Peter Schay · Ingrid Liefke Sucht und Trauma
Peter Schay · Ingrid Liefke
Sucht und Trauma Integrative Traumatherapie...
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Peter Schay · Ingrid Liefke Sucht und Trauma
Peter Schay · Ingrid Liefke
Sucht und Trauma Integrative Traumatherapie in der Drogenhilfe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Kea Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16131-0
Dieses Buch widmen wir unseren Patienten, die uns wichtige und kritische Berater in unserer Arbeit sind, und die uns mit ihrem Vertrauen und ihrer Offenheit dieses Werk ermöglicht haben.
Herrn Peter Osten, Herrn Dr. Rolf Wohlgemut und Ingrid Schay gilt unser besonderer Dank für die vielen äußerst fruchtbaren Anregungen und Diskussionen, deren Ergebnisse wesentlich zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben.
Inhalt
Vorwort ................................................................................................. 11 1 Einleitung ........................................................................................ 13 2 Suchtverständnis und Suchttherapie .......................................... 15 2.1 Suchtverständnis ...................................................................... 2.2 Suchttherapie ........................................................................... 2.3 Stand der Drogentherapieforschung ........................................ 2.3.1 Die Dauer der Therapie ................................................. 2.3.2 Strukturmerkmale .......................................................... 2.3.3 Patientenmerkmale ........................................................ 2.3.4 Therapeutische Beziehung ............................................ 2.4 Fazit ..........................................................................................
15 17 20 27 29 30 32 37
3 Sucht als Ursache oder Folge von Traumatisierungen ............. 39 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Sucht als komorbide Störung ................................................... 40 Sucht als Folge von Traumatisierungen .................................. 42 Epidemiologische Daten und Prävalenz .................................. 43 Traumatherapie ........................................................................ 47 Fazit .......................................................................................... 48
4 Definition und Diagnostik von Trauma und PTBS ..................... 51 4.1 Definition von Trauma .............................................................. 51 4.2 Diagnostik einer PTBS nach ICD-10 und DSM-IV ................... 55 4.2.1 Patientenbeispiele ......................................................... 61 4.3 Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom ............ 65 4.4 Trauma und PTBS aus dem Blickwinkel der Neurobiologie .... 67 4.5 Aussagen zum diagnostischen Verfahren der Integrativen Therapie ................................................................................... 71
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Inhalt
4.5.1 Biographische Anamnese .............................................. 78 4.6 Diagnostik nach einem psychoanalytisch/psychodynamischen Ansatz ................................................................ 86 4.7 Fazit .......................................................................................... 93 5 Trauma und Sucht ......................................................................... 95 5.1 Traumatische Erfahrungen und die individuellen Anpassungsprozesse ............................................................... 97 5.1.1 Traumatische Erfahrungen ............................................ 99 5.1.2 Traumatische Situation ................................................ 101 5.1.3 Traumatische Reaktion ................................................ 101 5.1.4 Traumaverarbeitungsprozeß ....................................... 102 5.1.5 Risikofaktoren, Resilienzen, Protektive Faktoren ........ 104 5.2 Behandlungsanforderungen und -ziele .................................. 112 5.3 Therapeutische Beziehung .................................................... 115 5.4 Erfordernisse der Behandlung einer PTBS auf dem Hintergrund der IT .................................................................. 117 5.5 Behandlungsgrundsätze für Patienten in der medizinischen und sozialen Rehabilitation .................................................... 119 5.6 Therapieimplikationen aus Sicht der Neurobiologie .............. 123 5.7 Fazit ........................................................................................ 126 6 Integrative Therapie ..................................................................... 129 6.1 Persönlichkeitstheorie/Gesundheits- und Krankheitsverständnis der IT ................................................................... 132 6.1.1 Die Fünf Dimensionen der Identität ............................. 134 6.1.2 Gesundheits- und Krankheitsverständnis .................... 141 6.1.3 Protektive Faktoren ...................................................... 143 6.1.4 Dynamische Regulation ............................................... 146 7 Behandlungsgrundlagen der IT .................................................. 149 7.1 Die vier Wege der Heilung und Förderung ............................ 150 7.2 Die 14 therapeutischen Wirkfaktoren ..................................... 152 8 Drogenhilfesystem Herne ........................................................... 157
Inhalt
8.1 Leistungen zur medizinischen und sozialen Rehabilitation Suchtkranker im Therapieverbund Herne .............................. 8.1.1 Adaption als Leistung der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Phase II der medizinischen Rehabilitation .................................................... 8.1.2 Ambulantes Betreutes Wohnen für abhängigkeitskranke Menschen (Phase III der sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger) ............................................... 8.2 Übergeordnete Behandlungsziele .......................................... 8.2.1 Das Konzept der Leiblichkeit in der IT .........................
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167 172 178
9 Das Behandlungssetting ............................................................. 181 9.1 Behandlungsvertrag ............................................................... 182 9.2 Behandlungselemente (vgl. Schay, Liefke 2007) ................. 182 9.2.1 Ressourcenorientierte Einzelgespräche ...................... 183 9.2.2 Genderspezifische Angebote ....................................... 185 9.2.3 Ressourcenorientierte Gruppengespräche .................. 186 9.2.4 Bewegungstherapie/Entspannungstechniken ............. 189 9.2.5 Soziotherapie ............................................................... 192 9.2.6 Arbeit mit dem Rückfall/Rückfallpräventionstraining ... 192 9.3 Traumaspezifische Behandlungselemente ............................ 198 9.3.1 Ressourcenorientierte Einzeltherapie .......................... 198 9.3.2 Die Bedeutung physischer Aktivität in der Traumaund Suchttherapie ........................................................ 199 9.3.3 Entspannung im Rahmen der Traumatherapie ........... 200 9.3.4 Arbeit mit dem Rückfall ................................................ 203 10 Behandlungsaspekte/-verlauf .................................................... 205 11 Ziele und Design der Studie ...................................................... 217 11.1 Beschreibung der Methodenauswahl und des wissenschaftlichen Hintergrundes .................................................... 222
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Inhalt
12 Fragebögen und Datenzugang .................................................. 225 12.1 Ergebnisse ............................................................................. 227 12.1.1 Ergebnisse:Patienten-/Kontrollgruppe am Therapiebeginn der traumaspezifischen Behandlung ............. 234 12.1.2 Ergebnisse: Patienten-/Kontrollgruppe am Therapieende der traumaspezifischen Behandlung ............................................................... 242 13 Diskussion der Ergebnisse ........................................................ 261 14 Abschließende Bemerkungen ................................................... 271
Literaturangaben ................................................................................. 275
Vorwort
„Wenn wir über Trauma und traumatisierte Menschen reden, dann reden wir von der Zerstörung des Selbst und von dem Verlust von Glück. ... von der Abgrunderfahrung, ... von „broken spirits“, die das Trauma, der Sturz in den Abgrund zurückläßt“ (Ottomeyer 2008, 43ff). „Das Wort „Trauma“ bedeutet im Griechischen „Wunde“ oder „Verletzung“, in der Psychologie steht es für eine starke seelische Erschütterung, die (im Unbewußten) noch lange wirksam ist“ (Mauelshagen 2008, 85).
Die Anamnese von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen vom Borderlinetyp, Suchterkrankungen, Eßstörungen, autoaggressivem Verhalten und Somatisierungs- und Angststörungen weist oft psychosoziale Krisen und traumatische Erfahrungen auf. Ö
Kennzeichnend für eine psychosoziale Krise ist der „Verlust des seelischen Gleichgewichts, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und dem Ausmaß her seine ... Fähigkeiten ... zur Bewältigung seiner Lebenssituation überfordern“ (Sonneck 2003, 319).
In unserer Arbeit begegnen wir seit Jahren diesen Phänomen. Viele 1 unserer Patienten haben Deprivation, körperliche und sexuelle Gewalt erfahren, sind in schwerste psychosoziale Krisen geraten. Diese Erfahrungen haben sich schädigend auf ihre Seele und ihren Körper ausgewirkt.
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In den verschiedenen Arbeitsbereichen der Drogenhilfe wird von Klient bzw. Patient gesprochen. Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir „Patient“. Auch verwenden wir das generische Maskulinum (der Patient, der Suchtkranke, der Mitarbeiter, der Therapeut), das männliche und weibliche Personen mit einschließt. Zu einer der sehr umständlichen neuen Schreibweisen konnten wir uns nicht entschließen.
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit greift die Erfordernisse in der Behandlung von traumatisierten Patienten, die offensichtlich unter den Folgesymptomen leiden, im Kontext der Phasen II (Adaption) und III (Betreutes Wohnen) der medizinischen und sozialen Rehabilitation auf (vgl. auch Kap. 8). Unsere Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit dieser Klientel zeigen uns, daß wir bei diesen Patienten mit dem herkömmlichen Behandlungssetting der medizinischen und sozialen Rehabilitation häufig an Grenzen kommen. Auf dem Hintergrund unserer therapeutischen Ausbildung im Verfahren der Integrativen Therapie und unserer Ausbildung als Fachberater für Psychotraumatologie können wir für diese Patienten ein therapeutisches Setting gestalten, das die Störungsbilder Sucht und Folgestörungen traumatischer Erlebnisse berücksichtigt. Wir wollen mit der Studie „Integrative Traumatherapie in der Drogenhilfe“ untersuchen, inwieweit dieser Behandlungsansatz adäquate und meßbare Therapieerfolge ermöglicht. Unsere Thesen lauten: 1) Der überwiegende Teil der Patienten in unseren Einrichtungen hat traumatische Erfahrungen im biographischen Kontext erlebt, 2) sie haben in deren Folge Symtome einer Posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt und 3) ein traumaspezifischer Behandlungsansatz kann bei dieser Patientengruppe zu besseren Behandlungsergebnissen führen. Wir danken besonders unseren Patienten für ihre Bereitschaft, uns ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Die Patienten wurden über die Studie und die Freiwilligkeit der Teilnahme von den Autoren informiert. Die Anonymität der Patienten wurde durch einen selbstgenerierten Zahlen-/Buchstabencode gewährleistet.
1 Einleitung
In der vorliegenden Studie zur praxisbezogenen Psychotherapieforschung gehen wir theoretisch und praktisch der Frage nach der Relevanz von Posttraumatischen Belastungsstörungen im Kontext Sucht nach und erarbeiten einen traumatherapeutischen Ansatz, der Elemente der Traumatherapie und der Suchttherapie auf dem Hintergrund der Integrativen Therapie beinhaltet. Zur Veranschaulichung der theoretischen Aussagen und Diskussionen in praktischer Hinsicht fließen zwei Fallbeispiele (Patient aus der Adaptionseinrichtung, Patientin aus dem Ambulant Betreuten Wohnen) in die Arbeit ein. In Kapitel 2 geben wir zunächst einen Überblick über die unterschiedlichen Definitionen von Sucht, so daß die Komplexität des Themas Sucht deutlich wird. Dann skizzieren wir einen integrativen Ansatz von Suchttherapie. Eine Auseinandersetzung mit den generellen Wirkfaktoren in therapeutischen Prozessen schließt sich an und mündet in der Diskussionen der Wirkfaktoren im Kontext der Suchttherapie. Da das Thema Rückfall und Rückfallprophylaxe in der medizinischen und sozialen Rehabilitation von besonderer Bedeutung ist, setzen wir uns hier mit den Aspekten dieser Problematik auseinander. In Kapitel 3 setzen wir uns mit dem Thema Polytraumatisierungen und Posttraumatische Belastungsstörung im Kontext der Sucht auseinander, da Sucht in der einschlägigen Fachliteratur entweder als komorbide Störung (vgl. Boos 2005, Keane, Wolfe 1990, Kulka et al. 1990) oder als Folge von Traumatisierungen (vgl. Flatten 2004, Lüdecke et al. 2005, Petzold et al. 2000, Reddemann 2005) diskutiert wird. In Kapitel 4 erläutern wir die Definition von Trauma und Posttraumatischer Belastungsstörung. Die Diagnosekriterien des ICD-10 und DSM-IV erweitern wir durch das diagnostische Verfahren der Integrativen Therapie (vgl. Osten 2006, Petzold, Osten 1998). Das Verlaufsmodell psychischer Traumatisierungen nach Fischer/Riedesser (2003) vervollständigt
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1 Einleitung
eine umfassende Diagnostik und ermöglicht eine angemessene Behandlungsplanung. Traumatische Erfahrungen in der Biographie können Menschen verändern und zu individuellen Anpassungsprozessen führen. In Kapitel 5 formulieren wir spezifische Anforderungen an die Behandlung und diskutieren Zielvorstellungen, wobei die therapeutische Beziehung eine zentrale Rolle spielt. Die Darstellung des in unseren Einrichtungen praktizierten Ansatzes der Integrativen Therapie folgt in Kapitel 6. Die Persönlichkeitstheorie und das Krankheitsmodell der Integrativen Therapie sind daher für unsere Fragestellung von besonderer Relevanz. In Kapitel 7 beschäftigen wir uns mit den Behandlungsgrundlagen der Integrativen Therapie, wobei die „Vier Wege der Heilung und Förderung“ und die „14 Wirkfaktoren“ für unser Thema von besonderer Bedeutung sind. Im Kapitel 8 stellen wir das Drogenhilfesystem in der Stadt Herne dar. Da die mit der Studie untersuchten Patienten in den Settings der Adaption und des ambulant betreuten Wohnens behandelt werden, haben wir uns in der detaillierten Beschreibung auf diese Behandlungsbereiche beschränkt. Das Behandlungssetting der medizinischen und sozialen Rehabilitation unserer Einrichtung stellen wir in Kapitel 9 dar. Mit allgemeinen und spezifischen Behandlungsaspekten und Behandlungsverlauf/-ergebnis setzen wir uns in Kapitel 10 auseinander. In Kapitel 11 erfolgt die Beschreibung der Methodenauswahl und des wissenschaftlichen Hintergrundes. Die Ergebnisse der Studie stellen wir in Kapitel 12 vor; in Kapitel 13 diskutieren wir die Ergebnisse. Abschließende Bemerkungen machen wir in Kapitel 14.
2 Suchtverständnis und Suchttherapie
2.1 Suchtverständnis Abhängigkeit von Suchtstoffen bezeichnet einen Zustand psychischer und/oder physischer Abhängigkeit von einer Substanz mit zentralnervöser Wirkung, die zeitweise oder fortgesetzt eingenommen wird, um durch bestimmte Reize oder Reaktionen Lustgefühle oder Lustzustände herbeizuführen bzw. Unlustgefühle zu vermeiden. Sucht ist definiert als „unbezwingbares, gieriges seelisches Verlangen, mit der Einnahme der Droge fortzufahren (WHO 1985)“ (Krausz et al. 2005, 484). Diese Definition zur Abhängigkeit von Suchtstoffen findet sich generell in der Fachliteratur wieder. Ergänzend heben einige Autoren die sozialen Auswirkungen von Sucht hervor. Der FDR (2006, 31) betont die zerstörerische Wirkung von Sucht (addiction) auf das Individuum und die Gesellschaft und beschreibt als Charakteristika das zwanghafte Verlangen, die Drogeneinnahme fortzusetzen, eine Tendenz zur Dosissteigerung und die psychische (psychologische) und allgemein physische Abhängigkeit von den Drogenwirkungen. Wanke, Täschner (1985, 13) heben bei stoffgebundenen Suchtformen drei Komponenten hervor, wobei unserer Meinung die individuelle Grundstörung (z.B.: Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typ (F60.31), dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2)), die eine Suchtentwicklung einleitete, hier besonders relevant ist. Diese Sichtweise wird von der Deutschen Hauptstelle gegen die Sucht (DHS) geteilt: „Sucht ist in erster Linie ein psychisches Problem, mit in der Regel bald auftretenden sekundären, körperlichen und sozialen Folgen. Sucht ist gekennzeichnet durch einen eigengesetzlichen Ablauf und durch den fortschreitenden Verlust freier Verhandlungsfähigkeit und Kontrolle über das eigene Verhalten. Sucht liegt dann vor, wenn eine prozeßhafte Abfolge in sich gebundener Handlungen kritisch geprüfte, sorgfältige und folgerichtig gesteuerte Handlungsabläufe ersetzt. Sucht ist stets Krankheit. ... Sucht zeigt sich als latente Suchthaltung und als manifestes süchtiges Verhalten. Süchtiges Verhalten mit Krankheitswert liegt
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
vor, wenn dieses nicht mehr angesichts einer Flucht- oder Unwohlsituation eintritt, sondern zu einem eigendynamischen, zwanghaften Verhalten wird, das sich selbst organisiert hat und sich rücksichtslos beständig zu verwirklichen sucht“ (zitiert nach: www.dhs.de/daten_ suchtdefinition.html, 12.10.2006).
Bis auf den ICD-10 und DSM-IV gibt es keine allgemeine und von allen Disziplinen (Medizin, Psychologie, ...) anerkannte Definition von Sucht (Wolf 2003, 17), was „als Ergebnis der multidisziplinären Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sucht gedeutet werden (kann)“. „Ein geschlossener theoretischer Ansatz zur Ursache von Süchten liegt bisher nicht vor. ... Die fachtheoretische Diskussion ist gekennzeichnet durch eine Fülle von Einzelbefunden. ... Die Unübersichtlichkeit und teilweise auch Widersprüchlichkeit in den Ergebnissen erscheint für die Praxis der Drogenhilfe wenig hilfreich“ (FDR 2006, 42).
Die internationalen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV – in Ergänzung mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD), die auf den Achsen I-V: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen I, Beziehung II, Konflikt III, Struktur IV, psychische und psychosomatische Störungen V basieren, sind die derzeit gebräuchlichen internationalen diagnostischen Manuale und differenzieren nach Begriffen wie „schädlichem Gebrauch“ oder „Mißbrauch“, ohne daß bereits ein Abhängigkeitssyndrom vorliegt (ICD-10). Nach DSM-IV wird definiert, daß unter Mißbrauch ein unangepaßtes Konsummuster psychotroper Substanzen zu verstehen ist, das durch wenigstens eines der folgenden Kriterien gekennzeichnet ist:
Fortgesetzter Gebrauch trotz des Wissens um ein ständiges oder wiederholtes soziales, berufliches, psychisches oder körperliches Problem, das durch den Gebrauch der psychotropen Substanzen verursacht oder verstärkt wird. Wiederholter Gebrauch von Substanzen in Situationen, in denen der Gebrauch eine körperliche Gefährdung darstellt (z.B. Alkohol am Steuer).
In der Integrativen Therapie ist „Drogenabhängigkeit eine komplexe somatische, psychische und soziale Erkrankung, die die Persönlichkeit des Drogenabhängigen und sein soziales Netzwerk und seinen makroökologischen Rahmen betrifft, beschädigt und – wenn sie lange genug wirkt – zerstört. Drogenabhängigkeit hat eine multikausale, zum Teil sehr stark variierende Genese. Sie zeigt unterschiedliche Ausprägungen und Verlaufsformen, abhängig von genetischen Dispositionen, biographischen
2.2 Suchttherapie
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Vorschädigungen, psychosozialer Gesamtsituation/Lebenslage, Grad der Chronifizierung, Ressourcenlage“ (Petzold 2004, 515). Sucht bzw. Abhängigkeit werden auch in der Integrativen Therapie verstanden als dysfunktionaler Versuch der Konflikt- und Problemlösung in einem supportarmen Kontext durch eine geschädigte Persönlichkeit mit einem defizienten Selbst, einem schwachen Ich und einer sich selbst entfremdeten Identität. Diese stellen das Resultat multipler Schädigungen in der Lebensspanne bei Abwesenheit protektiver Faktoren und Resilienzen dar, wobei in der Regel vielfältige Negativfaktoren (z.B. zeitextendierte Belastung oder Überlastung, chains of adversice events) kumulativ zum Tragen kommen (vgl. Petzold 2003a). Diese multifaktoriell bedingte Fehlentwicklung bedarf deshalb in einer karrierebezogenen Langzeitstrategie psycho- und soziotherapeutischer Interventionen (intermittierende Karrierebegleitung) unter Einbeziehung der Aktivierung protektiver Umwelt- und Persönlichkeitsfaktoren und positiver Ressourcen des sozialen Netzwerks bzw. Konvois (vgl. Petzold, Schay, Hentschel 2004).
2.2 Suchttherapie Hilarion G. Petzold hat bereits in den 60er Jahren Konzepte in der Arbeit mit Drogenabhängigen ausgearbeitet und dabei neben philosophischen (anthropologischen, erkenntnis- und ethiktheoretischen) Fragestellungen und gesellschaftlichen Perspektiven sowohl neurophysiologische und psychologische Untersuchungsergebnisse als auch sozialwissenschaftliche Forschungen berücksichtigt. Hiermit ist eine geeignete Grundlage zur Interpretation des klinischen Störungsbildes und des gesellschaftlichen Phänomens der Drogenabhängigkeit im Kontinuum des life span development der einzelnen Abhängigen und ihrer Konvois gegeben (vgl. Petzold, Goffin, Oudhof 1993). Dabei werden auch Aspekte der Netzwerkarbeit (vgl. Hass, Petzold 1999), leib- und bewegungs- sowie kreativ-therapeutische Aspekte (vgl. Petzold, Orth 1990) berücksichtigt. Das Konzept der Integrativen Therapie für die Behandlung Suchtkranker verbindet theoriegeleitete, multimodale Kombinationsbehandlungen, die differentiell und integrativ Psychotherapie, Sozialtherapie, Bewegungs-/Sporttherapie, Netzwerk/Familientherapie und ggf. Pharmakotherapie umfassen – ergänzt durch agogische Maßnahmen und Förderprogramme. Diese versprechen bessere Erfolge als mono- oder
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie 2
biomodale Behandlungsansätze , weil nur ein solch komplexes, ’konzentriertes Vorgehen’ dem modernen biopsychosozialen Gesundheits-/ Krankheitsmodell entspricht (vgl. auch 8.1.1.1). Es hat auch das Potential, zu den erforderlichen Um- und Neubahnungen dysregulierter neuro3 humoraler Muster zu führen, zur Veränderung inadäquater Narrative/Schemata auf der kognitiven/emotionalen/volitiven Ebene und der damit verbundenen psychosozialen Verhaltensweisen sowie insgesamt zu einer Umstellung dysfunktionaler Lebensstile. Ö Ö
Es entspricht unserem umfassenden, modernen Verständnis des komplexen Krankheits-/Störungsbildes „Suchterkrankung“ und zwar sowohl in seinen psychosozialen als auch in seinen klinischpsychologischen und neurobiologischen Dimensionen, daß Behandlungs- und Rehabilitationsangebote mit integrativ-therapeutischen Ideen entwickelt werden (vgl. Petzold et al. 2006).
Gerade diese empirisch-wissenschaftliche Orientierung ist wichtig, für die Ätiologie und die therapeutisch-interventive Strategiebildung und Praxis. Diese Breite der Sicht und die Vielseitigkeit konzeptueller Möglichkeiten ist für eine qualitativ hochwertige Behandlung wesentlich.
2
3
In der Integrativen Therapie wird dies in der Ausbildung der Therapeuten berücksichtigt (vgl. Petzold 1999, Petzold, Steffan 2001): Der Therapeut nutzt seine vielfältigen Wissensbestände und seine persönliche und methodische Vielseitigkeit, Kreativität und Flexibilität. Als wesentliche Qualität schlägt sich in der Praxis die von den Ausbildern erfahrene Wertschätzung nieder, die sie den von ihnen behandelten Patienten genauso weitergeben. Neuropsychotherapie als gezielte und systematische Bahnung neuer Lebenserfahrungen Neuropsychotherapie befaßt sich in erster Linie mit den Lebenserfahrungen des Menschen (Schore 2001, Sachsse 2003). Im Gehirn werden diese Lebenserfahrungen verarbeitet und auf ihre Bedeutungen im Hinblick auf die Bedürfnisse des Menschen abgeglichen. Psychotherapie strebt an, Sinn stiftende Konstrukte anzubieten und einen Zustand herzustellen, in dem eine gute Befriedigung der Grundbedürfnisse ermöglicht wird. Die menschliche Persönlichkeit ist im so genannten „impliziten Selbst“ (LeDoux 2002) gegründet, es bestimmt unser Erleben und Verhalten, ist jedoch der Introspektion nicht zugänglich. Alte synaptische Übertragungsbereitschaften können nur durch neue reale und gegenwärtige Erfahrungen gehemmt werden. Neue neuronale Erregungsbereitschaften werden wiederholt gebahnt, damit sie künftig alte neuronale Erregungsbereitschaften hemmen können.
2.2 Suchttherapie
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In Koordination mit den psychotherapeutischen Maßnahmen (vgl. auch Pkt. 8.1.1: Inhalte und Ziele der Adaption) können insbesondere Probleme der Willensentscheidung, der Willenskraft und des Durchhaltevermögens, Fähigkeiten, die in der Sozialisation oftmals geschädigt waren, bearbeitet werden – ein (noch) vernachlässigtes Thema in der medizinischen und sozialen Rehabilitation Suchtkranker (vgl. Petzold 1993a/2003a). „Der Wille als Begriff im Kontext von Psychotherapie umfaßt die „Gesamtheit aller volitiven Aktivitäten (das Wollen) und ihre neurophysiologischen und psychologischen Grundlagen“ letztlich auch deren Umsetzung im Wollen, d.h. in willensbestimmte Handlungen. Der Wille ist deshalb ... zu sehen ... prozessual als Willensvollzug, als sich realisierendes Wollen“ (Petzold 2002b, 9).
Der Wille setzt sich „in zielgerichtetem und zielstrebendem ... Handeln (um): durch hinlänglich souveräne Willensentscheide und persönliche Willenskraft ... (ebenda, 10). „Dabei wird die Fähigkeit, den eigenen Willen mit dem Wollen Anderer in Prozessen der Abstimmung und des Aushandelns ... zu koordinieren ... als wichtige Lebenstechnik besonders gut entwickelt, wenn das familiale bzw. soziale Umfeld diese Entwicklungen unterstützt. Psychologische Willenspathologien wie Willensschwäche, (Böswilligkeit, Unwillen, gleichgültiges Nichtwollen, aggressiver Gegenwille), Entschlußlosigkeit ... usw. können dann verhindert werden“ (ebenda, 19).
In den Entwicklungs- und Lernprozessen des Patienten im Kontext der medizinischen und sozialen Rehabilitation hat der Wille, also die Fähigkeit zu wollen, eine herausragende Bedeutung. Im Therapieprozeß vollzieht sich eine Willenssozialisation, die als ein Miteinander zu verstehen ist, wie es beispielsweise für die familiale Interaktion kennzeichnend ist. Suchterkrankungen zählen aus therapeutischer Sicht zu den sogenannten basalen Störungen (vgl. auch 9.), die eine modifizierte und speziell für die Behandlung dieser Erkrankungen „zugepaßte“ Vorgehensweise notwendig macht. Suchtmittelabhängige leiden unter einem erheblichen Identitätsverlust. Entsprechend sind die 5 Säulen der Identität (→ Leiblichkeit, → Soziales Netzwerk, → Arbeit und Leistung, Freizeit, → Materielle Sicherheit, → Werte und Normen) (schwer) geschädigt, vielfach zerstört oder wurden erst gar nicht entwickelt. Die soziale Kompetenz der Patienten, ihre Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, ihre Fähigkeit sich selbst und andere wahrzunehmen, zu erfassen, zu verstehen und sich mitzuteilen, ist „verarmt“ (vgl. 6.1.1).
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
Dementsprechend muß es in der Suchttherapie um die Integration dissoziierter und abgespaltener Gefühle und Erfahrungsbereiche gehen, mit dem Ziel der Entwicklung einer reifen und stabilen Identität. „Die komplexen und belastenden Lebens- und Sozialwelten suchtkranker Menschen, ihre in der Regel schwierigen sozialen Situationen, zerbrochenen Netzwerke, mangelnden Ressourcen, Traumatisierungen, die oft erhebliche Kommorbidität, Doppeldiagnosen machen konzertierte Maßnahmen notwendig, die psychotherapeutische, soziotherapeutische, beraterische, supervisorische Konzepte und Methoden vernetzen, klinisch-psychologische, sozialpsychologische bzw. sozialwissenschaftliche Erkenntnisse verbinden“ (Petzold, Schay, Hentschel 2004, 94).
Sucht(psycho)therapie wirkt sowohl den verfestigten (süchtigen) Beziehungsstrukturen als auch den inneren Suchtmechanismen entgegen. Sie fördert die Selbstverantwortung, Autonomie, Souveränität und damit die Identitätsbildung des Abhängigen. Sie macht die Funktionalität von Suchtstörungen deutlich, knüpft an Ressourcen an und unterstützt den Aufbau gesunder Ich-Funktionen und funktionierender Beziehungsstrukturen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Umsetzung von Entwicklungsprozessen mit längerfristiger Perspektive „im Lebenskontext des Betroffenen sowie die Stabilisierung einer überdauernden Wirkung von Interventionen mit nachfolgenden Verhaltensänderungen und Lernergebnissen ... langwierig und selten geradlinig“ (Funke 1998) ist. Aus Sicht der Patienten sind „längerfristige psychotherapeutische Behandlungen durch spezialisierte ärztliche, psychologische und sozialarbeiterische Psychotherapeuten ... effektiver“ (ebenda). Diese Wirkungszusammenhänge sind in dem Ansatz der Integrativen Therapie zielgerichtet und patientenorientiert eingebunden.
2.3 Stand der Drogentherapieforschung Bevor wir uns der Frage „Was wirkt in der Behandlung Drogenabhängiger?“ zuwenden und wie sich der spezifische Behandlungsansatz der Integrativen Traumatherapie in der stationären medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger auswirkt, ist ein Blick auf die generellen Wirkfaktoren in therapeutischen Prozessen notwendig. Wissenschaftliche Untersuchungen definieren als Wirkfaktoren im Therapieprozeß Eigenschaften und Fähigkeiten des Therapeuten wie Einfühlsamkeit, Wärme, Geduld, Hilfe und Empathie (vgl. auch Petzold
2.3 Stand der Drogentherapieforschung
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et al. 2000, Steffan, Petzold 2001). Weitere wirksame Elemente sind interpretierbare integrativ-gestalttherapeutische Methoden und Techniken. Bedeutsam waren auch allgemeine unspezifische therapeutische Haltungen und Methoden wie Akzeptanz, Ermutigung, Selbstreflexionsund Selbstwertförderung (vgl. Petzold, Sieper 1993). Die Dimension der gezielten Auseinandersetzung mit Emotionen, vor allem die Unterstützung beim Zulassen unbequemer Gefühle wie Angst oder Wut ist ebenso relevant (vgl. ebenda). Positive Gruppenerfahrungen und die Auseinandersetzungen mit der persönlichen Vergangenheit (Familienbeziehungen) waren, wie die Studie von Schigl (2002) belegt, weniger bedeutsam. Ein weiterer entscheidender Wirkfaktor im „Gesundwerden“ des Menschen ist der Faktor Zeit, da Erkenntnis- und Heilungsprozesse reifen müssen, damit der Patient seine Potentiale, Kompetenzen, Ressourcen und protektiven Faktoren (wieder) entwickeln kann. Da sich die generelle Fragestellung nach der allgemeinen Wirksamkeit als zu grob und wenig ergiebig erwiesen hat, versuchen neuere Forschungsansätze mehr ins Detail zu gehen und herauszufinden, welche Faktoren im Einzelnen wirken. Dies beinhaltet verbales, aber auch nonverbales Geschehen und insbesondere die Interaktion zwischen Therapeut und Patient (vgl. Petzold 2004). „Therapeutische Interventionen sind Verhaltensmuster des Therapeuten (Anm. d. Verf.: in einem bestimmten institutionellen Rahmen), welche im Kontext anderer Verhaltensmuster, Kognitionen und Affekte (des Therapeuten wie des Klienten) stehen. Abhängig davon können sehr ähnliche Interventionsstrategien deutlich unterschiedliche Wirkungen erzeugen und sehr unterschiedliche Interventionsstrategien sehr ähnliche Wirkungen“ (Schiepek 2000, 72).
Da einzelne Studien immer nur Stückwerk bleiben und lediglich einzelne Aspekte beleuchten, erscheint es uns sinnvoll, den mittlerweile unüberschaubaren Fundus an Forschungsresultaten in zusammenfassender Weise darzustellen.
Die große Berner-Meta-Analyse „Psychotherapie im Wandel“ (Grawe, Donati und Bernauer 1994): Diese (mittlerweile klassische, aber in bezug auf die Verhaltenstheorie tendenziöse) Studie umfaßt die Zusammenschau fast aller existierenden Psychotherapieformen mittels standardisierter Meßverfahren (in erster Linie den Effektstärken). Dieses „Handbuch" zeigt in einheitlicher Art und Weise viele Ergebnisse zu vergleichenden Wirkungen in der Therapie. Leider wurden für die Integrative
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
Therapie/Gestalttherapie (und andere Therapieformen) etliche Studien nicht berücksichtigt, weil deren Qualität als unzulänglich beurteilt wurde. Eine mögliche Wirksamkeit wurde diesen Verfahren jedoch zugeschrieben. Die Studie hat die Psychotherapieformen auf den Ebenen a) Wirkfaktoren, b) Metatheorie, c) Strategien und Methoden und d) Interventionen untersucht. Als Wirkprinzipien benennen die Autoren a) Problembewältigung (Aspekt des „Könnens“ (bzw. nicht-Könnens) des Patienten), b) Klärung (Bedeutung, Sinn, Ziele und Befürchtungen, motivationale Aspekte des Wollens), c) Problemaktivierung (nochmaliges, unmittelbares Erleben der Probleme eines Patienten) und d) Ressourcenaktivierung (Aufgreifen bereits vorhandene Stärken und Fähigkeiten des Patienten). Gunzelmann, Schiepek und Reinecker (1987): Laienhelfer in der psychosozialen Versorgung: Die amerikanischen Psychotherapieforscher Strupp und Hadley (1979) haben herausgefunden, daß begabte Laien (z.B. Universitätsdozenten) ebenso gute Ergebnisse erzielen konnten, wie langjährig erprobte Psychotherapeuten. Da dieses Ergebnis ernüchternd ist, wurden auch auf diesem Gebiet Metaanalysen angestellt, welche wiederum differenziertere Aussagen zulassen. Es sind die Arbeit von Durlak (1979) und die Metaanalyse von Gunzelmann, Schiepek und Reinecker (1987). In ungefähr 95% der Fälle psychischer Probleme werden erst gar keine Experten konsultiert, vielmehr kommt es zu einer Verbesserung der Symptomatik primär durch das Engagement naher Bezugspersonen, also von Laien; hierzu gehören auch die insbesondere für den Suchtbereich sehr verbreiteten Selbsthilfegruppen. Die Autoren betrachteten 184 Studien zur Effektivität von Laienhelfern im Vergleich zu professionellen Therapeuten. Es ergaben sich differenzierte Resultate: Laien sind nur erfolgreicher, wenn der Outcome unmittelbar nach der Therapie gemessen wird. Sie erreichen sehr gute Resultate, wenn es sich a) um stark und gut strukturierte Interventionen und b) um ausgesprochen unspezifische Alltagsaktivitäten handelt, d.h., daß Therapeuten die Entwicklung persönlicher Ressourcen wie Empathie, Interesse, Zuwendung stärker entwickeln müssen. Dilek Sonntag und Jutta Künzel haben 2000 eine Expertise erstellt, in der sie der Frage nachgehen, ob und wie sich die Therapiedauer
2.3 Stand der Drogentherapieforschung
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als Wirkfaktor für eine erfolgreiche Therapie auswirkt. Dabei berücksichtigten sie in ihrer Meta-Analyse alle Publikationen von 1980 bis Dezember 1999, die in deutscher und englischer Sprache vorgestellt wurden. In ihrer Expertise beschäftigen sie sich ferner mit den Wirkfaktoren (vgl. Grawe, Donati, Bernauer 1994), die einen Beitrag zum Therapieerfolg leisten. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß viele Aspekte in dem Wirkgefüge zwischen Therapiesetting, Therapiedauer, Patientencharakteristika und Therapieerfolg noch unklar sind und noch weiter erforscht werden müssen. Sie weisen auf den positiven Effekt hinsichtlich des optimalen Therapieergebnisses bei Verknüpfung von Forschungsstand und Praxis hin. Gemeinsam mit zahlreichen weiteren Untersuchungen, die die Effektivität der Behandlung von Drogenabhängigen in stationären Einrichtungen untersuchen, kommen Sonntag und Künzel zu dem Ergebnis, daß neben der Therapiedauer folgende weitere Wirkfaktoren den Therapieerfolg bestimmen: Patientenmerkmale, therapeutisches Setting, Therapieverfahren, Therapieintensität, Mitarbeitercharakteristika, Therapeut-Patient-Interaktion. Allerdings lassen die bisherigen Untersuchungen keine klaren Gewichtungen der einzelnen Faktoren zu, so daß hier vieles noch unklar ist und weiterer Forschung bedarf. Zur Frage der Wirksamkeit von Therapiefaktoren kommt das amerikanische Projekt MATCH (Projekt MATCH Research Group 1997, 1997a, 1998) zu dem Ergebnis, daß es nur wenig klinisch relevante Allokationsmerkmale gibt; d.h. keine differenzierte Zuordnung zur im Einzelfall optimalen Behandlungsmethode möglich ist bzw. nicht abzuleiten ist, welche spezifischen Interventionen für den Patienten wirksam sind. „Entscheidend sind nicht komplette Behandlungsformen, sondern einzelne Merkmale. Und sie wirken sich nicht immer so aus, wie man vielleicht vermutet hätte“ (Paulus 2007, 49). Lambertz (1992) und Lambertz, Bergin (1994) weisen in ihren umfangreichen Arbeiten nach, daß nicht primär ein psychotherapeutisches Verfahren oder eine psychotherapeutische Technik den Erfolg einer Therapie bewirken, sondern die Interaktion/die Beziehung zwischen Patient und Therapeut mit ca. 40% den wesentlichen Einfluß auf das Therapieergebnis hat. Das therapeutische Milieu muß also als der entscheidende Wirkfaktor betrachtet werden.
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
„Insgesamt zeigt sich, daß offenbar generelle, allgemein-menschliche Parameter sehr ausschlaggebend sind für eine psychotherapeutische Behandlung. Universale und unspezifische Wirkfaktoren sollten demnach also auch für professionelle Helfer herangezogen und angewandt werden. ... Somit sollten sowohl allgemeine wie auch spezifische Wirkfaktoren in einer Psychotherapie vorkommen“ (Frauchinger 2005, zitiert nach: www.markus-frauchinger.ch/wirkfaktoren.htm)4.
In der medizinischen und sozialen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist hier zu berücksichtigen, daß „wir es mit einem biopsychosozialen Behandlungskonzept zu tun haben, das Bereiche abdecken muß, die weit über den Rahmen der Psychotherapie hinausgehen. ... (Dabei ist hervorzuheben, daß) das therapeutische Milieu ... Voraussetzung dafür (ist), daß andere Behandlungen überhaupt wirksam werden können“ (Schneider, Weissinger 2007, 2). Im Feld der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger hat die Integrative Therapie ihre Wirksamkeit vielfach belegt (Übersicht: Leitner 2005, Petitjean 2002, Petzold, Wolf et al. 2000, Schay, Schmidt-Gertz 2002), wobei festzustellen bleibt, daß „katamnestische Untersuchungen der Behandlung Drogenabhängiger ... bisher nicht ... zu einer Einschätzung der langfristigen Wirkungen der Behandlungen geführt“ (Scheiblich, Petzold 2006, 479) haben. Wirkfaktoren einer integrativen Psychotherapie sind (vgl. Schuch 2000, 187ff, zitiert nach: Schay 2006, 12f):
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die therapeutische Beziehung als alternative, „heilsame" Beziehungserfahrung für mögliche Veränderungsprozesse; das Verstehen, um zu einem Bewußtsein von sich selbst und der Welt zu gelangen; die Problemaktualisierung, um Probleme in einem Setting bearbeiten zu können, in dem diese Probleme real erfahren und so einer Bearbeitung zugänglich gemacht werden können;
Auf die Evolutionspsychologie wollen wir in dieser Studie nicht näher eingehen. Die Evolutionspsychologie (vgl. Buss 2004) geht davon aus, daß Kognition und Verhalten eine funktionale Struktur auf genetischer Basis aufweisen und das menschliche Gehirn das Ergebnis einer natürlichen Selektion ist. Die funktionale Struktur fördert Verhaltensmechanismen, die Probleme des Überlebens lösen.
2.3 Stand der Drogentherapieforschung
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die praktische Problembewältigung, um den Menschen in realer Umgebung reale Aufgaben und Probleme zu stellen, auf die sie Antworten finden und – wo möglich – Lösungen entwickeln müssen. Bei nicht auflösbaren problematischen Konstellationen kann es darum gehen, erträgliche Umgangsformen (Copingstrategien) und tragfähige Grundhaltungen zu finden und zu entwickeln; die Ressourcenaktivierung, um an die positiven Möglichkeiten, Eigenarten, Fähigkeiten und Motivationen anzuknüpfen und lösungsorientiert zu arbeiten; die Netzwerkarbeit, um die Einbeziehung der Entwicklung von neuen tragfähigen sozialen Strukturen, von Netzwerken zu ermöglichen, in denen der Patient z.B. Zugehörigkeit, Kollegialität, Partnerschaft, die Qualität von Loyalität, Solidarität erfahren kann; die Identitätsentwicklung, um einen Beziehungsraum anzubieten, in dem verkennenden, entwertenden, stigmatisierenden Fremdattributionen wirksam entgegen gearbeitet werden kann und der die Entwicklung einer hinlänglich stabilen und auch flexiblen Identität ermöglicht; die leibliche Wahrnehmung und Selbstregulation, um eine gute Selbstwahrnehmung und ein differenziertes „eigenleibliches Spüren" zu ermöglichen, die die Voraussetzung für die Herausbildung optimaler, im Selbstgefühl gegründeter Formen der Selbstregulation und die Entwicklung von Sensibilität für Dysregulationen bilden.
Petzold et al. (2000) kommen in ihrer Studie zur Wirksamkeit der Integrativen Therapie zu dem Ergebnis, daß „Kriterien für den Therapieerfolg ... signifikante Veränderungen aufgrund von Vergleichen verschiedener 5 Meßzeitpunkte im Therapieverlauf ...“ (ebenda, 300) sind. Zu berücksichtigen sind hier im Integrativen Ansatz besonders die Bereiche „Leiblichkeit“, „soziales Netzwerk“ und „Wohlbefinden“, sowie die subjektiven Einschätzungen des Therapeuten, des Patienten und seines sozialen Umfeldes, um „direkte von indirekten Veränderungsindikatoren jeweils in Selbst- und Fremdeinschätzung“ (ebenda) zu unterscheiden. 5
Der PDEQ, PTSS 10 und SCL-90-R sind hier als Erhebungsinstrumente für die Erfolgsmessung gut geeignet, allgemein anerkannt und ermöglichen einen wiederholten Einsatz während der Therapie.
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
Um eine evidenzbasierte Qualitätssicherung zu gewährleisten, hat die „Integrative Therapie „vernetzte Konzepte“ und verbindende „Strukturgerüste“ ..., „Integratoren“ auf unterschiedlichen Ebenen ... als „Klammern“ zwischen den Konzepten und Niveaus der Konzeptualisierung elaboriert, die Kategorienfehler zu vermeiden suchen ..., um von einer derart theoretisch geklärten Basis ... Praxismodelle und Interventionsmethoden und -techniken zu entwickeln“ (Steffan, Petzold 2001, 65f).
Die Wirksamkeit von Psychotherapie in der Rehabilitation/Betreuung Suchtkranker haben kontrollierte Studien (vgl. MATCH-Studie von Kadden et al. 1989, MEAT-Studien von Feuerlein et al. 1988) bestätigt, wobei sich hinsichtlich der Wirkvariablen, Wirkvariationen und Wirkungsbedingungen keine eindeutigen Ergebnisse zeigen. „Speziell in der Behandlung Drogenabhängiger hat sich die Integrative Therapie mit ihrem Konzept der „Ko-respondenz“ und der „differentiellen Beziehungsqualitäten ... und mit ihrem „Kontakt- und Beziehungsmodell“ als besonders effektiv erwiesen. ... Insbesondere die ... „Selbstwirksamkeitserwartung“ ..., also die Wirksamkeitserwartung an sich selbst, hat sich als wichtiger Faktor herauskristallisiert. ... Eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung bedeutet auch ein geringes Vertrauen in die Effektivität der Behandlung auf die Veränderung der eigenen Problemlösungskompetenz. ... Suchtkranke mit einer hohen Eigenverantwortlichkeit haben eine internale Kontrollerwartung und das Gefühl, daß sie aufgrund eigener Anstrengung und Fähigkeit in der Lage sind, die Probleme in den Griff zu bekommen, und daß sie selbst für den Erfolg verantwortlich sind. ... Wird dieser Erfolg nun auf die eigene Fähigkeit und Anstrengung zurückgeführt, führt dies zu einem gesteigerten Selbstwertgefühl und einer Erfolgszuversicht, was wiederum zu einer erhöhten Erfolgserwartung und Bekräftigung volitiver Entscheidungen führt“ (Thomas, Petzold, Schay 2006, 415-417).
Als Fazit ist festzustellen, daß sich aus der Forschung keine einheitlichen Aussagen zu den spezifischen Wirkfaktoren der Therapie ableiten lassen. Es gibt in der Fachliteratur (vgl. u.a. Lambertz (1992), Lambertz, Bergin (1994), Orth, Petzold 2004, Petzold 2004) jedoch vielfältige Hinweise, daß die Therapeut-Patient-Interaktion und die Behandlungsdauer von wesentlicher Bedeutung für den Behandlungserfolg sind. Hier sind aber noch weitergehende Untersuchungen notwendig, um diese These zu stützen (vgl. 2.3.1/2.3.4 und 5.2/5.3).
2.3 Stand der Drogentherapieforschung
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2.3.1 Die Dauer der Therapie 1996 begannen die Leistungsträger die Therapiezeiten sukzessive zu verkürzen. Hierbei standen weniger fachliche Überlegungen im Mittelpunkt, als vielmehr ökonomische Gesichtspunkte. Zu beobachten ist, daß in europäischen Staaten (Frankreich, Italien, Großbritannien, Niederlande und Schweden) gleichermaßen der Trend besteht, die Behandlungszeiten zu verkürzen. Zuletzt im Jahr 1997 reduzierte sich die Dauer der stationären Therapie auf 10 Monate, d.h. Drogenabhängige werden nunmehr in einer Regeltherapiezeit von 6 Monaten fachklinisch zzgl. einer Adaptionsphase von 4 Monaten behandelt (VDR 1994, 2001). Dabei ist grundsätzlich die Tendenz zu beobachten, die Therapiedauer nicht mehr für alle Patienten einheitlich, sondern je nach Einzelfall und Indikation individuell zu gestalten. Dies hat dazu geführt, daß die Regeltherapiezeit für die Einrichtungen budgetiert wurde, was bei einem Überschreiten der pro Jahr bewilligten Solltage bedeutet, daß die Leistungsträger sich vorbehalten, die zu viel abgerechneten Pflegetage zurückzufordern. Andererseits können eingesparte Vergütungstage anderen Patienten „gut geschrieben“ und so deren Behandlungszeit verlängert werden. Übereinstimmend kommen Fachverbände (wie Fachverband Sucht (FVS), Bundesverband stationärer Suchtkrankenhilfe (BUSS)) zu dem Ergebnis, daß die durchschnittliche Länge der stationären Drogentherapie in Deutschland insgesamt nicht länger ist als in anderen europäischen Ländern. Abgemildert werden in Deutschland mögliche negative Auswirkungen durch die Einrichtung des beschriebenen „Zeitbudgets“, das auch individuelle Therapiezeiten im Rahmen eines einrichtungsbezogenen Zeitvolumens erlaubt (vgl. Schuhler, Wagner 1996). Die Ergebnisse der DATOS-Studie (vgl. u.a. Broome et al. (2001), Etheridge et al. 1995, 1997 und 1999, Flynn et al. 2003, Herbst 1992, Gossop et al. 1999) belegen, daß eine kritische Grenze der Therapiedauer bei drei sowie bei sechs Monaten für das Erreichen signifikanter Besserungen für den Bereich der Drogentherapie liegt. Patienten die länger als drei Monate in Therapie sind, haben bessere Ergebnisse als Patienten, die kürzer als drei Monate eine Therapie durchlaufen. Noch bessere Ergebnisse erzielten Patienten, deren Therapie länger als 6 Monate dauerte. Die kritische Grenze für eine signifikante Reduktion der kriminellen Aktivitäten sowie eine Vollzeitbeschäftigung bei langzeitstationären Programmen liegt bei 9 Monaten.
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
Die Verkürzung der Therapiezeiten durch die Leistungsträger führte in eine bis heute kontrovers geführte Diskussion darüber, ob eine Verkürzung der Therapiedauer dem Therapieerfolg schadet oder nicht. Die zahlreichen Forschungsergebnisse der letzten Jahre konnten zeigen, daß der Erfolg einer Therapie im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen neben der Dauer der Therapie von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig ist, die zueinander in einem komplexen Zusammenhang stehen. Sonntag und Künzel (2000) kommen in ihrer Expertise zu dem Ergebnis, daß die Therapiedauer als ein Faktor des Therapieerfolges angesehen werden muß. Allerdings konnte in den bisherigen Untersuchungen nicht geklärt werden, welche Gewichtung die Therapiedauer bei der Erreichung des Therapieerfolges im Blick auf andere Wirkfaktoren hat. Die Autoren kommen des weiteren zu dem Ergebnis, daß die Therapiezeit eine wichtige Moderatorvariable für den Therapieprozeß ist. Ferner fanden sie heraus, daß ein Therapieerfolg bei gleicher Therapiezeit, stärker durch die Variation der Behandlungsmodalitäten als durch die Patientenmerkmale gekennzeichnet ist. Es konnte in der Untersuchung allerdings nicht geklärt werden, ob der Therapiedauer die höchste Gewichtung bei der Erreichung eines Therapieerfolges zufällt. Künzel, Sonntag und Bühringer (2001) kommen in einer „Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen Therapiedauer und -erfolg bei alkohol- und drogenabhängigen Patienten zu folgenden Ergebnissen:
„Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg. Die optimalen Zeitfenster für die Behandlung liegen ... zwischen ... vier bis neun Monaten bei Drogenabhängigen. Diese Aussagen gelten nur für Gruppen durchschnittlicher Störungsausprägung. Ungünstige Patientencharakteristika können eine längere Behandlungszeit erfordern“ (zitiert nach: Weissinger, Missel 2006, 54).
Insgesamt wird durch die Studien zur notwendigen Dauer der Behandlung deutlich, daß Kurzzeittherapien nicht zu besseren Behandlungsergebnissen führen. Süß (1995) kommt zu dem Ergebnis, daß eine Therapiedauer von unter 4 Wochen die ungünstigsten Ergebnisse zeigt und ein optimales Ergebnis erreicht wird, wenn die Behandlung 17 Wochen dauert. Dies wird von Sonntag, Künzel (2000) bestätigt, die in ihrer MetaAnalyse zu dem Ergebnis kommen, daß der Therapieerfolg mit der Dauer zunimmt.
2.3 Stand der Drogentherapieforschung
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Moos, Moos (2001, 2003) weisen nach, daß nicht die Intensität der Therapie, sondern die Dauer entscheidend für den Behandlungseffekt ist, wobei bei längerer Behandlungsdauer mit geringer Intensität die bes6 ten Behandlungsergebnisse erzielt wurden . Alle Studien bewerten die Therapiedauer als einen wesentlichen Faktor für den langfristigen Therapieerfolg: Je länger die Therapiedauer, desto höher war die Wahrscheinlichkeit für einen langfristigen Therapieerfolg (vgl. Gossop et al. 1999, Herbst 1992, Roch et al. 1992). Die Therapiedauer muß also als ein Indikator für eine effektive Behandlung neben vielen anderen Faktoren betrachtet werden. Längere Therapiezeiten können z.B. von motivierten Patienten deshalb erfolgreicher genutzt werden, weil sie länger in Therapie bleiben und sich auch mehr engagieren. Hinzu kommt, daß Patienten, die aktiv am Therapieprozeß teilnehmen, sowie kognitive und Verhaltensänderungen während der Therapie aufweisen, im Vergleich zu Patienten ähnlicher Zeiträume bessere Therapieergebnisse erzielen. Offensichtlich sind aber neben der Therapiedauer auch Strukturund Patientenmerkmale für den Therapieerfolg wichtig.
2.3.2 Strukturmerkmale Um den komplexen Anforderungen in der medizinischen und sozialen Rehabilitation gerecht werden zu können, müssen in klinischen Institutionen salutogenese und kontextoriente Parameter erhoben werden, d.h. „Dokumentation des Kontextes, der Therapiewirkungen auf das Verhalten des Patienten ... (sowie) Angaben über die Beteiligung der Mitarbeiter am Therapiekonzept, Therapieprozeß ... . ... Erforderlich sind eine systematische Erfassung von Daten auf verschiedenen Ebenen (z.B. Symptomebene, Persönlichkeitsaspekte, Wohlbefinden, Netzwerkeffekte, Lebenslage), deren Veränderung zu verschiedenen Zeitpunkten erfaßt werden kann. ... Diese müssen an die Bedingungen und Möglichkeiten der therapeutischen Praxis (des klinischen Settings) angepaßt werden“ (Steffan, Petzold 2001, 87). 6
Die Therapiedauer muß auch im Zusammenhang mit der Therapieintensität gesehen werden. Howard et al. (1986) und Simpson et al. (1997, 1997a) haben in ihren Studien nachgewiesen, daß als weitere wichtige Faktoren für einen positiven Therapieverlauf, die Behandlungsintensität bzw. -dosierung sowie die therapeutische Beziehung zu beachten sind. – Auch die Studien von Fiorentine, Anglin (1996) zeigen, daß eine erhöhte Teilnahme an Sitzungen die Therapieergebnisse positiv beeinflussen.
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
Strukturmerkmale legen das Anforderungsprofil der klinischen Institution fest und umfassen das Behandlungsspektrum, die personelle Ausstattung, sowie die diagnostischen und therapeutischen Angebote. Erweitert werden müssen diese Parameter um die räumliche Ausstattung, die Größe der Einrichtung, die Anzahl der Behandlungsplätze, um die Voraussetzungen für einen entwicklungsfördernden Prozeß erfassen zu können. Als wichtige Strukturmerkmale in den DATOS-Studien, die die Therapieergebnisse positiv beeinflussen, nennen Broome et al. (2001), Grella et al. (2003), Hubbard et al. (2003):
Intensität und Strukturiertheit der Therapie; Verhältnis von Behandlungsdauer und -resultaten, Vielfalt der Therapieangebote, Anpassung der Therapieangebote an die Patientenbedürfnisse; genaue und kontinuierliche Analyse des Behandlungsprozesses, Strategien zur Verbesserung der „Behandlungsverpflichtung“ des Patienten, gute Therapeut-Patient Beziehung (vgl. 2.3.4), Art der Intervention des Therapeuten, längerfristige Behandlungsperspektive für den Patienten, um chronische Substanzmittelabhängigkeit und die damit verbundenen Probleme im Behandlungskontext effektiv aufgreifen zu können, reguläre Teilnahme an Selbsthilfegruppen nach der stationären Therapie.
Um die Strukturmerkmale umfassend erfassen zu können, ist eine Bereitschaft erforderlich, die eigene Praxis selbstbewußt und selbstkritisch in partnerschaftlicher Ko-respondenz zu reflektieren. Hierzu erforderlich ist die Bereitschaft, gewohnte Haltungen und Konzepte zu überprüfen, ggf. zu korrigieren.
2.3.3 Patientenmerkmale Die DATOS-Studien (Flynn et al. 2003, Broome et al. (2001)) ergeben zusammen mit den Befunden von Etheridge et al. (1995, 1997 und 1999), die die Effektivität der Behandlung von Drogenabhängigen untersuchten, einen Zusammenhang zwischen Therapieerfolg und Behandlungs- und Patientenmerkmalen. Allerdings scheinen die untersuchten Behandlungsmodelle bei Substanzmittelmißbrauch im Vergleich zu den
2.3 Stand der Drogentherapieforschung
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Behandlungsmerkmalen einen geringeren Einfluß auf den Therapieerfolg zu haben. Positiven Einfluß auf den Behandlungserfolg haben die Selbstwirksamkeit des Patienten und gezielte pädagogische und psychotherapeutische Strategien; das Eingebundensein in ein soziales Netzwerk und eine berufliche Perspektive nach der Behandlung, sowie die damit verbundene finanzielle Sicherheit. Simpson et al. 1997, 1997a, 1999; Joe at al. 1999, Miller, Rollnick 1991 und andere weisen diesbezüglich auf zwei wichtige Elemente im Therapieprozeß und der Genesung hin: der Bildung einer therapeutischen Allianz und der aktiven Teilnahme am therapeutischen Prozeß. Joe et al. (1999) fanden in der DATOS-Studie einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Beteiligung am therapeutischen Prozeß des Patienten, dem Vertrauen in die Therapie, dem Commitment (d.h. Achtsamkeit und Akzeptanz als Prinzipien eines emanzipatorischen Lebensprozesses von Therapeut und Patient) und der Therapiedauer. Grella et al. (1999) untersuchten in der DATOS Studie die Ergebnisse für jüngere und ältere Patienten und fanden heraus, daß jüngere in der Regel schlechtere Ergebnisse aufweisen. Die Autoren führten dies auf einen stärkeren negativen Peer-Einfluß zurück. Broome et al. (1999) untersuchten ebenfalls Patienten- und Behandlungsmerkmale, die mit den Therapieprozessen im Zusammenhang standen. Sie fanden heraus, daß Patienten, die ein größeres Commitment zeigten, in der Regel mit einer höheren Motivation die Therapie anfingen, zum Therapeuten eine bessere Beziehung aufwiesen und mehr Sitzungen besuchten als die anderen Patienten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, daß sowohl Behandlungs- als auch Patientenmerkmale eine wichtige Rolle spielen. Je besser sich die Patienten in den ersten Monaten in die Therapie eingebunden fühlten, desto länger war die Therapiedauer und in letzter Konsequenz erzielten sie auch bessere Therapieergebnisse. Als wichtige Patientenmerkmale für eine erfolgreiche Therapie können allgemein eine geringe psychische Beeinträchtigung und eine erhöhte Motivation und Selbstwirksamkeitserwartung des Patienten genannt werden. Die Studie der Project MATCH research group (1997a, 1998) kommt zu dem Ergebnis, daß „die differenzierte Zuordnung von Suchtpatienten zur im Einzelfall optimalen Behandlungsmethode eine therapeutische Kunst bleibe, für die es ... keine ausreichende wissenschaftliche Fundierung“ gibt (zit. nach Lindenmeyer 2006, 15). Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Auswahlkriterien vieler wissenschaftlicher Studien
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
äußerst kritisch betrachtet werden müssen: „Ausschlußkriterien (sind) ... die Schwere der Alkoholabhängigkeit, das Vorliegen einer komorbiden Störung, körperliche Beeinträchtigungen und erfolglose Behandlungen in der Vorgeschichte“, d.h. es werden „genau jene Suchtpatienten aus den Effektivitätsstudien ausgeschlossen, die in der Versorgungspraxis mehrheitlich behandelt werden. ... (vor) diesem Hintergrund ist von einer systematischen Überschätzung der Effektivität von Behandlungsmethoden (auszugehen)“ (ebenda, 15f). Meara und Frank (2005) kommen folgerichtig zu dem Ergebnis, daß die Behandlungsmethode auf den Behandlungserfolg keine Auswirkungen hat. Nach McLellan et al. (2005), Tucker und Roth (2006) sind die berufliche und gesellschaftliche Integration und die Loslösung aus dem bisherigen Umfeld entscheidend für eine dauerhafte Abstinenz. Letztlich handelt es sich bei „Sucht um eine chronische Erkrankung, deren Verlauf nur durch eine kontinuierliche therapeutische Betreuung positiv beeinflußt werden könne. ... Die Effizienz eines Behandlungssystems ... sei in erster Linie von der ... verwirklichten Konzeptkompatibilität und Nahtlosigkeit zwischen den verschiedenen Behandlungsepisoden sowie von der tatsächlichen Inanspruchnahme durch die Patienten abhängig“ (ebenda, 18).
2.3.4 Therapeutische Beziehung 7
In der integrativen Praxis ist der Ko-respondenzprozeß zwischen Patient und Therapeut entscheidend. In diesem finden Begegnung und Auseinandersetzung, ein wechselseitiges Experimentieren mit den Möglichkeiten von Beziehung, Nähe, Distanz, Abstinenz, Selfdisclosure statt, um im jeweiligen Moment die richtige und angemessene Interaktionsform zu finden. Das Gelingen des Prozesses hängt von der persönlichen
7
„Ko-respondenz ist eine Form intersubjektiver Begegnung und Auseinandersetzung über eine relevante Fragestellung einer gegebenen Lebens- und Sozialwelt, durch die im gesellschaftlichen Zusammenhang Integrität gesichert, ... gefördert und im therapeutischen Setting Integrität restituiert wird (Petzold 1993a, 21). Im Ko-respondenzprozeß wird „aufgabenbezogenes, kognitives, affektives, soziales und ökologisches Lernen (ermöglicht und) ... die personale, soziale und fachlich-professionelle Kompetenz“ (ebenda, 53) von Therapeut und Patient gefördert und entwickelt.
2.3 Stand der Drogentherapieforschung
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Tragfähigkeit und aktuellen Belastbarkeit des Patienten und des Therapeuten ab (vgl. Petzold 2004). Als entscheidender Faktor zum Gelingen des therapeutischen Prozesses ist die Kooperation mit dem Patienten und das Einstellen auf seine individuelle „Lebenskarriere“ sowie klare Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Therapeut und Patient im psychotherapeutischen Setting zu sehen. Das Verständnis von therapeutischer Beziehung und Grundhaltung sowie grundlegende Arbeitsweisen der IT werden in der Therapeutischen Grundregel zusammengefaßt (vgl. Orth, Petzold 2004, 322ff). Um die Ziele der Rehabilitation erreichen zu können, müssen Therapeut und Patient die Therapie als gemeinsame Aufgabe betrachten: „Therapie findet im Zusammenfließen von zwei Qualitäten statt: einerseits eine Qualität der Konvivialität – der Therapeut ... (bietet) einen ‘gastlichen Raum‘, ... in dem Patienten ... willkommen sind und sich niederlassen, heimisch werden können, in dem Affiliationen (Annahmen) in Dialogen, Polylogen eines „Du, Ich, Wir“ möglich werden. Andererseits ist eine Qualität der Partnerschaftlichkeit erforderlich, in der beide miteinander die gemeinsame Aufgabe der Therapie in Angriff nehmen unter Bedingungen eines ‘geregelten Miteinanders‘ ... . Der Patient bringt die prinzipielle Bereitschaft mit, sich in seiner Therapie mit sich selbst ... und seiner Lebenslage ... auseinanderzusetzen ... (in dem) ... er – seinen Möglichkeiten entsprechend – seine Kompetenzen/Fähigkeiten und Performanzen/Fertigkeiten, seine Probleme und seine subjektiven Theorien einbringt, Verantwortung für das Gelingen seiner Therapie mit übernimmt ... . Der Therapeut ... bringt die engagierte Bereitschaft mit, sich aus einer intersubjektiven Grundhaltung mit dem Patienten als Person, mit seiner Lebenslage und Netzwerksituation ... auseinanderzusetzen, mit ... ihm gemeinsam an Gesundung, Problemlösungen und Persönlichkeitsentwicklung zu arbeiten ... . Therapeut und Patient anerkennen die Prinzipien der „doppelten Expertenschaft“ – die des Patienten für seine Lebenssituation und die des Therapeuten für klinische Belange ... . Das Setting muß gewährleisten ..., daß Patientenrechte, ... Fachlichkeit und die Würde des Patienten gesichert sind und der Therapeut die Bereitschaft hat, seine Arbeit ... fachlich überprüfen und unterstützen zu lassen. Das Therapieverfahren ... muß gewährleisten, daß in größtmöglicher Flexibilität auf dem Hintergrund klinisch-philosophischer und klinisch-psychologischer Beziehungstheorie reflektierte, begründbare und prozessual veränderbare Regeln der konkreten Beziehungsgestaltung ... mit dem Patienten ... vereinbart werden, die Basis für eine ... sinnvolle therapeutische Arbeit bieten.“
Unter Beachtung dieser Grundbedingungen bahnt eine differenzierte und integrierende Therapie Wege der Veränderung und sichert Wege in die
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
Zukunft bei Gewährleistung von Beständigkeit und Verantwortung (vgl. Petzold, Orth 2005). „Der Unterschied zum alltäglich üblichen Leben liegt auf der Handlungsebene und besteht im wesentlichen darin, daß durch das Ziel der psychotherapeutischen Zusammenkunft eine klare Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Therapeut und Patient vorgegeben ist. ... Es ist nun die Aufgabe des Therapeuten, das intersubjektive Geschehen bzw. die sich ergebenden Konstellationen zu erkennen und zu reflektieren und indikationsspezifisch in intervenierendes Verhalten umzusetzen“ (Schuch 1999, Ohrbecker Studien Nr. 17, 35).
In einem gelingenden Ko-respondenzprozeß sollen die Patienten befähigt werden, die gewonnenen neuen Erfahrungen zu verstehen und zu verwirklichen, d.h. die Entwicklung spezifischer Kenntnisse wie a. b. c. d. e.
Förderung der Ich-Stärke (Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis), Förderung der Sinnerfassungskapazität i.S. einer Verbreiterung der Bewußtheit und Steigerung des Bewußtseins, Förderung der emotionalen Differenziertheit, Explorieren „alltäglicher“ Situationen, Durchspielen von Lösungsmöglichkeiten,
um auf dieser Grundlage Neuorientierung zu ermöglichen (vgl. Petzold 1991). In fördernder Absicht müssen sinngeleitete, intersubjektive und kreative Lebensbewältigung und Lebensgestaltung ermöglicht und alltagspraktische Kompetenz gefördert und entwickelt werden. Die Phänomene der Differenzierung, Intensivierung und Konnektierung (Verbindung, Vernetzung, Verwebung) und der Durchdringung werden (wie im Alltagsleben) mit wichtigen Erfahrungen und Erkenntnissen in Verbindung gebracht (vgl. Petzold 2003a). Der Patient soll die Fähigkeit entwickeln, Informationen, Gedanken, Wissen in (neue) Beziehungen zu setzen und in „alltäglichen“ Situationen (neue) Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die therapeutische Beziehung kann also als Rahmen, Basis und auch Medium des Entwicklungsprozesses gesehen werden; entsprechend wichtig sind die professionellen und persönlichen Kompetenzen des Therapeuten. „Der Einfluß der therapeutischen Beziehung auf den Erfolg ... ist das am häufigsten untersuchte und zudem stabilste Ergebnis der Psychotherapieforschung. ... Von den Faktoren, die die Gestaltung der therapeutischen Beziehung betreffen, ist die Beteiligung der PatientIn an dem Therapieprozeß die aussagekräftigste Dimension: Kooperation vs. Widerstand, interaktive Zusammenarbeit vs. Abhängigkeit oder Kontrolle, Ausdruckskraft in der Kommunikation, Offenheit des Patienten vs. Abwehr sind die wichtigsten Determinanten des Therapieer-
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folges. ... Die Beziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn bildet die Grundlage des Prozesses. Sie soll hilfreich und unterstützend sein und wird nach den Regeln des Alltags: Respekt, gegenseitige Wertschätzung, Achtung und Sympathie gebildet. Die Beziehung bleibt konstante Grundlage der Therapie“ (Fritzsche 2000, 52 und 59-60).
Hser et al. (1999), Broome et al. (1999) und Simpson et al. (1997, 1997a) berichten in ihren Untersuchungen, daß im Bereich der Langzeittherapie bei Drogenabhängigen sowie im ambulanten Therapiebereich die Therapeut-Patient-Beziehung und die Therapiezufriedenheit sehr wichtige prognostische Faktoren darstellen. Gemeinsam mit der Studie von Joe et al. (1999) wird deutlich, welch wichtige Rolle die TherapeutPatient Interaktion und insbesondere die Rolle des Therapeuten bei der Genesung des Patienten spielt. Wichtig scheint in diesem Zusammenhang die Frage nach der therapeutischen Arbeitsbeziehung zu sein. Nach Strupp (1989) sind zwei Kennzeichen einer therapeutischen Beziehung als prognostisch günstig zu werten: 1. 2.
die Bindung des Patienten an eine wohlwollende Person, die Sorge um das Wohlergehen des Betreffenden zeigt; Lernprozesse, die durch eine solche spezifische menschliche Beziehung ermöglicht werden.
Perrez (1991) nennt vier methodenübergreifende Therapeutenvariablen, die die Eigenschaften eines Therapeuten beschreiben und sich positiv auf den Therapieprozeß auswirken: 1.
2.
3. 4.
Die Fähigkeit (und nicht nur die Absicht!) des Therapeuten, zum Patienten eine warme, wertschätzende und angstfreie Beziehung aufzubauen. Der Therapeut sollte über persönliche Sicherheit, Selbstakzeptanz, Angstfreiheit, Frustrationstoleranz etc. verfügen, um als positives Modell für den Patienten zu fungieren. Der Therapeut sollte eine positive Einstellung zum Patienten und zum möglichen Behandlungsergebnis haben. Der Therapeut sollte über therapeutische Erfahrung, vor allem im Hinblick auf die Steuerung längerfristiger therapeutischer Prozesse, verfügen.
Hinsichtlich der therapeutischen Beziehungsgestaltung gilt es in der Forschung als gesichert, „daß die Qualität der Therapiebeziehung bei allen Therapieformen eine wichtige Rolle für das Therapieergebnis spielt. Es leuchtet ein, daß eine gute Kompatibilität zwischen den Bezie-
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2 Suchtverständnis und Suchttherapie
hungswünschen und -möglichkeiten eines Klienten und dem Beziehungsangebot des Therapeuten für das Entstehen einer guten Therapiebeziehung förderlich ist, und daß umgekehrt eine geringere Kompatibilität eher ungünstige Voraussetzungen auf der Beziehungsebene schafft. Dies legt die Schlußfolgerung nahe, daß ein Therapeut in seinem Beziehungsangebot grundsätzlich flexibel sein und es auf die besonderen Voraussetzungen des Klienten abstimmen sollte“ (Grawe 8 1992, 215-244) . Auch Hser et al. (1999), Broome et al. (1999) und Simpson et al. (1997, 1997a) konnten in ihren Studien nachweisen, daß die Qualität der Therapeut-Patient-Beziehung im Langzeitbereich einen sehr wichtigen prognostischen Faktor darstellt. Nach Orth, Petzold (2004) sind für den Erfolg einer Therapie eine Qualität der Partnerschaft und Bedingungen eines geregelten Miteinander entscheidend (vgl. auch „Therapeutische Grundregel“). Revenstorf (2006) ist zuzustimmen, wenn er ausführt, daß ein standardisiertes Vorgehen und die Methode für den Therapieerfolg nicht entscheidend sind, sondern die Überzeugungskraft (des Therapeuten = allegiance; d.h. auch „Zieltreue“) und die Beziehungsgestaltung (alliance), worüber letztlich (auch) die Selbstheilungskräfte des Patienten mobilisiert werden. Die Schaffung positiver Lernerfahrungen – u.a. auf den Ebenen Wahrnehmungsfähigkeit und der sozialen Fertigkeiten, der Meinhaftigkeit des Erlebens [(Selbst-) Achtsamkeit, (Selbst-)Korrektur)] – und der Verstärkung von Lebensnotwendigem und Erfolg muß also ein wesentlicher Inhalt von Suchttherapie sein. 8
Aus den Beziehungserfahrungen, die das Kind mit seinen primären Bezugspersonen macht, entwickeln sich Bindungsmuster. Sie sind lebenslang eingeschliffene Gedächtnisinhalte. Grawe (1992) postuliert das Bindungsbedürfnis als ein Grundbedürfnis des Menschen, ergänzt durch das Orientierungs- und Kontrollbedürfnis, das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung/Selbstwertschutz und Lustgewinn und Unlustvermeidung. Permanente Verletzungen des Bindungsbedürfnisses führen zu einer verminderten Streßtoleranz, einer schlechten Emotionsregulation und geringen Selbstwirksamkeitserwartungen. Zwei wesentliche Systeme helfen schwer vernachlässigten/mißhandelten Säuglingen/Kleinkindern, Streß auslösende Stimuli zu umgehen (coping): Das Aufrechterhalten zwischenmenschlicher Beziehungen und die innerseelische Regulation von Emotionen (Sachsse 2003). Erleben Säuglinge/Kleinkinder dauernd unkontrollierbaren Streß, resultiert daraus eine lebensüberdauernde Sensitisierung für Streß und entsprechende Vermeidungsschemata.
2.4 Fazit
37
2.4 Fazit Wie die Auseinandersetzung mit den Definitionen zur Entstehung von Sucht zeigt, ist Suchtmittelkonsum multifaktoriell bedingt. Wie insbesondere Petzold (2004, 515) herausstellt, sind neben den Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Individuums auch Beschädigung/Zerstörung des sozialen Netzwerkes von Bedeutung. Bei den generellen Wirkfaktoren der Therapie (Dauer der Therapie, Struktur- und Patientenmerkmale, Therapieintensität und Therapeutische Beziehung) muß in der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger berücksichtigt werden, daß sich die Abstinenzquoten von Drogenabhängigen zwischen 14% und 37% bewegen, wobei die bisher in Europa durchgeführten Studien zum Therapieerfolg bei Alkohol- und Drogenabhängigkeit sich fast ausschließlich auf stationäre Entwöhnungsbehandlungen beschränken. Bei der stationären medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger ist zu berücksichtigen, daß erst Mitte der 90er Jahre eine Differenzierung durch die Leistungsträger erfolgt ist und die Behandlung in Entwöhnung (Phase I der medizinischen Rehabilitation; Behandlungsdauer bis zu 26 Wochen) und Adaption (Phase II der medizinischen Rehabilitation; Behandlungsdauer bis zu 17 Wochen) „aufgeteilt“ wurde. Ausschlaggebend hierfür war die „Erkenntnis“, daß durch eine „reine“ Entwöhnungsbehandlung das Ziel der „Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit“ (vgl. SGB VI) bzw. die „Heilung von Krankheit“ (vgl. SGB V), also die berufliche und soziale Rehabilitation der Patienten nicht ausreichend geleistet werden konnte und die Rückfallquote unmittelbar nach Entlassung aus dem stationären Setting sehr hoch war, weil die Patienten mit dem Übergang aus der „behüteten“ Atmosphäre der therapeutischen Gemeinschaft in den Alltag überfordert waren und häufig unmittelbar rückfällig wurden. Die Phasen II (Adaption) und III (Betreutes Wohnen) der medizinischen (und sozialen) Rehabilitation Drogenabhängiger setzen genau hier mit ihrem Behandlungskonzept an. Die psychotherapeutischen Behandlungselemente werden in dieser Phase der Behandlung/Betreuung ergänzt durch die Arbeit zur Erreichung der beruflichen und sozialen (Wieder-)Eingliederung (vgl. Schay 2006). Die Verkürzung der Behandlungszeiten ist vor diesem Hintergrund kontraproduktiv zu den von uns herausgearbeiteten Wirkfaktoren von Therapie (Dauer der Therapie, Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung) und beeinflußt den Therapieerfolg nachhaltig.
38
2 Suchtverständnis und Suchttherapie
Lesch (1985) kommt zu dem Ergebnis, daß die weiterführende Behandlung einen durchschlagend positiven Effekt für den Therapieerfolg hat und schon während der Therapie beginnen muß. D.h., differenzierte und individuell ausgerichtete weiterführende Behandlungen/Maßnahmen – wie die Adaptionsphase und das Betreute Wohnen – nach der fachklinischen Behandlungsphase sind der entscheidende Faktor für die Stabilität des Therapieerfolgs (vgl. auch Schulz et al. 1986; Küfner et al. 1988). Das ein erfolgsvariierender Therapiefaktor das Behandlungsprogramm ist, ist insoweit zwangsläufig: In allen (uns bekannten) Studien hat sich herausgestellt, daß sich eine größtmögliche Breite und Variabilität unterschiedlicher Behandlungsangebote erfolgsverstärkend ausgewirkt hat (vgl. u.a.: Feuerlein et al. 1988, Grawe et al. 1994, Petzold et al. 2000, Steffan, Petzold 2001), die die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Patienten integrieren. Die therapeutische Beziehung ist für den Therapieerfolg von zentraler Bedeutung. „Wie erfolgreich Therapeuten sind, hängt vor allem von ihren interpersonellen Fähigkeiten ab und steht erstaunlicherweise kaum in einem Zusammenhang damit, wie viel therapeutische Berufserfahrung sie haben (Lambert, Ogles 2004, Wampold 2001). Die Therapietechnik ist im Vergleich zu den allgemeinen Wirkfaktoren, wie der Qualität des therapeutischen Arbeitsbündnisses und der interpersonellen Fähigkeit des Therapeuten, nur von geringer Bedeutung für den Behandlungserfolg“ (Seidler 2006, 150). In der Behandlung polytraumatisierter Menschen, die in allen Bereichen der 5 Dimensionen der Identität (vgl. 6.1.1) durch Sucht und traumatische Erfahrungen schwer beschädigt sind, ist eine tragfähige Beziehung, in der es um Vertrauen und Sicherheit/Halt geht, nur über einen längeren Zeitraum aufzubauen, unserer Meinung nach der entscheidende Wirkfaktor.
3 Sucht als Ursache oder Folge von Traumatisierungen
Die Fachliteratur bestätigt unsere Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis mit suchtkranken Menschen, daß die Patienten in ihrer Biographie häufig Traumatisierungen ausgesetzt waren und Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt haben (vgl. u.a. Krausz et al. 2004, Petzold, Wolff et al. 2000, Reddemann 2005, Schäfer 2005). Diese wissenschaftlichen Erkenntnissen zeigen, daß in der Population der Drogenabhängigen bzw. Suchtkranken der überwiegende Anteil von Patienten in ihrer Kindheit und Jugend schwere traumatische Erfahrungen (Deprivation, Mißhandlung, Mißbrauch, Gewalt, Vergewaltigung, Prostitution etc.) erlebt haben, die Nachwirkungen in Form von behandlungsbedürftigen Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), dissoziativen Identitätsstörungen haben, so daß serielle bzw. Polytraumatisierungen im Störungsbild der Abhängigkeit eine entscheidende Rolle spielen. Schäfer, Reddemann (2005, 11) verweisen auf den hohen Anteil von Menschen mit traumatischen Erfahrungen im Suchtbereich (beispielsweise sexueller Mißbrauch bis zu 44%, körperliche Mißhandlung bis zu 19%). Keinesfalls darf davon ausgegangen werden, daß die Behandlung einer Polytraumatisierung im Kontext Sucht in der Phase I der medizinischen Rehabilitation (oder wo auch immer) vollständig abgeschlossen wird, sondern die Therapie muß in den nachbehandelnden Einrichtungen (Adaptionsphase, Betreutes Wohnen) weitergeführt werden, um den Patienten auch die Möglichkeit zu geben, erfolgreich an ihrer medizinischen und sozialen Rehabilitation zu arbeiten. Übereinstimmend wird in der einschlägigen Fachliteratur Sucht als komorbide Störung (vgl. Boos 2005, Keane, Wolfe 1990, Kulka et al. 1990) oder als Folge von Traumatisierung (vgl. Flatten 2004, Krausz et al. 2004, Lüdecke et al. 2005, Petzold et al. 2000, Reddemann 2005) dargestellt.
40
3 Sucht als Ursache oder Folge von Traumatisierungen
3.1 Sucht als komorbide Störung „Eine PTB wird in der Regel von komorbiden Störungen begleitet. Die Lebenszeitprävalenz für komorbide Achse-I-Störungen beträgt zwischen 62% und 92%. Hierbei handelt sich v.a. um affektive Störungen, Angststörungen, schädlichen Gebrauch von Substanzen und Abhängigkeitsstörungen“ (Boos 2005, 25).
Nach übereinstimmender Meinung verschiedener Autoren (vgl. u.a.: Fischer, Riedesser 2003, Boos 2005, Lüdecke, Sachsse, Faure 2005, Reddemann 2005) handelt es sich um einen Selbstheilungsversuch der Betroffenen mit Hilfe von Suchtmitteln. „Zur Erklärung der hohen Komorbidität von PTB mit Substanzstörungen wird meist das bidirektionale Modell der fehlgeleiteten Selbstmedikation herangezogen (Stewart 1996). Die initiale Motivation zur Einnahme von Substanzen besteht in der Reduzierung spezifischer PTB-Symptome (z.B. Übererregung, Schlafstörungen). In einem negativen Aufschauklungsprozeß kann der Konsum über die Zeit zu einer Verstärkung der PTB-Symptome und anderen Beeinträchtigungen führen, die dann mit einer Steigerung des Substanzkonsums bekämpft werden“ (ebenda, 29) „Khantzian (1985) postuliert eine Selbstmedikations-Theorie des Substanzmißbrauchs, in der er aufzeigt, daß die Drogen je nach ihrem spezifischen psychotropen Effekt ausgewählt werden. Heroin zum Beispiel hat eine stark dämpfende Wirkung auf Gefühle von Wut und Aggression, wohingegen Kokain deutlich antidepressiv wirkt. Alkohol ist wahrscheinlich die älteste Medizin für die Behandlung posttraumatischer Belastungen und kann durchaus eine effektive KurzzeitMedikation bei Schlafstörungen, Alpträumen und anderen intrusiven PTBSSymptomen darstellen (Keane, Geradi, Lyons, Wolfe 1998, Jellinek, Williams 1987)“ (van der Kolk 2000, 178).
Anzumerken ist hier, daß der beschriebene Effekt nur bei geringen Konsummengen auf der emotionalen, vegetativen Ebene eintritt und das Hyperarousal absenkt, aber bei erhöhtem Konsum eine erhöhte Intrusionsgefahr besteht (vgl. Lüdecke, Sachsse, Faure 2005). Osten (2007) weist darauf hin, daß durch den Konsum (unabhängig von der Menge) Intrusionen leichter entstehen können. Auch Fischer, Riedesser (2003) beschreiben den Versuch der Selbsttherapierung durch Suchtmittel. „Der Sucht-Verlaufstyp, eine der Komorbiditäten nach Post et al. (1997), ist gekennzeichnet durch den Versuch, traumatische Angst und intrusive Erinnerungsbilder durch Suchtmittelmißbrauch unter Kontrolle zu bringen, was sich als eine Form der Selbstmedikation verstehen läßt. Die Einnahme von Drogen und Alkohol dient einmal als Schutz vor intrusiven Erinnerungen, zum ande-
3.1 Sucht als komorbide Störung
41
ren stellt sie eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der Umgebung dar, ohne jedoch zu große und beängstigende Nähe entstehen zu lassen. Die Suchtmittel werden also im Sinne einer Wiederherstellung von Wahrnehmungs- und/oder Handlungskontrolle verwendet. Psychosomatische Symptome ergeben sich teils aus dem Suchtmittelgebrauch, teils auch aus Versuchen, eine Schonhaltung in der Umgebung zu erzeugen. Oft findet sich in der Familie dieses Verlaufstyps bereits ein Suchthintergrund, der die Bevorzugung dieser Form der Traumaverarbeitung begünstigt“ (ebenda, 125). Auch hier gilt: Die Einnahme von Drogen und Alkohol senkt das Hyperarausal ab, aber bereits bei leichter Überdosierung erhöht sich die Intrusionsgefahr (vgl. Osten 2007). Bislang wurde wenig beachtet, daß Substanzmißbrauch auch auf dem Hintergrund der Selbstmedikation zu sehen ist, um intrusive Gedanken, Gefühle und chronifizierte oder periodische körperliche Mißsensationen zu dämpfen/zu „übertönen“, oder als „Akutmedikation“ bei Trauma-Flashbacks“ von Patienten eingesetzt wird. Nur mit Suchtmitteln sind Angstzustände, Überflutungserlebnisse bis hin zu Wahrnehmungsstörungen und psychotischer Symptomatik für die Betroffenen auszuhalten. Die Nachfolgesymptomatik bei chronifizierter PTBS – Intrusion, Vermeidung, Hyperarousal und soziale Folgen – stellt ein weiteres Problem dar, das soziotherapeutische Maßnahmen und Rehabilitationsstrategien erforderlich macht, die mit der psychotherapeutischen Behandlung koordiniert sein müssen, damit diese greifen kann (vgl. Fischer, Riedesser 2003). Auch Lüdecke, Sachsse und Faure (2005) bestätigen den Aspekt des Suchtmittelmißbrauchs als Kompensation einer PTBS-Problematik. „Es ist auch nicht selten, daß im Entzug Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung manifest werden, die bisher von der Suchterkrankung überlagert und in den Hintergrund gedrängt wurden" (ebenda, 376).
Die Autoren Lüdecke, Sachsse, Faure (2005) differenzieren die unterschiedlichen Substanzen nach ihrer Wirkungsweise und verweisen auf den Einfluß der verschiedenen Suchtmittel auf die Gedächtnisfunktion. „Darüber hinaus wird man unterschiedliche illegale Drogen unterschiedlich einstufen müssen. Einige wirken abschirmend, beruhigend, distanzierend, sind vielleicht sogar protektiv in traumatischen Situationen. Andere mögen verstärkend wirken, eher dünnhäutig machen. Die Gedächtnisfunktionen können durch psychotrope Substanzen labilisiert werden. Auch kann sein, daß unter Substanzeinwirkung gespeicherte Gedächt-
42
3 Sucht als Ursache oder Folge von Traumatisierungen
nisinhalte unter späterer erneuter Einwirkung der gleichen Substanz besser reproduziert werden können“ (ebenda, 373). Die Autoren weisen auch auf den Unterschied hin, zu welchem Zeitpunkt jemand traumatisiert wurde, z.B. als er intoxikiert war bzw. Entzugserscheinungen zeigte.
3.2 Sucht als Folge von Traumatisierungen Die Lebensgeschichten von Patienten sind durch Traumatisierungen im Kindesalter, wie Deprivation, sexuellen Mißbrauch, körperliche oder emotionale Mißhandlung geprägt (vgl. Schäfer, Reddemann 2005). Auch sind die Abhängigen aufgrund ihrer Lebensform durch Prostitution, Gewalt, Inhaftierung u.a. beständig weiteren traumatischen Erfahrungen ausgesetzt. Ihre Versuche der (pharmakologischen) Konflikt- und Lebensbewältigung sind häufig dysfunktional (vgl. Krausz, Schäfer, Lucht, Freyberger 2005). „Studien belegen ..., daß je nach Schwere des Ereignisses, ... mit höheren Inzidenzraten gerechnet werden muß. PTSD als Folge von sexueller Traumatisierung in der Kindheit oder durch Vergewaltigung führt bei 35-55% aller Betroffenen zu einer klinisch relevanten PTSD. ... Als Faustregel kann gelten: Traumatisierungen durch andere Menschen sowie durch sich wiederholende traumatische Ereignisse führen zu vermehrter und schwerer posttraumatischer Pathologie“ (Flatten 2004, 404).
Prädikatoren für eine Abhängigkeitsproblematik und daraus resultierende psychosoziale Funktionsstörungen sind also häufig in der Lebensgeschichte der Patienten zu finden. Krausz, Schäfer, Lucht, Freyberger (2005) kommen nach Auswertung zahlreicher Studien zum Zusammenhang zwischen belastenden Bedingungen in der Kindheit und Substanzmittelmißbrauch bzw. -konsum zu folgendem Fazit: „Im Sinne der skizzierten Risikokonstellationen ist Traumatisierung in Kindheit und Jugend gerade in der Verbindung mit Sucht in der Herkunftsfamilie ein Risikofaktor von hohem Gewicht. Das anfangs Lustvolle beim Konsum psychotroper Substanzen, die Reduktion von Spannung, Schmerz und Angst, die Betäubung – vielleicht die Distanz zur eigenen Geschichte, der Abstand zur Erinnerung, zur traumatischen Verletzung – wird sehr schnell zur dysfunktionalen Selbstbetäubung und schließlich zum sich selbst aufrechterhaltenen System der Abhängigkeit. Lust spielt schließlich keine Rolle mehr in der Sucht, es dominiert der Versuch der Reduktion von Leid“ (ebenda, 498).
3.3 Epistemologische Daten und Prävalenz
43
Auch Lüdecke, Sachsse, Faure (2005) betonen die Relevanz von belastenden Faktoren in der Kindheit. „Die vorliegenden Studien sprechen aber eindeutig dafür, daß traumatisierende Kindheitserfahrungen ein ätiologisch relevanter Faktor für die Entwicklung einer Suchterkrankung sind. Unterscheiden muß man dabei zwischen den so genannten Bindungstraumata (Anmerkung d. Verf.: Bindungstraumata entstehen z.B. als Folge von unverarbeiteten Verlusterfahrungen), Beziehungstraumata (Anmerkung d. Verf.: Beziehungstraumata entstehen z.B. als Folge von pathologischen Beziehungsmustern) einerseits und Gewalttrauma wie physischer oder sexualisierter Gewalt andererseits" (ebenda, 372).
Aufgrund permanent erlebter Gewalttätigkeiten wie versuchte und vollendete Körperverletzungen, Raub, versuchter Totschlag, Zeugenschaft von Straftaten, Vergewaltigungen, Prostitutionserfahrungen bei Frauen und Männern finden wir bei den Patienten i.d.R. serielle Traumatisierungen. Dabei zeigt sich, daß die Patienten, die in der Kindheit Traumata erlitten haben, in ihrem Lebensverlauf physischer und sexueller Gewalt häufiger ausgesetzt waren als andere.
3.3 Epidemiologische Daten und Prävalenz „In repräsentativen Bevölkerungserhebungen und in klinischen Untersuchungen konnte ein Zusammenhang zwischen Alkohol- und Drogenabhängigkeit und dem Vorliegen eines traumatischen Ereignisses in der Vergangenheit der Patienten bzw. einer aktuellen PTBS sehr häufig belegt werden. ... Traumatisierungen als Risikofaktoren der Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung ... sind mittlerweile gut belegt. ... Der Anteil der Suchtmittelabhängigen mit traumatischen Erlebnissen in ihrer Lebensgeschichte und mit Symptomen einer PTBS ... ist ... sehr hoch“ (Kuhn 2004, 110f).
Krausz et al. (2005) auf internationaler Ebene und Schäfer, Reddemann (2005) im deutschsprachigen Raum belegen diesen Zusammenhang mit einer Übersicht von Studien an der Allgemeinbevölkerung und klinischen Untersuchungen bei Suchtmittelabhängigen:
44
3 Sucht als Ursache oder Folge von Traumatisierungen
Autor
Jahr
N
Definition(en)
Ergebnisse
Mullen et al.
1993
492
sexueller Mißbrauch (eng)* vor dem 16. Lj. (Frauen)
• sexueller Mißbrauch 32% • Unterschiede insbesondere bei schweren Formen von Mißbrauch aktuell starker Alkoholkonsum 34%, KG: 9% • Drogen- bzw. Medikamentenabhängigkeit 25%, KG: 4%
Silvermann et al.
1996
375
sexueller Mißbrauch (eng)* und körperliche Mißhandlung (anhand globaler Frage) vor dem 18. Lj. (Frauen und Männer)
• sexueller Mißbrauch: Frauen 12%, Männer 1% • körperliche Mißhandlung: Frauen 6%, Männer 5% • bei Frauen Zusammenhänge zwischen sexuellen Mißbrauch und Alkoholmißbrauch/-abhängigkeit: 44%, KG: 8% • bei Männern Zusammenhänge zwischen Mißhandlung und Drogenmißbrauch/-abhängigkeit: 40%, KG 8%
Duncan et al
1996
4008
körperliche Mißhandlung (sehr eng) vor dem 18. Lj. (Frauen)
• körperliche Mißhandlung 3% • Medikamentenmißbrauch 18%, KG: 5 % • Lebenszeitkonsum harter Drogen 19%, KG: 6 % • Alkoholbezogene Unfälle 9%, KG 1% • signifikant jüngeres Alter beim Erstkonsum von Alkohol, signifikant häufiger wegen Substanzmißbrauch in Behandlung
Wilsnack et al.
1997
1099
sexueller Mißbrauch (weit)* vor dem 18. Lj. (Frauen)
• Symptome einer Alkoholabhängigkeit (12-MonatsPrävalenz) 19%, KG 6% • Konsum illegaler Drogen (Lebenszeitprävalenz) 35%, KG: 14%
Kessler et al.
1997a
8098
insgesamt 26 Risiko• bei 26% keine, bei 39% ein faktoren, u.a. sexueller bis zwei, bei 35% drei oder Mißbrauch und körpermehr Risikofaktoren liche Mißhand-lung, frühe Verlust- und Trennungserlebnisse, psychische
• die stärksten Zusammenhänge mit späteren Suchterkrankungen zeigten der Tod der Mutter und Ab-
3.3 Epistemologische Daten und Prävalenz
Störungen der Eltern (Frauen und Männer)
45
hängigkeitserkrankungen bzw. andere psychische Störungen des Vaters • Zusammenhänge zeigten sich zwischen Risikofaktoren und Auftreten, nicht aber Verlauf von Suchterkrankungen und weiteren psychischen Störungen
MacMillan et al.
2001
7016
• bei Männern lediglich Unsexueller Mißbrauch terschiede bzgl. Alkohol(weit)* und physische mißbrauch/-abhängigkeit: Mißhandlung (weit) 33%, KG 19% (Mißbrauch) während des Aufbzw. 24%, KG: 18% (Mißwachsens (Frauen und handlung) Männer) • bei Frauen Alkoholmißbrauch/-abhängigkeit 10%, KG: 4% (Mißbrauch) bzw. 10%, KG: 4% (Mißhandlung) • Drogenmißbrauch/-abhängigkeit 7%, KG: 1% (Mißbrauch) bzw. 4%, KG: 1 % (Mißhandlung)
Dube et al.
2002, 2003
9508
insgesamt 10 Katego- • bei 33% keine, bei 41% ein bis zwei, bei 26% drei oder rien von Risikofaktomehr Risikofaktoren ren, u. a. sexueller Mißbrauch und körper- • zwischen Anzahl der Risikofaktoren und späterem liche Mißhandlung, Drogenkonsum bzw. DroSuchterkrankungen genabhängigkeit bestanden und andere psychijeweils graduelle Zusamsche Störungen der menhänge; jede einzelne Eltern (Frauen und Kategorie erhöhte Risiko Männer) von Erstkonsum unter 14 Jahren um das 2- bis 4fache • jeder Risikofaktor zeigte Zusammenhänge zu späterem Alkoholmißbrauch; Risiko von späterer Abhängigkeit bei Vorliegen mehrerer Risikofaktoren 2- bis 4fach erhöht
Tabelle 1:
Belastende Faktoren in der Kindheit und substanzbezogene Störungen: Studien in der Allgemeinbevölkerung (Krausz et al. 2005, 490f)
46
3 Sucht als Ursache oder Folge von Traumatisierungen
Sehr deutlich zeigen alle Untersuchungen an der Allgemeinbevölkerung, daß Traumatisierungen einen wesentlichen Risikofaktor für die Entwicklung einer Substanzabhängigkeit darstellen.
Studie
Ereignisse (Definition)
Stichprobe
Schmidt (2000)
215 substituierte Opiat- sexueller Mißabhängige, studentische brauch (eng*) Kontrollgruppe (KG)
100 PatientInnen mit polyvalentem Substanzgebrauch
Schäfer, Schnack & Soyka (2000) Krausz & Briken (2002)
75 weibliche Opiatabhängige mit Kontakt zum Hilfesystem
*
Tabelle 2:
Prävalenzraten Frauen 60%, Männer 25% (KG 11% bzw. 6%). Bei den Opiatpatienten signifikant schwerere, häufigere und frühere Mißbrauchserlebnisse
sexueller Mißbrauch (eng)*
Frauen 50%, Männer 40%
sexueller Mißbrauch (weit**), körperliche Mißhandlung (weit), emotionale Mißhandlung (weit) während gesamtem Leben
sexueller Mißbrauch: 41% körperliche Mißhandlung: 72% emotionale Mißhandlung: 80% Bei Patientinnen mit sexuellem Mißbrauch häufiger gewollte Überdosierungen.
eng: Geschlechtsverkehr eingeschlossen ** weit: ohne Geschlechtsverkehr
Traumatisierungen bei Drogenabhängigen: Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum (Schäfer, Reddemann 2005, 14)
In den klinischen Untersuchungen bei Drogenabhängigen wird ein Zusammenhang zwischen sexuellem Mißbrauch, körperlicher und emotionaler Mißhandlung und einer Drogenabhängigkeit deutlich, insbesondere wenn Mißbrauch/Mißhandlung in der Kindheit erlebt wurden. „Diese frühen Erfahrungen scheinen insgesamt die Vulnerabilität für Substanzkonsum ... zu erhöhen“ (Kuhn 2004, 115). „Die komplexen, klinischen Profi-
3.4 Traumatherapie
47
le, die bei in frühem Kindesalter traumatisierten ... Patienten beobachtet wurden, deuten eher auf eine komplexe als auf eine einfache Form der PTBS hin“ (Langeland 2004, 9).
3.4 Traumatherapie (vgl. auch 5.2) Auf die traumaspezifischen Behandlungselemente und die Wirksamkeit Integrativer Traumatherapie gehen wir ausführlicher unter 9.3 und 12.1.1 ein. Von daher wollen wir an dieser Stelle zur Verdeutlichung und zum besseren Verständnis für den Leser nur einige Aspekte darstellen: Traumatherapie besteht aus (1) Stabilisierungsphase, (2) Phasen der Traumaexposition und (3) Integrationsphase. (1) In der Stabilisierungsphase soll möglichst die körperliche und seelische Stabilität des Patienten erreicht werden, d.h. Wiederherstellung einer äußeren und inneren Sicherheit, Wiedererlangung der Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen, Erlernen von Strategien zur Krisenbewältigung. (2) Ist ausreichend Stabilität erreicht, ist zu überprüfen, inwieweit eine Traumaexposition sinnvoll und notwendig ist (vgl. auch Fußnote 23). In dieser Phase geht es um die nochmalige Konfrontation mit dem Erlebten, um es integrieren zu können. (3) In der Integrationsphase ist das Ziel, das Erlebte in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen und auf der Basis dessen eine Neuorientierung zu erarbeiten. Die trauma-/psychotherapeutischen Maßnahmen müssen die herausragenden Behandlungselemente eines in sich konsistenten „Bündels treffender Maßnahmen“, d.h. eines variablen, situationsangemessenen und breiten Therapieangebotes, sein, das spezifische Beziehungsangebote von „therapeutisch handelnden“ Bezugstherapeuten und ihrer Hilfsagenturen beinhaltet, deren Kontinuität und Haltung wesentlicher ist als die ausgefeilte Differenziertheit behandlungstechnischer Interventionen (vgl. Petzold, Schay, Hentschel 2004). Wie bei psychiatrischen Krankheitsbildern kommt es wesentlich darauf an, durch eine kontaktoffene Haltung, die therapeutisch häufig so wirksame „Verringerung von Verschlossenheit“ zu erzielen. Insofern kommt qualifizierten und methodenspezifischen trauma-/psychotherapeutischen Maßnahmen, wie sie in anderen Bereichen der Psychotherapie durch Evaluationsstudien festgestellt wurden, eher geringe Bedeutung zu (vgl. Grawe, Donati, Bernauer 1994).
48
3 Sucht als Ursache oder Folge von Traumatisierungen
Einzig methodenübergreifende Ansätze (vgl. Grawe 1998) können noch wissenschaftlich fundierte, wirksame und in sich konsistente Verfahren zur Behandlung einer Abhängigkeitserkrankung und/oder PTBS bieten (vgl. Petzold 1996). Die traditionellen Therapieansätze müssen deshalb eine methodenmonistische Orientierung überschreiten und „integrativer“ werden, wollen sie den Lebenslagen und Störungsbildern ihrer Patienten gerecht werden. Petzold, Steffan (2000, 82) verdeutlichen das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren in der Integrativen (Trauma-) Therapie zur multifaktoriellen Genese von Gesundheit und Krankheit. Nach diesem Verständnis bezieht sich das „klinische Gesundheitsund Krankheitsverständnis" der IT auf die „multiplen pathogenen Stimulierungen" wie Überstimulierung (Trauma), Unterstimulierung (Defizit), inkonstante Stimulierung (Störung), widerstreitende Stimulierung (Konflikt), die Gesundheitslehre auf „salutogene Stimulierung" und „protektive Faktoren" (vgl. Petzold, Goffin, Oudhoff 1993); d.h. alle Bereiche der Persönlichkeit (ICH, SELBST und IDENTITÄT) können betroffen sein.
3.5 Fazit Der Zusammenhang zwischen Sucht und biographischen traumatischen Erfahrungen wird in vielen Untersuchungen belegt; d.h. traumatische Erfahrungen erhöhen das Risiko einer Suchterkrankung und umgekehrt stellt Suchtmittelkonsum ein erhebliches Risiko für Traumatisierungen dar. „Ein erheblicher Teil von Patientinnen und Patienten mit substanzbezogenen Störungen war in der Kindheit und Jugend traumatischen Erfahrungen, wie sexuellen, physischen und emotionalen Mißhandlungen ausgesetzt. Bei den Betroffenen tragen die Folgen dieser Erlebnisse häufig zu komplexen Problemkonstellationen bei, die zu einem schweren Verlauf der Abhängigkeit, geringeren Therapieerfolgen und einer schlechteren Prognose führen. Besonders offensichtlich sind diese Zusammenhänge bei Patienten, die zusätzlich zu ihrer Abhängigkeit voll ausgeprägte traumaassoziierte Störungen, etwa Posttraumatische Belastungsstörungen oder schwere Persönlichkeitsstörungen vom BorderlineTyp aufweisen (vgl. Brady et al.. 1994, Hien et al. 2000)“ (Schäfer 2005, 19).
Der Autor hebt hervor, daß „gerade bei traumatisierten Patienten langwierige Behandlungsverläufe die Regel (sind). ... Bei Patienten, die in der Folge traumatischer Lebenserfahrungen und -konstellationen auf vielen Ebenen Hilfe benötigen, reicht die traditio-
3.5 Fazit
49
nelle Behandlungskette im Suchthilfesystem ... nicht aus. Unerläßlich ist eine träger- und institutionsübergreifende Zusammenarbeit, da die erforderlichen Leistungen, von einer einzelnen Institution kaum vorgehalten werden können. In lokalen Netzwerken müssen die Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit geschaffen werden, um einrichtungsübergreifende Hilfskonzepte zu realisieren“ (ebenda, 21).
Eine Beeinträchtigung durch Formen traumatischer Ereignisse erschweren die Behandlung einer Suchterkrankung. „Im klinischen Alltag wirft die Interaktion der beiden Störungsmuster Suchtkrankheit und Posttraumatische Belastungsstörungen ..., besondere behandlungstechnische Probleme auf. Suchtkrankheit, Persönlichkeitsstörung und Posttraumatische Belastungsstörung interagieren, verstärken sich gegenseitig, überlagern sich, können einander gelegentlich aber auch abschwächen und in den Hintergrund drängen" (Lüdecke, Sachsse, Faure 2005, 375).
Ö
Hypothese Es ist davon auszugehen, daß auch die in unserer Einrichtung behandelten Patienten ein komplexes Störungsbild aufweisen, basierend auf einer mißlungenen Entwicklung oder einer Traumatisierung und/oder einer Häufung traumatischer Erfahrungen. Im ersten Teil unserer Studie wollen wir diese Hypothese überprüfen.
4 Definition und Diagnostik von Trauma und PTBS
Im Folgenden beschäftigen wir uns mit der zentralen Frage nach der Definition eines psychischen Traumas. Trauma und Traumatisierungen gehören zum menschlichen Leben. Menschen sind in der Lage zu überleben und sich anzupassen. Traumatische Erfahrungen bringen das Gleichgewicht des Menschen in psychologischer, physiologischer und sozialer Hinsicht durcheinander (vgl. van der Kolk, MacFarlane, van der Hart 2000).
4.1 Definition von Trauma Die grundlegenden Bewältigungsstrategien wie Kampf, Flucht und Copingverhalten versagen. „Führt aber weder Coping noch Abwehr zur Kontrolle der biologisch und/oder psychosozial bedrohlichen Problemsituation, so gerät das psychophysische Individuum aus dem Bereich der Streßbelastung in eine potentiell bedrohliche Erfahrungssituation hinein. Die regulativen Schemata versagen. In einer extrem bedeutsamen Situation kommt es so zu einer systematischen Diskrepanz zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“ (Fischer/Riedesser 2003, 82).
Unter regulativen Schemata sind systemerhaltende Abwehrmechanismen zu verstehen, „die auf interne Selbsterhaltung und Stabilisierung psychischer, somatischer oder sozialer Systeme gerichtet sind, oft ohne hinreichende Rücksicht auf das pragmatische bzw. kommunikative Realitätsprinzip. ... Die wichtigsten sind Verdrängung (vor allem der Gegebenheiten der Innenwelt), Verleugnung (vor allem gerichtet auf die Außenwelt), Regression, ... Rationalisierung, Isolierung“ (ebenda, 363).
Psychisches Trauma ist als „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten (zu verstehen), das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutz-
52
4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
loser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (ebenda, 82); was auf den prozeßhaften Verlauf eines Traumas hinweist, der weit über das eigentliche Ereignis hinausgeht. Die Integrative Therapie definiert den „Begriff Trauma bzw. Traumatisierung (als) eine extreme Stimulierungssituation (zuweilen außergewöhnlich kurz, zuweilen sequentiell verlängert), die für den Organismus bzw. das ‚personale System‘, die Persönlichkeit, derart existenzbedrohende, ohnmächtig machende, überwältigende und überlastende Wirkung hat (Hyperstreß), daß sie zu bleibenden Strukturschäden führen kann (z.B. durch einen übersteuernden Generalisierungseffekt, aufgrund dessen etwa alle Kontaktsituationen als existenzbedrohend eingestuft werden). Traumatisierungen können durch massive Über- oder Unterstimulierungen gesetzt werden, wie z.B. Unfälle, Krankheiten, Überfall, ´experiencing or witnessing atrocities`, akute Deprivation, ´long term shelter`, extreme Isolation etc.. Traumatisierungen sind niemals ´nur psychisch`, sondern immer auch körperliche Prozesse mit Folgen innerhalb des gesamten Leibes (verstanden als Synthesebegriff für Körper, Seele, Geist): z.B. psychosomatische Reaktionen, Störungen der Atem- und Tonusregulation, Dysregulationen des neurohumoralen und immunologischen Systems, mit den damit einhergehenden Gefühlen/Stimmungen, Gedanken, Willensimpulsen). Traumatische Belastungen, Probleme, Störungen können deshalb immer nur auf der Ebene des ´Leibes im Kontext` insgesamt angegangen werden: durch Reduktion der Belastungen, Beseitigung von Risikofaktoren, Bestärkung von Resilienzen sowie Bereitstellung von protektiven Faktoren und Ressourcen. Dabei ist der Leib nie nur ´my body` sondern immer auch ´social body`, denn er ist kulturell geprägt aufgrund von ´représentations sociales`, als ´Männer- und Frauenleib`. Er ist in Fremdund Selbstbewertung sozial qualifiziert, eingestuft, ggf. stigmatisiert. Die Traumatisierung ist sozial bewertete Psychophysiologie, d.h. sie ist auf persönlich-individueller und auf kollektiver Ebene bewertet" (Petzold 2004, 29). Mosetter (2007) weist in diesem Kontext nach, daß „Streß (Distreß) und seine physiologischen Funktionen ... den Organismus des Erlebenden ... in Ausnahmesituationen ... unter kurzzeitiger Mobilisation aller körperlichen Ressourcen maximal leistungsfähig machen (soll). ... (Das aber bei) Dauerbelastung ... nicht nur körperliche Regulationen im Sinne von Hyper-
4.1 Definition von Trauma
53
tonie, Erhöhung der Herzfrequenz ... und den entsprechenden Streßhormonen mit Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin (entgleisen), sondern auch neuroanatomische Schaltkreise“.
Da der Begriff Trauma häufig inflationär verwendet wird, ist eine differenzierte Diagnostik zwingend erforderlich, um den Betroffenen gerecht zu werden und nicht jedes Ereignis als Trauma zu bewerten. Denn einerseits kann „schon eine einmalige schwere seelische Belastung ... genügen, die weitere Entwicklung einer Persönlichkeit bleibend zu stören“ (Lehmann, Teuchert-Noodt 2005, 4), andererseits darf die Definition eines psychischen Traumas auch nicht zu eng gefaßt werden. Für die Traumabehandlung ist entscheidend, welche Art von Traumatisierung erfahren wurde. Man unterscheidet zunächst drei Traumakategorien (vgl. Petzold et al. 2000, 478 ff, Osten 2007): 1.
Ursachen a. natural desaster (Naturkatastrophen) b. technical desaster and another major adverse events (Unfälle etc. durch technisches Versagen c. man made desaster (von Menschen zugefügte Schädigungen)
2.
Modi des Traumas a. viktimisierendes Trauma (z.B. Gewalt in lebensbedrohlichem Ausmaß) b. deprivatives Trauma (z.B. deprivative Lebenserfahrungen in den ersten zehn Lebensjahren) c. partizipatives Trauma (z.B. das Beobachten oder das unmittelbare Beteiligtsein an den verschiedenen Formen von Traumatisierungen) d. kollektives Trauma (z.B. Extremerfahrungen bei Gruppenentführungen, partizipative Gewalterfahrungen bei Folter, Kriegserfahrungen → das Erleben von Genozid-Handlungen)
54
4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
e. sekundäres Trauma (indirekte traumaforme Belastung) (z.B. die psychischen Belastungen der Helfer von Traumatisierten, die nach einiger Zeit ähnliche Symptombilder wie partizipativ Traumatisierte entwickeln) 3. a. b.
c.
Typen von Traumatisierungen singuläre Traumata (d.h. einmalig auftretende Extremerfahrungen) prolongierte oder persistierende Traumata (d.h. Extrembelastungen, die über längere Zeiträume intermittierend oder mit andauernder Wirkung das Individuum unter traumatischen Streß bringen) serielle Traumata (d.h. „Menschen sind über längere Dauer oder die gesamte Lebensspanne, anhaltend oder intermittierend, mehreren unterschiedlichen Formen von Traumatisierungen ausgesetzt, seriell unter Überforderung und Extrembelastungen geraten, Ressourcenlagen immer wieder akkumulativ überschritten werden, so daß sich sog. „serielle oder kumulative Traumatisierungskarrieren“ ergeben – ohne protektive Entlastungen, die eine Resilienzbildung fördern könnte – die dann den Typ der sog. „komplexen Traumatisierung“ hervorbringen“ (Osten 2007)) „Die aufgezeigten Traumaerfahrungen müssen in ihrer ganzen Vielfalt im Zeitkontinuum/Lebensverlauf, als kontextuelle und sequentielle Einflußfaktoren betrachtet werden: a.
prätraumatische Faktoren (Lebensalter, Entwicklungsverlauf, Sozialisationseinflüsse, Krankheitsgeschichte, ... Stile des Copings und Creatings, Resilienzen, ... Ressourcenlage, Netzwerksituation)
b.
peritraumatische Faktoren (Typ ... des Traumas, Ressourcenlage, Copingkapazität, Risiken, protektive Interventionen, kognitive und emotionale Ereignisberwertung usw.)
c.
faktuale posttraumatische Faktoren (unmittelbar verfügbare Hilfe und Unterstützung, aktuelle Netzwerksituation, Ressourcenzufuhr, kognitive und emotionale Ereignisberwertung, ... Verarbeitungsbemühungen, Reorientierungserfolge/-mißerfolge, unmittelbare Nach- und Auswirkungen)
4.2 Diagnostik einer PTBS nach ICD-10 und DSM-IV
d.
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prolongierte posttraumatische Einflußfaktoren (die längerfristigen Entwicklungen der unter c) aufgeführten Faktoren)“ (Petzold et al. 2000, 479f).
Die Auflistung zeigt die Vielschichtigkeit traumatischer Erfahrungen in einem bestimmten Kontext und Kontinuum sowie die Notwendigkeit einer mehrperspektivischen Diagnostik. Um beurteilen zu können, ob eine PTBS vorliegt, sind die Kriterien des DSM-IV und ICD-10 hilfreich.
4.2 Diagnostik einer PTBS nach ICD-10 und DSM-IV „Die entscheidenden Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach DSM-IV und ICD-10 sind, daß die Betroffenen nach der Konfrontation mit einem traumatischen Stressor, • Aspekte der Traumatisierung intrusiv wiedererleben, • internale und externale Reize vermeiden, die der Traumatisierung ähneln oder sich emotional taub fühlen und • Anzeichen einer chronisch erhöhten psychophysiologischen Übererregung zeigen“ (Boos 2005, 19).
Die psychischen Kardinalsymptome nach traumatischen Erfahrungen werden seit 1980 in der Störung der Posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefaßt und definiert: „Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-IV (TR 309.81) sind, A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren: 1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten. 2) Die Reaktion der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. Beachte: Bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder agitiertes Verhalten äußern. B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt:
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
1) Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können. Beachte: Bei kleinen Kindern können Spiele auftreten, in denen wiederholt Themen und Aspekte des Traumas ausgedrückt werden. 2) Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis. Beachte: Bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten. 3) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten). Beachte: Bei kleinen Kindern kann eine traumaspezifische Neuinszenierung auftreten. 4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern. 5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern. C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor: 1) Bewußtes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, 2) Bewußtes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen, 3) Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern, 4) Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten, 5) Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von Anderen, 6) Eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden), 7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben).
4.2 Diagnostik einer PTBS nach ICD-10 und DSM-IV
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D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor: 1) Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen, 2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche, 3) Konzentrationsschwierigkeiten, 4) übermäßige Wachsamkeit, 5) übertriebene Schreckreaktion. E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat. F. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Bestimme, ob: Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern. Chronisch: wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern“ (zitiert nach: Fischer, Riedesser 2003, 45f). Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 (F43.1) sind: „A. Die Betroffenen sind einem kurz- oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophenartigem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen. C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Ereignis. D. Entweder 1. oder 2.: 1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern. 2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
a) Ein- und Durchschlafstörungen b) Reizbarkeit und Wutausbrüche c) Konzentrationsschwierigkeiten d) Hypervigilanz e) erhöhte Schreckhaftigkeit E. Die Kriterien B, C und D treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende der Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden.)“ (zitiert: Boos 2005, 20f). In beiden Klassifikationssystemen werden sowohl Ereignis- als auch subjektive Erlebnisaspekte unterstrichen. Werden beide Aspekte bei einer Person erfüllt, kann sie als traumatisiert gelten und als Folge kann sich eine PTBS ausbilden. Übereinstimmend nach beiden Diagnoserastern sind die Hauptsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörungen:
Intrusionen: Die Betroffenen sind durch ungewollte Gebundenheit an das schrecklich Erlebte gekennzeichnet. Dies geschieht in Form von Bildern, Geräuschen, oder anderen lebhaften Eindrücken des traumatischen Ereignisses. Vermeidung/Betäubung: Die Betroffenen versuchen oft mit aller Macht, die sie überflutenden Gedanken „abzuschalten" oder Aktivitäten zu vermeiden, die sie an das Geschehene erinnern könnten. Gleichzeitig beklagen diese Menschen oft eine Beschädigung ihrer Gefühlswelt, sie erscheinen wie abgestumpft, fühlen sich von Anderen entfremdet. Hyperarousal: Der Körper reagiert nach einem Trauma mit Übererregung, Belastungen wirken jetzt häufiger, früher und nachhaltiger. Diese Erregungssteigerung führt zu Schlafstörungen und heftigeren Schreckreaktionen.
Den diagnostischen Klassifikationssystemen nach DSM-IV und nach ICD-10 mangelt es an Möglichkeiten die Gesamtsituation von traumatisierten Menschen, d.h. die „negativen Konsequenzen von Störungen, seien sie störungsspezifischer oder allgemeiner Art“ (Veltrup 2008, 24f) ausreichend zu erfassen. „Zwar wird die Diagnose ... über auftretene körperliche, psychische und soziale Folgen erfaßt, allerdings nur so allgemein, daß daraus das Ausmaß funktionaler
4.2 Diagnostik einer PTBS nach ICD-10 und DSM-IV
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Probleme in keiner Weise ausreichend erkennbar wird. Die möglichen Beeinträchtigungen in den Bereichen ... der Kommunikation und Interaktion mit Menschen ... werden (nicht) angemessen abgebildet. Die Schwere ... funktionaler Beeinträchtigungen aber bestimmen in hohem Maß den Umfang der notwendigen Behandlung zur Überwindung der psychischen und Verhaltens-Störung im engeren Sinn sowie die Möglichkeit der aktiven Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ (ebenda).
Nach DSM-IV und ICD-10 wird das Störungsbild zu breit und unscharf dargestellt, so daß eine weitere Präzisierung notwendig ist, d.h., spezifische traumaspezifische Instrumentarien sind für eine PTBS-Diagnostik erforderlich, um komorbide Störungen zu erfassen (vgl. Petzold et al 2006). Entscheidend ist eine umfassende Betrachtung der Gesamtlebenssituation des Patienten. Nicht nur die Beseitigung somatischer und psychischer Symptomatik steht im Vordergrund, sondern es müssen auch somatotherapeutische, psychotherapeutische, nootherapeutische und sozialtherapeutische Aspekte Beachtung finden, um die gesamte Lebenssituation eines Menschen abzubilden (vgl. Petzold, Wolf et al. 2000). Es „wird der unspezifischen PTBS-Diagnostik, die die Gesamtsituation des Patienten zu erfassen sucht, die die supportive Wirkung von protektiven Faktoren oder die kompensatorische von Resilienzen (Petzold et.al. 1993; 1995 a;1993ff; O`Connell Higgins 1994) erhebt, besonders aber die die Auswirkungen und Nachwirkungen traumatischer Erfahrungen auf die allgemeine Lebenssituation, auf die existentielle Dimension der Menschen, die Kompetenzen und Performanzen in ihrem Lebensvollzug, ihr Gestaltungs- und Copingverhalten, ihre Netzwerk- und Ressourcenlage, ihre Rechts- und Aufenthaltssituation (bei Flüchtlingen) erfassen muß, noch viel zu wenig Beachtung geschenkt" (Petzold et al 2006, 473f).
Eine integrative Diagnostik ergänzt die Klassifikation nach DSM-IV und ICD-10 um die psychosoziale phänomenologisch-deskriptiv oder standardisierte Diagnostik, die ätiologische die gesamte Lebensspanne berücksichtigende Diagnostik, die longitudinal, querschnittlich und prognostisch angelegte Ressourcendiagnostik (vgl. Osten 2006), so daß ein umfassendes Bild des Menschen in Kontext und Kontinuum entsteht (vgl. auch 6.5). Auch McFarlane, Yehuda (2000) und ebenso Fischer, Riedesser (2003) weisen auf den prozeßhaften Verlauf einer PTBS hin. „Eine PTBS entwickelt sich nicht als unmittelbare Folge eines Ereignisse; die Störung entsteht vielmehr aus dem Muster des akuten Dis-Stresses, der durch das Ereignis ausgelöst wird. ... Die am stärksten chronifizierten Formen der PTBS müssen daher als eine Folge der Unfähigkeit angesehen werden, die aku-
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
te traumatische Reaktion einer Heilung und geeigneten Anpassung zuzuführen. ... Die Faktoren, die den Übergang von Gesundheit zur Erkrankung und wieder zurück zur Heilung beeinflussen, sind von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des langfristigen Verlaufs einer PTBS. Die Struktur dieses Prozesses ist von zentraler Bedeutung, um die psychopathologischen Konsequenzen einer Traumatisierung zu erfassen" (McFarlane, Yehuda 2000, 143).
Des weiteren betonen die Autoren die gravierende Bedeutung der Folgeprobleme für die betroffenen Personen. „Je länger eine PTBS andauert, desto mehr nimmt die Bedeutung der traumatischen Erfahrung für die Erklärung der der Störung zugrundeliegenden Symptomatik ab. Die nachfolgenden Leiden, die Demoralisierung durch die chronische Übererregung und die fortschreitende Störung der grundlegenden neurobiologischen Prozesse bei dem Betreffenden spielen eine zunehmend wichtigere Rolle für die Erklärung von Charakter und Verlauf der chronischen Symptomatik“ (ebenda, 144, vgl. auch 4.4). „Unter traumaassoziierten Bedingungen zerfallen also die normalerweise parallel ablaufenden Reizverarbeitungssysteme und es wird hauptsächlich der „schnellere“ Weg vom Thalamus über die Amygdala „geschaltet“, unter Einbezug von marginalen Funktionen des hippocampalen Bereichs. Dies ermöglicht schnellere sensumotorische, perzeptiv-viszerale sowie affektiv-neurohumorale Reaktionen und Handlungsantworten, weshalb wir bezüglich des Processing der Enkodierung und Speicherung traumatischer Erfahrungen an die Charakteristik einer dispositionellen Notfallreaktion denken, die es ermöglicht, über schnelle neuroanatomische Schaltkreise, schnell Gefahrenaspekte einzuschätzen (neurohumoral) und sichernde Handlungsimpulse (perzeptiv-viszeral-motorisch) zu initiieren (Yehuda, McFarelane 1997; Petzold et al. 2000). Auch hinsichtlich des Wiederabrufs von traumatischen Gedächtnisinhalten muß man zunächst an eine dispositionell verankerte Reaktion denken; zumindest die Option „mnestische Blockade“ eröffnet ja immerhin teilweise einen besseren Lebensvollzug nach einer Traumatisierung (Markowitsch 2001). ... (Der Transfer) in explizite Gedächtnissysteme (ist) eingeschränkt oder gar nicht mehr gegeben. Reize können nicht weiter mit impliziten und expliziten Gedächtnisinhalten abgeglichen und spezifiziert werden und dem Individuum fehlen dadurch die Möglichkeiten der Vernetzung seiner Erfahrung mit bereits abgespeicherten, normalerweise bewußtseinsfähigen Inhalten, was zu der für Traumatisierungen typischen Einengung des Bewußtseins und den spezifischen Auffassungsstörungen führt (z.B. „Tunnelblick“, „sich selbst von oben sehen“). Die Speicherung traumatischer Eindrücke erfolgt nicht selten ausschließlich durch eine Enkodierung der affektiven Aspekte von Angst, Panik und Horror über die Amygdala (amygdaloides hyperarousal)“ (Osten 2007).
Wie moderne neurophysiologische Forschungen dokumentieren, werden traumatische Erlebnisse anders als Alltagsereignisse im zentralen Nervensystem verarbeitet (vgl. van der Kolk et al. 2000). Es ist anzuneh-
4.2 Diagnostik einer PTBS nach ICD-10 und DSM-IV
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men, daß der Amygdalabereich im Limbischen System des Gehirns hyperaktiviert wird und somit eine Beeinträchtigung der normalen kognitiven Verarbeitung über den Hippocampus und den präfrontalen Kortex verhindert wird. Die Eindrücke und Abläufe der traumatischen Situation werden nur als Fragmente erinnert und im Gedächtnis gespeichert, so daß eine Integration des Erlebten erschwert oder behindert wird (vgl. ebenda).
4.2.1 Patientenbeispiele Den Behandlungsverlauf in unseren Einrichtungen und die konkrete Diagnostik nach ICD-10 und DSM-IV veranschaulichen wir exemplarisch an zwei Patientenbeispielen. Dabei handelt es sich um einen 24jährigen Patienten aus der Adaptionseinrichtung und eine 34jährige Patientin aus dem ambulant Betreuten Wohnen. Beide Patienten haben bereits Vorbehandlungen absolviert und werden in unserem Behandlungssetting weiterbehandelt. Patient A, 24 Jahre, männlich Der Patient hat eine stationäre Entwöhnungsbehandlung (Phase I der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger) nach 6 Monaten abgeschlossen und ist von dort nahtlos zur Weiterbehandlung in unsere Adaptionseinrichtung (Phase II) vermittelt worden. Erstgespräch Der Patient wirkt sehr introvertiert, ängstlich und unsicher. Er beschreibt sich im Kontakt als sehr zurückgezogen und verfügt kaum über Ressourcen der Beziehungsgestaltung. Um sich den Einstieg in unsere gemeinsame Arbeit zu erleichtern, möchte er zunächst ein wenig von sich und seinem Werdegang erzählen (vgl. auch biographische Anamnese). In der Fachklinik hat er an seinem Beziehungsmuster – Kontaktaufnahme, Rückzug, Kontaktabbruch – gearbeitet und will in der Adaption für sich einen Weg finden, Beziehungskontinuität zu entwickeln. Im Gespräch zeigen sich deutliche Anzeichen zeitextendierter traumatischer Erlebnisse mit prolongierten Gewalterfahrungen durch den Pflegevater und die Pflegemutter (?). Hierbei wurde offensichtlich das Grundvertrauen in Beziehungen schwer gestört. Der Patient leidet an einer starken emotionalen Instabilität – „ohne Drogen halte ich das alles nicht aus, komme ich nicht zur Ruhe“ –, einer fragmentierten Impulskontrolle, die seine soziale Integration bisher erschwert hat.
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Immer wieder treten Gefühle der Ohnmacht mit einer einhergehenden Orientierungs- und Perspektivlosigkeit und daraus resultierenden Existenzängsten auf.
Patientin B, 34 Jahre, weiblich Nach Entlassung aus der Fachklinik nimmt die Patientin Kontakt zu unserer Beratungsstelle auf, mit der Bitte um Vermittlung in die Adaption. Die Maßnahme wird vom Leistungsträger (DRV Bund) abgelehnt. Da der Patientin eine weiterführende Betreuung sehr wichtig ist, vermitteln wir sie in das Betreute Wohnen unserer Einrichtung. Erstgespräch Die Patientin ist sehr aufgeregt, formuliert massive Ängste, rückfällig zu werden und den alltäglichen Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Ihr Partner ist aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und sie befürchtet, es alleine nicht zu schaffen. Sie formuliert den Wunsch nach intensiver Begleitung und Unterstützung. Sie ist sehr verunsichert, hat aber den festen Willen, sich realistische Zukunftsperspektiven zu erarbeiten. Die Patientin wirkt hektisch und nervös und verzettelt sich immer wieder in verschiedenen Aktivitäten. Im Kontakt ist sie freundlich aber distanziert. Zum Zeitpunkt des Erstgespräches ist die Patientin im 8. Monat schwanger. Zunächst steht die Stabilisierung der Patientin im Vordergrund, damit sie bis zur Geburt ihres Kindes zur Ruhe kommt. Es geht vorrangig um Unterstützung und Begleitung in alltagspraktischen und administrativen Belangen (Kontaktaufnahme mit dem Sozialamt, damit ihr Lebensunterhalt gesichert ist etc.). Um die Patientin zu entlasten und sie aus ihrer für sie unerträglichen Isolation herauszuholen, wird sie in das hausinterne Programm (Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten, Freizeitprogramm und Gruppengespräche) eingebunden und nimmt regelmäßig an den Programmpunkten teil.
Beide Patienten weisen ein polytoxikomanes Krankheitsbild und eine Posttraumatischen Belastungsstörung auf: ICD-10-F19 / DSM-IV-304.00, 304.20, 304.30
F19.21 F19.71 F43.1 / 309.81
Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen/Abhängigkeit von Opiaten, Kokain, Cannabis gegenwärtig abstinent, aber in beschützender Umgebung Persönlichkeits- und Verhaltensstörung Posttraumatische Belastungsstörung
zu A + B
4.2 Diagnostik einer PTBS nach ICD-10 und DSM-IV Bei den Patienten A/B ist auch eine Borderline-Störung (F60.31/ 301.83) zu diagnostizieren. Bei der Patientin B ist zusätzlich eine Bulimia nervosa (F50.2/307.51) zu diagnostizieren. Bei den Patienten A/B liegt eine durch die Abhängigkeitserkrankung beeinträchtigte Persönlichkeit vor. Die sozialen Bindungen und die sozialen (Integrations-)Chancen sind infolge des bereits in der frühen Kindheit erlebten Traumas und des in der Pubertät begonnenen Suchtmittelkonsums deutlich gestört. Bei den Patienten A/B sind erhebliche soziale Integrationsschwierigkeiten, mangelnde Beziehungsfähigkeit, niedrige Frustrationstoleranz, depressive Symptome, reduzierte Erlebnisfähigkeit, fehlende Sinn- und Wertorientierung bei einer insgesamt instabilen und schwachen Persönlichkeitsstruktur gegeben. Verstärkt wird dies durch die immer wieder auftretende Gefühle der Orientierungs- und Perspektivlosigkeit und damit zusammenhängende Existenzängste sowie allgemeine Verunsicherung. Wir haben es bei den Patienten A/B mit Bindungsrepräsentationen (vgl. 5.3.4) mit unverarbeitetem Trauma zu tun. „Werden Kinder häufig und unvorhersehbar in der frühen Zeit von ihren Bindungspersonen traumatisiert, indem sie statt feinfühliger Versorgung etwa körperliche und sexuelle Gewalt sowie massive Ablehnung und Verwahrlosung erleben, entwickeln sich Bindungsstörungen, die zu den schwersten emotionalen Entwicklungsstörungen gerechnet werden“ (Brisch 2003, zitiert nach: www.deutschesfachbuch.de, 09.07.2007). Bei der Diagnose muß auch berücksichtigt werden, daß die Folgen der sehr früh und fortgesetzt erlebten Traumata schwerwiegend sind, d.h. „die Erfahrungen der traumatisierenden Interaktion schlagen sich in ihrer Struktur des sich entwickelnden psychischen Apparates nieder und wirken damit selber strukturbildend. ... Kindheitstraumata haben ... vier Merkmale gemeinsam: wiederkehrende sich aufdrängende Erinnerungen, repetitive Verhaltenweisen (traumatisches Spiel), veränderte Einstellungen zu Menschen, zum Leben und zur Zukunft sowie traumaspezifische Ängste“ (Diez Grieser 2004, 208). Die bestehenden Defizite der Patienten A/B konnten in den Vorbehandlungen in Ansätzen ausgeglichen werden, in dem korrigierende emotionale Erfahrungen in Begegnung und Beziehung stattgefunden haben und fördernde Netzwerkstrategien entwickelt werden konnten. Die Patienten A/B entwickeln (vgl. auch ICD-10-F43.1/DSM-IV-309.81) charakteristische Symptome als Folge des direkten persönlichen Erlebens einer Situation, die mit dem Erleben schweren Leids (hier: Mißhandlung, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person) zu tun hat. Als Reaktion zeigen sich intensive Angst und ein „in-sich-zurückziehen“. Die traumatischen Erfahrungen bei beiden Patienten sind als besonders schwer anzusehen, da der Belastungsfaktor durch nahestehende Men-
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
schen verursacht wurde und langandauernd war, wodurch das Erleben des Belastungsfaktors direkter und intensiver war. Heute vermeiden die Patienten A/B Reize (z.B. Gefühle von Nähe und Geborgenheit), die sie an das Trauma erinnern, sowie Gedanken, Gefühle oder Gespräche über das traumatische Ereignis und Aktivitäten, Situationen oder Personen, die die Erinnerung an das Ereignis wachrufen. Festzustellen ist eine „psychische Abgestumpftheit" bis hin zu einer „emotionalen Anästhesie". Die Patienten A/B berichten Gefühle der Isolierung und Entfremdung von anderen und eine deutlich reduzierte Fähigkeit, Gefühle zu empfinden (vor allem im Bereich der Sexualität). Zugehörige Merkmale und Störungen Verminderte affektive Schwingungsfähigkeit; selbstschädigendes Verhalten (Drogenkonsum und Eßstörung); dissoziative Symptome; Gefühle der Insuffizienz; Scham; sich dauerhaft geschädigt fühlen; sozialer Rückzug; beeinträchtigte Beziehung zu anderen und (mutmaßlich) Veränderung der Persönlichkeit im Vergleich zu früher treten als Symptommuster begleitend auf. Verlauf Die Symptome haben sich mutmaßlich bereits in der Familie gezeigt und haben sich in den folgenden Jahren aufgrund negativer/destruktiver Lebensumstände weiter ausgebildet. Die Symptomdauer muß über Jahre angenommen werden. Die Schwere und Dauer des traumatischen Ereignisses zeigen, daß die fehlende soziale Unterstützung, Familienkonstellation, Kindheitserfahrungen und Persönlichkeitsvariablen die Ausbildung einer Posttraumatischen Belastungsstörung „gefördert“ haben. Differentialdiagnose Die Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung werden erfüllt, da die Patienten das traumatische Ereignis als lebensbedrohlich erlebt haben, also der Belastungsfaktor als extrem hoch anzunehmen ist (Anmerkung: Diagnostisch ist bei einer akuten Belastungsstörung das Symptommuster innerhalb einer 4-Wochen-Periode remittiert). Diagnostische Kriterien für 309.81 (F43.1) Posttraumatische Belastungsstörung A. Patienten waren mit einem traumatischen Ereignis (hier: fortgesetzte Gewalt und Mißbrauch) konfrontiert: (1) Patienten waren über Jahre mit der Gefahr der körperlichen Unversehrtheit konfrontiert. (2) Die Reaktion der Patienten umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen.
4.3 Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom
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B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich wiedererlebt: (1) Wiederkehrende und eindringliche belastende Situationen; in der Folge Erinnerungen, die Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen. (2) Wiederkehrende, belastende Erinnerungen an das Ereignis. (3) Das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben und dissoziative Episoden. (4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern. C. Anhaltende Vermeidung von Gefühlen, die mit dem Trauma verbunden sind: (1) Bewußtes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, (2) Bewußtes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen, (3) Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an Aktivitäten, (4) Gefühl der Entfremdung von anderen, (5) Unfähigkeit (zärtliche) Gefühle zu empfinden, (6) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft. D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals: (1) Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen, (2) übertriebene Schreckreaktion. E. Das Störungsbild dauert länger als 3 Monate, d.h. es handelt sich um eine chronische Posttraumatische Belastungsstörung. Möglicherweise muß hier auch von einem verzögerten Beginn ausgegangen werden, d.h. der Beginn der Symptome liegt mindestens 6 Monate nach dem Belastungsfaktor. F. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen und beruflichen Funktionsbereichen
4.3 Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom Wie bereits dargestellt wird im ICD-10 zwischen dem Typ I-Traumata bei plötzlich eintretenden und kurz andauernden Ereignissen und Typ IITraumata bei länger andauernder bzw. wiederholter Traumatisierung unterschieden.
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Für viele Opfer, vor allem für Betroffene langanhaltender Traumatisierungen wie Folter, Haft oder andauerndem sexuellen Mißbrauch, erweisen sich die Klassifikationssysteme für die Erfassung der Traumafolgen als nicht komplex genug. Deshalb schlug Judith Herman (2003, 169f) Mitte der 80er Jahr die Einführung der „komplex posttraumatischen Belastungstörung" vor, die im ICD-10: F43.1 als Typ II-Traumata klassifiziert wird: „1. Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterworfen, wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aussteiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als Kinder psychisch mißhandelt oder sexuell mißbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden. 2. Störungen der Affektregulation, darunter anhaltende Dysphorie chronische Suizidgedanken Selbstverstümmelung aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend) zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität (eventuell alternierend) 3. Bewußtseinsveränderungen, darunter Amnesie oder Hyperamnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt zeitweilige dissoziative Phasen Depersonalisation/Derealisation Wiederholung des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäftigung 4. Gestörte Selbstwahrnehmung, darunter Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative Scham- und Schuldgefühle, Selbstbezichtigung Gefühl der Beschmutzung und Stigmatisierung Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden (der Patient ist etwa überzeugt, etwas ganz Besonders zu sein, fühlt sich mutterseelenallein, glaubt, niemand könne ihn verstehen oder nimmt eine nichtmenschliche Identität an)
4.4 Trauma und PTBS – neurobiologischer Blickwinkel
5.
6.
7.
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Gestörte Wahrnehmung des Täters, darunter ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter (auch Rachegedanken) unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird (Vorsicht: das Opfer schätzt die Machtverhältnisse eventuell realistischer ein als der Arzt) Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit Gefühl einer besonderen übernatürlichen Beziehung Übernahme des Überzeugungssystems oder der Rationalisierung des Täters Beziehungsprobleme, darunter Isolation und Rückzug gestörte Intimbeziehungen wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug) anhaltendes Mißtrauen wiederholt erfahrende Unfähigkeit zum Selbstschutz Veränderungen des Wertesystems, darunter Verlust fester Glaubensinhalte Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung“
Aufgrund der Differenziertheit psychotraumatischer Syndrome ist die differential diagnostische Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen wie Depressionen, Angststörungen, Zwang, Persönlichkeitsstörung, Dissoziation schwierig. Die Diagnose des komplex psychotraumatischen Belastungssyndroms ist nicht in den DSM-IV aufgenommen worden. Mit Blick auf unsere Patienten muß aber festgestellt werden, daß diese in der Regel mehrfach und über einen längeren Zeitraum traumatisiert wurden (vgl. 12.1).
4.4 Trauma und PTBS aus dem Blickwinkel der Neurobiologie Die neurobiologische Forschung hat zum Verständnis der Posttraumatischen Belastungsstörung erhebliche Beiträge geleistet, d.h. störungsspezifische Symptome können auf der Basis neurobiologischer Erkenntnisse erklärt werden.
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
„Zwei verschiedene Arten wichtiger Befunde sind bis jetzt im Labor erhoben worden: (1) eine Verminderung des Hippokampusvolumens bei Menschen mit PTBS; und (2) eine überstarke Aktivierung der Amygdala und mit ihr in Zusammenhang stehenden Strukturen sowie eine abnorme Lateralisation und eine Verminderung der Aktivität des Brocaschen Zentrums, wenn Patienten dazu gebracht werden, ihre Traumata wiederzuerleben" (van der Kolk 2000, 235).
Zentral ist die Entdeckung der „Neuroplastizität": „Der Begriff Neuroplastizität bezeichnet in seinem einfachsten und allgemeinsten Sinn die Fähigkeit von Nervenzellen, sich entsprechend ihrer Nutzung und Aktivierung adaptiv zu verhalten. Vermehrte Aktivierung und Inanspruchnahme führt zu verbesserter Verschaltung, indem synaptische Kontakte an Intensität und Anzahl zunehmen und dadurch den Grad ihrer Nutzbarkeit erhöhen, (was) ... als Grundlage aller Lernvorgänge anzusehen (ist)" (Schiepek 2004, 408).
Ähnliches ist für die Gedächtnisbildung anzunehmen. Im Unterschied zum Langzeitgedächtnis sind die für das Überleben notwendigen Reaktionen kurz und rasch, d.h. die Verarbeitung und Bewertung der eingehenden Informationen erfolgt schnell, um Notfallreaktionen ableiten zu können (ebenda). Neuere Gehirnuntersuchungen bestätigen eine beträchtliche Beteiligung des limbischen Systems bei traumatischem Streß. „Zentrale Schaltstellen des sensorischen Inputs sind die Thalamusregion sowie die im limbischen System direkt benachbarten Strukturen von Amygdala und Hippokampus. Mit der Aufgabe der affektiven Bewertung der eingehenden Informationen kommt dem Mandelkern die Funktion des Brandmelders zu, der im Sinne der oben beschriebenen Notfallsituation sofortige vegetative und motorische Reaktionsmöglichkeiten vermittelt. Zeitlich erfolgt diese vegetative Umstellung meßbar schneller als die entsprechende Information bewußtseinsfähig wird und führt parallel zur motorischen Innervation zu einer Aktivierung der neuronen-endokrinen Streßachsen" (Schiepek 2004, 409).
In traumatischen Situationen kommt es zu unkontrollierten Streßreaktionen. Es entsteht eine erhöhte „Reagilität". Nach Schiepek (2004) ist die Qualität des Abspeicherungsprozesses von Erinnerungen auch verantwortlich für die Ausbildung traumaspezifischer Gedächtnisfunktionen. Das bedeutet, daß eine sehr hohe Erregung zu einer Veränderung der Abspeicherung von Daten und Fakten im Gedächtnis führt und eine Fragmentierung traumatischer Ereignisse so erklärbar ist. „Die Speicherung traumatischer Eindrücke erfolgt nicht selten ausschließlich durch eine Encodierung der affektiven Aspekte von Angst, Panik und Horror über die Amygdala, getrennt von einer kontextuellen Spezifizierung im Hippo-
4.4 Trauma und PTBS – neurobiologischer Blickwinkel
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campus und einer autobiographischen Einordnung im präfrontalen Cortex. Stattdessen kommt es über eine klassische Konditionierung zu einem abnormen neuronalen Traumaerinnerungsnetz, das selbst schon durch sensorische Einzelreize (visuell, akustisch, olfaktisch, gustatorisch, kinästhetisch), wenn sie mit der ursprünglichen Traumasituation in einer (möglicherweise auch nur zufälligen) räumlichen und zeitlichen Kontingenz standen, in seiner Gesamtheit ausgelöst werden kann" (Kapfhammer 2000, 9).
Die Konsequenzen neurobiologischer Veränderung unter Extremstreß in der cerebralen Informationsverarbeitung faßt Kapfhammer (2000) wie folgt zusammen: • • • • • •
„ein Nebeneinander von Hyperamnesie und Amnesie ein Überwiegen des konditionierten emotionalen Gedächtnisses zu Lasten eines narrativen autobiographischen Gedächtnissen eine emotionale Bewertung von fragmentarischen sensorischen Informationen noch vor einer bewußten emotionalen Wahrnehmung und adäquate Realitätskontrolle eine verzögerte Habituation und ein behindertes Neulernen vorherrschende impulshafte Handlungen und starke Rückzugstendenzen ein betonter perzeptiv-affektiver Erlebnisstil sowie ein überwiegender sensori-motorischer Reaktionsmodus" (ebenda, 21).
Bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung kann das Volumen des Hippokampus deutlich geringer sein als bei anderen Menschen. Dies erlaubt den Schluß, „daß auch die traumareaktive Degeneration von Hippokampuszellen die adäquate Verarbeitung und Kontextualisierung von Umgebungsreizen behindert und zu einer verminderten Steuerungsfähigkeit führt. Relevant ist dies im Hinblick auf die Beobachtung, daß Patienten mit Vortraumatisierung eine größere Vulnerabilität auf neue traumatische Ereignisse aufweisen" (ebenda, 411). „Die sensorischen Informationen gelangen in das ZNS durch die sensorischen Organe (Augen, Nase, Haut, Ohren). Diese Informationen werden zum Thalamus weitergeleitet, wo ein Teil davon integriert wird. Der Thalamus leitet diese sensorischen Rohinformationen zur weiteren Auswertung an die Amygdala und an den präfrontalen Kortex weiter. Die Amygdala interpretiert die emotionale Valenz der eintreffenden Informationen und versieht sie mit emotionaler Bedeutung. ... Die von der Amygdala evalulierte Information wird an Gebiete des Gehirnstamms weitergeleitet, die die Verhaltens- sowie die autonomen und neurohormonalen Reaktionssysteme kontrollieren. Mit dieser Hilfe wandelt die Amygdala die sensorischen Stimuli in emotionale und hormonelle Signale um, wodurch sie die emotionalen Reaktionen initiiert und kontrolliert ... Die emotionale Auswertung der sensorischen Information geht also dem bewußten emotionalen Erleben voraus: Die Menschen werden autonom und hormonell aktiviert, bevor sie eine bewußte Einschätzung dessen vornehmen können, worauf sie reagie-
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
ren. Folglich kann ein höherer Aktivierungsgrad der Amygdala und verwandter Strukturen emotionale Reaktionen und sensorische Eindrücke generieren, die nicht auf einer vollständigen Wahrnehmung von Objekten und Ereignissen, sondern auf Informationsfragmenten basieren" (van der Kolk 2000, 236f).
Der aktuelle Forschungsstand zeigt, daß sich traumatische Erfahrungen in Form von Empfindungen und Gefühlszuständen niederschlagen und nicht in Form einer persönlichen Schilderung „angeeignet“ werden, d.h. traumatische Erinnerungen werden als emotionale und sensorische Zustände, in denen nur wenig verbale Repräsentationsfähigkeit besteht, verinnerlicht. Aus dieser Unfähigkeit der Informationsverarbeitung auf symbolischer Ebene, wie sie für eine korrekte Klassifizierung und Integration in andere Erfahrungen notwendig ist, entsteht die wesentliche Grundlage für die Pathologie der PTBS (vgl. ebenda). Nach Schiepek (2004, 412) lassen sich traumaspezifische Gedächtnisfunktionen zusammenfassen als
die Fokussierung der Aufmerksamkeit, durch die die Enkodierung und Abspeicherung traumaspezifischer Gedächtnisinhalte erfolgt. traumaspezifische Erinnerungen, die nur teilweise wie explizite Gedächtnisfunktionen abgerufen werden können. traumatische Erinnerungen, die in Form von Affektzuständen und Sinnesmodalitäten, beispielsweise als visuelle Bilder, olfaktorische oder auditive Wahrnehmung oder auch als körperliche Empfindung abgespeichert werden. traumatische Erinnerungen, die häufig ohne adäquate räumliche und zeitliche kontextuelle Einordnung verbleiben, so daß sie im Vergleich zu normalen Gedächtnisinhalten häufig nicht in ein persönliches Narrativ übersetzt werden können. traumabezogene Gedächtnisinhalte, die häufig eine erhöhte Löschungsresistenz zeigen, insofern sie detailgenau stabil bleiben, ohne durch sekundäre kognitive Überarbeitung modifiziert zu werden. interne und externe Stimuli, die als Triggerreize lebenslang traumatische Erinnerungen anstoßen können, die bezüglich der sensorischen und emotionalen Intensität einem Wiedererleben der ursprünglichen Erfahrung nahe stehen.
4.5 Integrative Therapie: diagnostisches Verfahren
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4.5 Aussagen zum diagnostischen Verfahren der Integrativen Therapie Im Rahmen der Integrativen Therapie wird Diagnostik als fortschreitender Erkenntnis- und Änderungsprozeß verstanden. Grundsätzlich sind hier die pathogenetischen und salutogenetischen Modellvorstellungen und das diagnostische Prozedere aufeinander bezogen. Eine multikausale Gesundheits- und Krankheitsgenese auf verschiedenen Niveaus der Biographie und mit Auswirkungen auf unterschiedliche Bereiche der Persönlichkeit erfordert ein multidiagnostisches Vorgehen. Die Diagnostik beginnt mit der Einordnung der psychopathologischen Phänomene in die Klassifikationssysteme des ICD-10 und DSMIV. Neben dieser Standarddiagnostik verfügt die Diagnostik der Integrativen Therapie über einen ausführlichen Leitfaden für die Anamneseerhebung (vgl. Osten 2000). Mit der in der IT entwickelten und praktizierten Diagnostik sind die Zielgruppen und Störungsbilder angemessen und optimal zu diagnostizieren (vgl. ebenda). Die diagnostischen Orientierungen sind im Kontext der ausführlichen Psychodiagnostik zu sehen, die 1.
2.
3.
4.
eine ausführliche Anamnese, die biographische Anamnese, den familiären und sozialen Entwicklungshintergrund, die Leistungsentwicklung, die interpersonale Entwicklung, die Entwicklung des Krankheits- und Gesundheitsspektrums, die berufliche Entwicklung und eine Anamnese der Persönlichkeit beinhaltet (medizinische, psychische Diagnostik; Suchtdiagnostik); eine ausführliche Diagnose mit einer Problem- und Konflikt-analyse, Bedürfnis- und Motivationsanalyse, Lebensweltanalyse, Kontinuumanalyse, Ressourcenanalyse und einer Interaktionsanalyse (soziale Diagnostik); eine Therapieplanung mit Globalzielen, persönlichkeitsorientierten, methodenbestimmten, kontextbestimmten und störungs- und krankheitsbestimmten Zielen; und eine psychiatrisch-neurologische Untersuchung zur Abklärung von Therapie- und Gruppenfähigkeit sowie zur Diagnose von über die Sucht hinausgehenden geistig-seelischen Erkrankungen
umfaßt (vgl. ebenda).
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Graphisch läßt sich das im Überblick wie folgt darstellen:
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Abbildung: Die 5 Module der „Integrativen Psychotherapeutische Diagnostik“ (IPD)“. Mit Hilfe dieser mehrperspektivischen, ganzheitlichen und differentiellen Betrachtensweise, die durch die Konzepte des Ko-respondenzmodells, der Intersubjektivität, der Leiblichkeit und Identität, der dynamischen Systeme, der Mehrperspektivität etc. gekennzeichnet ist, wird der Mensch mit seinen „Problemen, Ressourcen und Potentialen“ (vgl. Petzold 1997) in seinem Umfeld und seinem lebensgeschichtlichen Zusammenhang diagnostisch in den Blick genommen, um mit ihm spezifische Behandlungsziele zu erarbeiten (vgl. Osten 1995/2000). Es geht darum,
beschädigte Gesundheit und Identität wiederherzustellen, die Entwicklung der Persönlichkeit zu fördern oder bei der Verarbeitung von irreversiblen Schädigungen Bewältigungshilfen zu geben. defiziente oder destruktive Netzwerke zu verbessern (vgl. auch Petzold, Thomas 1994).
Dabei bilden die Schwerpunkte der Arbeit
das Entwickeln tragfähiger Beziehungsstrukturen in supportiven Netzwerken,
4.5 Integrative Therapie: diagnostisches Verfahren
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Bearbeitung biographischer Defizite, Traumata, Konflikte und Störungen und ihrer Auswirkungen im gegenwärtigen Leben des Patienten, Aktivierung von Ressourcen, Aufdeckung und Bearbeitung bewußter und unbewußter Problematiken, Eröffnung positiver Erwartungen und Zukunftsentwürfe.
Bei der Integrativen Therapie stehen nicht nur Krankheit und „Pathogenese“ sowie ihre Heilung, Bewältigung, Linderung, sondern immer auch die Entwicklung von Gesundheit, „Salutogenese“, Förderung von Ressourcen und Potentialen und die Bereicherung des Lebenszusammenhanges im Blickpunkt. „Erkrankungen von Patienten erfolgen ... in höchst differenten Lebensläufen, in denen vielfältige Einflüsse – traumatische Erfahrungen, kritische Lebensereignisse, Defizite, aber auch salutogene und protektive Faktoren – über die gesamte Lebensspanne hin zur Wirkung gekommen sind“ (Osten 1995, 11, vgl. auch Petzold 1993b). Entsprechend müssen alle positiven, negativen und defizitären Einflüsse, die den Lebenszusammenhang des Patienten bestimmt haben, im therapeutischen Kontext aufgegriffen und in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt werden, um
produktive Verarbeitung, positive Sozialisation, substantielle Persönlichkeitsveränderung, Auflösung psychischer Störungen
zu erreichen (vgl. ebenda). Petzold entwickelte in Ergänzung zu bestehenden theoretischen psychiatrischen und psychoanalytischen Grundmodellen, das Konzept der „prozessualen Diagnostik": Darunter fällt die Gesamtheit aller Maßnahmen, die für das Erfassen und Verstehen eines Menschen im Kontinuum seiner Lebensspanne und seiner Gesundheits-/Krankheitskarriere, im Kontext seiner problematischen Lebenssituation seines sozialen Netzwerkes bzw. Konvois (durch „soziales Sinnverstehen") unter Einbeziehung seiner persönlichen Weltsicht erforderlich sind, um einerseits zu einer klinischen und sozialtherapeutischen Diagnose und Therapiekonzeption und andererseits mit dem Patienten zu einer Einigung über die Therapieziele zu kommen. Mit der „hermeneutischen Spirale“ (vgl. Petzold 2002a) wird dieser Prozeß „wahrnehmen ↔ erfassen ⇔ verstehen ↔ erklären“ anschaulich
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
dargestellt, wobei dem Erfassen des Beziehungsgeschehens während des diagnostischen Prozesses hier besondere Bedeutung zukommt. Der „spiralig progredierende, in sich rückbezügliche Prozeß beginnt mit dem Wahrnehmen (Innen- und Außenwahrnehmung) als der Grundfunktion, die auch in der Diagnostik von Wahrnehmungsstörungen als Basis zahlreicher Verhaltens- bzw. Persönlichkeitsstörungen besondere Aufmerksamkeit erhält („Wie nimmt der Patient sich und die Welt wahr?“), denn damit ist die zweite Funktion des Erfassens, d.h. des Aufnehmens, des Erkennens bzw. Wiedererinnerns, Behaltens, Verarbeitens verbunden („Wie nimmt der Patient sich und die Welt auf, wie erfaßt er, verarbeitet er das Wahrgenommene?“). Auf diesem Prozeß gründet das VERSTEHEN und das ERKLÄREN. Die Spirale ist damit in zwei Doppeldialektiken organisiert: Wahrnehmen ↔ Erfassen ⇔ VERSTEHEN ↔ ERKLÄREN, die erste als leibnahe Dialektik, die zweite als vernunftnahe Dialektik. In ihnen konstituiert sich leibhaftige Erkenntnis, in der die Polarisierung „Aktion und Kognition“ überwunden werden kann. Im Bereich des ERKLÄRENS können die habituellen Erklärungsdiskurse auf der Ebene der Alltagsreflexion oder der fachdiziplinären Reflexivität durch „Diskursanalysen“ (sensu Foucault), „Dekonstruktionen“ (sensu Derrida) und „transversale Mehrebenenreflexionen“ (sensu Petzold) überschritten werden zu einem „POLYVALENTEN ERKLÄREN“, das um Aufklärung der Bedingungen seiner Erklärensprozesse (der kulturellen wie der neurobiologischen) bemüht ist und die Mehrwertigkeit der ERKLÄRUNGEN hinlänglich zu überschauen versucht, wie es für die Metahermeneutik im Verständnis des Integrativen Ansatzes charakteristisch ist“ (zitiert aus: Petzold, Josic´, Ehrhard 2006, 120f).
4.5 Integrative Therapie: diagnostisches Verfahren
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Dekon struktion transversale MehrebenenreflexionÜ
Diskursanalyse
Schaubild:
Die hermeneutische Spirale „wahrnehmen ↔ erfassen ⇔ verstehen ↔ erklären“ und ihre Überschreitung des Erklärens durch Diskursanalyse, Dekonstruktion, transversale Mehrebenenreflexion zu einer Metahermeneutik (aus: Petzold 2002a)
Vom Wahrnehmen zum Erfassen zum Verstehen zum Erklären schreiten Erkenntnisprozesse ko-respondierend und kokreativ voran als Prozesse zwischen Subjekt und Mitsubjekt in Kontext/Kontinuum über einen Gegenstand (Thema). „Im Kontext und Kontinuum steht das Leib-Subjekt in Ko-respondenz mit der Lebenswelt, ein Prozeß, aus dem Erkenntnis geschaffen wird. Sie beginnt mit dem Wahrnehmen der Phänomene, das subliminal einsetzend, immer dichter wird, an Prägnanz gewinnt und die Gedächtnisspeicher aktiviert, wodurch aufgrund identifizierender Erkenntnisleistungen ein Erfassen von Strukturzusammenhängen möglich wird. In ihm verbinden sich aktuale und abgespeicherte, vorgängige Wahrnehmungen zu der breiten, umfassenden Qualität, die die „mit einem Blick erfassende“ und mit „allen Sinnen“ präsente Awareness kennzeichnet – „Weitung“. Das Erfassen fokussiert sich, Strukturen werden deutlich. Unter Abblendung der Fülle des Erfaßten strukturiert sich im Bewußtsein (Consciousness) sprachlich gefaßtes Verstehen, das sich zum begrifflich präzisen Erklären unter weiterem Informationsverlust verdichtet („Engung“), um sich wiederum erneut dem phänomenalen Feld, dem Wahrnehmen und Erfassen usw. der Lebenswelt zu öffnen („Weitung“)“ (Petzold 1992a, 627).
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Klar Wahrgenommenes öffnet sich zum Erfassen, Verstehen, Erklären hin. Wieder und wieder Erklärtes und Verstandenes schärft das Erfassen und erweitert, vertieft die Fähigkeit des Wahrnehmens. Das heißt, der hermeneutische Prozeß bewegt sich in beide Richtungen, wie die Pfeile in der Graphik auch zeigen. Das erfaßte, verstandene, erklärte Wahrgenommene eröffnet neue oder andere Blickwinkel auf die Wirklichkeit, die Lebenswelt, das phänomenale Feld, eröffnet neue Möglichkeiten des Handelns, so daß ein erneutes Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen, Erklären möglich und notwendig wird usw.. Integrative Diagnostik erkennt, benennt, ordnet zu und erklärt die Probleme des Patienten. Der Therapeut ordnet dabei die Phänomene, die der Patient ihm anbietet, in sein subjektives und objektives Theorienraster ein. Diagnostik ist ein systematischer, theoriegeleiteter Erkenntnisprozeß und fordert in besonderer Weise das Wechselspiel zwischen Involvierung (Beteiligtsein), Zentrierung (Bei-Sich-Sein) und Exzentrizität (beobachten, erklären). Dabei sind in der IT folgende Aspekte zu beachten:
Ursachen-Analyse Schädigungen des Patienten (Defizite, Traumatisierungen, Störungen, Konflikte) Bedürfnis-/Ziel-Analyse Wünsche und Hoffnungen des Patienten Lebenswelt-Analyse (Kontext-Analyse) Werte und Normen, Zeitgeist und Lebensstil des Patienten Kontinuums-Analyse Lebenswelten und Biographien in der Familie des Patienten: Verständnis des Lebensentwurfes Ressourcen-Analyse Konservierende Behandlungsstrategie: (weitestgehende) Erhaltung von Gesundheit und Funktionsfähigkeit Reparative Behandlungsstrategie: (weitestgehende) Behebung von Störungen und Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit Coping-Strategien: Bewältigungsstrategien durch Verzichtleistung oder „Ersatz“ Defizit-Analyse Substituitive Strategie: Aufzeigen/Erarbeitung von Möglichkeiten, Defizite zu beheben/kompensieren
4.5 Integrative Therapie: diagnostisches Verfahren
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Potential-Analyse Evolutive Strategie: Nutzung bisher ungenutzter Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten (vgl. Petzold, Orth 1994)
Insgesamt wird die Diagnostik von ICD 10 oder DSM-IV in einer für die Behandlung von Suchtmittelabhängigen höchst spezifischen und funktionalen Weise ergänzt. Besondere Aufmerksamkeit muß dabei der Diagnose von Kommorbiditäten und der PTSD-Diagnostik geschenkt werden. In der Integrativen Therapie kommen ergänzend semiprojektive Diagnoseverfahren zur Anwendung, die dazu geeignet sind, einerseits die Selbstexploration des Patienten möglichst umfassend zu fördern und andererseits zum „Mitteilen" und damit zum intersubjektiven Austausch einzuladen und die soziale Situation zu erfassen. Dazu gehören neben verbalen Verfahren auch projektive Techniken und kreative Methoden:
Panoramatechnik Lebenspanorama, Krankheitspanorama, dreizügiges Karrierepanorama (die Patienten stellen die Ketten widriger und kritischer Lebensereignisse in projektiven Zeichnungen bildhaft dar). Mit dieser Panoramatechnik wird es möglich, Konfliktfelder, Konfliktebenen und Konfliktkonstellationen sowie Defizite und Traumatisierungen gleichzeitig zu erfassen. Identitätsdiagnostik Exploration der fünf Identitätsbereiche (vgl. 6.1.1) mit ihren emotionalen und kognitiven Bewertungen (valuation, appraisal). Diese Identitätsbereiche können unter Anleitung auch bildnerisch dargestellt und schriftlich kommentiert werden. Netzwerkdiagnostik Mit Instrumenten und Konzepten der modernen Netzwerktheorie und -forschung werden Stabilität, Ressourcenvorrat, Defizite und Risiken von Netzwerken erfaßt und für die Planung netzwerktherapeutischer Interventionen genutzt (vgl. Petzold, Orth 1994, Scheiblich, Petzold 2006).
Mit den Patientenbeispielen werden wir im Folgenden verdeutlichen, wie die Diagnostik nach der IT vorzunehmen ist.
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
4.5.1 Biographische Anamnese Die klinische Entwicklungspsychologie bietet eine gute Basis, „um unter Einbeziehung tiefenpsychologischer, behaviouraler, traumatheoretischer und sozialökologischer Gesichtspunkte – zu einem „Integrativen Entwicklungsorientierten Ansatz" in der Sucht – und Psychotherapie zu gelangen. ... Sie kann – zusammen mit der empirischen Lebenslaufforschung ... zur Basis werden sowohl für die Exploration ätiologischer Prozesse als auch für die Suche nach geeigneten Interventionsschritten und Behandlungsmethoden“ (Osten 2006, 212). Die biographische Anamnese läuft im Rahmen der Integrativen Diagnostik unter sehr strukturierten Gesichtspunkten ab und kann als entwicklungspsychologische Tiefenexploration bezeichnet werden. Wie bereits dargestellt, muß die Psychodiagnostik u.a. die biographische Anamnese, den familiären und sozialen Entwicklungshintergrund, die interpersonale Entwicklung, die berufliche Entwicklung, eine Anamnese der Persönlichkeit und die Suchtentwicklung beinhalten: Patient A Der Patient wurde als zweites Kind geboren. Die Kenntnis über die ersten Jahre seines Lebens seien ihm aus den Akten des Jugendamtes und des Kinderheimes, in dem er untergebracht wurde, bekannt geworden. Nach dessen Berichten ist der Patient von seiner alkoholabhängigen Mutter früh mißhandelt und vernachlässigt worden. Mit 2 J. wurde er nach einem Krankenhausaufenthalt, der durch eine starke Kopfverletzung seitens seiner Mutter verursacht wurde, aus der Familie herausgenommen und in einem Kinderheim untergebracht. Seinen Vater habe er aufgrund von Nachforschungen über seine Herkunft mit 18 J. persönlich kennengelernt. Der Vater habe sich nicht für ihn interessiert und die Verantwortung für seine Heimunterbringung alleine der Mutter zugeschoben. Der Kontakt zum Vater wurde von dem Patienten nicht weiter gepflegt. Der Patient hat zwei Geschwister: eine Stiefschwester (+2) und einen leiblichen Bruder (-2), der ebenfalls in einem Heim aufgewachsen sei. Den Bruder hat der Patient mit 18 J. kennengelernt; der Kontakt ist abgebrochen. Im Alter von ca. 4 J. ist der Patient in einer Pflegefamilie untergebracht worden. Dort sei er streng und mit wenig Liebe erzogen worden. In dieser Zeit sei er ein Jahr lang in einer Klinik psychiatrisch wegen Hyperaktivität behandelt worden. Nach fünf Jahren sei das Pflegeverhältnis aufgrund von Mißhandlungen durch den Pflegevater beendet worden und er wieder in einem Heim untergebracht worden.
4.5 Integrative Therapie: diagnostisches Verfahren Dort habe er sich wohl gefühlt, in seiner Gruppenleiterin, einer Nonne, habe er einen Mutterersatz gefunden. Die klare Struktur des Alltags, die Freizeit-, Urlaubs- und Sportangebote hätten ihm zugesprochen. Der Patient ist mit 6 J. eingeschult worden und nach Abschluß der Grundschule im Alter von 10 J. wegen seiner Leistungsschwäche in eine Sonderschule gegangen. Dort hat er erfolgreich den Hauptschulabschluß erreicht. Mit 17 J. ist der Patient in einem Kolleg für junge Erwachsene untergebracht worden, um dort eine Berufsausbildung zum Tischler zu absolvieren. Nach Abschluß der Berufsausbildung mit 19 J. ist er zunächst in das Elternhaus seiner Freundin gezogen. Da er dort erhebliche Schwierigkeiten hatte, sich in das Familienleben zu integrieren, mietete er sich ein eigenes Apartment an. In dieser Zeit begann auch der Heroinkonsum.
Patientin B Die Patientin ist Einzelkind. Die Eltern hätten sich kurz nach ihrer Geburt scheiden lassen. Die Mutter heiratete bald wieder, aus dieser Ehe gibt es vier Geschwister (3 Schwestern und einen Bruder). Auch der Vater heiratete erneut, er bekam zwei weitere Töchter. Zum Zeitpunkt der Geburt war die Mutter 21 Jahre, sie habe schon damals ein Alkoholproblem gehabt. Aus diesem Grund habe die Patientin sehr früh Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen müssen, sie sei schnell in die Mutterrolle für die Geschwister gegangen, da die Mutter tagelang mit Liebhabern außer Haus gewesen sei. Zu Hause sei es der Mutter oft schlecht gegangen, so daß sie häufig den Notarzt habe holen müssen. Sie sei mehrfach Zeugin von Suizidversuchen der Mutter gewesen. Bei dem ersten Suizidversuch der Mutter sei sie acht Jahre alt gewesen. Ihren Vater habe sie kennengelernt, als sie 10 Jahre alt war. Bis dahin glaubte sie, der Partner der Mutter sei ihr Vater und der leibliche Vater sei ein Freund der Familie. Versuche, dem häuslichen Milieu zu entfliehen, habe sie schon früh unternommen, indem sie versucht habe, den Kontakt zu ihrem leiblichen Vater aufrecht zu erhalten. Der Kontakt zu ihm sei zeitweilig gut gewesen. Mit der Frau des Vaters sei sie nicht gut ausgekommen, so daß die Besuche bei ihm nicht kontinuierlich stattgefunden hätten. Statt dessen sei sie dann oft zu den Großeltern gegangen, von denen sie sich zunächst unterstützt gefühlt habe. Später sei es zu sexuellen Übergriffen des Großvaters gekommen, denen sie sich habe nicht entziehen können, da dieser ihr gedroht habe. Ihre Versuche, sich der Mutter gegenüber zu offenbaren, seien fehlgeschlagen. Die Mutter habe ihr nicht geglaubt, so daß sie nicht mehr darüber gesprochen habe. Belastet durch die schwierige häusliche Situation habe sie nur abends ihre Schularbeiten erledigen können, sei aber gut mitgekommen. In der Pubertät habe sie sich zunehmend einer Clique angeschlossen, zu der auch ihr späterer, um ein Jahr älterer Freund gehörte, mit dem sie im Alter von 17 Jahren zusammen gezogen sei, um endgültig der elterlichen Atmosphäre entfliehen zu kön-
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nen. Sie bekam noch im gleichen Jahr ihre erste Tochter, hatte zwei Jahre später eine Fehlgeburt und gebar wiederum 2 Jahre später, ihre zweite Tochter. Wiederum 2 Jahre später, habe sie sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entschieden, von dem ihr Partner nichts gewußt habe, da sich die Beziehung zu ihm dramatisch verschlechtert habe. Gewalterfahrungen, Mißbrauch und Beziehungen zu anderen Frauen seien die Regel gewesen.
Familie und Partnerschaft Patient A Familienanamnese Der Patient wurde in einer Familie geboren, deren Alltag offensichtlich von Alkoholmißbrauch und Gewalttätigkeit geprägt war. Im Alter von 2 Jahren wurde er aus der Familie herausgenommen und in einem Kinderheim untergebracht. Nach einem ¾ Jahr kam er in eine Pflegefamilie. Die Pflegeeltern waren mit der Erziehung des Patienten überfordert; er wurde nach vier Jahren zurück in das Heim gebracht, wo er bis zu seinem 19. Lebensjahr blieb. Der Patient entwickelte auf diesem Hintergrund eine brüchige Identität mit einer Tendenz zu selbstunsicheren und zwanghaften Persönlichkeitsmerkmalen. Eigenanamnese Schon im Säuglingsalter sei er in ein Heim gebracht worden. Als kleines Kind sei er in eine Pflegefamilie gekommen, in der er vier Jahre lang gelebt habe. Dann sei er von seinen Pflegeeltern wieder in das Heim zurückgebracht worden. Als der Patient aufgrund seines Alters das Heim verlassen mußte, habe er einen Suizidversuch unternommen. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt ist er in einem Kolleg für junge Erwachsene untergebracht worden, um dort eine Berufsausbildung zum Tischler zu absolvieren. Das Kolleg habe ihn schrittweise auf ein selbständiges Leben vorbereitet; im letzten Jahr habe er ein eigenes Apartment auf dem Gelände bewohnt und sich selbst versorgen müssen. Mit 19 Jahren bezog der Patient ein Zimmer im Elternhaus seiner Freundin und stieg in das Berufsleben ein. Mit dem für ihn ungewohnten Familienleben kam er nicht zurecht und mietete nach einem Jahr ein eigenes Apartment. Gleichzeitig wurde er arbeitslos. Soweit er über Informationen zu seiner Familiengeschichte verfüge, habe er diese aus Akten und Berichten des Jugendamtes. Die leibliche Mutter ist dem Patienten nicht bekannt. Seinen leiblichen Vater hat er mit 18 J. einmal gesehen.
4.5 Integrative Therapie: diagnostisches Verfahren Er weiß, daß er einen zwei Jahre jüngeren Bruder hat und eine Halbschwester von Seiten der Mutter existiert. Weitere Informationen über seine Geschwister hat er nicht. Den Pflegevater hat er mit 22 J. wegen der erlebten Mißhandlungen angezeigt, was aufgrund der Verjährungsfristen strafrechtlich nicht verfolgt worden ist.
Patientin B
Familienanamnese Die familiäre Situation war durch hohe Instabilität gekennzeichnet. Eine alkoholund medikamentenabhängige Mutter bot keinen Halt und keine Geborgenheit. Schon im Alter von 8 Jahren war sie mit Suizidversuchen der Mutter konfrontiert. Die familiäre Situation verhinderte eine unbeschwerte Kindheit. In der Folge kam es zu einer verzerrten Rollenzuweisung und Verwahrlosung. Sie war für die Betreuung der jüngeren Halbgeschwister verantwortlich. Der sexuelle Mißbrauch fand bei den Großeltern statt. Auch hier erfuhr sie statt Liebe und Geborgenheit Sexualität und Gewalt. Eigenanamnese Sie suchte ihren ersten Partner im Drogenmilieu. Auch diese Beziehung war durch Abhängigkeit und massive Gewalt geprägt. Aus Verantwortungsgefühl war sie nicht in der Lage, sich aus der Situation zu befreien. Die Patientin hat in der Fachklinik ihren jetzigen Partner kennengelernt. Die Partnerschaft ist durch viele Ambivalenzen gekennzeichnet. Die Patientin vermißt eine klare Entscheidung des Partners für sie und ihre Kinder. Er verhalte sich sehr uneindeutig und unerwachsen. Die Patientin demonstriert nach außen Stärke, Selbstsicherheit und Unnahbarkeit. Sie sucht überwiegend Kontakte zu Menschen, bei denen sie die Kontrolle hat und die ihr intellektuell unterlegen oder unsicher sind. Bei gleichwertigen Beziehungspartnern bleibt sie in einem oberflächlichen Kontakt und vermeidet Nähe. Auf diese Weise behält sie die Kontrolle über ihre Gefühle, fühlt sich aber einsam und nicht gesehen. Ihre Bedürfnisse versteckt sie hinter ihrer Oberflächlichkeit, bedauert jedoch, daß ihre Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden. Besonders in der Partnerschaft kommt es dadurch zu massiven Konflikten, in denen die Patientin immer wieder zur Trennung der Beziehung tendiert. Verantwortung für die Konflikte übernimmt sie nicht, sondern schiebt diese dem Beziehungspartner zu. Die Patientin verfügt über ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Bereitschaft, Aufgaben für sich und andere zu übernehmen. Diese Fähigkeit kann sie mittlerweile konstruktiv für sich nutzen, indem sie Krisensituationen aushalten kann, in denen sie ansonsten geneigt war, hektisch und panisch zu reagieren. Auch ist sie selbstkritisch und in der Lage, eigenes Handeln zu reflektieren und Zusammenhänge mit ihrer Lebensgeschichte herzustellen. Sie zeigt die Bereitschaft, sich für andere einzusetzen und Neues auszuprobieren.
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Ich-Selbst-System vor der traumatischen Situation Exkurs: Ich-Selbst/Entwicklung der Persönlichkeit Im Sozialisationsprozeß bildet sich im Zusammenwirken von bewußtem Wahrnehmen, Verarbeiten und Handeln (vgl. Petzold 1994) das ICH-SELBST heraus. Das ICHSELBST vereint ICH und SELBST als leibhaftige personale Identität. In unterschiedlichen Phasen des Entwicklungskontinuums ergeben sich ICHLeistungen von unterschiedlicher Komplexität und Qualität. Die wesentliche ICHLeistung besteht in der Konstituierung von Sinn, als das Erfassen von Zusammenhängen, die Verortung des SELBST in Kontext und Kontinuum und damit die Ausbildung von IDENTITÄT. IDENTITÄT erwächst aus dem Miteinander im sozialen Netzwerk in reziproken Prozessen. Sie entsteht prozessual in der Konvergenz von Selbst-Identifikation/SelbstAttribution und Identifizierung durch Andere (Fremdattribution) und deren Bewertung und Verarbeitung. IDENTITÄT entsteht in dialektischen Prozessen: So gewinnt das ICH einerseits Bilder über das SELBST aus dem Selbsterleben und attribuiert diese dem SELBST. Andererseits erfährt das ICH im Sozialisationsprozeß aus dem Außenfeld Fremdattributionen und gleicht diese mit vorhandenen Selbstbildern ab. Die vor diesem Hintergrund biographischen Selbst- und Kontextwissens kognitiv eingeschätzt (appraisal) und emotional bewerteten (valuation) Selbst- und Fremdattributionen werden internalisiert. SELBST, ICH und IDENTITÄT erhalten bei relativ gleichbleibenden, aber auch sich verändernden Bedingungen über die Zeit eine gewisse Stabilität, Konstanz und Konsistenz. Sie können aber auch regelrecht erodieren und diffundieren, etwa wenn die Lebensverhältnisse sich gravierend verändern und insbesondere zeitextendierte Belastungen und Schädigungen auftreten. Persönlichkeit Eine stabile und prägnante Identität in den Identitätsbereichen Leiblichkeit, soziales Netz, materielle Sicherheit, Arbeit und Leistung, Werte entwickelt sich auf der Grundlage von Fremdattributionen, Identifizierungen und Selbstattributionen, Identifikationen. Die Fähigkeit zur Selbstregulation, d.h. zum Wahrnehmen, Ausdrücken, Verwirklichen, Regulieren eigener Bedürfnisse, Intentionen, Motivationen, Volitionen und körperlicher Zustände und Befindlichkeiten; die Fähigkeit zu angemessener Relationalität in Kontakt, Begegnung, Beziehung, Bindung, Konsensbildung und Abgrenzung, Fähigkeit zur Rollenperformanz, Empathie, Perspektivenübernahme, Konfliktähigkeit ist dabei wesentlich. Nicht zuletzt zählt die innere Ressourcenlage, z.B. emotionale Stabilität, kognitive Kompetenzen, Entscheidungsfähigkeit, Wissen und Kenntnisse. Kontext und Kontinuum konstituieren die Lebenslage und zuweilen „prekäre Lebenslagen" (vgl. Petzold 2000h). Kontext Stabile soziale Netzwerke mit guter supportiver Valenz, versichernden kollektiven Kognitionen. Externe Ressourcenlage: Arbeit, Arbeitsfähigkeit, befriedigende Freizeit-
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gestaltung, Bildung, Weiterbildung, materielle Sicherheiten, soziale Integration und sozialer Rückhalt. Die Handhabung von Umwelteinflüssen, z.B. Risikofaktoren entsprechend der eigenen Gestaltungs- und Copingfähigkeiten der eigenen Vitalität, Vulnerabilität, Resilienz, Vermeidung chronischer Überlastungen sowie von okkasionellem Hyperstreß oder aufreibendem, alltäglichem Kleinkram („daily hassels", vgl. ebenda).
Patient A
Identiät Der Sozialisationsprozeß des Patienten war durch Heimaufenthalte und eine mißbräuchliche Pflegefamilie geprägt. Bereits frühkindliche Lebenszusammenhänge waren von traumatischen Erlebnissen beeinträchtigt, so daß die Identität stark beschädigt ist. Im sozialen Netzwerk fehlen gelungene Selbstidentifikation/Selbstattribution und Identifizierung durch Andere/Fremdattribution. Vor diesem biographischen Hintergrund ist die weitere Persönlichkeitsentwicklung beeinflußt, hier: gravierende zeitextendierte Belastungen und Schädigungen.
Patientin B
Identiät Die Patientin entwickelte eine Eßstörung, später eine polyvalente Abhängigkeit als Folge von Defekten der Ich-Struktur. Die traumatische Erfahrung schlug sich in der Frühentwicklung im Ich-Selbst-System, dem Organisationsgrad des Ich, der Entwicklung seiner Funktionen, insbesondere seiner Abwehrfunktionen und im Sozialverhalten nieder. Mehrere Ich-Funktionen sind defizitär ausgebildet. Die Patientin verfügt nicht immer über hinreichende Fähigkeiten zur Lebensbewältigung. Es handelt sich dabei vor allem um Einschränkungen der Realitätsfunktion, Urteilsfunktion, Frustrationstoleranz und Impulskontrolle. Des weiteren hat sie massive Kontakt- und Beziehungsprobleme. Im Bereich der Leiblichkeit bestehen erhebliche Defizite. Sie neigt zu autoaggressiven Verhaltensformen.
Persönlichkeit Die Fähigkeit zur Selbstregulation, das Grundvertrauen in Beziehung, die Fähigkeit zur Perspektivenentwicklung/-übernahme ist schwer gestört. Die innere Ressourcenlage, z.B. emotionale Stabilität, ist deutlich reduziert.
zu A + B
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Kontext Stabile soziale Netzwerke mit guter supportiver Valenz fehlen. Stark beeinträchtigte externe Ressourcenlage in den Bereichen der 5 Säulen der Identität (s. Darstellung des Behandlungsverlaufes anhand der 5 Säulen der Identität, 4.1.1). Risikofaktoren sind insbesondere in chronischen Überlastungs-/Streßsituationen und emotional belastenden Situationen gegeben.
Psychische Vorerkrankungen Patient A
Im Alter von 4 J. ist der Patient psychiatrisch wegen Hyperaktivität behandelt worden. Mit 19 J. har er einen Suizidversuch unternommen, nachdem er das Heim aufgrund seines Alters verlassen mußte.
Patientin B
Mit 20 J. entwickelte die Patientin eine Eßstörung, die als eine psychosomatische Erkrankung mit Suchtcharakter zu betrachten ist.
Karriereanamnese / Suchtanamnese Patient A
Mit 16 J. Konsum von ca. 20 Zigaretten am Tag. Alkohol habe er nur ganz selten und immer in geringen Mengen getrunken. Mit 16 J. habe er erstmals Haschisch konsumiert. Zunächst ein- bis zweimal in der Woche, mit 18 J. Konsum von durchschnittlich einem Gramm täglich. Häufig habe er dazu eine Wasserpfeife benutzt. Mit 19 J. habe er erstmals Heroin „vom Blech“ geraucht. Die initiale Dosis von 0,2 Gramm habe er nach kurzer Zeit auf 1 Gramm täglich gesteigert. Mit 22 J. habe er Heroin i.V. konsumiert. Durchschnittlich habe seine tägliche Dosis bei 1 Gramm gelegen. Kokain habe er erstmals mit 24 J. konsumiert; täglich ca. 1 Gramm i.V.. Mit 21 J. habe er einmal eine Ecstasytablette zu sich genommen. Die Wirkung habe ihm nicht gefallen. Benzodiazepine, LSD und andere Drogen habe er nicht konsumiert.
4.5 Integrative Therapie: diagnostisches Verfahren Bisherige Behandlungen Er sei bisher viermal (mit 20/21/22/24 J.) in einer Drogenentzugsbehandlung gewesen. Die erste fachklinische Behandlung habe er mit 20 J. angetreten, aber bereits nach wenigen Wochen wieder abgebrochen. Mit 21 J. habe er seine zweite Entwöhnungsbehandlung begonnen und nach einem Monat abgebrochen. Mit 22 J. habe er zwei erneute Therapieversuch unternommen und auch diese jeweils nach wenigen Wochen abgebrochen. Nach den Therapieabbrüchen kehrte der Patient jeweils zu seiner Freundin zurück und lebte kurzzeitig clean. Nach Rückfälligkeit folgten Substitutionsbehandlungen, wobei er Beikonsum mit Heroin, Alkohol, THC hatte. Vor dem endgültigen Absturz habe ihn die Beziehung zu seiner Freundin bewahrt. Mit 24 J. entschloß der Patient sich zu einer weiteren Entwöhnungsbehandlung, die er erfolgreich abschloß. Er entschloß sich zu einem Neuanfang, kehrte nicht in sein bisheriges soziales Umfeld zurück und begab sich zur Weiterbehandlung in die Adaption. Nach der Adaptionsbehandlung wurde er im Rahmen des Betreuten Wohnens weiterbetreut und zog in eine von der Einrichtung betreute Wohngemeinschaft.
Patientin B
Ab dem 18./19. Lebensjahr Medikamentenmißbrauch und Mißbrauch von Partydrogen. Im Alter von 28 Jahren verstärkter Alkoholmißbrauch. Mit 20 J. habe sie sich zunehmend überfordert gefühlt und in der Folge eine Magersucht entwickelt. Während einer Krankenhauseinweisung sei sie erstmalig medikamentös ruhig gestellt worden und habe festgestellt, daß sie mit Hilfe der Medikamente alles leichter ertragen habe. Um die weitere Zeit mit ihrem Freund, dem sie sich als Vater ihrer Kinder gegenüber verantwortlich gefühlt habe, ertragen zu können, habe sie immer mehr Medikamente eingenommen und begonnen Alkohol zu trinken. Von ihrem Freund habe sie das erste Mal Heroin erhalten, das er ihr später eingeteilt habe. Die ihr zugeteilte Menge habe schnell nicht mehr ausgereicht, so daß sie begonnen habe, sich die nötige Menge selbst zu besorgen. Mit dem Vater der Kinder lebte sie 16 Jahre zusammen. Das Zusammenleben war durch Alkohol- und Drogenkonsum sowie massive Gewalt gekennzeichnet. Bisherige Behandlungen Nach einer Entzugsbehandlung in einer Psychiatrischen Klinik wurde sie in einer Fachklinik für Drogenabhängige behandelt. In Folge der aufdeckenden Therapie entwickelte sie eine Bulimie.
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
In der Therapieeinrichtung lernte sie ihren jetzigen Partner kennen. 2003 verstarb ihre Mutter infolge eines Suizids. Nach Ende der Behandlung in der Fachklinik, zog sie 2003 zu ihrem Partner nach Herne. Der Partner zog nach kurzer Zeit aus der gemeinsamen Wohnung aus. Die Patientin bekam ihre dritte Tochter von ihrem neuen Partner. Seitdem lebt sie mit ihrer 12jährigen und der 1jährigen Tochter im gemeinsamen Haushalt.
Die biographische Anamnese veranschaulicht, daß die Entstehung einer Suchterkrankung Folge schwerer Traumatisierungen ist und die Patienten den Suchtmittelkonsum für sich genutzt haben, um die unerträglichen Gefühle nicht mehr spüren zu müssen und zu bewältigen. Des weiteren zeigt sich auch, daß sie aufgrund des Suchtmittelkonsums wichtige Entwicklungsschritte nicht mehr vollzogen haben und ihr soziales Netzwerk zerstört ist. Bei beiden Patienten ist ein Zusammenhang zwischen belastenden Bedingungen im Lebensverlauf und Suchtmittelmißbrauch gegeben und eine Akkumulation von Deprivation, Mißbrauch und fehlenden Ressourcen zu sehen. Im Sinne der Regulationskompetenz haben die Patienten den Suchtmittelkonsum als Überlebensstrategie gewählt. Die Diagnosekriterien einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung sind gegeben (vgl. 4.3).
4.6 Diagnostik nach einem psychoanalytisch/psychodynamischen Ansatz (vgl. Fischer, Riedesser 2003) Wie bereits dargestellt, ist die traumatische Erfahrung als ein dynamischer Prozeß zu verstehen. Dieser umfaßt die Phase der traumatischen Situation, der (post)expositorischen Reaktion und des traumatischen Prozesses (vgl. Fischer, Riedesser 2003, 127). In ihrem Verlaufsmodell gehen Fischer, Riedesser (2003, 64) von folgenden Annahmen aus: •
•
„Die traumatische Erfahrung muß als dynamischer Verlauf untersucht werden. Dieser umfaßt die Momente oder Phasen der traumatischen Situation, der traumatogenen Reaktion und des traumatischen Prozesses. Diese Phasen sind intern aufeinander bezogen und gehen dynamisch auseinander hervor. Das bewegende Moment des Traumaverlaufs ist die inhärente Paradoxie von existentiell bedrohlichen Handlungssituationen, die jedoch kein adäquates Verhalten zulassen; von Handlungsbemühungen, emotionalen und kog-
4.6 Diagnostik – psychoanalytischer/-dynamischer Ansatz
•
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nitiven Bewältigungsversuchen, die in sich zum Scheitern verurteilt sind; von Lebensentwürfen, die um den unbewältigten, traumatischen Erfahrungskomplex herum organisiert sind. Die traumatische Erfahrung findet im psychoökologischen Bezugssystem des sozialen Netzwerks statt. Dies umfaßt neben den Angehörigen, Freunden und Bekannten der Betroffenen die Täter (Verursacher)-Opferbeziehung ebenso wie die jeweilige soziale Makrogruppe, in deren Einflußsphäre es zur Traumatisierung kommt.“
Die traumatische Situation dient als Beobachtungseinheit der Psychotraumatologie. Neben den objektiven Situationsfaktoren („was ist nachweisbar“) werden auch die subjektiven Faktoren („persönliche Bewertung“) berücksichtigt, denn nur dann, wenn eine Situation auch unter dem Blickwinkel der individuellen Bedeutungszuschreibungen betrachtet wird, wird sie in ihrer Tragweite verständlich. Objektive Situationsfaktoren können hinsichtlich Schweregrad, Häufigkeit und Verlauf, Verursachung und Art der Betroffenheit unterschieden werden. Green (1993, 138) konnte in mehreren Studien acht besonders traumatogene situative Faktoren ermitteln: „1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Bedrohung für Leib und Leben, schwerer körperlicher Schaden oder Verletzung, absichtliche Schädigung oder Verletzung ausgesetzt zu sein, Konfrontation mit verstümmelten menschlichen Körpern, gewaltsamer oder plötzlicher Verlust einer geliebten Person, Beobachtung von Gewalt gegen eine geliebte Person oder Informationen darüber, die Information, daß man an einem schädlichen Umweltreiz ausgesetzt ist oder war, Schuld haben am Tod oder schwerer Schädigung Anderer.“
Die von uns dargestellten Patientenbeispiele zeigen eindrücklich, daß insbesondere bei Menschen mit traumatischen und Suchterfahrungen die Punkte 1-3 von besonderer Bedeutung sind. Die individuelle Art und Weise wie ein Betroffener das Ereignis erlebt und bewertet, wird unter den subjektiven Faktoren einer traumatischen Situation zusammengefaßt. Für die Pathogenese des psychischen Traumas (vgl. 4.4) ist ausschlaggebend, daß die Betroffenen in der traumatischen Situation schutzlos waren und durch den Kontrollverlust mit Gefühlen vollkommener Hilflosigkeit reagierten. Aufschrei und Wut konnten nicht wirksam im Sinne der Verteidigung eingesetzt werden und verstärkten so unter Umständen das Erleben der Hilflosigkeit. Charakte-
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
ristisch für traumatische Erfahrungen ist, daß die Regeln der normalen Erlebnisverarbeitung nicht mehr funktionieren und es sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Handlungsweise zu Veränderung kommt. Diese Erfahrung des unterbrochenen Handlungsvollzuges, der Sinnlosigkeit von Handlungen, das veränderte Selbsterleben, die Erfahrung schutzloser Preisgabe und die Unmöglichkeit der kognitiven Verarbeitung führen bei den Opfern zu einer tiefgreifenden Erschütterung ihres Welt- und Selbstverständnisses. In der Regel erleben die Betroffenen eine deutliche Diskrepanz zwischen objektiven Situationsfaktoren und subjektiven Erwartungen. Sie entwickeln eine subjektive Sicht der Dinge, eine subjektive Bedeutungszuschreibung. Fischer/Riedesser (2003) bezeichnen dies als „zentrales traumatisches Situationsthema“, das sowohl aus dem momentanen Situationsverlauf als auch in seiner lebensgeschichtlichen Bedeutung erfaßt werden muß. Die lebensgeschichtlichen Bedeutungszuschreibungen stehen im engen Zusammenhang mit der persönlichen lebensgeschichtlichen Erfahrung. Die persönliche Bedeutung umfaßt Wahrnehmungen, Handlungen und Phantasien in bezug auf das Trauma. Das zentrale Situationsthema bildet in der lebensgeschichtlichen Betrachtung einen dynamischen Kristallisationspunkt, in dem sich vergangene und gegenwärtige traumatische „Erfahrungen verbinden und bisweilen unheilvoll potenzieren können“ (ebenda, 73). Nach dem ersten Schock der Situation kommt es zu der traumatischen Reaktion, der postexpositorischen Einwirkphase. Insbesondere der amerikanische Psychoanalytiker Horowitz (1986) hat sich intensiv mit der traumatischen Reaktion auseinandergesetzt, die seiner Meinung nach in Phasen verläuft. „Die Psychotraumatologie verdankt Horowitz zudem die Entdeckung des biphasischen Charakters der traumatischen Reaktion als eines zentralen psychobiologischen Verarbeitungsmechanismus“ (ebenda, 96).
4.6 Diagnostik – psychoanalytischer/-dynamischer Ansatz
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Schaubild: Übersicht über die biphasische Reaktion und den Zyklus der Traumaverarbeitung (Fischer, Riedesser 2003, 98)
Wie auch im ICD-10 und DSM-IV beschrieben, kehren Intrusionen und Verleugnung der traumatischen Erinnerungen wechselhaft wieder. Die Verleugnungsphase ist charakterisiert durch das Bestreben, Erinnerungen an das traumatische Ereignis abzuwehren. Symptome sind zum Beispiel Benommenheit; Vermeiden von Gedanken, Gefühlen und Handlung, die an die traumatische Erfahrung erinnern können; Amnesie, eine vermindertes Interesse an vorher bedeutsamen Aktivitäten; sich fremd fühlen oder das Gefühl verkürzter Zukunft. In der Intrusionsphase erleben die Betroffenen das traumatische Ereignis oft in unkontrollierter Weise wieder. Sie werden von Erinnerungsbildern und Alpträumen von dem Ereignis gequält. Bei Konfrontationen mit Reizen, die an das traumatische Ereignis erinnern, kommt es zu starken Streßreaktionen. Die unter 4.2 im DSM-IV beschriebenen Symptome tauchen auf. Die traumatische Reaktion geht in den traumatischen Prozeß über, der durch den Versuch der Anpassung an die unerträgliche Erfahrung gekennzeichnet ist. Drei Verlaufsformen sind dabei möglich: 1. 2. 3.
das chronische Fortbestehen der traumatischen Reaktion, die vorzeitige Unterrechung des Verarbeitungsprozesses und Sequestrierung (Einkapselung) der traumatischen Erfahrung und Integration der traumatischen Erfahrung (vgl. ebenda).
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Das Zentrale Traumatische Situationsthema (ZTST) ist das Ergebnis eines Mißverhältnisses von objektiven Situationsfaktoren und persönlichen, subjektiven Erwartungen. Die Informationsverarbeitung wird blockiert (vgl. Fischer, Riedesser 2003). Durch die traumatische Erfahrung bildet sich um das ZTST zunächst das Traumaschema aus. In Verbindung mit dem Traumaschema entsteht aus der erlebten Hilflosigkeit in der traumatischen Situation das „Desillusionierungsschema“ (ebenda, 102). Die traumabedingte Desillusionierung, das Gefühl des Kompetenzverlustes wird nachfolgend verallgemeinernd dem eigenen Selbst zugeschrieben. Die kompensatorischen Gegenmaßnahmen, mit denen ein Individuum versucht, das traumatische Erleben unter Kontrolle zu halten und dessen Wiederholung zu vermeiden, bezeichnen Fischer/Riedesser (2003) als traumakompensatorisches Schema. „Es werden also Konsequenzen aus der traumatischen Erfahrung gezogen und kompensatorische Gegenmaßnahmen entworfen, die der Kontrolle des Schreckens dienen und zukünftige Wiederholung vermeiden sollen. Diesen Gegenentwurf in seiner systematisch ausgearbeiteten Form bezeichnen wir terminologisch als traumakompensatorisches Schema“ (ebenda, 101).
Das traumakompensatorische Schema enthält einen ätiologischen, einen präventiven und einen reparativen Aspekt. Der ätiologische Aspekt beinhaltet die persönlichen Annahmen zur Kausalität, wie es zum Trauma kommen konnte. Der präventive Aspekt beinhaltet Annahmen, wie das Trauma hätte vermieden werden können. Hieraus entwickelt sich das MinimalesKontrolliertesHandlungs- oder Ausdrucksfeld (MKH) als Feld der Symptombildung. „Die originäre unkontrollierbare traumatische Situation wird in ihren wichtigsten Elementen an einer minimalen Szenerie abgehandelt, in der sie kontrollierbar gestaltet werden kann“ (Fischer, Riedesser 2003, 369).
Das Traumaschema ist das in der traumatischen Situation aktivierte Wahrnehmungs- und Handlungsschema, das die traumatische Erfahrung im Gedächtnis speichert und die Tendenz zur Wiederholung und dadurch Verstärkung hat; auf dem Entwicklungsniveau des Betroffenen zum Zeitpunkt der traumatischen Erfahrung (vgl. ebenda, 375). Mit dem Verlaufsmodell zur Psychodynamik des Traumas, das die genaue Psychodynamik psychischer Traumatisierungen darstellt, zeigen wir eine weitere wichtige diagnostische Bereicherung:
4.6 Diagnostik – psychoanalytischer/-dynamischer Ansatz
Schaubild:
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Psychodynamik des Traumas (beispielhaft dargestellt: Patient A)
A
Traumakompensatorisches Schema Ätiologie: Wodurch entstand das Trauma ? Prävention: Wie kann ein Trauma in Zukunft vermieden werden ? Reparation: Wie kann das Trauma geheilt
Ätiologie Patient A: weil ich nicht gewollt bin; weil ich nicht liebenswert bin; weil ich nicht gemocht werde; weil ich nicht darüber reden kann
MKH/A (minimal kontrollierbares Handlungs-/Ausdrucksfeld) Patient A: Heroinkonsum, Distanzbeziehung
Prävention Patient A: wenn ich nichts mehr fühle; wenn ich niemanden brauche; wenn andere mir gleichgültig sind
Reparation Patient A: wenn ich eine Freundin habe; wenn ich nicht mehr alleine bin; wenn ich der Größte bin
Traumaschema
Z
Patient A: totale Einsamkeit; ich bin nicht gewollt; Auflösung/Panik; Todesgefühl/Sterben; ich bin klein und hilflos
Das Schaubild verdeutlicht welche individuellen Annahmen und Strategien zur Verhinderung weiterer Traumatisierungen der Patient A vornimmt, wobei der Suchtmittelkonsum hier ein Lösungsmuster darstellt. Das Traumaschema aktiviert immer wieder dieses Handlungsschema und zeigt die Verbindung zwischen Trauma und Sucht. Eine adäquate Behandlung muß therapeutisch hier ansetzen. Ob Betroffene ihre traumatischen Erfahrungen verarbeiten können, ist nicht nur abhängig von der Schwere der traumatischen Situation, sondern auch von den Einflüssen der Risiko- und protektiven Faktoren. Daneben sind für die Verarbeitung der traumatischen Faktoren auch korrektive Faktoren von Bedeutung, d.h. aktuelle Umstände nach der traumatischen Lebenserfahrung, die deren Verarbeitung unterstützen.
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Faktoren, die als Indikator für die Entwicklung körperlicher, psychischer und psychosomatischer Störungen gelten, werden als Risikofaktoren definiert. Nach Egle und Hardt (2005, 40) begünstigen Risikofaktoren die Entstehung einer psychischen und psychosomatischen Erkrankung, von denen aus unserer Sicht bei unseren Patienten relevant sind:
niedriger sozioökonomischer Status schlechte Schulbildung der Eltern Arbeitslosigkeit Kontakte mit Einrichtungen der „sozialen Kontrolle“ (z.B. Einrichtungen der (freiwilligen) Erziehungshilfe) Kriminalität und Dissozialität eines Elternteils chronische Disharmonie unsicheres Bindungsverhalten nach dem 12./18. Lebensmonat psychische Störung der Mutter/des Vaters Scheidung, Trennung der Eltern häufig wechselnde frühe Bezugspersonen sexueller und/oder aggressiver Mißbrauch Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen hohe Risikogesamtbelastung
Protektive Faktoren sind biographische Einflußgrößen, die einen Menschen disponieren, belastende Lebensumstände und Traumata unbeschadeter zu verarbeiten als jemand ohne die entsprechenden Schutzfaktoren. Nach Egle, Hardt (2005, 41) gelten biographische Schutzfaktoren als empirisch gesichert, von denen aus unserer Sicht bei unseren Patienten relevant sind:
robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament soziale Förderung (z.B. Jugendgruppen, Schule, Kirche) verläßlich unterstützende Bezugsperson(en) im Erwachsenenalter lebenszeitlich späteres Eingehen „schwer auflösbarer Bindungen“ (späte Familiengründung)
Der wesentliche korrektive Faktor nach traumatischen Erfahrungen ist die Unterstützung durch ein konstantes, sicheres und verständnisvolles soziales Umfeld.
4.7 Fazit
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4.7 Fazit Das Blickfeld des ICD-10 und DSM-IV muß um zusätzliche Diagnosekriterien erweitert werden, wie sie die Integrative Therapie und auch der psychoanlalytische/psychodynamische Ansatz bieten, um ein komplexes traumatisches Belastungssyndrom erfassen zu können. Die Neurobiologie gibt uns hier wichtige Hinweise zum Verständnis und zur Behandlung der Störung; z.B. daß diese Menschen deutlich anfälliger für Streß sind und Erfahrungen nicht adäquat verarbeiten können (vgl. 6.2, Petzold et al. 2000, Osten 2007). Kapfhammer (2000) zeigt in diesem Zusammenhang auf, daß die ursprüngliche Traumasituation nicht im autobiographischen Gedächtnis gespeichert, sprachlich nicht entschlüsselt werden kann und es damit zu einer Aufhebung bzw. Vermischung von Subjekt und Objekt kommen kann. Ein wesentlicher Aspekt ist, daß traumatische Erfahrungen prozeßhaft verarbeitet werden, d.h. Veränderungen im Gehirn und in der Persönlichkeit eines Menschen zeigen sich nicht monokausal, sondern müssen in der gesamten Lebensspanne des Menschen betrachtet werden (vgl. Orth, Petzold 2001, Osten 2007). Die Integrative Therapie bietet hier ein adäquates diagnostisches Manual (vgl. Osten 2004, 2006), um die Komplexität der Störung zu erfassen. In der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik werden ergänzend zur Klassifikation nach ICD-10 und DSM-IV psychosoziale und ätiologische Entwicklungen, Ressourcen und Resilienzen erfaßt. Der Ansatz von Fischer, Riedesser (2003) vervollständigt die Diagnosekriterien um den individuellen Deutungsprozeß. Auch hier wird das Prozeßhafte einer PTBS hervorgehoben. Mit der „Psychodynamik des Traumas“ verdeutlichen die Autoren, daß 1. 2.
3.
die traumatische Erfahrung als ein dynamischer Prozeß verstanden werden muß. die Erinnerung an das traumatische Ereignis starke Streßreaktionen verursacht, die eine erhöhte psychische Sensitivität verursachen können, damit eine kognitive Verarbeitung des Ereignisses und somit eine Integration des Erlebten erschwert wird. die Verarbeitung der traumatischen Erfahrung in einem psychosozialen Bezugssystem des sozialen Netzwerks, also in einem longitudinalen Prozeß stattfindet.
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4 Definition und Diagnostik: Trauma, PTBS
Dies entspricht im Kern dem „biopsychosozialen Modell“ der Integrativen Therapie (vgl. Orth, Petzold 2001), das „verschiedene theoretische Konzepte und therapeutische Praktiken in einem übergeordneten Bezugsrahmen (sieht), ... als einen hochkomplexen Prozeß der Veränderung auf der biologischen, psychischen, sozialen, ... und geistigen Ebene“ (ebenda, 5/133f). Die Integrative Therapie geht hier weiter: In ihrem Konzept des „lifespan developmental approach“ werden „nicht nur traumaassoziierte Lebensphasen, sondern die gesamte Lebensspanne, zusammen mit Ressourcen der Lebensgeschichte und Resilienzen der Persönlichkeit in den Blick genommen“, um ein vollständiges Programm für die Traumatherapie entwickeln zu können, das „nur noch auf die spezifische Symptomlage des Klienten abgestimmt werden muß“ (Osten 2007). „Gerade ... bei Verdacht auf traumabedingte Störungen ist es nötig, nicht allein querschnittlich psychopathologisch zu explorieren, sondern eventuelle Komorbiditäten differentialdiagnostisch im Verlauf der gesamten Lebens- und Krankheitsgeschichte abzugrenzen, und dies wäre ohne biographische Exploration, die allein die Akkumulationsdynamiken zwischen verschiedenen Lebensphasen und Störungen aufdecken kann, nicht möglich. ... Menschliche Lebensläufe brauchen eine differentielle Betrachtung von Ereignissen und Ereignisauffassung und -bewertung, eine differentielle Betrachtung von Belastungs-, Bewertungs- und Bewältigungskarrieren, denn das Leben schlägt nicht nur Wunden, es heilt auch“ (ebenda).
5 Trauma und Sucht
Die Betrachtung von Trauma und Sucht wird dadurch erschwert, daß sich in der Fachliteratur (vgl. van der Kolk et al. 2000, Fischer, Riedesser 2003, Reddemann 2004, Sachsse 2003 u.a.) unzählige Publikationen zu spezifischen Aspekten des Traumas finden, aber der Aspekt Sucht nur am Rande aufgegriffen wird (Fischer, Riedesser 2003, Sachsse 2003). Auch in den einschlägigen Veröffentlichungen zum Thema Sucht wird die Problematik von Traumatisierungen nur selten behandelt (vgl. Schäfer 2005, Teunißen 2005, Scheiblich, Petzold 2006). Traumatische Erfahrungen im Lebenskontext beeinflussen die Entwicklung der Persönlichkeit in erheblicher Weise. Unabhängig von vorher bestehenden Vulnerabilitäten kann ein gut funktionierender Mensch durch traumatische Erfahrungen einen allgemeinen ausgeprägten Verfall seiner Funktionstüchtigkeit erleiden (vgl. van der Kolk et al. 2000). „Die Persönlichkeit hat sich hier an die traumatische Erfahrung angepaßt, hat gelernt mit ihr zu leben. Die traumatischen Ereignisse und Erfahrungen liegen längere Zeit zurück, seien es nun Kindheitstraumata oder Traumatisierungen im Jugend- oder Erwachsenenalter. Sie unterliegen oft einer Erinnerungsverzerrung. Manchmal sind sie verdrängt oder in ihrem Ereignisverlauf zwar erinnerbar, jedoch ohne die zugehörige emotionale Bedeutung. Die traumatische Erfahrung ist abgespalten, bildlich ausgedrückt wie „eingefroren“. Das hat dazu geführt, daß sich Persönlichkeitsstrukturen wie ein Schutzwall um die Wunde herum organisieren mußten“ (Fischer, Riedesser 2003, 220).
Bei einem Menschen mit den entsprechenden Vorerfahrungen können Entwicklungsschritte durch Gefühle der Hilf- und Hoffnungslosigkeit behindert oder verhindert werden. Beeinträchtigt sind die grundlegende Fertigkeit zur Bewältigung von Krisen, das Gefühl der „self-efficacy“ (vgl. Bandura 1997) und das dynamische Regulationssystem, d.h. „die grundsätzliche Fähigkeit des Organismus bzw. des aus dieser biologischen basisemergierenden personalen Subjektes ..., in verschiedenen Bereichen Abläufe zu steuern – von der intrasystemischen/intrapersonalen Ebene, ... über emotionale und kognitive Regulationsvorgänge bis zu höchst komplexen Regulationsmustern der „Selbstregulation“ des gesamten Regulationssystems, zu dem auch die Steuerung von intersystemischen/interpersonalen Regulations-
96
5 Trauma und Sucht
vorgängen und immer auch Entwicklungsperspektiven und Entwicklungsprozesse gehören“ (Müller 2005, 42, Scheiblich et al. 2006).
In der Integrativen Therapie (vgl. Scheiblich, Petzold 2006) wird von der Grundposition ausgegangen, daß das Verhalten von Menschen aktivkreativ ist, d.h. es wird beeinflußt von vergangenen und gegenwärtigen Einflüssen und Lernerfahrungen sowie von Zukunftsentwürfen, -plänen, -zielen und Motivationen. Im gesamten Lebensverlauf sichern Regulationskompetenzen und -performanzen in Form von Anpassungsleistungen die Stabilität des Menschen und somit seine Lebens- und Überlebens9 prozesse (vgl. Scheiblich, Petzold 2006) . „Im Integrativen Ansatz werden die Prozesse dynamischer Regulation zwischen Systemen als Passung bezeichnet, die eine hingänglich gute, wechselseitige Adaptierung bzw. Synchronisation ermöglichen und gewährleisten“ (Petzold 2000h, zitiert nach: www.FPI-Publikationen.de/ materialien.htm).
Durch traumatische Ereignisse sind diese Regulationsprozesse störbar. „Traumatischer Streß z.B. birgt eine hohe Gefahr der Dysregulation, was sich bei Betrachtung der biographischen Hintergründe vieler Drogenabhängiger zeigt mit ihren Traumatisierungen in gewalttätigen Elternhäusern, aber auch mit traumatischen Erfahrungen im Rahmen der Drogenkarriere“ (ebenda).
Aus neurobiologischer Perspektive sind Erfahrungen von zentraler Bedeutung für die Bahnungen, die im Gehirn eines Menschen entstehen. Die Lebenserfahrungen der Menschen bilden die Basis für die Erwartungen, die wiederum die alltäglichen Wahrnehmungen bestimmen. Diese Schemata dienen dann als Muster für spätere Handlungen und Erwartungen. „Der beim Menschen wichtigste und für die Nutzung der im Gehirn angelegten neuronalen Netzwerke und Nervenzellenverschaltungen am nachhaltigsten wirksame Einfluß (...) läßt sich am Zutreffendsten mit dem Begriff der Erfahrung umschreiben. Gemeint ist damit das im Gedächtnis eines Individuums verankerte Wissen über die in seinem bisherigen Leben entweder besonders erfolgreich oder besonders erfolglos eingesetzten, in dieser Weise immer wieder bestätigt gefundenen und deshalb auch für die Lösung zukünftiger Probleme als entweder besonders geeignet oder eben besonders ungeeignet bewertete Strategien des Denkens und Handelns. Solche Erfahrungen sind immer das Resultat der
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Stahl (2005, 119) weist in diesem Kontext darauf hin, daß „eine pessimmistische und resignative Grundhaltung ... den Zugriff auf Entwicklungspotentiale (verhindert) und ... die Entwicklung einer Veränderungsmotivation (hemmt)“.
5.1 Tramatische Erfahrungen und Anpassungsprozesse
97
subjektiven Bewertung der eigenen Reaktion auf wahrgenommene und als bedeutend eingeschätzte Veränderung der Außenwelt“ (Hüther, Gebauer 2001, 11).
5.1 Traumatische Erfahrungen und die individuellen Anpassungsprozesse Wie dargelegt bestimmen Erfahrungen, Ereignisse und die entsprechende Anpassung (vgl. Scheiblich, Petzold 2006) im biographischen Kontext die Gegenwart und Zukunft eines Menschen. Die Erfahrung einer extremen Belastungssituation kann unterschiedliche Funktionsbereiche auf der somatischen, emotionalen, kognitiven und behavioralen Ebene tangieren und schädigen. Untersuchungen zeigen, daß Kindheitstrauma viele psychiatrische Störungen (z.B. die Borderline-Störung), Somatisierungsstörungen, dissoziative Störungen, autoaggressives Verhalten, Eßstörungen und Substanzmittelmißbrauch bzw. Sucht usw. auslösen können (vgl. Flatten 2005, Krausz et al. 2005, van der Kolk et al. 2000); wobei monokausale Zusammenhänge zwischen erfolgter Traumatisierung und diesen Störungen zu kurz greifen. Die sehr komplexen Bedingungsfaktoren zwischen spezifischen Traumata, individuellen und sozialen Umweltbedingungen, die Art der bisherigen und späteren Bindungsmuster, das Temperament, die individuellen Kompetenzen und anderes müssen dementsprechend differenziert betrachtet werden (vgl. van der Kolk 2000). „Traumata können – abhängig von einer Fülle möglicher Einflußgrößen (Intensität, Häufigkeit und Art der Exposition, Alter, Geschlecht, Ethnie, Schicht, Ressourcenlage, elterlicher Coping-Stile usw.) und vor allem Anwesenheit oder Abwesenheit von „protektiven Faktoren“ (vgl. Petzold et al. 1993) – sehr unterschiedliche Folgen haben, was ihre Effekte und Verläufe anbelangt, z.B. multiple Formen von PTBS, andere Störungen, unterschiedliche Komorbiditäten. ... Neben Vorschädigungen und vorhandenen Resilienzen können weitere Belastungen und „high risk evironments“ (Richters, Weintraub 1990), ein „continuum of reproductive casualty“ (Pasamnick, Knobloch 1960), aber auch nachfolgende Entlastungen und „recovery environments“ durch ein „continuum of caretaking casualty“ (Sameroff, Chandler 1975) eine Rolle spielen. Ein Teil der PTBSSymptomatik, z.B. intrusive Erinnerungen, kann zurückgehen (Orr 1997), aber sozialer Rückzug steigt an, andere Störungen tauchen neu auf oder vormalige Komorbiditäten imponieren (Keane, Kaloupek 1997) und verselbständigen sich, Vulnerabilitäten werden intensiviert etc. (Mellmann et al. 1992; McFarlane, Pa-
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5 Trauma und Sucht
pay 1992), entwicklungsbedingte und störungsbedingte Probleme kumulieren und führen zu Komplikationen (Maercker 1999, 28ff)“ (Petzold et al. 2000, 476f).
Wichtig erscheint uns an dieser Stelle der Hinweis, daß trotz aller Beeinträchtigungen durch traumatische Erfahrungen aufgrund der dargestellten Regulationskompetenzen und -performanzen sowie durch Lernprozesse Veränderungen erzielt werden können, denn „prinzipiell bleibt die Plastizität der Regulationssysteme ... auch bei Störungen durch biographische Belastungen und Substanzmißbrauch erhalten, wenngleich beschädigt. Damit sind auch Chancen für erfolgreiche Behandlungen gegeben, vor allem, wenn noch vorhandene funktionale Regulationskompetenzen in den verschiedenen Bereichen auch immer wieder in die Performanz kommen, praktiziert werden („use it or loose it“), und durch angemessene Umweltantworten gestützt und bekräftigt werden“ (Scheiblich, Petzold 2006, 486).
Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, die Traumatisierungen ausgesetzt waren, ist der Mangel an oder der Verlust der Selbstregulation gravierend. Je jünger das Alter, in dem das Trauma stattfand, und je länger die Dauer, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß Schwierigkeiten bei der Regulation von Emotionen auftreten. Insbesondere dann, wenn die Erinnerung an das Trauma nicht integriert wird, kommt es zu andauernden Fehlinterpretationen von Reizen, d.h. harmlose Reize werden als gefährlich eingestuft und entsprechend inadäquat reagiert die Person (vgl. van der Kolk 2000). Das Streßerleben traumatisierter Menschen und Suchtkranker ist deutlich verändert und führt zu unangemessenen Reaktionen, d.h.: „Traumatisierte Patienten erleben aktuelle Stressoren mit einer gefühlsmäßigen Intensität, die in die Vergangenheit gehört und in der Gegenwart wenig von Nutzen ist. ... In einem offensichtlichen Versuch, ihre Übererregung zu kompensieren, tendieren sie dazu, „dichtzumachen“. Auf der Verhaltensebene geschieht dies durch Vermeidung von Stimuli, die an das Trauma erinnern. Auf der psychobiologischen Ebene geschieht dies durch emotionale Betäubung, die sich sowohl auf traumabezogene als auch auf alltägliche Erfahrungen erstrecken kann“ (ebenda, 175, vgl. auch Osten 2007)
Selbstzerstörerisches Verhalten ist ein Versuch, um wieder Kontrolle über die Affektregulation zu erlangen. In diesem Kontext sind sowohl autoaggressive Verhaltensweisen, gestörtes Eßverhalten als auch Drogen- und Alkoholmißbrauch zu sehen (vgl. ebenda). „Vermeidung kann unterschiedliche Formen annehmen: sich fernhalten von Situationen, Personen und Emotionen, die das traumatische Ereignis erinnern, Einnahme von Alkohol und Drogen zur Bewußtseinsbetäubung oder der Einsatz von Dissoziation zur Fernhaltung der unerfreulichen Erfahrungen aus dem Be-
5.1 Tramatische Erfahrungen und Anpassungsprozesse
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wußtsein. Ein chronisches Hilflosigkeitsgefühl, physiologische Übererregtheit und andere traumabezogene Veränderungen verwandeln die Art und Weise, mit Streß umzugehen, modifizieren das Selbstkonzept und stören die Wahrnehmung der Welt als einen Ort, an dem man klarkommen kann. ... Traumatisierte Personen haben Schwierigkeiten, intensive Emotionen zu tolerieren und sich mit potentiell aufregenden Kognitionen zu befassen, ohne sich davon überwältigt zu fühlen (van der Kolk, Ducey 1989). Dies beeinträchtigt ihre Fähigkeit, Emotionen als Leitsignale für Handlungen zu benutzen. Personen mit PTBS erleben ihre Innenwelt als eine Gefahrenzone voller traumabezogener Gedanken und Gefühle. Sie scheinen ihre Energie darauf zu konzentrieren, nicht zu denken und zu planen. Diese Vermeidung emotionaler Auslöser setzt die Bedeutung der aktuellen Realität weiter herab und verstärkt paradoxerweise die Fixierung an die Vergangenheit" (van der Kolk, McFarlane, van der Hart 2000, 311).
Wie bereits dargestellt haben traumatische Erfahrungen durch nahe Bezugspersonen, massiven Einfluß auf die Fähigkeit zu vertrauen. „Nach traumatischen Ereignissen werden Wahrnehmungen von Beziehungen häufig durch diese Erfahrungen gefiltert. In unserer Borderline-Studie zeigten die meisten Trauma-Patienten einerseits Abhängigkeits- und Klammertendenzen, andererseits jedoch waren sie sozial isoliert und ohne wechselseitige positive Beziehungen (Herman et al. 1989). Viele hatten sich nach Jahren verzweifelter Suche nach Rettern in die soziale Isolation zurückgezogen. Da sie eine Vorgeschichte hatten, die von Gefühlen der Hilflosigkeit Personen, die über Macht verfügten, gegenüber gekennzeichnet war, tendierten sie dazu, die meisten folgenden Beziehungen nach dem Muster von Dominanz und Unterwerfung zu gestalten" (van der Kolk 2000, 184).
Aus unseren Ausführungen wird deutlich, daß die Langzeiteffekte von Traumatisierung auf vielen Ebenen der menschlichen Existenz sichtbar sind, d.h. es bedarf differenzierter Strategien, um den Störungsbildern Sucht und PTBS adäquat zu begegnen. Mit den Patientenbeispielen vertiefen wir noch einmal den diagnostischen Blickwinkel, zeigen die Verbindung zwischen Trauma und Sucht und verdeutlichen die Funktion des Suchtmittelkonsums als Lösungsmuster:
5.1.1 Traumatische Erfahrungen Patient A Der Patient zeigt deutliche Anzeichen zeitextendierter traumatischer Erlebnisse. Er ist in seiner Kindheit (3-11) physisch mißhandelt und mutmaßlich sexuell
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5 Trauma und Sucht
mißbraucht worden ist. Es zeigen sich deutliche Anzeichen zeitextendierter traumatischer Erlebnisse mit prolongierter Mißbrauch- und Gewalterfahrung in der Herkunftsfamilie und mutmaßlich auch durch den Pflegevater. Auch wuchs der Patient in einem instabilen Milieu auf, indem er schon früh überfordert war. Im sozialen Netzwerk hat der Patient in der Lebensspanne keine Unterstützung gefunden und fortgesetzt negative Erfahrungen gemacht. Bei dem Patienten liegt neben der Suchtmittelabhängigkeit eine BorderlinePersönlichkeitsstörung vor. Dementsprechend defizitär ist die Selbstwertentwicklung des Patienten, begleitet von einer tiefen Beziehungsstörung mit massiv aggressiven Impulsen, die abgespalten werden und in depressiver Abwehr Ausdruck finden. Festzustellen sind deutliche Störungen der Affektregulation (unterdrückte Wut), eine gestörte Selbstwahrnehmung (Lähmung von Initiative, Scham- und Schuldgefühle), Beziehungsprobleme (Isolation und Rückzug, Resignation, anhaltendes Mißtrauen), und Erschütterung/Veränderungen des Wertesystems (Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung).
Patientin B Es zeigen sich deutliche Anzeichen zeitextendierter traumatischer Erlebnisse mit prolongierter Mißbrauch- und Gewalterfahrung durch den Großvater und Vater ihrer beiden ältesten Kinder (Morddrohungen) über einen Zeitraum von 16 Jahren. Daneben wuchs die Patientin in einem instabilen Milieu auf, indem sie schon früh überfordert war. Ebenso wirkten die Suizidversuche der Mutter traumatisierend. Versuche der Patientin, Unterstützung (durch ihre Familie) zu finden scheiterten und verwandelten sich in negative Erfahrungen (Großeltern). Bei der Patientin liegt neben der Suchtmittelabhängigkeit eine BorderlinePersönlichkeitsstörung vor. Dementsprechend defizitär ist die Selbstwertentwicklung der Patientin, begleitet von einer tiefen Beziehungsstörung mit massiv aggressiven Impulsen, die abgespalten werden und in depressiver Abwehr Ausdruck finden. Gefühle von Einsamkeit, Trauer und Wut spaltete sie frühzeitig ab, so daß sie nicht lernen konnte, mit diesen Gefühlen adäquat umzugehen.
Anmerkung:
Unter 4.2.1 haben wir ausführlich dargestellt, daß die Patienten nach den Diagnosekriterien des ICD-10 und DSM-IV eine PTBS aufweisen. Von daher gehen wir an dieser Stelle nicht noch einmal auf diese Aspekte näher ein.
5.1 Tramatische Erfahrungen und Anpassungsprozesse
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5.1.2 Traumatische Situation Bei den Patienten ist ein frühkindliches Trauma gegeben, daß sich durch die über Jahre andauernde Gewalterfahrung u.a. zu einem seriellen/komplexen Trauma entwickelt hat. Als traumatogene Situation ist bei den Patienten festzustellen: Patient A
Durch die Gewalt und den mutmaßlichen sexuellen Mißbrauch werden Leib und Leben des Patienten bedroht. Der Patient erleidet schwere körperliche und psychische Schäden. Der Patient wird durch die leibliche Mutter und die Pflegeeltern absichtlich und massiv geschädigt und verletzt. Objektiv handelt es sich hier um das Erleben einer Todesgefahr; subjektiv erlebt der Patient zumindest in frühkindlichem Alter Todesangst.
Patientin B
Durch die Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit der Mutter ist von massiver Verwahrlosung auszugehen. Durch den Mißbrauch des Großvaters werden Leib und Leben der Patientin bedroht. Die Patientin erleidet schwere körperliche und psychische Schäden. Die Patientin wird durch den Großvater absichtlich und massiv geschädigt und verletzt. Die Patientin wird durch den Ex-Mann massiv mißhandelt und abgewertet. Objektiv handelt es sich hier um das Erleben einer Todesgefahr; subjektiv erlebt die Patientin zumindest in frühkindlichem Alter Todesangst und ebenso im Erwachsenenalter durch Morddrohungen ihres Ex-Mannes.
5.1.3 Traumatische Reaktion Objektive Situationsfaktoren Der Schweregrad der traumatogenen Faktoren ist als extrem anzusehen. Es handelt sich um Polytrauma, die sukzessiv kumulativ auftraten. Die Trauma wurden von Menschen aus dem familiären Umfeld verursacht, dem Vater/Großvater/Beziehungspartner. Die Patienten fühlten sich an Leib und Leben bedroht. Ihnen wurde schwerer körperlicher Schaden durch sexuelle und körperliche Gewalt angetan.
zu A + B
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5 Trauma und Sucht
Subjektive Situationsfaktoren im peritraumatischen Erleben Die Patienten haben sich der Gewalt/dem Mißbrauch hilflos ausgeliefert gefühlt. Bezugspersonen glaubten ihnen nicht, sie wurden immer wieder zu den „Tätern“ geschickt. Der familiären Situation konnten sie sich aus Verantwortungsgefühl ihren Bezugspersonen gegenüber nicht entziehen. Auch hier fühlten sie sich der Situation hilflos ausgeliefert. Auch in der durch Gewalt geprägten Beziehung zu der Mutter/den Pflegeeltern, dem Vater/Großvater/Beziehungspartner fühlten sie sich machtlos und verblieben in der Situation. Da die sie belastenden Situationen für sie unkontrollierbar waren und sie sich hilflos ausgeliefert fühlten, suchten sie Kontrolle und Macht im Bereich der Nahrungsaufnahme und entwickelten eine massive Borderline-Störung/Eßstörung. Diese Lösungsstrategie war nicht stark genug, so daß sie anschließend ihre Gefühle von Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit und Ängsten zunächst mit Medikamenten und Alkohol später mit Drogen betäubten. Die Patienten konnten ihre Erlebnisinhalte über viele Jahre nicht aufarbeiten und die gemachten Erfahrungen integrieren. Deshalb sind die Symptome der traumatischen Reaktion chronifiziert. Es ist angezeigt von kumulativen Traumatisierungen zu reden. Die Schocktraumata konnten schlecht bzw. gar nicht verarbeitet werden, da die konfliktreichen und belastenden Familienverhältnisse den Erholungsprozeß immer wieder unterbrachen. Die Patienten lebten in einer insgesamt traumatischen Lebenssituation.
5.1.4 Traumaverarbeitungsprozeß Kennzeichnend für den traumatischen Prozeß ist der widersinnige Versuch, sich einer als unerträglich erlebten Erfahrung anzupassen und mit ihr zu leben wollen, ohne sich mit ihr konfrontieren zu müssen (vgl. Fischer, Riedesser 2003). Verlaufsformen sind (1) das chronische Fortbestehen der traumatischen Reaktion und (2) die vorzeitige Unterbrechung des Verarbeitungsprozesses. Da die Patienten nicht über ausreichende Kontrollfähigkeiten verfügten, um die traumatischen Erfahrungen einzudämmen, entwickelten sie eine massive Suchtmittelabhängigkeit, um intrusive Bilder und Gefühle nicht wahrzunehmen. Durch die traumatischen Erfahrungen bildete sich das zentrale traumatische Situationsthema bei den Patienten aus: ihre Machtlosigkeit und das Gefühl, anderen Menschen ausgeliefert zu sein. „Mein Wohlergehen ist abhängig von Anderen." „Es gibt keine Menschen, die mir Sicherheit bieten.“ Die erlebte Hilf- und Machtlosigkeit in den traumatischen Situationen haben sie verallgemeinernd dem eigenen Selbst zugeschrieben.
zu A + B
5.1 Tramatische Erfahrungen und Anpassungsprozesse
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Die Folgen der erlebten Traumata wirken unverändert belastend auf die Patienten ein; bisher haben sie für sich nicht ausreichend Möglichkeiten gefunden, die erlebten Traumata aufzuarbeiten. In Ansätzen erscheinen sie fähig, sich hiermit auseinanderzusetzen. Ihre Regulationskompetenzen in belastenden Situationen sind gestört.
Patient A Die Drogenabhängigkeit muß hier als ein – wenn auch immer wieder erfolgloser – Lösungsversuch gesehen werden. Als weiteres Kompensationsmittel zeigt der Patient eine unterschwellige versteckte Aggressivität, sowie in Situationen der Unsicherheit und des Schams Arroganz und Überheblichkeit seinen Mitpatienten gegenüber, die ihm das Gefühl von Überlegenheit und Macht/Kontrolle vermitteln. Präventive Aspekte: Abspaltung von Gefühlen; ausgeprägtes Bedürfnis, Beziehungen zu kontrollieren.
Patientin B Als kompensatorische Gegenmaßnahmen wählte die Patientin die Magersucht und den Mißbrauch von Drogen. Unter dem ätiologischen Aspekt sah sie die Gründe für die traumatischen Erfahrungen in ihrem Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Zukünftig vermied sie es, Hilfe einzufordern, Menschen zu vertrauen und Nähe zuzulassen. Entsprechend sieht der präventive Aspekt aus: Vermeidung von Gefühlen, übermäßige Kontrolle von Beziehungen, ein ausgeprägtes Bedürfnis emotional „ungefährliche" Beziehungspartner zu wählen.
Exkurs: Behandlung von Traumapatienten mit Ecstasy Interessant ist im Zusammenhang mit der Selbstmedikation von Traumapatienten eine Studie an der University of South Carolina. Unter Leitung von Mithoefer wird dort die MDMA-unterstützte Psychotherapie an PTBS-Patienten getestet (vgl. „Die Zeit“ 2004). Ausgangsthese der Studie ist, daß sich Methylendioxymetamphetamin (MDMA) wirkungsvoll bei der Behandlung von Traumapatienten einsetzen läßt. Die Patienten erhalten „in Kombination mit einer Gesprächspsychotherapie zwei EcstasyPillen im Abstand von einigen Wochen. ... Ecstasy wirkt auf das limbische System, jenen Bereich im Gehirn, in dem Emotionen verarbeitet und Erinnerungen gespeichert werden. Wenn Ecstasy-Moleküle an die Rezeptoren der Nervenzellen andocken, schütten diese die Botenstoffe Adrenalin und Serotonin aus. Sinneswahrnehmungen werden gedämpft, Puls und Atemfrequenz beschleunigt, Blutdruck und Körpertemperatur steigen. Gleichzeitig sorgt Ecstasy für einen klaren Verstand. Der
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5 Trauma und Sucht
Rausch macht gesprächig, hebt die Laune und das Selbstwertgefühl. Diese kommunikationsfördernde Fähigkeit von Ecstasy wollen Mithoefer und seine Kollegen gezielt nutzen. Der Einsatz von MDMA ... sei ideal, weil es die Angstreaktionen dämpft und die innerpsychischen Realitäten eines Patienten umstrukturieren könnte. ... Es gebe erste Hinweise, daß MDMA die Aktivität der Amygdala reduziere. Dieser Bereich des limbischen Systems wird vor allem bei Angstzuständen ... aktiv. MDMA könnte diese neurochemische Störung unterbrechen“ (ebenda, zeus.zeit.de, 04.01.2006). Therapie ist ein prozezeßhaftes Geschehen, d.h. der Patient lernt durch neue Erfahrungen und Wiederholung von Lernprozessen einen anderen Umgang mit seinen Emotionen und Erinnerungen – was auch die Neurobilogie bestätigt – und entwickelt so alternative Bewältigungsstrategien. Unserer Meinung nach, stellt die „medikamentöse“ Begleitbehandlung eine diskussionswürdige Ergänzung in der Therapie traumatisierter Menschen dar. Das prozeßhafte Geschehen des Therapieprozesses kann aber nicht durch eine entaktogene Substanz ersetzt werden.
5.1.5 Risikofaktoren, Resilienzen, Protektive Faktoren Für die ressourcenorientierte Arbeit mit Abhängigen ist – genauso wie in anderen Bereichen – eine erweiterte Perspektive notwendig, was die Interaktion, das Zusammenspiel verschiedener Einflußgrößen in Entwicklungs- und Therapieprozessen anbelangt. Die Kenntnis von Risikofaktoren, Resilienzen und protektiven Faktoren ist für effektive Beratung, Betreuung und Behandlung von besonderer Bedeutung und hat auch für den Bereich der medizinischen und sozialen Rehabilitation Relevanz (vgl. Schay et al. 2006, 176f). „Gesundheit … ist dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch sich selbst, ganzheitlich und differentiell, in leiblich-konkreter Verbundenheit mit dem Lebenszusammenhang ... wahrnimmt und im Wechselspiel von protektiven und Risikofaktoren entsprechend seiner Vitalität/Vulnerabilität, Bewältigungspotentiale, Kompetenzen und Ressourcenlage imstande ist, kritische Lebensereignisse bzw. Probleme zu handhaben“ (Petzold 1993, 553). „Protektive Faktoren führen ... zu einer Elastizität und Anpassungsfähigkeit in widrigen und bedrohlichen Situationen. ... Protektive Faktoren sind einerseits – internal – Persönlichkeitsmerkmale und verinnerlichte positive Erfahrungen, andererseits – external – spezifische und unspezifische Einflußgrößen des sozioökologischen Mikrokontextes (Familie, Freunde, ...), Mesokontextes (Subkultur, Schicht, ...) und Makrokontextes (..., Zeitgeist, Armuts- und Krisenregion), die im Prozeß ihrer Interaktion miteinander und mit vorhandenen Risikofaktoren Entwicklungsrisiken für das Individuum ... weitgehend vermindern. Sie verringern Gefühle der Ohnmacht und Wertlosigkeit und gleichen den Einfluß adversiver Ereignisse und Ereignisketten aus bzw. kompensieren ihn. Sie fördern und verstärken aber auch salutogene Einflußgrößen die Selbstwert- und Kompetenzgefühle und -kognitionen ..., so daß persönliche Gesundheit, Wohlbefinden und
5.1 Tramatische Erfahrungen und Anpassungsprozesse
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Entwicklungschancen über ein bloßes Überleben hinaus gewährleistet werden. ... Das positive, entwicklungs- und gesundheitsfördernde Moment protektiver, stützender und salutogener Elemente in menschlichen Lebensverläufen muß ... in seiner Charakteristik als „chain of positive and nourishing events“ gesehen werden“ (Petzold et al. 1993, 364ff).
Im Grundverständnis der IT ist „die unterstützende Funktion sozialer Netzwerke, insbesondere aber ihre Bedeutung für die Identitätssicherung ... und ihre Bedeutung für die Bekräftigung des Selbstwertgefühls ... stets präsent“ (Petzold 1995a, 212). „Interventionen werden deshalb immer auf eine Förderung der sozialen Integration durch Stabilisierung der Lebenssituation und auf eine Stützung der Persönlichkeit, ihrer historisch gewachsenen Identität und ihrer Zukunftsentwürfe gerichtet sein“ (ebenda, 215). „In dieser Perspektive wird dem therapeutischen Geschehen als therapeutischem Handeln „in der Beziehung“, Arbeit „an der Beziehung“ und Wirken „in der Beziehung“ die zentrale Stellung zugeschrieben“ (ebenda, 239). Die „therapeutische Beziehung ... muß (also) in sich schon als ein „protektiver Megafaktor“ angesehen werden“ (ebenda, 198).
Risikofaktoren „Die Berücksichtigung von Risikofaktoren (z.B. fehlende Netzwerkorientierung und geringe soziale Kompetenz/Performanz; es stehen keine angemessenen Hilfsagenturen bzw. Systeme sozialer Sicherung zur Verfügung) ist für die Rehabilitation Drogenabhängiger von kardinaler Bedeutung, um ihnen kompensatorisch mit der Bereitstellung von protektiven Faktoren zu begegnen oder zu Ausbildung von Resilienzen beizutragen“ (Schay et al. 2006, 176).
Patient A Biographische Risikofaktoren: intravenöser Drogenkonsum, Mißbrauch/Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, insbesondere illegalisierter Drogen mit intravenöser Applikationsform. Polyvalente Abhängigkeitserkrankung mit chronifiziertem und schwerem Verlauf. Daneben liegt eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vor. Risikofaktoren während der Ereignisse: starke Dissoziation, angepaßtes Verhalten, Vermeidung von Konflikten.
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5 Trauma und Sucht
Durch das serielle Traumata ist ein Verlust der Normalität eingetreten. Auf alles was im sozialen Netzwerk (Familie, Kindergarten) gute Atmosphären schaffen könnte, kann der Patient nicht mehr Bezug nehmen. Die angstbesetzte Heim- und Pflegefamilienatmosphäre verbunden mit mangelnder Förderung, Vernachlässigung und fehlender Zuneigung haben den Patienten in seinen Entwicklungsmöglichkeiten behindert und haben zu einer fortdauernden Überforderung geführt. In seiner Lebenswelt hat sich eine tiefgreifende Entwurzelung entwickelt. Diese ungünstigen Sozialisationsbedingungen, die eine gesunde Entwicklung des Patienten behindert haben, haben bewirkt, daß der Patient in seinem sprachlichen Ausdrucksvermögen gehemmt ist (hier: Unfähigkeit inneres Erleben auszudrücken), in seinem Verhalten in sich zurückgezogen ist (hier: Unfähigkeit Emotionen zu zeigen), deutliche Störungen in seinem Sozialverhalten entwickelt hat (hier: Vermeidung von Kontakt und Beziehung), massive Ängste und depressive Symptome zeigt (hier: fühlt sich nicht gesehen (Resignation, Verzweiflung), Fehlinterpretation von Lob/Wertschätzung, was zu überschießenden inneren Spannungszuständen führt, die nur über Drogenkonsum kompensiert werden konnten), langandauerndem Mißbrauch durch Gewaltanwendung und mutmaßlich sexuelle Übergriffe ausgesetzt war, somatische und psychosomatische Symptome zeigt (hier: häufige Zeiten der Arbeitsunfähigkeit in Folge von vermeintlicher Ablehnung/Kritik), eine massive Drogenabhängigkeit als Möglichkeit der Spannungsregulation entwickelt hat. Risikofaktoren nach den Ereignissen: Der Patient hat keine Beziehungskontinuität erlebt und ist in seiner Beziehungsund Bindungsfähigkeit stark geschädigt, es kommt immer wieder zu Fehldeutungen – er fühlt sich abgelehnt und nicht ernstgenommen; Suchtmittelabhängigkeit.
Patientin B Biographische Risikofaktoren: schwere Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit der Mutter, Suizidversuche der Mutter, chronische Disharmonie und unsicheres Bindungsverhalten aufgrund der Suchterkrankung der Mutter, sexueller Mißbrauch durch den Großvater, Gewalt durch den Großvater, Gewalt und Morddrohungen durch den Partner. Risikofaktoren während der Ereignisse: starke Dissoziationen, Dauer der mißbräuchlichen Erfahrungen über einen Zeitraum von zwei Jahren durch den Großvater, 16 Jahre Gewalterfahrung während der Beziehung, Wiedererleben des Traumas, gesteigerte Erregung, nachfolgende belastende Ereignisse durch die familiäre Situation, Mutter und Vater glauben
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ihr nicht, keine Unterstützung, kein Schutz, sie muß immer wieder in die gleiche Situation. Risikofaktoren nach den Ereignissen: Der Patientin wird nicht geglaubt, Überforderung durch die familiäre Situation, Übernahme der Mutterrolle, später Magersucht, Suchtmittelabhängigkeit.
Schutzfaktoren/Protektive Faktoren (vgl. auch 6.1.3) „Protektive Faktoren (Schutzfaktoren) verhindern in der Interaktion miteinander und mit vorhandenen Risikofaktoren Entwicklungsrisiken für das Individuum und sein soziales Netzwerk. Sie fördern und verstärken als salutogene Einflußgrößen die Selbstwert- und Kompetenzgefühle und -kognitionen sowie die Ressourcenlage und gewährleisten persönliche Gesundheit, Wohlbefinden und Entwicklungschancen. Die Resilienzfaktoren müssen zusammen mit einer differentiellen Sicht von Schutzfaktoren (z.B. Selbstvertrauen, positive Selbsteinschätzungen; Leistungsmotivationen und Impetus zur aktiven Problembewältigung; klares Selbstwertgefühl) in der (therapeutischen) Arbeit eingesetzt werden“ (Schay et al. 2006, 176).
Patient A Biographische protektive Faktoren: zeitweise die Eltern seiner Freundin (eingeschränkt), Menschen aus dem Hilfesystem. Protektive Faktoren nach den Ereignissen: soziales Hilfesystem (Jugendamt, Drogenhilfe).
Patientin B Biographische protektive Faktoren: zeitweise die Großeltern, zeitweise der Vater, die Halbgeschwister, Schule, peergroup, Menschen aus dem Hilfesystem. Protektive Faktoren während der Ereignisses: Verantwortung für Geschwister, Verantwortung für Kinder.
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Protektive Faktoren nach den Ereignissen: Geschwister, eigene Kinder, soziales Hilfesystem (Jugendamt, Drogenhilfe), peer-group.
Ressourcen „Klinisch-therapeutische Arbeit ist primär konflikt- und problemorientiert. Salutogeneseforschung (Antonowsky 1979; Lorenz 2004) und Untersuchungen zu protektiven Faktoren (Petzold, Goffin, Oudhoff et al. 1993) haben aber auch eine andere Ausrichtung in den Vordergrund gebracht: Ressourcenorientierte Arbeit, die ergänzend beigezogen werden kann oder auch als eigenständige Behandlungslinie einzusetzen ist. Physische Gesundheit, Kondition, Fitneß sind herausragende Ressourcen, die in einem ressourcenorientierten Ansatz an oberster Stelle rangieren müssen“ (Schay et al. 2006, 174f).
Die Leistungen der Drogenhilfe orientieren sich an den Ressourcen der Patienten und sind klar zielorientiert. Zur Ressourcenorientierung gehört z.B. Mobilisieren von Zuversicht, Aufnehmen einer emotional bedeutsamen Beziehung, „Auftauen" verfestigter Erlebens- und Verhaltensmuster, Interpretieren des Lebens nach einem dem Patienten plausiblen Konzept sowie korrigierende emotionale Erfahrungen. „Ressourcen sind Mittel bzw. Hilfsmittel zur Erledigung oder Bewältigung von Anforderungen und Aufgaben ..., mit denen Überforderungssituationen und Krisen bewältigt werden können: ... physische Vitalität, emotionale Tragfähigkeit, Willensstärke, Intelligenz, geistige Werte, aber auch ... Freunde, soziale Netzwerke, Unterkunft, Geld. Ressourcen tragen dazu bei, die Stabilisierung einer erschütterten Persönlichkeit, einer zerrütteten Familie, eines maroden sozialen Systems, einer desorganisierten Organisation zu ermöglichen, die Selbstregulationskräfte und Interaktionskompetenz des Systems mit der Umwelt zu restituieren und darüber hinaus ... Entwicklungen auf den Weg zu bringen und zu fördern" (Petzold 1997, 438f). „Ressourcen dienen dem Überleben, der Existenzsicherung, dem Identitätsaufbau und der Lebensqualität von personalen Systemen und motivieren ihr Handeln. Der Verlust von Ressourcen erzeugt Krisen und das Risiko weiterer Ressourcenminderung. Ressourcengewinn ermöglicht Wohlbefinden und Prosperität, weil vorhandene Ressourcen in den Gewinn weiterer Ressourcen investiert werden können. In der Situation von Drogenabhängigen kommt es oft zu einem inflationären Verfall von Ressourcen, einem drastischen Ressourcenabbau, dem – wo immer möglich – gegengesteuert werden muß oder, wenn sich Chancen bieten, mit Strategien der Ressourcenerneuerung begegnet werden kann. Bei komplexen Person-Umfeld-Interaktionen und -Kommunikationen ist eine unlösbare „Wahrnehmungs-Verarbeitungs-Handlungs-Verschränkung“ gegeben, d.h. ein Prozeß des beständigen Wahrnehmens, Erfassens/Erkennens, Bewer-
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tens/Einschätzens, der Aktivierung von Ressourcen/Handlungsmustern. Diese Prozesse sind bei Abhängigen oftmals gestört, so daß auch der Zugriff auf verfügbare Ressourcen aufgrund „impliziten Wissens“ erfolgt, d.h. durch mitbewußte bzw. unbewußte Verarbeitungsprozesse nicht mehr in hinreichender Weise erfolgen kann“ (Schay et al. 2006, 174f).
Unter persönlichen Ressourcen verstehen wir alle gesundheitsfördernden Kompetenzen, Aktivitäten und Einflüsse, mit denen eine Grundhaltung dem eigenen Leib und der Umwelt gegenüber geprägt wird. Hierbei ist es wichtig, sich nicht auf Negatives und Belastendes, sondern auf die eigenen Fähigkeiten zu konzentrieren, d.h. gegenwärtige Stärken, persönliche Ziele, positive Erfahrungen. Für die Entwicklungschancen des Menschen sind Ressourcen von entscheidender Bedeutung. In der psychotherapeutischen Arbeit müssen hier sozialpsychologische Theorien wie Attributions- und Kontrolltheorien (vgl. Stroebe, Hewstone, Stephensen 1996 und Flammer 1990) einbezogen werden: um das Wissen um das „Gewordensein" eines Menschen, wie sich über Wahrnehmung, deren Verarbeitung, den daraus entstehenden Handlungsimpulsen in Wechselwirkung mit seiner konkreten Umwelt, der Gesellschaft, Kultur und Zeit, in der er seine Lebenszeit verbringt, sein Selbstbild, seine Identität entwickelt; um mit ihm seine persönlichen Ressourcen und deren Entwicklungsmöglichkeiten (wieder-)zuentdecken, aufzuzeigen und für ihn nutzbar zu machen. Die Arbeit mit Ressourcen, Ressourcenbeständen und Ressourcenpotentialen beinhaltet •
• • •
„gemeinsame aktive Suche nach bereits bestehenden konkreten Fähigkeiten von Problem- und Lebensbewältigungsstrategien, Anleitung zu geben, diese über Vorstellungskraft zu vergegenwärtigen, im Dialog auszudifferenzieren und das dadurch mögliche antizipierte Ergebnis wirken zu lassen ...; gemeinsame aktive Suche nach und explizite Ermutigung zu potentiell möglichen anderen Fähigkeiten und Lebensbewältigungsstrategien und deren imaginative und körperempfindungsmäßige Verstärkung bzw. Verankerung. ... die Festigung bestehender bzw. Etablierung neuer ... Beziehungsressourcen ... bis hin zu imaginativ geschaffenen „inneren“ Helferwesen. ... das Auffinden bzw. Neu-Erfinden von Situationen, die dem Patienten gut tun, bzw. die er sogar als „heilsam“ erlebt. ... (d.h.) „ausreichende Fürsorge für sich selbst aufbringen zu können“. ... Das Spektrum reicht dabei von der Ermutigung zu achtsam liebevollem Umgang mit dem eigenen Körper, über ... Naturerleben in verschiedenster Form, maßvoller sportlicher Aktivität, ... bis hin zu imaginativen Methoden wie „sicherer innerer Ort“, ...“ (HoferMoser 2005, 23).
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5 Trauma und Sucht
Der Verlust von Ressourcen erzeugt Krisen und das Risiko weiterer Ressourcenminderung. Ressourcengewinn ermöglicht Wohlbefinden und Prosperität, weil vorhandene Ressourcen in den Gewinn weiterer Ressourcen investiert werden können. Der Zugriff auf verfügbare Ressourcen erfolgt aufgrund „impliziten Wissens“, d.h. durch mitbewußte bzw. unbewußte Verarbeitungsprozesse. Ressourcengebrauch setzt voraus, daß Ressourcen aufgrund funktionaler emotiver Bewertungsprozesse und kognitiver Einschätzungsprozesse als verfügbare Ressourcen eingestuft werden, so daß sie zugänglich und mobilisierbar sind und faktisch in möglichst optimaler Weise genutzt werden. Patient A Bei dem Patienten ist eine ausgeprägte Willensstärke zu sehen, die allerdings zeitweise in Starrsinn umschlägt. Seine Intelligenz ist durchschnittlich. Er verfügt zumindest situativ über Selbstregulationskräfte und eine Interaktionskompetenz. Beides muß aber aufgrund seiner Lebensgeschichte als nachhaltig beschädigt betrachtet werden. An persönlichen Ressourcen ist zu betrachten, daß er in seiner Jugend intensiv Sport betrieben hat (Ausdauersport: Wettkampfgehen) und hier auch einige Erfolge erzielen konnte. Hierauf kann er allerdings heute nicht kontinuierlich zurückgreifen, da es ihm an der notwendigen Kontinuität mangelt. In Zeiten, in denen es ihm gelingt, sich auf auf seine eigenen Fähigkeiten zu konzentrieren, ist er deutlich ausgeglichener und kann seine persönlichen Ziele klarer verfolgen. Der Patient muß immer wieder angeleitet und ermutigt werden, um eine ausreichende Fürsorge für sich zu entwickeln.
Patientin B Die Patientin ist intelligent und diszipliniert. Ziele, die sie für selbst formuliert verfolgt sie konsequent. Sie ist ehrlich im Kontakt, so daß eine konstruktive Zusammenarbeit gut möglich ist. Aufgrund ihrer freundlichen zugewandten Art, kann sie schnell Kontakte zu Menschen herstellen. Sie ist verläßlich und hält Vereinbarungen ein. Trotz negativer Erfahrungen kann die Patientin Unterstützung einfordern und Hilfe annehmen. In frühen Jahren mußte sie aufgrund der häuslichen Situation lebenspraktische Kompetenzen erwerben, so daß sie heute für sich und ihre Kinder angemessenen den Haushalt führt und verantwortungsvoll wirtschaftet.
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Sie hat ein hohes Verantwortungsgefühl ihren Kindern gegenüber und ist bestrebt und fähig, diese auch ausreichend emotional zu versorgen. Sie ist interessiert, sich neues Wissen zu Erziehungsfragen anzueignen und ihre Kompetenzen als Mutter zu erhöhen. Des weiteren ist die Patientin ehrgeizig, so daß sie eine berufliche Ausbildung anstrebt. Die Patientin ist willensstark, selbst unter belastenden Bedingungen die Abstinenz einzuhalten.
Resilienzen Resilienzen sind früh und aktiv erworbene Schutzfaktoren – die Fähigkeit, Belastungen oder Risiken effektiv zu bewältigen; die Möglichkeit, Belastungserfahrungen zu kommunizieren. „Als Resilienzfaktoren ... sehen wir streßpuffernde, eine positive Immunantwort und funktionale Genexpression fördernde Faktoren (Müller, Petzold 2003), die die Belastungs- und Widerstandsfähigkeit eines Menschen unterstützen“ (Schay et al. 2006, 176). „Mit Resilienz bezeichnet man die psychologische bzw. psychophysiologische Widerstandsfähigkeit, die Menschen befähigt, psychologische und psychophysische Belastungen (stress, hyperstress, strain) unbeschädigt auszuhalten und zu meistern. Es handelt sich um `Widerstandskräfte´, die aufgrund submaximaler, bewältigbarer Belastungssituationen, welche ggf. noch durch protektive Faktoren abgepuffert wurden, in der Lebensspanne ausgebildet werden konnten. Sie haben eine Art `psychischer Immunität´ gegenüber erneuten, ähnlich gearteten Belastungssituationen oder kritischen Lebensereignissen zur Folge und erhöhen damit die Bewältigungskompetenz des Subjekts bei Risiken und bei stressful life events. ... Protektive Faktoren ... puffern ... Überlastungsprozesse so ab, daß keine strukturschädigenden Belastungen – etwa durch ... traumatischen Streß – eintreten, sondern sich Widerstandskräfte (Resilienzen) bilden, bzw. sie wirken in unbelasteten Situationen des normalen Lebens fördernd, daß sich positive Entwicklungsdynamiken entfalten können“ (Sieper 2006, http://www.Integrative Therapie.de und DGIK-Mitgliederrundbrief 1/2007, 21).
Als Resilienzfaktoren sind bei den Patienten – wenn auch bei dem Patienten A mit zeitweise deutlichen Einschränkungen – zu sehen (vgl. Petzold, Müller 2004) die Fähigkeit, Belastungen/Lebensalltag zu bewältigen. die Fähigkeit, die Situationskontrolle – auch in Streßsituationen – aufrechtzuerhalten.
zu A + B
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5 Trauma und Sucht die Fähigkeit, sich an Belastungssituationen so anzupassen, daß Möglichkeiten bestehen, in ihnen zu überleben. die Möglichkeit Belastungserfahrungen zu kommunizieren und aufgrund von Netzwerkorientierung, Schutzpersonen zu aktivieren. soziale Vorbilder, die konstruktives Bewältigungsverhalten modellhaft zeigen. eine realistische Situationseinschätzung und positive Zukunftserwartung, Leistungsmotivationen und Möglichkeiten der Problembewältigung. die Fähigkeit sich ein soziales Netzwerk aufzubauen und zu nutzen.
Die Patienten können als soziales Sicherungssystem auf die Mitarbeiter der Einrichtung zurückgreifen und nutzen die Angebote für sinnvolle Aktivitäten (vgl. Wochenplan, unter: www.therapieverbund-herne.de) in der Einrichtung.
5.2 Behandlungsanforderungen und -ziele Bei Sucht und Traumatisierungen handelt es sich um Störungsbilder, die einer differenzierten Behandlung bedürfen, da sowohl durch Traumatisierungen als auch durch Suchtmittelkonsum die Persönlichkeit des Menschen in verschiedensten Lebensbereichen beschädigt ist (vgl. Scheiblich, Petzold 2006). In der Fachliteratur besteht Übereinstimmung, daß die Stabilisierung in der Behandlung traumatisierter und drogenabhängiger Menschen von zentraler Bedeutung ist. Erst dann, wenn genügend Stabilität erarbeitet ist, können weitere Behandlungsphasen eingeleitet werden (vgl. Fischer, Riedesser 2003, Reddemann 2005, van der Kolk 2000). Auch für unsere drogenabhängigen Patienten gilt diese Aussage, daß erst dann, wenn eine ausreichende Stabilisierung erreicht ist, eine Aufarbeitung der dahinterliegenden Problematik sinnvoll ist (vgl. Petzold, Ebert 2006). Bereits Herman (vgl. Huber 2005, 32) hat eine Dreiteilung der Traumabehandlung: Stabilisieren – Traumakonfrontation – Integration (mit Trauerarbeit und Wiederanknüpfen) entwickelt. Bei komplex traumatisierten Menschen müssen in einem weiteren Stadium Techniken der Distanzierung vermittelt werden. Die Autorin weist ausdrücklich darauf hin, daß es nicht in jedem Fall gelingen kann, das Trauma aufzuarbeiten. Auch nach Turnbull, McFarlane (2000, 380) müssen bei der Behandlung drei unterschiedliche Anforderungen berücksichtigt werden. „Erstens
5.2 Behandlungsanforderungen und -ziele
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muß eine Behandlung notwendigerweise auf Stabilisierung ausgerichtet sein – d.h. auf Meisterung und Kontrolle der physiologischen und biologischen Streßreaktionen. Ein weiterer Fokus der Behandlung liegt darauf, dem Patienten bei der Bearbeitung und Bewältigung der beängstigenden, überwältigenden Erfahrung zu helfen. ... Der letzte Fokus der Behandlung liegt darauf, dem Individuum zu helfen, wieder weitestgehend am Leben teilzunehmen. Dies beinhaltet, daß die persönliche Handlungskompetenz wiederhergestellt und sichere soziale Beziehungen realisiert werden." Dies entspricht auch den von Flatten (2004) aufgezeigten Anforderungen traumaspezifischer Behandlung, die
die Herstellung von äußerer Sicherheit, d.h. die Sicherheit, daß sich die traumatische Erfahrung nicht wiederholt, die interpersonelle Sicherheit, d.h. Rückhalt in der therapeutischen Beziehung und in tragfähigen sozialen Kontakten und die Herstellung der intrapsychischen/intrapersonellen Sicherheit, d.h. Distanzierung von erlebter Traumatisierung, Wahrnehmung dissoziativer Prozesse, Aktivierung von Ressourcen
beinhalten muß, um zu einer Besserung im Erleben des Patienten zu führen. Suchttherapeutische Interventionen zielen in die gleiche Richtung. Erfahrungen der Drogenabhängigen von physischer und psychischer Bedrohung, Gewalt und Mißbrauch wirken auf das Sozialverhalten und den Umgang mit Menschen. Die Behandlung muß diesen Realitäten Rechnung tragen und einen Rahmen bereitstellen, indem andere Erfahrungen möglich sind. „Therapeutische Maßnahmen müssen deshalb dysfunktionale Kognitionen und Emotionen, z.B. erlernte Hilflosigkeit, mangelndes Selbstwertgefühl, Selbstkonflikte und Ambivalenzen, schwache Ich-Funktionen und defizientes Identitätserleben bewußt machen und bearbeiten, in dem sie einen Kontext bereitstellen, der Selbstwirksamkeit, Kompetenzerleben, „mastery-experieces", ich- und identitätsstärkende Erfahrungen möglich macht und in dem negative „selbstreferentielle Gefühle und Kognitionen" verändert werden können" (Petzold, Ebert 2006, 324). „Die Psychotherapie muß sich zwei grundlegenden Aspekten der PTBS zuwenden: (1) Dekonditionierung von Angst und (2) Veränderung der Art und Weise, wie die Opfer sich selbst und ihre Welt sehen, indem man das Gefühl der persönlichen Redlichkeit und Kontrolle wiederherstellt. ... Dies bedeutet den Einsatz einer Kombination von Verfahren der Dekonditionierung von Angst, zur Wiederherstellung eines Gefühls persönlicher Kontrolle (was von der Teilnahme an
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5 Trauma und Sucht
körperlichen Herausforderung bis zum Wiederaufbau eines Gefühls spiritueller Sinnhaftigkeit reichen kann) und zur Bildung bedeutsamer und wechselseitiger befriedigender Beziehungen mit anderen (häufig mit Hilfe einer Gruppenpsychotherapie)“ (van der Kolk, McFarlane, van der Hart 2000, 312).
Fischer, Riedesser (2003) verwenden in ihrem psychoanalytisch/psychodynamischen Ansatz auch verhaltenstherapeutische Techniken, um ungünstige Verhaltensmuster in Frage zu stellen, ihre Dekonstruktion zu fördern und Anregungen für den persönlichen Neuentwurf, die Konstruktion, traumatisch verzerrter kognitiv-emotionaler Schemata zu geben. Damit stehen diese verhaltenstherapeutischen Techniken im Dienste einer psychoanalytischen, prozeßorientierten Konzeption von Veränderung und der dazu erforderlichen psychotherapeutischen Beziehungsgestaltung. Ferner enthält dieser Ansatz Elemente aus der imaginativen Psychotherapie, insbesondere der Psychodynamisch Imaginativen Trauma-Therapie (PITT, vgl. Fischer, Riedesser 2003) und zeichnet sich durch seine systematische Orientierung an differentieller Pathogenese/Traumatogenese aus, die über eine rein an nosologischen Störungsbildern orientierte Vorgehensweise hinausgeht, so daß sie eine kausal wirksame Psychotherapie mit kausalen Behandlungsstrategien zur Wiederherstellung der seelischen Gesundheit im Sinne einer ursächlichen Heilung vom Trauma darstellt. Reddemann (2004) entwickelt einen integrativen und psychodynamisch begründeten Therapieansatz und betont, daß jeder Mensch beständig im Wandel begriffen ist und sich Gedanken, Gefühle und Empfindungen verändern. Die Chance liegt darin, daß es trotz großem persönlichem Leid immer möglich ist, in der Gegenwart andere und neue Entscheidungen für die Zukunft zu treffen und einen therapeutischen Weg mit Gefühlen der Trauer und des Glücks zu gehen. Traumatherapie bedeutet, „die Patienten dabei (zu) unterstützen, auf die Stimme ihrer inneren Weisheit zu hören (und) ihre Selbstheilungskräfte“ zu unterstützen (ebenda, 13). Das therapeutische Vorgehen besteht in der Bearbeitung der verzerrten Abwehrstrukturen in Verbindung mit der Stärkung der gesunden Strukturen und Funktionen der Persönlichkeit und zielt ab auf Wiedererleben, Durcharbeiten und die Integration der traumatischen Erfahrung (vgl. Fischer/ Riedesser 2003). Aus Sicht der Integrativen Therapie sind die dargestellten Ansätze zu kurz gegriffen, denn auf dem Hintergrund des Konzeptes vom „informierten Leib“ (vgl. 8.2.1) muß der leibliche Aspekt bei der Behandlung von Menschen mit einer PTBS im Vordergrund stehen.
5.3 Therapeutische Beziehung
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Alle Autoren stimmen darin überein, daß es ausgesprochen wichtig ist, den Patienten darüber zu informieren, was in der Therapie geschieht, damit er in jeder Situation die Kontrolle behalten kann. „Die Behandlung beginnt oftmals mit ausgedehnten Verhandlungen, bei denen es um Themen wie Vertrauen, Macht und Sicherheit geht" (van der Kolk 2000, 185).
Deshalb erfordert die Behandlung von traumatisierten Menschen ein hohes Maß an Sensibilität, Authentizität und Flexibilität des Therapeuten, um den Therapieprozeß ausgewogen zwischen Beruhigung und Konfrontation zu gestalten.
5.3 Therapeutische Beziehung Die besondere Bedeutung, die der therapeutischen Beziehung zukommt, haben wir schon mehrfach hervorgehoben (vgl. 2.3.4). Aus dem traumaund suchttherapeutischen Blickwinkel ergeben sich zusätzliche wichtige Aspekte, da viele unserer Patienten in der Vergangenheit durch enge Vertrauenspersonen wie Mutter, Vater, Großeltern und Beziehungspartner verunsichert, vernachlässigt, mißhandelt, bedroht und verletzt worden sind. „Neuere Studien bestätigen ..., daß insbesondere der Risikofaktor der emotionalen Vernachlässigung ...“ (Brunner, Resch 2005, 25) und Mißhandlungen für die Entwicklung einer Traumatisierung bedeutsam sind; also „ein Ereignis, das psychische und biologische Bewältigungsmechanismen des Menschen überfordert und das durch eine andere Person ... nicht kompensiert werden kann“ (Streeck-Fischer 2005, 92). Alle Experten aus den Bereichen Sucht (vgl. Scheiblich, Petzold 2006, Petzold, Ebert 2006 u.a.) und Trauma (vgl. Fischer, Riedesser 2003, Reddemann 2004, van der Kolk et al. 2000 u.a.) betonen die Relevanz einer guten korrigierenden therapeutischen Beziehung. Therapeut und Patient müssen eine verläßliche Beziehung aufbauen und verlorenes Vertrauen nicht nur verbal wiederherstellen, sondern vor allem durch kontrastierende Beziehungserfahrungen im Sinne der optimalen Differenz. Aufgrund der Ohnmachtsdynamik sollen die Patienten erfahren, daß sie sich auch gegenüber dem Therapeuten behaupten können. Die therapeutische Beziehung stellt die wesentliche (Arbeits-) Grundlage einer Therapie dar. Hien et al. (2004) weisen darauf hin, daß
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5 Trauma und Sucht
bei Traumatherapie für den Patienten das Gefühl von Sicherheit erreicht werden muß, d.h. der behandelnde Therapeut ist dafür zuständig, vor Beginn der Traumabehandlung eine Situation zu schaffen, die objektiv und subjektiv für den Patienten sicher ist, also eine starke und solide therapeutische Allianz herzustellen, in der es dem Patienten möglich wird, Fortschritte beim Erreichen der Ziele zu machen, die er sich gesetzt hat (vgl. auch Turnbull, McFarlane 2000). Auch Petzold et al. (2000) betonen die besondere Bedeutung der Beziehung im therapeutischen Prozeß: „Für viele Patienten (ist es) zunächst einmal außerordentlich wichtig ist, daß sie sich mit ihrem traumatischen Erleben angenommen fühlen. Der respektvolle Umgang des Therapeuten mit der schrecklichen Erfahrung, das deutliche Signal, daß das Trauma als ein bedeutsamer Faktor für den gegenwärtigen Gesundheitszustand gesehen wird, ist Grundlage eines tragfähigen therapeutischen Arbeitsbündnisses, das Sicherheit vermittelt, Vertrauen möglich macht und allmählich an relationaler Qualität gewinnt, d.h. von Kontakt zu Begegnung und Beziehung kommen kann (Petzold 1993a, 1147-1188), ohne daß es zu Kollusionen und negativen Konfluenzphänomenen ... kommt. Die Fähigkeit des Therapeuten, das „Nicht-Integrierbare" des Patienten an- und aufzunehmen, ist in der Begegnung ... ein wichtiger Schlüssel zur Integrationsarbeit der betroffenen Menschen" (Petzold et al. 2000, 541).
Besonders zu beachten ist, dass im therapeutischen Prozeß mit traumatisierten Menschen den Gegenübertragungsphänomenen besondere Beachtung zu schenken sind. Turnbull, McFarlane (2000) weisen auf diesen Aspekt besonders hin. „Es ist wichtig, daß Therapeuten verstehen, daß das Bedürfnis der Patienten, sie zu idealisieren, nicht in ihren realen Eigenschaften begründet ist (diese können Patienten, bei ihrer ängstlichen Anstrengung, die Kontrolle zu behalten, häufig kaum wahrnehmen), sondern daß die Patienten sie idealisieren, um die eigenen Sicherheitsquellen, die durch das Trauma zerstört wurden, zu ersetzen. ... Die passive Abhängigkeit der Patienten bzw. ihre hartnäckige Unfähigkeit zu vertrauen, spiegelt sich in den Gefühlen der Therapeuten wider, machtlos und inkompetent zu sein. Die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit der Patienten schlägt sich im Streben der Therapeuten nach Perfektion und Kontrolle nieder“ (ebenda, 389).
Für die meisten Autoren ergibt sich daraus die Notwendigkeit eines breiten methodischen Repertoires der Therapeuten, die fähig sein müssen, die unterschiedlichen Methoden auf die jeweiligen Bedürfnisse des Patienten zu spezifizieren. Therapeuten müssen auf die Ambivalenzen des Patienten, die sich in Vermeidung und Suche nach Hilfe ausdrücken, mit Akzeptanz und Toleranz reagieren und Sicherheit, Schutz und Hoffnung
5.4 Erfordernisse der PTBS-Behandlung durch IT
117
vermitteln. Dies ist zur Verhinderung einer Abhängigkeit des Patienten vom Therapeuten und zum Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls für den Patienten notwendig. Beide Patientengruppen müssen einen fürsorglichen Umgang mit sich selbst erlernen und widersprüchliche Wünsche und Bedürfnisse handhaben zu können (vgl. Rothschild 2002, 146).
5.4 Erfordernisse der Behandlung einer PTBS auf dem Hintergrund der IT „Die Multidimensionalität des Traumageschehens und seiner Folgen macht eindimensionale Erklärungsmodelle obsolet, sondern erfordert eine komplexe physiologische, psychologische, psychosoziale und ökologische Perspektiven verbindende Ätiologie. Daraus folgend ist für komplexe Maßnahmen der Therapie und Hilfeleistung Mehrperspektivität der Betrachtung... und Multimodalität der Interventionen unabdingbar ..." (Petzold et al. 2000, 468).
Wie bereits mehrfach angesprochen, erfordern sowohl die Diagnostik als auch die traumatherapeutischen Interventionen besondere professionelle Kenntnisse (vgl. Petzold, Wolff et al. 2000). Standardisierte Formate (z.B. EMDR) allein greifen nicht, weil die Interaktion mit substanzbedingten Problemen und der komplexen, oft desolaten Lebenslage (Verschuldung, Strafen, völlig zerrüttete soziale Netzwerke, HIV, Hepatitis etc.) mit einer Methode allein nicht zu behandeln ist. Überdies ist die Retraumatisierungsgefahr nicht zu unterschätzen (vgl. Märtens, Petzold 2002), so daß diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt gewidmet werden muß. Ein „schulenübergreifendes" integrierendes Vorgehen erscheint sinnvoll. „Wir brauchen heute Techniken zur Regulation von heftigen Gefühlen, die von verhaltenstherapeutischen Kollegen entwickelt wurden, ebenso wie wir ein tiefes Verständnis für traumatische (Objekt-)Beziehungsstrukturen und heilsame Bindungserfahrung benötigen" (Huber 2005, 24).
Unserer Meinung nach entspricht der Ansatz der Integrativen Therapie den genannten Anforderungen, um adäquat auf das Störungsbild einwirken zu können. Die IT hat einen Ansatz der integrativen Traumatherapie entwickelt, der die beschriebenen Ansätze aufgreift und um den Aspekt des Leibes ergänzt.
118
5 Trauma und Sucht
„Die „Integrative Traumatherapie“ ist als Sonderformat im Rahmen der generellen Behandlungsmethodologie der „Integrativen Therapie“ entwickelt worden. ... Die Integrative Traumatherapie hält aufgrund ihrer Betonung des Aspektes der psychophysiologischen Dysregulation bei PTBS und der biopsychosozialen und immunologischen Dimensionen von psychischen und somatoformen Störungen ganz allgemein ... die Berücksichtigung dieser Dimensionen in der Therapie für unverzichtbar“ (Petzold et al. 2000, 495ff).
Auf dieser Grundlage (biopsychosozial und sozialwissenschaftlich) will Integrative Therapie identitätskonstituierende Prozesse initiieren. „Die tragenden Identitätsbereiche ... bedürfen, wo sie durch Traumatisierungen und ihre Aus- und Nachwirkungen beschädigt oder beeinträchtigt sind, der therapeutischen Stütze für den Betroffenen und seinen Konvoi: Leiblichkeit (I) durch körpertherapeutische Methoden, Netzwerk (II) durch soziotherapeutische Netzwerkarbeit, Arbeit/Leistung (III) durch Beratung, Coaching, Hilfsprogramme, Materielle Sicherheiten (IV) durch Beratung und Unterstützung, Werte (V) durch sinnstiftende Angebote (z.B. narrative Praxis, kreative Medienmediative und ästhetische Erfahrungen)" (ebenda, 513f).
Die Autoren bieten ein vierstufiges Modell zur Behandlung an. Genau wie in den anderen Ansätzen kommt der Stabilisierung oberste Priorität zu. In Erweiterung dieser (vgl. Fischer, Riedesser 2003, Reddemann 2005, van der Kolk et al. 2000) kommt allen Ebenen der Identiät durch besondere Behandlungselemente Bedeutung zu: Stufe1:
„Stabilisierungsbehandlung durch vertrauensfördernde Maßnahmen: Selbststeuerung, Bewegungsförderung, Körperaktivierung, Ressourcenaktivierung, Copingstrategien“ (Petzold et al. 2000, 530). Stufe 2: „Arbeit mit intrusiven Phänomenen, Gestaltprozesse in Kombination mit EMDR oder IDR-T“ (vgl. ebenda, 531). Stufe 3: „Abschlußphase – Integration und Zukunftsperspektiven“ (ebenda, 534). Stufe 4: „Transfervorbereitung, Verhaltensprobe mit Behaviourdrama, Begleitete Neuorientierung“ (ebenda, 534).
Der Ansatz der Integrativen Therapie ist für Patienten mit einer PTBS und Suchtkranke mit einer PTBS-Symptomatik in gleicher Weise geeignet und kann hier auf langjährige Erfahrungen zurückgreifen (vgl. Petzold, Ebert 2006). „Die Integrative Therapie ist ein umfassendes Verfahren mit netzwerk-/familientherapeutischen Schwerpunktbildungen, welches auf Support, Ko-respondenz,
5.5 Behandlungsgrundsätze der Rehabilitation
119
Mehrperspektivität und kollektive Einsichts- und Entwicklungsprozesse, auf persönliches und gemeinschaftliches „komplexes Lernen“ (Sieper 2001) in ressourcenaktivierten Netzwerken setzt. Es kann deshalb bei Traumabelastungen und Suchterkrankungen und bei der Kombination von beiden Störungen besonders gut und nachhaltig wirkend eingesetzt werden. Das vielschichtige Geschehen von Traumakontexten, der individuellen und familialen Traumabelastung und Suchtdynamik wird mit unterschiedlichen Sichtweisen zu erfassen versucht und in einem kontinuierlichen Prozeß der Dialoge und Polyloge auf die individuellen Bedürfnisse einer Familie und deren Mitglieder zugeschnitten. Der neuromotorische und biopsychologische Ansatz bietet die Möglichkeit, leiborientiert die „Traumaphysiologie“, chronifizierte Dysregulationen anzugehen, aber auch leibliche Synchronisationsphänomene für den kommunikativen Bereich zu nutzen. Der sozioökologische Ansatz der IT bietet mit der Orientierung auf das Feld, das Netzwerk und mit seinem Verständnis der Verschränkung von inneren und äußeren Wirksamkeiten, ihren wechselseitigen Bedingtheiten, erweiterte Perspektiven an“ (Petzold, Josic´, Erhardt 2006, 155f).
Zusammenfassend stellt der Integrative Ansatz eine deutliche Erweiterung der dargestellten traumatherapeutischen Ansätze dar.
5.5 Behandlungsgrundsätze für Patienten in der medizinischen und sozialen Rehabilitation Jeder unserer Patienten erhält in der medizinischen und sozialen Rehabilitation (hier: Phase II (Adaption) und Phase III (Ambulantes Betreutes Wohnen)) die Behandlung, die für seine besondere Situation und das diagnostizierte Störungsbild angemessen ist. Für den gesamten Ausstiegsprozeß aus der Sucht und die ggf. notwendige Traumatherapie ist i.d.R. ein auf den Einzelfall zugeschnittenes und häufig langfristig anzulegendes integriertes Therapiekonzept mit multimodaler Ausrichtung notwendig. Dabei kommt der Behandlung im Verbund – also aufeinander abgestimmter Behandlungsangebote – eine zentrale Bedeutung zu, da so die jeweilig vorhandenen Ressourcen miteinander vernetzt und größtmögliche Synergieeffekte erzielt werden können (vgl. 8.). Die stationäre Behandlung ermöglicht den (räumlichen) Abstand vom Suchtmittel und die Chance sich in einem geschützten Rahmen tiefergehend mit der eigenen Suchtentwicklung und Persönlichkeitsstruktur auseinanderzusetzen. In der Phase II (Adaption) ist die Konfrontation mit der Realität hier: u.a. Verfügbarkeit von Suchtmitteln und Kontakt zu konsumierenden Menschen gegeben. Schutz bietet der Rahmen der Einrichtung. In der Phase III (Betreutes Wohnen) fällt der schützende
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5 Trauma und Sucht
Rahmen der Institution weg. Der Patient lebt in einer eigenen Wohnung ohne „Kontrolle“ durch Mitarbeiter, d.h. institutionelle gesetzte Grenzen 10 müssen durch eigene Grenzen ersetzt werden . Wie bereits ausführlich dargestellt (vgl. 2.) muß in der Behandlung von Drogenabhängigen die Stabilisierungs- und Ressourcenarbeit im Vordergrund stehen. Da die Patienten i.d.R. durch Menschen verursachte Traumata erlitten haben und die PTBS-Symptomatik häufig bereits seit vielen Jahren besteht, d.h. eine Symptombefreiung im vorgegebenen Behandlungsrahmen/-zeitraum i.d.R. nur selten gelingt, muß der Fokus der Behandlung in einer mittel- bis langfristig angelegten Therapie darauf gerichtet werden, den Patienten „zu einer Akzeptanz des Traumas als unabänderliche, aber vergangene Gegebenheit zu verhelfen, um die psychotraumatische Erfahrung zunehmend in das Selbstbild integrieren zu können“ (Langkafel 2000, 11). Wesentlich ist also die Initiierung identitätsfördernder Prozesse, damit der Patient sein Leben wieder aktiv gestalten und positive Zukunftsperspektiven entwickeln kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß es im Setting der medizinischen und sozialen Rehabilitation durchaus schwierig ist, den Patienten zu motivieren, sich mit sich und der eigenen Problematik auseinanderzusetzen und keine destruktiven intimen Beziehung einzugehen, die von der individuellen Problematik scheinbar ablenken, subjektiv den Versuch der eigenen Stabilisierung darstellen; auch wenn der Patient vielfach erlebt hat, daß das Gegenteil eintritt. Langzeitwirkungen früher Traumatisierungen, die bei unseren Patienten i.d.R. zu diagnostizieren sind, müssen besondere Beachtung im Behandlungsverlauf finden; insbesondere auf Auswirkungen in der Beziehungsgestaltung ist ein besonderes Augenmerk zu richten. Deshalb müssen der Aufbau tragfähiger Kontakte und Beziehungen, die Entwicklung stabiler Bindungen und interpersonaler Sicherheit ein Schwerpunkt der Behandlung sein. Sichere Bindungen (Beziehungen) bilden eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit der Veränderung (vgl. van der Kolk 1998). 10
Die meisten Autoren (vgl. Reddemann 2005, Turnbull, McFarlane 2000) stimmen darin überein, daß Behandlungsverträge und klare Grenzsetzungen unverzichtbar sind. Auch sind „das Setzen von Grenzen sowie klare therapeutische Verträge ... unabdingbar, will man die Sicherheit der therapeutischen Dyade gewährleisten. Die therapeutische Herausforderung besteht darin, gleichzeitig Grenzen zu setzen und für die Exploration aggressiver Gefühle offen zu bleiben" (Turnbull, McFarlane 2000, 390). – An dieser Stelle ist eine deutliche Parallele in der Behandlung von Trauma und Suchtpatienten gegeben.
5.5 Behandlungsgrundsätze der Rehabilitation
121
Um nun die hier deutlich werdende, „hinter der Sucht liegende“ Beziehungsstörung behandeln zu können, muß der therapeutische Prozeß besonders darauf fokussiert werden, mit dem Patienten „in Beziehung zu treten“. „Die hilfreiche therapeutische Beziehung gilt als ein grundlegender und übergeordneter therapeutischer Wirkfaktor, der mehr als einzelne isolierte Therapeuten- und Methodenmerkmale über Erfolg und Mißerfolg von Behandlungen entscheidet“ (Zurek, Fischer 2003, 2). „In kaum einem Metier sind Beziehungsarbeit und „Beziehungskunst“ von so zentraler Bedeutung wie in Therapien, in denen sich Menschen in einem Zustand höchster psychischer Verletzlichkeit vertrauensvoll an einen Psychotherapeuten ... wenden“ (ebenda, 10, vgl. ebenso Kapitel 2.3.4).
Notwendig ist also ein Behandlungsansatz, der bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen und ihren Komorbiditäten ein hohes Maß an Struktur bei gleichzeitiger Vergrößerung des individuellen Freiraums bietet, die individuellen Ressourcen aber auch Schwierigkeiten optimal berücksichtigt bzw. auffängt. Die Kombination mit übungszentrierten Ansätzen (z.B. Lauftherapie, die Expositionen ermöglicht und ein Retraumatisierungsrisiko vermeidet) im Sinne einer bimodalen Behandlung ermöglicht eine hohe individuelle Zupassung der Behandlungskonzeption. An dieser Grenze erfolgt im therapeutischen Geschehen, in inter-subjektiven Prozessen ein „stufenweises Aushandeln“ (Wiegmann, Giles 1996) der Therapieziele und -inhalte, es erfolgt die gemeinsame Therapieplanung“ (Siegele 2002, 16).
Der Patient ist in diesem intersubjektiven Ko-respondenzprozeß mündiger Partner, Ko-diagnostiker und Mitwirkender in der Psychotherapie (vgl. Petzold et al. 1999), der die Fähigkeit hat, selbstbestimmt zu handeln und über einen eigenen Willen verfügt. „Die Stärkung des Willens führt zu Entschlüssen und Aktivitäten, die Erledigung von Anforderungen, oder die Beseitigung von Schwierigkeiten, die Abwendung von Gefahren, Belastungen (z.B. distress, strain) und Mangelzuständen in Angriff zu nehmen (Petzold 1998). Der „locus of control” (vgl. Flammer 1996) bleibt beim Patienten, was die Erfahrung der Selbstwirksamkeit stärkt und Emanzipationsprozesse fördert“ (ebenda, 16). Um diese Grundsätze wirksam umzusetzen, muß die Behandlung in Phasen gestaltet werden. Diese sollten beinhalten (vgl. van der Hart, Brown, van der Kolk 1989, Herman 1992, van der Hart, Steele, Boon, Brown 1993 und van der Kolk, McFarlane, van der Hart 2000):
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1. 2. 3. 4. 5.
5 Trauma und Sucht
Stabilisierung, u.a. durch Informationsvermittlung und Identifizierung von Gefühlen. (Wieder-)Herstellung sicherer sozialer Bindungen und interpersonaler Fähigkeiten. Ermöglichung positiver emotionaler Erfahrungen. Entschlüsselung traumatischer Erinnerungen und Reaktionen. Rekonstruktion prätraumatischer persönlicher Schemata.
Zu ergänzen ist die Auflistung um die Stärkung der einzeInen Dimensionen der Identität, insbesondere der Leiblichkeit auf dem Hintergrund des Konzeptes der Leiblichkeit (vgl. Petzold et al. 2000) und die Dimension der Sinngebung, worauf wir in Kapitel 8.2.1 näher eingehen werden. Die Patienten weisen schwere Ich-strukturelle Störungen auf, zeigen Persönlichkeitsstrukturen auf dem Niveau des Borderline-Syndroms und sind „oft haarscharf an der Grenze zum Tod vorbeigeschrammt, und es ist spürbar, daß es ... um ganz existentielle Fragen und Prozesse ... geht. Es fehlt diesen Menschen ... die Erlaubnis zum Leben“ (Rost 2003, 115) – auch psychosenahe Zustände sind häufig zu sehen. Die Droge „übernimmt praktisch alle Abläufe der inneren und äußeren Beziehungen, ersetzt die Kommunikation zwischen Innenwelt und Objekten der realen Existenz“ (Dieckmann 2003, 145) des Patienten. Bei der Behandlung von Trauma und Sucht steht nicht die eingeschränkte Funktion der Person im Mittelpunkt, sondern die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Patienten – einschließlich seiner sozialen, kulturellen und ökologischen Bindungen und Verpflichtungen. Der therapeutische Ansatz geht dabei bewußt vom Zusammenwirken einer Vielzahl therapierelevanter Faktoren aus. Alle Interventionen müssen sowohl auf die Förderung der sozialen Integration durch Stabilisierung der Lebenssituation (Netz sozialer Sicherungen) als auch auf eine Stützung der Persönlichkeit gerichtet sein (vgl. Petzold et al. 2000). Die Ausführungen zu den Behandlungsgrundsätzen von Trauma und Sucht zeigen, daß es in der trauma- und suchttherapeutischen Arbeit deutliche Gemeinsamkeiten gibt. An übereinstimmenden Zielsetzungen lassen sich feststellen:
Therapeut-Patient-Interaktion als Voraussetzung für einen gelungenen Therapieprozeß Stabilisierung durch psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen; ggf. Bearbeitung biographischer Ereignisse und von Trauer, Wut, Scham und Schuldgefühlen
5.6 Therapieimplikationen aus neurobiologischer Sicht
123
Lernen von Affektdifferenzierung und -regulierung Verbesserung der Körperwahrnehmung, Steigerung der Fähigkeit zur Selbstfürsorge Verbesserung des Leistungsvermögens/der Ausdauerfähigkeit (Sport- und Bewegungstherapie) Erlernen von Entspannungstechniken Aushalten von Andersartigkeit/Akzeptanz der spezifischen Lebenssituation Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung Entdeckung und verbesserte Nutzung der eigenen Ressourcen zur Bewältigung von alltäglichen Lebensaufgaben, Streß und Krisen Aufbau eines schützenden sozialen Netzwerkes
Bei traumatisierten an einer PTBS leidenden Suchtpatienten liegt ein Schwerpunkt auch auf der Regulation der Hyperarousals (wie bereits mehrfach ausgeführt). In der therapeutischen Praxis bei der Behandlung von Trauma und Sucht muß es darum gehen, den Patienten mit seinem Kontext und Kontinuum anzusprechen und zu unterstützen, ihm korrigierende Erfahrungen zu ermöglichen. Dabei muß die gesamte Person des Patienten in „Prozesse des (sozialen) Lernens“ einbezogen werden – „Lernen im sozialen Kontext, durch soziale Interaktion, durch soziale Instruktion, das Lernen von sozialem Interagieren und Kommunizieren usw.. ... (wobei) Lernen (ein) Prozeß des Erwerbs ... von Kompetenzen (Fähigkeiten) und Performanzen (Fertigkeiten) im Sinne adaptiver und kreativer/kokreativer Veränderung überdauernder Verhaltensmöglichkeiten durch Differenzierungen in Wahrnehmungs-Verarbeitungs-Handlungszyklen ... (ist), die die Ausbildung neuer Muster erlauben“ (Petzold 2002b, 7-8). Dabei muß sich der Patient „in der therapeutischen Partnerschaft und ihrer informationstransparenten diagnostisch-therapeutischen Arbeit ... anschauen, was (ihm) in (seinem) Leben, (seiner) jeweiligen Lebenslage, (seiner) leiblichen Befindlichkeit, (seinen) Selbstprozessen als (Person) gut tut und was (ihm) abträglich ist“ (ebenda, 21).
5.6 Therapieimplikationen aus Sicht der Neurobiologie Das Interesse an neurobiologischen Erkenntnissen besteht u.a. darin, auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen bestimmter Phänomene mit Krankheitswert (hier: Sucht und PTBS) zu finden und durch ent-
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5 Trauma und Sucht
sprechende therapeutische Interventionen, Veränderungen im Fühlen, Denken und Handeln in gesundheitsförderndem Sinne herbeizuführen. Entsprechend der in Kapitel 4.4 beschriebenen Neuroplastizität bleiben Menschen bei entsprechenden Anreizen und Nutzung bis ins hohe Alter lernfähig. Erhöhte Aktivierung und Inanspruchnahme führt zu vermehrter und verbesserter Verschaltung. Durch entsprechende Lernprozesse und die regelmäßige Wiederholung entwickeln und stabilisieren sich die Verschaltungen im Gehirn. Hüther (2001) spricht von neuentstehenden Bahnungen im Gehirn. Durch neue korrigierende Erfahrungen entstehen neue gesunde Verschaltungen. Die Unterscheidung zwischen kontrollierbarem und unkontrollierbarem Streß (vgl. Hüther 2001, Sachsse 2003) ist wesentlich. Zu einer kontrollierten Streßsituation kommt es, wenn die bisher angelegten neuronalen Verschaltungen zur Beseitigung der Störung geeignet, aber noch nicht effizient genug sind. Wiederholt auftretende kontrollierte psychosoziale Belastungen fördern die strukturelle Verankerung der in der Aktivierung der jeweils erforderlichen Fähigkeiten und Reaktionsweisen involvierten neuronalen Verschaltungen. Änderungen sind abhängig von wiederholten Erfahrungen, die nicht mit den bisherigen Erfahrungen übereinstimmen. Diese Tatsache kann sich Therapie zu nutze machen. Der Therapeut kann durch eine komplementäre Beziehungsgestaltung und Ressourcenaktivierung dem Patienten positive bedürfnisbefriedigende Erfahrungen vermitteln. Psychotherapie kann aus neurobiologischer Perspektive als gezielte und systematische Bahnung neuer Erregungsmuster verstanden werden. Neuropsychotherapie (vgl. Grawe 1992) versucht das Gehirn zu verändern und befaßt sich mit den Lebenserfahrungen, die ein Mensch macht. Das Gehirn ist darauf spezialisiert, Lebenserfahrungen zu verarbeiten. Lebenserfahrungen haben Bedeutungen im Hinblick auf die Bedürfnisse, die jedem Menschen mitgegeben sind. In der Arbeit mit unserer Klientel ist die Wirkung von Suchtmitteln im Gehirn interessant. Diese Thematik kann an dieser Stelle nicht tiefergehend behandelt werden. Jedoch ist hier wichtig, daß Drogen neuronale Prozesse im Belohnungs- und Lustsystem verändern (vgl. Spitzer 2003). Das Belohnungssystem ist mit einigen anderen Hirnregionen verschaltet, die Erlebnisse mit Gefühlen belegen. Dieses Zusammenspiel verstärkt Verhalten, das angenehme Empfindungen erzeugt. Die Amygdala trägt dazu bei, das Erlebte zu bewerten und beeinflußt damit, ob ein Verhalten künftig wiederholt werden sollte oder nicht. Im präfrontalen Cortex, dem
5.6 Therapieimplikationen aus neurobiologischer Sicht
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Ort im Gehirn wo alle Informationen verarbeitet werden, wird schließlich über das Verhalten entschieden. Die Aktivierung des limbischen Dopamin-Systems durch eine Droge führt zu einer positiven Verstärkerwirkung; es kommt zu einer Zunahme aller Verhaltensweisen, die den Zugang zur Droge begünstigen. Alle derzeit bekannten psychotrop wirkenden Substanzen führen zu einer Freisetzung von Dopamin in bestimmten limbischen Strukuren. Suchtmittel aktivieren im Gehirn das so genannte Lust- und Belohnungssystem und dies lebenslang. Dabei handelt es sich um tiefliegende, komplexe neuronale Schaltkreise, die für das Wohlbefinden zuständig sind. Bei wiederholtem Konsum ist das Gehirn immer weniger in der Lage, Glückgefühle durch normale Aktivitäten allein zu produzieren. Das bedeutet, daß Therapie und Behandlung Aktivitäten initieren muß, die beschriebene Prozesse ohne den Einsatz von Suchtmitteln einleiten (z.B. durch Sport, erlebnispädagogische Aktivitäten usw.). In diesem Zusammenhang erscheint uns interessant, daß imaginative Vorstellungen die gleichen Zellen im Gehirn aktivieren, wie dies durch die reale Nutzung geschehen würde (vgl. Schiepek 2003). Dies bedeutet, daß in der Therapie imaginative Techniken von entscheidender verändernder Relevanz im Therapieprozeß sind, d.h. die Vorstellung von Entspannung bewirkt Entspannung. Oder: Menschen, die massive Ängste vor Neuem haben, können in ihrer Vorstellung Dinge erproben und hierbei schon positive Wirkungen erfahren. Für traumatisierte Patienten bestätigt die Neurobiologie die Relevanz von stabilisierenden Behandlungsmaßnahmen und betont die Wichtigkeit von Informationsvermittlung und Erarbeitung von Selbstkontrolle für den Patienten. Dabei bedarf es in der Traumatherapie in besonderer Weise des mündigen Patienten (vgl. Schiepek 2003). Hierbei sind die „interpersonale Sicherheit" durch die therapeutische Beziehung als auch die intrapsychische oder intrapersonelle Sicherheit, die Fähigkeit, einen eigenen Raum der Sicherheit zu schaffen, basale Grundelemente einer Therapie. Therapie kann daher durch Entspannung und emotionale Modellierung (vgl. Petzold 2000) dazu beitragen, Streß zu reduzieren und eine Beruhigung des Menschen zu bewirken. Die Vermeidung von streßauslösenden und retraumatisierenden Situationen bewirkt, daß Verschaltungen nicht weiter aktiviert werden und sich zurückbilden können. „Deutlich ist, daß jede erneute Aktivierung des Traumaattraktors, egal ob spontan, getriggert oder im Sinne einer therapeutischen Trauma-Rekonfrontation bei unveränderten Systembedingungen zur weiteren Stabilisierung des
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5 Trauma und Sucht
Traumaattraktors (Retraumatisierung) führt" (Schiepek 2003, 419f). Wenn es gelingt, bisherige Verknüpfungsmuster nicht mehr in Anspruch zu nehmen, können sie sich auch auf synaptischer Ebene zurückbilden. Aus neurobiologischer Perspektive wird Veränderung durch Prozesse des Umlernens initiiert. Bestehende Strukturen werden durch neue Erfahrungen und Bewertungen ergänzt und erweitert (vgl. ebenda). Die Erkenntnisse der Neurobiologie unterstreichen also die traumaund suchttherapeutischen Ansätze, d.h. erfolgreiche Therapie sollte positive Erfahrungen ermöglichen und korrektive Veränderungen im Gehirn initiieren.
5.7 Fazit In diesem Kapitel haben wir die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von „Trauma und Sucht“ aufzuzeigen versucht und Konsequenzen für eine gemeinsame Behandlung dieser Störungsbilder gezogen. Traumatische Erfahrungen und Suchtmittelmißbrauch verändern die Persönlichkeit eines Menschen. Eine Einschränkung der Affektregulation ist bei beiden Patientengruppen feststellbar, wobei diese bei traumatisierten Menschen deutlich stärker und unkontrollierbarer ist, d.h. Affekte treten auf, bevor diese kognitiv eingeordnet werden können. Damit verbunden ist der Verlust der Selbstregulation. Im Umgang mit alltäglichen Anforderungen sind bei beiden Patientengruppen insbesondere in Streßsituationen inadäquate Handlungsmuster erkennbar. Bei beiden Störungsbildern lassen sich negative Auswirkungen auf der Beziehungsebene (Beziehungsaufbau und Beziehungskontinuität) feststellen. Beziehungen werden häufig vermieden bzw. auf dem Hintergrund früherer negativer Beziehungserfahrungen gestaltet. Es ist davon auszugehen, daß als Folge einer Suchtkarriere und traumatischer Erfahrungen auch neurobiologische Veränderungen stattgefunden haben (vgl. Petzold, Ebert 2006, Petzold 2000, van der Kolk 2000). Es sind also neue Erfahrungen notwendig, um Veränderungen im Gehirn zu bewirken (vgl. Hüther 2005, Schiepek 2004). Dementsprechend ist der Aufbau von Ressourcen, Resilienzen und Bewältigungsstrategien indiziert, um eine Stabilisierung der Patienten zu erreichen und die Voraussetzungen für eine therapeutische Bearbeitung der individuellen Themen zu schaffen. Insbesondere bei traumatisierten Menschen ist das Erlernen von Distanzierungstechniken wesentlich.
5.7 Fazit
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Auch die Neurobiologie (vgl. Schiepek 2003, Petzold 2000, van der Kolk 2000) betont die Wichtigkeit und Effektivität stabilisierender und beruhigender Interventionen, sowie den Einfluß alternativer neuer Erfahrungen. D.h., um neue Bahnungen zu schaffen, ist ein kontinuierliches Einüben erforderlich. Dabei ist die sichere Beziehung zum Therapeuten von zentraler Bedeutung; auch im Sinne neuer und positiver Beziehungserfahrung. „Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen erwägen wir, eine kombinierte Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Therapie-Strategien anzubieten, die aus der Suchtbehandlung erwachsen sind, und mit Therapie-Strategien, die aus der Trauma-Therapie erwachsen sind" (Lüdecke, Sachsse, Faure 2005, 381).
Dies bestätigt unsere Annahme, daß es viele Gemeinsamkeiten in der Behandlung von „Trauma und Sucht“ gibt, und mögliche Unterschiede in einem gemeinsamen Behandlungssetting gut aufzufangen sind.
6 Integrative Therapie
In unseren Einrichtungen wird nach dem Ansatz der Integrativen Therapie gearbeitet, einer schulenübergreifenden Therapiemethode, die Ansätze aus der humanistischen Psychologie als auch tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische und synergetische Ansätze kombiniert, sich im wesentlichen aber am Fundus der psychologischen, entwicklungspsychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung sowie an den Ergebnissen der Psychotherapieforschung orientiert (vgl. Ebert, Könnecke-Ebert 2004, Petzold, Steffan 2000). „Die „Integrative Therapie“ ist der erste Ansatz einer systematischen Methodenintegration und schulenübergreifenden Konzeptentwicklung in der Psychotherapie im europäischen Raum (vgl. Petzold 1974k, 394f, 1982) und verstand sich seit ihren Anfängen als „entwicklungsorientierte Therapie“, die mit Menschen aller Altersstufen gearbeitet hat. Ihr ging es und geht es in zentraler Weise um die Förderung der Entwicklung von Menschen, um die Ermutigung, immer wieder auch neu anzusetzen – weg von Störungen und Krankheit hin zu Gesundheit und Wohlbefinden, von schon erreichten Zielen der „Arbeit an sich selbst“ weiter zu neuen Möglichkeiten der Verwirklichung der eigenen Persönlichkeitspotentiale“ (Petzold, Orth, Sieper 2006, 628).
Die Grundprinzipen der Integrativen Therapie: „1. Integrative Therapie ist „theoriegeleitet". Theorie als „mental durchdrungene, komplex betrachtete und erfaßte Wirklichkeit" bestimmt auf dem Boden koreflexiver und diskursiver Auseinandersetzung die Interventionen und muß in der Praxis selbst zur Intervention werden. 2. Integrative Therapie ist im konkreten Vollzug „angewandte Theorie", die sich in der Praxis und durch die Praxis immer wieder koreflexiv und korespondierend weiterentwickelt, eine transversale Qualität gewinnt, und sie ist in diesen Überschreitungen „Praxeologie". 3. Integrative Therapie als Praxeologie ist „kreative Therapie", die Theorien, Methoden, Techniken und Medien in kreativer/kokreativer Weise einsetzt und entwickelt und den Therapeuten/die Therapeutin selbst als „kreatives Medium" und koaktive Gestalter sieht. 4. Integrative Therapie ist „ethikgeleitete Therapie", die ihr Handeln an Werten orientiert, welche in einer „Grundregel" für die Praxis umrissen wurden.
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6 Integrative Therapie
5.
6.
Integrative Therapie gründet in systematischer „methodischer Reflexion/Metareflexion" und zielt auf sorgsame, für neue Impulse, Ideen, Forschungsergebnisse offene, gemeinsame, ko-respondierende Weiterentwicklung des Verfahrens und seiner Methoden. Integrative Therapie ist differentiell und integrierend auf „komplexes Lernen" (Sieper/Petzold 2002) auf der kognitiven, emotionalen, volitiven und Handlungsebene gerichtet (Heuring/Petzold 2003; Petzold, Engemann, Zachert 2003)“ (Orth, Petzold 2006, 271-272).
Dem Begriff der Transversalität kommt hier besondere Bedeutung zu. „Transversalität bezeichnet programmatisch den Typus eines offenen, nichtlinearen, pluriformen, prozessualen Denkens. Transveralität meint Denken von Vielfalt in permanenten Übergängen“ (Schuch 2001, 3). Ziel ist es, Vielfalt zu ermöglichen. „Denken und Wissen wird sozusagen sozialer und historischer Gehalt zuerkannt, indem sie prinzipiell intersubjektiv und diskursiv, in Kontext und Kontinuum verstanden werden, d.h. in Ko-respondenz, in Konsens und Dissens gewonnen, als Begegnung und Auseinandersetzung in Polylogen, unter Berücksichtigung von 11 Anderem und Beachtung und Achtung des Anderen“ (ebenda, 3) . „Integrative Therapie ist als methodenübergreifendes, dem „neuen Integrationsparadigma” in der modernen, forschungsorientierten Psychotherapie, klinischen Psychologie und den „health sciences” verpflichtetes Verfahren auf die Behandlung von psychischen und somatoformen bzw. psychosomatischen Erkrankungen „in der Lebensspanne“ gerichtet, also ein entwicklungspsychotherapeutischer, biopsychosozialer Ansatz der „Humantherapie“. Sie verbindet durch eine mehrperspektivische, d.h. differentielle, ganzheitliche und kontextuelle Betrachtung und vermittels eines konnektivistischen und metahermeneutischen Modells ökologisch-systemische, sozialkonstruktivistische (kognitivistische) und tiefenpsychologische Zugehensweisen. Auf dieser Grundlage und unter beständigem Bezug auf die Erkenntnisse und Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie und der klinisch relevanten Sozial-, Neuro- und Biowissenschaften wurden nach einer kritischen Sichtung der Hauptverfahren in der Psychotherapie Aspekte verschiedener therapeutischer Methoden mit den eigenen integrativtherapeutischen theoretisch-konzeptuellen und behandlungsmethodischen Entwicklungen verbunden. So enstand ein eigenständiger, integrierter Ansatz der Krankenbehandlung, Gesundheitsförderung und Persönlichkeitsentwicklung. ... Es wird auf diese Weise eine Therapie des ganzen Menschen in und mit seinem Umfeld (Netzwerk- und Lebenslageperspektive), in seinem lebensgeschichtlichen Zusammenhang und seinen Lebensentwürfen angestrebt. ... In einem Prozeß „persönlicher und gemeinschaftlicher Hermeneutik“ sollen im the11
Ebert, Könnecke-Ebert (2004, 178) stellen dar, daß im Konzept der Integrativen Therapie „diese spezifische Betrachtungsweise ... mit den Kernkonzepten: Exzentrizität, Mehrperspektivität, Konnektivierung, „komplexes Lernen“ und Transversalität gekennzeichnet und charakterisiert werden“ kann.
6 Integrative Therapie
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rapeutischen Geschehen bewußte und unbewußte Strebungen und lebensbestimmende belastende und protektive Ereignisse der Biographie fokussiert und in ihrer Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung, Lebensführung und die persönlicher Lebenskunst erfahrbar gemacht werden“ (Petzold, Schay, Sieper 2006, 598-599). „Die multiwissenschaftliche Grundlegung der Integrativen Therapie ist in einem Tree of Science (Leitner 2001) dargestellt, der den Horizont des Wissens über Theorie und Praxis der Psychotherapie skizzieren soll (Petzold 1991k)“ (Schuch 2001, 4).
Der „Tree of Science” (Petzold 1988n, 2002a) ist ein ordnender und gleichzeitig offener Überbau für Theorien, die für die Praxis entscheidend sind. „Das Strukturgerüst des „Tree of Science“ fördert und unterstützt das theoriegeleitete, forschungsgegründete und methodenbewußte Integrieren“ (Ebert, Könnecke-Ebert 2004, 184). Mit dem „Tree of Science“ ist eine Unterteilung in vier Bereiche geschaffen, nämlich in 1. die Theorien großer Reichweite, die Metatheorien: Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Kosmologie, Anthropologie, Gesellschaftstheorie, Ethik, Ontologie und Neurobiologie, 2. die Realexplikativen Theorien wie die Allgemeine Theorie der Beratung und Therapie, pädagogische Konzepte, Psychotherapieforschung, Persönlichkeitstheorie, Entwicklungstheorie, Gesundheits- und Krankheitslehre, Theorien der Institutionen, Praxisfelder und Zielgruppen, 3. die Praxeologie wie die Prozeßtheorien, Interventionslehre, Theorie der Settings, Theorien zu spezifischen Feldern, Formen der Beratung und Therapie: Fokal-, Kurzzeit-, Langzeittherapie, intermittierende Karrierebegleitung, Lehre von den Methoden, Techniken, Medien, Theorien über kritische Lebensereignisse, protektive Faktoren, Resilienzen, Copingstile, Ressourcen und Potentiale und 4. die Praxis in Dyaden, Gruppen, in Organisationen und Institutionen, in verschiedenen Feldern, in verschiedenen Patienten- und Klientensystemen, in Netzwerken und Sozialräumen (vgl. ebenda). Um den Ansatz der Integrativen Therapie für die Praxis der medizinischen und sozialen Rehabilitation handhabbar zu machen, gehen wir in unserer Arbeit nicht speziell auf die philosophische Therapeutik ein, sondern begrenzen uns auf die wesentlichen Konzepte in der Behandlung Drogenabhängiger (Persönlichkeitstheorie, Gesundheits- und Krankheitsverständnis) – so wie sie auch von den Leistungsträgern mit der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen vom 04.05.2001 vorgegeben werden – und orientieren uns an den Ergebnissen der Therapieforschung (vgl. Pkt. 2.3).
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6 Integrative Therapie
6.1 Persönlichkeitstheorie/Gesundheits- und Krankheitsverständnis der IT Persönlichkeitstheorie Die Integrative Therapie betrachtet die Persönlichkeit eines Menschen im Sinne einer „Psychologie der Lebensspanne“, dem „life developement approach“ (vgl. Petzold 1999b), in der die Ressourcen, protektiven Faktoren und Resilienzen zu berücksichtigen sind. Die Persönlichkeit des Menschen entwickelt sich in einem lebenslangen synergetischen Prozeß in Beziehungen, Kontexten und Zeiträumen. „Die Persönlichkeit eines Menschen entsteht durch die Gesamtheit aller positiven, aller negativen und aller Defiziterfahrungen“ (Petzold 2004, 523). Da wir es in der Drogenhilfe häufig mit Patienten zu tun haben, deren Lebensentwürfe gescheitert sind, müssen in der Therapie Möglichkeiten eröffnet werden, hoffnungsvolle Perspektiven zu entwickeln. In der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger ist dabei zu berücksichtigen, „daß Identität ... nicht nur dadurch gewonnen (wird), daß ich mich mit meiner Geschichte ... (identifiziere), sondern ... auch (mit) meinen Zukunftsstrebungen: meinen Hoffnungen, ... Plänen, ... Lebensentwürfen“ (ebenda, 524). In ihrer Persönlichkeitstheorie hat die Integrative Therapie drei wichtige Perspektiven bzw. Dimensionen der Persönlichkeit (vgl. ebenda, 525): der Mensch wird als „archisches Leib-Selbst“ geboren, d.h. der Mensch hat noch kein Ich, noch keine persönliche Identität, sondern sein Organismus ist mit der Fähigkeit ausgestattet, wahrzunehmen (perzeptiver Leib), sich zu erinnern (memorativer Leib) und auf das wahrgenommene zu reagieren (expressiver Leib). Diese Grundmöglichkeiten des Wahrnehmens, Erinnerns und Ausdrückens „können im ... Entwicklungs- und Sozialisationsprozeß gefördert und/oder beeinträchtigt werden. ... Das archaische Leib-Selbst entwickelt aus (diesen) Fähigkeiten ... das Ich“ (ebenda, 525). Wird in der Lebensspanne eines Menschen die Entwicklung der IchFunktionen zu einem kohärenten Ich beschädigt, kann sich kein starkes Ich ausbilden und wir haben es in der Therapie mit einem fragmentierten Selbst, mit einem schwachen Ich zu tun. Um nun die Ich-Entwicklung zu fördern, muß
6.1 Persönlichkeitstheorie/Gesundheits- und Krankheitsverständnis der IT
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„das Ich reif und kompetent (werden), (um) das Selbst zu erkennen. ... Identität wird aufgebaut durch die Tätigkeit des Ichs. Und in diesem Prozeß der Identitätsbildung, die durch die Zuweisung aus dem Umfeld geschieht, welche ich erkenne, kognitiv einschätze (appraisal) und emotional werte (valuation) und verinnerliche (internalisation), ... wächst das „archaische Leibselbst“ zum „reifen Leibselbst“. Das „reife Leibselbst“ verfügt über ein gut arbeitendes Ich und eine prägnante Identität. ... 1. Identität ist, daß ich mich selbst erkenne und einschätze (self appraisal) und wertschätze (self valuation). ... 2. Identität ist ..., was mir zugeschrieben wird, was mein soziales Umfeld mir attribuiert, was ich wiederum einschätze (appraisal), emotional bewerte (valuation) und verinnerliche (internalization), was zu „sozialer Identität“ (social identity) führt“ (ebenda, 526). „Selbst, Ich und Identität sind prozessual zu verstehen. Sie werden nicht als einmal entstandene, relativ statische Größen (Instanzen) begriffen, sondern als lebendige, prozessuale Synergien, die in beständiger Interpretationsarbeit, Reflexion von Kontext und Kontinuum, eine flexibel, transversale Identität konstituieren" (Schuch 2001, 9). „Identitätsarbeit ... ist grundlegend für Gesundheit, Krankheit und Persönlichkeitsentwicklung des (Menschen), aber nicht anders zielführend denkbar als im Rahmen kollektiver Arbeit an identitätsstiftenden Kontexten, als in Projekten kollektiver Identitätsarbeit. ... (Dabei) macht der Mensch sich „selbst zum Projekt“ ... mit seinem relevanten sozialen Netzwerk ... . Er hat nämlich erkannt, daß sich seine persönliche Identität in seinem sozialen Kontext realisiert und er für seine Identitätsprozesse auf die Unterstützung und Hilfen seiner Mitmenschen angewiesen ist“ (Petzold 2004, 414).
In der Lebensgeschichte von Drogenabhängigen sind diagnostisch vielfältige Traumatisierungen und fehlende positive Einflüsse gegeben (vgl. Petzold 2004). Diese Aussage wird gestützt durch die Erkenntnisse der verschie12 denen Aspekte der Bindungstheorien . Die gesunde psychische Entwicklung der Persönlichkeit wird wesentlich durch Bezugs-/Bindungspersonen beeinflußt, die die emotionalen Bedürfnisse des heranwachsenden Menschen befriedigen. Werden diese vernachlässigt kann eine soziale Deprivation entstehen, deren mögliche Folgen schwere psychopathologische Auffälligkeiten wie soziale Verelendung, schwere Depressionen und Suchtmittelkonsum sein können. Auch können Schädigungen in der Hirnreifung entstehen. Brisch, Hellbrügge (2006, in: http://www. deutschesfachbuch.de) zeigen in ihren Untersuchungen auf, daß „Kinder 12
Die Autoren verzichten hier bewußt darauf, auf die verschiedenen Ansätze einzugehen, da dies den Rahmen dieser Studie sprengen würde.
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6 Integrative Therapie
für ihre gesunde Entwicklung ... Bindungspersonen (brauchen), die für ihre emotionalen Bedürfnisse verfügbar sind“. Fehlen diese, ist auch eine langfristige Erhöhung der Ausschüttung von Streßhormonen, eine Stagnation der körperlichen Wachstumsprozesse und eine Rückentwicklung bereits erworbener motorischer, kognitiver und psychischer Fähigkeiten die Folge. „Solche Prozesse sind Ursachen für die Entwicklung von schweren psychopathologischen Auffälligkeiten, die wir auch als Bindungsstörungen diagnostizieren“ (ebenda). In den Interaktionen mit den Bindungspersonen erlebt das Kind sich selbst und seine Umwelt, lernt es die Ereignisse kognitiv kennen und gleichzeitig sozial – emotionel zu bewerten, später sie in Sprache zu transferieren. Dabei ist das Kind auf feinfühlige Reaktionen seiner primären Bindungsperson angewiesen, um seine eigenen Kommunikationsfähigkeiten angemessen zu entwickeln. Die Qualität einer Bindung ist das Vertrauen in die Zuwendung (und damit erfolgreiche Beruhigung) der Bindungsperson – aus diesem Vertrauen gegenüber anderen entsteht das Selbstvertrauen. Zu unterscheiden sind folgende Bindungsstile:
sicher gebunden unsicher vermeidend desorganisiert
Mütterliche Feinfühligkeit scheint sehr wichtig für sichere Bindungsstrategien (Zutrauen in die Zuwendungsbereitschaft anderer), väterliche Spieleinfühligkeit für sichere Explorationsstrategien zu sein (vgl. Grossmann et al., 2003). Die kindlichen Bindungserfahrungen haben sehr grundsätzliche Auswirkungen in Adoleszenz und weiterem Leben. Auch die Ergebnisse der Lebenslaufforschung bestätigen, daß „individuelle und soziale Ressourcen und Resilienzen bzw. das Fehlen solcher bei der Krankheitsentstehung eine weitaus höhere Bedeutung ... haben, als man bislang annahm (Osten 2006, 204), aber (frühe) Belastungen nicht zwingend zu (psychischer) Krankheit führen.
6.1.1 Die Fünf Dimensionen der Identität Identität erwächst aus dem Miteinander im sozialen Netzwerk in reziproken Prozessen. Sie entsteht prozessual in der Konvergenz von SelbstIdentifikation/Selbstattribution und Identifizierung durch Fremdattribution sowie deren Bewertung und Verarbeitung.
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Das Identitätserleben ist situationsbezogen aufzufassen. Es vollzieht sich in verschiedenen identitätstragenden Kontexten. Diesen Sachverhalt berücksichtigend unterscheidet die Integrative Therapie Fünf Säulen des Supports, auf denen Identität ruht. Diese Stützpfeiler der Identität werden häufiger als die Fünf Säulen der Identität (vgl. Petzold 1993a) bezeichnet: 1. 2.
3. 4.
5.
Leiblichkeit: das ist mein individueller Leib – das was ich von mir erlebe und nach außen hin verleibliche (mein „sozialer Leib"); Soziales Netzwerk: das ist der soziale Kontext, dem ich zugehöre und der mir zugehört, meine Familie, meine Freunde, meine Kollegen; Arbeit, Leistung, Freizeit: in der ich mich verwirkliche und durch die ich identifiziert werde; Materielle Sicherheiten: mein Besitz, Geld und Güter, aber auch milieu-ökologische Bezüge, mein Haus, meine Heimat, mein Verhältnis zur Natur; Wertorientierungen: weltanschauliche und religiöse Überzeugungen, Sinn konstituierende Systeme.
Die fünf Bereiche stehen in der Zeit, sie haben Vergangenheit (Entstehungsgeschichte) und Zukunft (Entwicklungsperspektiven). Sie weisen aus, wie bedeutsam das Element des Kollektiven für die Identität ist und wie anfällig Identität damit für die Auswirkungen entfremdeter Kollektivität wird, wenn nämlich die aus dem Kontext kommenden Identifizierungen nicht mehr mit Identifikationen belegt werden können; wenn Leib und Kontext nicht mehr konvergieren, sondern in konflikthaften Antagonismus geraten oder auseinanderfallen. Identität erfordert eben beides: Leib und Kontext in interaktiver Synergie. Die fünf Dimensionen konstituieren in ihrem Zusammenwirken Identität auf einer psychisch-leiblichen, funktionalen Ebene, wobei von Mensch zu Mensch die Akzente unterschiedlich liegen können. Ihre Stabilität, Funktions- und Belastungsfähigkeit sind im Rahmen von prozessualer Diagnostik (vgl. Osten 2006) zu berücksichtigen. Explizit oder implizit werden die Fünf Säulen in jeder therapeutischen Begegnung mehr oder weniger angesprochen. Sie gewinnen in und durch die Prozesse in der therapeutischen Beziehung an Prägnanz. Nach dem Persönlichkeits- und Identitätskonzept der Integrativen Therapie lassen sich Traumatisierungen und deren Folgen als Verletzungen im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere der Identitätsentwicklung, verstehen. Insbesondere in den 5 Dimensionen
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6 Integrative Therapie
der Identität sind die Auswirkungen der Symptome der posttraumatischen Belastungsstörungen deutlich festzustellen. Obwohl die Patienten schweren schädigenden Ereignissen ausgesetzt waren, bestätigt sich der Ansatz der IT, daß es salutogene Einflüsse gegeben haben muß, mit denen die Patienten ihr Überleben gesichert haben. Diese gesunden Anteile müssen in der Rehabilitation aufgegriffen und nutzbar gemacht werden. Mit Rückgriff auf die Patientenbeispiele konkretisieren wir die 5 Dimensionen der Identität:
Darstellung des Behandlungsverlaufes anhand der 5 Dimensionen der Identität Die Patienten befinden sich aufgrund ihrer spezifischen Lage in einer ständigen Situation erhöhter Anforderung. Tiefende psychotherapeutische Interventionen können im jeweiligen Behandlungs-/Betreuungskontext emotionalen Streß verursachen, der sie zusätzlich belasten (kann) und in eine Über-forderungssituation versetzen (kann). Entscheidend ist also der Aufbau einer tragenden therapeutischen Beziehung, um ihnen die Chance zu geben, sich in einer Atmosphäre des Vertrauens und des „getragen werden“ eine stützende Umwelt aufzubauen und ihre inneren und äußeren Ressourcen zu fördern. Der Behandlungsverlauf der Patienten wird anhand dieser 5 Lebensbereiche nochmals verdeutlicht, d.h. die Entwicklung von Identität – in ihrer Leiblichkeit, der Entwicklung eines tragenden sozialen Netzwerkes, der beruflichen Integration (Arbeit, Leistung, Freizeit), dem Aufbau von Lebenssinn und -freude und dem Entstehen einer materiellen Sicherheit. Um die Patienten adäquat zu fördern, müssen Bestätigung, Anerkennung und Wertschätzung kontinuierliche Bestandteile der Therapie sein, wodurch der Zugang zu adäquaten Bewältigungsmöglichkeiten bei Angriffen und Verletzungen möglich wird und protektive Faktoren bereitgestellt werden können, die sie bei weiteren Labilisierungen stützen und schützen (können) (vgl. Petzold, Scheiblich, Thomas 2006).
6.1 Persönlichkeitstheorie/Gesundheits- und Krankheitsverständnis der IT
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Leiblichkeit In der Behandlung der Patienten ging es um die Beseitigung von Beeinträchtigungen und Erkrankungen, sowie um die Erhaltung und die Entwicklung von Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit. Patient A Die körperliche Konstitution des Patienten ist gut ausgebildet. Er hat einen athletischen Körperbau, ist 186 cm groß bei einem Gewicht von 70 kg. Das Selbstregulationssystem (vgl. Scheiblich, Petzold 2006) des Patienten und sein körperliches Wohlbefinden sind beeinträchtigt. Insgesamt betrachtet hat der Patient ein deutlich gestörtes Verhältnis zu seiner Leiblichkeit.
Patientin B Die körperliche Konstitution der Patientin ist gut ausgebildet. Sie ist 159 cm groß bei einem Gewicht von 51 kg. Das Selbstregulationssystem (vgl. Scheiblich, Petzold 2006) der Patientin ist dekompensiert und ihr körperliches Wohlbefinden ist beeinträchtigt. Insgesamt betrachtet hat die Patientin ein deutlich gestörtes Verhältnis zu ihrer Leiblichkeit.
Die Patienten konnten den Zusammenhang zwischen Bewegung und dem Spüren und Erspüren des eigenen Körpers gut erkennen. Bislang haben sie es jedoch vermieden, ihre Ziele in der Realität umzusetzen. Konkrete Schritte, wie sich einem Verein anzuschließen oder an einem Fitneßkurs teilzunehmen, scheiterten. Durch die Lauftherapie wird mit den Patienten behutsam eingeübt, sich mit ihrem körperlichen Wohlbefinden auseinanderzusetzen und sich Möglichkeiten der Streßregulation zu eröffnen.
zu A + B
Soziales Netzwerk Die Patienten haben durch JVA-Aufenthalte (A) und/oder desolate Lebenssituationen (A und B), und Drogenabhängigkeit in sozialer Isolation und Kontaktlosigkeit gelebt. Von daher wird in der Behandlung ein Fokus auf den Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzwerkes gelegt, was bedeutet, die Patienten in ihren Möglichkeiten der Kontakt- und Beziehungsfähigkeit zu fördern und zu stärken.
zu A + B
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6 Integrative Therapie
Patient A Der Patient hat kein soziales Stützungssystem. Der Patient entwickelt zunächst gute Kontakte in der Einrichtung und freundet sich mit 2 Mitpatienten an. Über die Zeit kann er keine Beziehungskontinuität entwickeln. Außerhalb der Einrichtung fällt es ihm schwer, auf andere Menschen zuzugehen, Kontakte zu knüpfen und zu halten. Nur mühsam wird dem Patienten bewußt, daß eine altersgerechte und aktive Beziehungsgestaltung von entscheidender Bedeutung für das Erreichen seiner Ziele ist. Der Patient wird immer wieder von starken Gefühlen der Kränkung und Entwertung seiner Person überflutet, wodurch der Verlauf seiner Behandlung gefährdet ist. Um einen Behandlungsabbruch zu verhindern, müssen mit dem Patienten auf der kognitiven Ebene Verhaltensalternativen erarbeitet werden, die er einhalten kann und von denen er sich nicht überfordert wird. In behutsamen Schritten lernt der Patient ansatzweise seine sozialen Kompetenzen zu verbessern, scheitert jedoch an der Umsetzung in seinem Alltag.
Patientin B Die Patientin hat eine feste Partnerschaft mit dem Vater ihres jüngsten Kindes. Es besteht Kontakt zu der Mutter ihres Partners und ihrer ältesten Tochter, die in einer Wohngruppe in Mannheim lebt. Des weiteren hat sie Kontakt zu ihrer Halbschwester, die ebenfalls in Süddeutschland lebt. Die Patientin entwickelte gute Kontakte zu den Mitarbeitern und Patienten in der Einrichtung. Während einer Qualifizierungsmaßnahme als Ruhrgebietstouristikkauffrau konnte sie einige neue Kontakte aufbauen. Im Kontaktverhalten ist sie eher oberflächlich und wenig beziehungsfähig. Menschen sind für sie austauschbar. In der derzeitigen Beschäftigung in einem Herner Cafe konnte sie eine intensivere Beziehung zu einer Arbeitskollegin aufbauen. Zu den Mitpatienten baute sie oberflächliche Kontakte auf. Ein intensiverer Kontakt entstand zu einem Mitpatienten. Als dieser rückfällig wurde, hatte sie erhebliche Probleme, Grenzen zu setzen und ihre selbst formulierten Ziele aufrecht zu erhalten. Im Verlauf der Behandlung lernt die Patientin zunehmend besser ihre Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen und zu artikulieren.
6.1 Persönlichkeitstheorie/Gesundheits- und Krankheitsverständnis der IT
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Arbeit, Leistung, Freizeit Patient A Die Leistungsbereitschaft des Patienten ist ambivalent, seine Fähigkeiten werden von ihm deutlich überschätzt. Durch seine Praktika und die Übernahme von Verantwortlichkeiten in der Patientengruppe soll er in der Adaptionseinrichtung in seinen Kompetenzen behutsam gefördert werden. Die externen Praktika verlaufen negativ. Der Patient wird den Leistungsanforderungen der Betriebe nicht gerecht und zeigt sich in den Gesprächen mit den Praktikumsgebern überfordert und reagiert mit Rückzug und Rückfälligkeit. Die Praktikumsgeber vermitteln, daß der Patient zunächst gut und zuverlässig arbeite, sich körperlich belastbar zeige, in seiner Konzentrationsfähigkeit jedoch schwankend und zu „verbissen“ sei. Ihm müsse vieles mehrfach erklärt werden, er sei nur bedingt in der Lage selbständig zu arbeiten. Auf Kritik reagiere er uneinsichtig und abweisend. Mit Leistungsdruck könne er nicht umgehen. Insgesamt werde er den betrieblichen Anforderungen nicht ausreichend gerecht. Der Patient wird zum Ende der Behandlung, nachdem zwei Betriebspraktika abgebrochen werden mußten, in einer gemeinnützigen Institution tätig (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandentschädigung, sog. 1-Euro-Job), wo er im Bereich Haushaltsauflösungen und Möbeltransporte eingesetzt wird. Hier hat die Möglichkeit, sein Leistungsvermögen und seine Arbeitskontinuität langsam zu verbessern, sowie seine Leistungsfähigkeit zu stabilisieren. Auch hier ist er letztlich nicht in der Lage, den Anforderung an Arbeit und Leistung kontinuierlich gerecht zu werden. Er kommt morgens zu spät, fehlt des Öfteren unentschuldigt und ist in seiner Leistungsbereitschaft sehr wechselhaft. In Folge wiederholter Rückfälligkeit und des Betreuungsabbruches wird das Beschäftigungsverhältnis gekündigt. In seinem Freizeitverhalten zeigt sich ähnliches: Der Patient ist nicht in der Lage, kontinuierlich formulierten Interessen nachzugehen.
Patientin B Die Patientin hat den Hauptschulabschluß. Eine Ausbildung zur Bürokauffrau brach sie aufgrund ihrer ersten Schwangerschaft nach zwei Jahren ab. In der Folgezeit übte sie verschiedene Hilfsarbeitertätigkeiten, u.a. als Verkäuferin aus. Die Patientin absolvierte in 2004 eine Qualifizierungsmaßnahme als Ruhrgebietstouristikkauffrau mit Erfolg. Leider fand sie keine Lehrstelle. Seit Oktober 2004 ist sie in einem Herner Cafe als geringfügig Beschäftigte angestellt. Nach Rücksprache mit dem Arbeitgeber ist die Patientin motiviert, leistungsorientiert und verantwortungsbewußt. Sie wird von dem Arbeitgeber und ihren Kollegen geschätzt.
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Materielle Sicherheit Patient A Der Patient verfügt in der Adaptionseinrichtung über Übergangsgeld und zeigt sich in der Lage, mit seinem Taschen- und Verpflegungsgeld gut hauszuhalten. Er kann den Einkauf für die gesamte Woche gut planen und organisieren. Er neigt jedoch dazu, sein Übergangsgeld für Gegenstände auszugeben (Stereoanlage, Kleidung), die ihm vermeintlich Anerkennung verschaffen. Nach seiner Entlassung lebt er von Arbeitslosengeld II und hat zunehmend Schwierigkeiten, mit dem zur Verfügung stehenden Geld auszukommen, da er „maßlose“ Konsumansprüche entwickelt. Die materiellen Probleme verschärfen sich in Folge seiner Rückfälligkeit.
Patientin B Die Patientin kann mit dem ihr zur Verfügung stehenden Geld gut wirtschaften. Sie hat Schulden in Höhe von insgesamt 10.000 Euro, die mit Hilfe des von Weizsäcker Fonds in Hamm durch ein Darlehen reguliert werden. Sie zahlt die monatlichen Raten an die Stiftung pünktlich und regelmäßig. Ein Gesamtsanierung ist bis 2007 realisierbar.
Werte, Normen, Religionen, Sinnstrukturen Patient A Der Patient verfügt über ein diffuses Wertesystem, da er aufgrund seines biographischen Hintergrundes hier nie klare Zuordnungen kenngelernt hat. Er wird geleitet von einem Gefühl der inneren Leere und Orientierungslosigkeit. Einen verbindlichen Lebenssinn hat er für sich noch nicht entdeckt. Vertrauen und Ehrlichkeit sind ihm besonders wichtige Werte. Er wünscht sich „sozial verwurzelt“ zu sein und geliebt zu werden. Als Ziele sieht er für sich, eine zufriedenstellende Arbeit zu finden und andere Menschen kennenzulernen. Er wünscht sich einen guten Freund, mit dem er etwas unternehmen kann. In Folge wiederholter Rückfälligkeit erkennt der Patient, daß er zu einer abstinenten Lebensführung nur fähig ist, wenn er Möglichkeiten des Umgangs mit Suchtdruck entwickelt und sich ggf. adäquate Hilfe einfordert. Er müsse sich bei-
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spielsweise regelmäßig sportlich betätigen, um für sich zu lernen, innere Spannungszustände regulieren zu können. Nach Abschluß der Adaptionsbehandlung wird der Patient in einer von der Einrichtung angemieteten Wohngemeinschaft im Rahmen des betreuten Wohnens weiterbetreut. In diesem „loseren“ Betreuungskontext vernachlässigt der Patient bereits nach kurzer Zeit ihm wichtige Werte und Normen. Der Patient entwickelt deutlich überhöhte Ansprüche hinsichtlich seiner beruflichen Situation. Im Umgang mit Mitpatienten und seinem Bezugstherapeuten ist er leicht kränkbar. Er will seine Ziele in kürzester Zeit erreichen und ist mit der Gestaltung seines Alltages überfordert. Er „verliert“ sich in seinem Anspruchsdenken und ist nicht mehr in der Lage strukturierende Vorstellungen (z.B. hinsichtlich seiner beruflichen Integration) zu entwickeln. Insgesamt ist er ist mit einer selbständigen Lebensführung in weiten Teilen überfordert. Sein nach Abschluß der Adaptionsbehandlung hoffnungsvoller Lebenssinn wird zunehmend getrübt.
Patientin B Die Patientin ist religiös erzogen. Obwohl ihr Wertesystem auch durch ihre Suchtmittelabhängigkeit geprägt wurde, findet sie Halt und Zuversicht in ihrem Glauben. Sinn und Halt im Leben geben ihr zusätzlich ihre Kinder, wobei sie allmählich auch Sinn in ihrem Leben unabhängig von ihren Töchtern sieht. Sie entwickelt zunehmend eine eigenständige Lebensweise mit Arbeit und eigenem Geld und löst sich aus ihren Abhängigkeiten.
6.1.2 Gesundheits- und Krankheitsverständnis „Die Integrative Persönlichkeitstheorie mit ihrer differenzierten entwicklungstheoretischen Fundierung ... bildet die Grundlage der Integrativen Gesundheits- und Krankheitslehre“ (Petzold 2002b, 89). „Grundsätzlich werden Gesundheit und Krankheit (in der Integrativen Therapie) als zwei Dimensionen menschlicher Existenz angesehen. Dementsprechend werden anamnestisch nicht nur pathogene, sondern immer auch salutogene, d.h. insbesondere schützende, unterstützende und fördernde Faktoren in den Blick genommen. ...
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Die IT sieht den Menschen programmatisch in der Lebensspanne. Krankheit wird immer multifaktoriell und lebenslaufbezogen gesehen. ... Das Verständnis von Pathogenese ist insbesondere durch die Perspektive einer lebenslangen, differentiellen Entwicklungspsychologie geprägt, wie es z.B. neuere Ansätze der Entwicklungs- und Emotionstheorie sowie empirische Streß- und Longitudinalforschung nahe legen. Schädigungen können dieser Ansicht zufolge zu jedem Zeitpunkt im Lebensverlauf eintreten. Sie können insbesondere dann pathogen wirken, wenn sie auf entsprechende Prävalenzen treffen und keine ausreichende Kompensation oder Substitution zur Entlastung verfügbar sind, entwickelt werden oder zur Wirkung kommen können“ (Schuch 2001, zitiert nach: www.hwschuch.de (Wissen; Psychotherapie), 12.10.2006).
Der Gesundheits- und Krankheitsbegriff wird neben der individuellen Bewertung in hohem Maße von den soziokulturellen Kontexten bestimmt. Diese beteiligen sich mit ihren spezifischen Bewertungen und Ausdifferenzierungen daran, festzulegen, was als gesund oder krank, was als Arbeits- und Erwerbsfähigkeit oder -unfähigkeit gilt. Damit ist eine Festlegung auf ein Krankheitsmodell zeitgebunden, vorläufig und eingebunden in Ko-respondenzprozesse. „Gesundheit wird als eine subjektiv erlebte, bewertete und zugleich external wahrnehmbare und bewertende, genuine Qualität der Lebensprozesse im Entwicklungsgeschehen des Leib-Subjekts und seiner Lebenswelt gesehen. Der gesunde Mensch nimmt sich selbst, ganzheitlich und differentiell, in leiblicher Verbundenheit mit seinem Lebenszusammenhang (Kontext und Kontinuum) wahr. Im Wechselspiel von protektiven und Risikofaktoren, d.h. fördernder und entlastender Stilbildung, entsprechend seiner Vitalität/Vulnerabilität, Bewältigungspotentiale, Kompetenzen und Ressourcenlage ist er imstande, kritische Lebensereignisse bzw. Probleme zu handhaben, sich zu regulieren und zu erhalten. Auf dieser Grundlage kann er seine körperlichen, seelischen, geistigen, sozialen und ökologischen Potentiale ko-kreativ und konstruktiv entfalten und so ein Gefühl von Kohärenz, Sinnhaftigkeit, Integrität und Wohlbefinden entwickeln" (vgl. Petzold 1993b, 553; 1998a), wobei in der Regel auch ein guter immunologischer und physischer Gesundheitszustand (Salutophysiologie) vorhanden ist“ (Petzold, Steffan 2000, 80).
Um seine Gesundheit erhalten zu können, braucht der Mensch „anregende und fördernde qualitativ und quantitativ ausgewogene multiple Stimulierung“ (ebenda). Krankheit und Gesundheit können nicht isoliert voneinander betrachtet werden, da die Persönlichkeit eines Menschen das Resultat aller positiven, negativen und Defiziterfahrungen ist. „Es wird davon ausgegangen, daß pathogene Schädigungen und salutogene, heilende Wirkungen an jeder Stelle des Lebensverlaufes eintreten können“ (ebenda).
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„Krankheit wird in einer generellen Sicht in der Integrativen Therapie verstanden als eine mögliche Qualität gesellschaftlich bewerteter Lebensprozesse ... . Sie kann im Verlauf des Lebens durch exogene Ketten schädigender Ereignisse, die das Bewältigungspotential und die Ressourcenlage des Individuums überlasten, verursacht werden oder/und durch endogene Dysregulationen und natürliche Abbauerscheinungen. Die Folge ist, daß die gesunden Funktionen des Organismus, die Fähigkeit der Person zur ... kokreativen Entfaltung des Lebens in Kontext/Kontinuum mehr und/oder weniger beeinträchtigt, gestört, außer Kraft gesetzt werden, irreversibel verloren gehen können ... . Damit verbunden können internal subjektive Dissonanzen zum vertrauten Gefühl eigenleiblich gespürter Gesundheit entstehen, sowie external perzipierbare Abweichungen von konsensuell stabilisierten Erscheinungsbildern gesunder körperlicher, geistiger und sozialer Lebensprozesse erkennbar werden. ... Pathogenese wird im Integrativen Ansatz immer multifaktoriell und lebenslaufbezogen gesehen und kann zur Ausbildung spezifischer Störungs- und Krankheitsbilder führen“ (Petzold, Steffan 2000, 81).
Das Schaubild zur multifaktoriellen Genese von Gesundheit und Krank13 heit (Petzold,Steffan 2000, 82) verdeutlicht, daß sich das „klinische Gesundheits- und Krankheitsverständnis" der Integrativen Therapie auf die „multiplen pathogenen Stimulierungen" wie Überstimulierung (Trauma), Unterstimulierung (Defizit), inkonstante Stimulierung (Störung), widerstreitende Stimulierung (Konflikt), die Gesundheitslehre auf „salutogene Stimulierung" und „protektive Faktoren" bezieht (vgl. Petzold, Goffin, Oudhoff 1993); d.h. alle Bereiche der Persönlichkeit (ICH, SELBST und IDENTITÄT) können betroffen sein.
6.1.3 Protektive Faktoren Die menschliche Persönlichkeit – die gesunde und die kranke – wird geprägt von der „Gesamtheit aller positiven, negativen und defizitären Einflüsse des Lebensverlaufs“ (Petzold et al. 1993, 173). Im Gesundheitsverständnis der Integrativen Therapie sind die protektiven Faktoren von erheblicher Bedeutung, wobei es nicht um einzelne Faktoren, sondern um protektive Prozesse geht. Protektive Faktoren haben bei der Erklärung von Salutogenese und Pathogenese entscheidende Bedeutung; mit ihnen kann der Therapeut erkennen, „mit welchen Strategien ... (der Patient) Überforderungen und Belastungen ... (bewältigen kann) und welche Langzeitfolgen diese Strategien haben“ (ebenda, 13
Schaubild zur multifaktoriellen Genese von Gesundheit und Krankheit (Petzold,Steffan 2000, 82), siehe: www.therapieverbund-herne.de
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181). Dabei ist zu unterscheiden zwischen „internalen Faktoren im Sinne einer individuumsbezogenen Bewältigungskompetenz und externalen Faktoren im Sinne ... familiendynamischer und sozialer Einflüsse“ (ebenda, 182). Bei ausreichend protektiven Faktoren verfügen die Patienten über Anpassungsfähigkeit an schwierige und widrige Situationen, d.h. sie haben die Chance, Belastungssituationen gesund zu überstehen. „Protektive Faktoren sind einerseits – internal – Persönlichkeitsmerkmale und verinnerlichte positive Erfahrungen, andererseits – external – spezifische und unspezifische Einflußgrößen des sozioökologischen Mikrokontextes (Familie, Freunde, significant caring adults, Wohnung), Mesokontextes (Subkultur, Schicht, Quartier, Region) und Makrokontextes (übergreifende politische und sozioökonomische Situation, Zeitgeist, Armuts- bzw. Krisenregion), die im Prozeß ihrer Interaktion miteinander und mit vorhandenen Risikofaktoren Entwicklungsrisiken für das Individuum und sein soziales Netzwerk weitgehend vermindern. Sie verringern Gefühle der Ohnmacht und Wertlosigkeit und gleichen den Einfluß adversiver Ereignisse und Ereignisketten aus bzw. kompensieren ihn. Sie fördern und verstärken aber auch als salutogene Einflußgrößen die Selbstwert- und Kompetenzgefühle und -kognitionen sowie die Ressourcenlage und 'supportative Valenz' sozioökologischer Kontexte (Familie, Schule, Nachbarschaft, Arbeitssituation), so daß persönliche Gesundheit, Wohlbefinden und Entwicklungschancen über ein bloßes Überleben hinaus gewährleistet werden. ... Ein solches multifaktorielles und transaktionales Modell, das nicht nur auf die Verminderung von Risiken und Verhinderung von Schäden, sondern auch auf Entwicklungsförderung abstellt, eröffnet ... interventive Perspektiven, die Möglichkeiten bieten, über das Bereitstellen protektiver Beziehungen, supportiver Netzwerke und fördernder Umwelten nachzudenken und reparative Perspektiven überschreitend, Entwicklungsziele in den Blick zu nehmen" (ebenda, 185).
Das Schaubild von Petzold et al. (1993, 243) verdeutlicht die Verbindung von positiven, negativen und defizitären Ereignissen im Lebenszusammenhang“:
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Durch das entwicklungs- und gesundheitsfördernde Potential protektiver Faktoren entwickelt der Patient im konkreten Lebenszusammenhang Schutzfunktionen, die es ihm ermöglichen, Risikofaktoren (Traumata, Defizite, Konflikte) abzuschwächen und diese so einzusetzen, daß sie „Entwicklungs- und Wachstumsprozessen zugute kommen“ (ebenda, 212).
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Um diese Entwicklungs- und Wachstumspotentiale der Patienten in unserer therapeutischen Praxis nutzen zu können und ihnen eine hoffnungsvolle (Lebens-) Perspektive zu ermöglichen, sind die „stimmige Interaktion mit emotional bedeutsamen Bezugspersonen ... als zentraler salutogener Einfluß und protektiver Faktor“ (ebenda, 220) und eine Atmosphäre des aufeinander Bezogenseins notwendig.
6.1.4 Dynamische Regulation „Psychotherapie will „Lernen in unterschiedlichen Lernarten und auf allen Ebenen ermöglichen, der Ebene intellektueller Fähigkeiten, emotionaler Differenziertheit, der Willensqualitäten, der interaktiven/kommunikativen Performanz, der Fertigkeiten. ... Lernen ist das Feststellen von Differenzen im Kontext/Kontinuum-Bezug des Menschen aufgrund von bewußten, mitbewußten und unbewußten Prozessen des Wahrnehmens/Erkennens, d.h. mnestischen Leistungen des ‚impressiven‘ Kurzzeitgedächtnisses und ‚depositiven‘ Langzeitgedächtnisses (Petzold 1968b), das die Neuorganisation von M u s t e r n (N. Bernstein) – physiologischen, motorischen, emotionalen, volitionalen, kognitiven, kommunikativen – ermöglicht und die Regulation von Freiheitsgraden des Verhaltens bestimmt“ (Scheiblich, Petzold 2006, 482f).
Das Regulationskonzept der Integrativen Therapie geht von den Grundposition aus, daß der Mensch aktiv-kreativ und nicht nur adaptiv ist; er von erfahrenen Einflüssen/Lernerfahrungen, Gegenwartseinflüssen/ Lernprozessen und Zukunftsentwürfen/Plänen und Zielen bestimmt wird (vgl. ebenda, 484). Ausgehend von den neurobiologischen Grundlagen des Organismus entwickeln sich dynamische Regulationsprozesse, die das Regulationssystem bilden. Unter Regulationskompetenz verstehen wir hier die Steuerprogramme der Regulationsprozesse; unter Regulationsperformanz den Vollzug von Regulationsprozessen. „Beides ermöglicht im Regulationssystem die grundsätzliche Fähigkeit des Organismus ... in verschiedenen Bereichen Abläufe zu steuern“ (ebenda, 485). „Die Regulationskompetenz und -performanz gewährleisten von Geburt an die „Lebens-/Überlebensprozesse des Individuums durch die Bereitstellung einer Stabilität in den Organismus/Umwelt-, Mensch/Mitmensch-Interaktionen (und) ... erforderliche ... Anpassungsleistungen“ (ebenda, 486).
Für die neurobiologischen Regulationsprozesse hat der Drogenkonsum massive Auswirkungen; in dem er „unmittelbar in das Transmittergeschehen an den Synapsen eingreift“ (ebenda, 486). Da bei Heranwach-
6.1 Persönlichkeitstheorie/Gesundheits- und Krankheitsverständnis der IT
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senden eine höhere Plastizität der Regulationssysteme gegeben ist, ist einerseits das Schadensrisiko junger Drogenkonsumenten deutlich erhöht. Da aber andererseits die Plastizität der Regulationsysteme auch bei Schädigungen durch biographische Belastungen erhalten bleibt, sind gute Möglichkeiten für eine erfolgreiche Therapie gegeben, wenn die noch vorhandene Regulationskompetenz durch entsprechende angemessene Angebote unterstützt und gefördert wird. Der hier kurz dargestellte Integrative Ansatz der dynamischen Regulation muß „letztendlich allen psychotherapeutischen, sozio- und kreativitätstherapeutischen und milieutherapeutischen Maßnahmen zu Grunde“ (ebenda, 489) liegen.
7 Behandlungsgrundlagen der IT
Auf die Beschreibung der Therapieziele im Integrativen Verfahren (vgl. Petzold 2005s) auf der Basis des bio-psycho-sozialen Modells werden wir hier nicht im einzelnen eingehen. Anschaulich verdeutlicht werden die Ziele der Integrativen Therapie mit dem Schaubild von Petzold (2005s, 319):
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7 Behandlungsgrundlagen der IT
7.1 Die vier Wege der Heilung und Förderung Die für die Integrative Therapie „charakteristische, mehrdimensionale Behandlungsorientierung wird in besonderer Weise durch die „vier Wege der Heilung und Förderung“ gewährleistet, die höchst flexibel Möglichkeiten bieten, auf die Lebenslage und Krankheitssituation von Patienten unter Berücksichtigung ihrer Probleme, Ressourcen und Potentiale unter Berücksichtigung von Pathogenese- und Salutogeneseorientierung (Lorenz 2004, Petzold 2003a) einzugehen. ... Das optimale Zusammengehen der „Modalitäten“ schafft vielfältige Entwicklungs- und Heilungschancen“ (Petzold 2005s, 295f). Die Wirksamkeit dieser Vorgehensweise zeigt sich „in einer hohen Flexibiltät der prozessualen Handhabung von Beziehungsdynamik, Situationsgegebenheit und Krankheitsgeschehen“ (ebenda, 307). Diese Zugänge werden in der IT gewählt, um mit den Menschen Wege der Heilung und Förderung über die Lebensspanne zu finden, wobei Heilen im kurativen, klinischen Sinn verstanden wird. Die Differenzierungen der Schädigungen, die im Rahmen der Krankheitslehre vollzogen werden, verlangen nach unterschiedlichen Wegen der Heilung, Strategien der Behandlung mit pragmatischer Ausrichtung, durch die die anvisierten Ziele erreicht werden können. Zur Verdeutlichung stellen wir im folgenden die „Sinndimensionen“ der „vier Wege der Heilung und Förderung“ bezogen auf den Kontext der Behandlung von traumatisierten und suchtmittelabhängigen Menschen zusammenfassend dar: Erster Weg der Heilung: Bewußtseinsarbeit – Sinnfindung Differenzierung – Komplexität, Dissens • Herstellung von Kontakt • Aufbau einer Vertrauensbasis • Explorieren der Problemlage Dieser Weg zielt ab auf eine Aufdeckung von verdrängten Störungen, Konflikten und – dosiert – Traumata und Defiziten. Zweiter Weg der Heilung: Differenzierungsarbeit – Nachsozialisation – Grundvertrauen Strukturierung – Prägnanz, Konsens • Erfassen alter Strukturen • rationales Verstehen
7.1 Vier Wege der Heilung und Förderung
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Es geht um Nachsozialisation zur Restitution von Grundvertrauen und die Wiederherstellung von Persönlichkeitsstrukturen, die durch Defizite (und Traumata) beschädigt bzw. mangelhaft ausgebildet wurden. Der Patient soll die Funktion, Wirkung und den anfänglichen früheren „Sinn“ des Suchtmittels zu erkennen. Es geht um Einsichts- und Entscheidungsprozesse, das Erarbeiten persönlicher Normen und Werte; thematisiert werden sollen u.a. auch Erwartungen an den zukünftigen Lebensstandard, die Arbeitsmotivation, den weiteren Lebenshorizont. Viele dieser Themen werden zunächst in der Einzeltherapie bearbeitet, wo der Patient dann auch ermuntert wird, sich anderen Menschen, denen er Vertrauen schenken möchte, diesbezüglich mitzuteilen. So wird „Beziehung erfahren und geübt“. Dritter Weg der Heilung: Erlebnis- und Ressourcenaktivierung – Persönlichkeitsentfaltung Integration – Stabilität, Konzepte • vertiefendes Verstehen • Einordnung in den (Lebens-)Kontext Ziele sind das Ressourcenpotential zu vergrößern, die Ressourcennutzung zu verbessern sowie die Kompetenzen und Performanzen des Copings und Creatings zu fördern. Der Einsatz von erlebnisaktivierenden Methoden, Techniken und Medien und übender behavioraler Ansätze erschließen die Entwicklungspotentiale der Persönlichkeit, so daß Entwicklungsaufgaben erkannt, gemeistert und zukunftsbezogene Handlungsspielräume zugänglich werden. Es geht um die Entwicklung persönlicher und gemeinschaftlicher Potentiale wie Kreativität, Phantasie, Sensibilität usw. durch Bereitstellung einer „fördernden Umwelt" mit neuen und/oder alternativen Beziehungs- und Erlebnismöglichkeiten. Mittel hierzu sind Erlebnisaktivierung und multiple Stimulierung in der erlebnis- und übungszentrierten Modalität der kreativen Therapie und das gezielte Einbeziehen des Alltagslebens als Experimentierfeld. In der erlebnisaktivierenden Arbeit werden gute Quellen der Vergangenheit erschlossen und neu durchlebt. Es wird systematisch darauf hingearbeitet, das Alltagsleben als Lern-, Experimentier- und Übungsfeld zu benutzen. Erfolge und Mißerfolge in der Therapie erweisen sich erst in der Veränderung von Verhalten und von Haltungen im Alltagsleben. Im Schutzraum des therapeutischen Settings können zunächst in spieleri-
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7 Behandlungsgrundlagen der IT
scher Improvisation alle Möglichkeiten des Ausdrucks erprobt und genutzt werden. Vierter Weg der Heilung: Solidaritätserfahrung – Metaperspektive und Engagement Kreation – Transgression, Kooperation • aus dem Wahrgenommenen und Verstandenen sowie den rationalen Einsichten werden Konsequenzen gezogen, um den (Lebens-)Kontext zu verändern • Überschreitung zu Neuem Ziele sind die Förderung von persönlicher Souveränität und gesundheitsfördernder, persönlichkeitsentwickelnder Potentiale. Das Wissen über Traumata, Konflikte, Störungen, zeitextendierte Überlastungen, d.h. Erfahrungen von Formen psychophysischen Stresses, des „Copings” und des „Creatings” in der gesamten Lebensspanne als das Zusammenwirken von kritischen bzw. belastenden Lebensereignissen mit ggf. abwesenden oder unzureichenden protektiven Faktoren/Prozessen und Resilienzen sind grundlegend für die Praxis. Dieses Wissen bestimmt die diagnostische Sicht auf Störungen und Beeinträchtigungen, aber auch für vorhandene oder aktualisierbare Ressourcen und Potentiale.
7.2 Die 14 therapeutischen Wirkfaktoren Für die Integrative Therapie ist die Effektivitätskontrolle der Maßstab für die optimale Versorgung der Patienten, d.h. die Linderung seiner Leidenszustände, die Minderung seiner Beschwerden und seine Gesundung, die Förderung aktiven Gesundheitsverhaltens, die Unterstützung bei der Bewältigung von Lebensproblemen und Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit (vgl. Petzold et al. 2000). Weitere wichtige Aspekte sind die Verbesserung der Lebensqualität und die Förderung von Persönlichkeitsentwicklung. Dabei gilt es, habitualisierte Verhaltensmuster und dysfunktionale Muster der Übertragung und des Widerstands des Patienten wahrzunehmen, zu erfassen, zu verstehen und zu erklären, um sie beeinflussen und verändern zu können. Besonders wichtig ist es, seine spezifischen persönlichen Fragen nach Hilfe, Unterstützung, Förderung zu erfassen, um diese maßgeblich in der Therapie zu berücksichtigen (vgl. ebenda).
7.2 Vierzehn therapeutische Wirkfaktoren
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Von Schigl (2002) wurde eine Evaluationsstudie zu den Wirkungen und Wirkfaktoren in der Integrativen (Gestalt-) Therapie durchgeführt. Als Wirkfaktoren im Therapieprozeß dominierten Eigenschaften und Fähigkeiten des Therapeuten wie Einfühlsamkeit, Wärme, Geduld, Hilfe, Empathie, zum Vertrauen in dessen Kompetenz und Wissen etc.. Weitere wirksame Elemente waren als spezifische Wirkfaktoren interpretierbare integrativ-gestalttherapeutische Methoden und Techniken. Bedeutsam waren auch allgemeine unspezifische therapeutische Haltungen und Methoden wie Akzeptanz, Ermutigung, Selbstreflexions- und Selbstwertförderung, sowie die Dimension der gezielten Auseinandersetzung mit Emotionen, vor allem die Unterstützung beim Zulassen unbequemer Gefühle wie Angst oder Wut. Positive Gruppenerfahrungen und die Auseinandersetzungen mit der persönlichen Vergangenheit (Familienbeziehungen) waren weniger bedeutsam. Die von Petzold entwickelten vier Wege der Heilung und Förderung (vgl. 7.1) als charakteristische Orientierung in der Behandlung beinhalten feiner differenziert als Prozeß-Strategien die 14 Wirkfaktoren (vgl. Petzold 1992) in der Integrativen Therapie. Je nach Fokus und abhängig von der aktualen Problemlage und dem Krankheitsbild werden die einzelnen Faktoren in unterschiedlicher Weise einzusetzen sein: Einfühlendes Verstehen Korrigierende emotionale Erfahrungen des Miteinanders wirken als Gegenpol zu negativen biographischen Einflüssen und Erinnerungen. Emotionale Annahme und Stütze Die Patienten erleben Akzeptanz, Entlastung, Trost, Ermutigung, positive Zuwendung, insbesondere Förderung positiver selbstreferentieller Gefühle und Kognitionen (z.B. Selbstwertgefühl, Selbstsicherheit, Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen). Hilfen bei der realitätsgerechten praktischen Lebensbewältigung/Lebenshilfe Erschließen von Ressourcen, Rat und tätige Hilfe bei der Bewältigung von Lebensrealität, Problemen usw., praktische Lebenshilfe. Förderung emotionalen Ausdrucks Der „Förderung emotionalen Ausdrucks" ist besondere Beachtung zu schenken, da Psychotherapie als „emotionale Differenzierungsarbeit",
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7 Behandlungsgrundlagen der IT
als Behandlung „dysfunktionaler emotionaler Stile" oder als die Beeinflussung von „Grundstimmungen" zu verstehen ist. Förderung von Einsicht, Sinnerleben, Evidenzerfahrungen Die Patienten können Zusammenhänge und Hintergründe ihrer Lebens-, Problem- und Krankheitsbedingungen in umfassender Weise verstehen, Ursachen und Wirkungen zusammenbinden und hierüber handlungsleitende Explikationsfolien für die Strukturierung ihres Alltags und ihres Lebensvollzugs erhalten. Förderung kommunikativer Kompetenz und Beziehungsfähigkeit Der Erschließung und Erprobung von Kommunikationsmöglichkeiten und dem Transfer in den Alltag werden besondere Bedeutung gewidmet. Förderung leiblicher Bewußtheit, Selbstregulation und psychophysischer Entspannung Förderung eines bewegungsaktiven Lebensstils, um zu gewährleisten, daß die Selbstregulationskräfte gestärkt werden. Förderung von Lernmöglichkeiten, Lernprozessen und Interessen Die Patienten können im Alltagshandeln wichtige konstruktive Potentiale erkennen und entwickeln, sowie dysfunktionale Verformungen auflösen. Förderung kreativer Erlebnismöglichkeiten und Gestaltungskräfte Das komplexe Realitätserleben der Patienten wird im Behandlungskontext beständig gefördert; d.h. Anregungen zu kreativem Tun als Form der Lebensbewältigung, der Entlastung, der Bearbeitung von Problemen, der Selbstverwirklichung, um ihnen einen Zugang zu „salutogenen Erfahrungen" der Vergangenheit zu eröffnen. Erarbeitung von positiven Zukunftsperspektiven Entwicklung positiver Lebensziele und -perspektiven. Wichtig ist, den Patienten „Mut zu zu sprechen“, um ihre Befürchtungen abzumildern. Zum Zeitpunkt ihrer Entlassung soll ihre Grundhaltung realitätsgerecht und (vorsichtig) zuversichtlich sein, da sie für sich ein Gefühl der Sicherheit entwickelt haben und sich in emotional belastenden Situationen gefestigt fühlen sollen.
7.2 Vierzehn therapeutische Wirkfaktoren
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Förderung eines positiven, persönlichen Wertebezugs Die Patienten erarbeiten sich Werte wie Offenheit, Ehrlichkeit und emotionaler Bezogenheit und erkennen hierin eine wichtige Quelle für Anerkennung durch ihr Gegenüber und fühlen sich in ihrer Identität gestärkt. Förderung eines prägnanten Selbst- und Identitätserlebens Der Fokus liegt hierbei auf den „fünf Dimensionen der Identität“ mit dem Ziel positive Zuschreibungen internalisierbar zu machen. Besonderes Augenmerk wird auf positive Attributionen in Bereichen gelegt, in denen sie in ihrem Lebenskontext wenig/keine Erfahrung gesammelt haben (z.B. etwas leisten zu können, etwas Wert zu sein). Alte Zuschreibungen können so abgemildert/widerlegt werden. Förderung tragfähiger sozialer Netzwerke Entwicklung einer aktiven Beziehungsgestaltung und Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzwerkes. Die supportive Valenz eines sozialen Netzwerkes und Möglichkeiten der eigenen Selbstwirksamkeit soll konkret erfahrbar werden. Ermöglichung von Solidaritätserfahrungen Im Kontext der Behandlung werden Solidaritätserfahrungen mit anderen erlebbar. „Die 14 Heilfaktoren der Integrativen Therapie sind nicht nur für heilungsorientierte Therapieprozesse wichtig, sie sind auch konstruktive Verhaltenselemente positiven Alltagslebens und damit Gesundheit, Wohlbefinden und Entwicklung fördernde Erfahrungsqualitäten, die den PatientInnen in psychoedukativer Information und im konkreten Erleben als Behandlungsmodalitäten verdeutlicht werden, damit sie diese Faktoren auch in ihrem alltäglichen Lebenszusammenhang einsetzen und sich um ihr Vorhandensein bemühen, sie pflegen, entwickeln“ (Petzold, Sieper, Orth 2006, 690). „Die Wirkfaktoren kommen integriert im persönlichen Stil des Therapeuten und organisch im Geschehen der Therapie situations- und problemangemessen zum Tragen“ (Petzold et al. 2000, 289).
8 Drogenhilfesystem Herne
Das Drogenhilfesystem wurde 1980 mit der Zielsetzung gegründet, in der Stadt Herne ein Verbundsystem psychosozialer Hilfeeinrichtungen für Drogenabhängige zu installieren. Mit seinen Diensten und Einrichtungen und den darin tätigen Mitarbeitern, aber auch in seinem klientenzentrierten, integrativ orientiertem theoriegeleiteten Handeln versteht sich der Verbund für die Patienten als ein „tragfähiges“ soziales Netz, das als „professioneller Konvoi von Helfern und Hilfsagenturen“ (vgl. Petzold 2004) Sicherheit und Stabilität, Unterstützung und Begleitung, Behandlung und Förderung bietet. Das vielgliedrige System des Therapieverbundes Herne bietet den Patienten Möglichkeiten, in Betreuungskontinuität die Umstrukturierung der Lebens- und Krankheitskarriere zu initiieren. Die i.d.R. vielfältigen suchtbedingten Problemlagen der Patienten erfordern komplexe Leistungsbündel, um angemessen auf die somatischen, psychischen und sozialen Aspekte der Suchterkrankung der Patienten eingehen zu können. Therapie, Beratung, Betreuung werden als ein langfristiger Betreuungsprozeß im Kontext unseres Verbundsystems gesehen und gewährleisten „Stimmigkeit und Passung“ (vgl. Scheiblich, Petzold 2006, 477). Ein differenziertes und flexibles Verbundsystem bietet „für die Betroffenen hinlängliche Chancen und nachhaltige Wirkungen für ein gesünderes, besseres Leben“ (ebenda, 478).
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Schaubild: Netzwerk „Therapieverbund Herne“
8 Drogenhilfesystem Herne
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Der Herner Therapieverbund bietet zahlreiche Möglichkeiten, den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der einzelnen suchtkranken Person gerecht zu werden. Im Sinne einer Rehabilitation in unterschiedlichen Formen/Settings ist es möglich, Schritte in die eine oder auch andere Richtung vorzunehmen. Bei Rückfällen kann der Patient an jedem Punkt aufgefangen und adäquat der individuellen Situation entsprechend behandelt und unterstützt werden. Das Verbundsystem bietet im Sinne eines Netzwerks dem Einzelnen differenzierte Behandlungsmöglichkeiten und dadurch ein hohes Maß an Sicherheit und Schutz. In den Leistungsangeboten gehen wir „von der Grundposition aus, daß Suchtarbeit/-therapie nur eine optimale, nachhaltige Qualität gewinnen kann, wenn sie im Rahmen vernetzter Strukturen als Hilfen, Unterstützung, Förderung, Entwicklungsarbeit über angemessene Zeitstrecken durchgeführt wird, in Verbundsystemen, in denen Maßnahmen der Hilfeleistungen als „Ketten supportiver und protektiver Einflüsse“ ... zum Tragen kommen, die sich den „Verkettungen unglücklicher, kritischer und belastender Umstände“ („chains of risks, adverse and critical events“, Petzold, Müller 2004) entgegenstellen“ (Scheiblich, Petzold 2006, 477). „Ziel von Therapie ist die Veränderung von dysfunktionalen Verhaltensweisen, von Störungen mit Krankheitswert, weiterhin die Entwicklung von Fähigkeiten/Kompetenzen und Fertigkeiten/Performanzen, die der Bewältigung ... und Gestaltung ... des weiteren Lebensweges ... dienen soll“ (Petzold 1997p, in: Scheiblich, Petzold 2006, 482). ... Einrichtungen von Verbundsystemen ... bieten für eine individuelle Lebensstrecke einen Raum für „Nach- und Neusozialisation“ ..., wobei der Verbund von Einrichtungen optimale Möglichkeiten bietet ... ein „nach vielen Seiten“ verknüpftes, besonders tragfähiges Netz der Hilfeleistung (ebenda, 504) zu konzipieren und umzusetzen. Damit wir diesen beständig zunehmenden Anforderungen an die Inhalte medizinischer und sozialer Rehabilitation und den Bedürfnissen unserer Patienten unter diesen veränderten Rahmenbedingungen effektiv gerecht werden können, haben wir die Angebote im Therapieverbund Herne kontinuierlich differenziert und spezialisiert, wobei wir der beruflichen und sozialen Integration der Patienten höchsten Stellenwert einräumen.
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8 Drogenhilfesystem Herne
8.1 Leistungen zur medizinischen und sozialen Rehabilitation Suchtkranker im Therapieverbund Herne
Kadesch GmbH erbringt als Rehabilitationseinrichtung Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Seit 1982 arbeitet die Einrichtung unter ärztlicher Verantwortung und wird seit 1985 von Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern belegt. Mit Wirkung vom 01.07.1993 hat die Einrichtung mit der Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (WAG) als federführendem Leistungsträger eine Vereinbarung gem. § 15 Abs. 2 SGB VI abgeschlossen. § 15 Abs. 2 SGB VI beschreibt den Rahmen für stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Danach können diese Leistungen nur in solchen Einrichtungen erbracht werden, die über einen für die erforderliche Durchführung medizinischer Leistungen notwendigen Qualitätsstandard verfügen. Im Dezember 1997 hat Kadesch GmbH mit der WAG und der Deutschen Rentenversicherung Bund eine Vereinbarung über die Durchführung ambulanter Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gem. § 8 der Empfehlungsvereinbarung „Ambulante medizinische Rehabilitation Sucht“ in der Fassung vom 05.11.1996 bzw. der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001 abgeschlossen und ist als Träger einer Behandlungsstelle zur Durchführung ambulanter Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Suchtkranker
8.1 Rehabilitationsleistungen Therapieverbund Herne
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anerkannt. Seit März 2003 können auch substituierte Drogenabhängige behandelt werden. Im August 2000 ist Kadesch GmbH von der DRU Westfalen als Träger einer Einrichtung zur ganztägig ambulanten medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger anerkannt worden. Seit Anfang 2005 können auch hier substituierte Drogenabhängige behandelt werden. Im Dezember 1999 hat Kadesch GmbH mit der Stadt Herne eine Leistungsvereinbarung über das ambulante Betreute Wohnen (Phase III der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger) abgeschlossen (vgl. auch 8.1.2). Das Betreuungskontingent war auf 8 Plätze begrenzt. Im Juli 2003 ist diese Vereinbarung in die Zuständigkeit des Landschaftverbandes Westfalen-Lippe (LWL) überführt und eine Leistungsund Prüfungsvereinbarung abgeschlossen worden. Die Limitierung des Betreuungskontingents ist aufgehoben worden. 8.1.1 Adaption als Leistung der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Phase II der medizinischen Rehabilitation – In der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker geht es insbesondere um die Behandlung der Folgen, die die Sucht erzeugt hat. Die Behandlung Abhängigkeitskranker muß insbesondere Behandlungsstrategien berücksichtigen, über die der Patient seine Einstellungen und sein Verhalten hinterfragen und ändern kann. In der Suchtrehabilitation bestehen spezifische Erfordernisse für Patienten mit geringen beruflichen (Wieder-) Eingliederungschancen. „Rehabilitation soll chronischen Erkrankungen vorbeugen, die Arbeitskraft chronisch Kranker soweit als möglich wiederherstellen und erhalten, Behinderungen ... durch funktionsbezogenes Training beheben oder mindern und Verhaltensstörungen oder Abhängigkeitserkrankungen u.a. durch psycho- und verhaltenstherapeutische Maßnahmen soweit beseitigen, daß den Patienten eine aktive Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben wieder möglich wird. Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gehören gem. § 5 SGB IX zu den Leistungen zur Teilhabe. Rehabilitationsleistungen werden von verschiedenen Leistungsträgern erbracht. Träger der medizinischen Rehabilitation sind gem. § 6 SGB IX: die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung die gesetzlichen Krankenkassen ... die Träger der Sozialhilfe“ (Borges et al. 2006).
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8 Drogenhilfesystem Herne
Die Spitzenverbände der Krankenkassen und der Rentenversicherungsträger haben sich am 08.03.1994 ergänzt durch eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes vom 15.09.1993 darauf verständigt, daß die Adaptionsphase als letzte Phase der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation integraler Bestandteil der stationären Entwöhnung ist, in der durch eine allmähliche Verringerung der Therapie die Stabilisierung und Verselbständigung des Patienten erreicht werden soll. Zielgruppen In der Adaption werden abhängigkeitskranke Frauen und Männer aller Nationalitäten und Kulturen (deutsche Sprachkenntnisse sind erforderlich), Jugendliche, Paare, Alleinerziehende/Paare (im Einzelfall auch mit Kindern) – entsprechend der Klassifizierung nach ICD-10/DSM-IV behandelt; im Sinne der integrierten Behandlung alkohol-, medikamentenund drogenabhängige Patienten i.d.R. im Anschluß an eine stationäre Entwöhnungsbehandlung. Grundvoraussetzungen Grundvoraussetzung für eine Behandlung ist neben dem Abstinenzwunsch die Motivation des Patienten, sich mit therapeutischer Unterstützung einen Rahmen für eine suchtfreie und sozial abgesicherte Zukunft zu erarbeiten und aufzubauen. Die Patienten müssen
über „Krankheitseinsicht" verfügen; die Bereitschaft haben, sich auf eine therapeutische Beziehung und eine Auseinandersetzung mit sich selbst einzulassen; zur vollstationären medizinischen Rehabilitation motiviert sein; die Grundregeln, die in Behandlungsprogramm und Hausordnung festgelegt sind, akzeptieren.
Formale Aufnahmevoraussetzungen (1.) Der Entlassungsbericht der vorbehandelnden Einrichtung soll bei Aufnahme vorliegen, damit bereits mit Beginn der Maßnahme die spezifischen Indikationen des Patienten möglichst umfassend bekannt sind sowie (2.) die Leistungszusage des zuständigen Leistungsträgers.
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Allgemeine Indikationen Im Rahmen der Leistungen der stationären medizinischen Rehabilitation (hier: Phase II der medizinischen Rehabilitation) werden Patienten mit einer Abhängigkeit von legalen und illegalen Suchtmitteln (in substanzspezifischer und polytoxikomaner Ausprägung) behandelt (Erstdiagnose gem. ICD 10: F10, F11, F12, F13, F14, F15, F16, F17, F18, F19). Kontraindikationen 1.
2.
3.
psychiatrisch: akute Psychosen/akute Suizidgefährdung (Patienten, deren psychotische Erkrankung eine vollständige Remission (gem. ICD 10: F 20.x5) aufweisen, werden aufgenommen). Patienten mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung (F60.2), können nur aufgenommen werden, wenn die Therapiefähigkeit vom ltd. Arzt der Einrichtung festgestellt wird und keine massiven Gewalt- oder Sexualdelikte vorliegen. somatisch: schwere körperliche Behinderungen und chronische Erkrankungen, die die Teilnahme an der normalen Tagesstruktur über längere Zeiträume weitgehend ausschließt. kognitiv: schwere Einschränkung der Wahrnehmung, der intellektuellen Fähigkeiten oder geistige Behinderung.
Spezifische Indikationen/Komorbidität Sofern als Erstdiagnose eine unter den allgemeinen Indikationen aufgeführte Abhängigkeitserkrankung von legalen/illegalen Suchtmitteln vorliegt, ist die Adaption insbesondere auf die Mitbehandlung folgender Diagnosen ausgerichtet: 1. 2.
3.
in Sonderheit (traumabedingte) Angststörungen (ICD-10: F4), Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen: in Sonderheit dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2), Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31), histrionische Persönlichkeitsstörung (F60.4), ängstlich (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (F60.6), abhängige Persönlichkeitsstörung (F60.7), narzißtische Persönlichkeitsstörung (F60.8), kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen (F61), Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F19.71) Störungen des Sozialverhaltens (ICD-10: F92.0), Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (F90.0, F98.8)
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Adaptionseinrichtung „Haus mit Aussicht“ – Inhalte und Ziele der Adaptionsphase – Die soziotherapeutische Adaptionseinrichtung „Haus mit Aussicht“ – Phase II der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker – kann 16 Patienten aufnehmen. Die Regeltherapiedauer richtet sich nach medizinischen und psychotherapeutischen Aspekten (Indikation: Alkohol = 13 Wochen, Indikation: Drogen = 17 Wochen); im Jahr werden bis zu 65 Patienten behandelt. In dieser Phase der medizinischen Rehabilitation liegt der Fokus auf der schrittweisen Ablösung aus dem „behütenden“ stationären therapeutischen Setting. Die psychotherapeutischen Behandlungselemente werden ergänzt durch die Arbeit zur Stabilisierung der Abstinenz unter erhöhten Belastungsbedingungen und der Erprobung unter realen Bedingungen. Während aus Sicht der Krankenversicherung (SGB V) die Rehabilitation darauf abzielt, einer drohenden Behinderung vorzubeugen, sie zu beseitigen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten, hat die Rehabilitation aus Sicht der Rentenversicherung (SGB VI) das Ziel, (1.) den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Patienten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch (2.) Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Patienten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Nach SGB IX bedarf es einheitlicher Grundsätze der Rehabilitationsträger für die Leistungen der medizinischen Rehabilitation und ihre Erbringung (vgl. § 10 (Koordinierung der Leistungen) und § 12 (Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger) SGB IX). Darüber hinaus verdeutlicht das SGB IX den umfassenden Teilhabebedarf, dem Leistungen zur Rehabilitation dienen, d.h. die Leistungen des SGB IX zielen darauf ab:
„eine Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder die Folgen zu mildern, Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten, (...) die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern oder
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die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbst bestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern“ (Weissinger, Missel 2006, 54; § 4 SGB IX).
Zwar stehen die medizinischen und sozialen Rehabilitationsleistungen gem. SGB V + VI unter unmittelbarer ärztlicher Verantwortung/Leitung, überwiegend wird das Rehabilitationsziel jedoch durch die Tätigkeit des nichtärztlichen Heilpersonals erreicht (vgl. § 27 (psychotherapeutische Behandlung) und § 28 (Hilfeleistung anderer Personen) SGB V, § 15 SGB VI (Abgrenzung zur Leistung der KV), § 21 SGB IX (Qualitätsanforderungen an das beteiligte Personal); SGB Office 2006). Auf der Basis dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen wird Suchthilfe bzw. Rehabilitation Abhängigkeitskranker „als Begleitung eines Prozesses (verstanden), in dessen Verlauf der (Behandlungsplan) ... durch Diagnostik und Indikationsstellung begründet ist ... (und sich) der Schwerpunkt der (Maßnahmen) ... nicht ... auf die individuellen Defizite ... (richtet), (sondern ) ... auf die Leistungen und Fähigkeiten (des Patienten)“ (FDR 2006, 45).
Die Rehabilitations-/Behandlungsangebote müssen „indikationsbezogen, bedarfsgerecht, patientenorientiert und mit einer hohen Qualität“ (Weissinger, Missel 2006, 50) erbracht werden. „Die Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist „als Komplexbehandlung angelegt; sie verknüpft regelmäßig medizinische, psychotherapeutische, psychosoziale, arbeitsbezogene, soziotherapeutische und weitere Leistungen miteinander“ (Weissinger, Schneider 2006, 4).
Um den Patienten die Möglichkeit zu geben, sich mit dem umfassenden Leistungsangebot der Adaptionsphase in den Alltag integrieren zu können, sind dabei von besonderer Bedeutung:
(Weitere) Stabilisierung und Vertiefung der Krankheitseinsicht und Festigung der Abstinenzentscheidung und -fähigkeit. Stabilisierung in der Konfrontation mit der Alltagsrealität, Realitätsprüfung und Zukunftsplanung. Entwicklung persönlicher und sozialer Kompetenzen, wie Erhöhung der Frustrationstoleranz, Erhöhung der Konfliktfähigkeit, Förderung von konstruktiven Konfliktlösungsstrategien, Erlernen von Streßbewältigungstechniken, Training eines angemessenen Abgrenzungsverhaltens gegenüber konsumierenden Menschen bzw. schwierigen Situationen, in denen Suchtmittel konsumiert werden.
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Erhöhung des Selbstwirksamkeitspotentials durch Stärkung von Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen, Entwicklung pragmatischer Problemlösungsstrategien (Rückfallprävention u.a.). Entwicklung einer beruflichen Perspektive, Heranführung an den beruflichen Alltag, berufliche und soziale Integration vor Ort/in der Region (s.a. Berufliche (Wieder-) Eingliederung). Förderung der sozialen Integrationsfähigkeit. o Training lebenspraktischer Fertigkeiten (Haushaltsführung, Ernährung). o Erarbeitung und Umsetzung einer sinnvollen Freizeitgestaltung. o Aufbau tragfähiger und funktionierender Kontakte (soziales Kompetenztraining/soziale Netzwerkarbeit). Entwicklung eines (bewegungs-)aktiven Lebensstils, Steigerung der körperlichen Vitalität. Erstellung/weitere Bearbeitung eines Schuldenregulierungsplanes. o Erstellung einer Übersicht über die bestehenden Verbindlichkeiten und sozialverträgliche Absprachen mit den Gläubigern.
In der Adaptionsphase werden die in der „intensivstationären“ Therapiephase I (= Fachklinik) erreichten „Erfolge“ in der Alltags- und Arbeitsrealität erprobt und stabilisiert. Neben den sozio-/sozialtherapeutischen und psychosozialen Be14 handlungsinhalten ist Psychotherapie ein wesentlicher Bestandteil in dieser Phase der medizinischen und sozialen Rehabilitation. Auf diesen Grundgedanken basierend, bestimmen die äußere Struktur der Adaptionseinrichtung und die Behandlungsinhalte den Alltag und die persönliche Situation des Patienten. Die Adaptionsphase gewährleistet eine Behandlung der Abhängigkeitserkrankung auf hohem fachlichen Niveau und auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
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Nach Funke (2000, 100ff) kommt „dem psychotherapeutischen Ansatz ... – neben der medizinisch-somatischen Behandlung und der sozialtherapeutischen Komponente – eine wesentliche Wirkfunktion in der Erreichung der Rehabilitationsziele zu. ... die psychotherapeutische Herangehensweise (kann) maßgeblich der Zielerreichung nutzen, gerade weil sie neben der störungsspezifischen Komponente die Prozeßorientierung und die Begleitung des Patienten durch den Prozeß im Auge hat. ... Die psychotherapeutische Komponente in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker ... ist im Hinblick auf Effizienz unverzichtbares Kernstück“.
8.1 Rehabilitationsleistungen Therapieverbund Herne
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Damit die Therapie erfolgreich sein kann, ist die Mitwirkung des Patienten von entscheidender Bedeutung; d.h. die Behandlung in der Adaptionsphase setzt die Krankheitseinsicht des Patienten und seine Bereitschaft voraus, an der therapeutischen Arbeit aktiv und eigenverantwortlich mitzuwirken. Um die Tagesstruktur des Patienten zu gewährleisten, ist er in eine Wochenstruktur „eingebunden“, die die „Verknüpfung“ von Psychotherapie und sozialer/beruflicher Integration gewährleistet und ihm als Orien15 tierungshilfe bei der Alltagsbewältigung zur Verfügung steht .
8.1.2 Ambulantes Betreutes Wohnen für abhängigkeitskranke Menschen (Phase III der sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger) Ausgangslage Das Ambulante Betreute Wohnen für abhängigkeitskranke Menschen ist eine Weiterentwicklung der Eingliederungshilfen gem. §§ 39, 40 BSHG, § 55 SGB IX und § 53 SGB XII mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen (hier: Abhängigkeitserkrankung gem. ICD 10-F.10-F.19, F.50) ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und zu sichern. Es ist als ein am Bedarf der betreuten Person orientiertes und verbindlich vereinbartes Betreuungsangebot zu verstehen, das sich auf ein breites Spektrum an Hilfestellungen im Bereich des Wohnens bezieht und der beruflichen und sozialen Integration dient. Es handelt sich um ein gemeindeintegriertes Hilfeangebot, das der betreuten Person ein selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung ermöglicht. Ziel der Betreuung ist es, den durch den Substanzmißbrauch eingeengten Freiheitsspielraum des Einzelnen wiederherzustellen, die bereits eingetretenen Störungen zu behandeln und weitere Schäden zu verhindern. Die Betreuungsleistungen leiten sich von den im Einzelfall vorgefundenen sozialen Problemlagen, Entwicklungsdefiziten, psychischen und psychiatrischen Störungsbildern sowie den vereinbarten Betreuungszielen ab, werden in ihrer Intensität und Dauer entsprechend der Lebens- und Sozialwelt gestaltet und beinhalten/vernetzen sozialarbeiterische-soziotherapeutische und beraterische Hilfen, sowie im Ein-
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Wochenstrukturplan siehe unter: www.therapieverbund-herne.de
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8 Drogenhilfesystem Herne
zelfall auch (psycho-)therapeutische Hilfen zur Bewältigung kritischer Lebenssituationen. Aufnahmebedingungen Voraussetzung für eine Aufnahme ist die Motivation des Patienten, sich mit den Möglichkeiten/Hilfen des Betreuten Wohnens einen Rahmen für eine suchtmittelfreie und sozial abgesicherte Zukunft erarbeiten und aufbauen zu wollen. Im Einzelnen bedeutet dies:
Bereitschaft zum Aufbau von tragfähigen drogenfreien Kontakten/ Beziehungen (Netzwerkarbeit) Auseinandersetzungsbereitschaft mit den gesellschaftlichen Normen und Werten Fähigkeit zur Selbstreflexion (d.h.: realistische Selbsteinschätzung und Einschätzung der Realität)
Ziele und Inhalte Im Rahmen eines Betreuungsplanes werden zusammen mit dem Patienten die Ziele und Inhalte des Betreuten Wohnens vereinbart. Entsprechend sieht der Schwerpunkt bei jedem Patienten unterschiedlich aus. Einzelne Teilziele werden festgelegt, die für den Patienten (zeitnah) zu erreichen sind. Jeder Patient hat einen „Betreuer", der für ihn der erste Ansprechpartner ist. Neben der Aufarbeitung der individuellen Problematik wird versucht, Schwellenängste zu anderen Institutionen wie ARGE, Sozialamt, Wohnungsamt, Freizeitvereinen etc. abzubauen. Die reale Situation des Patienten wird besprochen und Zukunftsperspektiven werden entwickelt. Ein wesentliches Ziel ist die Sicherung der Abstinenz. Die begleitenden Hilfen und Kontrollen werden schrittweise reduziert, um die Selbstverantwortlichkeit des Patienten zu stärken. Bereiche der Betreuung sind nach Definition des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (Erhebungsbogen zum individuellen Hilfeplanverfahren, 2005)
Lebensbereich Arbeit und Beschäftigung o Tagesstrukturierung o Unterstützung bei der beruflichen Integration Lebensbereich Freizeit o Erarbeitung einer sinnvollen Freizeitgestaltung
8.1 Rehabilitationsleistungen Therapieverbund Herne
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Lebensbereich Beziehung o Kontaktaufbau und Verbesserung der Beziehungen zum sozialen Umfeld o Aufbau und Verbesserung partnerschaftlicher Beziehungen o Aufbau eines Freundes- und Bekanntenkreises o Verbesserung der Kontakt- und Beziehungsgestaltung am Arbeitsplatz o Verbesserung der Kontaktaufnahme zu Menschen in Alltagssituationen Lebensbereich Gesundheit o Verbesserung der Gesundheitsfürsorge
Das Betreuungssetting (engmaschige Betreuung oder aber größere Abstände zwischen den Betreuungseinheiten) wird individuell je nach Situation und Unterstützungsbedarf des Patienten gestaltet. Die angemessene Betreuung erfordert eine Vielzahl von Angeboten und Methoden, die als Einzel- und/oder Gruppen(leistungs)angebote erbracht werden. Betreuungsleistungen ... sind u.a. einzelfallbezogene Hilfeleistungen wie
Casemanagement In Kooperation mit den unterschiedlichen Angeboten/Einrichtungen/ Anbietern des psychosozialen Hilfesystems werden patienten- und problembezogen angemessene Hilfemaßnahmen innerhalb und außerhalb des Drogenhilfesystems entwickelt. Die relevanten Hilfen (z.B. medizinische Versorgung, Arbeits-/ Sozialverwaltung etc.) sind entsprechend der zeitlich hierarchischen Abfolge des Betreuungsplanes einzusetzen und zu organisieren. Bei den notwendigen Anträgen und Ämtergängen etc. ist es Aufgabe des Betreuers, den Patienten falls erforderlich zu unterstützen bzw. zu begleiten. Einzelbetreuung/Beratung Für den Patienten steht eine psychosoziale Fachkraft zur Verfügung. Sie ist in der Regel verantwortlich für den Ablauf der Betreuung und die Betreuungsplanung, sowie im Einzelfall auch für (psycho-)therapeutische Hilfen.
170
8 Drogenhilfesystem Herne
Gruppenarbeit Die Gruppenarbeit wird i.d.R. alltagsorientiert und themenzentriert angeboten (z.B. Rückfallprophylaxe und Rückfallbearbeitung; Kontaktaufnahme mit Menschen, die nicht aus dem Kontext Sucht kommen; Umgang mit Einsamkeit; Aufbau von partnerschaftlichen Beziehungen). Es werden gemeinsam Strategien entwickelt, wie Probleme angemessen bewältigt werden können (individuelle Möglichkeiten der Stabilisierung etc. bei Rückfälligkeit). Kommunikations- und Kompetenztraining Von wesentlicher Bedeutung für den Betreuungsverlauf ist die aktive und verantwortliche Mitarbeit des Patienten am Betreuungsprozeß. Mit den Patienten werden adäquate Umgehensweisen im Kontakt mit Anderen (z.B. mit Arbeitgebern) „eingeübt“, um insbesondere den Umgang mit Streßsituationen, Frustrationen, Aggressionen exemplarisch zu erlernen. Im Rahmen des Kommunikations- und Kompetenztrainings wird der Blick für diese Situationen geschärft und es werden gezielt Ressourcen gestärkt, damit der Patient in „alltäglichen“ Situationen (wie bei Bewerbungen um ..., am Arbeitsplatz, im sozialen Kontext etc.) adäquat handeln kann. Unterstützung bei der beruflichen Integration Durch die Zusammenarbeit mit der örtlichen Agentur für Arbeit, unterschiedlichen Initiativen/Trägern einer (über-) betrieblichen Sonder-/Berufsausbildungsstätte und ortsansässigen Betrieben ist es möglich, in verschiedensten Berufsfeldern an Umschulungsund/oder Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen oder eine Ausbildung zu absolvieren. Ggf. vermitteln wir zur Berufsfindung und Arbeitserprobung Praktika in unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Unterstützung bei der Schuldenregulierung Um den Patienten wieder eine Perspektive zu geben, ist es notwendig, gezielte Maßnahmen der Schuldenregulierung einzuleiten; d.h. ein Überblick über alle Forderungen muß erarbeitet werden, um dann schrittweise Lösungen zu entwickeln (z.B. Darlehen über die Marianne-von-Weizäcker Stiftung), wie die Schulden in einem überschaubaren Zeitraum beglichen werden können. Krisenintervention Grundsätzlich ist es Aufgabe des Betreuers in krisenhaften bzw. als krisenhaft erlebten Situationen zu intervenieren.
8.1 Rehabilitationsleistungen Therapieverbund Herne
171
Aufsuchende und nachgehende Arbeit Betreutes Wohnen ist immer auch Motivationsarbeit, d.h. Ziele und schon erreichte Veränderungen müssen positiv verdeutlicht werden, ebenso wie die Bereitschaft zu fördern ist, eventuelle Rückschritte gemeinsam und vertrauensvoll mit dem Patienten zu bearbeiten. Über die aufsuchende und nachgehende Arbeit bekommt der Betreuer einen Eindruck, wie der Einzelne die notwendigen Aufgaben einer eigenständigen Lebensführung bewältigt und kann ggf. regulierend eingreifen. Das Ziel ist, perspektivisch mit dem Patienten ein Höchstmaß an selbständiger Lebensbewältigung zu erarbeiten. Im Einzelfall wird der Patient in einzelne Angebote der Einrichtung einbezogen, um z.B. übergangsweise eine Tagesstruktur zu gewährleisten.
Hilfen zur Alltagsstrukturierung Mit den Patienten wird eine Tages- oder Wochenplanung erstellt. Über die Einbeziehung in hausinterne Programmpunkte wird eine Gewöhnung an einen regelmäßigen Tagesablauf gewährleistet. Freizeitpädagogik (Vermittlung in die regionale Struktur) Wir bieten 14tägig eine Gruppe an, in der Möglichkeiten der kostenfreien/-günstigen Freizeitgestaltung vorgestellt und ausprobiert werden können. Suchttherapie Im Verlauf des Betreuten Wohnens sind ggf. spezifische suchttherapeutische Interventionen zur Klärung und Bearbeitung psychischer Störungen bzw. auffälliger und einen positiven Betreuungsverlauf behindernder Verhaltensmerkmale explizit einzusetzen (vgl. auch Schay 2006).
Wir haben in diesem Kapitel die institutionell vorgegebenen Rahmenbedingungen und die Vorgaben der Leistungsträger vorgestellt. Aus unserer Sicht muß das von den Leistungsträgern favorisierte Klassifikationssystem ICF ergänzt werden um eine mehrperspektivische Sicht, die sowohl den Patienten als „Körper, Seele, Geist-Subjekt“ auf allen Ebenen als auch den Patienten in seinem sozialen Umfeld, im kulturellen Mikro-, Meso-, Makrokontext und zeitlichem Kontinuum berücksichtigt.
172
8 Drogenhilfesystem Herne
8.2 Übergeordnete Behandlungsziele Im Jahr 2001 wurde die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF-Modell) von der WHO verabschiedet. „Die ICF ist eine Klassifikation, mit welcher der Zustand der funktionalen Gesundheit einer Person beschrieben werden kann“ (BAR 2006, 12) und das in den SGB’ern V und IX in § 92 bzw. § 26 aufgenommen worden ist; wonach die erforderlichen ärztlichen, psychologischen und pädagogischen Leistungen zu erbringen sind, die erforderlich sind, um den besonderen Erfordernissen der Versorgung psychisch Kranker Rechnung zu tragen. Die ICF ist als eine systematisch entwickelte Entscheidungshilfe in die Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen zu integrieren; sie standardisiert kontextuelle und personenbezogene Faktoren, d.h. es werden umfassend Beeinträchtigungen und negative Konsequenzen von Krankheiten und Behinderungen erfaßt. Die individuell erlebten störungsbezogenen Folgen von Krankheit können so in den Therapieprozeß systematisch einbezogen werden. Die ICF stellt eine sinnvolle und notwendige Ergänzung zur ICD da, die auf einem bio-medizinischen Störungsmodell basiert. „Den ganzheitlich ausgerichteten Anforderungen der ICF ist der Gesetzgeber u.a. mit der Schaffung des SGB IX zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (2001) nachgekommen. ... Die sozial-medizinische Beurteilung von Versicherten mit psychischen Störungen ... wird erst durch die genaue Kenntnis des Zusammenwirkens störungsbedingter Leistungseinbußen, individueller Dispositionsfaktoren und sozialer Gegebenheiten möglich. ... Die Erkrankung und deren Folgesymptomatik einschließlich der mentalen Beeinträchtigungen wird als Ergebnis sich wechselseitig beeinflussender pathogener somatischer, psychischer und sozialer Einflußfaktoren verstanden“ (DRV Bund 2006, 4ff).
Mit dem ICF-Modell können Aussagen zur Funktionsfähigkeit, den Aktivitäten und zur Partizipation getroffen werden; womit der gesamte Lebenshintergrund des Patienten berücksichtigt wird. Für die Patienten in unserer Einrichtung möchten wir aus diesem Leistungskatalog einzelne Aspekte hervorheben, weil sich in unserer Arbeit gezeigt hat, daß diese Zieldimensionen von besonderer Bedeutung sind:
8.2 Übergeordnete Behandlungsziele
„Zieldimension
173
A
Besserung von Beschwerden auf psychosozialer Ebene
A1 A 1.3
Psychische Stabilisierung Verbesserung der psychischen Belastbarkeit
A3
Veränderung/Bearbeitung emotionaler Aspekte A 3.1 Emotionale Entlastung und Stabilisierung A 3.1.2 Verbesserung des Umgangs mit Ärger/Wut/ Aggression A4 A 4.2 A5
Bearbeitung kognitiver Aspekte Verbesserung der Problemlösefähigkeiten Verbesserung der Krankheitsbewältigungskompetenzen A 5.2 Verbesserung der Depressionsbewältigungskompetenzen A 5.2.2 Verbesserung der Tagesstrukturierung A 5.3 Verbesserung der Suchtbewältigungskompetenzen A6 A 6.2
Förderung der sozialen Kompetenz Verbesserung des Interaktions-/ Beziehungsverhaltens A 6.2.2 Verbesserung der Kontaktfähigkeit A7 A 7.1
Bearbeitung von intrapsychischen Aspekten Erlernen von Konfliktbewältigungskompetenzen
A8 A 8.1
Veränderungen bezüglich Aspekten des Selbst Entwicklung eines realistischen Selbstbildes
A9 A 9.2
Akzeptanz der Realität Verbesserung der Frustrationstoleranz
A 10
Bearbeitung biographisch relevanter Ereignisse Bearbeitung traumatischer Lebensereignisse
A 10.2 A 11 A 11.1
Motivierung zur aktiven Teilnahme am Behandlungsprozeß Entwicklung eines tragfähigen therapeutischen Arbeitsbündnisses
174
Zieldimension
8 Drogenhilfesystem Herne
B
Besserung von Beschwerden auf somatischer Ebene
B1
Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit Steigerung der körperlichen Ausdauer
B 1.3
Zieldimension
B4 B 4.2
Reduzierung von Risikoverhalten/-faktoren Reduzierung/Abstinenz von Suchtmittelgebrauch
C
Zielsetzungen auf edukativer Ebene
C2
Vermittlung von Techniken zum Abbau von Risikoverhalten Erlernen von Techniken zur Reduktion von Drogenkonsum Erlernen von Methoden zur Rückfallprävention
C 2.1 C 2.3
Zieldimension
C4 C 4.2
Verbesserung der Streßbewältigung Vermittlung von Information über Streßentstehung und -bewältigung
D
Zielsetzung auf der Ebene der Aktivitäten und Teilhabe
D1 D 1.1 D 1.4 D 1.6
Wiederherstellung/Erhalt der Arbeitsfähigkeit Wiedereingliederung in das Erwerbsleben Durchführung einer Arbeitserprobung Klärung der beruflichen Situation
D2
Verbesserung von Problemen im interpersonellen Bereich Aufbau von sozialen Beziehungen
D 2.1
D3 D 3.1 D 3.2
Erarbeitung von Zukunftsperspektiven Erarbeitung von Zukunftsperspektiven im beruflichen Bereich Erarbeitung von Zukunftsperspektiven im sozialen Bereich“ (VDR 2004, 11-16).
8.2 Übergeordnete Behandlungsziele
175
„Durch die ICF entsteht ... in der Erklärung und Therapie von Störungen ... eine neue Option in Diagnose und Therapie, da ... die Entwicklung der Störungen der Gesundheit über den Augenblick hinaus in ihrer retrospektiven und perspektivischen Entwicklung und vor ihrem kontextuellen Hintergrund beachtet werden ... und diagnostische Erkenntnisse aus diesem Wissen gleichsam in Diagnose und Therapie integriert werden. ... Durch die internationale WHO-Klassifikation ICF wird es erstmalig möglich, die Entwicklung der Störung Abhängigkeit von psychotropen Substanzen F10ff als Ausdruck komplexer kontextueller Entstehungsbedingungen im Kontext zu betrachten – und dabei auch die historischen Entwicklungsbedingungen als Teil des Kontextes dieser Störung zu beachten und aus diesen Erkenntnissen eine Perspektive für den Betroffenen als Teil des therapeutischen Handelns zu entwickeln“ (Stachowske, Schiepek 2008, 26ff).
Mit dem ICF-Modell kann nicht nur Krankheit diagnostiziert werden, sondern die individuell erlebten krankheitsbedingten funktionalen Probleme, d.h. die negativen Auswirkungen von Krankheit im Lebensalltag des Patienten. Die Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Effektivität rehabilitativer Maßnahmen sind damit erweitert. „Mit dem bio-psycho-sozialen Modell wird ein bedeutender Paradigmenwechsel vollzogen. Funktionale Probleme sind nicht mehr Attribute einer Person, sondern sie sind das negative Ergebnis einer Wechselwirkung. Diese Betrachtung eröffnet ganz neue Perspektiven der Hilfe“ (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, 11f).
Die zentrale Aufgabe medizinischer und sozialer Rehabilitation ist die „Wiederherstellung oder wesentliche Besserung der Funktionsfähigkeit insbesondere auf der Ebene der Aktivitäten (Leistungsfähigkeit, Leistung) bei bedrohter oder eingeschränkter Teilhabe an Lebensbereichen einer Person. ... Lebensbereiche sind Bereiche menschlichen Handelns (Aktivitäten) und/oder menschlicher Daseinsentfaltung (Teilhabe)“ (ebenda, 12ff). Die Bedeutung dieser Rehabilitationsziele wird mit dem ICF-Modell besonders gefördert.
176
8 Drogenhilfesystem Herne
Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Körperfunktionen
und -strukturen
Umweltfaktoren
Aktivitäten
Teilhabe
personenbezogene Faktoren
Schaubild: Das bio-psychosoziale Modell der ICF (ebenda)
„Die ICF (ist) ein Modell für die konkreten Folgen bzw. Auswirkungen einer Suchterkrankung. Sie kann ressourcen- und defizitorientiert angewendet werden. Mit ihr können das positive und negative Funktions- und Strukturbild, Aktivitäts- und Teilhabebild einer Person mit Gesundheitsproblemen beschrieben werden“ (FDR 2006, 30).
Im biopsychosozialen Modell „als Grundlage für eine ... interdisziplinäre Zusammenarbeit (wird) ... auf ein systemtheoretisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit zurückgegriffen. ... Gesundheit (bedeutet) die ausreichende Kompetenz des Systems „Mensch“, beliebige Störungen auf beliebigen Systemebenen autoregulativ zu bewältigen. Nicht ... das Nichtvorhandensein von Störungen/Auffälligkeiten auf der psychosozialen Ebene bedeuten demnach Gesundheit, sondern die Fähigkeit, diese pathogenen Faktoren ausreichend wirksam zu kontrollieren. Krankheit stellt sich dann ein, wenn der Organismus die autoregulative Kompetenz zur Bewältigung von auftretenden Störungen auf beliebigen Ebenen des Systems „Mensch“ nicht ausreichend zur Verfügung
8.2 Übergeordnete Behandlungsziele
177
stellen kann und relevante Regelkreise für die Funktionstüchtigkeit des Individuums überfordert sind bzw. ausfallen. ... Krankheit und Gesundheit erscheinen ... nicht als ein Zustand, sondern als ein dynamisches Geschehen. So gesehen muß Gesundheit in jeder Sekunde des Lebens „geschaffen“ werden (Egger 2006, 196ff, vgl. auch Egger 2007). Das ganzheitliche und differentielle biopsychosoziale Modell (BPSModell) der Inetragtiven Therapie basiert auf dem lifespan developmental approach, „einem hochkomplexen Prozeß der Veränderung auf der „biologischen, psychischen, sozialen, ökologischen und geistigen Ebene“ (Petzold, Orth 2001, 6/134), der Risikofaktoren, protektive Faktoren und Resilienzen (vgl. auch 6.1.3 und 5.1.5) berücksichtigt. „In der Konnektivierung von klinischer (krankheitsorientierter), agogischer (gesundheitsorientierter), soziotherapeutischer (gemeinwesenorientierter) und ästhetischer bzw. kulturkritischer Praxis – ... der Verbindung von Pathogenese und Salutogenese ... – (sind das) Konzept und ... die Praxis einer „differentiellen und integrativen“ Humantherapie/Psychotherapie ... im Lebensverlauf und Lebenszusammenhang“ (ebenda, 12/140) begründet.
In der therapeutischen Praxis sind hierbei die „Selbstregulationskräfte des Organismus“, die „Selbstheilungskräfte und Entwicklungspotentiale des Subjekts“ und das „heilende und fördernde Potential der zwischen bzw. mitmenschlichen Beziehung“ (ebenda, 14/142; vgl. auch 6.1.1, 2.3.4, 5.3, 7.1 und 7.2) wesentliche Wirkfaktoren. Mit dem biopsychosozialen Modell ist der Weg geebnet, die „Wirksamkeit ... und Zweckmäßigkeit, spezifische Wirkfaktoren, Prozeßverläufe, störungsorientierte Behandlungsformate ... zu erfassen, zu verstehen und systematischer ... einsetzen zu können (ebenda, 3/131). Verschiedene theoretische Konzepte und therapeutische Praktiken können damit in einem übergeordneten Bezugsrahmen gesehen werden (ebenda, 5/1333). Das biopsychosoziale Modell gilt inzwischen als die bedeutendste Theorie für die Beziehung zwischen Körper und Geist (vgl. auch Egger 2007), muß aber nach unserem Verständnis um das Modell des „informierten Leibes" ergänzt werden, um ein umfassendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu entwickeln und damit diese zentrale Perspektive in den Ansatz der Integrativen Sucht- und Traumatherapie zu integrieren.
178
8 Drogenhilfesystem Herne
8.2.1 Das Konzept der Leiblichkeit in der IT Im Modell des „informierten Leibes" in der IT wird der Leib wird verstanden als „Subjekt und Objekt der Erkennt-nis" (Petzold, Wolf et al. 2000, 505). Körper/Soma, Organismus wird definiert als die Gesamtheit aller aktualen physiologischen (biologischen, biochemischen, bioelektrischen) Prozesse des Organismus nebst der im genetischen und physiologischen (immunologischen) Körpergedächtnis als differentielle Informationen festgehaltenen Lernprozesse und Lernergebnisse/Erfahrungen, die zur Ausbildung kulturspezifischer somatomotorischer Stile führen. Seele/Psyche wird definiert als die in körperlichen Prozessen gründende Gesamtheit aller aktualen Gefühle, Motive/Motivationen, Willensakte und schöpferische Impulse, nebst den durch sie bewirkten und im „Leibgedächtnis“ (neocortikal, limbisch, reticulär, low-level-neuronal) archivierten Lernprozessen und Erfahrungen und den auf dieser Grundlage möglichen emotionalen Antizipationen (Hoffnungen, Wünsche, Befürchtungen). All dieses ermöglicht als Synergem das Erleben von Selbstempfinden, Selbstgefühl und Identitätsgefühl und führt zur Ausbildung kulturspezifischer emotionaler Stile (vgl. ebenda). Geist/Nous wird definiert als die Gesamtheit aller aktualen neurophysiologisch gegründeten kognitiven bzw. mentalen Prozesse mit ihren personenspezifischen, aber auch kulturspezifischen kognitiven bzw. mentalen Stilen und den durch sie hervorgebrachten Inhalten: individuelle (z.B. persönliche Überzeugungen, Glaubenshaltungen, Werte) und kollektive (Güter der Kultur, Wertesysteme, Weltanschauungen, Religionen, Staatsformen, Strömungen der Kunst und Ästhetik, der Wissenschaft und Technik), nebst der im individuellen cerebralen Gedächtnis und der im kollektiven, kulturellen Gedächtnis (Bibliotheken, Monumenten, Bildungsinstitutionen) archivierten gemeinschaftlichen Lernprozesse, Erfahrungen und Wissensbestände sowie der auf dieser Grundlage möglichen antizipatorischen Leistungen und Perspektiven (Ziele, Pläne, Entwürfe, Visionen) (vgl. Petzold, Ebert 2006). All dieses ermöglicht im synergetischen Zusammenwirken Selbstbewußheit, persönliche Identitätsgewißheit, d.h. Souveränität und das individuelle Humanbewußtsein, als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft an Kulturen zu partizipieren: der Kultur eines Volkes, einer Region, aber auch der mundanen Kultur und ihren „sozial repräsentierten Wissensständen“ sowie an einem „übergeordneten Milieu generalisierter Humanität“ teilzuhaben. Geist wird als bewußt, also reflektierend/interpretierend und reflexionsfähig/
8.2 Übergeordnete Behandlungsziele
179
sinnschöpfend gesehen, als kausal, also begründetes Handeln ermöglichend und dieses evaluierend und wertend, sowie als Regulativ fungierend, z.B. Bedürfnisse steuernd und soziale/politische Erfordernisse entscheidend. Leib, eingebettet (embedded) in Kontext/Kontinuum, wird definiert als die Gesamtheit aller sensorischen, motorischen, emotionalen, volitiven, kognitiven und sozial-kommuniaktiven Schemata bzw. Narrative/Stile in ihrer aktualen, intentionalen (d.h. bewußten und subliminalunbewußten) Relationalität mit dem Umfeld und dem verleiblichten (embodied), als differentielle Information mnestisch archivierten Niederschlag der Narrationen/Inszenierungen dieser Schemata, welche in ihrem Zusammenwirken als „informierter Leib“ das personale „Leibsubjekt“ als Synergem konstituieren (vgl. ebenda). Das Konzept der Leiblichkeit spielt in der IT eine zentrale Rolle. Aus phänomenologisch-philosophischer Perspektive wird der „Leib des Menschen als eine den biologischen Körper/Organismus überschreitende, personale körperlich-seelisch-geistige Ganzheit, als verkörpertes Subjekt ..., das Phänomene (Information) wahrnimmt, dekonstruiert ..., hermeneutisch interpretiert ..., d.h. Informationen verarbeitet" verstanden (ebenda, 505). Auch die moderne neurobiologische und psychophysiologische Sichtweise betrachtet den biologischen Körper/Organismus auch als Wahrnehmungs- und Handlungssystem, das ständig neue Informationen verarbeitet (vgl. ebenda). Die anthropologische Definition: Der Mensch als Leibsubjekt ist durch ein differentielles und integriertes Wahrnehmen – Verarbeiten – Handeln (d.h. durch Narrationen, aktionale Lebensvollzüge) unlösbar mit der Lebenswelt verflochten: mit den Menschen in Zwischenleiblichkeit, mit den Dingen in Handhabung. Er wird mit den Gegebenheiten der Lebenswelt bewegt, beeinflußt, gestaltet und er wiederum bewegt, beeinflußt, gestaltet sie kokreativ durch sein Tun und Wirken – in konstruktiver und auch in destruktiver Weise – auf der Grundlage seiner archivierten Lebenserfahrung (Narrative). Insgesamt betrachtet geht dieses Modell des „informierten Leibes“ der IT über das biopsychosoziale Modell hinaus, indem alle Aspekte des menschlichen Seins wie Körper, Psyche und Geist in Kontext und Kontinuum Berücksichtigung finden. Insbesondere Gründe wie leibliche Eindrücke, Auswirkungen auf Lebenseinstellungen und -erwartungen finden Beachtung.
9 Das Behandlungssetting
Suchterkrankungen zählen aus therapeutischer Sicht zu den sogenann16 ten basalen Störungen , d.h. eine modifizierte und speziell für die Behandlung dieser Erkrankungen „zugepaßte“ Vorgehensweise ist notwendig. Das gilt in besonderer Weise bei Patienten, die auch unter den Folgen komplexer Traumatisierungen leiden. „Die Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen der Substanzabhängigkeit sind vielfältig und ursächlich auf gesellschaftliche, soziale und individuelle Faktoren zurückzuführen. Die Ursachen der Substanzabhängigkeit lassen sich nicht monokausal festlegen. Vielmehr führen eine Vielfalt von traumatisierenden Ereignissen über die gesamte Lebensspanne sowie fehlende stützende und fördernde Faktoren zur Ausprägung des Krankheitsbildes und -verlaufs. Die daraus resultierenden, oft schwerwiegenden Schädigungen des Individuums sowie seines sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes erfordern ein breites Spektrum an therapeutischen Hilfsangeboten im Sinne einer individuellen, umfassenden Prozeßbegleitung, die sich über den Zeitraum des (problematischen) Drogenkonsums, der Abhängigkeit, des Ausstiegsprozesses inklusive der nachsorgenden Betreuung erstreckt“ (Siegele 2002, 13).
Da die Patienten und ihre Problemstellungen sehr verschieden sind, muß der Behandlungsansatz in der Adaptionsphase und im Betreuten Wohnen individuell gestaltet werden: Zu Beginn der Behandlung wird durch eine ausführliche diagnostische Exploration ein klares Bild von den Problemstellungen, den protektiven Faktoren, Resilienzen und Risikofaktoren des Patienten entwickelt. Zusätzliche Maßnahmen werden ggf. zur Komplettierung der Diagnostik eingesetzt, um Aussagen über den derzeitigen Schweregrad der Suchtproblematik und/oder anderer Störungsbilder (PTBS) zu erhalten (vgl. auch Kapitel 2. und 4.). In Abhängigkeit vom klinischen Eindruck des Therapeuten und den Vorstellungen des Patienten wird dann gemeinsam ein Behandlungsplan entworfen. Dieser Behandlungsplan enthält die Daten bzw. Angaben des
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Diese Störungen werden auch als entwicklungsbedingte Ich-Störungen, als frühe Störungen oder als dyadische Beziehungsstörungen bezeichnet.
182
9 Behandlungssetting
Patienten, Therapieziele und eine erste Übersicht mit welchen Therapiebestandteilen diese Ziele erreicht werden sollen. Im weiteren Verlauf der Behandlung werden die Inhalte des Behandlungsplanes kontinuierlich überprüft und dem Bedarf des Patienten angepaßt.
9.1 Behandlungsvertrag Um zwischen dem Einzelnen und den Mitarbeitern Klarheit über die Modalitäten der Behandlung zu gewährleisten, werden grundsätzliche As17 pekte in einem Behandlungsvertrag vereinbart , u.a. sich außerhalb des Therapieprogrammes (möglichst) „nicht ausführlicher über belastende Erlebnisse aus der Lebensgeschichte zu unterhalten, da derartige Gespräche auch unbeabsichtigt und noch nachträglich zu Überforderungen und Krisen beitragen können. Vielmehr ist es hilfreich ... durch aufbauende Gespräche Andere zu unterstützen, gemeinsam positive Erfahrungen zu teilen, die Spaß machen und sich bei Bedarf an das therapeutische Team zu wenden“ (Teunißen 2005, 73).
Grundsätzlich ist die Einzeltherapie der Ort, an dem ein Gespräch über traumatische Erfahrungen stattfindet. Des weiteren finden Absprachen statt, inwiefern belastende Situationen (wie Gruppensituationen) verlassen werden dürfen, wie das Prozedere stattfinden soll und wie die Zeit stattdessen adäquat genutzt werden kann.
9.2 Behandlungselemente (vgl. Schay, Liefke 2007) Die Rehabilitation muß die Rahmenbedingungen des therapeutischen Kontextes „klar und eindeutig“ definieren, weil der Abhängige Grenzen nicht als Teil von Beziehung und Kommunikation wahrgenommen und erlebt hat.
17
Behandlungsvertrag siehe unter: www.therapieverbund-herne.de
9.2 Behandlungselemente
183
9.2.1 Ressourcenorientierte Einzelgespräche Die Einzelgespräche als Behandlungsform in einem „dynamischen Setting“ dienen der Bearbeitung von aktuellen Problemen und Schwierigkeiten. Hier werden die angestrebten Ziele differenziert erarbeitet, überprüft und die praktizierten Vorgehensweisen reflektiert. Dies geschieht unter Einbeziehung der jeweils vorhandenen Ressourcen- und Potentiallage. Das Erstgespräch mit dem Bezugstherapeuten findet am Aufnahmetag statt. In den Einzelgesprächen werden die Erkenntnisse aus der Psychodiagnostik berücksichtigt. Der Einzeltherapeut soll für den Patienten den Stellenwert einer verläßlichen Bezugs- und Vertrauensperson haben, die, wenn sie verinnerlicht wird, einen positiven inneren Beistand konstituiert. Damit wird ein Beitrag zur Identitätsbildung geleistet (positive Leitbildfigur) und die Erhöhung der Konflikt- und Krisenverarbeitungskapazität erreicht. Dabei wird – dem Integrativen Ansatz entsprechend – sowohl eine tiefenpsychologische Perspektive verfolgt, die ein Verstehen der eigenen Lebensgeschichte und ihrer bestimmenden Einflußfaktoren anstrebt, verbunden mit Einsichten in unbewußte, dysfunktionale Muster, die Folge dieser Einflüsse sind, als auch eine Perspektive der longitudinalen Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung fokussiert, die protektive Faktoren, Resilienzen, Risikofaktoren, Defizite, Traumata und Konflikte in den Blick nimmt – über den „life span“ hin. Der Fokus liegt nicht nur auf „frühen Störungen“ abgestellt, sondern nimmt auch entsprechend der Forschungslage der modernen Entwicklungspsychologie die Pathogenese im Jugend- und jungen Erwachsenenalter in den Blick. Weiterhin werden – der Altersstufe und der krankheitsbildspezifischen Kommunikations-/Interaktionsstrukturen und Abwehrmuster entsprechend – erlebnisaktivierende Ansätze aus Psychodrama und Gestalttherapie eingesetzt, um die Patienten besser erreichen zu können und die erforderliche Erlebniskonkretheit zu gewährleisten. Schließlich nimmt eine moderne, kognitiv-behaviorale Perspektive einen wichtigen Platz ein, um negative Kognitionen, dysfunktionale kognitive Stile zu beeinflussen und zu modifizieren (vgl. Petzold, Sieper 2001a). In einer Kombination von therapeutischen Basisstrategien: „konfliktzentriert-aufdeckend“, „erlebniszentriert-aktivierend“, „übungszentriert-funktional“ und in einer spezifischen Auswahl von Wirkfaktoren (vgl. Grawe 1998, Petzold 1993a) wird ein therapeutischer Prozeß angestrebt, der auf die Bearbeitung besonders relevant erscheinender Problemfoki zentriert. Die Selbstwirk-
184
9 Behandlungssetting
samkeit der Patienten wird durch die kontinuierliche Reflexion von Fortschritten und Schwierigkeiten gestärkt. Die kontinuierlichen Einzelgespräche (mindestens 2 x wöchentlich) haben folgende Arbeitsschwerpunkte zum Inhalt:
die vorhandenen Ressourcen und Potentiale werden erhoben (Erhebung der personellen, sozialen, materiellen und beruflichen Ressourcen und Potentiale) und konkrete alternative Verhaltens- und Vorgehensweisen unter Einbeziehung der eigenen Ressourcen werden erörtert und erprobt. durch strukturierte Übungsangebote wird an den vorhandenen Defiziten, Konflikten und Störungen gearbeitet (übungszentriertfunktionale Modalität). durch kreative und erlebnisorientierte Methoden wird die Persönlichkeitsentwicklung und die Erschließung neuer Erlebnismöglichkeiten gefördert (erlebniszentriert-agogische Modalität). die korrigierenden emotionalen Erfahrungen im Sinne einer Nachsozialisation werden ermöglicht. in einer dyadischen Beziehung findet die Erinnerungsarbeit statt, mit dem Ziel des Auffindens, Bewußtmachens, Einsichtigmachens und Bearbeitens von Konflikten, Störungen und Defiziten. Dadurch soll eine Erhöhung der Sinnerfassungskapazität erreicht werden, die in Folge alternative Beziehungsgestaltungen ermöglicht (konfliktzentriert-aufdeckende Modalität). die vorhandene soziale Einbettung wird thematisiert (soziale Netzwerke) und Perspektiven für Aufbau, Gestaltung und Erhaltung eines hinreichend stabilen sozialen Netzwerkes werden erarbeitet (netzwerkaktivierende Modalität). in einer tragfähigen Arbeitsbeziehung erfährt der Patient Beistand, Begleitung, Entlastung und Sicherung in Krisenepisoden (konservativ-stützende, substituierende Modalität). destruktive bzw. toxische selbstreferentielle Kognitionen und Emotionen (strenges „Über-Ich“, Wertlosigkeitsgefühle, Selbstzweifel) werden systematisch bearbeitet. die Willenssozialisation wird thematisiert mit dem Ziel eines systematischen Aufbaus der Willensfähigkeiten. genderspezifische Themen werden bearbeitet.
Die Einzelgespräche finden in den ersten Wochen der Behandlung im Vormittagsbereich statt. Sobald der Patient ein externes Praktikum be-
9.2 Behandlungselemente
185
gonnen hat, finden die Gesprächstermine in den Abendstunden statt. In Einzelfällen wird der Patient stundenweise vom Praktikum befreit. Bei Patienten des Betreuten Wohnens finden die Einzelgespräche überwiegend im Abendbereich statt. Wenn der Patient zur Stabilisierung in das Programm der Adaptionseinrichtung eingebunden ist, finden die Gespräche statt.
9.2.2 Genderspezifische Angebote Zur Überprüfung, Bearbeitung und ggf. Veränderung des individuellen Rollenverhaltens und Rollenrepertoires sowie der Förderung einer genderspezifischen Identität werden spezielle Indikationsgruppen angeboten. Insbesondere im Umgang mit Menschen mit Gewalterfahrungen ist ein genderspezifischer Ansatz unerläßlich, da sonst die Gefahr der Wiederholung besteht. Unter der sichernden und schützenden Rahmung der genderspezifischen Gruppe kann eine Auseinandersetzung und Reflexion mit dem eigenen geschlechtsspezifischen Rollenverständnis sowie mit den Themenbereichen und Verhaltensweisen „Sich-Behaupten-Müssen“, „SichDurchsetzen-Müssen“ oder auch „Macht-Ausübung durch erotische Dominanz“ stattfinden. Frauenspezifischer Ansatz Mädchen und Frauen haben häufig in ihrer Entwicklung erfahren, daß sie sich körperlich nicht wehren dürfen. Sie reagieren auf Gewalt mehr mit Rückzug und selbstverletzendem Verhalten. Mädchen und Frauen wurden in ihrer Biographie häufig begrenzt und engen später ihre Aktivitäten als Frau ein. Wenn sie ausbrechen, werden sie häufig Opfer sexualisierter Gewalt. Entsprechend muß Therapie darauf abzielen, daß Frauen sich nicht klein machen, sondern sich wichtig nehmen; lernen, sich eigene Grenzen zu setzen; ihre Entfaltungs- und Entwicklungsspielräume vergrößern; lernen, ein eigenständiges – von Männern unabhängiges – Leben aufzubauen; Beziehungen zu Männern aufzubauen, die gleichberechtigt ausgerichtet sind; ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln; eine positive weibliche Identität zu erarbeiten.
186
9 Behandlungssetting
Männerspezifischer Ansatz Männer haben häufig in ihrer Entwicklung gelernt, sich aggressiv (verbal und nonverbal) zu wehren. Insbesondere Männer, die Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt waren, neigen dazu, gewalttätig und kriminell zu werden. Entsprechend sind die Ziele der Behandlung von Männern: adäquate Aufarbeitung männlicher Gewalterfahrung; Einüben verbaler Konfliktfähigkeit; Eingrenzung physischer Aggression; Erlernen eines adäquaten Umgangs mit Gefühlen; Erlernen eines respektvolleren Umgangs mit Frauen; Streßmanagement; Erarbeiten einer positiven männlichen Identität.
9.2.3 Ressourcenorientierte Gruppengespräche Die psychotherapeutisch orientierten Gruppengespräche nach dem Ansatz der Integrativen Therapie werden von einem Therapeuten und einem Co-Therapeuten prozeßorientiert und z.T. themenzentriert geleitet und dienen der Bearbeitung von Problemen, die aus der Abhängigkeitserkrankung und damit zusammenhängenden persönlichen Problemen resultieren. Je nach Indikation wird mit humanistisch-psychologischen oder körperorientierten Verfahren gearbeitet. Gruppengespräche als Methode berücksichtigen, daß die Ursachen von Suchtmittelabhängigkeit unter anderem in gestörten Gruppenbeziehungen liegen (Familie, Peer-group etc.). Ziel ist die eigene saluto- und pathogene Entwicklungsgeschichte verständlich und begreifbar werden zu lassen, unter Einbeziehung der vielfältigen Perspektiven und Wahrnehmungen aus der Gruppe (Mehrperspektivität). Im weiteren bieten das Gruppenerleben und der Gruppenprozeß in seiner interaktionalen Dynamik die Möglichkeit des Verlernens alter, schädigender Verhaltensweisen und des Erlernens von neuen alternativen Möglichkeiten, Kontakt, Begegnung und Beziehung in einer Gruppe zu gestalten. Die Gruppe dient dem Einzelnen als Identifikations- und Projektionsfeld, als Lernfeld und Übungslabor sowie als Ort, an dem Solidaritätserfahrungen möglich werden. Schutz und Sicherheit als Rahmenbedingungen ermöglichen das Erproben neuer, alternativer Verhaltensweisen; Fremdwahrnehmung und differenziertes Feedback ermöglichen eine realistischere Einschätzung der eigenen Person.
9.2 Behandlungselemente
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Selbst- und Fremdwahrnehmung werden in den Einzel- und Gruppengesprächen herausgearbeitet, so daß dem Patienten
Stärken und Schwächen deutlich werden, unrealistische Selbstbilder sowie problematisches Sozialverhalten deutlich werden und bearbeitet werden können, konkrete arbeitsbezogene Therapieziele entwickelt werden können, vorhandene Ressourcen gestützt, neue Ressourcen erarbeitet und die vorhandenen Potentiale gefördert werden können.
Durch die Gruppengespräche eröffnen sich für die Patienten Möglichkeiten,
sich aktuelles Verhalten und Erleben bewußt zu machen und Hintergründe dafür zu erkennen, neue Verhaltensweisen zu erproben, solidarisches Handeln zu erfahren und zu fördern, um einen gemeinsamen Weg aus der Abhängigkeitserkrankung zu finden (Solidaritätserfahrung), die Vielfalt der Wahrnehmungen zu ergänzen, bestehende Beziehungen zu reflektieren, positive Veränderungen bei einzelnen Gruppenmitgliedern zu erfahren und damit eine positive, zukunftsgerichtete und hoffnungsvolle Atmosphäre in der Gesamtgruppe zu erleben, das Selbsthilfepotential und die Selbstregulationsmechanismen zu verstärken.
Die Gruppengespräche finden einmal wöchentlich für die Gesamtgruppe i.S. eines Plenums und einmal wöchentlich als sog. Kleingruppe (6-8 Patienten) statt. In der Gruppe arbeiten wir mit gestalttherapeutischen, verhaltenstherapeutischen und integrativen Methoden (beispielsweise: Darstellung der Gruppe in Bildern und Skulpturen, Identifikationsübungen). Ziel der Gruppe ist die Stärkung von Selbstbewußtsein, Erlernen von praktischen Problemlösungsstrategien, der adäquate Umgang mit Alltagsproblemen und eine positivere Sichtweise.
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9 Behandlungssetting
9.2.3.1 Soziales Fertigkeits- und Kompetenztraining im Kontext der Gruppengespräche Mit diesem Behandlungsansatz werden der Blick des Patienten für ihren Prozeß geschärft und ihre Ressourcen gezielt gestärkt, damit er in „alltäglichen" Situationen seine Kompetenzen handhaben kann. Ein besonderer Schwerpunkt ist das Willenstraining, in dem Entscheidungsverhalten, Willenskraft und Durchhaltevermögen in spezifischer Weise vor dem Hintergrund einer Analyse der Willenssozialisation geübt werden. Ressourcen sind hier Fähig- und Fertigkeiten, können aber auch gute Erinnerungen und Beziehungen zu Personen sein, die der Einzelne positiv in Erinnerung hat. Die Gruppe soll dem Einzelnen ermöglichen, sich aus einer anderen Perspektive heraus kennenzulernen. Häufig haben sich die Patienten als „defizitär“ kennengelernt und erfahren, was sie alles nicht können, nicht bekommen haben und nicht sind. Hier wird der Fokus darauf gerichtet, was der Einzelne ist, kann und hat, aber auch (noch) braucht. Die Ressourcen-Analyse ist dabei ein ganz wesentlicher Bereich der Therapie. Hierbei dienen 4 Fragen als therapeutisches Handwerkszeug:
Was ist gesund und funktionsfähig und sollte erhalten werden? Was ist gestört und in seiner Funktion beeinträchtigt und muß restituiert werden? Was ist defizitär, weil es nicht vorhanden ist oder nie vorhanden war und muß deshalb bereitgestellt werden? Was wäre möglich, was ist noch nicht genutzt und könnte erschlossen oder entwickelt werden?
Da aus vielen Studien bekannt ist, daß bestimmte Bedingungen die Risiken für Sucht „puffern“ oder die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von negativen Verhaltensweisen minimieren, werden mit dem Patienten Möglichkeiten erarbeitet, wie er aufbauend auf seinen Ressourcen Resilienzen entwickeln kann, wie z.B. ein positives Selbstwertgefühl, positive Selbstwirksamkeitserwartungen und ein positives Sozialverhalten. In der Gruppe arbeiten wir mit gestalttherapeutischen, verhaltenstherapeutischen und integrativen Methoden, um die Behandlungsziele – Stärkung von Selbstbewußtsein, Erlernen praktischer Problemlösungsstrategien, adäquater Umgang mit Alltagsproblemen und positivere Sichtweise – zu erreichen.
9.2 Behandlungselemente
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Das Fertigkeits- und Kompetenztraining ist so konzipiert, daß die Einzelnen von den Fähigkeiten der anderen Gruppenmitglieder profitieren können. Ein wesentliches Ziel dieses Behandlungssettings ist die Erfahrung von Solidarität, Mitmenschlichkeit, Mitgefühl und eines „miteinander Handelns“. Wir versuchen, die Patienten zu einer solidarischen und fürsorglichen Umgehensweise untereinander zu bewegen und uns als Mitarbeiter ebenfalls als Teil eines neuen Netzwerkes zur Verfügung zu stellen. Hier zeigt sich, daß die Patienten, die dieses Angebot annehmen, ihr eigenes Gefühl der persönlichen Entfremdung verringern können.
9.2.4 Bewegungstherapie/Entspannungstechniken Sport und Bewegung haben in der Behandlung Abhängigkeitskranker eine hohe Bedeutung zur Erreichung des Abstinenzzieles und der Erhaltung des Rehabilitationserfolges.
9.2.4.1 Lauftherapie Lauftherapie als übungs- und erlebniszentrierte Behandlungsmethode in der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger „bietet einen guten Zugang, den Abhängigen ... einen Weg zu eröffnen, einen sorgsamen Umgang mit ihrer Leiblichkeit, d.h. auch eine Wertschätzung des Leibes und seiner Gesundheit, neu zu erfahren und zu verstehen. Über die liebevolle Pflege ihres Körpers werden antidestruktive Impulse erkannt und nutzbar und durch das „laufende Erleben und Erarbeiten” eines positiven Körperbewußtseins in die „Sorge um sich” umgewandelt – „Laufen als Lebenskunst” (Schay et al. 2006, 161). „Sporttherapeutische Angebote unterstützen den Rehabilitations- und Reintegrationsverlauf und beeinflussen psychosoziale Funktionen durch Aktivierungs- und Handlungsprozesse, in dem die Bezugsfähigkeit des Patienten zu sich selbst entwickelt bzw. wiederhergestellt wird und damit Regulationsmöglichkeiten hinsichtlich der eigenen Befindlichkeit möglich werden. Vor allen Dingen wird es möglich, die bei dieser Patientenpopulation in der Regel beeinträchtigten volitionalen Fähigkeiten zu stärken. ... Sport- und bewegungstherapeutische Maßnahmen gehören zu den herausragenden Möglichkeiten, die Willenskräfte zu entwickeln, die gerade bei Drogenabhängigen oft sehr beeinträchtigt sind. Der Aufbau von Kondition, das „Meistern einer Strecke”, regelmäßiges Training sind
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9 Behandlungssetting
effektive Wege, Wollen und Willen zu schulen und eine neue „Willenssozialisation” zu beginnen“ (ebenda, 165). „Ziel der individuellen Diagnose und sporttherapeutischer Behandlungsplanung ist neben dem „sanften Konditionsaufbau" ein auch nach der Behandlung andauernder „bewegungsaktiver Lebensstil". Hierzu sind die Berücksichtigung individueller Merkmale wie Alter, Kondition, Krankheitsbild, Motivation und ein Blick auf die Sportbiographie notwendig. ... In der Integrativen und kreativen Lauftherapie nutzen wir Leib- und Bewegungsphänomene, um durch sie spezifisch therapeutische Effekte zu erzielen ... (ebenda, 181f). „Das „Integrative und Kreative Laufen“ in der Integrativen Therapie (vgl. Petzold 1974j, 1996m) orientiert sich also nicht nur an den Prinzipien der Trainingslehre, die natürlich für einen systematischen behutsamen Konditionsaufbau erforderlich sind, denn ein „overexercising“ kann zu einer Schwächung des Immunsystems führen. Große Bedeutung hat auch die Beziehung zum begleitenden Therapeuten und zur Laufgruppe als Alternative zu sozialen Streßerfahrungen. Der Austausch über die Erfahrungen beim Laufen sensibilisiert die Selbstwahrnehmung und fördert den Bezug zum eigenen Leibe. Das Gespräch über die „Mühen und Freuden des Trainings", die Überwindung von „Tiefs" stärken die Willenskraft des Klienten, ohne die es in keiner Therapieform zu nachhaltigen Veränderungen kommen kann. Das Erleben der „eigenen Wirksamkeit" (Flammer 1990) bildet deshalb einen besonderen Fokus in der Lauftherapie“ (ebenda, 183).
Eine in unserer Einrichtung durchgeführte Studie zur Lauftherapie als übungs- und erlebniszentrierte Behandlungsmethode der IT in der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger (vgl. Schay et al. 2006) „belegt, daß mit der Lauftherapie positive Verhaltensveränderungen erreicht werden, wenn das angebotene Programm auf die Klientel zugeschnitten ist und die Klientel sich auf das Laufen einläßt. Hat die Klientel ein Gefühl für das unterstützende Genesungsprogramm der Lauftherapie entwickelt, kommen die eigenen Ressourcen zum Tragen: das Empfinden; was kann ich und was habe ich bereits geleistet; was und wo sind meine Grenzen; was geschieht mit meinem Körper; und was bewirkt das Laufen für mich persönlich. Diese Aussagen sind klare Anzeichen dafür, daß die Klientel mit der Lauftherapie eine Form gefunden hat, sich mit seiner eigenen Person auseinanderzusetzen. Des weiteren werden spürbar Souveränität und Wohlbefinden über die Lauftherapie entwickelt. ... Die Untersuchung hat gezeigt, daß die gesundheitsorientierte Lauftherapie für die Klientel ... ein bedeutender Faktor ist, über den Sport ein positives Lebensgefühl zu entwickeln. Lauftherapie als Instrument zur Stabilisierung des Behandlungserfolges ... ist ... zur Erhaltung und „Absicherung“ der Abstinenz von wesentlicher Bedeutung“ (ebenda, 200ff).
9.2 Behandlungselemente
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9.2.4.2 Entspannungstechniken Die Stabilisierung der Patienten und die Arbeit an den eigenen Ressourcen werden in den Vordergrund gestellt. Mit verbalen und nonverbalen Methoden wie Malen, Geschichten hören, Entspannungsübungen, Bewegung oder sanfter Körperarbeit werden schöne und angenehme Bilder erschaffen, die Sinnesqualitäten erhöht, angenehme Bewegungen und Aktivitäten gefunden. Diese positiven Qualitäten werden mit Hilfe von Worten, Symbolen und Selbstberührungen gut verankert, so daß die guten Gefühle wieder erfahrbar werden. Die Übungen sollen helfen, gezielt zu assoziieren und dissoziieren. Das Angenehme in der Erinnerung und Wahrnehmung soll kontrolliert verstärkt werden, das Unangenehme bewußt auf Distanz gebracht werden. Ziele der Stabilisierungs- und Entspannungsübungen sind
gezieltes assoziieren und dissoziieren lernen, Konzentrationsfähigkeit stärken, die Wahrnehmung unangenehmer Gefühle positiv verändern, innere Ruhe und Zufriedenheit finden, sich selbst trösten lernen, Wahrnehmung der eigenen Stärken verbessern, einen respektvollen und sorgfältigen Umgang mit sich selbst erlernen.
9.2.4.3 Entspannung durch Qi Gong „Qi Gong bezeichnet Meditations- und Bewegungsübungen aus der traditionellen chinesischen Medizin, welche der Förderung der Gesundheit dienen sollen. Qi Gong ist eine ganzheitliche Methode, die ihre Wirkung auf Körper, Geist und Seele ausübt. Der Begriff stammt aus den chinesischen Wörtern Qi (= Lebensenergie) und Gong (= Fähigkeit, Übung, Arbeit). Dem Qi Gong entsprechende Übungen wurden in China bereits vor mehr als 2000 Jahren ausgeführt“ (www.chirurgie-portal.de/alternative-medizin/qi-gong.html, 15.09.2007).
Qi Gong stellt einen Sammelbegriff vielfältiger Übungsmethoden zur Stärkung der Lebenskraft dar, die über Jahrtausende entwickelt wurden. Qi Gong beschäftigt sich mit Körperhaltung, Bewegung, Atmung und geistigen Übungen der Konzentration und Imagination. Alle Übungen können den individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen angepaßt
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9 Behandlungssetting
werden. Geübt werden gezielt Bewegungsabläufe, die zur Aktivierung und Harmonisierung beitragen und eine innere Gelassenheit entwickeln.
9.2.5 Soziotherapie „Soziotherapie soll dem Patienten durch Motivierungsarbeit und strukturierte Trainingsmaßnahmen helfen, psychosoziale Defizite abzubauen. Der Patient soll in die Lage versetzt werden, die erforderlichen Leistungen zu akzeptieren und selbständig in Anspruch zu nehmen. Sie ist koordinierende und begleitende Unterstützung und Handlungsanleitung für (schwer) psychisch Kranke auf der Grundlage von definierten Therapiezielen. Dabei kann es sich auch um Teilziele handeln, die schrittweise erreicht werden sollen. ... Soziotherapie unterstützt einen Prozeß, der dem Patienten einen besseren Zugang zu seiner Krankheit ermöglicht, indem Einsicht, Aufmerksamkeit, Initiative, soziale Kontaktfähigkeit und Kompetenz gefördert werden“ (Schay 90f.).
Soziotherapie ist insbesondere auf das individuelle und realitätsgerechte Umgehen mit den Anforderungen des täglichen Lebens fokussiert, da die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung als ein vorläufiges Scheitern im Umgang mit soziokulturellen Herausforderungen zu begreifen ist. Ziel der Soziotherapie ist die Entwicklung sozialer Kompetenz und der Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzwerkes. Soziotherapie setzt sich mit den gegenwartsbezogenen Problemen und deren Lösung auseinander. Themen wie individuelle Lebensplanung, Fragen der beruflichen Zufriedenheit und Perspektive, Kontaktaufnahme zu neuen Bezugsgruppen, Schuldenregulierung, sinnvolle Freizeitbeschäftigung sowie die Teilnahme an Selbsthilfegruppen sind wichtige Facetten der soziotherapeutischen Arbeit. Die Soziotherapie erfolgt wie die Psychotherapie im Kontext der Einzel- und Gruppengespräche.
9.2.6 Arbeit mit dem Rückfall/Rückfallpräventionstraining Die Arbeit mit dem Rückfall hat im Kontext Trauma und Sucht einen besonderen Stellenwert, da – wie bereits ausgeführt – der Suchtmittelkonsum auch als Mittel der Selbstregulation und Selbstmedikation verstanden werden muß. „Alkohol und Drogenkonsum beginnt demnach als ein teilweise erfolgreicher Versuch, schmerzvolle oder in anderer Weise schwer erträgliche emotionale Zustände zu beeinflussen. Psychotrope Substanzen werden von den Betroffenen
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dabei nicht nur zur Dämpfung von negativen Affekten eingesetzt, sondern können bei eingeschränkter emotionaler Erlebnisfähigkeit auch positive Gefühle steigern, oder weitere Mißhandlungsfolgen, wie Rückzugsverhalten oder Störungen in der Gestaltung sozialer Kontakte positiv beeinflussen. Der Substanzkonsum kann so für die Opfer eine zentrale Funktion in der Sicherung elementarer Grundbedürfnisse einnehmen und als ein dysfunktionaler Versuch einer pharmakologischen Konflikt- und Lebensbewältigung“ angesehen werden (Krausz et al. 2004)“ (Schäfer, Reddemann 2005, 15).
Die Auflösung alter Verhaltens- und Abwehrmuster im Verlauf der Therapie führt immer zu phasentypischen Zuständen innerer Labilisierung und Verunsicherung sowie zu Störungen in der Regulation des Selbstwertgefühls. Gerade bei traumatisierten Patienten sind im Rahmen der Behandlung vermehrte Rückfälligkeit und hohe Abbruchraten zu verzeichnen. Rückfälle werden nicht als prinzipielles Scheitern eines Ausstiegsversuches angesehen, sondern „sind (als) Ausdruck unzureichender Bewältigungskompetenzen für schwierige Lebenssituationen zu verstehen“ (Körkel, Schindler 2003, 23). Für die Mehrzahl der Abhängigen ist Rückfälligkeit eine normale Krise innerhalb eines längeren und komplexen Veränderungsprozesses. „Nach sozial-kognitivem Rückfalldenken ist erneuter Alkoholkonsum der statistisch erwartbare Normalfall, auf den man sich realistischerweise einstellen sollte“ (Körkel, Schindler 2003, 31). Diese Aussage ist aus unserer Sicht auch auf andere Suchtmittel zu übertragen.
Die Rückfalltheorie von Marlatt (nach Körkel, Schindler 2003) dient vielen Rückfallpräventionsprogrammen als Vorlage. Entsprechend dieser Theorie entwickelt sich Rückfälligkeit in einem längeren Prozeß mit folgenden Determinanten:
Unausgewogener Lebensstil Wunsch nach sofortigem Genuß Rationalisierungen, Leugnungen und scheinbar unbedeutsamen Entscheidungen Auftreten von Hochrisikosituationen Fehlen ausreichender Verhaltenskompetenzen Fehlende Zuversicht in die eigenen Fortschritte
Lindemeyer (1998) hat ein Rückfallschema entwickelt, das die Prozeßhaftigkeit des Geschehens unterstreicht:
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9 Behandlungssetting
Risikosituation
scheinbar harmlose Entscheidungen
Rückfallgedanken/ Verlangen
Rückfallschock
„Die Erkenntnisse der neurobiologischen Suchtforschung lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß der entscheidende Rückfallmechanismus nicht nur im schwerfallenden Verzicht auf die angenehme Suchtmittelwirkung besteht, sondern einen automatisierten, antizipatorischen Lerneffekt darstellt auf Stimuli, die eine angenehme Suchtmittelwirkung ankündigen. (und) ... aufgrund von dauerhaften Veränderungen im Gehirn von Suchtpatienten, in Rückfallsituationen dem verstärkten Anreiz von Suchtmitteln eine verringerte kognitive Kontrolle gegenübersteht. ... Der Schwerpunkt der Rückfallprävention (ist) auf das redundante Einüben von möglichst einfachen Bewältigungsfertigkeiten in kritischen Rückfallrisikosituationen zu legen“ (Lindenmeyer 2006, 19f).
Im Rahmen der Therapie muß individuell die Rückfallentwicklung jedes einzelnen Patienten herausgearbeitet werden, d.h.:
Welche Situationsmerkmale kommen zusammen? Welche scheinbar harmlosen Entscheidungen gingen voraus? Welche Rückfallgedanken haben sich aufgedrängt? Welcher Art war das Verlangen nach Suchtmitteln?
Die Bedingungen für Rückfälle sind durch das Zusammenwirken innerer Konflikte und äußerer Konflikte sowie unzureichender Bewältigungsfertigkeiten gegeben. Rückfälle werden sowohl von Therapeuten als auch von Patienten als Versagen gewertet. Eine Umbewertung dieser negativen Sicht – Rückfall ist ein Rückschritt – hin zu einer positiven Sichtweise – Rückfall als Lernerfahrung – ist für die weitere Behandlung von Vorteil (vgl. Körkel, Schindler 2003). Aufgrund der Erfahrungswerte in der Arbeit mit rückfälligen Menschen und den damit verbundenen Schwierigkeiten haben wir in die Behandlung ein regelmäßiges Rückfallpräventionstraining installiert. Neben der Entwicklung von Strategien zum Umgang mit „Ausrutschern“ liegt ein weiterer Fokus in der Stärkung der Zuversicht, Rückfallgefahren und Rückfälle meistern zu können. Rückfallprophylaktische Maßnahmen müssen sowohl primär- als auch sekundärpräventive Aspekte berücksichtigen: Primärprävention zielt auf Vermeidung eines Rückfalls ab; bei der Sekundärprävention steht die Schadensbegrenzung und die Verhinderung einer Verfestigung des Konsumverhaltens im Vordergrund. Der Patient soll Kompetenzen
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entwickeln, die Rückfallrisiken zu minimieren und bei Rückfälligkeit ein erneutes „Abgleiten in die Sucht“ zu verhindern. Rückfallpräventionsmaßnahmen sind nach Körkel, Schindler 18 (2003 ) (vgl. auch Schindler, Körkel 1995) zu untergliedern in
Maßnahmen zur Förderung eines ausgewogenen Lebensstils, die darauf abzielen, belastende Faktoren (auch traumabedingte) im Alltag zu identifizieren und abzubauen. Durch die Installation von entlastenden und entspannenden Dingen und Aktivitäten in den täglichen Ablauf sowie das Erlernen von Streßbewältigungstechniken wird ein Ausgleich zu den Anforderungen des Alltags geschaffen. Maßnahmen zum Erkennen von Rückfallrisiken (auch spezielle traumainduzierte), um für die Möglichkeit der eigenen Rückfälligkeit sensibilisiert zu werden. Zentrale Rückfallrisiken und belastende emotionale Zustände können identifiziert werden. Durch die ausführliche Analyse früherer Rückfällsituationen können Wiederholungen frühzeitig gestoppt oder verhindert werden. Ebenso schützen die aktive Auseinandersetzung mit Rückfallphantasien und -träumen und Erarbeitung von Risikochecklisten, Risikokalendern, Risikotagebuch etc. vor weiteren Rückfällen. Maßnahmen zur Erhöhung der Bewältigungskompetenzen, die Strategien zur Meidung von Hochrisikosituationen und zur Bewältigung wiederkehrender belastender Gefühlszustände beinhalten. Ablenkungstraining, soziales Kompetenztraining, Ressourcenaktivierung und Notfallhilfen müssen initiiert werden. Maßnahmen zur Veränderung rückfallbezogener Kognitionen, die auf Erstellen einer Entscheidungsmatrix, Umbewertung von Suchtverlangen, Überprüfung eigener Vorstellungen und Identifizierung von persönlichen Rückfallbedingungen abzielen.
In dem Rückfallpräventionstraining von Körkel, Schindler (2003) werden die oben aufgeführten Ziele in verschiedenen Themenkomplexen mit folgenden Themenschwerpunkten erarbeitet, die in unserer Arbeit durch die Information der Patienten über Traumaverarbeitung und -dynamik ergänzt wird, d.h.: 18
Das „klassische“ Rückfallpräventionstraining nach Schindler, Körkel (1995) umfaßt: 1) Absicherung der Situation (nach Bekanntwerden eines Rückfalls) 2) Klärung, ob eine Weiterbehandlung möglich ist 3) Inhaltliche Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Rückfall 4) Feedbackschleife
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9 Behandlungssetting
Grundinformationen über Rückfälligkeit Ablehnen von Konsumaufforderungen Umgang mit Anerkennung und Kritik Umgang mit unangenehmen Gefühlen Craving Ausgewogener Lebensstil „Ausrutscher“ und Rückfall und Umgang mit diesen Gespräche mit Angehörigen
Ziel ist es, den Rückfall bereits im Prodromalstadium (d.h. bei frühen Anzeichen oder Symptomen) zu erfassen, um frühzeitig entsprechende Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Besonders in Phasen von Selbstüberschätzung auf der einen und Resignation auf der anderen Seite sehen sich die Patienten mit Rückfallgedanken und -wünschen sowie der Angst vor einem Rückfall in ihren Alltagssituationen häufig konfrontiert (vgl. ebenda). Durch das Ausarbeiten eines individuellen „Risikoprofils" wird der Therapieplan auf die besondere Problemlage des Patienten abgestimmt. Die Betroffenen werden für künftige Risikosituationen sensibilisiert, um dann gezielte und adäquate Vorbereitungen treffen bzw. Vermeidungsstrategien entwickeln zu können, wobei es im Wesentlichen darauf ankommt, den drohenden (Verhaltensrückfall) wie den akuten Rückfall (Substanzrückfall) in seiner gesamten Dynamik verstehen und akzeptieren zu lernen. Wichtig im Kontext Rückfallprophylaxe ist der Blick auf grundlegende neurobiologische Mechanismen beim Suchtmittelkonsum. Alle Suchtmittel haben in besonderer Weise Einfluß auf die verschiedenen Neurotransmittersysteme. Es kommt zu unterschiedlichen teils sedierenden, aufputschenden und anderen Wirkungsweisen. Durch die zunehmende Toleranzentwicklung bei regelmäßiger Einnahme, ist eine Dosissteigerung zwingend erforderlich. Wenn das Suchtmittel nicht mehr konsumiert wird, kommt es zu einem Überaktivierungszustand, der sich in Entzugserscheinungen äußert. Alle Suchtmittel wirken auf Neurotransmittersysteme, die Mechanismen der Gegenregulation und Toleranzentwicklung hervorrufen. Suchtmittel wirken auf das Reward-System bzw. Belohnungssystem. Das Reward-System „besteht aus verschiedensten cerebralen Bahnen, die den präfrontalen Cortex mit tieferen Hirnstrukturen verbinden. Hieran ist auch der Nucleus accumbens beteiligt. Das Dopamin ist der Neurotransmitter, dessen Wirkung in diesem System bislang am besten erforscht ist. Das Reward-System dient dazu, überlebensnotwendige Hand-
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lungen mit einem angenehmen Gefühl zu versehen und auf diese Weise zu verstärken. Hierdurch wird gewährleistet, daß die notwendigen Tätigkeiten durchgeführt und auch wiederholt werden" (Vogelsang 2004, 15). Mit Suchtmitteln wird das Belohnungssystem stark aktiviert und ein angenehmes Gefühl stellt sich ein. Allmählich wird das Suchtmittel zum Hauptverstärker und bislang angenehme Gefühle auslösende Faktoren treten zurück, so daß nur noch das Suchtmittel die erwünschte Wirkung hervorbringt. Selbst dann, wenn das Suchtmittel abgesetzt ist, fehlen die positiven Wirkungen, so daß die Betroffenen keine Freude, Zufriedenheit usw. empfinden. Die Rückfälligkeit ist sozusagen vorprogrammiert. Die zentrale Aufgabe von Suchttherapie muß also sein, neuroplastische Veränderungen des durch den Suchtmittelkonsum geschädigten Belohnungssystems durch die Bereitstellung entsprechender Lernerfahrungen zu ermöglichen. „Hierzu ist die Kenntnis individueller Auslösetrigger unabdingbar, ebenso wie die Verfügbarkeit diesbezüglicher Verhaltensalternativen. Hervorgehoben werden muß die Erarbeitung individuell wirksamer „Notfallmaßnahmen" bei „Suchtdruck". ... Es ist wichtig, daß auch Maßnahmen zur Verfügung stehen, die bei erfolgter Rückfälligkeit zu einer schnellen Beendigung führen. Bewährt hat sich die Rückfallbearbeitung in einem nicht strafenden, verständnisvollen Rahmen unter Aufrechterhaltung der bestehenden therapeutischen Beziehung (Lubenau, Köhler 2002)" (Vogelsang 2004, 22).
Schäfer (2005) weist darauf hin, daß das Ziel der Abstinenz bei schwer traumatisierten Patienten nicht zu erreichen ist, so daß ein geringerer oder riskoärmerer Konsum als Therapieerfolg zu werten ist. „Gerade bei traumatisierten Patienten muß aufgrund der oft komplexen Zusammenhänge zwischen traumabezogenen Symptomen und Substanzgebrauch jedoch damit gerechnet werden, daß in vielen Fällen (zunächst) keine vollständige Abstinenz erreicht werden kann und es während der Behandlung in verstärktem Maße zu Abbrüchen und Rückfällen kommt. Nötig sind deshalb flexible, niedrigschwellige Behandlungsangebote und angemessene Therapieziele, die im Rahmen individualisierter, am Einzelfall orientierten Behandlungspläne verfolgt werden" (ebenda, 21).
Auch im Kontext des Umgangs mit Rückfällen steht die therapeutische Beziehung im Mittelpunkt. „Die Kontinuität der therapeutischen Beziehung und ein flexibler Umgang etwa mit Krisensituationen und Rückfällen, sind von essentieller Bedeutung für den Therapieerfolg" (ebenda, 20f).
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9.3 Traumaspezifische Behandlungselemente Traumatisierte Patienten benötigen auf dem Hintergrund einer durch Gewalt und Mißbrauch gekennzeichneten Biographie die Erfahrung von äußerer (durch die von der Einrichtung gebotenen Rahmenbedingungen) und innerer (durch die Verläßlichkeit der therapeutischen Beziehung) Sicherheit. Im Behandlungssetting ist besonders darauf zu achten, daß jegliche Art von Retraumatisierung vermieden werden muß; d.h. a) die Hausordnung verbietet verbale, körperliche oder sexualisierte Gewalt; b) es gibt nach Geschlecht getrennte Schlaf- und Sanitärbereiche und c) die Einrichtung gewährleistet individuelle Rückzugsmöglichkeiten. Des weiteren werden mit dem Einzelnen individuelle Vereinbarungen getroffen, die im Behandlungsvertrag festgehalten werden.
9.3.1 Ressourcenorientierte Einzeltherapie Für die Patientengruppe wird die Einzeltherapie höher frequentiert durchgeführt; soweit indiziert finden tägliche Termine statt, in denen i.S. eines Blitzlichtes die aktuelle Befindlichkeit des Patienten reflektiert und i.S. der Krisenintervention ggf. konkrete Handlungsschritte zur Stabilisierung des Patienten vereinbart werden. Zusätzlich wird mit spezifischen traumatherapeutischen Methoden (hier: die Verankerung von persönlichen Kraftquellen und die Erfahrung innerer Sicherheit und Kontrolle) gearbeitet. Ausschließlich in der Einzeltherapie findet das Thema „Trauma“ Berücksichtigung. Dabei geht es um die Vermittlung von Informationen zu den Folgen traumatischer Erfahrungen, die Entwicklung von Akzeptanz und Verständnis für die eigene Sensibilität, das Erlernen von Stabilisierungs- und Distanzierungstechniken und die Bearbeitung des Traumas. Die Stabilisierung steht im Vordergrund, d.h. erlernte Fähigkeiten werden geübt, vertieft und individuell ergänzt. Die Stabilisierungsphase dauert um so länger, je früher und länger die Traumatisierungen eintraten. In der Einzeltherapie geht es zunächst darum, daß die Patienten lernen, ihre Gefühle selbst zu steuern und sich selbst zu beruhigen, sich emotional zu distanzieren und wirksame Notfallstrategien zu entwickeln.
9.3 Traumaspezifische Behandlungselemente
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9.3.2 Die Bedeutung physischer Aktivität in der Trauma- und Suchttherapie Für „Traumapatienten (ist) psychische Aktivität wichtig, etwa Sport oder körperliche Arbeit, um die physiologische Streßreaktion abzubauen. Spazieren gehen oder Bergsteigen können dazu beitragen, den Zirkel von Grübeln, Wiedererleben der traumatischen Erfahrung oder Abstumpfung und Rückzug zumindest zeitweilig zu unterbrechen. Die tägliche physische Aktivität sollte einen rituellen Charakter erhalten. Aus der interkulturell vergleichenden Forschung ist bekannt, daß Kulturen zu allen Zeiten Rituale zur Bekämpfung und Dämpfung von Traumafolgen entwickelt haben. Rituelle sportliche Routinen können je nach Fähigkeit des Patienten auch in Sportvereinen, Trainingszentren und Fitneßstudios durchgeführt werden, hier möglichst auch im Gruppenkontakt" (Fischer/Riedesser 2003, 209).
Der Einsatz von körperlicher Aktivität durch Laufen ist traditionell ein wirksamer „Weg der Heilung und Förderung“. „In der Traumabehandlung kann Körperarbeit dabei helfen, den Umgang mit potenziell überwältigenden Affekten zu regulieren. ... Unter Rückgriff auf Levine (1998) schreibt Reddemann (2000, 129), daß die Konzentration auf das Körpererleben einen beruhigenden und angst-mindernden Effekt haben kann. Dies setzt Selbstheilungskräfte frei“ (Geuter 2006, 261).
Die Studie von Schay (2004) zeigt die hohe Effektivität dieses Behandlungsansatzes für den Behandlungserfolg (vgl. auch 9.2.4.1). Da ein unmittelbarer Zusammenhang von traumaspezifischen Symptomen und Suchtmittelkonsum gegeben ist, kann daraus abgeleitet werden, daß die physische Aktivität in der Trauma- und Suchttherapie von besonderer Bedeutung ist. „Im traumatischen Streß bzw. in Hyperstreß sind es vor allem die Bedrohung körperlicher Unversehrtheit und die damit verbundenen Erfahrungen von Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Ohnmacht, die überschießende Physiologien auslösen (Petzold, Wolf et al. 2000; van der Kolk et al. 2000). Solche Situationen müssen also unbedingt vermieden werden. Im Gegenteil, Erfahrungen von Situationskontrolle müssen in angemessener „Dosierung“ bereitgestellt werden. Das sanfte, geruhsame, nicht konkurrente Laufen bietet eine solche Situation, in der statt der Übererregtheit des „Kindlings“ eine Beruhigung und Dämpfung – ein quenching (Weiss et al. 1995, 1997) – zur Wirkung kommt. In moderatem, therapeutischen Laufen können „Erfahrungen des Gelingens“, der „Situationskontrolle“ gemacht und verankert werden. Sie werden „ins Gedächtnis eingeschrieben“ (Williams, Banyard 1999) – in das „implizite“ Leibgedächtnis. Diese Erfahrungen, die die Bedeutung vorgängiger Erfahrungen abmildern, lassen neue Situationen „im Abgleich“ mit biographischen Erfahrungen nicht mehr so
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9 Behandlungssetting
aussichtslos und unbewältigbar erscheinen, und verhindern damit auch das Triggern einer Streßphysiologie, die sich ansonsten von Mal zu Mal tiefer bahnt (van der Kolk 1994). Durch das Erleben, Einüben und Umwerten von Situationen, wie sie das gemeinsame sportive Tun bietet, können so Neukonditionierungen möglich werden, indem Situationsbewertungen als „nicht mehr gefährlich“ eingestuft werden (Canli et al. 2000)“ (Schay et al. 2006, 179f).
9.3.3 Entspannung im Rahmen der Traumatherapie Integrative Differentielle Relaxation (IDR) auch Iso-Dynamische Regulation genannt (Petzold 1985f, 2000f) ist eine Maßnahme der lockeren Entspannung zwischen Erschlaffung und Anspannung und dient der ausgleichenden, ausgewogenen psychophysiologischen Selbstregulation des Menschen (vgl. Petzold et al. 2000). Es lassen sich unterschiedlichste Entspannungstechniken zusammentragen: Mentale Entspannung (Autogenes Training, imaginative Ansätze etc.), muskuläre Entspannung (wie Jacobson-Training), respiratorische Entspannung (Middendorf-Arbeit), physikalische Entspannung (Wärme/Kälte Packungen, Massage etc.), Biofeedback-Entspannung (buttom up and top down) und substanzinduzierte Entspannung (Medikamente, Alternativmedizin). In diesem Rahmen können wir nicht auf jedes einzelne Verfahren eingehen, sondern beschränken uns auf die IDR, die Elemente aus den aufgezählten Entspannungsmethoden integriert. „Insgesamt steht die IDR-Arbeit in der Zielsetzung, die auch im originären Jacobson-Ansatz leitend war (Jacobson 1938), für Verspannungen zu sensibilisieren, ihren Aufbau wahrzunehmen und rechtzeitig mit Streckung und Atemdehnung entgegenzusteuern, ja bestehende Restspannungen feinspurig abzubauen. ... Unterstützend können noch entspannende Phantasiebilder ..., die im Sinne eines „Mentalen Trainings“ mit dem Patienten erarbeitet wurden, aufgerufen werden, und zwar mit offenen Augen, um Kontrollverlust und hypnoiden Effekten mit Konfluenz- und Intrusionsrisiken vorzubeugen. Dieser „positive recall“ wird auf begleitende Leibempfindungen ausgedehnt. Menschen lernen so, angenehme „Leibatmosphären“ (Schmitz 1989) und Entspannungszustände zu evozieren. Kurzwirkende Evokationstechniken (Mikrostretching, Quick-Relax) werden für den Alltag eingeübt (z.B. Handspreizen, Recken, Gähnen mit Entspannungslandschaft oder positiven Bildern als „Mentalclips“). Das „angenehme Klima“, das der Therapeut/die Therapeutin in der Behandlungsstunde aufbaut, ist dabei eine wichtige Voraussetzung. Er muß ein aktual erlebbarer, positiver und entspannter Beistand und Begleiter sein, um ggf. als ein „innerer Beistand“ (Petzold 1985l) internalisiert werden zu können“(Petzold et al. 2000, 523).
9.3 Traumaspezifische Behandlungselemente
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Die IDR kann kurzfristig zu angenehmen Gefühlen führen, muß aber über einen langen Zeitraum geübt werden, um langanhaltende psychophysiologische Veränderungen zu bewirken (vgl. ebenda). Deshalb ist ein wöchentliches angeleitetes Training indiziert. IDR kann ähnlich wie andere Verfahren zu einem veränderten Lebensstil beitragen. Wesentlich ist die aktive Teilnahme des Patienten, sowie Erfahrung, Einfluß auf sich nehmen und Kontrolle wiedergewinnen zu können. Im traumatherapeutischen Kontext wird die IDR-T gelehrt, damit der Patient besser mit der PTBS-Symptomatik umgehen kann und aktiv Gefühle reguliert und für Entspannung sorgt (vgl. ebenda). Die IDR-T besteht aus den wesentlichen Elementen „Supportive low-level Stimulierung (SLS) und Emotionale Modellierung (EM)“ (ebenda, 525). Das Einverständnis des Patienten vorausgesetzt wird durch positive Berührungen eine Beruhigung erreicht. Wenn der Patient durch die IDR in die Lage versetzt wurde, gut zu entspannen, kann die IDR-Traumaformat mit folgendem Aufbau begonnen werden: „Emotionale Modellierung • Konstellierung (constellating): Wir bitten den Patienten/die Patientin um ein Freundlichkeits-Emoting, Aufsetzen eines Lächelns, wir lächeln mit (coemoting). • Einstimmung (induction): Dann bitten wir ihn, sich Situationen aus der persönlichen Biographie vorzustellen (Augen offen als „mentale Anmutung“, nicht als Bild!), indem er gleichzeitig über sie berichtet, Situationen, die schwierig waren, belastend gar, aber nicht traumatisch. Dabei soll er Empfindungen und Körperresonanzen aufkommen lassen. Es kann Stützberührung an der Schulter oder beruhigende Streichberührung am Rücken als low-lewel Stimulierung angeboten oder vom Patienten angefragt werden. • Feineinstimmung (dosing): Alles soll so dosiert werden, daß die Empfindungen gut aushaltbar sind, gegebenenfalls ist durch Mikrostretchings oder Relaxatmung zu steuern. Die Erzählung geht dabei weiter, oder es werden Passagen wiederholt. • Ausstimmung (distancing): Auf Anweisung wird das Belastungsgefühl zurückgenommen. „Bitte lockern, recken, strecken, ausklingen lassen!“ – Aus der „exzentrischen Position“ wird der Prozeß betrachtet und evaluiert. • Erneuter Durchgang, jetzt mit einem Gelassenheits-Emoting und lowlewel-Stimulierung dorsal: Beim Feinstimmen wird jetzt das dosing intensiviert, um dann in einen Emotionswechsel zu gehen. • Umstimmen (shifting): Es wird geübt, von dem aufkommenden Belastungsgefühl wieder wegzukommen (shifting) und aktiv das Entspan-
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nungs- und Wohlgefühl wieder aufzurufen, die Stimmung der Freundlichkeit, der Heiterkeit usw.. Jedesmal wird die entsprechende Mimik „aufgesetzt“, da dies „movement produced information“ auch eine physiologische Umstimmung ermöglicht ..., die unmittelbar anhand des Muskeltonus der Gesichtsmimik kontrollierbar ist“ (ebenda, 527).
Aus unserer Sicht ist dieser Ansatz, der zu einer Bewältigung der PTBSSymptomatik im Alltag beiträgt, hervorragend für die Arbeit mit unseren Patienten geeignet. „Besondere Wichtigkeit hat ... die Verankerung des Neugier-Emotings, das Aufrufen des Gefühls von Neugier und Interesse, durch Aufsetzen eine „Neugiermimik“... mit der Haltung (posture) der Aufrichtung, Zugewandtheit, dem Bewegungsimpuls des Hingehens. Wann immer nämlich Ängste und Unbehagen aufkommen, kann die gut verankerte Neugier-Response eine mächtige Gegensteuerung sein. ... Sie ermöglicht zugleich eine distanzierende Position, die nicht affektlos ist, sondern engagiert Distanz, Exzentrizität im Kontakt (mit sich selbst, mit anderen, mit der Umgebung, mit traumatischen Erinnerungsinhalten etc.)“ (Petzold et al. 2000, 527f). 19
Auf diese Weise können moderate Traumaexpositionen durchgeführt werden, wobei einschränkend erwähnt werrden muß, daß zunächst ausreichend Stabilität bei den Patienten gegeben sein muß, um mit einer Exposition beginnen zu können. Bei unseren Patienten steht vorrangig die Stabilisierung im Vordergrund. Häufig reduzieren sich die PTBS-Symtome durch diese Arbeit bzw. können die Patienten sich einen adäquaten Umgang mit diesen erarbeiten. In den meisten Fällen würde eine Traumaexposition zu einer erneuten Destabilisierung führen. Ebenso schränken die zur Verfügung stehende Behandlungszeit und die zu erarbeitenden Rehabilitationsziele die Möglichkeit der Exposition ein.
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Noch einmal zur Verdeutlichung: Traumatherapie besteht aus (1) Stabilisierungsphase, (2) Phasen der Traumaexposition und (3) Integrationsphase. (1) In der Stabilisierungsphase soll möglichst die körperliche und seelische Stabilität des Patienten erreicht werden, d.h. Wiederherstellung einer äußeren und inneren Sicherheit, Wiedererlangung der Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen, Erlernen von Strategien zur Krisenbewältigung. (2) Ist ausreichend Stabilität erreicht, ist zu überprüfen, inwieweit eine Traumaexposition sinnvoll und notwendig ist (vgl. auch Fußnoten 26-28). In dieser Phase geht es um die nochmalige Konfrontation mit dem Erlebten, um es integrieren zu können. (3) In der Integrationsphase ist das Ziel, das Erlebte in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen und auf der Basis dessen eine Neuorientierung zu erarbeiten.
9.3 Traumaspezifische Behandlungselemente
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9.3.4 Arbeit mit dem Rückfall Ergänzend zu den unter 9.2.6 ausgeführten Positionen zu Rückfall, dem Umgang mit demselben und den Präventionsstrategien ergeben sich für traumatisierte Patienten mit PTBS-Symptomen folgende Besonderheiten: Rückfälle auf dem Hintergrund einer PTBS Symptomatik sind zu verstehen als momentan einzige Bewältigungsstrategie des Patienten mit belastenden Situationen, intensiven psychischen Belastungen, Intrusionen, Erinnerungen an traumatische Erfahrungen etc. umzugehen. Das Suchtmittel wird dabei häufig im Sinne einer Selbstmedikation genutzt, um unangenehme Gedanken und Gefühle zu vermeiden. „Viele Patientinnen, aber auch Patienten, können mit zunehmenden Symptomen einer PTBS – etwa Intrusionen, Körper-Flashbacks, Übererregbarkeit – schwer umgehen, weil sie wissen, wie gut Drogen im Sinne einer chemisch induzierten Dissoziation gegen diese Symptome helfen“ (Lüdecke, Sachsse, Faure 2004, 376).
Bei Suchtpatienten mit einer zusätzlichen PTBS-Symptomatik ist es wesentlich, den Patienten den Zusammenhang zwischen den Symptomen einer PTBS und Suchtmittelkonsum zu verdeutlichen. In der Anfangsphase häufen sich Rückfalle. Jedoch sollten wir die Patienten nicht in dem Gefühle bestärken, es wieder nicht geschafft zu haben. Dies ist kein Freibrief zum Konsum, sondern das Wissen darum, daß noch keine anderen adäquaten Bewältigungsstrategien erarbeitet sind. Ziel muß es sein, traumabedingte Risiken zu identifizieren, zu minimieren oder auszuschalten und andere Bewältigungsstrategien zu erarbeiten. Das unter 9.2.6 dargestellte Rückfallpräventionstraining von Körkel, Schindler (2003) muß dementsprechend um folgende Themenschwerpunkten ergänzt werden:
Grundinformationen über Suchtmittelkonsum im Kontext einer PTBS-Symptomatik Minimierung traumabedingter Risiken Umgang mit intrusiven Erleben Erarbeitung eines fürsorglichen Umgangs mit der eigenen Person Vermeidung von belastenden Situationen Streßmanagement
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Behandlungsaspekte/-verlauf
Patient A Der Patient ist weder beruflich noch sozial integriert. Er hat keine Arbeit und verfügt über keine sozialen Kontakte außer zu seiner Freundin. Er möchte sich von seinem bisherigen sozialen Umfeld abgrenzen, sich perspektivisch eine eigene Wohnung, ein Zuhause aufbauen Zu berücksichtigen ist, daß der Patient sich seit 2000 insgesamt 18 Monate in Fachkliniken aufgehalten hat. Zentrale Lebensthemen hat er nicht benannt. Bezugspersonen gegenüber verhielt er sich mißtrauisch und distanziert. Die dort gesammelten Erfahrungen haben ihn nicht befähigt, abstinent zu leben. Er ist in sein altes soziales Umfeld zurückgekehrt, nach kurzer Zeit in seine alten Verhaltensweisen zurückgefallen und wieder rückfällig geworden. Dies hat dazu geführt, daß er sich nunmehr entschlossen hat, sich in einem neuen Umfeld ein soziales Netzwerk aufzubauen und sich in einen langfristigen Betreuungskontext zu begeben. In den vorbehandelnden Einrichtungen konnte er sich emotional entlasten, seine Probleme zumindest in Ansätzen benennen und eingrenzen, Vermeidungsstrategien reduzieren und Zusammenhänge zwischen Suchtmittelkonsum und Lebensführung reflektieren. Er hat nicht gelernt, die Sichtweisen relevanter Bezugspersonen anzunehmen und sich mit diesen konstruktiv auseinanderzusetzen.
Patientin B In der vorbehandelnden Einrichtung konnte sich die Patientin nach anfänglichen Schwierigkeiten sehr gut auf die Behandlung einlassen. Die zentralen Lebensthemen wurden benannt. Insbesondere der jahrelange Mißbrauch wurde thematisiert. In begleitenden Paargesprächen konnte die Patientin ihre Rolle in Beziehungen kritisch hinterfragen. Familiengespräche kamen aufgrund der Verweigerung des Vaters nicht zustande Die Patientin ist weder beruflich noch sozial integriert. Die Partnerschaft ist in einer kritischen Phase. Der Partner ist aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Die Patientin ist im achten Monat schwanger. Ihre jüngste Tochter ist zu ihr gezogen und hat erhebliche Probleme sich in das neue soziale Umfeld zu integrieren. Die Patientin verfügt über keine weiteren Kontakte
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10 Behandlungsaspekte/-verlauf
Als die Patienten A und B in unserer Einrichtung aufgenommen wurden, glaubten sie nicht an ihre Selbstwirksamkeit und eigene Urheberschaft. Sie schätzten ihr Leistungsvermögen, ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten, ihre Leistungsbereitschaft negativ ein und fühlten sich als Opfer äußerer Umstände. Sie wirkten sehr distanziert und waren im Kontakt nur schwer zu erreichen. Im Verlauf der Behandlung entwickelten sie Vertrauen in ihre Kompetenzen, Performanzen und Ressourcen; sie waren nach einiger Zeit bereit, sich konstruktiv mit ihrem Beziehungsverhalten auseinanderzusetzen. Es gelang ihnen, einen Zusammenhang zu ihren biographischen Erfahrungen und der Entstehung ihrer Krankheit herzustellen und zu erkennen. Ihr Verhalten war geprägt durch Mißtrauen, intensive Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen. Die Patienten wurden durch die belastende Situation (Ankommen in einer ihnen fremden Umgebung, Abschied aus der ihnen vertraut gewordenen Therapiegemeinschaft etc.) wieder in diesen Zustand versetzt und zeigten eine erhöhte Kränkbarkeit und eine enorme Unsicherheit; was sie jedoch hinter einem vordergründig angepaßten Verhalten aber auch unterschwellig aggressivem Verhalten zu verbergen suchten. Die Patienten konnten dieses Verhalten nur schwer verändern und es gelang ihnen nur mühsam, ihr Interaktionsverhalten gelassener und flexibler zu gestalten.
zu A + B
Der Patient A hat zunächst den (zeitlich begrenzten) Rahmen der Adaption, um sich im sozialen und beruflichen Alltag zu erproben; die Patienten A und B haben die Möglichkeit des (zeitlich unbegrenzten) Betreuten Wohnens, um sich in soziale Bezüge zu integrieren und sich ein tragfähiges soziales Netzwerk aufzubauen. Unter Berücksichtigung des Gewordenseins und der faktischen Not- und Problemlagen der Patienten wird der Fokus der Behandlung auf auftretende Schwierigkeiten in der Gegenwart sowie auf die aspektive Betrachtung des Zukunftshorizontes gerichtet. Der biographische Hintergrund wird dabei nur bedingt einbezogen, um Überlastungssituationen und Regression nicht unnötig zu konstruieren. Mit den Patienten müssen Strategien in Situationen des (vermeintlichen) Scheiterns entwickelt werden, um anstehende Kriseninterventionen zu ermöglichen oder Rückfälle auffangen zu können; d.h. die Erarbeitung von Copingmöglichkeiten und die Förderung von Ressourcen, also die Bereitstellung von protektiven Faktoren. Mit der in unserer Einrichtung systematisch eingesetzten Lauf- und Entspannungstherapie steht den Patienten ein wirksames therapeutisches Mittel zur Verfügung, um Selbstvertrauen und Selbstbeherrschung zu erlangen (vgl. 9.2.4.1 und 9.3.).
Deutlich wurde, daß die Patienten in Belastungssituationen immer wieder in überschießende Spannungszustände geraten sind, die sie nicht zu kompensieren verstehen. Aufgrund traumatischer Beziehungserfahrungen fanden sie nur schwer Halt und Unterstützung im Kontakt mit anderen Menschen und zeigten sich deutlich reduziert in ihren Möglichkeiten,
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Beziehungen herzustellen. Das Kontaktverhalten war ängstlich und eher vermeidend. Im Verlaufe des therapeutischen Prozesses konnten die Patienten sich durch verständnisvolles emphatisches Verhalten des Einzeltherapeuten in der Einzeltherapie öffnen und ihre Spannungszustände abbauen und für sich Möglichkeiten der Veränderung entwickeln. Die Einzeltherapie war der für sie bevorzugte Ort, an dem sie sich öffnen konnten. Hier gelang es den Patienten zunehmend, sich mit ihren Unsicherheiten, ihren Ängsten, den immer wiederkehrenden Erinnerungen an das traumatische Ereignis und mit den damit einhergehenden inneren wie äußeren Konflikten auseinanderzusetzen. Intensiv konnten sie ihre bisherigen Problembewältigungsstrategien wie Rückzugstendenzen in Krisensituationen und ihr zeitweise aggressives Interaktionsverhalten problematisieren. Sie konnten diese Bewältigungsstrategien als dysfunktional bewerten lernen. Sehr belastend war für die Patienten, ihr grundlegendes Gefühl der Einsamkeit. Nur zögerlich waren sie in der Lage durch die Betrachtung ihrer Biographie und ihrer Lebenserfahrungen ein Verständnis von der Funktionalität ihres Beziehungsverhaltens und ihres Suchtmittelkonsums zu erreichen. Die Patienten konnten in ihren Affektregulationen soweit stabilisiert werden, daß eine Annäherung an traumatische Lebenserfahrungen möglich war. Sie berichteten über ein Gefühl der Isolierung und Entfremdung von anderen und eine deutliche reduzierte Fähigkeit, Gefühle zu empfinden (vor allem wenn es Intimität, Zärtlichkeit und Sexualität betraf). Empathiefähigkeit war nur in geringem Maße vorhanden.
Behandlungsverlauf/-ergebnis Patient A Der Patient setzte sich nach anfänglichen Schwierigkeiten bei der Integration in den Behandlungsrahmen im weiteren Behandlungsverlauf intensiver mit seiner Suchterkrankung auseinander und konnte dadurch seine rationale Krankheitseinsicht, die er teilweise in früheren Behandlungen entwickelt hatte, vertiefen. Ebenso war er zunehmend in der Lage, seine Krankheit auch emotional zu akzeptieren. Bei der Problematisierung seiner (beziehungsgestaltenden) Verhaltensmuster zeigte sich der Patient bereit, sich konstruktiv mit seinem Verhalten auseinandersetzen. Es gelang ihm, einen Zusammenhang zu seinen biographischen Er-
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fahrungen herzustellen. Der Patient erkannte, wie sich sein Verhalten mit sichtbaren zwanghaften Anteilen im Rahmen seiner Kindheit entwickelt hatte. Der Patient konnte dieses Verhalten nur schwer verändern und es gelang ihm nur mühsam, in Ansätzen sein Interaktionsverhalten gelassener und flexibler zu gestalten. Im weiteren Verlauf der Therapie konnte der Patient den therapeutischen Kontakt und die verschiedene Behandlungsmaßnahmen zunehmend positiv für sich nutzen und begann, mehr Eigenverantwortung zu entwickeln. Im Rahmen der betrieblichen Praktika sammelte der Patient wichtige Erfahrungen über seine Leistungsfähigkeit und sein Durchhaltevermögen. Nachdem das erste Praktikum abgebrochen werden mußte, setzte der Patient sich konstruktiv mit seinem Leistungsvermögen und seinen Anpassungsschwierigkeiten auseinander und kam hier zu einer deutlich realistischeren Einschätzung seiner Fähigkeiten. Nachdem er sich in seinem zweiten Betriebspraktikums zunächst sehr bemüht zeigte, sich mit seinen defizitären Anteilen konstruktiv auseinanderzusetzen, fiel er bereits nach zwei Wochen in alte Verhaltensmuster zurück und begegnete den Hinweisen des Praktikumsgebers mit Abwertung. In der Einzeltherapie gelang es ihm nur mühsam, sich selbst einzugestehen, daß er seine Fähigkeiten überschätzt hat und seine beruflichen Ziele relativieren muß. Seinen Plan, beruflich wieder in seinem erlernten Beruf als Tischler tätig zu werden, konnte er zum Ende der Adaptionsbehandlung insoweit verändern, daß er zunächst in einer gemeinnützigen Institution einen sog. 1-Euro-Job annehmen wollte, um sich hier weiter zu stabilisieren und seine Leistungsfähigkeit zu verbessern. In der 15. Behandlungswoche nimmt der Patient in Absprache mit seinem Bezugstherapeuten Kontakt zu seiner Halbschwester auf. Hierüber ergeben sich auch Kontakte zu seiner leiblichen Mutter und seinem Großvater. Der Kontakt zur Halbschwester ist anfangs von positiver vorsichtiger Annäherung geprägt; die Geschwister wollen sich kennenlernen. Nach wenigen Wochen muß der Patient erkennen, daß die Schwester Verabredungen nicht einhält und sich ihm gegenüber zunehmend gleichgültig und abweisend verhält, worauf der Patient den Kontakt abbricht. Der Kontakt zur Mutter verläuft desolat. Die Mutter ist chronifizierte Alkoholikerin und nicht in der Lage sich auf ihren Sohn einzulassen. Sofort versucht sie, ihn für sich einzunehmen/auszunutzen. Nur mit Mühe gelingt es dem Patienten, sich abzugrenzen. Aus einer deutlich spürbaren Kränkung und Enttäuschung heraus, lehnt er jeden weiteren Kontakt ab. Vom Großvater fühlt er sich nicht gesehen und ignoriert. Auch diesen Kontakt bricht er ab. Anschließend beschreibt er einerseits das angenehme Gefühl, seine Familie „gefunden“ zu haben und andererseits ein Gefühl von innerer Leere – als sei er in ein „schwarzes Loch“ gefallen. Da der Patient insgesamt noch sehr instabil und nur wenig belastbar ist, wird die Behandlung um 8 Wochen verlängert.
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In dieser Zeit kommt es zu einer Stabilisierung: Der Patient beginnt ein regelmäßiges Lauftraining (3x wöchentlich) und erlebt für sich, hierüber seine Spannungszustände und innere Unruhe gut regulieren zu können. In der Einzel- und Gruppentherapie arbeitet er intensiv an seinem Beziehungsverhalten und faßt zunehmend Vertrauen zu seinem Bezugstherapeuten. Seine weitere Lebensplanung: Über eine enge Anbindung an die Einrichtung und eine enge Weiterbetreuung (Betreutes Wohnen, betreute Wohngemeinschaft) nach Abschluß der Adaptionsbehandlung will er sich ein soziales Netzwerk aufbauen und weiter an seinen Problemen arbeiten.
Patientin B Zum Zeitpunkt der Aufnahme war die Patientin im 8. Monat schwanger. Zunächst stand die Stabilisierung der Patientin im Vordergrund, damit sie bis zur Geburt ihres Kindes zur Ruhe kam. Es ging vorrangig um Unterstützung und Begleitung in alltagspraktischen und administrativen Belangen. In den therapeutischen Einzelgesprächen wurde Teilziele vereinbart, die die Patientin umsetzen sollte, um Struktur in ihren Alltag zu bekommen und ihre emotionale Befindlichkeit zu stabilisieren. Sie wurde in das hausinterne Programm (Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten, Freizeitprogramm und Gruppe) eingebunden. Sie nahm regelmäßig an den Programmpunkten teil, solange dies ihre Schwangerschaft zuließ. Insbesondere war die Teilnahme an der Entspannungsgruppe für die Patientin wesentlich. In der Einzeltherapie wurden von Beginn an Strategien entwickelt und Methoden vermittelt, wie sie unangenehme Gefühle und Gedanken, Intrusionen händeln konnte (sicherer Ort, Tresorübung, innerer Begleiter, innerer Garten). Die Patientin wurde von Alpträumen gequält. Hier half besonders die Tresorübung, um die erschreckenden Gedanken und Bilder zunächst in einem imaginären Tresor zu verschließen. Die Konflikte mit ihrem Partner und die Sorge und Unsicherheit, ob er die Verantwortung für sein Kind übernehmen würde, beherrschten die Einzeltherapie. Aufgrund der fortgeschrittenen Schwangerschaft fand keine Tiefung in den Einzelgesprächen statt. Es ging darum, einen achtsamen Umgang mit sich zu erlernen. Es wurden Entspannungsmöglichkeiten entwickelt, die sie gut in ihren Alltag integrieren konnte. Außerdem wurden Wege erarbeitet, wie sie sich und ihrem Körper Gutes tun könne und mit ihrem ungeborenen Kind in Kontakt treten könne. Die ersten Schwangerschaften hatte die Patientin nicht bewußt erlebt. Sie formulierte, keinen emotionalen Bezug zu ihrem Kind zu haben. Durch Wahrnehmungsübungen gelang es ihr, vorsichtig ein Gefühl für das Ungeborene zu entwickeln und den Zusammenhang zwischen ihrer Befindlichkeit und der ihres Kindes zu erkennen. Sie war bemüht Ruhezeiten für sich und das Ungeborene in ihren Alltag zu installieren. Nach der Geburt ihrer dritten Tochter stand wiederum die Entwicklung einer Alltagsstruktur mit einem Neugeborenen im Zentrum. Die Patientin genoß den kör-
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perlichen Kontakt mit ihrer Tochter und kam im Kontakt zu dem Baby innerlich zur Ruhe. Ein weiteres wichtiges Thema war die Annäherung ihrer mittleren Tochter an die Schwester und der Umgang mit dem Bedürfnis der mittleren Tochter nach Aufmerksamkeit, Nähe und Geborgenheit durch die Patientin. In den Gesprächen wurden Schritte erarbeitet, wie eine gute Integration des Babies stattfinden konnte und wie die Patientin auch ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen konnte. Der Kontakt zum Partner war immer wieder durch Konflikte gekennzeichnet. Auf dem Hintergrund ihres Vermeidungsverhaltens neigte die Patientin dazu, ihm wenig Chancen zu geben, Verantwortung zu entwickeln und seine Vaterrolle einzunehmen. Des weiten fiel es ihr schwer, die Verantwortung für das gemeinsame Kind abzugeben. Im therapeutischen Setting konnte sie ihre Ängste benennen und Lösungsstrategien entwickeln. Die Patientin beschrieb immer wiederkehrende Alpträume von Gewalt, aus denen sie schweißgebadet aufwachte. Ihre Reaktion war Verleugnung und NichtBeachtung. Sie reagierte mit massiven bulimischen Reaktionen. Den körperlichen Kontakt zu ihrem Partner konnte sie nicht ertragen. Sie quälten Gefühle des Ekels und der Wut. Des weiteren äußerte die Patientin massive Ängste vor Dekompensation, wenn sie sich den traumatischen Bildern stelle. In vergleichbaren Situationen in der Fachklinik mußte sie zeitweise mit Beruhigungsmittel sediert werden. Zunächst ging es darum, Stabilisierungstechniken zu erlernen und Kontrolle über die aufkommenden Bilder, Gefühle etc. zu erlangen. Mit der Patientin wurde das weitere therapeutische Vorgehen besprochen: Kennenlernen der inneren Begleiter, Finden eines Ortes des Haltes und der Ruhe. In den weiteren Wochen wurden die verschiedenen Techniken erlernt und vertieft. Zusätzlich begann die Patientin ein Traumatagebuch zu führen, in das sie all die schrecklichen Träume zunächst hineinschrieb und sie an einem Ort verschloß, so daß sie nicht weiter den Alltag belastend bestimmten. Der Auslöser für das Wiederaufleben der bis dahin gut verschlossenen Gefühle war der Besuch des leiblichen Vaters zur Taufe ihrer Tochter. Auch dem leiblichen Vater ist der Mißbrauch durch seinen Vater bekannt. Versuche der Patientin im Rahmen eines Beziehungsgespräches während der Entwöhnungsbehandlung, über das Thema zu reden und eine Antwort auf die Frage, warum auch er sie immer wieder zum Großvater schickte, verweigerte der Vater. Auf den Feierlichkeiten der Taufe blockte er alle Gesprächsversuche der Patientin ab. In der weiteren therapeutischen Arbeit wurde deutlich, daß sie sich als schützende Erwachsene von heute schützend vor das innere verletzte Kind stellen mußte. Die Patientin entschied sich, den Kontakt zum Vater zu beenden, solange dieser sich weigerte, über das Geschehene zu reden. Langsam wurden die Alpträume geringer. Es stellte sich heraus, daß ihr Partner noch weiterhin Kontakt zu ihrem Vater hatte und dieser sie immer wieder vom Vater grüßte. Da die Patientin ihren Partner nicht in die Hintergründe ihres Kontaktabbruchs zum Vater eingeweiht hate, war ihr Verhalten für ihn nicht nachvollziehbar. Ein intensives Gespräch mit dem Partner bewirkte, daß sich dieser ebenfalls vom Vater distanzierte und sehr viel Verständnis für die Patientin signalisierte. Die Patientin bemerkte überrascht, daß sich die Beziehung zum Part-
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ner deutlich intensivierte, je mehr sie von sich und ihren für sie negativen Gefühlen offenbarte.
Um die Kontrolle des Lebenszusammenhanges zu erreichen, sind „positive Identifikationen mit dem eigenen Lebensvollzug, Kompetenzgefühle, Selbstwertgefühl“ notwendig, damit die Patienten in ihrer „personalen, sozialen und lebenspraktischen Kompetenz/Performanz gestärkt“ (Petzold 1993, 587) werden. „Mit Blick auf die klinische Erfahrung kann man feststellen, daß ein sicheres Selbst- und Lebensgefühl, ein gutes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Prädikatoren für Gesundheit und Lebensglück sind, daß andererseits Selbstwertprobleme, Minderwertigkeitsgefühle, Selbstunsicherheit und Selbstzweifel gewichtige Faktoren für Erkrankung sind und damit zu einem zentralen Bereich (der therapeutischen) Arbeit werden (müssen), ... (damit) Selbstzweifel gemindert und Selbstbewußtsein geschärft werden können, so daß der Mensch die „Selbstverständlichkeit“ des Daseins gewinnt, die ein positives Lebensgefühl kennzeichnet (ebenda, 826f).
Patient A Der Patient ist nicht mehr in der Lage, seine inneren Spannungszustände zu regulieren. Er fühlt sich nach 9 Wochen Behandlung in allen Lebensbereichen überfordert („Ich habe das Gefühl, nur noch zu funktionieren und immer 120% bringen zu müssen.“) und will die Behandlung abbrechen, um zu seiner Freundin zurückzukehren („Nur bei meiner Freundin kann ich reden, meine Gefühle zeigen und mich so geben wie ich bin.“). Die Möglichkeit, diesen Entschluß noch einmal zu überdenken, lehnt er ab. Er will nur noch weg. Der Patient wird unmittelbar rückfällig und ruft nach 1 Tag seinen Bezugstherapeuten an, um wieder aufgenommen zu werden. Er wird zur Entgiftung in ein psychiatrisches Fachkrankenhaus vermittelt und setzt nach 5 Tagen die Behandlung fort. Nach der Behandlungsunterbrechung zeigt er ein deutlich verändertes Verhalten. Der Patient beendet die Beziehung zu seiner Freundin, um sich von dem Gefühl des „hin-und-her-Gerissenseins“ zu befreien und damit beginnen zu können, sich in Herne zu orientieren. Aufgrund der als Folge der komplexen Traumatisierung und Drogenabhängigkeit entstandenen schweren Persönlichkeitsdefizite ‚verfällt‘ der Patient seinen Mitpatienten gegenüber fortgesetzt in eine unterschwellige Aggressivität und fällt durch ständige Provokationen auf. Im Kontakt- und Beziehungsverhalten inszeniert er zunehmend Konflikte im Bereich des Sozial- und Arbeitsverhaltens, die er aufgrund seiner nur mangelhaft
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ausgebildeten Reflexions- und Introspektionsfähigkeit auch mit therapeutischer Unterstützung nur sehr eingeschränkt lösen kann. Über den stabilisierenden Behandlungsrahmen gelingt es, den Patienten wieder soweit zu integrieren, daß er sich konstruktiv mit sich, seinem sozialen Umfeld und seiner Lebensperspektive auseinanderzusetzen beginnt. Die Behandlung wird in Absprache mit dem Patienten um 8 Wochen verlängert. Eine hinreichende Stabilisierung im Bereich der sozialen und beruflichen Integration konnte jedoch im Rahmen der Adaptionsbehandlung nicht erreicht werden. Nach Abschluß der Behandlung wird der Patient in einer von der Einrichtung angemieteten Wohngemeinschaft im Rahmen des Betreuten Wohnens weiterbetreut. Bereits nach zwei Wochen zeigt sich, daß der Patient mit der Selbstorganisation seines Lebensalltages überfordert ist. Seine Arbeit vernachlässigt er und reagiert auf Hinweise seines Bezugstherapeuten und seines Arbeitgebers zunehmend aggressiv. „Ich bin euch doch scheißegal. ihr habt doch sowieso keine Ahnung. ...“ Nach einem massiven Rückfall wird er in eine Entzugsbehandlung vermittelt und zeigt sich in dieser Phase wieder offener und zugänglicher. Intensiv wird mit ihm besprochen, „wie es weitergehen soll“. Unmittelbar nach der Entlassung wird der Patient erneut massiv rückfällig und kann in der Wohngemeinschaft nicht weiterbetreut werden. Er wird zur Beruhigung und Stabilisierung in eine Substitutionsbehandlung vermittelt und mietet eine kleine Wohnung an. Auch kann erreicht werden, daß er seinen 1-Euro-Job behält. Aber auch hierüber kann keine hinreichende Stabilisierung erreicht werden. Der Patient entwickelt ein exzessives Beikonsummuster und entzieht sich dem Betreuungskontext.
Patientin B Die Patientin konnte ihre berufliche und soziale Situation deutlich verbessern. Insbesondere die berufliche Integration wirkt selbstwertfördernd und -steigernd. Erstmals in ihrem Leben fühlt sie sich materiell unabhängig von anderen Menschen. Sie kann ihren Lebensunterhalt gut bestreiten und sich kleine Wünsche erfüllen. Die Beziehung zu ihrem Partner hat sich deutlich intensiviert und verbessert. Konflikte werden konstruktiver ausgetragen. Der Partner übernimmt zunehmend Verantwortung für die beiden Kinder und Pflichten im Haushalt. Beide planen bei weiterem positiven Verlauf der Beziehung, wieder gemeinsam in eine Wohnung zu ziehen. Die Beziehung zu ihrer mittleren Tochter hat sich ebenfalls verbessert. Es gelingt der Patientin Grenzen zu setzen und Wärme und Geborgenheit zu vermitteln. Der Kontakt zu ihrer jüngsten Tochter ist sehr innig und hilft ihr, insbesondere in für sie belastenden Situationen Ruhe zu finden.
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Die Behandlung wurde im Dezember 2006 beendet. Die Prognose ist günstig. Die Patientin konnte sich im Rahmen der Behandlung deutlich stabilisieren und neue Ressourcen erarbeiten.
Am Ende einer jeden Behandlung müssen wir uns noch einmal bewußt machen, daß die Patienten in einem schädigenden sozialen Umfeld, in traumatisierenden Milieus geworden sind, was zu einer dysfunktionalen und häufig selbstzerstörerischen Kontextualisierung geführt hat. Da wir wissen, daß Veränderungen nur möglich sind, wenn der Mensch aus einem schädigenden Umfeld genommen wird, damit neue Kontextualisierungen möglich werden, müssen wir in unseren Behandlungsangeboten berücksichtigen, daß das Erlernen neuer Verhaltensmöglichkeiten nur sehr langsam möglich ist. Als Therapeut müssen wir den Patienten Möglichkeiten bieten, in einem sicheren Rahmen, den mühsamen und langwierigen Weg zu gehen, das in „Lernprozessen erworbene Verhalten ... in unterschiedlichen Kontexten“ (Petzold 2006, 14) auszuprobieren.
Patient A Nach der stationären Entwöhnung schätzte der Patient seine protektiven Faktoren, Resilienzen und seine Leistungsbereitschaft zu positiv ein. In den ersten Wochen der Behandlung entwickelte er aufgrund der Umsetzung multipler Anregungen und supportiver Stimulierungen eine realistischere Einschätzung seiner Kompetenzen, Performanzen und Ressourcen. Gleichzeitig entwickelte er resignative Stimmungen, da er erkennen mußte, daß er noch eine lange Zeit benötigen würde, um sein Leben „in den Griff zu bekommen“. Er erlebte kaum Erfolgserlebnisse (Praktikum, Kontakte), worauf er sich in Frage stellte und negativ bewertete. Insgesamt gewann er kaum Ansätze von Vertrauen in seine eigenen Möglichkeiten und das Gefühl von Kontrolle über die Lebensgestaltung. Durch die räumliche Distanzierung von seinem bisherigen sozialen Umfeld (Freundin) entstand eine immanente Verunsicherung mit ständig wechselnden Entscheidungen. Mal trennte er sich von der Freundin, da er sich sein eigenes Leben aufbauen müsse und sie ihn nicht verstehe, mal sah er seine Zukunftschancen nur in Verbindung mit ihr. Zwar hat der Patient nach Rückfälligkeit und Behandlungsunterbrechung hier den nötigen inneren Abstand entwickelt, war aber überfordert hieraus tragfähige Entscheidungen für sich abzuleiten. Die aktive Gestaltung von Beziehungen ist ihm auch innerhalb der Einrichtung letztlich nicht gelungen. Außerhalb der Institution verlagerte er sich auf das Medium Internet und baute sich hier eine Traumwelt auf.
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Im Bereich der Leiblichkeit konnte der Patient keine Fortschritte erzielen. Auf die in der Einrichtung angebotene Lauftherapie ließ er sich nur notgedrungen ein. Auch außerhalb entwickelte er nur sehr sporadisch Aktivitäten, um seine volitiven Fähigkeiten und Freude an einem bewegungsaktiven Lebensstil zu fördern. Sein durchgängig schwach ausgeprägtes physisches Wohlbefinden und das fehlende Gefühl der Lebendigkeit verhinderten eine Verbesserung seines psychischen Zustandes erheblich. Die Entwicklung einer Streßphysiologie konnte insgesamt nicht umgesetzt werden. Durch seine Inaktivität und Passivität, fehlendes aktives Zugehen auf andere und das leibliche Ver-/Ausharren konnte der Patient seine Lebenszufriedenheit und sein Selbstbewußtsein nur unzulänglich beeinflussen. Seine Zukunfts- und Kontrollerwartungen sowie sein Selbstkonzept sind von einer negativen Grundhaltung geprägt. Die Konstanz und Zuverlässigkeit im therapeutischen Prozeß vermittelten ihm noch nicht ausreichend Erfahrungen, um sein Selbstkonzept wirksam zu verändern. Der Patient ist psychisch und physisch noch nicht ausreichend „gesundet“, seine Ressourcen müssen weiter „gestärkt“ werden. Sein Mut, Zukunftsorientierung, Optimismus, soziale Fähigkeiten, Vertrauen, Lebenssinn, Offenheit, Ausdauer und die Fähigkeit zur Selbstreflexion als „schützende Puffer“ gegen schädliche Einwirkungen sind noch brüchig und müssen weiter gefestigt werden. Der Patient hat sich nach seinem „Abbruch“ sehr überheblich und aggressiv gezeigt und war mit viel Ablehnung durch seine Mitpatienten konfrontiert. Nur mit erheblichen Anstrengungen ist es ihm gelungen, sich wieder gut in die Patientengemeinschaft zu integrieren und eine positive und von Vorsicht geprägte Anbindung an das Haus zu entwickeln. Nach Abschluß der Behandlung war geplant, daß der Patient zur Weiterbetreuung/-behandlung zunächst für 1 Jahr in eine betreute Wohngemeinschaft der Einrichtung zieht, um sich mit professioneller Unterstützung die Zeit zu geben, seine Ziele zu erreichen. Der Patient „sucht“ zunehmend den Kontakt zum Drogenmilieu. Aufgrund massiver Rückfälligkeit hat er sich letztlich dem Betreuungskontext entzogen.
Patientin B Durch die berufliche Integration konnte die Patientin ihr Selbstbewußtsein deutlich steigern. Im beruflichen Kontext hat sie viele Erfolgserlebnisse und erfährt viel Anerkennung durch die Kunden, die Kollegen und Vorgesetzten. Im Bereich des sozialen Netzwerkes konnte sie einige tragfähige Beziehungen zu einzelnen Menschen aufbauen. Die bestehenden Beziehungen konnte sie vertiefen und intensivieren. Insbesondere die partnerschaftliche Beziehung ist durch die zunehmende Offenheit der Patientin qualitativ besser geworden. Die Beziehungen zu ihren Töchtern konnte sie stabilisieren und durch eine emotionale Qualität erweitern. Im Bereich der Leiblichkeit haben deutliche Veränderungen stattgefunden. Zu Behandlungsbeginn versuchte die Patientin ihren Körper mit weiten Kleidungs-
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stücken zu verhüllen. Sie legte wenig Wert auf ihr Äußeres. Aktuell hat sie sich figurbetonte weibliche Kleidung zugelegt. Die Haare hat sie getönt und trägt einen neuen Haarschnitt. Sie genießt die Zeit in der Badewanne mit Körperölen und Cremes. Sportliche Aktivitäten übt sie noch immer nicht aus, wobei sie durch die Arbeit und ihre haushaltlichen Pflichten sehr eingespannt ist. Die Patientin konnte im Laufe der Behandlung ihre Zufriedenheit mit sich und ihrem Leben deutlich steigern. Krisensituationen kann sie adäquater bewältigen. Die Konstanz und Zuverlässigkeit im therapeutischen Prozeß vermitteln ihr gute Erfahrungen, so daß sie ihr Selbstkonzept positiv verändern kann. Die Patientin lernt zunehmend besser ihre Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und diese zu artikulieren. Den positiven Effekt auf die Beziehungsgestaltungen nimmt sie deutlich wahr. Aufgrund der langen Behandlungszeit von einem Jahr mit der Möglichkeit einer weiteren Verlängerung kann der Therapeut sich stärker an den natürlichen Selbstheilungsprozeß der Patientin anlehnen und diesen durch geeignete Interventionen unterstützen und fördern. Die Patientin ist psychisch und physisch „auf einem guten Weg“, ihre Ressourcen sind „gestärkt“. Sie erarbeitet sich zunehmend Mut, Zukunftsorientierung, Optimismus, soziale Fähigkeiten, Vertrauen, Lebenssinn, Offenheit, Ausdauer und die Fähigkeit zur Selbstreflexion als „schützende Puffer“ gegen schädliche Einwirkungen. Die Patientin hat eine Anbindung an die Einrichtung aufgebaut. Sie hat gute Bezüge zur Patientengruppe entwickelt und hat als „Ehemalige“ verantwortlich das Sonntagsfrühstück übernommen. In der Beziehung zu ihrem Partner entstehen immer wieder Spannungen, z.B. dadurch, daß sie in Streßsituationen „ausrastet“. Die traumaspezifischen Symptome (Intrusionen, Hyperarousal und Vermeidung) sind deutlich reduziert. Die Patientin hat keine Schwierigkeiten ein- und durchzuschlafen.
Fazit Patient A Der Patient lernte in der Behandlung seinen Suchtmittelkonsum in einen lebensgeschichtlichen und interpersonellen Kontext einzuordnen. Notwendige Verhaltensmodifikationen konnte er letztlich nicht vornehmen. Im Verlauf seiner Behandlung erarbeitete er sich kaum Verbesserungen im Bereich der sozialen und kommunikativen Kompetenz, so daß eine wesentliche Stärkung seines Selbstwertsystems und eine deutliche Steigerung seiner Selbstwirksamkeitserwartung nicht bewirkt werden konnte. Auch seine Frustrationstoleranz und emotionale Belastbarkeit, sowie die Fähigkeit zur sozialen Abgrenzung konnte er nicht we-
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sentlich steigern, was sich entsprechend auf sein Beziehungsverhalten und seine -gestaltung auswirkte. Die psychotherapeutischen Einzel- und Gruppengespräche und der traumaspezifische Behandlungsansatz in unserer Einrichtung haben dem Patienten im Ergebnis nicht geholfen, seine Erinnerungen zu „bearbeiten“. Über sein Bewußtsein hat er nur bedingt Kontrolle und in Belastungssituationen kann er auftretende „posttraumatische Streßsituationen“ nicht als Warnsignale wahrnehmen, erfassen und verstehen – und mit Hilfe von erlernten Imaginationstechniken, Entspannungsübungen und bewegungstherapeutischen Methoden verarbeiten
Patientin B Die Patientin lernte in der Behandlung ihren Suchtmittelkonsum in einen lebensgeschichtlichen und interpersonellen Kontext einzuordnen und diesbezüglich notwendige Verhaltensmodifikationen vorzunehmen. Im Verlauf ihrer Behandlung erarbeitete sie sich bedeutsame Verbesserungen im Bereich der sozialen und kommunikativen Kompetenz. Dies bewirkte eine wesentliche Stärkung ihres Selbstwertsystems und eine deutliche Steigerung ihrer Selbstwirksamkeitserwartung. Darüber hinaus konnte sie ihre Frustrationstoleranz und emotionale Belastbarkeit, sowie die Fähigkeit zur sozialen Abgrenzung deutlich steigern, was sich positiv auf ihr Beziehungsverhalten und ihre -gestaltung auswirkte. Die psychotherapeutischen Einzel- und Gruppengespräche und der traumaspezifische Behandlungsansatz in unserer Einrichtung haben der Patientin geholfen, mit den Erinnerungen an die Bilder und Eindrücke ihres „Schreckens“ umzugehen und für sich so zu „bearbeiten“, daß sie nicht mehr das Gefühl hat, ihre Kontrolle zu verlieren. Um ihren Alltag adäquat bewältigen zu können, hat die Patientin sich mit Hilfe von verhaltenstherapeutischen Mitteln Ressourcen erarbeitet/ermittelt, die ihr eine Verbesserung ihrer Kommunikationsfähigkeit und einen adäquaten Umgang mit Streß, Frustrationen und Aggressionen ermöglichen. Mittlerweile kann die Patientin in Belastungssituationen Kontrolle über ihre Gefühle erlangen und mit diesen mit Hilfe von erlernten Imaginationstechniken, Entspannungsübungen und bewegungstherapeutischen Methoden umgehen.
Am Ende der medizinischen und sozialen Rehabilitation sind die Patienten nicht „fertig“, sondern haben günstigstenfalls ein gutes Stück ihres Weges absolviert und sind so stabil, daß ihnen ihre neu erlernten Verhaltensmöglichkeiten die Chance bieten, ihren „neuen“ Lebensweg – mit den dazu gehörenden Rückschlägen, Auf’s und Ab’s – abstinent gehen zu können.
11 Ziele und Design der Studie
Die vorliegende Studie „Integrative Traumatherapie in der Drogenhilfe“ ist dreigeteilt und versucht, Aufschluß darüber zu erhalten, wie viele Patienten traumatisiert sind, aktuell Symptome der PTBS aufweisen und welche Wirksamkeit die Integrative Traumatherapie in einer Einrichtungen der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger de facto hat. Zunächst untersuchen wir, inwieweit die Annahme einer hohen Anzahl von Patienten mit traumatischen Erfahrungen in unserer Einrichtung zutrifft. Im zweiten Schritt überprüfen wir, ob diese Symptome einer PTBS aufweisen. Im dritten Schritt untersuchen wir die Wirksamkeit traumatherapeutischer Behandlungselemente. Wir gehen in der vorliegenden Studie von der Hypothese aus, daß wir es in der Drogenhilfe überwiegend mit in ihrer Kindheit und Jugend, in Familie, Freundesgruppen und Milieu schwer geschädigten, oftmals traumatisierten Menschen zu tun haben. Menschen, die in der Folge ihres Gewordenseins eine PTBS entwickelt haben, wodurch ihr Lebensund Persönlichkeitsstil (auch) im Erwachsenenalter geprägt wird. Dabei ist immer wieder zu fragen: welche Maßnahmen erreichen unsere Patienten in fördernder und heilsamer Weise und führen nicht in eine erneute Überforderung, in neue Schädigungen (flashbacks) oder unrealistische Zielvorstellungen. Auch gehen wir davon aus, daß der Drogenkonsum „keine isolierte einzelne Verhaltensweise darstellt, sondern in ein gesamtes Verhaltenssyndrom eingebettet ist“ (BZgA 2003). „Bei den Menschen, die oft durch zeitüberdauernde multiple Schädigungen, und nicht zuletzt durch die Wirkung der Suchtmittel, in ihrer gesamten Entwicklung behindert und beschädigt worden sind, mangelt es aber gerade an der notwendigen Kraft und Fertigkeit zum Wollen, zum Verändern-Wollen. Sie haben resigniert, sich oft selber schon aufgegeben, dies wurde bestätigt durch eigene Erfahrungen von Rückschlägen usw.. Sie haben den Mut verloren! „Arbeit an sich selbst“ interessiert nicht (mehr). Voraussetzung für den Willen zur „Arbeit an sich selbst“ ist die Überwindung der eigenen Resignation. ... die Aktivität und Bereitschaft, Hilfen anzunehmen und Veränderungen zu wollen. Hier bedarf es in aller
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11 Ziele und Design der Studie
Regel motivationaler Hilfe von „außen“, von Mit-Menschen, Leidensgenossen, Therapeuten ... – und es bedarf motivierender Strategien“ (Höhmann-Kost, Siegele 2004, 8).
Mit spezifischen Ansätzen der Traumatherapie im Behandlungsprogramm üben wir mit den Patienten, sich ihrer selbst bewußt zu werden und durch entspannungs- und regulationstherapeutische Ansätze wie Lauftherapie (vgl. van der Mei, Petzold et al. 1997, Schay, Petzold et al. 2006), sowie die Arbeit mit „protektiven Faktoren“ und Resilienzen (vgl. Petzold, Goffin, Oudhof 1993) „auf andere Gedanken zu kommen“, ihre Gefühle „umzustimmen“. Dadurch wird versucht, ihr Ich-Bewußtsein zu unterstützen und zu stärken, um damit die Möglichkeiten der bewußten Kontrolle (consciousness) und Willensentscheidungen zu erhöhen (vgl. auch Petzold et al. 2004l). Die Patienten sollen durch diese intensive Psychoedukation in die Lage versetzt werden, sich von aufkommenden negativen Emotionen zu distanzieren und die Kontrolle (vgl. Fischer, Riedesser 2003, Reddemann 2005) über sich zu haben. Eine Aufarbeitung der Traumaproblematik soll in Einzelsegmenten erreicht werden, wobei die Bearbeitung des traumatischen Erlebens – wenn überhaupt – nur phasenweise und in größeren zeitlichen Abständen indiziert ist. Auch ist hierbei zu beachten, daß die Patienten durch diese Behandlungs-/Betreuungsinhalte der Adaptionsphase bzw. des Betreuten Wohnens (vgl. 8.1.1 und 8.1.2) in vielfältiger Weise gefordert sind und der vorgegebene zeitliche Behandlungsrahmen der Adaptionsphase (17 Wochen Regeltherapiedauer) die Möglichkeiten einer Traumatherapie zumindest begrenzt (vgl. Schäfer 2005). Das insbesondere, da in der Traumatherapie darauf geachtet werden muß, daß die Patienten nicht zusätzlich belastet werden. Insgesamt betrachtet, sollen die Patienten im Rahmen der Behandlung stabilisiert und die PTBS-Symptomatik deutlich geringer werden. Die statistische Datenanalyse bietet eine gute Optik auf die Möglichkeiten der Integrativen Traumatherapie und zeigt aus einer mehrperspektivischen Sicht in Theorie und Praxis die Möglichkeiten dieses Behandlungsansatzes auf und bezieht Förderung der Ressourcen, persönliches Wohlbefinden, persönliche Weiterentwicklung etc. ein. Durch die Ergebnisse der Studie soll aufgezeigt werden, daß Integrative Traumatherapie in der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger eine hohe Bedeutung haben muß, um die komplexe Wirklichkeit der Patienten mehrperspektivisch zu beobachten, multitheoretisch zu integrieren und methodenplural zu beeinflussen.
11 Ziele und Design der Studie
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Nach Fäh und Fischer (1998) ist es in der Psychotherapieforschung unerläßlich, für die Datenerhebung neben schriftlichen Befragungen auch ein Interviewverfahren einzusetzen, um eine möglichst große Nähe zur klinischen Situation zu wahren und die Anforderungen an eine systematische Verlaufs- und Ergebnisforschung zu erfüllen. Um den Anforderungen moderner Psychotherapieforschung gerecht zu werden, haben wir zunächst
eine Analyse der Entlassungsberichte der vorbehandelnden Einrichtungen (Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung) vorgenommen. Die Entlassungsberichte der Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation sind nach von den Leistungsträgern (Krankenkassen, Rentenversicherungsträgern) vorgegebenen Kriterien standardisiert; abgebildet werden soll der Verlauf des Rehabilitationsprozesses des Patienten. In den Rubriken „Familien-, Sucht-, Eigen- und biographische Anamnese“ wird die „Lebensgeschichte“ des Patienten erfaßt, wobei die dargestellten Aspekte im wesentlichen auf Selbstauskünften basieren, die der Patient in anamnestischen Gesprächen vermittelt hat. Die genannten Rubriken sind von uns dahingehend ausgewertet worden, ob hier kritische Lebensereignisse in den Bereichen Ursprungsfamilie, Unfälle, eigene Erkrankungen, Sexualität, Erfahrung mit eigenen Kindern, Gewalterfahrungen, eigene Gewaltausübung und Stafverfolgung/Freiheitsentzug anzunehmen sind.
Wir haben dann zur Beantwortung der die Untersuchung leitenden Fragestellungen mit den Patienten eine standardisierte Befragung
20
zu lebensgeschichtlichen Erfahrungen/Aspekten der Persönlichkeit (vgl. Fischer, Schedlich 2000) und 21 zur Persönlichkeitsstruktur/Trauma und die Folgen (vgl. Pollock et al. 2001)
durchgeführt. Nach der Auswertung der Ergebnisse aus der Analyse der Entlassungsberichte und der Fragebögen haben wir aus der Gruppe von Pa20 21
Fragebogen – lebensgeschichtlichen Erfahrungen/Aspekten der Persönlichkeit, siehe unter: www.therapieverbund-herne.de Fragebogen – Trauma und die Folgen, siehe unter: www.therapieverbundherne.de
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11 Ziele und Design der Studie
tienten, bei denen eine PTBS-Symptomatik zu diagnostizieren war, eine Patientengruppe und eine Kontrollgruppe nach dem Zufallsprinzip gebildet. Die Patientengruppe war in das „normale“ Behandlungsprogramm eingebunden und wurde zusätzlich über einen Zeitraum von 3 Monaten traumaspezifisch behandelt. Die Kontrollgruppe hat nur am „normalen“ Rehabilitationsprogramm teilgenommen. Bei beiden Gruppen haben wir jeweils am Anfang der Untersuchung
22
den PDEQ (Peritraumatic Dissociation Experiences Questionnaire, in: Marmar et al. 1994),
und am Anfang und am Ende der Untersuchung
23
die PTSS 10 (Post Traumatic Symptoms Scale, in: Fischer 2000a) und 24 den SCL-90-R Symptom-Checkliste
eingesetzt. Mit dem PDEQ haben wir herausgearbeitet, inwieweit bei den Patienten dissoziative Störungen festzustellen sind. Der Begriff der „Dissoziation“ wird u.a. verwendet, um die Depersonalisierung und Derealisierung des Patienten zum Zeitpunkt des Traumas zu beschreiben, die mit dem PDEQ diagnostiziert werden kann. Hierbei geht es letztlich auch um Strategien der Krankheitsverarbeitung nach einem traumatischen Erlebnis. Da der PDEQ die in der Vergangenheit erlebten kritischen Lebensereignisse herausarbeitet und wir die Patienten nicht unnötig mit diesen Erinnerungen belasten wollten, haben wir dieses Untersuchungsinstrument nur am Anfang der Untersuchung eingesetzt. Mit dem PTSS 10 werden die Symptome abgebildet, die nach einem traumatischen Ereignis bei einem Patienten festzustellen sind, wobei hier zu beachten ist, daß die Ergebnisse auch psychische Störungen deutlich machen, die nicht zwangsläufig auf ein Trauma zurückzuführen sind (vgl. Mayer 2005). Es ist aber allgemein anerkannt, daß Gewalt, Mißhandlungen u.a. zu erheblichen Folgeschäden führen. „Eine Folge einer nicht diagnostizierten und somit auch nicht behandelten PTSD ist die Entwicklung komorbider Störungen, von denen Suchterkrankungen, Depression und Angsterkrankungen sehr häufig sind. Diese Entwicklung 22 23 24
PDEQ siehe unter: www.therapieverbund-herne.de PTSS 10siehe unter: www.therapieverbund-herne.de SCL-90-R Symptom-Checkliste siehe unter: www.therapieverbund-herne.de
11 Ziele und Design der Studie
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kann die Diagnostik erschweren, da eine Reihe von anderen psychiatrischen Störungen somit in Betracht kommt, zum Beispiel andere Angststörungen (Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, soziale Phobie, generalisierte Angststörung), wo das traumatische Ereignis selbst zur diagnostischen Differenzierung beiträgt“ (ebenda, zitiert aus: http://www.neuro24.de/ ptbs1.htm). Mit der von Derogatis (Deutsche Version von Franke 2002) entwickelten SCL-90-R werden die Probleme und Beschwerden in den vergangenen 7 Tagen erfragt, also inwieweit aktuell eine Symptomatik festzustellen ist. Es werden verschiedene typische Reaktionen beschrieben, die Menschen mit einer PTBS-Symptomatik häufig zeigen. Mit diesem Fragebogen haben wir auch evaluiert, wie die Gefühlsreaktionen der Patienten am Anfang und Ende der Behandlung waren. Ziel der Fragebögen ist, die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und bestimmte Aspekte der Persönlichkeit (Selbstwertgefühl, Stimmungsschwankungen, Kontrollverlust) der Patienten mit ihren spezifischen Lebenserfahrungen und -bedingungen zu erfassen und nach spezifischen Kategorien auszuwerten. Nachdem die Autoren „Ziel und Design“ der wenigen vorliegenden Studien zu dieser Patientengruppe gesichtet haben, war für sie wesentlich, ihre Untersuchung mittels Fragebögen und Interviewleitfaden durchzuführen, die abgesicherte Ergebnisse zu „Trauma und die Folgen“ auf der Basis einer differenzierten Selbstbeurteilung der Patienten in der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger liefern. Mit einem von den Autoren entwickelten Fragebogen und Interviewleitfaden zur Wirksamkeit eines traumatherapeutischen Behandlungsan25 satzes bei komplextraumatisierten Patienten ist auf der Patientenebene untersucht worden, welche Relevanz dieser spezifische Behandlungsansatz im Rahmen der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger hat. Die angewandten Untersuchungsinstrumente decken alle 6 Kriterienbereiche der komplexen PTBS ab. Eingeschätzt werden soll das Vorliegen einer entsprechenden Symptomatik. Die Studie wird in ihrer Anlage einem integrativen Ansatz gerecht und berücksichtigt die prekäre Lebenslage der Patienten und die prekäre Situation der Mitarbeiter in den Einrichtungen. 25
Fragebogen und Interviewleitfaden zur Wirksamkeit eines traumatherapeutischen Behandlungsansatzes bei komplextraumatisierten Patienten, siehe unter: www.therapieverbund-herne.de
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11 Ziele und Design der Studie
11.1 Beschreibung der Methodenauswahl und des wissenschaftlichen Hintergrundes Die Effekte Integrativer (Trauma-)Therapie zu erfassen ist außerordentlich schwierig. Die klassischen Standards werden in der Wissenschaft beschrieben mit (1) beobachten, (2) messen, (3) erklären, (4) vorhersagen (Märtens, Möller 1998): 1. 2. 3. 4.
Beobachten: was findet überhaupt in der Therapie statt? Messen: was von diesen Prozessen und diesen Ergebnissen kann gemessen werden? Erklären: mit welchen Theorien erkläre ich Beobachtetes und Gemessenes? Vorhersagen: kann ich aufgrund der Ergebnisse systematischen Beobachtens und Messens bestimmte Phänomene vorhersagen?
Mit der Analyse der Entlassungsberichte der vorbehandelnden Einrichtungen, den Fragebögen und dem Interviewleitfaden wollen wir bei den in unserer Einrichtung behandelten Patienten nachweisen, daß Traumatisierungen im biographischen Kontext gegeben sind. Mit den genannten Untersuchungsinstrumenten wollen wir in der vorliegenden Evaluationsstudie die Wirkung und Wirksamkeit von Integrativer Traumatherapie in Einrichtungen der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger belegen. Die Ergebnisse werden in bezug zu den Behandlungszielen der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger (hier: Gesamtkonzept zur Rehabilitation von Abhängigkeitskranken vom 15.05.1985 bzw. Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen vom 04.05.2001) und dem Therapieziel-Katalog des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) vom November 2004 gesetzt, um zu überprüfen, inwieweit dieser Behandlungsansatz die Patienten „fördert“. Eine Untersuchung, die die von den Patienten subjektiv wahrgenommenen Wirkungen/Wirkfaktoren ihrer Therapie in bezug zu den Behandlungszielen mißt, liegt bisher nicht vor. Die Studie soll die Ergebnisqualität der Integrativen Traumatherapie im (psycho-)therapeutischen Setting der medizinischen und sozialen Rehabilitation in bezug auf
die Verbesserung und Erweiterung der persönlichen und sozialen Kompetenz der Patienten,
11.1 Methodenauswahl und wissenschaftlicher Hintergrund
223
die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, beruflichen und sozialen Integration, auf eine stabilisierende/unterstützende Funktion zur Erreichung der Ziele der medizinischen und sozialen Rehabilitation,
unter Berücksichtigung des ICF-Modells abbilden.
12 Fragebögen und Datenzugang
Als besonders schwierig bei der Auswahl der Evaluationsinstrumentarien erwies sich, daß in der einschlägigen Literatur zu PTBS immer auf ein belastendes Ereignis abgestimmt wurde, bei unseren Patienten aber in der Regel eine Kette von belastenden Erfahrungen – eine komplexe PTBS-Symptomatik – gegeben war. Mit den von uns angewandten Fragebögen haben wir erhoben, ob die Patienten jemals ein belastendes Ereignis erlebt haben und ob sie im Kontinuum ihres life span development unter den Folgen zu leiden hatten und/oder aktuell zu leiden haben. Die Befragung haben wir im Zeitraum Januar bis Mai 2006 mit insgesamt N=56 Untersuchungsteilnehmern in unseren Räumlichkeiten durchgeführt. Von den untersuchten Patienten sind N=54 (96,43%) in der Soziotherapeutischen Adaptionseinrichtung zur medizinischen Rehabilitation behandelt worden. Davon befanden sich zum Zeitpunkt der Untersuchung (Stichtag: 01.06.06) N=18 (32,14%) noch in der Einrichtung. N=30 (53,57%) hatten die Behandlung regulär abgeschlossen und N=6 (10,71%) hatten die Behandlung vorzeitig ohne ärztliches Einverständnis beendet. Alle regulären Beender wurden im Rahmen der ambulanten Weiterbetreuung im Betreuten (Einzel-) Wohnens weiterbehandelt/-betreut. 2 Patientinnen (3,57%) sind nach ihrer Entwöhnungsbehandlung direkt im BeWo aufgenommen worden. Insgesamt befanden sich also N=32 (57,14%) im BeWo. Wie zu erwarten, überwogen Männer im Untersuchungskollektiv (N=43 Männer = 76,79% und N=13 Frauen = 23,21%). Das Durchschnittsalter der Gesamtprobe liegt bei 30,55 Jahren (Männer = 30,52 Jahre und Frauen = 30,57 Jahre). Alle untersuchten Patienten haben langjährig konsumiert. Das Alter bei Erstkonsum lag im Mittelwert bei Alkohol bei 14,0 (Männer, 14,1/Frauen 13,6), bei Cannaboiden bei 15,7 (Männer 15,5/Frauen 16,4) und bei Heroin/Kokain bei 20,8 (Männer 20,9/Frauen 20,6).
226
12 Fragebögen und Datenzugang
Die Analyse
der Entlassungsberichte der vorbehandelnden Einrichtungen (Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung) haben wir bei allen Patienten vorgenommen, um Anhaltspunkte zu erhalten, ob hier kritische Lebensereignisse in den Bereichen Ursprungsfamilie, Unfälle, eigene Erkrankungen, Sexualität, Erfahrung mit eigenen Kindern, Gewalterfahrungen, eigene Gewaltausübung und Strafverfolgung/Freiheitsentzug anzunehmen sind.
Die Fragebögen
zu lebensgeschichtlichen Erfahrungen/Aspekten der Persönlichkeit (vgl. Fischer, Schedlich 2000) und zur Persönlichkeitsstruktur/Trauma und die Folgen (vgl. Pollock et al. 2001)
haben wir bei allen Patienten eingesetzt, um Anhaltspunkte zu erhalten, ob bei den Patienten lebensgeschichtliche Erfahrungen gegeben sind, die zur Entwicklung einer PTBS geführt haben und ob gegenwärtig emotionale Belastungen festzustellen sind. Nach der Auswertung der Ergebnisse dieser Untersuchungsinstrumente, konnten wir ableiten, bei welchen Patienten eine PTBSSymptomatik als Folge einer traumatisierenden Erfahrung zu diagnostizieren ist. Aus dieser Gruppe haben wir dann nach dem Zufallsprinzip eine Patienten und eine Kontrollgruppe gebildet. Bei der Patientengruppe und der Kontrollgruppe haben wir jeweils am Anfang der Untersuchung
den PDEQ (Peritraumatic Dissociation Experiences Questionnaire, in: Marmar et al. 1994: Diagnose der dissoziativen Störungen der Patienten),
am Anfang und am Ende der Untersuchung
die PTSS 10 (Post Traumatic Symptoms Scale, in: Fischer 2000a: Diagnose der posttraumatischen Symptome)
und die von L.R. Derogatis (Deutsche Version von H. Franke 2002) entwickelte
SCL-90-R Symptom-Checkliste
eingesetzt.
12.1 Ergebnisse
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Beide Gruppen haben wir am Anfang und am Ende der Behandlung
mit einem Fragebogen zur Wirksamkeit der Therapie und einem Interview zur Wirksamkeit der Therapie
untersucht, um die Fragestellung unserer Evaluationsstudie zur Wirksamkeit eines traumatherapeutischen Behandlungsansatzes bei komplextraumatisierten Patienten im Rahmen der medizinischen und sozialen Rehabilitation Drogenabhängiger beantworten zu können.
12.1 Ergebnisse Analyse der Entlassungsberichte der vorbehandelnden Einrichtungen Die Entlassungsberichte haben wir in den Rubriken „Familien-, Sucht-, Eigen- und biographische Anamnese“ dahingehend ausgewertet, ob hier kritische Lebensereignisse in den im Schaubild näher bezeichneten Bereichen anzunehmen sind. Insgesamt haben wir die Berichte von 37 Männer und 12 Frauen (N=49) untersucht. Bei 7 Patienten (6 Männer, 1 Frau) lagen keine Berichte vorbehandelnder Einrichtungen vor. Bei allen Patienten ergibt sich aus den Entlassungsberichten, daß kritische Lebensereignisse anzunehmen sind:
Schaubild:
Analyse der Entlassungsberichte
228
12 Fragebögen und Datenzugang
Bei 36 Patienten (73,47%; 27 Männer/9 Frauen) zeigten sich Belastungen in der Ursprungsfamilie, als Folge von Unfällen bei 3 Männern (6,12%), eigener Erkrankungen (wobei hier die eigene Suchterkrankung nicht berücksichtigt wurde) bei 9 Patienten (18,37%; 7 Männer/2 Frauen), in Zusammenhang mit Sexualität bei 4 Frauen (8,16%), als Folge von Fremdunterbringung eigener Kinder, Abtreibung, Fehlgeburt bei 11 Patienten (22,45%; 8 Männer/3 Frauen), in Zusammenhang mit Gewalterfahrungen bei 21 Patienten (42,86%; 16 Männer/5 Frauen), eigener Gewaltausübung bei 14 Patienten (28,57%; 12 Männer/2 Frauen) und als Folge von Inhaftierung bei 30 Patienten (61,22%; 25 Männer/5 Frauen). Da alle Patienten auf der Basis der Analyse der Entlassungsberichte der vorbehandelnden Einrichtungen in den verschiedenen Kategorien „Belastungen“ zeigen, gehen wir hier von einer erheblichen individuellen Vulnerabilität der Patienten aus, was die Entwicklung einer PTBSSymptomatik äußerst wahrscheinlich macht. Lebensgeschichtliche Erfahrungen Bei den lebensgeschichtlichen Erfahrungen (vgl. Fischer, Schedlich 2000) sind bei 44 Patienten (78,57%; 33 Männer/11 Frauen) extreme (Punktwert: >70), bei 4 (7,14; 4 Männer) starke (Punktwert: 60-70) und bei 8 (14,29%; 6 Männer/2 Frauen) eher leichte/eher starke (Punktwert: