Todesfracht auf der Titanic von C.W. Bach Ich quälte mich hoch. Seth-Suchos hatte mir ein Ding verpaßt, daß ich glaubte...
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Todesfracht auf der Titanic von C.W. Bach Ich quälte mich hoch. Seth-Suchos hatte mir ein Ding verpaßt, daß ich glaubte, meine Rippen wären gebrochen! Wie aus einem tiefen Schacht tauchte ich auf, als mein Bewußtsein zurückkehrte. Ich sah alles seitenverkehrt und manches doppelt. Und ich hörte ein leises, stetiges Geräusch und spürte ein sachtes Vibrieren, als ich mich an die Wand lehnte. Jetzt fiel es mir wieder ein: Ich befand mich auf einem Schiff! Meine Kleidung war aus einer anderen Zeit. Als ich auf die Armbanduhr schauen wollte, hatte ich keine. Statt dessen sah ich eine Uhrkette, die an einem Knopfloch über dem Gürtel befestigt war… Ein Steward eilte herbei, ein Tablett in der Hand. »Ist Ihnen nicht gut, Sir?« fragte er mich. An seiner Uniformjacke entdeckte ich die Aufschrift »H. M. S. Titanic«. Siedendheiß fiel mir alles wieder ein. Ich fuhr auf der »Titanic«, und es war der 14. April 1912, der Tag, an dem sie mit dem Eisberg kollidierte und dann nach zwei Stunden und vierzig Minuten sank, mit 1.523 Menschen an Bord! Und Mark Nikolaus Hellmann, geboren im Jahr 1970, vermutlich in der damaligen DDR, war live mit dabei! Blitzschnell riß ich die Uhr aus der Tasche. 23.38 Uhr die »Titanic« war etwa 1.200 Meter von dem Eisberg entfernt. Er war noch nicht gesichtet worden. Das Schiff fuhr direkt darauf zu - mit 21,5 Knoten, wobei es in der Minute ziemlich exakt 600 Meter zurücklegte. Mir blieben damit anderthalb Minuten Zeit, auf die Brücke zu gelangen und - hoffentlich! - das Furchtbare zu verhindern. 23.40 Uhr das war die historisch genaue Zeit des Zusammenstoßes. Konnte ich die Geschichte ändern? Es ging um mehr als 1.500 Menschenleben, meines und Tessa Haydens eingeschlossen. Ich mußte mein Letztes geben, um es zu versuchen, und wenn sich mir der Teufel selbst in den Weg stellte. Unter Aufbietung aller Energie schüttelte ich meine Benommenheit ab, stieß den Steward zur Seite, daß ihm die Gläser vom Tablett fielen, und rannte los. Der Steward rief empört hinter mir her. Die Gänge erschienen mir endlos lang. Im Rauchsalon der ersten Klasse, dem Cafe Parisien, im luxuriösen Lesesalon und dem A-la-carte-Restaurant erster Klasse saßen noch zahlreiche Passagiere. Sie speisten, plauderten, spielten Karten, flirteten, lachten, tanzten und vertrieben sich fröhlich die Zeit.
Die siebenköpfige Wallace-Hartley-Band spielte den Ragtime, den Modetanz dieser Zeit, als ich am Ballsaal vorbeirannte. Aus dem Augenwinkel sah ich den Multimillionär Johann Jacob Astor mit seiner blutjungen Ehefrau Madeleine auf der Tanzfläche. Die beiden strahlten sich an. Astor war siebenundvierzig, er hatte sich scheiden lassen, um die Neunzehnjährige zu heiraten, die seine ganz große Liebe war. Es war ein großer Gesellschaftsskandal gewesen. Jetzt war Madeleine im fünften Monat schwanger und schöner denn je. Benjamin Guggenheim, schwarzes Schaf der berühmten amerikanischen Bergwerksdynastie, war mit gleich zwei Geliebten irgendwo an Bord. Major Archibald Butt, Militärberater des US-Präsidenten, fuhr ebenfalls mit. Ebenso wie Millionäre aus allen Branchen, die nicht zu arbeiten brauchten, die andere für sich schuften ließen. J. Bruce Ismay, der Generaldirektor der White Star Line, für die die »Titanic« fuhr, und ihr Konstrukteur Thomas Andrews waren auch an Bord. Sie wollten sich diese Reise, die alle Rekorde brechen sollte, nicht entgehen lassen. Die Klänge des Schiffsorchesters, das bei dem Untergang, falls er stattfand, bis zuletzt spielen würde, verfolgten mich. Ich eilte, fünf Stufen auf einmal nehmend, die prachtvolle Mahagonifreitreppe von der ersten Klasse zum Bootsdeck hinauf. Eiskalt schlug mir die Luft draußen entgegen. Ich rannte zur Brücke, hellwach jetzt. Meine Beine schmerzten nach dem Knockout, den mir der Krokodilskopf verpaßt hatte. Mein magischer Ring leuchtete und schickte ein Prickeln durch meine Hand. Vorn auf dem Bootsdeck stand Tessa. Sie schaute dem Eisberg entgegen, ohne ihn jedoch zu sehen. Und mich bemerkte sie ebenfalls nicht. Spiegelglatt lag die See. Leichter Dunst über dem Wasser erschwerte zusätzlich die Sicht. Bei Windstille brachen sich keine Wellen an einem Eisberg und erschwerten es so, ihn in Nacht und Dunst zu erkennen. Und die beiden Matrosen im Ausguck hatten keine Ferngläser. Da war mal wieder am falschen Ende gespart worden. Mit einem Höllentempo von vierzig Stundenkilometern raste die »Titanic« auf den Eisberg zu! 60.000 Tonnen schwer war sie; der Eisberg wog mindestens das Tausendfache. Ich flitzte hoch auf die Brücke. Mein Puls hämmerte. Das Herz schlug hart gegen die schmerzenden Rippen. Die große Uhr auf der Brücke zeigte 23.39 Uhr. Noch konnte ich die tödliche Kollision verhindern. Auf der Brücke befanden sich der Erste Offizier Murdoch, der Sechste Offizier Moody, der Steuermann Robert Hitchens und ein Kadett als Meldegänger. Kapitän Smith hatte sich in seine Kabine zurückgezogen und war bereits zu Bett gegangen, stolz auf das prachtvolle Schiff, das ihm für sein
letztes Kommando, unmittelbar vor seiner Pensionierung, anvertraut worden war. Die Jungfernfahrt der »Titanic«, für die von Southampton nach New York sechs Tage zur Überquerung des Nordatlantiks vorgesehen waren, sollte die glanzvolle Krönung seiner Laufbahn sein. Auf der Brücke herrschte völlige Ruhe. Am Schwarzen Brett hing zwar eine Eiswarnung, aber sie beunruhigte infolge einer Fehleinschätzung der Lage niemanden. Der Steuermann hielt das Steuerrad fest in der Hand. Der Sechste Offizier stand beim Maschinentelegrafen. Die uniformierten Männer waren bei guter Stimmung, als ich die Tür aufriß. Ein Schwall kalter Luft flutete herein. William Murdoch, etwas über mittelgroß, um die Vierzig, schaute mich fragend an. Er sah natürlich, daß ich ein Passagier war, gut gekleidet, was 1912 allerdings ungewöhnlich war. »Sie wünschen, Sir?« fragte der Erste Offizier förmlich. »Das Betreten der Brücke, außer bei Führungen, ist Passagieren verboten.« »Eisberg!« wollte ich schreien. »Ändert den Kurs! Eisberg direkt voraus!« Aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Ich schwöre, noch hatten wir Zeit. Eine halbe Minute hätte gereicht, um die »Titanic« am Eisberg vorbeizusteuern. Doch mir schnürte eine unsichtbare Faust die Kehle zu. Ich griff mir an den Hals, mein Gesicht verzerrte sich. Ich führte meinen Ring mit den Initialen M. N. an die Kehle und wollte mit aller Kraft die entscheidenden Worte hervorbringen. »Eisbeee…« Nur gutturale Laute entrangen sich meiner Kehle. Wertvolle Sekunden vertickten. Ich rang nach Luft, faßte an meinen Kehlkopf. »Sir!« rief ich Murdoch zu. »Än-dernnnnn…« Ändern Sie sofort den Kurs! hatte ich sagen wollen. Doch die übernatürliche Kraft lähmte meine Sprechwerkzeuge. Die Warnung blieb mir im Hals stecken. Zuletzt versuchte ich selbst das Steuerrad herumzureißen und den Kurs zu ändern. Ich machte zwei Schritte - und wankte. Meine Füße klebten am Boden fest, als ob sie aus Stahl und dieser stark elektromagnetisch wäre. Ich kam nicht mehr vorwärts. Der Sekundenzeiger der Uhr rückte vor. Die beiden Offiziere der »Titanic«, der Steuermann und der Meldegänger, ein sehr junger Mann, schauten mich abschätzig an. Ich wußte genau, was sie dachten; Dieser Passagier hat einen über den Durst getrunken. In diesem Moment schrillte das Telefon. Mir sträubten sich die Haare. Ich wußte, was folgen würde. Der Sechste Offizier hob ab. Der Ausguck rief an, Matrose Frederick Fleet. Ich hörte seine Stimme mit überscharfem Gehör aus dem Hörer dringen.
Zunächst James P Moody: »Hier Brücke!« Fleet: »Eisberg voraus! Wir fahren direkt darauf zu. Entfernung zirka vierhundert Meter.« Seine Stimme klang fest. Moody sagte aus reiner Gewohnheit: »Danke sehr.« Hängte den Hörer ein und schrie los: »Mr. Murdoch, Sir, Eisberg voraus!« Er wiederholte die Angaben des Ausgucks. William Murdoch erstarrte. Ihm blieb keine Zeit zum Überlegen. Aufgrund seiner seemännischen Ausbildung und zwanzigjähriger Praxis als Seeoffizier auf den Weltmeeren reagierte er sofort. »Hart Steuerbord! Maschinen stop und volle Kraft zurück!« Gleichzeitig drückte Murdoch auf den Knopf, mit dem die fünfzehn wasserdichten Türen und Schotts des Maschinen- und Kesselraums geschlossen wurden. Die Alarmglocke schrillte. Der Steuermann Hitchens drehte das Rad. Der Sechste Offizier gab sofort die Meldung in den Maschinenraum, wo die riesigen Schwungräder und Pleuel gestoppt werden mußten, um sich dann in die andere Richtung zu bewegen. Es war 23 Uhr 40 Minuten und exakt 12 Sekunden, als Fleets Eisbergwarnung erfolgte. Die »Titanic« hatte ein im Verhältnis zur Schiffsgröße kleines Ruder. Der 60.000-Tonnen-Koloß schwenkte den Bug herum, änderte den Kurs erst um einen, dann um zwei Punkte nach Backbord, was 22 Grad bedeutete. Während im Maschinenraum die Hölle losbrach und Ingenieure und Maschinisten alles taten, um den Befehl von der Brücke auszuführen, erschien die Szene auf der Brücke erstarrt. Nur der Steuermann konnte aktiv sein, und die kostbaren Sekunden vergingen. Dann sahen wir den Eisberg, und es wirkte, als ob er auf uns zufahren würde. Den Anblick werde ich nie vergessen. Eine unregelmäßig geformte Masse, wie aus dunklen Schatten und Glas zusammengesetzt, näherte sich. Ich schwöre, ich sah Mephisto auf diesem Eisberg. Hager und groß stand er da, selber ein Schatten mit glühenden Augen, Teufelshörnern und Pferdefuß. Im nächsten Moment war er schon verschwunden. Der Bug der »Titanic« verfehlte den Eisberg, dessen Masse das Bootsdeck, das oberste von allen, um ein paar Meter überragte. Der Eisberg war riesig, ein gewaltiger Brocken, von dem man über Wasser nur das oberste Zehntel sah. Er schabte an der Seite des Schiffs vorbei. Siebenunddreißig Sekunden vergingen von der Eisbergwarnung bis zu dem Moment, in dem der Zusammenstoß erfolgte, kein frontaler, sondern eine seitliche, tückisch sanfte Kollision wie mit einem tonnenschweren Rasiermesser. Nur zehn Sekunden lang schabte der Eisberg am Schiffsrumpf entlang. Wir auf der Brücke spürten überhaupt keine Erschütterung. Brocken von
dem Eisberg brachen auf und fielen aufs Vorderdeck, wo sie liegenblieben. Die beiden Männer im Ausguck atmeten auf, als der Eisberg, der ihren Ausguck um gut acht Meter überragte, die »Titanic« passiert hatte. Auf der Brücke hatte der Erste Offizier Murdoch dem Steuermann eine Kursänderung nach Backbord befohlen, um den Kontakt zwischen dem Eisberg und dem Schiffsheck zu vermeiden. Das gelang. Die Matrosen Fleet und Lee im Ausguck glaubten, der Zusammenstoß wäre vermieden worden. Als das Heck der »Titanic« den Eisberg passiert hatte, sahen die Männer im Ausguck zum ersten Mal einen weißen Schimmer in der Spitze des Bergs, der wie leuchtender Dunst wirkte. Der Eisberg geriet leicht ins Wanken, und er verschwand in der Nacht. FLeet und Lee grinsten sich an. »Das war knapp«, sagte Matrose Lee. Die Passagiere der »Titanic« ahnten nichts von der Katastrophe. Manche hörten, als es passierte, ein Schaben, zehn Sekunden lang, als ob ein riesiger Finger an der Außenhaut des Schiffs kratzen würde. Andere sagten, es sei gewesen, als ob das Schiff über riesige Murmeln fahren würde. Lawrence Beesley, Passagier der zweiten Klasse, Hochschullehrer in den USA, lag schon in seiner Koje. Er spürte eine Erschütterung seines Betts. Anderswo klingelten kurz die Kronleuchter, vibrierten die Drinks an der Bar. Bei den Heizkesseln unten allerdings sah es anders aus. Ich zitterte, was mir selten passierte. Ich wußte, der Eisberg hatte die Stahlhülle der »Titanic« auf ungefähr hundert Meter unterhalb der Wasserlinie aufgeschlitzt. Schlimmer noch, der Riß führte über mehrere Kammern des angeblich unsinkbaren Schiffs. Die »Titanic« hatte fünfzehn Kammern. Mit fünf undichten wäre sie noch schwimmfähig gewesen. Die Entscheidung fiel im Kesselraum Nr. 6, der sechsten Kammer. Durch ihre Beschädigung wurde das Schiff buglastig. Das Wasser würde ein Abteil nach dem anderen füllen und das stolze Schiff über Bug sinken lassen. Das Todesurteil für die meisten Passagiere! Von dem Moment an, als der Eisberg das Schiff berührte, noch vor dem Kapitän und dem Konstrukteur Thomas Andrews und allen anderen, wußte ich Bescheid. Um 2.20 Uhr würde das Heck des Riesenschiffes, zwei Minuten nachdem dieses auseinandergebrochen und der Bug zuerst gesunken war, untergehen. Dann würde die »Titanic«, in zwei Teile geborsten, ihre letzte Reise antreten: auf den Grund des Nordatlantiks. Bald würde alles, was ich jetzt um mich herum sah, auf dem Grund des Ozeans sein. *
Ich hatte die Katastrophe nicht verhindern können. Während der dramatischen Sekunden hatten mich die Besatzungsmitglieder auf der Brücke überhaupt nicht mehr beachtet. Danach verließ ich die Brücke, hier war nicht mein Platz. Ich hatte an Bord der sinkenden »Titanic« eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Intrige meines Erzfeinds Mephisto hatte mich hergeführt. Ich sollte Seth-Suchos zur Strecke bringen, eine teuflische altägyptische Gottheit. Einen Superdämon von ungeheurer Kraft und so schrecklich, daß sogar Mephisto als ein Paladin der Hölle vor ihm Respekt hatte. SethSuchos war eine Konkurrenz für ihn. Ich ging auf das Vorderdeck, wo ein paar Passagiere nichtsahnend und ausgelassen Stücke von dem Eisberg umherkickten. »Kann ein Schiff denn nicht sinken, wenn es mit einem Eisberg zusammenstößt?« fragte ein clever aussehender Dreizehnjähriger seinen. Vater. Der lachte ihn aus. »Doch nicht die >TitanicTitanic< im Jahr 1912«, antwortete mir Mephisto ohne Umschweife. »Genauer gesagt, am 13. April, Sonnabend, 36 Stunden vor dem Zusammenstoß dieses Schiffs mit dem Eisberg. Ich habe sie dorthin versetzt. Tessa Hayden geht mit der >Titanic< unter, wenn du meine Forderungen nicht erfüllst.« Ich staunte. Die »Titanic« war aus verschiedenen Gründen eine Legende unseres Jahrhunderts. Nicht nur die Größe der Schiffskatastrophe, auch die
schicksalhaften Umstände, die dazu geführt hatten, bewirkten das. Ebenso die Menschen, die mit dem Schiff untergegangen waren, und ihr Verhalten. Der Untergang der »Titanic« sagte viel über die menschliche Natur aus, über die Technikgläubigkeit und über diejenigen, die glaubten, sich über die Natur stellen zu können. Auch über menschliche Größe und Mut, genau wie über die menschlichen Schwächen und Schattenseiten. »Was soll ich tun, damit du Tessa von der >Titanic< zurückholst, Mephisto?« fragte ich. Ein tiefer, schwefelstinkender Atemzug hob die Brust des Teufels. »Du sollst selbst auf die >TitanicTitanic< unter.« In Mephistos Stimme klang tödlicher Ernst. Ich erwiderte spöttisch: »Weit ist es mit der Hölle gekommen, wenn sich ihr Paladin eines Menschen bedienen muß, um einen Feind zu erledigen. Schaffst du das denn nicht selbst?« Die Spitzen der dreizinkigen Gabel kitzelten meinen Hals. »Hüte deine Zunge, Hellmann, oder ich reiße sie dir heraus. Du kannst mir auch stumm dienen. Es gibt Gründe, weshalb ich nicht selbst aktiv werden will. Auch die Magie hat ihre Regeln und Gesetze. Das ist auch der Grund, weshalb ich dich nicht schon längst selber in Stücke gerissen habe.« »Also gut, Mefir«, erwiderte ich. »Wenn es keinen anderen Weg gibt, um Tessa zu retten, dann tue ich es. Doch es kommt darauf an, wen ich auf der >Titanic< erledigen soll. Einen normalen Menschen oder jemanden, der böse ist.« »Derjenige, den ich dich zu vernichten auffordere, ist ein teuflisches Wesen von ungeheurer Macht und Stärke. Ein Lügner und Menschenverderber, ein Ränkeschmied und ein Ausbund an Dämonie, Gemeinheit und Niedertracht.«
»Also ein Bruder von dir, Mephisto«, stellte ich fest. Der Teufel war weit davon entfernt, beleidigt zu sein. Er senkte sogar die Gabel, hielt sie jedoch bereit, um sie mir jederzeit in die Brust stechen oder damit Blitze auf mich schleudern zu können. »Ja, Seth-Suchos ist so etwas Ähnliches wie ein Bruder von mir, Menschlein. Er ist von meiner Art, nämlich ein Valusianer. Lange bevor die Urzeitsaurier die Erde bevölkerten, gab es schon Leben auf dieser Welt, teils von anderen Sternen. Die stolze Rasse der Valusianer schritt über den kochenden Schlamm und das Magma, das die Oberfläche der Erde vor Hunderten von Millionen Jahren bedeckte.« »Die Urzeit der Erde war vor 2.500 Millionen Jahren«, sagte ich. Vor zirka tausend Millionen Jahren entstanden bakterienartige Organismen.« »Was weißt du denn«, erwiderte Mephisto, »was die Zeit ist, wie sie verläuft, was war und was sein wird? Ich bin uralt, ein Dämon aus der Urzeit der Erde. Er, den ich niemals mit Namen nenne und gegen den wir rebellierten, stürzte uns aus der Ewigkeit in die Zeit. - Genug davon. SethSuchos und ich kannten uns schon, als die Saurier die Erde und das Amazonenreich Kass-Amun bevölkerten, Wolferone und Vampyroda bestanden. Im Alten Reich von Ägypten, 2.300 Jahre vor der Zeitenwende, nach eurer Rechnung, erreichte er seine größte Machtentfaltung. Damals hatte er mich ins Erdinnere verbannt, von wo ich erst später zurückkehrte. Seth war für die alten Ägypter der Teufel, wie du von deinen Studien weißt, Mensch. Seth-Suchos ist ein besonderer Teufel mit ungeheuren Kräften.« Mephisto erzählte weiter. Ich gewann den Eindruck, daß er Seth-Suchos fürchtete oder zumindest als ernstzunehmende Konkurrenz für sich und seine Verbündeten und Unterteufel betrachtete. Um 2.300, zur Zeit des Pharaos Djoser, hatte sich Seth-Suchos zum Gegenpharao ausrufen lassen. Er wurde auch der Dunkle oder der Finstere Pharao genannt. Das Alte Reich wäre verloren gewesen. Doch aus der Wüste kam Rettung, ein Eremit, in härene Felle gekleidet, der sich nur von Milch und wildem Honig ernährte. Er verfügte über übernatürliche Kräfte und hatte einen Dolch aus dem schwarzen Stein eines Meteoriten. Dieser wilde Verkünder des Sonnengottes Ra und der Isis vollbrachte das Unwahrscheinliche, daß er Seth-Suchos Wüstenstadt mit seinen Beduinenhorden überrannte. Selbst der große Pharao Djoser war an Seth-Suchos gescheitert und hätte Reich und Leben verloren, wäre der Wüstenprophet und eifernde Priester nicht gegen die Mächte der Finsternis aufgetreten. Der Eremit bannte Seth-Suchos' Zauberkraft mit seinem Meteoritendolch, schnitt ihm das Herz heraus und verbrannte es. Seth-Suchos wurde in einen Sarkophag eingeschmiedet und in einer un-
terirdischen Pyramide, von der jede Spur verwischt wurde, begraben. Eine Sphinx wurde auf sein Grab gesetzt, um seinen Todesschlaf zu bewachen. Genau diese Sphinx, so Mephisto, führte 1911 eine archäologische Expedition auf die Spur der verfluchten Pyramide. Der Sarkophag wurde gefunden. Mephisto deutete eine wilde Geschichte mit Grabräubern an, die SethSuchos krokodilköpfige Mumie in ihre Gewalt brachten. Allesamt waren sie dem Fluch zum Opfer gefallen, der sich mit dem Finsteren Pharao verband. Der Sarkophag war dann in Alexandria aufgetaucht, wo ihn ein mehr als zwielichtiger Geschäftemacher an den US-Multimillionär Owen Webster verkaufte. Webster war Sammler von ausgefallenen Altertümern. Seine Villen in Richmond, New York, Miami und Nizza strotzten davon. Auch Jihal ben Riad, der Geschäftemacher, erlag dem Fluch. Ihn biß eine Giftschlange, und er starb unter Qualen, nachdem er Seth-Suchos samt Sarkophag per Schiffsfracht mit einem Frachter nach London geschickt hatte. Das geschah, um die Spur jenes seltenen uralten Stücks zu verwischen. Grabräuberei und Schmuggel von Altertümern wurden in Ägypten streng bestraft. In London verfrachtete Owen Webster, absolut begeistert von seiner Neuerwerbung (O-Ton Mephisto), die Mumie samt Sarkophag auf die »Titanic«. »Seth-Suchos wird auferstehen«, flüsterte Mephisto, der sich tatsächlich zu fürchten schien. So hatte ich ihn noch nie erlebt. * »Du küßt ja heute so feurig, Liebster«, sagte Tessa und schmiegte sich in ihrer Wohnung an den großen Mann, der sie soeben besucht hatte. »Das weckt in mir die Leidenschaft.« Sie zog den Mann, den sie für Mark Hellmann hielt, in Richtung Schlafzimmer. Mephisto stand jedoch nicht auf Sex mit irdischen Frauen: Uma Araneae, mit der er in der Spinnenhölle in Gestalt einer riesigen Spinne verkehrt hatte, war schon eher nach seinem Geschmack. Jetzt sagte Mephisto, der Mark Hellmanns Gestalt angenommen hatte: »Ich habe eine Überraschung für dich. Komm mit!« Tessa war erst kurz zuvor vom Dienst zurückgekehrt und hatte ihr Motorrad im Hof geparkt. Als sie die Wohnung betrat, klingelte es auch schon. Der vor der Tür stehende Mann sah haargenau so aus wie Mark Hellmann. Er sprach, benahm und bewegte sich auch wie er. Arglos und erfreut ließ
ihn Tessa in die Wohnung. Die schlanke Brünette mit den reizvollen kleinen Brüsten hatte duschen wollen und stand in Slip und BH da. Der falsche Mark Hellmann umarmte sie gleich und küßte sie, daß sie schwach wurde. »Müssen wir denn sofort weg?« fragte sie jetzt. »Leider«, erwiderte Mephisto. Er küßte Tessas Hals, was ihn Überwindung kostete. »Später werde ich dich dafür entschädigen. - Beeil dich, bitte. Es ist sehr wichtig.« Tessa zog einen Schmollmund, schlüpfte jedoch widerspruchslos in ihre Lederjeans, Bluse, Jacke und Stiefel. Wie langweilig die Menschenfrauen doch sind, dachte Mephisto. Wenn diese hier wenigstens drei Brüste hätte, Vampirzähne, Krallen oder einen Monsterkopf. Er dachte sich noch andere, teils intime Details aus. Ja, dann hätte ihm vielleicht auch diese Tessa gefallen. Tessa begleitete Mephisto aus dem Haus. Im Erdgeschoß schaute die neugierige dicke Nachbarin aus dem Fenster. Sie kontrollierte jeden, der hier ein- und ausging, und klatschte und tratschte den ganzen Tag. Ihr Mann war Frührentner und verbrachte die meiste Zeit in der Kneipe, weil er es zuhause nicht mehr aushielt. Tessa stieg in den BMW. Etwa zu der Zeit fuhr der richtige Mark Hellmann gerade vom Stadion weg, um sie aufzusuchen. Tessa hatte keine Ahnung, zu wem sie sich ins gleichfalls gehexte Auto gesetzt hatte. Ihre Fragen, wohin sie fuhren, beantwortete der große Mann mit den blauen Augen und dem Modellathletenkörper hinterm Steuer nicht. Er trug Freizeitkleidung. Mark Hellmann war immer lässig und hatte stets einen coolen Spruch auf den Lippen. Das gefiel Tessa an ihm. Der falsche Mark Hellmann verließ die Goethestadt über die Ettersberger Straße und fuhr in Richtung Großer Ettersberg. Zwischen dem Galgenberg und der Teufelskrippe war es Tessa nicht ganz geheuer. Der angebliche Mark Hellmann parkte den BMW auf einem Waldweg. Tessa schnupperte. »Was riecht denn hier so nach Schwefel?« fragte sie arglos. Der blonde Mann neben ihr lächelte treuherzig. »Ich glaube, mit dem Katalysator ist etwas nicht in Ordnung. Laß uns gehen.« Sie verließen den Wagen, und er stieg mit ihr durch die Schlucht am Berghang empor. Eichen und Buchen beherrschten diesen Wald. Der Himmel war bewölkt, die Sonne bald untergegangen. Ein Eichelhäher schrie im Wald. »Das ist doch der Weg zur Teufelsgrotte«, sagte Tessa. »Was hast du dort vor, Mark? Warum tust du so geheimnisvoll?« »Ich habe etwas entdeckt, das ich dir unbedingt zeigen muß, Kätzchen.« So nannte Mark Tessa manchmal in intimen Momenten oder wenn er gut
aufgelegt war. »Frag mich nicht weiter.« Das Gittertor vor der Grotte, in der sich schon mehrere Menschen umgebracht hatten, war verschlossen. Tessa wunderte sich nicht, als der Mann, den sie für Mark Hellmann hielt, am Schloß hantierte und es sich öffnete. Quietschend wich das Tor zur Seite. Ein Haselnußstrauch stand vor dem Eingang zur Grotte. Der falsche Mark Hellmann bog die Zweige zur Seite, damit Tessa eintreten konnte. Sie schaute in die Grotte und sagte: »Es ist finster da drin.« »Kein Problem, haben wir gleich.« Der falsche Mark Hellmann griff hinter den Höhleneingang und hielt eine Stabtaschenlampe in der Hand. Tessa nahm an, sie hätte dort in einer Nische gestanden. Auf den Wink des blondes Mannes hin trat sie ein. Sie vertraute Mark Hellmann absolut. Die Teufelsgrotte war unregelmäßig geformt, dreißig Meter tief, hatte eine größte Breite von sechs Metern und war an der höchsten Stelle zirka fünf Meter hoch. Ihre Wände bestanden aus mit Moos und Flechten bewachsenen Felsen, die Nischen und Verzweigungen aufwiesen. Ein paar Baumwurzeln wuchsen in die Grotte hinein, die einem düsteren Kuppeldom glich. Durch Spalten sickerte trübes Tageslicht. Fette Spinnen hatten an der Decke der Teufelsgrotte und in den Spalten ihre Netze gewoben. Es roch muffig, nach kaltem Rauch und noch immer nach Schwefel. Tessa schnupperte wieder. »Der Schwefelgeruch ist noch nicht weg«, sagte sie. »Dann wird es mein neues Deodorant sein, das du riechst«, sagte der Mann in Freizeitkleidung hinter ihr. Der Lichtkegel der Stabtaschenlampe beleuchtete die Stümpfe von abgebrannten Fackeln, die noch im Boden steckten. Der Kadaver eines kopflosen Hahns lag da. Ein paar Kreidelinien waren noch zu erkennen, außerdem Kerzenstümpfe. Dies waren die Überbleibsel der Beschwörung, die vor ein paar Wochen vier junge Leute aus Weimar hier vorgenommen hatten. Seitdem hatte niemand mehr die Teufelsgrotte betreten. Auch der richtige Mark Hellmann wußte nicht, daß der Anlaß zu den Schreckenstagen von Weimar hier gegeben worden war. Tessa wurde es allmählich unheimlich. Ihr Herz klopfte. Die weibliche Intuition verriet ihr, daß hier etwas nicht stimmte. »Was willst du mir denn zeigen, Mark?« fragte sie. Schemenhaft sah sie den hochgewachsenen Mann mit der Stabtaschenlampe. »Warum hast du denn plötzlich so große, glühende Augen?« »Damit ich dich besser sehen kann.« »Mark, was ist denn mit deinen Händen? Sie sind ja behaart. Und du hast auch richtige Krallen.«
»Damit ich dich besser packen kann.« »Hör auf, mich zu veralbern. Was redest du mit mir wie der Wolf in dem Märchen vom Rotkäppchen? Du weißt, daß ich solche Scherze nicht mag. Warum hast du mich hergebracht?« Der Blonde, den Tessa die ganze Zeit für Mark Hellmann gehalten hatte, antwortete nicht. Statt dessen wuchs er in die Höhe und in die Breite. Sein Gesicht wurde zu einer Teufelsfratze, mit ziegenbockähnlichem, gehörnten Schädel, Kinnbart und langen, spitzen Ohren. Die Freizeitkleidung verschwand von dem haarigen Körper mit Klauenhänden und Pferdefüßen. Der Schwefelgeruch wurde noch stärker. Die Stabtaschenlampe erlosch. Düsteres Glühen erleuchtete jetzt die Höhle. »Du bist nicht Mark Hellmann! Du bist Mephisto!« »Genau!« rief der Teufel, packte die aufschreiende Tessa und fuhr mit Donner und Schwefelgestank mit ihr in die Erde hinein. Die Fahnderin wußte nicht, wie ihr geschah. In sausender Fahrt ging es durch irgendwelche Grüfte, dann hoch durch die Luft und über einen Abgrund hinweg. Tessa verging Hören und Sehen. Es war ein Gefühl, als ob sie Achterbahn fahren würde. Dämonen und scheußliche Wesen griffen nach ihr. Endlich, wieviel Zeit verstrichen war, wußte sie nicht, stand sie plötzlich wieder in der Teufelsgrotte. Mephisto, dessen ungeheuren Kräften und Teufelszauber sie nichts hatte entgegensetzen können, und ein zweiter Teufel standen bei ihr. »Mark!« rief Tessa gellend. »Zu Hilfe!« »Mark Hellmann kann dir nicht helfen«, erklärte ihr Mephisto, immer noch in der Teufelsgestalt, höhnisch lachend. »Du bleibst hier in Gewahrsam, unter Bewachung meines Unterteufels Samiel. Bald wirst du erfahren, wie es weitergeht.« Mit Gebrause fuhr Mephisto durch die Höhlendecke, die sich für ihn öffnete und hinter ihm wieder schloß. Das düstere Glühen blieb. Tessa schaute Samiel an. Dieser Teufel hatte die Gestalt eines mittelgroßen, gebückt gehenden Mannes mit dünnen, schwarzen Haarsträhnen, die auf seinem Kopf klebten. Zwei kleine Hörner wuchsen ihm aus dem Schädel. Sein Gesicht war grünlich und fahl wie das einer Wasserleiche. Er rollte oft mit den Augen, schnitt Grimassen, und ein Tic verzerrte sein Gesicht. Samiel hatte einen leichten Buckel und Krallenhände. Er bewegte sich ungelenk, konnte jedoch blitzschnell sein, und er hatte eine widerliche, schleimige Art. Jetzt rieb er sich raschelnd die Krallenhände. »Zu Diensten, schöne junge Frau«, sagte der Widerling, der übel nach faulen Eiern und nach Verwesung stank. Er trug einen blauen Frack und grüne Hosen. Seine Augen glühten und leuchteten manchmal stärker und
manchmal schwächer. »Es ist mir eyne große Ähre und eyn Vergniegen. Darf ich Ihnen eyne Gefälligkeit erweisen? Mechten Sie eynen kleynen Imbiß?« Tessa wußte nicht, was sie davon halten sollte. Zweifelnd schaute sie Samiel an. Sein rechter Arm verlängerte sich. Schwupp, schwupp, schwupp pflückte er drei fette Kreuzspinnen aus ihren Netzen an der Decke und hielt sie der aufschreienden Tessa hin. »Mechten Sie essen? Natierliches Fastfood fier den kleynen Hunger zwischendurch, hähähä. - Neyn, mechten Sie nicht essen? Weyß Sie nicht, was Sie will. Esse ich selber.« Schmatzend verschlang er die Kreuzspinnen, kaute und schluckte. Tessa drehte sich schon vom Zusehen fast der Magen um. Samiel wollte sich ausschütten vor Lachen, als er ihr entsetztes Gesicht sah. »Kann ich euch Kröten herbeyhexen, wenn Sie diese mag fressen. Ist die Dame verwehnt, oioioi? Haben wir schon schlechte Zeiten in Helle gehabt; haben die Teufel die Fliejen jefressen. Ist sich Lucifuge Rofocale gekommen, das Höllenkaiser, hat sich meyne Fliejen noch wegjefressen. Was soll kleyner Unterteufel Samiel machen? - Oioioi, soll ich dir Helle zeyjen? Kann ich dich foltern mit glühende Stock, setzen dich in die kochende Wasser. Das wird fein, nicht fier dich, aber fier Samiel, wo jern die verdammten Seelen von scheene junge Weibchen schreien heert. - Joijoijoi, soll ich dir Kopf abbeißen und damit Fußball spielen? Kann man wieder ankleben später, merkt sich keyn Mensch, wenn ist richtig herum.« Samiels Hals fuhr teleskopartig aus. Sein Rachen weitete sich und war doppelt so groß wie der eines Löwen. Schreiend wich Tessa zurück. Als sie mit dem Rücken an die Wand stieß, faßte sie sich und zeigte Haltung. Samiel wollte wohl mit ihrem Entsetzen Scherze treiben. »Du wirst es nicht wagen, mir den Kopf abzubeißen. Du bist der Diener Mephistos, ein Unterteufel, und hast den Auftrag, mich zu bewachen. Du darfst mir kein Haar krümmen. Oder Mephistos Strafe trifft dich, und Mark Hellmann wird dich erwischen und mit dir abrechnen, elendes Scheusal.« Samiels Kopf fuhr wieder in die normale Lage zurück und gewann seine normale Größe. Der Unterteufel hüpfte im Kreis herum. »Oioioi, ist sie frech zu mir, dieses Mensch!« rief er in seinem eigenartigen Deutsch. »Das wird sie noch bereuen, die Pritsche. Ziehe ich dir Haut von Kerper, reibe ich Salz hinein, werde ich glühender Wurm, krieche in dich und fresse dich innerlich auf! Du sollst Samiel kennenlernen!« So ging es in einer Tour. Hohn und Spott prasselten nur so auf Tessa nieder. Mephisto mochte mitunter grausam sein. Er hatte jedoch einen gewissen Stil. Samiel dagegen war einfach widerlich, ein Kriecher, der es liebte, Wehrlose und Schwache in Angst und Schrecken zu versetzen. Tes-
sa wußte sich keinen anderen Rat, als das Scheusal zu ignorieren. Sie setzte sich in die Ecke, schlang die Arme um ihre angezogenen Knie und schaute betont an Samiel vorbei. Eine Zeitlang führte er noch seine Kapriolen aus. Dann wurde es ihm zu langweilig, und er ließ von ihr ab. »Bist du bald in Helle«, sagte er noch. »Fressen die Ratten dich auf bei dein lebendijem Leib.« »Halt endlich die Klappe, du Teufelskot!« entfuhr es der couragierten Tessa. Soviel hatte sie gemerkt, daß Samiel nicht ernsthaft Hand an sie legen durfte. »Mark Hellmann ist sicher schon unterwegs, um mich zu befreien. Dann kriegst du was auf die Hörner.« Samiel kreischte und ging auf Tessa los. Er hielt jedoch inne, kurz bevor er sie berührte. Murrend und knurrend ging er von ihr weg an das andere Ende der Teufelsgrotte. »Macht sich keyn Spaß, wenn sich nicht fierchtet das Hurenmensch«, brabbelte er. »Reyß ich sie in Sticke, quäle sie fierchterlich, wenn Mephisto mich läßt, joijoijoi.« Mit dieser makabren Hoffnung tröstete er sich. Draußen war es inzwischen völlig dunkel. Es war kurz vor Mitternacht. Tessa schaute auf ihre Uhr, als ein lautes Brausen ertönte. Mephisto erschien, wieder in Teufelsgestalt. »Nun?« fragte er Tessa höhnisch. »Hat dir mein Diener angenehm die Zeit vertrieben?« Tessa schnitt eine Grimasse. Wieder packte Mephisto sie. Samiel fuhr ihnen hinterher, als sie durch die Höhlendecke zum Galgenberg zischten. Die Wolkendecke war stellenweise aufgerissen. Manchmal sah man den bleichen Vollmond. Im Südosten entdeckte Tessa die Lichter von Weimar, im Osten die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos. Mephisto hielt Tessa mit eiserner Kraft fest. Der Flugwind zerrte an ihren Haaren und Kleidern. Mephisto, der die Fledermausschwingen ausgebreitet hatte, und der wie eine Rakete hinter ihm herfliegende Samiel gelangten durch die Lüfte zu einer Lichtung im Wald auf dem Galgenberg. * Die drei landeten auf der Lichtung. Tessa fror nach dem Flug durch die kühle Nachtluft. Auf der Lichtung brannte ein Feuer. Bei diesem standen drei splitternackte Hexen. Tessa war erstaunt, als sie eine junge Frau aus Weimar darunter erkannte, eine hübsche Rothaarige Anfang Zwanzig. Tessa fiel sogar ihr Name ein: Dorotee Geißler. Sie hatte eine Boutique, abseits von der Kulturmeile von Weimar.
Die rothaarige Dorotee verkaufte Esoterisches in ihrem Laden, Liebestränke, einschlägige Literatur und allerlei Mittel. Sie warb gern für den Hexenkult. Daß sie allerdings soweit gehen, sich mit dem Teufel verschwören und an Hexensabbaten teilnehmen würde, hätte Tessa nicht gedacht. Sie hatte Dorotee Geißlers Faible für die Hexerei für eine Marotte gehalten. Im Hintergrund ragten die Überreste eines Galgens auf. Nur die beiden Stützbalken und der Querbalken waren davon noch vorhanden. Auf diesem Galgen saß traurig das Skelett des Henkers, der zuletzt 1738 eine dreifache Hinrichtung vollzogen hatte: an einer Dienstmagd, die abgetrieben hatte, einer Zigeunerin, die ein Huhn gestohlen hatte, und einem Bauern, der es gewagt hatte, dem Großherzog ein grobes Wort zu geben und ihm mit der Faust zu drohen, als der bei der Jagd über die Felder des Bauern und diese zuschanden ritt. Der Henker zog einen Henkersstrick durch die Knochenfinger. Er war dafür bekannt gewesen, daß ihm die Hinrichtungen immer großen Spaß bereitet hatten. Er hatte sogar absichtlich welche von seinen Opfern so aufgehängt, daß sie möglichst lange zappelten, ehe sie ihr Leben aushauchten. Die beiden Teufel und Tessa standen direkt vor den drei nackten Hexen. Die rothaarige Dorotee war aufreizend gebaut, mit prallen Brüsten und Hüften und langen, strammen Schenkeln. Von den beiden anderen Hexen war die eine dick und aufgeschwemmt, die andere alt und runzlig. Die schlaffen Hängebrüste baumelten ihr bis zum Nabel. Die drei Hexen hatten sich bereits mit der Hexensalbe eingeschmiert, die unter anderem Bilsenkraut enthielt, das Halluzinationen erzeugte. Die Hexen hüpften herum und kreischten und lachten. Sie begrüßten Mephisto als ihren Herrn und Meister und verbeugten sich auch vor Samiel. Tessa betrachteten sie mit Mißtrauen. Die rothaarige Dorotee fragte sie skeptisch: »Was willst du hier, du Bulle?« Eine weibliche Form dieses Worts für die Polizei, eine Bullin, das gab es ja nicht. Ehe Tessa antworten konnte, sagte Mephisto: »Sie gehört zu euch. Sie ist eingeweiht. Also behandelt sie mit Respekt.« Sofort verbeugten sich alle drei und küßten Tessa die Hände und die Füße. Mephisto deutete jetzt auf Tessa. »Zieh dich aus und reib dich mit der Hexensalbe ein!« befahl er. »Du wirst am Sabbat teilnehmen.« Tessa weigerte sich. Der Teufel zeigte mit der flachen Handfläche auf sie. Ein Blitz sprang daraus hervor und traf Tessa. Die schlanke Brünette schrie auf. Ihr Körper zuckte heftig, von immer neuen Stromstößen durchgerüttelt.
Samiel hüpfte umher und rieb sich begeistert die Hände. »Ja, brat er sie!« rief er. »Soll er sie umbringen, verbrennen, soll sie sterben wie auf den elektrischen Stuhl.« Die Schmerzen waren so schlimm, das Tessa zusammenbrach und schluchzte, als Mephisto den Hochspannungsblitz endlich einstellte. Dennoch waren zwei weitere Behandlungen nötig, bis Tessa, die immer starrköpfig gewesen war, ihre Kleider ablegte. Die drei Hexen rieben sie überall am Körper mit der Hexensalbe ein. Zuerst spürte Tessa ein Brennen. Ein paar Momente glaubte sie, bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Nun wurde ihr kühl, und dann setzte die Wirkung ein. Wie bei einem Drogenrausch hatte Tessa Halluzinationen. Ihre Sinne waren gereizt und geschärft. Sie verspürte angenehme Gefühle und einen starken sexuellen Reiz. Mephisto erschien ihr als Krone der Schöpfung. Sogar der niederträchtige Samiel gefiel ihr plötzlich. Die drei anderen Hexen rieben sich an den beiden, bis Mephisto sie streng zur Ordnung rief. Der Sabbat begann. Die Hexen, zu denen sich Tessa gesellt hatte, tanzten nackt um das hochlodernde Feuer und sprangen durch den Wald. Tessa glaubte, glühende Wolf saugen zu sehen. Sie wußte nicht, ob es sich dabei um eine Halluzination handelte oder ob Mephisto Wölfe herbeigezaubert hatte. Tessa dachte nicht mehr an Mark Hellmann. Die Hexensalbe verschaffte ihr ein Hochgefühl und Lust. Am Galgen lehnten drei Hexenbesen, zu denen Mephisto einen vierten hinzuzauberte. Tessa stieg nun, wie es ihr die drei anderen Hexen vorführten, auf einen Reiserbesen. Der Besen hatte ein Eigenleben. Tessa spürte, wie er sich heftig zwischen ihren Schenkeln bewegte. Die rothaarige Dorotee und die beiden anderen jagten empor in die Lüfte. Tessa versuchte es, und tatsächlich, es klappte, als sich Mephisto hinter sie setzte und sie im Gebrauch des Hexenbesens unterwies. Durch Gewichtsverlagerung und indem sie den Besenstiel mit beiden Händen umklammerte und in die gewünschte Richtung lenkte, konnte sie ihren Flug bestimmen. Plötzlich war Mephisto verschwunden. Er hatte sich weggezaubert. Tessa saß allein auf dem Besen. Die Hexensalbe verhinderte, daß sie Angst hatte. Zunächst hatte Tessa Probleme. Sie flog so knapp über die Baumspitzen, daß Äste sie peitschten und ihr Striemen zufügten. Doch dann kriegte sie den Besen mehr und mehr in den Griff. Loopings fliegen und sonstige komplizierte Kunstflugfiguren vollführen wie die erfahreneren Hexen konnte sie jedoch noch nicht. Dazu fehlte ihr die Übung. Manchmal machte der Besen, was er wollte, und sie hatte Probleme, ihn in die gewünschte Richtung zu dirigieren. Einmal flog sie plötzlich mit dem Kopf nach unten und geriet ins Trudeln.
Sie fürchtete schon, abzustürzen. Aber die rothaarige Dorotee griff ein, drehte sie und half ihr, den Besenflug wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es war ein tolles Gefühl, durch die Luft zu fliegen, im Vollmond über den Galgenberg, den großen Ettersberg und über Weimar hinweg. Die Hexen, auch Tessa, juchzten und schrien. Es waren tolle Gefühle. Nach längerer Zeit ging es wieder auf die Lichtung hinunter. Der Nachtwind pfiff Tessa um die Ohren. Sie verspürte ein wundervolles Gefühl der Freiheit. Ihre Haut war gerötet, und sie hatte eine Erfahrung gemacht, die sie niemals vergessen würde. Schnell atmend stellte Tessa den Besen zu den anderen an den Galgen. Immer noch saß das Skelett des Henkers auf dem Querholz und spielte mit seinem Henkersstrick. Mephisto hob nun seine Arme. Die drei Hexen, Tessa schwieg, intonierten Gesänge und versicherten dem Teufel ihre Ergebenheit. »Du bist unser Meister!« riefen Dorotee und die beiden anderen. »Dein sind wir für immer. All unser Sinnen und Trachten gehört dir.« Mephistos Augen glühten viel stärker als zuvor. »Gebt mir den Hexenkuß!« befahl er. Er drehte sich um, und die drei Hexen knieten nieder und küßten sein Hinterteil. Das war eine alte drastische Sitte bei Hexensabbaten. Die alten Kulte waren nicht untergegangen, im Gegenteil, sie erstarkten. Als die Reihe an Tessa kam, den Hintern des Teufels zu küssen, weigerte sie sich strikt. Die drei Hexen reagierten erbost und stürzten sich auf sie. Sie zerrten sie hin und her und rissen sie an den Haaren. »Willst du wohl? Du bist auf dem Besen geritten, also mußt du auch den Hintern des Teufels küssen. Wer A gesagt hat, der muß auch B sagen. Du willst doch eine Hexe sein, oder?« »Nein!« rief Tessa, bei der die Wirkung der Hexensalbe nachließ. »Ich will nicht zu euch gehören. Laßt mich in Ruhe!« Mephisto lächelte böse. Die Saat war gelegt, sie mußte aufgehen, besonders, wenn er das förderte. Ich kann Tessa Hayden auf meine Seite bringen, dachte der Teufel. Doch zunächst hatte er andere Sorgen. »Laßt sie!« befahl er. »Sie wird sich schon noch besinnen. Wir führen den Sabbat zu Ende. Dann werde ich mich um Tessa Hayden kümmern.« Tessa trat zur Seite. Völlig erschöpft sank sie ins taufeuchte Gras. Die Hexen intonierten weitere Gesänge. Mephisto zog mit ihnen in den nahen Wald, aus dem bald ihr Kreischen herübertönte. Nach einiger Zeit kehrten sie wieder zurück. Die rothaarige Dorotee hielt besitzergreifend die Klauenhand des Satans. Ihre Augen glänzten. Mephisto schob sie zur Seite. Er wandte sich an Tessa. Riesengroß überragte sie der Satan.
»Du willst zu Mark Hellmann?« fragte Mephisto. »Du sollst ihn wiedersehen. Doch nicht hier in Weimar, sondern auf einem Schiff. Ich werde dich hinversetzen. - Mach dich bereit!« Was soll ich tun, wollte Tessa fragen? Doch es war schon zu spät. Ein Blitz zuckte aus Mephistos Augen. Er hob die Rechte. In seiner Handfläche entstand ein magisches Zeichen. Es wurde zu einer sich verjüngenden Spirale, die sich immer schneller drehte. Tessa wurde von dieser Spirale magisch angezogen, zunächst ihr Blick, dann die gesamte Person. Die Öffnung der Spirale wurde immer größer. Sie sog Tessa auf. Die Neunundzwanzigjährige stürzte hinein. Sie hörte seltsame, verworrene Laute. Licht explodierte. Sphärenklänge ertönten. Leuchtende Sterne, die zu Strichen wurden, rasten an Tessa vorbei. Sie wußte, daß sie sich durch Zeit und Raum bewegte. Da waren Spektralfarben, wallende, bunte Nebel, Planeten mit Monden, einer mit Ringen umgeben, und ferne Galaxien. Ein finsterer Abgrund klaffte tief unter Tessa. Klagen und Heulen ertönten daraus. Hoch über ihr war ein strahlendes Licht, das seine Position zu verändern schien, als sie herumwirbelte. Wie lange die Reise dauerte, wußte Tessa nicht. Plötzlich spürte sie einen ziehenden Schmerz, als sie wieder in die Normalzeit und Materie eintrat, oder, wie ein Physiker es genannt hätte, ins Einsteinsche Raum-ZeitKontinuum. Tessa fand sich in einer Kabine wieder. Durch ein großes Bullauge sah sie das Meer. Sie setzte sich auf das große Bett. An der anderen Wand standen zwei Betten übereinander. Die Kabine war mit viel Prunk und wohnlich eingerichtet, jedoch mit viel Holz und Schnitzereien. Tessa fragte sich, wo sie war. Auf einem Schiff, das war klar, doch auf welchem, und wohin fuhr es? Die Kabine schien ein Teil einer Suite zu sein. Kinderspielsachen lagen auf den Etagenbetten. Jetzt hörte Tessa Kinderlachen und Kinderstimmen. Ein sechsjähriger Junge im Matrosenanzug und ein vierjähriges, blondes Mädel im blauen Kleid stürmten herein. »Mammy, Mammy!« riefen sie. »Dürfen wir morgen wieder mit Celia ins Schwimmbad? Es war wundervoll dort. Ach bitte, bitte.« Tessa wollte sagen: Das muß bitte ein Irrtum sein. Ich bin nicht eure Mutter. Aber der braunhaarige Junge und das Mädel mit Zöpfen hängten sich bereits an sie, lachten sie an und taten sehr vertraut mit ihr. Jetzt trat ein Kindermädchen mit weißer Bluse, dunkelblauem Rock und weißer Haube ein. Das mußte Celia sein. Sie war Mitte Zwanzig, eine etwas kräftige Person mit Stupsnase, energischem Kinn, braunen Haaren und braunen Augen. Sie wird die Kinder auf
ihren Irrtum hinweisen und mich fragen, wer ich bin und was ich hier zu
suchen habe, dachte Tessa.
Aber das Kindermädchen sagte zu ihr: »Ich habe darauf geachtet, daß beide ihre Haare richtig trocknen, Mrs. Manderley. Das versprochene Eis habe ich ihnen im Restaurant gekauft, wie Sie mir sagten.« Sie nannte den Preis für das Eis. Tessa wußte nicht, was sie sagen sollte. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie schaute auf ihre Hände. An den Fingern trug sie wertvolle Ringe, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Die Hände, auf die sie blickte, waren nicht die der Tessa Hayden im Jahr 1998. Ein entsetzlicher Verdacht stieg in Tessa auf. Sie bat die Kinder, sie einen Moment loszulassen. Dann ging sie zum nächsten Spiegel. Als sie hineinschaute, sah sie das ihr völlig fremde Gesicht einer jungen, blonden Frau. Tessa trug ein hochgeschlossenes Kleid aus der Zeit um 1910. Ihre Frisur entsprach der Mode jener Epoche. Die Frau im Spiegel war schön. Nebenan fand Tessa einen Garderobenspiegel, in dem sie sich betrachtete. Sie oder vielmehr die Frau, die sie sah, war groß .und vollbusig. Sie war viel weiblicher als Tessa. Wo bin ich, dachte Tessa wieder. Wer ist diese Frau, und wie komme ich in ihren Körper? Was soll ich jetzt machen? Nur eine Frage davon konnte sich Tessa selbst beantworten, nämlich, wie sie hierherkam. Mephisto hatte sie von dem Hexensabbat weggezaubert. Hatte er sie absichtlich auf dieses Schiff versetzt, oder war etwas schiefgelaufen bei seiner Zeitmagie? Tessa befürchtete es fast. Was sie jetzt anfangen sollte, war die am schwierigsten zu beantwortende Frage. Ihre Hände zitterten. Sie war schwer geschockt, wollte sich aufregen, zwang sich jedoch zur Ruhe. Die innere Unruhe blieb. Nur nicht hysterisch werden! ermahnte sich Tessa. Als Fahnderin hatte sie schon schwierige Streßsituationen durchlebt und bisher immer gemeistert. Sie ging wieder nach nebenan und sagte den Kindern, sie sollten spielen. Die Kinder waren für Tessa ein Problem, weil sie nicht wußte, wie sie mit ihnen umgehen sollte. Selbst hatte sie keine Kinder. Und sie kannte nicht mal die Namen der beiden. Sie konnte schlecht fragen: Kinder, wie heißt ihr denn, wie alt seid ihr? Wer ist euer Vater? Das war auch ein Problem. Womöglich reiste auch noch der Ehemann der blonden, schönen jungen Frau mit, und was sollte Tessa dann machen? Sie wandte sich zunächst an das Kindermädchen. »Celia, auf ein Wort, kommen Sie bitte nach nebenan.« Es war peinlich, daß Tessa, die sich nicht auskannte, statt die Tür zum Nebenzimmer jene zu Bad und Toilette öffnete. Celia schaute verwundert. Tessa fand dann die richtige Tür. Sie und Celia gelangten in einen noblen Salon. Das ist eine Erster-Klasse-Prunksuite auf einem Luxusliner, dachte
Tessa. Arm konnte die Frau, in deren Körper es sie verschlagen hatte, jedenfalls nicht sein. »Celia, bitte, beantworten Sie mir, was ich wissen will und stellen Sie mir keine Fragen. Ich erkläre Ihnen alles später. Wollen Sie mir das versprechen?« Celia nickte. »Nennen Sie mir bitte meinen vollen Namen und erzählen Sie mir, wer ich bin, wie alt ich bin, wer mein Mann ist, was ich im Leben mache und wohin wir auf diesem Schiff fahren.« Celia war sehr verwundert, antwortete jedoch, wie sie es versprochen hatte. »Sie heißen Lady Lorena Manderley, sind vierundzwanzig und die Gattin von Lord Peter Manderley. Sie sind eine Lady und leben standesgemäß. Zur Zeit unternehmen Sie mit Ihren beiden Kindern Tommy und Margaret eine Schiffsreise in die USA, von Southampton nach New York. Sie wollen - aber das wissen Sie selbst, es steht mir auch nicht zu, über die privaten Angelegenheiten meiner Herrschaft zu sprechen.« »Was will ich? Sagen Sie es mir, bitte.« »Ich - hm, Sie wollen Ihren Mann verlassen und England den Rücken kehren, bis die Scheidung durch ist, die einen beträchtlichen gesellschaftlichen Skandal verursachen wird. Sie haben die Absicht, diese schwierige Zeit bei Ihrer besten Freundin zu verbringen, Sarah Fowler, geborene Wilkes, die Zweitälteste Tochter des Earl of Wilkes. Mrs. Fowler ist ein Jahr älter als sie, Sie kennen sie schon sehr lange. Mrs. Fowler ist mit einem Stahlmagnaten verheiratet, lebt überwiegend in den USA und hat Ihnen ihren Beistand zugesichert. Sie fliehen vor Ihrem Mann, der ein fürchterlich aufbrausender Mensch ist.« Es war allerhand, was Tessa da zu verdauen hatte. Sie schluckte. »Zwei Fragen noch, Celia. Wie heißt das Schiff, auf dem wir fahren, und welches Datum schreiben wir heute?« »Lady Lorena, es ist die >TitanicTitanicTitanicTitanic< wird…« »Nächste Woche Dienstag in New York sein, wollten Sie sagen?« fragte Celia höflich lächelnd. »Aber sie wird New York…« Nie erreichen, wollte Tessa sagen. Doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. »Ja«, sprach sie statt dessen. Sie wollte von einem Eisberg berichten. Es gelang ihr jedoch nicht. Me-
phisto hat mich mit einem Zauber belegt, daß ich niemanden vor der drohenden Katastrophe warnen soll, dachte Tessa aufgebracht. Was für ein Erzteufel und Schuft! Sie nahm ein Blatt Papier und wollte die Warnung niederschreiben. Auch das war nicht möglich. Tessa brachte die Worte mit dem Füllfederhalter nicht zu Papier. Sie schickte Celia, die sie schon seltsam anschaute, nach nebenan zu den Kindern, setzte sich hin und überlegte. Panik stieg in ihr auf. Durch Mephistos Magie und eine Geistreise, wie man das nannte, war sie in den Körper einer anderen Frau gelangt, von der sie kaum mehr wußte, als ihr das Kindermädchen gerade erzählt hatte. Tessa überlegte, ob der Geist von Lorena Manderley jetzt vielleicht in ihrem Körper war, in dessen Umgebung er sich genausowenig zurechtfinden würde wie sie momentan. Schlechter noch, Lorena Manderley war für ein Leben im Jahr 1998, sechsundachtzig Jahre nach ihrer Zeit, nicht gewappnet. Oder ob Lorena Manderleys Geist stillgelegt oder betäubt war, in einer anderen Dimension, wo auch immer? Jedenfalls erhielt Tessa keinen Kontakt zum Geist von Lorena Manderley, als sie es versuchte. Sie hatte einen Sack voller Probleme. Sie fuhr 1912 auf dem größten Schiff der Welt, das als unsinkbar galt und in Kürze mit 2.227 Menschen an Bord untergehen würde. Sie hatte für zwei Kinder zu sorgen, die nicht ihre waren, aber für die sie eine Verantwortung fühlte, weil sich ihr Geist im Körper von deren Mutter befand. Schließlich konnte sie schlecht zu den Kindern sagen: »Ich bin nicht eure Mutter. Ich sehe zwar genauso aus, aber ich bin in Wirklichkeit Tessa Hayden, komme aus der Zukunft und habe mit euch nichts am Hut.« Das brachte Tessa nicht fertig. Sie war außer sich. Das hatte ihr Mephisto eingebrockt. Wie sollte sie je wieder in ihre Zeit zurück? * »Wann soll ich denn zur >Titanic