Fiona Kelly
Straßen des Todes Special Agents Band 05
scanned 03/2008 corrected 10/2008
Drei Fälle halten die Agenten ...
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Fiona Kelly
Straßen des Todes Special Agents Band 05
scanned 03/2008 corrected 10/2008
Drei Fälle halten die Agenten des Sonderkommandos der Polizei in Atem: Ein mysteriöser Mord in einem Ministerium der britischen Regierung, ein perfekt operierendes Kartell für Waffenschmuggel und die Auseinandersetzungen zweier Autoschieberbanden in London. Maddie, Alex und Danny finden heraus, dass es zwischen den Vorgängen enge Zusammenhänge gibt, und so suchen sie nach dem »Kopf«, der darüber steht – doch was sie entdecken wird zum Schock für alle. Mitarbeiter der SPECIAL AGENTS ISBN: 3-473-34515-6
Original: Streets of Death
Aus dem Englischen von: Karlheinz Dürr
Verlag: Ravensburger
Erscheinungsjahr: 2002
Umschlaggestaltung: Working Partners Ltd., London
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
FIONA KELLY
Band 5
Straßen des Todes Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr
Ravensburger Buchverlag
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei
Der Deutschen Bibliothek erhältlich
123 04 03 02
© 2002 der deutschen Ausgabe
Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Der englische Originaltitel lautet: Streets of Death
© 2002 by Fiona Kelly and Allan Frewin Jones
Working Partners Ltd., London
UMSCHLAG Working Partners Ltd., London
REDAKTION Doreen Eggert
Printed in Germany
ISBN 3-473-34515-6
www.ravensburger.de
Prolog
Holland Park, London Ende August Das blutrote Jaguar XKR Coupé raste durch die kur venreichen Straßen, das tiefer gelegte Chassis dicht über dem Asphalt, die breiten Reifen auf den Alufel gen lagen satt auf dem Belag. Es war früher Morgen, 6.30 Uhr. Eigentlich viel zu früh für Spike Marshall. Aber heute musste er einen Auftrag ausführen, und sein Auftraggeber hatte darauf bestanden, dass die Sa che am frühen Morgen erledigt werden müsse. »Nächste links«, überbrüllte Billy Salter vom Bei fahrersitz das Dröhnen der Stereoanlage. Spike wirbelte das Steuer herum und der Jaguar prallte gegen die Bordsteinkante. »Das ging voll auf die Felgen!«, schrie Billy vor wurfsvoll. »Halt die Klappe.« Spike konnte Kritik an seinen Fahrkünsten nicht ausstehen. »Komm schon, Mann, stell die Karre auf die Hinter räder!« 5
Billy starrte auf das Gewirr der Linien auf der Kar te. »Übernächste rechts, glaube ich, dann immer gera deaus.« Spike bog ab und sah eine lange schnurgerade Stre cke vor sich, gesäumt von fast menschenleeren Geh wegen und niedrigen Häuserreihen mit Ladengeschäf ten. »Wow!«, brüllte er begeistert, »jetzt wollen wir mal sehen, was der Jag drauf hat!« Spike ließ den Motor aufheulen und trat das Gaspe dal durch, begeistert angefeuert von den beiden ande ren Insassen. »Zweite links!« Billys Stimme war über dem Wummern der Bässe aus dem X-FM-Sender kaum noch zu hören. Der Wagen jagte über die Straße. An einer Kreu zung tauchte von rechts ein uralter Morris Minor auf, der eine Vollbremsung machte, als der Jaguar nur eine Handbreit vor der Kühlerhaube des Morris vorbei schoss. Einen flüchtigen Augenblick lang sahen sie den Fahrer, einen alten Mann mit Priesterkragen, der sich am Lenkrad festklammerte. Die spitze weiße Nase klebte fast an der Windschutzscheibe. Durch runde Brillengläser folgte sein völlig entgeisterter Blick dem Jaguar. Die vier Freunde brüllten vor Lachen. »Näher, mein Gott, zu dir!«, schrie Spike. Am Lenkrad des Jag war er unbesiegbar. Wie im Rausch trieb er die Geschwindigkeit noch höher. 110 – 120 – 6
130 Stundenkilometer. Und die Tachonadel war noch weit von der Höchstmarke entfernt. Niemand in den schmalen Straßen konnte mithalten. »An der Ampel rechts!«, schrie Billy. »Dann gleich wieder links.« Spike sah ein, dass er mit 130 nicht gut rechtwinklig abbiegen konnte, und ging widerwillig vom Gas. Mit kreischenden Reifen raste der Jaguar um die Ecke und geriet kurz ins Schleudern, aber Spike hatte den Wagen voll im Griff. Billy drehte die Stereoanlage herunter. »Dort drü ben steht er!«, sagte er. Sie waren in eine elegante Nebenstraße eingebogen. Billy deutete auf ein Auto – auf einen gelben Bentley Continental. Spike stieg auf die Bremse und stoppte den Jaguar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die vier Ju gendlichen starrten den Bentley an. »Echt cool!«, sagte Spike andächtig und stieg aus. Die gespannten Blicke der anderen folgten ihm, als er über die Straße zu dem Wagen hinüberschlenderte und einen Blick ins Wageninnere warf. Dunkle Ledersitze, das Armaturenbrett aus präzisionsgefertigtem Aluminium. Sportlenkrad. Ziemlich genau Spikes Vor stellung von einer edlen Ausstattung. In ein paar Minuten würde er den Wagen kassieren, aber Spike kaufte keine Katze im Sack, auch dann nicht, wenn sie Bentley hieß und in der Grundausstat 7
tung eine Viertelmillion Pfund kostete. Abgesehen davon hatte Spike auch gar nicht vor, den Wagen zu kaufen. Er umkreiste den Bentley. Erwartungsgemäß war die Wagentür verschlossen. Er sah kurz auf seine Uhr, dann schwang er sich auf die Kühlerhaube, stellte einen seiner Springerstiefel auf den Kotflügel und ließ das andere Bein lässig herunterbaumeln. Spike wartete. Ein unauffällig wirkender Mann näherte sich aus einer anderen Richtung der vornehmen Wohnstraße. Er trug einen dunklen Anzug, ein blütenweißes Hemd und eine höchst penibel gebundene Krawatte. In der Hand hielt er einen Aktenkoffer aus silbernem Metall. An der Kreuzung blieb er kurz stehen, blickte auf das Straßen schild und überprüfte den Straßennamen auf seinem Communicator. Hervorragend. Er war fast an seinem Bestimmungs ort angekommen. Als er in die Wohnstraße einbog, sah er einen jun gen Mann auf der Motorhaube eines gelben Bentley sitzen. Jeans, Springerstiefel, T-Shirt, Stiernacken, kurz geschorenes Haar. Der Mann zog sich sofort außer Sichtweite hinter eine Hecke zurück und beobachtete die Szene. Robert Fraser stand im Flur seines Hauses und warf noch einmal einen prüfenden Blick in den Spiegel. Fraser war Anfang vierzig. Sein grau meliertes Haar war sehr sauber frisiert und ließ ihn gepflegt und distinguiert erscheinen. 8
Er faltete die Financial Times sorgfältig zusammen, strich sie glatt und legte sie in einen schwarzen Aktenkof fer. Dann nahm er den Schlüsselbund und den Aktenkof fer und verließ das Haus. Wie üblich warf er zunächst einen Blick zum Him mel. Auch das Wetter war sehr zufriedenstellend. Der Tag hatte gut begonnen. Die paar Wolken würden sich bald wieder verziehen. Dann kehrte sein Blick zur Erde – auf die Straße – zurück. Er sah jemanden auf der Motorhaube seines Bentley sitzen. Schock und Wut packten ihn gleichzeitig. Er ließ den Aktenkoffer fallen und rannte zum Wagen. »Geh sofort runter!«, brüllte er. »Was fällt dir eigentlich ein?« »Hallo, Bobby«, sagte Spike mit boshaftem Grin sen. »Wie läuft das Geschäft?« Fraser starrte den Burschen an. »Du bist das!« Spike sprang von der Motorhaube. Seine Faust schoss blitzschnell und ohne jede Vorwarnung heraus. Fraser klappte zusammen wie ein Taschenmesser und fiel auf den Asphalt. Er blinzelte zu Spike hoch, der grinsend über ihm stand. Drei weitere Gesichter tauchten auf. Jetzt wurde ihm klar, dass Spikes Schlag nur die Vorspeise gewesen war. »Okay«, keuchte Spike nach einer Weile und trat von der verkrümmt daliegenden Gestalt zurück. »Das reicht. Mick und Tony – ihr nehmt den Jag. Billy und ich räumen hier noch auf.« 9
Spike bückte sich über die stille Gestalt auf dem Boden, nahm Fraser die Rolex und die goldenen Sie gelringe ab, zog die Dunhill-Börse und einen dicken Schlüsselbund aus Frasers Hosentasche. Sorgfältig nahm er die Autoschlüssel vom Ring und ließ die übri gen Schlüssel auf den Körper des Mannes fallen. »Wir hauen ab«, sagte er. Billy sah den Aktenkoffer auf dem Boden liegen, den Fraser fallen gelassen hatte, hob ihn auf und stieg in den Bentley. Spike saß bereits auf dem Fahrersitz. Der Jaguar auf der gegenüberliegenden Straßenseite schoss mit aufheulendem Motor davon. Spike trat das Gaspedal durch und der Bentley setz te sich mit durchdrehenden Rädern jäh in Bewegung. Sekunden später waren beide Autos verschwunden. In der Wohnstraße wurde es wieder still. Völlig ausdruckslos hatte der Mann mit dem silbernen Aktenkoffer beobachtet, was sich in der Straße abspiel te. Sobald die beiden Autos verschwunden waren, trat er hinter der Hecke hervor und ging über die Straße, wo Robert Fraser noch immer verkrümmt im Rinnstein lag. Er beugte sich zu ihm hinunter. »Alles okay«, sagte er. »Sie sind weg.« Vorsichtig drehte er Fraser auf den Rücken. Fraser war noch bei Bewusstsein, aber sie hatten ihn arg zu gerichtet – überall blutunterlaufene Schwellungen und 10
eine aufgeplatzte Lippe. Über die Stirn zog sich eine klaffende und stark blutende Wunde. Fraser blinzelte, als sich der Mann über ihn beugte. Langsam wurde das Gesicht klarer. »George?«, flüsterte Fraser. »Lange nicht gesehen, Bob«, sagte der Mann und lächelte. Dann half er Fraser auf die Beine und führte ihn durch den Vorgarten zum Haus. Fraser stützte sich schwer auf ihn. »Wir müssen dich erst mal wieder herrichten, Bob«, sagte der Mann. »Du hast da eine ziemlich schlimme Wunde an der Stirn.« »Nach oben«, keuchte Fraser, »ins Bad. Ich muss mich waschen.« Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. George führte ihn zur Treppe. »Du möchtest sicherlich keine Blutflecken auf dem Teppich«, sagte George, als sie durchs Wohnzimmer gingen. »Das ist ein echter Sanderson, stimmt’s?« Fraser gab keine Antwort. Sie stiegen die Treppe hinauf. Im Bad stützte sich Fraser schwer auf das Waschbecken. Blut und Wasser mischten sich, als er Wasser in seine Hände laufen ließ und sein Gesicht hineintauchte. Er richtete sich auf und starrte in den Spiegel. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er begriff, was er sah. George war dicht neben ihn getreten. Mit völlig aus drucksloser Miene hielt er einen Revolver direkt an Frasers Schläfe. 11
Fraser war so geschockt, dass er nur bewegungslos das Spiegelbild des Revolvers anstarrte. »Tut mir wirklich Leid, Bob«, sagte George und seine Stimme klang absolut unbeteiligt, »aber jemand will dich aus dem Weg haben.« George legte den Revolver in seinen silbernen Akten koffer zurück und nahm ein Paar schwarze Glacehand schuhe heraus, die er langsam über die Hände streifte. Er beugte sich über die Leiche und drehte den Was serhahn zu. Dann trat er zurück, schloss den Aktenkof fer, verließ das Bad und stieg die Treppe hinunter. Un ten nahm er den Telefonhörer und wählte. »Polizei?«, fragte er. »Guten Morgen. Ich möchte einen Mord melden.«
12
Erstes Kapitel Maddie Coopers Hände krampften sich um das Lenk rad. Der Vauxhall Vectra raste direkt auf einen Sta cheldrahtzaun zu. Sie reckte den Kopf weit nach vorn, den Blick starr auf die Straße gerichtet. Paul Dane bellte: »Hart nach links! Jetzt!« Maddie fand keine Zeit, sich kurz umzublicken oder zu überlegen – sie hörte nur sein Kommando und rea gierte blindlings. In dieser Situation konnte sie sich nur noch auf das Fahren konzentrieren, nichts anderes zählte. »Viel zu langsam!«, brüllte Dane. »Wenn sie uns einholen, machen sie Hackfleisch aus uns!« Vor ihnen lag ein langes, enges Straßenstück, das von hohen Betonmauern begrenzt wurde. Links eine Einfahrt, ein Stück weiter rechts eine schmale Seiten straße, aus der urplötzlich ein blaues Auto heraus schoss und die Straße blockierte. »Wende! Jetzt!«, schrie Dane. Maddie kickte das Bremspedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen schleuderte herum, die Stoßstange schrammte an einer Mauer entlang. Maddie wurde 13
nach vorn geschleudert, als der Vectra abrupt zum Stillstand kam. Aus dem blauen Wagen stiegen zwei Männer in schwarzen Overalls und rannten auf Maddies Auto zu. Sie trugen Skibrillen und Maddie sah, dass sie lange, dunkle Gegenstände in den Händen hielten. Irgendwel che Waffen. »Bring uns hier raus, Cooper!«, schrie Dane. »Schnell!« Maddie spürte instinktiv, dass ihr keine Zeit blieb, den Wagen zu wenden. Zwischen den engen Mauern hätte sie mindestens zweimal rangieren müssen. Sie packte den Schaltknüppel und legte den Rückwärts gang ein. Im selben Augenblick krachte ein Schuss. Maddie warf sich im Sitz herum und versuchte hek tisch, den Wagen so gerade wie möglich zu steuern, während sie ihn rückwärts die Straße entlangjagte. Denken! Volle Geschwindigkeit rückwärts – durch eine dunkle, höchstens zwei Meter breite Gasse. Eine Querstraße kam in Sicht. Sie warf einen schnellen Blick zurück: Hatte sie genug Abstand zu den Män nern gewonnen, um an der Kreuzung wenden zu kön nen? Es müsste reichen. Wagen stoppen, unter Kon trolle bringen. Wenden. Nichts wie weg! Der Schweiß rann über Maddies Gesicht, als sie das Lenkrad herumwirbelte. Die beiden Männer waren sehr schnell, viel schneller als sie erwartet hatte. In 14
wenigen Sekunden würden sie das Auto erreicht ha ben. Sie stand geradezu auf dem Gaspedal. Mit lautem Kreischen drehten die Reifen durch. Krachend schalte te sie höher und zuckte zusammen, als ein weiterer Schuss durch die Luft peitschte. Der Wagen schleuderte in enger Drehung über die Straße. Sie ging kurz vom Gas, dann drückte sie das Pedal wieder voll durch, sodass er mit einem wilden Satz vorwärts schoss. »Das war viel zu knapp!«, sagte Dane wütend und warf einen Blick über die Schulter. Die Männer fielen schnell zurück. »Und was jetzt?«, keuchte Maddie. »Immer geradeaus weiter. Die Sache ist noch nicht vorbei. So leicht geben sie nicht auf.« In Maddies Schläfen pochte das Blut. Die Straße wurde breiter, wurde jetzt von Sportfel dern gesäumt. Zwei weitere Wagen tauchten am Rand ihres Blickfelds auf – einer von rechts, der andere von links. »Rammen!«, brüllte Dane. »Das kann ich nicht!«, schrie Maddie. »Verdammt noch mal, rammen!«, brüllte Dane noch lauter. »Du musst! Oder willst du hier krepieren?« Maddie sah jetzt nichts anderes mehr als die beiden Autos, die dicht hintereinander quer auf der Straße standen. Die Fahrer waren herausgesprungen, beide 15
waren schwarz gekleidet und maskiert. Ihre Waffen waren auf Maddie gerichtet. Maddie hielt genau auf die schmale Lücke zwischen den beiden Wagen zu und trat das Gaspedal voll durch. Ihre Finger krallten sich in das Lenkrad. Sie stemmte den Kopf gegen die Kopfstütze und verengte die Au gen zu schmalen Schlitzen, um sich für den Zusam menstoß zu wappnen. Sie krachte genau in die Lücke. Es gab einen gewal tigen Schlag, Metall kreischte auf Metall – aber sie hatte es geschafft! Die beiden Autos waren zur Seite geschleudert worden. »Halte dich rechts!«, schrie Dane. »Wir haben es noch nicht hinter uns!« Wieder raste sie durch eine schmale Gasse. Weiter vorn kam eine Biegung, dort stand der Straßenbelag unter Wasser. Sie ging mit überhöhter Geschwindig keit in die Kurve und spürte, wie die Räder wegrutsch ten. Ihr Fuß berührte bereits das Bremspedal. »Nicht langsamer werden!«, rief Dane. »Sie sind uns dicht auf den Fersen!« Maddie gab noch mehr Gas und versuchte, auf der glitschigen Straße so gerade wie möglich zu steuern. Wieder eine Kurve, und schon wieder ein anderer Belag. Teer – Asphalt – Beton. Und wieder verlor sie die Kontrolle und konnte nur noch gegenlenken, als der Wagen hin- und herschleuderte. Dann griffen die Räder wieder. 16
Vor ihr tauchte eine Gestalt auf – eine junge Frau. Sie stand mitten auf der Fahrbahn und starrte wie im Schock dem heranrasenden Auto entgegen. »Du überfährst sie!«, brüllte Dane. Maddie trat mit ihrer ganzen Kraft auf die Bremse. Die Räder blockierten abrupt, die Lenkung griff nicht mehr. Der Wagen schlitterte über die Straße, drehte sich leicht, schleuderte aber noch immer direkt auf die Frau zu. Maddies Gedanken überschlugen sich. Was hatte man ihr beigebracht? Kontrolliertes Bremsen. Fuß vom Bremspedal. Jetzt steuern. Der Frau ausweichen. Jetzt wieder bremsen. Geschwindigkeit herunter. Fuß vom Bremspedal. Steu ern, ausweichen, dann wieder bremsen. Anhalten. Das befahl ihr der Verstand – aber ihr Körper ge horchte nicht. Sie schleuderte mit furchtbarer Ge schwindigkeit der jungen Frau entgegen. Alle Instinkte schrien ihr zu, den Fuß auf der Bremse zu lassen. Sie war hilflos, konnte es nicht vermeiden. Impulsiv ver suchte Maddie, ihren Fehler zu korrigieren – sie trat das Gaspedal durch. Der Wagen schoss vorwärts. »Geh vom Gas!«, brüllte Paul Dane entsetzt. »Mad die! Nein!« Die Straße wirbelte vor ihren Augen. Sie hatte ver loren. Erleichtert stieß sie den Atem aus, als sie knapp links an der Frau vorbeischlitterten. Dann tauchte die niedrige Mauer auf. Sie prallten hart dagegen – ein 17
furchtbarer Schlag, der Wagen stieg seitlich hoch und drehte sich in der Luft. Maddie klammerte sich verbissen fest. Ein furchtba res Krachen war zu hören, ein gewaltiger Aufprall, dann völliges Chaos. Der Wagen stand still, aber er lag auf dem Dach. Maddie hing umgekehrt in ihrem Sicherheitsgurt, die Augen im Schock weit aufgerissen. Der Motor heulte und dröhnte in ihren Ohren. Alles war rasend schnell gegangen – und gründlich schief gelaufen. Nur halb bewusst nahm sie wahr, dass sich Paul Dane herüberlehnte und den Zündschlüssel umdrehte. Der Motor verstummte. Dane kickte gegen die Beifah rertür, sodass sie aufsprang, und kletterte hinaus. Maddies Atem ging keuchend und schnell. Mit zit ternden Fingern löste sie den Gurt und fiel auf das Au todach hinunter. Sie drehte sich um und schaffte es, die Tür mit den Füßen aufzustemmen. Langsam robbte sie auf den nassen Straßenbelag hinaus. Sie hielt sich an der Karosserie fest und kam taumelnd auf die Beine. Paul Dane stand auf der anderen Seite des Autos und zündete eine Zigarette an. »Alles okay?«, fragte er gelassen. »Ich glaube schon«, keuchte Maddie. »Bis zur Pfanne hast du es gut gemacht«, sagte er. Maddie starrte auf die schüsselartige Vertiefung in der Schleuderstrecke der Hendon-Fahrschule. Sie war tatsächlich wie eine flache Wokpfanne geformt. Auf 18
der Straße wechselten sich verschiedene Beläge ab. Wasser sprühte aus Düsen auf die Straße. An einer Stelle hatte man die Fahrbahn mit Schmierseife präpariert. Weiter oben stand eine Schaufensterpuppe – die junge Frau, die Maddie bei nahe überfahren hätte. Maddie starrte die Figur ver blüfft an – sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie nicht echt war. Weiter links gab es einen offenen Bereich, in dem bei den Anti-Hijack-Kursen das Rammen trainiert wurde. In einiger Entfernung dahinter befanden sich eine Aschenbahn und die Unterkünfte der Kursteil nehmer. Heute war Maddies letzter Tag. Und im praktischen Teil der Abschlussprüfung hatte sie soeben das Auto auf den Kopf gestellt. Spitzenleistung, Special Agent Cooper!, dachte sie grimmig. Das Training war Teil ihrer Ausbildung für das PIC, das Police Investigation Command, eine spezielle Er mittlungseinheit der Polizei. Maddie war zwar die Jüngste der Trainees, die im Schnellverfahren ausge bildet wurden, aber für Detective Chief Superintendent Jack Cooper war das kein Grund sie zu schonen – schon deshalb nicht, weil sie seine Tochter war. »Nicht zu fassen, wie ich das so vermasseln konn te«, stöhnte Maddie. »Ich habe total versagt!« »Es geht hier nicht um Versagen oder Nichtversa gen, Agent Cooper«, sagte Dane gelassen. »Es geht nur darum, wie man in Notsituationen überlebt, was man 19
wissen und können muss, wenn es wirklich mal hart kommt.« Er sah sie an. »Jedenfalls weißt du jetzt, was du zu tun hast. Und was nicht.« »Kreative Art zu parken«, sagte eine spöttische Stimme hinter ihnen. Maddie drehte sich um. Alex Cox schlenderte her bei, wobei er das Auto begutachtete. Alex war eben falls Trainee beim PIC, war aber drei Jahre älter als Maddie und hatte auch schon mehr Erfahrung als Spe cial Agent. Er stammte aus Ostlondon, ein waschech ter, cooler Cockney, von Jack Cooper persönlich vor sechs Monaten für sein Eliteteam ausgewählt. Maddie wandte sich wieder Paul Dane zu. »Ich möchte die Prüfung gerne noch mal machen.« Der Fahrlehrer grinste. »Muss das sein? Die Autos sind nicht gerade billig!« Maddie starrte ihn wütend an. »Ich will die Prüfung wiederholen!«, beharrte sie. »Aber doch nicht heute, Maddie!«, warf Alex ein. »Der Chief hat gerade angerufen. Wir sollen in die Zentrale kommen. Und zwar sofort.« Doch so leicht gab Maddie nicht auf. Sie wollte keine halben Sachen machen. »Das hier ist noch nicht zu Ende«, sagte sie stur. »Ich komme wieder.« Dane hatte inzwischen begriffen, dass Maddie es ernst meinte und nicht nachgeben würde. Die Hartnä ckigkeit musste sie von ihrem Vater geerbt haben. Er 20
nickte seufzend. »Geht in Ordnung, Maddie. Jederzeit. Ich warte auf dich.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um. »Aber bringe dann bitte dein eigenes Auto mit!« Maddie sah ihm mit wutblitzenden Augen nach, während Alex mit einem Lachanfall kämpfte. Zusam men gingen sie zum Gebäude zurück. »Wenn du ein einziges Wort über Frauen am Steuer sagst, brech ich dir das Genick!«, fauchte sie.
Whitechapel Road, London E1 »Blind Beggar«-Pub Im Pub drängten sich die Leute. Danny Bell hatte Schwierigkeiten, überhaupt durch die Tür zu kommen. Er zwängte sich durch die Menge. Die Luft war dick vom Rauch und am Tresen herrschte Hochbetrieb. Die meisten Gäste waren Einheimische, viele Büroange stellte und Jungmanager, aber auch ein paar Touristen gab es hier, die unbedingt den Pub gesehen haben mussten, in dem die Brüder Kray in den Sechzigerjah ren Hof gehalten hatten. Die Krays waren Gangster gewesen – so ähnlich wie die Männer, die Dannys Heimatstadt Chicago in den Zwanzigerjahren terrori siert hatten. Danny war Afroamerikaner und mit seinem Vater erst vor einem Jahr nach England gezogen. Auch er gehörte zu den PIC-Trainees. Seine Spezialität im Au 21
ßendienst war die elektronische Observation; er war ein echtes Computergenie. Danny blickte sich suchend im Pub um. Er war hier mit einem seiner Informanten verabredet, einem Bur schen namens Fly. Danny hatte innerhalb weniger Monate ein ganzes Netzwerk von Informanten aufgebaut, kleinen Gau nern, die zwar nur am Rande der kriminellen Szene Londons standen, aber viel hörten und sahen und ihr Wissen nur zu gerne verkauften. Manchmal lieferten sie ihm recht nützliche Informa tionen, aber manchmal war auch alles reine Ver schwendung von Zeit und Geld. Aber das wusste man vorher nie. Fly hockte in einer Ecke an einem kleinen runden Tisch, dicht über zwei Gläser gebeugt – ein Bier und einen Whiskey zum Nachspülen. Fly war mager, hatte scharfe schwarze Augen, fettiges Haar und wirkte ziemlich nervös. Danny schätzte ihn auf Ende zwanzig. Danny setzte sich ihm gegenüber. Fly starrte ihn an. »Du bist spät dran«, flüsterte er, wobei er sich nervös umsah. »Kannst mich ja anzeigen«, sagte Danny gelassen. »Die Polizei freut sich bestimmt über anständige Bür ger wie dich. Hast du was für mich, Fly?« Fly beugte sich über den Tisch und Danny wich unwillkürlich zurück, als ihm Flys saure Alkoholfahne entgegenschlug. 22
»Heiße Ware, Bell«, flüsterte Fly. »Ist mindestens einen halben Großen wert.« »Fünfzig Pfund?« Danny lachte laut und tat so, als wolle er aufstehen. »Ciao, Fly.« »Okay, dann eben die Hälfte«, murrte Fly. »Sollte es dir eigentlich wert sein, Bell. Popelige fünfund zwanzig Eier.« »Spuck erst mal ein bisschen was aus.« »Ich hab seit kurzem drüben in Deptford einen Job«, murmelte Fly während er wieder ängstlich über die Schulter blickte. »Auf- und Abladen, kapiert?« Danny nickte nur. Welchen Job auch immer Fly machte, er war mit Sicherheit illegal. »Aber das neulich war nicht das übliche Zeug«, fuhr Fly fort. »Keine Zigaretten, kein Alkohol, keine Drogen und so. Sondern große Holzkisten, klar?« Er nahm einen Schluck Whiskey. »Jedenfalls wundere ich mich, was da abgeht. Große schwere Kisten waren das. Ungefähr zwanzig Stück. Auf den Seiten steht ›Landwirtschaftsma schinen‹, aber ich schnall natürlich gleich, dass da was anderes drin sein muss. Maschinen für’n Bau ernhof, völlig unmöglich. Also mach ich eine auf, verstehst du. Und weißt du, was ich da drin sehe?« Fly lehnte sich noch weiter über den Tisch. »Waf fen, Mister!« Er breitete die Arme aus. »Granatwer 23
fer und Mörser und solches Zeug. Ziemlich schwere Artillerie.« Danny zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ja, staun nur. Ist nämlich so, dass die Kisten in ein paar Tagen aus dem Land gebracht werden. Keine Ah nung, wann genau. Aber sie werden nicht mehr lange da sein, Bell.« Seine Augen glitzerten. »Sobald ich die großen Kano nen sehe, denk ich mir, das wird meinen alten Freund Bell interessieren. Aber klar doch.« Danny betrachtete Fly aufmerksam. Er hatte Flys schlechte Manieren völlig vergessen. Nach dem, was Fly eben erzählt hatte, fiel es Danny schwer, seine Aufregung zu beherrschen. Er durfte Fly nicht merken lassen, dass die Information eine wahre Bombe war. Diese Sache konnte der Durchbruch sein, auf den das PIC lange genug gewartet hatte! »Vielleicht kümmere ich mich mal darum, wenn ich Zeit habe«, sagte Danny lässig. Er nahm seine Geld börse heraus und schob drei Geldscheine über den Tisch. »Hier sind die fünfundzwanzig Pfund. Tu damit was für deine Bildung, Fly.« »Bildung? Klar, Mann, immer.« Flys Klaue schoss über den Tisch und die Geldscheine verschwanden. Er ließ ein zerknülltes Papierstück auf den Tisch fallen. Danny strich es auf der Tischplatte glatt – eine Adresse in Flys krakeliger Schrift. Er steckte den Zettel ein und erhob sich ohne ein weiteres Wort. Erst als Danny 24
wieder auf der Straße war, erlaubte er sich ein breites Grinsen. Er sprintete zum Auto, wo PIC-Agentin Gina hinter dem Steuer wartete. »Hat es was gebracht?«, fragte sie, als er einstieg. »Du wirst es kaum glauben«, grinste Danny, »aber mit dem, was ich eben erfahren habe, wird die Opera tion Golden Fleece echt abheben.« Er lachte laut auf. »Zur Zentrale, Gina. Und zwar presto. Wenn du weißt, was ich meine.«
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Zweites Kapitel
PIC-Zentrale, Besprechungsraum Zeit: 13.45 Uhr Detective Chief Superintendent Jack Cooper saß in seinem Rollstuhl an der Stirnseite des Besprechungs raums. Cooper war Mitte fünfzig, ein ernster Mann mit stahlgrauem Haar, kantigem Gesicht und durchdrin gendem Blick. Seit einem Attentat auf Cooper und seine Familie waren seine Beine gelähmt. Das Attentat war der Racheakt eines Unterweltbosses gewesen und hatte Coopers Frau das Leben gekostet. Seine Tochter Maddie konnte schwer verletzt überleben, aber ihre Genesung hatte Monate gedauert. Coopers scharfer Verstand jedoch hatte nicht gelitten, und seither ver folgte er Verbrecher noch unnachgiebiger als zuvor. Die Spezialermittlungseinheit PIC – das Police Inves tigation Command – war seine Idee und seine Schöp fung. Er hatte die Gründung der Einheit durchgesetzt und leitete das PIC von seinem Büro im Penthouse des Centrepoint-Gebäudes. Die Spezialagenten der Einheit 26
operierten in ganz Europa und auch außerhalb des Kontinents. Das PIC hatte sich in kurzer Zeit bei vielen polizei lichen und geheimdienstlichen Aufgaben einen Namen gemacht. In der Öffentlichkeit war die Spezialeinheit jedoch kaum bekannt, und wenn es nach dem Chief Superintendent ging, sollte das auch so bleiben. Denn je bekannter die Einheit war, desto schwieriger wurde es, geheime Aktionen durchzuführen. Der Besprechungsraum war groß und mit zahlrei chen Computerarbeitsplätzen ausgestattet. Ungefähr 20 Agenten befanden sich in dem Raum, und jeder hatte einen Monitor vor sich. Es waren Abteilungsleiter, Spezialagenten und Sachbearbeiter der Zentrale anwe send – und drei Trainees, die im Schnellverfahren aus gebildet wurden: Maddie, Danny und Alex. Tara Moon, Jack Coopers Assistentin, stand wie immer neben der Tür. Tara war erst Anfang zwanzig. Sie hatte kurzes rotes Haar und harte grüne Augen. Keine Frau, mit der man sich anlegen sollte. Außen an der Tür leuchtete ein rotes Licht: Bespre chung – kein Zutritt. Jack Cooper eröffnete die Sitzung und kam gleich zur Sache. »Punkt eins betrifft die Operation Golden Fleece«, sagte er. »Mr Bell wird uns die Einzelheiten erläutern.« Er warf Danny einen auffordernden Blick zu. 27
Maddie öffnete die Datei mit den Hintergrundin formationen auf ihrem Computer und blätterte schnell durch den Text, um sich den Inhalt in Erinnerung zu rufen. Sie arbeitete zwar nicht an diesem Fall, aber sie hatte die Akte gelesen. Der Chief bestand darauf, dass die Mitarbeiter wenigstens grob darüber Bescheid wis sen mussten, was in der Zentrale vor sich ging. Operation Golden Fleece. Internationaler Waffen schmuggel. Militärwaffen aus mehreren NATO-Ländern sind in die Hände von terroristischen Organisationen gelangt. Seit mehreren Monaten verdichten sich die Hinweise, dass eine einzige Organisation hinter dem Waffenhan del steht – ein Schmuggelkartell, das sich selbst mit dem Decknamen »Hydra« bezeichnet. PIC stellt ge genwärtig in Zusammenarbeit mit Europol und den Polizeikräften mehrerer NATO-Länder Ermittlungen über den britischen Arm dieser Organisation an. Danny trat ans Rednerpult und nickte Tara Moon kurz zu. Sie dimmte die Beleuchtung. Danny drückte auf einen Knopf der Fernbedienung. Auf der großen Pro jektionsfläche hinter ihm wurde augenblicklich die Luftaufnahme einer großen Ortschaft sichtbar. Danny richtete einen Lichtpfeil auf das Foto. »Okay – hier haben wir eine Luftaufnahme von Deptford im Süden Londons«, begann er und zeigte auf eine der Themseschleifen. »Hier liegt Greenwich 28
Reach.« Der kleine Lichtpfeil glitt weiter zu einer Ei senbahnlinie und kreiste kurz um ein großes Gebäude. »Das hier ist der Bahnhof Deptford.« Danny zeigte auf eine Straße. »Und hier ist die Creek Road im Südosten Londons.« Er drückte erneut auf einen Knopf. Der Kartenausschnitt erschien nun in Großaufnahme und Danny richtete den Lichtpfeil auf ein lang gestrecktes Gebäude. »Wenn mein Informant Fly die Wahrheit gesagt hat, dann ist dieses Lagerhaus hier voll gestopft mit schweren Waffen.« »Was für Waffen?«, fragte Alex. »Fly behauptet, es seien ziemlich große Waffen. Sie sähen wie Militärwaffen aus.« Er beugte sich über das Rednerpult und sprach jetzt sehr eindringlich. »Es steht jedenfalls fest, dass Waffen dieser Art in solchen La gerhäusern nichts zu suchen haben. Es handelt sich um eine beträchtliche Lieferung, und eine Operation in solcher Größenordnung verlangt sicherlich eine Menge Organisation.« Danny machte eine kurze Pause. »Ich glaube, dass wir eines der Nester von Hydra gefunden haben.« Er blickte zu Jack Cooper hinüber. »Sir, ich emp fehle, den Überwachungswagen einzusetzen. Wir soll ten das Lager aus sicherer Entfernung observieren. Wir haben auf diese Weise vielleicht erstmals die Möglich keit, mehr über das eigentliche Zentrum dieses Mons ters herauszufinden.« Jack Cooper nickte nachdenklich. »Einverstanden. 29
Wir werden das Lagerhaus rund um die Uhr überwa chen. Danny, Sie haben die Informationen gesammelt, also übernehmen Sie die Leitung dieser Überwachung. Aber halten Sie sich ruhig – und wenn Sie glauben, dass jemand Verdacht schöpft, ziehen Sie sich sofort zurück. Ihr Auftrag lautet Überwachung, sonst nichts. Halten Sie ständigen Kontakt mit der Zentrale. Unter nehmen Sie nichts ohne meine ausdrückliche Geneh migung. Falls ich nicht erreichbar bin, setzen Sie sich mit Susan Baxendale in Verbindung. Gibt es dazu noch Fragen?« Danny verneinte und setzte sich wieder auf seinen Platz. »Gut. Machen wir weiter«, fuhr Jack Cooper fort. »Punkt zwei betrifft einen neuen Fall. Sie finden ein Dokument mit den Detailinformationen in der Datei OPHUB2846.doc.« Ein paar Sekunden lang war nur das Klicken der Computer-Mäuse zu hören. Maddie und ihre Kollegen öffneten die Datei auf ihren Bildschirmen. Die Datei trug die Überschrift Operation Hubcap. »Das kommt von den Kollegen bei der Metropolitan Police«, sagte Alex zu Maddie. Unter der Überschrift stand: Metropolitan Police – Serious Crime Squad, Abteilung Fahrzeugdiebstahl, Einheit S07. Die Einheit führt eine Operation gegen einen in 30
London agierenden Verbrecherring durch, der sich auf den organisierten Diebstahl von Luxusfahrzeugen spe zialisiert. Der Ring ist zu groß, um von einer einzigen Bezirkspolizeieinheit bearbeitet werden zu können. »Wir wissen«, sagte Jack Cooper, »dass seit mehre ren Jahren ein großer Ring aktiv ist, der sich auf Fahr zeugdiebstahl spezialisiert hat. S07 hat es bisher nicht geschafft, den Ring zu knacken. Dem Innenminister dauert die Sache zu lange; er hat deshalb der Metropo litan Police nahegelegt, den Fall an PIC zu überge ben.« Er lächelte ein wenig schief. »Der Innenminister glaubt, dass wir über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, um endlich den Durchbruch zu schaffen.« Der Chief blickte seine Agenten der Reihe nach an. »Ich denke, dass der Minister Recht hat. Sie sehen jetzt die Fahrzeugmarken, auf die sich der Ring speziali siert, wie die S07 annimmt.« Er tippte einen Dateina men ein. »Sie werden sehen, dass es sich ausschließ lich um sehr luxuriöse und teure Fahrzeuge handelt.« Jack Cooper zählte die Marken auf. »BMW 5er. BMW 7er – im Moment offenbar ganz besonders be gehrt. Ferrari 328 GTS. 550 Marnello. Mondial 3.2 Cabriolet. Bentley Continental. Mulliner. Azure. Kön nen Sie mir noch folgen?« Cooper zählte weitere Lu xusschlitten auf und endete bei Rolls-Royce und Por sche 911. »Da geht es um sehr viel Geld«, flüsterte Danny. »Der Innenminister wünscht, dass wir den Ring in 31
filtrieren«, erklärte Jack Cooper. »Er glaubt, dass wir nur auf diese Weise weiterkommen können. Es gilt also, herauszufinden, wer den Ring leitet und wie das Geschäft funktioniert.« Coopers Blick wanderte zu Maddie, der vor Aufre gung heiß wurde. »Maddie und Alex Cox – ihr beide werdet in den Ring eingeschleust«, ordnete der Chief an. »Kommt in zehn Minuten in mein Büro. Noch Fragen?« Er ging zum nächsten Fall über. Maddie konnte sich kaum noch konzentrieren. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. »Die Besprechung ist zu Ende«, sagte ihr Vater schließlich. »Zurück an die Arbeit, Leute. Und viel Erfolg.« Maddie stand auf und sah zu Alex hinüber. Er griff gerade nach seinem Notizblock und wandte sich zur Tür. Er schien recht gelassen zu sein, aber für ihn war das ja Routine. Maddie selbst konnte es kaum glauben – noch vor ein paar Minuten hatte sie gemeint, den Tag und vielleicht sogar den Rest der Woche mit irgendwel chen langweiligen Nachforschungen am Computer in der Zentrale verbringen zu müssen. Und jetzt sollte sie eine verdeckte Ermittlung durchführen, ihre erste, seit sie Trainee beim PIC geworden war! »Manche Leute haben doch wirklich unverschämtes Glück!«, murrte Danny beim Hinausgehen. »Ich armes Schwein muss in Deptford herumhängen – und hocke 32
den ganzen Tag im Überwachungswagen und bete, dass was halbwegs Interessantes passiert. Und ihr bei de spaziert durch die Stadt und dürft BMWs und Ferra ris klauen.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Das Leben ist so ungerecht.«
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Drittes Kapitel Alex und Maddie betraten Jack Coopers Arbeitszim mer. Der Chief bedachte seine Tochter mit einem lan gen, nachdenklichen Blick. »Das ist dein erster Under cover-Einsatz, Maddie«, sagte er. »Verdeckte Ermitt lungen sind immer sehr gefährlich. Ein falsches Wort, ein Ausrutscher genügt, um euch beide auffliegen zu lassen. Alex hat mehr Erfahrung als du. Für diese Ope ration übernimmt er die Führung.« Maddie nickte nur. Damit hatte sie kein Problem. »Tara hat Lebensläufe für euch geschrieben«, fuhr ihr Vater fort. »Ihr müsst euch voll mit euren neuen Rollen identifizieren. Hört genau zu und prägt euch alles gut ein.« Tara öffnete eine Akte. »Ich habe die Sache so ein fach wie möglich gemacht«, erklärte sie. »Ihr stammt beide aus Southend. Maddie Brown und Alex Smith.« Alex grinste. »Das sind doch Allerweltsnamen!« »Stimmt«, gab Tara zu, »und genau das ist auch be absichtigt. Ihr taucht in die Szene ab, Alex. Die Aller weltsnamen gehören zu euren neuen Rollen. Jeder 34
weiß, dass ihr nicht Smith oder Brown heißt, und das bedeutet, dass ihr eure wirklichen Namen nicht nennen wollt. Aber diese Leute rechnen gar nicht damit, dass ihr eure Karten gleich offen auf den Tisch legt.« »Aber die Vornamen?«, fragte Maddie. »Das sind unsere eigenen!« Tara nickte. »Wenn es möglich ist, nehmen wir die echten Vornamen unserer Agenten. In der Szene wer den sie euch meistens mit dem Vornamen anreden. Wenn es eure echten Vornamen sind, werdet ihr auch normal darauf reagieren. Bei Decknamen ist die Ge fahr groß, dass ein Agent sich nicht angesprochen fühlt, und dann kann es gefährlich werden.« Sie blickte in ihr Notizbuch. »Ihr kennt euch seit mehreren Jah ren«, fuhr sie fort, »und habt beide schon kleinere Straftaten begangen – Ladendiebstahl und so weiter –, aber ihr seid nicht vorbestraft. Vor über einem Jahr seid ihr aus euren Elternhäu sern abgehauen. Ihr habt mit anderen Typen zusammen ein leer stehendes Haus besetzt. Als die Hütte abgeris sen wurde, seid ihr nach London gegangen. Hier seid ihr seit zwei Monaten und habt im Freien geschlafen, wenn ihr keinen anderen Platz finden konntet. Aber seit ein paar Wochen lebt ihr in einem Obdachlosen heim in Battersea – damit wäre erklärt, warum ihr nicht so verwahrlost ausseht wie streunende Hunde.« »Was für Klamotten sollen wir tragen?«, fragte Maddie. 35
»Das kleine Schwarze natürlich!«, grinste Alex. »Passt zur Rolle als Straßengöre.« Tara warf Alex einen ungeduldigen Blick zu, ging aber nicht darauf ein. »Die Materialstelle wird schon das richtige Zeug finden«, sagte sie zu Maddie. »Ihr solltet natürlich Sachen aussuchen, die zu eurem neu en Leben passen. Abgetragene Jeans sind immer rich tig.« »Sind wir, hm, richtig zusammen?«, wollte Alex wis sen. »Nein«, antwortete Tara. »Ihr seid gute Freunde, sonst nichts. Ein Team. Bei den Diebstählen arbeitet ihr zusammen. Achtet immer darauf, dass ihr nicht getrennt werdet. Und passt gut auf, dass ihr immer dieselbe Lebensgeschichte erzählt.« Alex und Maddie nickten. »Wir haben schon einen sehr guten Hinweis«, sagte Jack Cooner »Vor zwei Tagen hat man einen jungen Burschen aus einem Porsche geholt.« Er öffnete eine braune Mappe und nahm eine DVD-CD heraus. »Das hier ist eine Aufzeichnung seiner Vernehmung. Ich habe sie selbst noch nicht gesehen, aber man hat mir gesagt, dass der Junge sehr wahrscheinlich mit dem Autoschieberring zu tun hat. Schaut euch das genau an und kommt dann später noch mal zu mir.«
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Das Verhör Der Junge war noch keine zwanzig. Er trug modische Sportkleidung und bemühte sich krampfhaft, völlig cool zu wirken. Doch sein Blick irrte immer wieder zur Kamera. Er sprach leise und zögernd. »Ich weiß nichts über einen Autoschieberring«, sag te er. »Ich hab den Wagen gesehen und mir einfach gedacht, ich könnte mal eine kleine Spritztour unter nehmen, verstehen Sie.« »In einem Porsche?«, fragte der Beamte, der ihn verhörte. »Komm schon, Jake, die Wahrheit. Also: Wer hat dich beauftragt, den Wagen zu klauen?« Jake starrte verstockt vor sich hin. »Weißt du eigentlich, wie viele Jahre auf Autodieb stahl stehen?«, fragte der Beamte beiläufig. Der Junge blickte erschrocken auf, senkte aber so fort wieder den Blick. Eine Zeitlang herrschte Schwei gen. Offenbar dachte Jake gründlich nach. Der Beamte hatte Zeit. Viel Zeit. Nach einer Weile sah Jake auf. »Ich weiß überhaupt nichts.« »Natürlich weißt du etwas, Jake«, sagte der Polizist freundlich. »Du weißt zum Beispiel, dass du ganz tief in der Pampe steckst. Und dass du noch viel, viel tiefer rein 37
rutschst, wenn du jetzt nicht auspackst. Also noch mal: Wo solltest du den Porsche hinbringen?« Jake lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Anscheinend hatte er einen Entschluss gefasst. »Apex – eine Auto waschanlage«, murmelte er. »In der Nähe von King’s Cross Arches.« »Das klingt schon besser«, meinte der Polizist. »Und wer ist dort dein Partner?« »Kenn ihn nicht«, gab Jake zu. »Er ruft an, wenn er einen Job hat, verstehen Sie? Er sagt mir Adresse und Automarke. Ich marschiere los und hole den Wagen. Dann liefere ich. Hinter der Waschanlage ist eine Parkbucht. Dort parke ich das Auto. Ich hab noch nie jemanden gesehen. Der Typ legt fünfhundert Pfund unter eine Gehwegplatte. Die krall ich mir.« Jake grinste. »Dann warte ich auf den nächsten Anruf.« »Und du bist dem Mann nie begegnet?« »Nein.« »Wie hast du den ersten Kontakt mit ihm bekom men?« »In Stepney, im ›Moon and Sixpence‹. Das ist ein Pub«, erklärte Jake. »Ich hab mich dort mit einem Bur schen über Autos und so unterhalten. Er fragte, ob ich was bar auf die Kralle verdienen wolle. Leichter Job. Irgendein Typ würde mich dann mal anrufen, sagte er.« Er zuckte die Schultern. »So funktioniert die Sa che seither.« »Also hast du auch keine Ahnung, was mit den Au 38
tos passiert, nachdem du sie in King’s Cross Arches abgestellt hast?«, fragte der Polizist. Jake schüttelte den Kopf. »Interessiert mich nicht.« Die Vernehmung ging noch eine halbe Stunde lang weiter. Der Polizist versuchte vergeblich, mehr Infor mationen aus Jake herauszuholen. Wahrscheinlich wusste Jake tatsächlich nicht mehr als das, was er be reits gestanden hatte. Er führte schließlich nur Aufträ ge aus, gegen Bezahlung. Und zwar bar auf die Kralle. Alex drückte auf eine Taste und der Bildschirm wurde dunkel. »Fünfhundert pro Auto«, meinte er. »Scheint so was wie ein Tarif zu sein. Der Job wird nicht schlecht be zahlt, wenn man bedenkt, dass er für jeden Dreh höchstens eine Stunde benötigt. Solche Jobs muss man erst mal finden. Jake ist für diese Operation unser Vor bild. Glaubst du, dass du dich so ähnlich benehmen kannst wie er?« Maddie starrte Alex mit kaltem, drohendem Blick an. »Hast du irgendein Problem mit meinem Verhal ten?«, fauchte sie ihn scharf an. Alex zuckte unwillkürlich zurück. Er war verblüfft, wie schnell sie in eine andere Rolle geschlüpft war, ging aber sofort darauf ein. »Mach kein Trabbel, Tussi. Laber hier nicht rum.« »Würd ich dir auch nicht raten«, gab Maddie in ei sigem Ton zurück. Dann wechselte ihre Miene wieder. »Wenn ich erst mal richtig verkleidet bin, gewöhne ich 39
mich noch besser an die Rolle«, lachte sie. »Wo fangen wir eigentlich an?« »Wir könnten erst mal einen Trip zum ›Moon and Sixpence‹ in Stepney machen«, meinte Alex. »Dort hängen wir eine Weile herum und stellen Fragen. Die Leute sollen merken, dass wir zwei Idioten auf schnel les Geld scharf sind.« »Oder wir holen uns einen Wagen vom Fahrzeug park«, schlug Maddie vor, »fahren zu King’s Cross Arches und warten einfach ab, was dann passiert.« Alex grinste. »Frontalangriff. Gefällt mir.« Er stand auf. »Jetzt holen wir uns erst mal die Klamotten. Dann berichten wir dem Chief. Mal sehen, was er dazu sagt.« In ihren schäbigen Kleidern stellten sich Maddie und Alex dem Chief vor. Alte Jeans und T-Shirts, zerknit terte Jacken, abgetragene, alte Trainers. Maddie hatte massenhaft Gel in ihr Haar gerieben und es hart und flach zurückgekämmt. Sie flegelte sich in einen der Besuchersessel, ließ ein Bein über die Armlehne bau meln und starrte ihn provozierend an. »Na, was is, Al ter? Bist wohl völlig von der Rolle, ey?« Jack Cooper lachte. »Okay, du bist ziemlich über zeugend. Aber spar dir das für den Einsatz. Erzählt mir jetzt lieber, was bei dem Verhör herausgekommen ist.« Aufmerksam hörte er zu, als Alex und Maddie ihm über Jakes Verhör berichteten. Dann brachte Maddie 40
ihre Idee vor, mit einem Auto direkt nach King’s Cross Arches zu fahren. »Was halten Sie davon?«, fragte er Alex. »Scheint mir sinnvoll«, antwortete Alex. Jack Cooper nickte. »Okay. Dann macht es. Wenn ihr es erst mal geschafft habt, euch in den Ring einzu schleusen, möchte ich, dass ihr euch in regelmäßigen Abständen meldet«, befahl er. »Geht keine unnötigen Risiken ein. Unterschätzt die Leute nicht, mit denen ihr es zu tun habt. Gebraucht euren Verstand! Wenn ihr glaubt, dass es Schwierigkeiten gibt, fordert Unterstüt zung an, bevor es zu spät ist.« Er öffnete eine Schublade und nahm zwei sehr fla che Mobiltelefone und zwei kleine schwarze Geräte heraus. Eines dieser Geräte kannte Alex schon – eine Art elektronische Fernbedienung, mit der man eine Auto alarmanlage ausschalten konnte. »Ihr werdet diese Telefone mitnehmen«, ordnete Jack Cooper an. »Es sind die kleinsten und flachsten Modelle, die wir finden konnten.« Den zweiten schwarzen Apparat gab er Maddie. Er sah aus wie ein Minitaschenrechner. »Das ist ein Tele fondecoder«, erklärte er. »Tara wird euch zeigen, wie er funktioniert und was er kann. Aber lasst diese Gerä te nicht der Gegenseite in die Hände fallen. Wenn Ge fahr besteht, dass man sie bei euch findet, solltet ihr sie wegwerfen, wenn ihr eine Chance dazu habt. Passt gut 41
auf die Geräte auf. Behaltet sie immer bei euch. Sie könnten die einzige Rettungsleine sein, die euch bleibt.« Cooper betrachtete Maddie noch aufmerksamer als zuvor. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Vater darüber nachdachte, ob er ihr ein paar besondere Worte mit auf den Weg geben solle. Von Vater zu Tochter, sozusa gen. Doch dann war dieser kurze Augenblick vorbei. »Ich bin mit eurem Plan einverstanden«, sagte er knapp. »Ich habe volles Vertrauen in euch beide. Also dann – an die Arbeit!«
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Viertes Kapitel
King’s Cross Arches Zeit: 17.55 Uhr Alex und Maddie hatten sich einen nachtblauen Rover 45 ausgeliehen. Das PIC verfügte über einen guten Wagenbestand. Seit 37 Minuten beobachteten sie die ApexAutowaschanlage, die aber geschlossen zu sein schien. Die Waschanlage stand direkt neben den ho hen Bogen der Eisenbahnbrücke, deren Pfeiler auf beiden Seiten in die Höhe ragten, aber es gehörten noch Werkstätten dazu, die in die Brückenbogen hin eingebaut worden waren. Alex hatte den Wagen hier um 17.18 Uhr geparkt, und seither hatte sich dort drü ben nichts gerührt. Alex hatte Maddie gezeigt, wie sie das kleine Han dy in ihrer Socke verbergen konnte. Sie spürte das Ge rät, denn es drückte hart gegen ihren Knöchel, aber wenigstens war es dort einigermaßen sicher unterge bracht. Der Decoder steckte in der anderen Socke. 43
Maddie rutschte auf ihrem Sitz hin und her. »Wie lange wollen wir noch warten?«, fragte sie ungeduldig. Alex sah auf die Uhr. »Wir sind noch nicht mal eine Stunde hier, Maddie. Geduld gehört zum Job. Ich den ke, wir werden noch ein bisschen aushalten müssen – sagen wir mal zwei Stunden. Wenn bis dahin nichts passiert, sollten wir vielleicht zu Plan B übergehen und dem ›Moon and Sixpence‹ einen Besuch abstatten.« Maddie schüttelte unwillig den Kopf. »Das finde ich nicht gut«, widersprach sie. »Wir sitzen jetzt schon lange genug hier und in der Waschanlage hat sich noch kein einziger Mensch blicken lassen. Wir vergeuden nur unsere Zeit – statt erst einmal herauszufinden, ob überhaupt jemand da ist. Und dazu müssen wir eine kleine Show abziehen.« Bevor Alex sie daran hindern konnte, beugte sie sich zu ihm hinüber, drehte den Zündschlüssel um und schlug mit der flachen Hand kurz auf die Hupe. Einmal. Zweimal. Und dann noch einmal, aber dieses Mal hupte sie lang und durchdrin gend. »Bist du wahnsinnig?«, schimpfte Alex. Maddie grinste. »Ich bin ein ganz böses Mädchen und hab’s ziemlich eilig, stinkreich zu werden«, sagte sie. »Schon vergessen? Passt nicht zu mir, den ganzen Tag rumzusitzen und darauf zu warten, dass endlich jemand auf mich aufmerksam wird. Wo ich bin, ist action.« »Scheint so, als hättest du Recht«, musste Alex wi 44
derwillig zugeben. Das Tor in einem der Brückenbo gen hatte sich geöffnet. Ein Mann war herausgetreten und starrte herüber. Alex stieß die Fahrertür auf und stieg aus. Der Mann kam auf den Wagen zu. Er trug einen ölverschmierten Overall und wischte sich beim Gehen die Hände an einem Stofflappen ab. Er hatte grobe Gesichtszüge, kurzgeschnittenes Haar und war kräftig gebaut. Maddie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Sie stieg ebenfalls aus. »Was wollt ihr?«, rief der Mann und blieb auf hal ber Strecke stehen. Alex ging ihm entgegen, dicht gefolgt von Maddie. Sie sah, dass sich der Körper des Mannes anspannte, als sie sich ihm näherten. »Wir haben gehört, hier gibt’s Jobs«, sagte Alex. Der Mann runzelte die Stirn und musterte ihn von unten bis oben. »Was für Jobs?« Alex deutete mit dem Daumen über die Schulter auf den Rover. »Jobs für Leute, die gut mit Autos umgehen kön nen, Sie wissen schon.« Der Mann warf einen geringschätzigen Blick auf den Rover und schüttelte den Kopf. »Nein, weiß ich nicht. Keine Ahnung, was du meinst, Freundchen.« Er drehte sich um und wollte wieder zurückgehen. Alex packte ihn am Oberarm. Der Mann blickte auf Alex’ Hand und Alex ließ ihn wieder los. 45
»Jemand hat gesagt, ich soll hierher kommen«, sag te Alex. »Er hat gesagt, hier gibt’s Leute, die mir für einen heißen Schlitten fünfhundert Pfund zahlen. Kommen Sie schon – Sie wissen genau, was ich mei ne.« Feindselig und misstrauisch blickte der Mann Alex an. »Wo hast du denn diesen Quatsch aufgeschnappt?« »Im ›Moon and Sixpence‹ in Stepney«, antwortete Alex lässig. Der Mann stutzte kurz, doch dann sagte er: »Tut mir Leid, Junge, aber ich kann dir nicht helfen. Du hast da irgendwas durcheinander gebracht.« Maddie trat vor. »Hören Sie schon auf, uns was vorzugeigen!« Ihre Stimme klang rau – zu viel Rauch, zu viel Dro gen, zu viel Alkohol. Ein Mädchen, das auf der Straße lebte und mit dem nicht zu spaßen war. Sie nickte zum Rover hinüber und sagte: »Mit dem Rover wollen wir nur zeigen, dass wir lie fern können. Sie sagen uns, welchen Wagen Sie haben wollen, und wir besorgen ihn.« Er starrte sie einen Moment lang an, dann wandte er sich wieder an Alex. »Kein Interesse.« »Was haben Sie schon zu verlieren, Mann?«, dräng te Alex. »Versuchen Sie’s mit uns, dann geben wir Ihnen den Rover gratis dazu. Was sagen Sie jetzt?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich kann keinen Rover brauchen. Und euch kann ich auch nicht brau chen. Wenn die Karre geklaut ist, dann verschwindet 46
sie hier vom Hof, und zwar sofort!« Er wandte sich ab und ging davon. Maddie warf Alex einen kurzen Blick zu. Offenbar hatten sie die Sache gründlich vermasselt. Doch nach ein paar Schritten blieb der Mann noch einmal stehen und blickte zurück. »Wenn ihr wirklich einen heißen Schlitten suchen wollt«, grinste er spöt tisch, »dann sucht nach einem Freelander Xei, Special Edition, und zwar in Schwarz. Das ist ein Auto – das würde ich mir gerne mal anschauen.« Er ging über den Hof. Das Tor fiel hinter ihm ins Schloss. Alex und Maddie blickten sich an. »Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?«, meinte Alex. »Nun los, mach schon. Hol einen Freelander Xei, Sondermodell. Schwarz.« »Kein Problem, Mann«, gab Maddie zurück. »Die stehen doch an jeder Ecke.«
Riesenrad »London Eye« Zeit: 23.45 Uhr Wie eine Silberschlange wand sich die Themse an dem gigantischen Riesenrad vorbei, das sich unablässig drehte – das »London Eye«. In den meisten Gebäuden, die sich an der breiten Uferstraße aufreihten, brannte noch Licht. Nur drei Personen saßen in der großen Gondel des Riesenrads: Jack Cooper, Tara Moon und eine weitere 47
Frau. Sie hieß Christina Brookmier und hatte eine sehr wichtige Stellung in einem Ministerium. Brookmier war in den Fünfzigern und sehr elegant gekleidet. Über ihrem blassen, kantigen Gesicht trug sie das dunkle Haar streng zurückgekämmt. Sie sprach schnell und präzise, eine machtbewusste Frau, die gewohnt war, schnell zu denken und zu handeln und Befehle zu ertei len. Jack Cooper kannte sie seit über zwanzig Jahren. Sie hatte viele verantwortliche Funktionen bekleidet. Zurzeit war sie leitend in der DPA tätig – einer Behör de des britischen Verteidigungsministeriums, die für die Beschaffung von Militärausrüstungen zuständig war. Jack hatte sie allerdings seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen. Doch vor kurzem hatte sie ihn völlig unerwartet angerufen und sich mit ihm und sei ner Assistentin zu diesem Treffen in der Gondel des Riesenrads verabredet. Sie hatte darauf bestanden, dass die Unterredung absolut vertraulich bleiben müsse. Doch während die Gondel langsam in die Höhe schwebte, schien es ihr schwer zu fallen, mit dem Ge spräch zu beginnen. Jack Cooper wurde ungeduldig. »Was kann ich für Sie tun, Chris?«, fragte er nach ei ner Weile. Christina Brookmier starrte auf das spektakuläre nächtliche Stadtpanorama. »Ich nehme an, dass Sie über alle Ereignisse infor 48
miert sind, Jack«, begann sie. »Sie werden also ver mutlich schon erfahren haben, dass ein Mitarbeiter unserer Behörde ermordet wurde – ein Mann namens Robert Fraser.« Jack nickte. »Er wurde am 24. dieses Monats tot im Badezimmer seines Hauses aufgefunden«, zitierte er aus dem Gedächtnis. »Seine persönlichen Gegenstände fehlten, ebenso sein Auto, aber das Haus war nicht durchsucht worden. Die Polizei wurde durch einen Anruf bei der Notrufzentrale informiert. Der Anrufer sagte, er wolle einen Mord anzeigen. Der Hörer wurde nicht aufgelegt, sodass man den Anruf zurückverfolgen konnte. Doch der Anrufer war bereits verschwunden, als die Polizei am Tatort eintraf. Robert Fraser wurde tot aufgefunden, mit einer einzigen Schusswunde im Kopf, abgefeuert aus unmittelbarer Nähe.« Cooper blickte Christina erwartungsvoll an. »Er war als leiten der Berater des Vorstands der Beschaffungsbehörde des Verteidigungsministeriums tätig. Das ist Ihre Ab teilung, Chris. Ich glaube sogar, dass er Ihnen direkt unterstellt war.« Christina Brookmier nickte. »Das ist richtig«, sagte sie. »Ich kannte ihn ziemlich gut.« Sie blickte kurz zwischen Cooper und seiner Assistentin hin und her. »Die Metropolitan Police untersucht natürlich den Mord, aber bei diesem Fall spielen ein paar kompli zierte Dinge mit, die ich der Kriminalpolizei nicht an vertrauen möchte.« 49
»Und vermutlich wollen Sie deshalb das PIC in die Untersuchung einbeziehen«, stellte Jack fest. Christina nickte. »Richtig. Ich führe nämlich zurzeit eine eigene interne Untersuchung durch«, sagte sie langsam. »Seit einiger Zeit verdichten sich die Hinwei se, dass in unserer Behörde ein Maulwurf am Werk ist – irgendjemand ziemlich weit oben –, der gleichzeitig den britischen Zweig einer Organisation namens Hydra lei tet. Es geht um Waffenschmuggel.« Jack Cooper horchte auf, ließ sich aber nichts an merken. Die PIC-Operation Golden Fleece hatte den Auftrag, mehr über die britische Hydra-Organisation herauszufinden. Aber welche Zusammenhänge gab es zwischen dem internationalen Waffenschmugglerkar tell und dem Tod eines Beamten des Verteidigungsmi nisteriums? »In den Akten, die ich gesehen habe, be fand sich keinerlei Hinweis auf Ihre interne Untersu chung«, sagte er. Christina nickte. »Wir zeigen eben anderen nicht gern unsere schmutzige Wäsche, Jack«, bemerkte sie mit säuerlichem Lächeln. »Sie vermuten also, dass Fraser mit Hydra zu tun hatte?«, fragte Jack. »Wir standen kurz vor dem Abschluss der Ermitt lungen«, erklärte Christina. »Fraser war aus mehreren Gründen unser Hauptverdächtigter.« »Welche konkreten Belege haben Sie denn?«, woll te Jack Cooper wissen. 50
Christina zuckte die Schultern. »Wir haben eigent lich bisher kein echtes Belastungsmaterial gefunden«, gab sie zu. Sie beugte sich näher zu ihm. »Aber das Wichtigste, Jack: Ich glaube, dass er Wind von der Untersuchung bekam und aus dem Land verschwinden wollte, bevor wir ihn hochgehen lassen konnten.« Jetzt sprach sie noch leiser. »Meine Vermutung ist, dass er die Hydra-Führung wissen ließ, dass gegen ihn ermittelt wurde. Wahrscheinlich bat er sie, ihm über die Grenze ins Ausland zu helfen. Ich glaube, dass sie daraufhin beschlossen, ihn zu eliminieren statt ihm bei der Flucht zu helfen. Für die Hydra-Organisation war er zu einer Belastung geworden.« »Wenn das der Fall wäre, müsste man annehmen, dass der Diebstahl seiner persönlichen Gegenstände nur dazu diente, die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken«, überlegte Jack. »Dann müsste man nach einem Profikiller suchen.« »Mag sein, aber der Killer ist für uns nicht wichtig«, wandte Christina ein. »Was ich wirklich suche – und was das PIC für mich finden soll –, ist Frasers Akten koffer. Die Mordkommission riegelte sein Haus und sein Büro ab, sobald sie von dem Mord erfahren hat ten. Die Beamten haben das Haus und das Büro gründ lich durchsucht. Sein Aktenkoffer wurde nicht gefun den, Jack. Auch kein Terminkalender oder elektroni scher Organiser. Fraser musste doch eine Menge Kon takte gehabt haben – Codenamen oder Adressen. Ich 51
vermute, dass sie sich in seinem Aktenkoffer befan den.« Ihre Augen begannen zu glitzern. »Ich muss die se Informationen haben, Jack. Wenn wir sie bekom men, können wir vielleicht die gesamte britische Hyd ra-Organisation ausheben.« »Warum glauben Sie denn, dass die Informationen noch vorhanden sind?«, fragte Jack sie. »Vielleicht haben sie den Killer beauftragt, diese sofort zu ver nichten.« »Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass der Ak tenkoffer verschwand, bevor der Killer kam«, antwor tete Christina. »Im Bericht über die Spurensicherung im Fall Fraser steht, dass er vermutlich niedergeschla gen und ausgeraubt wurde, bevor er die Kugel bekam. Und ein Augenzeuge will zwei junge Männer gesehen haben, die mit hoher Geschwindigkeit in Frasers Bent ley durch die Holland Park Avenue fuhren, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Polizei den ano nymen Anruf über den Mord erhielt. Auf dem Gehweg vor Frasers Haus fand man Blutspuren. Die Mord kommission glaubt, dass Fraser vor seinem Haus zu erst von ein paar jungen Schlägern zusammengeschla gen und ausgeraubt wurde. Sie nahmen ihm die Geld börse, auch den Aktenkoffer und seine Autoschlüssel ab. Fraser schleppte sich dann ins Haus zurück. Wäh rend er noch im Badezimmer stand, kam der Killer. Ende der Geschichte.« Sie legte ihre Hand auf Jack Coopers Arm. »Niemand weiß, dass wir gegen Fraser 52
ermittelten, Jack. Und ich will, dass das so bleibt. Des halb komme ich zu Ihnen – als Freund – und bitte Sie, alles zu tun, um diesen Aktenkoffer zu finden.« Jack blickte sie an. »Ich werde tun, was ich kann, Christina.« Sie lächelte befriedigt. Während des Gesprächs hat te sich die Gondel des London Eye wieder dem Boden genähert. Die Türen schwangen auf und Tara rollte Jack Cooper hinaus. Christina Brookmier schüttelte seine Hand. Dann verschwand sie in der Nacht. Jack Cooper saß tief in Gedanken versunken im Rollstuhl. Tara schwieg, bis sie im Wagen saßen. »Warum haben Sie ihr nichts von der Operation Golden Fleece erzählt, Sir?«, fragte sie, als sie den Motor startete. Jack Cooper lächelte grimmig. »Wer nicht zum Team gehört, ist ein Außenseiter, Tara. Das wissen Sie doch.« »Ja, Sir. Wohin fahren wir jetzt?« »Bringen Sie mich nach Hause, Tara. Morgen früh möchte ich als Erstes sämtliche Akten über die Opera tion Golden Fleece auf meinem Schreibtisch haben. Und rufen Sie die Metropolitan Police an und verlan gen Sie den Inspektor zu sprechen, der im Mordfall Fraser ermittelt. Ich will alles sehen, was sie über den Fall gesammelt haben.«
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Fünftes Kapitel
Samstag PIC-Zentrale Maddie war aufgeregt, aber auch ein wenig besorgt, als sie mit Alex den Besprechungsraum verließ und zum Fahrstuhl ging. Von jetzt an würden sie sich voll ihren Rollen an passen müssen. Wenn sie erst einmal einen stabilen Kontakt zu den Gangstern aufgebaut hatten, würden sie nur noch Maddie Brown und Alex Smith aus Southend sein, und zwar so lange, bis die Operation abgeschlossen war. Sie hatten sich eine Lösung für das Problem überlegt, wie sie an einen Freelander heran kommen konnten. Cooper hatte zugestimmt. Jetzt musste der Plan nur noch ausgeführt werden. An diesem Morgen hatte der Chief an alle Mitarbei ter eine E-Mail mit angehängter, streng vertraulicher Datei verschickt, in der er sein Gespräch mit Christina Brookmier kurz zusammenfasste. Alle Agenten im Außendienst wurden angewiesen, jedem Hinweis 54
nachzugehen, der dazu beitragen konnte, Robert Fra sers Aktenkoffer wiederzubeschaffen. Auf der Straße blickte Maddie noch einmal kurz zum Centrepoint-Turm hinauf. Sie hatte das Gefühl, eine Sphäre zu verlassen, die sie kannte und verstand, und einen blinden Schritt in eine unbekannte Welt zu tun. Sie war sehr froh, dass Alex bei ihr war. Der Gebrauchtwagenhändler Jonathan Ainsley trat aus seinem gläsernen Büro in den Schauraum hinaus. Mit gerunzelter Stirn zog er sein Jackett an und ging schnell und entschlossen zwischen den teuren, glän zenden Autos hindurch – darunter ein BMW M3 Cab rio und ein viertüriger Bentley Arnage. Kurz zuvor hatte Ainsley zwei ziemlich verwahrlos te Teenager beobachtet, die auffällig durch die Schau fenster seines Geschäfts an der mondänen Geschäfts straße Park Lane spähten. Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen – zunächst misstrauisch, dann mit wachsender Verärgerung hatte er mitansehen müssen, wie sie die große Glastür öffneten und den Schauraum betraten. Die beiden hatten hier nichts zu suchen. Ein überhebliches Lächeln spielte um seine Lippen, als er ihnen neben seiner neuesten Errungenschaft entgegen trat – einem Freelander Xei Sondermodell. »Lasst mich raten, Leute«, begann Jonathan Ainsley jovial. »Ihr seid exzentrische Millionäre, reist inkognito und zahlt grundsätzlich bar. Habe ich Recht?« »Beinahe«, sagte Maddie in besonders höflichem 55
Tonfall. »Wir sind exzentrische Polizisten und würden gern dieses Fahrzeug hier für ein paar Tage ausleihen. Ohne Barzahlung.« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, fügte Alex mit ebenso höflichem Lächeln hinzu. Jonathan Ainsley starrte beide eine Sekunde lang mit offenem Mund an. Dann brüllte er vor Lachen. Den kannte er noch nicht! Diese Typen – Polizisten! Das musste er unbedingt seinen Freunden im noblen Rotary Club erzählen. Köstlich! Alex ließ ihn zehn Sekunden lang lachen, dann zog er seinen PIC-Ausweis heraus und hielt ihn Jonathan Ainsley direkt vor die Nase. Ainsley hörte auf zu la chen und studierte den Ausweis aufmerksam. »Sehr eindrucksvoll«, sagte er schließlich. »Nur sagt mir ›PIC‹ überhaupt nichts. Und selbst wenn Sie James Bond persönlich wären, würde ich Sie mit die sem Auto nicht wegfahren lassen. Nicht einmal dann, wenn Sie mir eine Bestätigung zeigen, die von der Kö nigin eigenhändig unterschrieben ist.« Er wies zur Tür. »Und jetzt aber raus hier, und zwar sofort.« Maddie und Alex sahen sich kurz an, dann blickte Maddie auf das Namensschild am Revers des Verkäu fers. »Bitte hören Sie mir ganz genau zu, Mr Ainsley«, sagte sie, und ihre Stimme klang fest. »Ich sage das nämlich nur ein einziges Mal. Wir sind echte Polizisten und wir müssen dieses Fahrzeug hier wirklich be 56
schlagnahmen. Wir haben keine Bestätigung der Köni gin. Ich bitte Sie aber, das Innenministerium in Queen Anne’s Gate anzurufen. Lassen Sie sich direkt zum Büro des Innenministers durchstellen. Er wartet auf Ihren Anruf.« Jonathan Ainsley starrte Maddie sprachlos an. Er kam zu dem Schluss, dass es im Moment wohl am bes ten war, das zu tun, was die beiden von ihm verlang ten. Wenn die Situation eskalierte, konnte er immer noch die Polizei rufen. Er drehte sich wortlos um und stakste zu seinem Büro zurück, nahm den Hörer ab und tat genau das, was Maddie ihm gesagt hatte. Während Ainsley mit der Auskunft telefonierte, drückte Maddie auf die Lautsprechertaste, sodass sie und Alex mithören konn ten. Ainsley wählte die Nummer des Ministeriums. Eine präzise, aber höfliche Stimme meldete sich. »Innenmi nisterium. Mein Name ist Linda Jennings. Was kann ich für Sie tun?« »Ah, hm, mein Name ist Jonathan Ainsley und ich möchte gern den Innenminister sprechen«, sagte Ains ley unsicher. »Geben Sie Ihren Sicherheitscode ein.« Jonathan stutzte. »Einen Augenblick, bitte«, stotter te er und hielt Alex und Maddie den Hörer hin. Maddie griff danach, nannte ihren Namen und er klärte, dass sie für das PIC arbeitete. »Würden Sie jetzt 57
bitte die Sicherheitsüberprüfung aktivieren?«, bat sie. Sie hörten ein Klicken. Die automatische Sicherheitskontrolle schaltete sich ein. Maddie gab eine achtstellige Nummer auf der Te lefontastatur ein; kurz danach hörten sie wieder Linda Jennings Stimme. »Sicherheitsüberprüfung abge schlossen«, sagte sie. »Würden Sie mich jetzt bitte mit dem Innenminister verbinden?«, bat Maddie. Jonathan Ainsleys Augen wurden groß. Bis zu die sem Zeitpunkt hatte er offenbar nicht geglaubt, dass er wirklich mit dem Minister selbst sprechen würde. Er fuhr nervös mit dem Zeigefinger in den Hemdkragen und lockerte die Krawatte. Maddie überreichte ihm den Telefonhörer. »Erklä ren Sie dem Innenminister, wer wir sind und was wir wollen«, sagte sie. Jonathan Ainsley nahm zögernd den Hörer. Seine Hand zitterte und auf der Stirn erschienen die ersten Schweißperlen. Er sprach hastig und verhas pelte sich mehrfach vor Aufregung. Zwei Minuten später legte er den Hörer wieder auf und ließ sich in den Schreibtischsessel fallen. Heute war offenbar ein sehr seltsamer Tag. Was für eine Story! Er, Jonathan Ainsley, hatte soeben mit dem Innenminister des Vereinigten Königreichs von Groß britannien und Nordirland telefoniert! Beim nächsten Clubabend würden die anderen Rotary-Mitglieder vor Neid erblassen! 58
Alex steuerte den schwarzen Freelander über die Euston Road, Maddie saß auf dem Beifahrersitz. Sie lachten noch immer über Jonathan Ainsleys Ge sichtsausdruck, als er ihnen den Schlüssel ausgehän digt hatte. Der Innenminister hatte den Vorgang bestätigt und Ainsley versichert, dass die Regierung für jede Be schädigung oder für den Verlust des Fahrzeugs auf kommen werde, solange es die PIC-Agenten benötigen würden. Ainsley hatte sich tatsächlich am Telefon ver neigt und nichts weiter als »Jawohl, Sir!« hervorge bracht. Jetzt mussten Alex und Maddie dem kräftigen Mann im ölverschmierten Overall den Freelander präsentie ren. Dieses Auto war ihre einzige Chance, in den Ring aufgenommen zu werden. »Das war leicht«, bemerkte Alex. Er schaltete in ei nen kleineren Gang und bog nach links in den York Way ein. »Wenn wir bei diesen Leuten etwas erreichen wollen, müssen wir die Sache durchziehen und dabei kalt wie Eis bleiben.« Maddie nickte. »Ich kann auf cool machen«, gab sie zurück, sagte aber nichts über das bange Gefühl, das sich jetzt in ihrem Magen auszubreiten begann. Dabei war sie gar nicht wegen der Operation selbst nervös, sondern nur, weil sie sich gerade jetzt besonders plas tisch vorstellte, sie könnte die Sache vermasseln, ir gendwie falsch reagieren und damit alles zerstören. 59
Alex steuerte den Freelander in die enge Gasse hin ter der Apex-Autowaschanlage, schaltete den Motor aus und drehte sich zu ihr. »Wir können die Sache ab blasen, wenn du dich noch nicht bereit fühlst«, sagte er leise. Sie starrte ihn an, und plötzlich blickte Alex in die Augen einer unverschämten, abgeklärten Straßengöre. »Was ist, Mann? Los, setz deinen Arsch in Bewegung. Wir ziehen die Sache durch.« Sie sprang aus dem Wa gen und schlenderte zu den Holztoren des Schuppens zwischen den Viaduktpfeilern hinüber. Sie waren geschlossen. Maddie hämmerte mit bei den Fäusten dagegen. Alex stand neben ihr. Eine lange Minute verging. Dann öffnete sich das Tor. Der untersetzte Mann starrte sie an. Alex sagte nichts, sondern deutete nur mit dem Daumen über die Schulter zum Freelander hinüber. Der Mann nickte mit unbewegter Miene. »Bringt den Wagen rein.« Er öffnete beide Tore und Alex fuhr den Wagen in den Schuppen. Die Unterseite eines Viaduktbogens bildete die De cke der Werkstatt. Leuchtstoffröhren hingen herab und beleuchteten die Halle. Autoteile lagen überall ver streut herum, dazwischen Werkbänke und Regale, auf denen Werkzeuge und Ersatzteile gestapelt waren. In der Luft hing der dicke Geruch von Öl und Benzin. Alex stieg aus und stellte sich neben Maddie. Der 60
Mann ging um den Freelander herum, beugte sich hier und dort dicht über die Karosserie und warf prüfende Blicke ins Innere. »Hab nicht erwartet, euch Clowns noch mal zu se hen«, sagte er. »Der Wagen sieht brandneu aus. Woher habt ihr ihn?« »Geht nur uns was an«, antwortete Alex. »Sie woll ten doch einen Freelander. Wir haben einen geliefert. Sogar in der richtigen Farbe.« »Also – wo bleibt unser Geld?«, wollte Maddie wis sen. Der Typ beachtete sie gar nicht. Er starrte Alex an, als wollte er ihn hypnotisieren. Alex hielt seinem Blick stand. Schließlich wandte sein Gegenüber den Blick ab. »Vielleicht können wir zusammenarbeiten, du und ich«, sagte er. »Das war nur ein Testlauf. Geld be kommst du nächstes Mal – wenn du dich gut anstellst. Du kannst mich Ted nennen. Wie heißt du?« »Alex. Und das hier ist Maddie.« Teds Augen wurden schmal. »Ich geb dir mal einen guten Rat, Alex. Lass die Tussi sausen. Weiber können wir hier nicht brauchen.« Maddie sprang ohne jede Warnung vor und stieß ihm den Handballen direkt gegen die Brust. Gleichzei tig hakte sie ihren Fuß um sein Bein. Er taumelte rückwärts und verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte 61
sich schwer auf ihn, packte einen seiner ausgebreiteten Arme, stieß das Knie in seine Schulter und verdrehte den Arm, wobei sie seine Hand zurückbog und in die ser Stellung festhielt. Er stöhnte vor Schmerzen. »Lieg ruhig, dann passiert dir nichts«, zischte Mad die. »Fünfhundert Pfund. Jetzt.« Alex beugte sich über den Mann. »Maddie ist näm lich ein ziemlich nützliches Mädchen. Sind Sie nicht auch meiner Meinung?«, sagte er mit sanfter, aber ge fährlich klingender Stimme. »Also, wie steht’s?« »Okay«, stöhnte Ted. »Lass mich los. Ich hab schon verstanden. Ihr kriegt euer Geld.« Maddie gab seinen Arm frei und sprang auf. Sie funkelte ihn gefährlich an, als er sich schwerfällig auf rappelte. Er rieb sich die schmerzende Schulter, wobei er Maddie sorgfältig im Auge behielt. Aber sie sah auch widerwilligen Respekt in seinem Blick. Plötzlich merkte sie, dass ihre Nervosität verflogen war. Die Sache hier würde gut funktionieren. Ted griff in eine seiner Gesäßtaschen und zog ein Bündel Geldscheine heraus, zählte fünf Zwanzig-Pfund-Noten ab und hielt sie Alex hin. »Hundert Pfund?«, fragte Alex. »Das ist der Tarif am Anfang«, sagte Ted. »Den vollen Betrag bekommen nur Leute, die zum Team gehören. Ihr müsst erst mal Beweise abliefern, dass ihr was taugt.« 62
»Was für Beweise wollen Sie denn noch, dass ich Autos klauen kann?«, fragte Alex. »Passen Sie mal gut auf, Ted: Ich hab ein halbes Jahr für eine Firma gear beitet, die Diebstahlsicherungen für Autos herstellt.« Er grinste. »Ich kann jedes Sicherungssystem ausschal ten, das auf dem Markt ist. Doppelschocksensoren. Passive Alarmsysteme. Rollcodesysteme mit Anti scan. Alles kein Problem für mich. Jetzt hören Sie end lich auf, uns wie Kinder zu behandeln. Sind wir jetzt im Team oder sollen wir zur Konkurrenz gehen, die vielleicht mehr Hirn im Kopf hat als Sie?« Ted betrachtete Alex mit verkniffenem Lächeln. »Du bist ein cleverer Junge«, knurrte er. »Gefällt mir. Ich sag dir mal was. Geh raus und kauf dir was Schönes mit dem Geld. Um acht heute Abend treffen wir uns wieder. Aber nicht hier. Ich schreib dir die Adresse auf.« Er ging in den hinteren dunklen Teil der Werkstatt zurück. Maddie und Alex sahen sich an. »Was zum Teufel sind ›Doppelschocksensoren‹ und ›Rollcode systeme mit Anti-scan‹?«, flüsterte Maddie. Alex zwinkerte ihr zu. »Keine Ahnung«, sagte er. »Das eine hab ich mal irgendwo gehört und das andere hab ich eben erfunden. Klingt aber gut, nicht? Hoffen wir, dass sie mich nicht damit auf die Probe stellen wollen, so was auszuschalten. Ich weiß zwar, wie die meisten Alarmsysteme aussehen, aber es gibt ja fast jede Woche neue Modelle. Oh, übrigens – das war gutes Jiu-Jitsu.« 63
»Dachte, ich müsste ihm mal eine Lektion erteilen«, murmelte Maddie. »Glaubst du, dass wir drin sind?« Alex nickte. »Klar doch. Wir gehören jetzt zum Team.«
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Sechstes Kapitel
PIC-Zentrale DCS Coopers Büro Jack Cooper saß mit dem Rücken zu seinem Schreib tisch, auf dem sich Akten und Dokumente stapelten. Er hatte den Rollstuhl direkt an das riesige Fenster gerollt und starrte, tief in Gedanken versunken, über die Stadt. Vor ihm breitete sich das Londoner Panorama aus – das Panorama einer der größten Städte der Welt. Normalerweise genoss Jack Cooper diesen Ausblick und stahl sich dafür jeden Tag ein paar Minuten Zeit. Doch heute kreisten seine Gedanken immer wieder um dieselben Probleme: Die Operation Golden Fleece. Der Autodiebstahlring. Die Waffenschmugglerorganisation Hydra. Wie hing das alles zusammen? Oder anders ge fragt: Hingen diese Fälle überhaupt zusammen? Aber noch wichtiger als die Lösung der Fälle war für ihn die Sicherheit seiner Agenten. Ein Undercover-Einsatz war immer eine gefährliche Sache, aber dieses Mal hatte er seine eigene Tochter – sein einziges Kind – mit voller 65
Absicht in die Gefahr geschickt. Maddie und Alex wa ren jung, arbeiteten noch nicht lange beim PIC und hat ten nur wenig Erfahrung bei dieser Art von Einsätzen sammeln können. Das galt auch für Danny. Hatte er – Cooper – verantwortungslos gehandelt, als er ausgerechnet drei Trainees mit diesen schwieri gen Aufgaben betraute? Nach einigen sorgenvollen Minuten, die er bewe gungslos vor dem Fenster verbracht hatte, drehte er den Rollstuhl wieder zum Schreibtisch und drückte auf einen Knopf der Sprechanlage. »Tara? Kommen Sie doch bitte mal zu mir.« »Sofort, Sir.« Zehn Sekunden später klopfte es und Tara trat ein. »Bitte schließen Sie die Tür«, wies Cooper sie an. Er drückte auf einen weiteren Knopf der Sprechanlage und war jetzt mit der Telefonzentrale verbunden. »Bit te stellen Sie bis auf weiteres keine Gespräche zu mir durch«, befahl er. Dann lehnte er sich zurück und sah Tara an, die vor seinem Schreibtisch stand. Sie war hoch gewachsen und durchtrainiert, aber was noch viel wichtiger war: Sie war absolut vertrauenswürdig. Ihr Blick war klar, fast durchdringend, auf ihn gerichtet. Mit unbewegter Miene wartete sie auf Coopers Anwei sungen. »Setzen Sie sich«, sagte Cooper. »Wir beide haben eine Menge zu tun.«
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Clerkenwell EC1 Zeit: 18.10 Uhr Sie befanden sich in einer verkommenen, unbeleb ten Seitenstraße, die rechts und links von Ziegelstein mauern und zugenagelten Türen begrenzt wurde. Hier parkten zwar viele Autos, aber es herrschte kein Durchgangsverkehr. Alex und Maddie lehnten an einer der Mauern. Sie warteten hier seit fast einer halben Stunde. Ein grauer Ford Sierra bog in die Straße ein, fuhr mit zwei Rädern auf den Gehweg. Ted stieg aus. Er winkte ihnen nur kurz zu, ihm zu folgen. Er führte sie zu einer Seitentür in einer der Häusermauern, zog ei nen Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Die Tür fiel hinter ihnen automatisch ins Schloss. Ted führte sie durch einen langen, feuchten Korri dor zu einer Betontreppe, drei Ebenen hinab in die Tie fe. »Wo sind wir hier eigentlich?«, wollte Alex wissen. »Hier wurden früher Fleischwaren abgepackt«, er klärte Ted. »Heute heißt der Bau nur noch Fabrik.« Er warf Alex über die Schulter einen Blick zu. »Mach dich besser auf etwas gefasst, Junge«, riet er. »Du wirst gleich ein paar echt harte Männer kennen lernen.« Über Maddies Rücken lief ein Schauer. Was hatte Ted wohl damit gemeint? 67
Ted stieß zwei große Tore auf und sie traten in eine riesige unterirdische Halle, die von gewaltigen Flut lichtern beleuchtet wurde. Es ging sehr laut und hek tisch zu. Eine Reihe dicker Betonpfeiler teilte die Fab rikhalle in zwei Hälften. Überall arbeiteten Männer an Autos. Auf der rechten Seite sah Alex den Freelander. Zwei Arbeiter waren damit beschäftigt, Scheiben und Chromteile mit Folien und Klebebändern abzudecken. Offenbar sollte der Wagen umgespritzt werden. An den Fahrzeugen wurden verschiedene Veränderungen vorgenommen. Motorhauben standen offen und die Arbeiter feilten die Motornummern ab. Sicherheitssys teme wurden ausgebaut. Autositze wurden herausge nommen und durch neue Sitze mit anderer Polsterung ersetzt. Nummernschilder wurden ausgetauscht. Statt nummerierter Fenster und Scheinwerfer wurden neut rale Ersatzteile eingesetzt, deren Herkunft offenbar nicht zurückverfolgt werden konnte. Maddie brauchte nicht lange, um zu merken, warum die Halle als Fabrik bezeichnet wurde. Hier lief ein richtiges kriminelles Unternehmen auf vollen Touren. Im Augenblick mussten sich mindestens fünfzig Autos in der Halle befinden und ungefähr ein Dutzend Män ner arbeiteten an ihnen. Ein Mann mit hohlen Wangen, kalten Augen und kurzem dunklem Haar trat ihnen in den Weg. »Wer ist das?«, fragte er scharf, wobei er Alex und Maddie wü tend musterte. 68
»Ist in Ordnung, Harry«, sagte Ted. »Das sind zwei neue Rekruten. Ich dachte, Joe will ihnen vielleicht eine Chance geben. Sie könnten sich ziemlich nützlich machen.« In Harrys Augen kochte die Wut. »Bist du denn völ lig verrückt geworden? Du bringst fremde Leute hier her – und ausgerechnet jetzt!«, bellte er Ted an. »Du kennst doch die Regeln! Fremde haben in der Fabrik nichts zu suchen – du willst wohl unbedingt in einer Holzkiste enden!« »Die beiden sind okay«, beteuerte Ted. »Glaub’s mir, Joe wird sie kennen lernen wollen.« Harry betrachtete Maddie und Alex mit bösartigem Gesichtsausdruck. »Der Boss hat nie einen Fremden hier unten geduldet, solange er nicht überzeugt war, dass er sauber war«, zischte er. »Der Boss?«, fragte Ted wütend zurück. »Joe Davis ist jetzt der Boss hier, Harry, ob es dir passt oder nicht! Und wenn der alte Boss die Sache gut gemanagt hätte, wie kommt es dann, dass er jetzt im Leichenschauhaus liegt?« Maddie blickte schnell zu Alex hinüber. Sein war nender Blick sagte ihr, den Mund zu halten und auf merksam zuzuhören. Offensichtlich hatte es vor kurzem einen Wechsel in der Führung gegeben. Und nach dem, was Ted gesagt hatte, sah es nicht so aus, als sei der alte Boss friedlich im Bett an Altersschwäche verschieden. 69
»Gute Frage«, murmelte Harry kaum hörbar. »Viel leicht ist da jemand plötzlich ein wenig ehrgeizig ge worden.« Ted kniff die Augen zusammen. »Ich geb dir einen Rat, Harry, ausnahmsweise gratis. Denk in Zukunft genau nach, bevor du etwas in die Welt hinauspo saunst. Gewisse Leute könnten das nämlich für einen ziemlich schlechten Witz halten.« Plötzlich erschien ein dritter Mann. Er war hoch gewachsen und sehr schlank, mit hartem Gesicht und kalt berechnendem Blick. Offenbar hatte er einen Teil der letzten Bemerkung gehört. »Was ist ein schlechter Witz?«, fragte er. »Es geht gar nicht um einen Witz«, sagte Harry. »Ted hält es anscheinend für eine Superidee, Leute zur Betriebsbesichtigung herumzuführen.« Er drehte sich um und ging davon. Joe Davies betrachtete Maddie und Alex aufmerk sam. »Was ist mit dem alten Boss passiert?«, fragte Alex und tat so, als sei er jetzt ziemlich nervös geworden. »Wenn hier Leute ums Leben kommen, wollen wir nichts damit zu tun haben.« »Halt die Klappe!«, fauchte Ted dazwischen. »Halt die Klappe oder ich mach sie dir zu!« Auch Joe schien verärgert und starrte Alex stirnrun zelnd an. »Du stellst hier keine Fragen, Junge. Du gibst Ant 70
worten. Ich bin der Boss. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Ted – was soll das alles?« »Das sind die beiden Kids, die mir den Freelander geliefert haben«, erklärte Ted. »Der da heißt Alex und behauptet, praktisch jedes Alarmsystem knacken zu können.« Joe wandte sich wieder an Alex. »Wie bist du an den Freelander gekommen?« »Ich hab ihn von einem Autohändler in der Park Lane«, erklärte Alex, ohne mit der Wimper zu zucken. Er erzählte die Geschichte, die er mit Maddie verein bart hatte. »Maddie lenkte den Verkäufer ab, ich holte mir die Schlüssel. Fuhr einfach auf die Straße hinaus und das war’s.« Davies’ Blick wanderte zu Maddie. »Ich hab so getan, als sei mir plötzlich schlecht ge worden«, sagte sie. »Bin vor dem Verkäufer umge kippt. Er hatte Angst, dass ich auf seine kostbaren Rostlauben kotze, und war eine ganze Weile mit mir beschäftigt. Alex holte inzwischen den Wagen.« Sie blickte ihm gerade in die Augen. »War nun wirklich nicht schwierig.« Joe Davies nickte langsam und nachdenklich und wandte sich wieder an Alex. »Vielleicht kann ich dich brauchen«, sagte er. »Das Mädchen kennt sich mit irgendeinem Kampfsport aus«, sagte Ted. »Sie ist ziemlich schnell und stärker als sie aussieht.« 71
Joe fasste Maddie noch einmal ins Auge. »Muskeln habe ich hier tonnenweise«, sagte er lässig und wies mit dem Kopf zur Fabrikhalle. »Aber es fehlt an Fachwis sen.« Er lächelte Maddie kalt an. »Tut mir Leid, Süße, aber ich brauche Leute, die sich wirklich mit Autos auskennen. Frauen halten Zündkerzen für Christbaum kerzen. Damit kann ich nichts anfangen.« Er drehte sich abrupt um. Für ihn war das Problem Maddie erledigt. Maddie war klar, dass sie etwas tun musste, um die Lage zu retten, und zwar schnell. Sie hatte noch ein Ass im Ärmel, von dem nicht einmal Alex eine Ahnung hat te. »Ich kenne mich mit Autos aus«, rief sie Davies nach. Joe Davies blieb stehen und drehte sich wieder um. »Ach, wirklich?«, fragte er gedehnt und spöttisch. Sein Tonfall zeigte, dass er keinerlei Interesse an Maddie hatte. Er wollte sich bereits wieder abwenden, doch dann schien er es sich anders zu überlegen. Grinsend ging er zu einem silbernen Jaguar S-Type hinüber, öffnete die Motorhaube und beugte sich über das Ag gregat. Nach ein paar Sekunden richtete er sich wieder auf, nahm einen Stofflappen und wischte sich grinsend die Hände sauber. »Zeig uns mal, was du kannst«, forderte er Maddie auf. Den Arbeitern, die in der Nähe waren, rief er zu: »Passt mal auf, Jungs! Das Girl hier will euch zeigen, wie man einen Jag repariert!« Ringsum gab es schallendes Gelächter. 72
Maddie schlenderte so lässig wie möglich zu dem Jaguar hinüber und starrte ein paar Sekunden in den offenen Motorraum. Alex sah, dass sich Joe Davis und Ted zublinzelten und dass die übrigen Arbeiter feixten. Ihm selbst wur de ziemlich mulmig. Maddie öffnete die Fahrertür und setzte sich. Die Schlüssel steckten. Sie drehte den Zündschlüssel. Der Startermotor begann zu husten, aber der Motor sprang nicht an. Er bekam keinen Saft. Sie stieg wieder aus. Joe Davis’ spöttisches Grinsen wurde noch breiter. »Na, was ist, Süße?« Er legte eine Hand hinter die Ohrmuschel. »Du hast den Motor super eingestellt. Ich hör ihn gar nicht mehr!« Ted und die Arbeiter lachten dröhnend. Maddie streckte Davies die offene Hand hin. »Sie haben den Verteilerfinger aus dem Zündverteiler ge nommen«, sagte sie. »Soll ich ihn wieder einsetzen?« Davies sah sie einen Augenblick lang verblüfft an, dann lachte er laut und ließ das kleine Metallteil in ihre offene Hand fallen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass auch Alex’ Mund offen stand. Sie ging zum Jagu ar zurück und setzte das Teil wieder ein. Dann setzte sie sich hinter das Steuer und drehte erneut den Zünd schlüssel. Der Motor sprang an und schnurrte wie eine Raubkatze. Doch Maddie wusste, dass sie Davies noch nicht 73
genügend beeindruckt hatte. Sie musste noch mehr Fähigkeiten unter Beweis stellen – musste etwas wirk lich Spektakuläres tun. »Hey, was soll das?«, brüllte Davies, dem plötzlich klar zu werden schien, dass Maddie ziemlich unbere chenbar war. Maddie ignorierte ihn und schaute nur Alex kurz an – er nickte ihr aufmunternd zu. Sie holte tief Atem und legte los. Sie drückte auf das Gaspedal – der Jaguar glitt vorwärts. Ted machte ein paar Schritte auf das Auto zu, aber Davies hielt ihn zurück. Sie setzte eine völlig ausdruckslose Miene auf, gerade so, als sei das, was sie vorhatte, etwas ganz Alltägliches. Sie gab weiter Gas und lenkte den schweren Wagen an den Wänden der Fabrikhalle entlang. Jetzt hörten auch die letzten Männer in der Halle auf zu arbeiten. Sie spürte ihre Blicke auf sich gerichtet. An der Längsseite der Halle beschleunigte sie und steuerte geradewegs auf eines der geparkten Autos zu. Der Mann, der daran stand, rannte um sein Leben. Sie grinste und ging voll auf die Bremse, sodass die Rei fen durchdringend quietschten. Mit einer geübten Handbewegung warf sie den Rückwärtsgang ein, blickte über die Schulter und jagte den Wagen wieder zur Hallenwand zurück. Dort führte sie einen perfek ten J-Turn vor. Sie konnte förmlich Danes Stimme hören – »Geschwindigkeit beibehalten!« 74
Mit wachsendem Selbstvertrauen raste Maddie um die Ecken der Halle, bog in die letzte Gerade ein und flog genau auf die Stelle zu, an der Joe Davies und der Gorilla Ted standen. Sie packte die Handbremse und begann mit dem Countdown: Drei – zwei – eins. Jetzt! Sie riss die Handbremse hoch. Der Wagen bremste mit kreischendem Geräusch, wobei das Heck mit heu lenden und rauchenden Reifen herumschleuderte und nur ein paar Zentimeter vor Joe Davis’ Füßen zum Stillstand kam. Davies zuckte mit keiner Wimper. Maddie schaltete den Motor aus und saß ein paar Se kunden bewegungslos. Dann stieg sie aus und lehnte sich auf das Autodach, wobei sie Joe Davies heraus fordernd anstarrte. Davies begann zu lachen und hob anerkennend ei nen Daumen in die Höhe. Die Arbeiter in der Halle applaudierten. Maddie verzog keine Miene. Harter Gesichtsaus druck. Harte Augen. Diesem Mädchen sollte man nicht zu nahe kommen. Davies breitete die Arme aus. »Okay, okay!«, rief er ihr zu. »Du hast mich überzeugt. Du kannst für mich arbeiten. Wenn du immer so gut fährst und die Autos nicht aufs Dach stellst, wirst du es nicht bereuen.« Er wandte sich zur Fabrikhalle und brüllte: »Los, macht weiter! Ihr habt noch nicht Feierabend!« Die Männer machten sich wieder an die Arbeit. 75
Maddie hatte sich inzwischen wieder neben Alex ge stellt. Davies wandte sich ihnen zu und sagte: »Ihr bei de könnt gleich anfangen.« Maddie nickte. »Deshalb sind wir ja hier.« Im Weggehen hörte Maddie Alex leise murmeln: »Woher kennt Davies deine Parkmethode?« Sie grinste und trieb ihm den Ellbogen in die Rip pen. Ein Bedford-LKW manövrierte vorsichtig durch die sehr enge Gasse. Auf der Ladefläche lag unter einer Persenning ein unförmiger Gegenstand. Dem Lastwa gen folgten mehrere dunkle Autos. Der LKW bremste vor einem verschlossenen Stahltor. Die Beifahrertür öffnete sich, ein junger Bursche blickte nach hinten und gab dem Fahrer Anweisungen. Der LKW steuerte rückwärts auf das Tor zu, bremste. Aus den Autos stiegen etwa fünfzehn Männer. Die meisten hielten Baseball- oder Golfschläger in den Händen. Vier der Männer kletterten auf die Ladefläche des LKW und zerrten die Persenning weg. Darunter kam ein aus schweren Metallgerüststangen bestehender Gegenstand zum Vorschein. Die Männer schoben ihn so weit nach hinten, dass er über die hintere Ladekante hinausragte. Jetzt konnte man erkennen, dass die Gerüststangen einen großen und starken Rammbock bildeten. 76
Die Männer stiegen wieder von der Ladefläche her unter und der LKW fuhr ein Stück weiter vom Tor weg. Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein. Das Gefährt setzte sich in Bewegung, wurde immer schnel ler. Mit gewaltigem Krachen prallte der Rammbock gegen das Stahltor. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Metalltor verbog sich, gab aber nicht nach. »Gibt’s ihm noch mal!«, rief der Beifahrer. Der LKW nahm einen neuen Anlauf und donnerte noch einmal gegen das Tor. Das Tor krachte aus den Angeln. Eine schwarze Lü cke hatte sich geöffnet. Die Männer zogen dunkle Masken über die Gesich ter und rannten durch die Lücke. Eine lange Rampe führte zur Fabrikhalle hinunter. Die kleine Invasionsarmee stürmte zu den unteren Ge schossen hinab. Davies und seine Bande bekamen unerwünschte Besucher. Sie waren zwar nicht angemeldet, aber we nigstens hatten sie laut genug angeklopft.
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Siebtes Kapitel
Deptford SE8 Zeit: 18.30 Uhr Der Abend lag schwülwarm über Deptford. Ein weißer Kleintransporter parkte in einer Seitenstraße, die in die Creek Road mündete. Das Lagerhaus – das vom PICTeam überwacht wurde – lag zwei Straßen entfernt. Danny hatte sich in seinem Nest eingeigelt, dem Überwachungsmobil, das mit modernster Technologie voll gestopft war. Schaltpulte, Monitore, Impulsmes ser, Reihen von Skalen und Schaltern bedeckten die Innenwände des Lieferwagens. Unablässig blinkten kleine rote und grüne LEDs. Der Wagen arbeitete auf Hochtouren. Danny überprüfte den Frequenzscanner und korri gierte die Frequenz »Sniffer«. Er suchte nach Radio signalen, irgendwo in der Bandbreite von 100 Kilo hertz bis 2000 Megahertz. Der Scanner war zwar mit einem so genannten Wide Spectrum Analyser ausge stattet, aber Danny hatte eigens dafür noch einen 78
Booster konstruiert. Damit konnte er 20 Grad oberund unterhalb des Standards scannen. Mit Hilfe eines Detectors hatte Danny bereits ent deckt, dass vor und hinter dem Lagerhaus Überwa chungskameras montiert und dass sie auch eingeschal tet waren. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Doch dass diese CCTV-Kameras vorhanden waren, bedeutete natürlich, dass es sehr schwierig wäre, in das Gebäude zu gelangen und eine Wanze zu legen. Danny hatte allerdings klare Anweisungen, seine Ermittlung nur extern durchzuführen, also nicht in das Lager ein zudringen. Er hatte auch bereits eine versteckte Kamera instal liert, die mit einem SMOS-Bewegungsmelder ausges tattet war. Sobald jemand in die Reichweite des Mel ders geriet, wurde die Kamera aktiviert. Er hatte sie auf die Krone der zwei Meter hohen Mauer gesetzt, die hinter der dem Haupteingang gegenüberliegenden Straßenseite stand. »Okay«, murmelte Danny im Selbstgespräch. Er führte noch einmal eine Sicherheitskontrolle seiner Apparate durch. »Die Lichter werden gedimmt, das Publikum sitzt auf seinen Plätzen. Die Show kann be ginnen.« Seit er mit dem Überwachungswagen hier parkte, hatte sich im Lagerhaus nichts gerührt. Die Tore waren geschlossen und die Fenster verriegelt. Kein Licht war zu sehen. Niemand kam. 79
Und niemand ging. Die Minuten und Stunden verstrichen unendlich langsam. Danny kaute gedankenverloren die dritte Packung Smarties. Er würde hier bis zum Morgen herumsitzen. Es würde wohl eine lange Nacht werden. In der Fabrik bemerkte man den Angriff erst, als der Rammbock zum zweiten Mal gegen die Metalltür krachte und sie aus den Angeln drückte. Davies sprin tete zu einer Schalttafel an der Hallenwand und schlug mit der geballten Faust auf einen großen Schalter. Ein Stahlgitter senkte sich vor dem Durchgang herunter, der von der Fabrikhalle zur Laderampe führte. Der Arbeitslärm stoppte abrupt. Maddie und Alex stellten sich dicht nebeneinander. Sie waren bereit, es mit allem aufzunehmen, was kommen mochte. Davies brüllte Befehle herum, aber es war bereits zu spät. Die ersten Angreifer erreichten das Stahlgitter und klemmten Keile in die seitlichen Führungsschie nen, sodass es auf halber Höhe stecken blieb und sich nicht weiter herabsenken konnte. Sie waren schwarz gekleidet, ihre Gesichter hinter Skibrillen verborgen. Ihnen folgte eine kleine Truppe brüllender Männer, die drohend Baseballschläger schwangen. Maddie sah, dass Davies zum Bürocontainer rannte. Ein paar Mechaniker hatten sich inzwischen von ihrem 80
Schock erholt und stellten sich den Angreifern entge gen, bewaffnet mit den schwersten Werkzeugen, die sie gerade zur Hand gehabt hatten. Ein absolutes Chaos entstand, ein wahrhaftiges un terirdisches Schlachtfeld. In Alex’ Gesichtsfeld tauchte plötzlich ein Baseballschläger auf, der auf seinen Kopf zielte – er duckte sich im allerletzten Moment, wirbelte herum und donnerte dem Angreifer die Faust in den Magen. Der Mann klappte zusammen und ließ den Schläger fallen. Alex hob ihn sofort auf, drehte sich um und wehrte damit den nächsten Angreifer ab. Zwei schwere, kräftige Männer kamen direkt auf Maddie zu. Die Masken verhüllten ihre Gesichter, aber sie sah ihre drohenden Blicke. Sie ging in Abwehrstellung, wurde aber nicht angegriffen, sondern nur brutal bei seite gestoßen. Sie war schließlich nur ein Mädchen – dafür brauchte man seine Kräfte nicht zu vergeuden. Alex musste sich gegen einen besonders heftigen Angriff wehren, hielt sich jedoch gut und wich nicht zurück. Er schien die Oberhand zu gewinnen, doch dann sah Maddie, dass sich ein weiterer Mann auf ihn stürzte. Alex hatte zwei gegen sich – Maddie überlegte nicht lange, sondern stürzte sich ins Gemenge. Unwillkürlich entfuhr ihr der Kampfschrei, der kiai. Sie wirbelte herum und begann mit einem mawashi geri, einem Halbkreis-Fußtritt, mit dem sie den zwei ten Angreifer voll in den Leib traf. Trotz seiner Größe 81
taumelte er ein paar Schritte zurück, fing sich aber gleich wieder. Doch Maddie war bereits wieder zur Stelle und landete einen mae-geri, einen geraden Fuß tritt, der ihn aus dem Gleichgewicht warf, gefolgt von einem empi-uchi, einem Ellbogenstoß, der ihn vollends erledigte. Er stürzte schwer auf den Boden und rang nach Luft. Alex schrie: »Pass auf, Maddie!«, und wieder wir belte sie herum. Aus den Augenwinkeln sah sie etwas auf sich zukommen – einen Baseballschläger. Zum Nachdenken blieb keine Zeit. Jetzt kam es auf Training und Instinkt an – und auf Kraft, Ausdauer und Präzision. Kempo! Sakotso – osoto-gari. Die Augen des neuen Angreifers weiteten sich, Überraschung zuerst, dann Schock. Und jetzt nackte Angst, als sie ihn in einen unerbittlichen Armschlüssel nahm und ihn über die Schulter warf. Augenblicklich trat Maddie zurück und stellte sich abwehrbereit zu Alex – Rücken an Rücken. Joe Davies’ Arbeiter waren inzwischen entweder geflohen oder außer Gefecht gesetzt worden und die Angreifer begannen, die Windschutzscheiben der Au tos einzuschlagen. Glassplitter wirbelten durch die Luft und prasselten über den Boden. Sie zertrümmerten auch die Scheinwerfer und prügelten dann erbar mungslos auf die Motorhauben und Dächer der Autos ein. 82
Eben noch edle Luxuskarossen, sahen die Fahrzeu ge jetzt aus wie nach einer Massenkarambolage. Be sonders schlimm erging es dem Freelander. Davies erschien in der Tür des Bürocontainers. Er hielt eine Automatikwaffe in der Hand. Maddie sah, dass er mehrfach in die Luft feuerte. Die Schüsse peitschten durch die Halle. Eine Neonlampe explodier te. Jemand schrie ein paar Befehle, und die Angreifer rannten zur Rampe zurück. Davies brüllte ihnen nach: »Sagt Mr L, dass er mir dafür büßen wird! Sagt ihm, dass er mit mir nicht so leicht fertig wird!« Er drückte noch einmal ab – wieder schoss er gegen die Decke. Als die Angreifer verschwunden waren, übernahm Davies die Kontrolle. Er befahl ein paar Männern, oben an der Rampe zwei Autos quer vor den Eingang zu stellen, für den Fall, dass es den Schlägern einfallen sollte, zurückzukommen. Teds Gesicht war blutverschmiert, aber sonst war niemand ernsthaft verletzt worden. Alex ließ Davies nicht aus den Augen, der fassungslos auf die verbeul ten Autos starrte. »Abschaum!«, zischte Davies außer sich vor Wut und rannte von einem Auto zum nächsten. »Diese Gangster! Nächstes Mal kriegen wir sie! Habt ihr mich verstanden?« Alex ging zu ihm. »Was waren das für Leute?«, 83
wollte er wissen und tat so, als sei er außer sich vor Wut. »In welche Scheiße sind wir da geraten?« Davies fletschte die Zähne zu einem grimmigen Grinsen. »Beruhige dich – das war nur die Konkur renz!«, knurrte er. »Sie wollen uns fertig machen. Das braucht dich nicht zu kümmern. Ich bin vorbereitet.« Er klopfte Alex auf die Schulter und wies mit der an deren Hand auf die zerstörten Autos. »Aber den Schrott hier können wir vergessen. Wir brauchen fri sche Ware. Höchste Zeit, dass du mit deiner Freundin ein paar Autos einsammelst!« Die Sonne war längst untergegangen, als Maddie und Alex die unterirdische Lagerhalle verließen. Der Abend ging schnell in die Nacht über. Die gelben Stra ßenlampen und die Leuchtreklamen flackerten auf. »Anscheinend sind wir mitten in einen Bandenkrieg geraten«, sagte Alex. »Das könnte uns noch Probleme machen.« Er sah sie anerkennend an. »Du hast dich gut geschlagen da unten.« Maddie grinste, erfreut über sein Lob. »Ist doch gut, dass ich regelmäßig Vitaminpillen schlucke!« »Du scheinst sogar inzwischen den perfekten J-Turn gelernt zu haben!«, bemerkte Alex grinsend. »Und dieses Mal war das Auto hinterher sogar noch auf den Rädern.« »So ein hübsches Auto wollte ich nicht aufs Dach stellen«, sagte Maddie trocken. 84
Hinter sich hörten sie Schritte, die sich rasch näher ten. Harry kam ihnen eilig nachgelaufen. Maddie fiel plötzlich ein, dass er während des ganzen Kampfes nirgendwo zu sehen gewesen war. Offenbar hatte er sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. »Joe schickt mich«, sagte er keuchend. »Er hat sei nen Plan geändert. Wir brauchen einen Mercedes CL600. Das ist ein ganz besonderer Auftrag. Wir brau chen ihn noch heute Abend.« Alex starrte ihn an. Soviel er wusste, war der CL600 nicht nur ein ausgesprochen teures, sondern auch au ßerordentlich seltenes Fahrzeug. »Klar doch, Harry, machen wir«, sagte er sarkas tisch. »Das hier ist ein Arbeiterviertel. Da hat doch fast jeder einen CL600 vor der Tür stehen. Und Sie wollen wirklich nur einen einzigen? Darf es eine bestimmte Farbe sein?« Harry funkelte Alex wütend an. »Ich geb dir einen guten Rat, Junge«, zischte er. »Wenn du deine Klappe so weit aufreißt, musst du dich nicht wundern, wenn du ins Gras beißt.« Er zog einen Zettel aus dem Overall und hielt ihn Alex hin. »Das ist die Adresse. Dort steht der Wagen. Joe will ihn noch vor Mitternacht in der Fabrik haben.« Harrys Augen glitzerten bösartig. »An eurer Stelle wäre ich sehr, sehr vorsichtig«, sagte er leise und mit drohendem Ton. »Wäre doch schade, wenn euch etwas zustoßen würde.« Er drehte sich abrupt um und ging davon. 85
Maddie rann ein Schauder über den Rücken. »Soll das eine Drohung gewesen sein?«, fragte sie. Der Mann war ihr wirklich unheimlich. »Ich denke schon«, antwortete Alex. »An wen erin nert mich Harry bloß?« »An eine Kanalratte?«, schlug Maddie vor. »Jetzt bist du aber wirklich gemein zu den Kanalrat ten«, sagte Alex vorwurfsvoll, während er vor einem beleuchteten Schaufenster den Zettel ins Licht hielt und die Adresse las. Er pfiff leise durch die Zähne. Eine Adresse in St. John’s Wood. »Also, was ist? Grei fen wir uns die Karre?« »Wir sollten uns mit der Zentrale in Verbindung setzen«, schlug Maddie vor. »Der Innenminister wird sich nicht freuen, wenn er hört, dass der Freelander nur noch Schrottwert hat und der Staat dafür zahlen muss. Wenn wir jetzt auch noch einen Mercedes CL600 ha ben wollen, geht England bankrott.« Sie brauchte nicht weiterzureden. Alex nickte. »Du hast Recht. Wir haben keinen Auftrag, alle Edelkaros sen in London einzusammeln.« »Und verschrotten zu lassen«, fügte Maddie hinzu. Alex grinste. »Es ist eben nie billig, Spitzenagenten wie dich im Einsatz zu haben«, sagte er. »Also gut: Wir rufen die Zentrale an. Scheint jedenfalls eine spannende Nacht zu werden.«
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Achtes Kapitel
PIC-Zentrale Bereitschaftsdienst Susan Baxendale hatte Nachtdienst, als Alex und Maddie anriefen. Schon nach dem ersten Klingeln hob sie den Hörer ab und hörte gespannt zu, als Alex ihr berichtete, was sich in der unterirdischen Lagerhalle abgespielt hatte. »In Ordnung«, sagte sie, als er geendet hatte. »Scheint ein richtiger Bandenkrieg zu sein. Ich werde mir Informationen über beide Banden beschaffen. Mal sehen, was wir herausfinden können.« »Sollen wir nun den Mercedes holen oder nicht?«, fragte Alex. »Holt ihn«, sagte Susan nach kurzem Überlegen. »Wenn ihr den Wagen nicht holt, wird Davies wahr scheinlich einfach jemand anders losschicken, der Mercedes wird also auf jeden Fall gestohlen werden. Ich werde die Sache in den Akten vermerken. Wenn es schief läuft, werden wir den Besitzer wohl entschädi gen müssen.« 87
Sie legte auf, ließ aber nachdenklich die Hand auf dem Hörer liegen. Susans Bedenken wuchsen, denn die Sache wurde allmählich doch sehr teuer. Wenn der Mercedes bei dieser Sache auch nur einen Kratzer ab bekam, würde der Besitzer wahrscheinlich laut zu schreien anfangen und einen hohen Schadensersatz verlangen. Susan seufzte. Sie musste umgehend das Innenministerium verständigen, ein Telefonat, dem sie ohne große Begeisterung entgegensah. Es würde nicht ganz leicht sein zu erklären, warum jetzt noch einmal ein außerordentlich teures Auto benötigt wurde. Die Bürokraten vom Ministerium würden wissen wollen, warum nicht ein alter Fiat Panda genügte. Es war wohl besser, wenn sie den Innenminister persönlich anrief. Sie blickte auf die Uhr – mit etwas Glück konnte sie ihn noch im Ministerium erreichen. Diese Überlegun gen durfte sie natürlich nicht mit den Agenten bespre chen. Alex und Maddie hatten genug um die Ohren, und Susan konnte nutzloses Gefasel am Telefon ohne hin nicht ausstehen. Sie fasste sich immer so kurz wie möglich, auch wenn sie dadurch häufig kalt und unhöf lich wirkte. Außerdem hatte sie im Moment sehr viel Arbeit. Chief Cooper und seine Assistentin waren zu einer Besprechung mit dem Verteidigungsminister gefahren. Vor der Abfahrt hatte Tara Moon auf Susans Tisch einen wahren Berg von Akten aufgebaut und ihr erklärt, dass sie und der Boss mehrere Tage lang nicht in die Zentrale zurückkehren würden. Weitere Infor 88
mationen hatte Susan nicht erhalten und sie hatte auch nicht weiter nachgefragt. Bisher hatte sie immer alle Informationen bekommen, die sie für ihre Arbeit brauchte – nicht mehr, aber auch niemals weniger. Nur eins schien Susan klar: Hinter dieser Sache steckte offenbar noch viel mehr – so viel, dass Jack Cooper nicht einmal seine engsten Mitarbeiter darüber informierte. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer des Innenministeriums.
St. John’s Wood NW8 Zeit: 20.46 Uhr Der silbergraue Mercedes CL600 stand in der Auffahrt eines großen, einzeln stehenden Hauses. Er glänzte im schwächer werdenden Licht des Tages. Alex und Maddie blieben auf der gegenüberliegenden Straßen seite stehen und betrachteten das Anwesen. Das Haus lag in einem weitläufigen Garten, mit al tem Baumbestand, Blumenbeeten und immergrünen Sträuchern. Der zweistöckige Bau war breit gebaut wie ein Doppelhaus und sehr gepflegt. Das schwarz gestri chene Fachwerk bildete einen wirkungsvollen Kontrast zu dem weiß verputzten Mauerwerk. Zu beiden Seiten des breiten Eingangs befanden sich halbrunde Erker. Alex, der aus einer der düsteren Londoner Arbeiter siedlungen stammte und in einem winzigen Reihen 89
haus aufgewachsen war, hob die Augenbrauen. »Nicht schlecht«, murmelte er. »Wenn ich mal eine Familie gründe, käme so was wohl in Frage.« Maddie lachte. »Das Haus hat mindestens zehn Zimmer. Was willst du denn damit anfangen?« Alex grinste. »Für jedes Kind ein Zimmer!« »Nochmal zehn Alexe?«, stöhnte Maddie. »Einer ist schon kaum auszuhalten!« Alex lachte, dann wurde er wieder ernst. Aufmerk sam ließ er den Blick über die breite Hausfront gleiten und machte Maddie auf die viereckige Alarmlampe aufmerksam, die hoch oben an der Vorderseite des Hauses angebracht war. »Da ist wahrscheinlich auch ein Bewegungsmelder eingebaut«, vermutete er. »Ich wette, wenn wir dem Auto näher als zehn Meter kom men, lösen wir den Alarm aus.« »Kann man die Alarmlampe nicht irgendwie aus schalten?«, fragte Maddie. »Klar kann man das. Du spazierst rüber, kletterst rauf und schraubst die Birne raus«, spottete Alex. Maddie funkelte ihn gereizt an. »Hör zu, Alex …«, begann sie wütend. Er klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Tut mir Leid, Maddie. Im Ernst: Die Alarmanlage kann man tatsächlich ausschalten, aber dazu brauchen wir Danny mit seinem Überwachungswagen.« »Und Danny können wir nicht holen«, stellte Mad 90
die fest. Sie dachte kurz nach. »Alex, ich glaube, wir kommen auch anders an den Wagen ran: Ich gehe di rekt zur Haustür und läute. Dann wird niemand misstrauisch, wenn die Alarm lampe aufleuchtet. Du kommst mit mir, bleibst aber außer Sicht. Zuerst versteckst du dich hinter den Pfei lern am Tor, während ich zur Haustür gehe. Sobald die Warnlampe zu leuchten beginnt, gehst du hinter dem Auto in Deckung. Wenn jemand an die Tür kommt, entschuldige ich mich für die Störung und sage, dass ich … äh …« »Dass du Hamilton Terrace suchst«, schlug Alex vor. »Das ist nur ein paar Querstraßen von hier ent fernt. Sag einfach, du hast dich verirrt.« »Super. Das mache ich. Ich frage also und sie erklä ren mir den Weg. Sie schließen die Tür und setzen sich wieder vor den Fernseher, wo wahrscheinlich gerade ein Krimi läuft.« »In dem ein Mädchen an die Tür kommt und nach dem Weg fragt, während der Freund das Auto klaut?« Alex wurde wieder ernst. »Ich schalte den Autoalarm aus. Sobald niemand mehr in der Nähe ist, fahre ich vom Grundstück und warte an der nächsten Ecke auf dich.« Er nickte nachdenklich. »Das müsste funktionieren.« Im Haus saß ein korpulenter Mann mittleren Alters in einem Lederstuhl. Anthony Longman befand sich al lein im Raum. 91
Seine Familie hielt sich in seinem eigenen Haus in Essex auf. Dieses Haus hier in St. John’s Wood hatte Longman nur gemietet – er brauchte eine bequeme Wohnung, wenn ihn seine Geschäfte zwangen, in Lon don zu übernachten. Das Wohnzimmer war mit sehr viel Stil eingerichtet worden. Ein Persianer lag auf dem hochglänzenden Parkett. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch aus Glas und Stahl, ein Paul-Kjaerholm-Design. Darauf eine Tischlampe von Verner Panton. Jedes einzelne Möbelstück war so aufgestellt, dass es voll zur Geltung kommen konnte. Longman schaute sich den neuesten James-BondFilm auf einem riesigen Flachbildschirm an, der an der Wand montiert war. Seine Hände wärmten ein Glas Cognac, dessen köstliches Aroma ihm mit jedem win zigen Schluck stärker in den Kopf stieg. Das Digitaltelefon gab die ersten Töne von Beetho vens Neunter Sinfonie von sich. Longman runzelte verärgert die Stirn und drückte auf die Pausetaste der Fernbedienung. Die DVD stopp te. Der Geheimagent Ihrer Majestät erstarrte mitten im Sprung, die Waffe zum Schuss hochgerissen, aber der Knall war noch nicht zu hören. Longman griff nach dem Telefon und meldete sich. Harold Green war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls al lein – sehr allein –, aber in weit weniger angenehmer 92
Umgebung. Er stand in einem kalten, schäbigen Büro und starrte auf die Straße hinunter, in der es schon fast dunkel war. Ein unangenehmes Lächeln spielte um seine Lippen. Er presste ein Handy ans Ohr und warte te darauf, dass sich sein Gesprächspartner meldete. Für die nächsten paar Stunden hatte sich Harry ein großar tiges Programm vorgenommen. Ein paar alte Rech nungen waren noch nicht beglichen und Harry hatte vor, diese Schulden einzutreiben. Und zwar noch heu te. Wenn alles nach Plan verlief, würde am nächsten Morgen alles wieder so sein, wie es in den guten alten Zeiten gewesen war. Am anderen Ende klickte es und eine Stimme mel dete sich. Anthony Longman legte den Hörer wieder in die Tele fonschale und nahm die Fernsteuerung zur Hand, mit der er den Dimmer der Beleuchtung so weit herunter fuhr, bis die Lampen nur noch ganz leicht glühten. Dann stand er auf und trat vorsichtig ans Fenster, wo bei er sich von der Seite näherte, sodass er von außen nicht gesehen werden konnte. Angestrengt starrte er in den großen Vorgarten hin unter. Der Mercedes, den er vor sechs Wochen ver hältnismäßig legal erworben hatte, stand noch immer an derselben Stelle, an der er ihn geparkt hatte. Auf merksam ließ er den Blick über den Zaun und das Tor streichen, aber es war nichts Bemerkenswertes zu se 93
hen. Longman runzelte nachdenklich die Stirn. Er ging zur Tür und rief in den Flur. Eine andere Tür öffnete sich und zwei Männer kamen ins Wohnzimmer. Longman sprach leise und sanft. »Ich habe gerade einen Tipp bekommen, dass Joe Davies heute Nacht meinen Mercedes klauen will«, murmelte er. »Geht mal raus und schaut nach. Wenn ihr da draußen Leute findet, die hier herumschnüffeln, bringt ihr sie sofort zu mir. Anscheinend sollen es ein junger Bursche und seine Freundin sein. Ich will mich mit ihnen ein wenig unterhalten.« Die beiden Männer waren bereits auf der Treppe, die zum Erdgeschoss führte, als Longman ihnen nach rief: »Oh, übrigens, fast hätte ich es vergessen: Seid vorsichtig. Das Mädchen soll ziemlich scharfe Krallen haben.« Einer der Männer zog ein Bowiemesser heraus und grinste. »Ich werd ihr die Krallen ein wenig stutzen, Chef«, sagte er. »Kein Schlachtfest heute, Raymond!«, befahl Longman scharf. »Ich will sie nicht essen, sondern nur mit den bei den sprechen!« Raymond steckte enttäuscht das Messer wieder ein und Longman ging in das Wohnzimmer zurück. Er ging zu einem kleinen grauen Kästchen, das in die Wand eingelassen war, öffnete es und schaltete die 94
gesamte Alarmanlage aus, mit der das Haus gesichert war. Die beiden Jugendlichen sollten ruhig glauben, dass die Anlage versehentlich nicht aktiviert worden sei. Umso amüsanter würde es dann werden, wenn sich seine beiden Männer plötzlich über sie warfen wie eine Tonne Ziegelsteine. Longman rieb sich zufrieden die Hände. Kaum zu glauben – die Sache versprach span nend zu werden. Dabei hatte er doch nur einen ruhigen Abend vor dem Fernseher verbringen wollen.
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Neuntes Kapitel Maddie wunderte sich ein wenig darüber, dass das schmiedeeiserne Tor offen stand. Die Leute, die hier wohnten, mussten sehr viel Vertrauen in ihre Alarman lage haben. Sie erreichte den breiten Vorplatz vor dem Eingang und ging an der hinteren Stoßstange des Mercedes vorbei. Noch etwa fünfzehn Meter bis zur Treppe, die zur Haustür hinaufführte. Spätestens jetzt hätte der Alarm ausgelöst werden müssen. Sie warf einen kur zen Blick zur Alarmlampe hinauf – noch immer nichts. Vielleicht funktionierte sie nicht? Oder vielleicht hat ten die Bewohner des Hauses vergessen, die Alarman lage zu aktivieren? So unauffällig wie möglich blickte sie über die Schulter zurück und sah gerade noch, wie Alex hinter einem der beiden breiten Torpfosten an der Einfahrt in Deckung ging. Sie erreichte die erste der fünf Treppenstufen, die zur Haustür hinaufführten. Die Lampe leuchtete immer noch nicht. Einen Augenblick lang zögerte sie. Wenn die Alarmanlage nicht funktionierte, gab es für sie gar keinen Grund mehr, an der Tür zu läuten. Denn in die 96
sem Fall konnte Alex hinter den Mercedes gelangen, ohne den Alarm auszulösen. Noch immer unentschlos sen, sah sie sich noch einmal um. Durch die Autofens ter des silbergrauen Mercedes sah sie undeutlich eine Bewegung. Alex hatte sich gerade hinter das Auto ge schlichen und verschwand aus ihrem Blickfeld. Dann blinkten die Blinklichter dreimal kurz auf. Er hatte den Autoalarm ausgeschaltet. Dafür schrillten plötzlich in Maddies Kopf alle Alarmsirenen los. Schlagartig wurde ihr klar: Die Sa che lief zu glatt! Das alles war viel zu einfach. Sie öff nete den Mund, um Alex zu warnen, doch da hörte sie auch schon ein leises Klicken vom Auto her. Maddie kannte das Geräusch: Alex hatte das kleine Gerät be nutzt, das man ihm bei der PIC gegeben hatte und mit dem sich die Autotür fast geräuschlos öffnen ließ. Er glitt auf den Fahrersitz. Im selben Augenblick hörte Maddie hinter sich ein leises, aber scharfes Geräusch. Sie wirbelte herum und ein kalter Schock packte sie. Die Haustür stand offen und urplötzlich tauchte dicht neben ihr ein muskulöser Mann auf. Er hielt ein Messer in der Hand. Bevor sie auch nur reagieren konnte, umfasste er ihren Oberkör per mit einem Arm und presste sie an sich. Sein Griff war hart und schmerzhaft und stark wie eine Stahl klammer, aber das spürte Maddie kaum. Sie spürte nur eins: die kalte, scharfe Klinge des Messers, das er an ihre Kehle gesetzt hatte. 97
Maddie kämpfte ihre aufsteigende Panik nieder. Widerwillig entspannte sie ihre Muskeln und ließ ihren Körper schlaff werden. Im Augenblick war Gegenwehr völlig sinnlos. Denken! Nur keine Panik!, schoss es ihr durch den Kopf. Bei diesem Gegner und in dieser Lage kam sie mit Gewalt nicht weiter. Ein zweiter Mann rannte an ihr vorbei auf das Auto zu. Sie stöhnte innerlich auf: Jetzt holten sie Alex. Auch Alex hatte inzwischen bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Er stieg zögernd aus, duckte sich halb hinter den Wagen und sondierte die Lage durch die Autofenster. Er sah das Messer an Maddies Hals. Und wusste, dass die Sache gelaufen war. Verdammt!, dachte er. Das war’s dann wohl. Cool bleiben. Er richtete sich auf, schloss betont lässig die Autotür, ließ aber gleichzeitig den Autoalarm-Decoder fallen und kickte ihn mit dem Absatz unter die Büsche, die um den Vorplatz herum wuchsen. Ohne eine Miene zu verziehen, hob er die Hände. Ein Mann baute sich vor Alex auf. Viel Muskeln, wenig Hirn. »Eine kleine Probefahrt hätte mir wirklich Spaß gemacht«, sagte Alex mit einem bedauernden Blick auf den Mercedes. Der Mann stutzte kurz. Dann grinste er bösartig. »Oh, keine Angst, du bekommst deine Probefahrt. Aber in einem schwarzen Auto.« 98
Deptford. Überwachungswagen Zeit: 21.28 Uhr Danny nippte an einem Becher Espresso. Das war die einzige Möglichkeit, sich während der stundenlangen und einsamen Wartezeiten wachzuhalten. Auch seine Augen brauchten eine kleine Pause. Er schaute durch die dunklen Fenster, doch das Flimmern hatte sich auf seiner Netzhaut eingeprägt – überall sah er grünliche Bildschirme. Danny beobachtete, wie die Straßenlampen nacheinander angingen. Die Straße lag verlassen, nur gelegentlich rumpelte ein Auto über das unebene Kopfsteinpflaster. Quälend langsam tröpfelten die Minuten dahin. Doch plötzlich war er hellwach – ein leises Klicken, eine winzige Veränderung auf einem der Bildschirme: Der Bewegungsmelder hatte eine Bewegung regist riert. Auf Dannys Notebook verschwand der Bild schirmschoner und der Platz vor dem Haupteingang des Lagerschuppens wurde sichtbar. »Aber hallo! Was ist jetzt los?«, murmelte Danny vor sich hin. Er beobachtete den Bildschirm ein paar Sekunden lang. Noch konnte er nichts Klares erken nen, aber im Grunde gab es nur eine Erklärung. »Dan ny, alter Junge, du bekommst Besuch.« Ein dunkler Wagen glitt in den Schatten zwischen 99
die Lichtkegel zweier Straßenlaternen und hielt an. Zwei Männer tauchten in einem der Lichtkegel auf, gingen schnell zum Seiteneingang und verschwanden im Lager. Danny konnte die Gespräche im Lagerhaus nicht belauschen. Durch die Wände eines Gebäudes funktionierten seine Geräte nicht. Er hatte nur eine Chance: Wenn die Männer ein Funkgerät oder ein Handy benutzten, wür de er die Signale mit seinem Frequenzscanner auffan gen können. »Verdammt«, schimpfte er sich selbst aus, »warum hast du dort drin keine Wanze gepflanzt? Kapitalfeh ler.« Aber natürlich wusste er, warum: Er hatte von Jack Cooper den ausdrücklichen Befehl bekommen, das Lager nur zu observieren und nicht selbst aktiv zu werden. Angespannt wartete er, wobei er sich den Kopfhörer mit beiden Händen gegen die Ohren presste, um kein noch so leises Geräusch zu verpassen. Unab lässig und mit höchster Konzentration beobachtete er die Lichter und Bildschirme. Dazwischen griff er ohne hinzusehen nach der vierten Packung Smarties und stopfte sich ein paar der süßen bunten Pillen in den Mund. Plötzlich piepte einer der Apparate und der Zeiger des Frequenzmessgeräts schlug aus. Danny erkannte das Signal sofort: 100
Jemand telefonierte mit einem Handy. Schnell stell te er das Gerät genauer auf die Frequenz ein. Eine Stimme quäkte in seinem Kopfhörer. »… dem General, dass alles vorbereitet ist. Wir haben die Wa ren überprüft und alles ist genau so, wie es sein sollte. Alles ist für den Transport bereit.« Eine zweite Stimme antwortete: »Ich melde es wei ter. Die Arrangements werden gerade getroffen. Ich melde mich wieder, sobald ich mehr über die Einzel heiten weiß.« Der Zeiger des Frequenzmessgeräts ging auf null zurück. Der Anruf war zu Ende. »Gut gemacht, Junge«, lobte sich Danny und gönnte sich zur Belohnung noch eine Hand voll Smarties. Dann lehnte er sich nachdenklich in seinem Sitz zu rück und murmelte: »Jetzt möchte ich nur zu gern wis sen, wer der General ist.« Maddie und Alex wurden die Treppe hinaufgeführt. Maddie hatte zwar kein Messer mehr an der Kehle, aber ihr Bewacher hatte es nicht weggesteckt. Alex ging ruhig neben Maddie her. Er ließ seinen Blick durch den Flur schweifen, beobachtete alles und wartete ab. An dieser Sache war irgendetwas faul. Wenn ein Mensch entdeckt, dass jemand gerade sein Auto stehlen will, würde er doch normalerweise die Polizei rufen, statt die Diebe von zwei Gorillas mit vorgehaltenem Messer abführen zu lassen … Die gan 101
ze Sache roch nach einer Falle. Aber warum wurden sie in die Falle gelockt? Und von wem? Sie erreichten den Treppenabsatz im ersten Ge schoss. In einer der Türen stand ein korpulenter Mann, der ihnen mit spöttischem Lächeln entgegensah und mit einer kleinen ironischen Verbeugung höflich bei seite trat, als sie von den beiden Leibwächtern brutal in den Raum gestoßen wurden. »Es gab keine Probleme, Mr L«, meldete der Mann mit dem Messer. »Die beiden waren brav wie Läm mer.« Mr L! Plötzlich glaubte Maddie, Davies Stimme zu hören, so scharf und deutlich, als brüllte er ihr direkt ins Ohr. »Sagt Mr L, dass er mir dafür büßen wird! Sagt ihm, dass er mit mir nicht so leicht fertig wird!« Mit einem Schlag wurde ihr klar: Sie waren zwischen zwei rivalisierende Autoschieberbanden geraten. Die eine Bande wurde von Mr L geführt, die andere von Joe Davies. Aber Joe Davies hatte den Befehl gar nicht gegeben, den Mercedes zu stehlen – das musste Harry gewesen sein. Harry hatte ihr und Alex die Falle gestellt. Er be nutzte sie nur, um Mr L ein Feuer unter den Hintern zu legen – damit der sich wiederum auf Joe Davies stürzte und ihn fertig machte. Maddie schaute Mr L genau an. Er hatte ein rundes, feistes Gesicht, das geradezu kindlich wirkte, wie eine Engelputte. Aber die schmalen Augen über den roten, 102
fleischigen Wangen passten gar nicht zu diesem Ge sicht – sie waren klein, durchdringend und hart. Sie konnte sich gut vorstellen, dass es diesem Mann nichts ausmachte, die Autos anderer Leute stehlen und, wenn es sein musste, auch Menschen umbringen zu lassen. Wahrscheinlich hatte er auch dafür gesorgt, dass Davies’ Vorgänger jetzt das Gras von unten wachsen sah. Und was sie und Alex anging, so hatte sie das kei neswegs angenehme Gefühl, dass die Sache außer Kontrolle geraten war. Mr L war wieder in den Raum getreten und stand mitten auf dem kostbaren Teppich. Maddie und Alex erhielten Stöße in den Rücken und stolperten ein paar Schritte vorwärts, sodass sie ihm direkt gegenüber standen. Er starrte sie an, offenbar versuchte er abzu schätzen, wie ernst diese beiden Jugendlichen zu neh men seien. »Ich habe dich beobachtet«, sagte er zu Alex und wies mit einer flüchtigen Geste zum Fenster, das zum Vorgarten hinausging. »Du warst sehr schnell im Auto. Wie hast du das geschafft? Ich habe die Zeit gestoppt: acht Sekunden. Das ist praktisch unmöglich. Kein Mensch kann in acht Sekunden einen Mercedes SL600 aufbrechen.« »Vielleicht bin ich Jesus«, sagte Alex trocken. »Das bezweifle ich«, lächelte Mr L, »der knackt keine Autos.« Er trat nahe an Alex heran und starrte ihm mit sei 103
nem kalten Lächeln direkt in die Augen. »Ich habe mir überlegt, ob ich euch von Raymond und Toby filettieren lasse und euch dann von der Vauxhall-Brücke werfe.« »Die Tower Bridge wäre stilvoller«, gab Alex zu rück. Maddie hatte inzwischen ihren Schock überwunden. Ihre Gedanken überstürzten sich. Sie mussten Zeit ge winnen – und vor allem die Initiative ergreifen. »Das wäre ein schwerer Fehler«, sagte sie. »Alex ist nämlich der Beste – und wir arbeiten immer als Team.« Mr L ließ seinen Blick langsam zu Maddie und wieder zurück zu Alex wandern. Maddie konnte förm lich sehen, dass sein Gehirn arbeitete. Offenbar begann er, die Vor- und Nachteile eines Doppelmordes gegen einander abzuwägen. Alex hatte inzwischen denselben Schluss gezogen wie Maddie. Sie waren für die Privatfehde zwischen Harry und Joe Davies missbraucht worden und prompt in die Falle gelaufen. Sie mussten unbedingt verhin dern, in diesem Bandenkrieg zwischen den Fronten aufgerieben zu werden. Also mussten sie Mr L davon überzeugen, dass es für ihn ein großer Vorteil wäre, wenn sie für ihn arbeiteten. »Es gibt kein Auto, das ich nicht aufbrechen kann«, sagte Alex kühl und sachlich. »Davies ist ein Verlierer. Wir beide wollen lieber zu den Gewinnern gehören.« »Ach ja?« Mr L zog spöttisch die Augenbrauen hoch. 104
Maddie mischte sich schnell ein: »Sie können uns natürlich von der Brücke werfen – aber das wäre für Sie ein echter Verlust.« Mr L lachte laut los, ließ sich in einen Sessel fallen und wollte sich nicht mehr beruhigen. Maddie und Alex starrten ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. Ihnen war nicht nach Lachen zu Mute – dieser Mann mochte wie ein Meerschweinchen aussehen, aber er war gefährlich. Ein Schreibtischtäter – er würde sich selbst nie die Hände schmutzig machen. Dafür hatte er Hohlköpfe wie Raymond, die nichts dabei empfanden, ein Messer zu ziehen und die Feinde zu beseitigen, die sich Mr L schuf. Für Maddie und Alex jedenfalls stand die Münze hochkant – sie konnte nach beiden Seiten kippen. Der Mann würde irgendwann wieder aufhören zu lachen und dann seine Schläger auf sie hetzen oder … Noch immer lachend, wischte sich Mr L die Tränen von den Wangen. »Köstlich!«, stieß er keuchend her vor. »Ihr gefallt mir. Hoffentlich ist euch klar, dass ihr eben auf einem Strohhalm über eure Gräber spaziert seid. Aber …« – hier legte er eine theatralische Kunst pause ein – »ich denke doch, dass ich neue Talente wie euch gut gebrauchen kann.« Wieder eine Kunstpause. »Jedenfalls auf Probe.« Seine Augen wurden plötzlich wieder schmal und hart, als er Maddie und Alex ab wechselnd ansah. »Raymond?«, sagte er, ohne den Blick von ihnen abzuwenden, »bring die beiden Kids 105
nach Shoreditch. Sag Mortimer, er soll ihnen Arbeit geben.« Mr L wandte sich wieder dem Fernsehgerät zu. Das Bild stand noch immer auf Pause – James Bond mitten im Sprung. Der Mann presste einen Knopf auf der Fernbedienung, und der Pistolenschuss knallte aus dem digitalen Surround-System durch den Raum. James Bond landete wieder glücklich auf den Füßen. Auch Maddie und Alex waren glücklich, den Raum auf ihren eigenen Füßen verlassen zu können. Es hätte auch anders kommen können. Joe Davies jedenfalls würde in Zukunft ohne ihre Dienste auskommen müs sen. Sie und Alex hatten einen neuen Arbeitgeber ge funden.
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Zehntes Kapitel
Shoreditch E8 Mitternacht Maddie war hellwach, bis in die kribbelnden Finger spitzen hinein. Jeder Nerv in ihrem Körper war bis zum Zerreißen gespannt. Sie konnte die Gefahr fast körper lich spüren – schon deshalb, weil sie auf dem Beifah rersitz Toby sehr nahe war. Sie roch die aufdringliche Mischung von billigem Aftershave und Deo, die ver geblich gegen seinen Schweißgeruch ankämpfte, und glaubte seine Brutalität förmlich spüren zu können. Raymond saß neben Alex auf dem Hintersitz und spielte mit dem Messer. Widerwillig bewunderte Alex Raymonds Geschicklichkeit, mit der er die Klinge blitzschnell in die Luft wirbelte und nach drei Umdre hungen wieder auffing. Die Höhe des Wagens reichte genau für drei sehr schnelle Umdrehungen. Toby park te in der Brick Lane und blieb im Auto sitzen, während Raymond ausstieg und Alex und Maddie mit einer knappen Kopfbewegung aufforderte, ihm in ein düste 107
res Gebäude zu folgen. Sie stiegen eine Treppe zum ersten Stock hinauf und betraten ein schäbiges Büro. Raymond verließ sofort wortlos den Raum. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann. Auf einer Seite des Tisches stand ein Computerbildschirm, auf dem sich der Bildschirmschoner eingeschaltet hatte. Kleine Fische flitzten über den Bildschirm, verfolgt von größeren Fischen, die die kleineren auffraßen – um dann selbst von noch größeren gefressen zu werden. Der Mann war tadellos gekleidet – ein Anzug von Turnbull & Asser und eine modische, aber nicht auf dringliche Seidenkrawatte, die farblich perfekt mit dem dezent gemusterten Hemd abgestimmt war. In dem schäbigen Büro wirkte er völlig fehl am Platz. Maddie hatte den Eindruck, dass er sehr viel besser in das ele gante Büro eines Börsenmaklers in der Londoner City gepasst hätte. Alex betrachtete den Mann ohne großen Respekt. »Sind Sie Mortimer?«, fragte er und ließ seinen Ostlondoner Akzent noch stärker durchklingen als ge wöhnlich. Der Mann verzog keine Miene. »Für Sie, junger Freund, bin ich Mister Mortimer«, sagte er gleichmü tig. »Vielleicht darf ich Ihre Namen erfahren?« »Ich heiße Alex. Das hier ist Maddie.« Mr Mortimer betrachtete Alex und Maddie nach einander sehr sorgfältig. Er musterte sie von oben bis unten. Schließlich sagte er: »Alex und Maddie. Aha. Haben sich Ihre Väter so schnell aus dem Staub ge 108
macht, dass es für einen Nachnamen nicht mehr ge reicht hat?« »Alex Smith. Und Maddie Brown.« Mr Mortimer trommelte verärgert mit den Finger nägeln auf die Schreibtischplatte. »Seltsam. Fast die ganze Londoner Bevölkerung scheint entweder Smith oder Brown zu heißen. Nun gut. Lassen wir das für den Augenblick. Sie sollten sich aber eins gleich hinter die Ohren schreiben: Wenn Sie glauben, mich hereinlegen zu können, dann täuschen Sie sich.« »Der Bursche in St. John’s Wood hat gesagt, Sie hätten Arbeit für uns«, sagte Alex trotzig. »Sollen wir vielleicht erst ein paar Bewerbungsformulare ausfül len? Mit Foto und Lebenslauf? Beruf des Vaters? Mein Alter ist ständig besoffen, der hat keine Arbeit.« Er nickte zu Maddie hinüber. »Bei ihr ist die Mutter stän dig besoffen und der Alte sitzt im Knast. Feste Adresse haben wir nicht. Wollen Sie sonst noch was wissen? Für die Arbeit hier wird es wohl reichen.« Mortimers Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt, während er Alex wütend anstarrte. »Ein wenig Vorsicht könnte nicht schaden«, sagte er leise und drohend. Dann wurde seine Stimme plötzlich sehr sachlich. »Sie haben bisher für Mr Davies gearbeitet, habe ich gehört?« »Wir haben nur einen einzigen Job für ihn ge macht«, antwortete Alex. »Das war alles. Wir hatten den Eindruck, dass wir bei Mr L vielleicht mehr Geld verdienen könnten.« Alex grinste. 109
»Wie steht’s übrigens mit Mr L’s Namen? Hat es bei ihm nur für einen Buchstaben gereicht?« Doch Mortimer gab keine Antwort. Wieder blickte er Alex und Maddie nacheinander an. Alex hatte den Eindruck, dass er nicht auf den Kopf gefallen war. Umso mehr ein Grund, vorsichtig zu sein. Das Telefon läutete. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte Mortimer höflich und nahm ab. Er sprach kein einziges Wort, sondern hörte mit völlig unbewegter Miene ungefähr zwanzig Sekunden lang zu, dann legte er wieder auf. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander, während er nachdenklich über ihre Köpfe hinweg ins Leere starrte. »Falsch verbunden?«, fragte Maddie, nur um über haupt etwas zu sagen. Sein langes Schweigen sägte an ihren Nerven. »Durchaus nicht«, gab Mortimer zurück und lächel te geschmeidig. »Es scheint so, als wären Sie beide gerade rechtzeitig von Bord gegangen, Miss, äh, Brown. Drüben in der Fabrik herrscht im Moment ziemlich große Aufregung.« Alex und Maddie sahen sich verwundert an. Was zum Teufel war jetzt wieder los?
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Clerkenwell Die Fabrik Davies hatte in seinem Bürocontainer außerordentlich viel zu tun. Vor ihm lag ein hoher Stapel unerledigter Vorgänge – Briefe, Rechnungen, Bankformulare, Lohnabrechnungen. Nach dem Mord am alten Boss hatte Davies schnell das Ruder an sich gerissen. Er hatte Harry Green zur Seite gedrängt, der drauf und dran gewesen war, sich als neuer Boss aufzuspielen, und hatte dann den gan zen Laden übernommen. Aber schon in der kurzen Zeit, in der er Boss war, hatte Davies feststellen müssen, dass ihm die Sache nicht immer Spaß machte. Im Augenblick zum Bei spiel ging ihm dieser ganze Verwaltungskram doch stark auf die Nerven – gerade heute mussten eigentlich die Löhne für die Arbeiter berechnet werden, aber Da vies kam nicht dazu, weil er eine ganze Reihe von »Kunden« anrufen musste, um ihnen mitzuteilen, dass sich die Auslieferung der umfrisierten Autos noch et was verzögerte – wegen »technischer Probleme«, wie er sich ausdrückte. Davies knirschte mit den Zähnen, während er sich durch die Papiere arbeitete. Er hatte Rache geschwo ren – und bei Gott, er würde sich rächen! In der Halle machten heute mehr als ein Dutzend Männer viele Überstunden. Sie würden fast die ganze 111
Nacht durcharbeiten müssen. Bei dem Überfall waren die meisten Autos beschädigt worden. Baseball- und Golfschläger konnten eine Menge Schaden anrichten, vor allem auf dem hochglanzpolierten Blech von Au tos, die 100000 Pfund und mehr wert waren. Bei die sen Marken kostete schon ein neuer Außenspiegel so viel, wie ein leitender Polizeibeamter im Jahr verdien te. Na gut, vielleicht ein bisschen weniger. Davies grinste. Er hatte schon immer gewusst, dass es sich eben nicht auszahlte, nur gerade Sachen zu machen. Jedenfalls mussten die Schäden schleunigst repariert werden, denn Davies konnte schlecht die Versicherung anrufen und Schadensersatz verlangen, nur weil seine Autobande mit einer anderen Krieg führte. Schließlich gab er den Versuch auf, sich auf den Papierkram zu konzentrieren. Nachdenklich starrte er in die Fabrikhalle hinaus. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass ihn der Überfall kalt erwischt hatte. Er musste dringend Pläne für solche Notsituationen ausarbeiten – vor allem auch für den Fall, dass seine Feinde noch einmal auftauchten. Schon seit dem Zeit punkt, als der – leider so frühzeitig verschiedene – alte Boss sein eigenes Geschäft gegründet hatte, bemühte sich dieser Mr L mit allen Mitteln, die Fabrik hier still zulegen. Denn der bisherige Boss war früher Mr L’s persönlicher Assistent gewesen, bis er gemerkt hatte, dass mehr Geld zu machen war, wenn er selbstständig arbeitete. Seither waren die beiden Autogangs bitter 112
verfeindet, aber Mr L war es nie gelungen, endgültig die Oberhand zu gewinnen. Dann hatte man vor kurzem den früheren Boss ge funden – mit einem kleinen, sauberen Loch im Kopf. Davies grinste grimmig. Ihn – Davies – würde man nicht so einfach loswerden. Aber der Überfall heute hatte ihm bewiesen, dass er in Zukunft besser vorberei tet sein musste. Dafür würde er jetzt sofort sorgen. Ein paar Telefonanrufe würden nötig sein. Manche Leute hatten noch gewisse Schulden bei ihm, die er jederzeit eintreiben konnte – Leute, denen er einmal einen Ge fallen getan hatte. Davies war entschlossen, sich zu wehren: Er würde zurückschlagen, und zwar hart. Schließlich standen auch in Mr L’s Betrieb ein paar hübsche Autos herum. In stiller Vorfreude rieb sich Davies die Hände. Außerdem würde er dafür sorgen müssen, dass Harry Green an Bord blieb und nicht zu Mr L überlief. Schließlich wäre der Bursche fast selbst Boss geworden. Kein Wunder, wenn es da ein wenig böses Blut gegeben hatte. Wirklich höchste Zeit, die Sache endgültig aus der Welt zu schaffen. Davies öffnete die Tür und lehnte sich hinaus. »Weiß irgendjemand, wo Harry steckt?«, brüllte er durch den Lärm. Aber niemand wusste, wo sich Harry aufhielt. Da vies knallte die Tür zu und setzte sich wieder hinter den Schreibtisch. Seltsame Sache, dachte er mit gerun zelter Stirn. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er Harry den 113
ganzen Abend nicht gesehen hatte – jedenfalls nicht seit dem Angriff. Wo steckte der Bursche? Er be schloss, ein paar Erkundigungen einzuholen. Er streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus – und in diesem Augenblick gab es am anderen Ende der Halle einen lauten Knall. Die Scheiben des Bürocon tainers klirrten. Davies zuckte zusammen, sprang auf und blickte durch die Fenster. Aus einem Auto stieg eine gewaltige Rauchsäule. Dann schoss eine riesige Stichflamme in die Höhe, die fast die Decke erreichte. Davies starrte mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen hinaus. Sekunden später explodierte ein weiteres Fahrzeug – an einer anderen Stelle der Halle, viel näher bei Davies’ Büro. Der Boden der Bürokabine bebte. Draußen schrien die Mechaniker. Die Druckwelle prallte gegen die Kabine und die Tür barst mit lautem Krachen auf, die Scheiben zer splitterten und ein Scherbenregen ging über Davies’ Schreibtisch nieder. Davies riss die Hände hoch, um sein Gesicht zu schützen. Als die Explosion vorbei war, riskierte er wieder ei nen Blick. Ein BMW stand in Flammen – niemand hatte sich in der Nähe befunden. Es war das Fahrzeug, an dem Harry Green an diesem Tag zuletzt gearbeitet hatte. Dichte schwarze Rauchwolken drangen aus dem 114
Wagen. Alle brüllten wild durcheinander und rannten in Panik und laut hustend durch die Halle. Davies stand bewegungslos in der zerborstenen Tür, die nur noch an einem Scharnier hing, und starrte aus druckslos in die rauchgefüllte Werkhalle. »Harry«, flüsterte er heiser, voll kalter Wut. »Harry, dein Spiel ist aus. Jetzt bist du tot.« Harry Green stand in seinem unbeleuchteten Büro und schaute aus dem Fenster. Immer wieder warf er einen Blick auf die Armbanduhr. Die Show musste jeden Augenblick beginnen. Er sah auf die Straße hinunter. Vor dem zerschmet terten Tor standen zwei Autos hintereinander und blo ckierten den Eingang zur Fabrik. Wenn er genau hin schaute, konnte er die Männer sehen, die in den Fahr zeugen saßen und Wache schoben. Sie beobachteten sehr aufmerksam die Straße und die umliegenden Ge bäude, aber sie rauchten ständig und wirkten nervös. Natürlich hatten sie keine Ahnung, was ihnen bevor stand. Eine Flotte dunkelblauer Vauxhall Vectras bog um die Ecke. Kein Blaulicht, keine Martinshörner – die Sirenen würden erst eingeschaltet, wenn sämtliche Nebenausgänge und Schlupflöcher besetzt waren. Harry rieb sich in stiller Vorfreude die Hände. Dann gingen plötzlich die Martinshörner los und ein Gewitter von blau blitzenden Lampen tauchte die Stra 115
ße in zuckendes Licht. Harry verfolgte die Szene nicht ohne Stolz. Die Fliegende Brigade war prompt wie die Feuerwehr gekommen, fand Harry, und kicherte ein wenig bei dem Gedanken. Er lächelte in grimmiger Genugtuung und summte leise vor sich hin, während sich unten auf der Straße, zwei Stockwerke tiefer, ein Inferno abspielte. Durch das große Loch im Tor der Fabrik flüchteten Männer, taumelten halb blind über die Straße. Rauch, dachte Harry zufrieden. Gut. Die Feuer bombe ist also hochgegangen. Gut gemacht, Harry. Total gutes Timing. Super Wirkung. Rache ist süß. Jetzt wartete Harry nur noch auf den Höhepunkt dieser Show, das große Finale. Wartete darauf, dass ein bestimmtes Gesicht auftauchte – ein bestimmter Mann, halb blind vom Rauch und wild hustend. Harry beugte sich dicht an die Fensterscheibe. Da war er: Davies taumelte durch die Lücke im Tor. Of fenbar halb besinnungslos vor Angst versuchte er, dem dichten Rauch zu entkommen. Zwei Polizisten stürzten sich auf ihn, warfen ihn in den Rinnstein – was eigent lich nicht nötig gewesen wäre, denn Davies wehrte sich nicht. Aber Harry verfolgte die kleine Szene mit größter Genugtuung. Der andere Polizist legte Davies Handschellen an. Perfekt – absolut perfekt! Harry strahlte. Er nahm sein Handy heraus und gab eine Nummer ein. Die gute Nach richt wollte er keine Sekunde lang für sich behalten. 116
»Erzählen Sie mir ein wenig von sich selbst«, sagte Mr Mortimer. »Ich möchte so viel wie möglich über die Leute wissen, die für mich arbeiten.« Maddie starrte ihn frech an. »Für Sie? Ich dachte, wir arbeiten für Mr L?«, fragte sie. Mr Mortimer lächelte milde. »Er mischt sich selten in das Alltagsgeschäft ein«, sagte er. »Das überlässt er mir.« Seine Augen verengten sich. »Ich will alles über Sie beide wissen.« Der höfliche Ton war jetzt völlig verschwunden. »Und wenn ich keine vernünftigen Antworten bekomme, werfe ich Sie wieder Toby und Raymond vor. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Absolut«, sagte Alex und hob friedfertig die Hän de. »Wir stammen beide aus Southend. Haben’s zu Hause nicht mehr ausgehalten. Seither leben wir mal hier, mal dort, in besetzten Häusern und so. Ab und zu verdienen wir ein wenig Geld mit Ladendiebstahl.« Er erzählte, dass er in einem Pub in Stepney den Hinweis auf einen Job bekommen habe, mit dem er viel Geld verdienen könne. Dann schilderte er, wie sie versucht hatten, bei Joe Davies einen solchen Job zu bekom men. Und wie Harry sie hereingelegt habe. Mr Mortimer lächelte leicht, als Alex Harry er wähnte. »Ah, unser guter Freund Harry«, sagte er. »Männer wie er sind das Salz dieser Erde. Treu bis zum Untergang.« »Vielleicht meinen Sie einen anderen Harry«, warf Maddie ein. Mr Mortimer neigte zustimmend den 117
Kopf. »Harry Green hat früher für mich gearbeitet«, erklärte er. »Dann beschloss er eines Tages, zur Kon kurrenz überzulaufen. Glücklicherweise hat er seinen Irrtum inzwischen eingesehen und bemüht sich seither ausgesprochen eifrig, sich zu bessern. Jetzt erledigt er hin und wieder kleinere Aufträge für mich …« Morti mer blickte kurz auf die Armbanduhr. »Und zwar ge nau in diesem Augenblick.« Er sah Alex an. »Sagten Sie, dass Sie keine Wohnung hätten?« »Wir haben Betten in den Tower Hamlets«, antwor tete Alex. »Ein Obdachlosenheim«, fügte Maddie überflüssi gerweise hinzu. »Vielleicht können wir eine bessere Bleibe für Sie beide arrangieren«, sagte Mr Mortimer. »In Elephant and Castle stehen uns ein paar Wohnungen zur Verfü gung. Sie wissen, wo das ist? In Newington, im Südos ten von London. Eine der Wohnungen können Sie für eine gewisse Zeit haben.« Er öffnete eine Schublade, in der sich mehrere Briefumschläge befanden. Einen der Umschläge nahm er heraus und schob ihn Maddie hin. Darauf stand eine Adresse, und als sie ihn in die Hand nahm, spürte sie etwas Hartes – einen Schlüssel. »Die Wohnung ist sehr einfach«, fuhr Mr Mortimer fort. »Der bisherige Bewohner musste kurzfristig … hm, ausziehen. Er hatte keine Zeit mehr für die End reinigung. Sie werden also zuerst ein wenig Ordnung schaffen müssen. Seine Kleider und sonstigen Sachen 118
können Sie übrigens wegwerfen. Da, wo er jetzt ist, reicht ein langes Hemd.« Mr Mortimer lächelte fein. »Aber in der Wohnung haben Sie wenigstens ein Dach über dem Kopf, fließendes Wasser und eine Kü che. Übrigens auch eine Dusche, die Sie dringend be nutzen sollten. Sie beide riechen etwas streng. Und wenn Sie gut arbeiten, werden Sie bald in der Lage sein, sich was Besseres zu suchen.« Das Telefon läutete wieder, und Mr Mortimer mel dete sich. »Ja, Harry, vielen Dank. Das ist gut. Mr L wird sehr erfreut sein, wenn er davon erfährt … Natürlich, Harry – alles vergeben und vergessen. Willkommen im alten Club, mein Freund. Wir sehen uns morgen.« Er legte auf und lächelte vor sich hin. »Was ist passiert?«, fragte Alex. Mortimer lächelte noch immer. »Davies’ kleine Fabrik hat gerade ihre Tore geschlossen«, sagte er sanft. »Und zwar für immer.« Er stand auf und blickte kurz zur Tür. »Es ist schon spät«, fuhr er fort. »Sie gehen jetzt zu der Wohnung in Elephant and Castle. Punkt acht Uhr morgen früh melden Sie sich beim Au tozentrum Peacock in Haverstock Hill, Belsize Park.« »Wo ist das?«, fragte Maddie. Mr Mortimer machte sich nicht die Mühe, ihr den Weg zu erklären. »Das werden Sie wohl selbst heraus finden«, sagte er nur, ein wenig verächtlich. »Ein erster Intelligenztest, sozusagen.« 119
Alex nickte. »Punkt acht Uhr sind wir dort«, bestä tigte er eifrig, während er die Tür öffnete. »So einen Job finden wir schließlich nicht alle Tage.« Mr Mortimer lächelte wieder sein feines kaltes Lä cheln. »Ganz bestimmt nicht«, sagte er leise, fast un hörbar. »Und Sie können ihn auch wieder sehr, sehr schnell verlieren.« Dannys Finger trommelten ungeduldig auf die Arbeits fläche neben den Monitoren. »Ich habe hier einen Lastwagen, vollgestopft mit modernster Überwa chungstechnologie«, murmelte er wütend. »Ich warte stundenlang. Ich fresse fünf Packungen Smarties. Und was bekomme ich am Ende? Nichts als unsinniges Gequatsche!« Die beiden Männer hatten das Lagerhaus wenige Minuten nach dem Telefonat verlassen. Ihr Wagen war in die Dunkelheit geglitten und verschwunden. Danny hatte ein paar halbwegs brauchbare Aufnahmen von ihren Gesichtern machen können, als sie das Lager verließen. Er hatte sofort mit dem Notebook die Ver bindung zu den Fahndungslisten in der PIC-Datenbank hergestellt und die Suche eingeleitet. Doch ohne Er gebnis. Die beiden Männer waren nicht in der PICDatenbank. Seither saß er wieder da und starrte auf seine Monitore. Nichts geschah. Mitternacht kam und ging. Gelangweilt kritzelte Danny auf seinem Notiz block herum – ganz allmählich drifteten seine Gedan 120
ken in eine bestimmte Richtung. Eigentlich war er schon fast entschlossen. Wenn er noch zögerte, so des halb, weil Jack Cooper oder Susie B. bestimmt nicht sehr erfreut sein würden. »Danny, mein Freund«, sagte er halblaut, »du weißt, was du zu tun hast. Du musst dort drüben eine Wanze legen.« Er streckte die Hand aus. Sein Zeigefinger schwebte über dem Schaltknopf, der ihn mit der PIC-Zentrale verbinden würde. Er brauchte die Genehmigung der Zentrale, wenn er in das Lagerhaus eindringen wollte. Kein Einbruch ohne Genehmigung, dachte er grinsend. Er zog die Hand wieder zurück und trommelte nervös auf die Arbeitsplatte. Was Cooper nicht weiß, macht Cooper nicht heiß, dachte er trotzig. Und Susie B. schon gar nicht. Bei ihr hatte Danny sowieso das Ge fühl, dass ihre Körpertemperatur selten über den Ge frierpunkt stieg. Noch immer trommelten seine Finger einen schar fen Rhythmus, während er in Gedanken die Sache von allen Seiten betrachtete. Schließlich stand sein Entschluss endgültig fest. Er zog eine Schublade heraus, in der sich verschiedene sehr kleine Geräte befanden. Er entschied sich für eine MT50-Wanze. Sie sah aus wie ein Adapter für eine Telefonsteckdose, nur viel kleiner. Ihre Reichweite betrug ungefähr 200 Meter und war perfekt auf den Empfänger abgestimmt, den er hier in seinem Überwa 121
chungswagen hatte. Danny schob die Wanze in seine Tasche. Er öffnete die Laderaumtüren und verließ zum ers ten Mal seit vielen Stunden den Wagen. Die Nachtluft war kühl und ungemein erfrischend. Fast geräuschlos schloss er die Türen, aktivierte das ultra-empfindliche Alarmsystem und huschte über die Straße, die Hände tief in den Hosentaschen. Höchste Zeit für ein wenig action.
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E l f t e s Ka pi t e l Vorsichtig schnitt Danny in das Kabel der Videoüber wachungskamera und installierte ein Gerät, das das Fernsehbild fünf Minuten lang einfrieren ließ. Später würde er es leicht wieder entfernen können; auch das Kabel würde er wieder so reparieren, dass keine Spur zu erkennen war. Er überquerte die Straße und erkundete den Eingang des Lagerhauses. Die Tore waren mit einem einfachen Zylinderschloss und einem Hochsicherungsschloss gesichert, oberhalb der Tore war eine digitale Alarmbox angebracht. Danny sah sofort, dass es eine Stan dardausführung war, die ihm keine Probleme bereiten würde. Wenn er das Tor erst einmal geöffnet hatte, würde er genau 15 Sekunden Zeit haben, um den rich tigen vierstelligen Code einzugeben. Er zog den elektronischen Dietrich aus der Tasche und schob ihn in das Zylinderschloss. Er hörte ein lei ses Klicken, als der Schlüssel im Schloss griff. Dann öffnete er das Tor einen Spaltbreit, schlüpfte hindurch und zog es sofort wieder hinter sich zu. In Dannys Kopf lief inzwischen der Countdown – 123
von fünfzehn abwärts. Schnell trat er an die Alarm schalttafel. Vierzehn Sekunden. Er klappte die Abde ckung hoch. Elf Sekunden. Er nahm eine kleine schwarze Box heraus. Neun Sekunden. Er steckte Mi niaturklemmen auf bestimmte Kontakte. Fünf Sekun den. Ein winziger LED-Display leuchtete auf. Drei Sekunden. Die Zahlen wurden eine nach der anderen auf dem Display sichtbar. Eine Sekunde. Mit fliegen den Fingern tippte Danny die Zahlen ein. Die Alarm anlage schaltete sich ab. Er war drin. Das Lager hatte zwei Stockwerke. Das Erdgeschoss bildete die Lagerhalle, im Stockwerk darüber befanden sich die Büros. Danny zog seine starke Maglite-Taschenlampe her aus. Der Lichtkegel war schmal fokussiert, sodass we nig Streulicht entstand, aber doch erstaunlich hell. Dannys Puls ging schneller als gewöhnlich. Er ging durch eine Reihe kleinerer Räume und stieg eine Trep pe hinunter. Unten öffnete er eine Tür – vor ihm er streckte sich ein dunkler und offenbar sehr großer Raum: das eigentliche Lager. Der Lichtstrahl fiel auf eine große Kiste. »Super!«, sagte Danny halblaut und grinste erfreut. Er zählte zwanzig Kisten. Sie waren schätzungsweise zwei Meter lang und jeweils ein Meter breit und hoch. Auf den Seiten war die Aufschrift »Landwirtschafts maschinen« angebracht. 124
Alles war genauso, wie Fly es ihm geschildert hat te. Er blickte sich suchend nach einem Werkzeug um, mit dem er eine der Kisten öffnen konnte. Ihm war klar, dass er jetzt ein großes Risiko einging. Je länger er blieb, desto wahrscheinlicher war es, dass er er wischt wurde. Aber er musste wissen, was sich darin befand. Nach einigem Suchen fand er einen Hammer und einen starken Schraubenzieher. Mit ein paar kräftigen Schlägen trieb er den Schraubenzieher unter den Holz deckel und stemmte ihn auf. Die Kiste war bis zum Rand mit Styroporbällchen gefüllt. Danny schaufelte sie zur Seite. Darunter wurde ein langer, dunkelgrüner Metallgegenstand sichtbar, so dick wie das Ablaufrohr einer Regenrinne. Danny runzelte die Stirn und wühlte weiter. Nach dem er auf drei oder vier weitere Metallgegenstände gestoßen war, glaubte er sicher zu wissen, was er hier vor sich hatte: eine Art Granatwerfer. Er wandte sich einer anderen Kiste zu und stemmte den Deckel auf. Auch diese Kiste war randvoll mit Styropor gefüllt. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er sie beiseite schob. Die Kiste enthielt raketenähnliche Geschosse. Was er gesehen hatte, genügte ihm. Danny hatte keinen Zweifel mehr daran, dass Fly Recht gehabt hatte. Sorg fältig schloss er auch diese Kiste, drückte die Nägel, so gut es ging, mit der flachen Seite des Hammers hinein, 125
sodass nur noch zwei kurze Schläge nötig waren. Vor sichtig schlich er sich zum vorderen Teil der Lagerhal le und suchte die Wände nach einer Telefonbuchse ab. Als er eine gefunden hatte, öffnete er sie und platzierte darin die Wanze. Fünf Minuten später stieg er wieder in den Überwa chungswagen und setzte sich vor das Notebook. Er startete eine Suchmaschine im Internet und gab den Suchbefehl »Flugabwehrwaffen« ein. Nach ein paar Sekunden hatte er die ersten Ergebnisse auf dem Bild schirm. Schon auf der dritten angeklickten Seite fand er, was er suchte. »Das ist es!«, murmelte er aufgeregt. Auf dem Bild schirm waren Fotos eines Soldaten zu sehen, der ein Flugabwehrgeschütz auf der Schulter trug. Darunter befanden sich Detailaufnahmen des Geschützes und der Geschosse. »Das ist genau das, was Papa Terrorist seinen Kin dern zu Weihnachten schenkt«, sagte Danny erfreut zu sich selbst und schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir Leid, Jungs, aber Danny war schneller. Das Spiel zeug bekommt ihr nicht.«
Elephant and Castle Südost-London Maddie kam die Busfahrt zur Wohnung schier endlos vor. Das Haus lag weit im Südteil der Stadt. Endlich 126
stiegen sie in Elephant and Castle aus und gingen zu Fuß zu ihrem neuen Zuhause. Die leer stehende Wohnung lag im zweiten Stock eines langen, schmalen Wohnblocks aus trostlos grau em Beton, der an vielen Stellen bröckelnde Risse zeig te und teilweise in großen Stücken herausgebrochen war. Überall prangten knallbunte Graffiti auf den Au ßenmauern. Müll lag herum; es stank entsetzlich nach Urin und Hundefäkalien. Maddie sah auf die Uhr, als Alex den Schlüssel in die Wohnungstür steckte: 3.45 Uhr – um 8.00 Uhr mussten sie bereits wieder in Belsize Park sein, das im Nordwesten der Stadt lag. Sie seufzte leise. Wenn sie die Fahrzeit abzog, blieben ihr knapp zwei Stunden Schlaf. »Widerlicher Gestank«, stieß sie hervor, als sie die Wohnung betraten. Sie blickten sich um. »Wahrschein lich hat schon jahrelang niemand mehr hier drin ge lebt.« Alex warf ihr einen kurzen Blick zu. »Gelebt nicht – aber es stinkt so, als sei hier irgendetwas verwest …« »Unser Vormieter musste ja wohl etwas überstürzt ausziehen«, sagte Maddie langsam, während sie sorg fältig die alte Matratze untersuchte, die in einer Ecke auf dem Boden lag. »Heißt das, dass er hier …?« »Darüber sollten wir jetzt lieber nicht nachdenken«, empfahl Alex und stieß mit dem Fuß einen eingeschla genen Teppich an, sodass er sich aufrollte. Er roch 127
sofort, dass der Gestank von diesem Teppich ausging, noch bevor er die großen dunklen Blutflecken sah. Nachdenklich starrte er auf den Teppich. »Ali Baba«, bemerkte Maddie. »Wie bitte?«, fragte Alex. »Ali Baba«, wiederholte Maddie. »Unser Vormieter schwebte mit diesem Teppich aus der Wohnung. Nur saß er nicht drauf wie Ali Baba, sondern war darin eingerollt.« Alex nickte nachdenklich. »Da könntest du Recht haben«, meinte er. »Das Ding muss jedenfalls aus der Wohnung verschwinden.« Sie schafften den Teppich vor die Tür. Maddie riss alle Fenster weit auf, um die Wohnung auszulüften. Alex bückte sich und zog sein Handy aus der Socke. Es war höchste Zeit, die Zentrale zu kontaktieren. Sie hatten jede Menge Informationen. Eine halbe Stunde später lag Maddie vollständig be kleidet auf der schmalen, feuchten Matratze in einer Ecke des schmutzigen Schlafzimmers. Sie lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf. Eigentlich sollte sie sofort einschlafen – schließlich blieb ihr nicht viel Zeit: Es war bereits 4.30 Uhr. Doch sie fand keinen Schlaf. Sie hörte, dass sich auch Alex unruhig hin und her wälzte. Wahrscheinlich hatte auch er das Problem, einfach nicht abschalten zu können. Er hatte sich die 128
halb zerfetzten Polster einer alten Couch in einer Ecke des Wohnzimmers zusammengeschoben. Zu viel hatte sich heute ereignet: Maddies Gedan ken wirbelten wild durcheinander. Immer wieder ver suchte sie, die Informationen zu ordnen, die sie bislang gesammelt hatten. Sie in ein bestimmtes Muster zu bringen. Die Zusammenhänge zu erkennen. Den Sinn zu entdecken. Alex hatte bei seinem Anruf in der Zentrale erfah ren, dass das Haus in St. John’s Wood einem Milliar där aus Saudi-Arabien gehörte, der aber nur höchst selten dort wohnte. Susan Baxendale vermutete, dass es von einem Wohnungsmakler verwaltet und wahr scheinlich auch vermietet wurde. Die Beschreibung, die Maddie und Alex von Mr L durchgegeben hatten, führte zu keinem Ergebnis. Susan hatte erklärt, sie wolle das Haus eine Zeit lang observieren lassen. Aber Alex hatte Susan Baxendale noch mehr Fragen gestellt. Hatte PIC inzwischen Informationen über den bisherigen Boss der Autoschieberbande gefunden? Wann und wo war er ums Leben gekommen? Und wie? Doch auch darüber hatten sie noch nichts erfahren können. Vom Wohnzimmer hörte Maddie einen unterdrück ten Fluch. »Alex?«, rief sie. »Bist du wach?« »Ich nicht!«, kam es zurück, »aber die Viecher in meiner Matratze!« 129
Sie grinste in die Dunkelheit. »Ich kann nicht schla fen!« »Das liegt daran, dass du dauernd quasselst!«, knurr te Alex. Maddie überhörte ihn einfach. »Verdammt seltsamer Tag war das, findest du nicht?«, fragte sie. Alex stöhnte laut. »Hör mal, Maddie, hier piesacken mich die Wanzen. Aus dem anderen Zimmer nervt mich meine Kollegin mit Dauergeplauder. Morgens um vier, wohlgemerkt. Und morgen ist unser erster Tag im neuen Job. Wie soll ich da einen guten Ein druck machen, sag mal? Wir dürfen nicht völlig über nächtigt dort aufkreuzen. Schlaf also noch ein wenig, wenn du kannst.« Maddie blickte auf die Leuchtziffern ihrer Arm banduhr. »Wieso morgen?«, fragte sie. »Heute!« »Eben!«, fauchte Alex. »Jetzt schlaf endlich!« Er hatte Recht. Maddie seufzte, drehte sich zur Wand – und schlief schon bald danach ein.
Deptford Sonntag Zeit: 6.00 Uhr Danny rieb die übermüdeten Augen. Er hatte inzwi schen den Bewegungsmelder wieder aktiviert. Das frühe Morgenlicht war blass und die Schatten waren noch immer lang und tief. Er gähnte ausgiebig und streckte die Glieder, ließ aber die Monitore nicht aus 130
den Augen. Eine Dusche! Ein Königreich für eine Du sche! Und danach ein bequemes Bett, auf dem er sich voll ausstrecken konnte. Ein Auto fuhr vor dem Lagerhaus vor; zwei Männer stiegen aus und gingen rasch auf die Tür zu. Dieselben Männer, die er auch schon während der Nacht beo bachtet hatte. Sie verschwanden im Lagerhaus. Dannys Finger flogen über die Tastatur und die Kontrollschalter. Er lächelte. Die Schritte der beiden Männer hallten durch das Lager – und aus den Kopfhö rern hörte er alles klar und deutlich.
PIC-Zentrale Susan Baxendale gönnte sich im Ruheraum der Nacht bereitschaft ein paar Minuten Schlaf. Sie lag auf einer schmalen Pritsche und döste wie eine Katze – mit ei nem Ohr ständig wach, um schon beim ersten Klingeln des Telefons zu reagieren. Es klingelte genau um 6.19 Uhr. Danny meldete sich, er rief vom Überwachungswa gen an. »Hier tut sich was«, sagte er. »Zwei Männer sind kurz nach sechs Uhr ins Lager gegangen. Um 6.10 Uhr erhielten sie einen Anruf. Offenbar hat ihnen der Gene ral befohlen, den Inhalt der Kisten zu überprüfen, be vor sie weitertransportiert werden. Um die Mittagszeit will er selbst herkommen.« 131
»Verstanden«, bestätigte Susan Baxendale knapp. Sie war jetzt hellwach. »Ich werde ein Team hinschi cken. Es steht unter Ihrem Kommando, Danny. Sie sollten jetzt aber zuerst einmal eine Pause machen – Sie sind längst überfällig.« »Aber …«, protestierte Danny. Schließlich wollte er sich doch nicht im spannendsten Augenblick ins Bett schicken lassen! »Kein Aber!«, unterbrach ihn Susan Baxendale scharf. »Übermüdete Agenten machen Fehler und ge fährden die gesamte Aktion. Ich schicke Gina zu Ih nen, um Sie abzulösen.« Danny wusste, dass es zwecklos war, sich ihr zu widersetzen. Susan Baxendale hatte einen eisernen Willen. »Fly hatte Recht«, sagte er. »Dort im Lager befindet sich eine ganze Lieferung von Flugabwehrraketen und Abschussgeräten. Ich habe sie selbst gesehen. Und im Internet habe ich dann Bilder und technische Beschrei bungen des ganzen Waffensystems gefunden. Alles passt genau. Es sind wirklich ziemlich schwere Ge schütze.« Einen Augenblick lang herrschte eisiges Schweigen. »Sind Sie noch dran?«, fragte Danny. »Oh ja, ich bin noch dran«, antwortete sie leise und mit sehr gefährlichem Unterton. »Und jetzt will ich von Ihnen nur eins wissen: Sind Sie etwa in das Lager gegangen, Danny?« 132
Danny schluckte. Verdammt!, dachte er, wütend über sich selbst. Wie konnte er sich so verraten? Zö gernd stieß er hervor: »Äh – ja.« Susans Stimme klang ätzend. »Sie haben sich über einen Befehl hinweggesetzt.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Hm, scheint so«, murmelte Danny. »Aha, es scheint ihm so«, sagte Susan wie im Selbstgespräch. Nach einer kurzen Pause fügte sie hin zu: »Über diese Sache reden wir morgen früh mitein ander. Jetzt müssen wir uns auf Wichtigeres konzent rieren.« Danny hörte Papier rascheln. »Ich notiere mir jetzt ein paar Details über das Lager, Danny«, sagte sie sachlich. »Zahl und Lage der Eingänge, Größe des Gebäudes und so weiter. Wie viele Agenten brauchen Sie für den Einsatz?« »Oh – ungefähr ein Dutzend, wenn wir auf Nummer Sicher gehen wollen«, meinte Danny. »Ich werde es veranlassen«, sagte Susan knapp. Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: »Danny – sobald die Operation abgeschlossen ist, kommen Sie in mein Büro. Ich möchte mit Ihnen über Ihre Einstellung ge genüber Anweisungen sprechen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein, Madam«, sagte Danny und verdrehte die Augen. »Ich freue mich auch darauf, Danny«, meinte Susan Baxendale kühl. 133
Belsize Park NW3 Haverstock Hill Peacocks Autohandlung Die breiten Schaufenster der Autohandlung erstreckten sich über einen halben Straßenblock an der nordöstli chen Seite der Straße. Hinter den Schaufenstern glit zerten Glas und Chrom – eine Reihe von Luxusautos wurden zum Verkauf angeboten: Autos von RollsRoyce, Bentley, BMW, Mercedes, Ferrari, Porsche. In den hochglanzpolierten Karosserien spiegelte sich die Morgensonne. Alex und Maddie betraten die vornehmen Verkaufs räume. Sie hatten in ihren Kleidern geschlafen; an Stel le einer Morgendusche hatten sie sich lediglich etwas kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Außeneinsätze konnten ziemlich unhygienisch sein. Ein elegant gekleideter Verkäufer kam auf sie zu, trat aber gleich wieder ein paar Schritte zurück, als er in ihren Dunstkreis geriet. Er hob sofort abwehrend die Hände und wollte sie zum Ausgang weisen. Alex er klärte ihm, dass sie zu Mr Mortimer wollten. Er führte sie zu einer Schwingtür in der hinteren Wand des Ver kaufsraums. »Die Treppe hinunter«, sagte er und wies auf das Treppenhaus, wobei er keinen Hehl aus seiner Ab scheu machte. »Und wenn Sie noch mal hier zu tun 134
haben, werden Sie das Gebäude durch den Hinterein gang betreten, und zwar desinfiziert. Ist das klar?« Maddie zeigte ihm den erhobenen Mittelfinger, als sie an ihm vorbeischlurfte. Sie stiegen die Treppe hin unter, die düster war und auf deren Wänden sich Feuchtigkeitsflecken gebildet hatten. Ein Stockwerk tiefer endete die Treppe vor einer weiteren Doppeltür, die aber verschlossen war. Daneben befanden sich ein Klingelknopf und eine Co de-Tastatur, mit der sich die Tür öffnen ließ. Maddie drückte auf den Klingelknopf. Es verging ein Augenblick, dann wurde die Tür von einem Mann in ölverschmiertem Arbeitsanzug geöff net. Während er sie von oben bis unten musterte, blick ten sie über seinen Kopf hinweg in eine Halle mit rie sigen Ausmaßen – schon von der Tür aus konnten sie sehen, dass sie mindestens zweimal so groß war wie Joe Davies’ – ehemalige! – Fabrik in Clerkenwell. Der Mann führte sie zu einem Büro und klopfte an die Tür. Mortimer saß am Schreibtisch und telefonierte. Er winkte sie herein und wies auf die Stühle, die vor dem Schreibtisch standen. Maddie blickte sich um. Das Büro war nicht sehr groß, aber sauber. Es herrschte pedantische Ordnung. Der Schreibtisch war tadellos aufgeräumt. Mortimers Benehmen, seine Kleidung, seine Ausdrucksweise waren von penibler Korrekt heit. 135
Mortimer beendete das Gespräch, blickte kurz auf die Uhr an der Wand – eine antike runde Schiffsuhr aus poliertem Messing – und lächelte. »Fünfzehn Mi nuten zu früh«, stellte er fest. »Das gefällt mir. Es ist ein erster Hinweis darauf, dass Sie die Sache mit Begeisterung angehen.« Maddie verdrehte die Augen. Konnte sich der Mann nicht etwas weniger geschwollen ausdrücken? Aber das war wohl Bestandteil der Show, die er seiner Um welt vorspielte. Wahrscheinlich führte dieser Gangster ein spießbürgerliches Leben, wohnte in einem gedie genen Vorort, war Mitglied im Kirchenvorstand. Aber trotzdem führte nichts daran vorbei, dass er ein Gangs ter war. Und ein äußerst gefährlicher dazu. »Wir haben uns viel Zeit genommen«, sagte Alex. »Wir dachten, dass wir vielleicht durch den Straßen karneval aufgehalten würden.« An diesem Wochenende fand der traditionelle jähr liche Straßenkarneval in Notting Hill statt. Bis zu zwei Millionen Zuschauer wurden erwartet. An beiden Ta gen würde der Verkehr in großen Teilen von Westlon don völlig zum Erliegen kommen. Mortimer schüttelte den Kopf. »Der Karneval be trifft uns hier nicht.« Er stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und rieb die Hände. »Nun denn: Was soll ich mit Ihnen anfangen?« »Wir klauen Autos«, mischte sich Maddie grob ein. »Was glauben Sie denn? Dass ich mich mit dem Ste 136
noblock auf Ihren Schoß setze?« Sie lachte kurz und verächtlich. Mortimer lächelte schwach bei der Vorstellung, dass sich diese übelriechende Straßenkatze auf seinen Schoß setzen könnte. Die spezifische Duftnote seiner Besucher hatte in zwischen sogar Mortimers elegantes Aftershave über wältigt; angewidert stand er auf und schaltete ein klei nes, leises Gebläse ein. Die Luft wurde etwas besser. »Wie gefällt Ihnen die Wohnung?«, fragte er beiläu fig. »Ganz gut«, antwortete Alex höflich. »Wir …« »Sie stinkt wie eine Müllkippe«, fuhr Maddie grob dazwischen, »und zwar nach verwesendem Fleisch.« Mortimer hob die Augenbrauen. Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen. »Tatsächlich? Das wundert mich aber. Ihr Vormieter ist doch restlos … wie soll ich es ausdrücken?« »Beseitigt worden?«, schlug Maddie vor. Mortimer starrte sie einen winzigen Augenblick an, nicht ohne Respekt, wie Alex schien. Aber er sah auch ein leichtes Misstrauen aufflackern. Er beschloss, Mad die bei der nächsten passenden Gelegenheit zu warnen: Leute wie Mortimer durfte man nicht unterschätzen. Doch Mortimer lachte schallend. »Wo denken Sie hin?«, stieß er schließlich hervor. »Wir sind doch kein Bestattungsunternehmen!« Doch dann wurde er wieder ernst. 137
»Sie beide haben einen guten Eindruck auf den Chef gemacht«, sagte er langsam. »Ich bin zwar nicht sicher warum, aber er wird schon seine Gründe ha ben.« Jetzt fasste er Alex ins Auge. »Er wird uns übrigens am heutigen Nachmittag ei nen Besuch abstatten. Dabei würde er sich gerne von Ihnen zeigen lassen, wie Sie bei unseren Autos hier in der Halle die High-Tech-Alarmanlagen außer Betrieb setzen.« Kälte stieg plötzlich in Maddie auf. Das konnte sehr gefährlich werden. Alex wusste zwar einiges darüber, wie man normale Anlagen ausschaltete, in Autos ein brach und die Zündung kurzschloss, aber High-TechAlarmanlagen … Doch sie ließ sich ihre Unruhe nicht anmerken und starrte Mortimer gelangweilt an. Auch Alex hatte sich unter Kontrolle. »Kein Prob lem«, sagte er so gelassen wie möglich und hoffte, dass auch seine Stimme entsprechend selbstbewusst klang. »Wann kommt er?« »Das habe ich Ihnen schon gesagt: heute Nachmit tag«, sagte Mortimer leicht ungehalten. »Sie gehen jetzt beide zu Peter – das ist der Gentleman, der Sie hier in mein Büro gebracht hat. Er wird Ihnen Arbeit zuweisen.« Er nickte ihnen kurz zu. Das Gespräch schien beendet, doch dann fügte er noch hinzu: »Oh, übrigens: Hier bei uns gibt es drei wichtige Regeln, die Sie sich unbedingt gut einprägen sollten. Regel eins: Tun Sie immer genau das, was Ih 138
nen gesagt wird. Regel zwei: Verlassen Sie niemals ohne Erlaubnis die Halle. Regel drei: Stellen Sie keine Fragen.« Er stand auf und nickte zur Tür. Die Audienz war zu Ende. Peter war tief in den Motorraum eines Rolls-Royce Corniche gebeugt. Als sie zu ihm hinübergingen, flüs terte Alex Maddie ins Ohr: »Wenn Mr L kommt, flie gen wir auf. Wir haben wahrscheinlich nicht viel Zeit. Wenn sie uns jetzt trennen, versuchst du, so viel wie möglich über Mr L herauszufinden. Wer er ist und wo er lebt, wenn er nicht in St. John’s Wood ist.« Maddie nickte. Auch ihr war klar, dass sie jetzt sehr schnell arbeiten mussten. Maddie Brown und Alex Smith aus Southend würde es wahrscheinlich nicht mehr lange geben.
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Zwöl ftes Kapitel Alex’ Kopf steckte unter der offenen Motorhaube eines feuerroten Maserati 3200 T Assetto Corsa. Er feilte die Motornummer weg. Das war eine der wichtigsten Ar beiten, die zu tun waren, um ein gestohlenes Fahrzeug für den Weiterverkauf vorzubereiten. Neben Alex lehnte ein grauhaariger Mann gegen den vorderen Kotflügel und schaute ihm zu. Er war extrem mager – Alex hatte sofort an eine Stabheu schrecke gedacht, als er ihn zum ersten Mal sah. Der Monteursanzug hing schlaff an seinen Knochen. Die Stabheuschrecke hörte auf den Namen Kenny. Der Mann war schon gut in den Sechzigern und seine Gesichtshaut war wettergegerbt und tief zerfurcht – die Haut eines Reptils. Kennys Aufgabe war es, den Bo den der Werkhalle so sauber wie möglich zu halten. Kenny stützte sich auf seinen Besen und ließ einen Wortschwall über Alex niedergehen. Innerhalb weni ger Minuten hatte Alex bereits erfahren, dass Kenny in seinem Leben nur zwei Existenzformen kennen gelernt hatte: Entweder saß er im Gefängnis (die meiste Zeit seines Lebens) oder er befand sich in Freiheit und riss 140
irgendeine faule Sache auf, sodass er bald wieder im Gefängnis landete. »Du kennst dich wohl gut mit Autos aus, Alex?«, fragte Kenny und spuckte auf den Boden. Alex blickte erstaunt auf. Seit einer halben Stunde hatte Kenny nur über sich selbst geredet. Jetzt stellte er plötzlich eine Frage. »Es geht«, antwortete er vorsichtig. Kenny ließ die Hand über den hochglänzenden ro ten Kotflügel gleiten. »Wunderschönes Auto, das hier«, sagte er. »Säuft wahrscheinlich ziemlich viel. Was meinst du?« Alex wurde misstrauisch. Es konnte gut sein, dass Kenny zu ihm geschickt worden war, um ihm ein we nig auf den Zahn zu fühlen. »Der Wagen geht von 0 auf 100 in 5,12 Sekunden«, legte Alex los. »Höchstgeschwindigkeit 300 Stunden kilometer. Er hat Bilstein-Stoßdämpfer und Spezial bremsbeläge.« Alex richtete sich auf und schlug die Motorhaube zu. »Die Farbe wird Rosso Mondiale ge nannt.« Er baute sich vor Kenny auf und grinste ihm direkt ins Gesicht. Kenny lachte und entblößte seine gelben Zähne. »Du kennst dich mit Autos aus, Alex«, gab er zu. »Okay, dann weißt du es jetzt«, sagte Alex und ließ den Alten stehen. Er hoffte inständig, dass Kenny nicht auf die Idee kam nachzuschauen, ob der Maserati wirk lich Bilstein-Stoßdämpfer hatte. 141
In Mortimers Büro läutete das Telefon. Er hob ab und hörte ein paar Sekunden lang zu, während er langsam aufstand. Dann lächelte er und sagte: »Jawohl, Sir. Danke, Sir, dass Sie mich informiert haben. Ja, ich denke schon, dass das ein guter Schachzug war, Sir. Wir hätten Harry ohnehin nie mehr vertrauen können.« Eine kurze Pause. »Ja, Sir, die beiden sind hier. Seit heute früh. Peter hat sie mit Arbeit versorgt. Rufen Sie von zu Hause aus an? Falls ich Sie später kontaktieren muss. Gut. Sir. Sie werden beide hier sein, wenn Sie kommen. Nein, ich glaube nicht. Aber falls sie Prob leme machen, kümmert sich Raymond um sie. Auf Wiederhören, Sir.« Er legte auf, ließ sich langsam in den Sessel zurücksinken und legte die Hände vor sich auf den Schreibtisch. Sie zitterten leicht. Telefonge spräche mit dem Boss hatten Mortimer schon immer nervös gemacht. Doch jetzt – nach diesem Anruf – hatte er Angst. Das Wasser der Themse floss langsam unter der Vaux hall Bridge hindurch – wie seit undenklichen Zeiten. Von der Mitte des Flusses klangen Schiffshörner her über. Die Themse war seit vielen Jahrhunderten die Lebensader Londons – doch heute trug sie auch, wie schon so oft, den Tod mit sich. Ein Körper trieb im Wasser, das Gesicht nach un ten. Von der Flussmitte näherte sich ein Polizeiboot. Es kam rasch näher; der Motor wurde gedrosselt. Ein 142
Polizeibeamter beugte sich mit einem Enterhaken weit über die Reling. Boot und Körper trieben aufeinander zu. Der Haken griff in die Kleidung des Ertrunkenen. Der Polizist zog ihn zum Heck; ein Kollege war ihm behilflich, den Körper an Bord zu ziehen. Sie legten ihn auf das Deck und drehten ihn um. Und sahen mit einem Blick, dass dieser Mann nicht ertrunken war. Seine Kehle war durchgeschnitten wor den. Rache ist süß – aber nur, wenn der Rächer lange ge nug lebt. Harry Green jedenfalls hatte seine Rache nicht lan ge auskosten dürfen. Alex war angewiesen worden, die Reifen eines Ferrari zu wechseln. Seither war Kenny ihm nicht von der Seite gewichen. Er fegte den Boden ringsherum – zum dritten Mal, seit Alex mit dem Reifenwechsel begon nen hatte. Alex grinste in sich hinein, als er den Elektroschrauber ansetzte, um das vierte Rad abzu montieren. Er beschloss, eine kleine Pause einzulegen und Kenny ein bisschen auszuhorchen. Nur – womit sollte er beginnen? Schon vor einer halben Stunde war sein Blick auf einen gelben Bentley Continental T ge fallen, der in einer der Werkbuchten stand. Alex hütete sich, Kenny merken zu lassen, dass dieser Wagen für 143
ihn eine besondere Bedeutung hatte. In ganz London mochte es keinen zweiten gelben Bentley dieser Bau reihe geben. Es bestand also kaum ein Zweifel, dass es derselbe Bentley war, der in der Akte Fraser erwähnt wurde. Er wischte sich die Hände an einem Stofflappen ab. Er musste die Sache ganz cool angehen, damit Kenny nichts merkte – denn der Alte mochte zwar wie ein Insekt aussehen, aber er hatte jedenfalls mehr Hirn als eine Heuschrecke. »Super geile Karosse, dort drüben«, sagte er beiläufig und wies mit einer Kopfbewegung auf den Bentley. »Für Bentleys hatte ich schon immer eine Schwäche. Könnte mir eigentlich einmal einen Continental T beschaffen«, grinste er. »Für eine kleine Spritztour.« Er schlenderte zu dem Bentley hinüber. Kenny folgte ihm, wobei er den Besen hinter sich herschleppte. »Gehörte einem Burschen, der mal hier gearbeitet hat«, sagte Kenny. »Fraser hieß er. Cleverer Bursche. Vielleicht zu clever. Aber jedenfalls hatte er Stil, wenn du weißt, was ich meine. Für den war nur das Beste gut genug. Trug nur Edelklamotten. Gute Familie, war im Internat aufgewachsen und so, aber irgendwann fing er an, ein paar Dinger zu dre hen.« Kenny schüttelte weise den Kopf. »Und dann?«, fragte Alex, während er mit bewun derndem Blick um den Bentley herumging, die Türen öffnete und die Ledersitze befühlte. 144
»Fraser ging solo. Mr Mortimer spuckte Gift und Galle, als er davon erfuhr.« »Versteh ich nicht. Was hat Fraser denn gemacht?« »Hab ich doch gesagt: Fraser machte sich selbst ständig, kapiert? Gründete eine Konkurrenzfirma. Ist ja keine besonders gute Idee, wenn man sich ein langes Leben wünscht.« Kenny kicherte leise. »Was ist dann mit ihm passiert?«, fragte Alex un schuldig, während er die Motorhaube des Bentley öff nete und den Motor betrachtete. Kenny runzelte die Stirn. »Ich hab’s auch nur ge rüchteweise gehört. Mr Mortimer soll ein paar Jungs losgeschickt haben, die ihm zur Warnung eine Abrei bung verpassen sollten. Sie sollten auch sein Vehikel mitnehmen, den Bentley. Nur zur Warnung, verstehst du? Aber irgendwas ging schief, gründlich schief. Mr Fraser hatte plötzlich eine Kugel im Kopf. Mausetot.« »Tot?«, tat Alex erstaunt. »Vielleicht waren die Jungs ein wenig zu eifrig?« Kenny schüttelte den Kopf. »Die waren es nicht, nein, nicht die Jungs. Die waren kein Killerkommando. Hatten ja nicht mal das richtige Werkzeug dabei. Fra ser kriegte die Kugel von jemand anders.« Alex wollte nicht weiter in dieser Richtung fragen. Das konnte Kenny misstrauisch machen. So bückte er sich und blickte ins Innere des Bentley. »Hast du die Ledersitze gesehen, Mann?«, fragte er ehrfürchtig. »Die kosten allein schon ein Vermögen!« 145
Er richtete sich wieder auf und tat so, als sei ihm eben etwas anderes aufgefallen. »Übrigens: Was pas siert eigentlich mit den persönlichen Sachen, die sonst so in den Autos herumliegen? Brieftaschen oder Ka meras und so weiter?« »Kommt drauf an, was es ist«, gab Kenny zur Ant wort. »Den Bentley musste ich ausräumen, als er gelie fert wurde. Da war nix Besonderes drin, das übliche Zeug eben. Hab’s dort drüben hingeworfen.« Er wies auf eine Werkbank an der Wand und bohrte dann mit dem Zeigefinger im Ohr, während er nachdachte. »Ein Aktenkoffer war noch dabei, den hatte einer von den Jungs mitgenommen. Ich dachte, dass da ein Laptop oder Handy drin gewesen sein könnte.« »Und? War ein Laptop drin?« »Nein, auch kein Handy. Nur ’ne Menge Papiere. Fraser war Beamter oder so was Ähnliches.« Papiere? Alex musste unbedingt einen Blick in den Aktenkoffer werfen. Kenny war inzwischen noch etwas eingefallen. »Oh, und ein Computerspiel war noch drin. Weiß ich noch genau, weil es einen komischen Namen hatte, Nemesis 3000. Das wollte niemand haben, also hab ich es einer Freundin von mir gegeben, Norma. Sie handelt nämlich mit dem Zeug, zweiter Hand, verstehst du. Prima Mädchen und völlig sauber.« »Und sie handelt mit Computerspielen?«, fragte Alex interessiert. »Ist nämlich mein Hobby.« 146
Kenny nickte. »Sie hat einen eigenen Laden für Elektronik. An- und Verkauf. In der Chalk Farm Road.« Jemand brüllte nach Kenny. Öl war ausgelaufen, und Kenny musste es aufwischen. Alex glitt unbemerkt zu der Werkbank. Der Akten koffer lag noch da, und Alex öffnete ihn. Ein paar braune Mappen, wie sie in Büros und Behörden ver wendet wurden. Darin waren Dokumente abgeheftet, die den offiziellen Briefkopf des Verteidigungsministe riums trugen. Abteilungsinformationen und Verord nungen. Nichts, was für die Klärung des Falles wichtig gewesen wäre. Alex gab sich noch nicht geschlagen. Mit geübten Fingern tastete er die Seidenverkleidung des Aktenkof fers ab. Er suchte nach Geheimfächern oder -taschen. Er fand nichts. Schnell zog er sich wieder zurück, denn er wollte nicht dabei erwischt werden, wie er die Ge genstände untersuchte, die mit dem Bentley geliefert worden waren. Er musste jetzt seine Informationen ordnen. Jack Coopers Kontaktperson im Verteidigungsministerium war überzeugt gewesen, dass sich in diesem Aktenkof fer irgendwelche Informationen befinden mussten. Alex hatte nichts gefunden. Kenny hatte erklärt, es sei nur ein Computerspiel aus dem Koffer genommen worden – eine CD-ROM mit dem Spiel »Nemesis 3000«. Gab es eine bessere 147
Möglichkeit als eine Computer-CD, um wichtige Da ten zu verstecken? Vielleicht waren auf ihr Informatio nen gespeichert, mit denen der britische Arm von Hyd ra aufgedeckt werden konnte. Das würde bedeuten, dass sich in der Operation Hubcap plötzlich und uner wartet eine neue Richtung auftat. Alex musste diese CD unbedingt haben. Maddie räumte die Regale auf. Die Schachteln und Behälter mit Werkzeugen, Ersatzteilen, Schrauben und Muttern waren nach einem bestimmten System einzu ordnen, damit niemand lange suchen musste. Nachdem sie das einfache Ordnungsprinzip begriffen hatte, wur de die Arbeit ziemlich langweilig. Aber das machte ihr nichts aus – die Regale standen nicht allzu weit von Mortimers Büro entfernt. Sie konnte die Tür genau im Auge behalten. Im Moment stand sie halb offen, so konnte sie sogar teilweise verstehen, was im Büro ge sprochen wurde. Sie hörte zu, als Mortimer mit einer Person telefo nierte, die er ständig unterwürfig mit »Sir« ansprach. Über eine Bemerkung Mortimers dachte sie lange nach: Ja, ich denke schon, dass das ein guter Schach zug war, Sir. Wir hätten Harry ohnehin nie mehr ver trauen können. Besonders der zweite Satz klang sehr seltsam – sol che Formulierungen verwendete man doch nur, wenn man mit einer Person nichts mehr zu tun haben wollte. 148
Oder wenn man mit dieser Person nichts mehr zu tun haben konnte – etwa, weil es sie nicht mehr gab? Mad die lief es heiß und kalt über den Rücken. Was war mit Harry Green geschehen? Aber noch heißer wurde ihr, als sie über die weite ren Sätze nachdachte, die sie gehört hatte: Aber falls sie Probleme machen, kümmert sich Raymond um sie. Wen hatte Mortimer damit gemeint? Maddie brauchte nicht viel Fantasie aufzuwenden, um die Antwort zu finden – Mortimer hatte die Prob leme gemeint, die sie und Alex ihm bereiten konnten. Die Erinnerung an Raymonds Messer an ihrer Kehle ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Auf der gege nüberliegenden Seite der Werkhalle sah sie Alex. Er unterhielt sich mit einem ausgesprochen dünnen Men schen, der sich auf einen Besen stützte. Auf jeden Fall musste sie Alex ein Zeichen geben und ihn warnen. Wenn ihre Vermutung stimmte, dass Harry Green tot war, dann befanden sie sich jetzt in weit größerer Ge fahr, als sie bisher angenommen hatten. Jetzt durfte nichts mehr, absolut gar nichts mehr geschehen, das die Autobande misstrauisch werden lassen könnte. Maddie konzentrierte sich eisern auf ihre Arbeit und blieb Mortimers Büro so nahe wie möglich. Aber Mor timer erhielt keine weiteren Telefonanrufe. Die Zeit tröpfelte dahin und Maddie wurde immer unruhiger. Ihre einzige Hoffnung war jetzt, dass Mor timer irgendwann sein Büro verließ. Ein paar Minuten 149
würden ihr genügen, um hineinzuschleichen und sich ein wenig umzusehen. Lange Zeit rührte sich nichts. Doch schließlich ging ihr Wunsch in Erfüllung. Mortimer kam aus dem Büro und ließ die Tür halb offen stehen. Das konnte nur be deuten, dass er nicht sehr lange wegbleiben und sich auch nicht weit entfernen würde. Tatsächlich ging Mortimer zur Mitte der Halle, wo Peter, der Vorarbei ter, an einem roten Porsche Carrera arbeitete. Sie gin gen zusammen in den hinteren Teil der Halle. Maddie bückte sich rasch, als sei sie damit beschäf tigt, die unteren Regalböden aufzuräumen, dann husch te sie geduckt durch Mortimers offene Tür. Sie blickte sich um, dann nahm sie den Telefonhö rer in die Hand. Mortimers Gespräch hatte sie ent nommen, dass Mr L von zu Hause angerufen hatte. »Wollen doch mal sehen, ob wir die Nummer nicht herausfinden können«, murmelte Maddie. Sie schob das linke Hosenbein ihrer Jeans hoch, zog den Tele fondecoder aus der Socke und presste ihn auf das Mundstück des Telefonhörers. Dann drückte sie auf eine Taste an der Seite des Decoders. Mehrere Töne in unterschiedlicher Höhe waren zu hören. Maddie hielt den Hörer an ihr Ohr. Es funktionierte. Maddie hörte, es war keine Londoner Vorwahl. Sie prägte sich die gesamte Nummer fest ein, dann legte sie den Hörer leise wieder in die Telefonschale zurück und schlüpfte aus dem Büro. Jetzt erst merkte sie, dass 150
ihr Puls raste. Aber sie hatte es geschafft: Sie hatte Mr L’s Telefonnummer herausgefunden. Jetzt würde es kein Problem mehr sein, seinen vollen Namen und die Adresse herauszufinden. Aber zuerst mussten sie schnellstens weg von hier. Maddie schaute sich nach Alex um. Aber Alex war verschwunden.
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Dreizehntes Kapitel Alex sah sich kurz nach Maddie um, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Er hatte jetzt keine Zeit, nach ihr zu suchen, sondern musste die Gelegenheit ergrei fen, die sich ihm bot – später würde er ihr alles erklä ren. Er hatte einen Hinterausgang entdeckt, den Mor timer von seinem Büro aus nicht sehen konnte, einen der Notausgänge, die nur von innen zu öffnen waren. Er blickte sich vorsichtig um, öffnete eine Hälfte der Doppeltür gerade so weit, dass er durch den Spalt schlüpfen konnte, und steckte einen Schraubenschlüs sel zwischen die Türen, sodass sie sich nicht völlig schließen konnten. Die kurze Strecke zur Chalk Farm Road joggte er in zwei Minuten. Normas Elektroladen war nicht schwer zu finden. Schon das Schaufenster ließ ahnen, wie es im Laden aussehen würde: In der Auslage herrschte ein einziges Durcheinander von gebrauchten Elektrogeräten und Ersatzteilen – von Toastern über elektrische Zahnbürs ten bis hin zu Massagegeräten und Videorekordern. Leise trat Alex ein. Im Laden wurde fast jeder 152
Quadratmeter für Regale genutzt, auf denen sich die Elektrowaren stapelten. Die Gänge zwischen den Re galen waren sehr eng und vom Eingang her war die Verkaufstheke nicht zu sehen. Alle Preisschilder waren handgeschrieben, und an fast jedem Regal hingen Werbesprüche. »Tiefstpreis!«, schrie ein knallrotes Schild, »Unter Norma liegt keiner!«, »Sonderangebot des Jahrhunderts!« … Der Gang durch den Laden glich einem Slalomlauf – endlich erreichte er den Tresen. Hier saß eine Frau in mittlerem Alter auf einem Barhocker. Das rot gefärbte Haar hing in wilden Locken um ihr Gesicht, die Lip pen waren dunkelrot geschminkt und die Augen wur den von kräftigem silbernem Lidschatten niederge drückt. Sie trug ein sehr enges und nicht allzu sauberes weißes T-Shirt und einen sehr kurzen schwarzen Mini rock aus Leder. In der linken Hand hing eine Zigarette, die sie wohl vergessen hatte, denn die Asche war fast zwei Zentimeter lang. Sie war völlig in einen Zei tungsartikel versunken. Alex räusperte sich höflich. Die Frau zuckte zu sammen und wäre vor Schreck beinahe vom Barhocker gefallen. »Mein Gott!«, keuchte sie und fasste sich an die Kehle. »Nein, bin ich nicht!«, grinste Alex. »Haben Sie mich erschreckt!«, sagte sie wütend. »Schleichen Sie sich immer so leise in die Läden?« 153
»Ich bin ganz normal hereingekommen«, verteidigte sich Alex. »Sind Sie Norma?« Sie musterte ihn misstrauisch. »Bulle oder Abzo cker?«, fragte sie mit aggressivem Unterton. »Wie bitte?« »Sind Sie Polizist oder von der Steuerfahndung?« »Weder noch«, sagte Alex beruhigend, worauf sie erleichtert aufseufzte. »Ich suche nach Computerspie len. Haben Sie welche?« »Kommt drauf an, was Sie suchen.« Sie wies auf einen großen Karton, der am anderen Ende des Tresens stand. »Alles gute Sachen«, sagte sie und schaute ihm zu, während er schnell durch die CD-Behälter im Kar ton blätterte. Er fand nichts. »Ist das alles, was Sie haben?«, fragte er. »Ich suche nach einem bestimmten Spiel. Nemesis 3000.« »Da läutet irgendwo ein Glöckchen«, meinte sie nachdenklich. »Das kam vor ein paar Tagen rein – aber Sie sind zu spät gekommen …« »Wissen Sie noch, wer es gekauft hat?« Normas Blick wurde wieder misstrauisch. Alex grinste. »Es ist okay«, erklärte er. »Ich arbeite für Mr Mortimer.« Den nächsten Satz betonte er ganz beson ders. »Ich arbeite unten, wenn Sie wissen, was ich meine.« Norma sah erleichtert aus. Vertraulich lehnte sie sich über den Tresen. »Die Polente schnüffelt dauernd 154
nach Diebesgut, Hehlerwaren und pornografischen CDs. Die führen sogar verdeckte Ermittlungen durch. Wissen Sie, was ich meine?« Alex lachte ein wenig zu laut. Und ob er das wuss te! »Kennen Sie den?«, fragte er, um Norma abzulen ken. »Beim Kreuzverhör fragt der Verdächtige: ›Kann ich eine Zigarette bekommen?‹« Alex ahmte eine bar sche Polizistenstimme nach: »Sie halten den Mund! Die Fragen stelle ich!« Norma lachte und entspannte sich sichtlich. »Ich hab das Spiel an den Jungen vom Boss verkauft«, ver riet sie. »Jason heißt er – der Junge, meine ich. Er hat nur Computerspiele im Kopf.« Sie zwinkerte Alex verschwörerisch zu. »Und schließlich kann es nicht schaden, sich gut mit dem Boss zu stellen, oder?« »Nein, das kann nicht schaden«, stimmte Alex zu. Der Boss? Meinte sie Mortimer oder Mr L? »Warum sind Sie so scharf auf das Spiel, mein Jun ge?« Norma schien ihn jetzt erst richtig zu bemerken. Sie schaute ihn von oben bis unten an, und was sie sah, schien ihr zu gefallen. »Ist was Besonderes an dem Spiel?« »Nein«, antwortete eine Stimme hinter ihnen. »Es ist überhaupt nichts Besonderes an dem Spiel.« Alex wirbelte herum. In seinem Kopf schrillten au genblicklich sämtliche Alarmglocken. Mortimer trat hinter einem Regal hervor – offenbar hatte er Alex 155
verfolgt. Alex konnte kaum glauben, dass er einen sol chen Fehler begangen hatte. Hatte er sich wirklich so sicher gefühlt, dass er sich nicht ein einziges Mal um gesehen hatte? Mortimer kam langsam auf Alex zu und blieb direkt vor ihm stehen. Seine Augen glitzerten bösartig. Alex schwieg. Schließlich brach Mortimer das angespannte Schweigen. »Würden Sie mir freundlicherweise erklä ren, warum Sie hier herumschnüffeln und die Leute ausfragen?« Maddie hatte keine Ahnung, wohin Alex verschwun den war. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, was sie tun sollte, doch dann entdeckte sie den Alten und schlen derte lässig zu ihm hinüber. »Hey! Ich bin Maddie!« Kenny nickte. »Schon gehört. Du und dein Freund, ihr seid neu hier.« Er wischte die Nase am Ärmel ab. »Ich heiße Kenny. Bin hier eine Art Staubsauger.« Maddie lachte. »Weißt du, wo mein Freund ist?«, fragte sie. »Der hat sich mal kurz abgeseilt, glaub ich«, ant wortete der Alte und zwinkerte mit dem Auge. »Wird froh sein müssen, wenn ihn Mortimer nicht erwischt.« »Wieso? Was meinst du damit?« »Ich hab gesehen, wie dein Macker durch den Hin 156
tereingang davongeschlichen ist.« Kenny zwinkerte wieder. »Er kennt Kenny nicht, dein Alex. Ich verpasse nämlich nicht viel.« Er zog geräuschvoll die Nase hoch. »Und Mortimer verpasst genau so wenig. Er hat ihn nämlich auch gesehen und ist hinter ihm her.« »Wohin geht denn die Tür?«, fragte Maddie unge duldig. »Zu einem Tunnel ins Erdgeschoss.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht wollte er sich nur ein wenig in Normas Laden umschauen.« »Normas Laden?« Maddie sah ihn verblüfft an. »Was für ein Laden ist das?« Mortimer betrachtete Alex mit eisigem Blick. »Jetzt erklären Sie mir endlich, was Sie hier zu suchen haben!« Alex hielt dem Blick stand. »Hab mir eine Pause gegönnt«, sagte er lässig. »Hatte schon von diesem Laden gehört und wollte mich mal umschauen.« Er breitete mit unschuldiger Miene die Arme aus. »Ist doch wohl nicht verboten, oder?« »Ich habe Ihnen die Regeln sehr genau erklärt«, sagte Mortimer. »Ich erwarte, dass die Mitarbeiter um Erlaubnis bitten, wenn sie sich vom Arbeitsplatz ent fernen wollen.« »Hab ich vergessen«, gestand Alex. »Nächstes Mal denk ich daran, okay?« Er machte einen Schritt vor wärts, als wollte er gehen. 157
Mortimers Hand zuckte hoch; er stieß Alex zurück. »Wohin so eilig?«, fragte er. »Zurück an die Arbeit natürlich!«, antwortete Alex. »Eins nach dem anderen. Sie sind neu bei uns, Alex, Sie müssen sich erst einmal mein Vertrauen verdie nen.« In Mortimers glatter Stimme war plötzlich ein scharfer Unterton. »Wenn sich ein Mitarbeiter nicht an die Regeln hält, muss er sich darüber im Klaren sein, dass das sehr schmerzhafte Folgen haben kann, Alex.« Seine Augen glitzerten. Alex blickte ihm gleichgültig in die Augen. »Ich kann Ihnen wirklich nicht empfehlen, so was zu versu chen«, sagte er leise. »Mir wird allmählich klar, dass man Sie zu Ihrem Glück überreden muss«, meinte Mortimer. »Wie scha de. Ich hatte nämlich gehofft, dass wir diese Sache freundschaftlich regeln könnten.« Er trat zurück. Seine Hand verschwand kurz in der Jackettasche, und dann lag plötzlich ein langer, dunkler Gegenstand auf seiner Handfläche. Eine kurze Bewe gung – schon war ein scharfes Klicken zu hören. Die Stilettklinge schoss heraus und funkelte im Licht der Halogenstrahler. »Also dann«, sagte Mortimer und kam näher. »Wir wollen doch mal sehen, ob ich Sie nicht dazu bringen kann, die Dinge aus meinem Blickwinkel zu betrach ten.«
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Deptford Zeit: 11.58 Uhr Danny saß im Überwachungswagen und starrte auf die Digitaluhr. Gina und er befanden sich mehrere Stra ßenzüge vom Lagerhaus entfernt. Vor mehr als zwei Stunden hatte er alle externen Kameras stillgelegt und seine gesamte Computerausrüstung heruntergefahren. Er wollte nicht riskieren, dass der Überwachungswa gen von Ortungsgeräten der Gegenseite aufgespürt wurde. Denn Danny war überzeugt, dass eine Organi sation wie Hydra über eine technische Ausrüstung ver fügte, die sich mindestens mit der des PIC messen konnte. Das Abschalten der externen Kameras und der Computeranlage bedeutete allerdings, dass der Über wachungswagen nun schon seit mehr als zwei Stunden völlig blind war – aber es war besser, jetzt in Kauf zu nehmen, etwas zu verpassen, als zu bald und zu dicht heranzugehen und damit die ganze Operation zu ver masseln. Aber jetzt endlich war ein wenig action angesagt. »Los geht’s«, sagte er in sein Mikrofon. Er stieß die Laderaumtüren auf und stieg aus, ge folgt von Gina. Sie rannten schnell über die Straße und den Gehweg entlang auf das Lagerhaus zu. In den Straßen um das Lagerhaus hatten drei PIC 159
Fahrzeuge Stellung bezogen. Die Agenten darin waren bewaffnet und trugen kugelsichere Westen. Danny teilte die Agenten in zwei Gruppen. Sie schlugen gleichzeitig zu. Eine Gruppe rammte mit ei nem Spezialgerät das vordere Tor des Lagers auf, die andere drang durch die Hintertür ein. Dannys Herz schlug hart. In ein paar Minuten wür den sie den General und die Fernlenkraketen sozusa gen in flagranti schnappen können. Das würde das Ende der Waffenschieberbande bedeuten. Gespannt verfolgte er die Geräusche des Angriffs, die durch seinen Kopfhörer drangen. Krachen. Schreie. Schnelle Schritte. Dann Stille. Eine eigenarti ge Stille. In Dannys Magen kroch ein flaues Gefühl hoch. Er presste den Kopfhörer gegen die Ohren. »Danny, hörst du mich?«, fragte Carl, ein erfahrener Agent. »Ja, Carl. Was ist los?« »Wird besser sein, wenn du es dir selbst ansiehst.« Carls Stimme klang gleichmütig. Dannys Hoffnung sank. Etwas stimmte nicht, und er glaubte auch zu wissen, was nicht stimmte. Er rannte über die Straße und durch das zertrümmerte Tor des Lagerhauses. Die Lagerhalle war hell erleuchtet. Fast alle Agen ten standen mitten in der Halle in einer Gruppe bei sammen. Als Danny näher kam, drehten sich alle Köp 160
fe zu ihm um. Danny hatte plötzlich das Gefühl, von einem Vorschlaghammer auf den Kopf getroffen wor den zu sein. Das Lager war leer. Die Kisten hatten sich in Luft aufgelöst.
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Vi e rz e h n t es Kapitel Danny war sprachlos. Das Lager musste innerhalb der knapp zwei Stunden geräumt worden sein, in denen er die Überwachungstechnik abgeschaltet hatte. Die Männer des Einsatztrupps standen mit unbetei ligten Mienen um ihn herum. Aber Danny spürte ihre Schadenfreude und wusste, was sie dachten: Warum hatte Cooper diesen Fall ausgerechnet einem jungen und völlig unerfahrenen Yankee übertragen? Und wa rum hatte Baxendale ihm dann auch noch den Befehl über den Sturm auf das Lager gegeben? »Sieht so aus, als hätte uns hier jemand gründlich verarscht, Männer«, sagte Danny schließlich mit halb wegs normal klingender Stimme. »Carl, lassen Sie die Spurensicherung herkommen. Ihr anderen könnt wie der einpacken und zur Zentrale zurückfahren. Die Par ty ist abgesagt.« Er stakste wütend davon. Hinter sich glaubte er ein Gemurmel zu hören, das ihn an unterdrücktes Lachen erinnerte, aber er achtete nicht darauf. Gina warf ihm nur einen kurzen Blick zu und schloss den Mund wie der. Die Frage hatte sich erübrigt. Danny schüttelte den 162
Kopf. Woher hatte die Gegenseite so genau gewusst, wann sie das Lager gefahrlos räumen konnte? Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. Die Wanze! Er ließ Gina einfach stehen, drehte sich rasch um und ging zu dem Raum, in dem er die Wanze platziert hatte. Er stieß die Tür auf und schaltete das Licht ein. Sei ne Augen weiteten sich. Jemand hatte eine Hand voll »Mon Chérie« zu einem Kreis arrangiert. Und in der Mitte des Kreises lag die Wanze. Danny starrte fassungslos darauf. Jemand machte sich ganz gewaltig über ihn lustig. Danny konnte förm lich das höhnische Gelächter hören. Und das Aller schlimmste war, dass er selbst die Sache überhaupt nicht lustig fand. Maddie joggte den breiten Haverstock Hill entlang. Als sie sich der Chalk Farm Road näherte, wäre sie beinahe von hinten gegen einen elegant gekleideten Herrn gestoßen. Erst im allerletzten Moment erkannte sie ihn – Mortimer strebte mit großen Schritten in die selbe Richtung. Maddie ging sofort in einem Hauseingang in De ckung. Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Etwa hundert Meter weiter blieb Mortimer stehen. Er schien kurz die Schaufensterauslage eines Elektro ladens zu betrachten, dann betrat er das Geschäft. Maddie sprintete los. Als sie den Laden erreichte, war sie außer Atem. Sie blickte durch das Schaufenster 163
ins Innere, konnte aber niemanden sehen, da lange Re gale die Sicht blockierten. Undeutlich hörte sie zwei Männer miteinander reden, und nach ein paar Sekun den erkannte sie die Stimmen – Alex und Mortimer. Der Ton wurde zunehmend aggressiver. Maddie schlich durch einen der Gänge zwischen den Regalen, bis sie schon fast den Verkaufstresen erreicht hatte. Die Männer mussten rechts von ihr stehen, noch immer von einem Regal verdeckt. Sie blickte vorsichtig um das Regal. Ihre Augen wurden weit, als sie sah, dass sich Mortimer mit einem Messer auf Alex stürzte. In Sekundenbruchteilen schoss Maddie hinter dem Regal hervor. Ein kurzer, harter Schlag auf Mortimers Handgelenk. Das Messer wurde ihm aus der Hand geschleudert. Sie packte sei nen Arm, riss ihn nach hinten und bog ihn ruckartig hoch, bis Mortimer vor Schmerzen aufschrie. Mit dem anderen Arm legte sie eine stahlharte Klammer um seinen Hals. Er wehrte sich und sie verstärkte den Druck. »Oh!«, zischte er. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Dieses Biest!« Offenbar hatte er erst jetzt erkannt, wer ihn ange griffen hatte. »Was fällt dir ein?«, fauchte er. Alex bückte sich und hob das Messer auf. Er blieb in der Hocke und wog das Messer nachdenklich auf der Handfläche, während er zu Mortimer hinaufstarrte. 164
»Hört sofort auf!«, kreischte Norma hysterisch. »Ich will hier keine Probleme!« »Wir machen keine Probleme«, beruhigte sie Alex. Er rammte das Messer in die Holzdielen und stand auf. »Sie sollten nicht mit Messern spielen«, sagte er zu Mortimer. »Sie könnten sich verletzen.« Er trat mit dem Absatz gegen den Messergriff und bog ihn um, bis die Klinge abbrach. Unter Mortimers Augen zuckte ein Nerv. »Lass mich los!«, fauchte er Maddie an. Sie lockerte den Griff und Mortimer stolperte zur Seite. Seine Hände fuhren an seine Kehle, sein Gesicht war wutverzerrt. Er rückte den Krawattenknoten zurecht. »Ich will euch nicht mehr sehen!«, schrie er wütend. »Ich kann euch nur empfeh len, den nächsten Zug nach Southend zu nehmen.« Er zitterte vor Wut. »Hier habt ihr nichts mehr zu suchen.« Wütend drängte er sich an Maddie vorbei und stürmte wortlos aus dem Laden. Die Tür schlug kra chend zu. »Ihr verdammten Idioten!«, schrie Norma hinter ih nen. Alex und Maddie drehten sich um. Norma stand vor dem Tresen, eine schwere Brechstange drohend erhoben. »Ihr blöden Typen habt wohl keine Ahnung, wozu dieser Mann fähig ist! Ich gebe euch einen guten Rat: Haut ab aus der Stadt, und zwar schnell!« »Beruhigen Sie sich«, sagte Alex. »Wir gehen ja schon.« 165
»Das will ich hoffen!«, keifte sie völlig außer sich. »Ihr seid so gut wie tot, wenn ihr mich fragt!« »Wir fragen Sie aber nicht«, gab Maddie zurück und folgte Alex zur Ladentür. Weiter unten in der Straße sahen sie Mortimer, der es sehr eilig zu haben schien, zur Autohandlung zurückzukehren. »Ich glaube, wir sind vorerst beurlaubt«, meinte Alex. Maddie nickte. »Warum zum Teufel bist du denn weggelaufen? Jetzt ist die ganze Operation aufgeflogen!« Alex nickte. »Ja, als verdeckte Ermittler sind wir gescheitert. Aber ich habe etwas herausgefunden, das uns weiterhelfen kann.« »Ich auch«, sagte Maddie.
PIC-Zentrale Zwei Stunden später Als Maddie und Alex in der Zentrale ankamen, wurden sie sofort von Susan Baxendale in den Besprechungs raum befohlen. Auf dem Weg durch das Großraumbüro hörten sie das Gerücht, dass auch Dannys Operation in Deptford schief gelaufen war. Danny war bereits da – er saß an einem Tisch, hatte die Füße auf einen Stuhl gelegt und das Kinn in die Hand gestützt. Er machte einen müden und absolut unglücklichen Eindruck. 166
Maddie versuchte, Susan Baxendales Stimmung einzuschätzen, aber deren Miene war so undurchdring lich wie immer. Im Vorbeigehen klopfte Maddie Dan ny kurz auf die Schulter, als Zeichen ihrer Solidarität. »Wo ist der Chief?«, fragte Maddie. Sie hatte ange nommen, dass ihr Vater die Besprechung leiten würde. »Schließen Sie die Tür und schalten Sie das Licht ein«, befahl Susan knapp. Alex schaltete die Warnlam pe vor der Tür ein und schloss die Tür. Jetzt erst ging Susan auf Maddies Frage ein. »Er ist außer Haus, mit Tara Moon«, erklärte sie. »Mehr weiß ich nicht.« Maddie sah sie verwundert an. Was mochte wohl in den beiden letzten Tagen ihren Vater und Tara veran lasst haben zu verreisen? Jedenfalls musste es sehr wichtig gewesen sein. Sie setzten sich. Alex hatte bereits mit Susan telefo niert, sodass sie über die letzten Entwicklungen Be scheid wusste. Susan verlor keine Zeit mit Begrüßun gen. »Wir haben das Haus in St. John’s Wood über prüft«, sagte sie. »Ich lasse es beobachten, aber bisher gab es dort keine Aktivitäten. Was ja auch logisch ist, wenn Maddie damit Recht hat, dass Mr L verreist ist.« »Haben Sie ihn schon aufgespürt?«, fragte Maddie. »Haben wir«, gab Susan knapp und präzise zurück. »Unter der Telefonnummer, die Sie erfahren haben, ist eine Adresse in Essex eingetragen, in Roydon, um ge nau zu sein, drei Kilometer von Harlow entfernt, an der 167
B 181. Sie beide werden später dort vorbeischauen. Der Mann heißt mit vollem Namen Anthony Roderick Longman. Er besitzt und leitet eine Handelskette für Obst und Gemüse mit Niederlassungen in ganz Euro pa.« »Dann ist der Autoring für ihn wohl nur eine Art Hobby?«, fragte Alex. »Wenn der Ring nur ein Hobby ist, dann ist es ein ausgesprochen lukratives«, antwortete Susan. »Hat er einen Sohn namens Jason?«, fragte Alex. Susan sah erstaunt auf, blickte kurz in ihre Auf zeichnungen und nickte. »Longman ist verheiratet und hat drei Kinder«, sagte sie. »Nicole, achtzehn; Belinda, siebzehn, und Jason, sieben.« »Dann ist Jason also Longmans Sohn«, stellte Alex fest. »Warum ist das so wichtig?«, fragte Danny. »In Robert Frasers Aktenkoffer fehlte nur ein einzi ger Gegenstand«, erklärte Alex. »Eine CD für ein Computerspiel. Jason hat sie geschenkt bekommen. Wenn Fraser im Aktenkoffer irgendwelche Informati onen über Hydra mitnehmen wollte, dann müssen sie auf dieser CD sein.« »Was machen wir jetzt?«, fragte Maddie. »Lassen wir Longman hochgehen?« »Noch nicht«, antwortete Susan. Maddie sah sie erstaunt an. »Reicht das noch nicht, was wir haben?«, fragte sie. »Wir haben Namen und 168
Adresse. Wir können nachweisen, dass er in den illega len Autohandel in Belsize Park verwickelt ist. Wir ha ben genug Material, um den ganzen Autoring zu zer schlagen.« »Das ist richtig«, gab Susan zu. »Aber im Moment haben wir etwas Wichtigeres zu tun.« Ihre Finger trommelten auf die Tischplatte. »Mr Coopers An sprechpartner im Verteidigungsministerium ist über zeugt, dass Fraser mit Hydra zu tun hatte. Bisher haben wir Folgendes herausgefunden: Fraser arbeitete früher für Longman, wurde dann aber abtrün nig – er baute ein eigenes Geschäft auf, ein Konkur renzunternehmen. Gleichzeitig soll er aber für Hydra auch Waffenlieferungen von hier ins Ausland organi siert haben.« Sie stützte die Ellbogen auf und legte die Fingerspitzen aneinander. »Demnach hatte Fraser also zwei parallele Karrieren, die getrennt voneinander ver liefen.« »Sogar drei, wenn man seinen eigentlichen Job im Verteidigungsministerium mitzählt«, warf Alex ein. »Ist das nicht ein wenig viel für eine einzige Per son?«, fragte Maddie. Susan nickte. »Vielleicht bekam er genau deshalb Probleme. Jedenfalls schickte ihm Mortimer ein paar Schlägertypen auf den Hals. Die sollten ihn ein wenig aufpolieren und dann sein Auto kassieren. Aber ich glaube nicht, dass sie den Auftrag hatten, ihn zu erle digen.« 169
Maddie überlegte. »Klingt plausibel. Aber woher wissen wir denn, dass Longman nicht auch etwas mit Hydra zu tun hat?«, fragte sie. »Er kannte Fraser, und außerdem verfügt er mit seinen Gemüsetransportern auch über die Möglichkeit, Waffen ins Ausland zu schaffen.« Susan schüttelte den Kopf. »Das Verteidigungsmi nisterium ist überzeugt, dass Fraser der führende Kopf der britischen Organisation von Hydra war. Nach dem, was Danny über die Observierung des Lagerschuppens in Deptford berichtete, scheint es, dass Hydra nach Frasers Tod ziemlich schnell reagierte und als Ersatz für ihn einen ihrer führenden Köpfe eingesetzt hat – unter dem Decknamen ›General‹. Es kann sein, dass dieser General sogar schon vor Frasers Ermordung hier ankam – nachdem Hydra herausgefunden hatte, dass Fraser vom Verteidigungsministerium überwacht wur de. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass der neue Lei ter Frasers Ermordung angeordnet hat.« »Er könnte es sogar selbst gewesen sein«, meinte Danny. »Das ist denkbar«, sagte Susan. »Allerdings ist die Frage im Moment für uns nebensächlich. Wir müssen die Spiele-CD suchen, die Longmans Sohn geschenkt bekam.« Sie blickte das Team ausdruckslos an. »Wir brauchen diese CD unbedingt.« »Dann schicken Sie doch ein Einsatzkommando«, schlug Alex vor. »Es könnte Longmans Haus durchsu 170
chen und seinem Sohn die CD abnehmen. Kein Prob lem.« »Genau diesen Vorschlag habe ich auch bereits Mr Cooper gemacht. Aber sein Befehl ist eindeutig: So lange wir die CD nicht in der Hand haben, darf nie mand auch nur einen Schritt gegen Longman unter nehmen. Für das PIC hat es jetzt Priorität, in Long mans Haus in Roydon zu gelangen und die CD mit Höchstgeschwindigkeit hierher zu schaffen.« Maddie, Alex und Danny blickten sich an. »Sie meinen uns drei, stimmt’s?«, fragte Danny. »Richtig.« »Sie wollen also, dass wir bei dem Burschen ein brechen?«, fragte Alex ungläubig. »Diese Operation läuft unter höchster Geheimhal tungsstufe«, erklärte Susan ungerührt. »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Die Besprechung ist been det.« Sie ging zur Tür, blickte sich aber noch einmal kurz um. »Und Danny – ich hoffe, dass Sie es dieses Mal hinbekommen.« Die Tür fiel hinter ihr mit scharfem Klicken ins Schloss. Die drei Freunde starrten sich an. »Diese Frau hat den Hosenbandorden verdient«, meinte Alex. »Geht nicht. Sie trägt schwarze Seidenstrümpfe«, sagte Danny. »Wofür überhaupt?« 171
»Freundlicher Umgang mit Mitarbeitern.« Danny grinste ein wenig schief. »Du bist unfair. Nach der Deptford-Geschichte war sie nämlich sehr freundlich zu mir.« »Echt?«, fragte Maddie interessiert. »Was hat sie denn gesagt?« »Dass sie mir gern behilflich wäre, einen anderen Job zu finden.« Maddie und Alex lachten.
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Fünfzehntes Kapitel Frisch geduscht fühlte sich Maddie gleich wieder viel besser, jetzt sehnte sie sich nur noch nach einem: nach ein paar Stunden Schlaf, bevor sie zu ihrem nächsten Einsatz nach Roydon fuhren. Aber sie hatten sich noch zu einem kurzen Imbiss in der Kantine verabredet, bevor sie in die Betten stiegen. »Also«, wandte sich Alex an Danny, »was genau ging in Deptford schief?« »Ich hab’s vermasselt«, brummte Danny. Alex verdrehte die Augen. »So weit habe ich schon selbst kombiniert«, sagte er. »Darf man auch Einzel heiten erfahren?« Danny seufzte. »Also gut, wenn ihr’s schon wissen müsst: Susie B. meinte, ich solle keine Wanzen im Lagerhaus legen, das Risiko sei zu groß, dass sie ge funden würden.« »Und du bist natürlich trotzdem dort hineinspaziert und hast eine Wanze gepflanzt«, stellte Alex fest. »Scheint so.« Alex pfiff leise durch die Zähne. »Und sie wurde gefunden?« 173
»Scheint so.« »Und deshalb wussten die Typen, dass sie bald auf fliegen würden?« »Schei…« »Okay, okay.« Alex winkte ab. Danny runzelte die Stirn. »Aber ich verstehe eins nicht. Natürlich wussten sie, sobald sie die Wanze ge funden hatten, dass sie observiert wurden. Aber woher in Teufels Namen wussten sie, wann sie ohne Gefahr die Kisten abtransportieren konnten? Den genauen Zeitpunkt, meine ich? Wir waren nämlich nur ungefähr zwei Stunden außer Sichtweite.« Maddie sah ihn gespannt an. »Willst du damit be haupten, dass sie über deine Pläne schon vorher Be scheid wussten?« »Genau das will ich behaupten«, nickte Danny. »Ich glaube, dass uns diese Typen ständig beobachteten, während wir sie beobachteten – und zwar von Anfang an.«
Überwachungswagen Nord-London, Autobahnabfahrt M25-A 10 Zeit: 21.50 Uhr Alex saß am Steuer und Maddie hatte sich zwischen ihn und Danny gezwängt. Im Laderaum des Wagens lag alles, was sie brauchten, um unbemerkt in Long mans Haus einbrechen zu können. 174
Niemand sprach, während der Wagen durch die Londoner Straßen rollte. Wenn es ihnen gelang, die CD aus Longmans Haus zu holen – und wenn diese CD dann auch noch die erhofften Informationen ent hielt –, dann würde das PIC endlich den großen Schlag gegen Hydra führen können. Maddies Hände waren feucht; verstohlen rieb sie sie auf den Jeans trocken. Alex hatte es trotzdem bemerkt. »Alles okay?«, fragte er und lächelte aufmunternd. »Geht so«, sagte sie. »Hey, Maddie!«, grinste Danny. »Ich dachte, du stammst aus der Gosse und haust selbst die stärksten Männer in die Pfanne!« Maddie lächelte. »Okay«, sagte sie entschlossen. »Von mir aus kann’s losgehen.«
Roydon, Essex Zeit: 1.00 Uhr Sie parkten den Überwachungswagen in einem Park. Danny griff nach einem schwarzen Gegenstand, der einem viereckigen Rucksack glich, und stieg aus. Er trug einen schwarzen, hauteng anliegenden einteiligen Anzug. Auch Maddie sprang aus dem Wagen. »Was ist das?«, fragte sie und wies auf Dannys eigenartigen Rucksack. »Eine kompakte Überwachungsausrüstung«, erklär 175
te Danny, während er in die Tragriemen schlüpfte. »Da ist ungefähr dieselbe Technik drin, die wir auch im Überwachungswagen haben«, sagte er. »Nur eben mit geringerer Reichweite.« Dünne Kabel führten zu einem Kopfhörer. Danny setzte ihn auf und begann, den Communicator zu booten. Auch Alex und Maddie trugen schwarze einteilige Anzüge und dazu schwarze Mützen, die nur die Au genpartie frei ließen. Maddie und Alex trugen dazu Headsets mit Mikrofonen und winzigen Ohrstöpseln. Alle drei suchten sich einen Weg zwischen den Bäumen hindurch. Danny hatte inzwischen den Down load von Dateien aus einem Militärnetz gestartet. Auf dem kleinen Bildschirm erschien jetzt ein Satelliten bild, das das Haus und den Garten zeigte. Er hatte das Zielgebiet klar vor sich. In der Mitte das Haus selbst, daneben die Garagen und ein paar kleinere Gebäude, ferner ein Swimmingpool, umgeben von Rasen. Danny blieb stehen und tippte ein paar neue Befehle in seinen Communicator. Das Bild wechselte. »Hier geht’s lang«, sagte er und bog in stumpfem Winkel zur Seite ab. Nach einem schnellen Lauf gelangten sie an eine Straße. Es herrschte keinerlei Verkehr; kein Mensch war zu sehen. Roydon schien fest zu schlafen. Danny kauerte neben einem Schachtdeckel in der Straße nieder. »Hilf mir mal«, forderte er Alex auf, und gemeinsam hoben sie den Deckel des Inspektions 176
schachts ab. Im Schacht waren dick gebündelte Elekt rokabel zu sehen, die in Verteilerkästen hineinführten. Danny streckte sich in voller Länge auf dem As phalt aus und verschwand mit Kopf und Schultern im Schacht. Alex und Maddie beobachteten die Straße. Nach sieben Minuten zog Danny seinen Kopf wieder aus dem Schacht heraus. »Ich habe die Kabel zu Long mans Haus isoliert und einen Schalter eingebaut, mit dem ich die Stromzufuhr zum Haus unterbrechen kann. Wenn ich einen bestimmten Befehl in mein Gerät ein gebe, wird der Strom abgeschaltet. Dann geht ihr hinein. Ihr findet die Scheibe und kommt wieder raus. Ich fahre den Strom wieder hoch.« Er grinste zuversichtlich. »So einfach ist das.« Sie schoben den Deckel über den Schacht und zo gen sich von der Straße zurück. Alex erreichte als Ers ter die seitliche Mauer von Longmans Grundstück. Er sprang hoch; dann beugte er sich hinunter und zog Maddie herauf. Sie sprang sofort auf der anderen Seite hinab in die Dunkelheit. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und das Blut rauschte in den Ohren. Dann sprangen auch Alex und Danny von der Mauer. Sie blieben bewegungslos an der Mauer stehen und konzentrierten sich auf jedes Geräusch. Schließlich gab ihnen Alex ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie erreichten den Zielort. Vor ihnen lag ein breites Rasengrundstück, in der Mitte der Swimmingpool. Dahinter ragte das Haus in die Höhe. Große Glasschie 177
betüren führten zur Terrasse. Weiter oben glühte eine Reihe von externen Alarmlampen. Alex berührte Maddies Arm und deutete zur rechten Seite des Hauses, wo sich ein eingezäuntes Areal be fand. »Hunde«, flüsterte Alex Maddie zu. »Ich schaue mal nach.« Nach ein paar Minuten war er wieder zurück. »Mindestens drei«, flüsterte er. »Rottweiler. Sie sind alle in dem Zwinger. Das Tor am Gehege steht ein wenig offen. Wenn sich die Köter auf uns stürzen, dürft ihr auf keinen Fall etwas unternehmen. Überlasst die Sache mir.« Alex trug ein Pfefferspray bei sich. »Du hast mich schon überredet«, flüsterte Danny zurück. Er scannte das ganze Gebäude, wobei er auf merksam auf den Bildschirm schaute. Schließlich wies er auf das Flachdach einer Garage. »Ich positioniere mich dort drüben auf dem Dach«, sagte er. »Von dort aus koordiniere ich euren Einsatz. Okay. Dann wollen wir mal.« Danny tippte einen Befehl ein und drückte auf die Eingabetaste. Im Inspektionsschacht auf der Straße draußen klickte der Schalter und schnitt Longmans Haus von der gesamten Stromversorgung ab. Leise und geduckt huschten sie über den Rasen, blieben immer wieder stehen, um zu horchen, und schlichen dann weiter. Alex half Danny auf das Garagendach, dann schlich er mit Maddie zum Haupteingang des Hauses. Er 178
steckte den Schlüssel ins Schloss und drückte auf den Knopf auf der schwarzen Batteriebox. Man hörte mehrfach sehr leises Klicken, als der Schlüssel nach der internen Konfiguration des Schlosses suchte. Sie schlüpften durch die Tür, kauerten sich im breiten Windfang nieder und ließen die nur bleistiftdicken Strahlen ihrer Mini-Maglites über die Wände streichen. »Wir sind drin«, hörte Danny Maddie flüstern. Er lag lang ausgestreckt auf dem Bauch auf dem Gara gendach. »Gut gemacht«, flüsterte er zurück. Eine Bildschirmhälfte des Communicators zeigte den Grundriss und den inneren Zuschnitt des Hauses – das obere Stockwerk und das Erdgeschoss. »Die beiden Türen rechts von euch führen in ein Wohnzimmer«, sagte er, »und die Tür links in eine Art Empfangsraum. Die Tür hinter der Treppe führt in die Küche und zum Esszimmer. Dort braucht ihr im Moment nicht zu su chen, denke ich.« Danny hatte eine Infrarotkamera auf den Hunde zwinger gerichtet. Auf seinem Bildschirm zeigten sich weiß glimmende Hunde vor dem dunklen Hintergrund. Alle drei lagen ausgestreckt, die Köpfe auf den Pfoten. Danny hoffte, dass sie wirklich schliefen. Das Haus überwachte Danny mit einem Richtmik rofon. Damit war Danny in der Lage, alles zu hören, was im Haus vor sich ging »Okay«, hörte er Maddie flüstern. »Alex geht jetzt ins Wohnzimmer und ich in den anderen Raum.« 179
Raymond Pallow lag auf einer einfachen Liege in ei nem Zimmer im hinteren Teil des Hauses. Sein Schlaf war nicht sehr tief, denn Pallow schlief selten gut. Er hatte in jahrelanger Übung die Kunst erlernt, den Tief schlaf fernzuhalten, wenn es die Umstände erforderten. Und niemals hätte er sich erlaubt, in Tiefschlaf zu sin ken, wenn er Wachdienst in Longmans Haus hatte. Auf einem kleinen Tisch neben Pallows Bett lag sein Messer. Eine Tür führte direkt zum Hundezwin ger. Maddie ließ den Strahl ihrer Taschenlampe durch den Raum gleiten. Sie entdeckte einen Computer auf einem Schreibtisch neben dem Fenster. Leise schlich sie hin über. Rasch durchsuchte sie den Schreibtisch nach einer CD-Box oder ähnlichen Behältern. Neben dem Com puter stand eine Box mit ungefähr 30 CDs, die sie rasch im Licht der Taschenlampe durchsah. Nichts. Sie kniete nieder und durchsuchte die Schubladen des Schreibtisches. Wieder Fehlanzeige. Plötzlich stand Alex wieder neben ihr. »Hast du was gefunden?«, frag te er leise. Maddie schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns die Zimmer oben vornehmen«, sagte sie. »Danny?«, flüsterte Alex in sein Mikrofon. »Was gibt’s?«, kam die Antwort aus dem Kopfhö rer. 180
»Was ist im oberen Stockwerk?« »Das Übliche. Schlafzimmer. Bad.« »Hier unten haben wir nichts gefunden«, flüsterte Alex. »Wahrscheinlich hat der Junge einen PC in seinem Zimmer. Dort könnte die CD sein.« »Ist okay. Versuchen wir unser Glück.« Danny stellte das Richtmikrofon feiner ein, wobei er darauf achtete, dass die Antennenschüssel das ganze Haus erfasste. Er konnte Alex und Maddie hören, als sie auf der Treppe nach oben schlichen. Und er hörte noch etwas anderes – lautes Schnarchen. Er kontrollierte noch einmal alle Monitore und An zeigen. Plötzlich riss er entsetzt die Augen auf: Einer der Hunde war aufgestanden, schwebte wie ein radioakti ver Geist vor dem dunklen Hintergrund. Der Hund stand bewegungslos, aber er war wach. Maddie und Alex schlichen über den Flur im Oberge schoss. Wie viele Schlafzimmer hatte Danny gezählt? Fünf? Alex blieb vor einer Tür stehen, streckte die Hand aus und drehte vorsichtig den Türknopf. Maddie starrte gebannt auf den schmalen Spalt, der immer breiter 181
wurde. In diesem Augenblick schien ihr die Spannung fast unerträglich. Alex streckte den Kopf durch den Türspalt. Im Zimmer schnarchte jemand. Rasch zog er die Tür wie der zu. Sie schlichen weiter. Maddie richtete ihren Licht strahl durch den Korridor. Auf der übernächsten Tür fiel der Strahl auf ein Schild: Jasons Zimmer. Sie be rührte Alex’ Arm und deutete auf die Tür. Sie hatten genau abgesprochen, wie sie vorgehen wollten. Alex sollte das Zimmer zuerst betreten. Er würde feststellen, wo der Junge schlief. Er würde sich an das Kopfende des Bettes stellen, bereit, dem Jungen die Hand über den Mund zu legen, falls er zu schreien anfing. Dabei sollte Alex so behutsam wie möglich vorgehen. Maddie würde inzwischen nach der CD su chen. Alex schob die Tür auf. Maddies Herz raste. Sie hatte Mühe, ihren Atem nicht zu laut werden zu lassen. Das Bett des Jungen stand der Tür gegenüber. Mad dies Herzschlag setzte aus. Der Junge saß vornübergebeugt im Bett. Seine Fin ger hämmerten auf die Tastatur eines Notebooks, das er vor sich auf den Knien hatte. Sein Gesicht wurde vom blauen Schimmer des Bildschirms matt ange strahlt. Er spielte mitten in der Nacht ein Computer spiel. Ohne Licht, damit seine Eltern nichts merkten. Seine Augen wandten sich zur Tür – und weiteten sich 182
in schierem Horror. Er sah, dass jemand in sein Zim mer kam. Sah zwei schwarz gekleidete Gestalten. Sah, dass sie bis auf die Augen vermummt waren. Eine Sekunde dauerte das Entsetzen, dann riss Jason den Mund auf und stieß einen gellenden Schrei aus.
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Sechzehntes Kapitel Jason Longmans schriller Schrei wurde vom Richtmik rofon in Dannys Kopfhörer übertragen. Er riss sich den Kopfhörer herunter, unterdrückte mühsam einen Schmerzensschrei und presste instinktiv beide Hände über die Ohren. Der Kopfhörer rutschte über das Dach. Er verur sachte nur ein leises, schabendes Geräusch. Doch laut genug für scharfe Wachhunde. Auf dem Bildschirm des Communicators drehte sich der Kopf des Hundes, der bereits im Gehege stand, ruckartig zur Garage. Die beiden anderen Hunde hoben fast gleichzeitig die Köpfe. Der stehende Hund verließ das Gehege durch die offen stehende Maschen drahttür. Danny knirschte vor Wut mit den Zähnen und presste sich auf das Garagendach. Er wagte kaum zu atmen und machte sich so flach wie möglich. Gespannt starrte er auf den Bildschirm. Der Hund stand jetzt vor dem Gehege – er hielt den Kopf hoch erhoben. Dann begann er zu bellen. Die beiden anderen Hunde spran gen sofort auf. 184
In seinem Zimmer riss Raymond Pallow die Augen auf. Reflexartig zuckte seine Hand zum Messer. Die Hunde bellten – jemand versuchte, ins Haus einzudrin gen. Er sprang mit einem gewaltigen Satz aus dem Bett und stürzte zur Hintertür hinaus. Im selben Augenblick stürzten Maddie und Alex in Jasons Zimmer. Maddie kickte die Tür hart ins Schloss. Sie ließ den gebündelten Strahl ihres Maglite im Zimmer herumfegen, auf der verzweifelten Suche nach einem Gegenstand, mit dem sie die Tür sicher verrammeln konnte. Ein Stuhl. Sie griff danach. Alex hatte mit drei gewaltigen Sprüngen den Raum durch quert und sich über Jason geworfen, während er gleichzeitig in sein Mikro brüllte: »Danny! Mach Licht! Schnell!« Er packte Jason, aber der Junge hatte Mumm in den Knochen. Er hob das Notebook hoch und schwang es gegen Alex’ Arm. Sein schrilles Schreien war verstummt, stattdessen aber brüllte er, so laut er konnte, nach seinem Vater: »Dad! Dad!« Maddie rammte die Stuhllehne unter den Türgriff, sie wusste, das würde ihnen für ein paar Minuten Schutz bieten. Alex kniete auf dem Bett und war voll damit be schäftigt, den wild kämpfenden kleinen Jungen unter Kontrolle zu bringen. Maddie schlug mit der flachen Hand auf den Lichtschalter, aber es blieb dunkel. »Danny!«, keuchte sie hektisch in ihr Mikrofon, »Dan ny, mach endlich Licht!« 185
Von draußen drang das wütende Gebell der Hunde herein. Die Sache war endgültig außer Kontrolle gera ten. Danny war inzwischen bis zum Rand des Garagen dachs gekrochen. Unter ihm tobten die Hunde, bellten wütend und sprangen unablässig an der Wand hoch. Ein Mann sprintete über den Rasen heran, in seiner Hand ein langes Messer. Ein Bodyguard, vermutete Danny, und er kommt nicht zum Plaudern. Danny kroch vom Dachrand weg, sammelte seine Apparate ein und stopfte sie hektisch in den Rucksack. Er fand auch den Kopfhörer, der mitten auf dem Dach lag, und hörte daraus das Schreien eines Kindes. Rasch setzte er den Hörer auf; jetzt konnte er auch Alex’ Stimme hören. Dann Maddie, die irgendetwas über das Licht sagte. »Die Sache ist aufgeflogen!«, keuchte Danny in sein Mikrofon. »Kommt raus, so schnell wie möglich!« »Danny! Wir brauchen Licht!« »Verdammt, ich versuch’s ja schon!« Er zerrte den Communicator wieder aus dem Ruck sack und tippte rasch den Code ein, mit dem er die Stromunterbrechung aufheben konnte. Die Lichter gingen an. Einen Sekundenbruchteil später heulten um das ganze Haus herum die Alarmsirenen los. Danny kauerte auf dem Dach und versuchte abzu 186
schätzen, wie hoch seine Chancen waren, mit dem Gewicht auf dem Rücken die Gartenmauer zu errei chen, bevor ihn der Mann mit dem Messer einholte. Gegen null, schätzte er. Und im Wettlauf mit den Hun den? Weit unter null. In Jasons Zimmer ging das Licht plötzlich an. Alex hatte es inzwischen geschafft, sich über den Jungen zu werfen und ihn auf der Matratze festzuhalten. Maddie verlor keine Sekunde. Kaum brannte das Licht wieder, begann sie mit der Suche nach der CD. Sie durchsuch te rasch Jasons Regale. Auf einem Brett stand eine Hülle, aber die CD befand sich nicht darin. Auf dem Flur näherten sich Schritte. Eine Frauenstimme rief nach Jason, dann ein Mann. Jemand häm merte an die Tür. Maddie sah sich um. In einer Ecke neben dem Bett war ein Stapel Computer-CDs heruntergefallen; die Hüllen waren teilweise aufgesprungen und lagen über all verstreut, auch unter dem Bett. Alex saß halb auf recht, hielt den Jungen aber mit seinem Körpergewicht auf dem Bett fest, eine Hand presste er auf seinen Mund. In Jasons Blick lag das schiere Entsetzen. Endlich entdeckte Maddie die Hülle des NemesisSpiels. Sie öffnete sie und stöhnte auf: Die CD fehlte. Sie richtete sich auf. »Alex, lass ihn reden«, sagte sie schnell und zeigte ihm die CD-Hülle. »Jason – wo ist die CD zu diesem Spiel?«, fragte sie den Jungen. »Funktionierte nicht. War reiner Scheiß. Ich hab sie 187
weggeworfen«, sagte Jason atemlos. »Lass mich los!«, brüllte er plötzlich, weil ihm klar geworden war, dass Alex seinen Mund nicht mehr zuhielt. »Dad!« Sofort wurde wieder an die Tür gehämmert. »Auf machen! Sofort aufmachen!«, schrie eine wütende Männerstimme. Dann schien sich ein schwerer Körper gegen die Tür zu werfen. »Wohin hast du sie geworfen?«, schrie Maddie Jason an. »Sag ich nicht!«, brüllte Jason trotzig. Aber sein Blick irrte ganz kurz zum Papierkorb, der neben dem Bett stand. Maddie griff danach, kippte den Inhalt auf den Bo den und durchwühlte ihn. Schon nach wenigen Sekun den hielt sie die Nemesis-CD in der Hand. Sie zeigte sie Alex. »Ab durchs Fenster!«, befahl er. Maddie legte die CD in die Hülle und schob sie un ter ihren Anzug. Sie öffnete das Fenster. Jason wehrte sich plötzlich wieder. Er schlug seinen Kopf direkt in Alex’ Gesicht, wie eine Schlange wand sich der Junge unter Alex hervor und stürzte zur Tür. Alex’ Lippe blutete. Er griff nach dem Jungen – zu spät. Jason versuchte, den Stuhl unter dem Türgriff hervorzuziehen. Alex riss seinen Rucksack auf und zerrte ein Seil heraus. An einem Ende war ein Wider haken befestigt. Alex rammte den Haken in den Fensterrahmen und 188
warf das Seil hinunter. Sie hatten den Fluchtplan genau abgestimmt: Alex musste sich zuerst abseilen, falls unten ein Kampf zu erwarten war. Er griff nach dem Seil. Ein kurzer Blickkontakt mit Maddie, dann begann er hinabzusteigen. Maddie schwang sich auf den Fenstersims. Da hörte sie Jasons Schmerzensschrei. Er hatte wie wild ver sucht, den Stuhl unter der Türklinke hervorzuzerren und sich dabei in die Hand geschnitten. Er streckte die Hand hoch – auf der Handfläche breitete sich ein gro ßer Blutfleck aus. Er starrte Maddie voller Schmerz und Schock an. Instinktiv sprang Maddie ins Zimmer zurück. Sie wusste, dass es das Verrückteste war, was sie in dieser Situation tun konnte. Im selben Augenblick gewann Jason seine Geistesgegenwart zurück und riss mit der anderen Hand den Stuhl endgültig von der Tür. Maddie sprang wieder auf den Fenstersims zu. Sie stürzte über den Papierkorb, der mitten im Raum lag, schlitterte über den Boden und krachte gegen das Bett. Jason war schon auf dem Flur. Zu spät, um sich abzuseilen, denn am Seil hängend wäre sie völlig wehrlos. Maddie rollte über den Boden und versteckte sich in dem schmalen Spalt zwischen Bett und Wand. Sekunden später wurde die Tür weit aufgestoßen. Schwere Schritte donnerten über den Boden und hiel ten beim Fenster an. Ein Mann fluchte laut – Long 189
mans Stimme. Aus ihrem Versteck konnte Maddie seinen Arm sehen – er packte den Haken, riss ihn her aus und warf ihn aus dem Fenster. »Ihr kommt nicht weit!«, brüllte Longman in den Garten. »Ich mache Hackfleisch aus euch!« Er drehte sich um und rannte direkt zur Tür. Seine schweren Schritte verklangen auf dem Flur. Maddie atmete erleichtert aus und setzte sich halb benommen auf. Was jetzt? Alex hatte Maddies Bein aus dem Fenster baumeln sehen, als sie sich rittlings auf den Fenstersims gesetzt hatte. Jetzt blickte er nach oben. Von Maddie war nichts mehr zu sehen. Irgendetwas stimmte nicht. Alex wagte es nicht, sich von der Wand zu entfernen, um besser nach oben schauen zu können. Noch immer kein Zeichen von Maddie. Stattdessen bellte eine wütende Stimme aus dem Fenster: »Ihr kommt nicht weit! Ich mache Hackfleisch aus euch!« Sekundenbruchteile später wurden Haken und Seil aus dem Fenster geschleudert. Alex durfte keine Zeit verlieren. Er rannte dicht an der Hausmauer entlang und blickte vorsichtig um eine Ecke. Vor ihm lagen die Garagen, an deren Mauern die drei Hunde wutentbrannt emporsprangen. Daneben kletterte Raymond Pallow an der Regenrinne hinauf. Alex’ Blick ging nach oben. Dort saß Danny und er wartete Raymond Pallows Besuch. 190
Alex sprintete über den Rasen und zerrte gleichzei tig das Pfefferspray heraus. Die Hunde warfen sich herum und hetzten jetzt mit Riesensprüngen auf ihn zu. Alex wartete, bis der erste Hund zum Sprung auf ihn ansetzte, und drückte auf das Sprayventil. Der Hund bekam die volle Ladung in Schnauze und Augen. Er heulte auf und krümmte sich zusammen. Raymond Pallow sprang vom Dachrinnenrohr und jagte hinter den Hunden her. Im Laufen riss er das Messer aus dem Gürtel. Alex schaffte es gerade noch, den beiden anderen Hunden eine Ladung Pfeffer zu verpassen, dann stürzte sich Raymond auch schon auf ihn. Im Sprung stieß Pallow mit dem Messer zu, aber Alex parierte den Stoß. Gleichzeitig krachte seine Faust in Pallows Magengrube. Der Mann knickte ein. Alex packte ihn mit beiden Händen und versetzte ihm einen kräftigen Stoß, sodass er direkt vor die jetzt wie der angreifenden Hunde fiel. Alex raste zur Eingangstür des Hauses, dicht gefolgt von den Hunden. Ihre Fänge schnappten nach seinen Beinen; er stürzte, scharfe Zähne drangen durch seinen Schutzanzug. Alex kam wieder auf die Füße. Etwas zischte durch die Luft auf ihn zu, im letzten Augenblick warf er sich zur Seite. Das Messer verfehl te seinen Hals um einen knappen Zentimeter. Pallow war sicher gewesen, Alex mit diesem Mes serwurf erledigen zu können. Er hatte Alex’ Reakti 191
onsvermögen unterschätzt, und jetzt unterschätzte er auch seine Schnelligkeit. Wie ein Blitz fiel Alex über ihn her, und beide wälzten sich im Gras. Danny hatte Alex heranpreschen sehen und die Gelegenheit ge nutzt, an der Dachrinne herunterzuklettern. Nicht weit entfernt tobte der dritte Hund, rasend vor Schmerz und Wut über das Brennen in seinen Augen. Trotzdem nahm er Dannys Bewegungen wahr, warf sich herum und griff ihn an. Maddie schlich über den Flur des oberen Stockwerks. Alle Lampen waren angeschaltet und die Alarmsirene heulte durchdringend. Als sie die Treppe erreichte, hörte sie hinter sich plötzlich eine schrille Frauenstimme. Maddie wirbelte herum und stand einem di cken, etwa zwanzigjährigen Mädchen gegenüber. Maddie streckte beschwichtigend beide Hände aus. »Keine Angst –« Doch das Mädchen stürzte sich wie eine Furie auf sie, boxte wild mit den Fäusten auf sie ein. Maddie wich zurück, aber nicht schnell genug. Eine Faust traf sie an der Wange, sodass ihr Kopf nach hinten gewor fen wurde. Maddie ließ sie herankommen und duckte sich dann plötzlich seitlich weg. Das Mädchen, das seine ganze Kraft in die Schläge gelegt hatte, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Aufschrei zu Bo den. Maddie rannte die Treppe hinunter. Sie bog nach links ab, in den hinteren Teil des Hauses. Sie stieß eine 192
Tür auf; verzweifelt blickte sie sich um. Etwas weiter links sah sie noch eine Tür. Daneben war ein Schlüs selbrett angebracht, an dem mehrere Schlüssel hingen. Autoschlüssel! Führte diese Tür etwa zur Garage? Maddies Hoffnung stieg wieder. Sie nahm hektisch alle Schlüssel vom Brett und riss die Tür so heftig auf, dass sie gegen die Wand krachte. Maddie fand den Lichtschal ter, und plötzlich war der Raum in gleißende Helligkeit getaucht. Und vor ihr glänzte der Mercedes CL600. Sie stieg ein. Hektisch suchte sie nach dem Zünd schloss, wie durch ein Wunder hatte sie den passenden Schlüssel parat. Der Motor sprang an, und im selben Augenblick tauchte Longman in der Tür auf. Maddie betätigte mit dem Ellbogen die Türverriegelung und trat das Gaspedal durch. Mit laut kreischenden Reifen schoss das Fahrzeug aus dem Stand vorwärts und krachte gegen das Garagentor. Holz barst und zersplit terte, aber das Tor gab nicht nach. Maddie legte den Rückwärtsgang ein, Longman kam auf das Auto zu. Erster Gang – Vollgas. Jetzt hatte Longman den Wa gen erreicht und versuchte, den Türgriff zu fassen. Wieder schoss der Wagen vorwärts, und dieses Mal krachte er wie eine Rakete durch das Tor. Maddie konnte Danny erkennen, der vor der Garage lag und von einem Hund attackiert wurde. Sie riss das Steuer herum und pflügte mit dem Wagen in einer en gen Kurve durch die Rosenrabatte, die die Auffahrt säumten. Die flache Hand auf die Hupe gepresst, jagte 193
sie auf die Garage zu. Sie legte den zweiten Gang ein und drückte gleichzeitig die Bremse, sodass das Heck herumschleuderte. Der Hund brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Der Mercedes kam zum Still stand, keinen halben Meter von Dannys Kopf entfernt. Maddie stieß die Beifahrertür auf. »Steig ein!«, brüllte sie. Raymond Pallow war auch ohne Messer ein starker und gefährlicher Gegner. Alex wurde in die Defensive gedrängt – wie hart er auch immer zuschlug, Pallow steckte alles weg und griff unermüdlich an. Jetzt konn te Alex sich mit knapper Not unter einem besonders heftigen Schlag wegducken; die Faust stieß ins Leere, und Pallow verlor für einen winzigen Augenblick das Gleichgewicht. Alex warf sich sofort von hinten auf ihn. Pallows Ellbogen krachte in Alex’ Magengrube, bevor er nur wusste, was geschah, flog er über Pallows Schulter, stürzte in voller Länge ins Gras und blieb benommen liegen. Pallow hechtete nach seinem Mes ser, das ein paar Meter entfernt lag. Bevor sich Alex wieder aufrappeln konnte, war er zurück und beugte sich über ihn. Pallows Arm zuckte zum entscheidenden Stoß hoch. Alex kickte mit aller Kraft gegen Pallows Schienbeine. Pallow entfuhr ein Schmerzensschrei – er stolperte zurück und fiel auf den Hintern. Für Alex reichte es, um wieder auf die Beine zu kommen. Geduckt und mit aufs Äußerste gespannten Muskeln wartete Alex auf den nächsten Angriff. 194
Doch plötzlich stand Pallow in gleißendem Schein werferlicht, gleichzeitig dröhnte wildes Hupen durch den Garten. Der Mercedes raste mit laut brüllendem Motor heran, die Scheinwerfer zuckten über Bäume und Büsche, als das Heck des schweren Wagens mit durchdrehenden Rädern heranschleuderte. Pallow hatte sich halb umgedreht, fand aber keine Zeit mehr, zur Seite zu hechten. Das Wagenheck prallte gegen ihn und versetzte ihm einen gewaltigen Stoß. Pallow stieß einen Schmerzensschrei aus und krümmte sich zusammen. Keuchend stand Alex da. Der Wagen kam zum Stillstand, Danny sprang heraus, packte Alex am Arm und stieß ihn auf den Beifahrersitz. Keine Zeit, die Hintertür zu öffnen – Danny warf sich über Alex und zog die Tür hinter sich zu. Maddie trat auf das Gaspe dal, jagte den Wagen durch die Rosensträucher und bog schleudernd in die Auffahrt ein. Im Licht der Scheinwerfer tauchte das schwarze, schmiedeiserne Tor auf. »Festhalten!«, brüllte Maddie und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Ein heftiger Stoß – das tonnenschwere Auto krachte gegen das Tor, das weit aufgestoßen und aus den Scharnieren gerissen wurde. Der Mercedes war durch. »Wow!«, schrie Maddie begeistert. Sie nahm die nächste Kurve mit schrill quietschenden Reifen und raste die Straße entlang. »Wow!«, brüllte sie noch einmal und hämmerte mit beiden Fäusten auf das Lenkrad. 195
Der Überwachungswagen stand am Rand eines Dorfes, ungefähr zehn Kilometer von Roydon entfernt. Sie hofften, dass sie nicht verfolgt wurden. Es war höchste Zeit, eine Pause einzulegen. Danny stöhnte angesichts mehrerer Bisswunden an den Armen, Alex hatte nur wenige Verletzungen, hatte aber viele harte Schläge einstecken müssen, Maddies linke Wange war stark angeschwollen – der Schlag von Longmans Tochter … Maddie trug eine antisepti sche Creme auf Dannys Wunden auf und verband ihn. Währenddessen hatte Alex die PIC-Zentrale kontak tiert und sprach jetzt mit Susan Baxendale. »Wir haben das Ding«, sagte er. »Mission erfolg reich abgeschlossen.« »Irgendwelche Probleme?«, fragte sie knapp. »Probleme?«, gab Alex zurück. »Wir wissen gar nicht, was das ist.« Susan zögerte kurz. Sie hörte Alex’ krächzende Stimme und ahnte, dass da einiges schief gelaufen sein musste, aber jetzt war keine Zeit, den dreien lange zu zuhören. »Okay. Kommen Sie alle sofort in die Zentra le. Ich erwarte Sie hier in genau 45 Minuten«, sagte Susan scharf und legte auf. Alex schüttelte den Kopf und brachte ein Grinsen zu Stande. »So viel Lob und Anerkennung! Diese Frau ver wöhnt uns!« Danny hielt die CD in der Hand. »Möchte wirklich 196
wissen, was da drauf ist«, sagte er. »Ihr auch? Wir schauen uns das Ding mal an.« Er schob die CD in das Notebook und gab den Be fehl »Ausführen« auf der Tastatur ein. Auf dem Bild schirm erschien ein Menüfenster. »Bitte geben Sie das Passwort ein«. Er nahm ein Decodiergerät und schloss es an das Notebook an. Er hatte jetzt für die nächsten 45 Minuten zu tun. Während Maddie sich erschöpft zurücklehnte, star tete Alex den Motor und schaltete den Scheinwerfer ein. Dann setzte er zurück und wendete. Der Mercedes SL600 stand plötzlich im Scheinwerferlicht – was noch vor einer halben Stunde ein eindrucksvolles Fahrzeug gewesen war, sah nun völlig ramponiert aus. Maddie schluckte. »Wie viel kostet so ein Mercedes eigent lich?«, fragte sie. »Bis zur Pensionierung hast du ihn abbezahlt«, sag te Alex. »Aber solltest du nicht mal Fahrunterricht neh men?«
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Siebzehntes Kapitel Dannys Wohnung in Bloomsbury Montag (Feiertag) Zeit: 3.35 Uhr Danny saß völlig übermüdet vor dem Computer. Bisher war es ihm nicht gelungen festzustellen, welche Daten die CD »Nemesis 3000« enthielt. Zwar hatte er es in 23 Minuten geschafft, das Passwort zu knacken, während sie mit dem Überwachungswagen durch Nordlondon gekurvt waren. Aber seither – seit dem gemeinsamen Kurzbericht bei Susan B. im PICGebäude – saß er zu Hause und dachte sich immer neue Zugriffswege auf die Dateien aus – und kam ein fach nicht weiter. Vielleicht war er wirklich zu müde. Danny stand auf, ging ins Bad und hielt den Kopf unter den kalten Wasserstrahl. Das tat gut. Er trocknete sich ab und setzte sich wieder vor den Bildschirm. Nochmal von vorn, dachte er. Die CD ist codiert. Soviel steht fest. Aber wie weiter? Er starrte auf das 198
Passwort, das er geknackt hatte: »Zerbrochener Pfeil.« Er unternahm einen weiteren Versuch. Er öffnete eine beliebige Datei. Auf dem Bildschirm wechselte die Darstellung. Wieder gab Danny versuchsweise ein paar Befehle ein, scrollte durch Massen unver ständlichen Zeugs, aber nichts geschah. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte ratlos an die Decke. Jetzt war er mit seinem Latein am Ende. Er hatte keine Ahnung, welchen Trick er jetzt noch ausprobie ren sollte. Trotzdem war er wild entschlossen, die Da tei zu öffnen – wenn er nur Zugang zu neuen Pro grammentwicklungen … Plötzlich setzte er sich ker zengerade. Das war es! Er blickte auf die Uhr. Wie spät war es jetzt in Amerika? In den USA. Im Silicon Valley, um genau zu sein. Zur selben Zeit saß Maddie mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Bett und schaute fern. Die 24 Stunden-Nachrichten auf BBC zeigten eine Zusam menfassung des ersten Tages des Karnevals von Not ting Hill. Es sah fantastisch aus, ein riesiges, buntes Fest – jedenfalls für Leute, die nicht in jeder wachen Sekunde in der Unterwelt herumturnten und sich mit Messerhelden schlugen. Maddies Kopf nickte nach vorn, die Wirklichkeit rutschte weg. Sie riss sich noch einmal zusammen und griff nach der Fernbedienung, 199
um den Apparat abzuschalten. In diesem Augenblick kam die Nachrichtensprecherin wieder ins Bild. »Über die Ermordung von Robert Fraser, Beamter des Verteidigungsministeriums, sind neue Erkenntnisse bekannt geworden«, sagte die Sprecherin. »Das Minis terium hat soeben eine Erklärung abgegeben.« Maddie war mit einem Schlag hellwach. Auf dem Bildschirm wurde ein Presseinformationsraum sichtbar. Eine Frau mit streng zurückgekämmtem, dunklem Haar saß an einem Tisch, vor sich eine Batterie von Mikrofonen. Sie blickte in die laufenden Kameras der Journalisten. »Meine Abteilung hat bei intensiven internen Ermitt lungen festgestellt, dass Robert Fraser schon seit eini ger Zeit ein Doppelleben geführt haben muss. Er hat seine Funktion als Berater der Beschaffungsbehörde des Ministeriums für kriminelle Machenschaften miss braucht. Mr Fraser geriet schon vor mehreren Wochen unter Verdacht. Während noch Beweise gesammelt wurden, erhielt Mr Fraser vermutlich Kenntnis von den Ermittlungen, die gegen ihn liefen.« Jetzt erschien wieder die Nachrichtensprecherin. »Mrs Brookmier erklärte ferner, dass Frasers Tod die Folge eines Konflikts sein könne, der in der kriminel len Organisation ausgebrochen ist, für die er arbeitete. Die Ermittlungen haben neue Beweise zu Tage geför dert, wonach Fraser der Kopf einer Waffenschieberor ganisation gewesen sei. Die Organisation werde dafür verantwortlich gemacht, Waffen im Wert von mehre 200
ren Millionen Pfund aus dem Land geschafft zu haben. Aus Quellen des Verteidigungsministeriums wurde verlautbart, dass man nach Frasers Tod und der Entde ckung neuer Beweise in Kürze in der Lage sein werde, den britischen Zweig der Waffenschieber auszuhe ben.« »Jaaa!«, brüllte Danny unter der Dusche und boxte begeistert in die Luft. Sein Freund in den Staaten hatte noch eine halbe Stunde an seinen gerade beendeten Dienst gehängt und für Danny eine Menge Informatio nen zusammengestellt. Kurz darauf war eine E-Mail mit mehreren Dateien eingegangen und Danny hatte sich sofort wieder an die Arbeit gemacht. Und mit den Informationen hatte er den Durchbruch geschafft. Die Dateien auf der CD waren mit einer brandneuen Versi on des so genannten »PGP«-Systems codiert worden. Eine harte Nuss, aber lösbar. Danach war es ein Kin derspiel gewesen, die Grundlagen des Codierungssys tems zu erfassen und die gesamte Datei zu transkribie ren. Und es war die Mühe wert gewesen. Auf der CD befand sich eine Unmenge Informationen über Hydra – Übergabepunkte für die Waffenlieferungen, verdeckte Briefkästen, Straßen- und Landkarten, Zeitpläne für Besprechungen … Und Danny fand eine lange Liste der Kontakte einschließlich ihrer Tarnnamen. Es war eine beeindruckende Lektüre. Diese Organisation war 201
nicht nur einfach mächtig, sie war gewaltig. Ihr Name war perfekt gewählt – eine Hydra mit vielen Armen, die sich praktisch über ganz Europa erstreckten. Wer sich ihr in den Weg stellte, konnte sich jede weitere Lebensplanung sparen. Denn diese Organisation war absolut skrupellos: Sie hatte die brutalsten internatio nalen Terroristengruppen mit höchst gefährlichen Waf fen beliefert. Auf der CD fand Danny auch eine Datei, die Robert Frasers Terminkalender enthielt. Der Mann war offen sichtlich seit Jahren der Drehpunkt der britischen Hyd ra-Organisation gewesen, die zentrale Führungsfigur. »Dafür hatte er den richtigen Job«, murmelte Danny vor sich hin. »Zuständig für die Beschaffung von Mili tärgütern und Waffensystemen. Hatte jede Menge Kontakte zu Waffenfirmen, Händlern, Abnehmern. Aber er nutzte die Kontakte eben nicht nur beruflich, um das Zeug die Armee ausliefern zu lassen, sondern er zweigte einen Teil davon für seinen Nebenjob ab …« Danny lächelte grimmig und sagte laut: »Mr Fraser, Sir, ich bin wirklich sehr froh, dass Sie endlich aus dem Verkehr gezogen wurden!« Wütend schaltete Maddie den Fernseher aus und zog die Bettdecke hoch. Sie starrte an die Decke. Die ganze Pressekonferenz und vor allem die Erklärung, die Christina Brookmier verlesen hatte, kamen ihr seltsam vor. Maddie hatte inzwischen schon ziemlich gut beg 202
riffen, wie das PIC arbeitete – niemand dort war erpicht darauf, vor laufenden Fernsehkameras über aktuelle geheime Ermittlungen zu reden. Was aber Maddie är gerte, war die Tatsache, dass Brookmier im Fernsehen so getan hatte, als hätte ihre eigene Abteilung die neuen Indizien entdeckt, die Frasers Schuld bewiesen. Maddie wäre schon mit einer anerkennenden Bemerkung zu frieden gewesen, etwa: »Wir hatten wertvolle Unter stützung durch …« – das wäre nur fair gewesen. Aber noch mehr wunderte sich Maddie über etwas anderes: die Schnelligkeit, mit der es Brookmier ge lungen war, die CD decodieren zu lassen. Okay, Danny hatte das Passwort geknackt, aber das konnte noch nicht die ganze Arbeit gewesen sein. Maddie war sicher, dass Danny auch nach dem Passwort noch Stunden benötigen würde, um den Da tensalat zu entziffern. Sie setzte sich im Bett auf und rechnete nach. »Nehmen wir an«, sprach sie zu sich selbst, »die CD ist im Ministerium decodiert worden. Jemand hat die entschlüsselten Dateien gelesen. Man hat darüber diskutiert. Man hat die Informationen der CD mit den Erkenntnissen verglichen, die im Laufe der Ermittlungen zusammengetragen worden sind. Und man hat die Presseerklärung formulieren müssen. Eine Meisterleistung. Absoluter Rekord.« Maddie ließ sich wieder in die Kissen fallen. Jemand in Brookmiers Team musste ein totaler Computerhexer sein. Oder jedenfalls besser als Danny. 203
Bloomsbury Zeit: 4.00 Uhr Danny konnte sich später nicht mehr erinnern, wann er zuerst misstrauisch geworden war. Nachdem er die CD decodiert hatte, setzten allmählich seine Zweifel ein. Diese Dateien waren irgendwie nicht normal. Es war ganz klar, auch eine kriminelle Organisation musste bestimmte Informationen speichern – Deck namen, Kontaktadressen, eine detaillierte Buchfüh rung … Das alles wurde benötigt, um die Geschäfte überhaupt weiterführen zu können. Aber im Gegensatz zu legalen Unternehmen würde diese Organisation doch jede Datei sofort löschen, die nicht mehr gebraucht wurde. Waffenschmuggel war schließlich ein riskantes Geschäft – es wäre absolut irrational, auch nur ein einziges Byte von Informatio nen aufzubewahren, die nicht mehr benötigt wurden. Je mehr Informationen über die Machenschaften es gab, desto höher war das Risiko, dass die Ermittlungsbe hörden etwas herausfanden. Deshalb konnte Danny eines nicht verstehen: Wa rum hatte Fraser so viele Daten aufbewahrt? Über zwei Jahre jedes Fitzelchen systematisch gesammelt? Das machte einfach keinen Sinn. Es konnte nicht anders sein: Hinter der CD steckte eine Absicht. Fraser hatte damit etwas sagen wollen. Die CD war ein Druckmittel, eine Warnung an Hydra: 204
Hier sind jede Menge Daten über euch – wenn ihr mich bedroht, übergebe ich die CD der Polizei. Nur war Fraser eben nicht mehr dazu gekommen, sie der Polizei in die Hände zu spielen. Wahnsinn, absoluter Wahnsinn, aber mit System!, dachte Danny und beugte sich mit neuem Eifer wieder über die Tastatur. Er ging die Dateien noch einmal durch, dieses Mal jedoch sehr viel gründlicher. Er war nicht sicher, wonach er suchte, sondern ließ sich eher von einer vagen Hoffnung treiben, dass er beim ersten flüchtigen Durchsehen der Dateien etwas übersehen haben könnte. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass Fraser auch Dateien auf der CD gelöscht haben könnte. Vielleicht war es möglich, sie wiederherzustellen? Danny startete ein Anwendungsprogramm, mit dem sich gelöschte Dateien aus den Sektoren der CD wie derherstellen ließen, die im Dateiverzeichnis der CD gar nicht mehr auftauchten. Wie ein Adler kauerte Danny über dem Keyboard und hackte auf den Tasten herum. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Schließlich lehnte er sich zurück und drückte mit theatralischer Geste die Eingabetaste. Das Programm begann zu arbeiten. Auf dem Bildschirm erschien eine lange Liste ge löschter Dateien oder Informationen. Ein wohliger Schauer des Triumphs lief durch Dannys Körper. Die Dateien auf der CD waren völlig neu geschrieben wor den! Das hier – die gelöschten Dateien –, das war der 205
eigentliche Inhalt, auf den es ankam! Das war der end gültige Durchbruch! Er scrollte durch die Listen der Namen und Waffen. Seine übermüdeten Augen tränten, aber er bemerkte es nicht. Und dann stieß er auf einen Namen. Er musste sich getäuscht haben. Rieb sich die Au gen. Sah noch einmal auf den Bildschirm. Las densel ben Namen. Danny blieb unbeweglich sitzen, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Was er hier vor sich hatte, konnte nicht sein. Und wenn doch – dann war es reines Dy namit! Alex wurde vom schrillen Läuten des Telefons aus dem Tiefschlaf gerissen. Er fuhr hoch und stöhnte auf: Durch jede Faser seines Körpers zuckten Schmerzen. Benommen schüttelte er den Kopf. Hatte er den Wecker überhört? So spät konnte es wohl noch nicht sein! Wer ihn jetzt anrief, würde eine verdammt gute Begründung parat haben müssen! »Wehe, wenn das nicht wichtig ist!«, fauchte er drohend ins Telefon. »Alex, hier ist Danny …« »Bist du völlig verrückt geworden?«, explodierte Alex. »Weißt du eigentlich, wie viel Uhr …« »Es ist wichtig, Alex! Ich hab was gefunden!« Alex setzte sich stöhnend auf und tastete nach dem Lichtschalter. 206
»Ich habe mir die CD vorgenommen, Alex«, berich tete Danny. Er sprach leise und eindringlich. »Und du wirst nicht glauben, was ich entdeckt habe. Fraser diente nur als Sündenbock! Er hatte mit Hydra über haupt nichts zu tun! Die ganze Show wird vom Gene ral geleitet – und zwar schon immer! Und ich stehe hier vor dem Computer und …« Danny brach ab. »Und was?«, fuhr ihn Alex an. »Mach’s nicht so spannend!« »Auf dem Bildschirm vor mir steht der richtige Name des Generals.« Jetzt stockte auch Alex der Atem. »Und? Wer ist es?« »Nein, hör mir zu – das will ich nicht übers Telefon weitergeben.« Dannys Stimme klang plötzlich besorgt. »Die Sache ist für uns beide viel zu groß. Wir wissen nicht, wer da noch zuhört. Wir treffen uns um 9.30 Uhr im Café ›prêt à manger‹. Okay?« Alex seufzte vor Enttäuschung, aber er sah ein, dass Danny Recht hatte. »Okay«, sagte er, »treffen wir uns um halb zehn.« Er legte auf und ließ sich ins Bett zurücksinken. Danny hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Klei dung auszuziehen. Angezogen hatte er sich aufs Bett fallen lassen. Er brauchte dringend Schlaf, wenigstens ein paar Stunden, bevor er sich mit Alex traf. Doch er 207
schlief unruhig und warf sich immer wieder hin und her. Da, ein leises, aber scharfes Klicken. Er schlug die Augen auf. Atemlos lauschte er in die Dunkelheit, die Sinne aufs Äußerste gespannt. Da – noch einmal dieses Geräusch. Es kam von der Wohnungstür. Jetzt erkann te er es und wusste, dass es nicht sein Vater war, der vor der Tür stand. Das Klicken war unverkennbar: ein elektronischer Dietrich. Jemand war im Begriff, das Türschloss zu entsperren. Danny rannte barfuß zur Schlafzimmertür, öffnete sie einen Spalt breit und blickte in den Flur hinaus. In der Dunkelheit konnte er nur schwach die Wohnungs tür erkennen, aber er sah, dass sie sich langsam öffne te. Er schloss sofort die Schlafzimmertür und drehte den Schlüssel um. Vollidiot!, schimpfte er lautlos mit sich selbst. Weniger Hirn als eine Fliege! Natürlich haben sie dein Telefon angezapft! Er atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. Er hörte, dass jemand im Flur zu seinem Schlaf zimmer schlich. Seine Gedanken überstürzten sich. Jemand hatte also entdeckt, dass er die CD entziffert hatte. Sie kommen, um das Beweisstück zu holen, dach te er fieberhaft. Und dich gleich mit. Aber der Computer stand im Wohnzimmer. Er leck te sich die trockenen Lippen, während er dicht an der Schlafzimmertür auf die Geräusche im Flur lauschte. 208
Aber es herrschte Stille. Dann begann sich der Tür knauf zu drehen. Das reicht mir, dachte Danny. Der Klügere haut ab. Auf dem Teppich waren seine Schritte nicht zu hö ren. Er hetzte zum Fenster, öffnete es und blickte hin unter. Vier Meter Höhe, ungefähr. Prüfend ließ er den Blick über die Straße gleiten. Hoffentlich stand nie mand vor dem Haus Schmiere. Er atmete tief ein, packte den Fensterrahmen mit beiden Händen und ließ sich dann langsam an der Wand heruntergleiten, bis er an den ausgestreckten Armen hing. Dann ließ er los.
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Achtzehntes Kapitel Die Morgensonne schien bereits sehr warm, als Mad die endlich aus dem Bett fand. Ihre Großmutter hatte ihr ein kräftiges Frühstück vorbereitet. Maddie schlang alles heißhungrig hinunter – und verfolgte mit einem Auge die Nachrichten im Fernsehen. Nichts Neues bisher, konstatierte Maddie und griff eben nach der Fernbedienung, als der Nachrichtenspre cher eine neue Meldung begann. »Beamte der Sonderkommission für das Organisierte Verbrechen haben heute früh den Geschäftsmann An thony Longman in seinem Haus in Roydon verhaftet. Longman ist Eigentümer einer internationalen Einzel handelskette. Wie der Einsatzleiter der Polizei mitteilte, wird er mit einer in London agierenden kriminellen Or ganisation in Verbindung gebracht. Die Organisation soll im großen Stil in ganz Europa Luxusfahrzeuge ge stohlen und weiterverkauft haben. Es wird erwartet, dass noch weitere Personen festgenommen werden. Unsere Reporterin Penny Wilde berichtet aus Roydon.« Das Bild wechselte – eine junge Reporterin stand im Freien vor der Kamera. Hinter ihr sah Maddie die 210
schwarzen gusseisernen Tore vor Longmans Haus. Sie waren verbogen und hingen schief in den Angeln. Auf der Straße vor dem Tor waren schwarze Reifenspuren zu sehen; der Rasen und die Blumenbeete sahen aus, als habe dort eine Panzerdivision ihre Frühjahrsmanö ver durchgeführt. Maddie schluckte. Die Reporterin berichtete weiter, Longman werde in einem Londoner Polizeirevier ver hört. Der Rest der Familie habe sich im Haus ver schanzt und verweigere jede Stellungnahme. Das Telefon klingelte. Alex meldete sich. »Hast du die Frühnachrichten im Fernsehen gese hen?«, fragte Maddie. »Ja.« Seine Stimme klang bedrückt. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich anrufe, Maddie. Hör zu – wir haben ein Problem. Es ist unser freier Tag, ich weiß, aber … also, ich dachte, du möchtest vielleicht auch wissen, was los ist.« Maddie hörte mit wachsender Spannung zu, als Alex ihr über Dannys Telefonanruf berichtete. »Ich habe versucht, ihn anzurufen«, sagte Alex ab schließend. »Aber er hat nicht abgenommen.« »Und jetzt machst du dir Sorgen«, stellte Maddie fest. »Na ja, Sorgen noch nicht. Wir haben verabredet, dass wir uns in einer halben Stunde im Café ›prêt à manger‹ treffen.« 211
»Kenn ich.« Maddie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor neun. »Bin schon unterwegs«, sagte sie, ohne zu zögern. »Mit dem Motorroller schaffe ich das.« »Prima«, sagte Alex. »Wir sehen uns gleich. Und – Maddie?«, fügte Alex nach kurzem Zögern hinzu. »Danny kam mir ziemlich nervös vor. Halte die Augen offen, wenn du zum Treffpunkt kommst.« Maddie fuhr so schnell, wie sie es auf ihrer Vespa verantworten konnte, und bog zügig in Richtung Bayswater ein. Als sie sich Notting Hill näherte, muss te sie grinsen: »Halte die Augen offen …« – Alex hatte Nerven. Obwohl sie noch ein gutes Stück von der Straße entfernt war, durch die der Karnevalsumzug gehen sollte, herrschte schon hier das Chaos: Die Stra ßen waren verstopft. Zwischen den Autos standen die Karnevalsbesucher und unterhielten sich, manche sa ßen auf den Motorhauben und tranken Cola. Falls sie jemand beobachtete – sie würde es kaum bemerken können. Maddie parkte den Roller in einer Seitenstraße des Notting Hill Gate und drängte sich durch die dicht ste hende Menschenmenge in Richtung des Cafés vor, in dem sie mit Alex verabredet war. Maddie kniff die Augen zusammen. Von außen war Alex nicht zu ent decken, die Sonne spiegelte sich in den großen Fens tern. Doch als sie eintrat, sah sie ihn sofort. Er saß an ei 212
nem der hinteren Tische und hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen. Als er sie sah, winkte er ihr kurz zu. Sie bestellte einen Cappuccino. Es war kurz vor halb zehn. Von Danny war nichts zu sehen. »Ich habe eben noch mal versucht, ihn anzurufen«, sagte Alex, »aber er meldet sich nicht. ›Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar.‹ Also hat er sein Handy gar nicht angeschaltet.« »Vielleicht musste er so schnell verschwinden, dass er vergessen hat, es mitzunehmen«, vermutete Maddie. »Danny? Ohne Handy? Unmöglich. Der würde eher ohne Schuhe aus dem Haus gehen.« »Wir sollten die Zentrale anrufen«, schlug Maddie vor. »Kann ja sein, dass er sich dort gemeldet hat.« »Glaube ich nicht. Danny ist Amerikaner. Die sind in dieser Beziehung viel nachlässiger als wir Engländer.« »Das hören die Amis aber gar nicht gern«, tönte hinter ihnen eine Stimme. Maddie und Alex fuhren herum. Hinter ihnen stand eine seltsame Gestalt – ein hoch gewachsener Schwarzer in einem Frack und mit einem zerbeulten Zylinder auf dem Kopf. Frack und Zylinder waren aus scharlachrotem Samt und überall mit glit zernden Pailletten besetzt. Seine Hände steckten in roten Handschuhen, auch Hemd und Schuhe waren knallrot. Das Gesicht war hinter einer breit grinsenden Katzenmaske verborgen. »Danny – da bist du ja endlich«, seufzte Maddie er 213
leichtert. Alex grinste breit. »Dann ist wohl alles in Ordnung?«, fragte er. »Ich bin nicht sicher«, sagte Danny leise und setzte sich, wobei er sich schnell umblickte. »Hört zu: Ich habe ein ziemlich schlechtes Gefühl. Und nicht nur deshalb, weil ich nicht geschlafen habe.« »Was war denn los?«, fragte Alex gespannt. »Nachdem ich dich angerufen hatte, ging ich ins Bett«, sagte Danny noch immer sehr leise. »Aber ir gendjemand wollte mich nicht schlafen lassen. Ich wachte wieder auf und hörte ein Geräusch auf dem Flur. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig durchs Fenster absetzen. Ich versteckte mich in der Nähe und beobachtete den Hauseingang. Zuerst war nur ein Mann da, der in einem Auto wartete. Dann kam einer aus dem Haus und sie suchten eine Weile nach mir.« »Und dann?« »Nach einer Weile stiegen die beiden Typen wieder ins Auto und verschwanden«, fuhr Danny fort. »Ich wartete ungefähr eine Stunde lang, dann schlich ich in die Wohnung zurück, um nachzusehen, was davon noch übrig war.« Die Kellnerin brachte eine Tasse Kaffee. Danny schob die Maske hoch und trank einen Schluck. Wieder blickte er sich nervös um. »Sie hatten eine Säure über meinen Computer geleert. Er war prak tisch geschmolzen, nur noch Schrott. Und sämtliche Disketten, CDs und so weiter. Alles futsch.« Danny verzog das Gesicht. »Sie waren sehr gründlich.« 214
»Wer war das?«, fragte Maddie. »Gute Frage«, sagte Danny. »Hört zu: Ich habe die Nemesis-CD genau untersucht. Mehrfach. Ich weiß jetzt, dass die meisten Informationen auf der CD falsch waren. Kontaktadressen, Decknamen, Treffpunkte – alles falsch. Damit sollte wohl eine falsche Fährte ge legt werden. Ich fing an, nach gelöschten Informatio nen zu suchen. Aber ich kam nicht weiter. Rief sogar einen Freund in den Staaten an, der mir half. Und dann fand ich sozusagen das Sahnehäubchen bei der ganzen Sache.« Er zuckte heftig zusammen, als sich von hin ten plötzlich eine maskierte Frau über ihn beugte. »Kommst du mit, Sweetheart?«, schnurrte sie in sein Ohr. Danny grinste und schob sie von sich. »Jetzt nicht, Süße«, sagte er. Beleidigt zog sie ab. »Jetzt komm schon!«, drängte Maddie. »Mach’s nicht so spannend!« Danny sah Maddie und Alex an. »Ich fand heraus, dass Robert Frasers Name in der gesamten CD über einen anderen Namen geschrieben worden war.« »Und dieser andere Name ist der General?«, fragte Alex. »Ja.« »Kennen wir ihn?« Maddie konnte kaum noch still sitzen. »Sie«, korrigierte Danny. »Der General ist eine Frau.« 215
Maddie und Alex starrten ihn an. »Ja, ihr kennt sie. Der General ist Christina Brook mier.« Zehn Sekunden lang herrschte Schweigen am Tisch. Maddie zog scharf die Luft ein. »Das ist Dads Kon taktperson im Verteidigungsministerium!« Danny nickte. »So ist es – und auf der CD gibt es jede Menge Beweise, dass sie die Hydra-Organisation leitet. Und sicher hat sie herausgefunden, dass ich das weiß.« Er blickte schnell zum Eingang. »Das heißt, ich bin jetzt Staatsfeind Nummer eins.«
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Neunzehntes Kapitel Ein schwarzer Vauxhall Zafira mit dunkel getönten Fenstern hielt an der Südecke des Parks Pemridge Gardens. Auf einem der Rücksitze saß ein Mann. Er hob ein Fernglas an die Augen und richtete es auf das Café »prêt à manger«. »Die Sonne spiegelt!«, sagte er. »Noch ein Stück weiter, vielleicht kann ich dann sehen, ob sie im Café sind.« Der Wagen glitt zehn Meter weiter und hielt erneut. Jetzt konnte der Mann durch die Fenster des Cafés deutlich drei Leute sehen, die an einem der Tische sa ßen. Einer von ihnen trug ein rotes Karnevalskostüm. Sie hatten die Köpfe eng zusammengesteckt und rede ten intensiv miteinander. »Sie sind im Café. Alle drei«, sagte er. »Holen wir sie?« »Nein, wir warten noch«, antwortete der Mann, ohne das Fernglas abzusetzen. »Jetzt sind alle drei im Visier. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.« Maddie saß völlig geschockt am Tisch. Was Danny 217
eben gesagt hatte, warf ein ganz anderes Licht auf die Operation. »Wir müssen Susan über Brookmier informieren«, sagte sie. Danny lächelte schwach. »Das wäre mir nicht un recht«, sagte er. »Wenn das alles stimmt, was ich auf der CD entdeckt habe, ist das die gewissenloseste Per son, mit der ich es je zu tun hatte.« »Eben«, nickte Alex. Danny sah seine beiden Kollegen ernst an. »Wir ha ben da aber ein kleines Problem«, sagte er. »Der Be weis liegt nämlich in meiner Wohnung und ist zu ei nem Häufchen Plastik zusammengeschmolzen. Glaubt ihr denn, dass Susie B. mir diese Geschichte abkauft, wenn ich keinen Beweis vorlegen kann?« Maddie blickte ihn überrascht an. »Natürlich! Na türlich glaubt sie dir!« Im nächsten Moment aber wur de ihr klar, worauf Danny hinauswollte: Sein Wort stand gegen das Wort Christina Brookmiers. In der PIC-Zentrale würde wohl niemand glauben, dass Dan ny die Geschichte mit der CD frei erfunden hatte, aber vielleicht doch vermuten, dass er irrte. Jedenfalls wür de es die Zentrale ohne ganz konkrete Beweise nie mals wagen, gegen eine so hochgestellte Persönlich keit im Verteidigungsministerium etwas zu unterneh men. »Susie B. ist ohnehin wütend auf mich, wegen der Geschichte in Deptford«, fuhr Danny fort. »Ohne Fak 218
ten kann ich ihr jetzt nicht auch noch diese Sache vor legen. Sie würde durchdrehen.« Alex nickte. »Du hast Recht. Wir brauchen Fakten, und zwar schnell. Brookmier ist eine clevere Frau. Sie hat dein Telefon abhören lassen; sie weiß, dass du die CD geknackt und die gelöschten Dateien wiederherge stellt hast. Mit Sicherheit hat sie bereits einen Plan.« »Sie hat uns die ganze Zeit beobachten lassen«, sag te Danny wütend. »Ich komme mir vor wie ein Jäger, der glaubt, den Hasen zu jagen, während der Hase hin ter ihm herspaziert und sich totlacht. Das Gefühl hatte ich, als ich sah, dass das Lagerhaus genau in der Zeit ausgeräumt wurde, als wir es nicht observierten. Sie hat uns ganz schön an der Nase herumgeführt.« Auch Maddie sah jetzt viel klarer. »Ja, Brookmier ist clever!«, sagte sie. »Sie hat im Ministerium eine eigene Untersuchung eingeleitet, um ja keinen Ver dacht auf sich selbst fallen zu lassen.« »Ein riskantes Spiel«, nickte Alex. »Wahrschein lich sind dann die Beamten der Wahrheit näher ge kommen, als Brookmier vorausgesehen hatte. Deshalb brauchte sie einen Sündenbock, den sie vorschieben konnte, um selber die leibhaftige Unschuld spielen zu können. Also legte sie eine CD mit gefälschten Infor mationen in Frasers Aktenkoffer. Und dann ließ sie ihn umbringen. Die Polizei sollte natürlich bei den Ermittlungen über den Mordfall die CD finden und decodieren.« 219
»Klar«, bestätigte Danny. »Sie hat der CD sogar ein verschlüsseltes Passwort gegeben, damit die Sache wirklich echt aussieht.« Er grinste. »Ich hätte gern ihr Gesicht gesehen, als sie erfuhr, dass der Aktenkoffer mit der CD verschwunden war. Ich wette, sie bekam einen Anfall.« »Die Polizei hatte Frasers Haus und Büro versie gelt«, sagte Alex. »Sie muss es versäumt haben, eine Kopie der CD anzufertigen. Außerdem hatte sie jetzt sowieso keine Möglichkeit mehr, eine etwaige Kopie irgendwo zu platzieren. Folglich musste sie die Origi nal-CD wieder zurückhaben, weil sonst der ganze Plan gescheitert wäre, Fraser als General auszugeben. Und als dann die CD gestohlen wurde, brauchte sie jeman den, der die CD für sie suchen würde. Und so wurden wir PIC in die Sache verwickelt.« »Aber um ganz sicher zu gehen, ließ sie uns die ganze Zeit observieren«, meinte Danny. »Vermutlich ist sie nie auf die Idee gekommen, dass ein besonders cleverer Mensch beim PIC auch nach den versteckten und den gelöschten Daten suchen könnte.« Maddie lachte. Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Das war super, Danny!« Dann wurde sie wieder ernst. »Und was machen wir jetzt?« Sie wäre mit diesen In formationen am liebsten direkt zu ihrem Vater gegan gen. Er hätte sicherlich die richtige Entscheidung tref fen können. Aber sie hatte keine Ahnung, wo er sich aufhielt. Die einzige Möglichkeit, mit ihm Kontakt 220
aufzunehmen, war Susan Baxendale. Und schon waren sie wieder bei Dannys Problem … Alex starrte nachdenklich in seine leere Tasse. »Ich glaube, es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir jetzt wei terkommen können.« Er blickte auf. »Wir haben nur eine Chance, die Wahrheit zu beweisen, nämlich direkt über Brookmier.« »Prima Idee«, sagte Danny spöttisch. »Das über nehme ich. Wollte sie sowieso fragen, was ihr einfällt, meinen schönen Computer kaputtmachen zu lassen. Da kann ich sie auch gleich fragen, ob sie der General ist.« Er trank den letzten Schluck Kaffee und setzte die Tasse hart auf den Tisch. Maddie ließ sich nicht ablenken. »Alex hat Recht«, wandte sie sich an Danny. »Wir müssen Brookmier dazu bringen, dass sie sich mit uns trifft.« »Warte mal …«, sagte Danny zögernd, während er nachdachte. »Doch, so könnte es gehen: Ich rufe sie an und sage ihr, dass ich noch eine Kopie der CD gezogen habe und dass ich bereit wäre, ihr die Kopie zu überlassen – gegen ein paar hunderttausend Pfund.« »Darauf fällt Brookmier nie und nimmer herein«, widersprach Maddie. »Sie würde doch sofort die Falle wittern!« Alex nickte. »Ganz bestimmt wird sie das«, gab er zu. »Aber sie wird trotzdem kommen. Sie könnte es 221
sich gar nicht leisten, sich nicht mit Danny zu treffen. Überleg doch mal, Maddie: Sie müsste doch unbedingt herausfinden, ob es tatsächlich noch eine Kopie der CD gibt. Davon hängt doch alles für sie ab.« Kurze Zeit schwiegen alle. »Dann sind wir uns wohl einig?«, fragte Danny in die Runde. Alex und Maddie nickten. »Okay. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wie wir möglichst schnell mit ihr in Kontakt treten können.«
PIC-Zentrale Zeit: 10.37 Uhr Maddie saß an ihrem Arbeitsplatz und bootete den Computer. Das Büro war seltsam ruhig. Nur wenige Agenten taten heute Dienst. Zwei der an der Wand entlang aufgestellten Monitore waren eingeschaltet. Auf der anderen Seite des Raumes hackte jemand auf der Tastatur herum. Maddie öffnete die Hydra-Datei. Sie benutzte den Bildlauf, um schnell durch die Akte zu blättern, denn sie suchte nur nach Christina Brookmiers Telefon nummern. Nach kurzer Suche hatte sie die Informatio nen gefunden – Durchwahl im Büro, Privatnummer, Mobiltelefon. Hastig notierte sie die Nummern, schloss die Datei und fuhr den Computer herunter. Sie trat in den Lift und hielt zwei Stockwerke tiefer, wo sich die Materialausgabe befand. Sie würde nicht 222
lange brauchen, um die Sachen zu finden, die sie Alex mitbringen sollte. Für die wohl gefährlichste Unternehmung, seit Maddie als Trainee beim PIC arbeitete.
Avondale Park, W11 Zeit: 12.41 Uhr Maddie, Alex und Danny befanden sich mindestens einen halben Kilometer vom Karnevalsumzug entfernt, aber selbst auf diese Entfernung war der Lärm ohren betäubend. Das Schreien und Jubeln der Menge wurde von den dumpf wummernden Elektrobässen der Stra ßenbands überlagert. Danny wählte Christina Brookmiers Mobiltelefon und wartete auf die Verbindung. Maddie und Alex beobachteten ihn gespannt. Er musste gut sein, er musste absolut überzeugend wirken, sonst würde ihr Täuschungsmanöver fehlschlagen. Danny grinste sie an, während er mit dem Hörer am Ohr wartete. »Brookmier«, meldete sich schließlich eine präzise, sachliche Altstimme. »Hi«, sagte Danny betont locker, »ich glaube, wir sollten uns mal ein wenig unterhalten.« Ein kurzes Zögern am anderen Ende. »Sagen Sie mir erst mal Ihren Namen.« »Dreimal dürfen Sie raten«, flachste Danny. »Ich bin der Bursche, der sich mit Computern gut aus 223
kennt.« Er legte einen sarkastischen Ton in die Stim me. »CDs, um genau zu sein. Wird’s Ihnen jetzt nicht ein wenig warm?« »Ah, Mr Bell.« »Jetzt verstehen wir uns!«, sagte Danny begeistert. »War doch nicht schwer, oder?« »Kommen Sie endlich zur Sache. Was kann ich für Sie tun?« »Die Frage ist eher, ob ich etwas für Sie tun kann«, antwortete Danny. »Für den Anfang beschreibe ich Ihnen mal die Szene hier. Ich stehe da und halte eine hübsche, glitzernde neue CD-ROM in der Hand.« In Wirklichkeit wedelte er mit einer Coladose. »Sie wer den’s kaum glauben – es ist eine Kopie von den Sa chen, die ich letzte Nacht entdeckt habe. War ganz schön viel Arbeit. Können Sie sich vorstellen, was auf der CD drauf ist?« »Ich habe keine Ahnung.« »Wirklich nicht? Ein verschlüsseltes Passwort. Eine Menge Dateien. Alle über Robert Fraser. Und natürlich noch ein wenig mehr.« »Ach ja?« »Aber klar!« Danny klang fröhlich. »Schon mal was von Latentico gehört?« Maddie und Alex rissen verblüfft die Augen auf. Latentico? Wovon redete Danny jetzt wieder? »Nicht dass ich wüsste«, gab Brookmier zurück. »Latentico ist ein nagelneues Programm, mit dem 224
sich was-weiß-ich-wie-viele Schichten überschriebener Dateien genau rekonstruieren lassen, Madam.« Jetzt war das Zögern sehr deutlich zu bemerken. »Was wollen Sie?«, fragte sie kühl. »Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor. Wir treffen uns irgendwo, okay? Sie legen mir eine halbe Million Pfund in bar auf die Pranke, und ich lege Ihnen dafür eine hüb sche CD auf Ihre gepflegte Hand. Einverstanden?« Am anderen Ende blieb es lange Zeit still. Danny schnitt in der Zwischenzeit Grimassen, und Alex und Maddie mussten sich trotz der Anspannung beherr schen, um nicht laut loszulachen. »Und wie kann ich sicher sein, dass Sie nicht noch mehr Kopien gemacht haben?«, fragte Brookmier schließlich. Ihre Stimme verriet keinerlei Emotionen. »Tja, ich denke, da werden Sie mir vertrauen müs sen«, antwortete Danny. »Ich werde ein paar Tage brauchen, um das Geld aufzutreiben.« »Nein!«, brüllte Danny plötzlich in den Hörer, so dass auch Alex und Maddie heftig zusammenzuckten. »Die Sache geht noch heute über die Bühne oder gar nicht! Haben Sie verstanden – General?« Wieder ein langes Zögern. »Abgemacht«, sagte sie dann. »Super. Passen Sie genau auf. Wir treffen uns heute um 15 Uhr. An der Nordseite des Elgin Court steht ein großes Gebäude, direkt an der Ecke zur Kensington 225
Park Road. Neben dem Eingang sehen Sie eine kleine, schwarz gestrichene Tür. Sie führt zu einem Treppen haus. Gehen Sie ein Stockwerk höher. Sie kommen an eine Tür, die auf das Dach führt. Von dort klettern Sie über eine Metalltreppe auf das Dach des Nachbarge bäudes. Dort warte ich auf Sie. Kommen Sie auf jeden Fall allein, sonst verschwinde ich sofort.« »Elgin Crescent?«, fragte Brookmier. »Dort kommt doch der Karnevalsumzug durch, nicht wahr? Viel leicht sollte ich mir etwas Passendes anziehen.« »Ist mir egal, was Sie anziehen«, sagte Danny und gab sich Mühe, sehr nervös zu klingen. »Sie können meinetwegen auch nackt kommen, Hauptsache, Sie bringen mir die Kohle.« Er drückte auf eine Taste und beendete das Gespräch. Maddie starrte ihn begeistert an. »Du hast einen Os car verdient, Danny!« Auch Alex nickte anerkennend. »Du warst echt su per, aber ich glaube, dass das der leichtere Teil war. Jetzt kommt die eigentliche Arbeit.« Er blickte kurz auf die Armbanduhr. »Ich schlage vor, dass wir jetzt zum Karneval zurückgehen. Wir mischen uns einfach unters Volk, bis es Zeit ist, zum Treffpunkt zu gehen.« Er sah Danny nachdenklich an. »Gibt’s irgendwelche Probleme?«, fragte Danny. Alex zuckte leicht die Schultern. »Dir ist doch hof fentlich klar, dass sie dich erledigen will!«, sagte er. 226
Zwanzigstes Kapitel Montpellier Square, Knightsbridge In einem elegant eingerichteten Zimmer saß ein unauf fällig wirkender Mann im Fenstererker und beugte sich über das feine Uhrwerk einer wertvollen antiken Ta schenuhr. Die Uhr war in letzter Zeit fast fünf Sekunden täg lich nachgegangen, und der Mann hasste es, wenn et was nicht ordnungsgemäß funktionierte. Er hasste überhaupt jede Form von Unordnung. Seine Wohnung war stets tadellos aufgeräumt; kein Stäubchen war zu sehen. An einer Wand stand ein antiker Sekretär, auf dem ein geöffnetes Notebook still vor sich hin flimmerte. Ein Piepton ließ den Mann aufblicken – eine E-Mail war eingegangen. Er runzelte die Stirn, legte sein Werkzeug ab und öffnete die Mail. Mit unbewegter Miene las er den kurzen Text und tippte eine ebenso kurze Antwort ein. Ein neuer Auftrag war eingegangen – in Elgin Cres 227
cent, Notting Hill, um 15 Uhr. Genau genommen han delte es sich um drei Aufträge – also dreifaches Hono rar. Er warf einen Blick auf die große Standuhr: 13.25 Uhr. Kein Grund zur Eile. Das Werkzeug, das er beruf lich benötigte, befand sich in einem silbernen Akten koffer und war in einsatzbereitem Zustand. Es gab also nichts vorzubereiten. Er brauchte nur den Koffer zu nehmen und nach Notting Hill zu fahren. Der schwarze Zafira stand jetzt in der Walmer Road. Der Mann mit dem Fernglas beobachtete drei Perso nen, die vom Avondale Park kamen und gerade die Straße überquerten. »Sie gehen zum Karneval zurück«, sagte er. »Wir fahren so nahe wie möglich an den Um zug heran und parken den Wagen. Von dort an werden Sie die drei zu Fuß verfolgen.« Er setzte kurz das Fernglas ab. »Sie dürfen sie auf keinen Fall aus den Augen verlieren.« Der Karnevalsumzug füllte die Straßen, bis sich kaum noch jemand frei bewegen konnte. Die Farbenpracht der Kostüme war atemberaubend. An Laternen, Am peln und Verkehrszeichen hingen riesige Lautspre cherboxen über der Menge und »What is Life?« dröhn te durch die Straßen – die perfekte Karnevalsmusik, wummernde Bässe, die das Straßenpflaster zum Vib rieren brachten. Jahrmarktbuden säumten die Straßen. Überall duftete es nach würzigen exotischen Speisen. 228
Maddie, Alex und Danny kamen dem eigentlichen Zentrum des Karnevals immer näher. Blaskapellen auf beiden Seiten der Straße versuchten sich gegenseitig zu übertönen. Es war ein gewaltiger Schmelztiegel von Menschen unterschiedlichster Kulturen, die hier ge meinsam und völlig ausgelassen den größten Straßen karneval Europas feierten. Danny schien wild entschlossen, sich zu amüsieren, als ob es der letzte Tag in seinem Leben sei. Maddie fand sich plötzlich mitten unter den Tanzenden; sie konnte sich der Stimmung nicht entziehen, die um sie herum wogte. Ein paar Augenblicke vergaß sie beina he, weshalb sie hier war. Nur Alex hielt sich abseits. Er konzentrierte sich völlig auf die Aufgabe, die vor ihnen lag. Er hatte ei nen Entschluss gefasst. Die Frage war nur, wie er ihn Danny beibringen sollte. Alex sah auf die Uhr – 14.30 Uhr. Es wurde Zeit, zum Treffpunkt zu gehen. Er gab Maddie und Danny ein Zeichen. Die drei Agenten drängten sich durch die Men schenmenge. Ein Umzugswagen glitt vorbei, der ei nen riesigen Drachen darstellte, geschmückt mit glänzenden bunten Bändern. Aus dem Drachen klang der unverkennbare kräftige Rhythmus von KodoTrommeln. Maddie und ihre Kollegen überquerten die Straße 229
und gelangten zu dem Gebäude an der Ecke des Elgin Crescent. Alex schloss die schwarze Tür hinter sich. Sie stiegen hintereinander die Treppe hinauf und er reichten die Tür, die zum Dach des Nachbarhauses führte. Maddie nahm die kugelsichere Weste aus ihrer Tasche, während Alex überprüfte, ob das Mikrofon richtig funktionierte. Danny knöpfte sein Hemd auf, um sich das Mikro fon und das Kabel mit einem Klebeband auf der Brust zu befestigen. Alex warf ihm einen kurzen Blick zu. »Was planst du für den Fall, dass sie dir eine Pistole unter die Nase hält?«, fragte er beiläufig. Danny grinste, aber Maddie konnte sehen, dass sei ne Fröhlichkeit nicht ganz echt wirkte. »Ich strecke mich nach oben und kitzle die Wolken.« Dann wurde er ernst. »Hör mal, ich hab eine kugelsichere Weste an. Die Sache ist cool. Ich werde schon mit dieser Dame fertig werden, Mann.« »Oder sie mit dir.« Alex packte Danny am Arm. »Danny, ich glaube, es ist besser, wenn ich das ma che.« Danny riss seinen Arm los. »Ich bin mit ihr verab redet!« Er funkelte Alex wütend an. »Du bist der Techniker hier, Danny! Für solche Ein sätze bin ich besser ausgebildet. Ich bin schneller als du und ich hab den schwarzen Karategürtel. Wenn hier irgendetwas schief läuft, habe ich viel bessere Chan 230
cen.« Er blickte Danny an. »Lass mich die Sache ma chen.« »Alex, es geht nicht! Du bist weiß und ich bin schwarz. Brookmier hat uns observieren lassen, sie kennt mich und dich und Maddie genau. Außerdem kennt sie meine Stimme. Sie wird sofort merken, dass da jemand anders vor ihr steht.« »Sie kann keinen Zentimeter Haut sehen, Danny. Ich trage die Katzenmaske und deinen Karnevalsan zug. Mit Handschuhen und Zylinder. Bis sie merkt, dass jemand anders unter der Verkleidung steckt, ha ben wir genug auf dem Tonband, um sie für alle Zeiten einzubuchten.« »Alex hat Recht«, mischte sich Maddie ein und lä chelte. »Du bist das Hirn in unserer Partnerschaft – Alex ist nichts weiter als ein Muskelprotz.« Alex grinste breit. »Das hätte ich selber nicht netter ausdrücken können.« Danny schüttelte den Kopf. Er zog sein scharlachro tes Anzugsjackett aus und reichte es Alex. »Pass gut darauf auf, Muskelprotz. Der Kostümverleih will den Anzug in einwandfreiem Zustand zurückhaben. Die Jackettärmel sind sehr eng geschnitten, die platzen, wenn du nur den Finger biegst.« »Das Fingerbiegen überlass ich meiner Freundin Christina«, flachste Alex. Doch Maddie hatte bemerkt, dass er nicht lachte. Wenn Brookmier wirklich den Finger am Abzug krümmte, konnte es für Alex trotz 231
der kugelsicheren Weste gefährlich werden. Gegen Kopfschüsse würde ihn die Weste nicht schützen. »Alex, sei vorsichtig …«, begann sie, aber er unter brach sie sofort. »Katzen haben sieben Leben«, sagte er und setzte die Katzenmaske auf.
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Einundzwanzigstes
Kapitel
Südecke Elgin Crescent – Kensington Park Road Zeit: 14.55 Uhr Christina Brookmier stand dicht neben einem Fenster im zweiten Stock eines im neoklassizistischen Stil er richteten Gebäudes. Sie wusste, dass es riskant gewe sen war, hierher zu kommen, aber das war ihr ent schieden lieber, als die Dinge aus der Ferne steuern zu müssen. Nein, die Sache mit den PIC-Leuten konnte sie niemandem überlassen – aber natürlich musste sie den Mann einbeziehen, der manchmal diese Art von Arbeit für sie erledigte. Schweigsam und zuverlässig. Sie hätte ihr jahrelanges Doppelleben nicht durchhal ten können, wenn sie nicht auf jede Einzelheit achten würde. Denn schon die geringste Nebensächlichkeit konnte sie verraten. Sie schüttelte die Gedanken ab und blickte auf die 233
Armbanduhr. Noch ein paar Minuten, bis die Show auf dem Dach gegenüber begann. Eine Show, die höchs tens zwei Minuten dauern würde. Brookmier war ent schlossen, sich nichts entgehen zu lassen. Sie hatte einen Logenplatz. Und außerdem führte sie die Regie. Kurz zuvor hatte sie die drei Agenten durch die schwarze Tür verschwinden sehen – sie mussten in zwischen das Dach erreicht haben. Brookmier hatte die ganze Zeit über gewusst, dass es riskant war, das PIC in die Sache einzuschalten. Sie musste die CD-ROM in ihre Hände bekommen, und Jack Cooper verfügte nicht nur über hervorragend aus gebildete Leute, sondern auch über die Organisation und die Logistik, um die CD zu finden. So weit war auch alles gut gegangen – doch dann hatte sie, Brook mier, einen schweren Fehler gemacht: Sie hatte die drei jungen Leute gewaltig unterschätzt. Und ihr war auch klar, dass sie einen zweiten Fehler gemacht hatte: Niemals hätte sie die echten Hydra-Dateien auf der CD einfach überschreiben dürfen, um Fraser als Schuldi gen vorzuschieben. Sie hatte doch gewusst, dass man gelöschte Dateien wiederherstellen konnte! Wie hatte sie nur dieses wichtige Detail übersehen können? Sie zuckte die Schultern. Ein Fehler, aber noch konnte sie ihn korrigieren. In ein paar Minuten würde dieser Fehler ausradiert sein. Brookmier zuckte unwillkürlich zurück, als sie drü ben auf dem Dach eine Bewegung wahrnahm. Eine 234
Gestalt tauchte auf; sie trug einen scharlachroten Frack mit Zylinder und über dem Gesicht eine Katzenmaske. Brookmiers schmale Lippen verzogen sich zu einem befriedigten Lächeln. Bell war gekommen. Ihr kalter Blick folgte der rot gekleideten Gestalt, die soeben gebückt über das Dach rannte. Dorthin, wo der Tod wartete. »Okay«, flüsterte Alex in sein Mikrofon, »ich bin jetzt auf dem Dach. Genau in der Mitte steht ein breiter Kaminblock.« Er blickte über die Schulter. »Wenn ihr irgendetwas hört oder seht, gebt mir sofort Nachricht. Ich werde mich hier oben ein wenig umschauen.« Er bog um die Ecke des Kaminblocks und blieb wie angewurzelt stehen. Gerade noch rechtzeitig konnte er einen Ausruf unterdrücken und zog scharf den Atem ein. Er trat sofort wieder zurück und schaute vorsichtig um die Ecke. »Was ist los?«, flüsterte Maddie. Alex antwortete nicht. Er war nicht allein auf dem Dach. Am Dachrand stand eine Gestalt. Einen Fuß hatte sie auf die niedrige Begrenzungsmauer gestellt, neigte sich leicht nach vorn und schaute auf die Straße hinun ter. Offensichtlich beobachtete sie den Karnevalsum zug. Sie trug einen langen schwarzen Umhang und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. 235
Alex ließ den Blick über das Dach gleiten. Er war allein hier oben mit der Gestalt. Das Treffen konnte beginnen. Er trat hinter dem Kamin hervor, wobei er sich keine Mühe gab, leise zu sein. Die Gestalt am Dachrand dreh te sich um. Alex blieb unbeweglich stehen und sagte kein Wort. Jetzt sah er, dass die Gestalt unter dem schwarzen Cape ein Skelettkostüm trug – weiße Kno chen auf einem schwarzen Anzug. Das Gesicht war hinter einer grinsenden Totenkopfmaske verborgen. »Das soll mir wohl Angst einjagen?«, fragte Alex und wies auf das Skelettkostüm. Die Gestalt schob langsam die Totenkopfmaske hoch. Es war nicht Christina Brookmier, sondern ein Mann. Er hatte einen Revolver in der Hand. »Hallo, Alex!«, sagte der Mann. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.« Maddie und Danny pressten die Ohren an den Emp fänger. »Wo ist Brookmier?«, hörten sie Alex fragen. »Meine Klientin lässt sich entschuldigen, Alex«, antwortete eine kühle Stimme. »Aber Sie haben ja Ih ren Teil der Vereinbarung auch nicht eingehalten. Soll te nicht Danny die CD übergeben?« »Wieso weiß er so gut Bescheid über uns?«, flüster te Maddie Danny ins Ohr, aber der schüttelte nur den Kopf. 236
»Haben Sie das Geld dabei?«, fragte Alex. »Ach, Alex, kommen Sie schon. Sie wissen doch, dass ich kein Geld überbringe. Und Sie wissen auch genau, was sich hier oben abspielen wird.« Die Stim me klang ruhig. Der Mann ließ ein Lachen hören. »Nun, Alex, Sie wollen sicher wissen, wer ich bin, oder? Über mich gibt es doch bestimmt eine hübsche dicke Akte. Wenn Sie die gelesen hätten, wüssten Sie nämlich, mit wem Sie es zu tun haben, und Sie wüss ten auch, dass ich meine Aufträge stets penibel erfül le.« Er trat einen Schritt auf Alex zu. »Mit einem Kopfschuss nämlich. Ja, ein sauberer Kopfschuss, und der Job ist erledigt.« Maddie starrte verzweifelt an die Zimmerdecke. Sie war absolut sicher, dass der Mann seine Drohung ernst meinte. Sie konnten nicht tatenlos abwarten, bis er Alex umgebracht hatte. Sie wandte sich zur Tür, riss sie auf und wollte die Treppe hinaufstürzen. Danny war mit zwei Schritten bei ihr, packte ihren Oberarm und hielt sie zurück. »Wir bleiben noch hier«, sagte er eindringlich. Alex’ Stimme kam wieder durch den Empfänger. »Sie wollen mich wohl damit beeindrucken, dass Sie unsere Namen kennen?« »Sie haben also noch nicht herausgefunden, wer ich bin?«, fragte der Mann zurück. »Ich will Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfen. Wir kamen uns schon einmal sehr nahe. Ich beobachtete Sie damals durch ein 237
Zielfernrohr. Sie trugen ein blütenweißes Hemd. Ne benbei bemerkt, schieße ich besonders gerne auf Män ner mit weißen Hemden. Die Farbenkombination rot weiß ist besonders attraktiv. Doch schade, damals kam ein Anruf und die Aktion wurde abgeblasen.« Maddie richtete sich auf. Ihr wurde übel. Alex begriff die Wahrheit im selben Augenblick. »Spider!«, zischte er wütend. Plötzlich hatte er die Szene vor Augen: Die WimbledonTennismeisterschaft. Das Finale der Herren. Der Spie ler Will Anderson hatte Morddrohungen erhalten. Das PIC sollte ihn während der Meisterschaft beschützen. Und Spider war engagiert worden, um Will Anderson zu ermorden. Alex hatte die Mündung des Gewehrs in letzter Sekunde entdeckt und war losgerannt, um den Schuss zu verhindern. Doch der Attentäter war schon verschwunden – er hatte eine Nachricht hinterlassen: »Hallo, Alex. Nächstes Mal sind Sie dran.« »Jetzt erinnern Sie sich an mich!«, stellte Spider be friedigt fest. »Das ist nett.« Er hob den Revolver und zielte auf Alex’ Kopf. »Ich glaube, Ihre Freunde sind heute nicht dabei«, sagte er lächelnd. »Das ist dumm. Zu dritt stirbt es sich doch leichter.« Langsam krümmte er den Finger am Abzug. »Leben Sie wohl, Alex.« 238
Der Schuss peitschte aus dem Empfänger. Maddie und Danny fuhren zurück, als sei das Gerät explodiert. Ein Schmerzensschrei war zu hören. Maddies Körper zit terte unkontrolliert. Ohne zu wissen, was sie tat, packte sie Dannys Arm und grub ihre Nägel in seine Haut. Sie konnte vor Schrecken kaum atmen. Sie riss Danny mit sich zur Tür, ließ ihn dort los und sprintete vor ihm die Treppe hinauf.
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Zweiundzwanzigstes Kapitel Der Schmerz raste durch Alex’ Schulter. Er hatte sich zur Seite geworfen, als Spider den Finger am Abzug krümmte. Er hechtete mit Riesensprüngen vorwärts, wobei er sich noch einmal zur Seite warf, als der Killer nochmals auf ihn zielte. Alex war klar, dass er nur eine Chance zum Überle ben hatte, wenn er dem Killer die Waffe abnehmen und ihn in einen Nahkampf verwickeln konnte. Doch der Einschlag der Kugel zeigte Wirkung. Alex’ Angriff fehlte die Kraft, und als er die Arme hob, um sich auf den Killer zu stürzen, zuckte ein hef tiger Schmerz durch die Schulter; der linke Arm ge horchte ihm nicht mehr. Spider zielte erneut auf Alex’ Kopf. Alex hechtete in eine Vorwärtsrolle. Rasende Schmerzen tobten durch seine Schulter. Er kickte mit beiden Füßen und mit aller Kraft gegen Spiders Kör per. Spider taumelte ein paar Schritte rückwärts. Seine Waden stießen gegen die niedrige Umfassungsmauer. Sein Körper neigte sich nach hinten. Er ruderte mit den 240
Armen. Der Schrecken verzerrte sein Gesicht zu einer wilden Maske. Spider verlor den Kampf. Eine letzte Sekunde bohrten sich ihre Blicke ineinander – die Bli cke des Jägers und des Gejagten –, dann stürzte der Killer rückwärts über die Umfassungsmauer. Sein wei ter Mantel blähte sich auf und sein Todesschrei gellte über den Karnevalslärm hinweg. Dann war er ver schwunden. Brookmier sah den Killer vom Dach stürzen. Kalt verfolgten ihre Augen seinen Fall, den durchdringenden Todesschrei, den wehenden Mantel, die hilflos rudern den Arme. Dann kam der Aufschlag. Panik erfasste die Menschen auf der Straße. Ein Tumult brach los. Brookmier blieb kalt – unbewegt verfolgte sie die Szene, nur ihr Atem ging etwas schneller. Spider bedeu tete ihr nicht viel – augenblicklich löschte sie ihn aus ihrem Denken. Jetzt ging es ihr nur noch um eines – Jack Coopers Tochter und ihre Kollegen waren noch am Leben. Sie stellten noch immer eine Gefahr dar. Und mit dieser Gefahr musste sie sich jetzt persönlich befas sen. Entschlossen wandte sie sich vom Fenster ab – und starrte in die klaren grünen Augen von Tara Moon. Geistesgegenwärtig zog Brookmier eine Pistole aus ihrer Handtasche – und wurde blass. Es war keine ech te, keine tödliche Waffe, die sie in den Händen hielt, sondern nur eine Elektroschockpistole. Heute ging mehr schief, als sie verkraften konnte. Wie hatte sie nur die beiden Waffen bei ihrem Aufbruch verwech 241
seln können? War sie doch unsicherer als sie es sich selbst eingestehen wollte? Hatte sie noch alle Fäden in der Hand? – Doch ihre Gedanken nahmen nur eine Hundertstelsekunde Raum in ihrem Kopf ein. Dann schoss sie. Danny sah Maddie vor sich die Treppe hinaufhetzen. Er packte sie und riss sie zurück. »Bleib hier!«, brüllte er und drängte sich an ihr vorbei. »Fordere Verstär kung an! Großeinsatz!« Maddie reagierte instinktiv – Verstärkung anzufor dern war absolut richtig. Sie verdrängte die instinktive Wut über Dannys – anscheinend – selbstherrliches Verhalten und rannte in das Zimmer zum Empfänger zurück. Sie hörte Geräusche vom Dach – Rauschen, ein ver zerrtes Krachen, schnelle Bewegungen. Sie hörte Alex, der nach Luft schnappte. Alex war am Leben – noch. Maddie griff nach dem Mobiltelefon. Mit fliegenden Fingern tippte sie die Kurzwahl ein. In diesem Augenblick piepste Alex’ Handy. Maddie griff danach. »Alex – hier ist Jack Cooper.« »Dad?«, keuchte Maddie. »Maddie? Wo ist … Hör genau zu. Sag Alex, er soll sofort zu dem weißen Gebäude gegenüber gehen. Christina Brookmier ist dort. Ich habe Tara Moon hin 242
geschickt, um sie festzunehmen, aber der Kontakt ist abgebrochen. Sie meldet sich nicht. Ich glaube, sie ist in Schwierigkeiten.« Maddies Gedanken wirbelten panikartig durch den Kopf. »Dad, Alex ist angeschossen worden!« Jack Cooper zögerte keine Sekunde. »Verstanden. Bleib, wo du bist. Ich rufe Verstärkung.« Die Verbin dung brach ab. Maddie rannte zum Fenster. Von unten hörte sie entsetzte Schreie, Befehle wurden gebrüllt. Etwas war geschehen, das nicht zur Fröhlichkeit des Karnevals passte. Aber Maddie hatte keine Zeit, darüber nachzu denken. Sie blickte zur anderen Straßenseite und er kannte sofort das weiße Haus. Was immer auf dem Dach geschehen mochte – Alex hatte Danny zur Unterstützung. Tara Moon hatte niemanden. Sie brauchte Maddies Hilfe. Maddie raste zur Tür hinaus und setzte in Riesen sprüngen die Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Draußen drängte sie sich brutal durch die Menge. Es herrschte Panik. Die Leute schrien und drängten weg von einem riesigen gelben Umzugswagen, der mitten auf der Straße stand. Der Wagen blockierte wild hu pend die Straße. Der Umzug kam zum Stillstand, aber die Lautsprecher wummerten noch immer. Außer Atem erreichte Maddie den Eingang des 243
weißen Gebäudes – fünf Stufen führten zu einer Dop pelglastür hinauf. Maddie stürzte durch die Tür und fand sich in der hohen Empfangshalle eines Büroge bäudes. Keuchend blieb sie stehen. Das Gebäude war riesig, wahrscheinlich hatte es dutzende Büroräume, und Brookmier und Tara konn ten überall sein! Maddie hielt sich einen Moment lang am Treppen geländer fest. Sie überlegte kurz. Die untersten Stock werke schieden aus – Brookmier hatte Spider als Killer geschickt. Sicherlich wollte sie von hier aus beobach ten, was sich auf dem Dach gegenüber abspielte. Sie musste also in einem der oberen Stockwerke sein. Maddie sprintete hinauf. Plötzlich hörte sie von oben ein Geräusch. Sie blieb stehen und blickte empor. Auf dem nächsten Treppenabsatz stand Brookmier. Sie war allein. Vor Schreck wie gelähmt, sah Maddie, dass sie eine Pistole in der Hand hielt. Die Mündung war genau auf sie gerichtet. Tara Moon lag in einem Büroraum im vierten Stock bewusstlos auf dem Boden. Tara war durch den Schuss aus der Elektroschockpistole außer Gefecht gesetzt worden. Die Wirkung würde mindestens eine Viertel stunde lang anhalten. Die Waffe sah aus wie eine Pis tole, feuerte aber statt Patronen zwei mit Widerhaken versehene Pfeile ab, die über Kupferdrähte mit dem Taser verbunden waren. Beim Aufprall auf ihren Kör 244
per verhakten sich die Pfeile in ihrer Kleidung und der Taser entlud eine Spannung von 50000 Volt, die Taras zentrales Nervensystem blockiert und eine totale Läh mung ihrer Muskeln und ihrer sämtlichen geistigen und körperlichen Funktionen bewirkt hatte. Maddie hatte den Atem angehalten. Jetzt begann sie heftig zu keuchen. Brookmier stand unbeweglich auf dem Treppenabsatz. Die Hand mit der Pistole zitterte nicht. Sie starrte Maddie direkt in die Augen. Dann kam sie langsam die Treppe herunter, ohne den Blick von Maddie abzuwenden. Das Mädchen bot eine klare Zielscheibe. Brookmier befand sich nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Sie blieb mitten auf der Treppe stehen. Mit ausdruckslosem Gesicht hob sie nun auch die andere Hand an die Waffe, um ruhig und sicher zu zielen. Maddies Blick glitt von Brookmiers Gesicht zu ih rer Waffe. Maddie hatte genügend echte Waffen in der Hand gehalten, um sie von Nachahmungen unterschei den zu können. Diese Waffe sah jedenfalls wie eine Plastikpistole aus. Blitzschnell traf sie die Entscheidung. Aus dem Stand sprang sie die nächsten Stufen hinauf. Christina Brookmier wich instinktiv zurück, aber gleichzeitig krümmte sie den Zeigefinger. Die Waffe feuerte. Danny stürmte die Eisentreppe zum Dach hinauf, ohne 245
sich um seine eigene Sicherheit zu kümmern. Er hatte nur ein einziges Ziel: Alex zu helfen. Mitten im Lauf bremste Danny abrupt. Alex lag auf dem Asphalt vor der Umfassungsmauer und presste eine Hand gegen die Schulter. Er war allein. Danny kniete neben Alex nieder, der mit schmerz verzerrtem Gesicht zu ihm aufblickte. »Er ist vom Dach gestürzt«, presste Alex hervor. »Vergiss ihn«, sagte Danny. »Du brauchst einen Arzt. Und zwar sofort.« Maddie stürmte so schnell und heftig heran, dass Christina Brookmier erschrocken eine Stufe zurück wich. Gleichzeitig feuerte sie zweimal hintereinan der. Aber beide Schüsse gingen knapp über Maddie hinweg und bohrten sich in die hintere Wand des Treppenhauses. Maddie nahm flüchtig zwei haardünne elektrische Kupferdrähte wahr, die sich über ihrer Schulter spannten. Mit einem hörbaren Knistern entlud der Taser zwei Stromstöße in den Wandputz. Doch sie achtete nicht darauf. Sie landete zwei mit aller Kraft geführte Schläge direkt in Brookmiers Magen. Brook mier krümmte sich und stürzte auf die Treppe. Maddie packte die Handgelenke der Gegnerin und drückte ihre Arme zur Seite, als diese versuchte, die Elektrokontak te des Tasers in Kontakt mit Maddies Körper zu brin gen. Maddie begriff, mit welcher Waffe sie es hier zu tun 246
hatte: Ein Taser konnte auch im Nahkampf verwendet werden. Aber Brookmier kämpfte mit wilder Ent schlossenheit. Für sie ging es jetzt um alles. Und sie war stark. Maddie wehrte sich verzweifelt und ver suchte, ihr die Arme auf den Rücken zu drehen, aber Brookmier gelang es, den Taser immer näher an Mad dies Gesicht zu drücken. Eine einzige Berührung reich te aus, um Maddie schlagartig außer Gefecht zu setzen. Plötzlich wurde Maddie von blinder Wut gepackt. Diese Frau war eine Verbrecherin! Sie hatte Waffen an Terroristen geliefert. Sie war mitschuldig am Tod von unzähligen Menschen und hatte die Ermordung Frasers befohlen. Sie hatte einen Killer auf Alex schießen las sen. Niemals würde sich Maddie von dieser Teufelin besiegen lassen! Mit einem wütenden Schrei riss sie Brookmiers Arm herum. Der Taser war jetzt gegen Brookmiers Hals gerich tet. Maddies Finger drückte auf den Zeigefinger der Gegnerin. Die Waffe entlud einen Stromstoß. Maddie ließ abrupt los und sprang ein paar Schritte zurück. Brookmier krümmte sich ein paar furchtbare Se kunden lang auf der Treppe, dann lag sie still. Maddies Knie gaben nach. Völlig erschöpft ließ sie sich an der Wand heruntergleiten und blieb auf einer Treppenstufe sitzen. Es war vorbei.
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Der Karnevalsumzug stockte noch immer. Eine Pha lanx von Polizisten trieb eine Schneise durch die Men schenmenge bis zu dem gelben Umzugswagen. Ein paar Beamte kletterten auf den Wagen, während die übrigen einen dichten Kordon darum bildeten. Der Umzugswagen war mit hunderten echter Sonnenblu men dekoriert, die auf einem großen kuppelartigen Gerüst arrangiert worden waren. Der Mann war mitten auf das Gerüst gestürzt und die Kuppel war teilweise zerstört worden. Eine Beamtin schob die geborstenen Holzstangen beiseite, aus denen die Kuppel konstruiert worden war. Auch das Innere der Kuppelruine bot ein Bild der Verwüstung. Auf dem Boden lag ein Haufen von Holzsplittern, Blüten und Blättern. Die Polizistin hatte Mühe, bis in die Mitte vorzudringen. Sie wühlte sich durch den Blütenberg, um zu dem Körper zu gelangen. Kurze Zeit später kam sie wieder aus der Kuppel ruine heraus. Ihre Kollegen sahen sie an. Sie trat an den Rand des Wagens, sah den Einsatzleiter an und schüttelte den Kopf. »Niemand drin«, schrie sie, um das Dröhnen der Musik zu übertönen, »dieser Mensch ist spurlos ver schwunden!« Der schwarze Vauxhall Zafira raste über die St. Quin tin Avenue. PIC-Agentin Gina Sidiropoulos saß am Steuer. Der Verkehr war hier nicht so dicht wie in der 248
Nähe des Karnevals, sodass sie gut vorankam. Hinten im Wagen saßen Chief Inspector Jack Cooper und Maddie. In ein paar Minuten würden sie das Kranken haus in Hammersmith erreicht haben. Zwei Krankenwagen waren schon mit Blaulicht und Sirene vorausgefahren. Im ersten Wagen wurde Alex transportiert, der ziemlich viel Blut verloren hatte. Sei ne Verletzung war zwar schwer, aber nicht lebensge fährlich. Die Kugel war sauber durch die Schulter ge drungen und hatte keinen Knochen verletzt. Danny war bei Alex im Wagen. Tara Moon lag im zweiten Krankenwagen. Sie hatte eine Viertelstunde, nachdem sie den Taser-Stromstoß erhalten hatte, das Bewusstsein wiedererlangt, aber sie konnte sich nicht auf den Beinen halten. Jack Cooper hatte darauf bestanden, dass sie sehr gründlich unter sucht wurde. Neben ihr lag Christina Brookmier, die von zwei Polizisten bewacht wurde. Auch Brookmier war wieder bei Bewusstsein. Mit Handschellen hatte man sie an einen der Polizisten gefesselt. Sie lag auf ihrem Bett und es war offensichtlich, dass sie sich elend fühlte. Den Rest ihres Lebens würde sie in einer Zelle verbringen. Maddie versuchte, all die Informationen zu verar beiten, die ihr Vater ihr während der Fahrt gab. »Ich hatte Christina Brookmier von Anfang an im Verdacht«, sagte Jack Cooper. »Schließlich habe ich einen Instinkt dafür entwickelt, wenn die Leute versu 249
chen, mich in eine Falle zu locken. Ich vereinbarte deshalb mit dem Verteidigungsminister eine Bespre chung. Der Minister war bereit, mir Zugang zu allen Dokumenten zu geben, die im Verlauf der Ermittlun gen gesammelt worden waren. Darunter waren auch die geschützten, persönlichen Dateien Christinas.« Maddie hob erstaunt die Augenbrauen. »Von diesem Moment an wurde die Sache sehr inte ressant«, fuhr Jack Cooper fort. »Christinas Dateien zeigten nämlich, dass sie über Frasers Beziehungen zur Unterwelt schon seit langem genau Bescheid wusste. Ich holte mir also direkt beim Innenminister die Ge nehmigung, ihr Telefon abhören zu lassen. Chris hat jede einzelne Aktion von PIC genau verfolgt. Sie wusste auch über alles Bescheid, was ich machte, je denfalls solange ich im Büro war. Deshalb gab es für mich nur eine Möglichkeit, sie zu beobachten: Ich musste irgendwo untertauchen. Ich wusste auch, dass sie Danny in Deptford obser vieren ließ, aber ich wollte ihr den ersten Schachzug überlassen. Ich konnte ihn nicht einmal warnen – denn dann hätte sie gemerkt, dass sie selbst unter Beobach tung stand.« »Wusste sie über unseren … hm, Hausbesuch in Roydon Bescheid?«, fragte Maddie. Ihr Vater lächelte und nickte. »Sie wusste alles dar über«, sagte er. »Und sie wusste, dass Danny die CD entschlüsselt hatte, und irgendwann muss ihr auch der 250
Gedanke gekommen sein, dass er sogar die gelöschten Dateien wiederhergestellt haben könnte. Sie musste also einen Einbruch in Dannys Wohnung organisieren, damit sie die CD in die Hände bekam und die Beweismittel vernichten konnte.« Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. »In der Nacht muss Christina also sehr be schäftigt gewesen sein. Sie hatte ja schon vorher die Pressekonferenz vorbereiten und sie dann in St. Anne’s Gate abhalten müssen.« Er lachte leise. »Ich glaube, sie wollte unbedingt vor uns an die Öffentlichkeit gehen. Das scheint ihr sehr wichtig gewesen zu sein.« »Das alles erklärt auch, wie sie die Presseerklärung so schnell abgeben konnte«, sagte Maddie. »Ich war völlig verblüfft, wie rasch sie das geschafft hatte. Aber jetzt weiß ich natürlich, warum: Sie musste die CD gar nicht decodieren – schließlich kannte sie die Dateien genau, die darauf gespeichert waren.« »Richtig. Und nach der Pressekonferenz fuhr sie nach Bloomsbury«, erklärte ihr Vater. »Dort veranlass te sie, dass Danny observiert wurde, und ordnete später den Einbruch in seiner Wohnung an. Für Danny war das ein sehr gefährlicher Zeitpunkt. Ich schickte Tara zu seiner Wohnung, denn ich wollte sicher gehen, dass ihm nichts geschah, aber er hatte sich rechtzeitig abset zen können.« Maddie runzelte die Stirn. »Du hast uns observieren lassen?«, fragte sie wütend. Ihr Vater hob beschwichtigend die Hand. »Nun mal 251
langsam«, sagte er lächelnd. »Ihr habt schließlich eine ganze Reihe von Dingen gemacht, ohne Susan Baxen dale vorher zu informieren!« Maddie senkte den Kopf. »Aber woher hast du ge wusst, wo wir uns befanden?« Ihr Vater lachte. »Viel leicht erinnerst du dich an die Handys, die ich dir und Alex gegeben habe, als ihr in die Autoschieberszene eingeschleust wurdet?« »Was ist damit?« »Ein harmloses Ortungsgerät. Ich wusste immer, wo ihr wart.« Maddie starrte ihn sprachlos an. »Für mich war das eine Rückversicherung«, sagte Jack Cooper. »Ich hasse Überraschungen, oder jedenfalls solche, die ich nicht selbst arrangiert habe.«
Krankenhaus Hammersmith Zeit: 17.25 Uhr Alex saß aufrecht im Bett. Seine Schulter war dick verbunden, aber er war wach und einigermaßen auf nahmefähig. Maddie saß auf dem einen Bettrand, Danny auf dem anderen. Beide waren erschöpft, besonders Maddie, der erst allmählich bewusst geworden war, wie knapp sie alle drei an einer Katastrophe vorbeigeschrammt waren. 252
Alex und Danny hörten aufmerksam zu, als sie ih nen von dem Gespräch mit ihrem Vater erzählte. Die beiden lachten darüber, als sie erfuhren, dass Jack Cooper sie die ganze Zeit über ebenfalls hatte beo bachten lassen – wie sie es mit ihren Gegnern in den vergangenen Tagen getan hatten. »Aber wir sind es, die gewonnen haben, Leute! Das ist alles, was zählt.« Alex schüttelte grimmig den Kopf. »Wir haben nur teilweise gewonnen. Longman, Brookmier und ihre Leute haben wir hinter Gitter gebracht. Aber Spider … der Killer! Der ist uns entwischt.« »Den kriegen wir auch noch«, sagte Danny zuver sichtlich. »Oder er uns«, sagte Alex düster. »Er hat die Sache in den Sand gesetzt«, stellte Mad die fest. »Jetzt gilt er bestimmt nicht mehr als der beste Pro fikiller Londons.« Alex ließ sich erschöpft ins Kissen zurückfallen. »So einfach kommen wir nicht davon, Maddie. Er hat mich zwar nicht richtig getroffen, aber ihr werdet sehen, das macht ihn zum Superhelden der Unterwelt, zu einer Art Batman. Er hat einen Sturz aus dieser Höhe überlebt und wird sich nicht so leicht geschlagen geben.« »Er soll nur kommen«, sagte Maddie und warf den Kopf stolz zurück. »Mit Spider nehmen wir es jeder zeit auf.« 253
Alex hob die Augenbrauen, aber Danny grinste. »Wir drei nehmen es mit jedem auf.« Maddie lächelte auch. Sie waren ein starkes Team.
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