Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 4
Tamilijon von Susan Schwartz
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das d...
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Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 4
Tamilijon von Susan Schwartz
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenständiger Zivilisationen entwickeln. Und Geheimnisse, von denen die Menschen sowie die anderen Bewohner den Milchstraße nur träumen können … Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Dort müssen sie sofort um ihr Leben kämpfen. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara IV. Dort treffen sie auf Savannenreiter, mit deren Hilfe sie versuchen, zur Zivilisation zurückzufinden. Sie werden in Zwistigkeiten der Afalharo verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Da-
bei geraten sie in die Fänge termitenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Der 2. Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent. Hierbei sammeln sie wertvolle Informationen über den Planeten Vinara …
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Prolog Sie kam immer näher. Bedrohlich nah. Ihre Untertanen waren kaum länger als der Mittelfinger einer menschlichen Hand – doch im Vergleich zu ihnen war sie im wahrsten Sinne gigantisch. Wie ein Berg überragte die Königin die wimmelnde Masse der Termiten, die sich wie auf einen unsichtbaren Befehl hin eilig zurückzogen. Die langen Stirnfühler des Rieseninsekts bewegten sich unaufhörlich, empfänglich für jede noch so kleine Schwingung. Ich verharrte völlig reglos und atmete so flach wie nur möglich. In dieser Höhle gab es mindestens drei Kokons. Jorge Javales, mein terranischer Begleiter, und ich waren vor nicht einmal einer Stunde jeder in einen Kokon gesponnen und hierher verschleppt worden. Von meiner Position aus konnte ich einen weiteren, völlig geschlossenen Kokon sehen. Jeder Fluchtversuch war bisher fehlgeschlagen. Ich hatte mehrmals versucht, die Fäden des Kokons zu zerreißen, aber sie umschlossen mich so eng, dass ich nicht genug Kraft aufbrachte. Ich war hilflos ausgeliefert …
1. Atlan 3. April 1225 NGZ Vielleicht ist die Königin nur auf lebende Beute aus, äußerte mein Extrasinn eine Vermutung. Die Königin ist fast einen Meter lang. Bei dieser Größe wird sie von dem, was ihre Arbeiterinnen heranschaffen, nicht satt werden. Und das Fleisch liefert Proteine für die Produktion ihrer Eier. Die legt sie anschließend womöglich in den älteren Kokons mit bereits verwesendem Fleisch ab. Ich stimmte im Stillen zu. Wenn ich mich tot stelle, verliert sie vielleicht das Interesse an mir, und ich gewinne etwas Zeit. Ich hoffe nur, dass Jorge zu demselben Schluss kommt …
Meine Sorge galt in erster Linie Jorge Javales. Er war kein ausgebildeter Forscher, sondern Archivar mit Spezialgebiet Geschichte – ein brillanter Theoretiker, der am besten in einer Bibliothek aufgehoben war. Ich hatte ihm versprochen, ihn lebend nach Hause zu bringen. Sollte die Termitenkönigin sich ihm zuwenden, muss ich etwas unternehmen, schoss mir durch den Kopf. Das sollte allerdings mehr Erfolg haben als bisher, bemerkte mein »besseres Ich«. Ich weiß. Kein Grund, sarkastisch zu werden. Vielleicht kann ich sie durch Rufen auf mich aufmerksam machen. Ich hoffe darauf, dass sie zuerst einen Teil meiner Fesseln lösen muss, um an meinen Körper heranzukommen. Dann kann ich mich vielleicht noch befreien, bevor sie zubeißt … Ich sehe keinen Ausweg. Du solltest besser verdammt schnell sein, alter Mann. Mein Extrasinn gab mir wenig Zuversicht. Die mächtigen Mundwerkzeuge der Königin klapperten und klickten. Aus ihrer Mundöffnung tropfte grünlicher Schleim, der zischend auf dem Boden verdampfte. Womöglich ein Verdauungssekret, mit dem sie ihr Opfer auflöste, um es anschließend aufzusaugen. Es fiel mir schwer, stillzuhalten und abzuwarten, während ich die Bilder meiner lebhaften Fantasie im Geiste sah. Meine Fluchtinstinkte jagten den Adrenalinpegel so in die Höhe, dass der Zellaktivatorchip regulierend eingreifen musste. Dennoch blieb die Pulsfrequenz weiterhin erhöht, und meine Augen sonderten unkontrolliert Sekret ab. Ich konnte nur hoffen, dass die Rezeptoren an den Antennenfühlern der Termitenkönigin nicht so fein waren, dass sie mein heftig schlagendes Herz spürten. Wobei ich das für unwahrscheinlich hielt, denn in meinen Ohren dröhnten die vorbeirasenden Blutströme. Viel zu viel Leben in mir. Noch … Der schwere, geschwollene Insektenleib hatte das verschwommene Dunkel nun vollends verlassen und präsentierte sich in voller Größe. Milchig weiß war der Termi-
Tamilijon tenkörper, fast durchsichtig, so dass die Pumpbewegungen der seitlich gelegenen Tracheenöffnungen gut sichtbar waren. Die riesigen schwarzen Insektenaugen und die ebenfalls schwarzen Mundwerkzeuge wirkten sehr bedrohlich. Durch den schmalen Spalt im Kokon konnte ich den Kopf der Königin genau betrachten. Voller Sorge beobachtete ich die schwärzliche, dampfende Spur, die der herabtropfende Speichel auf dem Boden hinterließ. Ich malte mir unentwegt aus, wie es sich anfühlen mochte, wenn die Säure mich traf, sich im Sekundenbruchteil durch die Kleidung fraß und … Genug! Die Riesentermite hatte mich fast erreicht. Weiterhin galt mir ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie spürte wohl, dass in meinem Kokon jede Menge Leben steckte. Mit langsamen Bewegungen, ähnlich einem Raubtier, das sich seiner in die Enge getriebenen Beute schon sehr sicher ist, streckte sie ihren Körper. Sie reckte den Kopf, öffnete weit die Mundwerkzeuge. Die Termitenkönigin verharrte. Ich wollte, konnte es nicht glauben. So sollte mein Leben enden? Hilflos einem Gegner ausgeliefert zu sein, in einem Kokon gefangen, der keine Gegenwehr zuließ? So ist das Leben, bemerkte mein Extrasinn, der anscheinend begann, sich mit der Lage abzufinden. In meinen mehr als zwölftausend Jahren hatte ich schon ungezählte Male dem Tod ins Auge geblickt. Der Zellaktivator verlieh mir nur relative Unsterblichkeit, ich konnte jederzeit eines gewaltsamen Todes sterben. Bisher hatte ich dem Tod eine Absage erteilt, gleichwohl im vollen Bewusstsein, dass ich nicht immer das Glück haben würde. Und nun sollte ich auf diese schmachvolle Weise umkommen? Kannst du dich denn gar nicht bewegen?, fragte der Extrasinn. Er war wohl doch nicht gewillt, dem Tode ins Auge zu blicken. Nein, antwortete ich. Ich schaffe es nicht,
5 diese Fäden zu lockern, um wenigstens die Finger frei zu bekommen. Ein stechender, fauliger Gestank drang so heftig und unvorbereitet in meine Nase, dass ich nur mühsam einen reflexartigen Brechreiz unterdrücken konnte. Zudem juckte meine Nase, und ich spürte, dass ich jeden Moment niesen musste. Alles, nur das nicht! Ich schnitt Grimassen, meine Augen tränten noch heftiger – dann war es zum Glück vorüber, zumindest für den Moment. Vielleicht kannst du die Termite erschrecken?, überlegte der Extrasinn. Indem du sie anschreist, dazu die Augen weit aufreißt. Das überrascht die meisten Raubtiere. Ich glaube, die Königin besitzt keine ausreichende Intelligenz, um gänzlich unbeeindruckt zu bleiben. Normalerweise müssten ihre Instinkte sie zum Rückzug zwingen. Das könnte funktionieren, stimmte ich zu, hatte jedoch Bedenken hinsichtlich der Konsequenz: Und dann? Ich kann mich trotzdem nicht bewegen. Die Termite besitzt die Instinkte eines Raubtiers. Sie wird schnell merken, dass ich nur geblufft habe, und erneut angreifen. Die Königin stand nun direkt vor mir. Ein Speicheltropfen löste sich von ihrer Mundöffnung und traf meinen Kokon. Es qualmte und stank, als die Flüssigkeit ein Loch in das Gespinst brannte. Ich spürte kalten Schweiß auf meiner Stirn und bereitete mich auf den Schmerz vor. Doch das Loch war nur oberflächlich. Die unteren Schichten des Gespinstes blieben unberührt und unnachgiebig. Diesmal, so schien es, ließ mich das Glück im Stich. Jetzt ist es gleich so weit, dachte ich und kämpfte heftig gegen meine Gefühle an – ohnmächtige Wut und Verzweiflung durchfluteten mich. Nur ein Wunder kann mich jetzt noch retten, ich selbst schaffe es nicht mehr. Die Sekunden dehnten sich qualvoll. Ich hatte nur noch einen Wunsch: zu leben! Der aufgerichtete Kopf der Termitenkönigin war nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, und der ausgefah-
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rene Mundstachel zielte auf mein rechtes Auge …
* Auf einmal griff etwas nach mir. Nein, in mich. Ich spürte, wie mich plötzlich die Kräfte verließen, und ich wäre zusammengesackt, wenn die starren Fäden des Kokons mich nicht gehalten hätten. Mir wurde schwindlig und schwarz vor Augen, fast verlor ich das Bewusstsein, als der Zellaktivator erneut seine Leistung erhöhte. Innerhalb weniger Sekunden hatte er meinen Normalzustand wiederhergestellt. Mein Blick klärte sich. Der Mundstachel nahm die Hälfte meines Blickfeldes ein und kam schnell näher. Reflexartig versuchte ich, mein Gesicht zur Seite zu drehen. Mit einem Ruck sauste der Stachel zurück, und die Termitenkönigin fuhr herum. Sie wurde herumgerissen, wie von unsichtbarer Hand gepackt und in die Höhe gehoben. Ihr Körper zerschmetterte mit unglaublicher Wucht an der Kavernenwand. Es knackte und knirschte hässlich. Die Termitenkönigin rutschte die Wand hinunter und blieb zerschmettert am Boden liegen. Ich hatte keine Zeit mich zu fragen, was da vor sich ging. Der mir gegenüberliegende Kokon begann zu zittern und zu wackeln. Ein leises Zischen erklang, als das Geflecht zerriss und von innen aufgebrochen wurde. Heraus kam ein fremdes Wesen. Es besaß eine auffallend menschliche Gestalt, die in einem schwarzen Overall steckte. Allerdings war der Kopf absolut haarlos, und die pechschwarze Haut wirkte unnatürlich glatt, wie polierter Stein. Wie Obsidian ohne Einschlüsse, schoss es mir durch den Kopf. Aber das Wesen war keineswegs aus Stein, auch nicht aus Obsidian, sondern aus Fleisch und Blut. Der Blick seiner rabenschwarzen Augen schweifte flink durch die Höhle, so als hielte der Fremde nach weiteren Gegnern Ausschau. Noch bevor ich reagieren konnte, kam das
humanoide Wesen auf mich zu und griff nach den Strängen meines Kokons. Ohne sichtbare Anstrengung riss der Fremde die Fäden mit bloßen Händen auseinander. Wie kann das sein?, überlegte ich. Ich bin keineswegs schwach, trotzdem war es mir nicht möglich, einen Faden auch nur zu lockern. Darüber kannst du dir später Gedanken machen, ermahnte mich der Extrasinn. Sieh zu, dass ihr Jorge befreit und verschwindet, bevor die Termiten zurückkehren! Ich atmete befreit auf, als ich der bedrückenden Enge des Kokons endlich entkam. Doch ich nahm mir nicht die Zeit, meine schmerzenden, kribbelnden Gliedmaßen zu strecken, sondern lief sofort zu dem letzten, noch geschlossenen Kokon – und prallte zurück, als ich in Jorges starre graue Augen blickte, über denen ein milchiger Schleier lag. Nein! Das konnte, das durfte nicht sein. Ich hatte ein Versprechen gegeben. »Hilf mir!«, forderte ich den Fremden auf, während ich an dem widerstandsfähigen Geflecht zerrte. Der Fremde kam wortlos meiner Aufforderung nach. Gemeinsam zogen wir die Fäden weg und befreiten den Kopf des Archivars, der haltlos nach vorne fiel. Ich legte die Hände an sein Gesicht. »Sein Körper ist noch nicht kalt. Er kann noch nicht sehr lange tot sein …«, sagte ich erschüttert. Das Bewusstsein einer Schuld, einer weiteren, lebenslangen Schuld, drückte wie eine schwere Last auf mir. Zum ersten Mal sprach mein unbekannter Retter: »Er ist erstickt. Sie haben ihn fehlerhaft eingesponnen.« Wie die Savannenreiter sprach auch er ein altertümliches, schwerfälliges Interkosmo, vermischt mit Dialekten. Ich hatte bis auf wenige unverständliche Wörter keine Verständnisprobleme. Allerdings weckte die Behauptung des Fremden sofort Misstrauen in mir. Warum sollten die Termiten einen fehlerhaften Ko-
Tamilijon kon spinnen? Jorge Javales hatte sich in seiner humanoiden Form weder von mir noch von dem Schwarzhäutigen unterschieden – warum wurde er getötet, während wir beide lebten? Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich hob Jorges Kopf an und betrachtete sein Gesicht. Die Lippen waren bläulich verfärbt – eine äußere Gewaltanwendung konnte ich nicht feststellen, ebenso wenig die genaue Todesursache, da ich über keine technischen Hilfsmittel verfügte. »Es tut mir Leid um deinen Begleiter«, fügte der Fremde hinzu. Ich nickte. »Mir auch.« Nun war ich ganz allein. Zwei Begleiter hatte ich bereits an Bord der »Vergessenen Positronik« verloren und jetzt Jorge. Unsere Expedition stand unter keinem guten Stern. Aufgrund meiner Erfahrung war ich für die Sicherheit des Archivars verantwortlich gewesen – und hatte versagt! Mach dir keine Vorwürfe. Du hast getan, was du konntest, befand mein Extrasinn und fügte hinzu: Warum hat der Fremde mit seiner Rettung so lange gewartet, obwohl es ihm augenscheinlich leicht fiel, freizukommen? Ich zuckte zusammen, als der Schwarzhäutige seine Hand auf meinen Arm legte. »Wir sollten gehen.« Von allen Seiten drangen Geräusche an mein Ohr. Das Trappeln und Knacken in den Gängen unserer Höhle kündigte die Termiten an. Sie waren auf dem Weg hierher, um den Tod ihrer Königin zu rächen. Ich war sicher, dass mich ein schrecklicher Tod erwartete, wenn ich zu lange zögerte. Gegen eine Riesentermite konnte ich kämpfen – nicht jedoch gegen die Übermacht der restlichen Termiten. »Ich kann meinen Begleiter nicht einfach hier lassen«, stieß ich hervor und versuchte, weitere Fäden zu zerreißen, um Jorge zu befreien. Der Fremde hielt mich auf. »Wir haben keine Zeit mehr«, drängte er. »Sie sind unglaublich schnell! Wenn sie erst einmal hier sind, haben wir keine Chance mehr. Dann
7 sterben wir!« Er packte meinen Arm, hielt ihn fest im Griff und zerrte mich mit sich. Ich sah ein, dass er Recht hatte. Das hat Jorge nicht verdient, dachte ich bitter. Aber du auch nicht, meinte der Extrasinn. Und du bist noch am Leben.
* Wir wählten einen Gang, aus dem kein Geräusch zu hören war. Hinter uns wurde es zwischenzeitlich immer lauter. Ein an- und abschwellendes Summen, das vielfach durch die Gänge hallte, dröhnte in meinen Ohren. Stöhnend versuchte ich, mein Gehör mit den Händen zu schützen, während ich hinter dem Fremden hertaumelte. Der Schwarzhäutige folgte dem Licht. Wir bogen erst nach links, dann nach rechts in die Seitengänge ab und mieden die dunkleren Gänge, die tiefer in den Bau hineinführten. Wir begegneten einigen wenigen der fingerlangen Tiere, über die wir einfach hinwegrannten. Kurz darauf wurden es mehr. Sie krabbelten an den Wänden und Decken entlang und ließen sich auf uns herabfallen. Andere richteten sich auf, streckten die Fühler und rieben sie aneinander. Sie kommunizierten miteinander und meldeten ihren Artgenossen unseren Standort. Zwei Termiten sprangen in meinen Nacken. Bevor ich mich von ihnen befreien konnte, bissen sie mit ihren kräftigen Mundwerkzeugen zu. Flink, wie sie waren, krochen sie die Stiefelschäfte hoch, fanden den Weg durch die winzigen Löcher in den Stoffbahnen. Auch mein unbekannter Begleiter reagierte empfindsam auf die Angriffe. Wir schlugen auf alles, was sich an unseren Körper heftete, und setzten unsere Flucht fort. Die wenigen Insekten konnten uns nicht zu Fall bringen. Ihre Bisse brannten allerdings unangenehm. »Dort wird es heller!«, rief ich und deutete nach vorn. »Ich spüre einen Lufthauch!«, gab der Fremde zurück. »Ich bin sicher, dort ist ein
8 Ausgang! Schnell!« Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Ich konnte hören, dass von hinten Verstärkung anrückte, und das in gewaltiger Menge. Das Gift der Termiten tat allmählich seine Wirkung. Meine Bewegungen wurden unsicherer. Trotz des Zellaktivators heilten die Wunden nicht sofort, das Blut gerann kaum. Selbst die wenigen Termiten konnten einem Humanoiden gefährlich werden … Endlich fand ich den Ausgang. Die letzten Meter überwand ich mit wenigen Sätzen, dann war ich draußen. Allerdings war die Flucht damit nicht zu Ende. Ich hatte bereits erlebt, in welcher Geschwindigkeit die Termiten schnelle Tiere in der Savanne einholten und überwältigten. Wir mussten noch mehr Abstand zwischen uns und den Bau bringen. Der Schwarzhäutige und ich rannten so lange, bis die Lungen nicht mehr mitmachten und die Beinmuskeln sich verkrampften. Der Fremde stolperte und stürzte schließlich, überschlug sich ein paar Mal und blieb einfach liegen. Auch ich legte eine Pause ein und atmete erst einmal tief durch. Dabei sah ich mir die Gegend genauer an. Am Himmel neigte sich Verdran in orangefarbener Pracht dem Horizont zu. Abgesehen von unserem Keuchen war kein Geräusch zu hören. »Nichts zu sehen«, stellte ich fest. »Möglicherweise verfolgen sie uns durch ihre angelegten Gänge.« »Nein.« Der Fremde setzte sich auf. Sein flatternder Atem kam allmählich zur Ruhe. »Es ist spät. Die Termiten verlassen ihren Bau nicht vor morgen früh. Zudem brauchen sie eine neue Königin. Die Machtkämpfe sind bestimmt schon in vollem Gang. Das ist unsere Chance.« Ich musterte den Mann prüfend. »Welch ein Glück, dass die Königin so plötzlich starb.« »Mhmm«, brummte mein neuer Begleiter. »Manchmal gehört Glück eben dazu.«
Susan Schwartz Ich entschied mich, weitere Fragen für später aufzuheben, und kauerte mich neben meinen Retter. »Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu danken.« »Mir blieb keine Wahl«, sagte er emotionslos. »Allein hätte ich keine Chance gehabt.« Da hatte er nicht Unrecht. »Dennoch … ohne deine Hilfe wäre ich jetzt tot. Mein Name ist Atlan.« »Ich bin Tamiljon«, stellte sich der Fremde vor. Weitere Erklärungen gab er nicht ab. Ich begnügte mich mit der einsilbigen Auskunft und schlug stattdessen vor, etwas Essbares aufzutreiben und einen geeigneten Platz für unser Nachtlager zu suchen. Bei dieser Gelegenheit wollte ich auch nach den Savannenreitern Ausschau halten.
2. Lethem da Vokoban Die Welle schlug über Lethem da Vokoban zusammen und drückte ihn nach unten. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, Luft zu holen. Der Sog der Unterströmung riss ihn mit sich in einen wirbelnden Strudel hinab. Der Arkonide stemmte sich gegen die Strömung, er schwamm um sein Leben. Das rettende Ufer hatte so trügerisch nah gewirkt. Bis hierher war alles gut gegangen. Doch dann zerschellte das Rettungsboot am Riff westlich der Insel Salan, und die letzten neun Überlebenden der VERDRANS GLUT kämpften sich durch das Wasser. Der Strand war keine hundert Meter mehr entfernt und dennoch unerreichbar durch das vorgelagerte Riff mit seinen tödlichen Neeren und scharfzahnigen Felsen. Lethem war stets bereit, immer hart an die Grenze zu gehen, und kalkulierte jedes mögliche Risiko mit kühlem Verstand. Doch diesmal schien er sich verschätzt und die Grenze überschritten zu haben. Der Arkonide stand in der Blüte seiner Jahre, sein Körper war durchtrainiert. Wieso gab er jetzt auf? Nur, weil ihm der Sauerstoff ausging? Lethem kämpfte gegen die aufkommende
Tamilijon Panik an. Wenn er hyperventilierte, würde er dem zwanghaften Atemreflex erliegen und den Mund öffnen. Dabei ließ dieser Zwang unversehens nach, je stärker der Sauerstoffmangel wurde. Sein Blut wurde dick und träge, die Herztätigkeit sank. Lethem spürte, wie sein Verstand schläfrig wurde. Seine Bewegungen wurden langsamer, während er immer weiter sank. Auf einmal ließ der Sog nach. Die Strömung hatte ihn freigegeben! Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er sich wenden musste. Alles um ihn herum war aufgewühlt, es gab keine Möglichkeit zur Orientierung. Lethem sah etwas Schemenhaftes vor sich – grau und verwaschen. Mit letzter Kraft steuerte er darauf zu und ertastete porösen, scharfkantigen Felsen. Felsen, bedeckt mit Blumentieren! Ihre langen »Arme« bewegten sich in der Strömung, doch sie waren deutlich nach oben gerichtet, orientierten sich alle in eine Richtung … Lethem da Vokoban hangelte sich nach oben. Er spürte immer mehr, wie der Druck nachließ, obwohl das Singen in seinen Ohren immer stärker statt schwächer wurde. Seine Brust bebte in pumpenden Bewegungen, die Lungen schrien nach Sauerstoff. Lethem biss die Zähne zusammen, seine Lippen öffneten sich, doch er atmete nicht ein. Noch nicht … Seine Hände griffen nach dem Fels; automatisch, wie eine Maschine, zogen sie Lethems Körper weiter und weiter nach oben, in blindem Gehorsam. Nur noch ein paar Sekunden. Lethem wusste, dass er die Oberfläche erreichen musste, andernfalls würde er es nicht mehr schaffen. Mechanisch zog er sich weiter nach oben, fast am Ende seiner Kräfte. Sein Kopf durchstieß die Wassergrenze, im selben Moment brach sein Widerstand zusammen. Lethems Mund öffnete sich weit, gierig saugte er die feuchte, salzige Luft ein. Der Arkonide stieß den Atem mit einem Brüllen wieder aus, das selbst den
9 Sturm übertönte. Erschöpft sank er zusammen, er war dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. »… ethem … lfe …« Der Regen prasselte auf sein Gesicht, dazu die schäumende Gischt, die sich am Riff brach. Der Arkonide kniff die leuchtend roten Augen zusammen und versuchte zu erkennen, woher die Lautfetzen kamen. Eine Orientierung war durch den stürmisch wehenden Wind fast unmöglich. Für einen kurzen Moment sah er die Frau. Ihr Kopf tanzte über den Wellen, bevor sie in einem Tal verschwand. »Tasia!«, rief Lethem. Mit kräftigen Schwimmstößen versuchte er, zu ihr zu gelangen. Die Sorge um seine Gefährten, für die er als Leiter der Truppe die Verantwortung trug, ließ ihn Schwäche und Schmerzen vergessen. Doch Tasia war bereits fortgetrieben, er sah sie gefährlich nah an den Klippen erneut auftauchen. Ihre Arme ruderten kraftlos, und an den hektischen Bewegungen ihres Mundes konnte Lethem sich ausmalen, dass sie viel Wasser geschluckt haben musste. »Verdammt!« Sein Fluch ging in einem Gurgeln unter, als ihm eine Welle genau ins Gesicht schlug. Er musste husten und spie Salzwasser aus. Dann schwamm er weiter in Tasias Richtung. Seitlich in seiner Nähe nahm er eine weitere Bewegung wahr. Enaa von Amenonter kämpfte erschöpft gegen die Wellen an. Ihre dunkelbraunen Augen waren weit aufgerissen; sie öffnete den Mund, um ihm etwas zuzurufen. Sie hatte keine Kraft mehr und ging unter. Wie Lethem geriet sie in eine Unterströmung, deren Sog sie mit sich hinabzog. Lethem brüllte vor ohnmächtiger Verzweiflung. Welche der beiden Frauen sollte er retten, welche konnte er überhaupt noch retten? Sie waren so nah und trotzdem unendlich weit entfernt. Obwohl Lethem mit aller Kraft gegen die stürmische See ankämpfte, verringerte sich der Abstand zu den Frauen keinen Millimeter. Ganz im Gegenteil, die Strömung trug ihn immer weiter fort. Das Wasser war nicht sein Element,
10 stets aufs Neue wurde ihm die Tatsache bewusst gemacht. Lethem merkte, wie ihn ein Sog erfasste und erneut nach unten riss. Doch diesmal war er gewappnet. Er hatte ausreichend Luft in den Lungen, um gegen die Strömung anzukämpfen. Mit wenigen Stößen kam er aus dem Sog wieder heraus und tauchte erneut auf. »Enaa! Tasia!«, schrie Lethem, so laut er konnte. Die Arkonidin konnte er nirgends entdecken. »Lethem! Hier …«, Enaa lebte! Irgendwie hatte sie es geschafft, sich an einen Riffzacken zu klammern, der sie gerade so über Wasser hielt. Sie winkte ihm, und Lethem versuchte, zu ihr zu gelangen. Voller Entsetzen beobachtete er, wie ein gewaltiger, mindestens zehn Meter hoher Brecher Enaa mit krachendem Donner überrollte. Er versuchte schneller zu schwimmen, ihr zu Hilfe zu eilen. Eine weitere Welle, die sehr viel sanfter war, riss ihn mit. Durch den Schwung überwand Lethem die Strecke fast ohne Kraftaufwand. Er schrie aus Leibeskräften nach Enaa. Gleichzeitig wurde Lethem bewusst, dass er umgehend einen Halt finden musste, denn der Rücksog des Brechers würde jeden Moment einsetzen. Das Wasser sank bereits und legte das Riff wieder frei. Der Arkonide konnte es kaum glauben. Enaa befand sich noch genau an derselben Stelle, krampfhaft den scharfen Felsen umklammernd. Ihr Körper tanzte wie eine Puppe auf der Wasseroberfläche. »Enaa!« Als sie seinen Schrei hörte, hob sie den Kopf. »Hier bin ich!«, gab sie zurück. »Ich glaube, ich habe eine Passage gefunden!« »Schaffst du es alleine?«, rief Lethem. »Tasia ist in Not.« »Ich denke ja. Hilf lieber Tasia. Ich habe einigermaßen Halt gefunden und …« »Ich komme zurück!«, versprach Lethem. Er nutzte die kurze Pause, bevor sich die nächste hohe Welle bildete, und kämpfte sich weiter durch die Fluten; starker Regen
Susan Schwartz prasselte auf ihn nieder, der Sturm peitschte ihm ins Gesicht, doch er gab nicht auf. Lethem da Vokoban hatte die Stelle, an der er Tasia zuletzt gesehen hatte, fast erreicht. Immer wieder rief er nach ihr, bildete sich ein, einen blassen Arm winken zu sehen, einen schwachen Ruf zu hören. »Halte durch!«, brüllte er mit aller Kraft, die er noch aufbrachte. »Tasia, gib nicht auf! Ich bin gleich bei dir! Wir schaffen es!« Durch den Sturm mit seinem Tosen und Donnern war keine klare Sicht mehr möglich. Hilflos wie ein Ball wurde er von den Wellen hin- und hergeschleudert.
* Lethem spürte, wie er gegen einen Felsen prallte. Der Schmerz ließ ihn fast die Besinnung verlieren. Scharfe Kanten schnitten in sein Fleisch, die Wunden brannten in dem Salzwasser wie Feuer. Instinktiv klammerte er sich fest, versuchte nach oben zu kommen, aus dem Bereich des aufgewühlten Wassers, um Luft zu schnappen und wenigstens für ein paar Sekunden zur Ruhe zu kommen. »Lethem!« Der Arkonide sah auf, blinzelte durch einen Schleier aus Blut und Wasser. Enaa verharrte noch immer an derselben Stelle. »Ja …«, krächzte er. »Was ist mit Tasia?«, rief sie. Er schüttelte den Kopf. Dann hangelte er sich langsam weiter, krallte seine Finger und Zehen in das poröse Gestein und kletterte auf die Akonin zu. Als er sie erreicht hatte, kam bereits der nächste Brecher herein. Sie klammerten sich aneinander; Enaas Griff war nach allem, was sie durchgemacht hatten, überraschend kräftig und fest. Zäh wie eine Katze war sie, nicht umsonst eine geachtete und gefürchtete Nahkämpferin. Lethem hielt den Atem an und zählte die Sekunden. Die Naturgewalten rüttelten und zerrten an den beiden, aber sie hielten stand. Ge-
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meinsam. Jetzt erst recht. Als sie wieder Luft bekamen, konnte Lethem die Passage erkennen, die Enaa gemeint hatte. »Wir haben ungefähr zwei Minuten Zeit«, sagte er zu der Akonin, »bevor die nächste hohe Welle kommt. Bis dahin müssen wir durch sein, sonst werden wir da drinnen zerschmettert.« Sie nickte. »Wenn wir uns gegenseitig stützen, müssten wir es schaffen.« Sie krochen in die Passage, zogen und stützten sich gegenseitig, kletterten um ihr Leben. Lethem konnte bereits die Lagune auf der anderen Seite sehen. Sie war ihre Rettung. Der 2. Pilot der TOSOMA achtete nicht auf neue Wunden, verdrängte den Schmerz in den überanstrengten Muskeln. Sein geschundener Körper schrie danach, sich einfach fallen zu lassen, aufzugeben und in eine bessere Welt hinüberzutreiben … Ein Moment der Unachtsamkeit ließ Lethem abrutschen. Er fiel nach unten und riss dabei Enaa mit sich. Die Akonin konnte ihren Griff nicht rechtzeitig lösen, weshalb sie mit ihm in die Tiefe stürzte. Sie landeten im Wasser und gingen sofort unter. Bis zum Grund waren es ungefähr zweieinhalb Meter. Lethem stieß sich ab und zog Enaa mit nach oben zur Wasseroberfläche. Keuchend schwammen sie auf den Strand zu. Obwohl dies der leichteste Teil war, kostete er die letzten Kräfte. Die Erschöpfung übermannte beide. Lethem erreichte das Ufer als Erster. Er packte Enaa, legte den Arm um ihre Taille und schleppte sie mit sich, die letzten, wenigen Meter zum rettenden Ufer. Dann brachen sie zusammen, völlig erschöpft und ausgepumpt.
* Als Lethem das Bewusstsein wiedererlangte, spürte er jeden einzelnen Muskel und Knochen. Einen deutlicheren Beweis dafür, dass er noch am Leben war, brauchte er nicht. Er rieb die verkrusteten Augenlider,
bis er die Augen blinzelnd öffnen konnte, und richtete sich langsam ächzend auf. Der Sturm hatte sich gelegt. Lagune und Meer lagen ruhig und friedlich vor ihm, warm beschienen von Verdran. Der Arkonide genoss die Wärme, seine Lebensgeister kehrten langsam wieder zurück. Neben ihm regte sich Enaa, Nachfahrin der einst mit dem Raumer DRORAHS EHRE gestrandeten Akonen. Nun war sie in die Fußstapfen ihrer Vorfahren getreten – und ebenfalls gestrandet. Lethem brauchte keinen Spiegel, um zu sehen, dass er keinen Deut besser aussah als Enaa. Ihre Kleidung war zerrissen, ihr Körper war übersät mit Schnittwunden, die blutund salzverkrustet waren. Blass und erschöpft stand sie vor ihm, mit tiefen Furchen im Gesicht. »Du siehst schrecklich aus«, stellte Enaa fest, als sie Lethem musterte. Lächelnd fügte sie hinzu: »Dafür aber erfreulich lebendig.« Lethem nickte. Er war zu müde, um sich zu freuen. »Es sieht so aus, als hätten wir es geschafft.« Mühsam stemmte er sich auf die Beine, stand taumelnd da und wagte einen ersten Schritt. Nach einigen Dagor-Entspannungsübungen fühlte er sich deutlich besser und kräftiger. Enaa hatte ihre eigene Methode, Kontrolle über ihren Körper zu erlangen. Sie verbog ihren Körper in alle Richtungen. »Wir sollten die anderen suchen«, schlug Lethem vor. »Ja.« Sie trennten sich und wanderten jeder für sich durch den grobkörnigen Kies am Strand entlang, nach allen Seiten Ausschau haltend. Lethem stockte für einen Moment der Atem, als er Enaas Ruf hörte und sie winken sah. Er lief auf sie zu und folgte ihrem ausgestreckten Finger mit seinem Blick. Auf dem Riff lag ein regloser Körper. Arme und Beine schaukelten im Wasser sanft hin und her. Der Körper war zerschmettert, fast unkenntlich. Lethem erkannte die Uniform und den schlanken, einst eleganten
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Körper. »Tasia …«, flüsterte er. Er ließ sich in den Sand sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Nach kurzer Zeit kniete Enaa sich neben ihn und berührte ihn sanft an der Schulter. »Dafür kannst du doch nichts, Lethem. Du darfst dich nicht schuldig fühlen, nur weil du überlebt hast.« »Darum geht es nicht.« »Worum dann?« Lethem seufzte schwer. »Tasia … Sie war unsere Medoassistentin. Normalerweise hätte sie bei den Verletzten der TOSOMA bleiben und sie versorgen sollen. Aber ich habe sie nach alter Tradition mitgenommen, die verlangt, dass bei einem Außentrupp stets ein Bauchaufschneider dabei sein muss. Hätte ich mich nicht daran gehalten, wäre sie noch am Leben!« »Tut mir Leid.« Enaa stand auf. »Wir können immer erst hinterher feststellen, ob eine Entscheidung richtig oder falsch war. Genauso gut hätte Tasia uns allen das Leben retten können, wer weiß? Es ist nun einmal so gekommen. Auf einer Expedition muss man immer mit Verlusten rechnen, Lethem. Und lernen, damit zu leben.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie weiter in die eingeschlagene Richtung. »Wir sollten auf den Hügel steigen. Von dort, denke ich, haben wir eine sehr gute Rundumsicht.« Lethem erhob sich und folgte ihr.
* Neben der Lagune lagen weitere kleine, von Klippen umsäumte Buchten. Richtung Nordosten öffnete sich der Strand mit einer Passage zum offenen Meer, danach reihten sich wieder Klippen und Riffe aneinander. Der Küste vorgelagert, nicht weit entfernt, zeichnete sich in östlicher Richtung die Insel Salan auf dem Meer ab. Als Lethem und Enaa auf der anderen Seite des Hügels in eine Bucht hinabstiegen, trafen sie auf Ondaix und Kythara. Beide
waren nahezu unverletzt. Die Varganin verabreichte dem Springer eine Ohrfeige, um ihn zu sich zu bringen. Er umklammerte immer noch seine doppelschneidige Streitaxt. Wie er es geschafft hat, sich damit über Wasser und am Leben zu halten, mögen Arkons Götter wissen. Es ist jedenfalls ein Wunder, dachte Lethem bei sich. Die Maghalata der Viin wandte sich Enaa und Lethem zu, als sie die beiden erkannte. Freude erhellte ihr schönes, bronzehäutiges Gesicht. Ohne weitere Umstände untersuchte sie zuerst Enaa, dann Lethem mit geübten Griffen und prüfendem Blick, dem nichts entging. »Ich bin froh, euch wohlauf zu sehen«, sagte sie dann. »Ihr habt es unbeschadet überstanden. Auch Ondaix hier. Er braucht nur noch ein wenig, um zu sich zu kommen, er hat wohl einen kräftigen Schlag auf den Kopf erhalten, der Schwellung nach zu urteilen. Aber die Flüche, die er bereits losgelassen hat, zeigen mir, dass er keine Gehirnerschütterung hat.« Ondaix, ein Mann wie ein Bulle, rappelte sich auf und stützte sich auf seine Axt. »Hätte nicht gedacht, einen von euch je wiederzusehen«, brummte er. »Deine Axt wird uns sehr nützlich sein«, bemerkte Lethem. Zu viert kehrten sie auf den Hügel zurück. Ondaix ging auf die Jagd, während die anderen Brennholz sammelten und ein kräftiges Feuer anschürten, das weithin sichtbar war und den anderen Überlebenden als Signal dienen sollte. Enaa fand eine kleine Süßwasserquelle und brachte das kostbare Nass in leeren handtellergroßen Nussschalen. Kythara suchte einige Pflanzen, aus denen sie eine Paste herstellte. In einem leeren Krebspanzer bereitete sie einen Trank zu, den alle zu sich nehmen mussten – zur Stärkung und Vorbeugung gegen Entzündungen. Die Paste wurde auf den Wunden verrieben, und Lethem spürte sofort eine rasche kühlende Linderung. Der Springer kam mit einem rehähnlichen Tier zurück und übernahm selbst die Zube-
Tamilijon reitung. »So können wir uns schnell wieder erholen und weiterziehen«, meinte Enaa. »Immerhin haben wir es geschafft, das Iblad-Meer zu durchqueren und den Kontinent zu erreichen.« »Aber nicht alle!«, murmelte Ondaix. »Wenn nur dieser Sturm nicht gewesen wäre … Irgendwie hätten wir die Klippen schon umschifft und die Passage gefunden.« Als das Essen gegart war, fing es allmählich an zu dämmern. Trotz der misslichen Lage freuten sie sich, ihre Mägen füllen zu können. Das Fleisch des unbekannten Tieres schmeckte nicht einmal schlecht. Enaa hatte zusätzlich einige Früchte und Beeren gesammelt. Die Akonin drückte deutlich aus, dass sie schon wieder positiv in die Zukunft sah – man hatte überlebt, es gab Nahrung und einen weitgehend sicheren Platz. »Die Übrigen werden auch noch eintreffen, ihr werdet schon sehen.« Die anderen schwiegen, jeder war mit seinen Gedanken und Schuldgefühlen beschäftigt. Große Freude kam auf, als plötzlich Scaul Rellum Falk angestolpert kam. Die Haut des Terraners glänzte stark. Der Schweiß rann ihm aus allen Poren, ansonsten schien er wohlauf zu sein. Für ihn gab es noch ausreichend zu essen. Scaul griff dankbar zu, während er den Erlebnissen der anderen lauschte, bevor er seine eigene Geschichte zum Besten gab. Nach weiteren drei Stunden stieß Zanargun zur Gruppe. Der Luccianer hinkte und hatte eine schwere Wunde an der Schulter. Seine Haltung straffte sich umgehend, als er von den anderen mit großem Jubel begrüßt wurde. Er ließ sich von Kythara verarzten, vertilgte die Reste des Mahls und berichtete in kurzen Worten, dass er Cisoph Tonk und Hurakin aus den Augen verloren und den ganzen Tag erfolglos nach ihnen gesucht hatte. Sie ließen das Feuer weiter brennen und hielten abwechselnd Wache. Kurz vor Mitternacht fing es wieder zu regnen an, dann
13 kam ein kühler, unangenehmer Wind auf. Es war nicht einfach, das Feuer in Gang zu halten. Trotz der großen Erschöpfung gelang es keinem in der Gruppe, Schlaf zu finden. Erst gegen Morgen zwangen ihre Körper sie zu einer Schlafpause. Auch der Wachtposten schlummerte schließlich ein. Es hatte sich ohnehin niemand dem Hügel genähert.
* Lethem war vor allen anderen wach und machte sich auf den Weg. Er kletterte den Hügel hinunter und tauchte ins Wasser ein. Es war gerade Ebbe, deshalb konnte er bis zum Riff waten. Bitterkeit umschloss sein Herz, seine Lippen zitterten, als er Tasia Oduriams leblosen Körper in seine Arme nahm und langsam zum Strand zurücktrug. Wie leicht sie doch war – er spürte ihr Gewicht kaum. Dennoch war es eine schwere Last, die der Arkonide mit sich trug. Lethem hob mit bloßen Händen ein Grab für die Arkonidin aus. Als er fast fertig war, kamen die anderen heruntergeklettert und halfen ihm schweigend. Bevor sie sich auf die Suche nach Cisoph Tonk und Hurakin begaben, stärkten sie sich erst einmal. Ondaix' dröhnender Ruf hallte weit über die Küste. Zwei Stunden später fanden sie wieder zusammen. Der Springer hatte die Leichname der beiden Vermissten entdeckt, schrecklich entstellt. Sie waren mit der letzten Flut zusammen mit einigen Wrackteilen an den Strand gespült worden. Noch einmal mussten zwei Gräber ausgehoben werden. »Was jetzt?«, fragte der Springer schließlich. Die Gefährten schauten Lethem voller Verzweiflung an. Der Arkonide riss sich zusammen und wandte sich an die Gruppe. »Sollen unsere Freunde umsonst gestorben sein? Es kann keinen Zweifel geben, wir werden unsere Mission erfüllen! Wir gehen weiter, ins Land der Silbersäulen. Der Uralte Sardaengar soll sich in der Gebirgsbastion Grataar aufhalten. Wir müssen eben einen Umweg
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in Kauf nehmen, da wir Narador nicht erreicht haben.« »Und wie sollen wir von hier aus nach Grataar kommen?«, brauste Falk auf. »Da kann ich vielleicht helfen«, meldete sich Kythara zu Wort. »Ich weiß, wie wir von hier zur Stadt Bulak kommen. Die Stadt liegt in etwa südwestlicher Richtung, nicht weit von hier. Dort könnten wir Transporttiere besorgen, die uns an der Küste entlang nach Narador bringen. Denn von dort aus führt eine Bahnlinie nach Helmdor. Das ist der schnellere Weg, anstatt sich durch die Wildnis zu schlagen.« Enaa verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auffordernd in die Runde. »Worauf warten wir?« Lethem nickte. »Lasst uns aufbrechen.«
3. Atlan Ich fand keine Spuren mehr von den Savannenreitern, auch keine Überreste der Dendibos. Vielleicht war ihnen die Flucht gelungen – ich hoffte es zumindest sehr. Tamiljon hielt ebenfalls Ausschau. Aber nicht nach den Afalharo, schien mir. Er war ein seltsamer, überaus wortkarger Begleiter, der nichts von sich preisgab. Seine Nervosität bereitete mir ernsthafte Sorgen. Ich schloss daraus, dass uns Gefahr drohte. Von wem, das wusste ich allerdings nicht. Nachdem ich auf meine erste Frage, wie ihm unsere Befreiung gelungen war, keine Antwort erhielt, musste ich weitere Fragen im Geiste diskutieren. Wenn es ihm rein kräftemäßig gelungen war, sich aus dem Kokon zu befreien, konnte er nur so etwas wie ein Umweltangepasster sein – ein Oxtorner mit einer Kompaktkonstitution. Eine solche Entwicklung war hier auf Vinara allerdings unwahrscheinlich, da keine sehr extremen Umweltbedingungen herrschten. Vielleicht war Tamiljon ebenfalls erst vor kurzer Zeit hier gestrandet; dagegen sprach jedoch, dass er viel zu vertraut mit dieser Welt war. Meine Überlegungen brachten mich nicht
weiter. Ebenso fragte ich mich, wie die Königin der Termiten zu Tode gekommen war. »Konntest du beobachten, was mit der Königin geschah?«, versuchte ich erneut, Tamiljon aus der Reserve zu locken. Wie beim ersten Mal antwortete er nur zögerlich und ausweichend: »Nein. Auf Vinara geschehen öfters seltsame Dinge. Du wirst dich daran gewöhnen müssen.« Den Teufel würde ich tun! Irgendetwas sagte mir, dass Tamiljon an dem Tod der Termitenkönigin beteiligt war. Es gab keine andere Erklärung. Aber wie? Telekinese?, kam mir mein Extrasinn zu Hilfe. Möglich. Aber wieso handelte er so spät? Wie konnte er überhaupt überwältigt werden, wenn er über Psi-Kräfte verfügt?, wandte ich ein. Mit dem Burschen ist etwas nicht in Ordnung, warnte mich mein Extrasinn. Dem stimmte ich zu. Ich glaube aber nicht, dass mir von ihm Gefahr droht. Ich bin ihm als Unterstützung sicherlich dienlich. Solange er glaubt, mich zu brauchen, gibt es keinen Grund zur Sorge. Allerdings kann sich die Stimmung schnell ändern. Du musst stets wachsam sein!, beschwor mich meine innere Stimme eindringlich. Ich spürte Tamiljons Blick auf mir ruhen und erwiderte ihn gelassen. Ich wollte nicht, dass er sich zu sicher oder gar überlegen mir gegenüber fühlte. Er sollte über mich genauso nachgrübeln wie ich über ihn. »Du hast viele Fragen, Atlan«, sagte der Schwarzhäutige zögernd. »Einige Antworten habe ich mir inzwischen selbst zusammengereimt«, antwortete ich und zeigte ein kurzes Lächeln. Ich entschloss mich, ihn noch mehr zu verunsichern. »Wer verfolgt dich?« Er konnte seine Überraschung nicht ganz verbergen. »Ich halte nur nach Gefahren Ausschau«, behauptete er. »Aha«, erwiderte ich. »Und diese Gefahren haben dich in die Fänge der Termiten gebracht.«
Tamilijon Er blickte zu Boden, als suchte er dort nach einer Antwort, die mich zufrieden stellen könnte. »Ja. Sie sind hinter mir her«, gab er schließlich zu. Tamiljon war nicht dumm. Genauso wenig hielt er mich für dumm oder naiv. Mir war klar, dass ich nicht erfahren würde, wer die Verfolger waren, sonst hätte er es mir offenbart. Früher oder später würde ich es sowieso herausfinden – sobald sie Tamiljons Spur wieder aufgenommen hatten. Es konnten Savannenreiter sein, immerhin befanden wir uns im Grenzgebiet der Stämme Nathal und Shanum. Die Stämme waren vor allem wegen der Territorienstreitigkeiten im Krieg, immerhin gab es hier in der Savanne wenige Ressourcen. Tamiljon und ich litten ebenfalls darunter. In den großen Bein- und Brusttaschen seines lederartigen Anzugs war ebenso wenig zu finden wie in meinen Taschen, mal abgesehen von einigen Motten, die es sich bereits in ein paar Nischen gemütlich gemacht hatten. Wir waren darauf angewiesen, was die Natur uns bot – und das war herzlich wenig. Mehr als ein dürftiges kleines Wasserloch, an dessen Rändern ein paar genießbare Pilze wuchsen, hatten wir bisher nicht gefunden. Eine magere Ausbeute für zwei gestandene Männer. Tamiljon war nur wenig kleiner als ich, muskulös und kräftig gebaut. Um die Wanderung durchzuhalten, brauchte er sicherlich nahrhaftes Essen. Ich hatte zur Unterstützung den Zellaktivator, der mir eine lange Ausdauer verlieh – aber das leere Gefühl im Magen konnte auch er nicht wegzaubern. Die Savannenreiter führten darüber hinaus noch eine Art Religionskrieg. Vor Urzeiten wurde der Ewige Litrak als »Stammvater« von allen Bewohnern der Spiegelwelten gleichermaßen verehrt. Doch dann kam der Dunkle Sardaengar, und viele wandten sich ihm zu. Vielleicht wurde Tamiljon aus diesem Grund verfolgt. Halte dich nicht auf mit Spekulationen, ermahnte ich mich. Konzentriere dich auf
15 dein Vorhaben.
* Nach unserer asketischen Mahlzeit waren wir einige Zeit gen Norden gewandert. Ich hatte diese Richtung eingeschlagen und wusste nicht, ob Tamiljon einfach mit mir ging oder denselben Weg hatte. Der Schwarzhäutige vertraute mir weiterhin nicht und schwieg beharrlich. Befürchtete er, ich sei von seinen Verfolgern ausgeschickt worden, um sein Vertrauen zu erschleichen? Dass ich dabei selbst Opfer der Termiten geworden war, überzeugte den Schwarzhäutigen ganz offensichtlich nicht von meiner Unschuld. Mir fiel auf, dass Tamiljon ständig einen Stab umklammerte. Er war nicht größer als einen Meter und einem Gehstock nicht unähnlich. Als hätte er Angst, den Stab zu verlieren, hielt Tamiljon ihn ständig in der Hand. Manchmal streichelte er ihn wie ein kostbares Kleinod. Dabei schien sich Tamiljon gar nicht bewusst zu sein, wie auffällig dieses Verhalten war. Der Stab selbst war unscheinbar, das Material erinnerte mich im Aussehen an dunkles Gusseisen, nur dass er viel leichter zu sein schien. Der Knauf bestand aus einem kinderfaustgroßen, kugelförmig geschliffenen Schneeflockenobsidian, unter dem ein etwa zwei Zentimeter durchmessender, in vielen Facetten blauweiß glitzernder Kristall eingefasst war. Vielleicht hatte dieser Stab Tamiljon bei seiner Befreiung aus dem Konkon geholfen? Ich deutete darauf. »Wenn wir wieder in belebtere Gegenden kommen, solltest du nicht so deutlich zeigen, wie kostbar dieser Stab für dich ist.« Tamiljon blieb stehen, starrte zuerst seinen Stab, dann mich an. »Keine Sorge«, sagte ich in beruhigendem Tonfall. »Ich bin nicht daran interessiert.« »Du … weißt nicht, was das ist?«, fragte er lauernd. Ich zuckte die Achseln und schickte mich an, weiterzugehen.
16 »Wer bist du?«, fragte Tamiljon scharf. »Du hast das Auftreten eines Mannes mit Autorität, ich spüre Macht in deiner Aura, und deine Augen verraten sehr viel Wissen und Weisheit. Ich bin vierunddreißig, doch du musst mehr als doppelt, vielleicht sogar dreimal so alt sein.« »Nicht ganz«, antwortete ich diplomatisch. Mein biologisches Alter entsprach 36,4 Arkonjahren, was ungefähr 43 Terrajahren entsprach. Seit mir die Superintelligenz ES einen Zellaktivator überlassen hatte, war ich nicht gealtert. Tamiljon fuhr fort: »Dennoch erscheint es mir seltsam, jemanden wie dich ausgerechnet hier draußen in der öden Savanne vorzufinden, allein und ohne Ausrüstung.« Nun grinste ich breit. »Dasselbe trifft auf dich zu, mein Freund. Allerdings bist du derjenige, der verfolgt wird, nicht ich. Warum beantwortest du meine Fragen nicht? Ich denke, das hängt mit deinem Stab zusammen – es ist deine Sache, ob du darüber sprechen willst. Eines sollte dir jedoch klar sein: Wenn ich dir helfen soll, dann möchte ich wenigstens wissen, wofür ich meinen Hals riskiere.« Ich setzte meinen Weg fort und spürte Tamiljons Zögern. Vermutlich umklammerte er seinen Stab noch fester und hielt innere Zwiesprache, ob er mir vertrauen oder besser versuchen sollte, sich allein weiter durchzuschlagen. »Du weißt es wirklich nicht, oder?«, rief er mir schließlich nach. »Der Kristallstab ist ein Heiligtum der Wächter …« Ich verhielt und drehte mich um. »Dann bist du ein Wächter des Ewigen Litrak?« »Zuerst will ich wissen, wer du bist!«, gab er in herausforderndem Tonfall zurück. Ich nickte. »In Ordnung. Das bin ich dir schuldig, immerhin hast du mein Leben gerettet.« Ich bemerkte so etwas wie Neugier auf seinem Gesicht und fuhr fort: »Ich befand mich in Gesellschaft der Afalharo, des Stamms der Tulig. Zusammen mit ihnen war ich auf dem Weg zu einem frei zugänglichen
Susan Schwartz Obsidiantor nahe den Ruinen von Ardaclak. Die Schamanin Dendia hat in einer Vision eine herannahende Katastrophe gesehen. Wir wollten nach Vinara Drei, um das Tempelzentrum des Litrak-Ordens in der Stadt Malenke zu erreichen in der Hoffnung, die Wächter warnen zu können. Leider haben uns die Termiten einen Strich durch die Rechnung gemacht, und ich habe alle Begleiter verloren – einschließlich meines Freundes Jorge.« »Was sah die Schamanin?«, wollte der Schwarzhäutige wissen, der mit einem Mal sehr hellhörig geworden war. »Eine schwarze Schlange umschlingt Verdran, um sie zu fressen. Doch die Schlange wird sich daran verschlucken und von Verdran zerfetzt werden. Ihre Überreste werden auf die Welt herabregnen und Tod und Vernichtung bringen.« Tamiljon erstarrte. »Warum wenden die Tulig sich wegen dieser Vision nicht an den Uralten Sardaengar, den Herrn der Welten?«, wollte er wissen. »Die Schamanin glaubt, dass er die Katastrophe nicht verhindern kann«, antwortete ich. »Sie meint, der Ewige Litrak sei dazu in der Lage …« »Der eingekerkert ist!«, brach es aus Tamiljon heraus. »Er ist der untote Gott im Eis, gefangen im Casoreen-Gletscher!« »So sagt es zumindest die Legende.« »Es ist keine Legende, sondern die Wahrheit!«, behauptete der Fremde. »Es heißt auch, dass die Wächter und Ordensmitglieder nie die Hoffnung aufgegeben haben, den Ewigen Litrak eines Tages befreien zu können«, fügte ich hinzu. »Wenn also alles wahr ist – vielleicht sind wir beide in der Lage, ihre Hoffnung ebenso wahr werden zu lassen …« Tamiljons rechte Hand schloss sich nervös um den Obsidianknauf. »Ich bin kein Wächter«, gestand er. Ich konnte nicht sagen, was mich in diesem Moment mehr erstaunte. Die Offenheit meines neuen Begleiters oder die Enttäuschung.
Tamilijon »Aber ich bin auch kein Anhänger Sardaengars!«, fügte er heftig hinzu. »Nun gut«, meinte ich. »Aber du trägst aus irgendeinem Grund einen Kristallstab und bist ebenso auf der Reise wie ich. Wie soll es weitergehen? Wirst du mich begleiten?« »Wir haben denselben Weg«, gestand Tamiljon widerwillig. »Auch ich will nach Malenke. Zunächst muss ich jedoch etwas in den Ruinen von Ardaclak erledigen.« »Deswegen hast du das Tor in den Ruinen von Aziin nicht benutzt.« Durch dieses Tor war ich mit Jorge Javales auf Vinara Vier angekommen, hatte es aber nicht mehr zur Umkehr betreten können. Die Benutzung nicht freigegebener Tore war nur mit einem Kristallstab der Wächter möglich – wie Tamiljon ihn hatte. Wenn ich Tamiljon früher begegnet wäre, hätten wir uns die anstrengende Reise ersparen können. Mein Begleiter Jorge Javales könnte noch leben, da wir den Termiten nicht zum Opfer gefallen wären. Tamiljon ahnte wohl meine Gedanken. »Es ist eben so, Atlan. Ich muss in die Ruinen von Ardaclak, in die Gruft des Wächters Narmasar Tarmon, um etwas zu erledigen.« »Das sagtest du bereits.« »Ich darf es nicht aufschieben«, drängte der Schwarzhäutige. »Und dann sind da noch deine Verfolger«, erinnerte ich den Fremden. »Ja. Ich muss vor ihnen dort sein.« Ich überlegte. Ich hatte kein Reittier mehr, keine Ausrüstung, keine Vorräte. Der Weg zu Fuß nach Ardaclak zu dem frei zugänglichen Tor war sehr weit. Zurück nach Aziin konnte ich nicht mehr, trotz des Kristallstabs. Das glitzernde Ding, darin war ich mir sicher, konnte unmöglich Tamiljon gehören. Immerhin hatte der Mann selbst zugegeben, kein Wächter zu sein. Vielleicht hatte er von einem der Wächter den Auftrag bekommen, den Stab nach Malenke zu bringen, und die Verfolger wollten ihn daran hindern? Ich trat weiterhin auf der Stelle. Immer neue Fragen tauchten auf, auf die ich keine
17 Antworten wusste. Tamiljon behielt seine Geheimnisse für sich; sollte mir recht sein. Ich würde ihm ebenso wenig etwas über mich und die absonderlichen Umstände, die mich hierher gebracht hatten, erzählen. Tatsache war jedoch, dass wir zu zweit in jedem Fall besser dran waren. Tamiljon musste ähnlich gedacht haben, sonst hätte er mich nicht befreit. Ein weiterer Grund, sich ihm anzuschließen, war, dass wir dasselbe Ziel hatten. Der Kristallstab konnte mir vielleicht noch von Nutzen sein. »Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren«, sagte ich laut.
* Tamiljon ließ die Umgebung keinen Moment aus den Augen und blickte immer wieder wachsam über die Schulter. Das Gelände war ziemlich eben und offen, es gab nur sehr wenig Baumbestand. Verfolger würden sich also frühzeitig ankündigen, da sie keine Deckung nutzen konnten. Von den riesigen Termitenbauten hielten wir uns weitestgehend fern. Gelegentlich sahen wir Raubtiere, die uns allerdings kaum Beachtung schenkten. Das größte Problem war unsere Versorgung mit Wasser und Nahrung. Tamiljon war viel zu sehr mit seinen ominösen Verfolgern beschäftigt, um sich darüber Gedanken zu machen. Ich riss ihn aus seinen Gedanken, als ich in der Ferne eine Herde Pflanzenfresser entdeckte, die sich von einem grünlich schimmernden Streifen Land entfernte. »Vielleicht gibt es dort ein Wasserloch«, machte ich Tamiljon aufmerksam. Er zögerte, sah dann aber ein, dass wir ohne Wasser und Nahrung nicht lange durchhalten konnten. Wenig später erreichten wir ein größeres, von saftigem Grün, Büschen und Bäumen umgebenes Wasserloch, das, nach den vielen Spuren, zertrampelten Pflanzen und matschigen Stellen zu urteilen, regelmäßig von
18 den Tieren der Umgebung genutzt wurde. Zu meiner Freude entdeckte ich Fische im Wasser und baute mit Tamiljon aus biegsamen Ästen eine kleine Reuse, in der bald die ersten blinkenden Schuppentiere zappelten. »Du kommst gut in der Natur zurecht«, bemerkte Tamiljon, als wir schließlich vor dem Feuer saßen und die Fische brieten. Um ihre Verträglichkeit brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Zum einen hatte mein Magen sich im Lauf der Zeit an vieles gewöhnt, zum anderen wurde durch die zellregenerierende Wirkung des Aktivatorchips umgehend jede giftige Substanz neutralisiert. »Ich bin ein wenig herumgekommen«, antwortete ich. »Es ist wichtig, dass du eine gute Kondition hast. Wir sollten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit weitergehen … so lange, wie es eben möglich ist. Der Weg ist weit und gefährlich, möglicherweise haben wir nicht immer so viel Glück wie heute.« »An mir soll es nicht liegen, Tamiljon. Ich habe genug Ausdauer.« Er betrachtete mich mit einem langen, nachdenklichen Blick, schwieg jedoch. Ich hatte während unserer Rast Zeit, ein Resümee der bisherigen Erkenntnisse zu ziehen. Mehr und mehr kristallisierte sich heraus, dass es sich bei den Geschichten um den Uralten »Dunklen« Sardaengar und den Ewigen Litrak nicht nur um Mythen handelte. Hinsichtlich Sardaengar gab es aufgrund der Lebenserinnerungen Nevus MercovaBans einige Hinweise, dass er möglicherweise ein lemurischer Tamrat mit suggestiven Paragaben war. Denn nach den Legenden hatte er sich viele Völker der VinaraWelten mit purer Willenskraft unterworfen. Und da er nach dem Glauben der Afalharo und anderer noch heute existierte, musste er ein Langlebiger oder Unsterblicher sein wie ich. Aber wer mochte der Ewige Litrak sein, der lange vor Sardaengar hier »herrschte« und von dem »Dunklen« im wahrsten Sinne des Wortes auf Eis gelegt worden war? Die
Susan Schwartz Legenden besagten, dass Sardaengar Litrak nicht töten konnte, weil er zum einen angeblich unsterblich war, zum anderen mit Litraks Auslöschung alles Leben auf sämtlichen Spiegelwelten enden würde, woran Sardaengar offenbar nicht gelegen war. Also verbannte Sardaengar seinen Gegenspieler in die ominöse Eisgruft, und es bildete sich zu seinem Schutz der Orden der Wächter der Eisgruft. Niemand wusste, welchem Volk die Wächter einst entstammten oder ob sie aus verschiedenen Völkern rekrutiert wurden. Wegen meiner Aura hatten die Savannenreiter geglaubt, ich sei einer dieser Wächter. War es möglich, dass Tamiljon meine Aura ebenfalls spürte? Könnte ich ihm dadurch zur Ausführung seines Vorhabens oder Auftrags nützlich sein? Tamiljon wusste vielleicht, was der Litrak-Orden seit seiner Gründung getan hatte, um dem Untoten Gott beizustehen, auch wenn er kein Wächter war. Immerhin besaß er einen Kristallstab. Und ebenso wie ich unternahm er eine Mission, die mit Litrak zu tun hatte – ob im Guten oder Schlechten, konnte ich nicht einmal spekulieren. Dazu wusste ich noch zu wenig über den Schwarzhäutigen. Vielleicht war es ein Fehler von mir, diese Reise zusammen mit Tamiljon zu unternehmen, da wir möglicherweise auf verschiedenen Seiten standen, auch wenn mein Begleiter behauptete, kein Anhänger Sardaengars zu sein. Das machte ihn noch nicht zu meinem Verbündeten oder gar Freund. Seine Motive, mich zu retten, erschienen mir mehr und mehr eigennützig, als tatsächlich dem Impuls zu folgen, anderen zu helfen. Ebenso war ich gespannt darauf, wer Tamiljons Verfolger waren, denn vor ihnen fürchtete er sich. Selbst in dieser vergleichsweise idyllischen Ruhepause ließ er nicht davon ab, die Umgegend zu beobachten, jederzeit auf dem Sprung. Den Stab verstaute er ab und zu in seinem breiten Gürtel, meistens jedoch fingerte er nervös an ihm herum, hielt ihn mal in der linken, mal in der
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rechten Hand und achtete deutlich darauf, dabei niemals den in der Sonne funkelnden Kristall zu berühren. Über den kugelförmigen Obsidian hingegen strich er gelegentlich mit andächtiger Miene. Ich vermutete, dass der Glitzerstein die Motivation für seine Reise war, die Summe all seiner Ängste und Hoffnungen darstellte. Und dass dies mit Dendias Prophezeiung und dem gefangenen Gott im Eis zusammenhing. Wahrscheinlich würde Tamiljon kein Auge zumachen, solange ich in der Nähe war, aus Sorge um den Stab. Das bedeutete, wir würden vermutlich nicht nur den Rest des Tages, sondern auch die ganze Nacht auf Wanderschaft sein. Sollte mir recht sein. Eine Reise wie diese hatte ich schon oft in meinem Leben unternommen. Ich dachte an Jorge Javales, der an der Expedition nicht teilnehmen wollte. Er hatte mir meine Abenteuerlust zum Vorwurf gemacht. Es reizte mich in der Tat, sich nicht nur auf die Sicherheit eines Schutzanzugs verlassen zu müssen. Dies entsprach meinem Naturell. Das Leben und seine Mysterien erforschen, in all seinen Facetten, direkt und ohne Umwege. Jorge hatte sein Leben verloren, weil er solch ein Leben nicht kannte und weil er sich auf mich verließ. Diese Schuld belastete mich; vor allem tat es mir Leid, dass ich ihn nicht einmal begraben konnte. Aber das war nun Vergangenheit, mit der ich mich auseinander setzen konnte, wenn dieses Abenteuer hinter mir lag. Jetzt war es wichtig, auf den weiteren Weg zu achten und dem Geheimnis der Spiegelwelten auf die Spur zu kommen.
4. Sardaengar Plötzlich zuckte ein grellweißes Licht auf, wuchs zu einer Lichtsäule bis zu den Gipfeln des Ograhan-Gebirges, gefolgt von einem fahlen Aufglimmen der Silbersäulen im Lan-
de Mertras. Sardaengar konnte den Blick nicht lösen, und etwas sprang auf ihn über, hüllte ihn in Licht und Wärme. Er sah den Kristallmond zum Greifen nah, der näher und immer näher kam und in Sardaengars Kopf eindrang, ihn ganz ausfüllte … Sardaengar spürte, wie die in ihn eingedrungene Macht immer stärker wurde, sein bewusstes Denken beeinflusste, allgegenwärtig. Noch konnte er dagegen ankämpfen, vermochte es, das unaufhörliche Flüstern und Wispern zurückzudrängen und nicht nachzugeben. Doch er ahnte, dass er immer schwächer wurde, je mehr der Einfluss an Kraft gewann. Das Licht in seinem Kopf wurde immer heller und blendete ihn, verlangsamte seine Gedanken, schwächte seinen Willen. Er war nicht mehr länger der Dunkle. Das lähmte, entsetzte ihn. Es konnte nicht sein, dass das Licht stärker war als er. Dass es die Herrschaft über ihn gewann. Dass der Uralte Sardaengar die Macht und die Herrschaft verlor, über sich selbst und die Kluft. Das durfte nicht geschehen. Er durfte es niemals so weit kommen lassen. Alles wäre verloren! Auch wenn Litrak nicht den endgültigen Sieg davontragen sollte, wäre es vorbei – für ihn ebenso wie für alle Bewohner der Obsidian-Kluft. Das Licht brachte das Ende. Sardaengar zwang die aufkeimende Panik zurück. Immerhin rüttelte sie ihn aus seiner Lethargie, und das grelle Licht in seinem Verstand ließ etwas nach, wurde gedimmt, bis er fast wieder Herr seiner selbst war. Fast. Er konnte nicht den Willen aufbringen, die fremde Macht ein für alle Mal aus sich zu vertreiben. Dennoch musste er diese Gelegenheit nutzen – Hilfe zu suchen und Unterstützung zu finden. Sardaengar musste feststellen, was draußen auf den Spiegelwelten vor sich ging. Wodurch war dieser Vorgang ausgelöst worden? Was hatte er übersehen?
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* Es war sehr schwer, sich zu konzentrieren. Was für eine Schmach für einen Machtvollen wie ihn! Sein Zorn wuchs so stark, dass das Licht sich weiter verdüsterte. Seine Kampfkraft erwachte wieder … Dennoch war es mühsam, hinauszugehen, mit seinen paranormalen Sinnen umherzuschweifen. Der Uralte Sardaengar tastete nach seinen Vertrauten und Helfern, die sich überall auf Vinara und den Spiegelwelten befanden. Sie waren es, die für ihn als Agenten und Händler auftraten, nach seinem Willen Aufträge erfüllten und dafür sorgten, dass seine Macht erhalten blieb. Am wichtigsten für ihn waren die Perlenträger von Helmdor. Sie waren im Namen des Herrn der Welten stets mit großem Gefolge überall unterwegs. Die Perlenträger kontrollierten und verteilten die Lithras. Die Obsidianperlen waren einziges Zahlungsmittel auf den Vinara-Welten. Jeder fürchtete und achtete die Vertrauten des Sardaengar, niemand wagte es, sie in Frage zu stellen oder an ihrer Autorität zu rütteln. Mit den Lithras kontrollierten die Perlenträger das gesamte wirtschaftliche System. Wer ihnen den Weg versperrte, wurde seiner Habe und Würde beraubt. Die Perlenträger stellten in gewisser Weise das Gegengewicht zu Litraks Orden dar. Der innere Zirkel, in den die am höchsten angesehenen und raffiniertesten von ihnen aufgenommen wurden, unterstand dem direkten Befehl Sardaengars und handelte nach seinen Anweisungen. Diese Leute wurden im Volksmund auch Perlenschleifer genannt, denn sie gehörten der Gilde der geachteten Obsidian-Perlenmacher an und verstanden sich tatsächlich perfekt auf ihre Kunst. Sie waren Alleskönner, deren wahre Berufung für die wenigsten Bewohner der Vinara-Welten ersichtlich war. Zu ihnen sprach der Uralte Sardaengar persönlich. Sie wussten, dass der Herr der Welten noch existierte und nicht nur eine
Legende war. Durch ihre Überzeugung und das Wissen, das ihnen zuteil wurde, strahlten die Perlenträger eine hohe Selbstsicherheit und Autorität aus. Kaum jemand zweifelte daran, dass sie im Auftrag des Herrn der Welten auftraten.
* Je länger Sardaengar seine mentalen Sinne schweifen ließ, desto besser konnte er sich konzentrieren. Er fühlte, wie auch die letzten Reste der Lethargie von ihm abfielen, das Licht in ihm war nahezu erloschen. Wie lange, konnte er nicht sagen, denn er hatte nach wie vor nicht die Kraft, die fremde Macht zu vertreiben. Aber er wollte diesen Augenblick nutzen, um Kräfte zu sammeln. Und Informationen zu erhalten. Bei seinem Streifzug entdeckte der Dunkle plötzlich Fremde. Es waren zweifelsohne Neuankömmlinge, die es in die Obsidian-Kluft verschlagen hatte. Sie hatten sich mit einigen Einwohnern zusammengetan und befanden sich auf der Wanderung. Sardaengar berechnete ungefähr ihr Ziel anhand der Richtung, die sie eingeschlagen hatten. Er spürte in ihren Gedanken, was sie vorhatten. Aller Wahrscheinlichkeit nach führte sie ihr Weg nach Helmdor. Dahinter lag Mertras, das Land der Silbersäulen. Seine Heimstatt. Der Uralte hätte gerne intensiver in den Gedanken der Neuankömmlingen geforscht, aber er durfte sich nicht zu früh verraten und sie warnen. Es war wichtig herauszufinden, was sie vorhatten.
* Talpeddo bereitete die Abreise der Gruppe vor, was bedeutete, er erteilte seinem Assistenten und der wiederum den Dienern des Gefolges den Befehl, alles Notwendige für die Fahrt zu unternehmen. Alles musste schnell und perfekt erledigt werden. Sitzplätze wurden reserviert und das Gepäck auf
Tamilijon die drei Waggons verteilt, die ausschließlich den Perlenschleifern vorbehalten waren. Talpeddo konnte sehr ungeduldig werden, wenn man seinen Wünschen nicht sofort nachkam. Als der Assistent, ein VarganenHalbling, weitere Auskünfte einholen wollte, hetzte Talpeddo seine Lieblings-Gundgie Rura auf ihn. Das massige Weibchen fletschte seine langen Dolchzähne. Nachdem Rura den Assistenten in die Flucht geschlagen hatte, kam sie mit hoch erhobenem Schwanz zurück und ringelte sich schnurrend zu Füßen ihres Herrn zusammen. Ihr haarloser, muskelbepackter Körper schimmerte schwarz wie Obsidian mit einigen grauen Tupfen darin. Die Haut des Gundgie fühlte sich an wie rauer Fels. »Wie sieht es aus?« Esturin Virol kam in Talpeddos Gemach. »Ich habe alles arrangiert«, antwortete Talpeddo und kraulte Ruras Nacken. Esturin Virol ließ sich neben ihm in einem bequemen Sessel nieder. Ein Diener brachte unaufgefordert die dampfende Wasserpfeife und reichte dem Perlenträger das goldene Mundstück. Esturin Virol nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch stoßweise aus. In seine Augen trat ein orangefarbener Glanz, ähnlich Verdrans Glut am Himmel. »Hoffentlich klappt das auch mit den Plätzen«, fuhr Esturin nach einer Weile mit sanfter Stimme fort. »Ich möchte nicht wieder so unbequem reisen wie das letzte Mal.« »Sicherlich wird dieses Mal alles zu unserer Zufriedenheit erledigt«, versicherte Talpeddo und grinste schelmisch. »Ich habe dem Eigentümer der Bahn die Entziehung der Lizenz angedroht.« Er griff in eine Schale zu seiner Rechten, die gefüllt war mit giftgrünen Stachelbeeren, und warf sich zwei Früchte in den Mund. Gleich darauf begannen seine Augen heftig zu tränen, und er schnappte nach Luft. Seine Gesichtszüge entspannten sich kurz darauf. Uramanya streckte den Kopf zur Tür herein. »Müsst ihr ständig euren Verstand benebeln? Das ist eine Schande für unsere Gil-
21 de!« »Keineswegs«, erwiderte Esturin Virol. »Nicht alle sind so arm beseelt wie du.« »Ich diene dem Herrn der Welten.« »Wir doch auch, aber müssen wir deswegen in Askese leben? Wir tun doch nichts Verbotenes, mein Lieber, sondern das, was uns zusteht zur Erleichterung unseres schweren Amtes.« »Da wir gerade von Seelen und dem Herrn der Welten sprechen«, platzte Talpeddo aufgeregt heraus, »ich glaube, Sardaengar nimmt gerade Kontakt mit mir auf … Ohhh …« Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und sank dann schlaff in seinem Sitz zusammen. Die beiden Perlenträger starrten ihn verblüfft an. »Eine Überdosis …«, vermutete Uramanya abfällig. »Nein, das glaube ich nicht.« Esturin Virol tastete mit den Fingern an seine Lippen und verharrte in ehrfürchtigem Staunen.
* Ehrwürdiger, mächtiger Herr der Welten, ich bin Euer untertänigster Diener und werfe mich vor Euch in den Staub … Halte ein! O großer Herrscher, ich spüre Euren göttlichen Atem, fühle Euren heiligen Zorn … Genug! Ich habe einen Auftrag für dich und die anderen, Talpeddo. Selbstverständlich, Herr. Alles, was Ihr wünscht. Ihr werdet Narador noch nicht verlassen. Wir sind auf dem Weg nach Helmdor, hohe Göttlichkeit, in Euren Diensten. Der Plan hat sich geändert. Ihr werdet bleiben und warten. Selbstverständlich, Herr. In einigen Tagen wird eine Gruppe Fremder eintreffen. Es sind sechs, davon zwei Frauen. Du wirst sie erkennen, wenn du sie siehst. Was soll mit ihnen geschehen?
22
Susan Schwartz
Sie werden den Zug besteigen und nach Helmdor fahren. Ihr werdet mitreisen und sie unter Beobachtung halten. Aber unauffällig, hast du verstanden? Sie dürfen es nicht merken. Unternehmt nichts, bevor ich es euch sage. Jawohl, Herr. Jetzt unterrichte deine Gefährten und befolgt meinen Befehl. Ja, Herr. Danke, dass Ihr mich auserwählt habt, Eure Botschaft in Empfang zu nehmen. Eine wahrlich große Ehre für mich.
* »Was hat er gesagt?«, fragte Esturin voller Ungeduld. Talpeddo setzte sich auf und hielt sich den Kopf. Er seufzte und stöhnte, bevor er in der Lage war zu antworten. »Der Herr hat zu mir gesprochen!«, verkündete er stolz. Uramanya verdrehte die Augen. »Das haben wir auch schon bemerkt, Talpeddo. Was hat er dir offenbart?« Talpeddo berichtete wortgetreu, was Sardaengar den Perlenträgern aufgetragen hatte. »Wir müssen also von jetzt an Ausschau nach dieser Gruppe halten«, überlegte Uramanya laut. »Das dürfte nicht allzu schwierig sein, sicher werden sie gemeinsam die Passage buchen. Trotzdem werden wir Anweisung an unser Gefolge erteilen, die Augen offen zu halten.« Talpeddos Assistent stürzte herein. Er sah ziemlich geschafft aus, aber auch erleichtert. »Herr, ich habe alles arrangiert! Es war nicht einfach, weil der Zug vollkommen ausgebucht ist, aber es wird alles zu Eurer Zufriedenheit sein!« Talpeddo winkte mit einer Hand ab. »Storniere es.« Der Assistent blieb stehen und starrte seinen Herrn mit großen Augen an. »W … was?«, stammelte er. »Bist du taub?«, schnaubte Talpeddo. »Drücke ich mich unklar aus? Ich sagte, storniere es! Wie du das machst, ist deine
Sache. Wir werden noch einige Tage bleiben. Und wenn wir abreisen, brauchen wir drei Waggons – egal, ob sie ausgebucht sind oder nicht, verstanden? Unsere Abreise kann ganz plötzlich sein, zu jeder Zeit! Verstanden?« »Wie soll ich das nur schaffen?« »Das ist dein Problem! Hör auf, dich zu beklagen, oder du wirst auf keiner einzigen Vinara-Welt je wieder Arbeit finden! Sei froh, dass du in unserem Staub wandeln darfst – und jetzt raus hier!« Rura öffnete ihr Maul, in dem ein halber Blues-Kopf Platz gefunden hätte. Sie gähnte herzhaft, wobei sie ihre langen Dolchzähne provozierend vorreckte. Der Assistent stürzte hinaus, und die drei Perlenträger konnten sein verzweifeltes Jammern draußen auf dem Gang hören. »Sie wollen also nach Helmdor.« Esturin Virol kratzte sich am Hut. »Wieso wollen die Fremden ausgerechnet dorthin? Und woher kommen sie überhaupt?« Er blickte Talpeddo auffordernd an. »Und wieso wählt unser Herr ausgerechnet dich als Empfänger? Das ist doch noch nie geschehen. Er hat immer mir den Vorzug gegeben.« Er wiegte düster seinen Kopf. »Seltsame Dinge geschehen dieser Tage …«
* Die Dinge auf Vinara waren geregelt. Aber das war nicht alles; der Uralte Sardaengar hatte vor kurzem auf Vinara Vier jemanden aufgespürt, den er durch seine Aura als ehemaligen Ritter der Tiefe identifizierte – und erkannte: den Arkoniden Atlan. Sardaengar hatte keinerlei Vorstellung, weshalb Atlan hier war, und hielt den Arkoniden regelmäßig unter Beobachtung. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass der Unsterbliche inzwischen vom Träger eines Mondsplitters begleitet wurde. Dieser konnte allerdings kein Wächter des Litrak-Ordens sein, denn diese waren schon lange tot. Das bedeutete, dass der Träger den Kristallstab unrechtmäßig an sich genom-
Tamilijon men hatte – aber woher hatte er ihn, und was hatte er damit vor? Zu seiner Erleichterung bemerkte Sardaengar auf seiner mentalen Suche, dass der »Dieb« bereits verfolgt wurde – von einer Gruppe Perlenschleifern. Der Herr der Welten verstärkte die Konzentration und nahm mentalen Kontakt zu einem der Verfolger auf. Der Mann zuckte zusammen und wäre beinahe gestrauchelt, aber er antwortete umgehend: Wie kann ich Euch dienen, Herr? Wer ist der Stabträger, den ihr verfolgt? Tamiljon, Herr. Allerdings haben wir ihn aus den Augen verloren und suchen nach seiner Spur. Ich werde euch den Weg weisen. Doch seid vorsichtig, er ist nicht mehr allein, sondern wird von einem sehr gefährlichen Mann begleitet. Verfolgt die beiden, greift sie jedoch nicht an, sondern bleibt in ausreichendem Abstand. Sie dürfen euch nicht bemerken. Jawohl, Herr. Wir warten auf Euren Befehl. Sardaengar brachte die Gruppe auf den richtigen Weg und erteilte noch einige Anweisungen, bevor er sich wieder zurückzog. Der Uralte Sardaengar wusste, dass es diesmal nicht damit getan war, seine Handlanger loszuschicken. Er musste etwas unternehmen, bevor die ihn heimsuchende Macht zu stark wurde. Sardaengar spürte bereits erneut, wie sein Widerstand schwächer wurde und das Licht in ihm aufflackerte. Das bedeutete, er musste sich Verbündete suchen. In der »Vergessenen Positronik« hatte er eine Präsenz entdeckt, die die Ausstrahlung eines Imaginären besaß. Das beunruhigte, erschreckte ihn sogar. Er wusste noch nicht, wie er sich dazu stellen sollte. Vorerst war es besser, sich dem Wesen nicht zu offenbaren, solange er nicht mehr wusste. Dem Uralten Sardaengar blieb keine andere Wahl. Er verließ Grataar, seine Bastion im Herzen des Ograhan-Obsidiangebirges, in Mertras, dem Land der Silbersäulen. Und
23 er machte sich auf den Weg durch die raue Gebirgsregion zu einem ganz bestimmten Obsidiantor …
5. Lethem da Vokoban Es gab nur einen schmalen Pfad, der über steiniges, karstiges Gebiet führte. Ein rauer Wind herrschte, und es regnete wieder einmal. Die Gestrandeten zogen frierend die Kleidung enger um sich und stapften schweigend dahin. Kythara führte die kleine Gruppe an; ihr schien das unfreundliche Wetter nichts anhaben zu können. Das varganische Naturell war sehr robust und widerstandsfähig – Hitze, Kälte und Schmerz konnten einen Angehörigen dieses Volkes kaum beeindrucken. Auf dem Pfad bildeten sich bald kleine Rinnsale, die zwischen den Steinbrocken dahinflossen. Scaul Rellum Falk tat sich schwer unter diesen Bedingungen. Seine mangelnde Kondition machte sich immer mehr bemerkbar. Auf der TOSOMA war der Terraner für die schiffsinterne Kommunikation zuständig und Zweiter Stellvertreter des Kommandanten. Es war fraglich, ob er jemals zuvor an einem Außeneinsatz teilgenommen hatte. Auch der auf Vinara geborene, schwer gebaute Springer Ondaix war kein Freund ausdauernder Fußmärsche. Immer wieder fluchte er vor sich hin und gab seinem Missfallen Ausdruck. Der Luccianer Zanargun war ein Kämpfer, wie er im Buche stand; er scheute keine Herausforderung und passte sich klaglos jeder Situation an. Da seine gedrungene, massige Gestalt an 1,5 Gravos gewöhnt war, hatte er mit der geringeren Schwerkraft auf diesem Planeten keine Probleme. Lethem da Vokoban, der Anführer der Gruppe, hatte aufgrund seiner athletischen, durchtrainierten Figur und seiner Selbstdisziplin keine Probleme mit solchen Unwegsamkeiten. Düstere Gedanken plagten ihn. Voller Selbstzweifel schritt er dahin und
24 schien weder Wetter noch unwegsames Gelände zu bemerken. Die Akonin Enaa von Amenonter versuchte, mit Kythara Schritt zu halten; ihr knabenhafter schlanker Körper schlotterte im kalten Regen, aber sie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Schließlich verschwand die Küste hinter einem Hügel. Es ging stetig bergab, auf eine bewaldete Region zu. Der Regen hörte wieder auf, die ersten Sonnenstrahlen drückten sich durch die Wolken. Der vom Meer hereinwehende Wind prallte am Hügel ab. Lethem blickte auf sein Chronometer, als plötzlich Stille eintrat. Er blieb augenblicklich stehen und sah auf. Seine Gefährten und er waren umzingelt worden. Wie aus dem Boden gewachsen standen mit Speeren bewaffnete Wesen um sie herum. Schlangenmenschen, schoss es Lethem durch den Kopf. Die Fremden waren Humanoide mit grünlich geschuppter Haut und reptiloid anmutenden Köpfen, deren Gesichter allerdings deutlich terranische Züge trugen. Sie trugen zweckmäßige, einfache Kleidung aus grob gewebten Stoffen. In ihren Gürteln steckten Waffen und Werkzeuge; Arme und Beine waren unbedeckt. Schuhe trugen sie keine, ihre kräftigen Reptilienfüße mit den langen, krallenbewehrten Zehen waren äußerst trittsicher. Einige der Wesen trugen Stammesnarben oder bunte Tätowierungen, andere hatten ihre haarlosen Köpfe und Gesichter mit Symbolen bemalt. Sie waren zu acht, und ihre Speerspitzen waren auf Lethems Gruppe gerichtet. Lethem da Vokoban hob vorsichtig seine Hände. »Wir kommen in friedlicher Absicht«, sagte er betont langsam. »Unser Boot ist gekentert. Wir sind auf dem Weg nach Bulak, um dort Hilfe zu erbitten.« Die Wesen zeigten zunächst keine Reaktion. Dann trat einer der Schlangenmenschen nach vorne, seine Arme waren scharlachrot gefärbt. Er richtete seine gelblich grünen Augen auf Lethem, die gespaltene Pupille weitete und verengte sich langsam. Er war
Susan Schwartz etwas kleiner als Lethem und wirkte keineswegs muskulös. Lethem spürte, dass der Schlangenmensch zu allem entschlossen war. Er zeigte keinerlei Angst. Deshalb waren sie gut beraten, keine falsche Bewegung zu machen. Er nahm an, dass die Schlangenmenschen nicht lange fackeln würden. Lethem schwieg vorsichtshalber; eine Wiederholung seiner Worte hätte aufdringlich oder überheblich wirken können. Er zuckte mit keiner Wimper, als plötzlich eine lange, gespaltene Schlangenzunge aus dem Mund des Schlangenmenschen schoss und Lethems Wange abtastete. Die Berührung war feucht und warm, sie verursachte ein leichtes Kribbeln. Der Arkonide widerstand dem Impuls, sich die juckende Wange zu reiben. Der Schlangenmensch zog seine Zunge wieder ein und drehte sich abrupt um. »Folgt mir«, forderte er die Gruppe auf, in dem auf Vinara üblichen Interkosmo-Kauderwelsch. Seine Stimme war rau, von leisen Zischlauten durchsetzt. Er warf einen Blick über die Schulter. »Unternehmt nichts, in eurem eigenen Interesse.« Lethem nickte seinen Gefährten zu. Sie sollten die Warnung beherzigen. Selbst jetzt griff die Maghalata nicht ein. Lethem schloss daraus, dass es wohl angebracht war, den Schlangenmenschen widerspruchslos zu folgen.
* Nach zwei Biegungen gelangten sie nach Bulak. Die Stadt lag mitten auf einer Lichtung in einer bewaldeten Schlucht. Ein- und mehrstöckige Häuser aus Stein und Lehmziegeln reihten sich der Straße entlang. Die Straßen führten alle zum Ortszentrum. In der Mitte befand sich ein großer Platz mit einer mächtigen Feuerstelle im Zentrum und einem Brunnen. Dort stand das größte Gebäude, vermutlich der Sitz des Stadtoberhauptes. Der Pfad führte abwärts auf direktem
Tamilijon Weg in die Stadt, wobei er zusehends breiter und besser begehbarer wurde, je näher sie kamen. Auf dem Platz im Zentrum der Stadt herrschte buntes Treiben. Lautes Kindergeschrei drang bis an ihre Ohren. Fast alle Bewohner der Stadt schienen zusammenzulaufen, um die Neuankömmlinge argwöhnisch zu bestaunen. Ein Raunen ging durch die Menge. Lethem und seine Gefährten wurden zum großen Haus geführt. Alle Blicke waren auf den Eingang gerichtet. Schweigen trat ein, niemand rührte sich. Lethem fühlte sich unwohl in seiner Haut, und seinen Gefährten erging es ebenso. »Was werden sie mit uns machen?«, flüsterte Falk Lethem zu. »Das werden doch hoffentlich keine Kannibalen sein oder so etwas?« »Wie kommst du denn darauf?«, zischte Lethem ärgerlich. »Hast du denn nicht die Schädel am Wegrand außerhalb der Stadt gesehen? Aufgespießt auf Speeren?« »Das waren keine menschlichen Schädel, Falk.« »Wozu dann der Aufwand?« »Zur Abschreckung, was sonst?« »Könnte auch ein Ritual sein … Ich meine … ich finde es unheimlich.« Lethem konnte den Terraner verstehen. Keiner von ihnen wusste, was mit ihnen geschehen würde. Vielleicht lebten die Schlangenmenschen aus gutem Grund so abgeschieden. Jeden Moment konnte einer zuschlagen … »Nur nicht nervös werden«, brummte Lethem seinen Gefährten zu. »Das gilt für euch alle!« Plötzlich geschah etwas Erstaunliches. Die große Tür des Gemeindehauses schwang auf, und ein farbenprächtig tätowierter Schlangenmensch trat heraus. Es war nicht erkennbar, ob es ein Mann oder eine Frau war, äußerlich waren die Geschlechter der reptiloiden Wesen nicht voneinander zu unterscheiden.
25 Die Menge wich einen halben Schritt zurück, einige neigten die Köpfe und murmelten ehrerbietige Grüße. Vermutlich handelte es sich um das Oberhaupt, das grußlos die Stufen herunterstieg und die Fremden in Augenschein nahm. Ohne ein Wort zu wechseln, drehte sich das Wesen wieder um und ging die Treppe wieder hinauf, oben angelangt, verharrte es in abwartender Haltung. Gleich darauf kam noch jemand aus dem Haus. Eine Frau! Lethem schätzte sie auf Mitte fünfzig. Sie war klein, gedrungen und fett. Mit schwerfälligen Bewegungen kämpfte sie sich die Treppe hinunter. Ihre Haut war wie Pergament und die Finger verkrüppelt. In diesem Augenblick spürte Lethem die Berührung einer warmen, weichen Hand auf seinem Arm. »Ich mache das«, sagte Kythara und ging auf die alte Vettel zu.
* Kytharas elegante weiße Kleidung war nach all den Geschehnissen schmutzig und abgerissen. Dennoch wirkte sie königlich, als sie sich vor die Gefährten stellte. Ihr hüftlanges Haar umspielte in einer leichten Brise ihre Taille, ihre Bronzehaut hatte den seidigen Glanz nicht verloren. »Ich bin Kythara«, sprach sie mit rauchiger Stimme und breitete die Arme in einer freundlichen, friedlichen Geste aus. Ein Raunen ging durch die Menge der Schlangenmenschen. Auch die alte Vettel zeigte sich sichtlich beeindruckt. »Die Maghalata!«, stieß sie mit krächzender Stimme hervor. »Ich kenne alle Geschichten über dich, hochgeehrte Lahamu, denn ich bin Adined, Heilerin und Schamanin der Bulaki. Das ändert natürlich alles!« Sie wandte sich dem Oberhaupt zu. »Freunde!«, rief sie voller Pathos und hob die Arme. »Lasst sie uns ehren!« Der Bann war gebrochen. Die Menge brach in Jubel aus, und die Scheu den Frem-
26 den gegenüber war wie weggeblasen. Lethem und seine Gefährten wurden mit Fragen überschüttet. Einige der Stadtbewohner fingen an, den Platz umzuwandeln. Sie schleppten Brennholz herbei, Obst und Gemüse. Ein ziegenähnliches Wesen wurde zur Feier des Tages geschlachtet. Im Nu standen große Schüsseln mit Salaten und Früchten auf Tischen. Die Gestrandeten wurden zur Tafel des Oberhauptes geführt. Man bot ihnen Platz an und forderte sie auf, von den Speisen und Getränken zu kosten. Lethem und seine Begleiter nahmen dankend an. Die Bulaki schafften Vorräte heran, zeigten stolz ihre Waffen, die aussahen wie kurze Speere und Messer. Ondaix' Streitaxt fand höchste Bewunderung. Lethem beobachtete, wie Kythara und Adined sich angeregt unterhielten. Er hätte gerne gewusst, worüber sie sprachen. Sie benötigten Fortbewegungsmittel für ihre weitere Reise. Die Maghalata verhandelte geschickt mit dem Stadtoberhaupt. Außerhalb der Stadt, auf einer großen Koppel, hatten die Bulaki ihre Lasttiere angebunden. Sie sahen aus wie Echsen, etwa drei Meter lang und muskelbepackt. »Die Tiere können bis zu einhundertzwanzig Kilometer am Tag zurücklegen«, erläuterte Kythara Lethem, der beim Anblick der Echsen nicht schlecht staunte. »Wie weit ist es von hier nach Narador?«, fragte Lethem. »Etwa achthundert Kilometer«, antwortete die Varganin. »Wir könnten es in vier Tagen schaffen.« »Die Bulaki geben uns die Tiere einfach so?« »Natürlich nicht. Aber das lass meine Sorge sein.« »Die Bulaki sind sehr gastfreundlich. Anfangs hätte ich das nicht erwartet«, stellte Lethem fest. Kythara nickte. »Man kann es ihnen nicht verdenken. Früher lebten sie in unmittelbarer Nähe anderer Siedlungen, wurden jedoch immer wieder ausgeraubt und umgebracht.
Susan Schwartz Du musst wissen, die Bulaki sind sehr geschickte Handwerker. Außerdem hat ihre Haut einen hohen Marktwert.« Lethem riss voller Entsetzen die Augen auf. »Nach dem, was du mir erzählt hast, wundere ich mich, warum sie nicht sofort jeden töten, der ihnen zu nahe kommt.« »Sie sind von Natur aus sehr friedfertig«, erklärte Kythara. »Ein fröhliches Volk, das gerne feiert. Das Streben nach Macht und Reichtum bedeutet ihnen nichts, sie können von dem leben, was die Natur ihnen gibt. Ihr einziger Stolz sind die Darrikki, ihre Reittiere. Die Bulaki zählen zu den wenigen auf diesem Kontinent, die die Darrikki züchten können. Der Handel mit den Tieren ist sehr einträglich. Wir müssen die Tiere nicht kaufen, sondern können sie uns für unsere Reise leihen.« Lethem überlegte. »Einverstanden. Sag dem Oberhaupt, dass zwei seiner Leute nach Narador mitreiten sollen. Sobald wir dort angekommen sind, brauchen wir die Tiere eh nicht mehr. Die Bulaki können anschließend mit den Tieren zurückkehren.« Der Arkonide hob erstaunt die Brauen, als Kythara plötzlich lachte. »Wieso gehst du davon aus, dass das Oberhaupt männlich ist?«, amüsierte sich die Varganin. »Oh, es ist … Man kann sie nicht voneinander unterscheiden«, stotterte Lethem peinlich berührt, was einen weiteren Heiterkeitsausbruch zur Folge hatte. »Nun, das ist eben eure Art, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen«, sagte Kythara beruhigend. »Aber lass dir gesagt sein, dass es überhaupt keine männlichen Bulaki gibt.« »Wie bitte?« »Ja. Es sind alles Frauen. Ohne Ausnahme.« Kythara zwinkerte Lethem zu und wandte sich an Adined, mit der sie offensichtlich noch einiges zu besprechen hatte.
* Am 13. April kamen sie vor den Toren Naradors an. Vor ihnen lag eine farben-
Tamilijon prächtige Küstenstadt mit einem bunten Flechtwerk an Geschäftshäusern, Märkten und Tavernen. Gewohnt wurde ausschließlich in den oberen Stockwerken, wobei sich die gesamte Stadt in ethnische Viertel aufteilte, die jeweils hauptsächlich von Springern, Blues, Akonen, Arkoniden und Leuten aus Narad, Viirae und Lullivant bewohnt wurden. Jedes Viertel besaß ein ganz eigenes Flair und unterschied sich durch artenspezifische Details. Ein Blue mochte staunend durch ein Viertel der Arkoniden gehen, und ein Springer amüsierte sich nirgends besser als in den Singhallen der Akonen. Allerdings gab es auch Bezirke, in denen ein buntes Vielvölkergemisch herrschte. Im großen Hafen lagen riesige Schoner, Galeeren und kleine Privatyachten vor Anker. Die Mannschaften setzten sich aus allen Teilen der Bevölkerung zusammen, und die Tavernen boten für jeden Geschmack genau das Richtige. Der Lärm, der im Hafen herrschte, war unübertrefflich; ebenso der Gestank nach Schiffsdiesel, vergammeltem Tang und verwesendem Fisch. Eine empfindliche Nase mochte die Piers und Molen meiden. In den engen Gassen des Hafenviertels mit seinen unzähligen Spelunken roch es nach warmen Speisen, Alkohol und Tabak. Dies alles erfuhren die Reisenden von den beiden Bulaki, noch bevor sie Narador erreicht hatten. Lethem glaubte ihnen jedes Wort, er freute sich jetzt bereits auf den aufregenden Duft des Hafenviertels. Ondaix schien ebenfalls begeistert zu sein. Er versuchte, seinen erschöpften Darrikki durch kräftige Tritte in die Flanken anzutreiben. Allerdings streikte das brave Tier, blieb stehen und schüttelte sich heftig. Zanargun strafte den Springer mit einem scharfen Blick. Es war ohnehin ein harter Ritt gewesen, und statt vier Tagen hatten sie fast fünf gebraucht. Bei Wind und Regen waren die Darrikki kaum vorwärts zu bewegen, hinzu kam, dass Scaul Rellum Falk nach einem Tag bereits einen wunden Hintern beklagte. Immerhin hatte der Terraner sich oben halten können, im Gegensatz zu
27 Ondaix. Durch seine forsche Art kam er öfters in Bedrängnis und wurde von seinem Reittier abgeworfen. Die Darrikki konnten auch stur sein. Es gab Situationen, in denen die Tiere unverhofft die Richtung wechselten und außer Kontrolle gerieten. Lethem und seine Gefährten waren im Umgang mit den Darrikki ungeübt und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Schließlich banden die Bulaki die Tiere aneinander und führten Lethems Gruppe an einer atemberaubenden, sturmumtosten Küste entlang. Die Reise von Bulak nach Narador war eine harte Prüfung für alle gewesen, und sie waren heilfroh, als sie die rauchenden Kamine der Stadt am Horizont entdeckten. Lediglich die beiden Bulaki schienen ihr Vergnügen gehabt zu haben. Sie lachten und sangen fast den gesamten Ritt über, bauten jeden Abend mit unerschütterlich guter Laune ein dürftiges Lager und verteilten die mitgenommenen Vorräte. Die Schlangenmenschen schienen völlig unempfindlich gegen das Wetter zu sein; der Regen perlte von ihrer grünlichen Schuppenhaut weitgehend ab und schien sie nicht zu unterkühlen, im Gegensatz zu den Darrikki, die mit quäkenden Lauten meckerten. Lethem und seine Gefährten schwangen sich aus den Sätteln ihrer Reittiere. Vor den Toren der Stadt verabschiedeten sie sich von den Bulaki und bedankten sich nochmals für die freundliche Gastlichkeit.
* Immerhin – ein Gutes hatte das Wetter: Auf Regen folgte stets Sonnenschein. Als Lethems Gruppe Naradors Stadttore passierte, schien die Sonne Verdran bereits mit voller Intensität vom Himmel und dampfte im Nu die ganze Nässe weg. Lethem beobachtete amüsiert die unsicheren Schritte seiner Gefährten; der lange Ritt hatte allen Schwielen und Muskelkater beschert. »Wie sieht es aus?«, fragte er in die Run-
28 de. »Benötigt jemand eine Ruhepause, oder wollen wir auskundschaften, wann der nächste Zug geht?« Sie waren sich sofort einig, so schnell wie möglich den Zug nach Helmdor zu erreichen. Während der langen Zugfahrt bestand ausreichend Gelegenheit, sich von den Strapazen zu erholen. Helmdor lag am Rand des Vorgebirges, das die Länder Narad und Viirae von Mertras, dem Land der Silbersäulen, trennte. Für die rund 1200 Kilometer Bahnlinie benötigte der Zug drei Tage. In Narador herrschte dichter Verkehr, bis zum Bahnhof brauchten sie eine gute Stunde zu Fuß. Lethems Gruppe machte auf niemanden besonderen Eindruck, sie unterschied sich kaum von allen anderen, die hier geschäftig unterwegs waren. Wie bereits bei den Bulaki kümmerte sich wiederum Kythara um die Passage. Die Varganin betrat den Bahnhof und sprang auf ein Laufband, das die Passagiere zu den jeweiligen Schleusen brachte. Als sie das Hinweisschild Helmdor entdeckte, verließ die Maghalata das Beförderungsmittel und begab sich direkt zur Schleuse. Sie reservierte sechs Sitzplätze und warf eine Hand voll Lithras in einen Schacht. Währenddessen warteten die restlichen Gefährten vor dem Eingang und beobachteten die Leute. Nach einer halben Stunde tauchte die Varganin vor dem Bahnhof auf. »Der nächste Zug geht leider erst morgen früh, aber immerhin können wir mitfahren. Ich hatte schon befürchtet, dass der Zug bereits ausgebucht ist, denn dummerweise ist eine Gruppe Perlenträger hier, die nicht weniger als drei Waggons in Beschlag genommen haben.« »Dann haben wir ja doch den Rest des Tages und die Nacht frei!«, freute sich Ondaix. »Wann, sagst du, geht der Zug?« »Pünktlich um sieben Uhr dreißig.« »Ich werde rechtzeitig da sein! Bis morgen!« Bevor ihn jemand aufhalten konnte, war Ondaix in der Menge verschwunden.
Susan Schwartz Lethem wollte ebenfalls die Stadt erkunden. »Wir treffen uns morgen früh um sieben Uhr, hier an dieser Stelle. Jeder kann bis dahin tun, was er möchte. Narador scheint eine Stadt zu sein, die alles bietet …« Keine zehn Sekunden später hatte sich die Gruppe getrennt.
* Als Lethem sich auf den Weg zum Bahnhof machte, war es noch dunkel. Am Himmel konnte er ein einmaliges Schauspiel beobachten, das seine Unruhe wachsen ließ. Brocken des »Obsidian-Rings« kollidierten mit dem Kristallmond. Die grell aufleuchtenden Explosionen waren weithin sichtbar. Am Bahnhof war noch nicht viel los. Die Dämmerung setzte gerade ein, als Enaa und Falk auftauchten; bald darauf fand sich der Rest der Gruppe ein. Auch Ondaix, der ziemlich Schlagseite hatte und voller Stolz verkündete, die Nacht voll ausgenutzt zu haben. »Wer weiß«, sagte er, »wie oft ich dazu noch Gelegenheit habe!« Dem widersprach niemand. »Schaut!«, rief Zanargun plötzlich und deutete zum Himmel empor. Am Horizont zeigte sich der erste rotgoldene Schimmer, doch im Zenit war der Himmel noch nachtblau. In rascher Folge fielen sieben Sternschnuppen vom Himmel. Das war kein gutes Omen. Lethem und seine Gefährten betraten die weitläufige, von der Morgensonne lichtdurchflutete Bahnhofshalle. Zum Bahnsteig auf der anderen Seite war sie völlig offen und gab den Blick frei auf ein schwarzes, dampfendes Ungetüm. Die Lokomotive sah aus wie die mechanische Nachbildung eines bizarren Drachen, mit vielen Aufbauten, spitzen Auslegern und fahl schimmernden »Schnuppen« aus Obsidian als Zierelemente. Die Scheinwerfer strahlten glutrot durch den überall austretenden, umherwabernden Dampf, der den Zug wie eine Aura umhüllte und die aufwändig gearbeiteten, verschnörkelten Verzierungen
Tamilijon der angehängten Waggons verzerrt hervortreten ließ. Aus dem Schlot quoll stoßweise schwarzer Qualm, alles war mit Ruß belegt. Die Lokomotive keuchte und stampfte. Bald würde die Fahrt losgehen. Auf dem Bahnsteig herrschte inzwischen dichtes Gedränge, jeder wollte der Erste auf seinem Platz sein, und die Anweiser hatten alle Hände voll zu tun, Streitigkeiten zu verhindern. Es trat erst etwas Ruhe ein, als ein großes Gefolge erschien. Kythara stieß Lethem leicht an und wies mit einem Kopfnicken auf die Neuankömmlinge. »Perlenträger«, sagte sie mit einer Spur Verachtung in der Stimme. Ondaix, der hinter ihr stand, griff unwillkürlich nach seiner Axt im Gürtel. Lethem hatte schon einiges über die berühmten »Perlenträger von Helmdor« und ihr Wirken im »Auftrag des Herrn der Welten« gehört, war zuvor aber noch keinem von ihnen begegnet. Sie ließen jeden spüren, dass sie sich als die absoluten Herren ansahen und die einzig wahre Macht besaßen. Ihr Auftreten verlieh dem Wort Arroganz eine ganz neue Dimension. Wer nicht rechtzeitig auswich, wurde beiseite gestoßen. Den Perlenträgern voraus gingen vier Blues, die mit Besen den Boden reinigten und riefen: »Platz! Macht Platz den Herren der Gilde, Botschaftern des Uralten Sardaengar, Hütern der Lithras!«. Nichts durfte die hohen Herren beschmutzen, niemand mangelnde Ehrerbietung und Demut zeigen. Die Gefolgschaft der Perlenträger zählte an die hundert. Die meisten waren Blues, aber auch etliche Vertreter anderer Völker waren unter ihnen. Die drei Perlenträger – sie schienen Arkonidenabkömmlinge zu sein – wurden in schaukelnden Sänften getragen. Sie trugen pechschwarze, knöchellange Roben mit weiten Ärmeln und hochgeschlossenem Stehkragen. Ihr herausragendes, unverkennbares Kennzeichen waren etwa fünfzig Zentimeter hohe, orangefarbene Hüte in Form von Obelisken. Über den Schultern
29 trugen sie Stolen, die beiderseits bis in Hüfthöhe reichten und dieselbe orange Farbe hatten. Am Ende der Stolen und an den Rändern der Hüte war das Symbol der Perlenträger abgebildet: die fünf Vinara-Welten, gekennzeichnet als schwarze Kreise, in einem gleichseitigen Fünfeck angeordnet, auf weißem Grund mit schwarzem Rand. Lethem sprang reflexartig zur Seite, als dicht neben ihm ein Blue schrillte: »Platz da, zur Seite! Gebt den Weg frei für die ehrenwerten Talpeddo, Esturin Virol und Uramanya, Herren der Gilde und Perlenträger!« Lethem hielt Zanarguns Arm fest, der nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren. »Wir sitzen im selben Zug, gefährde unsere Passage nicht, und errege vor allem keine Aufmerksamkeit!«, zischte er ihm zu. Mit provozierender Umständlichkeit verteilte sich das Gefolge auf die drei reservierten Waggons am Ende des Zuges, wo der Rußniederschlag am geringsten war. Die drei Arkonidenabkömmlinge ließen sich immerhin dazu herab, aus den Sänften zu steigen und auf eigenen Füßen ihren Waggon zu betreten. Sie machten dabei den Eindruck, als wäre ihnen die Umgebung völlig gleichgültig, als würden sie niemanden bemerken und wären ganz in ihre eigene Welt versunken. Sie hielten sich für etwas Besseres, das stand außer Frage. Dennoch hatte Lethem für einen kurzen Moment das Gefühl, als beobachte ihn ein Perlenträger mit einem gezielten Blick, kurz bevor er im Waggon verschwand. Hatte das etwas zu bedeuten? Lethem war jedenfalls alarmiert. Er wandte sich an Zanargun: »Wir müssen diese Leute beobachten. Wer weiß, ob das Zufall ist …« Immerhin standen sie im Dienst des Uralten Sardaengar, und Lethems Gruppe war zur Residenz des Herrn der Welten unterwegs. Da konnte es einen Zusammenhang geben. Der Arkonide wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Als das Gepäck der Perlenträger verladen war, die Gefolgschaft die Waggons betreten hatte, duften endlich die Reisenden einstei-
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gen. »Ist das immer so?«, rief Scaul Rellum Falk genervt und murmelte: »Meine Güte, wie kann man es nur auf so einer primitiven, völlig unorganisierten Welt aushalten …« Der Terraner wurde von den drängelnden Leuten nach vorn geschubst, die Stufen halbwegs hinaufgehievt und in den Gang getrieben. Es dauerte eine geraume Weile, bis die Gruppe in dem Durcheinander wieder zusammenfand. Ein schrilles, durchdringendes, lang gezogenes Pfeifen signalisierte den Start. Die Lokomotive erwachte zu Feuer speiendem Leben. Die Kraft wurde über die Treib- und Kuppelstangen auf die Antriebsachsen übertragen, und die Kuppelräder setzten sich in Bewegung. Als die Bremse gelöst wurde, reagierten die geschmierten Laufräder sofort. Anfangs schien es, als könne die Lokomotive die Kraft nicht aufbringen, die vielen Waggons zu ziehen. Lautes Fauchen und Ächzen war zu hören. Allmählich bewegten sich die Kolben immer schneller, der Schornstein stieß eine gewaltige schwarze Wolke aus. Ein scharfer Ruck erschütterte die Passagiere, danach gewann der Zug allmählich Fahrt.
* Falk und Enaa waren nicht gerade begeistert, als Kythara gestand, dass sie keine Sitzplätze reserviert hatte. »Ich habe alles versucht, glaubt es mir«, versicherte die Varganin, aber das war nur ein schwacher Trost. Der Zug war hoffnungslos überfüllt, mit Ausnahme der drei Waggons, die die Perlenträger mit Beschlag belegten. Sich dort einzuschleichen war unmöglich, denn der Zugang wurde streng bewacht. Lethem und den anderen blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach einer Sitzgelegenheit zu machen. Sie durchwanderten Waggon um Waggon, vorbei an ungeduldigen Passagieren. Dabei entdeckten sie sanitäre Einrichtungen, die jedoch stän-
dig umlagert waren, so dass Zanargun verkündete, er würde sich sehr zurückhalten und lieber bis zum nächsten Halt warten. Ondaix lachte dröhnend. Er schlug vor, sich im Notfall seitlich nach draußen an den Zug zu hängen. Je weiter die Gruppe in die Nähe des Zugwagens kam, desto weniger Passagiere standen auf den Gängen. Kein Wunder, die Luft war rauchverpestet, der Lärm der Lokomotive drang bis hierher durch, und die Waggons rüttelten stärker als die anderen. Im vordersten Waggon, gleich hinter der Lok, fanden sie endlich freie Plätze in einem Abteil. Dort saß bereits eine lustige Gruppe Viin unbekannter Herkunft, deren Gesichter rußverschmiert waren, weil sie vergessen hatten, das Fenster zu schließen. Sie waren guter Dinge, was sicherlich an dem gelbfarbenen, kohlensäurehaltigen Getränk lag, das sie geradezu in sich hineinschütteten. Als sie Lethems Gruppe entdeckten, luden sie sie lautstark ein, sich zu ihnen zu gesellen. »Wir heißen Didaw, Raut, Effried und Ernsth«, stellten sie sich vor. »Wir sind unterwegs nach Achin beim Hain Elkarin.« Enaa hob die Augenbrauen. Didaw beugte sich vor und deutete zum Himmel. »Habt ihr bemerkt, dass etwas Bedeutendes vor sich geht? Wir sehen verglühende Himmelskörper und Eruptionen auf dem Kristallmond. Ein seltsames schwarzes Band hat sich gebildet, wie eine tödliche schwarze Schlange, die ihren Würgegriff langsam zuzieht. Das alles sind bedrohliche Vorzeichen.« Die anderen nickten zustimmend. »Etwas Schreckliches wird auf uns zukommen«, bemerkte Raut, und Effried fügte hinzu: »Es wird alles verändern.« Für einen Moment herrschte betretene Stille, denn jedem war klar, dass dies nicht Aberglaube oder hysterische Prophezeiung, sondern schlicht die Wahrheit war. Und was Lethem am meisten beschäftigte, war, dass sie nicht wussten, was das für die ObsidianKluft bedeutete – und ob sie überhaupt die Chance hatten, wieder nach Hause zu kom-
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men. Auch Atlan war noch immer verschwunden; ohne den Unsterblichen war eine Abreise, sollte sie möglich werden, undenkbar. »Und wohin fahrt ihr?«, wollte Ernsth wissen. »Nach Helmdor«, antwortete Lethem. »Das trifft sich gut! Da könntet ihr doch eine kurze Rast im Hain einlegen. Ihr seid herzlich eingeladen, euch uns anzuschließen!« »Danke, aber wir müssen umgehend weiter«, lehnte der Arkonide höflich ab. »Und wohin, wenn ich fragen darf?« Lethem fühlte sich unwillkürlich an einen Reporter Arkons erinnert; diese Leute waren niemals »außer Dienst« und witterten sofort interessante Neuigkeiten, die verbreitet werden mussten. Wenn dieser Mann eine ähnliche Gesinnung hatte, bedeutete das, besser eine Antwort zu geben, die ihm weitere Rätsel aufgeben und ihn erst mal beschäftigen würde. »Nach Mertras, ins Land der Silbersäulen«, antwortete der Arkonide. Jeder im Abteil riss die Augen auf, auch seine eigenen Gefährten, die mit dieser direkten Auskunft nicht gerechnet hatten. »Dann sucht ihr am Ende nach dem Uralten Sardaengar, dem Herrn der Welten?«, stieß Didaw schließlich hervor und fing an zu lachen. »Das haben schon eine Menge versucht, mein Freund. Viel Glück dabei, das könnt ihr brauchen.« Er wackelte mit seinen buschigen schwarzen Brauen und richtete seinen Blick auf Ondaix, der sehnsüchtig auf sein halb volles Glas starrte. Er reichte dem Springer das Glas. »Zum Wohl«, sagte er breit grinsend. »Du wirst es brauchen.«
* Die Zeit verging sehr schnell. Lethems Gruppe hatte ausreichend Gelegenheit, sich von den bisherigen Strapazen zu erholen. Die Mitreisenden boten jede Menge Unterhaltung, bis hin zum Moritaten-Gesang.
Sie fuhren durch urwüchsige Wälder, an Felsenregionen und steil abfallenden Schluchten vorbei. »Ich bin sehr froh, dass wir nicht gezwungen sind, zu Fuß zu gehen«, bemerkte Scaul Rellum Falk zufrieden und lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück. Schließlich wurde das Gelände ebener, und als sie die Wälder hinter sich ließen, ging es durch liebliches Grasland. Der Zug gewann auf der schnurgeraden, ebenen Strecke mit einem Mal deutlich an Fahrt. »Wir erreichen bald Iszuma.« Ernsth blickte aus dem Fenster. Die Sonne Verdran überzog das Land mit einem intensiv orange leuchtenden Licht. »Man nennt sie auch die Grüne Stadt, denn sie ist sehr offen und weitläufig, die Häuser sind in die Landschaft eingepasst. Hauptanziehungspunkt ist der riesige Markt. Die Leute kommen von überall her, um dort ihre Waren zu verkaufen oder zu tauschen. Iszuma ist sehr zentral gelegen mit seinen vier großen, gut ausgebauten Ausfallstraßen und der Bahnlinie, die für jede Menge Warentransporte sorgt …« »Die haben noch Fracht dabei? Wo ist die untergebracht?«, unterbrach Zanargun. »Zwischengelagert«, antwortete Ernsth und deutete auf Decke und Boden. »Deshalb sind die Abteile ja auch so niedrig und eng. Sogar Lebendfracht wird da hineingestopft – fragt nicht, in welchem Zustand manche Tiere ankommen …« »Barbarisch«, brummte der Terraner. Der Bahnhof von Iszuma lag am östlichen Stadtrand. Schon von weitem war die Menschentraube sichtbar, die auf das Eintreffen des Zuges wartete. Die Lok stieß einen hohen Pfiff aus und verlangsamte die Fahrt. Der einfahrende Zug hielt mit lautem Zischen auf Höhe einer großen Plattform. Über die Sprechanlage wurde durchgegeben, dass der Aufenthalt etwa eineinhalb Stunden dauern würde. Genug Zeit, sich etwas die Beine zu vertreten. Bewegung geriet in die Menge, als die Türen aufgingen und die Reisenden aus den Waggons strömten.
32 Gleichzeitig wurde mit dem Entladen der mitgeführten Waren begonnen, und es rumorte und scharrte überall im Zug. Die Waggons wackelten wie ein Schoner auf See. Lethem wartete ab, bis sich der größte Trubel gelegt hatte. Der Arkonide verließ den Zug, ging um die schnaubende Lok herum, die ihn auf befremdliche Weise mit ihren rot glühenden Scheinwerfern zu verfolgen schien, und kletterte über das Gleis auf die andere Seite. Das Land lag weit ausgebreitet vor ihm. Dunkle Bergketten zeichneten sich am Horizont ab, dazwischen waren Wälder zu erkennen, und einige Flüsse durchfurchten blühende Wiesen. Froh darüber, endlich seine Beine strecken und wieder rußfreie Luft atmen zu können, ging Lethem einige Schritte am Gleis entlang. Langsam versank die Landschaft in der Dämmerung. Das Durcheinander auf der Plattform schien kein Ende nehmen zu wollen. Lethems Blick wurde von etwas Ungewöhnlichem am Himmel abgelenkt. Der 2. Pilot der TOSOMA hatte schon von den Goldenen Technostädten gehört, sie aber noch nie gesehen. Gleich drei davon schwebten in unterschiedlicher Höhe über der Stadt und dem Land. Es waren gewaltige, mehrere Kilometer durchmessende und mehrere hundert Meter hohe goldene Plattformen. Sie hingen schwerelos in der Luft und zogen langsam dahin. Wie die künstlerische Skulptur eines Wolkenschlosses, das auf gigantische Maße umgesetzt worden war. Lethem erkannte zierliche Türmchen, Zwiebelkuppeln, verschnörkelte Aufbauten in Glas und Porzellan; gläserne Brücken, Viadukte, Arkaden. Die Fassaden wurden durch Balkone, Erker und dicht bepflanzte Terrassen aufgelockert. Lange, in alle Richtungen ragende Kristallstacheln wurden von blauweißen Entladungen und Lichtbogen umzuckt. An Seifenblasen erinnernde, bis zu dreißig Metern durchmessende »Sphären« umperlten in Gruppen die Plattformen, schienen zu lan-
Susan Schwartz den, stiegen wieder auf und verschwanden teilweise spurlos. Lethem musste sich eingestehen, niemals zuvor so etwas ästhetisch Vollkommenes gesehen zu haben. Ganz in seiner Nähe, in etwa dreißig Metern Höhe, hing eine der Goldenen Technostädte. Lethem sah fliegende, gold- und messingfarbene, ovalförmige Roboter mit je zwölf Tentakelarmen oben und unten. Die obere Polkalotte leuchtete auf die Entfernung wie ein facettierter Rubin; vermutlich befanden sich dort die Sensoren und das »Gehirn«. Sie sahen aus wie die Roboter, denen er nach der Bruchlandung der TOSOMA bereits einmal begegnet war. Was diese Roboter dort taten, war für Lethem allerdings nicht erkennbar. Lebewesen schien es keine zu geben, der Arkonide konnte zumindest niemanden entdecken. Lethem wandte den Kopf. Die Maghalata steuerte direkt auf ihn zu. »Wozu mögen sie nur gut sein?«, fragte er und deutete auf die Städte. »Das weiß niemand«, antwortete die Varganin. »Es gibt sie schon immer, sie erhellen unsere Nächte und erfreuen unser Auge bei Tag. Die Städte ziehen einfach so dahin. Wir können sie nicht betreten, Lethem, und du solltest besser ebenfalls nicht daran denken. Ich habe gehört, dass die Ovalroboter sofort angreifen. Oder man löst sich einfach in Luft auf. Jedenfalls ist bisher jeder Versuch gescheitert, denn niemand kehrte je zurück.« Lethem runzelte die Stirn. Kythara, die nur wenig kleiner war als er, warf ihm einen strengen Blick zu. »Ich kenne dieses seltsame Glitzern in deinen Augen und die plötzliche Feuchtigkeit darin. Ich warne dich, mein Freund – versuche nichts Unüberlegtes. Ohne eure Technik, von der du mir berichtet hast, kannst du hier nichts ausrichten.« »Wir werden sehen«, meinte der Arkonide leichthin. »Warte es ab.«
* Die Zeit in Iszuma verging schnell. Als
Tamilijon der erste Pfiff ertönte, leerte sich der Bahnsteig allmählich. Lethem kehrte als Letzter ins Abteil zurück, er hörte Scaul Rellum Falk berichten: »… einen Blick riskiert. Luxuriös, kann ich euch nur sagen! Die müssen die Waggons schon länger reserviert haben, denn solche Umbauten kann man nicht so schnell vornehmen.« »Redest du von den Perlenträgern?«, fragte Lethem. Der Terraner nickte. »Ich denke, die haben ihre Abreise tagelang geplant und vorbereitet, bis sie tatsächlich aufgebrochen sind.« »Ist das normal?«, fragte Zanargun. Enaa hob die Schultern. »Bei den Perlenträgern weiß man nie. Sie lassen niemanden in ihre Nähe, wickeln sogar den Handel über ihre Gefolgsleute ab. Ich weiß nicht, ob alle so pompös leben wie diese drei, aber ich denke, wer so viel Wert auf Luxus legt, kann nicht sehr spontan und flexibel sein.« »Hm.« Lethem legte die Stirn in Falten und zwirbelte nachdenklich seinen langen, eisgrauen Schnurrbart. Die Flügel seiner schmalen Nase weiteten sich leicht. »Worüber denkst du nach?«, fragte Enaa neugierig. »Es ist nur so ein Gefühl«, meinte Lethem und gab Enaa mit einer Geste zu verstehen, dass er sich im Beisein der Fremden nicht weiter darüber auslassen wollte. Irgendetwas sagte ihm, dass die Anwesenheit der Perlenträger kein Zufall sein konnte. Der Zug fuhr an und ließ bald das helle Strahlen der nächtlich beleuchteten Stadt hinter sich zurück. Lethem verrenkte sich halb den Kopf, denn er wollte noch einmal einen Blick auf die Goldenen Technostädte erhaschen. Der qualmende Schlot verwehrte ihm die Aussicht. Schnell schloss er das Fenster und klopfte sich ab. Schon bald tauchte der Zug vollends in die Dunkelheit ein, von außerhalb betrachtet mochte er wie ein glühender Feuerwurm wirken, der einsam seinen Weg durch die Nacht suchte. Es ging in schnellem Tempo weiter, der nächste Halt fand bereits kurz vor der Däm-
33 merung statt. Eine Durchsage kündigte die Ankunft im Hain Elkarin an, zu dieser Zeit schliefen die meisten der Mitreisenden noch. Didaw und seine Freunde packten in Windeseile ihre Sachen zusammen und verabschiedeten sich in ihrer lautstarken, herzlichen Art von Lethem und den restlichen Gruppenmitgliedern. Der Zug war noch nicht zum Stillstand gekommen, als sie bereits aus dem Waggon sprangen. Sie winkten ein letztes Mal und verschwanden rasch in der Dunkelheit. Der Halt dauerte diesmal nicht lange, nur wenige Leute stiegen aus. Einige Reisende warteten darauf, einsteigen zu können, Waren wurden be- und entladen, dann ging es schon weiter. Lethem konnte durch den Qualm erkennen, dass der Bahnhof mitten in einem Wald lag, mit hohen, schlanken Bäumen. Ihre Rinde war glatt und hatte eine grünlich-gelb fluoreszierende Maserung. Zwischen den Bäumen hindurch zogen sich beleuchtete Pfade; Leitern und Treppen führten in höhere, teilweise ebenfalls beleuchtete Regionen. Schon hatten sie den Hain wieder verlassen; der Zug ratterte mit hoher Geschwindigkeit weiter. Fahrplangemäß würden sie die vorletzte Station Qild gegen Nachmittag des 15. April 1225 NGZ erreichen.
* Als sie kurz vor Qild waren, bemerkte Lethem eine sonderbare Unruhe bei Kythara. »Was ist das für ein Halt?«, wandte er sich an Enaa. »Man nennt Qild den Ort der Kraft«, antwortete die junge Akonin. »Es gibt dort einen Steinkreis, dem mystische Kräfte nachgesagt werden. Mehr weiß ich auch nicht.« Lethem nickte und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Landschaft draußen. Das Gleis schlängelte sich durch liebliche Auen an einem Fluss entlang, der sich vielfach verzweigte und dazu einlud, mit dem
34 Boot die Seitenarme zu ergründen. Und genau hier, mitten im Nichts, war auf einer blühenden Wiese ein kleiner Bahnhof eingerichtet worden, mit einem Wasserspeicher und großen Behältern voller Holz und Kohle. Die Lokomotive hatte schon lange vorher die Fahrt verlangsamt und fuhr im Schritttempo an den schmalen, etwa fünfzig Meter langen Steig heran. Laut Fahrplan ging die Fahrt mit Einbruch der Dunkelheit weiter. Der Bahnhof war kaum mehr als eine schlichte Holzhütte, bot jedoch alle Annehmlichkeiten – Restaurants, Bäder, Souvenirläden. Mit Ausnahme der Perlenträger verließen alle Reisenden den Zug. Ondaix schlug vor, essen zu gehen, er hatte noch einige Lithras übrig, die nicht im Iblad-Meer versunken waren. Der Aufforderung kamen sie gerne nach. Nach der Mahlzeit ging jeder seiner Wege. Die liebliche Landschaft lud geradezu zu einem Spaziergang ein. Lethems Streifzug führte ihn durch einen kleinen, künstlich angelegten Hain. In einiger Entfernung erkannte er Kythara, die jenseits des Gleises mit schnellen Schritten zwischen den Bäumen verschwand. Von einem unbestimmten Gefühl getrieben, sah Lethem sich rasch um und folgte der Varganin heimlich. Die Maghalata kannte sich offensichtlich hier aus. Sie ging zielsicher zwischen den Bäumen hindurch, abseits aller Wege, und strebte in eine ganz bestimmte Richtung. Lethem achtete darauf, nicht bemerkt zu werden. Er wusste, dass das, was er tat, keinesfalls richtig war. Nachdem er seinem ersten Impuls nachgegeben hatte, wollte er unbedingt herausfinden, was die Varganin vorhatte. Sie erreichten eine Lichtung an einem idyllischen Waldsee. Dort erhob sich der von Enaa beschriebene Steinkreis mit seinen fünf schätzungsweise sechs Meter hohen Menhiren aus grob behauenem Obsidian. Über ihren kristallin wirkenden Spitzen
Susan Schwartz tanzten kleine blauweiße Entladungen und Blitze. Lethem verbarg sich hinter einem Baum und beobachtete, wie Kythara langsam in den Kreis ging, dort einen Moment verharrte und sich umsah. Dann setzte sie sich langsam nieder, schloss die Augen und hob die Arme in Meditationshaltung. Eine Zeit lang geschah gar nichts. Lethem wartete geduldig und beobachtete jede Veränderung, jedes Zeichen. Verdran stand bereits tief am Horizont, und ein kühler Wind kam auf, als plötzlich die Anzahl der Entladungen über den Menhiren zunahm. Die Blitzstrahlen wurden immer länger, verästelten sich, verbanden sich miteinander und manifestierten sich in einem pulsierenden Glühen, bis sich eine Art Kuppel aus gleißendem Licht über dem Kreis bildete, in dessen Zentrum die Varganin saß. Lethem wollte seine Deckung verlassen, Kythara retten, als sich aus zwei Menhiren Blitze lösten und direkt in Kytharas ausgestreckte Arme einschlugen. Der Arkonide erkannte, dass die Varganin nicht verletzt wurde, sie schien es nicht einmal zu bemerken – oder führte dies sogar absichtlich herbei. Lethem wusste weder etwas über Kytharas Vergangenheit noch über sie selbst und ihre Fähigkeiten. Er wusste, dass es eine Menge Legenden gab, aus denen sich ihre vielen Beinamen ableiteten und der Respekt, mit dem man ihr begegnete. Auch aus den anderen Menhiren schlugen nun Blitze in ihre Arme ein, streiften daran entlang, bis sie in den ausgestreckten Fingern das richtige Ziel fanden. Die Blitze bildeten feine Verästelungen, und die Finger der Varganin wurden in ein glühend pulsierendes Licht getaucht, was wiederum eine Wechselwirkung mit der Kuppel auslöste, deren pulsierender Lichtschlag sich erhöhte. Lichtfunken sprühten in alle Richtungen, trafen leise zischend auf Blätter und Blüten. Einige wurden vom Wind eingefangen und innerhalb des Steinkreises zu einem Wirbel geformt, der über Kytharas Kopf auf und ab
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tanzte. Lethem verharrte. Er wusste, dass er nicht hier sein durfte; es kam ihm wie ein Frevel vor, aber er konnte den Blick nicht mehr abwenden, war zu keiner Regung fähig. Und dann sah er es …
* Der Wirbel wurde auf seltsame Weise unscharf, Fragmente formten sich zu Bildern… Lethem da Vokoban konnte zunächst nichts erkennen, bis seine Augen sich darauf eingestellt hatten. Langsam begriff er, was diese Imaginationen darstellten. Um ihn herum verblasste alles, und er starrte wie gebannt auf die sichtbar gewordene Vision. Myriaden funkelnder Lichtpunkte tanzten zunächst wie wild durcheinander, bis sie anfingen zu rotieren. Eine Galaxis von elliptischer Form entstand, umgeben von einem silbernen Schimmer, wie eine Aura. Die Galaxis zog ihre Bahn durchs Universum, ein leuchtender Stern in der Dunkelheit. Lethem starrte gebannt auf ein zweites, noch größeres Gebilde, das ins Zentrum rückte. Eine Spiralgalaxis, eine weitere Sterneninsel in schwarzer Finsternis. Die beiden Galaxien kollidierten miteinander, die kleinere stieß in die größere hinein, und ein blendendes Licht flammte kurzzeitig auf, als der silberne Schimmer wie ein Schleier zerrissen und ins dunkle Nichts geschleudert wurde, wo er Funken stiebend verging. Daraufhin löste sich die kleinere Galaxis auf, wurde assimiliert, bis nur noch der hell leuchtende Kern übrig blieb. Lethem blinzelte und wurde jäh in die Realität zurückgeworfen, als die Illumination abrupt abbrach. Der Arkonide griff sich an den Kopf, ein dumpfes Dröhnen quälte ihn unvermittelt, raubte ihm fast die Sinne. Halb blind taumelte er einen Schritt nach vorne. Weitere Bilder schoben sich in seine Gedanken und hämmerten auf ihn ein. Ächzend ging Lethem in die Knie, fragte sich, was mit ihm vorging. Der Arkonide schüttelte den Kopf, als könne er damit wie-
der Gewalt über sich erlangen. Als der Druck in Lethems Kopf nachließ, sah er Kythara vor sich stehen. Die schöne Varganin bebte vor Zorn. Ihre goldenen Augen glühten, und zum ersten Mal wirkte sie nicht mehr gelassen und überlegen. Voller Schrecken erinnerte sich Lethem, dass Kythara wie alle Varganen mentale Fähigkeiten hatte. Sie konnte ihre Gedanken in das Bewusstsein anderer Lebewesen übertragen. Und genau das hatte sie wohl gerade getan. Lethems Bewusstein wurde von ihrem ganzen Zorn überflutet und hatte ihn in die Knie gezwungen. »Kythara«, sagte er, seine tiefe Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, »ich …« »Schweig!«, herrschte sie ihn an. »Wie kannst du es wagen?« Ihre Hand schoss plötzlich herab, ihre Finger legten sich um seinen Hals. Er fühlte den Druck ihrer kräftigen Finger auf seinem Kehlkopf. »Spioniere mir nie mehr hinterher, Arkonide! Meine Angelegenheiten gehen dich nichts an!«, fauchte sie. Sie ließ ihn los und verschwand mit schnellen Schritten zwischen den Bäumen. Lethem griff sich hustend an die Kehle und beugte sich vornüber. Übelkeit übermannte ihn, er kämpfte gegen den einsetzenden Würgereiz. Kytharas Gedanken tobten noch immer in seinem Verstand und bestraften ihn. Lethem wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er sich wieder beruhigt hatte. Er musste schnell zum Zug zurück, bevor dieser abfuhr.
6. Atlan Der Fußmarsch durch die Savanne war mühsam. Ich war erstaunt, dass Tamiljon bisher durchhielt. Mein schwarzhäutiger Begleiter wurde nicht nachlässig, die Umgebung zu beobachten. Immer wieder hielt er Ausschau nach seinen Verfolgern. Tamiljon wurde immer nervöser, je näher
36 wir an unser Ziel kamen. Ich hatte den Eindruck, dass er allmählich an die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit kam. Der Kristallstab schien ihm immer mehr zur Last zu werden, weshalb ich das Tempo verlangsamte. »Geht es dir nicht gut?«, fragte ich schließlich. Seine anhaltende Nervosität ging mir auf die Nerven. »Es ist alles in Ordnung«, behauptete Tamiljon. »Das glaube ich dir nicht!«, versetzte ich scharf. »Bist du krank?« »Ich sagte doch, es ist alles in Ordnung!«, gab er ebenso ungehalten zurück. Dabei fingerte er an seinem Stab herum, und in seinem Augenwinkel zuckte es. Er mochte behaupten, was er wollte – mein Begleiter fühlte sich deutlich unwohl in seiner Haut. Vielleicht lag es daran, dass wir uns den Ruinen von Ardaclak näherten. Wir machten Halt und gruben nach Wasser, denn unsere Wasservorräte gingen langsam zur Neige. Mit bloßen Händen hoben wir ein Loch aus, bis sich das kostbare Nass sammelte und sich eine Pfütze bildete. Als ich Wasser nachschöpfen wollte, hörte ich einen schrillen Pfiff eines Vogels über mir. Das Tier stürzte ab und fiel genau in unser Wasserloch. Erstaunt hob ich den toten Vogel auf. Woran ist er so plötzlich gestorben?, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte keine Erklärung für diesen Vorfall. Ebenso wenig mein Extrasinn. »Es beginnt«, flüsterte Tamiljon. Ich dachte daran, wie mich Gamondio und die Schamanin ausdrücklich vor den Ruinen gewarnt hatten. Sie hatten mir geraten, diesen Ort zu meiden, da es dort nicht mit rechten Dingen zuging. »Was hat es mit den Ruinen von Ardaclak auf sich?«, fragte ich direkt. Tamiljon hob die Schultern. »Ich war noch nie dort, kenne nur die Geschichten, die so erzählt werden.« »Glaubst du die Legenden? Vielleicht dienen die Gerüchte nur der Abschreckung, um Neugierige fern zu halten?«
Susan Schwartz »Möglich. Aber das ändert nichts daran, dass die Ruinen gefährlich sind.« »Heißt das, wir brechen ab? So kurz vor dem Ziel?« Tamiljon strich mit einem Finger über den Obsidianknauf seines Stabes. »Ich muss dorthin, egal was passieren mag.« »Dann lass uns weitergehen.«
* Wir liefen bis zum Einbruch der Nacht. Die Savanne veränderte sich, der Boden wurde noch trockener. Es war unangenehm heiß, selbst für mein arkonidisches Empfinden. Ich war froh, dass wir unsere Wasservorräte aufgefüllt hatten, denn hier gab es nichts mehr. Das Gelände wurde hügeliger, so dass man nicht mehr allzu weit blicken konnte. »Offensichtlich hat schon jemand vor uns den Versuch gewagt …« Ich deutete nach rechts. Tamiljon zuckte zusammen. Er erschrak, als er ebenfalls das Skelett eines Humanoiden im Sand entdeckte. »Wir werden es schaffen«, stieß er entschlossen hervor und fügte hinzu: »Wir müssen es schaffen!« Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir die Ruinen von Ardaclak umgangen und direkt das Obsidiantor angesteuert. Doch Tamiljon beharrte auf seinem Vorhaben, was mein Interesse nur noch mehr weckte. Er behielt seine Geheimnisse nun lange genug für sich; ich wollte endlich Informationen über den Stab und die ominösen Verfolger erhalten. Am späten Nachmittag überquerten wir eine Düne und sahen hinter einem Hügel die Stadt Ardaclak mit ihren Ruinen. Vorsichtig erklommen wir den Hügel. Aus sicherer Deckung beobachteten wir die kreisförmig angeordneten Ruinen, bei denen es sich früher mit ziemlicher Sicherheit um Schutzwälle gehandelt hatte. Überall gab es Überreste von Gebäuden und Straßen, und in der Mitte erhob sich eine Stufenpyramide. Mein fotografisches Gedächtnis rief mir sofort die Py-
Tamilijon ramide von Yucatàn auf Terra in Erinnerung. Bis zum Ende der Savannenwüste war es höchstens ein halber Tagesmarsch, dahinter begann Grassteppe und schließlich die fast einem Urwald gleichende Landschaft um die Ruinen. »Ich hoffe, das ist keine Fata Morgana«, sagte ich, während ich die Ruinen genauer betrachtete. »Nein«, versicherte Tamiljon. »Dann lass uns morgen erledigen, was notwendig ist, und gleich weiter zum Obsidiantor gehen«, schlug ich vor. »Wir haben schon genug Zeit verloren.« Tamiljon gab keinen weiteren Kommentar ab. Angespornt durch die Nähe der Ruinen, machten wir uns auf den restlichen Weg zur Stadt. Immer häufiger fanden wir tote Vögel im Sand. Ich nahm an, dass es vertriebene Jungvögel auf der Suche nach einem eigenen Revier waren. Da es hier draußen nichts gab, gingen sie elendig zugrunde. Ohne weitere Rast gingen wir bis spät in die sternenlose Nacht hinein. Brennbares für Fackeln gab es hier nicht, so waren wir gezwungen anzuhalten. Langsam wuchs auch in mir eine gewisse Unruhe, die ich mir nicht erklären konnte. Über diesem Ort lag etwas Sonderbares. Ich hörte Tamiljons geräuschvollen, schnellen Atem. Wovor hatte mein Begleiter nur solche Angst? Es musste einen triftigen Grund dafür geben. In einem geschlossenen, fensterlosen Raum konnte es nicht finsterer sein als hier. Dass wir tagsüber, in der Hitze, kein Lebewesen gesehen hatten, wunderte mich nicht. Falls es in dieser Gegend Tiere gab, waren sie mit Sicherheit nachts aktiv. Wir mussten deshalb auf der Hut sein. »Atlan?«, erklang Tamiljons leise Stimme durch die Finsternis. »Ja?« »Hörst du das auch?« Ich lauschte. Und tatsächlich, da war etwas. Ein leises Flüstern, überall um mich
37 herum. Je intensiver ich lauschte, desto mehr Geräusche vernahm ich. Das gefiel mir alles nicht. Ich erschrak, als mich Tamiljon am Arm berührte. »Sieh doch«, wisperte er. Auf den Hügeln tanzten kleine Lichter. Hin und her, auf und ab. Sie zogen sich wie eine Lichterkette die Kämme entlang, bis sie schließlich wieder erloschen. Finsternis kehrte sofort wieder ein. »Was war das?«, fragte ich. »Die verlorenen Seelen der Bewohner Ardaclaks«, antwortete Tamiljon zaghaft. »Man warnte mich vor, dass so etwas geschehen würde.« »Unsinn«, brummte ich. »Dafür gibt es sicherlich eine wissenschaftliche Erklärung. An Hokuspokus glaube ich nicht.« »Aber du hast sie doch selbst gesehen, oder?« »Natürlich habe ich das. Es können elektrische Entladungen ionisierter Luft sein. Es gibt mit Sicherheit eine einfache Erklärung dafür.«
* Tamiljon schien ungeheuer froh zu sein, als die Sonne Verdran aufging. In der Nacht war es klirrend kalt gewesen. Die ersten Sonnenstrahlen wärmten uns auf angenehme Weise. Ohne etwas zu essen, machten wir uns auf den Weg. Bald ließen wir die unwirtliche Wüste zurück und erreichten die Steppe. Trotz der Trockenheit und Dürre war der Boden erstaunlich weich und nachgiebig. Die Ruinen von Ardaclak lagen um diese Tageszeit noch im Dunst. »Hier muss etwas Schreckliches geschehen sein«, bemerkte ich, als ich all die Knochen im Sand verstreut fand. Tamiljon gab keine Antwort. Er war ganz in Gedanken versunken, sein Griff um den Stab war fester geworden, und seine Schritte wurden schneller. Je näher wir nach Ardaclak kamen, desto unangenehmer wurde der stechende Geruch,
38 der seit geraumer Zeit in der Luft lag. Tamiljon verkrampfte sich zusehends. Wir schlichen uns wie Diebe in die Stadt, stets darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Für Fragen war keine Zeit, ich hoffte nur, dass ich nicht ins Verderben rannte. Ich ließ mich ungern auf ein unbekanntes Risiko ein. Deckung gab es jedenfalls genug, wir hatten den ersten Mauerring passiert und waren mittendrin im Savannenwald, wobei die Pflanzen keine besonders gesunde Färbung hatten und die verzweigten Schlingen und Lianen eher auswuchernden Krebsgeschwüren ähnelten. In einigen Gräben rann Wasser, plätscherte von Mauerresten herunter, wo die Kanalisation kaputt war. Ich vermied es, von dem Wasser zu trinken. Mir machten Giftstoffe dank meines Zellaktivators zwar nichts aus, doch Tamiljon war ein »Normalsterblicher«. Er würde sicher Schaden daran nehmen, und das wollte ich nicht riskieren. Der Schwarzhäutige betrat eine von Moos, Flechten und Gräsern bedeckte Allee, die vom Stadtrand aus direkt auf die Stufenpyramide zuführte. Obwohl sie wie die meisten Gebäude nahezu überwuchert war, erkannte man nach dieser langen Zeit den Grundriss und die Höhe des einst imposanten Bauwerks. Ich folgte ihm einige Meter die Allee entlang, blieb dann stehen und betrachtete den Boden genauer. Die Straße war wenig zugewachsen, einige meist höher gelegene Steine lagen frei. Erstaunt bemerkte ich, dass einige dieser Steine makellos sauber waren. Wie war das möglich? »Achtung!«, schrie Tamiljon plötzlich. Noch im selben Moment sprang ich beiseite und suchte Deckung in einer Mauerruine. Mein Begleiter starrte mit großen Augen um die Ecke. Kurz darauf sah auch ich, was ihn so außer Fassung gebracht hatte. Roboter! Die ovalen Maschinen waren etwa eineinhalb Meter hoch, golden- oder messingfarben. Oben und unten hatten sie je ein Dut-
Susan Schwartz zend Tentakelarme. Der obere Teil der Kalotte sah aus wie ein kostbar geschliffener Rubin. Überall in der Stadt waren sie unterwegs und verrichteten ihren Dienst, wenngleich auf seltsame Weise: Mit ihren Tentakelarmen, die bis zu etwa drei Metern ausgefahren werden konnten, gruben oder rissen sie Pflanzen aus und säuberten Bodenplatten – aber nicht geordnet, sondern mal hier, mal dort. Teilweise wurden die ausgerissenen Pflanzen neben anderen, bereits gesäuberten Platten wieder eingepflanzt. Irritiert beobachtete ich, wie ein Ovalroboter eine Tür in die Öffnung einer Wand einsetzte. Weitere Wände waren nicht vorhanden. Eine Gruppe arbeitete an einem Haus, versuchte eine Zwischendecke einzuziehen, ohne dass es vier Wände gab, die diese Decke gestützt hätten. Sie pflanzten auf einer Grünfläche Sträucher ein, die schon seit Jahren abgestorben sein mussten, und renovierten einen Kanal, für den es keinen Wasserzulauf mehr gab. Wie kamen die Roboter in die Einöde der Savanne? Auf dieser primitiven Welt funktionierten nicht einmal die leichten Schutzanzüge! Es war weit und breit niemand zu sehen, der sich um die Instandhaltung kümmerte. Ihre Programmierung musste durch irgendein Ereignis Schaden genommen hatten, da sie offensichtlich völlig wirre Arbeiten ausführten. Tamiljon hatte sich schnell beruhigt, er verließ die Deckung und setzte den Weg auf der Allee fort, ohne sich weiter an den Robotern zu stören. Er kennt diese Roboter, hat sie nur nicht hier erwartet, deshalb sein kurzer Schreck, meldete sich mein Extrasinn. Aber er hat sie schon einmal gesehen. Auf einer anderen Vinara-Welt? Er benutzt sicher nicht das erste Mal ein Obsidiantor.
* Ohne behelligt zu werden, erreichten wir
Tamilijon die Stufenpyramide. Zu meiner Überraschung entdeckte ich auf einem Podest vor der ersten Stufe Gamondio und Dendia. Der Häuptling der Savannenreiter und die Schamanin waren gefesselt! »Atlan!«, rief die Schamanin, und der Häuptling meldete sich erleichtert: »Du lebst! Es ist ein Wunder!« Ich wollte zu ihnen laufen, als Tamiljon mich festhielt. »Halte dich nicht mit ihnen auf!«, drängte er. »Wir müssen nach dem Eingang zur Gruft suchen. Er muss hier irgendwo sein!« Ich schüttelte Tamiljons Arm ab. »Für jemanden, der mich gerettet hat, ist das eine sonderbare Äußerung!«, sagte ich scharf. »Ich vermute schon die ganze Zeit, dass du mich nur aus Eigennutz gerettet hast. Wenn wir das alles hier überstanden haben, bist du mir einige Erklärungen schuldig, freiwillig oder nicht!« »Meinetwegen«, gab der Schwarzhäutige zögernd nach. »Befreie du sie, ich suche inzwischen nach dem Eingang. Aber wir dürfen uns nicht zu lange hier aufhalten, das ist gefährlich.« »Wie du meinst«, sagte ich kalt und spurtete los, zu meinen Freunden. Fast wäre ich gegen einen Roboter geprallt, der plötzlich aus dem Nichts vor mir auftauchte. Ich warf mich zur Seite und wich um Haaresbreite seinem nach vorn schießenden Tentakelarm aus, an dessen Ende ein scharfes Messer blinkte. Ich spürte den Luftzug, als das Messer über meinen Rücken fauchte. Ich sprang auf, rekapitulierte rasend schnell die Techniken des Dagor-Allkampfs und bereitete mich auf einen ungleichen, aussichtslosen Kampf vor. Aber das Messer des Roboters versenkte sich bereits in einer Spalte zwischen zwei Steinplatten auf dem Boden und begann, an einer Wurzel zu säbeln. Verblüfft verharrte ich einen Moment. Es war gar kein Angriff auf mich gewesen! Der Roboter ignorierte mich. Kopfschüttelnd setzte ich meinen Weg fort und befreite die
39 beiden Savannenreiter von ihren Fesseln. »Was ist geschehen?«, fragte ich. »Ich dachte, ihr seid tot, verschleppt von den Termiten!« »Dasselbe dachten wir von dir«, äußerte Gamondio und schlug mir auf die Schulter. Er war ein junger, mutiger Mann, der sich darauf verstand, seinen Stamm mit Herz und Verstand zu führen. Er gefiel mir ausnehmend gut. »Ich freue mich, dich gesund und munter wieder zu sehen, lieber Freund!« »Wo ist Jorge?«, erkundigte sich Dendia, die schwerfällige Schamanin mit der Gabe des zweiten Gesichts. Ich zuckte zusammen. »Tot«, gestand ich leise. »Tamiljon«, ich wies auf den Schwarzhäutigen, der hektisch an den Stufen der Pyramide nach einem Eingang suchte, »hat mich gerettet. Für Jorge kam jede Hilfe zu spät. Er ist erstickt.« »Das tut mir Leid«, sagte Gamondio mitfühlend. »Es muss ein großer Verlust für dich sein, einen Freund aus der Heimat zu verlieren.« »Ja.« Ich schüttelte die Erinnerung ab. »Aber nun erzählt mir, wie ist es euch ergangen?« Der Häuptling berichtete: »Wir konnten den Termiten entkommen, aber dann sind plötzlich diese Maschinen aufgetaucht, wie aus dem Nichts, und haben uns hierher verschleppt. Hier lebt niemand, und wir wissen nicht, weshalb man uns herbrachte. Anfangs wurden wir von den Blechkerlen versorgt, doch seit gestern spielen sie total verrückt.« »Sie ignorieren uns einfach«, fügte die Schamanin hinzu. »Du hast es vorhin selbst erlebt, Atlan.« Tamiljons Ruf unterbrach unsere Unterhaltung. Der Schwarzhäutige hatte ein halb verdorrtes Gebüsch beiseite gezerrt und deutete aufgeregt auf einen Stein. »Der Eingang! Ich habe ihn gefunden!«
* Wir standen vor einem finsteren Loch,
40 das ins Innere der Pyramide führte. »Die Gruft des Wächters Narmasar Tarmon«, sagte Tamiljon mit einem ehrfürchtigen Klang in der Stimme und hielt den Stab mit beiden Händen vor sich. »Ich bin am Ziel.« Er schaute mich an. »Gehen wir.« Ich dachte nicht daran. »Bevor ich da hineingehe, will ich wissen, was du hier so Geheimnisvolles zu erledigen hast«, forderte ich Tamiljon auf. Der Schwarzhäutige zögerte. Dendia musterte ihn mit scharfen Blicken. »Du bist kein Wächter«, stellte sie fest. »Woher hast du diesen Stab? Wieso trägst du ihn?« Ich sah Tamiljon auffordernd an. Endlich gab er nach. Er deutete auf den Kristall an dem Stab, den er niemals berührte. »Dies«, erklärte er feierlich, »ist ein Kristall aus Litraks Körper. Der Orden hat die Aufgabe, so viele Kristalle wie möglich zu finden und zur Eisgruft des Ewigen Litrak zu bringen.« »Und was hat das mit dem toten Narmasar Tarmon zu tun?«, hakte ich nach. »Wie bei allen Wächtern wurde auch bei Tarmons Initiation ein Mondsplitter aus Litraks Körper in seinem Leib versenkt. Und mit ihm begraben, nachdem das Leben ihn verlassen hatte.« In mir gingen sämtliche Alarmglocken los. Wieso werden die Splitter zuerst verteilt, wenn sie dann wieder eingesammelt werden müssen?, überlegte mein Extrasinn. Wo sind die anderen Wächter, wie viele gibt es, und wie viele Splitter fehlen noch? Er sagte Mondsplitter, erinnerte ich mich. In meinen Visionen sah ich einen Kristallmond. Soll das bedeuten, dass die Mondsplitter von dort stammen? Tamiljon behauptet, sie seien ein Teil von Litraks Körper, so bedeutet das, dass der Ewige Litrak und der Kristallmond womöglich ein und derselbe sind? Die Legenden sprechen von Litrak als Lebewesen, Richtig. Aber wie weit reicht die Definition von Leben, und woher wissen die
Susan Schwartz Viin das? Die Vermutung liegt nahe. Ich hätte Tamiljon all diese Fragen stellen können, aber ich kannte ihn inzwischen zu gut, um zu wissen, dass er darauf keine Antworten geben würde. Er hatte gerade so viel offenbart, um meine Neugier zu wecken und mich dazu zu bewegen, ihn in diese Gruft zu begleiten. »In Ordnung«, sagte ich. »Ich werde dich begleiten.« Gamondio und Dendia lehnten strikt ab, mitzukommen. »Dies ist ein verfluchter Ort. Wir werden hier warten«, sagte die Schamanin. Wir fertigten einige Fackeln. Lange würden sie nicht halten, das war mir klar. Ich hoffte deshalb, dass wir unser Ziel bald erreichen würden. Tamiljon ging voraus, und ich folgte dem flackernden Licht seiner Fackel.
* »Woher weißt du, wie wir gehen müssen?«, erkundigte ich mich, während wir die kühlen, feuchten, stellenweise rutschigen Treppen hinunterstiegen und an einem Knotenpunkt herauskamen, von dem mehrere stollenartige Gänge abzweigten. »Der Stab weist mir den Weg«, sagte er, und tatsächlich zeigte der Kristall ein fahles Leuchten, das mal heller, mal dunkler wurde, je nachdem, in welche Richtung der Träger ihn hielt. »Die Splitter erkennen sich und ziehen sich gegenseitig an.« Mir blieb nichts anderes übrig, als Tamiljon zu vertrauen. Anhand meines fotografischen Gedächtnisses konnte ich mir den Weg durch das Labyrinth genau merken und würde keine Schwierigkeiten haben, wieder herauszufinden. Viele Gänge waren eingebrochen, andere drohten jeden Moment einzustürzen, so dass es sehr gefährlich war, sie zu passieren. Schließlich erreichten wir eine große Kammer. Auch hier war es feucht und unangenehm kühl; die Luft roch abgestanden und modrig. Von irgendwoher fiel durch schma-
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le Ritzen im Gestein fahles Licht herein. Tamiljon deutete nach oben. »Wir befinden uns direkt unter der Sonnenterrasse, der ersten Stufe der Pyramide. Dort gab es einen Eingang für Priester, und zu bestimmten Sonnenständen wurden Messen zelebriert. Die Bodenplatten wurden von Anfang an so ausgelegt, dass Licht durch die Ritzen durchdringen konnte, um die Gruft zu erleuchten und den Geist Narmasar Tarmons unter den Lebenden weilen zu lassen.« »Wäre es möglich gewesen, von oben durchzubrechen und dadurch abzukürzen?« »Ich wollte das Risiko eines Einsturzes nicht eingehen.« In einer Bodenvertiefung lag eine Art Sarg, dessen Unterbau goldfarben war, der Deckel hatte eine Beschaffenheit wie gesplittertes Glas. Gemeinsam hoben wir den Deckel an; mit viel Kraftaufwand schafften wir es, ihn abzuheben. In dem Sarg lag das saubere, glatte Skelett eines ungefähr dreieinhalb Meter langen Wesens mit vier Armen und einem halbkugeligen Schädel mit drei leeren Augenhöhlen und einem zähnestarrenden Kiefer. Ein Haluter, dachte ich erstaunt. Sieht so aus, stimmte mein Extrasinn zu. Zwischen den Knochen, von einem einzelnen dünnen Lichtstrahl beschienen, funkelte ein facettenreicher Kristall. Er sah genauso aus wie jener in Tamiljons Stab. Der Schwarzhäutige schien sein Glück kaum fassen zu können. Tamiljon nahm den Splitter mit einem seligen Lächeln an sich und verstaute ihn in seiner Montur. Dann traten wir den Rückweg an.
* Wie versprochen warteten Gamondio und Dendia am Eingang der Gruft auf uns. Gemeinsam verließen wir die Ruinen von Ardaclak. Die Roboter ignorierten uns auch weiterhin. Ich war dankbar, diese unheimliche Stätte verlassen zu können und vor allem diesen
Geruch hinter mir zu lassen. Über uns kreiste ein Schwarm schwarzer Vögel. Sie stießen schrille, klagende Töne aus, bevor sie abdrehten und irgendwo im Urwald verschwanden. Mein Weg führte mich nun zum Obsidiantor. »Werdet ihr mitkommen?«, fragte ich den Häuptling und die Schamanin. Sie lehnten beide ab. »Wir haben unsere Aufgabe erfüllt«, erklärte Gamondio. »Es ist nicht notwendig, unsere Welt zu verlassen, da ihr beide dies übernehmen werdet. Mein Stamm braucht mich dringend. Wie du weißt, befehden wir uns noch immer mit den Nathal. Es mag engstirnig sein, aber es ist wichtig, unsere Lebensgrundlage zu erhalten.« »Das ist es durchaus nicht, Gamondio, und ich danke dir für deine Freundschaft und deine Unterstützung«, sagte ich. »Ihr habt einen weiten Heimweg vor euch«, fügte ich mit einem Blick auf Dendia hinzu. Gamondio grinste breit. »Keine Sorge, ich weiß schon, wo wir wilde Dendibos finden, schließlich bin ich ein Afalharo. Wenn ich mich in meinem eigenen Land nicht auskenne, wer sonst? Mach dir keine Sorgen, Freund Atlan, wir kommen gut zurecht.« Tamiljon ging bereits ein paar Schritte voraus, um mir deutlich zu machen, dass wir uns beeilen mussten. Offensichtlich hielt er nicht viel von den Savannenreitern, was einen weiteren Minuspunkt für ihn einbrachte. Dendia nutzte den Augenblick, um mich ein wenig beiseite zu nehmen. Ich musste mich zu ihr hinunterbeugen, und sie raunte mir ins Ohr: »Ich muss dich warnen. Dieser Tamiljon hat zwar eine Aura, die es ihm ermöglicht, den Stab zu tragen – aber es ist nicht dieselbe wie deine, Freund. Und ich weiß, dass er kein Wächter ist.« »Das hat er mir gegenüber bereits zugegeben.« »Das spricht für ihn, aber …« Dendia zögerte, doch dann gab sie sich einen Ruck. »Er ist sonderbar. Leider kann ich dir nichts Genaueres sagen, weil sich mein zweites
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Gesicht verdunkelt hat … Auch das fasse ich als schlechtes Vorzeichen auf. Warum jetzt? Etwas stimmt nicht mit diesem Burschen. Sieh dich vor und vertraue ihm keinesfalls!« Ich nahm diese Warnung sehr ernst, passte sie doch zu meinem eigenen Misstrauen, das ich meinem Begleiter gegenüber empfand. »Ich werde vorsichtig sein, Dendia, ich verspreche es dir. Und ich werde meine Mission erfüllen und versuchen, die ObsidianKluft und alle Welten zu retten. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.« »Unsere besten Wünsche und alle Hoffnungen gehen mit dir, Atlan. Du bist ein großer Mann, und wir sind stolz darauf, mit dir geritten zu sein. Leb wohl.«
* Die beiden Afalharo vom Stamm der Tulig machten sich in südliche Richtung auf, während unser Weg weiter nach Norden führte. Allmählich hatte ich die Fußmärsche satt. Vor allem wollte ich endlich das Tor erreichen, es hatte nun genug Verzögerungen gegeben. Nach den Beschreibungen der Tulig und Tamiljons Kenntnissen lag es mitten in der ausgedehnten Savanne, auf einem Hügel, weithin sichtbar. Früher führte von Ardaclak aus eine Straße direkt dorthin, doch sie wurde heute nicht mehr benutzt und lag größtenteils unter Savannengras verborgen. Trotzdem diente uns die Straße immer wieder zur Orientierung, denn gerade die höher gelegenen Stellen waren von Wind, Wetter und Erosionen weitgehend frei von Pflanzen und gut erkennbar. Gegen Abend entdeckte ich auf einem weit entfernten Hügel hinter mir Bewegungen. Kleine dunkle Punkte, die plötzlich wieder verschwunden waren. Entweder hatten sie mich gesehen, oder sie waren automatisch in Deckung gegangen. Da wären sie also, stellte mein Extrasinn fest. Bei all den Mühen, die sie bisher aufge-
wendet haben, wundert es mich, dass sie jetzt so leicht zu entdecken waren. Das fand auch ich verwunderlich. Anscheinend hatten sie ihre Strategie geändert und wollten Tamiljon zermürben oder zu einer falschen Handlung verleiten. Ich verschwieg meinem Begleiter meine Entdeckung. Ich war sicher, dass er längst Bescheid wusste, denn seit einiger Zeit drehte er sich nicht mehr ständig um. Allerdings lief er schneller.
7. Li da Zoltral Li da Zoltral brach den Kopiervorgang ab, als sie Geräusche hörte, die sich rasch näherten. Es bestand kein Zweifel, man hatte sie entdeckt! Hastig verließ sie den Raum, doch es war bereits zu spät, der Fluchtweg war abgeschnitten. Ein fast drei Meter großes Ungetüm kam um die Ecke, ein bizarres Konstrukt aus biologischen und mechanischen Elementen. Die Arme bestanden aus fünf vollmetallischen, miteinander verbundenen Strängen mit Kugelgelenken an »Schultern«, »Ellenbogen« und »Handwurzeln«, die eine Bewegung in alle Richtungen ermöglichten. Das biomechanische Monster war mit Scheren, Messern, Sägen und Dolchen bewaffnet. Das Gesicht des Monsters war abschreckend. Die Kreatur fauchte und zeigte dabei seine messerscharfen Zähne. Aus einer Öffnung im Gesicht schoss eine gelbliche Flüssigkeit, die augenblicklich alles zusammenschmolz, wo sie auftraf. Die Fontäne verfehlte Li, die gut fünf Meter entfernt stand, nur um Haaresbreite; die Frau hatte sich geistesgegenwärtig zur Seite geworfen, als das Monster um die Ecke bog. Li da Zoltral ließ sich nicht auf einen aussichtslosen Kampf ein, sondern ergriff die Flucht. Das biomechanische Monster setzte ihr mit großen Sprüngen nach, und die Frau hetzte zunächst planlos durch die Gänge und Korridore der riesigen Plattform, auf der Suche nach einem kleinen Durchschlupf.
Tamilijon Sprühfontänen spritzten um sie herum und schmolzen die Verkleidung, Wurfpfeile und Minispeere pfiffen an ihren Ohren vorbei. Mit viel Glück entkam Li jedes Mal, aber sie wusste, dass es auf Dauer nicht so weitergehen würde. Früher oder später erwischte es sie, spätestens wenn ihr der Atem ausging und sie nicht mehr weiterkonnte. Sie hastete um eine scharfe Ecke in eine Abzweigung und entdeckte eine Schleuse. Der Kodegeber war nicht mehr intakt, wie die meisten energetischen Waffen und Aggregate. Sie entdeckte eine Notentriegelung, einen großen Kippschalter, Li umfasste den Schalter mit beiden Händen, spannte die Muskeln und drückte ihn nach oben, doch nichts geschah. Der Schalter ließ sich nicht bewegen. Das Geschöpf kam immer näher. Li da Zoltral riss und zerrte an dem Schalter, schlug seitlich mit dem Fuß dagegen, um ihn zu lockern. Das biomechanische Wesen stampfte auf die Frau zu. Es hatte die Arme ausgestreckt und seine Waffen aktiviert. Li wurde nervös. Wenn sie jetzt abbrach, konnte sie noch schnell um die nächste Ecke fliehen; ihr Vorteil war ihre Wendigkeit und dass sie klein war. Aber vielleicht brachte sie auch endlich den Hebel in Bewegung, damit sie durch die Schleuse fliehen konnte. Was sollte sie tun? Mit wilder Gewalt rüttelte Li an dem Hebel, presste sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Das biomechanische Ungetüm war nur noch wenige Meter entfernt. Eine Beinklappe öffnete sich, und ein mechanischer Arm holte ein Netz heraus; offensichtlich war nun der Befehl zur Gefangennahme erteilt worden. Das rettete Li vorerst das Leben. Nun war es zu spät, um zu fliehen. Entweder sie hatte endlich Erfolg, oder … Mit einem letzten scharfen Ruck, der Li beinahe die Schulter auskugelte, gab der Schalthebel nach und rastete in der oberen Verriegelung ein. Es klackte, und der prismenartige Zugang öffnete sich.
43 Li hechtete durch die schmale Lücke und schrammte mit Schultern und Hüfte am Metall entlang, was sie allerdings nicht bemerkte. Auf der anderen Seite angekommen, sprang sie hastig auf, zog mit ihrem ganzen Gewicht an dem Hebel, der auf dieser Seite sofort nachgab und die Notverriegelung auslöste. Während Li weiter rannte, hörte sie ihren Verfolger gegen die Schleuse prallen; das brachte ihr zunächst einen Vorsprung ein. Sie sah sich um und entdeckte einen schmalen Kanal. Vermutlich handelte es sich um einen Wartungskanal, in den sie hineinkletterte und ein Stück weit hineinrobbte, bis sie sich einigermaßen sicher fühlte. Li verharrte und schöpfte Atem, darauf wartend, dass sich ihr hämmernder Herzschlag beruhigte.
* Das Getöse erstarb. Anscheinend zog sich das Monster zurück, um einen anderen Weg zu suchen. Li nutzte die notwendige Verschnaufpause für eine kurze Überlegung, wie sie weiter vorgehen sollte. Dieses Ungetüm hatte Li als Feind erkannt. Möglicherweise stand es unter dem Einfluss der im Zentrum des Kristallmonds integrierten Hypertronik, denn die Frau hatte bereits merkwürdige Wechselwirkungen zwischen der Vergessenen Plattform und dem psimateriellen Kristallmond bemerkt. Das bedeutete, dass die Zeit mehr denn je drängte. Nicht auszudenken, wenn Litrak erwachte … Li da Zoltral wusste, dass vor Äonen Teile von Litraks Bewusstsein mit der Hypertronik des künstlichen Trabanten verschmolzen waren. Aus der Psi-Materie wurde ein kristalliner Körper geschaffen, der bis zum heutigen Zeitpunkt allerdings handlungsunfähig blieb – noch. Doch die gesamte Obsidian-Kluft, ursprünglich als Backup-System geschaffen, war in Aufruhr geraten. Wenn etwas schief
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ging, wurden unter Umständen Kräfte freigesetzt, deren Gewalt selbst für die Kundschafterin und Beauftragte des Kosmokratenroboters Samkar unvorstellbar war. Immerhin maß der Kristallmond 1126 Kilometer im Durchmesser – die Energiefreisetzung würde wahrscheinlich eine ganze Galaxis in den Untergang treiben! Li war klar, dass sie in den Kristallmond hinein musste, denn nur im Kern der Hypertronik hatte sie überhaupt eine Chance, die Katastrophe zu verhindern. Unter den jetzigen Bedingungen konnte Li da Zoltral den Mond aber nur erreichen, wenn die Vergessene Positronik in geringer Distanz vorbeidriftete. Derzeit bewegte die Plattform sich auf den Kristallmond zu, die Entfernung war noch zu groß, die kritische Distanz bei weitem noch nicht erreicht. Also musste es einen anderen Weg geben. Li konzentrierte sich und rief sich die Informationen über die Struktur der Plattform aus ihrer Erinnerung hervor. Dann fand sie das Gesuchte, merkte sich den Weg dorthin und robbte, so schnell es ging, durch den Schacht. An einer Abzweigung folgte sie einem anderen Schacht, der schließlich in einen großen Raum voller gestapelter Aggregate und Terminals mündete, möglicherweise ein Wartungs- und Reparaturzentrum. Von hier aus war es nicht mehr weit. Li bog gerade in einen bestimmten Gang ein, als sie plötzlich wieder die ihr bekannten Geräusche hörte. Das biomechanische Ungetüm hatte sie erneut aufgespürt oder sogar abgepasst! Konnte es die Frau orten? Die Beauftragte stieß einen innerlichen Fluch aus und spurtete erneut los. Dem gedämpften Lärm nach zu urteilen, musste der riesige Wächter noch einiges aufholen. Hoffentlich erreichte Li bis dahin den richtigen Saal …
* Sich ganz auf ihr Gedächtnis verlassend, das den Plan wie ein Foto vor ihr inneres
Auge projizierte, rannte Li da Zoltral durch die stillen, verlassenen Gänge. Das Ungetüm verringerte allmählich die Distanz zwischen ihnen, je höher und breiter die Korridore wurden. Schließlich erreichte Li einen großen Saal. Auf der gegenüberliegenden Seite zeigte sich eine Öffnung, von einem hellblauen Licht umgeben – das Leuchten des Hoagh, wie Li bekannt war. Dies war die Passage zum Kristallmond, durch die sie unverzüglich treten musste. Li rannte auf die Öffnung zu und drehte kurz den Kopf, als das biomechanische Wesen ebenfalls den Saal erreichte. Nun, ohne sperrige Wände oder niedrige Decken um sich herum, konnte es ungehindert seine Kräfte entfalten. Mit einem einzigen Sprung überwand das Monster eine Entfernung von zehn Metern. Noch zwei Sprünge, dann hatte es Li erreicht … Li konzentrierte sich, verästelte Blitze zuckten durch das Leuchten des Hoagh, eine paranormale Resonanz stellte sich ein – und Li trat hinein, genau in dem Moment, als das Ungetüm sie erreicht hatte. Die stählernen Arme griffen ins Leere, das Netz fiel nutzlos zu Boden. Doch etwas stimmte nicht. Li spürte sofort, dass das Eindringen in den Kristallmond gescheitert war. Ein grellweißes Licht explodierte vor ihren Augen, blendete sie, hüllte sie ganz ein …
8. Atlan Die Verfolger ließen sich entweder aus unerfindlichen Gründen Zeit, oder wir waren schneller als sie. Jedenfalls bekamen wir sie bis zum Tor nicht mehr zu Gesicht. Am Morgen des 8. April 1225 NGZ kletterten wir auf einen Hügel, und von dort aus sahen wir auf dem übernächsten Hügel das Tor. Das exakte Pendant zu dem Obsidiantor in den Ruinen von Aziin, wo ich herausgekommen war. Es handelte sich um einen sechs Meter hohen und sieben Meter breiten
Tamilijon Quader mit einer Stärke von drei Metern. Das Tor bestand aus grauschwarzem Gestein und hatte eine vier Meter hohe Öffnung. Wie ein düsteres Mahnmal thronte der Monolith auf dem Hügel, weithin sichtbar in der Savanne. Ein Überbleibsel aus lange vergangenen Zeiten, deren Geheimnis ich lüften wollte. Von dem auch Tamiljon ein Bestandteil war. »Wir müssen das Tor vor deinen Verfolgern erreichen, sonst war alles umsonst«, sagte ich zu meinem Begleiter. Tamiljon nickte. »Wir müssen jederzeit mit einem Angriff rechnen.« »Du weißt, um wen es sich handelt, nicht wahr?« »Es gibt eine andere Gruppe, die gegen die Ziele meines Ordens arbeitet«, berichtet der Schwarzhäutige zögerlich. »Sprichst du von Sardaengar?«, fragte ich und dachte an die ominösen Perlenträger von Helmdor. Tamiljon antwortete lediglich mit einer vagen Geste, die Zustimmung oder Ablehnung bedeuten konnte. Wie immer war er zu keinen weiteren Erklärungen bereit. »Es ist von größter Wichtigkeit, dass ich das Tor passiere«, fügte er hinzu. »Eine Mission von größter Bedeutung hängt davon ab.« »So ist es auch bei mir. Wir sollten versuchen, so schnell wie möglich zum Obsidiantor zu gelangen.« Tamiljon nickte, und wir spurteten los. Zu Fuß mussten wir zunächst den Hügel hinunter, dann das Tal durchqueren, um den nächsten Hügel erklimmen zu können. Erst dann erreichten wir den Hügel mit dem Obsidiantor. »Sie kommen!«, rief Tamiljon. Er warf einen Blick über seine Schulter. Wenn ich mich nicht getäuscht hatte, waren uns zehn Verfolger auf den Fersen. Ich legte keinen Wert auf einen Kampf, noch dazu, da ich keinerlei Vorstellungen hatte, um wen es sich handelte. Die humanoiden, etwa 1,80 Meter großen
45 Verfolger rückten immer näher. Kopf und Körper der Fremden waren unter Kapuzen und Kutten verborgen. Als wir das Tor fast erreicht hatten, spürte ich für einen kurzen Moment ein starkes Absinken meiner Leistung. Mein Zeilaktivator pochte heftig, dann war alles vorüber. Zwei aus der Reihe der Verfolger wurden plötzlich wie von unsichtbarer Hand in die Luft katapultiert und prallten mit hoher Geschwindigkeit auf den Boden. Durch die Wucht des Aufpralls überschlugen sich die Verfolger ein paarmal und blieben mit gebrochenem Genick reglos liegen. Unruhe breitete sich unter den Fremden aus. Als sie erkannten, dass ihre Gefährten tot waren, brüllten sie ihren ganzen Zorn heraus und griffen an. Atlan stellte sich den Angreifern, um Tamiljon die Gelegenheit zu geben, das Tor zu passieren …
9. Lethem da Vokoban 15. April 1225 NGZ Kurz bevor der Zug anfuhr, traf Kythara ein und konnte gerade noch zusteigen. »Wo warst du denn? Wir haben uns schon Sorgen gemacht«, sagte Enaa aufgeregt. Kythara machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ich hatte zu tun.« Sie warf einen kurzen Blick zu Lethem. Der Arkonide tat so, als wäre nichts vorgefallen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er ruhig. Die Varganin nickte, ohne zu zögern. »Ja, natürlich. Dieser Ort ist besonders geeignet, um noch einmal Kräfte zu sammeln. Gegen Morgen werden wir Helmdor erreichen, und dann werden wir es nicht mehr so bequem haben.« Lethem dachte intensiv: Es tut mir Leid. Mit ihrer Gabe konnte Kythara bis zu einem gewissen Grad die Gedanken anderer erahnen. Das hatte weniger mit Telepathie, mehr mit Empathie zu tun, aber Lethem hoffte, dass sie in diesem Fall spüren konn-
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te, dass es ihm wirklich aufrichtig Leid tat. Er wollte keinesfalls, dass dieser Zwischenfall das freundschaftliche Band zerstörte, das sich bei einer Gemeinschaft wie dieser, die bereits so viel durchgemacht und viele Verluste erlitten hatte, gebildet hatte. Er konnte es nicht mehr ungeschehen machen, aber wenigstens weitere Auseinandersetzungen vermeiden, indem er zu niemandem darüber sprach. Er blickte Kythara offen in die Augen. Als er sah, dass sich in ihren Mundwinkeln die zarte Andeutung eines Lächelns zeigte, ein kurzes Zucken nur, wusste er, dass seine Botschaft angekommen und angenommen war. Beruhigt lehnte er sich zurück und dachte darüber nach, was sie tun würden, sobald sie Helmdor erreichten. Währenddessen ratterte der Zug unermüdlich weiter westwärts durch die Nacht. Die anderen waren längst eingeschlafen, als Lethem immer noch aus dem Fenster starrte. Der Kristallmond hing riesenhaft und bleich glitzernd über dem Land, teilweise verdunkelt durch die davor schwebenden Brocken des Obisidianrings. Manche dieser Brocken lösten sich aus dem Verband und schlugen in aufwirbelnden Explosionen in dem Mond ein. Kleine Teilchen traten in die Atmosphäre Vinaras ein und sausten als verglühende Sternschnuppen am nächtlichen Himmel dahin. So war es zumindest bisher gewesen. Doch die Auflösung des Rings ging jetzt rasant voran. In der Ferne sah Lethem einen richtigen Sternregen. Polarlichter waberten durch die Luftschichten, farbenprächtige Vorhänge aus Grün, Gold, Rot und Silber. Durch diese Vorhänge zogen die riesigen, mattgoldenen Technostädte, über denen die
schwarzen Brocken hingen. Als ob die Zeit auf einmal schneller lief, ballten sich rot geränderte Wolken zusammen, türmten sich zu immer gewaltigeren Bergen auf, die stakkatoartig von Wetterleuchten erhellt wurden. Gleich darauf öffneten sich die Schleusen, und ein schwerer Regen fiel herab, der die Sicht fast völlig verdeckte. Wenige Minuten später ging der Regen in Hagel über. Faustgroße Körner trommelten auf das Zugdach. Mitten in der Einöde hielt die Bahn an. Die ersten Scheiben gingen zu Bruch, von Hagelkörnern durchschlagen. Sofort drängte der Sturmwind fauchend herein, brachte Nässe und Kälte mit sich. Draußen krachte der Donner, Blitze fuhren unaufhörlich herab, die Luft war elektrisiert, und es stank nach Verbranntem. »Seht …«, flüsterte Falk, der durch das Unwetter aufgewacht war, und deutete bleich zu einem zerbrochenen Fenster, das einigermaßen Sicht nach draußen bot. Lethem schluckte. Aus den Sternschnuppen waren brennende Bälle geworden, die auf den Boden herabfielen. Detonationen der Einschläge brachten den Zug zum Zittern. Trotz des Regens begann das Land zu brennen, als die Glutbälle zerbarsten. »Achtung!«, schrie Enaa. Die Akonin riss instinktiv den Arm hoch, um sich zu schützen. Und Lethem sah, wie einer der Glutbälle, umgeben von einer Flammenlohe, direkt auf den Zug zuraste …
ENDE
Atlan und sein geheimnisvoller Begleiter erreichen das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Tamilion muss unter allen Umständen dorthin gelangen, da eine Mission von größter Bedeutung davon abhängt. Die beiden werden von Fremden verfolgt, die sie an der Passage hindern wollen. IM ZEICHEN DES KRISTALLMONDES
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Unter diesem Titel schildert Bernhard Kempen, wie sich Atlan den Gegnern zum Kampf stellt. Band fünf dieser zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.