleidung war viel zu schmutzig gewesen. Jetzt trugen sie beide graue Hemden und Hosen und gräßlich zweifarbige Schuhe mit aufgebogenen Spitzen. Die Unterwäsche war aus Nylon und stammte von einem sehr bekannten amerikanischen Werk. „Wenn wir bei der Contessa sind, fragen wir wegen des Translatorbandes“, sagte Wilkie zu Polak. Sie wurden durch Hallen, Korridore und über lange Treppen geführt und kamen an vielen Männern vorbei, die mittelbraune Hemden und Hosen trugen und an den Füßen ebenfalls diese scheußlichen zweifarbigen Schuhe hatten. Es entging Wilkie auch nicht, daß an ihren Hüften schwere Automatiken hingen. Sie sahen auch Männer und Frauen in grauen Jacken und Hosen oder Röcken und Blusen; diese Leute trugen keine Waffen, und statt Schuhen hatten sie Sandalen an den Füßen. Sie sahen ruhig, in sich gekehrt und bescheiden aus und traten zur Seite, wenn Charnock sich näherte. Wilkie wußte noch nicht recht, was er daraus machen sollte. Der Konferenzraum, in den sie beide von Charnock geführt wurden, hätte ein Führungsraum einer vollelektronischen Multimilliardengesellschaft New Yorks sein können. Sie saßen in bequemen Sesseln, die ihnen ein verwelkter, grauhaariger Mann in elegantem Geschäftsanzug angewiesen hatte. Der Konferenztisch strahlte in einem solchen Politurglanz, daß Wilkie die Augen abwenden mußte. Elektronisch programmierte Diagramme leuchteten an den Wänden, in einer Ecke stand eine riesige Telefonhausanlage, und daneben ratterte ein Fernschreiber. Irgendwo klickte auch ein Börsenkursanzeiger, den Wilkie jedoch nicht sah. Die Männer im Raum trugen mittelbraune Hemden und Hosen und hatten Automatiken umgeschnallt. Sie standen auf, als sich eine Tür öffnete, und dann schritt auch schon die Contessa herein. Wirklich, sie schritt, und sie trug auch wieder jenes weiße, weichfallende Gewand, das bis zum Boden reichte. In ihrem Haar funkelten mehr Juwelen denn je, und an ihrer Seite hüpfte Soloman. „Ihr könnt euch setzen“, sagte sie, nachdem sie selbst am Kopfende des Konferenztisches Platz genommen hatte.
J. T. Wilkie fand, daß die Männer sich unbehaglich fühlten; sie hatten schweißfeuchte Stirnen und legten viel zu oft die Hände auf den Mund. Die Contessa saß ernst, fast düster da und
musterte sie.
„Gentlemen, das hier ist J. T. Wilkie. Er ist unser neuer Chefingenieur für die Mine.“ Sie
deutete nun auf Polak. „Der hier wird sich auch nützlich machen können. Er heißt Polak und
ist J. T´s. Freund.“
„Jawohl, Contessa“, ging es wie ein Seufzer um den Tisch herum.
„J. T., das hier sind die Vertreter der Valcini. Sie kommen aus dieser Dimension und
gehorchen mir. Deine Pflichten werden sehr einfach und direkt sein. Du wirst meine Minen
für mich leiten, und vor allem wünsche ich, daß du das Unfallverhütungsprogramm
vorantreibst. Neue Abbaugebiete müssen selbstverständlich auch gefunden und erschlossen
werden.“
„Moment mal, bitte...“
„Was ist mit meinem Translator, J. T.?“
„Warte mal, Polak. Die wollen, daß ich ihnen die Minen leite!“
Polak kicherte. „Welches Erz?“
Die Valcini wanden sich vor Verlegenheit und Unbehagen.
„Brak, organisiere für Polak ein Translatorband!“
Der verwelkte Mann im eleganten Geschäftsanzug ging hinaus. Einen Moment später kehrte
er mit einem Band für Polak zurück.
„Diese Bänder sind die allerletzten Modelle, eine ganz bedeutende Verbesserung im
Vergleich zu den alten Typen mit den Knöpfen und Hebeln. Wir bekommen sie aus Altinum.
Und das Erz, Polak, das wir fördern, sind Juwelen. Hier in Irunium fördern wir die
wundervollsten Edelsteine aller Dimensionen!“
„Ich bin allerdings mehr an Kohle gewöhnt“, wandte J. T. ein.
„Kohle, Eisen, Diamanten, Opale wo soll da der Unterschied für einen Ingenieur liegen? Als
ich entdeckte, daß die Old Smokey in unmittelbarer Nähe eines Portals liegt, setzte ich meine
Leute auf die Ingenieure dieser Mine an. Und du, J. T., warst derjenige, der am besten
geeignet erschien.“
„Sie meinen also, Sie hätten mich ausgewählt?“ fragte J. T. entgeistert.
„Natürlich. Bis jetzt, J. T., mußte ich Arbeiter verwenden, die absolut unzureichend waren.
Wir erhielten Unzufriedene von den Regierungen anderer Dimensionen, Ausreißer,
Kriminelle der übelsten Sorte; doch wir beschäftigen natürlich auch angeworbene Leute. Die
Erinelds sind zum Beispiel unsere besten Grubenarbeiter. Maschinen werden allerdings kaum
eingesetzt. Und das, J. T., wirst du ändern müssen.“
.Aber ich habe einen Kontrakt...“
„Jeder auf der Erde geschlossene Kontrakt endet dort mit deinem Tod, und wäre ich nicht
gewesen, dann wärst du jetzt mausetot, J. T. Das darfst du nie vergessen. Du verdankst mir
dein Leben. Ich biete dir eine Gelegenheit, von der andere junge Männer deines Alters nur
träumen können. Hier hast du alles. Geld - dir gehört es. Macht - die hast du als mein
Chefingenieur. Muße - die Nächte hier sind wundervoll. Wir haben ein herrliches
Amphitheater und einen Fluß. Oh, ja, J. T., was ich dir biete, wurde kaum jemals einem
Erdenmenschen geboten.“
Polaks Gesicht entspannte sich. „Klingt ja wie eine wundervolle Sache, J. T.“, flüsterte er.
„Du solltest dir schon davon ein Scheibchen abschneiden.“
„J. T.!“ Die Stimme der Contessa übertönte Polaks Wispern. „Ich habe unvollkommene
Diener, denen man nicht vertrauen kann. Selbst meine geliebten Valcini wissen, daß wir den
Grubenarbeitern, die wir beschäftigen, nicht trauen können, denn sie hassen uns trotz allem,
was wir für sie tun. Du mußt mir daher helfen, die Minen ertragreicher zu machen.“
J. T. hatte das Gefühl, er werde vom Strom der Ereignisse mitgerissen und in schauerliche
Wirbel gerissen. Wollte er denn der Chefingenieur dieser geheimnisvollen Frau werden?
„Am meisten liegen mir hier die Diamanten am Herzen. Bis jetzt habe ich noch nicht ganz
Irunium unter meiner Kontrolle, aber das wird noch geschehen! Eine Laune der geologischen
Entwicklung hat hier einen ganzen riesigen Kanal aus Diamanten entstehen lassen, und er
verläuft sogar fast völlig horizontal.“
„Das klingt ja phantastisch!“ rief Wilkie.
„Und das ist es auch, mein ungläubiger Mineningenieur! Wir arbeiten schon sehr lange daran,
und die Arbeit geht auch immer weiter - allerdings nur Handarbeit. Ich denke, Maschinen
würden viel vorteilhafter arbeiten können. Und da kommst du in die Geschichte, J. T.“
„Ah... Ja...“
„Du wirst dich also um das Unfallverhütungsprogramm kümmern. Und dann wissen wir auch,
daß es draußen in der Wüste viele Opale und andere Edelsteine gibt. Anstrengungen in dieser
Richtung machen sich bezahlt. J. T., es ist eine noble Arbeit! Denn sie bringt mir - uns
Reichtümer und Macht, die alle Träume gewöhnlicher Sterblicher in den Schatten stellen.“ Ihr
Busen wogte vor leidenschaftlicher Erregung.
„Ottorino“, fuhr sie ein wenig nüchterner fort, „du könntest unseren neuen Chefingenieur
in meiner Diamantenstadt herumführen. Aber merke dir, Ottorino, in die Minen bringst du ihn
jetzt noch nicht hinunter. Hast du verstanden, Ottorino?“
Er nickte heftig. „Ich habe verstanden, Contessa.“
Sie erhob sich, und alle sprangen auf. Die silberne Kette mit Soloman am anderen Ende
klirrte, als sie den Raum verließ.
Das war's also. J. T. Wilkie war angestellt.
Draußen auf den sonnenbeschienenen breiten Marmorstufen entschuldigte sich Charnock, der
sich zum Quartier der Leibwache begab. Eigentlich erfuhr ja Wilkie durch das
Translatorband, daß die Leibwächter als Kahnführer bezeichnet wurden, aber wieso, das
wußte er noch nicht. Auch wußte er noch nicht, wo die Kähne der Contessa waren. Ottorino
führte die beiden die Hauptstraße entlang zum Zentralplatz.
Ein langes, niedriges Gebäude mit flachem Dach forderte Ottorinos erste Erklärung heraus.
„Das ist die Akademie der Porteurwissenschaften“, sagte er.
„Die was?“
Da Ottorino nicht mehr unter der persönlichkeitsreduzierenden Wirkung der Contessa stand,
fand er zu seiner normalen Würde zurück. Er mußte bei den Valcini ein großer Mann sein,
wenn er im Rat der Contessa saß. „Soloman, das Männchen, ist ein Porteur. Er hat die
Fähigkeit, Leute und Gegenstände durch die Dimensionen zu bringen. In vielen Leuten ist
diese Fähigkeit latent vorhanden, und sie wissen es nicht einmal. Die Contessa trainiert nun
diese Porteure. Wir treiben Handel und Verkehr quer durch zahlreiche Dimensionen.“
Polak pfiff leise. „Junge, Junge, da könnten wir ja in eine Goldmine geraten sein...“
„Eine Diamantenmine, hat die Contessa gesagt.“
„Und hier ist das Krankenhaus.“ Ottorino führte sie eine buschbestandene Auffahrt entlang zu
dem riesigen weißen Gebäude mit Tausenden von Fenstern.
„Hier scheint es also sehr viele Kranke zu geben, was?“
Ottorino breitete seine fleckigen Hände aus. „Nein. Aber die Contessa legt immer auf das
Beste und Kostbarste größten Wert. Alle Kulturen haben moderne Hospitäler, denn sie sind
notwendig, und deshalb haben auch wir dieses wundervolle Gebäude.“
Im Krankenhaus sahen sie die sterilsauberen Krankensäle und die Pflegerinnen in gestärkten
Uniformen, Ärzte mit allen nur erdenklichen Gerätschaften und den neuesten chirurgischen
Instrumenten und einen ältlichen Valcini in einem Bett ganz am Ende einer langen Reihe.
„Ein sehr eindrucksvolles Krankenhaus“, stellte Wilkie fest. „Es wird sehr nützlich werden,
wenn es einmal eine Epidemie oder einen Krieg gibt.“
Während er noch sprach, ging eine Tür auf, und zwei Kreaturen kamen herein. J. T. Wilkie
sprang vor Schreck hoch in die Luft und begann mitten aus dem Sprung heraus zu rennen.
Erst am Ende der ganzen Station kam er wieder zum Stehen, fand die Tür geschlossen, sprang
auf ein Bett und machte sich bereit zur Verteidigung. Polak folgte ihm auf dem Fuße.
„Was ist denn los?“ brüllte Ottorino, aber Wilkie brachte keinen Ton heraus.
„Dieddie“, stotterte Polak und war aschgrau im Gesicht.
Verwirrt drehte sich Ottorino um. „Die Honschi? Habt ihr denn noch keine Honschi
gesehen?“
Beide Erdenmänner schüttelten den Kopf.
„Das sind loyale Soldaten der Contessa. Sie stammen aus einer anderen Dimension. Und jetzt
kommt, bitte, von diesem Bett herunter!“
Die Honschi zischten. Wilkie nahm an, daß dies ihr Lachen sein sollte. Er starrte die Wesen
mit gemischten Gefühlen an.
Sie hatten breite Froschgesichter mit gelbgrauen, keilförmigen Wangen, die an den Kiefern
leicht bläulich überhaucht waren. Sie gingen auf steifen, sehr krummen Beinen, trugen eine
rötliche Metallrüstung und hatten hohe Helme auf den Köpfen, von deren konisch
ausgezogenen Spitzen kleine, behaarte Hautflecken hingen. Diese Kreaturen waren etwa
einen Meter siebzig groß und strahlten gefährliche Wildheit aus. Wilkie spürte das und zog
unwillkürlich den Kopf ein. Mit einem Honschi, nahm er sich vor, würde er sich also niemals
anlegen, und die kurzen, blattförmigen Schwerter waren auch nicht gerade ein harmloses
Kinderspielzeug.
Ziemlich zögernd kletterten Wilkie und Polak wieder von den Betten herunter. Die Tür ging
erneut auf, und zwei Männer in Grau kamen herein. Sie brachten einen Mann mit, dessen
Kopf haltlos von links nach rechts rollte; sein schwarzes Haar war tropfnaß, und sein
Lendenschurz, das einzige Kleidungsstück, das er trug, wies Blutflecken auf.
Einer der Honschi deutete auf ein Bett, und die beiden Grauen legten den Bewußtlosen mit
dem Gesicht nach unten darauf.
„Waaaas ...“, begann Wilkie.
Ottorino hob eine Hand. „Ein sehr bedauerlicher Unfall in den Minen! Diesem armen Kerl
fiel ein Diamantendach auf den Rücken. Aber wir werden uns schon um ihn kümmern.“
„Der Mann sieht aus, als sei er geprügelt worden!“ meinte Polak.
Ottorino nickte ernst.
„Eine sehr präzise Beschreibung, Polak. Es sieht tatsächlich so aus. Aber jetzt wißt ihr,
weshalb es so ungeheuer wichtig ist, alle nur möglichen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen,
um solche Unfälle zu vermeiden. Wir gehen jetzt hier heraus.“
Wilkie folgte Ottorino nachdenklich und sogar ein wenig verstört, und Polak erging es kaum
anders. Die Honschi-Garden folgten den beiden Graugekleideten.
„Hoschoo, hoschoo!“ sagte ein Honschi; die beiden Männer duckten sich und rannten dann,
als sei der Teufel hinter ihnen her.
6.
„Wir sind um die Wohlfahrt unserer Arbeiter außerordentlich besorgt“, behauptete Ottorino,
als er sie die Hauptstraße entlang zu einem sehr weitläufigen Gebäude mit vielen dicken
Säulen und Kuppeln führte. „Und sie vergelten uns diese ganze Fürsorge mit Feindseligkeit,
Haß und Mißtrauen.“
„Die meisten Arbeiter mögen ihre Bosse nicht“, bemerkte Polak trocken.
Sie stiegen die Marmorstufen hinauf, von denen jede an die hundert Meter breit war, und
davon gab es mindestens hundert. Etwa auf halber Höhe mußte Ottorino stehenbleiben und
Atem holen. Er keuchte, und sein Gesicht wies einen grünlichen Schimmer auf. Viele Valcini
gingen an ihnen vorbei, die einen nach oben, die anderen nach unten. Graugekleidete Männer waren nirgends zu sehen, auch kein Honschi. „Und was ist denn das?“ fragte Polak. Ottorino mußte noch ein paarmal tief Atem holen, ehe er antworten konnte. „Das ist der Tempel Sieglers. Wir stehen nun auf dem heiligsten Fleck von Irunium wenigstens dem heiligsten für einen Valcini.“ Die vielen Kuppeln des Gebäudes saßen auf einer Unzahl dicker, plumper Säulen. Überall glitzerten Farben, Gold und Juwelen. Auch hier gab es Posten, aber das waren ausnahmsweise Valcini in prächtigen, bunten, merkwürdigen Kleidern und Rüstungen darüber. Jeder Mann trug eine schwere Automatik im Arm. „Wir bewachen nur unser Heiligtum“, erklärte Ottorino düster. Da die Religion der Valcini Ungläubigen das Betreten des Tempels nicht gestattete, blieben Wilkie und Polak draußen, während Ottorino sich in gebückter Haltung hineinbegab und drinnen irgendwelchen Riten beiwohnte. Als er herauskam, sah er noch trübsinniger drein als sonst. Wilkie versetzte Polak einen leichten Rippenstoß; die beiden Erdenmänner versagten sich jeden Kommentar. „Religion macht durstig, Ottorino“, konnte sich Polak nicht verkneifen zu sagen. „Es ist bald Zeit zum Mittagessen.“ Ottorino stampfte die Treppen hinunter. .Aber wir müßten eigentlich für einen schnellen Drink Zeit genug haben.“ Ottorino wurde wieder ein wenig heiterer, als sie auf der Hauptstraße standen. „Vor einiger Zeit verschwand aus der Porteurakademie ein Mädchen“, sagte er. „Wir konnten sie bisher leider noch nicht finden. Sie muß aber irgendwo in der Diamantenstadt sein. Wir haben einen Geheimdienst, der vom Tempel aus operiert, aber man konnte mir nichts mitteilen.“ Er seufzte. „Und ich muß der Contessa den Mißerfolg melden.“ „Mir scheint, wenn ein Mädchen andere Leute durch die Dimensionen portieren kann, dann läßt sie sich doch nicht aufhalten, wenn sie verschwinden will“, bemerkte Wilkie. „Ich meine, sie braucht doch nur zu einem Tor zu gehen, und hui... ist sie auch schon weg.“ Ottorino breitete die fleckigen Hände aus. „Nein, J. T., so ist es doch nicht ganz. Soviel wir wissen, sind alle Tore in der Stadt und in weitem Umkreis genau bekannt. Keiner könnte unentdeckt zu einem dieser Tore gelangen, denn überall stehen Honschi-Garden.“ „Hm. Dann gibt es eben ein Tor, das ihr noch nicht kennt.“ Ottorino lachte düster. „Ja. So muß es wohl sein. Die Feststellung ist sehr traurig für mich.“ „Und warum wollte die Dame nun eigentlich weg, wenn doch alle hier so schrecklich glücklich sind?“ wollte Polak wissen. „Ich habe euch ja gesagt, daß wir viele Verbrecher und den Abschaum aus einigen Dimensionen als Arbeiter hier haben. Sie weigern sich, für das zu arbeiten, was sie bekommen. Wir müssen sie ja ernähren, kleiden und auch sonst für sie sorgen, und sie bestehlen uns und lassen uns im Stich. Wir bemühen uns um Freundschaft, und sie verlachen uns deswegen. Wohltätigkeit ist im Grund ein schmutziges Wort Die Folgen sind Faulheit und Interesselosigkeit, und so werden sie zu den lazzaroni der Dimensionen. Sie hassen uns diabolisch.“ „Vielleicht sind sie der Meinung, daß sie für ihre Arbeit nicht genug bekommen“, vermutete Polak. „Das ist es nicht. Es gibt gewisse Personen, die uns unter allen Umständen und mit allen Mitteln vernichten wollen. Sie kommen von anderen Dimensionen. Es sind Leute, die uns unseren Reichtum und unsere Macht neiden, die alles für sich selbst haben wollen. Im Großen Grün haben sie unter den Fremdarbeitern schon eine Rebellion angezettelt ...“ „Das Große Grün?“ „Der Kohlfleck. Wir hatten unter einem riesigen tropischen Forst sehr bedeutende Minen. Jetzt gehören sie uns allerdings gerade nicht, aber wir haben Schritte unternommen, um die feigen Dargan, die sie uns weggenommen haben, nicht in deren Genuß kommen zu lassen.
Der Mann, der diese üble Verschwörung gegen uns inszeniert hat - natürlich ist sie in erster Linie gegen die Contessa gerichtet, heißt David Macklin. Er...“ „Oh“, sagte Wilkie. „Die Contessa sagte, er würde seine Seele für eine Karte geben, die sie besitzt.“ Ottorino schniefte. „Der Teufel Macklin hat ja gar keine Seele. Er und seine Horden versuchen, uns zu vernichten. Wenn wir Ärger haben, ist er die Ursache.“ „Manche sind nie und mit nichts zufrieden“, sagte Polak. „Alles verderben sie, nur damit sie selbst was davon haben. Abschaum, jawohl, Ottorino. Aber weißt du, J. T. und ich, wir beide bekommen auch dieses Gesindel an die Arbeit. Was meinst du, J. T.?“ „Klar, Polak. Aber vergiß nicht, daß ich nur Ingenieur bin.“ „Du machst die Pläne, J. T., und ich führe sie aus. Wir werden der Contessa schon die Diamanten verschaffen, die sie braucht.“ Ottorino schien sehr erleichtert zu sein. Sie gingen nun auf ein sehr ansprechendes Gebäude mit Veranden zu, dessen Fenster in der Sonne blitzten. „Dieses Restaurant ist eines meiner Lieblingslokale. Hier, Polak, können wir einen Drink nehmen, ehe wir zum Mittagessen gehen.“ Er deutete auf das Pflaster, das aus ungewöhnlich großen Steinplatten bestand. „Hier drunten befindet sich ein ganzer Ameisenbau von Gängen, in denen gearbeitet wurde, ehe der große Diamantenkanal entdeckt wurde.“ Das Gefühl, nach anderer Leute Belieben herumgestoßen zu werden, verschwand allmählich, als J. T. Wilkie behaglich eine feine Mahlzeit aus Steak mit sehr irdischen Zwiebeln und allen möglichen feinen Zutaten verzehrte, die von einer herrlichen Blaubeertorte mit Kaffee gekrönt wurde. Er aß mit ausgezeichnetem Appetit. Polak hatte sich entschlossen, bei diesen Leuten aus einer anderen Dimension mitzutun, und J. T. Wilkie war seiner Meinung. Seine Grubenerfahrung, für die er so teuer bezahlt hatte, würde sich nun auch buchstäblich bezahlt machen. Und zwar ganz groß! Er schwitzte ein bißchen bei dem Gedanken, was das bedeuten konnte. Er würde und wollte sehr hoch auf der Leiter des Erfolges steigen, die Irunium für ihn aufgestellt hatte. Im Lauf des Nachmittags sah er noch einiges von der Stadt, so auch das Fabrikviertel und das Amphitheater, das dem Kolosseum in Rom nachempfunden war; und dort, erklärte Ottorino fast verschämt grinsend, werde manchmal ein kleines Stückchen vom Großen Grün losgelassen. Und er kicherte dazu. „Diese Valcini verstehen es wirklich, sich zu amüsieren“, meinte Polak begeistert, als am Abend die Fackeln über den Springbrunnen aufflammten, aus denen Wein sprudelte. Die Tanzmädchen hatten wunderschöne, nackte, goldüberzogene Körper. Riesige Platten mit unvorstellbaren Delikatessen aus tausend verschiedenen Dimensionen wurden aufgefahren, und die Nacht war voll Lachen und Gesang. Musik füllte Straßen und Plätze, und die Valcini erschienen nicht in ihren nüchternen braunen Hemden und Hosen, sondern in bunten, phantastischen Kostümen. Alle waren von ausgelassener Fröhlichkeit, und je länger die Nacht dauerte, desto mehr schäumten sie über. Polak nahm sich ein Mädchen aufs Korn, und Wilkie, den Alkohol und Übermut juckten, hielt nach ihrer Schwester Ausschau. Eine Gruppe farbenfroher Valcini hatte sich am Eingang zu einem Gäßchen versammelt; es zweigte von der Straße ab, die zum Amphitheater führte. Im Lauf des Abends hatte man bekanntgemacht, daß es in der Nacht keine Spiele dort gebe, und man hatte gebuht und gestöhnt, aber das war alles im Trubel des Vergnügens untergegangen. Nun rannte Wilkie hinter der Menge her, um sich an ihrem Vergnügen zu beteiligen. „Weiter!“ schrie ein Valcini. „Großartig!“ „Nicht auslassen!“ „Das geht schon!“ So schrieen die Leute durcheinander.
Wilkie schaute sich um. Dann blinzelte er. Einen Augenblick lang war er entsetzt, weil er glaubte, der Mann sei Polak. Er drückte sich durch die Menge und rannte davon. Das war nichts für ihn. Aus irgendeinem Grund waren die Lampen an der nächsten Straßenkreuzung abgeschaltet, obwohl die übrige Stadt strahlend hell erleuchtet war. Schatten schlossen ihn ein. Wilkie blieb stehen. Er glaubte Polak und das Mädchen mußten diesen Weg eingeschlagen haben, aber es hatte keinen Sinn, den beiden zu folgen. Er würde schon für sich ein anderes Mädchen finden. Eines für sich. Als er sich schon umdrehen wollte, wurde er von einem merkwürdigen Schleifgeräusch und einem Klingeln festgehalten. Er spähte in die Schatten. Ein Honschi trat aus der Dunkelheit ins Licht. Sein Helm war verschwunden. Blutspuren zeichneten sich auf dem Pflaster ab. Der Honschi versuchte, seinen Unterbauch festzuhalten und sich gleichzeitig vorwärts zu bewegen. Sein Froschgesicht sah grau aus und war trocken wie Baumrinde. „Hoschoo“, krächzte er guttural. J. T. Wilkie widerstand seinem ersten Impuls, vor der Kreatur davonzulaufen, und ging statt
dessen rasch auf den Verletzten zu, um ihm zu helfen. Drei weitere Honschi rannten ins Licht.
Sie sahen wütend drein.
Zwei Valcini im Werktagsbraun folgten ihnen. Ihre Automatiken sandten kurze Feuerstöße in
die Dunkelheit beim Amphitheater.
„Was ist da los?“ schrie Wilkie.
Er sah, daß der verwundete Honschi nicht mehr lange durchhalten konnte.
„Die Verbrecher sind ausgebrochen!“ brüllte ein Valcini.
„Sie versuchen, hierherzukommen“, schrie ein anderer und strich sich mit blutiger Hand über
eine blutverschmierte Stirn. „Wir brauchen unbedingt Verstärkung.“
„Was ist mit Polak?“ schrie Wilkie voll Angst und Sorge. „Habt ihr meinen Freund gesehen?
Er ist ein großer Bursche mit schwarzem Haar, und er lacht immer. Er war eben hinter einem
Mädchen her.“
„Nichts gesehen.“
Die Valcini luden ihre Automatiken durch. Das Licht schien sie etwas zu beruhigen, obwohl
ein Speer mit Widerhaken heranflog, der federnd im Pflaster steckenblieb. Eine ganze Reihe
Honschi trabte vorbei. Sie trugen geflochtene, lederbezogene Schilde vor sich her und hielten
ihre langen Speere stoßbereit. Ein Elektrokarren fuhr leise summend heran, und dann schickte
ein starker Suchscheinwerfer Lichtkegel in das dunkle Gäßchen.
Wilkie sah eine Menge zerlumpter Männer und Frauen, die schrieen, tanzten und Speere
schleuderten. Einige dieser Männer trugen Honschihelme, von denen die
zusammengeschnurrten Haarbüschel wehten.
Die Honschi trabten unbeirrt weiter und zischten dazu immer ihr merkwürdiges „Hoschoo!
Hoschoo!“ Und jetzt begriff Wilkie weshalb die Honschi nicht mit Schußwaffen ausgestattet
waren.
Immer mehr Valcini kamen. Viele trugen ihre bunten Masken. Sie rückten hinter den Honschi
vor. Auch Ottorino war bei ihnen und drückte dem darob absolut nicht begeisterten Wilkie
eine Automatik in die Hand.
„Vorwärts, nimm sie doch, J. T.“, sagte er drängend. „Das dort sind Mörder, wahnsinnige
Hunde, die es nach unseren Eingeweiden gelüstet!“
Wilkie nahm also die Automatik. Er verstand auch mit ihr umzugehen.
Der Kampf dauerte viel länger, als
Wilkie gedacht hatte. Diese zerlumpten Männer und Frauen kämpften wie die Teufel. Wie
Löwen sprangen sie die Honschi an. Einzelne Schüsse peitschten durch die Nacht. Die
Honschi und Valcini rückten weiter vor.
Aber J. T. Wilkie ging nicht mit ihnen. Ernst stand er da und starrte auf die Toten, die auf dem Pflaster lagen. Unter ihnen war das Mädchen. Mit ausgebreiteten Armen lag sie da, und auf ihren Brüsten trocknete schon das Blut, das aus Polaks breitem Rücken strömte. Er hatte sie zu schützen versucht, und er hatte gekämpft, bis man ihn bewußtlos geschlagen hatte. Dort, wo Polak gekämpft hatte, lagen die zerlumpten, grau gekleideten Männer und Frauen mit mageren, wölfischen Gesichtern und dürren Leibern. Er hatte standgehalten, solange er konnte, und im letzten, verzweifelten Moment hatte er noch das unbekannte Mädchen geschützt. Ein untröstlicher, vor Kummer erstarrter, seines Freundes beraubter J. T. Wilkie stand über dem geschundenen Körper seines Kameraden.
7.
Man hatte Polak gepubickt. J. T. wußte später nicht mehr viel von dem, was dieser entsetzlichen Erkenntnis in der dunklen, blutbesudelten Seitengasse gefolgt war. Ganz vage wurde er sich dessen bewußt, daß er in den Schatten rannte und dabei seine Automatik leer schoß. Er fühlte Ottorinos fette Finger an seinem Arm, hörte gesprochene Worte, ohne sie aufzunehmen, verspürte einen Zug, der ihn mit Gewalt von diesem Ort des Grauens wegbringen wollte. Als dann der neue Tag dämmerte und die Stadt sich wieder beruhigte, wurden die Arbeiter zur Morgenschicht geweckt. Um diese Zeit führte Ottorino J. T. Wilkie zu jenem behaglichen Restaurant mit den Veranden zurück, in dem sie am Tag vorher zu Mittag gegessen hatten, und dort setzte er ihn an einen Tisch und bestellte starken, schwarzen Kaffee. „Gepubickt“, flüsterte Wilkie vor sich hin. „Polak. Er ist tot, und man hat...“ „Ich sagte dir doch, daß die Arbeiter minderwertiges Gesindel sind, J. T. Wir wissen aber auch, daß ein paar von Macklins Freunden diese gestrige Revolte ausgelöst haben. Nun, sie mißlang. Aber wir haben auch nicht einen von den wichtigen Drahtziehern gefangen.“ Ottorinos Schweinchengesicht glänzte vor Schweiß. „Hätten wir auch nur einen erwischt, dann wüßten wir jetzt mehr.“ „Ich verstehe, daß sie euch Valcini hassen. Aber ich bin doch nur ein Ingenieur. Und Polak war auch nur ein Ingenieur. Er wollte ihnen doch, weiß Gott, nichts Böses tun. Wir wollten ihnen sogar helfen!“ „Siegler weiß alles, J. T. Die Machenschaften von David Macklin und seinen Helfershelfern Alec Macdonald und verschiedene andere, die sind es, die in Wahrheit deinen Freund Polak umgebracht haben.“ „Aber daß ihn dieses Gesindel gepubickt hat! Jetzt weiß ich, was diese Haarbüschel auf den Helmen der Honschi bedeuten. Es sind Skalps, nur sind es Skalps einer anderen Art.“ „Auch das Mädchen“, sagte Ottorino. „Sie war eine von ihnen, zugegeben. Aber sie war mit einem von uns sehr freundlich, und deshalb hat man auch sie getötet und gepubickt.“ „Auf meiner Welt“, flüsterte Wilkie, und er mußte noch immer gegen den Nebel des Entsetzens ankämpfen, der ihn nicht freigeben wollte, „auf meiner Welt rasierten sie früher den Mädchen, die mit dem Feind fraternisierten, die Köpfe kahl, und hier machen sie's im Grunde auch nicht anders. Mein Gott, gepubickt!“ „Trink deinen Kaffee.“ Wilkie trank und schmeckte den runden, kräftigen Schuß Alkohol heraus, der den Nebel ein wenig vertrieb. Aber jetzt kam erst recht die ganze Bitterkeit heraus, und das Verlangen nach Rache vertrieb den Nebel des Entsetzens vollends.
„Die werde ich zum Arbeiten bringen!“ knirschte er, und seine Hände krallten sich um die
Tasse. „Die lasse ich arbeiten! Sie werden mehr Diamanten für die Contessa fördern, als sie je
vorher gesehen hat!“
„Ja, J.T.“
„Und ein Schritt außer der Reihe, nur einer dann hetze ich ihnen die Honschi auf den Hals.
Das vergesse ich ihnen nicht.“
Charnock stieß zu ihnen, denn er brauchte Kaffee und eine Erfrischung, sagte er. Sein braunes
Gesicht sah aus wie Pergament, und er machte einen erschöpften Eindruck.
„Ich war auch die ganze Nacht auf. Wir haben ein bißchen mehr herausbekommen. Eine
Gruppe aus Dargan kam vom Großen Grün über die Grassee. Sie...“
„Was? Die?“ explodierte Ottorino, als das Mädchen Charnocks Kaffee brachte. „An die
erinnere ich mich noch recht gut.“
„So weit sind sie gekommen?“ fragte Wilkie nachdenklich.
„In deiner Dimension, J. T., ist das Große Grün ungefähr dort, wo Rom liegt. Rom in Italien
selbstverständlich.
Angeführt wurden sie von dem Jäger, den sie Todor Dalreay von Dargai nennen. Der ist ein
sehr gefährlicher Mann. Natürlich arbeitet er jetzt für David Macklin.“
„Ich habe mit keinem von ihnen Mitleid“, sagte J. T. Wilkie, denn er war böse vor Elend und
Trauer um Polak.
Aber nun nahmen goldene Trompetentöne ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Stühle wurden
zurückgeschoben, und Valcinimänner und Frauen strömten herbei. Ottorino lächelte.
„Die Contessa macht ihren Morgenspaziergang. Für alle jene, die nicht in so nahem Kontakt
zu ihr stehen wie ich, ist das eine vorzügliche Gelegenheit. Nun, ich sollte wohl besser sagen:
d. h. wir, du, J. T., und ich.“ Charnock ging zur Tür hinaus und nahm wohl an, die beiden anderen würden ihm folgen. Ottorino stand auf, und Wilkie trank schnell seine Kaffeetasse leer. Ottorino beugte sich zu ihm hinab. „Heute ist dieser Spaziergang von ganz besonderer Bedeutung. Allein ihre Anwesenheit schafft neues Vertrauen.“ Wilkie stand auf, und dabei fiel sein Blick auf das Mädchen, das ihnen den Kaffee gebracht hatte. Sie schien alle, die sich um die Tür gedrängt hatten, genau zu mustern. Ihre graue, ganz gewöhnliche Tunika trug sie mit mehr Würde als sonst jemand, und hinter ihrem Ohr steckte eine grellrote Blüte. Sie sprach sehr schnell und drängend, auch ängstlich. Sie mußte bemerkt haben, daß Wilkie sie anschaute, aber sie schien zu einem großen Schrank zu sprechen, der an der Wand stand, an die sich die Serviertheke anschloß. „Jetzt!“ sagte sie mit erregter, ängstlicher Stimme. „Diese Hexe läuft also wieder auf der Straße herum!“ Ottorino reagierte sofort. Er schritt vorwärts, und sein Gesicht war von Haß verzerrt. Er griff nach dem vor Angst fast bewegungslosen Mädchen und drückte die Kleine zu Boden, so daß sie zu ihm hinauf starren mußte. Wilkie sah glänzendes, braunes Haar, ein hübsches, rundes Gesicht mit einer niedlichen Stupsnase und haselnußbraune Augen, die jetzt von Entsetzen und Schrecken verdunkelt waren. „Na, Mädchen, du würdest besser sehr schnell eine Erklärung abgeben!“ Wilkie trat neben Ottorino und stand nun am Ende der Theke. Mehr als zwiespältige Gefühle stürmten auf ihn ein. Eigentlich sollte ihm das Mädchen Leid tun, aber er fühlte nur einen unbändigen Haß auf alles, was sie darstellte. „So, du gehörst also auch zu dem Gesindel“, schnappte Ottorino. „Euch werden wir sehr bald alle ausrotten. Mit Stumpf und Stiel.“ Dann hörte er aber auf einmal zu reden auf. Die Schranktür hatte sich lautlos aufgetan, und ein junger Mann trat durch. Dieser junge Mann hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht, eine
dünne Nase und einen schmalen Mund, aber das Gesicht stieß Wilkie nicht ab, wie er es eigentlich für geziemend gehalten hätte. „Tony, es ist Zeit“, sagte das Mädchen. „Und dort ist es, Tony. Ich weiß es ganz bestimmt!“ Der junge Mann hatte einen kleinen Revolver in der Hand, den er auf Ottorino richtete. „Halte den Mund, du Auswurf!“ sagte Tony rauh. „Ich blase dir sonst deine zwei Groschen Gehirn aus dem Schädel! Hinter die Theke, und zwar ein bißchen schnell!“ Hinter der Theke hatte sich eine Falltür aufgetan, und man sah eine Leiter. Auf diese deutete Tony nun. „Da hinunter, du Laus!“ sagte das Mädchen. „Du hättest mit den anderen Gästen hinausgehen sollen. Jetzt wirst du wahrscheinlich daran glauben müssen.“ Da es schien, als könne man nichts anderes tun, kletterten also Ottorino und Wilkie die Leiter hinunter. Das Revolverchen in Tonys magerer Faust war eine unmißverständliche Drohung. Der Keller enthielt die üblichen Regale und Flaschenständer, wie sie in einem Restaurant zu erwarten waren. In der Wand zeigte sich eine dunkle Öffnung. „Hier durch, und zwar ein bißchen fix! Val, wo ist die Taschenlampe?“ Das Mädchen leuchtete einen Tunnel entlang. Für einen Mann, der vor dem falschen Ende eines Revolvers stand, handelte Ottorino - so schien es Wilkie wenigstens - bemerkenswert ruhig. Er funkelte Tony an. „Dir würde ich ja ganz gerne erklären...“ „Klappe halten!“ fuhr ihn Tony an. „Dich und deine Sorte kennen wir! Valcini! Läuse! Hier durch, oder ich schieße dich jetzt sofort...“ Ottorino sah Wilkie an und zog den Kopf ein, um den Tunnel zu betreten. „Schon wieder eine Revolte“, sagte er. „Wie ermüdend! Natürlich fängt man sie, und dann werden sie bestraft.“ „Diesmal fängt man uns nicht!“ rief das Mädchen Val. Es klang sogar fast triumphierend. Sie gingen den Tunnel entlang, und der Strahl der Taschenlampe spielte über Mauern aus harter Erde. Die äußere Tunnelwand lief parallel zur Kellermauer. «Alte Tunnels, die noch aus den Tagen stammen, da die Minen knapp unter der Erdoberfläche lagen“, erklärte Ottorino, der noch recht viel Haltung bewahrte. Wilkie dagegen schwitzte. „Diese armen, irregeführten Leute lernen nie dazu.“ „Valcini, halte jetzt endlich deine Klappe, oder ich mache sie dir zu“, schimpfte Tony. „Sind wir jetzt in der Nähe, Val?“ fragte er dann, sich an das Mädchen wendend. „Ich brauchte, ziemlich lange, bis ich es fand. Gerade...“ Und jetzt zeigte das Mädchen wieder dieselbe Angst wie ganz zu Anfang. Val sah unsicher, verängstigt, klein und einsam aus. Sie schloß die Augen, sie strahlte so etwas wie Anstrengung aus. Dann riß sie die Augen wieder auf. „Da vorne. Hast du Galt Bescheid gesagt, Tony? Wartet er auch? Sie werden ja bald hinter uns her sein.“ Ottorino fluchte. „Was soll das sein? Ein Porteur? Und hier?“ Und jetzt sah Wilkie die Angst in dem Valcini. Die ganze äußere Ruhe war dahin. Ottorino schwitzte. „Ah... Das muß dieses Mädchen sein, das aus der Akademie durchbrannte ... Was wird die Contessa sagen...“ Tony unterbrach ihn heftig. „Zum Teufel mit der Contessa! Die ganze Zeit hindurch hat Val wie eine Sklavin für euch geschuftet! Und weil sie an verschiedenen Stellen arbeitete, konnte sie nach einem Portal Ausschau halten. Ja, sie hat eines gefunden. Hier, in den alten Minenstollen.“ Weit vorn schien ein Licht. Wilkie wurde sich darüber klar, daß er mit Ottorino in einen sorgfältig ausgeklügelten Fluchtplan eingebaut war. Der Mann und das Mädchen trugen graue Kleidung. Also waren es wohl Sklaven. Sie hatten das Ritual des morgendlichen Spaziergangs der Contessa abgewartet, um die Aufmerksamkeit der Leute von sich abzuwenden. Und jetzt stolperten sie den Tunnel entlang, um sich mit anderen Leuten zu treffen, die auf sie warteten. Tony war gekommen, um Val, den Porteur, abzuholen und jetzt...
Achtzehn oder zwanzig Männer und Frauen waren es. Sie drängten sich in eine viereckige Kammer, in die sechs alte Stollen mündeten. Lichter glimmten. Tony und Val rannten hinein, schoben Ottorino und Wilkie vor sich her. „Val glaubt, es ist genau hier!“ rief Tony. Die Leute schwiegen. Ihre mageren Gesichter waren haßverzerrt. „Mit diesen beiden Valcini muß aufgeräumt werden!“ „Moment!“ unterbrach ihn Wilkie heftig. „Ich bin kein Valcini, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Ingenieur.“ In diesem engen Raum herrschte Angst, die mit Händen zu greifen war. Diese Leute in ihren ärmlichen, trübseligen Fetzen sahen drein, als könnten sie kaltblütig und mit bloßen Händen etliche Menschen erwürgen, ohne auch nur einen Funken Reue zu verspüren. Sie hatten Taschen und Säcke bei sich, Decken, auch ein paar Schwerter oder Speere, und mindestens sechs trugen Flinten. Val tat einen Triumphschrei. Sie deutete in einen engen Schacht hinunter, der einen halbverfallenen Eindruck machte. Ein Seil hing in die Dunkelheit hinein. „Dort hinunter“, sagte ein Mann. „Unser Weg in eine andere Welt! Unsere Flucht aus all dem hier!“ Einer nach dem anderen rutschte am Seil in die Tiefe. Val kauerte am Rand des Schachtes und starrte wie hypnotisiert nach unten. „Endlich kommen wir weg von diesem verfluchten Ort“, flüsterte Tony. „Die Valcini, die Honschi, all dieses Ungeziefer! Wir kommen endlich durch ein Tor in eine neue, frische, saubere Welt, in eine Welt, aus der wir in unsere Heimat zurückkehren und ein neues Leben beginnen können!“ Ein Mann mit dichtem Bart gab knappe Befehle. „Nyllee, Carlo, Mina, jetzt hinunter!“ Diese Arbeiter verschwanden nun aus dieser Dimension, weil das Mädchen Val, ein Porteur, jene seltene Gabe hatte. Allmählich begann Wilkie zu vermuten, daß man ihn nicht mitnehmen würde, vielleicht sogar, daß man ihn nicht am Leben ließe, damit er nicht von ihnen berichten konnte. Ottorino war zum gleichen Schluß gelangt. Tony schwärmte noch immer von dem neuen Leben, das sie nun in einer neuen Welt beginnen könnten, aber Wilkie hörte kaum mehr zu. Er überlegte folgendes: Wenn Ottorino nun versuchte, seine Waffe zu ziehen, dann würde Tony wahrscheinlich auf den Valcini schießen, so daß er, Wilkie, möglicherweise die Chance bekäme, Tony den Revolver aus der Hand zu schlagen. Es war eine magere Chance, aber er sah jetzt nur noch diesen winzigen Strohhalm. Das Mädchen, das der schwarzbärtige Mann Nyllee gerufen hatte, war ein starkes, rothaariges, dynamisches Stück quirlenden Lebens. Nyllee sagte etwas von Froscheingeweiden und sprang in die Tiefe. „Tony!“ rief Val. Ottorino warf die Hände hoch und schrie. Der heroische J. T. Wilkie tat einen Weltrekordsatz in die gegenüberliegende Raumecke, rollte sich herum und landete ein bißchen unsanft an der Mauer. Er sah gerade noch aus den Augenwinkeln heraus, wo Tony sprang. Ottorino fummelte an seinem Holster herum. Val warf ihm einen haßerfüllten Blick zu und dann sprang auch sie. Ottorino hatte endlich seine Automatik in der Hand. Er beugte sich über den Schacht und schoß sein ganzes Magazin leer. Waffenklirrend, trampelnd und schnatternd brach eine Horde Valcini und Honschi in die unterirdische Kammer ein. Charnock führte sie an. Er brüllte, als er Wilkie und Ottorino erblickte. „J. T., alles in Ordnung? Ottorino, was...“ „Gesindel! Alle sind sie entkommen!“ Ottorino verschluckte sich nahezu an seinem aufwallenden Zorn. „Sie hatten einen Porteur bei sich. Diesen Schacht...“
„Schnell zur Akademie!“ schnarrte Charnock einen Honschi an. „Wir brauchen einen Porteur, und zwar sofort!“ Der Honschi klatschte eine Hand an den Speerschaft, sagte „hoschoo“ und rannte davon. Die Akademie der Porteurwissenschaften befand sich ganz in der Nähe. Nur wenige Augenblicke später stürmte also ein Porteur herein. Wilkie erfaßte mit einem Blick die groteske Erscheinung des Mannes, entriß einem Valcini die Automatik und drängte sich zum Schacht durch. Die ersten froschäugigen Honschi sprangen. J. T. schob Charnock zur Seite und sprang. Er fiel durch den Minenschacht nach unten, und dann spürte er einen winzigen Widerstand. Er war in einer anderen Dimension. Er landete in einer weichen, blendendweißen Helligkeit. Kälte griff nach ihm. Er hörte Schreien und Schießen. Unmittelbar vor ihm sprang ein Honschi auf, warf seinen Speer weg und fiel vorwärts auf sein Froschgesicht. Wilkie verlor das Gleichgewicht und rutschte über den Schneehang zu den anderen Flüchtlingen hinunter. Ihre Flinten spuckten ihm Tod und Verderben entgegen.
8.
Kugeln wühlten sich in den Schnee vor ihm, und kleine Schneewölkchen stoben auf. Der Schnee blendete ihn, und er zitterte vor Kälte. Die Automatik entglitt seiner Hand und verschwand irgendwo im Schnee. Ein Honschi fiel über ihn, und er kroch eiligst unter ihm hervor. Grünes Blut hatte seine Kleider befleckt. Die Menschen um ihn herum schrieen und kämpften. Dann griff Charnock nach ihm. „Hat keinen Sinn, J. T.“, keuchte der Captain der Leibgarde. „Wir müssen zurück. Die reiben uns völlig auf.“ Ein Valcini, dessen linker Arm kraftlos herunterbaumelte, schrie nach dem Porteur. „Wir müssen warme Kleider anziehen! Dann kehren wir zurück und jagen sie weiter. Aber jetzt müssen wir von hier weg!“ Die Valcini und Honschi verschwanden wieder. J. T. Wilkie spuckte den Schnee aus, der ihm den Mund verstopfte, und taumelte den Hügel hinauf. Charnock zerrte ihn schließlich mit sich. „Ich glaube nicht, daß wir noch einmal zurückkommen müssen“, keuchte er. „Diese Leute erfrieren ja in der eisigen Dimension.“ Das klang grimmig und bestimmt, und doch wunderte sich Wilkie über einen gewissen Unterton in Charnocks Stimme. Hatte er ihn richtig gedeutet? Im Minenschacht stieg er in einen primitiven Förderkorb und wurde nach oben gezogen. Charnock kletterte hinter ihm heraus, und beide atmeten erleichtert auf. „Vielen Dank, Charnock. Du hast meinen Balg gerettet.“ Charnock lächelte dünn. „Ich tat nur meine Pflicht. Die Contessa wäre... mißvergnügt gewesen, wärest du umgekommen. Sprich nicht mehr darüber, bitte.“ Und dann glaubte Wilkie, Charnock zücke einen Revolver, doch der entpuppte sich als Feuerzeug. „Und übrigens, ich mag dich, J. T. Und ein Valcini bin ich außerdem nicht. Du bist auch keiner.“ Wilkie wußte nicht recht, was er darauf antworten sollte und suchte nach einem unverfänglichen Ausweg. „So, das ist also ein Porteur.“ Der Porteur war, so hatte es wenigstens den Anschein, kein Mensch. Das heißt, kein Erdenmensch und keiner aus einer Dimension, in der man etwa so lebte wie auf der Erde, korrigierte sich Wilkie selbst. Eindeutig war jedoch, daß er menschliche
Intelligenz und so etwas wie eine Seele besitzen mußte. Er sah ein wenig wie ein Kretin aus, hatte einen hohen, patronenförmigen Schädel, der kahl wie eine etwas merkwürdige Tonsur über einen Wust dunklen Haares hinausragte, dunkle, verträumte Augen, eine winzige Knopf nase, einen albern lächelnden, lose herabhängenden Mund und riesige Ohren. Sein Schritt war eher ein hüpfendes Schieben, aber der Bursche mußte einen ziemlich hellen Funken einer Spezialintelligenz haben, die ihm eine gewisse beherrschende Stellung einräumte. „Gangly?“ sagte Charnock. „Ja, da haben sie uns wenigstens einen guten geschickt.“ Der Porteur hatte seinen Namen gehört und stand vom Schachtrand auf, an dem er gesessen hatte. Alle, die zurückkommen wollten, waren da und klopften sich den Schnee von den Kleidern. Die anderen mußten in dieser klirrenden Kälte sicher alle erfrieren. Mit einem schiefen Lächeln kam der Porteur auf Charnock zu. „Charnock, ja? War es eine schlimme Panik, ja?“ „Klar“, gab Charnock grimmig zu. Wilkie bemerkte, daß ein kleiner, quecksilbriger Valcini, der seine Automatik ständig auf den Magen des Porteurs gerichtet hielt, sich nun deutlich entspannte. Er wickelte eine lange, glitzernde Kette auf, die von seinem linken Handgelenk hing. Um Ganglys Hals lag ein Eisenband, an dem die Kette endete. Die wurde ihm nun abgenommen. Der Valcini bemerkte, daß Wilkie ihn beobachtete, und er lachte meckernd. „Es war ja ziemlich unwahrscheinlich, daß der Porteur durch das Portal zu entwischen versuchen würde, aber wir von der Akademie müssen aufpassen. Also...“ Er klirrte bedeutungsvoll mit der Kette. Wilkie stellte fest, daß er den kleinen Valcini nicht leiden konnte. Charnock schien wesentlich erleichtert zu sein. „Gangly ist natürlich nicht sein richtiger Name. Er kommt aus... He, Gangly, von welcher Dimension stammst du?“ Des Porteurs schiefes Lächeln gefror. „Ihr nennt meine Dimension Lisifutz, und es ist ein milder und sehr angenehmer Ort.“ Vermutlich hatte das Translatorband alle Unebenheiten in Ganglys Sprache ausgebügelt. „Die Männer der Contessa brachten mich hierher, und da erfuhr ich dann von meiner Gabe“, erzählte er weiter. „Ich lernte, Leute und Dinge durch die Dimensionen zu katapultieren.“ Er sprach nun direkt zu Wilkie, und dieser wunderte sich darüber. Dann fiel ihm ein, daß er ein graues Hemd und eine graue Hose trug und dadurch von den Valcini, die braun gekleidet waren, abstach. Auch Gangly hatte ein graues, sackähnliches Gewand an, das in einem zerfransten Kilt endete, der mit einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wurde. Auf dem Rücken hatte er ein sehr primitives, weit offenes Auge eingestickt, das von einer Schulter zur anderen reichte. J. T. Wilkie suchte krampfhaft nach irgendeiner Parallele aus seiner eigenen Welt, fand aber keine. „Ich... äh...“, stotterte er. Gangly schaute enttäuscht drein. Charnock lachte. Er hatte wieder zu seiner Haltung zurückgefunden. „Jetzt sind diese armen Teufel sicher schon alle tiefgefroren“, meinte er. „Und, Gangly, mach du nur ja keinen Fehler. J. T. hier ist kein Arbeiter wie du, er ist der Chefingenieur der Contessa.“
„Oh!“ Gangly sah ganz vernichtet drein.
„Weiter, du Abschaum!“ schnarrte sein Bewacher. Sie gingen zusammen den Tunnel entlang,
der große Mann mit dem hohen, patronenförmigen Kopf und dem schiebendhüpfenden Schritt
und der gepflegte, quecksilbrige, kleine Valcini.
„Das ist ein merkwürdiger Bursche“, bemerkte Charnock. „Komm jetzt, J. T. Ich brauche
einen Drink. Ich glaube, mir sitzt noch diese verdammte Kälte in den Knochen.“
„Mir auch“, gab J. T. Wilkie zu.
Ottorino klammerte sich noch immer an seine leere Automatik und trat nun zu ihnen. Er war
nicht in jener eisigen Dimension gewesen, doch auch er brauchte einen Drink. Er plusterte
sich ein wenig auf, als er seine Waffe frisch lud.
„Vielleicht sind nicht alle erfroren, Charnock. Ich denke, die Contessa wird eine Suchgruppe nach ihnen ausschicken.“ „Schön, wenn sie das tut“, bemerkte Charnock, der die beiden nun in das Restaurant zurückführte. „Das ist ihre Angelegenheit“, meinte er und goß sich einen Drink, ein. Wilkie tat sich an einem großzügigen Whisky gütlich. „Ich denke, ich melde mich freiwillig dazu. Diesen Leuten schulde ich etwas.“ „Schau mal“, redete ihm Charnock geduldig zu. „Du mußt jetzt einfach deinen Freund Polak vergessen. Das ist doch vorüber. Du arbeitest wie wir alle hier, für die Contessa. Sie bestimmt, was getan wird.“ „Und deine Aufgabe ist es, Diamanten zu gewinnen“, fügte Ottorino väterlich hinzu. „Du bist, jedenfalls jetzt, der Minenfachmann, den wir brauchen.“ Und das war Wilkie auch für die nächsten Wochen. Was die Contessa ihm von den Bedingungen erzählt hatte, stimmte absolut. Er führte ein äußerst behagliches Luxusleben. Der riesige Diamantenkanal erforderte einen maschinellen Abbau. Wilkie begab sich also in die Mine und sah zum erstenmal Erinelds bei der Arbeit. Mit Pickel und Schaufel schufteten sie, und ihre Körper waren schweißnaß. Er machte Notizen, prüfte den Kanalverlauf nach und dachte sich Pläne aus. Schließlich ging er mit seinen Aufzeichnungen zur Contessa. Sie trafen sich in dem Raum, den Wilkie für sich das ThomasAlvaEdisonZimmer nannte. Die Contessa war scheußlichster Laune. Sie saß in ihrem Sessel und beschimpfte ein paar ältere Valcini, als Charnock mit Wilkie eintrat. „Mit dir kann ich mich heute nicht befassen, J. T.“, fauchte sie. Neben ihr stand ein Mann, der eine schwarze, wuchtige Rüstung trug und ein breites Schwert umgegürtet hatte. Auf dem Kopf saß ein Translatorband. Die Contessa sagte: „Ich bin gerade erst von einer Dimension namens Narangon zurückgekommen. Diese blinden Narren! Nun, sie werden dafür bezahlen, dafür sorge ich schon!“ „Die Zauberer von Senchuria leben noch und stehen quer über ihre ganze Dimension“, sagte der Mann in der schwarzen Rüstung. „Wir brauchen ein Portal, Contessa.“ „Und glaubst du vielleicht, daß die Porvone - Gott lasse ihre perversen Seelen verrotten - uns eines verkaufen?“ „Nein, Contessa.“ „Gut. Und wie sollen wir dann zu einem Portal kommen?“ Charnock schüttelte sich. Die Contessa musterte ihn voll Abscheu. „Ich sehe, dir paßt es noch immer nicht, wenn man von den Porvone spricht, Charnock.“ „Nein, Contessa“, gab er demütig zu. „Sie sind schlimmer als alles, was sich ein Mensch nur ausdenken kann. Sie behalten ihre PorvoneLebensportale ausschließlich für sich selbst.“ „Und ich will eines haben!“ Dazu stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden. Der Mann in der schwarzen Rüstung zwirbelte seinen Schnurrbart. „Wenn die Contessa ein PorvoneLebensportal braucht, dann werde ich...“ „Nein, Wayne! Ich brauche dich für andere Pläne. Das weißt du doch.“ Sie sah zu Wilkie hinüber. Er sagte kein Wörtchen. „Nun, so erzähle mir doch, J. T. Wilkie, warum du dich nicht mit den Mädchen vergnügst, die ich für dich bereitstellen ließ?“ fragte sie. „Gefallen sie dir nicht? Du weißt doch, daß wir unter sämtlichen Dimensionen die Auswahl haben.“ „Das ist es nicht, Contessa.“ Er schluckte heftig und dachte an den gepubickten Polak. Sie lächelte und musterte ihn mit ihren violetten Augen. „Vielleicht deshalb, J. T., weil du mich begehrst?“ Er hörte, wie Charnock abrupt den Atem anhielt. Er sah Waynes Gesicht und das gefrorene Lächeln auf den brutalen Zügen.
Was sollte er antworten? „Wenn ich die Wahrheit sagen will, Contessa...“ Sie sah boshaft und zutiefst gekränkt drein. „Wer bei mir nicht die Wahrheit spricht, der braucht nicht zu leben, um weiterzulügen! Und jetzt, J. T.: Hast du den Wunsch, mit mir zu schlafen?“ Er schluckte. Du lieber Gott, da steckte er in einer schönen Klemme! „Es wäre so...“ Er mußte von vorn anfangen. „Auf meiner Welt erwarten wir nicht von Mädchen...“ Nein, das war auch nichts. Also noch einmal. Zum Teufel! „Ja“, antwortete J. T. Wilkie romantisch. „Das müßten Sie doch eigentlich wissen, Contessa.“ „Ah!“ Ihr Lächeln blühte nun auf. „Du hast also wenigstens ein Herz, J. T. Aber du weißt doch sicher, was mit einem Bauern geschieht, der eine Prinzessin liebt?“ Fast zum Glück tat er es doch nicht wäre er herausgeplatzt mit der Feststellung, daß sie ja nur eine Contessa und keine Prinzessin sei. So antwortete er fest: „Ich rechne nicht damit, und bisher habe ich auch nicht darüber nachgedacht. Die Wahrheit ist...“ „Ja?“ tat sie hoheitsvoll. „Die Wahrheit ist, daß Polak...“ Ihr Lächeln welkte. „Dein Freund, dieser dicke Angeber, der getötet wurde? Nun, was ist mit ihm?“ Das konnte er ihr nun wirklich nicht erklären. Er begnügte sich mit dieser Antwort: „Ich war sehr erregt. Furchtbar wütend. Am liebsten würde ich ja alle diese... diese...“ „Wanzen...“, half sie nach. „Ja, diese Wanzen pubicken. Polak war ein sehr guter Freund.“ Sie lehnte sich zurück. Ihre rosa Zungenspitze schnellte zwischen Rosenknospenlippen heraus. „Den armen Polak wirst du wohl vergessen müssen. J. T. Er war ein guter Mann, aber jetzt ist er tot. Sein Tod ist ein Teil des Preises, den wir für das, was wir haben, bezahlen müssen. Und jetzt, J. T., wirst du dich dessen erinnern müssen, daß ich dir nichts versprochen habe. Ich habe dir keine Belohnung in Aussicht gestellt oder nur meine Dankbarkeit. Und das war bisher immer genug, damit die Männer ganze Berge für mich bewegten.“ Wilkie nickte, denn er war auf eine merkwürdige Art recht erleichtert. Charnock trat an Wilkies Seite und blieb stehen. Die Contessa nickte. „Meine Pläne wurden von diesem Unsinn auf Narangon gestört. Ich hatte die Infalgon so weit, daß sie die Zauberer von Senchuria vernichteten, aber David Macklin und seine verfluchten Kohorten mischten sich wieder einmal ein. Eines Tages werde ich mit ihnen allen abrechnen! Aber jetzt brauche ich unbedingt ein PorvoneLebensportal. Morgen erwarte ich einen Boten von einer Dimension namens Slikitter, und von dort kaufen wir sehr viel.“ Sie stand auf und entließ damit alle, die anwesend waren. „Morgen, J. T., wirst du zu mir kommen. Dann sage ich dir, was wir tun werden.“
9.
In jener Nacht kam ein Mädchen zu Wilkie. Es war ein zierliches Dingelchen mit rosiger
Haut, einem klingelnden Lachen und mit einem silberfarbenen Kleid, das um ihren Körper
floß. Im Dämmerlicht drehte sie eine Pirouette für ihn.
„Magst du mich nicht, J. T?“ fragte sie.
„Klar. Selbstverständlich“, versicherte er ihr müde. „Aber nicht ausgerechnet heute,
Josephine.“
Sie zog ein Schnütchen. „Ich weiß schon, du himmelst die Contessa an!“
„Nein, das ist es doch nicht, Josephine“, erwiderte er lahm.
Sie schwebte elfisch, dann hexisch um ihn herum. Plötzlich ließ sie das ganze künstliche Getue fallen, trat vor ihn hin und lächelte zu seinem Gesicht hinauf. „Es gibt viele Dinge, die du über Irunium und die Contessa noch nicht weißt, J. T.“, sagte sie. Ihr Lächeln hatte mit einem Schlag Wilkies Sinne geweckt. Sie ging zur Tür, drehte sich dort noch einmal um und lächelte ihn von dort her so süß an, daß er gleichzeitig durch sämtliche Himmel und Höllen raste. „Nun, J. T., du hast wenigstens bewiesen, daß du keine Mädchen mehr jagst, wie du heute behauptet hast.“ Damit war sie verschwunden, und er blieb erschüttert, vernichtet zurück. Er starrte die geschlossene Tür an. Nein, das war doch nicht möglich! Aber diese letzten Gesten, diese befehlsgewohnte Stimme, diese Anspielung auf eine Unterhaltung, die er mit ihr geführt hatte konnte es die Contessa selbst gewesen sein? In einer Maske? Ausgeschlossen! Aber nun fielen ihm die geflüsterten Geschichten der Valcini ein, die von der Contessa alter Egos erzählten; er hatte kaum einmal richtig hingehört. Aber jetzt... Er schlief sehr schlecht. Pünktlich zur verabredeten Zeit traf er im Vorzimmer des ThomasAlvaEdisonKonferenzraums mit Charnock zusammen. Charnock war, wie gewöhnlich, blau gekleidet, diesmal aber ausgesprochen schick. Den scharlachfarbenen Hut mit der kessen Feder hatte er unternehmungslustig schief in die Stirn gezogen, und er unterhielt sich angeregt mit einem anderen Captain der Leibwache, der ebenso gekleidet war wie er. „Hör mal, Pontius, das weiß ich ja“, bemerkte Charnock eine Spur ungeduldig. „Aber du mußt doch zugeben, daß ich ein guter Kahnführer bin.“ .Aber du weißt auch, daß wir keinen Platz für einen haben, der kein guter Kahnführer ist, Charnock.“ Der Mann Pontius trug sehr viel Würde zur Schau. Von seinen spitzen Ohren hingen ganze Trauben von goldenen Glöckchen. Wenn Wilkie immer gedacht hatte, Charnocks Gesicht sei das eines Teufels, dann mußte er die lederhäutige Visage mit den zahllosen Narben für das eines Oberteufels halten. „Du wirst das tun, was die Contessa wünscht, Charnock! Bei Siegler, das wirst du auch tun!“ Charnock nickte ergeben. „Das werde ich auch, Pontius. Und ich werde das sogar bei dem Schwarzen Naspurgo persönlich beschwören.“ Die beiden Männer standen noch einen Augenblick Zehe an Zehe voreinander; dann schienen sie Wilkie zu bemerken und gaben ihre strammfeindselige Haltung auf und funkelten gemeinsam ihn an. „Ah, J. T.“, sagte Charnock. „Du bist sehr willkommen.“ Pontius murmelte etwas in seinen Bart und stapfte weg. Über die Schulter rief er zurück: „Nicht vergessen, Charnock! Du bist ein loyaler Kahnführer!“ „Verdammter Pontius“, zischte Charnock leise, daß dieser es nicht mehr hören konnte. „Was der sich einbildet!“ An diesem Morgen sah Wilkie die Contessa zum erstenmal ohne ihren persönlichen Porteur an der glitzernden Kette. Ihr dunkles Haar funkelte vor Juwelen. An ihrem weißen Gewand trug sie ein Riesenvermögen an Edelsteinen. Wilkie schien, als wolle die Contessa noch mehr Eindruck machen als sonst. ,.Diese Pläne, J. T.“, begann sie ohne Einleitung. „Sie sind gut und durchführbar. Jemand wird auf deine Erde hinüber müssen, um die Maschinen zu kaufen.“ „Ich kann...“
„Deine Arbeit ist im Augenblick getan. Meine Agenten auf der Erde können die kommerzielle
Seite übernehmen. Alles geht ja klar aus deinen Notizen hervor. Du warst sehr sorgfältig, J.
T.“
„Vielen Dank, Contessa.“
„Letzte Nacht warst du nicht ganz so dankbar, J. T.“
Glimmte in ihren Augen nicht ein Fünkchen Bosheit?
In Todesangst stammelte Wilkie etwas Undefinierbares.
„Oh, natürlich, J. T.! Die Geschichten über meine alter egos stimmen selbstverständlich. Aber
damit hätte ich dich doch betrogen, nicht wahr?“ „Ich... Ich...“ Er suchte verzweifelt nach
Worten, wußte nicht, was er sagen sollte, fühlte sich billig und hatte entsetzliche Angst, die
Wahrheit zu sagen.
Goldene Trompetentöne erlösten ihn aus seiner verzweifelten Verlegenheit. Türen schwangen
auf. Eine Doppelreihe von Leibwächtern trat ein; sie wurden von Pontius angeführt. Zwischen
den beiden Reihen marschierte ein merkwürdiges Wesen. Wilkie war inzwischen an alle
möglichen und unmöglichen Lebewesen gewöhnt, aber jetzt, als er diese Person von Slikitter
sah, überlief ihn ein kalter Schauder.
Groß war dieser Bursche von Slikitter; groß und entsetzlich dünn. Seine Haut war gelb. Das,
was anderswo ein Gesicht war, ließ sich hier kaum so nennen, wenn es auch aus blassen,
wäßrigen Augen bestand, einer Nase, die aber eher einem Rüssel glich, und einem Mund, der
rund war wie das breite Ende eines Trichters. Nein, ein Gesicht konnte man das wirklich nicht
nennen, und doch war es eines. Dazu trug das Wesen ein Gewand aus grellrotem,
geschupptem Material, das in schimmernden Falten um seine eckigen Glieder floß, und so
stand er nun sehr stolz und würdig vor der weißen Herrlichkeit der Contessa di Montevarchi.
Man begrüßte einander formell und die Translatorbänder übersetzten die Höflichkeitsfloskeln.
Fasziniert beobachtete Wilkie die beiden. Für ihn stand ganz eindeutig fest, daß hier ein
Wesen von einer anderen Dimension gekommen war, das einige Macht darstellte.
Man sprach von etlichen Mißverständnissen der Vergangenheit, und nach angemessener Zeit
fragte die Contessa: „Und das Portal?“
„Ich bedaure sehr, Contessa, aber das ist völlig ausgeschlossen“, erwiderte der Slikitter ohne
zu zögern.
Das Gesicht der Contessa flammte vor Zorn und Enttäuschung. „Was haben Sie dann
anzubieten?“
„Wir können das PorvoneLebensportal nicht einmal für uns selbst bekommen. Ich glaube,
Ihnen sind unsere eigenen Rahmen, die Slikitterfenster, recht gut bekannt.“
„Die kenne ich. Ich erinnere mich aber an Palans Rodro, den Dreisten. Ha! Dieser Narr.
Nun?“
Der Slikitter schüttelte den Kopf.
„Contessa, wir können keines an andere Dimensionen liefern. Das verstößt gegen unsere
Gesetze. Eines Tages wird vielleicht einmal das Gesetz geändert...“
„Dann ändern Sie's doch heute!“
„Das ist unmöglich.“
Ein älterer Valcini, der rechts vom Stuhl der Contessa neben dem Mann namens Wayne mit
der schwarzen Rüstung stand, stieß wie eine futtersuchende Henne den Kopf nach vorn.
„Weiß nicht jedes Kind, daß die Slikitterfenster immer wieder einmal versagen? Daß sie auch
nicht besonders wirksam sind? Sie sind nämlich bei weitem nicht so gut wie die
PorvoneLebensportale. Stimmt das etwa nicht?“
„Ruhig, Pfitzner!“
Aber der Slikitter hatte schon reagiert. Sein trichterförmiger Mund wurde zu einem Netz.
„Wir haben ein Slikitterfenster, das an der Nahtstelle zwischen unseren Dimensionen, also
zwischen Slikitter und Irunium, eingesetzt ist und arbeitet. Durch diesen Rahmen bin ich jetzt
gekommen. Wir beliefern Sie mit wissenschaftlichen Geräten, die denen aus anderen
Dimensionen weit überlegen sind. Ich habe auch den neuen Kontrakt unterschriftsbereit bei
mir. Ich kam aber nicht hierher, um mich beleidigen zu lassen, Contessa.“
Sie beruhigte ihn wieder. Man brachte Wein, und gelegentlich redete jemand auch ein paar
Sätze, auf die er Antwort bekam,
„Slikitter!“ Charnock flüsterte Wilkie seine Meinung ins Ohr. „Ich ziehe es vor, das Zeug von
Altinum oder der Erde zu bekommen.“
„Die Contessa wird schon mit ihm fertig“, meinte Wilkie.
„Aber Sie sind doch nicht mit leeren Händen gekommen“, erklärte die Contessa eben mit
ihrer süßesten Stimme. „Ich bin überzeugt, daß Sie den Respekt zu würdigen wissen, den wir
den Erfindungen Slikitters zollen.“
Wenn ein Rüsselschlenkern und ein Rollen des Trichtermundes ein Lächeln war, dann
lächelte der Mann von Slikitter.
„Haben Sie von Durostorum gehört?“
Sofort versteifte sich Charnock.
„Ah!“ machte die Contessa di Montevarchi. „Ja, davon habe ich gehört. Und Sie bestätigen
es?“
„Ich bestätige es.“
„Dann können wir handeln.“
Der Handel ging über in technische Details und rechtliche Vorschriften und hieß für Wilkie
nur eines: HABGIER. Aber das, worüber sie handelten, entsetzte ihn. Man sprach über
Juwelenlieferungen, und die Contessa versprach mit einem Seitenblick auf Wilkie deren
erhebliche Steigerung.
Schließlich lehnte sich die Frau zurück und überlegte.
»Schön. Wir sind uns also einig. Sie werden mir die genaue Lage und alle näheren Umstände
angeben. Ich bin nämlich wirklich erstaunt, und ich finde es recht merkwürdig, daß sich die
Porvone mit einer solchen Hinterwäldlerdimension abgeben. Und doch...“
„Nun, die machen auch dort die Geschäfte, wo sie sich anbieten.“ Der Mann von Slikitter
stellte seinen leeren Pokal ab. „Das sind für die Porvone nur Lappalien. Damit kann man
ihnen nicht kommen.“
„Bei uns brauchen Sie sich darüber keine Sorgen zu machen. Ich habe nicht die Absicht,
meinem Volk auch nur einen einzigen Porvone vorzuführen. Mit denen will ich nichts zu tun
haben, und daher will ich auch mit ihnen nicht zusammentreffen.“
„Ist das ein Versprechen?“
„Das ist endgültig.“
„Dem Schwarzen Naspurgo sei Dank dafür“, brummte Charnock leise.
Wayne rasselte mit seiner Rüstung und steckte sehr geräuschvoll sein Schwert in die Scheide.
Sein brutales Gesicht sah häßlicher denn je, unzufrieden und trotzig aus.
Der Slikitter und die Contessa nahmen rituellen Abschied voneinander. Anschließend wurde
der Fremde von Pontius und den Kahnführern wieder hinausgeleitet.
Die Gedanken an diesen Fremden spukten in den nächsten Tagen in J. T. Wilkies Gehirn. Er
wußte, daß die Contessa etwas ausbrütete, das mit der Diamantenförderung nichts zu tun
hatte. In der Stadt herrschte fieberhaftes Leben. Man sammelte Skimmer und brachte über den
ovalen Chassis und den Sitzreihen Baldachine aus Plexiglas an. Dann hängte man sie
reihenweise an den Mauern auf, ohne daß es jedoch ersichtlich gewesen wäre, was sie
festhielt. Die Diamantenstadt drohte vor fieberhafter Aktivität zu bersten.
„Wir verwenden viele Helikopter von der Erde“, erklärte ihm Charnock. „In letzter Zeit hat
Altinum allerdings den Skimmerkontrakt bekommen. Das sind kleine, süße und sehr
praktische Dinger. Eure Technologen auf der Erde müssen einmal ihre Zahlen nachprüfen.“
„Das werden sie wohl auch tun“, antwortete der sehr beeindruckte J. T. Wilkie.
Als ihm die Contessa dann in einer kurzen Besprechung erklärte, daß er sie nach Durostorum
begleiten werde, war er noch beeindruckter.
„Suche also deine Safariausrüstung zusammen und nimm eine Waffe mit“, wies sie ihn an. „Charnock wird dir helfen. Und dann, J. T., ist ja deine Arbeit in der Neuorganisation der Minen zu Ende. Du mußt also daran denken, daß ich dich allmählich entbehren könnte.“ Sie lächelte honigsüß. .Aber meine treuen Diener belohne ich auch. Denke immer daran, J. T., daß du noch für mich arbeitest und daß du mir dein Leben verdankst, also auch Loyalität schuldest.“ „Das werde ich nicht vergessen, Contessa“, versprach J. T. eifrig, und so meinte er es auch. Die Reise begann früh am Morgen eines hellen, klaren Tages. Wilkie hatte den Überblick über die Zeitrechnung ziemlich verloren, nahm aber an, es müsse Freitag sein. Ein Dutzend großer Skimmer, die mit Valcini und Honschi besetzt waren, machte sich in westlicher Richtung auf den Weg. Sie überquerten den Fluß und schwebten den Bergen am Horizont entgegen. Charnock nahm neben Wilkie auf dem Rücksitz eines Skimmers Platz. Gangly war an sein linkes Handgelenk angekettet. „Die Contessa nimmt immer etliche Porteure mit“, erklärte er. „Der Sicherheit wegen.“ Die glitzernde Kette war Träger einer ganz bestimmten Molekülgruppe, die Gangly daran hinderte, Charnock zu entkommen und durch ein Tor zu entwischen. Drückte er einen Knopf auf dem Armband, wurde ein sehr schmerzhafter elektrischer Stromstoß ausgelöst, der direkt auf Ganglys Gehirn einwirkte. Das erste Portal, das sie mit allen Leuten und Skimmern durchschritten, führte sie in ein weites, offenes Land mit zahlreichen Seen und vielen Ab und Zuflüssen, mit Nadelwäldern und Tundren. Drei Stunden lang flogen sie in westlicher Richtung weiter. Von der Contessa hatte Wilkie bisher noch nichts gesehen. „Sie reist in ihrer persönlichen Barke mit einer Mannschaft, die von Pontius geführt wird“, erklärte ihm Charnock und schüttelte die Kette ein wenig. „Ich habe dich und Gangly hier.“ „Natürlich steht ihr ein wenig Komfort zu“, meinte Wilkie verständnisvoll. „Schließlich ist sie ja auch eine Frau.“ „Ja“, antwortete Charnock, und dann schwieg er sehr lange. Wilkie erfuhr dann auch noch, daß Wayne, der auch jetzt seine schwarze Rüstung trug, ein Parallelunternehmen zu einem zweiten PorvoneLebenstor führte, das sich am anderen Ende des Tores von Durostorum befand. Die Skimmer glichen irgendwie den Greyhound Bussen Nordamerikas. Sie unterschieden sich von diesen nur insofern, als sie wie Helikopter in die Luft steigen und mit Leichtigkeit Höhe und Richtung ändern konnten. Das nächste Tor brachte sie in eine Dimension, wo man die Skimmer aufgeben mußte. Sie hatten ihre Aufgabe erfüllt und die Expedition über die weiteste physikalische Distanz gebracht. Jetzt mußte man zu Fuß weiter und durch kleinere Tore hintereinander nach Durostorum schlüpfen. Charnock wußte natürlich, welchen Weg sie nehmen würden, denn er hatte ja den Porteur Gangly in Verwahrung. Die nächste Dimension war eine Welt, deren Luft mit Blasen angefüllt war. Wilkie fand die schillernde Schönheit der Dinger zauberhaft. Etliche dieser Blasen wurden gegen sein Gesicht geweht und platzten. Dabei gab jede Blase einen musikalischen Ton von sich. Da natürlich ständig sehr viele Blasen platzten, wurden die Töne zu einer vielfältigen Melodie. Lachend tanzte die Reisegesellschaft durch diesen melodischen Regen. Aber da schoß plötzlich ein Schmerz durch Wilkies Kopf. Er sah, wie Charnock zusammenzuckte und sich den Schädel rieb. Die Blasen schwebten schneller heran und in größerer Menge. Sie barsten nun unaufhörlich, und jede klingende Note ging in Hunderten von anderen unter, aber nun wurden die süßen Töne allmählich zum Lärm, zum unerträglichen Lärm. Gangly schrie. „Die machen uns wahnsinnig!“ brüllte er und zerrte an seiner Kette. Nun rannten alle und hatten die Hände auf die Ohren gedrückt, doch das nützte nichts. Jeder einzelne Ton schien in den Köpfen widerzuhallen und sich zu vervielfachen.
Wilkie schrie, was er konnte. Wie betrunken rannten alle dem nächsten Portal entgegen. Die Porteure warfen die Leute durch das Tor, so schnell sie konnten. Wilkie landete der Länge nach auf trockenem Sand. Alle Reiseteilnehmer drängten sich an einem Strand mit rötlichem Sand zusammen und warteten darauf, daß sie wieder klar denken und fühlen konnten. Es dauerte ziemlich lange. Aber dann schaute Wilkie auf die See hinaus und ließ vor Staunen den Mund offen. Das Wasser da draußen sah recht merkwürdig aus. Es rollte träge auf den Sand, ohne ihn jedoch zu befeuchten. Die See sah aus wie eine graue Salbe.. Die Luft war so trocken, daß Wilkies Nase und Kehle schmerzten. „Das ist eine schlechte Welt“, hörte er die Contessa mit beherrschter Stimme sagen. „Soloman, bring uns schnell von hier weg!“ Soloman hüpfte herum, und seine Kette klirrte. „Hier sind zwei Tore!“ schrie Gangly. Die Porteure brachten die Leute durch. Wilkie rollte über Steine und setzte sich auf. Sofort legte sich ein Netz seidiger Spinnenweben über ihn. Er schlug danach und suchte es zu zerreißen, verstrickte sich aber immer stärker darin. Er begann zu schreien, aber nun hieb ihm jemand mit einem Stock über die Sitzfläche. Er sah Gangly und Charnock neben sich, beide verschnürt. Die Felsen vor ihm waren mit grünem Blut befleckt, das von zehn oder zwölf unwiderruflich toten Honschi stammte. Sie hatten tapfer gekämpft, bis zum Tod. „Diese Ungeheuer!“ brüllte Charnock. Es war ein grauenhafter Anblick. Der runde, schleimige Körper der fremden Kreatur war etwa von der Größe eines Pferdes, und eine Menge Gliedmaßen ließen ihre Fühler über den steinigen Boden spielen. Und die Köpfe! Sie waren unbeschreiblich scheußlich. Es waren gar keine Köpfe, sondern Knollen aus ineinander verknoteten Fühlern, die sich alle unabhängig voneinander schlängelten und verdrehten. Einige dieser Fühler hatten an den Spitzen Augen, welche die Neuankömmlinge böse anfunkelten. Andere Fühler trugen Ohren, wieder andere rosafarbene klaffende Mäuler, in denen kohlschwarze, spitze Zähne aufgereiht waren. Nach diesem ersten kurzen Kampf waren die Mitglieder der Reisegesellschaft von den Netzen kampfunfähig gemacht worden, sobald sie in diese Dimension überwechselten. „Nein, nein“, kreischte Wilkie, als Ottorino erschien. „Und jetzt ist die Contessa an der Reihe! Die Contessa!“
10.
„Die Contessa!“ schrie Wilkie immer wieder, versuchte fieberhaft eine Hand aus dem Netz zu
befreien, um nach seinem neuen Revolver greifen zu können. „Diese Dinger werden sie auch
fesseln!“
Die Bewegungen der Fühler, die sich über den Boden tasteten, machten ihn fast wahnsinnig.
Seine ganze Haut lief rosa an. Dieses Untier gab aus allen Poren eine beißend riechende,
schleimige Flüssigkeit von sich.
„Man muß die Contessa aufhalten!“ brüllte Wilkie.
Auch Charnock schrie. „Gangly, tu deine Arbeit! Ottorino!“
Ottorino, der unmittelbar neben dem Tor mit einem Netz kämpfte, verschwand.
„Gott sei Dank!“ ächzte Wilkie. Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß der Marmorleib der
Contessa sich in den üblen Netzen dieses Scheusals winden sollte.
Ein Knüppel senkte sich erstaunlich langsam und schlug Charnock bewußtlos. Wilkie schlug
um sich. Er konnte seine Waffe erreichen, wenn... Aber der Schlag schien aus weiter, weiter
Ferne zu kommen und auf seinem Schädel zu landen. Und das letzte Ding, das er in dieser abscheulichen Dimension sah, waren die Fühler, die neben seinem Gesicht über den Boden krochen, ehe sich ein grauer Nebel über seine Sinne legte. Diese Dinger hatten Extremitäten, die den Widerhaken von Kletten glichen. Die Sinnesorgane schienen denen der Seeanemonen ähnlich zu sein, und die Bewegung war die einer Riesenschnecke der untersten Entwicklungsstufe. Langsam, ganz langsam und nachdem er erst durch ganze Serien von Alpträume gegangen war, kehrten Wilkies Sinne wieder zurück. Der Felsboden war mit einer dünnen, grünen Algenschicht bedeckt. Die Netze wurden erst weggerissen, als ihre „Bewohner“ die Ausweglosigkeit ihrer Lage begriffen hatten und sich in Reih und Glied anstellten, um sich wie eine Herde antreiben zu lassen. Die Reste der Reisegesellschaft schleppten sich zum Grat eines Berges hinauf, um auf der anderen Seite schmerzlich langsam in ein tiefes, breites Tal abzusteigen. Es war eine grauenhaft öde Landschaft, diese algenüberzogenen Steine, das lockere Geröll, die verkrüppelten Nadelbäume und bizarren Stechginstersträucher; nirgends eine Brücke oder sonst etwas, das auf Menschen hätte schließen lassen. Das Untier ließ oben auf dem Grat seine Fühlerbewegungen etwas langsamer werden, aber es nahm seinen Gefangenen sämtliche Waffen weg, dann sogar auch die Kleider. Die Translatorbänder übersah das Ding wahrscheinlich, denn die waren ja in den Haaren versteckt. Wilkie atmete tief durch, denn der Wind biß kalt in das nackte Fleisch. Bald hatte er am ganzen Körper eine solide Gänsehaut, und er zitterte ununterbrochen. Die erschöpften Leute, die noch mit Seilen aus seidigen Spinnweben zusammengebunden waren, stolperten in das Tal hinunter. Charnock, dessen Kette das Interesse des Untiers gefunden hatte, führte Gangly, und Wilkie folgte dem Porteur; hinter Wilkie kam ein zu Tode geängstigter Honschi. „Wo sind wir denn?“ fragte Charnock leise seinen Porteur. „Wir haben das falsche Tor genommen“, wisperte Gangly zurück. „Ich verstehe nicht, was Soloman ...“ „Denke nicht darüber nach“, riet ihm Charnock. „Er ist der beste Porteur aus allen Dimensionen, die ich kenne.“ Es schien, als finde Gangly die Situation nicht nur trostlos, sondern auch überaus geheimnisvoll und verworren. Als sie sich dem Tal näherten, erkannte Wilkie andere Ungeheuer und Gruppen von Gefangenen. Es gab seltsame Kreaturen darunter, die unter ihren Netzen saßen oder zusammengekauert lagen. Unter ihnen waren auch Menschen und menschenähnliche Wesen. Gemeinsam mit den anderen Gefangenen und Bewachern marschierten sie nun weiter. Vor Wilkie trottete ein kleiner, rotbrauner Mann mit den längsten Armen dahin, die Wilkie je gesehen hatte. Der kleine kurzbeinige Kerl tat Wilkie entsetzlich leid. „Durchhalten, mein Freund“, redete Wilkie ihm zu. Große Augen musterten ihn. „Ich verstehe nicht, was du sagst, aber ich bin in der gleichen Lage wie du“, antwortete der Kleine. „Wir werden aufgegessen. Das ist sehr lustig.“ Wilkie glaubte schon, sein Translatorband spiele ihm einen Streich. Wieso lustig? Wilkie lächelte den Kleinen breit an und schüttelte heftig den Kopf. Dann machte er eine andeutungsweise seitliche Bewegung und rollte dazu die Augen. „Flucht? Ich würde es ja gern versuchen, aber diese Unbaummonstren halten uns doch so fest, daß wir nicht auskommen. Ich heiße Rat Mobril und komme von einer Welt, die Myrcinus heißt.“ „Mein Name ist J. T. Wilkie“, antwortete der junge Mann. Die Kolonne taumelte weiter. Und es dauerte unendlich lange, bis die Sonne unterging. Sie bekamen nichts zu essen oder zu trinken, und auch die Fesseln wurden nicht gelöst.
Die Nacht wurde sehr kalt und unangenehm. Sie kauerten sich zusammen, um sich
gegenseitig ein wenig zu wärmen, aber der Morgen brachte nach einem viel zu kurzen und
unbequemen Schlaf nur neue Keulenschläge, ehe der Marsch wieder begann.
Wilkie marschierte wieder neben Mobril.
Nun fiel da und dort jemand vor Schwäche um. Sie wurden mit Schlägen in die Reihe
zurückgejagt.
„Du scheinst zu verstehen, was ich sage“, bemerkte Mobril einmal, als sie ein Tal
durchquerten. „Ich fürchte, wir werden nicht viel weiter gehen. Das Mädchen da vorn wird
den Marsch wohl kaum überstehen.“
„Ja“, antwortete Wilkie kurz.
Plötzlich blieb er unvermittelt stehen. Weiter vorn war ein Tumult ausgebrochen. Schreie
ertönten, und an den seidenen Seilen wurde heftig gezerrt. Einige Leute fielen zu Boden.
Nun öffneten sich am Pfad Mäuler.
Mäuler. Wilkie konnte es nicht fassen, aber es war so. Im Fels nebenan öffnete sich ein
Schlitzmaul.
Charnock rappelte sich in die Höhe und warf dabei eine ganze Serie von Steinen in das offene
Maul. Wilkie spürte, wie der Seilzug hinter ihm nachließ und schaute sich um. Der Honschi
hinter ihm verschwand gerade in einem Maul.
Überall öffneten sich neue Mäuler und verschlangen alles, was in ihrer Nähe war. Wilkie
wagte nicht zu entscheiden, was diese Dinger waren. Er wollte es auch gar nicht wissen,
sondern sprang in die Höhe und rannte wie ein Irrer davon. Da Gangly am selben Seil hing,
zerrte er diesen hinter sich her; ihm folgte Charnock, dann Mobril und schließlich das
Mädchen, und so rannten sie Hals über Kopf den Hang hinab. Auch andere rissen sich nun
los; etliche von ihnen wurden im letzten Moment von den gierigen Mäulern noch geschnappt,
aber einige vermochten sich noch zu retten und rasten ihn wahnsinniger Angst Wilkie nach.
„Hierher!“ schrie das Mädchen. Ihre Stimme klang etwas kehlig und hatte trotz aller Angst
ein goldenes Timbre. Alle rannten nun ihr nach, und Steine kollerten hinter ihnen drein.
Dicke Schweißtropfen brannten in ihren Augen, und sie atmete keuchend. Dann brach das
Mädchen zusammen, und ihr goldenes Haar lag
wie ein Schleier über ihr.
Wilkie ließ sich neben ihr auf die Knie nieder und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
„Sie hat uns gerettet“, keuchte Charnock. „Diese verdammten Mäuler schnappten auf dem
ganzen Weg, den wir eingeschlagen hatten, nach uns.“
„Da kommen die Ungeheuer!“ brüllte jemand. Es war Mobril.
Rosafarbene Fühler rollten sich zusammen, streckten sich, tasteten den Boden ab, umgingen
aber geschickt die riesigen Mäuler am Berghang, die noch immer gierig schnappten.
„Ein Tor“, sagte Charnock. „Gangly, ist hier kein Tor in der Nähe?“
Gangly versteifte sich. Er begann sich wie eine Wetterfahne im Sturm zu drehen. Wilkie hielt
den Atem an. Allmählich war ihm klar geworden, welch wundervolle Gabe in diesem
patronenförmigen Kopf versteckt lag.
„Ungefähr hundert Meter. Ein bißchen mehr oder weniger und in dieser Richtung“, sagte
Gangly schließlich und deutete.
Wilkie zog das goldhaarige Mädchen in die Höhe. Ein Seidenseil verband sie noch mit
Mobril. Sie begannen zu rennen. Alle rannten.
„Schnell, schnell!“ zirpte Mobril, der weder müde noch hungrig zu sein schien. „Beeilt euch
doch!“
Mobril verstand natürlich das mit den Toren in eine andere Dimension, denn er hatte ja selbst
erwähnt, woher er stammte. Aber das Mädchen? Die Goldhaarige war ein Rätsel...
„Hier!“ keuchte Gangly. Jetzt hatte er ganz selbstverständlich jene Aufgabe übernommen, für
die man ihn ausgewählt und ausgebildet hatte. Geschickt und sehr bestimmt befahl er ihnen,
einen Kreis zu bilden. Sie
legten einander die Arme um die Schultern und hielten sich aneinander fest. Unter seinen
Händen fühlte Wilkie auf der einen Seite festes, weiches, warmes Fleisch, auf der anderen
Charnocks derbe Lederhaut. Und dann fiel er... fiel...
„Wohin gehen wir?“ schrie Charnock.
„Ist doch egal, wenn wir nur von hier wegkommen!“
Wilkie wußte es selbst nicht, daß er das geschrien hatte.
Sie fielen durch dichtes Buschwerk; Wasser ergoß sich über sie, Insekten summten an ihnen
vorbei, und sie fielen, fielen und fielen weiter durch riesigen Farn.
Dann spürte Wilkie einen schmerzhaften Aufprall, und der Körper des Mädchens wurde ihm
buchstäblich in die Arme geworfen. Er wagte einen Blick nach oben. Über ihm hielt sich
Mobril mit seinen langen Affenarmen an einem Farn von Urzeitausmaßen fest und sah seinen
neugewonnenen und schon wieder verlorenen Kameraden nach, die nicht aufhörten zu fallen.
„Ich habe es doch versucht!“ jammerte er. .Aber das Seil ist gerissen!“
Er verschwand im Farngestrüpp. Wilkie schrie, weil ihm Dornen den Körper zerkratzten.
„Die Tore!“ Gangly hielt sich noch immer an Charnock und dem Mädchen fest. „Sie sind
oft... nahe... beisammen... Hier ist... schon wieder eines... Aber wir... fallen... noch immer...“
Und dann schrie er, weil ihm ein Farnwedel wie eine Peitsche über den Rücken schlug.
„Gangly, du mußt uns durchbringen, du mußt!“
Das Mädchen schaute Wilkie aus riesigen grünen Augen an. Er faßte ein wenig fester nach ihr
und drückte sie an sich. Und er lächelte. Sie versuchte zurückzulächeln, zuckte aber
zusammen, als lange Dornenranken ihren Körper streiften.
Und dann folgte ein Plumps, der ihnen erst einmal allen den Atem nahm. Wilkie lag auf Gras
und war überzeugt, daß er sämtliche Knochen im Leib gebrochen hatte.
Über ihnen war klarblauer Himmel und strahlende Sonne, um sie herum Vogelzwitschern,
Insektensummen und frischer, köstlicher Duft. Es dauerte eine Weile, bis sie das begriffen.
„Ich glaube, wir sind in Durostorum“, meinte Gangly. „Wirklich, das glaube ich.“
„Dann sei dem Schwarzen Naspurgo Lob und Preis!“ rief Charnock.
Und dann lachte er.
Auch J. T. Wilkie lachte, und dabei spürte er jeden einzelnen Knochen in seinem Körper. Sie
waren noch alle da; er brauchte sie nicht zu katalogisieren.
„Wir sind also angekommen“, stellte er fest.
Das Mädchen lag schlaff, bewußtlos und sehr lieblich da unter der freundlichen Sonne von
Durostorum.
11.
„Hast du dein Haar schon je einmal geschnitten, Sharon?“ Vorsichtig nahm er das Translatorband aus der goldenen Fülle und befestigte es in seinem Haar. Sie wartete, bis er fertig war. „Nein, J. T. Niemals. Nur die Enden habe ich immer ein wenig zugestutzt, damit sie nicht brachen. Ich komme aus der Dimension Leon, und dort ist es nicht üblich, die Haare zu kürzen.“ Um sie herum herrschte die Betriebsamkeit, wie man sie an Bord eines Schiffes findet, nur daß kein Wasser an den Rumpf klatschte und keine Holzbohlen krachten. Man hatte sie schließlich gefunden und abgeholt, und jetzt waren sie, wie Charnock erklärte, zu einem behaglichen Lager unterwegs, wo sie nachdenken konnten, was sie weiterhin tun sollten. Aber J. T. Wilkie hatte nur den Wunsch, mehr über dieses goldhaarige Mädchen zu erfahren, das seine ganzen Lebensgewohnheiten über den Haufen zu werfen begann.
Das Translatorband wechselte immer wieder von einem Kopf zum anderen, während sie sprachen. Später wollten sie eines für Sharon zu bekommen versuchen. „Wir von Leon wissen ziemlich viel von den Dimensionen, aber zu lernen gibt es ja doch immer noch mehr. Die Wissenschaften vom Leben liegen uns sehr am Herzen. In Physik und den elektronischen Fächern sind wir dafür vielleicht nicht ganz so gut. Wir treiben Handel mit vielen Dimensionen, und ich gehörte einer Gruppe an, die in eine neue Weltengruppe vordrang. Meine Gruppe wurde von diesen . . . diesen Tob'kliacs, diesen abscheulichen Kreaturen, aus dem Hinterhalt überfallen.“ Wilkie legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft. Ihre Hand und Fußgelenke waren ebenso bandagiert wie die Wilkies, und das war auch notwendig gewesen, denn Stadtleute sind nur selten einmal an tagelange Felsklettereien mit bloßen Füßen gewöhnt. „Man kann ihnen natürlich nicht zur Last legen, daß sie so häßlich aussehen, denn das ist eine Laune der Natur, und wir auf Leon haben dafür Verständnis. Aber das, was sie tun, ist ebenso abstoßend wie ihr Aussehen. Die Tob'kliacs sind - es läßt sich wohl kaum anders beschreiben - die Sklavenhändler der Dimensionen. Hinter dieser Sklaverei muß noch eine andere Intelligenz als treibende Kraft stecken. Das vermuten wir wenigstens.“ Sie zog ihre Decke enger um die Schultern, obwohl die kleine Kabine angenehm warm war. „Aber das ist jetzt unwichtig. Was meinst du? Wie kommen wir nach Hause?“ „Gangly ist ja da.“ Sie reichte ihm das Band. „Ja, er ist sehr gut. Wir haben unsere eigenen sehr hochentwickelten Porteure. Ich selbst bin höchstens ein latenter, fürchte ich. Solche wie mich gibt es aber viele.“ „Ich habe etwas für meine Contessa zu erledigen“, erklärte J. T. mit einiger Bestimmtheit. „Ist das erledigt, will ich natürlich nach Hause. Aber deine Leute halten doch sicher nach dir Ausschau?“ Sie schüttelte den Kopf, und Wilkie bemerkte verzweifelt, wie der Glanz in ihren Augen erlosch. Charnock schaute zur Tür herein. „Na, geht es euch jetzt besser?“ „Klar. Aber sag mal, Charnock, kannst du nicht irgendwo ein Translatorband für Sharon auftreiben? Mit einem ist die Unterhaltung doch ein bißchen zeitraubend.“ „Du bekommst eines, sobald ich eines finde. Ist Sharon wieder kräftig genug, daß sie auf Deck kommen kann?“ In blauem Rock und weißer Bluse, die bandagierten Füße in unförmigen Pantoffeln, kletterte das Mädchen die Leiter hinauf. Charnock, Gangly und Wilkie, alle in bunt zusammengewürfelten Kleidern, standen mit ihr an der Reling. Der Himmel war weiß und blau und unendlich. Unter ihnen lagen sauber abgezirkelte Felder. Die Leute, die dort arbeiteten, winkten zu ihnen herauf. Durostorum war, und das stellten sie mit Vergnügen fest, eine wundervolle Welt. „Ja, das hier ist meine Heimat“, sagte Charnock stolz und trank mit hungrigen Augen das liebliche Bild in sich hinein. Er hatte Gangly die glitzernde Kette abgenommen und trug sie in Schlingen um seinen linken Arm. „Ich kehre zur Contessa zurück. Ich schulde ihr... Ach was! Sie hat seltsame Kräfte, und dabei wollen wir's belassen. Aber erst will ich mir's hier wieder einmal wohl sein lassen.“ „Und was ist mit dem verdammten Portal?“ wollte der eifrige J. T. Wilkie wissen. Gangly grunzte. „Was soll das heißen, Gangly, du alte Kartoffel?“ neckte ihn Wilkie, der sich so fühlte, als perle Sekt in seinem Gehirn. „Lehnst du, der erstklassige Handwerker, vielleicht die Seelenlosigkeit der Maschine ab?“ „Ich kann nur sagen, daß es ein statisches Portal ist. Ein Porteur aber kann frei von einem Tor zu einem anderen gehen...“
„Allen Himmeln sei Dank dafür“, unterbrach ihn Charnock. „Schaut!“ „... und ein PorvoneLebensportal braucht mindestens so viel Energie, daß man eine ganze Stadt beleuchten kann“, vollendete Gangly dickköpfig. Alle schauten dorthin, wohin Charnocks Finger wies. Aus den schachbrettartigen Feldern stieg eine hohe Mesa auf, ein Bergmassiv mit steilen Wänden und einem ebenen Plateau. Diese Mesa war noch etwa eine Meile entfernt und ungefähr drei bis vierhundert Meter hoch. In rund hundertfünfzig bis zweihundert Metern Höhe, also auf halber Berghöhe, lag das Plateau, und dort herrschte ein Gewimmel von an und abfliegenden Schiffen. Ganz oben am Gipfel des Massivs lag eine hell erleuchtete Stadt. „Das ist die Festung von Durostorum!“ Charnock lächelte wölfisch. „Und zum Glück auch eine Festung, die meinen Leuten wohlgesinnt ist. Dort können wir über Geschäfte reden.“ Das Schiff zog weiter durch die Luft, und die vielen Fähnchen flatterten lustig im Wind. Die Mannschaft drängte sich auf dem Deck zusammen und sah der Festung entgegen. „Ihr dürft nur nie vergessen“, warnte Charnock, „daß meine Leute nichts von Dimensionen wissen. Die Händler von Parallelwelten kommen und gehen, ohne daß sie sich als Fremde zu erkennen geben. Erinnerst du dich noch, als wir auf die Schiffe warteten, J. T.? Das war damals, als wir dich nach Irunium brachten.“ „Ja. Aber sicher ist doch nicht ganz Durostorum so, oder?“ „Natürlich nicht!“ Charnock lachte. „Wir haben große Seen, tropische Wälder, Eispole und Gebirgsketten, aber in allen gemäßigten Zonen ist das Klima sehr angenehm, so daß auf diesen Felsmassiven auch überall Festungen gebaut wurden, die das umliegende kultivierte Land schützen. Die Bevölkerung ist nämlich noch nicht sehr zahlreich.“ Er sah träumerisch in die Ferne. „Wir sind auch nicht die erste intelligente Lebensform, die auf Durostorum lebt. Wir stammen von dieser Welt, aber unsere Vorfahren haben Städte gebaut und Nachrichtenverbindungen angelegt und sich dann selbst ausgerottet. Was uns von ihnen blieb, ist der Antrieb unserer Schiffe.“ „Aha!“ bemerkte Wilkie. „Das Herz eines jeden Schiffes ist das Energieaggregat. Es ist nur ein kleines Ding und ziemlich kompakt und kann in einer Höhe von etwa hundertfünfzig Metern praktisch jede Last tragen und in jede Richtung gesteuert werden. Man kann in Sekundenschnelle von Null auf zwanzig Stundenmeilen beschleunigen nach deinen Begriffen selbstverständlich. Niemand weiß, wie das Aggregat arbeitet oder was geschieht, wenn es einmal zu arbeiten aufhört. Diese Dinger finden wir an den Stätten der alten Zivilisation. Sie sind die größte Kostbarkeit von Durostorum außer natürlich dem sprichwörtlichen Mut der Bewohner. Es ist also verständlich, daß diese Aggregate teuer bezahlt werden.“ „Du willst also mit deiner euphemischen Rede ausdrücken, daß ein solches Aggregat nicht zu kaufen ist, sondern daß man ein neues ausgraben oder einem anderen abnehmen und dafür kämpfen muß?“ „Ja.“ „Das hieße aber doch ständige Kriege...“ „Leider war es in der Vergangenheit wirklich so. Wir haben eine schriftlich festgehaltene Geschichte von fünfzehnhundert Jahren. Jetzt wird versucht, durch Verhandlungen die alten barbarischen Kriege überflüssig zu machen.“ Das Schiff schwebte mit leicht geneigtem Bug zum Heck eines anderen Schiffes, das eben die Festung verließ. Flaggengrüße wurden ausgetauscht, und Wilkie sah ganze Reihen von Wurfgeschützen aus den Schießscharten ragen. „Vergeßt nicht, daß ihr nicht von den Dimensionen plappern dürft“, warnte Charnock. „Ihr wißt, was passieren würde, wolltet ihr auf der Erde davon reden.“ „Ja“, antwortete Wilkie. „Du würdest auf dem Weg zur Klapsmühle nicht einmal auf einer Psychotherapeutencouch ausruhen können.“
„Ich habe alle Hände voll zu tun, um unseren Transport zur Festung Graynor zu organisieren
und nehme an, daß die Contessa schon vor Wut Feuer speit, weil wir uns verspätet haben. Sie
ist ja vermutlich durch die richtigen Tore gegangen. Hier...“ Er nahm sein Translatorband ab
und reichte es Sharon. „Das leihe ich dir, bis ich zurückkomme. Zu Hause brauche ich es ja
nicht.“
„Amen“, antwortete Sharon und lächelte boshaft. „Wir haben einen Zellulartranslator, der
wesentlich leistungsfähiger ist als dieses plumpe Juwelending hier.“ Sie zog ein Schnütchen.
„Leider habe ich meinen bei den Tob'kliacs verloren.“
„Sharon, da mußt du uns wohl ein paar von den euren besorgen“, schlug J. T. höflich vor.
Sie nickte förmlich. „In Ordnung. Wir werden euch eine Anzahl unserer Translatoren
verkaufen. Das, was ihr uns dafür bezahlen wollt, können wir später aushandeln.“
„Eh?“ sagte J. T. Wilkie perplex.
„Vergiß nicht, daß wir quer durch die Dimensionen handeln.“
„Auch mit Altinum?“
Gangly schüttelte seinen patronenförmigen Kopf. „Nein. Altinum liefert durch Mittelsmänner.
Altinum ist eine etwas weiterentwickelte Kopie deiner Erde, J. T.; dort weiß man nichts von
den Dimensionen, und wir wollen auch nicht, daß die davon erfahren. Angenommen, eure
übervölkerte Erde erführe, daß die Bevölkerung fruchtbarer Dimensionen wie Durostorum,
Irunium und anderer nur nach Tausenden zählt würden eure Leute da nicht hereindrängen?“
„Hm. Darüber will ich nun wirklich nicht streiten“, meinte J. T.
Als Charnock zum Schiff zurückkehrte, sah er ziemlich vergnügt drein. Er hatte im Haar ein
nagelneues Translatorband und schleppte einen Koffer, dessen Inhalt bald die kleine Kabine
füllte. Es waren frische Kleider, Waffen, Landkarten und Geld. Wilkie hob eine siebenkantige
Münze auf und pfiff. „Sauber, wirklich sauber gemacht, Charnock. Wie hast du das alles
geschafft?“
„Ich traf hier einen Geschäftsmann, der mit Männern aus den Dimensionen handelt. Der
Name der Contessa hat sozusagen bezahlt.“
„Gute alte Contessa“, begeisterte sich der loyale J. T. Wilkie. „Die läßt wirklich keinen
hängen.“
Nun mußten sie Sharon einigermaßen vorsichtig erklären, wer die Contessa war. Komisch,
Wilkie fand nicht die richtigen Worte.
In ihren neuen Kleidern und einigermaßen gut ausgestattet, bezahlten sie den Kapitän des
Schiffes und gingen von Bord. In der Stadt fanden sie eine Unterkunft für die Wartezeit, bis
ihr Schiff kam, mit dem sie zur Festung Graynor weiterfliegen konnten.
Immer mehr kam es Wilkie zu Bewußtsein, wie selbstbewußt, zurückhaltend und sicher
dieses Mädchen Sharon aus der Dimension Leon war. Sie erschien kühl und schritt im Glanz
ihres goldenen Haares mit fast kätzischer Grazie dahin; dabei war sie von einer
unwahrscheinlichen körperlichen Leistungsfähigkeit, denn sonst hätte sie die Strapazen bei
den Tob'kliacs ja nicht überstanden.
Die vier interdimensionalen Reisenden waren inzwischen recht gute Freunde geworden.
Jedem war klar, daß Gangly große Sehnsucht nach seiner Heimatwelt Lisifutz hatte.
Aber Gangly würde sie alle niemals im Stich lassen. Er würde sie durch ein passendes Tor
schicken und erst dann heimkehren, wenn die anderen in Sicherheit waren. Davon war Wilkie
jedenfalls restlos überzeugt.
Wilkie überlegte: Gangly von Lisifutz; Charnock von Durostorum; Sharon von Leon; J. T.
Wilkie von der Erde.
Eine seltsame Truppe interdimensionaler Tramps...
Sie bewohnten das oberste Stockwerk eines Weinhauses, das moderne sanitäre Installationen
besaß.
Einmal kehrte Wilkie von einem Mittagspaziergang zu den Wällen zurück und sah Sharon vor
sich hergehen. Er lief ein wenig schneller, um sie einzuholen, denn sein Herz klopfte immer
recht stürmisch, wenn er sie sah. Sie trug ein neues orangefarbenes Kleid, aber ihr goldenes
Haar war nicht zu verwechseln.
„Sharon!“ rief er, doch sie schritt unbeirrt weiter.
Er rannte, überholte sie und blieb vor ihr stehen. „Sharon, warum neckst du mich, du Hexe?
Was...“
Es war nicht Sharon.
Sie sah aber ganz so aus. Aber als er sie genauer musterte, war ihr Haar doch um eine
Schattierung dunkler, ihr Naschen nicht ganz so gerade, ihr Mund nicht ganz so schön
geschwungen und ihre Augen waren braun.
„Sie haben sich geirrt“, sagte das Mädchen hochmütig und schritt davon.
„Und ob“, murmelte Wilkie vor sich hin. Er war perplex.
Sharon war nicht im Quartier. Charnock und Gangly unterhielten sich angeregt und sahen ihm
entgegen, als er eintrat. Ihre Gesichter waren erregt; es mußte also Neuigkeiten geben.
„Ich habe erfahren, daß eine Gruppe aus Leon in der Stadt ist“, erzählte Charnock. „Und das
heißt also...“
„Damit ist das Mädchen erklärt“, antwortete Wilkie und erzählte ihnen von der Begegnung.
„Also wird Sharon... Oh, zum Teufel!“
„Hat sie dich verstanden?“ fragte Gangly. „Natürlich, das mußte sie ja.“
Als Sharon zurückkehrte, erwähnte sie nicht sofort, daß sie ihre Freunde in der Stadt getroffen
hatte, und Wilkie brachte es nicht über sich, von sich aus davon zu beginnen. Charnock und
Gangly hatten sich in den anderen Raum zurückgezogen. Sie setzte sich und lehnte sich so
zurück, daß sie eines ihrer langen Beine über das andere schwingen konnte. Wilkie
beobachtete sie ein wenig düster. Nun wurde auch sie ernst, furchte die Brauen und deutete
gebieterisch auf ihn.
„J. T., du magst mich also nicht, was?“
„Ha!“ sagte er nur.
„Was soll das heißen? Du hast mir das Leben gerettet, aber seither behandelst du mich wie ein
Findelkind.“
„Du kennst meine Gefühle für dich, Sharon.“
„Ah!“ Ihre Lässigkeit stieg ihm zu Kopf. Er legte ihr eine Hand auf das goldene Haar und
streichelte es. Sie ließ sich auf die zerwühlten Kissen des Bettes zurücksinken und zog ihn mit
sich.
„Du dummer Kerl!“ schalt sie ihn. „Worauf hast du denn die ganze Zeit gewartet? J. T., fast
hättest du mich heute verloren...“
Aber er verschloß ihr den Mund mit dem seinen, und die weiche Sanftheit ihrer Lippen ließ
ihn vergessen, daß er einmal leidenschaftlich gern Mädchen gejagt hatte. Sie legte ihre Arme
um ihn und ließ sich fallen...
Später, als sie ihr Zimmer aufräumte, kamen Charnock und Gangly zurück. „Ich habe ein
Schiff gefunden“, berichtete Charnock, „und drei Plätze gebucht.“ In seiner Stimme lag ein
Unterton von Wildheit.
„Wieso drei? Charnock, du altes Streitroß, Sharon kommt doch mit uns.“
„Wirklich? Nun, dann buche ich noch eine Passage. Aber warum kommt sie mit, J. T.?“
„Nun, sie gehört jetzt zu mir.“
„Ja?“ Charnock grinste wie ein Teufel. „Das ist nett für dich, J. T. Sie kommt also mit uns,
um in der Festung Graynor deinetwegen ihr Leben zu riskieren? Das würde ich ja wirklich
verdammt gern glauben, J. T. Wirklich, sehr gern.“
12.
In jener Nacht ging ein glühender, freudig gespannter J. T. Wilkie zu Sharons kleinem
Zimmer. Sie wartete auf ihn neben dem Fenster, und der blaßgoldene Mond von Durostorum
schüttete einen feenhaften Schimmer auf ihr goldenes Haar, ihren weißen Körper, in ihre
grünen Augen. Hungrig nahm er sie in die Arme.
„Deine Leute sind in der Stadt, Sharon. Du könntest mit ihnen gehen“, sagte er.
„Willst du nicht mit mir kommen?“
„Ich muß doch dieses Portal für meine Contessa besorgen.“
Der zarte Duft ihres Körpers überwältigte ihn. „Ich glaube, ich werde mit dir gehen, wenn du
nicht mit mir kommst, J. T.“
An Polak dachte er erst wieder, als sie Seite an Seite auf dem schmalen Bett lagen und er
ihren warmen Atem an seiner Schulter fühlte.
Wenige Tage später gingen sie an Bord des Schiffes, das sie nach Graynor bringen sollte.
Mehrere Schiffe folgten und schlossen sich zu einem Geleitzug zusammen. Ihr Schiff hieß
Jade Lady und war, wie übrigens alle Schiffe von Durostorum, sowohl als Kampf wie auch
als Handelsschiff ausgerüstet. Die Stadt lieferte Kriegsmaterial nach Graynor. Charnock kaute
heftig an seiner Unterlippe.
„Ich glaube nicht, daß die Contessa mit der gegenwärtigen Situation gerechnet hat“, sagte er
zu Wilkie. „Wenn wir irgendwie zu einem PorvoneLebensportal kommen sollen ...“
„Ein bißchen Abstauben würde uns wohl nützen?“ meinte Wilkie. „Brauchen wir irgendwie
eine Deckung?“
„Du verstehst nicht ganz, was ein Krieg auf Durostorum bedeutet, J. T. Er könnte die Pläne
der Contessa stören. Und, J. T., die muß dieses Portal unbedingt haben!“
„Das weiß ich doch, Charnock. Auf mich kannst du dich verlassen. Ich schulde der Contessa
eine ganze Menge mehr, als ich je ausdrücken kann. Es ist unsere Aufgabe, für die Contessa
ein solches Portal zu besorgen. Und das tun wir auch. Was ist mit Gangly?“
Charnock zog eine Grimasse. „Ein komisches Huhn. Er ist ausgebildet, um als Porteur für die
Contessa zu arbeiten. Weißt du, er ist kein Sklave. Ich glaube, er wird dir und mir gegenüber
loyal sein. Wir haben schließlich viel zusammen erlebt.“
„Sag das noch mal, dann glaube ich's.“
„Wir haben schließlich viel zusammen...“, wiederholte Charnock in einem seltenen Anflug
seines ein wenig verdrehten Humors. Aber Wilkie kannte das alte Spiel und unterbrach den
Leibwächter der Contessa.
„Okay, Charnock, du altes Streitroß. Also das Portal und dann nichts wie nach Hause!“
„Und wohin, wenn ich fragen darf?“ Das sagte Charnock so grimmig, daß der Ton J. T.
lebhaft im Gedächtnis blieb.
„Das sortieren wir später aus, wenn es soweit ist“, antwortete Wilkie beiläufig.
„Diese kriegerische Komplikation ...“, meinte Charnock besorgt. „Ich habe von euren
Kriegern auf der Erde gehört, J. T. Unsere Kämpfe sind ... mehr formell, obwohl sie auch
dann nicht recht sind.“
„Gibt es eigentlich gefährlichere Waffen?“
Charnock deutete auf die Wurfwaffen und die gepanzerten Mannschaften, die sich mit Bogen,
Schwertern und Speeren beschäftigten. „Nur das, was du hier siehst.“
„Wir könnten ein paar Automatiken brauchen.“
„Ich will nichts dergleichen, das nach Durostorum durchkam - noch nicht jedenfalls.“
„Vielleicht hast du damit recht.“
Die Festung Graynor stöhnte unter einer Belagerung.
Irgendwo in diesen Felswänden, geschützt von riesigen Steinmassen, lag ein PorvoneLebenstor. Das wartete nur darauf, daß sie es entdeckten und für die Contessa herauslösten. Vom Schiff aus überschaute Wilkie die zahlreichen Schiffe, die in ihrer Normalhöhe von hundertfünfzig Metern herumschwirrten. Er sah die von Katapulten geschleuderten Steine und die in die Stadt geworfenen Brandsätze. Das Sirren der Pfeile, das Knarren der gespannten Bögen und die schrillen Schreie der Kämpfer vereinten sich zu einer wilden Kriegssymphonie. Ihn überliefen kalte Schauer, als er sie hörte. Um die Mesaflanken schwebten die Schiffe in einer tödlichen Pfeilformation. An allen Türmen flatterten grüne und schwarze Fahnen, und sämtliche Deckslaternen waren beflaggt. An allen strategischen Punkten der Schiffe schimmerten Waffen. „Die Graynor!“ schrien die Männer in den Krähennestern. Die Mannschaften rückten noch einmal ihre Rüstungen zurecht, griffen nach ihren Waffen und rannten zu den Gefechtsständen. Die Artilleristen beugten sich über ihre Wurfmaschinen. Der Kapitän, ein vierschrötiger, bärtiger Mann, befahl Sharon, nach unten zu gehen. Sie lachte ihn aber nur aus und .griff nach einer scharfen Halbpicke. „Na schön, junge Dame“, meinte der Kapitän. „Es geht ja um Ihren eigenen Kopf.“ Andere Mädchen, alle in Leder und Rüstungen gekleidet, kauerten in den Ecken der Kampf türme und hatten Bögen in den Händen. Wilkie schluckte heftig, als er sie sah. Die ersten Pfeile sausten heran und bohrten sich in den Leib der Jade Lady. Die Linie der angreifenden Schiffe, die von ihren Antriebsaggregaten auf gleichmäßiger Höhe gehalten wurden, rückte vor, um feindliche Schiffe bei sich bietender Gelegenheit zu entern. Der Geleitzug, obwohl zahlenmäßig den Angreifern überlegen, konnte nur als die gehetzte Herde angesehen werden. Brennende Pfeile schwirrten heran, und die Schiffsfeuerwehr begann mit Schläuchen und Eimern die ersten Brände zu löschen. „Wenn du ein Schiff von Durostorum bekämpfen willst“, schrie Charnock, „dann mußt du eine größere Höhe suchen. Nur so kannst du auf den Gegner hinunterschießen.“ Das leuchtete Wilkie ein, und er starrte ein wenig zweifelhaft den Bogen an, den ihm jemand aus der Mannschaft in die Hand gedrückt hatte. Charnock zeigte ihm, wie er mit dem Ding umzugehen hatte. Wilkies erster Schuß war keine klassische Meisterleistung, sondern surrte unter dem Kiel eines sich nähernden Schiffes vorbei. Er fluchte und spannte den Bogen unter Aufwand seiner ganzen Energie. Diesmal fiel der Pfeil irgendwo auf ein Deck. Allmählich füllte sich die Luft mit einem Sturm von Pfeilen, und Wilkie wurde unter dem Zwang der Verhältnisse rasch zu einem leidlichen Schützen. Wenn die Jade Lady ihren Kurs beibehielt, mußte sie in ein paar Sekunden den Decksbalken eines feindlichen Schiffes rammen. Wilkie hielt sich fest, um den Anprall abzufangen. Trotzdem wurde er über die ganze Deckslänge geschleudert, und sein Bogen flog in eine andere Richtung. Charnock lag auf den Knien und zerrte fluchend sein Zweihänderschwert frei. Wilkie krabbelte in die Höhe. Männer sprangen von einem Schiff zum anderen, als die Rümpfe zusammenstießen. Steine flogen von den Türmen, zersplitterten Planken und wirbelten Kämpfer in die Luft. Nun konnten die Wurfmaschinen auf die Breitseiten der Gegner angesetzt werden. Die Artilleristen der Jade Lady hatten den Pfeilregen über sich ergehen lassen, bis der richtige Moment für sie kam. Und jetzt war die Hölle los. Dreifachpfeile und Steinkugeln zerschmetterten die Eingeweide der feindlichen Schiffe. Ein Mann mit schwarzgrüner Rüstung sprang Wilkie an. Wilkie kreischte und duckte sich. „Los, J. T., drauf, immer drauf!“ röhrte Charnock. Wilkie griff nach einem kurzen Speer. Damit wehrte er ein wenig unbeholfen die Schwertstreiche seines nächsten Gegners ab. Es war dann mehr Glück als Geschicklichkeit, daß er seinen Gegner mit dem Speer durchbohren konnte.
Es wurde viel Blut vergossen. Dann blieb Wilkie ein Pfeil im Helm stecken, und das fachte seine Wut von neuem an. Er stürzte sich auf den Schwarzgrünen, der sich Charnock aufs Korn genommen hatte, und Charnock ließ sein fast zwei Meter langes Zweihänderschwert unermüdlich kreisen und niedersausen. Minuten später sah Wilkie, daß das Deck frei war, aber die plötzliche Attacke der Schiffe aus der Festung Graynor hatte verhindert, daß der Geleitzug durchkam. Erbittert und verärgert stieß Wilkie seinen Speer in eine Decksplanke, ging zur Reling und übergab sich. „Du hast vorzüglich gekämpft, Bursche“, lobte ihn der Kapitän, der sein Schwert putzte. „Schönen Dank auch.“ Sharon säuberte nachdenklich ihre Picke. Sie sah, wie fahlgrün Wilkies Gesicht war. „Schön war es gewiß nicht, aber notwendig“, meinte sie mit der praktischen Logik einer Frau. „Ja, ich glaube schon...“ „Wenn nicht...“ Sie deutete. Das Schiff hinter ihnen im Konvoi loderte wie ein Sonnenwendfeuer. Funken sprühten und flogen im Wind. Männer schrien. Schiffe scherten aus. Dieses zum Untergang bestimmte Schiff zog eine feurige Spur über die Luftstraße. Wie leicht hätte es die Jade Lady treffen können! Sie hatten tapfer gekämpft und Glück gehabt. Schließlich schaffte der Geleitzug doch noch den Durchbruch. Die Schiffe schwebten an ihren Ankern, und die Marodeure verschwanden in den Felsspalten des Massivs. Wilkie musterte den massiven Fels, der durch Mauerwerk auch noch verstärkt war. „Dort drinnen soll es sein?“ fragte er zweifelnd. „Beim Schwarzen Naspurgo persönlich, J. T., wir werden auch dort hinein einen Weg finden!“ röhrte Charnock. Wie ein Ameisenvolk um einen Honigtopf, so schwärmten die Männer über die starke Festung. Immer noch flogen Steine und Brandpfeile, und die Schiffe von Durostorum schlugen tapfer zurück. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, obwohl doch der eigentliche Kampf vorüber war. „Ich weiß nicht, ob es gut ist oder schlecht“, meinte Charnock brummig, als er von seinem Rundgang zurückkehrte. „Meine eigene Sippe und meine Festung sind hier nicht vertreten. Nun, damit habe ich eine gewisse Freiheit.“ Sharon nickte und bewies damit, daß sie begriff. Wilkie dagegen schaute verständnislos drein. „Warum wird eigentlich diese Festung belagert?“ fragte Sharon. Charnock zwirbelte mit seinen Lederfingern den Schnurrbart „Es sind üble Dinge geschehen. Männer und Frauen sind verschwunden, und zwar aus den umliegenden Ländern, die den Nachbarfestungen Gefolgschaft geschworen haben. Wo das kultivierte Land der einen Festung an das einer anderen grenzt, können Wüsten, Flüsse, Brachland oder Grenzsteine die Trennung bezeichnen. Graynor hat in letzter Zeit Gewalttaten vollbracht, die das Übliche weit übersteigen. Allgemein ist man der Ansicht, daß ein Fluch auf dieser Festung liegt.“ Gangly schnalzte mit der Zunge und nahm seinen lächerlichen Helm ab. „Das sind die Porvone“, sagte er. „Mir gefällt das alles nicht.“ „Wir werden nicht einem einzigen Porvone begegnen“, fauchte Charnock. „Das hat die Contessa versprochen.“ „Ich weiß, daß sie sich selbst nicht zeigen werden, daß sie sich menschlicher Werkzeuge bedienen. Und »trotzdem...“ „Graynor hat einen üblen Ruf, weil die Porvone die Festung als Basis für eines ihrer Lebensportale benutzen.“ „Das ist ungefähr so, als wolle man sagen, die Hölle stinkt deswegen, weil der Teufel dort lebt.“ „Wir würden jedenfalls besser das Schiff verlassen und unsere Zelte unten aufbauen. Ich habe uns einen Platz gesichert.“
„Warum?“ wollte Wilkie wissen.
Charnock lachte grimmig. „Weil, mein lieber J. T., von dort aus Sappen in den Berg getrieben
werden. Das heißt, sie bohren Tunnels durch den Festungsfelsen. Und du, mein Freund, bist
der Chefingenieur der Minen - nicht mehr und nicht weniger! Und du bist dazu ausersehen,
der Berater der Sappeure bei den Belagerungsstreitkräften zu sein.“
13.
Mit schmutzverkrusteten, schwitzenden, zitternden Händen trieb J. T. Wilkie immer wieder
den kalten Eisenmeißel in die Felsspalte und ließ mit wuchtigen Schlägen den Hammer darauf
sausen. Es krachte jedesmal, wenn der ungemein harte Fels gespalten war.
So hämmerten sie sich Stück für Stück ihren Weg durch das Felsmassiv. Nach einer Woche
anstrengendster Arbeit hatten sie nicht mehr als zweieinhalb Meter geschafft. Das war
erbarmenswert wenig.
Bis auf einen Lendenschurz war Wilkie nackt. Er arbeitete immer eine volle Stunde lang,
wurde von einem Mannschaftsmitglied eines Schiffes von Durostorum abgelöst und kroch
dann aus dem Tunnel, um sich zu waschen, zu essen und auszuruhen. Er fühlte sich erschöpft.
Charnock mit seinem Zweihänderschwert wirkte militärischzackig. Am Stolleneingang war
das Lager der Sappeure aufgeschlagen und gut getarnt als Ablösungslager der Angriffstruppe,
die knappe zehn Meter weiter oben arbeitete. In diesem Lager hielt sich Charnock natürlich
häufig auf.
„Alles in Ordnung, J. T.?“ fragte er.
Wilkie rieb sich mit dem rauhen Handtuch die Brust trocken, aber die bedrückte Stimmung
konnte er damit nicht abschütteln. „Chefingenieur der Minen, daß ich nicht lache!“ sagte er.
„Ich wühle mich wie ein wahnsinnig gewordener Maulwurf in diesen ...“
Charnock schnalzte mitfühlend mit der Zunge. „Ich bin kein Minenmensch, J. T., sondern ein
Kämpfer. Ich weiß, wie man Waffen bedient und ein Schiff fliegt. In einer Mine überfällt
mich eine entsetzliche Klaustrophobie. Weißt du, es hat mir gar nicht gepaßt, als ich dich
einsammeln mußte.“
„Was schaffen wir denn schon? Wie plagen wir uns, und wenn wir in die Nähe der Oberfläche
kommen, bohren sie einen Kanal hinunter und sprengen uns in die Luft. Gegenminen,
verstehst du“, fügte er bitter hinzu.
„Was können wir denn sonst noch tun?“
Wilkie schüttete das schmutzige Wasser aus.
„Sobald die Contessa kommt...“, begann Charnock, um den bedrückten Wilkie ein wenig
aufzumuntern.
„Ja!“ fuhr Wilkie auf. „Wenn sie kommt! Ich möchte nur wissen, was sie aufhält. Wir hätten's
leichter, wenn wir drei Schichten Erinelds hier hätten.“
„Was die Contessa tut... Sie wird kommen, sobald es ihr paßt.“
Was sollte Wilkie darauf antworten? Alle duckten sich, als von oben ein Felsbrocken
herunterkam, die Brustwehr durchschlug und hundertfünfzig Meter tiefer zu einer Unzahl
scharfkantiger Splitter zerbarst. Man nahm nicht viel Notiz von solchen Steinen.
„Das ist vielleicht eine faule Belagerung!“ schimpfte J. T. „Sharon ist zum Pfeileschießen
weg, Gangly gräbt in der anderen Schicht, du stolzierst mit deinem verdammten Schwert
herum, und ich arbeite mir die Finger krumm. Charnock, ich kann dir sagen, daß ich's satt
habe bis obenhin!“
„Komm, iß mal was, dann fühlst du dich gleich wieder wohler. Der Tunnel wird zur
Oberfläche durchstoßen.“
„Ha!“
Sie aßen dickkrustiges Brot und halbverbranntes Fleisch und tranken dazu einen herben Wein. Als die Sonne unterging, flammten überall in den Lagern der Belagerer die Lichter auf. Auch die Festung Graynor zündete die Lampen an. Eine neue Belagerungsnacht war angebrochen. „Wenn wir Maschinen hätten, könnten wir durch ein Tor gehen und einiges auf die Beine stellen“, meinte Wilkie. „Ohne die Erlaubnis der Contessa können wir aber nichts tun.“ Dann kehrte Gangly von der Schicht zurück und setzte sich zu ihnen an das rauchende Feuer. Seine Knopfnase war erstaunlich lebendig, und seine Hängelippe zitterte. Schließlich platzte er mit der Neuigkeit heraus. „Ich bin überzeugt, daß ich hinter dem Tunnel ein Tor gefühlt habe.“ „Ein Portal? Im Fels?“ Er schüttelte seinen Patronenkopf. „Nein. Das Massiv muß ein erloschener Vulkan sein; er ist mit Geröll gefüllt.“ „Aha!“ meinte Charnock. „Gewöhnlich steigt die Festung vom Mittelpunkt aus zu den Rändern an.“ „Ich meine, das Portal müßte irgendwo jenseits des Ringwalles im offenen Gebiet sein. Vielleicht gibt es dort so etwas wie einen Schornstein, der zur Oberfläche führt.“ „Ich kenne Graynor nicht“, erklärte Charnock, „aber das können wir herauskriegen.“ „Und das Portal ist massiv“, fügte Gangly noch hinzu. „MASSIV!“ Er schüttelte verwundert den Kopf. „Du hast doch einmal gesagt, diese Tore hätten die Tendenz, gehäuft aufzutreten“, schaltete sich nun Wilkie ein. „Das würde passen. Die Porvone benützen das eine, und dort ist dann ein zweites.“ Gangly grunzte und griff nach dem Wein. „Darüber muß ich noch eine Menge nachdenken. Mittel und Wege...“ Er hob den Becher mit der Miene eines Mannes, der zwischen den Welten und außerhalb der Reichweite gewöhnlicher Sterblicher steht. Kapitän Gobli von der Jade Lady erklärte sich bereit, den bösen Geist der Festung auszutreiben. Seine Kämpfer stellten sich auf Deck seines Schiffes auf. Charnock, Sharon und Wilkie schlossen sich ihnen an. Gangly war in seinem Element und überprüfte alles und jeden und verglich das Ergebnis mit seinen Kalkulationen. „Weißt du auch bestimmt, was du tust, Gangly?“ fragte Charnock. „Genau. Wir müssen körperlich in deine Dimension übergehen, und dann kehren wir zurück. Ich weiß es.“ „Bin ich froh, daß wenigstens einer etwas weiß“, bemerkte Wilkie sarkastisch. Sie schwebten in den blauen Himmel hinein, und die Sonne schien ihnen auf den Rücken. Gangly war so beschäftigt, daß er nichts redete. „Wenn uns die Contessa jetzt sehen könnte, wäre sie vermutlich sehr stolz auf uns“, stellte Wilkie fest. Sharon kuschelte sich an ihn. „Warum bist du eigentlich ihr gegenüber so entsetzlich loyal, J. T.?“ Sie lächelte und knabberte an seinem Ohrläppchen. „Ich glaube fast, du liebst sie mehr als mich.“ Er drückte sie fest an sich. „Das mußt du schon besser wissen, Sharon. Ich schulde ihr Dank, weil sie mir das Leben gerettet hat. Mein Freund wurde getötet und gepubickt von Leuten, die sie kränken wollten. Siehst du, sie ist eine wundervolle Frau, aber mit dir läßt sie sich natürlich auf keinen Fall vergleichen.“ Der Mädchen Jäger Wilkie lachte und küßte Sharon herzhaft. „Du wirst mit ihr recht gut auskommen. Das wirst du schon sehen!“ Sharon und Wilkie hatten sich für die Expedition mit Lederkleidung ausgerüstet und sich auch eine bronzene, flexible Rüstung zugelegt. An Waffen hatten sie kurze Speere und Schwerter, und auf dem Kopf trugen sie Sturmhauben, deren offene Riemen flatterten.
Gangly hatte sich mittschiffs niedergelassen. Er gewann immer mehr an Haltung und Format. Mit einer raschen Bewegung riß er sich Helm und Turban ab, so daß sein Kahlkopf glänzte. Wilkie verspürte so etwas, als verdrehe man ihm mit einer kurzen Bewegung den Magen; dann richtete sich das Schiff wieder auf und schwebte heiter in der Luft einer anderen Welt weiter. Von Horizont zu Horizont rollten graue Wellen. Das Schiff flog mit zwanzig Meilen Geschwindigkeit südwärts. Gangly nahm erneut seine Position ein. Er atmete tief, um sich auf den nächsten Durchgang vorzubereiten. Dann kam wieder dieser zusammengedrehte Magen, und Wilkie wußte, daß sie wieder in einer anderen Welt waren. Diesmal sah er Weizenfelder, die sich von Horizont zu Horizont erstreckten, dazwischen Telegrafenmasten. An einer Straßenkreuzung erkannte er eine Tankstelle, und ein paar Autos wirbelten Staubwolken auf. Er glaubte sogar ein Straßenschild lesen zu können WICHITATOPEKA. Er konnte sich aber auch getäuscht haben. Kansas? War er denn wirklich zu Hause? In einer Höhe von hundertfünfzig Metern und mit einer gleichmäßigen Geschwindigkeit von zwanzig Meilen pro Stunde segelte das Schiff aus Durostorum vergnügt und trotzdem würdig über den Mittleren Westen Nordamerikas, und der einzige Erdenmann an Bord wartete geduldig darauf, aus seiner Heimatwelt in irgendeine fremde Dimension gewirbelt zu werden. Diesmal gab es einen viel kräftigeren Ruck als sonst. Wilkie warf Gangly einen raschen Blick zu. Gangly sah krank aus. Sein Gesicht schien geschrumpft zu sein, und große Schweißtropfen liefen ihm über die schlaffen Wangen. Sein Patronenkopf war so naß, als sei ein Eimer Wasser über ihm ausgeleert worden. Er taumelte und mußte sich festhalten. „Was ist denn?“ erkundigte „sich Wilkie besorgt. Er rannte mit Sharon zu Gangly. Charnock und Kapitän Gobli folgten. Gangly schluckte heftig. „Ist schon gut. Es ist nur ziemlich schwierig, ein ganzes Schiff von Durostorum mit allen Kämpfern zu transportieren. Aber ich kann es schon machen.“ Sharon kühlte ihm mit einem feuchten Lappen die Stirn, und das tat ihm wohl. „Ich muß ja große Portale finden“, erklärte er. „Ein so riesiges Schiff... Das nächste Portal wird groß sein. Durostorum! Die Festung Graynor!“ Erst jetzt sah sich Wilkie genauer um. Das Schiff bewegte sich über tiefhängenden Wolkenbänken, die von der aufgehenden Sonne rosig überhaucht waren. Durch Wolkenlöcher sah er Flüsse, Seen und Wälder, die unter einem Nebelschleier lagen. An den Flüssen standen Häuser mit runden Kuppeln, und auf dem Wasser trieben Boote. Und dann schrie ein Mann. Orangefellige, katzenähnliche Kreaturen mit weißen Bärten und Fledermausschwingen umschwirrten das Schiff. Pfeile flogen und Piken funkelten im Licht. Die Jade Lady kämpfte sich tapfer durch den Schwarm. Wilkie stieß mit seinem Speer nach den fliegenden Katzendingern und wünschte sich weit weg in eine andere Dimension. Auch Charnock kämpfte gegen diese Biester, und dabei sang er auch noch. Gangly, das eigentliche Objekt ihrer Schutzbemühungen, lehnte sich an den hölzernen Kampfturm. Er duckte sich, als ein Tier an seinem Kopf vorbeisauste. Wilkie fand, daß Gangly nicht mehr unerschütterlich war. Endlich blieben die Tiere zurück. Charnock putzte sofort sein Schwert, um für den nächsten Kampf gerüstet zu sein, und Gangly schluckte heftig. „Noch einmal“, erklärte er. „Dann kommen wir innerhalb der Festung Graynor heraus. Laßt mich jetzt in Ruhe. Ich brauche Zeit, um mich zu erholen.“ Und jetzt verstand Wilkie urplötzlich, daß er etwas sehr Wichtiges übersehen hatte. Wenn Gangly etwas zustieße, dann wäre er, J. T. Wilkie, für alle Zeiten dazu verdammt, in einer anderen Dimension zu existieren. Dieser Porteur, dieser komische alte Gockel, der sich Gangly nannte, war der einzige Schlüssel zur Erde, an den sich Wilkie nun klammern konnte. Und dann war da auch noch Sharon...
Und dann war es auch schon so weit, daß sie sich für den letzten Ruck bereitmachen mußten,
den Satz hinein nach Durostorum.
Gangly hatte die ganze Reise mit ungeheurer Sorgfalt vorbereitet und berechnet. Wilkie flehte
sämtliche Himmel an, sie mögen doch verhüten, daß Gangly jetzt noch einen Fehler machte.
Alle warteten. Die Schiffsmannschaft hatte es schon längst aufgegeben, sich über das, was
passierte, noch zu wundern.
Ein Schiff war mit etwa tausend Männern und Frauen besetzt, denn Durostorum gestattete es
auch Frauen, ihrem natürlichen Kampfbegehren Ausdruck zu verleihen. Viele warteten
ungeduldig unter Deck zwischen den Wurfmaschinen, und ihre lebhafte Unterhaltung spornte
die Männer an. Gangly war erschöpft und benommen wie ein Betrunkener. Trotzdem bot er
alle seine Kräfte auf, um diese ganze Kriegsmaschine mit ihrer Mannschaft durch die
unsichtbaren Mauern zurück nach Durostorum zu schaffen.
Die Jade Lady hielt an und hing bewegungslos über den tiefliegenden Wolkenbänken. „Jetzt!“
schrie Gangly und versteifte sich.
Das Schiff bebte. Wilkie spürte, wie sich seine ganzen Gedärme verknoteten. Mit Mühe hielt
er sich aufrecht, griff nach Sharon und riß die Augen weit auf.
Der Sonnenschein verschwand. Sie hingen nun in einem Schattenraum, in einem schmalen,
trichterförmigen Kamin, der zu einem gebogenen, nach oben gewölbten Dach aus Steinen und
Geröll hinaufführte. Sie befanden sich im Kamin des alten Vulkans.
Unter ihnen bewegte sich das Schiff. Den Grund nahmen sie gerade noch wahr; er befand sich
nur noch etwa sieben oder acht Meter unter dem Kiel ihres Schiffes! Die Mannschaft starrte
entgeistert. Die meisten vergaßen den Mund wieder zu schließen. Kapitän Gobli ächzte.
Gangly sank erschöpft und bewußtlos in sich zusammen. Seine Arbeit war getan.
Charnock erkannte als erster, was geschehen war.
„Das Schiff!“ brüllte er. „Wir gehen ja in die Höhe!“
Auch Wilkie begriff nun, obwohl er noch ein bißchen benommen war.
Die Schiffe von Durostorum trieben mit ihrem uralten Aggregat immer hundertfünfzig Meter
über dem Grund. Jetzt waren es nur noch sieben oder acht Meter. Und darüber waren Steine
und Fels, in dessen Spalten phosphoreszierende Pilze glühten, und das waren etwa
hundertzwanzig Meter. Sie gingen nach oben wie in einem Aufzug.
Und wenn sie oben ankamen... Oder abstürzten...
„Alles unter Deck!“ brüllte Charnock.
Wie ein Kork schwankte das Schiff, trieb wie eine Luftblase, die sich aus einem Wrack löst;
alle taumelten nach unten, verstopften die Kajütengänge und blockierten die Leitern. Wilkie
packte Sharon und zerrte sie mit zu den Heckaufbauten.
„Gangly!“ brüllte Wilkie. Charnock zog den bewußtlosen Porteur in die Höhe und schleppte
ihn mit, als er hinter Wilkie und Sharon dreinrannte.
Dann prallte Charnock auf Wilkie, dieser auf Sharon. Wie ein Knäuel wälzten sie sich unter
der offenen Tür.
Das Schiff war gegen das Dach gestoßen.
14.
Mit der Gewalt einer unterirdischen Atomexplosion brach die Jade Lady durch die Felskruste im Zentrum der Festung Graynor. Krachend brach der Boden auf. Er barst auseinander wie zerschlagenes Mosaik, und eine Säule aus Staub und Steinen stieg in die Luft. Die Jade Lady erhob sich wie eine urweltliche Aphrodite aus den Geröllwellen und stieg weiter, bis sie hundertfünfzig Meter über dem unsichtbaren Trichtergrund schwebte. Wenn sie sich nun vom Loch wegbewegte, veränderte
sich ihr Abstand vom Boden, und dann mußte sie also mit einem Ruck hinaufsausen, um wieder den vom Gerät vorgeschriebenen Abstand vom Boden einzuhalten. Sie sah schrecklich aus. Stellenweise wies der Rumpf große Löcher auf, die Decksaufbauten waren ein entsetzliches Durcheinander, und der Kampfturm war in sich zusammengebrochen. Männer und Frauen schrien wie irr durcheinander, weil sie durchgeschüttelt wurden und jeden Halt verloren. Etliche taumelten über die Reling und fielen nach unten. Ihnen folgten Vorräte, Fässer, Waffen und alles mögliche Zeug, das aus den Löchern im Rumpf quoll. Die Jade Lady fiel buchstäblich um ihr Antriebsaggregat herum auseinander. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann schwebte nur noch das Zauberkästchen hundertfünfzig Meter hoch über dem Boden. Vielleicht wurden unsere vier Dimensionstramps nur deshalb gerettet, weil sie nicht in die Kajüte hineingestürzt waren, sondern noch an deren Schwelle lagen. Die Kajüte brach zusammen, das Achterdeck bröckelte ab, und auch der Bug wurde abrasiert. Die Kajütenschwelle hing nahezu frei in der Luft und an ihr unsere vier Wanderer zwischen den Dimensionen. Es war ein schreckliches Chaos, und ein Wunder, daß sie mit dem Leben davonkamen. Endlich erhob sich das Wrack der Jade Lady in den Sonnenschein hinauf. Sie waren, soweit sie lebten, ordentlich durchgerüttelt, aber eben doch noch am Leben. Charnock spuckte Staub aus. „Wir müssen von diesem Wrack herunter, ehe es ganz zusammenbricht“, rief er. Es war auch wirklich eine Katastrophe, daß von über tausend Menschen auf dem Schiff höchstens noch vierhundert übrig waren. Man warf Planken und Seile aus, baute wackelige Behelfsbrücken. Das Gebiet lag direkt im Mittelpunkt der Festung, und um sie herum erhoben sich die Bastionen von Graynor. Über die Felsen rannten Kämpfer auf sie zu, und ihre Waffen blitzten. „Zeit ist knapp!“ keuchte Charnock, packte Gangly, schrie Wilkie zu und rannte zur Reling. Schwankend, rutschend, springend und kriechend gelangten sie auf festen Boden. Andere folgten ihnen. „Zu einem Kampf haben wir keine Zeit“, mahnte Charnock. „Und das haben wir statt eines verdammten Portals bekommen“, stöhnte Gangly. „Stimmt“, rief Charnock, deutete auf eine Felsspalte, die etwa hundert Meter weiter vorn lag und winkte den anderen zu, sie sollten sich beeilen. Sie rannten. Ein großes, schönes, rothaariges Mädchen klammerte sich an einen kleinen, sommersprossigen Mann, der eine Axt schwang. Sie hetzten hinter Wilkie drein, und die braunhäutigen Männer der Besatzung jagten hinter ihnen her. Die Felsspalte führte in einen Tunnel, der an den Wällen endete. „Zu den Schiffshöfen!“ schrie der Kapitän. „Wenn wir einen Anlegeplatz für unsere eigenen Schiffe haben, dann haben wir auch bald die Festung!“ Der Plan war so gewesen, daß man in einer dieser Spalten einen Landeplatz sicherte und sich von dort aus zu den Wällen hinaufkämpfte. Der Plan konnte sogar noch funktionieren. Die anderen rannten weiter, aber Charnock hielt Wilkie, Sharon und Gangly zurück. „Sollen die sich ins Kampfgetümmel stürzen“, meinte er. „Wir haben einen Kampf für die Contessa zu gewinnen.“ Es war ihm aber sehr deutlich anzusehen, wie unbehaglich er sich fühlte, weil er seine Landsleute betrog. Sie rannten steinerne Korridore entlang, und ihre Schritte hallten als klatschende Echos von den Wänden. Ein paarmal glaubte Wilkie Verfolger zu hören, aber wenn er sich umsah, war der Korridor leer. Dann zerrte Charnock sie in eine aus dem Stein gehauene Kammer, in der an einem Ende Säcke aufgestapelt waren. Goldene Körner schimmerten wie Tränen im Lampenlicht. „Gangly, hier. Was meinst du? Jetzt hängt alles von dir ab.“
Gangly schluckte. Er rieb sich mit der Hand über die Stirn und zitterte heftig. „Ich ... dachte
immer darüber nach, ob ich es tun könnte, aber, beim Donner, ich habe es getan! Dieses ganze
Schiff mit tausend Menschen, und alle durch ein Portal!“
„Durch viele Portale“, berichtigte ihn Wilkie leise. „Aber jetzt, du alte Tomate, jetzt mußt du
das Portal finden, das die Porvone gesetzt haben.“
„Ich spüre es ganz nahe.“ Gangly nickte. „Natürlich haben sie es sehr gut getarnt.“
.Aber du kannst es doch finden, nicht wahr?“ drängte Sharon. Dieses Drängen erstaunte
Wilkie.
In der Festung herrschte einige Aufregung über den Einbruch eines Schiffes von Durostorum.
Überall rannten Männer herum und suchten nach den Eindringlingen, und die Gruppe mußte
öfter als einmal irgendwo im Schatten verschwinden oder in einer Nische Zuflucht suchen.
Brandfackeln und drohende Waffen sagten ihnen nicht zu.
Aber Gangly führte sie unbeirrt weiter. Er folgte seinem untrüglichen Instinkt, der ihm mit
unfehlbarer Sicherheit anzeigte, wo sich ein Tor in eine andere Dimension befand.
Selbstverständlich trafen sie wiederholt auf Wachen.
Charnock wirbelte dann sein großes Zweihänderschwert, machte einen Ausfall und rasierte
mit rasender Geschwindigkeit alles ab, was ihm im Weg stand. Wilkie und Sharon hielten
sich mit ihren Speeren ebenfalls hart daran und räumten mit jenen Wachen auf, die ihrerseits
gerne Charnock das Handwerk gelegt hätten. Selbst Gangly schlug sich tapfer.
Da auch die Wachen nur schwache Sterbliche waren, gaben sie mit der Zeit den Kampf auf.
Nur einer machte ihnen einige Schwierigkeiten, und das war ein Riese mit einem
Zwillingsbruder von Charnocks Schwert. Aber jetzt zeigte der Leibwächter der Contessa erst
richtig, was er konnte. Es war ein fast tänzerisches Todesduell, das die beiden einander
lieferten, aber dann stellte sich doch heraus, daß Charnocks Gegner nicht die absolute
Bestimmtheit und den übermenschlichen Lebenswillen hatte, wodurch sich Charnock
auszeichnete.
Als der Mann am Boden lag, tat Gangly einen Satz nach dessen Zweihänder. Da sah Wilkie,
daß Sharon etwas unter ihre Bronzerüstung schob. Sie lächelte ihn tapfer an. „Ich dachte ...“
stotterte sie,
„Wir sind da“, sagte nun Gangly und deutete mit dem riesigen Schwert. „Durch diese
Eichentür...“
Wilkie hätte natürlich nicht sagen können, was er sich vorgestellt hatte. Zauberei, Hexerei,
Superwissenschaft er wußte es nicht. Was er sah, war enttäuschend. Schlichtweg vernichtend.
Es war eine ganz ordinäre viereckige Öffnung, etwa einen halben Meter breit und eineinhalb
hoch, und dahinter war die absolute Schwärze des Nichts. Das PorvoneLebensportal grinste
sie aus der gegenüberliegenden Wand hämisch an. Daneben stand eine Knopfleiste, die etwa
den Schaltmöglichkeiten eines Stereo Bandgeräts entsprach, auf einem spindelbeinigen
Tischchen. Dicke Kabel hingen davon herunter und schlängelten sich zum Portal und zu einer
Energiequelle, die in einer Sammelschiene versteckt zu sein schien. In der Ecke gegenüber
standen in einem Rahmen ein Dynamo und ein Generator. Kein Wunder also, daß mit einer
solchen Ausstattung Geschichten von Dämonen und ähnlichem Gelichter in der Festung
kursierten.
Was Wilkie aber fast versteinerte und ihn nachträglich nur mit Bedauern an das ganze
Abenteuer denken ließ, war das, was die drei Männer in der Hand hielten, die sich bei ihrem
Eintritt umdrehten. Die drei Männer sahen wohlgenährt, hart und unbarmherzig aus, und ihre
Gesichter waren die von Wissenschaftlern, die sich einem üblen Regime verschrieben hatten.
Und in den Händen hielten sie unmißverständliche Energiewaffen mit kegelförmigen
Mündungen und Kolben, die im Licht nicht ölig oder metallisch funkelten, sondern strahlend
hell fluoreszierten.
Charnock, der ebenfalls die Gefährlichkeit der Waffen erkannte, richtete sich hoch auf, und
sein blutiges Schwert funkelte.
Die Männer trugen Tuniken mit hohen Kragen; sie hatten auf der Brust blitzende
Edelsteinmuster, und die Männer sahen ziemlich ungehalten drein.
Ihr wißt doch, daß es tödlich gefährlich ist, hier einzutreten?“ schrie der Anführer.
„Habt ihr denn draußen den Krach nicht gehört?“ fragte Wilkie, der sich beherzter gab, als er
sich fühlte. „Die Festung ist gefallen. Der Feind ist durchgebrochen.“
„Trotzdem ist es töd...“
Hinter Gangly, der sein lächerliches Riesenschwert mit beiden Händen in die Höhe hob, stand
Sharon. Sie atmete ganz flach, und ihr Gesicht drückte abgrundtiefen Haß aus.
Wilkie sah sie in die Rüstung greifen, wo sie vorher etwas versteckt hatte, und was sie dort
herauszog, war eine sehr handliche, sehr tödliche PorvoneWaffe, ein erstklassiger Revolver.
Dreimal schoß sie, und dreimal traf sie. Deshalb konnte der eine von ihnen den Satz nicht zu
Ende sprechen.
Dreimal spuckte die Waffe einen blendendhellen Lichtstrahl aus, so daß Wilkie die Augen
zusammenkniff. Dann war von den drei Männern nicht mehr viel übrig.
„Du!“ rief Charnock verwirrt.
„Braves Mädchen, Sharon!“ schrie Wilkie begeistert.
Sharon rümpfte angewidert die Nase. „Du weißt doch, daß ich meine Leute getroffen habe, J.
T. Sie gaben mir zu meiner eigenen Sicherheit eine Waffe. Es war vorher nicht nötig
gewesen, sie zu benutzen.“
„Ha? Und diese Kämpfe vorher? Nun ja, ich glaube nicht“, meinte er lahm.
Gangly, der berufsmäßige Porteur und zuverlässige Freund, ging gewichtigen und eifrigen
Schrittes auf das PorvoneLebensportal zu. Er legte sein großes Schwert ab und strich
vorsichtig über das Kontrollgerät.
„Das ist es!“ sagte er gefühlvoll.
„Dieses Kästchen enthält alles, was notwendig ist. Die Contessa hat mich gründlich
instruiert. Dieser Slikitter wußte, wovon er sprach. Die Energie kommt von dort“ er deutete
auf den Dynamo und den Generator, „und sie liefert jene Kraft, die dann einen
elektromechanischen Pfad zwischen den Dimensionen durch ein Tor bewirkt.
Wayne wird auf der anderen Seite warten. Er hatte die leichtere Aufgabe. Sobald dieses
PorvonePortal ausgeschaltet ist, weiß er, daß wir Erfolg hatten.“
Er machte sich nicht die Mühe, sämtliche Knöpfchen zu drücken, sondern er riß einfach die
Kabel heraus.
Wo die Schwärze einer absoluten Leere, das Tor in eine andere Dimension gewesen war,
zeigte sich nur eine Vertiefung in der Wand. Es ließ sich genau erkennen, wo der Fels
weggeschlagen worden war, damit das Tor eingebaut werden konnte.
Gangly nahm das Kontrollkästchen am Tragriemen. „Das brauchen wir jetzt nur neben einem
beliebigen Tor aufzubauen, einige Verbindungen herzustellen, und wir haben ein
funktionierendes PorvoneLebensportal.“
„Genau wie es die Contessa haben wollte“, kicherte J. T. Wilkie glücklich und zufrieden.
„Ja, genau“, meinte Charnock, aber mit einer ganz anderen Stimme. Er nahm sein Schwert in
die linke Hand, dann entriß er mit einer flinken Drehung Sharon die Waffe. „Jetzt!“
„Ha?“ machte J. T. verständnislos.
„Oh, J. T.!“ sagte Sharon. Sie war sehr blaß und verängstigt. „Meine Leute erzählten mir
schreckliche Geschichten von deiner Contessa, die ich nicht glauben wollte, weil du ihr
vertrautest und ich dich liebe. Oh, J. T., ich denke, daß wir jetzt...“
„Was ist mit der Contessa los?“ wollte Wilkie nun wissen.
„Weißt du, J. T., ich habe meine Befehle von der Contessa persönlich“, erwiderte „Charnock.
„Es tut mir schrecklich leid, J. T., denn ich mag dich und Sharon. Wir haben zusammen viel
erlebt. Aber die Contessa!“ Charnocks Teufelsgesicht, das Wilkie eigentlich immer als Maske
angesehen hatte, zeigte deutliche Besorgnis und Angst vor dem, was er nun tun mußte. „Ich
wage es nicht, der Contessa nicht zu gehorchen. Ich muß dich leider töten, J. T., und auch
dich, Sharon. Ich muß. Leider. Wirklich.“
„Aber warum, Charnock, warum?“ flehte Wilkie. „Ich war doch immer loyal zur Contessa.
Du kannst gehen, nimm das Portal und laß uns einfach hier!“
„Nein, J. T.“, antwortete Charnock den unendliches Bedauern zu quälen schien. „Du verstehst
nichts von der Macht der Contessa. Sie ist böse und grausam, aber sie hat mich leider fest in
ihren Krallen. Es gibt Mächte, die ich nicht ganz verstehe, Kräfte, die mich zum Handeln
zwingen. Ich muß Dinge tun, die ich verabscheue! Oh, J. T., wenn ich dich töte, dann wirst du
frei sein, während ich...“
„Sei ein guter Kamerad und erweise dich als barmherzig!“
„Nein, ich darf nicht. Ich muß der Contessa dienen. Ich muß!“
„Die Contessa, diese Hexe!“ Diese haßerfüllte Stimme riß sie aus ihrer verzweifelten
Diskussion. Sie schauten zum offenen Tor, durch das ein Mann mit blutiger Axt gerast kam,
der genau auf Wilkie zuhielt. Wilkie duckte sich; sein Speer und die Axt klirrten aneinander,
und die beiden Männer taumelten.
„Tony!“ schrie ein Mädchen.
Etwas Stählernes sauste durch die Luft und schlug Charnock Sharons Revolver aus der Hand.
Ein rothaariges Mädchen stürzte herein, rief etwas von Froscheingeweiden und einigen
unappetitlichen Gewohnheiten, tat einen Schwerthieb nach Charnock, der ihn zu parieren
versuchte.
Sharon bückte sich nach ihrem Revolver. Gangly zog sich aus dem Kampfgebiet zurück.
Wilkie stieß Charnock seinen Speerschaft in den Solarplexus, aber Charnock grunzte nur und
holte zu einem tödlichen Streich gegen Wilkies Kopf aus. Wilkie war schon bereit, sich in
sein Schicksal zu ergeben.
Aber dann stand Charnock plötzlich stocksteif da, und sein Schwert hing in einer schlaffen
Hand. Wilkie rappelte sich in die Höhe. Die Pistole in Sharons Hand deutete
unmißverständlich auf Charnocks Magen.
„Jetzt reicht's, Charnock! Ruhe, ihr beiden!“
„Jetzt können wir endlich einmal vernünftig miteinander reden“, keuchte J. T. und ließ seinen
Speer klirrend auf den Boden fallen. „Und an dich erinnere ich mich recht gut, Tony“, wandte
er sich an den sommersprossigen Burschen. „An dich auch“, sagte er zur Rothaarigen. „Ihr
seid damals durch den Minenschacht in Irunium entkommen. Ah, das scheint schon lange her
zu sein! Aber ihr seid anders, ganz anders...“
„Klar. Ich bin zwar immer noch Nyllee, aber wir sind anders. Wir waren bei den Zauberern
von Senchuria. Sie verändern die Leute zu ihrem Vorteil.
Wir wurden von den anderen Flüchtlingen getrennt, gerieten in eine Flut und kamen in eine
Dimension namens Durostorum“, berichtete Tony. „Nyllee hat Kämpfe immer sehr gern, und
da wir auch sonst nichts zu tun hatten, ließen wir uns anheuern. Wir ahnten so etwas, daß es
hier einen Hokuspokus mit einem Portal gäbe, und wir wollten doch wieder zurück. Und dann
sahen wir euch auf der Jade Lady und heuerten ab, weil wir euch umbringen wollten. Ha, wir
hätten dich wirklich umbringen sollen, als wir dich zum erstenmal sahen, Valcini! Und dich
auch, du Kahnführer!“
„Ich bin kein Valcini!“ schnappte Wilkie.
„Du arbeitest für die Contessa.“
„Wirklich?“ Er sah Sharon an. Seine Gedanken waren schmerzlich und verworren. „Na, ich
weiß nicht recht nicht mehr.“
„Wenn wir dir einiges erzählt haben, wirst du sie so hassen, daß du Lust hast, dir selbst die
Kehle aufzuschlitzen.“
„Die Contessa weiß immer genau, was in den Dimensionen vorgeht“, sagte Charnock. „Sie
wird euch alle vernichten...“
„Sie wollte die Zauberer ausrotten“, warf Nyllee ein. „Sie ist böse, durch und durch böse. Wir
hatten Waffen, aber leider sind ihre Ladungen erschöpft. Die Panecos... Unsere Freunde...“ Es
klang fast traurig.
„Von den Zauberern habe ich gehört. Sie sagte auch etwas von den Infalgon und von einem
Mann, der Scobie Redfern hieß. Da ist etwas schiefgegangen.“
„Ah!“ Nyllee und Tony strahlten.
Charnock fluchte kräftig. „Und jetzt wirst du mich wohl töten, J. T., was?“ meinte er.
Damit sprach er aber nicht J. T.s Sinn für Humor an.
„Charnock darf es nicht wagen, ohne das PorvoneLebenstor zur Contessa zurückzukehren“,
sagte Gangly leise.
„Nun, dann bringe mich jetzt doch um, J. T.; auf die Art rette ich wenigstens meine Freiheit!“
Charnock töten? Er war ein Dummkopf, ein blinder Narr, ein Leichtgläubiger und ein
Schoßhündchen der Contessa aber Charnock töten? Wilkie wußte allerdings, daß Sharon die
Entscheidung darüber ihm überließ.
„Nein“, sagte er. „Gangly, bringe diese Leute dorthin, wohin sie wollen.“ Er wandte sich an
Nyllee und Tony. „Wohin?“
„Montrado“, sagte Tony.
„Narlingha“, sagte Nyllee.
Sie sahen einander an, zuckten die Schultern und sagten gemeinsam: „Senchuria.“
Gangly wandte den Kopf, um ihnen zu antworten, als sie einen Mann durch das Tor kommen
sahen, wo das PorvoneLebensportal errichtet gewesen war. Es war ein großer, breiter Mann
mit brutalem Gesicht, der eine schwarze Rüstung trug und ein Schwert schwang. Er war über
und über mit Waffen behängt, und an einer glitzernden Kette, die an seinem linken
Handgelenk befestigt war, hing ein junges, blasses, halbnacktes Mädchen.
„Komm endlich weiter, du stupides Ding!“ schimpfte er.
„Wayne!“ schrie Charnock.
„Was? Verräter! Betrüger!“ Waynes bulliger Leib schoß wie eine Kanonenkugel durch den
Raum; er steckte dabei sein Schwert weg und zog eine Energiewaffe, die er auf Sharon
richtete. Aber Sharon schoß zuerst. Ihre Magenta verjagte in einem Schauer strahlenden
Lichtes alle Schatten; Wayne traf sie allerdings nicht, doch die Kette schoß sie entzwei.
„Führe uns zurück, du filziger Dummkopf!“ röhrte Wayne und griff mit einer
überdimensionalen Pranke nach der Schulter des Mädchens. Charnock tat einen Satz zur
Nische, und unterwegs entriß er Ganglys schlaffer Hand das Kontrollkästchen für das
PorvonePortal. Mit einem Schrei fiel Gangly zu Boden.
Wayne, das PorteurMädchen und Charnock verschwanden.
Das Schweigen roch nach erschöpften Energien.
„Alles in Ordnung, Sharon?“ fragte eine kultivierte Stimme.
Unter der Tür standen Männer in sauberen silbergrauen Jacken und Hosen. Ihre Gesichter
waren scharf gezeichnet, aber freundlich und vertrauenswürdig. Ihre Waffen stammten aus
derselben Quelle wie die Magenta Strahlenpistole, die Sharon von ihnen erhalten hatte.
Sharon lachte und tat einen freudigen Schrei. „Oh, Lybore, mir geht es ganz gut!“ rief sie.
Das waren also die Männer von Leon stark, väterlich, energisch. „Wir scheinen eine ganze
Menge neuer Dimensionen geöffnet zu haben“, sagte Lybore zu Sharon und lächelte sie
herzlich an. „Es gibt viele neue Handelsmöglichkeiten. Und da ist auch die Contessa, vor der
wir dich gewarnt haben, Sharon. Bist du fertig?“
Sie sah J. T. Wilkie an. „Diese Leute ...“ Sie deutete auf Nyllee und Tony. „Wir sind
verpflichtet, sie zu einer Dimension ihrer Wahl zu transportieren. Dieser Mann Gangly kann
gehen, wohin er will.“
„Ah! Dann ist er also ein Porteur?“ fragte Lybore.
„Ja. Und ein Freund.“
„Und dieses etwas ausgefranste menschliche Prachtstück?“
Sharon lachte. „Das ist J. T. Wilkie. Ich glaube, er will zu einer Dimension, die Erde heißt.“ Wilkie blühte auf. „Die Contessa hat ihr PorvonePortal, und ich weiß jetzt, was sie ist. Oder wenigstens einiges davon. Der arme Charnock hat es mir ja gesagt. Aber der ist jetzt sicher ganz in Ordnung. Wenn die Contessa aber wirklich so böse ist...“ Gangly nickte düster. „Ja, das ist sie, J; T.“, sagte er leise. „Nun, dann bin ich ja froh, daß ich sie los bin. Aber verdammt, sie schuldet mir ja noch eine ganze Menge Geld!“ „Wenn du zurückkehrst, um es dir zu holen, bist du nur doppelt betrogen.“ „Hm. Ja. Wahrscheinlich.“ Er sah Sharon an. Sie senkte die Lider, und das war sehr ungewöhnlich für sie. „Ich glaube, bevor ich mich von euch auf der Erde im guten alten Hudson absetzen lasse, möchte ich erst noch ein bißchen mit Sharon durch die Dimensionen bummeln.“ Er versuchte bescheiden und dezent dreinzuschauen, dieser alte Mädchenjäger J. T. Wilkie. „Wir haben ein Geschäft miteinander, das noch nicht ganz abgewickelt ist.“ Er nahm Sharons Hand, und sie drückte sie heftig. „Na, schön“, meinte er und seufzte dazu seelenvoll. „Ich glaube, die Tage meiner Mädchenjagden sind gezählt.“ Zusammen gingen sie hinaus aus dieser Festung von Durostorum, um durch zahllose Dimensionen nach Hause zu reisen wo immer ihr Heim auch sein würde, auf Leon oder auf der Erde. ENDE