Charlotte Engmann
Tod in Wien Version: v1.0
Der Vampir wollte sie töten! Perdita kreischte entsetzt auf...
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Charlotte Engmann
Tod in Wien Version: v1.0
Der Vampir wollte sie töten! Perdita kreischte entsetzt auf. Panisch schlug sie nach den Händen, die nach ihr griffen. Doch er packte ihre Handgelenke und hielt sie unerbittlich fest. Perdita brüllte aus Leibeskräften um Hilfe, schrie sich schier die Lunge aus dem Leib, aber niemand hörte sie. Sie strampelte mit den Beinen, warf sich verzweifelt hin und her. Vergebens. Der Mann hielt sie gepackt, bis ihre Kräfte erlahmten und ihre Bewegungen erstarben. Jetzt war sie ihm hilflos ausgeliefert! Voller Todesangst starrte sie den rotblonden Mann an.
Sein Name ist Lukas Ritter, erinnerte sie sich beiläufig. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, als wollte es dem beinernen Käfig der Rippen entkommen. Ihr Atem raste. Das Blut donnerte durch ihre Adern und dröhnte so laut in ihren Ohren, dass der Lärm fast Ritters Worte übertönte. »Beruhige dich doch! Ich tue dir ja nichts.« Er schlug die wasserblauen Augen nieder. Schuldbewusstsein huschte über sein blasses Gesicht. Seine Lippen formten ein nahezu lautloses: »Zumindest jetzt nicht mehr.« Er ließ ihre Hände los. Perditats Arme sackten hinab. Nach Atem ringend versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie erinnerte sich, wie die Frau – Raffaella – sie auf die verlassene Bauruine gezerrt hatte, zu einer halb verfaulten Leiche. Und dort hatten sich die Ereignisse überschlagen. Perdita spürte noch immer den scharfen Schnitt an ihrem Hals. Blut war auf den Leichnam getropft – und dieser erwachte zu Leben! Wie ein wildes Tier hatte das Ding aus totem Fleisch und fauligem Gestank sie angefallen und ihr die Zähne ins Fleisch geschlagen! Perdita schrie auf, als die Erinnerungen über ihr zusammenschlugen, und wich zurück, bis eine Wand ihre Flucht stoppte. Sie griff sich an den Hals, fast in der Erwartung, nur noch zerfetztes Gewebe vorzufinden. Doch ihre Finger meldeten, dass ihre Haut glatt und unversehrt war. Sie spürte keine Wunden, keinen Schmerz. »Was haben Sie mit mir gemacht?«, keuchte sie. »Es tut mir Leid.« Ritter erhob sich von der Bettkante und ließ sich auf einen Sessel sinken. Wie Perdita allmählich realisierte, befand sie sich in einem abgedunkelten Zimmer. Wandlampen, wie alte Kerzenleuchter
geformt, warfen schwache Lichtstreifen über eine seidig glänzende Tapete mit freundlichem Blumenmuster. Sie selbst saß auf einem breiten Himmelbett, auf dessen Vorhängen sich die Blumen der Tapete wiederholten. Bunte Blüten zierten die Bettwäsche. »Was ist mit mir?«, wiederholte sie. Die akute Todesangst verschwand, wurde von einem anschwellenden Entsetzen verdrängt. Etwas Schreckliches war geschehen, etwas Schlimmeres als der Tod der Eltern, furchtbarer als zuzusehen, wie ihre Schwester misshandelt wurde. »Raffaella hat deine Halsschlagader aufgeschnitten, damit ich dein Blut trinken konnte«, erklärte Ritter. »Und ich habe alles getrunken. Bis zum letzten Tropfen. Und wenn das geschieht, wird aus dem Opfer ebenfalls ein Vampir.« Perdita schüttelte fassungslos den Kopf. Das konnte sie nicht glauben. Das war unfassbar. Sie sollte jetzt … war jetzt … Ihr Blick saugte sich an Ritter fest. An dem Vampir! Dann brach sie in Tränen aus. In heftigen Schluchzern und bitterem Weinen entluden sich Angst und Schrecken. All die Nöte und Seelenqualen, das Entsetzen und die Furcht, die sie in den vergangenen Tagen durchlitten hatte, strömten aus ihr heraus, bis sie nur noch Leere empfand. Und brennenden Durst … »Hier. Trink das.« Ritter reichte ihr ein Glas mit einem roten Getränk. Zuerst dachte Perdita, es sei Wein, doch als der Geschmack ihren Gaumen berührte, erkannte sie ihren Irrtum. Aber das erwartete Gefühl von Ekel blieb aus. Süß und erfrischend rann das Blut ihre Kehle hinab und erfüllte ihren Körper mit einer sanft glühenden Wärme. »Was wird nun aus mir?«, erkundigte sie sich zaghaft. »Was haben Sie mit mir vor, Herr Ritter?« »Lukas.« Er lächelte freundlich, und seine strengen Züge entspannten sich. »Nenn mich bitte Lukas. Den Nachnamen führe
ich nur im Umgang mit den Menschen.« »Oh.« Perdita leerte das Glas bis auf den letzten Tropfen, ehe sie es auf dem Nachttisch neben dem Bett abstellte. In ihrem Kopf tanzten die Gedanken wie Schmetterlinge. Sie fühlte sich seltsam leicht und beschwingt, wie befreit von jeder Not und jenseits aller Gefühle. Nur Neugier und ein wenig Angst vor einer Ungewissen Zukunft waren geblieben. »Sind Sie schon sehr alt?«, fragte sie. »Wie man’s nimmt. Die meisten unserer Artgenossen sind jünger. Denn obwohl unserem Leben kein natürliches Ende gesetzt ist, sterben viele entweder durch Feindeshand oder durch die eigene. Aber du hattest nach deiner Zukunft gefragt.« Lukas strich eine rotblonde Strähne aus seiner Stirn und lehnte sich in dem Sessel zurück. »Du bist wie alt? Fünfzehn? Sechzehn?« »Siebzehn einhalb!«, empörte sich Perdita. Es war eine Schande, dass man sie dauernd für jünger hielt! Unbeeindruckt zuckte Lukas mit den Schultern. »Auch wenn du damit fast achtzehn bist, ist das zu jung, um ein Vampir zu werden. Außerdem geschah es gegen deinen Willen. Damit bin ich verantwortlich für dich. Ich werde dir helfen, dich in deiner neuen Existenz zurechtzufinden. Du kannst hier auf Schloss Lohrberg bleiben, so lange du willst. Und wenn du eines Tages fortgehst, um dein eigenes Leben zu führen, hast du jederzeit Anspruch auf meine Hilfe. Das gilt auch, wenn du nicht als Vampir weiterleben willst.« Perdita schaute ihn verwundert an. Meinte er damit, er würde ihr bei einem Selbstmord helfen? Nach all den eindringlichen Worten und aufwühlenden Enthüllungen schlug unvermittelt der Galgenhumor durch. »Reicht dafür nicht ein Sonnenbad?«, scherzte sie, jedoch mit einem ernsten Unterton. »Ich würde davon abraten«, sagte er trocken. »Es ist kein schöner Tod.«
Perdita dachte an das, was sie aus Büchern und Filmen über Vampire wusste. »Was ist mit all dem anderen Zeug, dem Weihwasser, den Kreuzen und Knoblauch? Oder Silberkugeln? Töten diese uns?« »Nein. Mit Waffen aus Silber kann man Werwölfe töten, aber keine Vampire. Es sei denn, man schlägt uns den Kopf mit einer versilberten Klinge ab. Feuer und Explosionen sind ebenfalls tödliche Gefahren für uns. Was ›all das andere Zeug‹ betrifft: Das sind Ammenmärchen. Einige von uns mögen allergisch auf Kreuze reagieren, doch das ist dann lediglich ein Ausdruck von Hass auf oder Furcht vor den Christen oder der christlichen Kirche. Knoblauch dagegen stinkt zum Himmel. Du wirst feststellen, dass du Geräusche und Gerüche intensiver wahrnimmst.« Perdita holte Luft. »Und was ist mit dem Atmen?« »Wir können nicht ersticken oder ertrinken, wenn du das meinst. Aber wir brauchen Luft, um sprechen zu können. Und ebenso schlägt weiterhin dein Herz, um das Blut durch deinen Körper zu pumpen.« Lukas stand auf. »Ich denke, das reicht für den Anfang. Dort hinter der Tür ist ein Badezimmer, und ich habe dir ein paar frische Sachen besorgt. Wenn du fertig bist, komm bitte in mein Arbeitszimmer. Den Gang entlang und an der Treppe links.« Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Zögernd stand Perdita auf. Anstatt ihres hautengen Trikots von gestern trug sie ein knielanges Nachthemd. Röte flutete über ihr Gesicht, als ihr einfiel, dass ihr das wahrscheinlich Lukas angezogen hatte. Oder Raffaella, die ebenfalls in seinem Schloss wohnte. War sie eine Freundin, Mitbewohnerin, Geliebte? Und wo war sie überhaupt? Schulterzuckend entließ Perdita diesen Gedanken. Sie würde später nach der Vampirin fragen können. Jetzt wollte sie sich erst einmal waschen. Sie trat in das Badezimmer, das im verschnörkelten Jugendstil eingerichtet war. In der Mitte des weiß gekachelten Raumes stand
eine altertümliche Badewanne auf vier goldenen Füßen. Toilette und Waschbecken schienen ebenfalls aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts zu stammen, doch zum Glück war die Wasserversorgung modernisiert worden. Warmes und kaltes Wasser sprudelte in reicher Fülle aus den vergoldeten Hähnen. Während sich die Badewanne langsam füllte, ließ Perdita die Gedanken schweifen. In ihrem Kopf summten die Eindrücke und Erlebnisse wie ein Schwarm Bienen, in dessen Gewusel jedoch allmählich ein Muster erkennbar wurde. Ihre ganze Situation war irgendwie unwirklich, aber war nicht ihr bisheriges Leben ebenso ungewöhnlich verlaufen? Ihr Vater war ein berühmt‐berüchtigter Einbrecher und Fassadenkletterer gewesen, der sie in seiner Kunst unterwiesen hatte, kaum dass sie Interesse daran zeigte. Doch vor einem halben Jahr waren Perditas Eltern bei einem Autounfall gestorben. Sie und ihre ältere Schwester Beate waren daraufhin in die Gewalt des Schwarzmagiers Franz Waidinger geraten, und mit Beate als Faustpfand hatte Waidinger Perdita gezwungen, in Schloss Lohrberg bei einem Vampir einzubrechen und eine bestimmte Spieluhr zu stehlen. Doch die junge Diebin war von Lukas Ritter, dem Hausherrn, erwischt worden. Die anschließende Konfrontation mit Waidinger hatte der Vampir allerdings verloren. Er war zu einem Haufen fauligen Fleisches zerfallen, den allein ihr Blut und ihr Leben gerettet hatte. Seufzend sank sie in die warme Umarmung des Badewassers. Eine Menge Fragen quälte sie, doch die wichtigste war: Konnte sie Lukas vertrauen? Als er sie beim Stehlen erwischt hatte, hätte er ihr beinahe die Hand abgeschlagen. Und – Perdita schluckte hart – er hatte sie getötet und damit zur Vampirin gemacht. Aber es schien ihm auch Leid zu tun. Und vorhin hatte er sehr freundlich und verständnisvoll gewirkt. Hatte er sein Angebot, ihr
zu helfen und ihr beizustehen, ernst gemeint? Oder musste sie noch Schlimmeres von ihm befürchten? Nun, das würde die Zukunft zeigen. Perdita fuhr mit den Händen über ihren flachen Bauch, ihre sehnigen Beine und Arme. Sie würde auch herausfinden, wie sich ihr Körper verändert hatte, welche vampirischen Fähigkeiten sie jetzt besaß oder entwickeln würde. Bisher schien alles normal zu sein. Das warme Wasser umspülte ihre Glieder. Der süße Rosenduft des Badeschaums prickelte in ihrer Nase. Sie spürte keinen Hunger, und ihren Durst hatte das Blut gestillt. Sie zuckte zusammen. Einerseits grauste ihr bei der Vorstellung, sich von Blut zu ernähren. Andererseits erfüllte sie der Gedanke mit einem Gefühl der Sättigung, der wohligen Zufriedenheit. Vermutlich war das der Grund, warum ein Vampir ohne Reue tötete – vorausgesetzt, die Sagen stimmten in dieser Beziehung. Halb bedauernd, halb von Neugier angetrieben, stieg Perdita aus der Wanne und trocknete sich ab. Auf der langen Truhe im Schlafzimmer fand sie mehrere Kleidungsstücke ausgebreitet. An den meisten hingen noch die Etiketten. Offenbar hatte Lukas die Sachen extra für sie gekauft. Perdita nahm das als ein gutes Zeichen und wählte eine Blue Jeans und ein bunt bedrucktes T‐Shirt. Auf ihren eigenen Turnschuhen verließ sie das Schlafzimmer und wanderte den Flur entlang. Der Geruch von Möbelpolitur und frischem Holz stieg ihr in die Nase. Sanftes Mondlicht fiel durch die Fensterscheiben und beleuchtete den Flur ausreichend. Sie lächelte. Im Dunkeln besser sehen zu können, gefiel ihr gut. An der Freitreppe, die in die Eingangshalle hinabführte, wandte sie sich nach links. Ein wenig unsicher über angebrachte oder überflüssige Höflichkeit klopfte sie an die Tür, ehe sie ins Arbeitszimmer trat. Lukas saß hinter dem großen Schreibtisch, der das eine Ende des Raumes einnahm. Seine Haare glänzten rotgolden im sanften Schein
einer Schreibtischlampe, und als er aufschaute, erreichte der warme Glanz seine Augen. »Wie fühlst du dich?«, erkundigte er sich. »Seltsam. Unsicher. Aber ein wenig besser.« »Du wirst dich daran gewöhnen.« Er setzte sich auf die Couch, die vor dem Kamin am anderen Raumende stand. Auf einen Wink hin nahm Perdita ihm gegenüber auf dem zweiten Sofa Platz. Das Arbeitszimmer, ja im Grunde alles, was sie bisher von Schloss Lohrberg gesehen hatte, gefiel ihr ausnehmend gut – sogar der Hausherr war kein übler Anblick, wenn man ihn in Ruhe betrachtete. Die wasserblauen Augen lenkten von der unnatürlich blassen Haut ab, und die weichen, rotblonden Haare milderten die harten Züge in seinem markanten Gesicht. Dagegen betonte die enge Lederhose seine kräftigen Beine, ebenso wie das halb offen stehende Leinenhemd den Blick auf die muskulöse Brust lenkte. Wirklich faszinierend fand Perdita jedoch die Widersprüche in Ausstrahlung und Erscheinung. Lukas sah aus wie Anfang Dreißig, dennoch besaß er die Lebenserfahrung von Jahrhunderten. Im Moment lehnte er gelassen auf dem Sofa, doch innerhalb eines Augenblickes konnte er sich in ein tödliches Raubtier verwandeln. Sie roch das blumige Parfüm einer Frau in den Kissen. »Wo ist eigentlich Raffaella?« Einen Moment lang starrte Lukas sie unverwandt an, ehe er langsam nickte. »Stimmt, du weißt ja gar nicht, was geschehen ist. Du hast ja mit ihr im Wagen gewartet, während ich mich mit Waidinger getroffen habe.« Gesicht und Haltung verrieten die Spannung, die ihn plötzlich erfasste. Mit bemühter Ruhe berichtete er. »In der Spieluhr, die du stehlen solltest, haust ein Pestdämon. Waidinger hat diesen Unhold gegen mich ausgeschickt, und ich wäre beinahe seiner bösen Macht erlegen. Allein dein Blut hat mein Leben gerettet.« Lukas ballte die Fäuste. Sichtlich rang er um
Fassung. »Raffaella und ich haben dann Waidinger zu seinem Unterschlupf in Köln verfolgt. Dort hat er mir einen Kriegsdämonen auf den Hals gehetzt. Ich konnte ihn besiegen – aber der Schwarze Tod hat Raffaella …« Er verstummte. »Das tut mir Leid.« Perdita bedauerte die Vernichtung der Vampirin, die immer nett zu ihr gewesen war. Na ja, fast immer. »Wie standen Sie und Raffaella eigentlich zueinander? War sie Ihre Freundin?« »Wir waren alte Freunde. Sehr alte Freunde.« Je länger Lukas sprach, desto wehmütiger und trauriger klang seine Stimme. »Wir haben uns gegen Ende der Renaissance kennen gelernt und sind uns immer wieder begegnet, bis sie vor ein paar Jahren bei mir einzog. Sie war wie eine jüngere Schwester für mich.« »Was ist mit Beate?«, lenkte Perdita von dem bedrückenden Thema ab. Bisher war die Sorge um ihre Schwester ihre geringste gewesen, aber nun meldete sich laut ihr Gewissen. »Wissen Sie, wo sie ist?« »Ich bin mir sicher, Waidinger hat sie auf seiner Flucht mit nach Wien genommen. Sie steht unter seinem Zauberbann, und er liebt es, getreue Dienerinnen um sich zu scharen. Erst sein Tod wird Beate aus ihrer Sklaverei erlösen.« Perdita packte ein Kissen und drückte es gegen ihren Bauch, als wäre es ein Schild. Sie musste ihre Schwester befreien! Aber wie sollte sie es schaffen? Sie konnte es nicht mit einem mächtigen Magier aufnehmen, nicht einmal als Vampir. Sie war zu jung und zu unerfahren in den Kämpfen, die die Unsterblichen und die Geschöpfe der Nacht miteinander ausfochten. »Was würdest du tun, um Beate zu retten?«, fragte Lukas unvermittelt. »Alles«, schoss es aus ihr heraus. »Das heißt, alles, was ich kann. Aber das ist nicht sehr viel.« »Wir werden sehen.« Lukas griff nach dem Schwert, das auf dem
Couchtisch zwischen den beiden Sofas lag. Die antike Waffe war ungefähr einen Meter lang und besaß eine kurze, gerade Parierstange. Ein schwarzer Edelstein zierte den Knauf. Mit beiden Händen umfasste der Vampir die Klinge, die in einer Lederscheide steckte. »Wir müssen Waidinger in Wien ausfindig machen und seinem Treiben und seinem Leben ein Ende setzen.« Die Vorstellung behagte Perdita ganz und gar nicht. Zaghaft meinte sie: »Aber wieso? Gibt es keinen anderen Weg, Beate zu befreien?« »Nein. Und selbst wenn: Waidinger gebietet über Pest und Krieg. Ich werde nicht zulassen, dass er Hunger und Tod ebenfalls in seine Gewalt bringt.« »Sie meinen die vier Reiter der Apokalypse?« Perdita schaute ihn ungläubig an. »Aber gibt es die wirklich? Ich meine, es gibt so viele Götter und Religionen – warum sollte gerade das Christentum die wahre sein?« »Willst du das Risiko eingehen?« Perdita unterdrückte jede Reaktion. Wenn sie ehrlich war, interessierte sie das nicht. Sie wollte einzig und allein ihrer Schwester helfen. Und wenn sie das nur tun konnte, indem sie Lukas bei seinem wahnwitzigen Unterfangen unterstützte, dann würde sie es tun. Apokalypse hin oder her …
* Missmutig zupfte Perdita an dem hellen Sommerkleidchen, das Lukas ihr gekauft und zu Tragen aufgedrängt hatte. Zwischen Dankbarkeit und Verdruss schwankend, murmelte sie: »Ich sehe aus wie zwölf.« Lukas warf ihr einen halb wissenden, halb tadelnden Blick zu, doch er enthielt sich eines Kommentars. Wortlos steckte er die
Hände in die Taschen seiner Hose und strebte weiter die Allee entlang, die durch die Donau‐Aue zum so genannten Wurstelprater führte, dem berühmten Vergnügungspark am Ende des Wiener Praters. Mit einem leisen Seufzer folgte ihm Perdita. Mit jedem Schritt wurden die schrille Musik des Vergnügungsparks, die Stimmen und Schreie seiner Besucher und das Rasseln, Sausen und Dröhnen der Fahrgeschäfte lauter. Der Geruch von Bratwürsten, Hamburgern und Fritten, von Popcorn und Zuckerwatte überlagerte immer stärker den reinen Duft der Nacht. Mit kühlem Silber und warmen Gold erleuchtete das gewaltige Riesenrad den dunklen Himmel über dem Wurstelprater, in dem Tausende von bunten Lichtern hektisch blitzten. An der Minigolf‐Anlage vor dem Riesenrad blieb Lukas stehen. Er zog eine rote Baskenmütze aus seinem Gürtel und hielt sie Perdita hin. »Hier, setz die auf.« Sie verzog das Gesicht und wollte abwehren, da drückte ihr Lukas die Mütze auf den braunen Schopf. In einem Ton, der jeden Widerspruch im Keim erstickte, sagte er: »Ich will dich wiederfinden ohne lange suchen zu müssen.« Er reichte Perdita ein Bündel Euro‐Scheine. »Amüsier dich ein wenig, aber bleib in der Nähe. Vielleicht triffst du ja bei einer Fahrt im Riesenrad einen jungen Mann, den du zum anbeißen süß findest.« Mit diesen Worten verschwand er zwischen dem Prater‐Bähnchen und der Wasserbahn Donau Jump. Perdita rückte die Mütze zurecht. Sie hatte nicht vor, jemanden zu beißen, egal ob jung und süß oder alt und hässlich. Niemals würde sie einen Menschen um seines Blutes willen verletzen. Lieber ernährte sie sich von Tieren, von streunenden Katzen und Hunden, oder – wenn es gar nicht anders ging – von Mäusen und Ratten. Mit einem Kopfschütteln vertrieb sie den störenden Gedanken an ihre Ernährung und begann, um das Riesenrad zu schlendern.
Eine nahe Imbissbude verströmte den Geruch von gebratenem Fleisch und frittierten Kartoffeln – ein Sinneseindruck, den sie bis vor kurzem als angenehm verführerisch und lecker empfunden hatte. Doch jetzt stiegen ihr die fettigen Dämpfe unangenehm in die Nase. Dafür gefielen ihr die verschiedenen Düfte und Aromen der Menschen umso besser: hier das süße Parfüm einer aufgedonnerten Matrone, dort das intensive Rasierwasser eines Möchtegern‐Machos. Ein untergewichtiges Teenagerpärchen roch nach Clearasil und Deospray, ein ungepflegter Zausel und seine nicht weniger schmuddelige Freundin mieften nach Zigaretten und Schnaps. Perdita lehnte sich gerade an das Absperrgitter einer Schwindel erregenden Liliputbahn namens Dizzy Mouse, als ein herber, fast beißender Geruch in ihre Nase stieg. Es roch nach einem Raubtier, ungezügelt und blutrünstig, und automatisch hielt sie Ausschau nach einem Löwen‐ oder Tigerkäfig. Dabei fiel ihr Blick auf einen mageren Mann, einen echten Spargeltarzan, dessen abgetragene Kleidung um seine dünnen Glieder schlotterte. Das grobe Gesicht war glattrasiert, die dunklen Haare kurz geschoren. Der Typ schaute einer hübschen Studentin hinterher. Doch plötzlich schien er Perditas neugierigen Blick zu bemerken. Er wandte den Kopf und starrte sie an. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Perdita errötete und verließ fluchtartig ihren Standort. Sie verschwand im Foyer des RiesenRäderwerk, dessen fünf Pavillons sich um den Unterbau des Riesenrades gruppierten. Erst im Panorama‐Museum verlangsamte sie ihre Schritte und schlenderte neugierig durch die Ausstellung. Acht der alten Waggons dienten als Bühne für Miniatur‐Landschaften, die von der zweitausendjährigen Geschichte des Praters und der österreichischen Hauptstadt erzählten.
Mit wachsendem Interesse bestaunte Perdita die Miniaturen – bis der leicht muffige Geruch des Pavillons von dem Raubtier‐Duft des Spargeltarzans überlagert wurde. Aufgeschreckt schaute sie sich um, doch den mageren Mann konnte sie nirgends entdecken. Ihrer Ruhe beraubt verließ sie das Panorama‐Museum und löste ein Ticket für das Riesenrad. Im letzten Moment huschte sie in einen Waggon, der gerade abfahren wollte. Außer ihr befand sich nur ein älteres Ehepaar in der großen Gondel, dem sie bedenkenlos den Rücken zukehrte, als sie an eines der Fenster trat. Eigentlich sollte man sich vor mir fürchten, überlegte sie mit einem misslungenen Grinsen. Sie spannte die Muskeln ihrer Oberarme an. Doch von der legendären übermenschlichen Stärke der Vampire spürte sie noch nichts. Die Kraft musste sich wohl erst noch entwickeln – ebenso wie ihre Fangzähne. Sie schauderte. Sie hatte gesehen, wie sich Lukas in einem Wutanfall veränderte, sich in eine schauerliche Bestie mit messerscharfen Fängen und Klauen verwandelte. Wie mochte sie in diesem Zustand erscheinen? Bestimmt nicht weniger einschüchternd. Oder so gefährlich wie ein Kätzchen, dachte sie, trotz Krallen und Raubtiergebiss einfach süß und niedlich. Sie wandte sich dem atemberaubendem Panorama zu, das sich mit jedem Meter, den die Gondel aufstieg, weiter vor ihren Füßen ausbreitete. Das silberne Licht des fast vollen Mondes glänzte auf der Donau und dem schmalen Donaukanal, der sich durch die dicht bebaute Innenstadt wand. Dunkle Flecken im bunten Meer der Großstadtlichter verrieten Grünanlagen wie den Augarten, den Zentralfriedhof und den Schlosspark von Schönbrunn. Weiter im Westen erstreckten sich das spärlich beleuchtete Naturschutzgebiet des Lainzer Tiergartens und der schwarze Schatten des
Wienerwaldes. Jetzt bringt der Reiseführer, den Lukas mir auf der Fahrt hierher in die Hand gedrückt hat, wenigstens was, dachte sie mit einem Schmunzeln. »Heute bleibt die Küche kalt«, murmelte Perdita lautlos zu sich selbst. »Wir geh’n in den Wienerwald.« Sie seufzte. Der Gedanke, dass sie nie wieder etwas essen würde, überkam sie plötzlich mit eiskaltem Schrecken. Nie wieder Grillhähnchen oder anderes Geflügel. Weder Fisch noch Fleisch. Keine verbotenen Süßigkeiten mehr, kein knackiges Gemüse oder saftiges Obst. Für sie blieb die Küche für immer geschlossen. Nur noch lauwarmes Blut bis in alle Ewigkeit. Sie stöhnte gequält auf. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich die ältere Dame teilnahmsvoll. Sie stand von der Bank auf, auf der sie mit ihrem Ehemann gesessen hatte, und trat neben Perdita. »Hast du dich mit jemanden gestritten? Du bist doch nicht von zu Hause weggelaufen, oder?« Perdita schüttelte stumm den Kopf. Der prüfende Blick der Frau verlangte nach einer Antwort, aber was sollte sie sagen? Dass sie eine Vampirin war? Die beiden würden das für einen Scherz halten und ihr zu viel Fantasie bescheinigen – und wenn nicht, vor Schrecken vermutlich aus der Gondel springen. Die Vorstellung ließ Perdita beinahe auflachen. »Zu Hause ist alles in Ordnung«, log sie und lenkte ab: »Ist es nicht schön hier oben? Man könnte sich glatt verlieben.« »Er hat hier um meine Hand angehalten, genau in dieser Gondel.« Die Frau blickte ihrem Mann verliebt in die Augen, und die Erinnerung ließ ihre Wangen erröten. Perdita hörte, wie sich der Herzschlag der Dame beschleunigte. Wie das Blut durch die zarten Adern des Gesichtes pulsierte. Der Durst überfiel sie aus heiterem Himmel. Die Vorstellung, die
Frau gleich hier und jetzt anzufallen, wurde schier übermächtig. In dieser Gondel hoch über den Dächern von Wien gab es kein Entkommen. Perdita stellte sich vor, wie sie den Mann hinausstieß – die Tür würde ihren Kräften keinen Widerstand leisten – und ihre Zähne in die Halsschlagader der Frau versenkte. Ein schmerzhaftes Ziehen durchfuhr ihren Oberkiefer. Hastig wandte sie sich ab, mühsam um die Beherrschung ihres Triebes kämpfend. »Hast du etwa Liebeskummer?«, fragte die Frau. Sie ahnte ja nicht, in welcher Gefahr sie schwebte! »Bist du nicht zu jung dafür?« »Ich bin fast achtzehn«, knurrte Perdita. Der Ärger über Lukas, der sie in dieses kindliche Kleidchen gesteckt hatte, vertrieb den Blutdurst. Das Ziehen in ihrem Kiefer ließ nach, und Perditas Muskeln entspannten sich. Da sie von dem Ehepaar zweifelnde Blick erntete, ergänzte sie: »Mein … Vater hat mir das Kleid gekauft. Und diese bescheuerte Mütze. Er will einfach nicht wahrhaben, dass sein kleines Mädchen langsam erwachsen wird.« Damit schien die Neugierde der beiden befriedigt, und sie ließen Perdita für den Rest der Fahrt in Ruhe. Nachdenklich trat die junge Vampirin wenig später aus der Gondel und strebte dem Ausgang zu. Warum hatte Lukas ihr das Kleid geschenkt und darauf bestanden, dass sie es anzog? Vor wem wollte er ihr wahres Alter verbergen, vor den Prater‐Besuchern oder sich selbst? Stand er auf kleine Mädchen – oder wollte er so verhindern, in ihr eine erwachsene Frau zu sehen? Perdita schaute an sich herab. Sehr fraulich war sie ja nicht gerade mit ihrem knochigen Körper, den schmalen Hüften und winzigen Brüsten, die sich kaum unter dem hellen Stoff abzeichneten. Sie zuckte die eckigen Schultern. Für den Moment wollte sie an Lukas’ Beschützerinstinkt glauben, der besser auf ein mageres Mädchen reagierte als auf eine reife Frau.
Sie verließ das RiesenRäderwerk und prallte beinahe mit einem Mann zusammen. Wieder erfüllte der herbe Raubtier‐Geruch ihre Nase. Doch vor ihr stand nicht der Spargeltarzan von vorhin, sondern ein anderer Typ. Er war genauso schmuddelig, aber weitaus behaarter. Die struppigen, schwarzen Haare standen in alle Richtungen vom Kopfe ab, und ein Fünftage‐Bart überschattete das kantige Kinn. Außerdem füllte der Struwwelpeter seine Klamotten besser aus als der Spargeltarzan, wobei er jedoch den gleichen scharfen Geruch nach Raubtier, nach wilder Jagd und ungezügelter Mordlust verströmte. Scheint ein Nest zu sein, dachte Perdita. Doch der Spott konnte ihre Unruhe nicht verdrängen. Verunsichert murmelte sie eine Entschuldigung und drängte sich an dem Mann vorbei. Wann kam Lukas endlich wieder? Perdita blickte auf ihre Armbanduhr. Er hatte gesagt, er wolle im Prater einen Kontaktmann treffen, der ihm Waidingers Versteck verraten würde. Aber wie lange konnte so ein Treffen dauern? Lukas hatte ihr eine Menge Geld gegeben, mit dem sie mehrere Stunden im Wurstelprater verbringen konnte. Aber inzwischen waren die meisten Fahrgeschäfte geschlossen, und die Leute strebten den Ausgängen zu. Die Wege leerten sich beständig. Es wurde leiser und ruhiger. Was sollte sie tun, wenn der Wurstelprater um ein Uhr früh geschlossen wurde? Der einst so verlockende Duft nach Pizza und Pasta wehte von einem italienischen Restaurant zu ihr. Tief sog sie die aromatische Luft ein – in die sich unvermittelt der scharfe Raubtiergeruch mischte. Aufgeschreckt eilte Perdita weiter und verschwand um die nächste Ecke. Zwei Gassen weiter landete sie in einem düsteren Hinterhof,
gebildet von den Rückseiten einiger Buden und einer still gelegten Liliputbahn. Unvermittelt war sie wie abgeschnitten von dem Vergnügungspark. Lichter, Stimmen und Musik drangen nur noch gedämpft zu ihr. Sie wollte umdrehen, auf den belebteren Hauptweg zurückkehren und … Plötzlich stand ein Mann vor ihr. Hemd und Hose spannten über dicken Muskelsträngen. Sein Gesicht verbarg sich hinter einer struppigen Haarmähne, einem buschigen Vollbart und den dicksten Augenbrauen, die Perdita je gesehen hatte. Seine Augen glänzten rötlich im fernen Schein der bunten Lichter, und ein gieriges Grinsen entblößte seine kräftigen Zähne. »Na, Kleine, hast du dich verlaufen?«, fragte er mit schleimiger Freundlichkeit. Perdita wich einen Schritt zurück. Der scharfe Geruch, den der Mann verströmte, nahm ihr fast den Atem. Mit einer Festigkeit, die sie nicht empfand, antwortete sie: »Nein, ich weiß genau, wo ich bin. Und jetzt lassen Sie mich vorbei!« »Wie heißt das Zauberwort?« Der Kerl lachte, doch er machte keine Anstalten, den Platz zu räumen. Sie ballte die Fäuste und schnappte: »Sofort!« Laut holte sie Luft. »Verschwinden Sie! Oder ich schreie!« Der Mann bewegte sich. Innerhalb eines Herzschlages stand er vor Perdita und presste die rechte Hand auf ihren Mund. Mit der Linken packte er ihren Arm. Adrenalin rauschte durch Perditas Adern. Ihr Herzschlag verwandelte sich in einen Trommelwirbel. Ohne nachzudenken riss sie das Knie hoch und rammte es dem Mann zwischen die Beine. Aufheulend stürzte er zu Boden, die Hände fest auf die schmerzende Stelle gepresst. Perdita öffnete den Mund, um laut nach Hilfe zu schreien.
Da wurde sie erneut gepackt! »Still! Ich bin’s. Lukas«, zischte seine vertraute Stimme. Perdita atmete zischend aus. »Wo warst du so lange?«, fauchte sie. »Der Kerl … Er wollte …« »Ich weiß.« Aus den Schatten trat Lukas neben sie. »Hallo Wolf.« – »Lukas«, japste der Mann. Immer noch von Schmerzen gepeinigt rollte er sich auf die Seite und wollte aufstehen, doch Lukas trat ihm auf die Schulter und zwang ihn so zurück auf den Rücken. »Ich wusste nicht, dass sie dir gehört. Sonst hätte ich sie in Ruhe gelassen«, jammerte der Wolf Genannte. »Lass mich gehen. Bitte. Ich habe dir doch nichts getan!« Lukas ignorierte sein Flehen. »Wo sind Laurina und Peter?« Wolf lag ganz still, sein Blick flackerte vor Furcht. »Sie sind tot.« »Was ist …«, setzte Lukas an, doch dann stockte er. »Nein, nicht hier. Komm, hoch mit dir!« Er bückte sich, packte Wolf am Schopf und riss ihn auf die Füße. Grob stieß er ihn in Richtung der geschlossenen Liliputbahn. Sein Gesicht wirkte kalt und hart wie aus Stein gemeißelt, wie eine feiserne Fassade, hinter der seine wahren Gefühle verborgen lagen. Wolf zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss das Kassenhäuschen auf. Fasziniert folgte Perdita den beiden Männern ins Innere. In dem hölzernen Boden befand sich eine Falltür, und eine steile Stiege führte in den darunter liegenden Keller. Als Lukas das Licht anschaltete, flutete Helligkeit durch ein unerwartet großes Gewölbe. Die Wände waren mit dicken, grauen Schaummatten schallisoliert. Der hintere Bereich wurde durch ein deckenhohes Gitter vom Rest des Raums abgetrennt und schien eine Art Gefängniszelle zu sein. »Wo sind wir hier?«, fragte Perdita erstaunt. »In meiner Höhle, Rotkäppchen«, murrte Wolf. Er setzte sich an einen stabil wirkenden Holztisch, der zusammen
mit vier robusten Stühlen in der einen Ecke des Gewölbes stand. Auf der anderen Seite vervollständigten zwei schwere Truhen und ein rustikales Bett die Einrichtung. Perdita runzelte die Stirn. Langsam dämmerte ihr, wen – oder besser: was – sie vor sich hatte. »Sie sind ein Werwolf!« Die vorhin empfundene Angst schwemmte mit neuer Kraft über sie hinweg. Verdammt, ein Werwolf machte den Prater unsicher, und Lukas ließ sie einfach so herumlaufen? Ohne jede Warnung? Ja, er kostümierte sie sogar wie das Rotkäppchen aus dem Märchen. Sie riss die rote Mütze vom Kopf und feuerte sie in eine Ecke. »Was sollte das?«, verlangte sie zu wissen. »Das war Plan B«, antwortete Lukas ernst. »Ich hatte mehrmals versucht, Laurina und Peter zu erreichen, doch sie haben sich nicht gemeldet. Dennoch hatte ich gehofft, Wolf hier in der Liliputbahn anzutreffen.« »Und Plan B war, dass ich ihn anlocke?«, schnappte Perdita gereizt. »Du warst nie in Gefahr. Wolf treibt seine Beute immer hierher, nicht wahr?« Statt einer Antwort knurrte Wolf nur. Perdita musterte ihn genauer. Täuschte sie sich, oder waren seine Haare in den letzten Minuten tatsächlich noch länger geworden? Auch seine Hände waren inzwischen dunkel behaart, und seine Fingernägel stakten aus den Haarbüscheln wie Krallen hervor. »Wer sind Laurina und Peter?«, wechselte sie das Thema, um nicht länger über ihre Angst und über ihre Rolle in diesem Spiel nachzudenken. »Zwei Zwerge. Nein, keine kleinwüchsigen Menschen, echte Zwerge«, erklärte Lukas. »Aus den Schweizer Alpen. Sie haben aufgepasst, damit unser lieber Wolf keine kleinen Mädchen mehr anfällt.« Unvermittelt verschwand der spöttische Unterton aus Lukas’ Stimme. »Aber, Wolf, du hast gesagt, dass sie tot sind. Was
ist passiert?« »Sie wurden ermordet.« »Von wem?« Lukas spannte die Muskeln an. Aus seinem leicht geöffneten Mund blitzten die verlängerten Eckzähne hervor, seine Fingernägel glänzten wie Dolchklingen. Wolf zuckte zurück. Doch er blieb Lukas eine Antwort schuldig. »Wer war es?«, verlangte der Vampir zu wissen. Mit einem Satz stand er über dem Werwolf und packte ihn am Kragen seines schmuddeligen Hemdes. »Hast du sie ermordet?« »Nein, Lukas! Ich war es nicht.« »Wer dann?« Lukas zerrte Wolf von seinem Stuhl hoch. Seine Krallen bohrten sich in den dünnen Stoff des Hemdes und rissen lange Löcher hinein. »Es war Waidinger. Franz Waidinger«, jaulte Wolf. Schlagartig änderte sich seine Haltung. Jetzt wirkte er eingeschüchtert und furchtsam wie ein verängstigter Welpe. Fast tat er Perdita Leid. Ruckartig stieß ihn Lukas zurück auf seinen Stuhl. »Na los, erzähl schon! Warum hat Waidinger die beiden umgebracht? Und wann?« »Er tauchte vor knapp vier Wochen hier auf. Er wollte wissen, wo du wohnst.« Wolf blickte auf seine Hände. »Doch sie wollten es ihm nicht verraten. Also hat er … er hat …« Er schauderte sichtlich. Leise fuhr er fort: »Zuerst hielten Laurina und Peter es für einen schlechten Scherz, als Waidinger eine Spieluhr aus seiner Tasche zog. Doch dann hat er sie aufgezogen – und ein Dämon erschien. So etwas habe ich noch nie gesehen. Der Dämon trug eine Art blutroter Rüstung, die über und über mit Rasierklingen besetzt war.« »Die Spieluhr hat ein Lied gespielt, nicht wahr? Maikäfer flieg?« Wolf nickte stumm. Heiser berichtete er, wie Waidinger den Dämonen zuerst auf Peter gehetzt hatte und anschließend auf Laurina.
Perdita schlug die Hände vor den Mund. In ihrem Geiste sah sie, wie ein klingenbewehrtes Ungeheuer über zwei harmlose Menschen herfiel und sie in kleine Stück hackte. Ihr Mund füllte sich mit Galle. Ihr wurde übel, und krampfhaft kämpfte sie gegen einen Brechreiz an. Doch auch Lukas blieb von Wolfs Bericht nicht unberührt. Weißblaues Feuer loderte in seinen Augen auf. Seine Augenbrauen zogen sich drohend zusammen. »Obwohl Laurina und Peter mich nicht verraten haben, hat mir Waidinger einen Besuch abgestattet«, sagte er tonlos. »Ich frage mich also, woher wusste Waidinger, wo er mich finden kann?« Wolf starrte ihn reglos an. Einen Moment lang verhakten sich die Blicke der beiden Männer wie Schwertklingen. Da sprang Wolf auf! Er stieß Lukas beiseite und rannte zum Ausgang. Doch der Vampir war schneller. Er packte den Werwolf und schmetterte ihn gegen die Wand, sodass der Keller unter dem Aufprall erzitterte. Wolf jaulte gepeinigt auf, und sein Klagen hallte schmerzhaft in Perditas Ohren wider. »Du hast es ihm verraten!«, zischte Lukas. Er presste Wolfs Gesicht gegen die Wand. »Laurina und Peter sind lieber gestorben, als mich zu verraten, und du hast mich ihm ans Messer geliefert!« »Er hätte mich sonst umgebracht! Der Dämon hätte mich in kleine Stücke geschnitten!«, heulte Wolf. »Du hast dieses Ding ja nicht gesehen!« »Ich habe gegen ihn gekämpft!«, fauchte Lukas. »Und besiegt! Aber jetzt besitzt Waidinger Macht über einen weiteren Dämon.« Er krallte die Hände in Wolfs Haar, riss dessen Kopf zurück und rammte ihn erneut gegen die Wand. Wolfs Beine knickten ein. Ein ersticktes Keuchen entfloh seinen Lippen. Doch Lukas hatte noch
nicht genug. In rasender Wut trat und schlug er auf Wolf ein, bis dieser winselnd zu Boden ging. Perdita erwachte wie aus einer Erstarrung. »Aufhören!« Sie sprang vorwärts und fiel dem Vampir in den hoch erhobenen Arm. »Hör auf! Verdammt noch mal, Lukas, hör auf damit!« Wie in Zeitlupe wandte er ihr den Kopf zu. Aus seinem Gesicht waren die letzten Züge Menschlichkeit gewichen. Er knurrte wütend, voller Zorn. Mit eiskaltem Blick starrte er auf die schmale Mädchenhand, die seinen Arm festhielt – und ihn niemals aufhalten könnte. Perdita erstarrte. Schon befürchtete sie, Lukas’ Zorn würde auf sie niederprasseln … Da entspannten sich seine Muskeln. Aus der Instinkt gesteuerten Bestie Vampir wurde wieder ein vernunftbegabter, wenn auch sehr zorniger Mensch. Mit einem Nicken versicherte er Perdita, dass er die Kontrolle über sich zurückerlangt hatte, ehe er neben Wolf niederkniete. »Ich bin sicher, du weißt, wo sich Waidingers neuer Unterschlupf befindet. Seine alte Stadtwohnung hat er ja schon vor einiger Zeit aufgegeben.« Wolf wimmerte leise. »Wenn ich es dir verrate, bringt er mich um!« Perdita ballte die Hände zu Fäusten. Sie konnte seine Angst nur allzu gut verstehen. Sie wusste ja aus eigener Erfahrung, wozu Lukas fähig war, wenn ihm die Antwort auf seine Fragen verwehrt wurde. »Wenn du Lukas nicht sagst, wo sich Waidinger versteckt, bringt er dich zuerst um«, sprang sie rasch ein, ehe Lukas ein weiteres Mal zuschlug. Wolf bleckte die Zähne – und blieb stumm. »Sei doch vernünftig!«, appellierte sie – an beide Männer
gleichzeitig, wie sie plötzlich bemerkte. »Du solltest auf sie hören, Kamerad. Sie weiß, wovon sie spricht.« Lukas zog Wolf auf die Beine. »Außerdem wird Waidinger keine Gelegenheit mehr haben, sich um dich zu kümmern, wenn ich mit ihm fertig bin.« Unsicher blinzelte Wolf. Er zögerte noch einen Moment, ehe er schließlich einlenkte und erklärte: »Waidinger besitzt eine ehemalige Kirche, südwestlich von hier, am Wilden Berg im dreizehnten Bezirk.« »Na also, es geht doch.« Wie zuvor packte Lukas den Werwolf am Kragen und zerrte ihn zu dem Gitter, das den Keller teilte. Er stieß ihn durch die Tür und schlug sie mit einem lauten Klirren zu, ehe er das Schloss einschnappen ließ. »Gehen wir«, wandte er sich an Perdita. »Wir haben eine Verabredung mit Waidinger.« »He! Und was ist mit mir?«, rief Wolf erschrocken. »Ihr könnt mich doch nicht so einfach hier lassen!« Wortlos und ohne sich umzudrehen erklomm Lukas die Leiter, die ins Kassenhäuschen hochführte. »Was ist, wenn Waidinger euch tötet?« Langsam klang Panik in Wolfs Stimme auf. »Dann werde ich hier unten elend verrecken. Niemand weiß, wo ich bin.« »Er hat Recht«, flüsterte Perdita, als sie die letzten Sprossen erklomm. »Das hätte er sich früher überlegen sollen«, sagte Lukas laut genug, dass Wolf ihn hören konnte, und ließ die Falltür zuschlagen. Sein Blick fiel auf Perdita, die ihn bittend anschaute, und ein kleines Lächeln vertrieb den Zorn aus seinen Zügen. »Okay, ich sage Ninon Bescheid«, gab er nach. »Sie hat Freunde in der Bretagne, die sich um Wolf kümmern werden. Nur für den Fall, dass Waidinger uns erledigt und nicht wir ihn.«
»Musst du ihn wirklich töten?« Perdita rieb ihre Oberarme, die unvermittelt eine Gänsehaut überspannte. »Gibt es keinen anderen Weg, um Gerechtigkeit zu erlangen? Oder willst du bloß Rache für Raffaella?« »Soll ich ihn etwa vor ein weltliches Gericht bringen?« Lukas schnaubte abfällig. »Wir, die Untoten und die Unsterblichen, wir tragen unsere Fehden untereinander aus, denn wir haben keine gemeinsamen Gesetze und keinen Richter. Es gibt nicht einmal eine Art Gemeinschaft der übernatürlichen Kreaturen.« »Aber Gewalt erzeugt allein Gegengewalt«, predigte Perdita dickköpfig. »Hat sich Waidinger nicht an dir gerächt, weil du seinen Kollegen, diesen Reinhard von Hohenstein, getötet hast? Wann wird das Töten enden? Wenn ihr euch gegenseitig umgebracht habt?« Lukas warf ihr einen langen Blick zu, doch er enthielt sich einer Antwort. Perdita seufzte lautlos. Offensichtlich war er der Meinung, sie müsse noch eine Menge lernen. Und damit hatte er nicht ganz Unrecht. Auf der Fahrt nach Wien hatte er ihr erklärt, dass Vampire, Magier und Dämonen nicht die einzigen real existierenden Wesen seien, die sie bisher für Sagengestalten gehalten hatte. Sie würde sich mit einem neuen Weltbild, mit einer anderen Sicht der Dinge anfreunden müssen – das hieß jedoch nicht, dass sie ihre bisherigen, ihre menschlichen Werte verraten würde.
* Perdita streckte sich bäuchlings auf dem ausladenden Ast der Kastanie aus. Sie überkreuzte die Fußgelenke und hielt sich mit ihren Knien fest, während sie das Kinn auf die Hände stützte. Von hier oben hatte sie einen freien Blick auf die alte Kirche, in der der
Nekromant Waidinger wohnte. Das Mondlicht erhellte den umliegenden Wald mit der Kraft eines Flutscheinwerfers, wie die junge Vampirin fand. Ihre schärferen Sinne waren wirklich eine feine Sache. Nicht nur, dass sie besser sehen und riechen konnte, ihr Gehör nahm Geräusche besser und präziser wahr. Sie wusste zu sagen, unter welchem Strauch ein Igel raschelte oder von welchem Baum das traurige Schuhu einer Eule erklang. Wenn sie die Ohren spitzte, konnte sie sogar den Lärm der Stadt hören. Tief sog sie den Duft der milden Sommernacht ein, den Geruch von Heu und Honig, ehe sie sich mit allen Sinnen auf die Kirche konzentrierte. Doch sie bemerkte nichts Verdächtiges. Hölzerne Läden verschlossen den unteren Teil der Spitzbogen‐Fenster, sodass man nicht hineinschauen konnte. Doch hinter ihnen brannte sowieso kein Licht. Weder Musik noch Gesprächsfetzen störten die Nachtruhe. Entweder schliefen die Bewohner – oder sie waren ausgeflogen. »Hola!« Der leise Ruf schreckte Perdita auf. Sie zuckte zusammen – und verlor das Gleichgewicht. Bedrohlich verlagerte sich ihr Körperschwerpunkt, ihre Beine rutschten vom Ast. Erst im letzten Moment fand sie mit den Händen Halt und verwandelte ihren Sturz in einen mehr oder minder eleganten Sprung. Immerhin kam sie mit den Füßen zuerst auf. Doch sie verlor erneut die Balance und plumpste auf den Hosenboden. Lukas streckte ihr die Hand entgegen und half ihr hoch. Er hatte sich näher an die Kirche geschlichen, um zu kundschaften – und war offensichtlich von Perdita unbemerkt zurückgekehrt. »Im Chor brennt ein Nachtlicht. Aber Waidinger selbst scheint nicht da zu sein«, berichtete er leise. »Sein Bett ist unberührt. Aber in einem der beiden anderen Betten schläft jemand. Eine junge Frau,
würde ich sagen.« »Beate!« Perditas Herz machte einen Satz. Bitte, lass es Beate sein! Ihr wurde fast schwindelig vor neu erwachter Hoffnung. Am liebsten wäre sie sofort zur Kirche gestürmt und hätte gegen die Tür geklopft, bis Beate ihr öffnete. Aber der Gedanke, dass ihre Schwester unter Waidingers Bann stand, zwang sie zu einem ruhigen und überlegten Vorgehen. »Wie sieht dein Plan aus?«, fragte sie, während sie den Rucksack mit ihrer Ausrüstung vom Boden aufhob und überstreifte. Das kindliche Sommerkleid hatte sie gegen das dunkle Trikot getauscht, das sie beim Einbruch in Schloss Lohrberg getragen hatte. Leichte Sneakers und ein Paar Handschuhe vervollständigten ihre Ausstattung. »Du hast doch einen Plan«, fügte sie spitz hinzu. »Wir schleichen rein und suchen die Spieluhren.« Lukas rückte das Schwert auf seinem Rücken zurecht. »Ich kümmere mich um Waidinger, sollte er doch anwesend sein, und du siehst zu, dass du Beate überwältigen kannst. Wir werden sie gewaltsam von ihrem Herrn und Meister trelnnen müssen.« Perdita schluckte trocken. Ihr gefiel nicht, wie herablassend Lukas von ihrer Schwester sprach. Aber noch weniger gefiel ihr die Macht, die Waidinger zweifellos über Beate ausübte. »Wenn Waidinger nicht zu Hause ist, schnappen wir uns die Spieluhren und Beate und verschwinden, ehe er wiederkommt«, fuhr Lukas fort. Routiniert überprüfte er das Magazin seiner Pistole. »Hast du irgend etwas entdeckt, das zu einem Zauberbann gehören könnte? Kreidezeichen, Runensteine oder Fadenspiele?« Perdita schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung von Magie und wusste nicht, wonach sie hatte Ausschau halten sollen, aber ihr war nichts Ungewöhnliches oder Merkwürdiges aufgefallen. Außer, dass jegliche Art von moderner Objektsicherung fehlte. Nirgendwo gab es Kameras, Bewegungsmelder oder Lichtschranken.
Dennoch blieb sie vorsichtig, während sie die Gartenmauer entlang zum schmiedeeisernen Eingangstörchen huschte. Der einfache Riegel hielt sie keine Sekunde lang auf. Dann stand sie auf Waidingers Grund und Boden. Nichts rührte sich. Kein Alarm schrillte los, keine Spur vom Wirken magischer Kräfte. Perdita eilte zur Kirchentür. Sie spähte nach einem verräterischen Licht, das über die Schwelle fiel, und presste das Ohr gegen die hölzernen Türflügel. Da alles still und dunkel blieb, knackte sie das Schloss, und die Tür schwang auf. Mondlicht erhellte den sakralen Bau. Über dem Eingangsbereich erhob sich eine Empore, darunter hatte die Moderne Einzug gehalten. Auf der linken Seite teilten Holzwände ein primitives Badezimmer ab. Rechterhand befand sich eine einfache Küche; ein Generator sorgte für Strom, Gasflaschen für die Befeuerung von Herd und Ofen. Massive Pfeiler gliederten den Hauptteil der Kirche in drei Schiffe. Mannshohe Regale, im rechten Winkel zu den Wänden angeordnet, unterteilten die Seitenschiffe in kleine Kammern. In den Regalen sammelten sich Bücher und ausgestopfte Tiere, allerlei Kännchen, Tiegel und Töpfchen, daneben standen Kolben mit langen, bizarr geformten Hälsen und bauchige Flaschen, deren flüssiger Inhalt im silbernen Mondlicht schleimig glänzte. Die Kammern erinnerten Perdita an die geheimen Laboratorien mittelalterlicher Alchemisten – bis auf die Grabmäler an den Stirnseiten der Räumlichkeiten. Edle Ritter und ihre Damen, für die Ewigkeit in Stein gebannt, ruhten auf hüfthohen Sarkophagen, die mit Bilderfriesen aufwendig verziert waren. Perditas Ausbildung und Lukas’ Erfahrung ließen die beiden Vampire zu lautlosen Schatten werden, die unbemerkt von menschlichen Sinnen das Mittelschiff durchquerten. Schwere, dunkle Vorhänge trennten den Chor vom Hauptraum
ab. Doch im Moment waren sie gerafft und gaben den Blick auf ein ausladendes Himmelbett frei. Das antike Möbelstück flankierten zwei weitaus bescheidenere Schlafstätten, demütig an die Wand geschoben. Drei Kerzen in einer blauen Glaskugel warfen einen trüben Schein auf das leere Himmelbett und die ebenfalls unbenutzte Schlafstätte an der rechten Wand. Nur das linke Bett war belegt: Eine zierliche Frau lag darin, eine schmale Gestalt mit langen, dunklen Haaren. Perdita fühlte die Enttäuschung über sich hereinbrechen. Es war nicht Beate, sondern … »Clara!« Lukas’ Ruf schreckte die Schlafende aus ihrem Schlummer. Sie schlug die Augen auf. Nach einem Moment der Irritation erleuchtete freudiges Erkennen ihr Gesicht. »Lukas!« »Clara!« Er fiel neben ihrem Bett auf die Knie. Mit zitternden Fingern ergriff er ihre Hände. »Du lebst! Aber wie kann das sein? Waidinger hat mit deinem Tod geprahlt.« »Und du hast ihm geglaubt?« Claras Überraschung wurde von Fassungslosigkeit verdrängt. Der Schock färbte ihr Antlitz weiß wie Kalk. »Ich habe deinen Leichnam gesehen, aufgebahrt in einem gläsernen Sarg.« Die gnadenlose Härte und der unbändige Zorn, die Perdita als Lukas’ prägende Eigenschaften kennen gelernt hatte, fielen von ihm ab. Unvermittelt wirkte er sehr zerbrechlich und verwundbar, überwältigt von einem Glück, das er kaum zu glauben vermochte. Die Liebe zu Clara wärmte den kalten Blick seiner wasserblauen Augen und schmolz den Panzer aus Eis, der nach Perditas Meinung sein Herz umschloss. »Waidinger hat mich mit dem Schneewittchenzauber belegt«, wisperte Clara. »Ich war wie tot, bis er den Bann löste.« Mit Tränen in den Augen fiel sie ihrem Geliebten um den Hals. »Oh Lukas, er
hat gesagt, du hättest mich schmählich im Stich gelassen, wärst mit einer anderen davongezogen.« »Du weißt doch, wie leichtfertig er die Wahrheit verdreht. Warum hast du seine Behauptung nicht selbst überprüft?« Lukas’ Worte waren eine bange Frage und frei von jeglichem Vorwurf. »Er hält mich hier gefangen.« Clara bewegte ihr Bein. Wie eine silberne Schlange rasselte eine Kette unter der zerschlissenen Decke hervor. Eiserne Glieder fesselten das schmale Fußgelenk an die Kirchenmauer. »Gnädiger Gott. Clara!« Lukas zog die geliebte Frau fest an sich, und sie versanken in einem innigen Kuss, der offensichtlich die Jahre der Trennung nachholen sollte. Perdita zuckte zusammen. Wann hatte Lukas Clara kennen gelernt? Nach seinen eigenen Angaben auf der Weltausstellung in Wien – vor gut hundertdreißig Jahren! »Lukas!« Sie tippte auf seine Schulter. Als er nicht reagierte, schlug sie etwas fester gegen seinen Arm. »Entschuldige, dass ich störe, aber es ist wichtig.« »Was ist?«, murmelte er ungehalten. Er löste seine Lippen von Claras Mund, doch wie um einen Ausgleich zu schaffen, drückte er ihren schmalen Leib nur noch fester an sich. Zumindest die Gefangenschaft durch Waidinger fand Perdita durch Claras Erscheinung bestätigt: Das schwarzgraue Kleid war abgetragen und schon vor einem Jahrhundert aus der Mode gekommen. Ihr knochiger Körper war nicht schlank, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, sondern unterernährt, regelrecht ausgemergelt. Das Haar hing in verfilzten Strähnen über ihre Schultern, und ihre Hände waren so mager, dass sie Klauen ähnelten. Auf dem bleichen Gesicht lag ein gehetzter Ausdruck, den nicht einmal die Freude über Lukas’ Rückkehr zur Gänze vertrieben hatte.
»Ich muss mit dir allein sprechen«, drängte Perdita. Sie wollte Lukas unbedingt in sicherem Abstand zu der Frau haben, sollte sie ihren Verdacht bestätigt finden. Unwillig löste er sich von der Geliebten und ging mit Perdita einige Schritte zur Seite. »Also, was ist?« »Abgesehen davon, dass wir unter einem Zeitlimit stehen …« Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Eingangstür. »Bist du sicher, dass diese … Frau deine Clara ist? Selbst wenn Waidinger sie damals nicht getötet hat, hat sie das menschliche Haltbarkeitsdatum längst überschritten.« Lukas schaute verwundert, ehe er ihr Problem verstand. »Clara war Waidingers Schülerin«, erklärte er. »Und das Erste, was ein Magier lernt, ist, wie er Alter und Krankheit von sich fernhält. Aber du hast Recht, wir sind in Feindesland und haben noch eine Aufgabe zu erledigen.« Er kehrte zu Clara zurück. Zärtlich griff er nach ihrer Hand, während er fragte: »Wo sind Waidinger und Beate?« »Beate?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Du meinst sein neues Liebchen? Er hat sie auf eine Reise mitgenommen. Ich weiß aber nicht, wohin.« »Weißt du, wann er zurück sein will?« »Frühestens in einem Monat. Es schien eine größere Reise zu sein. Flitterwochen vielleicht.« »Beate ist meine Schwester«, fauchte Perdita wütend. Der spitze Ton, den die Frau anschlug, gefiel ihr überhaupt nicht. Clara klang beinahe, als wäre sie eifersüchtig auf Beate. Dabei galt ihre Liebe doch Lukas. Oder hatte sie sich ihrem Kerkermeister zugewandt, wie es Geiseln immer wieder geschah? Ich werde sie im Auge behalten, entschloss sich Perdita. Irgendetwas ist faul an der ganzen Sache. »Wir werden Beate finden«, versicherte ihr Lukas, der
offensichtlich ihre abweisende Miene bemerkt hatte. »Gut möglich, dass wir in Waidingers Unterlagen Hinweise auf seinen Verbleib finden. Aber zuerst befreien wir Clara.« Befehlend wies er auf die Eisenkette, und gehorsam kniete Perdita vor Claras Bett nieder. Sie rümpfte die Nase. Woher kam plötzlich dieser seltsame Geruch? Es roch irgendwie süßlich. Nach Verwesung? Ihr Kopf ruckte hoch. Bewegte sich da nicht ein Schatten hinter dem Chorfenster? Knochige Finger kratzten gegen die Buntglasscheibe! Nein, es war nur ein Ast, der sich im Wind bewegte. Perditas Nerven spielten ihr bloß einen Streich. Zu viel Gerede von Magiern und Nekromanten, die die Geister der Toten beschworen. Was hatte sie erwartet? Dass plötzlich irgendwelche Zombies aus dem Garten krochen und die Fenster einschlugen? Sie hatte wohl zu viel John Sinclair gelesen … Sie streckte die Hand nach der Kette um Claras Fuß aus. Wie sie auf den ersten Blick gesehen hatte, gab es kein Schloss, um die Fessel zu öffnen. Und die Eisenglieder wirkten fest verschweißt. Da musste sie mit einem Bolzenschneider ran. Prüfend zog sie an der Kette, die unvermittelt nachgab. »Was für ‘ne Sch …«, entfuhr es ihr überrascht. Die Kette war nicht in der Wand verankert, sondern verschwand dahinter durch ein schmales Loch. Wahrscheinlich gab es auf der anderen Seite eine Art Winde mit automatischen Rückzug, wie bei einem Staubsaugerkabel. »Da hilft nur Gewalt.« Sie zog ein kurzes Stemmeisen aus ihrem Rucksack und warf es Lukas zu. »Du musst die Wand aufbrechen. Und ich suche schon mal nach Hinweisen auf Waidingers Reiseziel.« Ohne auf eine Reaktion von Lukas zu warten, umrundete sie das große Himmelbett und trat an die schmale Schlafstätte an der
rechten Kirchenwand. Hier musste ihre Schwester geschlafen haben. Perdita fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Nirgendwo fand sich ein Hinweis, dass Beate – oder sonst jemand – dieses Bett benutzt hatte. Waidinger erlaubte seinen Sklavinnen offenbar keinerlei persönlichen Besitz. Hoffentlich behandelte er Beate nicht allzu schlecht. Mit einem Seufzen wandte sich Perdita ab. Ein dumpfer Knall in ihrem Rücken verriet, dass Lukas sein Werk begonnen hatte. Unter den schweren Schlägen des Brecheisens bebte das Mauerwerk. Putz rieselte von den Wänden. Während Lukas die Mauer aufbrach, durchsuchte Perdita die Tische und Truhen, die in den abgetrennten Kammern der Seitenschiffe standen. Sie entdeckte alte Schriften über Magie und Mathematik, über Astrologie und Anatomie, aber auch Musik, Philosophie und Theologie. Private Briefe, Rechnungen oder sonstige Unterlagen, die in jedem gewöhnlichen Haushalt anfielen, fehlten jedoch. Waidinger verstand es scheinbar, der modernen Welt fernzubleiben … In einer Truhe, deren Inhalt sich ausschließlich mit der Nekromantie beschäftigte, fand Perdita ein Miniatur‐Grabmal aus Stein: Ein Kreuzritter lag auf einem schlichten Sarkophag, das Schwert zur Rechten, der Schild zur Linken. Offensichtlich handelte es sich um eine Spieluhr, denn an der Seite steckte ein Schlüssel. Ein lautes Klirren schreckte Perdita auf. Sie fuhr herum und entdeckte die Ursache der Störung: Lukas hatte die Kette aus der Verankerung gelöst und zu Boden fallen lassen, um die befreite Clara erneut in seine Arme zu ziehen. »Lukas?«, rief Perdita gereizt. Obwohl sie Waidingers Rückkehr nicht fürchten mussten, konnte sie eine gewisse Beklommenheit nicht abschütteln, und sie hatte keine Lust, den beiden Liebenden beim Knutschen zuzusehen. »Was hältst du davon?« Wie eine Brautjungfer, die einer Frischvermählten die Schleppe
trug, nahm Lukas Claras Eisenkette auf. Arm in Arm mit der Liebsten trat er an den Tisch, auf dem Perdita die Miniatur abgestellt hatte. Da er mit dem Rücken zu den drei Kerzen im Chor stand, war sein Gesicht in den Schatten nicht zu sehen. Doch Perdita entging nicht die Anspannung, die ihn plötzlich erfasste. »Was für eine hübsche Spieluhr!«, lachte Clara munter und griff nach der Musikdose. »Nein! Nicht!«, riefen die Vampire unisono, doch zu spät: Mit einer schnellen Drehung zog Clara die Spieluhr auf. Der Deckel klappte hoch. Eine Melodie erklang, dem bekannten Sankt‐Martins‐ Lied »Laterne, Laterne« nicht unähnlich. Ting, tang, Tellerlein! – Brecht einen Stein, – den zweiten Stein – damit ich kann befreiet sein. Aus dem Miniatur‐Sarkophag entwich ein heller Nebelstreif. Zielstrebig zischte er an Perdita vorbei und zu dem großen Grabmal an der Wand. Über dem auf ewig ruhenden Ritter breitete er sich aus und verschmolz mit dem Stein. Der Ritter erwachte zu Leben. Von einem Totengeist besessen, verwandelte sich der graue Stein in eine glänzende Rüstung, die den Kämpfer von Kopf bis Fuß einhüllte. Nicht mit einem steinernen Knirschen, sondern mit einem metallischen Klirren packte der Ritter seinen Schild, griff nach dem Schwert und erhob sich vom Sarkophag. »Verdammt, Clara! Perdita, bring sie hier raus!« Lukas warf der jungen Diebin die Eisenkette vor die Füße und zog sein Schwert. Blutrot glänzte die scharfe Klinge im Mondlicht, das durch die bunten Fenster fiel. »Ich übernehme das.« »Los, komm!« Perdita raffte die Eisenkette auf, packte Clara am Arm und zerrte sie in Richtung Ausgang, während Lukas gegen den Geisterritter antrat. Sie wusste, sie half ihm am besten, indem sie ihm die Sorge um die Geliebte abnahm. Egal, was sie von der Frau und ihrem Verhalten
hielt. An der Tür ließ sie die Kette fallen und griff stattdessen nach den schweren Riegeln. Da traf sie ein harter Schlag gegen die Seite. Perdita keuchte auf und fuhr herum. Claras Eisenkette schoss auf sie zu. Instinktiv duckte sich die Vampirin. Einen Zentimeter über ihrem Kopf schepperten die Metallglieder gegen das Kirchenportal. Fassungslos starrte Perdita Clara an. Innerhalb eines Augenblickes hatte sich die Frau in eine Art Zombie verwandelt. Die leichenblasse Haut war so dünn, dass die Adern darunter bläulich schimmerten. Die Knochen zeichneten sich so deutlich ab, als hätte man ein Skelett mit Pergament überzogen. Die dürren Hände waren zu Klauen verkrampft, das verfilzte Haar wehte in einer geisterhaften Brise. »Schade, du hättest dem Meister gefallen«, zischte das Wesen, das eben noch Clara gewesen war. Die Kreatur hob ein weiteres Mal die Kette, die Fußschelle schwang auf Perdita zu. Doch in den Augen der jungen Vampirin verlangsamte sich ihr Flug, wurde zu einer Zeitlupenaufnahme. Perdita tänzelte leichtfüßig zur Seite. Die Reflexe eines Vampirs!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie fing die Kette ab, packte sie und zog mit aller Kraft daran. Clara wurde von den Füßen gerissen, kam aber flink wie eine Katze wieder auf die Beine und stürzte sich auf Perdita. Die Diebin wurde zu Boden geschleudert. Sie spürte scharfe Krallen, die ihr Gesicht zerrissen, und brüllte auf. Schmerz explodierte in ihrem Oberkiefer. Wie eine dunkle Flut schwemmten die Emotionen über sie hinweg – Angst, Entsetzen, aber auch Zorn und eine ungeahnte Wildheit. Ihre Hände verwandelten sich in
Klauen, ihre Zähne wurden zu mörderischen Fängen, die nach dem Blut der Feindin lechzten. Perdita schlug ihre Klauen in den Rücken der Gegnerin. Clara kreischte auf, ein Laut, als kratze Kreide über eine Schiefertafel. Grabesgestank betäubte Perditas Sinne. Sie spürte, wie Claras Krallen ihre Brust zerfetzten, flammende Qualen, die jedoch sofort verstummten. Perdita beachtete den Schmerz nicht, registrierte gar nicht, wie die Wunden rasend schnell heilten. Gewalt und Pein erfüllten ihr Denken, ihr ganzes Sein, während sie mit Clara rang. Sie rollten über den Boden, verhedderten sich in der Eisenkette und donnerten gegen ein Regal. Bücher regneten auf sie nieder. Glasgefäße zerbarsten auf den Steinfliesen. Nässe spritzte Perdita ins Gesicht, ein kurzer, brennender Schmerz, der rasch versiegte. Die Vampirin riss den Ellbogen hoch und rammte ihn Clara gegen die Nase. Das Leichenwesen zuckte zurück, bäumte sich auf und holte zu einem weiteren Schlag aus. Da bewegte sich etwas in der Dunkelheit hinter dem toten Monster. Ein silberner Blitz durchteilte die Schatten und traf seinen Hals. Claras Kopf kippte vorwärts und fiel zu Boden. Einen Lidschlag später folgte der Körper. Fassungslos stierte die Diebin den Mann an, der schweren Schrittes neben sie trat. Starren Blickes schob Lukas sein Schwert in die Scheide zurück. Er legte den Kopf seiner einstigen Geliebten in deren Schoß, ehe er die enthauptete Leiche aufhob und zum Chorraum trug. Verstört folgte ihm Perdita. Ihr Herz raste, und das Blut pochte laut in ihren Ohren. Aber in ihrem Geist herrschte panische Stille.
Mit einem leichten Ziehen in Oberkiefer und Fingerkuppen bildeten sich ihre Fänge und Klauen zurück. Nur langsam nahm ihr Verstand die Arbeit wieder auf und versorgte sie mit den notwendigen Informationen. Das Kirchenschiff war übersät mit zertrümmerten Regalen, zertrampelten Büchern und zersplittertem Glas. In einer Lache aus bläulich dampfender Säure lag der steinerne Ritter, von Lukas vollständig besiegt; sein Körper war in hundert Teile zerbrochen, der Totengeist von ihm gewichen. Keine zwei Meter entfernt entdeckte Perdita die unheilvolle Spieluhr. Aus einer Eingebung heraus nahm sie die Musikdose an sich und verstaute sie in ihrem Rucksack, ehe sie den Chorraum betrat. Auf dem breiten Himmelbett hatte Lukas seine Geliebte zur ewigen Ruhe gebettet. Zärtlich strich er das verfilzte Haar glatt und hauchte einen letzten Kuss auf die bleiche Stirn, ehe er sich Perdita zuwandte. Seine Augen waren schwarz vor Trauer, seine Züge scharf und kantig wie ein Eisblock. »Sie hat mich angegriffen«, verteidigte sie sich instinktiv. »Es tut mir Leid, Lukas. Bitte, ich wollte das nicht. Aber Clara hat sich verwandelt. Und mich dann angegriffen.« »Ich hätte es wissen müssen«, antwortete Lukas tonlos. »Waidinger hat die Wahrheit gesagt: Er hat Clara damals getötet – und ihre leere Hülle hat er einem Leichengeist als Wohnstatt überlassen. Entweder wollte er seine einstige Schülerin selbst im Tode nicht loslassen. Oder er hat damit gerechnet, dass ich eines Tage herkomme.« Er trat zu dem Nachtlicht und hob die blaue Glaskugel ab. Andächtig nahm er eine der drei brennenden Kerzen und legte sie auf Claras Brust. Flammen loderten auf, der tote Leib brannte wie Zunder. Das Feuer dehnte sich aus, entzündete Claras Haare, ihr Kleid. Rasch folgten die seidenen Laken und die Vorhänge.
»Gehen wir.« Schwer legte Lukas die Hand auf Perditas Schulter und schob sie aus der brennenden Kirche. Hinter ihnen verschlangen die Flammen den Unterschlupf des Schwarzmagiers und Claras kalten Leib … Fortsetzung folgt