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Scan by Schlaflos Taschenbücher von ROBERT L. FORWARD im BASTEI LÜBBE-Programm: 24 019 Das Drachenei 24 078 Der Flug der Libelle
STERNBEBEN Krieg auf dem Neutronenstern
BASTEI LUBBE BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Special Band 24100 Erste Auflage: November 1987 © Copyright 1985 by Robert L. Forward , All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1987 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Starquake Ins Deutsche übertragen von Karin Koch Lektorat: Dr. Helmut Pesch Titelillustration: Ralph McQuarrie Umschlaggestalrung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-24100-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Mein Dank gilt den vielen Freunden, die ihre Ideen beigesteuert haben und mir in verschiedenen technischen Bereichen hilfreich zur Seite standen. Abgesehen von denjenigen, die mich dabei unterstützten, die Welt des Neutronensterns in »Das Drachenei« glaubwürdiger zu gestalten, möchte ich noch Paul Blass, Rod Hyde, Keith Lofstrom, David Lynch, Lester del Rey und Mark Zimmermann für ihre Hilfestellung bei dieser Fortsetzung danken. Mein besonderer Dank gilt Eve, die sich für die zahlreichen Generationen von Cheela, die auf den nächsten Seiten leben, kämpfen und sterben, immer neue Namen ausgedacht hat. Und ich danke Martha dafür, daß sie sich mit einem Ehemann abfand, der mit seinen Gedanken ständig abwesend war.
Einleitung Durch die dunkle Leere zwischen der Sonne und ihren stellaren Nachbarn drang ein winziger Besucher in das Sonnensystem ein — ein sich rasch drehender, weißglühender, überdichter Neutronenstern. Von Osten nach Westen durchzog ihn ein extrem starkes Magnetfeld. Die beiden wirbelnden Ausläufer der Magnetkräfte peitschten die Atome, die im Raum um ihn herum trieben, bis sie sich nahezu lichtschnell bewegten. Die angeregten Atome sonderten daraufhin einen pulsierenden Strahl mächtiger Radiowellen ab. Daher war der winzige Neutronenstern von den Radioteleskopen auf der Erde bereits entdeckt worden, lange bevor er das Sonnensystem erreichte, obwohl er zu klein war, um mit bloßem Auge am Himmel wahrgenommen zu werden. Der Neutronenstern war »Drachenei« genannt worden. Als man auf ihn aufmerksam wurde, hatte er sich am hinteren Ende des Sternbildes Draco am Himmel befunden, so, als hätte der Drache ein Ei in seinem Nest zurückgelassen. Die Entdeckung magnetischer Mono-Pole hatte die Fusionsraketentechnologie revolutioniert, so daß es nicht lange dauerte, bis die erste »interstellare« Expedition den Stern erreichte, ungefähr 2120 AE von der Erde entfernt. In ihrem interstellaren Raumschiff St. George näherte sich die Erkundungsmannschaft vorsichtig dem Besucher; denn ein Neutronenstern kann gefährlich werden, wenn man ihm zu nahe kommt, ohne entsprechende Vorkehrungen getroffen zu haben. Obwohl das Drachenei nur einen Durchmesser von 20 Kilometern besaß, betrug die Oberflächengravitation das 67-Millardenfache der Erdgravitation, die Temperatur war mit 8200 K höher als die der Sonne, und das Magnetfeld von einer Billion Gauß, das sich an den »östlichen« und »westlichen« Magnet-»Polen« durch den Stern zog, war so stark, daß es einen normalen runden Atomkern zu einer Zigarrenform in die Länge ziehen konnte. Da das Drachen7 ei mit etwas mehr als fünf Umdrehungen pro Sekunde rotierte, hätten die rasenden Magnetfelder, die vom Ostund Westpol ausgingen, jedes menschliche Wesen, das sich dem Stern ohne entsprechende Schutzvorkehrungen näherte, einfach gekocht. Um der Gravitation und den rotierenden Magnetfeldern entgegenzuwirken, brachten die Wissenschaftler der St. George ihre kleine Erkundungskapsel, den »Drachentöter«, in 406 Kilometer Entfernung von dem Stern in eine synchrone Umlaufbahn, wo die extreme Gravitation von der Zentrifugalkraft aufgefangen wurde. Hier bewegte sich der Drachentöter also an dem Magnetfeld entlang, und in einer Entfernung von 406 Kilometern stellte es nicht länger eine Gefahr, sondern nur noch ein Ärgernis dar. Obwohl die Umlaufbewegung des Drachentöters die Gravitation im Zentrum des Raumschiffes auffing, war die ganze Sache nicht überall perfekt. Die Restgravitationswellen von 200 G pro Meter blieben immer noch gefährlich genug, aber die Wissenschaftler, die den Erkundungsflug vorbereiteten, fanden auch für dieses
Problem eine Lösung. Sie wanden ein supraleitendes Kabel von einer Million Kilometern Länge um den Neutronenstern. Das Kabel wurde dazu benutzt, elektrische Energie aus dem rotierenden Magnetfeld des Sterns abzuziehen. Der elektrische Strom im Kabel versorgte eine automatische Fabrik, die magnetische Mono-Pole erzeugte. Diese Mono-Pole wurden in acht der zahlreichen Asteroiden geleitet, die von dem Neutronenstern auf seiner Reise durch das All eingesammelt worden waren. Es waren zwei große Asteroide und sechs kleine. Die Mono-Pole aus der Fabrik verdichteten die Asteroide, bis sie ungefähr die Dichte des Neutronensterns besaßen. Indem sie die Gravitationswechselwirkungen zwischen den beiden größeren Asteroiden, Otis und Oskar, ausnutzten, spielten die Menschen und ihre Computer Himmelsbillard und brachten damit die sechs kleineren Asteroiden in kreisförmiger Formation in eine synchrone Umlaufbahn über dem Ostpol des Sterns. Dann 8 wurde der Drachentöter mit seiner Mannschaft hinuntergezogen, um seinen Platz zwischen ihnen einzunehmen, wobei Otis als Gravitationslift diente. Als sich die Mannschaft im Orbit befand, begann sie damit, das Drachenei zu kartographieren. Sie erwartete viele interessante wissenschaftliche Daten über diesen verdichteten Besucher ihres Sonnensystems zu erhalten, aber sie entdeckte auch etwas, womit niemand gerechnet hätte. Leben! Leben auf der Oberfläche eines Neutronensterns! Die fremden Kreaturen, die »Cheela«, besaßen eine große Dichte — so groß wie die der Kruste, die den weißglühenden Stern bedeckte. Die winzigen Körper der Cheela, etwas größer als Sesamkörner, wogen so viel wie ein Mensch, da sie aus entartetem Kernmaterial bestanden. Für die lebenserhaltenden Prozesse innerhalb ihres Körpers machten sich die Cheela die Wechselwirkungen zwischen den nuklearen Partikeln in den bloßen Atomkernen zunutze, aus denen sie bestanden, während das Leben auf der Erde elektronische Wechselwirkungen zwischen den Elektronenwolken der Atome nutzt, die den menschlichen Körper bilden. Da sich die nuklearen Reaktionen eine Million Mal häufiger abspielen als die elektronischen, dachten, sprachen, lebten und starben die Cheela eine Million Mal schneller als die Menschen in ihrem Orbit über ihnen. Als der Drachentöter seine Position über dem Ostpol einnahm, waren die Cheela nichts anderes als Wilde, und sie blickten mit Ehrfurcht auf die Laservermessungsstrahlen, die aus der Mitte der seltsamen, starren Sternformation am Himmel über ihnen heruntergeschickt wurden. Sie errichteten einen riesigen Hügeltempel, um die neuen Götter zu verehren. Die Menschen entdeckten den Tempel und fingen an, einfache Bildbotschaften zu senden, mit einem Puls pro Sekunde. In weniger als einem Tag hatten die Cheela ihre Technik so weit entwickelt, daß sie in der Lage waren, erste grobe Signale mit 250000 Pulsen pro Sekunde von 9 Hand an die Götter über ihnen zu senden. Die Menschen, die endlich erkannten, welch ein enormer Zeitunterschied hier vorlag, arbeiteten so schnell sie konnten, aber beinahe eine Generation verging auf der Oberfläche des Neutronensterns, bevor die menschlichen Laserimpulse den primitiven, flackernden Signalen der Cheela unten antworteten. Die Mannschaft des Drachentöters benutzte die langsameren wissenschaftlichen Instrumente, so wie Laser-Radar-Abtaster, für die Kommunikation zwischen Cheela und Mensch, während der Computer direkt die Schiffsbibliothek von der Holographie-Datenbank durch einen HochgeschwindigkeitsLaserkommunikator auf die Oberfläche unter ihnen abstrahlte. Der leitende Wissenschaftler Pierre Carnot Niven sah zu, wie Chefingenieur Amalita Shakhashiri Drake die ersten der 25 Speicherkristalle, A bis AME, in die Kommunikationskonsole einschob. »Ein vollständiges Bildungsprogramm, von Astrologie bis Zoologie«, dachte Pierre. »Es mag nicht die beste Unterrichtsmethode sein, in alphabetischer Reihenfolge vorzugehen, aber in unserem Fall ist es die schnellste.« Einen halben Tag lang waren die Menschen Lehrer für die Cheela. In diesen zwölf Stunden vergingen sechzig Cheela-Generationen. Es waren furchtbare Zeiten für die Cheela, während das Manna der Erkenntnis vom Himmel strömte und die zuvor kriegführenden Clans auf dem Stern beschäftigte und Frieden halten ließ. Nach dem ersten halben Tag hatten die Cheela die menschliche Rasse in der technologischen Entwicklung überholt, und nun war es an den Menschen, zu Schülern zu werden. Trotz ihrer Erschöpfung und ihrer Verwirrung über die Schnelligkeit der Ereignisse am vergangenen Tag setzten die Menschen ihre Arbeit an den verschiedenen wissenschaftlichen Instrumenten und Konsolen eifrig fort, während die Speicherkristalle der Schiffsbibliothek einer nach dem anderen mit dem Wissen der Cheela umgeschrieben wurden. 10 Abschied Zeit: 06:00:00 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Piep! Piep! Piep! Pierre Niven öffnete die müden Augen und stellte unbeholfen den Wecker an seinem Armchronometer ab. Sechs Stunden Schlaf. Er rieb mit der Hand über sein bärtiges Kinn. Der Bart mußte dringend gestutzt werden, vielleicht schimmerten auch schon ein paar graue Haare durch das Braun, aber dafür war jetzt keine Zeit. Ein hastiger Imbiß in der Kombüse, dann würde er Amalita an der Kommunikationskonsole ablösen. Sie und Seiko waren, was ihre Schlafpausen anging, schon lange überfällig. Von nebenan, wo Jean Kelly Thomas mit dem Klappmechanismus ihres Bettes kämpfte, drangen unterdrückte Verwünschungen.
Der lange Tag begann. Zeit: 06:05:06 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Die Wissenschaftlerin Seiko Kauffmann Takahashi arbeitete auf dem Forschungsdeck am Direktbildteleskop. Das Teleskop, mit einem Spiegel von einem Meter Durchmesser in der Spitze des zylindrischen Instrumententurms, ragte aus dem »Nordpol« des kugelförmigen Drachentöters heraus und war auf den Neutronenstern gerichtet. Das große, leuchtende Bild wurde durch das hohle Innere des Turmes geleitet und auf der mattierten Oberfläche des Direktbildtisches in der Mitte des Oberdecks gebündelt. Seiko blickte darauf hinunter, während der Computer durch eine Reihe von Lichtdetektoren, die unter der Oberfläche des Tisches installiert waren, auf dasselbe Bild hinaufsah. Als die Mannschaft vor etwas mehr als einem Tag angekommen war, hatte das Bild des Sterns nur wenige Besonderheiten 11 gezeigt. In der nördlichen Hemisphäre befand sich ein großer Vulkan, und die rauhen, gebirgigen Regionen um den Ost- und den Westpol herum bestanden aus Anhäufungen von eingeschlagenem Meteoritenmaterial. Jetzt, nur einen Tag später, war der Stern von einem Netz werk von breiten Verkehrswegen überzogen, die die großen Städte miteinander verbanden, jene Städte, die selbst jetzt, vor Seikos Augen noch weiter wuchsen. Als sie merkte, daß sich in den Außenbezirken der Hauptstadt Paradies des Glänzenden etwas regte, wand sie sich in planvollen Drehungen freischwebend und graziös, trotz ihrer kompakten Statur, auf die andere Seite des Tisches, um sich das Ganze genauer anzusehen. »Abdul«, sagte sie schließlich, »ich möchte, daß du dir das hier einmal anschaust. Da tut sich etwas Seltsames an dem alten Heiligen Tempel.« »Sekunde, ich muß nur noch den Neutrino-Detektor neu einstellen«, erwiderte der Elektronikingenieur Abdul Nkomi Farouk und schob sich dann hinüber, bis er über dem Direktbildtisch schwebte. Seiko griff an die Decke und justierte die Teleskopbedienung. Die Lichtscheibe auf dem Tisch dehnte sich aus und zeigte eine in die Länge gezogene, zwölf spitzige Sternformation in der südlichen Hemisphäre des Neutronensterns. Der Heilige Tempel war von den Cheela vor nunmehr 24 Stunden erbaut worden, als sie aus der Barbarei aufstiegen, und er war immer noch das größte Bauwerk auf dem Stern. Geführt von dem Propheten der Alten, Rosa Augen (einer der wenigen Cheela, die das sichtbare Licht des Laservermessungsstrahls der Menschen wahrnehmen konnten), hatten die Cheela den mächtigen Hügeltempel errichtet, um ihrem Götterhimmel zu huldigen: dem Gottesstern Glänzender (unsere Sonne, die über der Südpolachse des Neutronensterns stand), dem Botschafter des Glänzenden (der große Asteroid Otis in seiner stark elliptischen Umlaufbahn), den sechs Augen des Glänzenden (die sechs kleinen Asteroiden, die in einem Kreis über dem Ostpol hingen), 12 und dem Inneren Auge des Glänzenden (das winzige Raumschiff der Menschen im Mittelpunkt des Asteroidenkreises). Nachdem die Menschen zu den Cheela Kontakt aufgenommen und sie davon überzeugt hatten, daß sie keine Götter waren, war der Heilige Tempel aufgegeben worden, und er verschmolz nun langsam mit der Landschaft. Die Form des Tempels entsprach der Haltung eines wachsamen Cheela: ein langer elliptischer Körper, dessen Richtung entlang der lokalen Richtung des Magnetfeldes verlief, und zwölf runde Augen, die auf kurzen, hervorstehenden, spitz zulaufenden Augenstielen saßen. Nach hundert Generationen der Vernachlässigung waren da, wo sich einst die Augen befunden hatten, nur noch zwölf Klümpchen zu sehen, und die Mauern, die in alten Zeiten den übrigen Körper gebildet hatten, bestanden nur noch aus Ruinen. Doch jetzt war eins der Augen wieder dunkel und rund, und auch sein Stiel war wieder deutlich auf dem Teleskopbild zu erkennen. Abdul drehte gedankenverloren an einem Ende seines schwarzen Schnurrbartes, während er das Bild betrachtete. »Sieht aus, als brächten sie den Heiligen Tempel wieder in Ordnung. Ob sie zur Anbetung der Menschen zurückkehren?« »Mit Sicherheit nicht.« Seiko äußerte ihr Urteil in dem autoritären germanischen Tonfall, den sie von ihrem Vater übernommen hatte. »Dafür sind sie zu intelligent. Da sie mittlerweile die Raumfahrt entdeckt haben, haben sie sicher von oben heruntergeschaut und festgestellt, daß das augenfälligste Bauwerk auf dem Ei ziemlich heruntergekommen aussieht. Wenn eure Neutrino- und Röntgendetektoren in letzter, Zeit nicht ein Krustenbeben registriert haben, dann kann das hier nur ein historisches Wiederaufbauprojekt sein.« »In letzter Zeit gab's keine großen Beben«, sagte Abdul. »Sie müssen damit einen bestimmten Zweck verfolgen.« »Es wird auch Zeit«, murrte Seiko mißbilligend. »Das ist das Problem bei den eierlegenden Wesen, besonders bei 13 denjenigen, die ihre Alten damit betrauen, die Jungen aufzuziehen. Ohne direkte familiäre Bindungen zu den Eltern besitzen sie auch kein persönliches Verhältnis zu ihrer Geschichte.« Seiko hatte die letzten 36 Stunden keinen Schlaf gehabt. Sie blickte nach oben, um die SolarbildTeleskopsteuerung zu bedienen, die den Bildausschnitt vergrößern sollte. Von der plötzlichen Bewegung wurde ihr schwindelig. Sie traf den falschen Knopf, und der Filter, der den größten Teil des Lichtes, das von dem Neutronenstern ausging, zurückhielt, sprang für einen Moment auf. Sie schloß die Augen vor der blendenden Helligkeit.
»Seiko ... Seiko ...« Seiko hob die schweren Lider, spähte durch die Strähnen ihrer glatten schwarzen Haare hindurch, die ihr ins Gesicht gefallen waren, und merkte, daß Dr. Cesar Wong sie festhielt. Neben ihm schwebte Abdul. »Ich habe ihr immer wieder gesagt, sie sollte die letzte Schlafpause nicht auslassen«, beschwerte sich Abdul. »Vielleicht hört sie ja jetzt auf dich und ruht sich endlich aus.« »Seiko, Liebes«, Cesars tiefbraune Augen blickten sorgenvoll drein. »Du hast dich überanstrengt. Bitte, mach eine Pause.« »Doktor Wong, ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen. Aber ich werde zu diesem kritischen Zeitpunkt nicht meine berufliche Verpflichtung vernachlässigen.« »Nun gut - dann entspann dich wenigstens einen Moment, und trink mit mir eine Tasse Kaffee in der Kombüse.« Dr. Wong nahm die zierliche Wissenschaftlerin freundlich am Arm. Sie ließ es zu, daß er sie den Gang zum unteren Deck hinunterführte. Auf dem Weg durch das Mitteldeck kamen sie an Amalita und Pierre vorbei, die die Kommunikationskonsole bedienten, über die sie mittels Laserübertragung direkt zu den Cheela sprechen konnten. Pierre schwebte langausgestreckt im Raum, sein Kopf 14 und seine Arme steckten in der Kommunikationskonsole, während Amalita zu den Cheela auf dem Stern sprach. Ihr Gesprächspartner war kein computergesteuertes, verlangsamtes Abbild eines wirklichen Cheela, sondern ein realzeitliches Bild des Himmelslehrers, jenes Spezialroboters, den die Cheela ausschließlich für die Kommunikation mit den langsamdenkenden Menschen konstruiert hatten. Pierre tauschte gerade den Speicherkristall in der Seite der Kommunikationskonsole aus. Er griff hinein und zog die kleine, dreieckige Umhüllung heraus, die wie die Ecke eines Kästchens aussah. Die Oberseiten waren pechschwarz, aber die innere Oberfläche bestand aus glänzenden Spiegeln, die wie ein Winkelreflektor arbeiteten. Er drückte einen Knopf, und ein durchsichtiger Kristallwürfel von ungefähr fünf Zentimetern Kantenlänge schoß in den Raum heraus, wobei er sich durch die Wucht des Ausstoßes langsam um seine Achse drehte. Pierre ließ ihn in der Luft schweben, während er einen anderen Würfel in den Speicher einführte und die spiegelnde Umhüllung wieder einsetzte. Dann ruderte er hinüber, um den Würfel einzufangen. Die Winkel und Kanten des Speicherkristalls waren pechschwarz, aber durch die transparenten Fenster konnte man regenbogenfarbene Lichtblitze sehen, die von den Informationsstreifen herrührten, die in seinem Innern gespeichert waren. Zeit: 06:13:54 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Pierre überließ es Amalita, mit Himmelslehrer zu sprechen, faßte den Speicherkristall mit zwei Fingern an den gegenüberliegenden Ecken und folgte Doc und Seiko durch den Tunnel im Boden zum unteren Deck, wo er sich dann zur Bibliothekskonsole zog. Er bewegte sich vorsichtig, denn zwischen zwei Fingern trug er all das Wissen, das die Cheela in den letzten dreißig Minuten gesammelt hatten. Er schob den Kristall in sein Abtasterfach in der Biblio15 thekskonsole, paßte das glänzend polierte, eckige Stück in seine Lücke ein und schloß den Schutzdeckel. Himmelslehrer hatte ihnen mitgeteilt, daß dieser letzte Speicherkristall einen großen Abschnitt über die innere Struktur von Neutronensternen beinhaltete. Pierre ließ den Computer im Schnelldurchlauf die Millionen von Seiten überfliegen, bis er einen detaillierten Querschnitt durch das Innere des Dracheneis fand. Das Diagramm zeigte, daß der Stern eine äußere Hülle besaß, die aus einer festen Kruste von Nuklei bestand: neutronenreiche Isotope von Eisen, Zink, Nickel und anderen metallischen Atomkernen in einem kristallinen Gitter, durch das ein Meer von Elektronen floß. Darunter lag der Mantel — zwei Kilometer von Neutronen und metallischen Atomkernen in Schichten, die mit zunehmender Tiefe immer neutronenreicher und dichter wurden. Das Innere des Sterns bestand zu Dreiviertel aus supraleitenden Neutronen und supraleitenden Protonen. Pierre überflog die nächste Seite, die Fotografie eines Neutronensterns, aber es handelte sich hierbei nicht um das Drachenei. Er konnte feststellen, daß es eine wirkliche Fotografie war, denn im Vordergrund war noch ein Stück von einem Cheela in einem Raumgleiter zu sehen. Seine Augen weiteten sich vor Staunen, und er ging fieberhaft eine Seite nach der anderen durch. Er fand etliche Fotografien, und auf jede folgte ein exaktes Diagramm von der inneren Struktur der verschiedenen Neutronensterne. Die ganze Skala, von sehr dichten Sternen, die sich kurz vor dem Stadium der schwarzen Löcher befanden, bis hin zu großen, aufgeblähten Neutronensternen mit einem winzigen Neutronenherz und dem Äußeren eines weißen Zwergs, war vertreten. Einige der Namen waren ihm nicht vertraut, aber andere, wie der Velapulsar oder der Crab-Nebelpulsar waren den Menschen bekannt. »Aber der Pulsar im Crab-Nebel ist über 3000 Lichtjahre von hier entfernt!« rief Pierre aus. »Sie müssen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit gereist sein, daß sie in den letzten 16 acht Stunden den Weg zurücklegen und diese Fotos machen konnten.« Eine hastige Suche im Inhaltsverzeichnis brachte ihm die Antwort. ÜBERLICHTGESCHWINDIGKEITSANTRIEB -DAS SCHLÜSSELWORT FÜR DIESEN ABSCHNITT IST AUF EINER PYRAMIDE AUF DEM DRITTEN MOND DES ZWEITEN PLANETEN VON EPSILON
ERIDANI EINGRAVIERT. Dann folgte ein langer, unverständlicher Text. Zutiefst betroffen gab Pierre in die Bibliothekskonsole den Befehl ein, die Daten automatisch zum St. George zu übermitteln, dann schwebte er langsam zum Wohnraum im unteren Deck des Drachentöters hinüber. Außer Amanta waren dort alle versammelt. Doc versuchte gerade Seiko auszureden, ein paar von den W.A.C.H.-Pillen zusammen mit ihrem Kaffee herunterzuschlucken, und Abdul informierte Jean Kelly Thomas über den gerade festgestellten Wiederaufbau des Heiligen Tempels, während sie nach ihrer verkürzten Schlafpause ein hastiges Frühstück herunterschlang und dabei noch versuchte, gleichzeitig ihren wirren, kurzen roten Haarschopf glattzubürsten. In der Zeit, in der Jean und Pierre geschlafen hatten, hatten die Cheela den Schritt von ihren ersten Flügen in der Umlaufbahn ihrer Heimatwelt bis hin zu intergalaktischen Reisen getan. Alle saßen auf dem weichen, bogenförmigen Sofa im Wohnraum, das von der niedrigen, nach außen gerichteten Restgravitation an seinem Platz gehalten wurde. Hin und wieder blickte der eine oder der andere aus dem Sichtfenster zu seinen Füßen hinaus. Pierre sprang zur Decke des Wohnraums empor und hielt sich an dem Haltegriff des Schotts fest, das zu einem der sechs Schutztanks führte, die in der Mitte des Schiffes eingebaut waren. Er blickte ebenfalls auf das Fenster hinunter, das in den »Südpol« des Raumschiffes eingelassen war und einen Durchmesser von einem Meter besaß. Der elektronisch gesteuerte optische 17 Filter war so eingestellt worden, daß er das Fenster dreißigmal in der Sekunde verdunkelte, immer dann, wenn eine der sechs glühenden Kompensatormassen vorbeiraste. Das einzige Licht, das hindurchdrang, kam von einem einzelnen Punkt, dem Glänzenden '- der Sonne, ihrer Heimat - aus einer Entfernung von 2120 AE. Pierre brach das Schweigen. »Für uns ist es bald Zeit zum Aufbruch.« Jean blickte auf und krauste verwundert ihre vorwitzige, sommersprossige Nase. »Ich dachte, wir sollten noch mindestens eine Woche hier unten bleiben.« »Da die Cheela alle Vermessungen für uns durchgeführt haben, liegt kein Grund mehr dazu vor«, erklärte Pierre. »Du solltest einmal die ausführlichen Beschreibungen sowohl des Äußeren als auch des Inneren des Dracheneis lesen, die im letzten Speicherkristall enthalten sind.« Er schwang sich nach unten und hielt sich an der Tür zum Wohnraum fest. »Ich habe den Computer die Bahnkorrektur-Sonden neu programmieren lassen, damit sie uns auf die Bahn der Deorbiter-Masse bringen. In etwa einem halben Tag werden wir in der richtigen Position sein, um aus diesem engen Orbit zurück zum St. George geschleudert zu werden. Dann können wir uns auf den Weg zur Sonne machen, statt sie uns nur anzusehen.« Er blickte zur Zeitansage an der Wand des Wohnraums hinauf. »Zeit, den Speicherkristall zu wechseln.« Er kauerte sich zusammen und schenkte ihnen allen ein strahlendes Lächeln aus seinem gepflegten braunen Bart. »Kommt«, meinte er dann. »Es ist, noch eine Menge Arbeit zu tun. Amalita und ich werden die letzten Speicherkristalle füllen lassen, und ihr übrigen tätet gut daran, im Schiff alles festzuzurren. Die Gravitationsfelder des Deorbiters werden jeden losen Gegenstand in ein tödliches Geschoß verwandeln.« Er sprang zum Mitteldeck hinauf, während die anderen durch die Tür des Wohnraums ruderten und sich im Schiff verteilten. Pierre schwang sich zur Kommunikationskonsole hin18 über und blickte über Amalitas Schulter hinweg auf Himmelslehrer. Der Robot-Cheela war gerade dabei, geduldig etwas zu erklären. Pierre betrachtete das Bild fasziniert. Bei diesem Zeitunterschied von einer Million zu eins hatte es ihn nicht überrascht, daß die Cheela schließlich einen langsam antwortenden, langlebigen Roboter entwickelt hatten, der die anstrengende Aufgabe übernehmen konnte, sich mit den langsam denkenden Menschen zu verständigen. Was Pierre allerdings verwunderte, war die Tatsache, daß der Roboter derartig realistisch ausgefallen war, daß er eine eigene Persönlichkeit besaß. Himmelslehrer hatte überhaupt nichts Roboterhaftes an sich. Er verhielt sich vielmehr eher wie ein geduldiger, altmodischer Schulmeister. Man ordnete seiner Stimme automatisch ein freundliches Lächeln und graue Haare zu. Für die Menschen bedeutete es eine Erleichterung, daß Himmelslehrer jetzt ihr Gesprächspartner war. Sie hatten nun nicht' länger das Gefühl, daß sie einen beträchtlichen Teil eines Cheelalebens vergeudeten, wenn sie einen Fehler machten oder einen Augenblick zögerten. »Bald werden wie alle eure verfügbaren Speicherkristalle gefüllt haben«, sagte Himmelslehrer auf dem Bildschirm, und um den Kranz seiner zwölf Roboteraugen lief dabei eine perfekte Imitation des wellenförmigen Bewegungsmusters eines echten Cheela. »Ich fürchte, ihr werdet feststellen, daß das meiste Material kodiert ist, denn wir sind euch in der Entwicklung jetzt um das Äquivalent von vielen tausend Jahren voraus. Doch wenn ihr nicht gewesen wäret, würden wir noch als Wilde leben und Tausende oder vielleicht sogar Millionen Groß Umdrehungen im Nebel der Unwissenheit stagnieren. Wir verdanken euch viel, aber wir müssen mit der Rückzahlung unserer Schuld vorsichtig sein. Denn auch ihr habt ein Recht darauf, euch auf eure eigene Weise zu entwickeln und zu wachsen. Zu eurem eigenen Besten werden wir die Verbindung abbrechen, sobald der letzte Speicherkristall voll ist. Wir haben euch genug Stoff gegeben, daß ihr Tausende von euren Jahren eifrig lernen müßt. Von nun 19
an werden wir getrennte Wege verfolgen und in Raum und Zeit nach Wahrheit und Wissen suchen. Ihr auf Welten, wo das Elektron die Oberherrschaft hat, wir auf solchen, wo das Neutron dominiert. Ein Signal ertönte, und auf dem oberen Teil des Bildschirms erschien eine kurze Botschaft. 20 Speicherkristall voll »Jetzt seid ihr auf euch selbst gestellt«, sagte Himmelslehrer. »Die Zeit des Abschieds ist gekommen. Lebt Wohl, meine Freunde.« »Leb wohl«, sagte Pierre, als der Bildschirm dunkel wurde. Dann wandte er sich an Amalita. »Ich werde den Speicherkristall wegbringen, und du fängst an, die Schutztanks zu checken«, meinte er. »Jetzt geht's nach Hause.« Zeit: 06:40:10 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Amalita schaltete ihre Konsole ab und schwebte hinüber zu dem Haltegriff in der Wand daneben. Sie blickte durch das dicke Glas des winzigen Bullauges ins Innere des Schutztanks. Der kleine Raum, der einen Durchmesser von einem Meter besaß, war bis auf eine winzige Videoschirmkonsole in der Innenwand völlig leer. In den Wänden des Tanks befanden sich Reihen von Lautgeneratoren, die Druckwellen erzeugten, um den Gravitationskräften entgegenzuwirken, unter deren Einfluß sie geraten würden, sobald sie die Geborgenheit der sechs dichten Massen verließen, die in einem Ring ihr Raumschiff umtanzten. Amalita drückte einige Knöpfe; die Luft wurde aus dem Tank gepreßt und statt dessen kompressibles Wasser hineingepumpt. Eine Berührung der Steuerung, und die Lautgeneratoren sangen ihren Klangwall in die Kammer. Genau in der Mitte des Tanks befand sich eine winzige Kontrollkugel, die von den Klangkräften gebunden wurde. Amalita erhöhte die Intensität der Lautimpulse und wartete ab, bis der winzige Ball in einem leuchtenden' Grün erstrahlte. Zufrieden, daß der Tank betriebsbereit war, veranlaßte Amalita die Reinigung und den erneuten Durchlauf des Vorgangs, dann schob sie sich um die Mittelsäule herum, um den nächsten Tank zu überprüfen. 21 Als Amalita den Platz verlassen hatte, erschien Seiko vor dem Tank und begann sich auszuziehen. Sie entkleidete sich bis auf BH und Höschen, zog einen Schutzanzug aus dem Fach unter der Einstiegsluke, und ihr blasser Körper glitt geschmeidig in den Anzug hinein. Die Unterwasseratemmaske umschwebte in der niedrigen Schwerkraft sacht ihren Kopf. Amalita hielt beim überprüfen des benachbarten Tanks inne, blickte auf ihre Bluse herab, errötete und tauchte dann durch den Gang hindurch zu ihrem persönlichen Schrank. Kurz darauf war sie wieder zurück, und diesmal schienen die Bewegungen ihres Oberkörpers ein wenig eingeschränkt zu sein. Bis Amalita die Luke erreicht hatte, die sich von der Decke des Wohnraumes herab öffnete,, war Abdul bereits dort angekommen. Er hatte sich bis auf seine Unterhosen entkleidet. Sie waren von knappem, europäischem »Bikini-Schnitt«, und die weiße Seide bildete einen reizvollen Kontrast zu seiner muskulösen, ebenholzschwarzen Haut. Amalita ließ sich unter Abdul hindurchtreiben und packte ihn fest um die nackte Taille. »Komm, ich helf dir mit deinem Anzug«, sagte sie, während ihre langen, durch Ballettraining geübten Beine und ihre Füße sich einen Halt in den Griffen der Wohnraumtür suchten. »He, was soll das?« brüllte Abdul. »Ich will dir doch nur behilflich sein«, flötete Amalita. »Da möchte ich drauf wetten. Ich kenne euch sexbesessene Harvardweiber. Ihr versucht doch ständig, eine Ausrede zu finden, um einen armen MIT-Ingenieur zu begrabbeln. Laß los. Ich bin alt genug, um mich selbst anziehen zu können.« Trotz der Proteste von Abdul hielt sich Amalita weiterhin an seinem strammen Körper fest, bis er in die Beine seines Schutzanzugs geschlüpft war. Dann half sie ihm, sich vollständig anzuziehen, indem sie seine Arme wie bei einem Kind in die Ärmel schob. Ihre liebevolle Fürsorge verletzte Abduls Ego nicht unerheblich, aber das war Amalita egal; sie waren auf dem Heimweg, und es wurde Zeit für ein biß22 chen Spaß. Von einem Ohr bis zum anderen grinsend jagte sie den Gang hinauf, um den oberen Tank zu kontrollieren. Die Luke zu diesem Tank befand sich unter dem Direktbildtisch. Amalita schwebte über den Tisch hinweg und blickte einen Moment lang auf das Abbild des Dracheneis auf der weißen Mattglasoberfläche hinunter. Jetzt war auf dem Stern mehr zu erkennen, denn die Cheela-Technologie war allmählich so weit vorangekommen, daß Bauwerke von ihnen errichtet werden konnten, die groß genug waren, daß man sie vom Weltraum aus sehen konnte. Die Sprungschleife in Paradies des Glänzenden war nun unten deutlich zu erkennen. Von dort wurden bereits Nutzlasttransporter ins All geschleudert. Innerhalb der nächsten zehn Minuten würde eine Weltraumfontäne vom Gipfel des Ostpolgebirges am Horizont ins All hinauf reichen. Gerade in . dem Augenblick, als Amalita das Bild abschalten wollte, sah sie die Polar-OrbitRaumstation der Cheela wie ein glühendheißes Lichtspurgeschoß vorbeijagen. Zeit: 06:45:10 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Kapitän Stern-Gleiter blickte mit drei seiner Augen nach oben, als die sechs glühenden Massen, die die Augen des Glänzenden bildeten, langsam über ihm dahinzogen. Auf dem polaren Orbit seiner Raumstation kam er nahe genug an die mächtige Formation heran, daß er den zylindrischen Instrumententurm sehen konnte, der an einer Stelle aus dem kugelförmigen Hauptkörper des Drachentöters herausragte. Das Raumschiff der Menschen war so
kalt und schwarz wie die Augen einer Prostituierten und konnte nur durch die roten Reflektionen der Sechs Augen und durch das weißgelbe Gleißen des Eis wahrgenommen werden. Er schüttelte sich bei dem Gedanken, in derartiger Kälte zu leben und breitete dankbar seine Sohle auf dem weißgelben Deck aus. Es dauerte beinahe eine Greth-Umdrehung, bis 23 der riesige Kreis glänzender Planetoiden weit genug von der Vertikale entfernt war, um nicht länger »über« ihm zu hängen. Seine drei aufmerksam nach oben gerichteten Augen unterbrachen ihre ausdauernde Beobachtung und reihten sich wieder in das vertraute, wellenartige Bewegungsmuster der restlichen Augen ein, das den Cheela eigen war. Die Wellenbewegung wurde heftiger, als Kapitän Stern-Gleiter eine Botschaft schmeckte, die über den Geschmackkommunikationsschirm übertragen wurde. In einigen Umdrehungen sollte eine Forschungsarche gestartet werden, und die Besetzung war zu einer abschließenden Einsatzbesprechung zusammengerufen worden, die in zwei Doth-Umdrehungen im Konferenzbereich auf der anderen Seite der Raumstation stattfinden sollte. An der Sprungschleife in Paradies des Glänzenden war man die letzte Umdrehung hindurch damit beschäftigt gewesen, eine Raumfähre nach der anderen mit Teilen der Mannschaft nach oben zu schicken, während die Gravitationskatupulte am Ost- und am Westpol die Ladung und die Ausrüstung in den Himmel hinauf befördert hatten. Die Katapulte waren bereits mehr als acht Menschenstunden alt. Da sie nur eine geringe Leistung boten, selbst dann wenn sie durch den Trägheitsantrieb der Lastschiffe unterstützt wurden, war man allmählich dabei, sie zu ersetzen. Zur Personenbeförderung wurden jetzt die Sprungschleifen benutzt, und schon bald würde nahezu alles über die Raumfontäne ins All geschickt werden. Obwohl es ihn eigentlich gar nicht betraf, beschloß Stern-Gleiter der Einsatzbesprechung beizuwohnen. Es geschah nicht sehr häufig, daß eine Forschungsarche losgeschickt wurde, um einen fernen Stern zu erkunden. Tatsächlich sollte dies für lange Zeit die letzte sein. Das Komitee für die Erforschung des Weltraums hatte aus Kostengründen beschlossen, die Anzahl der Forschungsarchen auf sechs zu beschränken. Die Archen sollten einige Groß Umdrehungen lang einen interessanten Stern erkunden und dann zu einem anderen weiterfliegen. Der Rest der Weltraumfor24 schungsflotte bestand aus einem kleinen Geschwader von Aufklärungsschiffen und einem Dutzend Lastentransporter, die die Forschungsarchen versorgten und Ablösungen für die Mannschaften brachten. Die ersten Erkundungsflüge wurden von den Hochgeschwindigkeitsaufklärern absolviert, die die in Frage kommenden Neutronensterne aufsuchten und nach ungewöhnlicher Sterndynamik oder nach Anzeichen von Leben suchten. Einer war kürzlich zurückgekehrt und hatte die Nachricht mitgebracht, daß auf einem Neutronenstern in ungefähr 12000 Lichtjahren Entfernung Leben entdeckt worden war. Dies war der sechste Bericht über mögliches Leben und der erste, bei dem die Lebensformen intelligent zu sein schienen. Stern-Gleiter hatte die Bilder von den Fremden gesehen, als sie das erste Mal über Holovid gesendet wurden. Es waren die häßlichsten Kreaturen, die die Cheela seit den Menschen zu Gesicht bekommen hatten. Doch der Reiz des Neuen war schnell wieder vergangen. Stern-Gleiter hatte seither nicht mehr viel über die Fremden in Erfahrung bringen können und hoffte nun, mehr darüber auf der Einsatzbesprechung zu hören. Er übergab das Kommando über die Raumstation an seinen ersten Offizier, Horizont-Fühler, und machte sich auf den Weg durch den Korridor, der viele Zentimeter lang war, bis zum Versammlungsraum auf der anderen Seite des kugelförmigen Kommandoschiffes. Als er den großen, schüsselförmigen Konferenzraum betrat, fand er ihn bereits dicht gefüllt. Mit der Unterseite seiner Sohle hielt er sich an den Gleithemmern fest, die in die gewundene Rampe eingebaut waren und rutschte bis in die Mitte des Raumes hinunter, zu einer Stelle, an der die Gravitation am stärksten war. Er befand sich nun fast einen ganzen Zentimeter näher an dem winzig kleinen Schwarzen Loch im Zentrum der Raumstation, und es tat gut, wieder ein wenig Anziehungskraft zu spüren, auch wenn sie nicht annähernd so stark war wie die 67 Milliarden G auf dem Ei. Drei Dutzend Geschmacksschirme waren im Mittelteil 25 des Decks eingebaut worden, auf dem der Versammlungsraum lag. Er bewegte sich darauf zu, wobei sein sechszackiges Kapitänsabzeichen ihm den Weg durch die Menge bahnte. Normalerweise hätte ihm sein Dienstgrad einen der Geschmacksschirme verschafft, aber da sich hier 24 Wissenschaftler und Mannschaftsmitglieder befanden, die in der Forschungsarche eingewiesen werden sollten, zusammen mit den vier Besatzungsmitgliedern der Aufklärungsschiffe und den Weltraumforschern und Einsatzleitern, mußte er sich damit begnügen, einen der Licht-Bildschirme zu betrachten, die in die niedrigen Wände des Versammlungsraumes eingebaut waren. Als er sich niederließ und darauf wartete, daß die Einsatzbesprechung begann, stellte er fest, daß er sich neben einem anderen Raumkapitän befand. Obwohl sie für einen Kapitän noch sehr jung wirkte, war sie groß, lebensfroh und gutaussehend und bewies ihre rasche Auffassungsgabe, als sie ein Auge von dem Cheela abwandte, mit dem sie sich gerade unterhalten hatte. Sie erkannte sogleich, wer er war, richtete sämtliche Augen auf ihn und hob die ihm zugewandte Ecke ihrer Sohle an, um mit ihm zu sprechen. »Kapitän Stern-Gleiter?« fragte sie. »Ich bin Kapitän Fern-Aufklärerin von dem interstellaren Aufklärungsschiff
Triton.« Sie richtete die Hälfte ihrer Augen auf ihre Begleiterin. »Und das ist Leutnant Stern-Finderin, unser Navigator. Wir haben beide während der letzten Umdrehungen Ihre Gastfreundschaft genossen.« »Hätte ich gewußt, daß Sie an Bord sind, Kapitän, dann hätte ich Sie zum Essen eingeladen«, sagte er. »Unglücklicherweise ist diese Station so groß, daß ich manchmal nicht einmal weiß, wie viele Raumschiffe bei uns angedockt haben, geschweige denn, wie viele Besucher sich an Bord aufhalten. Ich finde Ihre Fremden sehr interessant und hätte gern mehr über sie gewußt.« »Es sind bloß häßliche Wilde«, meinte Fern-Aufklärerin, »wie Sie bei der Einsatzbesprechung sehen werden. Aber sie besitzen einige potentielle Fähigkeiten, wenn wir mit ihnen in Kontakt kommen könnten. Falls Sie wirklich daran 26 interessiert sind, können wir uns nachher beim Essen zusammensetzen, wenn die Forschungsarche abgeflogen ist. Ich habe einen wohlverdienten Urlaub von einem halben Groß Umdrehungen genommen, als ich zurückkam, und davon sind immer noch ein paar Dutzend Umdrehungen übrig.« »Dann sind Sie also mein Gast«, sagte Stern-Gleiter rasch. »Sagen wir, zum Umdrehungsmahl bei Umdrehung 104.« Er erinnerte sich an seine Manieren und wippte drei seiner Augen in die Richtung von Leutnant SternFinderin. »Sie sind natürlich auch eingeladen, Leutnant.« »Vielen Dank, Kapitän«, erwiderte sie, »aber ich muß die Forschungsarche zu dem Stern zurückleiten. Außerdem bin ich sicher, daß Sie und Kapitän Fern-Überwacherin jede Menge Gesprächsstoff haben werden.« Stern-Gleiter trommelte ein höfliches Bedauern. Die Einsatzbesprechung hatte begonnen, und alle Augen richteten sich auf den Boden der Schüssel, als die starken Wellen des Sohlenverstärkers von der Matte des Sprechers in der Mitte das Deck erzittern ließen. Stern-Gleiter mußte über die Oberseite von Fern-Aufklärerin hinwegspähen, damit er den Sprecher sehen konnte. Ein paar seiner Augen blickten hinunter auf die tiefrote Oberseite, dann wanderte sein Blick weiter zu ihren dicken, fleischigen Augenlappen. Eins ihrer nächststehenden Augen erwischte ihn dabei, wie er ihre Anatomie musterte. Anstatt ihn vernichtend anzusehen, wie er es eigentlich erwartet hatte, tauchte das Auge langsam und mutwillig in einem aufreizenden Blinzeln zwischen die Augenlappen und lugte wieder hervor. Stern-Gleiter fühlte, wie seine Augenstiele steif wurden und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Sprecher. »Wir werden nun einen Vortrag über die fremden Lebensformen hören, der von Kapitän Fern-Aufklärerin, Doktor der Alienologie, gehalten wird«, kündigte der Sprecher an. Stern-Gleiter war tief beeindruckt, als er ihren zweiten Titel vernahm. »Sie können gern meinen Geschmacksschirm benutzen«, bot sie ihm an, als sie sich 27 durch Menge hindurch nach vorne schob. Er flüsterte ein elektronisches »Danke« und glitt auf die schimmernde Fläche, auf der ihre Sohle gestanden hatte. Der Geschmacksschirm schaltete sich unter seiner Sohle ein, als ihre verstärkte Stimme durch das Deck hallte. »Als wir das erste Mal bei NS 1566 + 74 ankamen, kartographierten wir die gesamte Oberfläche. Wir fanden keine augenfälligen Artefakte, aber ein Routineprogramm zum Aufspüren künstlicher Intelligenz mit dem Programmierungsschwerpunkt fremde Artefakte richtete unsere Aufmerksamkeit auf einen der Magnetpole.« Auf dem Schirm leuchtete ein Bild auf, das die vergrößerte Aufnahme einer niedrigen Bergkette zeigte, mit einer kleinen Anhäufung sechseckiger Markierungen an ihrem Fuße. »Es handelt sich hier um ein kleines Dorf mit individuellen Wohnstätten, die wie Ansammlungen von groben Sechsecken aussehen. Wir waren in der Lage, mit Hilfe unserer feldabtastenden Feinstrahl-Infrarotantenne einige Nahaufnahmen zu bekommen.« Ein künstlich wirkendes Bild erschien auf dem Schirm. »Die Farben auf dem Bild sind natürlich falsch, da wir im Infrarotbereich des Spektrums sehen, anstatt im sanften, sichtbaren Röntgenlichtbereich. Die beweglichen Objekte sind durch den Auflösungsvorgang verzerrt, aber es ist deutlich zu erkennen, daß jede Wohnstätte von ein oder zwei größeren Kreaturen bewohnt wird, während das Sechseck in der Mitte jeder »Familiengruppierung« ausschließlich kleinere Kreaturen beherbergt, bei denen sich nur gelegentlich eine größere befindet. Außerhalb der Wohnstätten liegen niedrige Ställchen, die eine große Anzahl von sehr kleinen Wesen enthalten.« »Als wir erst einmal in Erfahrung gebracht hatten, wo wir solche Aufnahmen machen konnten, schickten wir einen Abtaster mit Röntgenkamera und Bewegungskompensator auf eine Umlaufbahn. Trotz der nahen Berge gelang es uns, die Periapsis des Abtasters innerhalb von weniger als einem Meter Entfernung von der Oberfläche ,28 festzulegen, und wir erhielten einige ausgezeichnete Aufnahmen von den Fremden.« Ein häßliches Klümpchen füllte den Bildschirm aus. Es sah aus wie ein Langsam-Gleiter, der gerade zerstückelt wird. Die Grundform des Körpers bestand in einem sohlen- und augenlosen, abgeplätteten Klumpen, wie ein Langsam-Gleiter, bei dem die Schutzpanzer entfernt worden waren. Da, wo die Platten eigentlich hätten sein müssen, fanden sich zerrissene Lappen von rötlichem Fleisch. Aus den gegenüberliegenden Seiten des Körpers, ungefähr auf halber Länge, ragten zwei lange, stielähnliche Objekte mit Verdickungen an den Enden. Die Stengel hatten Gelenke in der Mitte und waren leicht abgeknickt wie die mageren, stielähnlichen Arme und Beine der Menschen. Um die Stelle herum, an der die Stengel aus den Klümpchen herausragten, wuchsen zahlreiche lange, schwankende Ranken. Der Bildschirm flackerte, und die Aufnahme veränderte sich leicht. »Es ist uns gelungen, fünf aufeinander folgende Bilder zu machen, während der Skimmer über diesem
Individuum seine Bahn zog; daher können wir einen groben Bewegungsablauf rekonstruieren.« Die fünf Bilder wurden kurz hintereinander auf den Bildschirm geworfen und die Sequenz etliche Male wiederholt. Das Wesen rollte auf der Kruste entlang, während die verdickten, armähnlichen Auswüchse nach beiden Seiten abstanden und die Ranken auf der Kruste schoben und zogen, um es vorwärtszubewegen. Die rohen Fleischlappen veränderten ihre Farbe, während sie sich nach oben drehten, über den rollenden Körper des Fremden hinweg, um ihn herum und unter ihm hindurch. »Sie werden feststellen, daß die Stengel immer dunkler werden, je weiter sie vom Körper entfernt sind, und daß die Verdickung am Ende von einem ziemlich dunklen Rot ist. Die Verdickungen werden nach vorne und nach hinten bewegt, um die Stellen vor und hinter dem Wesen abzutasten, aber es berührt niemals den Boden damit; sie scheinen also für die Fortbewegung bedeutungslos zu sein. Hier 29 ist eine Nahaufnahme von einer dieser Verdickungen. Es scheint eine Kugel mit vielen winzigen sechseckigen Facetten zu sein. Wir vermuten, daß diese Verdickungen ihre Augen sind. Sie ähneln in ihrer Struktur wohl den Augen - der Bienen und Fliegen auf dem Menschenplaneten Erde. Der Stengel muß aus einem besonderen, knochenartigen Material bestehen, mit starker Festigkeit, aber schwacher Wärmeleitung, um die Augen kühl zu halten.« Es gab noch eine ganze Anzahl anderer Bilder, besonders ein außergewöhnliches, das zwei der Fremden Seite an Seite zeigte; sie hielten sich mit ihren Ranken umfaßt, und ihre Augenstiele schienen im Körper des anderen verborgen zu sein. »Wir sind uns nicht recht im klaren, was sich hier abspielt«, sagte Fern-Aufklärerin: »Aber wenn Sie das denken, was ich vermute, dann haben Sie wahrscheinlich recht.« Es rumpelte im Deck, und irgend jemand bemerkte durch das Gelächter hindurch: »Ich nehme an, wenn man es nur mit einem Auge gleichzeitig macht, hat man mehr davon ...« »Das erstaunlichste Charakteristikum dieser fremden Kultur besteht darin, daß es dort kein pflanzliches Leben gibt. Alle Kreaturen scheinen Tiere zu sein.« »Was ist dann die Grundlage der Nahrungskette?« fragte jemand. »Wir haben einige Zeit gebraucht, um das herauszufinden, und das war einer der Schlüssel dafür: es gibt nur zwei Gebiete, in denen Leben entdeckt wurde. Dabei handelt es sich um die zwei Magnetpole. Ich kann sie nicht Ost- und Westpol nennen, wie bei uns auf Ei, denn sie befinden sich ziemlich nahe an den Polen der Achse. Um den Stern herum ist noch eine Menge Material von der ursprünglichen Supernovaexplosion übriggeblieben, und regelmäßig fällt ausgedehntes, neutronenarmes, planetenartiges Material an beiden Polen ein. Es ist in der Tat eine derartig große Menge, daß ich nicht das Risiko eingehen wollte, unsere Aufklärungsschiffe direkt über die Polregionen fliegen zu 30 lassen. Die Gebirgspässe sind voll von winzigen augenlosen, kugelförmigen Tieren, die möglicherweise diesen neutronenarmen Staub von der Oberfläche der Kruste aufnehmen und aus dem Umwandlungsprozess in normales Krustenmaterial ihre Energie zum Leben und Wachsen ziehen. Die größeren Kugeln werden von den intelligenten Fremden ausgewählt und in Pferchen zusammengetrieben, bis sie als Nahrung gebraucht werden. Die fremden Kreaturen befinden sich augenscheinlich noch immer in der Phase der Sammler und Jäger, in der Barbarei, wobei hier Jagen und Sammeln synonym sind, da kein pflanzliches Leben vorhanden ist.« Ein neues Bild flackerte auf den Schirm. Es zeigte den Kadaver von einem der Fremden, der von Hunderten von kleinen Kadavern umgeben war. Die Lebewesen waren offensichtlich alle von einem außergewöhnlichen heißen Blitz harter Gammastrahlen versengt worden, die bei dem Aufprall eines großen Materieklumpens auf dem Stern freigesetzt worden waren. »Es scheint, daß es ziemlich gefährlich ist, dazu auserwählt zu sein, die Nahrung zusammenzutreiben. Ich glaube, es bestünde die Möglichkeit, diesen Fremden zu helfen, indem wir die größeren der einfallenden Brocken im Auge behalten und sie von den Bergen wegleiten, während sie niedergehen. Das würde ihre Verlustzahlen senken. Wir könnten darüber hinaus die Menge des Einfalls stabilisieren, so daß sie über eine konstante Menge an Lebensmitteln verfügen. Wenn wir erst einmal ihre Nahrungsmittelversorgung gesichert haben, dann haben sie vielleicht Zeit, mit uns zu sprechen und ihre Kultur zu entwickeln.« Drei Umdrehungen später wurde es für die Expedition Zeit abzufliegen. Stern-Gleiter und Fern-Aufklärerin verabschiedeten sich von Leutnant Stern-Finderin und sahen dann zu, wie sich die interstellare Forschungsarche »Amalita Shakhashiri Drake« aus Sicherheitsgründen ein paar Meter zurückzog. Sie konnten das Summen nicht fühlen, als der Spinor-Antrieb auf der Arche in Gang gesetzt wurde, aber sie konnten beobachten, wie ein Abschnitt des 31 schwarzen, sternenübersäten Himmels zu verschwimmen begann, als der Raum zwischen dem Drachenei und einem Punkt etliche hundert Lichtjahre davon entfernt aufgehoben wurde. Ein großer, roter Markierungsstern schoß aus der Ferne heran, so nahe, daß sie die wolkigen Flecken auf seiner Oberfläche sehen konnten. Dann fügte der Spinor-Antrieb das überwundene Stück des Himmels wieder ein, dieses Mal jedoch auf der anderen Seite der Arche. Die Amalita und der rote Stern rasten gemeinsam wieder in den Himmel zurück. »Hundert Lichtjahre in der Zeit, die man braucht, um eine einzige Sohlenlänge zurückzulegen«, sagte SternGleiter.
»Alles was man tun muß, ist, die hundert Lichtjahre so zusammenschrumpfen zu lassen, daß sie nur noch eine Sohlenlänge lang sind«, meinte Fern-Aufklärerin. »Beim Glänzenden, meine Falte ist trocken. Wie wäre es mit etwas Flüssigkeit vor dem Umdrehungsmahl?« »Gute Idee«, stimmte Stern-Gleiter zu. »Ich habe noch ein paar Beutel Westpol-Doppelbrand in meiner Unterkunft im Schrank.« »Großartig!« meinte sie, während ihm eins ihrer Augen, das ihm am nächsten war, langsam und ausgiebig zublinzelte. »Sie teilen die Feldlinien, und ich folge Ihnen.« Er glitt auf dem Weg zu seiner Kabine voran; die Masse seines schiebenden Körpers durchschnitt die schwachen Magnetfeldlinien, die sich durch die Platten der Raumstation zogen. Sie waren an keiner Stelle so stark wie die Felder auf Ei, die eine Trillion Gauß betrugen, und daher bestand eigentlich keinerlei Notwendigkeit, daß er als Wegbereiter fungierte, aber er hatte durchaus nichts dagegen, daß sie sich an sein Hinterende schmiegte. Während sie den unüberdachten Korridor entlangwanderten, blickten einige seiner Augen in den Himmel hinauf, wo jetzt gerade wieder die Formation der sechs Asteroiden über ihnen vorbeizog. Winzige Pünktchen, die periodisch aufleuchteten, umschwebten jede der glühenden Massen. Das waren die Leitraketen, die die verdichteten Asteroiden um den Dra32 chentöter herum in ihrer richtigen Position hielten. Sollten sie jemals versagen, so würden die Menschen von den ungebändigten Kräften, die auf Ei tobten, zerrissen werden. Plötzlich blieb er stehen und richtete all seine Augen nach oben. »Was ist los?« fragte Fern-Aufklärerin. »Das Muster stimmt nicht«, entgegnete Stern-Gleiter. »Die Impulse erfolgen zum falschen Zeitpunkt. Irgendwas ist mit den Augen des Glänzenden geschehen!« Ein Zwinkern lang geriet er in Panik bei dem Gedanken, diese mächtigen Objekte könnten auf ihn herabstürzen. Dann erinnerte ihn seine Vernunft daran, daß sie sich in der Umlaufbahn befanden. Sie würden nicht herunterfallen, aber irgend etwas stimmte mit Sicherheit nicht. Er floß um Fern-Aufklärerin herum und stürzte in vollem Sohlenkräuseln den Flur entlang zum Kommandodeck. »Die Menschen sind in Schwierigkeiten!« rief er. »Folgen Sie mir!« 33 Gefahr Zeit: 06:50:06 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Um den Drachentöter herum kreisten die sechs verdichteten Kompensatormassen, die von den starken Leitraketen mal in diese Richtung und mal in jene geschoben wurden. Die Raketen durften nicht zu nahe an den Wirkungsbereich der zerstörerischen Kräfte dieser Massen herangeraten, daher arbeitete jede Rakete aus sicherer Entfernung. Die Schubkraft wurde mit Hilfe von Magnetfeldern erzeugt, die von einer Anzahl magnetischer Mono-Pole in der runden Nase der Rakete geschaffen wurden. Wenn eine der Kompensatormassen eine Seite des Rings erreichte, blitzte ein gelber Feuerstrahl von einer Leitrakete auf, die korrigierend eingriff und die Masse in ihrer korrekten Umlaufbahn hielt. Kam die Kompensatormasse an die andere Seite des Rings, dann feuerte die gegenüberliegende Leitrakete und drückte den verdichteten Asteroiden wieder in die Gegenrichtung zurück. Diese Szene wiederholte sich dreißigmal in der Sekunde, einmal in jeder Doth-Umdrehung für die Beobachter unten auf Ei. Der Strahl an einer der Leitraketen begann zu flackern, als ein Meteorit die Treibstoffleitung durchschlug, dabei zwei der drei Dreifachventile herausriß und das dritte beschädigte. Eine Fünftelsekunde später funktionierte der Strahl wieder einwandfrei, fing dann aber gleich darauf wieder an zu flackern. Die Kompensatormasse, die von dieser Leitrakete kontrolliert werden sollte, entfernte sich allmählich von ihrem Platz im Ring. Bald darauf begannen alle Massen leicht zu schwanken, als ihre Raketen versuchten, das Gleichgewicht aufrecht zu halten. »Notfall!!« Der Computer an Bord des Drachentöters gab durch seine Lautsprecher Alarm. »Ein Meteorit hat eine der Leitraketen zerstört!« Amalita hatte gerade die Überprüfung von einem der 35 oberen Tanks beendet, als die starken Gravitationskräfte des Neutronensterns sie packten und durch den Gang nach unten zogen, wo sie mit Jean zusammenstieß, die dabei war, ihren Anzug anzulegen. Im nächsten Augenblick wurden die beiden Frauen auseinandergerissen und gegen die äußere Wand ihres Raumschiffes geschleudert. Amalita griff nach einer Stützstange und hielt sich daran fest. »Was ist los?« brüllte sie zu Pierre hinüber. Pierre legte den Sicherheitsgurt an seinem Sitz an und schaltete die Konsole ein. »Eine der Raketen hat Fehlfunktion«, sagte er. Jean, die schwerelos neben Pierre schwebte, wurde erneut gegen die äußere Wand gedrückt, dann flog sie ins Innere des Schiffes, wo sie sich an der Lehne eines Stuhls festhielt. Mit den wechselnden Vorgängen im Ring wurden ihre Beine wieder nach außen gezogen, als befände sie sich auf einem rasenden Karussell. »Kannst du sie reparieren?« fragte Pierre den Computer. »Nein. Der Riß in dem verbliebenen Treibstoffventil wird immer breiter«, berichtete der Computer. »Ihr habt ein Maximum von fünf Minuten.« »Die Gravitationskräfte werden uns in Stücke reißen«, schrie Jean, während die Gewalten an ihrem Körper
drückten und zerrten. Sie wurden stärker, rissen sie von ihrem unsicheren Haltegriff fort und schmetterten sie bewußtlos gegen die äußere Wand. Bei der nächsten Umdrehung trieb ihr regloser Körper wieder nach innen. »Ich hab sie!« rief Amalita, die sich rasch von einem Handgriff zum anderen zog, sobald die widerstreitenden Kräfte eine Pause zuließen. »Pack sie in einen Schutztank!« brüllte Pierre. In der Zwischenzeit hatte Doc Wong es geschafft, um die Mittelsäule herumzukommen, und er half Amalita, eine der runden Einstiegsluken in der Wand zu öffnen. Während sie Jean in den kugelförmigen Tank schoben, kam sie wieder ein wenig zu sich, und Doc brachte es fertig, ihr die Maske überzustülpen, bevor sie die Tür schlössen. »Luft okay?« fragte Doc über die Sprechanlage. Die 36 Gestalt im Innern nickte benommen, aber Doc konnte sehen, daß sich ihre Brust in einem tiefen Atemzug hob. Er aktivierte den Tank; gegen das Bullauge spritzten Wassertröpfchen, während die lindernde Flüssigkeit den zerschundenen Körper bedeckte. Die Cheela-Kommunikatiönskonsole flammte auf, und der Robot-Cheela Himmelslehrer war wieder auf dem Schirm zu sehen. Im Hintergrund huschten die verzerrten Gestalten von lebenden Cheela um ihn herum, die hektisch auf die Katastrophe reagierten. »Eine Rakete fällt aus«, bemerkte Himmelslehrer. »Seid ihr in Gefahr?« Pierre sprach abgehackt zu dem Roboterbild, während die Gravitationskräfte ihn in seinem Gurt hin- und herzerrten. »Das war's«, sagte er. »Ich fürchte, ihr werdet dieses letzte Holomemo direkt zum St. George durchgeben müssen ... Macht's gut.« Pierre merkte, daß Himmelslehrer mit seiner Antwort zögerte und hielt inne. Er konnte neben dem Roboter eine Ansammlung lebender Cheela erkennen. Die Augen und Tentakel auf dieser Seite des Roboters verschwammen, als Himmelslehrer in beinahe normaler Cheela-Geschwindigkeit mit ihnen sprach. Den Bruchteil einer Sekunde später wurde die Verzögerung im Augenwellenmuster wieder durch den normalen Rhythmus ersetzt. »WARTET!« rief Himmelslehrer. »Wir werden euch retten!« »In fünf Minuten?« Pierre schüttelte den Kopf. »Unmöglich!« Er wartete die Gravitationsströmungen ab und tauchte zur Bibliothekskonsole hinunter, um von Datenübertragung auf Notfrequenz umzuschalten. Zeit: 06:51:05 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Der frischgebackene Doktor lief hin und her, während der leitende Ingenieur die letzten Handgriffe an der Maschine 37 ausführte. Obwohl Zeit-Kreis seinen Doktor in Tempologie gemacht hatte und selbst auch kein schlechter Ingenieur war, wußte er, daß die Aufgabe, ein magnetisiertes und elektrifiziertes Schwarzes Loch von dieser Größe herzustellen nicht einem bloßen Wissenschaftler überlassen werden konnte. Glücklicherweise waren die Gelder, die er von der Gesellschaft für Grundlagenforschung erhielt, großzügig genug bemessen, daß er es sich leisten konnte, den besten Ingenieur auf Ei anzuheuern: Klippen-Netz. Ingenieur Klippen-Netz hatte keine Furcht davor, »unmögliche« Projekte in Angriff zu nehmen. Nachdem er seine Sohle als Assistent des Chefingenieurs an einer der ersten Sprungschleifen gestreckt hatte, hatte er Planung und Bau der ersten Raumfontäne übernommen. Klippen-Netz hatte bereits einen Turm konstruiert, dessen Höhe zweihundert mal größer war als der Durchmesser des Eis, und er hatte nicht nur gezeigt, wie man ihn bauen mußte, sondern auch noch bewiesen, daß man damit Geld verdienen konnte. Er verkaufte die Idee, setzte das Team zusammen und begab sich dann an weitere »unmögliche« Projekte. Zeit-Kreis hatte Glück gehabt, daß er Klippen-Netz für sein Projekt gewinnen konnte, aber er bezweifelte auch, daß irgendeine andere Aufgabe eine noch größere Herausforderung darstellen konnte und noch »unmöglicher« zu realisieren war als diese - der Bau einer Zeitmaschine. Fast zwei Menschenminuten waren seit dem Beginn des Zeitmaschinenprojekts vergangen. Zeit-Kreis hatte in seiner Doktorarbeit die Möglichkeit der Zeitreisen bewiesen, indem er bereits Signale durch die Zeit geschickt hatte. Neben dem Doktortitel in Tempologie hatte ihm das auch die Erlaubnis eingebracht, sich einen neuen Namen auszusuchen. Seine erste Zeitmaschine verfügte nur über zwei Zeitkommunikatiönskanäle. Er hatte einen normalen Generator für Schwarze Löcher so umgebaut, daß er eine Mischung aus Protonen und magnetischen Mono-Polen mit hoher Geschwindigkeit und hohem relativem Winkeldrehmoment ausnutzte. Indem er das Schwarze Loch 38 sowohl aus magnetischer als auch aus elektrisch geladener Materie schuf, war es ihm gelungen, die gestreckte, rotierende Masse dazu zu bringen, daß sich bereits bei einer Umdrehungsgeschwindigkeit von weniger als 99 % der Lichtgeschwindigkeit der Aktionshorizont auftat. Das daraus resultierende Schwarze Loch hatte zwar bloß eine knappe Seth-Umdrehung überdauert, aber durch sorgfältige Zeitplanung war es Zeit-Kreis gelungen, einen Gamma-Strahl-Puls durch einen Tunnel in die Zukunft zu schicken und durch einen anderen wieder zurückzuholen, bevor das Schwarze Loch in einem winzigen Strahlenstoß verpuffte. Die Zeit-Sprech-Maschine, die Ingenieur Klippen-Netz nun für ihn baute, sollte von Dauer sein und in der Zeitspanne, in der die Maschine existent war, Signale beliebig vor- oder zurückschicken können, bis die
Aufnahmekapazität aller acht Kommunikationskanäle ausgelastet war. Es würde allerdings kaum jemandem in absehbarer Zeit gelingen — auch nicht den Cheela mit ihrem rasenden technologischen Fortschritt — eine Zeitmaschine zu bauen, die den physikalischen Transport von Lebewesen gestattete, aber auch eine Maschine, die nur Botschaften in der Zeit verschieben konnte, mochte durchaus von Nutzen sein. Nun war sie endlich fertiggestellt. Die Konstruktionsmannschaft erhielt einen wohlverdienten Urlaub und kehrte zu ihren privaten Wohnstätten zurück, während ihre Roboterkollegen als Teil von Klippen-Netz wachsendem Bauimperium für die nächste Aufgabe neu programmiert wurden. Klippen-Netz blieb zurück, um die Anlage zu überprüfen und letzte Einstellungen vorzunehmen. Als er endlich mit den Ergebnissen zufrieden war, glitt er auf eine Seite des kombinierten Berührungs- und Geschmacksschirms. »Es funktioniert«, murmelte er leise. »Gut«, sagte Zeit-Kreis. »Dann werde ich es ausprobieren. Hmmm. Dies ist ein historischer Augenblick, was für eine Botschaft soll ich nehmen? Sie sollte kurz, aber auch 39 bedeutend sein. Ich hab's!« Seine Sohle bewegte sich zu dem Schirm hinüber, als er die Nachricht aufsetzte. »O Zeit, dreh dich zurück«, murmelte Klippen-Netz. »... Das habe ich auf dem Beobachtungsschirm gelesen, als ich die letzten Parameter stanzte.« »Und das ist genau das, was ich gesendet habe!« jubelte Zeit-Kreis. »Es funktioniert! Es funktioniert!« »Hab ich doch gesagt«, erinnerte ihn Klippen-Netz, als er sein Werkzeug und die Meßinstrumente in seinen Falten verstaute. Der Gravitationswellendetektor war lang und massiv, aber zu einem Päckchen zusammengefaltet paßte er genau in die große Körperfalte, die er zum Transport der Instrumente gebildet hatte. Zum Schluß ging er in eine Ecke hinüber und hob die große Pflanze auf, die dort gestanden hatte. Es war sein Markenzeichen, sein Liebling und sein engster Gefährte — ein Spaltenkraut. Nachdem er die Pflanze sehr aufmerksam betrachtet hatte, packte Klippen-Netz sie in eine andere Falte seines hohlraumreichen Körpers. »Du hast die Rückspur von einem deiner vier Vergangenheitskanäle zugemacht«, warnte er noch, als er ging. Zeit-Kreis hörte nicht zu. Er war dabei, für die Feier zur Einweihung der Zeit-Sprech-Maschine in ungefähr drei Umdrehungen eine Botschaft an sich selbst vorzubereiten. Als er sie abgeschickt hatte, erhielt er aus der Zukunft eine Empfangsbestätigung, ebenfalls von sich selbst. Er hatte dafür denselben rückwärts gerichteten Zeitkanal freigemacht, den er auch für seine Testbotschaft benutzt hatte. Sein Ich in der Zukunft berichtete, daß die Mitteilung nur zwei Seth-Umdrehungen zu früh bei der Einweihungsfeier angekommen war. Der Bewegungsryhtmus von Zeit-Kreis Augenstielen verlangsamte sich, während er die Zeitintervalleitungen neu einstellte. Der Übermittlungscode, der an das Ende der Bestätigung angehängt worden war, deutete an, daß die Nachricht ein paar Bits innerhalb der Maximalmenge lag, die über diese Entfernung in der Zeit gesendet werden konnte. Zeit-Kreis hatte den Computer angewiesen, eine Rollenkopie der kodierten Botschaft 40 anzufertigen, so daß er später das exakte Bit-Zeit-Ergebnis berechnen konnte, aber es schien nahe an dem theoretischen Wert zu liegen, den er vorausgesehen hatte — 864 Großbits. Das bedeutete, daß er eine Botschaft von 864 Bits über einen Zeitraum von einer Groß Umdrehung senden konnte, oder eine Ein-Bit-Botschaft über 864 Groß. Die Zeitquantitätsstatistik würde allerdings Abweichungen aufweisen, und eine seiner Forschungsaufgaben an der Maschine bestand darin, diese statistischen Abweichungen zu bestimmen. Er wollte keine weiteren Kanäle mehr mit Botschaften füllen, bevor er nicht noch zusätzliche Berechnungen durchgeführt hatte, daher sicherte er den Berührungs- und Geschmacksschirm mit einem Password-Schloß, das sich in einen silberglänzenden Flecken auf dem gelb-weißen Boden verwandelte, während er zur Tür ging. Die Mauern um das Zeit-Sprech-Laboratorium herum waren außergewöhnlich hoch und daher am Fuß sehr dick. Als er sich der Tür näherte, las eine Sensorplatte im Boden die Furchen in seiner Sohle ab, und die innere Tür glitt auf. Er betrat den Sicherheitsraum im unteren Teil der Mauer und fühlte, wie sich sein Körper versteifte, als das Magnetfeld ihn durchdrang und eine Magnetkoeffizientenkarte erzeugte, die dann mit der gespeicherten Version verglichen wurde. »Sie haben eine Rolle bei sich, die sie beim Betreten nicht dabei hatten«, vibrierte eine mechanisch klingende Stimme durch seine Sohle. »Das ist das Instruktionshandbuch für die Bedienung der Zeit-Sprech-Maschine«, erklärte Zeit-Kreis. »Ich wollte es zu Hause durchlesen.« »Akzeptiert«, erwiderte die Maschine. Das Magnetfeld wurde gelöscht, und die äußere Tür öffnete sich. Bevor Zeit-Kreis hinausging, aktivierte er noch die Barrieren gegen Eindringlinge. Er konnte diese Barrieren zwar nicht sehen, aber die Krone der mächtigen Mauer strotzte jetzt vor alternierenden nördlichen und südlichen Magnetpolen. Die Felder waren so stark, und die Steigung so hoch, daß es 4i ewig dauern würde, irgend etwas über die Mauer hinweg durch diese Felder hindurchzuschieben. Die Feldstärke nahe dem Zentrum der Barriere war groß genug, um die Zellen in lebenden Organismen derartig in die Länge zu ziehen, daß sie nicht länger funktionsfähig waren. Er hatte gehört, daß es sich anfühlte, als steckte man einen Tentakel in die purpurrot glühenden Flammen eines Gammastrahlenblitzes. Er fühlte unter sich noch die
verblassende Spur von Klippen-Netz, die anzeigte, daß er sich durch die schrägen Korridore nach Nordosten geschoben hatte. Zeit-Kreis machte sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg und steuerte die Verwaltungsstätte des Innenaugeinstituts im Westen von Paradies des Glänzenden an, um alles für die Einweihungsfeier zu vorzubereiten. Klippen-Netz war im stillen sehr mit sich zufrieden. Zuerst die Raumfontäne (er konnte die winzige Lichtspitze über der Mauer am Ende des langen Nord-Ost-Korridors in den Himmel wachsen sehen), und jetzt die ZeitSprech-Maschine. Die Zeitmaschine war so weit vor dem gesetzten Termin fertiggestellt worden, daß die formelle Einweihungsfeier erst in drei Umdrehungen stattfinden sollte. Er war sich noch nicht im klaren darüber, ob er sich die Mühe machen sollte, daran teilzunehmen. Er haßte es, wenn ihm die Leute dauernd sagten, wie großartig er war. Allein bei dem Gedanken daran krümmten sich seine Augenstiele. Er freute sich darauf, nach Hause zu kommen, zu seinem Holo-Vid-Schirm und zu seinen Pflanzen. Plötzlich fiel ihm sein Spaltenkraut wieder ein, das er mitgenommen hatte, als er gegangen war. Er blieb stehen, bildete einen Manipulator, griff in seine Falte und zog die Pflanze hervor. »So, braves Schön-Netz«, sagte er. »Ist es dir zu warm?« Er hob die Pflanze in Augenhöhe empor und betrachtete sie aufmerksam. Sie war zu heiß. Sie war an der Spitze beinahe genauso gelb-weiß wie am unteren Ende und sie ließ in ihrer spitzwinkligen, , künstlichen Spalte, die die natürli42 chen Felsklüfte im Gebirge, dort, wo das Spaltenkraut normalerweise wuchs, ersetzte, den Kopf hängen. Jetzt, da die Pflanze wieder draußen an der frischen Luft war, wo sie die dunkle Schwärze des sternenübersäten Himmels wahrnehmen konnte, kühlte sich die Oberfläche an der Spitze ab, und die Farbe wechselte in ein samtiges Rot-Schwarz über, während die Unterseite zu spiegelndem Silber wurde. Klippen-Netz hob die Pflanze auf seine eigene tiefrote Oberseite empor und steckte den unteren Teil der Haltewurzel in eine Falte, die er dort gebildet hatte. Er veranlaßte seinen Körper, die Falte zu erwärmen, und die Pflanze, die nun die Wurzeln in einer Wärmequelle hatte, und die Spitze in der Kühle des schwarzen Himmels, begann ihre normale Kreislauftätigkeit wiederaufzunehmen und richtete sich auf. Die Spannungsfasern, die von einer Seite der Spalte zur anderen hinund herschwangen, strafften sich, und die Rippen auf der Oberfläche vertieften sich allmählich, womit die Abstrahlungsfähigkeit der Oberfläche zunahm. Winzige Fäden von rotem Licht begannen willkürlich ihren Weg in der schwarz-roten Spitze und wanden sich durch die Versorgungsbahnen bis zu dem dunkelroten Stamm hinunter, der in die weiß-gelbe Wurzel überging. Es war ein faszinierender, bewegender Vorgang. Klippen-Netz vermeinte beinahe das zufriedene Summen der Pflanze zu hören, während sie dabei war, Nährstoffe zu produzieren. Entspannt und glücklich mit sich und seiner Pflanze, hatte Klippen-Netz keine Eile damit, sich den Weg nach Nord-Osten entlangzuschieben. Indem er die Wände der Wohnstätten entlang der Straße als Hebelkeil benutzte, schob er sich durch die Magnetfeldlinien, die seine Bewegung in nördlicher Richtung behinderten. Eine Zeitlang bewegte er sich durch die slumartige Gegend der Altstadt, die das üppig bewachsene Gelände des Innenauge-Instituts umgab. In den meisten Wohnstätten hier waren die Fensterläden geschlossen, daher gab es außer den Wänden nicht viel zu sehen. Die Kreuzungen folgten unregelmäßig aufeinander, und er merkte, daß er 43 zu weit nach Osten gegangen war, daß er eigentlich schon ein paar Kreuzungen zuvor eine nord-westliche Abzweigung hätte nehmen sollen. Die Nordwest-Straße, die jetzt vor ihm lag, wich von der Ostrichtung 60 Grad nach Norden ab, anstatt der üblichen 30 Grad. Er knurrte, verärgert über sich selbst, schob sich über die Kreuzung hinweg, drückte sich an die südliche Mauer der Straße und schob sich nach Nordwesten, allerdings eher nach Norden als nach Westen. Ein Robot-Gleitfahrzeug, das man mieten konnte, zog in dem spärlichen Verkehr über ihm hinweg, und er war beinahe versucht, es herabzuwinken, aber es flog in die falsche Richtung, und außerdem konnte ihm ein wenig Bewegung nur gut tun. Als die Altstadt in die Vororte von Paradies des Glänzenden überging, wurde das Muster der Straßen regelmäßiger. Die Hauptdurchgangsstraßen führten direkt nach Osten und nach Westen, wobei die paarweise seitlich abzweigenden Verkehrswege einen genauen Winkel von 30 Grad nördlich der Ostrichtung bildeten, und kreuz und quer Muster formten, die diamantförmige und dreieckige Blocks bildeten. Die individuellen Wohnstätten reichten direkt bis an die Fußgängerwege heran, wobei die Wände mit glatten Fliesen überzogen worden waren, die ein rasches Vorangleiten der Fußgänger nach Norden und Süden zuließen. An den meisten Wohnstätten waren die Fensterläden zurückgeschoben, so daß Klippen-Netz in die äußeren Höfe hineinsehen konnte. Er blieb stehen, um das Arrangement der Pflanzen in I einem Mauerdurchlaß zu bewundern. Hier hatte jemand um eine normale dreieckige Fensteröffnung herum zwischen die versetzt eingefügten Ziegel Spaltenklammern gesetzt, so daß eine ansteigende Treppe von Klammern entstanden war. Ein einzelner mächtiger Stamm wuchs aus der Kruste empor, teilte sich in zwei dicke Äste, die an den Seiten der dreieckigen Aussparung nach oben liefen, und dann ihr Geflecht von einer Kletterhilfe zu nächsten ausbreiteten. Da sie so versetzt angeordnet waren, konnte jedes einzelne Blatt den dunklen Himmel sehen und gut 44 gedeihen. Die zwei obersten Klammern des Arrangements waren noch nicht mit Fasergeflecht bedeckt, aber er konnte die kleinen Ranken sehen, die ausgebildet wurden, um die nächste Stufe zu erklimmen. Die Spitzen
waren von kleinen Kapseln umgeben, deren Bedeutung ihm unklar blieb, doch die prächtige Dekoration gefiel ihm sehr. Als er über die Namensplatte glitt, die vor der Tür in den Boden des Fußwegs eingelassen war, registrierte er, daß hier Dr. med. Null-Gauß, 2412 Nord-West 7. Straße, wohnte, wahrscheinlich ein Professor des Instituts. Er mußte ihn unbedingt irgendwann einmal kennenlernen, um mit ihm über Gartenkultur zu plaudern. Klippen-Netz verfehlte diesmal nicht die richtige Kreuzung, denn jetzt befand er sich in vertrautem Gelände. Er hielt sich nordwestlich von seiner Wohnstätte, dann immer noch an zahlreichen Diamantformen entlang nach Norden, machte eine scharfe Kehre nach Nord-Osten in seine eigene Straße hinein und stand vor seinem Haus. Seine Wohnstätte war eine der größten in der Nachbarschaft. Sie erstreckte sich allein über ein ganzes diamantförmiges Grundstück. Nachdem er den großzügigen Leistungsbonus für die Unterschreitung der geplanten Kosten beim Bau der Raumfontäne erhalten hatte, besaß er genügend Sterne, um seine Nachbarn auszuzahlen, die Mauern zwischen den vier Grundstücken niederzureißen und seine ursprüngliche Wohnstätte auszudehnen. Eine der Nachbarwohnungen war zu einem Arbeitsraum, eine andere zu einem Pflanzhof und einem Wärmebeet für neue Keimlinge und die dritte zu einer Unterkunft für seine Haustiere umfunktioniert worden. Während er sich seiner Wohnstätte näherte, flüsterte er einen fröhlichen, elektronischen Pfiff in die Kruste. Aufgeregte Laute waren die Antwort. Als erster begrüßte ihn Frosty, der genetisch verkleinerte Hybrid-Schnell. Frosty war auf die Umfriedung der Wohnstätte hinaufgekrochen, hatte seinen Schwanz um den Pfahl mit dem Straßenschild gewickelt, der in einer Nische 45 stand, und begrüßte ihn mit heftigem Kopfnicken. Die fünf scharfzackigen Zähne sprangen heraus, entblößten einen glänzend weißen Rachen und zogen sich dann wieder zurück, als der Schnell schluckte. Frosty angelte nach der Spaltenkrautpflanze, die Klippen-Netz auf seinem Rücken trug, aber er lenkte das Tier ab, indem er einen Manipulator in dessen Schlund steckte. Frostys rasiermesserscharfe Zähne, die das Ende seines Manipulators auf einen Biß hätten abtrennen können, kratzten nur leicht über die Haut und hielten den Manipulator weiter fest, als er ihn zu sich heranzog. Klippen-Netz blieb stehen und ließ Frosty auf seine Oberseite gleiten, dann griff er durch die Öffnung in der Mauer, um ein paar freundliche Gestalten zu streicheln, die auf der anderen Seite warteten. Er schob sich zum Eingang, zog einen Magnetschlüssel hervor, schloß das Gartentor auf und glitt hinter die Mauer. Sogleich war er umringt von drei erwachsenen Schleichen, einem halben Dutzend Jungschleichen und von Kalt, Frostys Gefährten. Nachdem er alle Schleichen begrüßt hatte, zogen sie sich wieder zurück und fuhren fort das zu tun, was Schleichen eben so die ganze Umdrehung hindurch tun, während er jetzt endlich Zeit fand, sich nach Rollo umzusehen. Das kugelförmige Tier kauerte in einer Ecke hinter seinem großen, trägen Verwandten Schlurch, einem miniaturisierten Langsam-Gleiter, der in das Beet mit Sonnenschirmpflanzen eingefallen war. Er mußte einmal ein ernstes Wort mit seinem Hausroboter Treib-Sand reden. »Komm her, Rollo«, rief er und winkte mit einem Tentakel. »Komm, Rollo. Komm her zu mir.« Langsam rollte der Ball hinter dem Langsam-Gleiter hervor, seine zahlreichen Augen auf den winkenden Tentakel gerichtet. Schließlich kam er nahe genug heran, daß Klippen-Netz ihn streicheln konnte. Er knurrte vor Vergnügen und duckte seine Augen immer wieder unter dem beweglichen Tentakel hindurch. »Brav, Rollo, brav«, sagte Klippen-Netz. »Du mußt keine Angst haben. Die frechen Schleichen sind jetzt alle fort.« Das kleine Haustier, das sich jetzt entspannt hatte, rollte 46 um ihn herum und ließ sich von einem Tentakel nach dem anderen streicheln. In diesem Augenblick glitt TreibSand um die Ecke. »Hab ich's mir doch gedacht, daß du das bist, bei der ganzen Aufregung hier. Diese Schleichen müssen mit ihren Vibrationen mittlerweile die ganze Nachbarschaft aufgeschreckt haben.« Plötzlich erblickte er den LangsamGleiter in dem Sonnenschirmbeet. »He!« rief Treib-Sand. »Was hast du dir dabei gedacht, Schlurch in die Pflanzen zu lassen! Wie soll ich hier alles in Ordnung halten, wenn du mich nicht dabei unterstützt?« Während er einen schweren, keulenartigen Manipulator bildete, glitt Treib-Sand zu der behäbigen Kreatur hinüber, die durch ihre Unterseite Pflanzensaft schlürfte, und schlug sie fest auf die Seite. »Beweg dich, du fettes Stück wabbelnder Fels«, brüllte Treib-Sand durch die Kruste. Sowohl durch die schrillen Schreie an seiner Sohle, als auch durch die schweren Schläge auf seine gepanzerte Oberseite verstört, glitt der miniaturisierte Langsam-Gleiter aus dem Beet mit Sonnenschirmpflanzen hinaus und wieder auf den Rasen zurück, den er in Ordnung halten sollte. Treib-Sand versetzte ihm noch ein paar Schläge, um ihn in Bewegung zu halten. »Deine Post ist im Arbeitszimmer, und dein Essen steht im Herd«, sagte Treib-Sand. »Du mußt es dir selbst nehmen. Ich muß noch ein paar Dutzend Fontänenschößlinge umsetzen.« »Wie machen sich die Fontänenpflanzen?« wollte Klippen-Netz wissen. »Denjenigen, die überlebt haben, geht es jetzt ganz gut«, berichtete Treib-Sand. »Sie würden noch besser gedeihen, wenn du sie dort am Ostpol gelassen hättest, wo du sie gefunden hast und wo das Magnetfeld gerade von oben nach unten verläuft. Ich habe herausgefunden, daß sie gut wachsen, wenn ich diejenigen mit einer
schiefen Feuerröhre und nach der Seite hängendem Käscher nach dem Säen heraussortiere und sie so pflanze, daß sie in die richtige Richtung zeigen. Aber rechne bloß nicht damit, daß sie 47 zu groß werden könnten. Nee. Der Käscher würde sich dann so stark zur Seite neigen, daß sie umfallen. Da drüben steht eine von ihnen.« Treib-Sand Augenstiele deuteten auf ein kreisförmiges Beet von SonnenschirmPflanzen, in deren Mitte sich eine winzige Fontäne von blau-weißen Sternchen befand. Die Fontänenpflanze war ein Beispiel für ein hochenergetisches Gewächs, das mit enormer Geschwindigkeit arbeitete, um einfach nur am Leben zu bleiben. Die Biologen am Innenauge-Institut stritten sich immer noch darüber, ob es als Tier oder als Pflanze klassifiziert werden sollte, da es nur in schwerem, neutronenarmen Boden leben konnte, wie er im Ost- und im Westpolgebirge zu finden war. Das Herzstück der Pflanze bestand aus einer langen, dünnen Röhre. Ihr stark ausgeprägtes Wurzelsystem saugte die Nährstoffe ein und verbrannte sie in geradezu erschreckendem Tempo. Die blauglühenden Wärmepartikel, die dadurch im Innern der Pflanze erzeugt wurden, wurden anschließend zu den samenartigen Teilchen transportiert, die in einem Schauer aus winzigen blau-weißen Funken durch die Röhre in den Himmel emporschössen. Die Fünkchen kühlten durch Energieabstrahlung ab, und bis zu dem Moment, in dem sie in dem schüsselförmigen Käscher über der Wurzel wieder eingesammelt wurden, um erneut in den Kreislauf zurückgeführt zu werden, glühten sie nur noch dunkelrot. Jedes Gammastrahlenphoton das auf der kurzen Flugbahn abgegeben wurde, brachte in dieser nuklearen Entsprechung eines Photosynthesekreislaufes die Pflanze eine Stufe weiter auf dem Weg zur Erzeugung eines energetischen Moleküls, das für das Wachstum verwendet werden konnte. Die Fontänepflanzen, die Klippen-Netz im Ostpolgebirge gesehen hatte, lebten häufig nicht einmal eine Umdrehung lang. Sie entsprossen in einem nährstoffreichen Staubhäufchen dem Samen, glitzerten ein paar Doth-Umdrehungen lang, wobei sie im Verlauf der Zeit zusehends größer wurden und dann, wenn die Nahrung verbraucht war, begann der Stengel damit, größere Samenpartikel zu verschießen. 48 Während der letzten Meth-Umdrehungen nahm die Ausstoßgeschwindigkeit zu, und die Samen wurden über eine Entfernung von mehreren Zentimetern nach allen Seiten verstreut. Wenn sie auf einem vielversprechenden Haufen von neutronenarmem Material landeten, begann der Vorgang von neuem. Ansonsten warteten die Samen, bis Bodenerschütterungen oder Bewegungen von Tieren sie an die richtige Stelle brachten. Klippen-Netz hatte, gehofft, daß er sie mehrere Umdrehungen lang am Leben erhalten konnte, wenn er ihnen entsprechende Mengen von Nährstoffen zuführte. Aber diese Pflanzen waren nicht für ein langes Leben ausgerichtet und schienen nach einem halben Dutzend Umdrehungen aufzugeben. Doch solange sie ihre Funken versprühten, waren sie eine wahre Augenweide, und er blieb ein paar Meth-Umdrehungen lang stehen und erfreute sich an ihrem Anblick, dann glitt er durch den äußeren Vorhof hindurch zu seinem Arbeitszimmer im Innern der Wohnstätte. Als er das Arbeitszimmer betrat, erhob sich Lassie von ihrer Matte an der Wand, an der sich im benachbarten Zimmer der Herd befand. Die alte Schleiche bewegte sich unsicher, als sie näher kam, um ihren Herrn zu begrüßen. Klippen-Netz überlegte, wie eigenartig es doch war, daß diese haarlose Schleiche so sehr einem faltigen Cheela-Jungen glich. Die starke Ähnlichkeit der beiden Spezies war vermutlich der Grund dafür, daß Schleichen die Lieblingstiere der Cheela waren. Praktisch jeder Cheela hielt sich eine, und der letzte Schrei bestand darin, die Tiere nach haarigen, vierbeinigen Haustieren der Menschen zu benennen, so wie Lassie, Trigger, Fury oder Boomer. Klippen-Netz glitt an seinen Arbeitsplatz: der silberne Berührungs- und Geschmacksschirm schaltete sich ein, sobald seine Sohle darüberglitt. Als bedeutendster Bauunternehmer auf Ei besaß Klippen-Netz das neueste Modell unter den intelligenten Terminals. Er las die Computernetznachrichten, diktierte einige Antworten in das Robotantwortprogramm, veranlaßte die Ausstellung der letzten Rechnung für die Zeit-Sprech-Maschine, dann wandte er 49 sich den eingegangenen Rollen zu. Er war lange Zeit fort gewesen, und obwohl die Übermittlung von Botschaften durch den Computer die meisten persönlichen Zustelldienste ersetzt hatte, lag immer noch eine große Anzahl von Nachrichtenrollen in seiner Rollen wand. Die Rollenwand, die aus starken, über Kreuz angeordneten Platten bestand, die in die Wand seines Arbeitszimmers eingebaut waren, enthielt diejenigen Dokumente, die entweder zu wichtig oder zu amtlich waren, um sie dem Computer-Nachrichtendienst anzuvertrauen. Klippen-Netz, der bereits ahnte, um was es sich dabei handelte, griff nach der größten Rolle und zog sie aus ihrem diamantförmigen Fach in der Wand. Ein kurzer Blick auf die Außenseite bestätigte ihm, daß er recht hatte. Es war eine formelle Aufforderung, Pläne für die Konstruktion des Trägheitsantriebs zu erstellen, der die ausgefallene Rakete in dem Asteroidenschutzgürtel der Menschen ersetzen sollte. Er verstärkte seinen Manipulatorknochen, um das Gewicht des vielfach gefalteten Dokuments tragen zu können, legte er es vorsichtig auf den Boden, wo die elastischen Metallfolien zu einer ellipsoiden Form auseinanderfielen und nur darauf warteten, daß ein Tentakel sich auf der gewünschten Seite niedersenkte und fest darauf drückte. Obwohl er sich seine eigene Kopie aus dem Nachrichtenspeicher hätte ansehen können, zog Klippen-Netz es immer noch vor, auf die Kruste zu blicken, während er nachdachte, daher
bildete er einen Tentakel und schob ihn über das mittlere Loch in der Rolle. Dieser geringe Druck, der zu dem starken Gravitationsfeld des Dracheneis hinzugefügt wurde, veranlaßte die Metallfolie, sich auszubreiten, wobei die oberste Seite sichtbar wurde. Es war die Aufforderung, den Plan für den Bau des mächtigen Trägheitsantriebs einzuschicken. Klippen-Netz überflog die erste Seite und was er dort sah, gefiel ihm überhaupt nicht. »Möge der Glänzende untergehen!« schimpfte er. »Es ist jetzt mehr als zwei Groß Umdrehungen her, daß wir den Menschen unsere Hilfe zugesagt haben. Man sollte mei50 nen, daß das Labor für die Zusammenarbeit mit den Langsamen mittlerweile mehr erreicht hätte! Diese Planungsaufforderung ist doch bloß eine Vorarbeit. Sie hätten eine derartige Studie bereits vor einer Groß Umdrehung von ihrer Arbeitsstätte aus erledigen können.« Er hatte während seiner Laufbahn bereits auf viele derartige Dokumente herabgeblickt, daher schob er einen weiteren Tentakel ungefähr ins zweite Drittel des Stapels. Die »Fließ-Platten«- Folien, die die Verwaltung zwischen die Umschlagplatte und das Innere des Dokumentes gesteckt hatte, rollten sich wieder zu einer festen Ellipse zusammen. Er ließ noch ein paar weitere Seiten aufrollen, rollte dann wieder eine Seite zurück und fluchte erneut. »Ich freß einen Langsam-Gleiter! Sie haben nur ein Budget von 144 Großsternen für diesen Auftrag zur Verfügung gestellt! Sie erwarten anscheinend von uns, daß wir noch Eier ins Gehege tragen.« Er rollte noch ein paar weitere Blätter durch, bis er an die Stelle kam, an der die erforderlichen Arbeiten aufgeführt waren. Diesmal fluchte er nicht, denn er hatte so etwas Ähnliches schon oft genug gesehen. »... und der einzige Unterschied zwischen diesem >vor-läufigem< Planungsersuchen und einem >endgültigen< Planungsersuchen ist der, daß wir keine gültigen Preislisten einreichen müssen, wie es beim abschließenden Bericht der Fall ist.« Er bewegte seinen Tentakel und ließ die Seiten rasch eine nach der anderen durchlaufen, während er sie überflog. Die Wellenbewegung der Augen verlangsamte sich, und seine Sohle trommelte nervös, während sein Gehirnknoten über eine Alternative nachdachte, wie das Problem angegangen werden könnte. »Das könnte klappen«, sagte er bei sich. Er ließ die Rolle zurückschnappen und legte sie in die Rollenwand zurück, während er auf seinen Berührungs- und Geschmackskommunikator hinaufglitt. Er war gerade dabei, eine Konferenzschaltung zu einem seiner Chefingenieure zu erstellen, als ein Geräusch, wie von einem dröhnenden Gong, langsam die Kruste erbeben ließ. Seine Pendeluhr zeigte das 51 Ende der Umdrehung an, indem sie langsam die zwölfte Doth-Umdrehung einläutete. Er überprüfte seinen Nuklearchronometer - die alte Pendeluhr zeigte trotz des kräftigen Krustenbebens vor ein paar Umdrehungen immer noch zuverlässig die Zeit an. Es hatte keinen Zweck, jetzt jemanden anzurufen. Alle Bewohner des Eis begaben sich nun zu ihrer Hauptmahlzeit während der Umdrehung. Er würde sich also auch etwas zu essen holen und den Anruf dann um Doth-Umdrehung Eins machen. Lassie folgte ihm ins Speisezimmer, als er das Arbeitszimmer verließ. Lassie war zwar schon alt, aber sie war nicht dumm; es bedeutete nämlich auch gleichzeitig Essenszeit für sie. Treib-Sand hatte eine gute Mahlzeit zubereitet. Eine kleine Pfanne mit Hackbraten aus gemahlenem Augenanker und Kräutern, umgeben von einem Dutzend zarter Wurzelknoten von Sonnenschirmpflanzen, wurde im Herd warmgehalten. Er hob den Deckel des Kühlgerätes, das in den Fußboden des Speisezimmers eingelassen war, und fand einen frischen Salat aus Blütenblättern vor, mit heißer Sauce aus zerdrückten Stachelpalmzweigen vom Nordpol. Er nahm auch noch einen gekühlten Beutel Einbeerwein heraus. Er stammte von den Nordhängen des Exodus-Vulkans und galt als einer der erlesensten Weine. Seine Gedanken kreisten um das neue Projekt, und normalerweise hätte er den Inhalt der Schüsseln einfach in eine Eßfalte gestopft und wäre in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, aber in dieser Umdrehung beschloß er, im Speisezimmer zu bleiben und das ausgezeichnete Mahl zu genießen. Er stellte die Schüsseln auf die TemperaturSteuerplatten im Boden und ließ seinen großen Körper auf der Eßplatte daneben nieder. Dann schob er zwei seiner Eßfalten zurecht, bis sie dicht nebeneinander vor den beiden Schüsseln lagen. Ein Manipulator hielt den Beutel Einbeerwein über beide Falten und ließ den Wein abwechselnd in die eine oder in die andere Falte hineinströmen, so wie es sein Appetit verlangte. Der Hackbraten aus Augenanker war ausgezeichnet. Im 52 Kühlschrank lagen ein paar schöne Flankenstücke, die sogar noch besser waren, aber er war froh, daß TreibSand die billigeren Stücke ausgewählt hatte, denn er wollte die Flankenstücke für die Gelegenheiten aufheben, bei denen er Gäste bewirtete. Schließlich geschah es nicht allzu oft, daß einem zum Umdrehungsmahl bestes Cheela-Fleisch angeboten wurde. Er hatte Glück gehabt, daß er immer noch das meiste von seinem Bonus übrig hatte, als der Körper verkauft wurde, sonst wäre Fontänen-Blüte wohlmöglich von Clanfremden verspeist worden. Sie war bei einem furchtbaren Unfall mit einem Gleitfahrzeug während eines Krustenbebens getötet worden. Alle Leichname von toten Cheela gehörten ihrem Clan und wurden bei Auktionen verkauft, damit der Clan die Mittel aufbringen konnte, die benötigt wurden, um die Kosten für die Aufzucht der Brut zu decken. Da im Durchschnitt jeder Cheela in seinem Leben nur einmal an einen Cheela-Körper herankam, war sogar das zähe, sehnige Fleisch eines
Alten teurer als das beste Tierfleisch. Nur ein reicher Cheela konnte es sich leisten, mehr als ein Augenstück eines Leichnams zu erwerben. Das Fleisch eines erwachsenen Opfers in der Blüte seiner Jahre war selbst für einen wohlhabenden Müßiggänger, wie sie in der modernen Überflußgesellschaft anscheinend nur so aus der Kruste schössen, beinahe unbezahlbar. Klippen-Netz brachte wieder Ehre über seine Sippe, als er eine Interessengemeinschaft von Festmahlagenten bei allen zwölf Augenstücken von Fontänen-Blüte überbot. Der Beitrag des Clans wurde für ein Groß nach dem Verkauf um ein Dutzend Sterne gesenkt. Der Weinbeutel war trocken, die Schüssel mit gemahlenem Augenankermuskel leer, und Klippen-Netz stocherte in den Resten des heiß-kalten Salats herum, als die Kruste unter der melodischen Tonfolge beim Schlagen der Halb-doth-Umdrehung vibrierte. Es war immer noch zu früh, eine Konferenz mit seinem Ingenieurteam einzuberufen, daher ließ er Lassie die Reste von den Platten schlürfen und begab sich gemächlich in den Freizeitraum. Er suchte aber 53 eigentlich keine Zerstreuung; er wollte Nachrichten -Nachrichten über die Menschen und ihre heikle Lage. Er wollte sehen, was der durchschnittliche Cheela auf Ei darüber wußte, und ob er sich über die gefährliche Situation der Langsamen über ihnen Gedanken machte. Er schaltete das Holovid-Gerät ein und richtete seine Augen auf den leeren Raum zwischen sich und dem silbernen Schirm, der den Boden und zwei Wände einer Ecke des Raumes bedeckte: Frei im Raum schwebend erschien ein dreidimensionales Bild vor ihm. Es zeigte einen neuen Propheten, der auf den alten Phrasen von Rosa Augen, dem Ersten Propheten, herumtrat und sexuelle Ekstase für alle versprach. Klippen-Netz ließ verärgert seine Augenstiele erzittern, als er dieses zusätzliche Beispiel einer degenerierenden modernen Gesellschaft sah. Es gab bereits nicht wenige moderne männliche Wesen, die ihre Clans verleugneten, damit sie nicht den Tribut zahlen mußten, der gebraucht wurde, um die Brut aufzuziehen. Schließlich wären sie ja nicht diejenigen, die Eier produzierten, die dann Pflege und Aufzucht erforderten. Als nächstes würden wohl auch noch weibliche Cheela ihre Eier abstoßen, weil sie »es müde waren, sie zu tragen«. Dabei sollten sie froh sein, daß sie keine Menschenfrauen waren, die sich noch um ihren Nachwuchs kümmern mußten, nachdem er geschlüpft war. Klippen-Netz besaß ein modernes Holovid-Gerät mit vollem Computerzubehör. Der Computer war nicht so intelligent wie ein Roboter, aber beinahe ebenso gut. Er bewahrte in seinem Molek-Speicher Kopien von allen Programmen auf, die in den letzten sechs Umdrehungen durch seine 144 Kanäle gelaufen waren, und konnte weitere Programme aus seinem Permanentspeicher abrufen. »In welchen Nachrichtenprogrammen wurden die Menschen erwähnt?« fragte er. »In den letzten sechs Umdrehungen in keinem einzigen«, gab der Computer zur Antwort. »Aber vor 36 Umdrehungen gab es ein Wissenschaftsnachrichtenprogramm auf dem Schulkanal, in dem berichtet wurde, daß Himmelsleh54 rer, der Spezialroboter, der für die Verständigung mit den Menschen eingesetzt wurde, wegen Modernisierungsund Reparaturarbeiten abgeschaltet worden war, nachdem der menschliche Gesprächspartner Pierre Niven die Kommunikationskonsole verlassen hatte. An seiner Stelle war ein Automat eingesetzt worden, aber Himmelslehrer sollte wieder zurück sein, bevor die Menschen ihn vermißten. Die Sendung wurde gesponsort von den »Beschützern der Langsamen«. »Die ganze Öffentlichkeit und die gesamte Bürokratie sind Beschützer der Langsamen«, sagte Klippen-Netz. »Sie behandeln die Menschen, als wären sie bloß irgendeine Tierart, die man bewahren müßte. Dauernd heißt es: >Die Menschen sind so langsam und so dumm, daß wir auf sie aufpassen müssen. < Aber sie passen nicht auf sie auf! Die Menschen sind in Gefahr, und wir Cheela versuchen ein paar Sterne einzusparen, indem wir die Arbeit hinauszögern und die Kosten unterschätzen.« Er murmelte einen Fluch und begab sich in sein Arbeitszimmer. Bis Doth-Umdrehung Eins waren es immer noch zwei Greth-Umdrehungen, aber wie er seine Chefingenieure kannte, waren sie mit ihrem Umdrehungsmahl bereits fertig und wieder zurück an ihren Konsolen. Er setzte eine Konferenzschaltung in Gang und versammelte seine Ingenieure, um eine Antwort auf die Planungsaufforderung vorzubereiten. Das Netz-Ingenieurbüro würde bei dem Vertrag wahrscheinlich Geld verlieren, aber das bereitete Klippen-Netz kein Kopfzerbrechen. Die vereinigten Clans auf dem Drachenei mochten sich nicht besonders um die Menschen kümmern, aber das Büro der Netz-Bau tat es dafür um so mehr. Zeit: 06:51:19 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Dr. Cesar Wong hob den Blick von dem Bullauge, das in Jeans Schutztank führte und schaute auf die Kontrolltafel 55 an der Wand. Die Angaben zeigten, daß jetzt drei Tanks besetzt waren, und daß Jean, Abdul und Seiko im Augenblick vor den rasch wechselnden Gravitationskräften sicher waren. Pierre saß noch immer in der Bibliothek auf dem unteren Mannschaftsdeck, aber er sollte bald hier sein und seinen Tank aufsuchen. Cesar begab sich langsam um die mittlere Säule herum zu seinem eigenen Tank, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß er unter dem Einfluß der ziehenden Gravitationskräfte nicht die Kontrolle über seine Glieder verlor. Amalitas Tank lag direkt neben seinem, aber sie war nicht dort und auch nicht in ihrem Tank. Er blickte sich besorgt um. Das Hauptdeck war leer.
»Amalita!« rief er. Er erhielt keine Antwort, aber durch den Gang zum Forschungsdeck drang das Geräusch mühsamen Atmens zu ihm. Er zog sich über die Sprossen des Durchgangs nach oben, um zu sehen, was los war. Wenn die Kompensatormassen ihre Aufgabe erfüllten, herrschte im Zentrum des Drachentöters nahezu Schwerelosigkeit. Nur an den Außenwänden wurde das Gravitationsfeld stark genug, um ein Gefühl von oben und unten zu vermitteln. Doch jetzt war die Kompensation zu weit entfernt, und die Gravitationskräfte auf den oberen und unteren Decks waren erheblich. Das durchschnittliche Feld wies fast zwei Erden-G auf und wurde langsam stärker, während die Abweichungen von diesem Durchschnittswert manchmal sogar für eine Millisekunde zwei G überschritten. Diese Abweichungen machten sich zwar nicht lange genug bemerkbar, um große Geschwindigkeiten aufzubauen, aber sie erschwerten das Orten der Sprossen- Er wandte sich um, so daß die Schwerkraft ihn nach »unten« auf das »obere« Forschungsdeck zog, und kletterte hinunter, wo er direkt neben Amalita stand, die an der Decke saß und versuchte, sich in ihren Raumanzug zu kämpfen. »Ich werde die Steuerrakete reparieren, indem ich das Ventil durch ein Ersatzventil von einer anderen Rakete austausche«, keuchte sie. »Du wirst dabei getötet werden!« sagte er, während seine Augen sich vor Besorgnis weiteten. 56 »Wenn keiner diese Rakete in Ordnung bringt, dann sterben wir alle«, erwiderte sie. »Vielleicht werde ich es nicht schaffen, aber ich werde es zumindest versuchen.« »Ich bewundere deine Tapferkeit«, meinte Dr. Wong. »Aber wenn du nur einen Augenblick nachdenken würdest, dann müßtest du einsehen, daß Unerschrockenheit allein nicht ausreicht.« Er beugte sich nieder und zwang sie, ihn anzusehen. »Die Steuerraketen arbeiten in einem Bereich auf halbem Wege zwischen uns und den Kompensatormassen, die sich 200 Meter vom Mittelpunkt des Ringes entfernt befinden«, sagte er. Seine Stimme bekam einen entschiedenen Tonfall. »Wie groß ist die Gravitationskraft in hundert Metern Entfernung von einer dieser Massen?« Dr. Wong beobachtete, wie Amalitas Blick starr wurde, während der superschnelle Kolloid-Computer unter dem braunen Pferdeschwanz die Berechnung im Geist durchlaufen ließ. »133 G pro Meter«, sagte sie. Ihre Augen blinzelten, als sie sich wieder daran machte, den Helm aufzusetzen. »Aber das wird kompensiert durch die Kräfte des Neutronensterns von 101 G pro Meter ...« »Bleiben immer noch 32 G pro Meter übrig«, meinte Doc. »Die Nuten in den Steuerraketen sind dafür konstruiert, derartige Belastungen auszuhalten, aber du wirst zugeben müssen, daß es deine Gelenke nicht sind.« Als er ihr den Helm aus den schlaffen Händen nahm, huschte ein greller Lichtblitz über ihnen über den Direktbildtisch. Die Polarorbit-Raumstation der Cheela war wieder einmal an ihnen vorübergeschossen. Zeit: 06:52:19 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Kapitän Stern-Gleiter wartete bereits im Andockhafen, als das kleine Sprungschiff sich an die Raumstation heranmanövrierte. Es hatte einen Doppelstern-Admiral an Bord, 57 und die Vorschrift verlangte, daß der Kapitän der Station anwesend war, um einen derartig bedeutenden Besucher zu begrüßen. Er hatte keine Ahnung, was der Grund für den Besuch des Admirals sein mochte. Möglicherweise befand er sich auf dem Weg ins All hinaus, aber Stern-Gleiter hatte nichts von gegenwärtigen Tiefenraumflügen gehört. Er vermutete, daß der Besuch ihm galt, da sein Einsatz als Stationskommandant zu Ende ging, und es für ihn Zeit wurde, das Kommando einem neuen Befehlshaber zu übergeben. Während er wartete, gestattete er vier seiner Augen, das Vorbeiziehen der Sechs Augen des Glänzenden zu verfolgen, die nur einen Kilometer von ihm entfernt waren. Es war jetzt mehr als vier Groß Umdrehungen her, daß der Meteorit die Rakete getroffen hatte, und die Kompensatormassen waren nun deutlich sichtbar aus der Bahn geraten. Er fragte sich nebenbei, was die Verwaltung der Vereinigten Clans nun unternehmen wollte, denn er hatte in den Holovid-Nachrichten nichts darüber gesehen. Das Fährboot dockte elegant an der flachen Stelle seitlich der kugelförmigen Raumstation an. »Willkommen an Bord der Polarorbit-Raumstation, Admiral Milch-Straße«, sagte Stern-Gleiter, während sein Tentakel zur Begrüßung über seinen sechszackigen Kapitänsstern strich. »Was führt Sie so weit fort von der Wärme des Eis?« »Nun, ich könnte behaupten, ich wäre zu einer überraschenden Inspektion hier«, erwiderte der Admiral. Dann kräuselte sich seine Sohle vor Lachen, als er das nervöse Zucken von Stern-Gleiters Augenstielen bemerkte. »Aber tatsächlich bin ich gekommen, um Sie in einer privaten Angelegenheit zu sprechen. Können wir uns in Ihr Quartier zurückziehen?« »Gewiß.« Stern-Gleiter war leicht verwirrt. Normalerweise wurde ein Kommandowechsel öffentlich angekündigt. Er glitt durch die Korridore voran, und sie betraten seine Privaträume. Er hatte das Holovid angelassen, und der Sichtblock zeigte die Nahaufnahme eines einzelnen Cheela-Auges. Es war von kühler, tiefroter Farbe, und der 58 Augenstiel darunter verdickte sich, während das Auge unter die dicksten, aufreizendsten Augenlappen auf Drachenei gezogen wurde. Die Holokamera fuhr zurück, um den Rest des weiblichen Cheela zu zeigen, der auf der Bühne die langsamen Wellenbewegungen fortsetzte, mit einem Auge nach dem anderen blinzelte und dabei
das etwas zweideutige Lied sang: »Winde die Augen dein um die Augen mein«. Leicht verlegen glitt SternGleiter zur Bedienungskonsole hinüber, um abzuschalten, aber der Admiral hielt ihn mit einem seiner Tentakel zurück. »Lassen Sie doch«, sagte er. »Lassen Sie sie ihr Lied zu Ende singen, es ist eins meiner Lieblingslieder.« Er begab sich zu einer Ruhematte hinüber und floß darauf nieder, um die Vorführung zu genießen. Stern-Gleiter ließ sich auf der anderen Matte nieder und hielt die Hälfte seiner Augen auf den Bildblock, die andere Hälfte auf den Admiral gerichtet. Das Lied ging zu Ende und mit ihm auch die Show. Stern-Gleiter streckte einen Teil seiner Sohle vor und drehte das Holovid ab. »Ein absolut entzückendes Wesen, diese Be-Be«, stellte Milch-Straße fest. »Ich finde, sie ist ein ausgezeichnetes Gegengift gegen Brutpflegefieber. Jedes Mal, wenn ich diese zwölf reizenden Augen sehe, fühle ich mich wieder wie ein Jüngling.« Er rutschte ein wenig auf seiner Sohle hin und her, griff dann in eine seiner Falten hinein und zog eine Nachrichtenrolle hervor. Anstatt sie zu Stern-Gleiter hinüberzurollen, hielt er sie jedoch fest, während er sprach. »Wie Sie vermutlich bemerkt haben, geht Ihr Einsatz hier zu Ende. Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, und Sie könnten durchaus für einen weiteren Einsatz hierbleiben, falls das Ihr Wunsch sein sollte, aber Sie sind für eine andere Position vorgeschlagen worden. Es ist keine der normalen Kommandostellen, sondern eine außergewöhnliche Mission, für die jemand gesucht wird, der über Ihre Erfahrung mit längeren Raumoperationen verfügt. Es wird keine ganz leichte Aufgabe sein, die darüber hinaus eine langfristige Bindung Ihrerseits erfordert. Länger als der 59 gewöhnliche Vier-Umdrehungen-Einsatz: Aus diesem Grund werden wir Sie nicht einfach für diese Stelle abkommandieren. Statt dessen bin ich extra hier heraufgekommen, um mit Ihnen offen und ehrlich die Vorzüge und die Nachteile einer derartigen Position zu besprechen, und Ihnen Gelegenheit zu geben, sie gegebenenfalls abzulehnen.« »Es macht mir nichts aus, mich für einen besonders langen Einsatz zu verpflichten, wenn die Stelle in Ordnung ist«, meinte Stern-Gleiter. »Aber was ist so beschwerlich an dem Job?« »Sie werden die volle Verantwortung tragen ... aber so gut wie keine Autorität besitzen«, erklärte Milch-Straße. »Tatsächlich wird Ihre Aufgabe als Befehlshaber dieser Sondermission größtenteils darin bestehen, zu betteln und zu bitten und zu schmeicheln, um genügend Autorität zu' ergattern, damit diese Mission, für die Sie die Verantwortung tragen, durchgeführt werden kann. Wenn ich Autorität sage, meine ich in diesem Fall natürlich Geld.« Er ließ die Nachrichtenrolle über das Deck gleiten. »Es ist jetzt mehr als vier Groß Umdrehungen her, daß ein Meteorit in eine der Raketen einschlug, die die Sechs Augen des Glänzenden lenken sollten, und damit die Menschen in Gefahr brachte. Zu jener Zeit war geschätzt worden, daß es ungefähr fünf Menschenminuten oder zehn Groß Umdrehungen dauern würde, bis die Kreisformation der Sechs Augen so aus dem Gleichgewicht gebracht wäre, daß die Gravitationskräfte das Innenauge-Raumschiff auseinanderreißen würden. Kurz danach wären dann selbst die Isoliertanks nicht mehr in der Lage, die Menschen zu schützen.« »Als der Unfall geschah, ging der Präsident der Vereinigten Clans die Verpflichtung ein, daß die Bewohner des Eis eine Mission unternehmen würden, um die Rakete zu reparieren und die Menschen zu retten. Aber der anfängliche öffentliche Enthusiasmus für dieses Projekt verflog sehr rasch. Es vergingen zwei volle Groß Umdrehungen, bis auch nur ein Planungsauftrag vergeben wurde — und der war finanziell völlig unangemessen ausgestattet. Die Netz60 Baugesellschaft hat den Planungsumriß vervollständigt und ist mit einem technisch durchführbaren Vorschlag herausgekommen. Sie haben versucht, die Kosten gering zu halten, aber die Mission wird eine ziemlich starke Aufstockung des Raumfahrtbudgets erforderlich machen, und die Gesetzgebung der Vereinigten Clans ballt ihre Sohlen und zaudert und zagt, um zu vermeiden, daß sie die Geldmittel erhöhen müssen.« Stern-Gleiter drückte auf die Rolle, und sie faltete sich auf dem Deck auseinander. Er senkte ein Auge, um sie zu lesen. »Eine Beförderung zum Admiral!« rief er aus. »Ja. Sechs Zacken mehr an Ihrem Stern, wenn Sie den Job annehmen«, meinte Milch-Straße. »Und ich kann Ihnen einen weiteren beinahe fest versprechen, wenn Sie den Schnell reiten, ohne gefressen zu werden.« Stern-Gleiter zögerte. »Sie werden sich jede einzelne der sechs Spitzen verdienen, wenn Sie den Job annehmen«, sagte der Admiral. »Sie werden in Holovid-Shows auftreten müssen und Clan-Versammlungen beiwohnen, um die öffentliche Begeisterung für das Projekt wieder zu wecken. Sie werden die meisten Mitglieder der Gesetzgebung der Vereinigten Clans kennenlernen müssen, und den Mitgliedern der legislativen Untergruppen für Raumfahrt, Kommunikation und Beziehungen zu den Langsamen so nahe kommen müssen, daß sie Sie für einen Brutkameraden halten. Und vor allem, trotz aller Provokation, werden Sie stets ruhig bleiben müssen, dürfen sich keine Feinde schaffen und niemals die Geduld verlieren. Können Sie das? Werden Sie das?« »Ja!« erwiderte Stern-Gleiter mit Nachdruck. »Herzlichen Glückwunsch ... Admiral«, sagte Milch-Straße. »Ich habe ganz zufällig ein paar Zwölf zackige
mitgebracht.« Er suchte in seinen Falten, dann zog er eine Karte mit ungefähr einem halben Dutzend Sternen hervor. Während Stern-Gleiter reglos in der Mitte des Raumes verharrte, glitt der Admiral um ihn herum, zog die sechszackigen Sterne aus den Greifringmuskeln in Stern-Gleiters 61 Körper und setzte die blinkenden, neuen, zwölfzackigen Sterne ein. Als er seinen Rundgang beendet hatte, fragte er: »Möchten Sie auch Ihren Namen ändern?« »Nein. Ich hänge immer noch an dem, den ich mir ausgesucht habe, als ich die Akademie abschloß.« »Nun denn, Admiral Stern-Gleiter«, sagte Milch-Straße, »lassen Sie uns die Mannschaft für eine Ansprache versammeln.« Admiral Stern-Gleiter übergab das Kommando über die Raumstation an seinen Ersten Offizier Horizont-Fühler und kehrte mit Milch-Straße auf die Oberfläche des Dracheneis zurück. Er war länger als ein Groß Umdrehungen im Orbit gewesen und freute sich darauf, wieder einmal zu einem Clan-Treffen zu gehen. Der Pilot des Fährbootes benutzte einen kurzen Schub des Trägheitsantriebs, um aus dem polaren Orbit herauszukommen. Er richtete den Deorbit-Schub zeitlich so ein, daß ihr Perigäum nahe dem Ostpol lag. Als sie sich dem starken Magnetfeld über dem Pol näherten, fuhr er die kurzen, supraleitenden Flügel aus dem kugelförmigen Raumschiff aus. Er hielt das geflügelte Raumschiff schräg, während es durch die glatten Magnetfeldlinien flog, nutzte den Schwung auf das Ei durch die Ostpolfelder und wechselte dann aus dem Polarorbit in den Aquatorialorbit über. Es gab keinen Einbruch in der Geschwindigkeit des Fährbootes, denn die Wechselwirkung mit dem Magnetfeld erfolgte ohne Kräfteverlust. Dieses Manöver brachte sie in einer Entfernung von genau hundert Metern neben der dünnen Metallsäule der Raumfontäne herunter. Der Turm war jetzt Kilometer hoch und überragte sogar ihre Flugbahn. Stern-Gleiter sorgte dafür, daß er sieh an der Oberseite befand, als die Drehung vollzogen wurde. Der Ausblick war überwältigend. Er konnte sogar die kleinen Aufzüge erkennen, die an der emporragenden Säule auf- und niederfuhren. 62 Zeit: 06:52:20 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Der junge Gelegenheitsarbeiter fühlte sich gar nicht wohl. Normalerweise hätte er nichts dagegen gehabt, mit zwei dicklidrigen weiblichen Wesen in einem Fahrstuhl zusammengepreßt zu sein. Ein bißchen Drücken und Kitzeln würde helfen, die Zeit von einer Doth-Umdrehung, die der lange Abstieg auf die Oberfläche dauerte, zu verkürzen. Aber dieses Mal handelte es sich bei einem der weiblichen Wesen um seine Gruppenleiterin, und die andere war sogar Schichtleiterin. Dies war seine erste Schicht oben auf der Raumfontäne, seit er seine Lehre bei der Netz-Bau begonnen hatte, und er wollte unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen, damit sie ihn öfter auf dem Turm arbeiten ließen. Die zwei Leiterinnen fachsimpelten unter seiner Sohle, und er litt im stillen, während er versuchte, eine Stelle zu finden, auf die er seine Augen richten konnte, ohne auf Augenlappen oder Oberseiten zu starren. Sechs seiner Augen beobachteten die drei Paare von eilig dahinströmenden, supraleitenden Ringen, die durch Löcher in den Ecken des dreieckigen Aufzugs emporschössen. Die anderen sechs Augen blickten starr in den Raum hinaus, zum Horizont hinüber, wo er in Flecken und Linien Städte und Straßen erkennen konnte, die westwärts nach Paradies des Glänzenden führten. Ein glühender Punkt schwang sich in hundert Metern Entfernung um den Turm herum und schoß in die Ferne davon. Es war vermutlich ein Sprungschiff, das sich auf dem Weg zur Sprungschleife befand. Der Aufzug hielt an der 60-Kilometer-Plattform an. Die Plattform war leer bis auf die Deflektormagneten, die jedes der sechs Paare von Ringströmen umgaben. Der nach oben fahrende Aufzug, der auf den anderen drei Strömen ritt, hatte soeben die Schichtablösung abgesetzt, und sie warteten, während die Arbeitsanweisungen ausgegeben wurden. »Habt ein paar Augen auf den Deflektor von Strom Drei63 auf. Er wird dauernd warm, und Oberseite sagt, sie haben zu viele Ausschübe«, berichtete der Arbeiter von der vergangenen Schicht. »Ich werde unten Ersatz anfordern.« »Den habe ich schon mitgebracht«, erklärte seine Ablösung und zog einen sperrigen Kasten aus einer höhlenartigen Arbeiterfalte. »Es wird nicht lange dauern, bis ich das repariert habe. Viel Spaß in SchnellAufstieg.« »Werde ich schon haben. Wir sehen uns in einer Doth-Umdrehung.« Schweres Ei kannte sich mit Ausschüben aus. Das war seine Aufgabe auf der obersten Plattform. Die sechs Aufströme wurden von einer Art Detektor abgetastet, wenn sie die Oberseite erreichten. Alle Ringe, die verbogen oder zu heiß geworden waren, wurden in einen Abfallbehälter geworfen, wo sie in eine magnetische Auffangvorrichtung stürzten. Man konnte keine schadhaften Ringe in die Drehmagneten lassen. Sie würden dort eine Menge Ärger verursachen. Die Aufgabe von Schweres Ei bestand darin/den Ring auszuhängen, bevor der nächste aussortiert wurde, so daß sie nicht zusammenstießen und sich verbogen. Das Magnetfeld der Auffangvorrichtung war so stark, daß es seinen Manipulator verbrannt hätte, wenn er ihn zu lange darin gelassen hätte. Die Arbeit war heiß und laut, aber er liebte sie. Jeder Ring, den er rettete, war mehr wert, als er in einer Umdrehung verdiente. Sie bestanden aus Mono-Polstabilisiertem Metall, das einzige Material auf Ei, das nicht in der Schwerelosigkeit explodierte. Er vermutete, daß er bei der letzten Doz-Umdrehungsschicht der Firma NetzBau genügend Geld erspart "hatte, um ihn ein ganzes Groß Umdrehungen lang zu bezahlen, und er hatte
erfolgreich einen möglichen Zusammenstoß verhindert. Sie erreichten den Sockel des Turmes, und die abgelöste Schicht verließ den Aufzug und machte sich auf den Weg zu den Gleitrinnen. Schweres Ei blieb stehen; er spürte wohltuend die Kruste auf dem Gipfel der Ostpolberge unter sich. Sie summte von der Energie, die der konstante Strom der Ringe ausstrahlte, die in den langen, kreisförmigen Tunneln am Fuße des Gebirges abgebremst wurden, 64 um dann wieder in einer Metallfontäne nach oben zu schießen. Schweres Ei ließ sich in das Gleit-Fahrzeug fallen. Dieses Mal richtete er es so ein, daß das weibliche Wesen neben ihm nicht seine Gruppenleiterin war. Ihr Name war Leuchtende Sohle, und sie wurden recht vertraut miteinander, während das Gleit-Fahrzeug in einer halbgeschlossenen, supraleitenden Gleitrinne, die das Magnetfeld ausschloß, durch die Gebirgspässe rumpelte. Sie bremsten es schließlich ab, brachten es in den Außenbezirken von Schnell-Aufstieg zum Halten und begaben sich in die nächste Brei-Bar. Diese Bar verfügte über einige private, mit Matten ausgelegte Räume, und etliche Paare zog es direkt dorthin, nachdem sie im Vorübergleiten ein paar Sterne in die Wechselgeldfalte des Barmixers fallen gelassen hatten. Bis zum Umdrehungsmahl waren es immer noch einige Meth-Umdrehungen, daher spendierten sich Schweres Ei und Leuchtende Sohle gegenseitig ein paar Beutel voll fermentiertem Brei von Blattschotenpflanzen. Sie waren bei ihrem dritten Beutel angelangt, - als die Lieblings-Holovidshow von Schwerem Ei begann. Es war die »BeBe-Show«, und Star dieser Sendung war der aufregendste weibliche Entertainer auf dem Ei. Die männlichen Cheela johlten und stampften die Kruste im Rhythmus, während die weiblichen Cheela sich über die Ausmaße ihrer Augenlappen lustig machten. »Wenn sie alle zwölf Augen auf eine Seite legt, dann verläßt ihre Sohle die Kruste«, lästerte Leuchtende Sohle und hatte damit einige Lacher auf ihrer Seite. »Meine Augäpfel sagen mir, daß du ein ähnliches Problem hast«, bemerkte Schweres Ei nicht ohne Hintergedanken. Sie drehte alle zwölf Augen zu ihm herum, und während sie mit einem Auge nach dem anderen zwinkerte und damit eine recht gelungene Imitation von Be-Bes berühmtem Wellenblinzeln abgab, versteiften sich seine Augenstiele. »Ungefähr so?« fragte sie, lehnte sich schwer gegen ihn und rieb mit ihren fleischigen Augenlappen über den Rand 65 seiner Oberseite. »Es ist bloß gut, daß du da bist und ich mich an dir anlehnen kann, sonst würde ich vielleicht umfallen und mir eine Beule holen.« Sie kamen sich erneut ziemlich nahe, und sie ließ es sich sogar gefallen, daß er in ihre Erbfalte griff und ihr Clan-Totem berührte. Doch das Totem war ihm unbekannt, also gehörte sie nicht zu einer der Familien, die zwar außerhalb seines Clans standen, aber dennoch mit ihm verwandt waren. Sie war durchaus bereit, einen Mattenraum zu mieten und das Spiel fortzusetzen, aber Schweres Ei empfand eine starke Bindung an seinen inneren Clan und den ihm nahestehenden Familien. Jedes Ei, für das er verantwortlich war, sollte auch in den Eiergehegen seines Clans untergebracht werden. Es gab bereits zu viele clanlose Junge auf den Straßen. Daher trennte er sich widerwillig von Leuchtender Sohle. Sie fand jedoch bald Ersatz und glitt mit ihm davon, um das Umdrehungsmahl einzunehmen. Schweres Ei investierte frustriert ein paar Sterne in einen privaten Holovid-Raum und sah sich den Rest der Be-Be-Show an. Be-Be stammte aus seinem engeren Clan, und er hatte sie sogar schon bei einem der Clantreffen gesehen, doch da war sie natürlich von einer Schar Bewunderer umringt gewesen. Seit er alt genug geworden war, um zu erkennen, daß es einen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Cheela gab, war es sein Traum gewesen, daß Be-Be eines Tages sein Ei trug. Er wußte zwar, daß sich dieser Traum niemals erfüllen würde, aber das hielt ihn nicht davon ab, weiter zu träumen. Die Be-Be-Show war vorbei. Während Schweres Ei ein Umdrehungsmahl in seine Falte stopfte, das er weder sah noch schmeckte, betätigte er den automatischen Rücklauf. Der größte Teil der abgelösten Schichtarbeiter hatte sich entschieden, einige Umdrehungen Pause einzulegen, aber er begab sich zum Gipfel des Berges und meldete sich beim Einsatzleiter der Netz-Bau. Es gab immer wieder den einen oder anderen Gelegenheitsarbeiter, der zu faul oder zu sehr voll des süßen Breis war, um rechtzeitig wieder an seiner 66 Arbeitsstelle zu erscheinen. Er hatte Glück; ein Job an der Spitze war frei, und er griff sofort zu, denn das Einzige, das ihm noch besser gefiel, als von Be-Be zu träumen, war der beinahe sexuelle Reiz der Arbeit auf dem Turm, wo der kleinste — Ausrutscher augenblicklich den Tod bedeuten konnte. Schweres Ei liebte die Arbeit, und er fragte sich oft, wie es wohl sein mochte, als Mensch zu leben und ein Drittel seines Lebens bewußtlos verbringen zu müssen. Er hatte gehört, daß die Menschen sogar dann in Schlaf fielen, wenn ihr Leben bedroht war. Dabei erinnerte er sich wieder daran, daß er vor langer Zeit im Holovid gehört hatte, die Menschen wären irgendwie bedroht, und er fragte sich, ob wohl einer von ihnen jetzt schlief. Zeit: 06:53:21 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Amalita kroch langsam die Durchgangsleiter vom Forschungsdeck zum Mitteldeck hinunter, während ihre Muskeln gegen die nach außen ziehenden Restkräfte ankämpften. Sie paßte gut auf, daß sie bei jedem Schritt an drei Punkten mit Füßen und Händen einen festen Halt an den Sprossen fand, da die variierenden Kräfte der
fehlgeleiteten Kompensatormasse abwechselnd versuchten, sie die Leiter hinauf- oder hinunterzuzerren. Als sie an dem Schutztank vorbeikam, in dem Seiko lag, schaute sie hinein. Seiko hatte die Augen geschlossen, ihr Körper trieb entspannt in der Flüssigkeit. Sie war fest eingeschlafen. »Ich glaube, sechsunddreißig Stunden angestrengtester Tätigkeit ist sogar für einen Supermenschen wie sie zuviel«, meinte Amalita. Sie klammerte sich an die Haltegriffe nahe der Kommunikationskonsole. Pierre war in seinem Sitz angegurtet. »Wenn der Drachentöter doch bloß über einen eigenen Antrieb verfügen würde«, sagte sie zu Pierre. »Dann müßte er schon einen Überlichtgeschwindigkeits67 antrieb haben, um von dem Neutronenstern wegzukommen, bevor dessen Kräfte uns zerreißen ...« Plötzlich blitzte ein Gedanke durch Pierres Hirn. Die besondere Relativität in diesem Fall besagte, daß Überlichtgeschwindigkeit auch gleichzeitig eine Bewegung in der Zeit bedeutete - und er wußte, daß die Cheela schneller als das Licht fliegen konnten. Pierre wandte sich wieder dem Konsolenschirm zu. »Himmelslehrer«, rief er, »ihr könnt doch überlicht-schnell fliegen. Könnt Ihr euch auch in der Zeit bewegen?« »Ja«, erwiderte Himmelslehrer. »Ein Doktor der Tempologie schickte vor zwei Minuten, kurz nach eurem Unfall, Botschaften durch die Zeit.« »Dann sende eine Nachricht in die Vergangenheit und treibe jemanden auf, der den Meteoriten in seiner Bahn ablenkt!« sagte Pierre. »Unglücklicherweise gestatten unsere Zeitmaschinen keine Übertragung in Perioden, die vor der Inbetriebnahme der Maschine liegen«, entgegnete Himmelslehrer. »Dann war's das«, meinte Pierre, dessen Körper sich i dem Konsolensitz wand. »Die Hülle des Schiffes hält nie1 mehr länger als zwei Minuten durch.« 68 Rettung Zeit: 06:53:40 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Ein periodisch wiederkehrendes, summendes Geräusch schallte durch die Kruste. Klippen-Netz versuchte es zu ignorieren und fuhr damit fort, in seinem hinteren Garten winzige Sonnenschirmpflanzen in einen Kreis zu pflanzen und dabei die verblühten zu ersetzen, die zu Samen geworden waren; eine Beschäftigung, die er sehr liebte. Er riß die alten Pflanzen aus, warf sie auf einen Haufen, den Treib-Sand anschließend wegschaffen sollte, und setzte an ihre Stelle die frischen Schößlinge. Dabei handelte es sich um eine neue Zuchtform, die er gemeinsam mit Treib-Sand aus einer Mutation entwickelt hatte, die ihm an seiner letzten Baustelle aufgefallen war. Die normale Sonnenschirmpflanze besaß zwölf Stützranken, die aus einer einzelnen Pfahlwurzel emporwuchsen und die rötliche, kühlere Spitze aufrecht hielten, die sich strahlenförmig in den Himmel reckte. Diese Schößlinge hingegen wiesen vierundzwanzig Ranken auf. Die Verdoppelung war nicht ganz einfach gewesen, es war eher so, als versuchten zwei Pflanzenskelette unter derselben Haut zu existieren, denn die glühenden Pollenspitzen der freitragenden Ranken wechselten sich in Geschlecht und Farbe ab. Normale Sonnenschirmpflanzen pulsierten in Intervallen, wobei die Farbe der pollentragenden Spitzen von einem tiefen Rot-Schwarz in ein leuchtendes, glühendes Weiß überging und umgekehrt. Die zwei Sätze auf dem Doppelschirm arbeiteten phasenungleich. Wenn der eine Satz dunkel blieb, schimmerte der andere hell, und dieses Blinken war wunderschön anzusehen. Das Summen dauerte an. »Treib-Sand«, grollte er in die Kruste. »Kannst du mal für mich rangehen?« 69 »Geh selbst. Ich bin damit beschäftigt, die Schleichen-Stätte zu säubern«, tönte es hinter dem Haus hervor. Mit einem resignierten Zucken leerte Klippen-Netz die Falte, in der er seine Gartengeräte trug, wischte sich den Manipulator an einem Lappen ab, löste den kurzen, knochigen Arm wieder in seinem Körper auf und begab sich ins Arbeitszimmer. Das Summen nahm an Lautstärke zu, als er den Raum beträt. Lassie lag noch immer in der wärmsten Ecke des Raums. Er glitt auf die Geschmacksplatte im Boden, und ein Abschnitt seiner Sohle berührte das ANTWORT-Feld auf dem Schirm. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Admiral Stern-Gleiter, der Leiter der Expedition zur Rettung der Langsamen. Das Bild war wieder mit weißen Flecken übersät. Er mußte unbedingt die Video-Gesellschaft anrufen und die Techniker dazu bringen, daß sie endlich die schadhafte Stelle in dem Röntgen-faserkabel suchten, das zu seiner Wohnstätte führte. »Schalten Sie Ihr Holovid auf den öffentlichen Servicekanal«, forderte ihn Stern-Gleiter auf. »Die Gesetzgebung beendet gerade ihre Debatte über die Bereitstellung von Mitteln für die Riesenbrezel. Es wird gleich zur Abstimmung kommen, und dann können wir uns an die Arbeit machen.« Klippen-Netz, der Stern-Gleiter durch seine hochempfindlichen Geschmacksknospen in der Sohle »sehen« konnte, richtete einige seiner Augen auf ein silbernes Bildschirmgerät in der Wand seines Arbeitszimmers. Er bildete einen Tentakel und berührte damit ein paar Schaltfelder auf einer kleinen Konsole, die in den Boden eingelassen war. Verschiedene Szenen blitzten vor dem Schirm auf, als die Planarphasenfeldantenne, die in einer Ecke seiner Wohnstätte eingebaut war, ihren Empfängerstrahl entsandte, um einen Strom modulierter Gammastrahlen aufzufangen, der von einem Sendersatellit westlich der Augen des Glänzenden ausgeschickt
wurde. Vier seiner Augen blickten zu der Anordnung der sechs strahlenden Asteroiden empor, die über dem Glänzenden standen. Das Muster war stark verzerrt. 70 »Die sechs Augen sind bereits aus ihrem Gleichgewicht geraten«, stellte Klippen-Netz fest. »Wir hätten schon vor langer Zeit dort oben sein sollen, um das wieder in Ordnung zu bringen. Schließlich haben wir es versprochen.« »Nun ja, Politiker machen gerne Versprechungen«, erwiderte Stern-Gleiter. »Aber wenn es darum geht, Gelder bereitzustellen, scheinen sie der Ansicht zu sein, daß sie sich ruhig Zeit lassen können, besonders in einem Fall wie diesem, wenn die Zeit nicht wirklich drängt. Wir haben ja auch noch so viel davon.« »Wir hatten viel Zeit, als der Unfall passierte«, berichtigte ihn Klippen-Netz. »Aber die Politiker haben seit sechs Groß Umdrehungen nur herumgealbert, um einen billigeren Weg zu finden, das Problem zu lösen. Meine Ingenieure und ich haben uns alle Mühe gegeben, aber es ist einfach unmöglich, für weniger als eine Milliarde Sterne einen derartig gigantischen Trägheitsmotor zu bauen und ihn in den Raum hinauszuschaffen, und je länger sie ihre Entscheidung hinauszögern, um so teurer wird es werden. Wie haben es die Menschen aufgenommen?« »Laut Himmelslehrer geraten sie allmählich in Panik. Er kann das an den Zwischentönen in ihrer Sprechweise erkennen.« »Wie lautet die gegenwärtige Schätzung, was die Zeit bis zum Zusammenbruch angeht?« »Das ist schwer zu sagen. Wir haben ein Acht-Körper-Gravitationsmodell, das uns die zukünftige Position des Schiffes und der Asteroiden im Verhältnis zum Ei mit ziemlicher Genauigkeit voraussagen kann, aber die große Unbekannte ist die Stärke der Raumschiffhülle. Die Menschen sind gerade dabei, in ihre Beschleunigungsschutztanks zu klettern, und dort sollten sie für eine Weile sicher sein. Aber ich hätte die Rakete gern repariert, bevor die Hülle platzt, so daß die Menschen das Schiff heil wieder mit hinaufnehmen können, wenn es für sie Zeit zum Rückflug ist. Ich vermute, daß wir mindestens noch zwei Menschenminuten Zeit haben.« »Das bedeutet vier Groß Umdrehungen«, sagte Klippen71 Netz. »Ich könnte es durchaus schaffen, den Antrieb in weniger als zwei zu bauen. Vorausgesetzt, wir bekommen das Geld.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die dreidimensionale Szene über dem Boden vor dem silbrigen Holovidschirm. Die Gesetzgeber hatten sich in einer breiten Senke im Zentrum von Paradies des Glänzenden versammelt, die als Versammlungsstätte diente. In letzter Zeit war dieser Ort nicht mehr sehr häufig benutzt worden, da die meisten großen Zusammenkünfte, sei es aus geschäftlichem Anlaß oder zur Unterhaltung, eher über die zahlreichen Kommunikationsschaltungen als durch persönliche Anwesenheit stattfanden. Doch dies war die letzte Sitzung der gesetzgebenden Versammlung vor der Wahlpause, und sie wurde traditionsgemäß in der Versammlungsstätte abgehalten. Der letzte Punkt auf der Tagesordnung dieser großen Zusammenkunft war die Bereitstellung der Gelder für den Bau des mächtigen Trägheitsantriebmotors, der benötigt wurde, um die ausgefallene Maschine der Leitrakete zu ersetzen. Das mächtige, platte Gebilde war von den Nachrichtenredakteuren des Holovids »Riesenbrezel« genannt worden. Der Name rührte von der Ähnlichkeit des Motors mit einem Gebäck her, das die Menschen gerne aßen. Einer der Gesetzgeber sprach gerade, und die Holokamera richtete sich auf die winkenden Augenstiele, während die Sohlenbewegung des Sprechers über seine Matte verstärkt wurde. »... ich für mein Teil möchte nicht jetzt vor den Wahlen zu meinem Clan zurückkehren müssen, und den Angehörigen dort verkünden, daß wir die Abgaben erhöhen sollen, um einen Haufen ignoranter Langsamer zu retten, die zu dumm dazu waren, ein ordentliches Raumschiff zu bauen. Sollen sie sich doch selber retten, das ist meine Meinung!« »Ich bin sicher, mein geschätzter Kollege im dritten Sextanten der Kammer hat das nicht wirklich so gemeint«, tadelte ein anderer Sprecher. »Wir können den Langsamen auf keinen Fall die Schuld dafür geben, daß sie so unwissend sind. Ihr Leben läuft so langsam ab, daß sie niemals die Chance haben werden, uns einzuholen. Aber deshalb 72 sind sie keine Tiere. Wir können ihre Notlage nicht einfach ignorieren und sie sterben lassen. Schließlich haben sie uns auch einst geholfen.« »Aber das ist schon vor Urzeiten gewesen. Damals, als wir noch Wilde waren. Wir haben unsere Schuld bereits seit langem zurückgezahlt, als wir ihre Speicherkristalle mit all den Informationen über fortgeschrittene Technologien füllten, die ihnen vielleicht einmal von Nutzen sein mögen. Wir haben sogar die Schwarzen Löcher in ihrer Sonne beseitigt, um die Eiszeiten zu verhindern, denen sie sonst noch ausgeliefert wären. Wir schulden ihnen nichts, sage ich. Die Erforschung des Weltraums ist nicht ohne Risiko. Lebewesen - Menschen sowohl als Cheela - kommen oft durch unvorhersehbare Unfälle ums Leben. Diese Langsamen wußten, daß sie sich auf eine gefährliche Mission begaben, als sie sich freiwillig dazu meldeten. Sie hatten Pech, und sie müssen ihr Schicksal akzeptieren. Warum sollten wir unsere Falten leeren, um sie vor den Folgen ihrer eigenen Tollkühnheit zu bewahren. Ich stimme mit Nein!« /
»Das kann er nicht ernst meinen!« platzte Klippen-Netz zornig heraus. »Wir können doch diese Menschen nicht sterben lassen, wenn es so einfach wäre, sie zu retten! Er redet doch bloß seinen Wählern nach der Sohle. Besteht denn wirklich die Möglichkeit, daß sie uns das Geld nicht bewilligen?« »Wenn es in dieser Umdrehung zu einer Abstimmung kommt, wird die Bewilligung wahrscheinlich durchkommen, wenn auch nur knapp«, überlegte Stern-Gleiter. »Was ich vielmehr befürchte, ist, daß sie die Abstimmung bis nach den Wahlen verschieben werden. Wir hätten dann eine große Anzahl frisch gewählter Clanvertreter hier, und wir müßten die ganze Prozedur der Aufklärung und der Rechtfertigung wieder von vorn beginnen. Es könnte uns ein ganzes Groß Umdrehungen kosten, und die Zeit wird knapp ...« Ein weiterer Cheela glitt sich auf die Matte des Sprechers. Sie mußte Anführerin des vierten Sextanten sein, denn sie 73 kam von der vordersten Matte dieses Sextanten. Ihr Körper war groß und stramm; sie war eine stattliche Erscheinung. Das Wellenmuster ihrer Augenstielbewegungen wurde allmählich langsamer, als sie die Aufmerksamkeit der versammelten Gesetzgeber auf sich richtete. »Sowohl der Gesetzgeber des ersten Sextanten als auch der Gesetzgeber aus dem dritten Sextanten sind kompetente Leute. Sie haben beide die gleichen Tatsachen betrachtet, konnten jedoch keine Einigung erzielen. Ich bin sicher, daß noch mehr von Ihnen ähnlich unterschiedliche Auffassungen haben. Ich möchte Ihnen daher einen Kompromißvorschlag unterbreiten. Ich schlage vor, daß wir diesen Bereitstellungsantrag wieder in sein Fach in der Rollenwand zurücklegen, aus dem er gekommen ist, und daß wir ihn später wieder hervorholen, wenn die Wahlen vorüber sind. Bis dahin werden wir weitere Informationen von unseren Wirtschaftsprüfern und Ingenieuren erhalten haben, und wir werden eine sachkundige Entscheidung fällen können. Vielleicht werden sie bis dahin auch einen weniger kostspieligen Weg gefunden haben, das Projekt durchzuführen.« »Die Menschen sind in Gefahr, wir müssen jetzt handeln, wenn wir überhaupt noch etwas erreichen wollen!« klang es von einer Sohle aus dem ersten Sextanten. Die Anführerin des vierten Sextanten hielt inne, griff in eine Falte und holte eine Rolle hervor. Sie legte sie auf den Boden, wo die Anziehungskraft sie flach ausgebreitet hielt. Dann senkte sie eins ihrer Augen und begann zu lesen. »Zusammenfassung der Berichte an die Legislative Untergruppe für Raumfahrt, Kommunikation und Beziehungen zu den Langsamen. Sie trägt das Datum Umdrehung 112 des 2875. Groß Umdrehungen seit dem Kontakt. Ein Bericht zur Lage vom Kommandanten der Expedition zur Rettung der Langsamen, Admiral SternGleiter.« Sie übersprang einen Abschnitt und fuhr dann fort: »Ich zitiere Admiral Stern-Gleiter. >Unsere Analytiker schätzen, daß die Gravitationskräfte ungefähr 2880 stark genug sein werden, um die Hülle des menschlichen Raum74 schiffs zu zerfetzen. Die Menschen können in den Schutztanks wahrscheinlich bis 3010 überlebenUnsere Ingenieure glauben, daß es ungefähr zwei Groß Umdrehungen dauert, den Trägheitsantriebsmotor zu bauen und ihn in der Rakete der Menschen zu installieren, wenn die Erlaubnis dazu erteilt worden ist.»Sollte sich jedoch der Baubeginn verzögern, so könnten die tatsächlichen Kosten die gegenwärtige Schätzung übersteigen. Um den Plan einzuhalten, muß eine Anzahl von Fabrikationsschritten gleichzeitig unternommen werden. Dadurch könnte die Fehlerhäufigkeit zunehmen, und das hätte dann teure Überarbeitungen zur Folge.Wozu ist das gut?Botschaft< nur ein Bit beträgt, ist das ausreichend, um den Kanal für jede andere Botschaft zu blockieren. So etwas soll nur alle Dutzend Generationen vorkommen, aber es mußte natürlich ausgerechnet dann passieren, als ich den Kanal brauchte, um das Kommitee zu beeindrucken.« »Haben Ihre neuen Ergebnisse bewirkt, daß das Kommitee die Arbeit an der 24-Kanal-Maschine wieder aufnimmt?« wollte sie wissen. »Sie waren durch den Zwischenfall genauso mißtrauisch geworden wie ich«, erwiderte er. »Sie beschlossen zu warten, bis wir das Geräusch in dem Kanal sehen und mehr darüber erfahren konnten als mit 108 Bits übermittelt werden konnte. Prompt kam dann auch 72 Umdrehungen später ein einzelnes Bit heraus, und der Kanalindikator registrierte beinahe zwei Groß lang >Kanal belegtbelegtGarten< gehen.« Sie begaben sich zur nächsten Abteilung, in deren Mitte zwei riesige Drachenpflanzen standen. Sie gehörten zu der Sorte mit einfacher Wurzel und umgestülpter Kappe, die den Sonnenschirmpflanzen ähnelte, sie aber an Größe 128 übertraf. Eine von ihnen befand sich immer noch im Wachstum, und ihr waren eine kleine Gruppe Roboter und zwei lebende Cheela zugeteilt, die sich um sie kümmerten. Die Cheela trugen große Medizinerabzeichen mit zusätzlichen Sternen und farbigen Punkten in ihren Körperöffnungen, die ihren hohen Rang anzeigten. »So werden Sie in 30 bis 36 Umdrehungen aussehen, wenn Sie Ihre Übungen gewissenhaft machen.« Sabin-Salk glitt mit einem Zucken seiner Augenstiele zu den Pflanzen hinüber. »Wer war das?« fragte Be-Be in gedämpftem, elektronischem Flüstern. »Wer ist das«, verbesserte Sabin-Salk. »Wenn ich es Ihnen sagte, würden Sie sie bestimmt kennen, aber wir geben aus Prinzip niemals Fremden gegenüber die Identität der Pflanzenformen preis. Cheela haben nichts dagegen, sich herausstellen zu lassen, wenn sie ihre Körperfarbe und ihre Abzeichen tragen, aber sie legen all das ab, wenn sie zur Pflanze werden. Die größere der beiden Pflanzen ist fast schon für die Umkehrung bereit. Wir werden sie noch zwei Umdrehungen lang reifen lassen, dann injizieren wir das Pflanze-TierUmwandlungsenzym. Der Umkehrungsprozeß dauert nur ein paar Umdrehungen. Die Stützstrukturen der Pflanze werden verflüssigt und dazu benutzt, den Körper wieder aufzubauen. Im allerletzten Stadium schält sich die äußere Haut ab, und die neugebildeten Augen kommen unter ihren Augenlappen zum Vorschein.« »Und dann ist alles so wie zuvor, nur jünger?« wollte Be-Be wissen. »Alles, bis auf den Gehirnknoten und das Nervengewebe, denn das wird von den Tier-Pflanze-Enzymen nicht angegriffen. Bis auf die Erinnerungslücke während des Verjüngungsprozesses ist die gespeicherte Information und die Gehirnfunktion des neuen Körpers identisch mit der des alten.« Er schwieg und blickte dann bewußt in die Ferne, als er fortfuhr: »Da Sie eine professionelle Holovid-künstlerin sind, bin ich sicher, daß es Sie interessiert, wie 129 Ihr neuer Körper aussehen wird. Ich kann Ihnen und all Ihren Fans unter den Holovidzuschauern versichern, daß der umgebaute Körper denselben genetischen Dreistrang haben wird, der auch die ursprüngliche Be-Be ausgemacht hat, und die neue Be-Be wird genauso viel Raum auf dem Holovid ausfüllen wie die alte.« Ein Richtrufsignal vibrierte durch die Kruste, das die äußeren Ränder von Be-Bes Sohle kitzelte, als es sich auf die Position von Sabin-Salk einstellte. »Ein Ältester Ihres Clan ist angekommen, um die letzten Rollen zu unterzeichnen«, sagte Sabin-Salk. »Wenn Sie mir folgen, dann teile ich die Feldlinien zu meinem Büro.« Zeit: 06:58:06 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Null-Gauß hatte die Speisestätte der Fakultät nach dem nahrhaften Umdrehungsmahl verlassen und befand sich nun auf dem Weg in ihr magnetfeldfreies Laboratorium unter der Kruste. Sie kam an einigen Studenten vorbei, die ihre Unterhaltung abbrachen, und ihr aufmerksam die Sohlen zuwandten. Doch sie schien mit sich selbst zu sprechen und dabei gleichzeitig quietschende Laute auszustoßen. »Hier habe ich ein köstliches Stück gebratener Langsam-Gleiter-Eier für dich. Ich habe den größten Teil der Sauce abgewischt, damit es nicht zu heiß für dich ist«, sagte sie, während sie einen Manipulator bildete, in ihre Tragefalte griff, um das schmackhafte Stück herauszuholen, und den Manipulator dann in eine andere Falte steckte. Als sich der Ringmuskel der Falte öffnete, versuchte eine flaumige kleine Schleiche herauszukrabbeln, aber sie wurde sofort vom Anblick des Futters gebremst. Eifrig schnappte sie nach dem Bissen und versuchte ihn
in ihre viel zu kleine Eßfalte zu stopfen. »Ein bißchen zu groß für dich, Puufsie?« meinte Null-Gauß. Ihr Manipulator zerschnitt das Stück Ei in kleinere Stückchen, die gierig von dem hungrigen Jungen ver130 schlungen wurden. Sie schloß den Ringmuskel gerade weit genug, um das Tier drin zu halten, während sie eine kleine Öffnung bildete, durch die ein paar Augen herauswinken konnten, um zu sehen, wo sie hinglitten. Sie betrat eine kleine Stätte, die das Obergeschoß ihrer einzigartigen Forschungsanlage bildete und in der Unterteilungen für ihr Büro und die Büros ihrer graduierten Studenten vorgenommen worden waren. Ein zweite Stätte, in einiger Entfernung, enthielt Maschinen, mit denen die Apparate unter der Kruste bedient werden konnten und die Kühlung für den simulierten Himmel produziert wurde, der unterhalb des supraleitenden Daches hing. In der zweiten Abteilung fand sich in einer Ecke eine äußerst ungewöhnliche Apparatur - eine rechteckige Kiste aus dickem Metall, mit einer Tür in einer Seite und einer Abdeckung obendrüber. Sie glitt in ihr Büro und sah ihre Computernetzpost durch. Es war nichts Wichtiges darunter, daher stattete sie der Abteilung, in der zwei ihrer Doktoranden saßen, einen Besuch ab. »Was machen die Pflanzen, Achtsamer Gleiter?« fragte sie einen der Studenten. . »Uns ist tatsächlich eine Fontänenpflanze eingegangen«, antwortete Achtsamer Gleiter. »Sie schoß dabei Samen über den ganzen Raum. Aber sie hat immerhin 46 Umdrehungen überdauert, was dicht an der Rekordmarke ist.« »Habt Ihr alle Samen einsammeln können?« wollte Null-Gauß wissen. »Ja. Und dabei haben Flockige Kruste und ich einen weiteren >heißen Fleck< in einer Ecke gefunden«, sagte Achtsamer Gleiter. »Ist es schlimm?« fragte Null-Gauß. »Es wäre mir äußerst unangenehm, wenn wir die ganze Prozedur des Laborauspumpens schon wieder durchführen müßten.« »Direkt über dem heißen Fleck waren es 100 Gauß«, erwiderte Achtsamer Gleiter. »Aber er ist ziemlich klein und geht ein paar Millimeter weiter schon in die Hintergrundabweichungen von ein paar Gauß über. Ein paar Pflanzen 131 standen nahe an der Ecke, doch wir haben die Container bloß in einen anderen Teil des Raums geschoben.« Null-Gauß wandte sich an Flockige Kruste. »Ich habe einen Ersatz für Peter«, sagte sie und zog den winzigen Ball, der nur aus Flaum und Augen bestand; aus ihrer Falte hervor. »Puufsie, das ist Flockige Kruste. Er wird sich von jetzt an um dich kümmern«, sagte die Professorin, bildete mit dem Rand ihrer Sohle ein kleines Nest auf dem Boden und ließ das Tier hineinfallen. Die Schleiche versuchte, über den Rand zu klettern, aber Null-Gauß hielt sie an ihrem Platz, indem sie ihre Haut unter der winzigen Sohle in Falten legte. Daraufhin blieb die Schleiche still sitzen und blickte mit all ihren zwölf dunkelroten Augen zu Flockige Kruste auf. Der Student neigte ein Auge herab, um sie sich anzusehen. »Also haben wir jetzt Flopsie, Mopsie, Wollknäuel und Puufsie«, meinte Flockige Kruste. »Sie haben einen ausgezeichneten Ersatz gefunden. Sie sieht wirklich aus wie Peter.« »Diese genetischen reinen Nachkommen der Laborschleichen sehen alle gleich aus«, sagte Null-Gauß. »Ich habe einfach diejenige ausgesucht, die am pfiffigsten aussah.« »Sie hätten die Dümmste nehmen sollen«, brummte Achtsamer Gleiter. »Peter war schlau, und was ist aus ihm geworden? Er fand heraus, wie er seinen Käfig öffnen konnte und starb, weil er sich überfressen hatte. Das hat meine Null-Gauß-Gartenkulturthese um ein halbes Groß zurückgeworfen.« »Ich werde sichergehen, daß der Käfig dieses Mal geschlossen ist«, versprach Null-Gauß. »Habt ihr noch etwas, das ich mit hinunternehmen soll?« »Einen Satz Sämlinge«, sagte Achtsamer Gleiter. »Sie stehen in dem Lagergehege neben dem Aufzug.« Null-Gauß überprüfte die Videomonitore, die jede Ecke der unterirdischen Pflanzschulen und Tiergehege zeigten, vermerkte im Geiste, daß ein paar Pflanzen untersucht wer132 den mußten, die aussahen, als hätten sie Pflege nötig, und begab sich dann hinüber zum Fahrstuhl. Direkt neben dem Aufzug lag eine Ankleideunterabteilung mit hohen Wänden. Sie legte ihre sechs metallenen Professorabzeichen ab, entfernte ihre Juwelen, wischte sich die gesamte Körperfarbe ab und entleerte all ihre Falten, sogar ihre Erbfalte, in der sich ihr Clantotem befand. Das Totem war in traditioneller Weise aus Ton gebrannt, in den ein Magnetfeld eingebacken war. Sie rollte das Totem in ein Tuch ein und legte es in ihren Schrank, der mit einem Kombinationsschloß versehen war. So nackt wie an dem Tag, an dem sie aus dem Ei gekrochen war, öffnete sie nun die Tür des Ankleideraums und blickte nach draußen. Elektron-Schieber, der Techniker der Anlage, wartete diskret an den Bedienungskonsolen, die um die Ecke standen. Sie bewegte sich vorsichtig zu den Lagergehegen und belud ihre Falten. Puufsie glitt in eine kleine Falte, und die Plastiktöpfe, in denen die Sämlinge in nicht-magnetischer Erde keimten, kamen in ihre Tragefalte, in der sie alle möglichen Dinge beförderte. Ziemlich vollgestopft stand sie jetzt vor der offenen Tür des Aufzugs. Der Aufzug hatte keine gekühlte Decke, und sie brauchte all ihre Nervenkraft, um ihre Sohle dazu zu bewegen, den Körper unter das schwere Metalldach zu schieben. Einmal drinnen, zwang sie ihre Augen, auf den Boden zu blicken,
und beruhigte sich allmählich. Sie schaltete den Audiokanal der Videoverbindung ein. »Sie können jetzt die Tür schließen, Elektron-Schieber«, sagte sie. »Tür schließt, Professor«, erwiderte Elektron-Schieber. »Wie groß ist der Durchmesser des größten Gegenstandes, den Sie bei sich tragen?« »Nicht dicker als mein Gehirnknoten«, antwortete sie. »Dann brauchen wir also nur drei Pumpwände«, meinte Elektron-Schieber. Ein jaulendes Geräusch ertönte, und die Rückwand des Aufzugs bewegte sich auf Null-Gauß zu. »Hier kommt die erste Wand«, sagte er. »Geben Sie Bescheid, wenn alles vorbei ist.« 133 Die, schweren supraleitenden Metallwände hielten in der Mitte des Raumes an, und eine kleine kreisförmige Öffnung in der Tür, ein Stück über dem Boden, tat sich auf. Zunächst leerte Null-Gauß ihre Falten und stellte die Töpfe mit den Sämlingen nahe an der Wand ab. Dann steckte sie einen Manipulator durch das winzige Loch, faßte einen Griff auf der anderen Seite, machte sich so schmal wie nur irgend möglich und glitt durch das Loch hindurch. Die Blende des Loches paßte sich den Umrissen ihres Körpers an, erweiterte sich, als ihr Gehirnknoten hindurchglitt, und zog sich dann wieder bis auf den Durchmesser des nachschleifenden Manipulators zusammen, der die zappelnde Puufsie fest im Griff hielt. Während der Körper wieder seine normale flache Gestalt annahm, war sie mit ihrem Manipulator schon dabei, die Pflanzen von einer Seite der Wand auf die andere zu schieben. Nachdem sie das geschafft hatte» schloß sich die Öffnung wieder dicht, und die supraleitende Wand glitt weiter durch den Aufzug hindurch bis zur Tür, wobei sie alle magnetischen Feldlinien vor sich zusammenpreßte. Die Aufzugtür wurde kurz geöffnet und das Feld nach draußen gedrückt. Eine zweite Wand näherte sich von der Rückseite des Aufzugs, und die Prozedur wiederholte sich. Der einzige Unterschied lag darin, daß die erste Wand vor dem letzten Ausstoß ihre Supraleitfähigkeit verlor. Nachdem die dritte Wand vorüber war, glitt Null-Gauß zur Kontrollplatte im Boden hinüber und gab einen Kode ein. In der Mitte des Raumes schob sich eine Sonde aus dem Boden. »Eine gute Pumpe«, sagte sie über die Video Verbindung. »Sie registriert bloß 2800 Gauß.« »Nahe genug am Nullpunkt für die Kammer«, meinte Elektron-Schieber. »Sind Sie bereit für den Absturz?« Auf seinen schwachen Versuch hin, einen Witz zu machen, zeigte ihr Augenwellenrhythmus ein verärgertes Zucken. Er hatte vermutlich früher einmal einen Studenten mit der Vorstellung, unter die Oberfläche zu fallen, zum Kreischen gebracht. Jetzt wiederholte er den Spruch jedesmal, wenn sie hinunterfuhren. 134 »Ich bin bereit für den Abstieg«, sagte sie, während ihre Sohle fest über die Metallplatte auf dem Boden rieb. Der respektheischende Professorenton wollte ihr beim Trommeln nicht recht gelingen. Es war auch nicht gerade einfach, autoritär zu klingen, wenn man nackt war. »Jawohl, Professor«, sagte Elektron-Schieber, und der Fahrstuhl begann seine langsame Abfahrt unter die Kruste. Am Boden wurde die Magnetpumpenprozedur wiederholt, wobei die Pumpenwände der Schleuse eingesetzt wurden, die zu den Schwachfeldkammern führte. Mögliche Restmagnetfelder wurden in den Aufzug gepumpt, der Barrieren besaß, die zwischen normal- und supraleitenden Zuständen abwechselten und so die Magnetfelder einfingen. Der Fahrstuhl hob sich dann wieder an die Oberfläche, wo die eingeschlossenen Felder nach draußen befördert wurden. Null-Gauß blieb vor einem Ankleide-Alkoven stehen, bemalte sich mit neutraler Körperfarbe, steckte sechs Professorenabzeichen aus metallfarbenem Plastik an und trat nun, ordentlich gekleidet, in das Sichtfeld der Videokameras hinaus, die die Kammer abtasteten. Das Schwarz der Decke wirkte beruhigend. Sowohl NullGauß als auch Puufsie und die Pflanzen waren froh, aus der beklemmenden Enge des Aufzugs und der Schleusen heraus zu sein. . Sie begann bei den Tieren. In drei der neun Segmente des feldfreien Raums saßen verschiedene brütende Paare der wichtigsten Tierarten auf Ei, mit Ausnahme der beiden einzigen Gattungen, die größer als ein erwachsener Cheela waren, dem schwerfälligen Langsam-Gleiter und dem fleischfressenden Schnell. Diese Arten wurden von miniaturisierten, genetischen Hybriden vertreten, die ungefähr so groß wie eine Schleiche waren. Sie besaß eine ganze Anzahl verschiedener Arten von Schleichen. Außer drei Paaren von leuchtend gefärbten, aber dummen fleischliefernden Schleichen, deren Fleisch im Geschmack sehr unterschiedlich war, fanden sie hier noch einige gut ausgebildete Hüteschleichen, die auf ihre geistigen Fähigkeiten hin gezüchtet worden waren. 135 Zusammen mit Puufsie verfügte sie jetzt über zwei Paare von Laborabkömmlingen, die speziell für die Zucht ausgewählt worden waren, weil ihre Körper denen der Cheela vergleichbar auf Umweltveränderungen reagierten. Sie mußte etliche Dinge im Labor überprüfen. Nachdem sie einmal die lange, anstrengende Prozedur hinter sich gebracht hatte, das Labor zu betreten, hatte sie nun mit dem Verlassen keine Eile. Es gab für mindestens zwei Umdrehungen genug Arbeit, sowohl was die physische Untersuchung der Tiere als auch das Durchführen von Intelligenztests betraf. Man hatte die Proviantschränke in dem Ankleidealkoven beim letztenmal aufgefüllt, als der Raum ausgepumpt worden war, so daß sie sich zum Umdrehungsmahl daraus bedienen konnte, um neue Kräfte zu tanken. Außerdem mußte ja irgend jemand die Qualität der Nüsse und Früchte von den
Nahrungsplantagen testen. Stahl-Schneider freute sich, daß er auf die polarumkreisende Raumstation zurückkehren konnte. Seit seinem letzten Besuch dort hatte sich viel ereignet. Er war aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, in die Gesetzgebung der Vereinigten Clans gewählt und für die Verjüngung ausgesucht worden. Da er aber immer noch berechtigt war, seine Doppelstern-Admiralsabzeichen zu tragen, legte er sie für seinen Besuch auch an. Fern-Aufklärerin hatte ebenfalls gerade ihre Verjüngung hinter sich gebracht und war dabei, sich mit ihrem Schiff wieder in den interstellaren Raum zu »werfen«. Sie hatte ihn eingeladen, an ihrem »Abwurffestmahl« teilzunehmen, bevor sie abflog. Das Robotgleitfahrzeug summte durch den heruntergekommenen Ostteil von Paradies des Glänzenden und kam vor dem Eingang des Sprungschleifenterminals zum Stehen. Stahl-Schneider drückte seine Magnetkarte in den Zahlschlitz, und das Gleitfahrzeug entließ ihn. Als er auf den Aufgang zuglitt, fiel ihm ein kleiner, drahtiger, ver136 narbter und abzeichenloser Jungling auf, der in der Nähe gegen eine Mauer gelehnt stand. Die Augen des Junglings bewegten sich scheinbar ziellos, beobachteten aber aufmerksam alles, was sich um ihn herum abspielte, besonders den Verkehrsstrom in beiden Richtungen durch die automatischen Türen des Terminals. Es befand sich in einer rauhen Gegend der Stadt, daher glitt Stahl-Schneider in flottem Tempo über die Straße und durch die mit EINGANG markierte Tür hindurch. Erst als er drin war, entspannte er sich wieder ein wenig und schob sich dann zu der Schlange vor der Gepäckannahme, wo er den kleinen Reisebeutel aus seiner Falte nahm. Er hatte noch ein wenig Zeit bis zum Absprung, daher begab er sich durch das Gedränge im Terminal zur Brei-Bar hinüber. Er umrundete gerade eine kleine, stark gepunktete Cheela, die sämtliche Augen auf den grobschlächtigen männlichen Cheela gerichtet hatte, mit dem sie sich unterhielt, als sie plötzlich, scheinbar ohne zu schauen, wo sie hintrat, von dem Kerl abrückte, und Admiral Stahl-Schneider sich zur Hälfte von fleckigem, weiblichem Fleisch umwickelt fand. »Verzeihen Sie bitte«, sagte Stahl-Schneider, während er versuchte sich zurückzuziehen. »Mir macht das nichts aus, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte die Cheela, die das fortpflanzungsfähige Alter erreicht hatte, während sie eine Anzahl ihrer Augen nach ihm umwandte und ein paar gefleckte Augenlappen auf seine Oberseite legte. »Sie sind außerdem wesentlich attraktiver als die ruppige Sohle da drüben.« Sie warf die Augenstiele in Richtung des Kerls, der sie beide anstarrte. Stahl-Schneider bemerkte, daß sich das Fleckenmuster des weiblichen Cheela auch auf ihre Augäpfel erstreckte. Einige von ihnen waren rosa, anstatt dunkelrot. Der Admiral versuchte sich zu befreien, aber er mußte feststellen, daß die Cheela eine Anzahl von Tentakeln gebildet hatte, und ihn an seinen Doppelstern-Admiralsabzeichen festhielt. Andere Tentakel, die von ihren Körpern verdeckt waren, begannen ihn zu kitzeln. 137 »Möchtest du nicht ein bißchen Spaß haben?« sagte sie in einem elektronischen Flüstern, daß Wellen durch seinen Körper jagte. »Ich kenne einen netten kleinen Matten-Ort in der Nähe.« Stahl-Schneider war gerade dabei, das Angebot abzulehnen, als er unter dem Schlag eines schweren Manipulators ins Wanken geriet. »Laß meine Perle in Ruhe!« meinte der Kerl drohend und starrte ihn böse an. Stahl-Schneider war so schockiert, daß er überhaupt nicht merkte, wie ihm zwei seiner Sternabzeichen abhanden kamen, als die gefleckte Cheela sich davonmachte. »Ich habe sie!« rief sie und glitt in vollem Sohlenkräuseln auf die EINGANG-Tür zu. Der Kerl war dicht hinter ihr. »Stehenbleiben!« brüllte Stahl-Schneider, als er schließlich seinen Verlust bemerkte. Er glitt hinter ihnen her. Der Kerl zog einen Dorn aus einer Falte in seiner hastig zurückweichenden Hinterseite und schwenkte ihn drohend. »Geh und lutsch deine Augäpfel, du Raumnull!« brüllte er. »Da kommt ein Rassler!« warnte die gefleckte Cheela, als sie sich der Tür näherten. Die Tür wurde von ihrem Komplizen draußen geöffnet und war schon beinahe wieder ganz geschlossen, als der Friedensoffizier sie erreichte, aber er quetschte sich doch noch durch den Spalt und nahm die Verfolgung auf. Als der Friedensoffizier hinter ihnen her eilte, blieb Stahl-Schneider stehen. Ein wenig verlegen drückte er eins der Sternabzeichen ein Stück zur Seite, damit es die leere Stelle auf seiner Hülle überdeckte. Er zweifelte sehr daran, daß der Offizier die Diebe, fangen würde. Da es Zeit für den Start seiner Sprungfähre wurde, wandte er sich um und schob sich zum Abflug hinüber. »Dieser eierfressende Rassler ist durchgekommen!« rief Gefleckte Oberseite. »Verteilt euch. Wir verkaufen das Zeug später!« Sie glitt eine Seitenstraße hinunter, die zum alten Tempelgelände führte, von dem sie wußte, daß es dort unzäh138 lige Versteckmöglichkeiten gab. Glücklicherweise hatte der Rassler Faltige Sohle verfolgt. Die gestohlenen Abzeichen hatte sie bei sich, daher würde der Rassler ihn laufen lassen müssen, selbst wenn er ihn einholte. Ihre straßengewohnte Sohle nahm die eilige Bewegung von zwei weiteren Rasslern wahr, die stetig näherkamen, so daß sie noch ein paar Wellen zulegte und dabei versuchte, das Geräusch ihrer Sohle zu dämpfen. Am Eingang zu dem alten Tempelgelände quetschte sie ihren mageren Körper .durch einen Riß in dem alten Außenzaun, der
durch ein Krustenbeben entstanden war. Sie wich behende einigen Arbeitern aus, die Restaurierungsarbeiten durchführten, schob sich hurtig an einem der ausgebesserten »Augen« des alten Monuments vorbei und schlug sich zu einem kleinen Krustenfelsen durch, der an der Stelle lag, wo die Basis des »Augenstiels« auf die Wand traf, die den »Körper« des Tempels bildete. Hinter diesem Felsen befand sich ein alter Tunnel, den sie vor ein paar Umdrehungen entdeckt hatte. Sie hatte ein winziges Loch in der Wand bemerkt, nachdem die riesigen erdbewegenden Maschinen fort waren. Auf der Suche nach einem sicheren Ort, um gestohlenes Gut zu verbergen, bis es verkauft werden konnte, hatte sie herausgefunden, daß sich das Loch zu einem unterirdischen Tunnel erweiterte, der mit einer altmodischen Sorte eines dicken supraleitenden Metalls ausgekleidet war. Als die Anlage in den Tagen von Rosa Augen, dem Propheten, damals errichtet worden war, hatte der Supraleiter das Magnetfeld von Ei von dem Tunnel ferngehalten, so daß die Hohenpriester des Glänzenden rasch vom äußeren Heiligtum auf die Spitze des Innenauge-Hügels gelangen konnten, wo sie auf wunderbare Weise vor der unten versammelten Menge erschienen. Der Tunnel war jetzt mit magnetischem Flußmittel verstopft, das sich mit den Wänden verbunden hatte. Fleckige Oberseite schob sich durch die Flußlinien hindurch, bis sie im Innern war, worauf sie den Fels zurückrollte, um den Eingang zu tarnen. Sie entspannte sich, als 139 das Magnetfeld sie sicher an die umgehende Kruste drückte. Sich unter der Kruste zu befinden, machte ihr ein wenig Angst, aber sie war sicher, daß die Rassler sie hier in ihrem Geheimversteck niemals finden würden. Das Ende der Schicht war endlich herangekommen, und Schweres Ei entließ seine Mannschaft. Er sah ihnen nach, wie sie sich in die Aufzüge drängten und auf die Oberfläche von Ei hinunterfuhren, um dort die Brei-Bars aufzusuchen — wobei sie eine wesentlich größere Eile zeigten, als er je an ihnen während der Umdrehung gesehen hatte. »Der letzte Aufzug, Chef.« Hungrige Falte hielt den Lift fest. »Warte auf mich«, sagte Schweres Ei. »Ich muß noch den Chef sprechen.« Er nahm den Aufzug auf das obere Deck der Spitzenplattform und begab sich zu der Abteilung, die das Büro des Chefingenieurs der Spitzenplattform darstellte. Seine Mannschaft hatte heute kaum ihr Soll erfüllt, und er mußte jetzt endlich etwas unternehmen. Er hatte nichts gegen ein wenig Drücken und Kitzeln während der Schicht, das half, die Umdrehungen herumzubekommen; aber dann hatte er Gelben Felsen beim Besteigen von Leichtem Fluß hinter dem Aufzugschacht ertappt, und das war die Schote, die die Pflanze zum Umfallen brachte. Er wollte beide auswechseln. Die Tür zur Abteilung des Chefingenieurs stand offen. Schweres Ei glitt mit forscher Sohle hinein und blieb dann stehen. Ein junger Fremder stand in dem Büro, und der Chefingenieur hörte ihm respektvoll zu. Der Jungling trug Abzeichen, die größer als die Abzeichen des Chefingenieurs waren. »Schichtaufseher Schweres Ei«, sagte der Fremde, »es ist schön Sie wiederzusehen.« Als er die Verwirrung im Augenwellenmuster von Schweres Ei erkannte, fügte er hinzu: »Ich bin Ihr Chef, Klippen-Netz. Man hat mich »ver140 jüngert« — ich glaube, so sagt man jetzt. Haben Sie irgendein Problem?« »Das kann bis zur nächsten Schicht warten«, sagte Schweres Ei und kräuselte seine Sohle rückwärts. Er schob sich benommen aus der Tür hinaus und begab sich auf das unterste Deck. Gelber Fels vermied seinen Blick, als Schweres Ei in den Lift glitt, Hungrige Falte an der Steuerung ablöste und die lange Abfahrt die Raumfontäne hindurch bis auf die Oberfläche begann. Zeit-Kreis fühlte sich wieder einmal sehr allein und war auf der Suche nach jemandem, mit dem er reden konnte. Ein weiterer Kanal seiner Zeitmaschine war mit Geräuschen verstopft worden. Er wanderte auf die andere Seite des Innenauge-Instituts hinüber und suchte die Abteilung Krustallographie auf, aber Neutron-Tropf war nicht an ihrem Computer, und so glitt er wieder davon, um sie im Labor zu suchen. Doch der einzige, den er dort vorfand, war Eifrige Augen, der damit beschäftigt war, eine Berührungsund Geschmackskonsole mit der Sohle abzutasten. Auf jeder Seite der Konsole befanden sich zwei stark abgeflachte kugelförmige Schüsseln, die die östliche und westliche Hemisphäre von Ei darstellten. Sie waren nach den altertümlichen Karten geformt, auf denen die Entfernungen noch in Sohlenlängen angegeben worden waren. In der Gegend um die Magnetpole herum, wo die Sohlen der Cheela Minimalgxöße aufwiesen, waren sie flach und nahe dem Magnetäquator, wo die horizontale Komponente des Magnetfeldes die Sohle der Cheela streckte, stärker gewölbt. Jetzt, da die Cheela über Raumfahrttechnologie verfügten, war ihnen klar, daß Ei kugelförmig war; aber die alte Form war immer noch nützlich für die Krustallogen, denn der Hauptteil der Aktivitäten in der Kruste fand nahe den Polen statt. Zahlreiche Lichter flimmerten über die Karten, die die Krustenbebenaktivität aufzeigten. Plötzlich erschien ein hellblauer Fleck darauf, dessen Farbintensität in gleichem Maße nachließ, wie das Krustenbeben erstarb. 141 »Ich suche Professor Neutron-Tropf«, teilte Zeit-Kreis Eifrige Augen mit. »Ich bin hier drüben«, ertönte eine gedämpfte Stimme. Sie schien von einer Stelle unter der Sohle von Eifrige Augen hervorzudringen. »Sie ist im Werk am Ostpol«, erklärte Eifrige Augen. »Ich werde das Bild auf den visuellen Schirm an der Wand dort drüben schalten. Hier spielt sich alles mit einer derartigen Geschwindigkeit ab, daß ich besser bei meiner
Arbeit am Geschmacks- und Berührungsschirm bleibe.« »Ich bin eigentlich hergekommen, um zu fragen, ob wir nicht gemeinsam das Umdrehungsmahl einnehmen sollten«, meinte Zeit-Kreis. »Ich hatte gar nicht bemerkt, daß Sie nicht mehr da sind.« »Diese Reise war auch nicht geplant«, erwiderte das Abbild von Neutron-Tropf. Sie bewegte sich an einer Reihe von akustischen Empfängern entlang, mit denen Daten von den entfernten seismischen Instrumenten aufgenommen wurden, die um den Ostpol herum unter der Kruste installiert waren. »Ich habe den Sprung hierher gemacht, um sicherzustellen, daß die Empfänger innerhalb meßbarer Grenzen arbeiten. Ich glaube, wir müssen mit einem heftigen Erdbeben rechnen. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, denn dies ist das erste Mal, daß jemand versucht hat, die Beben, die einem großen vorausgehen, aufzuzeichnen.« »Die ganze Sache kam nach dem letzten Umdrehungsmahl in Gang«, berichtete Eifrige Augen. »Ich war dabei, die Signale zu untersuchen, die von der Anlage um den Ostpol herum hereinkamen, als ich ringförmige Muster erkannte.« »Nicht nur das«, sagte Neutron-Tropf. »Obwohl sie anfangs noch klein waren, hat die Größe dieser .Beben in den letzten zehn Doth-Umdrehungen beinahe exponential zugenommen, während sie sich um den Fuß des Ostpolgebirges herum zusammenziehen.« »Exponential!« Zeit-Kreis war sichtlich beeindruckt. • »Ich erwarte jeden Moment einen >Trimble-Seismo142 graphgewöhnliche< Augen hast.« Der Gefleckte reckte seine vier rosa Augen mit offensichtlichem Stolz. »Wir Fleckenhüllen haben >besondere< Augen, mit denen wir Dinge sehen, die ihr Einfarbigen nicht sehen könnt. Das zeichnet uns vor euch aus.« »Du bist nichts Besonderes«, sagte der Einfarbige und hob den Pflückspieß, mit dem er normalerweise die Früchte von den größeren Pflanzen herunterholte. »Jetzt ist es genug«, grollte Be-Be. »Ihr Junglinge benehmt euch ja genauso wie ein Haufen Schleichen.« Zeit: 07:12:02 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Während Hohmann-Transfer mit der Rollenarbeit beschäftigt war, bemerkten ein paar ihrer Augen, daß einer der 202 Sterne am Himmel sehr rasch an Größe zunahm. Sie ließ die Rolle wieder zusammengleiten und suchte das Kommandodeck auf, während der Stern unterdessen größer und größer wurde. Als sie dort angekommen war, konnte sie auch den gelb-weißen Fleck vor dem Stern erkennen. Es war das letzte interstellare Forschungsschiff, die Abdul Nkomi Farouk. Jetzt befand sich nur noch eine kleine Anzahl Aufklärungsschiffe im interstellaren Raum. »Ostpol-Raumstation ruft Abdul«, sagte Hohmann-Transfer. Eine Pause von beinahe zwei Meth-Umdrehungen trat ein, in der das Signal die 30 Kilometer Entfernung überbrückte, durch die sie getrennt waren. In dieser Wartezeit wurde der Spinor-Antrieb auf Abdul abgeschaltet, und der Stern schwebte wieder in den Raum zurück, während das Schiff in der Umlaufbahn um Ei verharrte. »Hier spricht Kapitän Suchendes Auge vom interstellaren Forschungsschiff Abdul. Ich erstatte befehlsgemäß Bericht an die Basis. Kapitän Fern-Aufklärerin und Admiral Stahl-Schneider haben die letzten Positionen unserer zwei Aufklärer erhalten und waren immer noch auf der Suche nach ihnen, als wir Herk X-i verließen. Wie ist die Lage der Dinge auf Ei? Wir sind alle in Sorge.« »Furchtbar«, sagte Hohmann-Transfer. »Wir sind so tief gesunken, daß wir uns auf die Fähigkeiten einer Unterhaltungskünstlerin verlassen müssen, und sie hat es geschafft, zwei Dutzend Groß hindurch nahezu nichts zu tun. Ich werde eine allgemeine Versammlung einberufen, sobald Sie hier sind.« Auf der Hauptversammlungsstätte der Ostpol-Raumstation drängten sich die Cheela. Die größeren Versammlungsräume auf der übrigen Station waren ebenfalls angefüllt mit besorgten Raumfahrern, die gespannt auf die Videoverbindung zur Hauptversammlung starrten. »Es ist jetzt zwei Dutzend Groß Umdrehungen her, daß ein verheerendes Sternbeben die Zivilisation auf Ei zerstört hat«, begann Hohmann-Transfer. »Ich habe mit der man203 gelhaften Unterstützung von der Oberfläche getan, was ich konnte, aber die Situation ist immer noch völlig hoffnungslos. Der einzige Ingenieur, den wir noch auf der Oberfläche hatten, ist zerflossen, bevor wir ihn retten konnten. Jetzt müssen wir uns damit begnügen, daß unsere eigenen Ingenieure von einer Unterhaltungskünstlerin ausgebildet werden.« »Sie leistet unter diesen Umständen ausgezeichnete Arbeit«, mischte sich Klippen-Netz ein. »Das Problem besteht darin, daß ohne Roboter und andere arbeitssparende Maschinen jeder Cheela auf Ei einfach zuviel Zeit damit verbringt, sich am Leben zu halten. Wir geben ihnen soviel Hilfestellung wie möglich, aber die Verzögerung in der Sprechverbindung von zwei Greth-Umdrehungen erleichtert die Sache nicht gerade.« »Wie lange wird es noch dauern, bis sie in der Lage sind, ein Gravitationskatapult in Ordnung zu bringen?« wollte jemand wissen. »Das hängt alles davon ab, ob es Be-Be gelingt, die Dinge dort unter Kontrolle zu halten und den Unterricht fortzuführen«, meinte Klippen-Netz. »Wenn sie das schafft, dann hätten wir, nachdem wir die fähigsten Gravitationstechniker ausgewählt haben, genug kompetente Leute, die wir zu den Katapultanlagen am Ost- und Westpol schicken könnten und die uns genau mitteilen, wie groß der Schaden ist. Wenn er nicht allzu schlimm ist, dann wird es nur noch ein oder zwei Dutzend Groß dauern, bis wir eine Gruppe von Ingenieuren so weit ausgebildet haben, daß sie den Schaden beheben, ein Kraftwerk für den Betrieb des Katapultes reparieren und den Betrieb wieder aufnehmen können.« »Sie sprechen von Generationen!« rief Hohmann-Transfer aus. »Das haben Sie mir vorher nicht gesagt! So lange
können wir nicht warten!« »Ich habe es Ihnen gesagt, aber Sie wollten es nicht hören«, versetzte Klippen-Netz. »Und wir haben keine Alternative, als so viele Generationen hindurch zu warten, wie sie unten brauchen werden.« »Aber in dieser langen Zeit werden wir immer älter. 204 Ohne Verjüngung werden wir hier alle tot sein, bevor sie es geschafft haben!« sagte Hohmann-Transfer. »Sie müssen unbedingt ein paar Verjüngungsmaschinen bauen.« »Sie vergessen, daß die Materialien, die wir hier in den Raumstationen und Raumschiffen zur Verjüngung haben, begrenzt sind. Ich habe das Problem mit meinen Ingenieuren durchgesprochen. Wir könnten leicht einen Teil des Metalls in den weniger wichtigen Abteilungen des Schiffes für den Bau derartiger Maschinen verwenden, die uns dann die Verjüngungsenzyme liefern. Aber für den Prozeß brauchen wir ein seltenes Metallisotop. In der ganzen Raumflotte ist nur genügend vorhanden, um zwei Maschinen herzustellen, von denen jede in der Lage ist, alle drei Dutzend Groß genügend Enzyme zu produzieren, um eine Person zu behandeln. Im Grunde können also nur zwei Cheela durch die Verjüngung am Leben erhalten werden.« »Dann müssen die anderen sterben!« sagte Hohmann-Transfer. »Wozu soll es dann gut sein, die Gravitationskatapulte zu reparieren, wenn nur zwei Leute übrig sind, die gerettet werden können?« »Wir dürfen eben nicht zulassen, daß die Zahl der Cheela im All auf zwei Leute zusammenschmilzt«, sagte Klippen-Netz. »Die anderen auf dem Boden unten haben all ihre Sohlen und ihre ganze Technologie verloren. Wir müssen die Zahl hier oben in ihrer vollen Stärke erhalten. Da wir keine Verjüngungsmaschine haben, die aus alten Cheela wieder junge macht, werden wir eben nach der traditionellen Methode die Junglinge produzieren. Ich habe gehört, daß die gar nicht so schlecht ist, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat.« Ein amüsiertes Klopfen war unter der Zuhörerschaft zu hören, aber es ging unter der Sohle von HohmannTransfer hindurch. »Ich verstehe nicht recht«, sagte sie. »Die Medicos sollen bei ausgewählten Personen die Kontrazeptive absetzen. Das wäre mein Vorschlag. Ist die Vorstellung so unmöglich?« fragte er, während seine Augenstiele in einer ausladenden Bewegung die ganze Versamm205 lung umfaßten. »Wir könnten das Eiergehege hier unten in der Vertiefung der Versammlungsstätte einrichten, dann würden sich die Jungengehege auf beiden Seiten nach oben erstrecken, und auf dem oberen Rand zögen sich die Hortschulen entlang.« Schließlich wurde beschlossen, den Bau der zwei Verjüngungsmaschinen trotz allem in Angriff zu nehmen. Es war von entscheidender Bedeutung, eine gewisse Kontinuität zu schaffen, während die Menge der einzelnen Raumstationen und Raumschiffe in eine Kolonie im All umgewandelt wurde. Nach einer heftigen Debatte wurden Hohmann-Transfer und Klippen-Netz für die erste Verjüngung ausgewählt. Dem Rest der Cheela wurde jeweils ein Ei zugestanden, denn die Raumstationen konnten nicht mehr als eine Verdopplung der Bevölkerung fassen. Viele Cheela zermarterten sich etliche Groß hindurch den Gehirnknoten, bis sie sich endlich für einen »Eipartner« entschieden hatten. Zeit: 07:15:16 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Be-Be wurde von Schnell-Schreiber, einem der Schriftführer, an die Sprechverbindung gerufen. »Ich bin immer noch dabei, einen Abschnitt der Bedienungsanleitung für Hilfsaggregate abzuschreiben«, erzählte Schnell-Schreiber Be-Be, als sie an dem Flieger ankam. »Sie haben vor ein paar Meth-Umdrehungen eine Botschaft eingeschoben, in der Sie gebeten wurden zu kommen.« Be-Be wartete, bis Schnell-Schreiber damit fertig war, die letzten Worte der Bedienungsanleitung in seiner ordentlichen Schrift nach Diktat aus 406 Kilometern Entfernung auf die Rolle zu schreiben. Schließlich schaltete Schnell-Schreiber die Videoverbindung ein. Ein paar Diagramme erschienen auf dem Schirm. Er kopierte sie eilig, denn die Video206 Verbindung kostete eine Menge Energie. Sobald er fertig war, wurde die Verbindung auf Audio zurückgeschaltet. Eine Pause trat ein, und dann hörten sie Klippen-Netz. »Unser neuer Raumrat hat eine Entscheidung getroffen«, sagte er. »Wir haben den Eindruck, daß es jetzt Zeit für Sie ist, zum Westpol zu fliegen und sich der Verjüngung zu unterziehen. Nun, ich kann mir vorstellen, was Sie sich wahrscheinlich denken — daß Null-Gauß eigentlich diejenige sein sollte, die sich dorthin begibt, denn sie ist älter. Das Problem dabei ist allerdings, daß es dem Roboter bisher nur gelungen ist, eine der Enzymmaschinen betriebsbereit zu bekommen. Wenn wir jetzt Null-Gauß schicken, dann haben Sie erst wieder in 36 Groß die nächste Chance. Sie wären dann fast 90 Groß alt und könnten zerfließen, bevor die Verjüngung zustande kommen kann. Wir sind der Meinung, daß wir es uns nicht leisten können, Sie zu verlieren. Sie sind die einzige mit der richtigen Mischung aus Antrieb, Entschlußkraft, Optimismus und Charisma, und wir brauchen Sie, um die Junglinge der Oberfläche auf das gemeinsame Ziel konzentriert zu halten: der Wiedervereinigung der Clans auf Ei. Die Abstimmung hatte ein Ergebnis von 288 zu 1. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wer die >i< war. Sobald es Ihnen möglich ist, sollten Sie zum Westpol reisen, sich der Verjüngung unterziehen, dann zurückkehren und dabei den Verjüngungsroboter und die Enzymmaschine mitnehmen. Der Roboter wird
nützlich sein, um einige der Energiegeneratoren in Paradies des Glänzenden in Gang zu setzen, und vielleicht auch noch andere Teile der technischen Ausrüstung zu reparieren.« Be-Be bestätigte die Nachricht und übergab dann die Sprechverbindung wieder an Schnell-Schreiber. Er begann augenblicklich weiterzuarbeiten, als das Diktat fortgeführt wurde. Be-Be brauchte ein paar Umdrehungen, um ihre Angelegenheiten zu ordnen, damit sie das halbe Groß abwesend sein konnte, das die Verjüngung dauern würde. Einer der Technikstudenten, Coulomb-Kraft, baute die Sprechanlage 207 und den Akkumulator aus dem Flieger, damit die Erziehung und Ausbildung ihren Fortgang nehmen konnte. Null-Gauß war erleichtert, daß nicht sie für die Verjüngung ausgewählt worden war, denn sie wünschte sich nichts weiter, als bei ihren Kleinen zu sein. Da jetzt genügend Erwachsene da waren, um ihr bei der Betreuung der älteren Jungen zu helfen und die Hortklassen zu unterrichten, hatte sie nichts anderes mehr zu tun als Eier auszubrüten und alte Geschichten aus der Zeit vor dem Sternbeben zu erzählen. Der Flieger, in dem Be-Be saß, schoß über die alte Straße, hinweg auf den Westpol zu und kam dabei an einer großen Herde von Mastschleichen vorbei. Gefleckte Oberseite war bei der Herde und unterrichtete die angehenden Hirten und Tierpfleger. Jeder Cheela in dieser Klasse besaß Flecken und mindestens ein rosa Auge. Sie lehrte sie Dinge, die nicht in den Textbüchern standen, wie man zum Beispiel ein Tier mit den besonderen rosa Augen ansehen mußte, um zu sagen, wo es verletzt war, und wie man sich einem Tier nähern mußte, damit es wußte, daß man in freundlicher Absicht kam. Als Gefleckte Oberseite den Flieger vorüberjagen sah, begann eine alte Sorge an ihrem Gehirnknoten zu nagen. Mit jeder Umdrehung rückte der Zeitpunkt näher, an dem eine dieser Gravitationsmaschinen, über die alle sprachen, in Ordnung gebracht sein sollte. Dann würden die Raumfahrer herunterkommen und mit ihnen ihre Gesetze. Und danach würden die Rassler mit ihren Peitschen kommen. Gefleckte Oberseite war es gar nicht recht, daß die Raumfahrer kamen; sie liebte die Dinge so, wie sie im Moment waren. Zeit: 07:15:32 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Achtzig Umdrehungen später kehrte Be-Be mit ihrem Flieger von der Verjüngungskur zurück und brachte den Ver208 jüngungsroboter und die Enzymmaschine mit. Sie glitt auf einer Landebahn in der Nähe des Innenauge-Instituts herunter. Niemand schien dort zu sein, daher stieg Be-Be aus, um ihren Flieger selbst an den Haltebolzen festzumachen. Sie nahm ein Schlurfen auf der Kruste wahr und sah eine Anzahl von Miniatur-Hausschnells, die auf sie zueilten. Sie kannte keinen von ihnen. In ihrer Tragefalte hatte sie ein paar Lebensmittel, die sie jetzt herausnahm. Sie bildete einige Tentakel, um die Tiere zu streicheln und lockte sie heran. Die Meute von Schnells sah das Futter, und ihr Gleiten verwandelte sich in eine wilde Jagd. Ihre Mäuler öffneten sich, und die scharfen Zähne sprangen in Reißposition. Brüllend vor Hunger rasten sie auf Be-Be zu. Sie warf das Futter nach einer Seite fort, um sie abzulenken, und raste dann auf ihren Flieger zu. Der Roboter sah unbeteiligt zu, wie sie hastig an Bord des Fliegers glitt und den Magnetschild zuknallte. Dabei tropfte aus dem Manipulator, mit dem sie eine der Bestien abgewehrt hatte, Flüssigkeit heraus. Verletzt und ein wenig verängstigt, begann Be-Be, sich Sorgen zu machen. Irgend etwas war während ihrer Abwesenheit geschehen. Sie ließ den Flieger aufsteigen, über das frustrierte Rudel von Schnells hinwegfliegen und dann langsam an der Straße entlang schweben. Die Pflanzen, die einst auf dem Gelände des InnenaugeInstituts wunderbar gediehen waren, wirkten vernachlässigt und waren all ihrer Früchte und Schoten beraubt. Sie erreichte eine Anlage in der Mitte des Instituts, die verschlossen aussah. Die Türen waren zu, und davor waren Felsbrocken aufgetürmt worden, so daß es ihr schwerfiel, die Tür zu erreichen und sie zu öffnen. Die Läden der Schiebefenster waren ebenfalls geschlossen, und vor zahlreiche Öffnungen waren Riegel vorgeschoben worden. Auf der Mauerkrone lief eine Behelfsspirale aus Draht entlang. Winzige Lichtschlangen tauchten in der Mitte der Spirale auf, dort, wo verirrte Nuklei aus dem All innerhalb des extrastarken Magnetfeldes in Schraubenbewegungen ihren Tod fanden. 209 Der Laden an einem der verbarrikadierten Fenster schob sich ein Stück zur Seite, und ein einzelner Augapfel lugte heraus. Dann wurde er ganz beiseite gedrückt, und Schnell-Schreiber reckte seine Augenstiele ein Stück zwischen den Riegeln hindurch und winkte heftig zu dem Flieger empor. Be-Be ließ den Flieger über die Mauer steigen und brachte ihn innerhalb der verschlossenen Stätte zur Landung. Sie wurde von acht ihrer früheren Studenten begrüßt. Drei von ihnen — Schnell-Schreiber, der Schriftführer; Coulomb-Kraft, der Elektromagnetikingenieur; und Newton-Einstein, der Gravitationsingenieur — waren die Älteren, die sie mit der Betreuung der Klassen betraut hatte, bevor sie abgeflogen war. Von den drei Dutzend Schülern, die in den fortgeschrittenen Klassen unterrichtet worden waren, als sie ging, waren nur noch fünf übrig. »Es war schrecklich«, sagte Coulomb-Kraft. »Direkt nachdem Sie fort waren, ist Null-Gauß zerflossen. Und danach brach hier alles zusammen.« »Das stimmt«, bestätigte Schnell-Schreiber. »Beim Zerlegungsritual von Null-Gauß und bei der Verteilung ihres Fleisches war noch alles ruhig. Das meiste davon bekamen die Jungen, weil sie sie so geliebt hatte. Doch nach der Zeremonie wurde es furchtbar. Gefleckte Oberseite befahl mir, die Sprechverbindung abzuschalten.«
»Warum?« fragte Be-Be. »Sie sagte, wir sollten nicht auf die Stimmen aus dem Himmel hören«, fiel Coulomb-Kraft ein. »Dann wollte sie den Kommunikator zerstören, aber ich habe ihr gesagt, daß sie sich dabei einen elektrischen Schlag einfangen könnte und daß ich es für sie erledigen würde. Ich habe dann nur die Energiezufuhr unterbrochen. Später habe ich mir ein paar Teile aus einem Laden in Stadtmitte besorgt, sie zerstört und verstreut und den Kommunikator versteckt.« »Dann hat sie den Studenten noch erzählt, daß sie die Schule nicht länger brauchten«, sagte Schnell-Schreiber. »Die meisten jubelten und machten sich zum Spielen 210 davon. Ein paar kamen zu mir und fragten mich, ob sie alleine lernen könnten. Es waren acht. Drei wurden bei den Kämpfen getötet.« »Kämpfen?« »Sie waren schrecklich«, sagte Coulomb-Kraft. »Es dauerte nur ein paar Umdrehungen, in denen niemand arbeitete, und das Essen wurde knapp. Ein paar der einfarbigen Hüllen versuchten eine Mastschleiche zu töten und wurden in einen Kampf mit den Fleckenhüllen verwickelt.« »Er endete damit, daß die meisten der einfarbigen Hüllen nach Osten vertrieben wurden«, fuhr Schnell-Schreiber fort. »Sie pflückten alle Früchte ab, bevor sie verschwanden, und es gelang ihnen, ein paar Herden von Mastschleichen mitzunehmen. Zunächst folgten wir ihnen, aber dann entschlossen wir uns, daß unsere erste Verpflichtung der Zukunft von Ei galt, und kehrten dorthin zurück, wo Coulomb-Kraft den Kommunikator versteckt hatte. Gefleckte Oberseite und der Rest der Fleckenhüllen lassen uns in Ruhe, solange sie uns nicht sehen.« »Aber sie mögen uns ganz offensichtlich nicht besonders«, gab Coulomb-Kraft zu verstehen. »Daher haben wir begonnen, diese Stätte hier zu befestigen. Wie gefällt Ihnen meine Magnetbarriere?« »Ist das die Spirale über der Mauerkrone?« wollte Be-Be wissen. »Ja, ich habe schon immer supraleitenden Draht gesammelt, seit ich ein Junges war, und er hat schließlich eine gute Verwendung gefunden. Er hat zwar unsere gesamte Energie aufgesaugt, als ich ihn geladen habe, aber er hält uns die Flecken und die Schnells gleichermaßen vom Leib.« »Ich bin von einem Rudel Schnells angegriffen worden, als ich landete«, berichtete Be-Be. »Wir haben jetzt hier eine Menge verwilderter Tiere«, erklärte Schnell-Schreiber. »Alle Haustiere, die die Leute früher gehalten haben, sind jetzt sich selbst überlassen. Ich stelle auch fest, daß die jüngeren Miniaturschnells und Langsam-Gleiter größer sind als die älteren. Der Hybridmi211 niaturisierungsprozeß muß wohl befristet sein, denn die neuen Generationen scheinen ihn wieder umzukehren.« »Wo ist Gefleckte Oberseite jetzt?« fragte Be-Be. »Ich habe niemanden hier in der Gegend gesehen, als ich einflog.« »Sie wußte, daß Sie bald zurückkommen würden«, sagte Schnell-Schreiber. »Ich vermute, daß sie Ihnen nicht von Augapfel zu Augapfel gegenübertreten wollte, denn' sie und der Rest der Fleckenhüllen haben die Gegend vor einem Dutzend Umdrehungen verlassen. Sie haben sich nach Norden gewandt und die Mastschleichen mitgenommen.« »Wir sollten wohl besser den Kommunikator wieder in Betrieb nehmen«, meinte Be-Be. »Ich möchte einen Bericht an die Raumfahrer machen.« »Sie wissen bereits alles«, sagte Coulomb-Kraft. »Ich habe den Kommunikator benutzt, sobald wir diese Stätte gesichert hatten. Newton-Einstein sitzt gerade daran. Ich glaube, er holt Instruktionen von Ingenieur KlippenNetz ein.« »Folgen Sie mir, ich werde Sie hinbringen.« Schnell-Schreiber führte sie durch ein Labyrinth von Mauern und Durchgängen. »Gehen Sie nicht dort entlang«, sagte er und zeigte mit seinen Augenstielen auf etwas, das wie ein Hauptdurchgang aussah, während er sich nach links wandte, eine Art Lageralkoven betrat und über ein paar Beutel mit getrockneten Nüssen hinwegstieg. »Warum nicht?« wollte Be-Be wissen. Statt einer Antwort nahm Coulomb-Kraft eine schwere Nuß aus einem geplatzten Beutel heraus und rollte sie den Korridor entlang. Die Nuß zerstob in einem weißglühenden Blitz zu purpurrotem Plasma. »Klippen-Netz hat das vorgeschlagen«, erklärte Coulomb-Kraft. »Natürlich ist die Wirkung bei einem kleinen Objekt wie einer Nuß spektakulärer, aber es reicht auch aus, um einen großen Cheela in eine Mahlzeit zu verwandeln.« Sie bahnten sich ihren Weg durch das Labyrinth bis ins 212 Innere der Anlage, wo Newton-Einstein am Kommunikator saß. »Ja. Sie ist gerade angekommen«, sagte er. »Ich werde ihr die Anweisungen weitergeben.« Be-Be hoffte, die vertraute Stimme von Klippen-Netz zu hören, aber Newton-Einstein hatte offensichtlich das Gespräch beendet und war nicht gewillt, weitere zwei Greth-Umdrehungen zu warten. »Seien Sie gegrüßt, Lehrerin Be-Be«, sagte Newton-Einstein, während seine Augäpfel ganz deutlich von ihren
neugeschaffenen Augenlappen gefesselt waren. »Die Verjüngung ist Ihnen offensichtlich gut bekommen. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich jede Umdrehung unterrichten würden.« Be-Be bedauerte die Notwendigkeit, die sie dazu gezwungen hatte, sich vor langer Zeit mit einem der jungen, gerade eben fortpflanzungsfähigen männlichen Cheela einzulassen. Sie wurden so schnell erwachsen und erschienen ihr nun ziemlich frech. »Wie lauteten die Anweisungen der Raumfahrer?« fragte sie und ignorierte seine Bemerkungen. »Klippen-Netz ist jetzt der Meinung, daß ich ausreichend vorbereitet bin, um den Zustand der Gravitationskatapulte auf Ei einzuschätzen. Er schlug vor, daß wir mit denen am Westpol anfangen, da sie am weitesten vom Oberflächenmittelpunkt entfernt liegen. Sollen wir also loslegen?« Er rückte näher und streckte einen Augenstiel nach ihr aus. »Wir werden auch Coulomb-Kraft mitnehmen«, entschied Be-Be, die nun wieder das Kommando übernahm. »Warum?« fragte Newton-Einstein. »Er hat doch keine Ahnung von Gravitationstechnik. Außerdem wird er hier gebraucht, um die Arbeit der Energiegeneratoren zu überwachen.« »Ich habe einen Roboter mitgebracht, der die Aufsicht über die Energiegeneratoren übernehmen kann«, erklärte Be-Be. »Du vergißt, daß ein Gravitationskatapult ebenfalls ein Kraftwerk braucht. Während du den Zustand des Katapults überprüfst, kann Coulomb-Kraft feststellen, ob wir 213 überhaupt eine Möglichkeit haben, es mit Energie zu versorgen.« »Wenn Sie es sagen.« Newton-Einstein war offensichtlich enttäuscht, daß er die Reise nicht allein mit Be-Be unternehmen konnte. »Zeigt mir den Rest der Anlage.« Be-Be schob sich in den Korridor hinein, auf dessen Boden sich Streifen von Staub mit hartem Fels abwechselten. »Danach sollten wir uns dann auf den Weg machen.« Schnell-Schreiber verstellte ihr hastig den Weg. »Wir haben diesen Flur noch nicht aktiviert, aber Sie sollten lernen, was die Streifen im Staub bedeuten, wenn Sie in dem Labyrinth darauf treffen.« »Eine weitere Schockbehandlung?« wollte Be-Be wissen. »Schlimmer«, entgegnete Schnell-Schreiber. Er drückte in einer bestimmten Art und Weise einen Abschnitt auf dem Bild an der Wand und aktivierte damit die Falle. »Vorsicht«, warnte Coulomb-Kraft. »Früher oder später müssen wir lernen, das sogar mit den Augen unter den Lappen zu schaffen«, sagte SchnellSchreiber. Er zog seine Augen zwar nicht ein, glitt aber in großer Hast über das gestreifte Muster auf dem Boden hinweg, wobei seine Sohle eine übertriebene Welle bildete, die es ihr gestattete, die harte Kruste zu berühren und dabei die staubigen Abschnitte unberührt zu überbrücken. Sicher auf der anderen Seite angekommen, rollte er eine Nuß über den Pfad zurück. Eine Detonation aus einer Röhre, die in der Mitte des Streifens in der Kruste vergraben war, jagte ein schweres Gewicht in den Himmel hinauf, das eine dünne, zähe Fiber hinter sich herzog. Das Gewicht fiel wieder zurück, direkt auf die gegenüberliegende Seite der feuernden Röhre. Es sank tief in die Kruste ein und nahm das Ende der Fiber mit sich. Die Ränder des Loches glühten unter dem Aufprall. Be-Be besah sich die zwei Löcher in der Kruste, die durch die zähe Faser verbunden waren und blickte dann fragend auf Schnell-Schreiber. »Diese Zebu-Barrieren ziehen sich durch die ganze 214 Anlage«, erklärte Schnell-Schreiber. »Aber nur die äußeren sind die ganze Zeit über aktiviert. Wenn das beschleunigte Gewicht nicht den Gehirnknoten zerschmettert, dann näht die Faser den Eindringling an der Kruste fest, bis wir hinkommen und ihn losschneiden.« Schnell-Schreiber schaltete die Barriere ab, und Be-Be versuchte, sie mit einem übertriebenen Kräuseln ihrer Sohle zu überqueren. Es gelang ihr, das Summen des Trainingsmonitors nur ein einziges Mal auszulösen. . Bevor sie aufbrachen, ließ Be-Be den Flieger noch einmal in große Höhe aufsteigen, um sich umzusehen. In einiger Entfernung, in Richtung Norden, fanden sich etliche größere Herden, aber in unmittelbarer Nähe lauerte keine Gefahr. Coulomb-Kraft bereitete diese neue Erfahrung des Fliegens offensichtlich viel Vergnügen, aber Newton-Einstein hatte alle zwölf Augäpfel unter ziemlich blasse Lappen gezogen, als er wieder auf dem Boden stand. Sie ließen die Anlage in der Obhut von Schnell-Schreiber hinter sich, und dann flogen Be-Be, Newton-Einstein und Coulomb-Kraft zum Westpol hinüber, wobei sie sich in niedriger Höhe über der Kruste hielten. Eins der Gravitationskatapulte stand nicht weit entfernt von Weißfelsstadt. Be-Be hatte die Anlage vor langer Zeit einmal mit der Hortschule besucht. Als sie sich der Anlage näherten, bat Coulomb-Kraft Be-Be, anzuhalten. »Dort unten verläuft eine Hauptenergieleitung an der Straße entlang. Sie ist vor ungefähr einem Meter an der Straße aufgetaucht. Ich glaube, sie führt von dem Kraftwerk her, das dort drüben neben dem Vorgebirge liegt.« Er zeigte mit den Augenstielen in nördliche Richtung. »Wir könnten uns das eigentlich ansehen, wenn wir schon einmal hier sind«, meinte Be-Be. Sie steuerte den Flieger nach Norden, ließ ihn ein paar Zentimeter höher steigen, damit er ohne Schwierigkeiten über die verlassenen Heimstätten und Büroanlagen hinwegkam, und flog dann auf den künstlichen Hügel in der Ferne zu.
Das Kraftwerk war in erstaunlich gutem Zustand. Wäh215 rend des Sternbebens waren die Erschütterungswellen durch den chaotischen Verlauf des Felsmassivs unter den Bergen hin und her reflektiert worden und hatten sich da, wo die Anlage stand, weitgehend gegenseitig aufgehoben. Be-Be war so erfreut über ihre Entdeckung, daß sie zu den Lebensmittelschränken in ihrem Flieger zurückglitt und einen Beutel Perlwein herausholte, der ihnen helfen sollte, die Zeit totzuschlagen, bis die Antwort von der Westpol-Raumstation eintraf. Während sie über die Oberfläche geflogen waren, hatte KlippenNetz sich zur Westpol-Raumstation begeben, um die Verzögerungen in der Kommunikationsverbindung möglichst gering zu halten. »Es freut mich zu hören, daß der größte Teil der Energieversorgungsanlage in gutem Zustand zu sein scheint«, sagte Klippen-Netz. »Das erste, was getan werden muß, ist, die Energieleitungen des Fliegers mit der Steuerkonsole zu verbinden. Wenn wir Glück haben, finden wir einige Leistungseinheiten, die von den Sicherheitsmonitoren abgeschaltet worden sind, bevor sie durch das Sternbeben beschädigt wurden. Laßt mich wissen, was die Zustandstafel sagt, und was ihr vorhabt, bevor ihr irgend etwas einschaltet. Wir haben zwar hier oben keine Bodenenergieexperten, aber unsere Raumschiffantriebs-Techniker haben vielleicht trotzdem ein paar Vorschläge zu machen.« Es dauerte fast den ganzen Rest der Umdrehung, bis der Flieger in die Kraftwerkanlage hineinmanövriert und die Steuerkonsolen aktiviert worden waren. Ein paar blinkende, leuchtend blauheiße Lichter zeigten ein Versagen der Einheiten an, aber die meisten Anzeigen auf der Tafel glühten unter dem Wort BEREIT in einem kühlen Rot. »Die Druckangaben von vier Energieschächten liegen über dem Minimum«, berichtete Coulomb-Kraft. »Die anderen stehen auf Null. Es muß sich hier um Sprünge in der Hülle handeln, denn die Druckverschlüsse weisen keine Risse auf. Ich werde jetzt Schacht Nummer 2 aktivieren, den Fluß durch den Verteiler zu Generator-Motor Nummer 2 leiten und sehen, was passiert.« Es gab keinerlei Einwände von oben, daher drückte Cou216 lorrtb-Kraft den AKTIVIERUNGS-Knopf auf der Konsole, und der Verschluß von Energieschacht 2 öffnete sich und ließ eine neutronenreiche, unter Hochdruck stehende Flüssigkeit aus der Tiefe von Ei zum Verteiler fließen. Die Ventile hielten, und die Druckanzeige des Verteilers stieg. Dann betätigte er einen weiteren Knopf, und der Fluß strömte in den Generator-Motor. Ein tiefes Rumpeln ließ die Kruste erzittern und stieg dann zu einem gleichmäßigen Summen an. »Wir haben Energie!« jubelte Coulomb-Kraft. »Wir sind auf dem Weg!« Be-Be gab die gute Nachricht durch die Sprechverbindung nach oben durch, dann schaltete sie die Energieleitungen, die die Konsole mit dem Flieger verbanden, so um, daß die Akkumulatoren sich nicht mehr ent- sondern aufluden. Zwei weitere Beutel perlenden Weißfelsstädters und eine freundliche Balgerei zu dritt in dem gepolsterten, aber beengten hinteren Abteil des Fliegers hatte sie alle erschöpft. Eine volle Umdrehung verging, bis sie das Kraftwerk verließen, wobei der Flieger den Energieleitungen des Kraftwerks folgte, die zur Gravitationspultanlage ein paar Meter weiter führten. »Das Katapult scheint mir in Ordnung zu sein«, meinte Newton-Einstein, während der Flieger nach oben stieg und über dem gigantischen Ringkörper kreiste, der halb in der Kruste vergraben war. »Würde es nicht seine extrem verdichtete Flüssigkeit in den Röhren verlieren, wenn die Energiezufuhr versagt?« wollte Coulomb-Kraft wissen. »Nein«, versetzte Newton-Einstein. »Die Flüssigkeit besteht aus wirklich Mono-Polstabilisiertem SchwarzlochStaub. Er ist extrem magnetisch, und die Röhren sind eigentlich Hochtemperatur-Supraleiter. Selbst ohne Energie halten sie den Schwarzloch-Staub in ihrem Innern.« Sie landeten außerhalb der Steueranlage des Katapults und glitten hinein. »Wir haben Glück!« Coulomb-Kraft blickte auf das glü217 hende Licht über einem großen Unterbrecher in der Ecke. »Die Leitungen vom Kraftwerk sind intakt, und wir haben Energie! Laßt uns die Konsole aktivieren und den Zustand des Katapults in Erfahrung bringen.« Er legte den Kippschalter des Unterbrechers um, und die Lichter der Konsole gingen an. Bis auf ein einzelnes blaues Blinklicht, das eine Fehlfunktion anzeigte, wies die Tafel nur ein gleichmäßiges Dunkelrot auf. Newton-Einstein glitt an die Konsole heran, und der Wellenrhythmus seiner Augenstiele kam zum Stillstand, als er die eingravierte Inschrift über dem blau-heißen Licht ablas. Besorgt glitt Be-Be neben ihn. »Was ist los?« fragte sie. »Hier gibt es ein Leck; der extrem verdichtete Staub hat sich verflüchtigt.« Sie schoben sich an der Außenseite des Katapults entlang, bis sie das Leck gefunden hatten. Dort war ein kleines trichterförmiges Loch in der Kruste, dicht an der Basis des Fundaments, wo der Strahl des Schwarzlochstaubes sich in Ei hineingefressen und ein Stück der Kruste mit in die Tiefe gerissen hatte. »Das Katapult muß in Betrieb gewesen sein, als das Sternbeben zuschlug«, vermutete Newton-Einstein. »Der Staub hat den Ringkörper mit Höchstgeschwindigkeit durchlaufen und ist auf einmal im Ganzen aus dem Loch
geschossen. Wenn es nicht in Betrieb gewesen wäre, dann hätten wir nur einen gefüllten Ring verloren. Wir hätten das Leck zustopfen können und das Katapult immer noch mit dem Rest betreiben können.« »Na ja, wir haben ja noch drei weitere Katapulte hier am Westpol«, meinte Be-Be. »Schauen wir uns die doch einmal an.« »Ich hoffe nur, daß ihre Kraftwerke arbeiten«, bemerkte Coulomb-Kraft. »Ich glaube nicht, daß wir uns darauf verlassen können, daß die Energie-Verbindungsleitungen über derartig lange Strecken noch in Ordnung sind.« Sie machten sich nicht einmal die Mühe, am nächsten 218 Gravitationskatapult anzuhalten. Ein breiter Riß in der Kruste hatte den mächtigen Ringkörper in zwei Halbkreise zerteilt. Zwei Umdrehungen später berichtete Newton-Einstein zur Westpol-Raumstation hinauf: »Keins der Grayitationskatapulte am Westpol ist einsatzbereit. Wir werden es am Ostpol versuchen müssen.« Es war dann Be-Be, die vom Ostpol aus Bericht erstattete. Coulomb-Kraft und Newton-Einstein waren zu entmutigt. »Wie wir schon vermutet hatten, sind die Maschinen hier sogar noch stärker zerstört. Nicht ein einziger Energieschacht steht noch unter Druck. Wir werden jetzt einfach lernen müssen, wie man Mono-Polstabilisierten Schwarzloch-Staub herstellt, und das Gravitationskatapult am Westpol wieder aufladen, nachdem wir das Leck zugestopft haben. Wir werden dafür wohl ungefähr fünf Groß brauchen, da ihr uns ganz genau diktieren müßt, was wir zu tun haben; aber wir werden uns dranhalten.« Die drei warteten geduldig auf die Antwort. Sie kam von Klippen-Netz, der jetzt wieder in der OstpolRaumstation war. »Ich fürchte, daß ihr ein wenig länger brauchen werdet als ein paar Groß. Niemand arbeitet heute noch mit Mono-pol-stabilisiertem Schwarzlochstaub. Seit über zwei Dutzend Generationen ist so etwas nicht mehr produziert worden. Wir besitzen hier oben keinerlei Information darüber, denn dieses Material ist bereits als überholt eingestuft worden. Da bei euch unten die Bibliotheksaufzeichnungen gelöscht worden sind, müssen wir zusehen, daß die Menschen uns so viele Informationen wie möglich übersenden, und das wird etliche Minuten dauern, vielleicht sogar eine ganze Stunde. Und dann wird das nur eine sehr allgemeine Information sein. Sämtliche Techniker werden mit mir gemeinsam die Angaben erweitern und genaue Anweisungen ausarbeiten müssen, wie man die Maschinen baut, die den Schwarzloch-Staub produzieren und stabilisieren, sie hier oben in Prototypen testen und die Information dann zu euch hinunterdiktieren. All das wird beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen. Be-Be ignorierte die niedergeschlagenen Blicke von Cou219 lomb-Kraft und Newton-Einstein und versuchte einen fröhlichen Triller in ihre Antwort zu legen. »Dann macht ihr euch besser an die Arbeit und sprecht mit den Menschen. Sie brauchen doch für alles immer eine Ewigkeit. Und wenn ihr schon dabei seid, fragt sie, ob sie euch eine Geschichtskapsel schicken können, auf der das beschrieben ist, was sie das >Dunkle Zeitalter< nennen. Wenn ich lerne, wie ihre Gelehrten in einer Umgebung von Barbarei und Ignoranz vereinzelte Inseln des Wissens aufbauten, kann ich vielleicht mit Hilfe dieser Informationen die Situation hier unten meistern. Außerdem, kennt irgend jemand bei euch oben ein paar Zaubertricks?« Sie kehrten zum Labyrinth in Paradies des Glänzenden zurück. Langsam tröpfelte die Information aus den Speicherkristallen in der Konsole der Menschen zur Ostpol-Raumstation hinüber, wo sie untersucht, getestet und dann auf die Oberfläche von Ei weitergeleitet wurde. Als Coulomb-Kraft starb, war es ihm bis dahin gelungen, ein paar zusätzliche FreiraumKommunikationsanlagen zu bauen. Junge Schriftführer, die aufgrund ihrer sauberen Schrift für diese ehrenvolle Aufgabe ausgewählt worden waren, kopierten die Informationen aus dem All, und die Betriebsanleitungen und Textbücher wurden wiederum zu anderen Fachleuten weitergeleitet, die versuchten, mit ihrem behelfsmäßigen Werkzeug und den unzureichenden Rohstoffen die beschriebenen Maschinen zu bauen und zu betreiben. Dazwischen gab es lange Zeitabschnitte, in denen keine Informationen diktiert wurden, daher wurden viele der Rollen von den gelangweilten Schriftführern mit kunstvollen, fluoreszierenden Illustrationen und technischen Diagrammen an den Rändern versehen. Be-Be verbrachte die meiste Zeit in ihrem Flieger, sammelte Nahrung und rekrutierte Freiwillige. In den Clans ringsum wurde sie verehrt als die strahlende Göttin der Jugend und der Weisheit, die Mutter von Ei. Sie konnte 220 durch den Himmel fliegen und mit den Sternen sprechen. cje war ewig schön und unsterblich. Be-Be tauchte bei jeder Clansiedlung auf, wobei sie in ihrem Flieger hoch droben am Himmel schwebte und so lange kreiste, bis jedes einzelne Mitglied des Clans sie einmal gesehen hatte. Dann sank sie bis dicht an die Oberfläche herab und ließ den Flieger neben einem großen, rechteckigen Steinaltar schweben, der von dem Clan errichtet worden war und auf dem sich die Opfergaben in Form von Lebensmitteln türmten. Während ihre Gehilfen die Gaben auf der einen Seite in dem Flieger verstauten, glitt die Göttin der Jugend und der Weisheit auf einer nahezu unsichtbaren Kristallplattform auf der anderen Seite heraus. Sie schien im Raum zu schweben, während über ihr die strahlend bunten Lichtspuren flackerten, die von den kompakten Ionengeneratoren in einer Falte auf ihrer Oberseite erzeugt wurden. Be-Be erkundigte sich stets nach den Jungen und den Junglingen und materialisierte dann wie aus dem Nichts
Geschenke für die Kleinen. Es gab pädagogisches Spielzeug, besondere Leckereien (mit wichtigen Spurenelementen), und Anfängerrollen zum Lesen. Wenn die Junglinge alt genug waren, wurden sie zu einem Flug mit dem Flieger bis zurück in den Labyrinthtempel von Paradies des Glänzenden eingeladen und dort geprüft. Nur wenige bestanden den Test und durften bleiben. Die anderen kehrten zu ihren Clans zurück, zutiefst beeindruckt von dem, was sie gesehen hatten. Alle drei Dutzend Umdrehungen zog sich Be-Be für ein halbes Groß in einen besonderen Raum im geheiligten Mittelpunkt des Labyrinths zurück und kehrte mit neugewonnener Jugend wieder. Zeit: 08:26:37 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Die letzten drei Aufklärungsschiffe kamen gemeinsam aus den Tiefen des Raumes zurück, und FernAufklärerin 221 erstattete dem Raumrat Bericht. »Wir fanden sie beinahe im Mittelpunkt. Zahllose Neutronensterne, sogar einige, auf denen es Leben gab. Aber nirgends war man über das Stadium der Barbarei hinaus. Das Leben auf einem typischen Neutronenstern ist zu leicht. Ohne Konkurrenz gibt es eben auch keine Notwendigkeit für die Entwicklung von Intelligenz. Ich glaube, wir müssen den Menschen danken, daß sie vor so langer Zeit unsere Neugier geweckt haben.« »Wie läuft's auf Ei?« Stahl-Schneider blickte fragend auf Hohmann-Transfer. »Furchtbar«, sagte sie. »Seit dem Sternbeben ist nun eine volle Menschenstunde vergangen, und es wird alles nur immer schlimmer. Ich habe genug davon. Ich habe genug davon, Entscheidungen treffen zu müssen. Ich habe genug davon, immer wieder zu kämpfen, um die Dinge vorwärtszutreiben. Ich habe genug vom Leben.« »Vielleicht sollten Sie sich früher verjüngen«, schlug Admiral Stahl-Schneider vor. »Nein, ich habe auch genug von den Verjüngungen. Sie können meine haben. Ich gebe auf, übernehmen Sie das Ganze. Ich werde Eier hüten gehen.« Sie zog die zwölfzackigen Sterne aus ihrer Hülle, übergab sie an StahlSchneider und schob sich davon auf die Hauptversammlungsanlage zu, die jetzt Eiergehege und Hortschule war. Zeit: 09:31:11 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Nachdem er Generationen hindurch in Gebrauch gewesen war, gab der alte Flieger den Geist auf, trotz aller Anstrengungen der Ingenieure im All und auf dem Boden, ihn wieder in Gang zu bringen. Jetzt mußten die Clans ihre Lebensmittelgaben zum Labyrinth-Tempel bringen. Aber es gab j etzt auch viel mehr Clans und etliche blieben in der Nähe des Tempels, wo sie Lebensmittel gegen arbeitssparende Maschinen eintauschten. Die Clans, die am weitesten entfernt waren, gerieten in Vergessenheit, entglitten dem Ein222 fluß der Göttin der Jugend und der Weisheit und kehrten in die Barbarei zurück. Bei bestimmten Gelegenheiten stieg Be-Be immer noch zum Himmel auf, aber jetzt wurde sie von Gravitationsrückstoßfeldern über dem Labyrhinth-Tempel in der Schwebe gehalten, die von dem kleinen Katapult-Prototyp erzeugt wurden, den ihre Gehilfen gebaut hatten. Er arbeitete allerdings nur mit dichter Nukkleonenflüssigkeit, denn die Herstellung von Mono-Pol-stabilisiertem Schwarzloch-Staub hatte sich als zu schwierig erwiesen. Die Umdrehungen vergingen. 223 Barbar Zeit: 10:10:11 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Er kam aus dem Norden und unterwarf alles, was ihm in den Weg geriet. Seih Name war Grausame Augen, der Schreckliche, und er ritt auf dem Rücken eines riesigen Schnells. Er war klein, aber sein drahtiger, stark gefleckter Körper war den Kriegern seiner Armee mehr als ebenbürtig, denn sie fürchteten den grausamen Blick seiner zwölf rosa Augen mehr als sein Peitschen-Schwert. Als zwei Umdrehungen altes Junges, kaum fähig zu sprechen, war er auf den Nordhängen des Exodus-Vulkans von den Ältesten ausgesetzt worden, denn sein Clan litt Hunger. Ohne ein einziges scharf sehendes, »gewöhnliches« Auge war der stark gefleckte Cheela für die Arbeit in den Feldern nicht zu gebrauchen. Das hungrige Junge entdeckte das Nest eines Schnellpärchens, bevor die Schnells ihn entdeckten. Als sie zurückkamen, saß er satt bis zum Platzen zwischen den verstreuten Überresten ihrer Eier. Von den Schnells als einer der ihren aufgezogen, nahm er schon bald an den Überfällen auf die Herden der Clans ringsum teil. Viele Umdrehungen später, er war jetzt bereits ein Jungling, ritt er auf dem Rücken einer seiner Nestbrüder zur Wohnstätte seines alten Clans und ließ das Peitschen-Schwert knallen, das er selbst erfunden hatte, indem er die scharfen Splitter des Drachenkristalls zu einer langen Schnur verwobener Fasern verband. Unerreichbar an seinem Platz, hoch oben über dem gierigen fünfzahnigen Maul seines Reittieres, war er auch unbesiegbar. Er schnitt den Anführer in Streifen, verfütterte ihn an sein Reittier und übernahm den Clan. Bis zu diesem Zeitpunkt war er namenlos gewesen. Doch aus dem angstvollen Flüstern ringsum, während er durch die Anlage ritt, hörte er immer 225 wieder zwei Worte heraus, und das wurde der Name, den er sich selbst gab: Grausame Augen. Drei Dutzend Umdrehungen später war Grausame Augen durch und durch satt. Seine Eßfalten waren mit Nahrung gesättigt; sein Gehirnknoten war mit Geschichten gesättigt, die er von den Alten erzwungen hatte; sein
Ich war mit Komplimenten schmeichlerischer Cheela gesättigt, die sich um die von ihm verschmähten Nahrungsbrocken balgten. Sein Hunger nach Macht war allerdings noch nicht gesättigt, denn er vergab der Rasse der Cheela niemals, daß sie ihn verstoßen hatte, weil er zu stark gefleckt war. Grausame Augen wählte sich drei Cheela aus dem Clan aus, die Gefleckten, die die meisten rosa Augen hatten, und brachte ihnen bei, wie man einen Schnell reitet. Es war für die Gefleckten leichter, denn mit ihren rosa Augen konnten sie schwächste Farbveränderungen in den Hüllen und Augen der Schnells wahrnehmen und so die Stimmungen der gefährlichen Tiere einschätzen. Grausame Augen ließ den Clan unter der Herrschaft seiner neuen Krieger zurück und nahm den Rest seiner kleinen Armee, um den nächsten Clan zu erobern. Die Strategie des Schrecklichen war einfach. Seine Armee umzingelte eine Clanstätte, dann ritten er und seine Leibwächter hinein in die Anlage. Er forderte den Anführer des Clans persönlich zum Zweikampf heraus. War der Anführer dumm genug, diese Herausforderung anzunehmen, so bekam der Schnell von Grausame Augen bald darauf frisches Fleisch. Die Armee blieb noch lange genug, um Nahrung für sich und ihre Reittiere aufzunehmen, den Clan zu entwaffnen und zu unterwerfen, einige Rekruten auszuwählen und auszubilden, um dann weiterzuziehen, wobei sie ein oder zwei Cheela aus ihren Reihen zurückließen, die den Clan unter ihrer Herrschaft hielten. Hin und wieder war es am Anfang vorgekommen, daß einige der Clans Widerstand leisteten, aber bevor Grausame Augen sie freiließ, wurden allen Widerstreitern, die die Schlacht überlebt hatten, elf ihrer Augen abgeschlagen, um als schreckliche Warnung für den nächsten Clan zu dienen. 226 Der Schreckliche, der jetzt an der Spitze einer kleinen umherstreifenden Armee stand, hatte sechs Hauptleute, von denen jeder ein Dutzend ausgewählter berittener Krieger führte. Sie wurden von einer wesentlich größeren Armee versorgt, die Lebensmittel und Nachschub bei den unterworfenen Clans aushob und die Beute in langen Trägerkolonnen vom West-, Nord- und Ostpol aus immer dorthin brachte, wo sich die Armee gerade aufhielt. Diese Linien liefen nun in den nördlichen Außenbezirken von Paradies des Glänzenden zusammen. »Wir kommen nach Paradies des Glänzenden, o Schrecklicher«, sagte Stürzender Stachel. »Der Heimat von BeBe, der Göttin der Jugend und der Weisheit. Sie lebt in einem Labyrinth-Tempel, der durch Magie geschützt wird. Es heißt, daß niemand außer ihr den Weg zum Mittelpunkt des Labyrinths finden kann.« »Sie ist auch kein größerer Gott als ich«, meinte Grausame Augen. »Aber man sagt, sie kann mit den Sternen sprechen und am Himmel fliegen. Man sagt außerdem, daß sie ewige Schönheit besitzt und unsterblich ist.« »Sie kann auch nicht mehr tun als die Alten, die vor dem großen Beben lebten«, versetzte Grausame Augen. »Gott oder nicht, ich wette, daß ihr die Lebenssäfte genauso herausquellen wie jedem anderen, wenn du einen deiner Stacheln auf sie schleuderst.« Sein Schnell brüllte auf und schnappte nach dem Schnell, der Stürzender Stachel trug. Beide mußten ihre Reittiere auf die empfindlichen Augen schlagen, bevor sie sie wieder beruhigt hatten. »Die Schnells werden langsam hungrig«, sagte sie. »Wir halten hier und töten einen Langsam-Gleiter, um sie zu füttern.« Grausame Augen glitt am Schwanz seines Reittieres herunter. Seine Sohle trommelte einen lauten Befehl in die Kruste. »Wo ist dieser Sklave, der den Perlwein trägt?« sagte er herrisch. »Ich bin durstig!« 227 »Der Schreckliche steht im Norden vor der Stadt«, berichtete der Bote. »Sie haben angehalten, um zu essen und ihre Reittiere zu füttern.« »Der Schreckliche«, überlegte Be-Be, die plötzlich sehr müde war. Der Verjüngungsroboter hatte ihr zugesetzt, sich einer erneuten Verjüngung zu unterziehen, aber sie hatte die Entscheidung immer wieder hinausgeschoben, als die Nachrichten über den Schrecklichen nicht abrissen. »Es scheint, daß die Geschichte auf Ei der Geschichte auf Erde folgt. Wir haben sogar unseren eigenen Attila. Nur daß es statt Attila dem Hunnen, der Geißel Gottes, Attila der Gefleckte, die Geißel des Glänzenden ist.« »Wir sollten lieber die Stadt verlassen«, meinte Lineare Feder, einer der Maschinenbau-Ingenieure. »Dem Schrecklichen kann niemand Widerstand leisten.« »Nein«, sagte Be-Be entschieden. »Wenn er auch nur ein wenig Attila dem Hunnen auf der Erde ähnelt, dann wird er nicht ruhen, bevor er ganz Ei erobert hat oder tot ist. Wenn wir flüchten, wird er uns bloß verfolgen. Wir werden bleiben und kämpfen.« »Aber er hat sechs Dutzend berittene Krieger bei sich und zahllose Dutzende in Reserve.« »Wir müssen bleiben und kämpfen.« Be-Be hob ein Stecheisen und einen langen Spieß auf. »Und er darf nicht gewinnen, denn wenn er das tut, dann bricht über Ei genauso sicher das Dunkle Zeitalter herein wie seinerzeit über die Erde.« Grausame Augen zog ohne auf Widerstand zu treffen durch die verlassene Stadt Paradies des Glänzenden. Er ließ seine Armee anhalten, als sie den Labyrinth-Tempel erreicht hatten. Er und Stürzender Stachel umritten die äußeren Mauern. Hoch oben in der Mauer befanden sich ein paar Fenster, aber sie waren verriegelt, und die Schiebeläden waren dicht geschlossen. Alle paar Millimeter entdeckten sie Bullaugen — einige in Höhe der Kruste und einige in Augenhöhe. Durch ein paar dieser Gucklöcher 228 erblickten sie kurz einen Augapfel, der sie beobachtete. Auf der Mauerkrone lief eine Metallspirale entlang, in
deren Schleifen gelegentlich ein Lichtblitz aufleuchtete. »Das müssen die >Magnetbarrieren< sein, von denen unsere neuen Sklaven berichtet haben«, meinte Stürzender Stachel. »Es ist merkwürdig, daß etwas, das nicht heiß und glühend ist, trotzdem verbrennen kann.« Grausame Augen gab seinem Schnell plötzlich einen Schlag und ritt direkt auf die Wand zwischen zwei Bullaugen zu, schnippte mit einem Tentakel gegen die Krone der Mauer und ritt wieder zurück. »Es brennt«, sagte er und lutschte an der Spitze seines Tentakels. »Da können wir nicht drüber.« Es gab einen großen Eingang zu dem Labyrinth-Tempel. Er war breit, und da er keine Tür und keinen Riegel besaß, sah er verdächtig aus. Von diesem Eingang zweigten vier enge Korridore ab, die kurz dahinter eine scharfe Kurve machten und sich im Labyrinth verloren. Sie waren zu eng, um einem Schnell den Durchgang zu ermöglichen. Grausame Augen versammelte seine Krieger. »Stürzender Stachel, du und deine Krieger, ihr steigt ab und haltet euch bereit. Drei von euch dringen in jeden Korridor ein. Bewaffnet euch mit kurzen Schwertern und Stecheisen für den Nahkampf. Der Rest führt die Schnells bis zur Mauer an jeder Seite des Eingangs und greift mit Spießen und Stacheln diese Gucklöcher an. Wenn die da drin nichts mehr sehen können, dann können sie auch nicht kämpfen.« Die mit Stecheisen bewaffnete Vorhut der Gefleckten Horde stellte sich in einer groben Linie auf, wobei immer ein scharfblickendes »gewöhnliches« Auge auf den Kommandanten gerichtet blieb. Er holte ein Paar biegsame Schwerter aus einer Falte und wirbelte sie kunstvoll umher. »Angriff!« brüllte er dann. Sie rückten vor, wobei die berittenen Krieger schon bald Stürzenden Stachel und das Dutzend ihrer Krieger auf ihren Sohlen überholten. Als die Schnells sich über offenes 229 Gelände bewegten, begannen sie plötzlich zu brüllen und nach dieser oder jener Seite auszubrechen, trotz aller Anstrengungen ihrer Herren, sie unter Kontrolle zu halten. An einem der Gucklöcher in der Mauer war ein Auge zu sehen. »Die Magnetbarrieren unter der Kruste drängen sie an der Feuerlinie zusammen«, berichtete Weber-Gauß an den Kontrollraum. »Laßt die Schreckenskreisel los.« Grausame Augen vernahm plötzlich hohe, spitze Schreie, die auf der ganzen Länge der äußeren Mauer des Labyrinths ertönten. Durch die Löcher in Krustenhöhe ergoß sich ein Strom von wirbelnden, kreischenden Objekten, die über die Kruste tanzten. Sie waren oben breit und verjüngten sich zu einem winzigen Punkt am unteren Ende. Durch irgendeinen Zauber konnten sie auf dem winzigen Punkt die Balance halten, anstatt umzukippen, wie man es erwartet hätte. Aus den wirbelnden Körpern der kreischenden Kreisel staken scharfe Messer hervor, die bei Kriegern und Schnells gleichermaßen tiefe Schnitte verursachten. Durch die hohen schrillen Schreie in Panik versetzt, bäumten sich die Schnells auf, und die Krieger flohen. Einer der Kreisel kam direkt auf Grausame Augen zu. Er wartete ab, bis er nahe genug heran war und versetzte ihm dann einen Schlag mit der Spitze seines Peitschen-Schwerts. Der jaulende Kreisel wechselte die Richtung und kurvte immer wieder um sein nervöses Reittier herum. Doch dann ritt Grausame Augen davon, um sich Stürzendem Stachel in den Weg zu stellen, die gerade die Flucht ergreifen wollte. »Ich hatte dir befohlen anzugreifen! Sieh mich an!« Stürzender Stachel blieb augenblicklich stehen, und alle ihre Augen richteten sich auf steifen Augenstielen empor. Grausame Augen bildete einen Zangenmanipulator, ritt an ihren nächsten Augapfel heran und zerquetschte ihn langsam. »Angriff«, sagte er dann. Stürzender Stachel sammelte ihre Krieger und führte sie 230 zurück zum Eingang des bedrohlichen Labyrinth-Tempels. Die Schnells weigerten sich, sich der Mauer zu nähern, und alle Krieger waren gezwungen, abzusteigen und das Stück durch offenes Gelände auf ihren Sohlen zurückzulegen. Es kamen noch weitere wirbelnde Kreisel aus der Mauer, aber der Überraschungseffekt war dahin. Die gefleckten Krieger setzten ihren Vormarsch weiter fort. Sie versuchten die Kreisel umzuwerfen, indem sie mit ihren Spießen und Schwertern nach ihnen stießen, aber die seltsam ziellose Jagd der Kreisel über die Kruste und ihr sturer Widerstand gegen jeden Versuch, sie umzuwerfen, führten zu zahlreichen schweren Verletzungen. Die verbliebenen Krieger kamen jedoch dicht genug an die Mauer heran, daß die meisten der Kreisel nun an ihnen vorbeisausten. »Die Schreckenskreisel haben sie in die Zielbereiche der Feuerröhre getrieben«, berichtete Weber-Gauß an den Kontrollraum. »Wellensperre bereit machen für die Bereiche eins bis acht.« Eine Reihe von Detonationen im Innern des Labyrinth-Tempels veranlaßte die vordringenden Krieger innezuhalten und sich nach allen Seiten umzusehen. Doch sie erkannten die Gefahr nicht und starben, als die schweren Gewichte vom Himmel fielen und sie von der Oberseite bis zur Sohle spalteten. Mit seinen biegsamen Schwertern zeigte Grausame Augen immer noch das »Angriff«-Signal, daher schoben sich die anderen weiter
vor. »Sie sind jetzt in Reichweite der Flammenwerfer«, gab Weber-Gauß durch. Violett-heiße Flammen schössen aus den Bullaugen in Augenhöhe hervor und leckten über die Kruste, wobei sie Pfützen von brennender Flüssigkeit und schreiende, versengte Krieger zurückließen. Einer der Krieger, der es geschafft hatte, die Mauer zwischen zwei Gucklöchern zu erreichen, ließ zwischen zwei Feuerstößen einen Schild über das Flammenloch gleiten. Der Flammenwerfer ging nach hinten los, und eine Explosion hinter der Mauer jagte brennende Fetzen und Stücke von Körpern durch die Luft. Der Gefleckte schob sich vor das Bullauge und stach wie231 derholt mit dem Ende des Spießes in das Loch, um zu verhindern, daß es neu besetzt wurde. Ein Flammenloch nach dem anderen fiel aus, als Bullauge auf Bullauge von einem Stück Krustenfelsen oder von einem Spieß blockiert wurde, der von einem versengten, zerschnittenen und wütenden gefleckten Krieger geführt wurde. Ein Sechstel der Krieger von Stürzender Stachel schaffte es bis zum Eingang. Sie schickte jeweils zwei in die drei Korridore, dann betrat sie allein den vierten. »Die Drucksensoren geben sieben Ziele an.« Mega-Bar überwachte über einen Monitor die Anzeigen auf der Labyrinthkarte im Kontrollraum an der Westmauer. »Es sind jeweils zwei in den Sachkorridoren und einer, der den Hauptweg durch das Labyrinth betreten hat.« »Laß sie über die ersten Fallen hinweg und aktiviere sie dann wieder hinter«, sagte Neutron-Gas. »Auf diese Art kriegen wir sie in jedem Fall, ob sie nun kommen oder gehen.« Stürzender Stachel tastete sich langsam durch den engen Korridor. Sie stach mit ihrem Stecheisen in jedes Bullauge, an dem sie vorüberkam und hielt sorgfältig Ausschau nach Fallen. Die Spitze ihres Kurzschwertes drang fest in die Kruste vor ihr ein, bevor sie ihre Sohle daraufsetzte. Als sie den gestreiften Abschnitt des Korridors erreichte, war sie besonders vorsichtig. Sie klopfte den Boden und die Wände mit ihrem Schwert ab und schob ihren Schild vor sich her, den sie mit dem Vorderende ihrer Sohle auf den Boden drückte. Nichts geschah, und sie überquerte die Stelle. In der Ferne hörte sie ein Krachen und einen Schrei. Es klang wie Häßliche Narbe. Beinahe im selben Augenblick hörte sie eine scharfe Explosion und einen weiteren Schrei. Sie kam wieder an eine gestreifte Stelle und bewegte sich darüber hinweg, indem sie ihren Schild erneut unter ihre Sohle schob. Es gab eine heftige Explosion, und der zerbeulte Schild flog unter ihrer entsetzten Sohle empor. Der Schild fiel auf die Krone der Mauer nieder, rutschte durch die Magnetbarriere tiefer, bis er anfing zu glühen und zu 232 summen, und stürzte dann in den Korridor zurück, wo er sie beinahe getroffen hätte. Grausame Augen wartete ungeduldig darauf, daß Stürzender Stachel und ihre Krieger wieder zum Vorschein kämen. Schließlich tauchten sie dann auch wieder auf, einer nach dem anderen aus dem Eingang geschoben von einer kleinen Maschine, die genau zwischen die Wände des engen Korridors paßte. Drei waren von einer unbekannten Flamme verbrannt worden, die Löcher in ihre Körper gefressen hatte, und drei hatten tödliche Stichwunden, die von der Sohle bis zur Oberseite reichten. Die letzte, die herausgeschoben wurde, war Stürzender Stachel. Grausame Augen schickte nach den Metzgern, die ihren Körper bergen sollten, aber sie brachten sie zu ihm, denn trotz der großen auslaufenden Löcher in ihrem Körper war sie noch immer am Leben. Zwei Drittel ihres Körpers waren zwar durch die Verletzung ihres Gehirnknotens gelähmt, aber sie war noch in der Lage, mit dem Rest ihrer Sohle zu sprechen. »Sie haben Fallen, die sie an- und abstellen können. Ich habe eine überwunden, als ich hineinglitt. Sie hat mich auf dem Weg hinaus erwischt. Ich habe mich totgestellt. Sie stachen nur ein paar Mal durch ein Loch in der Wand nach mir, dann ließen sie mich in Ruhe. Es sind Schwächlinge, sie sind das Kämpfen nicht gewohnt. Ich wäre mit einem Schlag auf den Gehirnknoten sichergegangen.« Sie hielt ihm ihren verbeulten Schild entgegen. »Mein Schild durchschlug die >Magnetbarriere< und wurde nicht verbrannt. Vielleicht kann man mit vielen Schilden oder einem großen die Barriere überwinden, ohne verbrannt zu werden.« Grausame Augen probierte ihren Schild an den offenen Stellen außerhalb der Mauer aus. Er stellte fest, daß er die Sperre tatsächlich überwinden konnte, wenn es ihm gelang, seinen Körper auf dem Schild zusammenzukrümmen. Aber mit anderen Schilden hatte er keinen Erfolg. Sie 233 verhörten schließlich einen ihrer neuen Sklaven aus den hiesigen Clans und fanden heraus, daß man dafür ein spezielles Metall brauchte, das »Supraleiter« genannt wurde. Die Sklaven wurden nach Paradies des Glänzenden hinein geschickt, um Platten dieses »Supraleiters« zu beschaffen, aus denen dann Schilde hergestellt werden sollten. Das Umdrehungsmahl kam heran, und es wurde Zeit, die Krieger und die Reittiere zu versorgen. Es gab Unmengen von Fleisch für die Krieger, denn die Metzger waren nach der Schlacht sehr beschäftigt gewesen, doch die Schnells erhielten kein Cheelafleisch. Es war zu gut, um es an die Tiere zu verschwenden, und außerdem wäre es nicht gerade günstig gewesen, wenn sie herausgefunden hätten, wie schmackhaft ihre Reiter waren. Die Schnells wurden mit Langsam-Gleiter-Fleisch aus der Herde gefüttert, die < mit der Armee mitzog. Grausame Augen langweilte sich, daher beschloß er, den Langsam-Gleiter selbst zu erlegen, anstatt das den Metzgern zu überlassen. Einer der Metzger kletterte über das nachschleifende Ende des Tieres bis auf die
Oberseite hinauf und trieb den Langsam-Gleiter dann direkt auf seinen Anführer zu. Grausame Augen, der den Spieß senkrecht in die Höhe hielt, wartete, bis der Langsam-Gleiter sich schwerfällig auf ihn zubewegte. Es war ein mächtiges Tier, zweimal so hoch wie die Mauern um den Labyrinth-Tempel herum. Er beobachtete aufmerksam, wie sich die quadratischen Platten der Knochenpanzerung, von denen jede so groß wie ein Schild war, über die Oberseite des Tieres hinweg und wieder nach unten schoben. Er konzentrierte sich auf einen schwachen Punkt zwischen den rotierenden Platten, stürmte nach vorn, rammte den Spieß in den Schlitz, und wandte dann seine Sohle hastig rückwärts, um unter dem Tier fortzukommen, das von dem Spieß durchbohrt war und zerfloß. Grausame Augen überließ nun den Metzgern die Arbeit. Als er tief in Gedanken versunken davonglitt, bewegten sich seine Augenstiele in langsamem Wellenrhythmus. Statt sich seinen Kriegern anzuschließen, die sich ihre 234 gefallenen Kameraden schmecken ließen, schnappte er sich nur einen gerösteten Augenstiel von Stürzendem Stachel und lutschte an dem Augapfel, während er das Gelände durchquerte, in dem die Sklaven damit beschäftigt waren, supraleitende Schilde herzustellen. Doch plötzlich blieb er stehen und blickte angewidert auf den Augenstiel. Er hatte versehentlich den Stiel mit dem zerquetschten Augapfel gegriffen, und es war kein Saft ausgetreten, als er daran gesaugt hatte. Grausame Augen war in schlechter Stimmung, als er an den Sklavengehegen ankam. Er scheuchte den Sklaven, der mit der Waffenpflege betraut war, von seinem mageren Umdrehungsmahl auf. »Siehst du den großen Langsam-Gleiter da drüben?« fragte er ihn, und seine Augenstiele zeigten auf eine Herde, die in der Nähe weidete. »Das große Weibchen.« »Ja, o Schrecklicher«, antwortete der Sklave. »Statt Schilde aus dem >Supraleiter< -Metall zu machen, befehle ich dir, Metallrüstungen für die Knochenplatten dieses Langsam-Gleiters anzufertigen.« »Verlangt das nicht von mir, Schrecklicher«, flehte der Sklave. »Ein Langsam-Gleiter ist gefährlich, wenn er zornig ist, und er wird sicher zornig werden, wenn wir versuchen, ihm Platten anzunageln.« »Ich gebe dir drei Umdrehungen Zeit«, sagte Grausame Augen. »Danach kostet dich jede Umdrehung Verspätung ein Auge.« Er warf den unbefriedigenden Augenstiel auf die Kruste und kehrte zu dem Festmahl zurück, um sich ein anderes Stück zu holen. Der Sklave hob das verschmähte Stück auf, aber irgendwie schmeckte ihm der Augenstiel nicht so gut, wie er erwartet hatte. »Jetzt sind fünf Umdrehungen vergangen, und es tut sich immer noch nichts«, sagte Be-Be. »Die Krieger schleichen außerhalb der Reichweite unserer Schreckenskreisel um uns herum, hindern jeden daran, hinein- oder hinauszukommen^ aber sie greifen nicht an. Sie müssen etwas vor235 haben, aber was? Laßt mich mit der Gravitationsmaschine aufsteigen. Vielleicht kann ich etwas erkennen.« »Um die Maschine aktivieren zu können, müssen wir die Energiezufuhr der Verteidigungsanlagen umleiten«, meinte Weber-Gauß. »Aber wenn wir es kurz machen, I sollte das kein allzu großes Risiko darstellen.« Eine Doth-Umdrehung später wurden die gefleckten Krieger, die den Labyrinth-Tempel umrundeten, alarmiert aufgescheucht, als ein tiefes Summen in der Kruste ertönte, das sich kurz darauf zu einem Jaulen steigerte, und dann schwebte aus der Mitte des Tempels die Göttin der Jugend und der Weisheit empor. Sie stieg bis auf zehn Zentimeter Höhe und hielt dort an. Von den Außenbezirken von Paradies des Glänzenden her kam etwas auf sie zu, das wie ein riesiger Roboter aussah. Doch nein. Es war ein Langsam-Gleiter, der über und über mit Metall gepanzert war. Auf der Oberseite saß eine winzige gefleckte Gestalt. Dem gepanzerten Langsam-Gleiter folgte die Gefleckte Horde, die sich von ihren Verwundungen erholt hatte und wieder voll bei Kräften war. Be-Be fühlte, wie ihr Mut im selben Maße sank wie ihr Körper, als die Gravitationsmaschine sie wieder nach unten brachte. Grausame Augen verlor keine Zeit mit irgendwelchem - Vorgeplänkel. Entweder würde der Langsam-Gleiter ihm den Labyrinth-Tempel erobern, oder er würde versagen. Er ritt auf der Oberseite und rutschte in gleichem Maße nach hinten, wie sich die metallgedeckten Platten unter ihm nach vorne schoben. Seine beiden Leibwächter hielten den Langsam-Gleiter in Bewegung und lenkten ihn in die richtige Richtung, indem sie hin und wieder ihre Spieße zwischen die Panzerplatten bohrten. Sie überwanden die äußeren Magnetbarrieren mit Leichtigkeit, und die Kruste gab elektrische Schläge ab, als die Spiralen unter dem wachsenden magnetischen Druck versagten. Er wartete, bis seine Krieger die Flammenwerfer an diesem Abschnitt der Mauer zum Schweigen gebracht hatten, dann trieb er sein mächtiges metallgepanzertes Reittier nach vorn. Die wandernden Platten des Supraleiters, die 236 von dem massiven Gewicht des Langsam-Gleiters gestützt wurden, preßten sich gegen die extrem starke Magnet Barriere entlang der Krone der äußeren Mauer. Die Drahtspiralen summten, als die Barriere den Druck registrierte, dann war die Atmosphäre von Funken erfüllt, und die Spiralen brachen zusammen. Der gepanzerte Langsam-Gleiter, der den Stichen der winzigen Cheela ausweichen wollte, die auf seiner Oberseite ritten, schob sich über die äußere Mauer und ließ sie gegen die nächste Wand des Labyrinths fallen. Unaufhaltsam setzte der Langsam-Gleiter seinen Weg fort und glitt bis in einen geheimen Raum, der
normalerweise nur durch einen unter der Kruste gelegenen Tunnel zugänglich war. Es war einer der Kontrollräume für die Verteidigungsanlagen des äußeren Labyrinths. Die Speere der Leibwächter auf beiden Seiten von Grausame Augen nagelten die Helfer der Göttin an die Kruste. Dann schob sich der Langsam-Gleiter über die Körper hinweg und brach krachend durch eine weitere Wand, wobei er immer auf die Mitte des Labyrinths zuhielt. Eine Leibwächterin wurde von dem fallendes Gewicht erschlagen, das aus einer Röhre im Korridor, durch den sie nun hindurchglitten, nach oben gefeuert worden war. Das starke Seil, das mit dem Gewicht verbunden war, riß sie von der Oberseite des Langsam-Gleiters herunter. Sie fiel auf die Kruste und zerplatzte. Grausame Augen trieb den Langsam-Gleiter mit Stößen voran, um mit mehr Schwung die nächste Mauer anzugehen. Sie befanden sich nun in einem weiten Innenraum, in dem sie auf eine große Anzahl Gehilfen der Göttin trafen. Er konnte ihre Sohlen hastig sprechen hören, aber sie schienen nicht miteinander zu reden. Ein flackerndes Abbild eines seltsam aufgeblähten Cheela schwebte im Mittelpunkt eines magnetischen Fensters, das in den Boden eingelassen war. »Attila ist es gelungen, einen Langsam-Gleiter über die Mauern zu treiben. Er ist tief in das Labyrinth eingedrungen.« Der Sprecher blickte auf, als die Wand einstürzte. 237 »Attila ist hier! Wir sind verloren!« Er wollte hastig davoneilen, wurde aber festgeklemmt und zerdrückt, als die anderen alle gleichzeitig versuchten, durch den einzigen Ausgang des Kommunikationsraumes zu entkommen. Drei weitere Mauern fielen, und der Langsam-Gleiter hatte den Mittelpunkt der Anlage erreicht. Grausame Augen brachte ihn zum Stehen und blickte sich um. In der Mitte des Raumes standen kreuz und quer etliche Kisten, die mit schweren Rohren verbunden waren. Gegen eine Wand preßte sich der schönste weibliche Cheela, den Grausame Augen je gesehen hatte. Sie trug einen Spieß und etwas, das wie ein Stecheisen aussah, aber es war schwer für ihn, einen derartig kleinen Gegenstand eindeutig zu erkennen. »Du mußt Be-Be sein«, sagte Grausame Augen. »Die Cheela, die niemals stirbt.« Er steckte einen Stachel in eine besonders ausgebildete Wurf falte. »Wollen doch mal sehen, ob dein Zauber dich auch vor diesem Stachel schützen kann.« Das Geschoß sauste durch die Luft und bohrte sich direkt vor Be-Be tief in die Kruste. Er wollte seine Falte gerade erneut laden, als sie nach vorn stürmte und ihn mit ihrem Spieß angriff. Er fegte seinen Leibwächter aus dem Weg, wirbelte sein Peitschen-Schwert nach vorn und kappte damit das Ende des Spießes. Der Rückknall schnitt eine lange Wunde in Be-Bes Oberseite. Sie bemerkte es nicht. Als ihr Spieß verloren war, zog sich Be-Be hinter das Durcheinander der Rohre und Ventile zurück, die das zentrale Energieverteilungssystem für den Labyrinthkomplex bildeten. Der Generator selbst war in dem alten Laboratorium von Null-Gauß unter der Kruste versteckt. Sie versuchte Attila aufzustacheln, seinen nahezu unerreichbaren Sitz aufzugeben. »Und du bist Attila der Gefleckte«, meinte sie. »Ich habe gehört, man nennt dich >Grausame AugenSchwache Augen< würde wohl besser passen, wenn du derartig große Ziele verfehlst.« Sie ließ ihre unteren Augenlappen in seine 238 Richtung flattern. »Komm doch und hol mich, mein kleines geflecktes Kind.« Die Beleidigung, ein >Kind< genannt worden zu sein, verleitete Grausame Augen beinahe zur Unvorsichtigkeit, aber er beherrschte sich. Das Peitschen-Schwert knallte, und er trieb den Langsam-Gleiterr voran, mitten hinein in das Durcheinander der Röhren und Kisten. Be-Be wich zurück. Der Langsam-Gleiter schob sich auf eine Kiste hinauf. Das große Ventil im Innern gab nach und mächtige Energieströme brannten sich durch den riesigen Körper. Der Langsam-Gleiter starb und zerfloß, wobei er noch weitere Energieverbindungen zerstörte. Die automatische Verteidigung des Labyrinth-Tempels brach zusammen, und die Gefleckte Horde stürmte herein. Be-Be wurde von dem zerfließenden Körper des Langsam-Gleiters an die Wand gequetscht. Grausame Augen glitt von dem sterbenden Tier herunter und näherte sich Be-Be. Plötzlich wurde ein Stück der Wand beiseite geschoben, und ein kuppelförmiges Metallobjekt tauchte auf, das sich bewegte und zu leben schien. »Sie sind bereit, sich der Verjüngung zu unterziehen?« fragte der Roboter. »Nein!« schrie Be-Be, deren Sohle von dem erdrückenden Körper des Langsam-Gleiters gedämpft wurde. »Sprich nicht mit ihm! Neuprogrammierung! Stop! Leitungen deaktivieren!« »Ich kann diesem Befehl nicht gehorchen«, erwiderte der Roboter. »Ich muß die Verjüngungsmaschinen in Betrieb halten.« Be-Be antwortete nicht mehr. Der Roboter schob sich zu ihr hinüber und untersuchte ihren Körper mit seinen Sensoren. »Sie ist tot. Sie hat zu lange mit der Verjüngung gewartet.« Der Roboter wandte sich an Grausame Augen. Er fuhr um ihn herum, und seine Sensoren arbeiteten. »Sie befinden sich in ausgezeichnetem Zustand, was Ihr Muskelgewebe angeht«, bemerkte er. »Hätten Sie gern einen neuen, jungen Körper?« 239 »Ja!« Grausame Augen konnte seinen Blick nicht von dem laufenden, magischen Metalldom abwenden. »Zunächst müssen wir die Unterlagen für das Verjüngungskomitee der Vereinigten Clans vorbereiten.« Der
Roboter zog aus einem Fach eine Rolle heraus. »Name?« Grausame Augen überlegte einen Augenblick. Ein neuer Körper verdiente einen neuen Namen. Einen Namen, wie es keinen zweiten gab. »Attila«, verkündete er stolz. Zeit: 10:13:14 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Direkt über der Stätte, an der der Raumrat zusammentrat, hing der leuchtende Globus von Ei. Doch das Glühen des Eis war jetzt ohne Wärme. »Wir haben eine gute Freundin, eine große Lehrerein und Ingenieurin verloren«, sagte Klippen-Netz. »Und unseren einzigen Kontakt zur Oberfläche«, fügte Admiral Stahl-Schneider hinzu. »Es sieht so aus, als hingen wir hier oben fest, bis Attilas Herrschaft gebrochen ist. Wenn es doch bloß eine Möglichkeit gäbe, ihn zu töten, indem wir zum Beispiel etwas auf ihn herabwerfen würden.« »Wir könnten mit Leichtigkeit ein Projektil von unserem Orbit aus abschießen«, meinte Klippen-Netz, »aber wenn dieses Projektil eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht hätte, dann würde es von dem Magnetfeld des Eis zu einer Plasmawolke auseinandergezogen, die sich bereits aufgelöst hätte, bevor sie die Oberfläche erreichen könnte. Um eine Wirkung zu erzielen, müßten wir eine große Masse aus dem Orbit werfen. Eine solche Masse haben wir jedoch nicht, und wir verfügen auch nicht über die Energie, um sie aus der Umlaufbahn zu schleudern. Ganz zu schweigen, daß wir ganze Clans unschuldiger Sklaven töten würden, um bloß eine einzige Person zu erwischen.« »Es wird sehr sehr lange dauern, bis die Zivilisation wie240 der an einem Punkt angelangt ist, an dem sie uns herunterbringen können«, sagte Stahl-Schneider resigniert. »Wir müssen uns wohl einen Weg einfallen lassen, wie wir ohne ihre Hilfe hinunterkommen«, meinte KlippenNetz. »Das wird schwer werden«, Stahl-Schneider war nicht zu überzeugen. »Keins unserer Raumfahrzeuge ist dafür gebaut worden, auf der Oberfläche zu landen. Gibt es eine Möglichkeit, irgendeine Art von atmosphärischer oder magnetischer Zugbremse einzusetzen?« »Ei hat nicht genug Atmosphäre, um uns in dieser Hinsicht behilflich zu sein«, erwiderte Klippen-Netz. »Ich könnte eine magnetische Zugbremse entwickeln, wenn ich dazu ein Metall mit der passenden Leitfähigkeit benutzen würde; aber anders als bei atmosphärischen Bremsen würde die kinetische Energie im Innern der Metallbremsen in Wärme verwandelt werden. Bei hohem Bremsniveau würde die Bremse schmelzen. Bei niedrigem Bremsniveau hätten wir das Problem der Schwerkrafterzeugung für die Mannschaft. Außerdem läßt die Wirksamkeit der magnetischen Bremsen bei niedrigeren Geschwindigkeiten nach. In diesem Fall würde zwar ein Teil der Energie aus dem Fahrzeug abgezogen, aber es wäre immer noch zu schnell für eine Landung.« »Wie wäre es, wenn man für die letzten Phasen eine Art Schubkraft hinzufügen würde?« wollte Stahl-Schneider wissen. »Die Trägheitsmotoren auf den Aufklärungsschiffen sind zwar energieeffizient, aber ihr Schubgewicht ist so niedrig, daß wir es nicht für eine Landung einsetzen können«, erwiderte Klippen-Netz. »Es wäre denkbar, daß man eins der Sprungschiffe umbauen und dann altmodische Antimaterie-Raketen für den Ladevorgang einsetzen könnte. Aber selbst wenn wir so viele Tonnen von Antimaterie herstellen könnten, wie benötigt würden, um den Treibstoff aufzuheizen, so würden uns dann die Hunderte von Tonnen Treibstoff fehlen, die wir brauchten, um ein Sprungschiff 241 mit seinen schweren Gravitationsgeneratoren zu landen. Wir haben zuwenig Masse.« »Dann müssen wir diese Masse eben irgendwo auftreiben. Macht es denn schon etwas aus, wenn wir eine unserer Raumstationen opfern?« »Ich arbeite gerade an einer anderen Idee. Wir könnten eine der Kompensatormassen um das menschliche Raumschiff herum nehmen. Sie würden auch mit nur vier Massen auskommen. Ich habe eine vage Vorstellung, wie man eine dieser Massen als >erste Haltestelle< für unser Landefahrzeug einsetzen könnte. Wir können die Energie, die wir benötigen, auf dieser Masse lagern, so daß wir sie nicht auf dem Landefahrzeug mitführen müßten, und sie im Bedarfsfall durch eine Art Katapult überleiten.« »Denken Sie an ein Katapult nach Art der Sprungschleife?« fragte Stahl-Schneider. »Sie sind zu lang für eine derartige Masse«, meinte Klippen-Netz. »Ich dachte eher an ein großes Gravitationskatapult, das sich auf der Masse selbst befindet. Wir würden sie dann irgendwie in eine elliptische Umlaufbahn um Ei bringen, die sie beinahe direkt bis hinunter auf die Oberfläche führt. Genau an der Periapsis würde das Landefahrzeug dann in entgegengesetzter Richtung zur Orbitalflugbahn das Gravitationskatapult verlassen und ein paar Meter über der Oberfläche in der Schwebe gehalten werden.« »Dann wäre es von dort aus eine einfache Landung!« meinte Stahl-Schneider. »Wir könnten eine Mannschaft von Ingenieuren absetzen und dann unser eigenes Gravitationskatapult bauen, so daß der Rest unserer Leute auch hinuntergelangen könnte.« »Ich hatte gehofft, damit zwei Beeren von einem Einzelbeerenbusch zu holen«, sagte Klippen-Netz. »Ich denke, wir könnten unser Landefahrzeug so gestalten, daß es gleichzeitig als Gravitationskatapult dient. Das würde uns viel Zeit sparen.«
»Sie können doch nicht mit einem Gravitationskatapult fliegen! Ein Gravitationskatapult erzeugt doch nur Schwerkraft, wenn die extrem dichten Massenströme verstärkt 242 werden. Wie wollen Sie die Pumpen steuern? Mit einer langen Energieleitung zur Masse zurück?« »Man erhält ebenfalls Gravitationskräfte, wenn die Massenströme abnehmen«, erklärte Klippen-Netz. »Aber man sollte sich wirklich keine Gedanken über die Veränderung der Massenströme machen. Was tatsächlich ausschlaggebend für die Erzeugung eines Schwerkraftfeldes ist, ist die Zu- oder Abnahme des gravitomagnetischen Feldes innerhalb des Ringkörpers. Ich glaube, wir könnten ein Gravitationskatapult entwerfen und bauen, das keine Energie von außen benötigt, um zu arbeiten. Es würde Veränderungen in den Feldern aufweisen, ohne die Geschwindigkeit der Massenströme zu verändern, sondern bloß ihre Richtung. Das hört sich eigentlich ganz nach einem guten Thema für mein Gravitationstechnikseminar an.« Er zog sich zurück, um seine Klasse aufzusuchen. Zeit: 10:13:26 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 »Jetzt wird es mal wieder Zeit für den Mannschaftsbericht, Leute«, sagte Klippen-Netz. »Wie geht die Planung des Landefahrzeugs voran? Wer ist Mannschaftsleiter für das Landefahrzeug?« Einer der Studenten im Hintergrund meldete sich. »Die Grundplanung ist abgeschlossen. Wir werden zwei lange, dünne Mehrkanalröhren haben, die sich in zahlreichen Schichten um den Ringkörper herumwinden, um das Innenfeld unbeschleunigt zu halten. Eine der Röhren des Landefahrzeugs wird beim Start leer sein, und eine zweite ist mit Hochgeschwindigkeits-Schwarzloch-Staub geladen, der ein gravitomagnetisches Feld erzeugt, welcher mit maximaler Stärke gegen den Uhrzeigersinn läuft. Wenn wir die Gravitationsrückstoßkraft brauchen, benutzen wir ein Verteilerventil, um einen Teil der Massenströme aus der ersten Röhre in die zweite zu bekommen, wo sie dann aber in die andere Richtung laufen. Der rückwärts gerichtete 243 Strom wird einen Teil des Gravitomagnetfeldes im Innern vernichten, was gleichbedeutend damit ist, seine Gesamtstärke zu senken. Das abgeschwächte gravitomagnetische Feld wird zu einem Rückstoßfeld, das das Landefahrzeug über Ei in der Schwebe hält.« »Wie lang ist die Schwebezeit?« fragte Klippen-Netz. »Bis jetzt nur drei Meth-Umdrehungen«, sagte der Führer der Landemannschaft. »Aber da wir mittlerweile ein Grundschema haben, gehen wir das Ganze jetzt noch einmal von vorne durch und verringern das Gewicht. Unser Ziel ist eine Schwebezeit von sechs Meth-Umdrehungen, bei der uns dann beinahe eine Greth-Umdrehung für die Landung an sich bleiben würde.« »Macht weiter so«, lobte Klippen-Netz. »Katapult-Team?« »Unsere Arbeit war einfach«, berichtete ein anderer Student. »Das Katapult ist im großen und ganzen genauso aufgebaut wie die Gravitationskatapulte auf Ei, nur größer. Die schwerste Aufgabe lag darin, das Gravitationsrückstoßfeld im Mittelpunkt so unbeschleunigt wie möglich hinzukriegen, um die Belastungen, denen das Landefahrzeug während des Abstoßens ausgesetzt sein wird, so gering wie möglich zu halten. Dennoch ist es uns schrecklich groß geraten, zwanzig Zentimeter. Ich glaube nicht, daß wir in der Lage sein werden, es auf eine der Kompensatormassen der Menschen zu schaffen. Wir werden die größere Deorbitermasse brauchen. Ich glaube, die Menschen nennen sie >OtisPlanetenstürmerJa< zu sagen, wenn die Chancen besser stünden«, sagte Jean. »Acht Prozent sind keine besonders guten Aussichten.« »Acht und ein Drittel Prozent«, korrigierte Seiko. »Wir müssen außerdem die Anzahl der intelligenten
Lebensformen berücksichtigen, die davon betroffen sind. Indem wir unsere fünf Leben riskieren, verhindern wir den Tod einer ganzen intelligenten Zivilisation.« »Ich mag bloß die Art nicht, wie wir abtreten würden«, sagte Abdul. »Verhungern ist nicht gerade meine Vorstellung von Spaß. Ich hätte es lieber schnell hinter mir.« Cesar meldete sich. »Ich möchte jeden daran erinnern, daß gerade vor drei Stunden jeder von uns einen raschen Tod gefunden hätte — wären da nicht die Anstrengungen der beiden Cheela gewesen, Admiral Stahl-Schneider und Ingenieur Klippen-Netz, die jetzt unsere Hilfe erbitten.« 248 Pierre wartete auf weitere Meldungen. Es erfolgten keine mehr, und so gab er leere Zettel aus. »Schreibt >JaNeinJa< - Stimmen und ein >NeinAdler< heißen«, erklärte Stahl-Schneider. »Wenn Sie es sagen«, meinte Klippen-Netz. »Gibt es noch etwas, was wir tun sollten?« »Ich glaube schon. Wenn wir erst einmal auf Ei gelandet sind, dann gibt es für uns keine Möglichkeit mehr davon wegzukommen, bis wir die Zivilisation wieder aufgebaut haben. Wir verfügen nur über eine begrenzte Masse und dürfen bloß die Dinge mitnehmen, die wir unbedingt brauchen. Wenn wir irgend etwas vergessen sollten, dann gibt 258 es kein Zurück mehr. Können Sie mir sagen, wie die optimale Zusammenstallung von ausgebildeten Technologen und Ausrüstungsgegenständen aussieht, die Sie brauchen, um eine Zivilisation aufzubauen?« »Das weiß ich nicht«, sagte Stahl-Schneider. »Ich auch nicht. Aber in 122 Umdrehungen sollten wir es besser wissen.« Die Umdrehungen vergingen, während die Mitglieder der Landetruppe ausgewählt wurden und ihre Ausrüstung in den Laderäumen verstaut wurde, die sich auf der Oberseite des Adlers befanden. Ei wuchs riesengroß am Himmel empor, und verschwand dann hinter dem Horizont ihres Miniaturplaneten, während die Leitraketen der Menschen Otis so lange drehten, bis das Gravitationskatapult entlang der orbitalen Flugbahn nach hinten wies. Da das Licht von Ei vom Himmel verschwunden war, mußten sie mit dem gedämpften Glühen auskommen, das die Oberfläche von Otis abstrahlte. Das kalte, rötliche Licht legte sich wie ein Leichentuch über ihr letztes gemeinsames Umdrehungsmahl. Die Köche hatten ihr Bestes gegeben. Neben den großen Stücken künstlicher Nahrung aus den Nahrungsmaschinen, gab es eine Anzahl ganzer gebratener Hausschleichen, die extra für diese Gelegenheit gemästet und mit frischen Nüssen und anderem Obst wunderschön garniert worden waren. Das Obst stammte aus den Gärten, die man kurz nach der Ankunft auf Otis angelegt hatte. Doch im Mittelpunkt der Tafel zog ein ganzer gebratener Cheela die Aufmerksamkeit auf sich. Der Körper war bei dem Sturz vom Gerüst des Gravitationskatapultes plattgedrückt worden, aber das beeinträchtigte den Geschmack keineswegs. StahlSchneider und Klippen-Netz hatten keine Lust, sich durch die Menge zu drängen, und suchten sich einen Platz vor einer der gebratenen Schleichen. »Ausgezeichnet, diese Schleiche«, sagte Stahl-Schneider, während er das Auge von einem Stielstück lutschte. 259 »Nicht so gut wie die Mastschleichen damals auf Ei«, behauptete Klippen-Netz. »Ich habe versucht zu vergessen, daß es so etwas gibt.« »Als ich noch auf Ei war, habe ich meinem Essen nie besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet«, meinte Klippen-Netz. »Beim Umdrehungsmahl habe ich einfach meine Falten vollgestopft, als würde ich eine Maschine wieder aufladen. Jetzt, wo wir kurz davor stehen, auf Ei zurückzukehren, sehnen sich meine Falten plötzlich nach einem saftigen Stück Mastschleiche oder einem Spritzer Einzelbeersaft vom Südpol.« »Es ist so furchtbar lange her ...« Stahl-Schneider versank in tiefes Brüten und dachte an die Agonie und die hoffnungslose Verzweiflung, die die zwei Gruppen von Cheela seit vielen Dutzend Generationen durchgemacht hatten. Obwohl er sich gerade wieder einer Verjüngung unterzogen hatte, fühlte er sich alt und müde. Auf der Kruste von Otis stehend beobachtete Klippen-Netz, wie das Lastschiff von der Spitze der Raumfontäne ablegte. Als es abgehoben hatte, winkte er mit den Augenstielen zu einem der Ingenieure hinüber, der an der Steuerung wartete. Der Ingenieur veränderte die Einstellung, und das schrille Jaulen, das durch die Kruste drang, sank in der Tonhöhe. Allmählich wurde der Turm kürzer. Schon bald war er auf einen Stapel Metallringe und eine Anzahl von Plattformen reduziert. Es wäre vielleicht einfacher gewesen, den Strom der Ringe zu kappen und den Turm einstürzen zu lassen, aber Klippen-Netz wollte nicht, daß verirrte Geschosse um Otis herumflogen, die möglicherweise auf den Adler herabstürzen konnten. Ihre nächste Aufgabe bestand darin, die Fließröhren des Adlers aufzuladen. »Schließt die Energiekabel an die Pumpen von Rohrgruppe i an«, befahl Klippen-Netz. Aus etlichen Löchern in der Kruste stiegen riesige Masten auf und schlössen sich an zwei Dutzend Pumpen an, die um die Peripherie von Adler herum verteilt waren. Die Pumpen begannen zu arbeiten, und der extrem verdichtete Schwarzloch-Stäub 260 zirkulierte mit zunehmender Geschwindigkeit durch die Rohr-Gruppe hindurch. Die Hülle des Adlers knackte bereits, als die Flüssigkeit relativistische Geschwindigkeiten erreichte, doch die Pumpen behielten den Druck bei. Die Flüssigkeit wurde schwerer, anstatt schneller zu laufen, und die Gravitationspotentiale innerhalb des Ringkörpers wurden so stark, daß die alte Einsteinsche Theorie nicht mehr ausreichte, um sie zu beschreiben. Die Veränderungsrate der Fließgeschwindigkeit war jedoch nicht sehr hoch gewesen, so daß die Gravitationsrückstoßkräfte, die in dem Loch des Ringkörpers entstanden, außer acht gelassen werden konnten. Klippen-Netz spürte das Jaulen der Pumpen, das seinem Höhepunkt zustrebte und dann wieder abfiel. Der Adler hatte jetzt eine seiner Rohrgruppen mit Energie in Form von extrem dichter Hochgeschwindigkeitsmasse geladen. Die Zeit zum Abflug war gekommen. »Umschalten auf innere Energie«, ordnete Klippen-Netz an. Es gab eine kurze Unterbrechung des Geräusches,
als die Pumpen von den äußeren Energieverbindungen auf die Speicherenergie im Innern umschalteten. Diese Speicherenergie, die zur Kompensierung von Reibung und Gravitationsstrahlüngsverlusten gedacht war, würde nur für ein paar Millisekunden reichen, und danach mußten sie bereits unterwegs sein. Er sah zu, wie die mächtigen Energieleiter, die den Adler versorgt hatten, von ihren Kontakten in der Hülle zurückgezogen und in Löchern auf der Kruste versenkt wurden. Der Adler, der jetzt auf der Katapultrampe hockte, war für den Flug freigegeben. Klippen-Netz, dessen technische Arbeit getan war, stoppte die normale Wellenbewegung von vier seiner Augen und blickte starr auf Otis-Lift. »Adler startbereit, Kapitän«, sagte er. Otis-Lift wartete, während der Punkt auf dem Sohlenschirm unter ihm, der Otis darstellte, seinen vorgezeichneten Weg nahm. Otis würde auf seiner Umlaufbahn zunächst bis auf 100 Meter an die Oberfläche von Ei herankommen und dann mit einem Drittel der Lichtgeschwin261 digkeit über den Stern hinwegfliegen. Es knackte heftig in seiner Kruste, als die Kräfte des Eis versuchten, den Planetoiden auseinanderzuzerren. Klippen-Netz blickte besorgt in alle Richtungen, hoffte, daß die Kruste in diesem Bereich für ein paar weitere Mikrosekunden zusammenhalten würde. Kurz bevor der Planetoid seine Periapsis erreichte, handelte der Kapitän. »Start!« befahl Otis-Lift. Seine Sohle bewegte sich flink auf dem Berührungsschirm, und die kodierten Signale wurden vom Adler aus an alle Maschinen ringsum gesendet. In den Generatoren war die Energie vorübergehend in Akkumulatoren gespeichert worden, während sie auf das Startkommando warteten. Als das Signal kam, wurde die gespeicherte Energie plus der gesamten Energie, die die Generatoren erzeugen konnten, in die Pumpen geleitet, die den extrem verdichteten Staub in das größere Gravitationskatapult transportierten. Die Pumpen, die unter der hohen Belastung kreischten, drückten den Staub mit einer unglaublichen Beschleunigung in den Ringkörper, der einen Durchmesser von zwanzig Zentimetern aufwies. Der fließende Strom der Schwarzen Löcher rief ein sich rasch verstärkendes gravitomagnetisches Feld innerhalb des Ringkörpers hervor. Dieses an Stärke ständig zunehmende gravitomagnetische Feld wiederum erzeugte ein Rückstoßschwerkraftfeld am Mittelpunkt des Ringkörpers. Der Adler wurde mit einer Kraft in die Höhe geschleudert, die das Vielfache der Gravitation auf Ei betrug, doch die Mannschaft spürte nichts davon. Der Adler erreichte in zwei Nanosekunden ein Drittel der Lichtgeschwindigkeit und verließ die Oberfläche von Otis, um dann bewegungslos 100 Meter über der Peripherie des Glänzenden zu schweben. Allmählich begann er zu sinken. »Leitet ein Zwölftel des Flusses von Rohrgruppe 1 in Rohrgruppe 2«, ordnete Otis-Lift an. Es entstand eine Pause, dann erwiderte der Erste Offizier: »Keine Reaktion, Kapitän.« »Versuch es noch einmal.« Der Adler wurde zunehmend schneller, während er fiel. 262 »Das habe ich getan, Sir«, gab der Erste Offizier zurück. »Die Signale werden weiterhin gesendet und auch empfangen, aber das Umschaltventil reagiert nicht. Es muß verklemmt sein!« »Es ist nicht verklemmt«, mischte sich Klippen-Netz ein. Die Aufnahme des Umschaltventils wurde von seinem Ingenieurschirm auf den der zwei Offiziere übertragen. »Irgend jemand hat vergessen, die Sicherheitssperre zu entfernen. Sie können den Glühstreifen am Ende sehen.« Er glitt von dem Schirm herunter und auf das innere Geländer zu, von dem das Loch im Ringkörper umgeben war. »Benutzen Sie einen Teil unserer Akkumulatorenenergie, um den Fluß in Rohrgruppe 1 zu verlangsamen«, lautete seine Anweisung, während er sich unter dem Geländer hindurchquetschte. »Wir können so zwar nicht landen, aber es wird wenigstens unseren Sturz verlangsamen, und wir gewinnen dadurch Zeit.« »Wo wollen Sie hin?« fragte Otis-Lift. Die Antwort kam von weit her und kam nur gedämpft bei ihm an, denn die Vibrationen, die von Klippen-Netz' Sohle ausgingen, mußten in einem Kreis von den röhrenförmigen Motoren des Adlers bis zum Kommandodeck laufen. »Ich werde die Sicherheitssperre entriegeln«, sagte Klippen-Netz. Er erreichte Rohrgruppe 2 und folgte dem gigantischen Bündel von Rohren, das sich in Schichten um den wulstförmigen Körper des Adlers wand. Glücklicherweise besaß der Adler genug eigene Schwerkraft, so daß Klippen-Netz nicht Gefahr lief abzustürzen. Als er sich dem Loch im Mittelpunkt des Ringes näherte, konnte er die Kruste von Ei unter sich sehen. Der Kapitän hatte die Pumpen von Rohrgruppe 1 anstellen lassen, aber der Adler stürzte immer noch mit großer Geschwindigkeit nach unten. Klippen-Netz erreichte das Verbindungsstück, wo die Rohrgruppe 1 und 2 durch das Umschaltventil miteinander verbunden waren. Als er dicht vor Rohrgruppe 1 stand, begann seine Sohle zu rutschen, denn der rasende, extrem verdichtete Staub in der Röhre versuchte ihn in sein Trägheitsfeld zu 263 ziehen. Er preßte seine Sohle dichter an die glatte Oberfläche von Rohrgruppe 2 und schob sich vorsichtig auf das Umschaltventil zu. Er entriegelte die Sperre und hielt den Sperrbolzen hoch, so daß sie ihn auf dem Videomonitor sehen konnten. »Schaltet den Fluß um!« brüllte er und hoffte, daß sie ihn über die lange Strecke durch die Hülle hören konnten. »Ich werde warten!« dröhnte die verstärkte Stimme des Kapitäns durch die Sprechanlage des Schiffes. »Beeilen
Sie sich!« Klippen-Netz blickte auf die Kruste hinunter, die rasch näher kam. Irgendwo dort unten gab es unzählige Dutzend Beutel Südpol-Einzelbeersaft, den er niemals wieder probieren würde. »Zu spät!« schrie Klippen-Netz. »Schaltet den Fluß um!« Das Umschaltventil krachte. Der extrem beschleunigte und verdichtete Staub wechselte von einer Rohrgruppe zur anderen. Durch die Veränderung des Schwerkraftpotentials bildete sich ein extrem starkes Rückstoßgravitationsfeld, das Klippen-Netz von seinem Platz neben dem Umschaltventil fortriß und ihn in die Tiefe hinunterschleuderte. Ein leuchtender Strahl von weißglühendem Plasma blitzte auf, und er war fort. Das Rückstoßgravitationsfeld des Adlers streckte sich durch das Loch in der Mitte seiner Hülle und wurde von der Masse des Eis abgestoßen. Das bremste den Sturz des Raumschiffes ab. Kapitän Otis-Lift konnte endlich wieder steuern. Sie durften nicht mehr allzu lange schweben, denn der Fluß mußte bald wieder .umgeschaltet werden. Der Adler war über eine kleine Gebirgsregion hinweggeflogen und mußte sich nun eine Ebene zum Landen suchen. Während er von der Rückstoßgravitation getragen wurde, schwebte der Adler die Abhänge der Berge hinunter und rief dabei kleinere Krustenbeben hervor, indem er sein eigenes Tal in einen Abhang schürfte. Sie glitten über eine Herde weidender Tiere hinweg, die in alle Richtungen auseinanderspritzten. Mit dem letzten Rest der Speicherenergie, die jetzt durch die Pumpen floß, um den verbliebe264 nen umgeschalteten Fluß anzureichern, schwebten sie zur Landung nieder. Raum-Gleiter, der Erste Offizier, überwachte die Sensoren und die Videomonitore im Boden der Hülle. »... 200 Millimeter ... viereinhalb bis unten ... Kontakt anzeige ... Maschinen Stop ...« Es war still, als die schwere Maschine ein Stück in die Kruste einsank; dann brach ein Trommel und elektronisches Pfeifen los, als Kapitän Otis-Lift durch die Neutrinokommunikationsverbindung eine Durchsage an die wartenden Schiffe in der Umlaufbahn machte. »Ostpolstation! Hier ist Dracheneibasis. Der Adler ist gelandet!« Jubelrufe vibrierten durch die ganze Hülle des Adlers und wurden von der Kommunikationskonsole unter Admiral Stahl-Schneiders Sohle zurückgeworfen. Er stimmte jedoch nicht mit ein, denn all seine Augen blickten hinauf zu den fragmentartigen Überresten der Deorbitermasse Otis. Sie hatten zwar eine Welt gerettet, aber das auf Kosten der fünf unschuldigen Freunde dort oben, die sie zu einem langsamen Tod verurteilt hatten. Zeit: 21:02:46 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Die erste Warnung, die Buchstaben-Leser vor der Katastrophe erhielt, war ein Rumpeln in der Kruste, das von den niedrigen Hügeln in der Nähe ausging. Sein Augenwellenrythmus wurde für einen Moment unterbrochen und setzte dann wieder ein, als sein Gehirnknoten das Geräusch als Krustenbeben identifizierte, etwas, das häufiger vorkam. Vier seiner nicht-rosa Augen konzentrierten sich dann darauf, die alte Rolle zu entziffern, die vor ihm auf der Kruste lag und darauf wartete, geöffnet zu werden. Die Rolle enthielt Anleitungen für den Betrieb einer magischen Maschine, die mit den Sternen am Himmel sprechen konnte. Es gab viele Worte, die Buchstaben-Leser nicht 265 kannte, aber er hoffte, daß ihre Bedeutung für ihn immer klarer wurde, wenn er die Rolle immer wieder durchlas. Das Rumpeln des Krustenbebens nahm kein Ende und schien auch näher zu kommen. Die Jagdinstinkte, die in Buchstaben-Lesers rosa und weiß gesprenkelter Sohle erwachten, alarmierten schließlich seinen Gehirnknoten, und er hörte auf zu lesen, um die Vibrationen zu analysieren, die durch die Kruste drangen. Es hörte sich allerdings nicht so an, als würde sich ein wilder Schnell nähern, daher waren seine Mastschleichenherden nicht in Gefahr. Was er da hörte, war ganz neu für ihn, und das Geräusch kam ständig näher. Buchstaben-Leser blickte in die Richtung, die ihm seine Sohle angegeben hatte. Zunächst konnte er nichts erkennen, aber dann bemerkte er, daß sich die Erschütterung in der Kruste, die an einem der Berge in der Nähe ihren Anfang genommen hatte, auf ihn zubewegte. Er blickte auf und sah, daß einer der Sterne vom Himmel fiel. Und er stürzte direkt auf ihn zu! Auf schreiender Sohle raste er in Panik davon und mit ihm auch seine Herde. Stahl-Schneider wartete, bis Otis-Lift die Pumpen auf dem Adler abgeschaltet und die Energieakkumulatoren stabilisiert hatte. »Eine ausgezeichnete Landung«, lobte er dann. »Wieviel Energie ist in den Akkumulatoren noch übriggeblieben?« »Nur ein Viertel von dem, was Klippen-Netz geplant hatte«, erwiderte Otis-Lift. »Aber es sollte ausreichen, um die Energie für die verschiedenen Funktionen des Schiffes ein Dutzend Umdrehungen lang zu sichern.« »Dann müssen wir also bis dahin einen neuen Generator gebaut und in Betrieb genommen haben«, sagte StahlSchneider. »Rufen Sie die Oberingenieure auf dem Steuerdeck zusammen. Ich will auch Ihre leitenden Offiziere dort haben. Stellen Sie vier der Raumfahrer als Wachtposten an das äußere Geländer. Wir sind zwar weit von jeder Stadt entfernt, aber als wir herunterkamen, haben wir unter uns 266 jemanden gesehen.« Das Mannschaftsdeck des Adlers war klein, daher dauerte es nicht lange, bis die Führungsmannschaft sich zusammenfand. »Jetzt, da wir uns auf der Kruste befinden, sind wir Raumfahrer so lange arbeitslos, bis die Ingenieure dieses
Gravitationskatapult wieder funktionstüchtig gemacht haben und es ein Schiff für uns herunterbringt, das wir fliegen können«, sagte Stahl-Schneider. »Da Klippen-Netz nicht mehr unter uns weilt, übernehme ich die Verantwortung für die Leitung des technischen Teils. Ich möchte, daß Kapitän Otis-Lift die Verantwortung für den Raumverkehr übernimmt. Falls nicht einer der Raumfahrer über technische Fähigkeiten verfügt, die den Ingenieuren von Nutzen sein könnten, wird ihre Aufgabe darin bestehen, für Nachschub zu sorgen, die Sicherheit zu wahren und den Kontakt mit den Cheela auf Ei aufzunehmen. Es ist ein weiter Weg von der Fliegerei bis zur Beschaffung von Lebensmitteln und der Zusammenarbeit mit Barbaren, aber je eher die Ingenieure die Technologie an diesem vom Glänzenden verfluchten Ort wieder in Gang bringen, um so eher können wir wieder ins All zurückkehren.« »Wir sind hier alle gleichermaßen betroffen«, sagte Otis-Lift. »Meine Raumfahrer werden alles tun, was notwendig ist.« »Es wäre von Vorteil, wenn wir keinerlei Energie für die Speisemaschinen verschwenden müßten«, meinte Stahl-Schneider. »Ich habe vorhin gesehen, daß wir eine Herde von Tieren verjagt haben, als wir gelandet sind. Wenn Sie eine Mannschaft zum Sammeln von Lebensmitteln zusammenstellen könnten, die uns ein paar von diesen Tieren zum Essen beschafft, würden sie nicht nur unsere Energiekrise mildern, sondern sie wären darüber hinaus auch die wahren Helden einer hungrigen Meute von Ingenieuren.« »Wir sind bald zurück.« Otis-Lift führte seine leitenden Offiziere davon. »Unsere erste Aufgabe wird darin bestehen, Energie zu erzeugen«, erklärte Stahl-Schneider seinen Technikern. »Wer hat die Aufsicht über das Miniaturkraftwerk?« 267 »Ich«, antwortete Ingenieur Netz-Gerät. »Meine Gruppe lädt gerade die Teile auf den Lift.« »Ich werde mit ihnen hinunterfahren«, sagte Stahl-Schneider. »Was brauchen Sie noch?« »Einen Massetrenner und einen Mono-Pol-Generator«, erwiderte Netz-Gerät. »Und wir werden etliche hundert Meter durchschlagsfestes Rohr benötigen, um das neutronenreiche Magma unterhalb der Kruste zu erreichen.« »Sie werden bereitstehen, wenn Sie sie brauchen«, versicherte ihm die Ingenieurin Delta-Masse. »Garantiert leckfrei.« »Ich glaube, die Leitung eines Projekts der Netz-Bau ist die einfachste Aufgabe, die ich je hatte«, sagte StahlSchneider. »Laßt uns also die Sohlen kräuseln.« »Der Aufzug scheint sich sehr langsam zu bewegen«, meinte Stahl-Schneider. »Liegt das an dem Gewicht der Generatorteile?« »Nein«, sagte Netz-Gerät. »Klippen-Netz hat die Aufzugssteuerung mehr auf maximale Energieausnutzung als auf größtmögliche Geschwindigkeit programmiert. Erst wenn wir die Ladung des Adlers abziehen, werden die Aufzugsmotoren die Energieakkumulatoren aufladen. Klippen-Netz hat immer gern Wege gefunden, die Kosten eines Projekts niedrig zu halten.« »In diesem Fall hat er damit möglicherweise unsere Hüllen gerettet«, meinte Stahl-Schneider. »Er war wirklich ein bemerkenswerter Ingenieur.« »Ja, das war er«, stimmte Netz-Gerät zu. Auf dem Deck des Aufzugs herrschte den Rest der Abfahrt hindurch Schweigen. Als sie die Kruste erreichten, glitt Netz-Gerät neben die niedrige Tür und schob sie zurück. Stahl-Schneider rutschte zögernd auf die Kruste von Ei hinaus. »Ich bin heimgekehrt«, flüsterte er leise in die warme, gelbweiße Kruste. Dann wartete er schweigend, bis die anderen aus dem Aufzug geglitten waren und sich um ihn 268 herum aufgestellt hatten, tief beeindruckt von der Rückkehr in ihre Heimatwelt. Schließlich sagte er: »Nennt mich nicht länger Admiral Stahl-Schneider. Einst hieß ich Stern-Gleiter, aber von nun an nennt mich Krusten-Kriecher, denn ich habe genug vom Weltraum, und ich habe genug von Verjüngungen. Ich werde hier unten bleiben, bis ich zerfließe.« Buchstaben-Leser kümmerte sich gerade um eine seiner verbliebenen Mastschleichen, die den Eindruck machte, daß sie krank war. Er zog seine normalen dunkelroten Augen ein und betrachtete die Kreatur eingehend mit seinen drei rosa Augen. Das ultra-rote Glühen, das von einer Seite der Mastschleiche abgestrahlt wurde, zeigte an, daß etwas nicht in Ordnung war. Dankbar darüber, das sein geflecktes Sehvermögen ein weiteres Tier aus seiner Herde gerettet hatte, griff er in eine der Futterfalten und holte eine Anzahl kleiner Kieselsteinchen heraus, die die beschränkte Kreatur für Bodennüsse gehalten hatte. Dann schickte er die Mastschleiche zurück auf die Weide. In einiger Entfernung hörte er plötzlich die Fremden, die einen ziemlichen Krach machten. Buchstaben-Leser drückte sich hinter einem Krustenfelsen flach an den Boden, zog seine Augenstiele herunter und überließ das Sehen seiner Sohle. Er war froh darüber, daß auch seine Hülle ein paar Flecken aufwies, denn dadurch konnte er sich besser tarnen. Die Eintreiber des Doth-Teils aus Glänzender Mitte konnten es nicht sein, sie kamen normalerweise erst später. Außerdem ritten sie immer auf Schnells, und selbst wenn sie von ihren Reittieren abgestiegen wären, hätten sie niemals so viel unnötigen Lärm gemacht wie diese Cheela. Er lauschte aufmerksam und konnte bald mehrere Stimmen unterscheiden, aber bei diesem Akzent wurden viele
Laute verschluckt, und er konnte nur wenige Worte verstehen. »Der Adler hat regelrecht eine Furche in den Boden ge269 pflügt, als wir herunterkamen«, sagte Otis-Lift, während sie sich in einer Reihe hintereinander durch den Krustenstaub schoben, den sie bei ihrem Landeanflug aufgewirbelt hatten. »Ich sehe etwas dort vom«, sagte Leutnant Stern-Zähler. »Es hat schwarze Streifen.« »Das muß eins der Herdentiere sein.« Dr.med. Len-McCoy blickte auf ihre Rolle. »Ich habe eine Liste der Tiere und Pflanzen zusammengestellt, die angeblich das Sternbeben überstanden haben.« Sie ging rasch die Rolle durch, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. »Hier ist es. Es handelt sich um eine Mastschleiche. Die Streifen setzen sich bis durch das Fleisch im Innern fort. Das dunkle Fleisch schmeckt nach Bodennüssen, während das weiße Fleisch eher an Einzelbeeren erinnert.« »Meine Falten sind schon voller Saft«, stöhnte Stern-Zähler. »Fangen wir sie ein und bringen sie zur Basis.« »Ich glaube nicht, daß wir damit große Schwierigkeiten haben werden«, meinte Otis-Lift. »Sie scheint sich nicht zu bewegen. Aber wir sollten sie vorsichtshalber von allen Seiten einkreisen.« Buchstaben-Leser schob ein Auge nach oben. Die Fremden hatten eine der Mastschleichen gefunden, die bei der Landung des fliegenden Sterns getötet worden war. Sie bewegten sich allerdings so vorsichtig, daß es den Anschein hatte, als glaubten sie, das Tier sei noch am Leben. Jeder mußte doch merken, daß es tot war, denn kein noch so schwaches Pulsieren der Flüssigkeitspumpen drang mehr durch die Kruste. Irgend etwas konnte mit den Sohlen der Fremden nicht stimmen, wenn sie das nicht spürten. Len-McCoy näherte sich der reglosen schwarz-weißgestreiften Mastschleiche, bis sie schließlich die große Wunde auf der Oberseite erblickte, wo ein herabgefallenes Stück Kruste den Gehirnknoten getroffen hatte. »Sie ist tot, Kapitän.« »Gut. Schneiden wir sie auf und tragen sie zur Basis.« , Len-McCoy zog ihren Medizinbeutel aus einer Tragefalte, und bald darauf fand ein chirurgisches Skalpell seinen Einsatz als Metzgermesser. 270 »Ich frage mich, was die Mastschleichen fressen!« Stern-Zähler packte ein großes Stück in seine Falte. »Ich kann hier nicht viel entdecken, außer diesen stachelig aussehenden Stauden.« Von seinem Manipulator tropfte der Saft, und er steckte ihn in eine Eßfalte, um ihn abzulutschen. »Mmmmm. Lecker! Schmeckt wirklich wie Bodennüsse.« »Diese Pflanze dort ist eine Bodennußstaude«, klärte Len-McCoy ihn auf. »Die Mastschleichen sind darauf abgerichtet worden, die Kruste in der Nähe dieser Pflanzen aufzubrechen und sich von den Nüssen zu ernähren.« »Wir sollten auch ein paar davon mitnehmen«, sagte Otis-Lift. »Während der Doktor das Fleisch zerlegt, kann der Rest von euch nach Bodennüssen graben. Sie werden eine gute Beilage abgeben, wenn man sie mit dem Essensbrei aus den Speisemaschinen mischt.« »Alles wäre besser als der reine Essensbrei«, sagte ein Raumfahrer als er zu graben begann. Buchstaben-Leser hatte nun endgültig das Gefühl, daß er etwas unternehmen mußte. Schließlich war es seine Aufgabe, die Herden für den Clan zu hüten, und es sah ganz danach aus, als wären die Fremden aus dem fliegenden Stern dabei, die Schleiche fortzuschleppen und aufzuessen. Eine Menge hungriger Junglinge im Clanlager daheim konnte dieses Fleisch auch ganz gut gebrauchen. Er richtete sich schließlich auf und glitt auf den Gipfel der Bodenerhebung hinauf, hinter der er sich verborgen gehalten hatte. Obwohl er sich keine Mühe machte, die Geräusche seiner Bewegung zu dämpfen, nahmen ihn die Fremden immer noch nicht wahr. Er hielt seinen Hütespieß bereit und öffnete einen Beutel Sohlenstacheln in einer seiner Falten, für den Fall, daß sie ihn jagen sollten. »Seid gegrüßt, ehrwürdige Fremde«, kündigte er sich an, doch sie hörten ihn nicht. »SEID GEGRÜSST«, wiederholte er lauter. Endlich blickte einer von ihnen auf und sah ihn. »Da ist ein Einheimischer«, meinte Otis-Lift. »Kommt alle hierher und laßt uns mit ihm sprechen. Die Mastschleiche, die wir gerade zerlegen, gehört bestimmt ihm: Wie hat 271 er sich bloß so unbemerkt an uns herangeschlichen? Haltet ein paar Augen auf die Umgebung gerichtet. Da sind vielleicht noch andere.« »Seid gegrüßt, ehrwürdige Fremde«, sagte Buchstaben-Leser noch einmal. »Wenn ihr aus Glänzender Mitte kommt, so seid ihr früh dran, den Doth-Teil einzutreiben. Ich bedaure den Verlust des Tieres; es wurde von dem neuen Reittier getötet, das mit den Sternen zieht.« Otis-Lift war erleichtert, daß er den größten Teil von dem verstehen konnte, was der Jungling sagte. Der Sohlenakzent war allerdings breit und schleppend, und er bekam nicht alle Worte mit. Der Ausdruck »Glänzende Mitte« mußte sich auf den Kern von Paradies des Glänzenden beziehen, während »Reittier« andeutete, daß irgend jemand sich fortbewegt haben mußte, doch er konnte im ganzen Umkreis keine Maschinen für die Fortbewegung entdecken. Das Wort »Doth-Teil« sagte ihm jedoch überhaupt nichts. »Sei gegrüßt. Ich bin Otis-Lift«, sagte der Kapitän. »Wir kommen nicht aus Glänzender Mitte. Wir kommen von
den nahen Sternen. Von denen, die sich nicht drehen.« »Ich bin Buchstaben-Leser«, erwiderte der Jungling. »Ich habe gelesen, daß es Cheela auf den nahen Sternen geben soll, aber ich habe es bis jetzt nicht geglaubt. Wenn ihr nicht aus Glänzender Mitte seid, dann könnt ihr die Zebuschleiche nicht mitnehmen. Der Eintreiber aus Glänzender Mitte wird zornig auf euch sein, wenn ihr euch diesen Doth-Teil aneignet.« »Wer ist der Eintreiber?« fragte Otis-Lift. »Und was ist ein Doth-Teil?« »Alle 72 Umdrehungen kommt der Eintreiber des Imperators aus Glänzender Mitte und befiehlt uns, die Herden des Clans zusammenzutreiben. Dann übergeben wir ihm ein Doth-Teil für den Imperator, und sie nehmen die Tiere mit. Vorher geben sie uns 144 neue Eier, und wir ziehen bis zum nächsten Eintreiben die 144 Mastschleichen auf.« »Sie nehmen euch ein Dozeth eurer Herde fort und 272 bezahlen nicht einmal dafür?« Otis-Lift konnte es nicht glauben. »Nein«, sagte Buchstaben-Leser. »Wir dürfen ein Dozeth ihrer Herde behalten, wenn wir uns ordentlich darum gekümmert haben.« »Warum zieht ihr nicht eure eigenen Herden auf?« wollte Otis-Lift wissen. »Wir haben keine Schleicheneier«, entgegnete Buchstaben-Leser. »Der Imperator erlaubt uns nicht, unsere eigenen Tiere zu halten, die seine Bodennüsse fressen könnten. Wir dürfen für uns nur die Bodennüsse ernten, die in den Hügelgebieten wachsen, wo die Mastschleichen nicht hindürfen. Ich fürchte, daß der Clan in diesem Groß Umdrehungen hungern wird. Wir haben bereits ein paar Zebuschleichen an die wilden Schnells verloren, dann hat eure Maschine zwei Stück getötet, und sechs wurden verstreut und gingen verloren. Das Fleisch, das ihr dort habt, gehört dem Imperator, und der Eintreiber des Imperators wird zornig sein, weil es nicht frisch ist.« »Sag dem Eintreiber, daß wir für die Mastschleiche bezahlen werden«, sagte Otis-Lift. »Im Augenblick brauchen wir dringend Lebensmittel, aber innerhalb der nächsten Dutzend Umdrehungen werden wir mehr als genug haben. Der Eintreiber und dein ganzer Clan können dann zu uns kommen und sich so viel nehmen, wie sie wollen.« »Ihr sagt nicht die Wahrheit. Ihr könnt nicht in einem Dutzend Umdrehungen Nahrung wachsen lassen.« »Wir stellen die Nahrung her«, erklärte Otis-Lift. »Dazu benutzen wir eine Maschine. Sie produziert Lebensmittel mit vielen verschiedenen Geschmacksrichtungen. Kommt in einem Dutzend Umdrehungen vorbei und probiert sie.« Er griff in seine Falte, nahm einen Augenring heraus, der mit Leuchtjuwelen besetzt war, legte ihn auf den Boden und zog sich ein Stück zurück. »Dies ist ein Geschenk für dich. Es tut uns sehr leid, daß unsere Flugmaschine dich und deine Herde erschreckt hat. Sag deinem Anführer, daß wir den Clan nicht hungern lassen werden.« Buchstaben-Leser sah den Ring kaum an. Statt dessen 273 waren vier seiner Augen auf die silbrige Metallrolle gerichtet, die Len-McCoy immer noch in ihrem Manipulator hielt. »Ist das eine Schriftrolle?« fragte er. »Ja«, bestätigte Len-McCoy. »Mit Buchstaben und Worten darauf?« »Ja, und auch mit einigen Bildern.« »Der Ring ist sehr hübsch, aber ich hätte lieber etwas Neues zu lesen«, sagte Buchstaben-Leser. »Ich würde gern meine Rolle gegen eure eintauschen.« Er griff in eine Falte und holte die verdreckte und zerfledderte Rolle heraus. »Sie ist alt und nicht so schön glänzend wie eure, aber man kann die Worte darauf immer noch lesen.« Er streckte sie eifrig vor. »Ich werde sie ihm geben«, sagte Len-McCoy. »Wenn wir wieder auf der Basis sind, lasse ich einen neuen Listenausdruck vom Computer machen.« Der Handel wurde geschlossen, und der Kapitän fügte der Rolle noch den Leuchtring hinzu. Er betrachtete das alte Schriftstück aufmerksam. Dann rollte er es auf, bis er zu dem persönlichen Zeichen auf der Unterseite kam. »Es ist ein Teil eines Tagebuchs. Von Be-Be selbst geschrieben!« »Wir müssen herausfinden, wo er es her hat!« flüsterte Len-McCoy. »Später. Im Moment haben wir andere Sorgen. Wir müssen ein Gravitationskatapult funktionstüchtig machen, sicherstellen, daß ein Clan nicht verhungert und irgendwie einen freundschaftlichen Kontakt zu einem diktatorischen Imperator aufbauen, dem noch die letzte Mastschleiche und die letzte Bodennuß auf Ei gehört.« Er unterbrach sein elektronisches Flüstern, und seine Sohle rührte sich wieder, als er sich erneut an BuchstabenLeser wandte. »Wer ist dieser Imperator, von dem du gesprochen hast?« wollte Otis-Lift wissen. »Er ist der Mächtige, der Schreckliche, der Unbarmherzige. Der Cheela, der niemals zerfließt — Attila der Gefleckte«, sagte Buchstaben-Leser, und seine gesprenkelte Sohle erzitterte bei der Erwähnung des Namens. 274
In der Zwischenzeit war Ingenieur Netz-Gerät auf der Basis damit beschäftigt, den Generator zusammenzubauen, der ihnen die Energie, die sie zum Überleben brauchten, liefern sollte. »Wir sind ungefähr zwanzig Zentimeter von der Basis entfernt«, überlegte er. »Jetzt müßte der Abstand eigentlich groß genug sein, daß die Krustenrisse, die um den Generator herum entstehen, nicht die Fundamente des Gravitationskatapults erreichen, und umgekehrt dürften verirrte Gravitationsfelder des Katapults in dieser Entfernung auch nicht mehr den Generator beeinträchtigen. Meine Mannschaft wird das Bohrgerüst an dieser Stelle aufbauen, und wir können dann sofort mit den Bohrarbeiten beginnen.« »Sie haben genügend Futterrohr zur Verfügung, um anfangen zu können«, sagte Ingenieur Delta-Masse. »Wenn Sie sechs Zentimeter tief gekommen sind, wird meine Mannschaft das erste Dutzend Zentimeter bereits fertig haben. Danach werden wir schneller produzieren, als Sie bohren können.« »Lassen wir uns überraschen«, meinte Netz-Gerät. »Der Antimateriestrahl-Bohrer, den Klippen-Netz entworfen hat, frißt sich nämlich durch die Kruste wie ein Schwarzes Loch durch einen Menschen.« Delta-Masse kehrte langsam zur Basis zurück und legte dabei unterwegs den Verlauf der Energieleitungen fest, die die über zwanzig Zentimeter lange Strecke zwischen der Generatoranlage und der Basis überbrücken sollten. Als sie an der Basis ankam, hatte ihre Mannschaft den Massentrenner bereits in Gang gesetzt und fütterte ihn mit ausgebaggertem Krustenmaterial. Der größte Teil des Materials verließ die Maschine als Staub und wurde durch Rohre zu einer Abraumhalde transportiert. Seltene Elemente, brauchbares Metall und Metallverbindungen wurden gesammelt und aufbewahrt, während die druckfesten Metalle in einer starken Legierung verschmolzen und dann zu einer langen Röhre ausgezogen wurden. »Die ersten drei Zentimeter sind fertig«, teilte Delta-Masse der Mannschaft mit, als das Ende der langen Röhre 275 mit einem klingenden Krachen auf die BCruste fiel. »Machen wir heute etwas früher Pause und begeben uns zum Umdrehungsmahl. In meinen Eßfalten sammelt sich schon Flüssigkeit, wenn ich an die Mastschleiche denke, die drüben auf uns wartet. Bodennüsse und Einzelbeeren zusammen in ein und demselben Stück Fleisch. Ich kann es kaum erwarten.« Während die fertiggestellte Röhre von einer Transportmannschaft auf Lastschlitten gehoben und zu der Generatoranlage in der Ferne gebracht wurde, glitt sie an der Spitze ihrer Mannschaft zur Basis zurück. An der Peripherie blieb Delta-Masse stehen, um nach dem Weg zu fragen. In der Umdrehung, in der sie und ihre Mannschaft den Massentrenner in Betrieb genommen hatten, hatte die Baumannschaft unter der Leitung von Metall-Bieger die Lasten- und Aufenthaltsplattformen des Adlers beinahe vollständig abgebaut und sie als ummauerte Aufenthaltsstätten auf der Kruste wieder zusammengesetzt. »Habt ihr den Speisebereich schon fertig?« fragte Delta-Masse. »Das war das erste, was wir in Angriff genommen haben«, erwiderte Metall-Bieger. »Gleitet durch das Osttor in der äußeren Mauer und dann direkt gerade durch bis zum Mittelpunkt. Dort findet ihr dann den kombinierten Speise- und Versammlungsbereich.« »Großartig!« Delta-Masse schob sich sofort auf das Osttor zu. »Die Mastschleiche wird euch schmecken«, meinte Metall-Bieger. »Ich hoffe bloß, daß Sie und Ihre Mannschaft von Schnells noch nicht alles verschlungen haben«, versetzte Delta-Masse. »Nein, die Bedienungsmannschaft will die Mastschleiche als letztes zubereiten, daher werden Sie erst eine große Portion Essensbrei verschlingen müssen, bevor Sie ein kleines Stück davon zugeteilt bekommen.« Bei der Erwähnung von Essensbrei entrang sich den Sohlen der Mannschaft ein Stöhnen. Die Maschinen, die die künstlichen Speisen erzeugten, waren zwar recht vielseitig 276 und konnten eine große Bandbreite in Geschmack und Beschaffenheit produzieren, aber nach mehreren Dutzend Groß, in denen sie nichts als künstliche Nahrung genossen hatten, sehnten sich die Eßfalten nach Abwechslung. Der Antimateriebohrer fraß sich mit großer Geschwindigkeit unaufhaltsam durch die Kruste, und das Loch wurde Millimeter für Millimeter tiefer, während die Bohrmannschaft von Netz-Gerät allmählich einen bestimmten Rhythmus entwickelte. Die Temperaturen, Drücke und Dienten waren so hoch, daß die nahezu flüssige Umgebung überschüssiger Neutronen durch Tropfen an der äußeren Hülle des Bohrrohrs bereits erste Anzeichen einer Umwandlung hervorrief. »Senkt den letzten Abschnitt des Futterrohres ein und verschließt es dann oben mit einem Drucksiegel«, ordnete Netz-Gerät an. »Dann befestigt am Ende des Bohrstranges eine Antimateriebombe an Stelle des Bohrkopfes und fahrt ihn hinunter. Wir werden einen Vulkan bauen — einen zahmen Vulkan.« Die Antimateriebombe wurde auf den Boden des Loches abgesenkt und der Bohrstrang wieder zurückgezogen. Gezündet durch einen kodierten Puls akustischer Wellen durchschlug die Bombe die letzten Zentimeter der Kruste, und die Hochdruckneutronenflüssigkeit des Mantels drang an die Oberfläche. Als die Flüssigkeit bis in Bereiche mit niedrigem Druck gestiegen war, zerfielen einige der Neutronen in Elektronen und Protonen, setzten dabei Energie frei und senkten die Dichte der Flüssigkeit, so daß sie noch schneller stieg. »Hier kommt es!« übertönte Netz-Gerät das tiefe Poltern in der Kruste. »Öffnet das Generatorventil.« Die Nukleonische Flüssigkeit, deren Geschwindigkeit, Dichte, Druck und Temperatur extrem hohe Werte besaßen, stieg durch das Bohrloch nach oben und wurde durch den Energiegenerator gewirbelt, in dem ihr die
freien thermalen, kinetischen und nuklearen Energien entzogen wurden. Als Abfallprodukt dieses Vorgangs entstand warmer Krustenstaub, der durch Rohre zu einer nahegelege277 nen Senke transportiert wurde, während die entzogene Energie aus den Tiefen von Ei zur Basis in zwanzig Zentimeter Entfernung geleitet wurde, um dort die Maschinen anzutreiben. Admiral Stahl-Schneider, jetzt Krusten-Kriecher, versammelte die leitende Mannschaft. »Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte er. »Aber wir werden noch lange gleiten müssen. Was ist der nächste Punkt auf KlippenNetz' Plan?« »Das Gravitationskatapult benötigt ein Kraftwerk, dessen Kapazität zwei dutzendmal stärker ist als die des Generators, den wir gerade in Betrieb genommen haben«, erklärte Netz-Gerät. »Meine Mannschaft, die für die seismische Überwachung zuständig ist, hat ungefähr vierzig Zentimeter weiter westlich einen vielversprechenden Auftrieb von energetischem Magma entdeckt. Wir haben das Bohrgerüst dorthin geschafft, und das erste Loch hat bereits eine Tiefe von einem Meter erreicht, aber wir brauchen auch dort ein Kraftwerk.« »Meine Mannschaft ist mit dem Bau der Aufenthaltsquartiere auf der Basis fertig geworden«, meldete sich Metall-Bieger. »Wir haben sogar ringsherum magnetische Barrieren installiert, um die wilden Schnells abzuschrecken. Jetzt sind wir bereit zum Bau des Kraftwerks. Für die Präzisionsteile steht uns eine große Anzahl von computergesteuerten Schweiß-, Nage- und Schneiderobotern zur Verfügung, aber für die größeren Teile brauchen wir eine Schmiede. Sobald uns genug Metall geliefert wird, können wir damit anfangen.« »Der Massentrenner hat in den letzten paar Umdrehungen Bleche hergestellt«, teilte ihm Delta-Masse mit. »Aber in dem Maße, in dem Netz-Geräts Mannschaft vorankommt, müssen wir wieder auf Futterrohre umstellen. Vielleicht solltet ihr als erstes einen zweiten Massentrenner bauen.« »Du hast recht«, stimmte Metall-Bieger zu. »Ich werde meine Mannschaft darauf ansetzen.« »Gibt es sonst noch etwas?« fragte Krusten-Kriecher. 278 »Vergeßt nicht, daß ich dem Clan, der hier in der Nähe lebt, versprochen habe, daß wir ihn mit Lebensmitteln versorgen würden, sobald unsere Energieversorgung gesichert wäre«, erinnerte Otis-Lift. »Wir haben die Cheela dort in den vergangenen Umdrehungen häufig besucht und kennen sie mittlerweile recht gut. Sie leben eindeutig am Existenzminimum. Wir haben ihnen Muster von verschiedenen Geschmackssorten unseres Essensbreis mitgebracht. Sie nennen es die >Speise der Göttero Schrecklicher< -Quatsch auf, - Wilde Augen. Ich fühle mich großartig in meinem neuen Körper, und du weißt genausogut wie ich, daß keiner meiner Krieger als Eintreiber des Imperators so gut wäre wie du.« Er schwieg einen Moment lang, während der Bediener ein rohes Stück Zebu-Schleiche hereinbrachte. »Das heißt, wenn du nicht beim nächsten Kampfwettbewerb auf deiner Oberseite herausgetragen wirst.« Attila stopfte seine Eßfalte mit dem Fleisch voll und begann geräuschvoll daran zu lutschen. Dann warf er obendrein noch ein paar goldgelbe Kristalle hinter dem Fleisch her. »Ausgezeichnete Mischung«, stellte er fest. »Jetzt kannst du mir die schlechte Neuigkeit mitteilen.« »Sie haben sich geweigert, den neuen Schub Schleicheneier anzunehmen.« »Du hast natürlich den Anführer des Clans und ein paar Älteste aufgeschlitzt, bis du jemanden gefunden hast, der lieber die Eier nahm, anstatt zu sterben, nicht wahr?« »Ich habe es versucht, o Schrecklicher«, sagte die Eintreiberin, und ihre Sohle stotterte vor Angst. »Aber wir waren nahe an der Stätte des fremden Clans, der die Speisemaschinen gebaut hat. Sie haben eine unsichtbare Barriere erfunden, die meinen Reitschnell aufhielt.« Sie schwieg, als 298 sie merkte, daß sein Augenwellenmuster sich zu einem schleppenden, gedankenverlorenen Rhythmus verlangsamte. »Ich habe mein Bestes getan, o Schrecklicher«, fügte sie hinzu. Attila brach schließlich sein Schweigen. »Hatte dein Schnell eine verbrannte Sohle?« fragte er. »Ja!« bestätigte sie, erstaunt durch die Frage. »Ich habe das gar nicht verstanden, denn von der Barriere ging keine fühlbare Wärmeabstrahlung aus.« »Dieser fremde Clan kann mehr als Speisemaschinen bauen«, sagte Attila nachdenklich. »Du bist in eine Magnetbarriere hineingeritten. Mit einem Schnell kann man die nicht überwinden. Was hast du noch gesehen?« »Sie haben viele Maschinen. Einige überziehen die Kruste mit glatten Straßen, andere spucken lange Röhren und Metallträger aus, und wieder andere kriechen umher und schneiden das Metall in Stücke, um damit neue Maschinen zu bauen. Sie haben sogar ihren riesigen Flugapparat zu einer Maschine umgebaut, die die Metallkugeln einfängt, die vom Himmel fallen.« »Das sind doch Märchen der Alten aus den Zeiten vor dem großen Krustenbeben«, meinte Attila. »Als nächstes wirst du mir einreden wollen, daß es Cheela gibt, die zwischen den Sternen leben.« »Ich sah, wie zwei Cheela aus der Kugel kamen und mehrere kleine Maschinen ausgeladen haben«, berichtete die Eintreiberin. »Dann glitten sie in die Kugel zurück, und sie wurde wieder in den Himmel hinauf geschleudert.« »Der Gedanke, daß irgend jemand ohne meine Erlaubnis auf Ei kommt und geht, gefällt mir gar nicht. Was wäre, wenn alle Sklaven auf die Idee kämen, in den Sternen zu leben?« »Der Anführer des fremden Clans hat uns angeboten, uns alle Maschinen zu geben, die wir haben wollen, darunter auch neue Speisemaschinen, die jede Art von Schleichenfleisch herstellen können«, berichtete sie weiter. »Er hat gesagt, wir brauchten dann keine Herden mehr und keine Nahrungssammler, denn die ganze Arbeit könnte 299 von den Maschinen erledigt werden. Das hat mir gar nicht gefallen.« »Wenn es keine Sklaven mehr gäbe«, meinte Attila, »dann gäbe es auch keine Rechtfertigung mehr für den Imperator Und seine Krieger.« Er stopfte ein weiteres Stück der rohen Schleiche in seine Eßfalte. »Was da aus dem Himmel fällt, ist die Rebellion«, erklärte er. »Ich werde sie unter meiner Sohle zerdrücken, so wie ich es schon einmal vor langer Zeit getan habe.« Er wischte seinen Manipulator an der Kruste ab und begab sich dann zu dem alten Labyrinth-Tempel im Zentrum von Glänzender Mitte. Um den Tempel herum traf er nirgendwo Sklaven an. Sie fürchteten diesen Ort so sehr, daß sie sich niemals auch nur in seine Nähe wagten. Attila ließ den Eingang unbeachtet und umrundete die Außenseite, bis er an eine breite
Bresche in der großen Mauer kam. Als er über die zerborstenen Felsblöcke hinwegglitt, blieb die Eintreiberin zurück. »Nun komm schon, Wilde Augen«, befahl Attila. »Die Märchen der Alten werden dich doch nicht einschüchtern, oder?« »Ich habe gehört, daß es da drin Todesfallen geben soll«, sagte die Eintreiberin. »Da hast du ganz richtig gehört.« Attila glitt unbeirrt den Pfad der Zerstörung weiter entlang und ins Innere hinein. »Aber die Todesfallen hörten auf zu funktionieren, als ich das Kraftwerk erreicht hatte.« Schließlich hatten sie die letzte eingestürzte Mauer erreicht. Dahinter lag ein großer Raum, in dessen Mitte ein Haufen Metallplatten und alte Langsam-Gleiter-Knochen lagen. Attila schob die Knochen beiseite und hob eine Metallplatte auf, die so groß war wie ein mächtiger Schild. Er versetzte ihr einen Schlag, und der volltönende Klang hallte laut durch den Raum. »Fühlt sich stabil an«, meinte er. Er legte sie auf den Boden und schob sich darauf, zog die Ränder seiner Sohle ein, bis kein Körperteil mehr die Kruste berührte. In dieser Stellung verharrte er einen Moment. »Hast du mein Flüstern gehört?« fragte er dann. Die 300 Metallplatte verlieh seiner Stimme einen nachhallenden Klang. »Ich habe gar nichts gehört«, erwiderte die Eintreiberin. »Gut«, meinte Attila. »Sie ist immer noch supraleitend.« Er begann noch mehr Knochen zu verschieben und die Platten auf einen Haufen zu stapeln. »Hol ein paar Sklaven herein, die diese Platten hier auf^ sammeln«, ordnete er an. »Wahrscheinlich wirst du sie dazu erst ein wenig mit dem Peitschen-Schwert überreden müssen.« In diesem Augenblick spürte Attila plötzlich einen scharfen Schmerz in seiner Sohle. Er blickte nach unten und entdeckte dort die Klinge eines Stecheisens und ein paar kristalline Augenstielknochen. »Du mußtest mir noch einen letzten Stich versetzen, nicht wahr Be-Be?« sagte er. Seine Sohle schnippte die Knochen fort, die sich im ganzen Raum zerstreuten. »Wer ist Be-Be?« wollte die Eintreiberin wissen. »Jemand, den ich vor langer Zeit einmal gekannt habe«, meinte Attila. Als sie die Anlage durch die Bresche in der Mauer wieder verließen, sagte Attila: »Ich erinnere mich, daß ich vor einiger Zeit einen Zoo in Auftrag gegeben habe. Ich wollte alle Tiere sehen, die auf Ei leben. Wo ist er?« »In Glänzender Mitte hat es bereits einen Zoo gegeben, als ich noch ein kleines Junges war«, sagte die Eintreiberin. »Bring mich dorthin«, befahl Attila, der sich am Schwanz seines Reitschnells emporschob. Im Zoo angekommen, ritt Attila eilig an den Gehegen vorbei, bis sie die Anlage der Lansam-Gleiter erreicht hatten. Er stieg ab und glitt durch den engen Durchlaß in der dicken Mauer hindurch. »Sie sind gefährlich, o Schrecklicher«, warnte der Wärter. »Schweig, Sklave!« versetzte Attila, als der Langsam-Gleiter auf ihn zukam. »Wilde Augen, komm her!« Die Eintreiberin glitt von ihrem Reittier herab und betrat mit gezücktem Kurzschwert das Gehege. »Du wirst dich dauernd vor ihm hin- und herbewegen und ihn ablenken,« sagte Attila. Er schob sich neben eine 301 Seite des Tieres und verhielt sich ganz still. Der Langsarn-Gleiter richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die Eintreiberin. Sie wich zurück, und das Tier folgte ihr. Währenddessen eilte Attila von hinten an den LangsamGleiter heran und bekam in dem Moment die äußerste Ecke einer Platte zu fassen, als sie sich von der Kruste abhob und auf die Oberseite des Tieres hinaufglitt. An der Vorderseite des Langsäm-Gleiters stach die Eintreiberin abwechselnd nach dem Tier oder brüllte laut in die Kruste. Die riesigen Platten stiegen über der Oberseite des Langsam-Gleiters empor, und es schien, als würden sie jeden Augenblick auf sie herabfallen. Plötzlich meinte sie das Tier ihren Namen rufen zu hören. »Wilde Augen«, ertönte eine gedämpfte Stimme. »Schau nach oben!« Die Eintreiberin wich zurück und erblickte Attila auf der Oberseite des Langsam-Gleiters, dessen Sohle sich langsam in gleichem Maße nach hinten bewegte, wie sich die Platten bedrohlich nach vorne schoben. »Ich habe noch nicht vergessen, wie man das macht«, verkündete Attila stolz. Er schlug das Tier hart auf die Oberseite, und es blieb verwirrt stehen, er schlug an einer anderen Stelle zu, und es setzte sich erneut in Bewegung. »Es ist eine dämliche Art zu reiten«, sagte er, und seine Sohle begann sich wieder zu verschieben, um ihn auf der Oberseite der Kreatur zu halten. »Deine Sohle kommt niemals zur Ruhe, wie es auf einem Schnell der Fall ist. Du mußt genauso weit laufen wie das Tier, bloß rückwärts.« Er trieb den Langsam-Gleiter an, bis er so schnell voranglitt wie er konnte/und rutschte dann flink über das nach- I schleppende Ende auf die Kruste hinunter. »Hol dir ein paar Sklaven und nagel diese supraleitenden Platten an das Tier. Keine Magnetbarriere wird mich aufhalten!« »Er ist so langsam; es wird ein Groß Umdrehungen dauern, bis man damit die Wohnstätte der Fremden erreicht«, wandte die Eintreiberin ein. »Ich sehe, daß du nie eine Armee geführt hast«, meinte 302
Attila. »Ein paar Krieger auf Schnells können sich rasch über die Kruste fortbewegen; eine ganze Armee von Kriegern kommt hingegen nur mit der Geschwindigkeit eines Langsam-Gleiters voran, doch wie ein LangsamGleiter frißt sie alles, was ihr in den Weg gerät.« Er griff in seine Falte und holte etliche dunkelrote Kugeln heraus. Zwei davon steckte er in seine Eßfalte, und den Rest rollte er dem näherkommenden Langsam-Gleiter in den Weg. Zeit: 21:03:45 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, den 21. Juni 2050 »Seht mal alle her«, sagte Abdul. »Da unten auf Ei geht etwas Merkwürdiges vor sich.« Er verschob einen Regler, und das Bild erschien auf allen Schirmen. »Das sieht aus wie eine Kolonne von Treiberameisen«, meinte Cesar. »Eine treffende Analogie, Dr. Wong«, bestätigte Seiko. »Ich habe die zusammengefaßten Lageberichte der Cheela verfolgt. Die Landebasis rechnet mit einem Angriff von Seiten Attilas. Das muß seine Armee sein.« »Sie werden die Basis in zwanzig Sekunden erreicht haben«, meinte Pierre. »Wenn wir doch nur etwas tun könnten.« »Die gefleckten Cheela haben rosa Augen«, überlegte Seiko. »Erinnert ihr euch, wie der Prophet Rosa Augen von unseren Laserstrahlen beeinflußt wurde?« »Dann richte doch den Laser auf die Landebasis, Abdul!« mischte sich Jean ein. »Okay. Aber ein Laserstrahl hat auf einen Cheela keine andere Wirkung, als daß er ihn aufreizend kitzelt.« Zeit: 21:04:15 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Das Jaulen der Pumpen am Gravitationskatapult veränderte seine Tonhöhe, als sie das schwerbeladene Lastschiff 303 einfingen und es sanft auf die Entlade-Plattform absenkten. Dutzende der Cheela-Raumfahrer strömten über die gebogene Laderampe und begannen die Fracht auszuladen. Stern-Zähler verließ das Steuerdeck und kam herunter, um Krusten-Kriecher zu begrüßen. »Ich hatte Schwierigkeiten, Freiwillige zu finden, die ich in der Sicherheit des Alls zurücklassen konnte«, berichtete Stern-Zähler. »Jeder will unbedingt hier runter, wo was los ist.« »Ich habe gesehen, daß Sie auch Waffen mitgebracht haben«, stellte Krusten-Kriecher beifällig fest. »Positronenstrahlen, Fontänenhaubitzen, Antimaterie-Minen, Schlitzgleiter und etliche Meter SupermagBarrierespulen.« »Ich werde die Spulen sofort zu Ingenieur Elektro-Magnet bringen lassen«, sagte Krusten-Kriecher. »Die Gefleckte Horde ist nur noch wenige Umdrehungen von uns entfernt.« »Ich konnte sie sehen, als wir herunterkamen«, meinte Stern-Zähler. »Die Kolonne erstreckte sich über mehrere hundert Meter. Sind Sie sicher, daß wir gegen diese Riesenzahl eine Chance haben?« »Die meisten davon sind Träger und Nachschubpersonal«, erklärte Krusten-Kriecher. »Die einzigen, die wir wirklich fürchten müssen, sind Attila selbst und etwa drei Dutzend Groß seiner gefleckten Krieger. Wenn wir die besiegen können, dann gibt der Rest von allein auf.« »Drei Dutzend Groß gegen zwei Groß«, sagte Stern-Zähler. »Aber unsere 288 Leute haben die Technik auf ihrer Seite.« »Wir haben noch mehr als das auf unserer Seite«, ergänzte Stern-Zähler. »Und das wäre?« »Die Gewißheit, daß wir keinesfalls unterliegen dürfen. Schubsen Sie mich ein paar Meter mit halber Kraft nach oben, damit ich über alles berichten kann, was bei denen vorgeht.« 304 Zeit: 21:04:16 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 Attila ritt mit seinem Schnell an der Spitze seiner Armee. Eine Abteilung nach der anderen, jede von einem Groß-Kommandanten geführt, der ein Groß berittener Krieger befehligte, zog auf der langen gepflasterten Straße nach Westen. Neben Attila ritt die Eintreiberin. »Eine hübsche Straße haben die Fremden da für uns gebaut«, sagte sie. »Damit sie ihr Tod schneller ereilt.« »Sie sieht frisch gepflastert aus«, meinte Attila. »Das verstehe ich nicht und ich verstehe auch nicht, was es mit den warmen Flecken auf sich hat.« »Warme Flecken?« »Steck gefälligst deine schwarzen Augäpfel unter deine schlaffen Augenlappen und benutz die rosa Augen, die dir der Glänzende gegeben hat«, fauchte Attila. Die Eintreiberin zog alle normalen Augen ein und blickte nur mit den rosafarbenen auf die Straße. Sie konnte ungleichmäßig verteilte, ultrarote Stellen entlang der Straße ausmachen, als ob sich dort etwas Warmes unter der Kruste befand. »Was ist das?« fragte sie. »Ich weiß es nicht. Und ich mag Dinge nicht, deren Bedeutung ich, nicht verstehe.« Mittlerweile hatten sie die Peripherie der Basis erreicht. Die vordersten Krieger hielten an. Es würde beinahe eine Umdrehung vergehen, bis der Rest der Kolonne sich hier versammelt hatte. Attila hatte sich auf diese Schlacht gefreut. Zum ersten Mal seit vielen Generationen spürte er wieder das Prickeln der Gefahr in seiner Hülle. »Bring die Langsam-Gleiter her!« befahl er. »Und die ersten zwölf Groß-Kommandanten sollen mir Meldung
erstatten.« Die zwölf Gruppenführer ritten auf ihren Schnells heran und nahmen um ihn herum Aufstellung. »Ich werde mit dem ersten Langsam-Gleiter über die Barrieren am Haupteingang hinwegreiten«, erklärte Attila. 305 »Die ersten vier Abteilungen folgen mir dann nach.« Er wandte sich an den Groß-Kommandanten der Vierten Abteilung. »Zerrissene Sohle!« »Ja, o Frecklicher.« Der Krieger lispelte wegen einer furchtbaren Narbe in seiner Sohle, die er vom Biß eines Schnells zurückbehalten hatte. »Du wirst den zweiten Langsam-Gleiter über die Barriere zur Rechten führen, und die Abteilungen Fünf bis Acht werden dir folgen. Elf Augen wird seinen Langsam-Gleiter links hinüberbringen.« »Bringt meinen Langsam-Gleiter her!« befahl er und glitt von seinem Schnell herunter. Der Schnell blieb bei seinem Weibchen stehen, das von der Eintreiberin geritten wurde. »Es ist schon beinahe Zeit für das Umdrehungsmahl«, wandte die Eintreiberin ein. »Wir werden uns davon nicht aufhalten lassen«, sagte Attila. »Später können meine Krieger zu ihrem Umdrehungsmahl dann das Fleisch der Fremden verspeisen.« Attila schob sich über das nachschleifende Ende des Langsam-Gleiters hinauf, und das mächtige Tier mußte sich seinem Willen unterwerfen. Die Groß-Kommandanten rissen ihre Reittiere herum und eilten zurück, um ihre Abteilungen zu versammeln. Als die Krieger Attila auf seinem Langsam-Gleiter erblickten und das Gebrüll ihrer Groß-Kommandanten hörten, hasteten sie augenblicklich vorwärts, und ihr Kampfgeschrei mischte sich mit dem Brüllen der Schnells. »Sie greifen an!« rief Krusten-Krieger. »Er hält es noch nicht einmal für nötig, vorher mit uns zu sprechen!« »Es ist lange her, seit der Schreckliche das letzte Mal einen Anlaß zum Kämpfen gefunden hat«, meinte Zerbeulter Schild. »Er hatte wahrscheinlich Angst, ihr könntet euch ergeben.« »Wir werden ihm einen Kampf liefern«, versprach Krusten-Krieger. »Feuert die Antimaterie-Minen ab!« Ingenieur Netz-Gerät legte einen Hebel um, ein dumpfes Grollen setzte sich wellenförmig fort und dann explodierte die Straße, die nach Westen führte, unter den Sohlen der 306 Gefleckten Horde. Etliche Schnells und die darauf reitenden Krieger wurden von den Explosionen zerrissen und an den Straßenrand geschleudert. Diejenigen, die sich dicht am Straßenrand oder zwischen zwei Minen aufgehalten hatten, glitten hastig von der Straße herunter, doch in diesem Moment rumpelte es erneut in der Kruste, und die zwei Minenstränge rechts und links der Straße detonierten. Als die Antimaterie-Mine hochging, spürte Attila das dumpfe Krachen durch den Körper seines LangsamGleiters hindurch. Das Tier gab einen entsetzlichen Schmerzensschrei von sich, aber die Kreatur auf seiner Oberseite trieb es unbarmherzig voran, und so setzte es seinen Weg fort. Attila konnte fühlen, daß der LangsamGleiter verletzt war, aber bis auf eine zerbrochene Platte unter seiner Rüstung war er immer noch funktionstüchtig. Der Schreckliche spähte von seinem Aussichtspunkt auf der Oberseite des Langsam-Gleiters in alle Richtungen und schätzte die Verluste ein, die seiner Armee zugefügt worden waren. Sein Reittier hatte noch Glück gehabt, aber der Armee hatte dieser Angriff aus dem Hinterhalt übel mitgespielt. Die Krieger waren zwar nicht in Panik geraten und glitten immer noch auf den Feind zu, aber ihre übliche Marschordnung hatte sich aufgelöst, und sie richteten alle mindestens ein Auge starr auf den Imperator. Attila zog seine biegsamen Schwerter und wirbelte sie in einem komplizierten Bewegungslauf um seinen Körper herum, woraufhin die Krieger in ihrem unorganisierten Vorstoß innehielten und sich nach ihren GroßKommandanten umsahen. Die Groß-Kommandanten, deren biegsame Schwerter ebenfalls Befehlssignale gaben, sammelten ihre Mannschaften um sich und meldeten dann ihrem Anführer durch Zeichen, daß sie bereit waren. Nur noch sechs Abteilungen fanden sich zusammen — die Hälfte der Krieger war durch die Antimaterie-Minen umgekommen. Mit blitzenden Schwertern ordnete Attila seine Abteilungen hinter den drei Langsam-Gleitern, und der Angriff wurde fortgeführt. »Dann wollen wir das Biest mal in Gang bringen!« rief 307 Attila, während er die Spitze des Stecheisens in die Lücken zwischen den Rüstungsplatten des Tieres rammte. Er schob sich wieder rückwärts, als das Tier schwerfällig voranglitt. Dabei blickte er zwar nach oben, wo die riesige Kugel über ihm am Himmel hing, doch er ließ sich davon nicht einschüchtern. War erst einmal die Festung gefallen und die Energiezufuhr abgeschnitten, dann würde auch die Kugel fallen. Hoch über dem Schlachtfeld beobachtete Stern-Zähler den Verlauf der Geschehnisse unter ihm und gab seine Beobachtungen an seine Freunde weiter. »Die ersten zwei Abteilungen sind jetzt in Reichweite der Fontänenrohre. Koordinaten eins-drei und eins-sechs.« »Eins-drei abgefeuert«, meldete Metall-Bieger und warf mehrere kleine Hebel auf seiner Konsole um. »Einssechs I abgefeuert.« Aus mehreren Reihen von langen, beinahe vertikalen Rohren wurden Salven abgefeuert, und unzäh- I lige Dutzend winziger, schwerer Kugeln schössen in den Himmel empor, um von dort wie rächende Miniaturmeteoriten auf die Gefleckte Horde herabzustürzen. Die Kruste vibrierte unter den Schreien der verletzten Krieger und Schnells, doch der Angriff ging weiter. »Koordinaten eins-zwei. Koordinaten eins-sieben. Koordinaten zwei-drei«, gab Stern-Zähler von oben an.
Unten ließ Attila erneut seine biegsamen Schwerter tanzen und gab damit jetzt ein anderes Signal. Die GroßKommandanten änderten ihre Vormarschrichtung zu einem Zickzackkurs ab. Viele der tödlichen, herabstürzenden Kugeln verfehlten daraufhin ihr Ziel. Attila hörte ein Grunzen, als der Krieger neben ihm einen Treffer durch seinen Gehirnknoten abbekam. Der Tote wurde von den umlaufenden Platten über die Vorderseite des Langsam-Gleiters hinausgeschoben und dann auf der Kruste darunter zerstampft. »Drei-drei. Vier-sieben. Vier-zwei. Fünf-sieben. Sechs- ; sieben. Sieben-sieben«, meldete Stern-Zähler. »Meine Rohre sind leer«, erwiderte Metall-Bieger. »Attilas Langsam-Gleiter hat fast die Barriere erreicht .$ 308 und die anderen beiden liegen nicht allzu weit zurück«, teilte Krusten-Kriecher ihnen mit. »Wir müssen diese Tiere aufhalten! Aktiviert die Roboter.« An den Rohren, die nach dem Prinzip der Fontänenpflanzen funktionierten, war der Beschuß eingestellt worden. Die Angreifer näherten sich unaufhaltsam der Barriere. In Erwartung neuer Überraschungen verhielt Attila seinen Langsam-Gleiter. Vor den nahezu unsichtbaren Magnetbarrieren lagen mächtige Metallblöcke, die plötzlich zum Leben zu erwachen schienen. Ein jeder dieser Blöcke besaß eine Anzahl Manipulatoren, die zum Zerquetschen, Zerschneiden oder Versengen eingesetzt werden konnten. Die Roboter waren darauf programmiert, die Langsam-Gleiter und vor allem auch die Reiter auf ihrer Oberseite anzugreifen. Einige wurden unter den massiven Panzerplatten zerdrückt, während andere es schafften, das Hinterende der Tiere zu erreichen und die Oberseite zu erklettern. Schwertklingen konnten ihnen nichts anhaben, und wenn ein Schnell einmal mit einem dieser schneidenden, brennenden, kneifenden Roboter aneinandergeraten war, so weigerte er sich entschieden, sich erneut in ihre Nähe zu wagen. »Setzt die Stachel ein!« brüllte Attila zu den berittenen Kriegern hinüber. Sie luden ihre speziell ausgebildeten Falten mit kurzen, schweren Stacheln, die von ihren inneren Muskeln in einem kurzen Bogen von den Schnells herabgeschleudert wurden. Die Stacheln durchschlugen die Metallhülle der Roboter und hinterließen eine glühende Wunde. Einige der Kampfmaschinen fielen daraufhin aus, andere wurden an die Kruste genagelt, aber der Rest führte unbeirrt seinen Auftrag aus. »Zwei klettern gerade auf den Langsam-Gleiter!« warnte einer der Krieger neben Attila. »Schießt Stachel herüber!« Attila schlug unbarmherzig auf den Langsam-Gleiter ein, um ihn dazu zu bewegen, sich zurückzuschieben. Die Roboter mußten jetzt gegen den Abwärtslauf der gleitenden Platten anklettern, und das 309 verlangsamte ihr Vorwärtskommen. Nacheinander wurden sie von den Stacheln abgeschossen. Der LangsamGleiter stöhnte erneut auf, als einer der Stacheln sich durch eine Lücke in der Rüstung bohrte. Um das Tier herum drängte sich mittlerweile ein wirbelnde Masse von Kriegern auf Schnells, die den Rest der Roboter in dem Augenblick vernichteten, als er sich zum Angriff bereit machte. »Die Roboter haben zwei der Langsam-Gleiter erwischt«, meldete Stern-Zähler. »Das können wir durch die Kruste hören«, übertönte Krusten-Kriecher das Gebrüll der Tiere. »Es ist bestimmt nicht sehr angenehm, wenn sich ein Konstruktionsroboter seinen Weg zu deinem Gehirnknoten durchschlägt und durchbrennt.« Mit einem jaulenden Aufschrei endete das Toben der Tiere. Der übriggebliebene Langsam-Gleiter griff den Schrei seines sterbenden Partners auf und verfiel dann wieder in das übliche protestierende Stöhnen, als die winzige Gestalt auf seiner Oberseite wiederholt auf ihn einstach, um ihn erneut in Bewegung zu setzen. »Den wichtigsten haben sie nicht erwischt«, meinte Krusten-Kriecher. »Attila ist gerade dabei, eine Bresche in die Magnetbarriere zu schlagen.« »Folgt mir«, schrie Attila. Die biegsamen Schwerter führten einen Siegestanz auf, während er den gepanzerten Langsam-Gleiter auf die Magnetbarriere hinauftrieb. Durch die Kruste drang ein Stöhnen, als die Generatoren mit äußerster Kraft arbeiteten, um das Feld aufrecht zu erhalten, dann fiel die Barriere. Mit einem Triumphgebrüll strömte die Vorhut der Gefleckten Horde durch die Öffnung. Sie prallten jedoch wieder zurück, als sie von einem Sperrfeuer an Positronenstrahlen empfangen wurden, das Löcher in ihre Hüllen fraß. Die Positronenstrahler verfügten in der dünnen Atmosphäre zwar nur über eine geringe Reich310 weite, aber die war größer als die Reichweite der Stachel. Doch die Stachel konnten in jede beliebige Richtung geschleudert werden, während die Positronenstrahlen spiralförmig entlang der ost-westlichen Magnetfeldlinien verliefen. Die Raumfahrer mit ihren Strahlern und die Krieger mit ihren Stacheln fochten aus großer Entfernung miteinander wie Springer, die in einem Schach-Endspiel gegen Läufer stritten. »Hirten! Streut die Dornen aus!« rief Buchstaben-Leser seinem Clan zu. Dann hastete er selbst zwischen den Knäueln der Kämpfer hindurch und warf winzige Sohlendornen vor die Schnells. Sein Beispiel fand sofort Nachahmer. Die vorrückenden Schnells glitten in die Dornen hinein, brüllten und blieben stehen. Ihre Reiter fluchten und schlugen heftig auf sie ein, um sie vorwärtszutreiben, aber viele wurden dabei von den durchbohrenden Positronenstrahlen getroffen. Langsam und unerbittlich wurden die Verteidiger zurückgedrängt. Attila hob aufs neue seine elastischen Schwerter und signalisierte ein Kommando. Die Krieger um ihn herum fluchten zornig und kämpften dann noch
erbitterter weiter. »Was ist passiert?« fragte Krusten-Kriecher Zerbeulten Schild. »Attila hat beschlossen, den Rest der Armee dazuzurufen«, erklärte sie. »Die vorderste Abteilung ist wütend, daß sie die Schlacht nicht allein beenden darf.« »Sie kommen rasch näher«, meldete Stern-Zähler. Attila gab erneut ein Signal, und die Krieger um ihn trennten sich und zogen sich zurück, um eine Wache zu bilden, die die Lücke in der Magnetbarriere verteidigen sollte. Als der Rest der Armee herankam, glitt Attila von der Oberseite seines Langsam-Gleiters herunter und bestieg seinen Reitschnell. Mit sausenden Schwertern führte er die Gefleckte Horde triumphierend durch die Lücke. »Laßt die Schlitzgleiter los!« brüllte Krusten-Kriecher. 311 »Und achtet darauf, wo ihr sie einsetzt, denn sie können Freund und Feind nicht unterscheiden.« Unzählige Dutzende kleiner Motorgleiter jagten über die Kruste. Auf ihren Oberseiten glitzerten drei lange rasiermesserscharfe Klingen, die manch einen Krieger dazu zwangen, sein verletztes Reittier aufzugeben. Aber selbst auf ihren eigenen Sohlen waren die Krieger der Gefleckten Horde ein furchtbarer Gegner. Groß für Groß drangen die Schnells und ihre Reiter durch die Bresche. Die Fontänenrohre waren mittlerweile wieder geladen worden und spuckten erneut Kugeln aus. Positronenstrahlen blitzten durch die Atmosphäre und fraßen Löcher in das Fleisch, und Gleitfahrzeuge, die von furchtlosen Raumfahrern gelenkt wurden, streuten von allen Seiten Antimaterie-Bomben aus, bis die Fahrer von einem Peitschenschwert oder einem Stachel in ihrem Gehirnknoten aufgehalten wurden. Doch die Verteidiger wurden hinter ihre letzten Magnetbarrieren zurückgeworfen, und der gepanzerte Langsam-Gleiter rückte erneut vor. Ein arg mitgenommenes Gleitfahrzeug hielt neben Krusten-Kriecher und Zerbeultem Schild an. Der Fahrer war Rächendes Auge, und seine Falten waren mit schweren Gegenständen vollgestopft. »Wir müssen diesen Langsam-Gleiter aufhalten«, sagte Rächendes Auge. »Senkt die Barrieren, damit ich sie überfliegen kann.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er die Geschwindigkeitssteuerung auf volle Kraft und hielt direkt auf die Barriere zu. »Halt!« schrie Krusten-Kriecher hinter ihm her und gab Ingenieur Elektro-Magnet ein Zeichen. Die Barriere fiel, das Gleitfahrzeug schoß darüber hinweg, und die Barriere sprang wieder empor. »Ein wahnsinniger Narr«, lautete der Kommentar von Elf Augen an Attila. »Rückt mit Stacheln vor!« befahl er dann seinen Kriegern hinter ihm. »Er hat es auf den Langsam-Gleiter abgesehen!« brüllte 312 Attila und schlug auf seinen Schnell ein. Der Schnell der Eintreiberin war bereits vor ihm, und sie zog ihr Peitschenschwert aus der Scheide. Rächendes Auge täuschte ein Wendemanöver vor und rollte ihr eine Antimateriebombe entgegen, aber sie kannte sein wahres Ziel und war nicht zu hintergehen. Er erhöhte die Geschwindigkeit seines Gleitfahrzeugs bis auf Maximum und versuchte an ihr vorbeizukommen, aber ihr Peitschenschwert erwischte ihn an der Seite. Rächendes Auge wurde zerfetzt, als die Antimaterie-Bombe in seiner Falte in einer gewaltigen Explosion detonierte. Die Überreste des Gleitfahrzeugs rutschten unter die Platten des unaufhaltsam vorrückenden Langsam-Gleiters. Eine leicht benommene Eintreiberin wand sich unter ihrem toten Schnell hervor, befahl einem Krieger, von seinem Reittier abzusteigen und zog bereits ein neues Peitschenschwert aus ihrer Waffenfalte, als Attila herankam. »Jetzt kann uns nur noch ein Wunder retten«, sagte Krusten-Kriecher. Plötzlich drang ein Schmerzensschrei aus der heranrückenden Armee herüber, und gleich darauf wie ein Echo der Schrei eines- Kriegers aus einem der befreundeten Clans. »Attila und seine Krieger ziehen ihre Augäpfel ein«, meldete Zerbeulter Schild völlig verwirrt. »Es ist zu hell!« rief Buchstaben-Leser und zog drei seiner Augen ein. »Was ist zu hell?« fragte Krusten-Kriecher. »Das ultrarote Lichtsignal aus der Mitte der Augen des Glänzenden. Es tut meinen rosa Augen weh.« »Das ist der Laserapparat der Menschen!« rief Krusten-Kriecher aus. »Die meisten der Horde haben nur noch ein paar Augen oben«, sagte Zerbeulter Schild. »Es fällt ihnen schwer, ihre Reitschnells zu dirigieren.« Die Eintreiberin zog die gefleckten Augen ein und blickte mit ihren zwei gewöhnlichen Augen umher. Sie mußte sie vor- und zurückfahren, um herauszufinden, was um sie herum passierte. 3*3 »Macht das Licht aus!!!« brüllte Attila, der all seine Augen unter den Lappen hatte. Er war immer stolz darauf gewesen, daß er kein einziges gewöhnliches Auge besaß, auch wenn das bedeutete, daß er niemals die kleine Schrift auf einer Rolle lesen konnte. Sowohl der Reitschnell der Eintreiberin als auch Attilas Tier wurden von Schlitzgleitern getroffen und blieben stehen, um ihre Wunden zu pflegen. Das ultrarote Licht strahlte weiter. »Diese dummen Schnells sind jetzt nutzlos«, rief Attila. Er zog seine drei elastischen Schwerter und glitt von der Oberseite seines Schnells herunter, wobei die sausenden Schwerter seine Flanke vor den ungesehenen Gegnern schützen sollten, während er in dem feindseligen, grellen Licht versuchte, unter seinen Augenlappen hervorzulugen. Die Eintreiberin glitt neben ihm herunter, um ihrem Anführer beizustehen.
Ein schrilles kreischendes Geräusch zog an ihnen vorbei, und ein weiteres schien unter ihnen hindurchzuziehen. Erst als das winzige Geschoß mit den extrem scharfen, vertikalen Klingen an ihnen vorübergejagt war, bemerkte die Eintreiberin, daß ihre Sohle sich glitschig anfühlte und die Muskeln nur mit Mühe zu bewegen waren. Attila schrie auf, lehnte seinen kleinen, muskulösen Körper gegen den ihren und versuchte seine Sohle anzuheben, um einem weiteren schmerzhaften Schnitt auszuweichen. Die Reitschnells zu töten war ein leichtes Spiel, erinnerte sich Krusten-Kriecher später. Ohne die Reiter, die sie schützten, boten sie ein ideales Ziel für einen Positronen--strahl. Die gefleckten Krieger waren trotz ihrer überwiegenden Blindheit zäher, denn einmal auf der Kruste konnten sie das Näherkommen eines Gegners durch ihre Sohlen fühlen, und die meisten von ihnen hatten noch ein oder mehrere gewöhnliche Augen, mit denen sie sehen konnten. Attila jedoch nicht. 3M Die Schlacht neigte sich ihrem Ende zu, aber das ultrarote Licht von oben strahlte weiter herab. »Wird es denn niemals aufhören!« rief Attila und wirbelte seine biegsamen Schwerter so wild um sich, daß sie ihn fast wie ein Schild schützten und die Eintreiberin von ihm abrücken mußte, um seinen Klingen zu entgehen. »Die Menschen brauchen für alles eine Ewigkeit«, sagte Krusten-Kriecher nicht weit von ihnen entfernt. »Möge der Glänzende sie dieses eine Mal noch ein bißchen länger aufhalten.« »Kommt doch her und holt mich, Sklaven«, höhnte die Eintreiberin und ließ ihr Peitschenschwert auf die Kruste knallen. Die Muskeln in ihrer Waffenfalte feuerten einen Stachel ab, aber das Geschoß flog zu kurz und blieb vibrierend in der Kruste stecken. Wieder knallte sie drohend mit ihrem Peitschenschwert. »Mit Vergnügen«, meinte Zerbeulter Schild und hob ihren Schild und ihren Spieß auf. Das Peitschenschwert der Eintreiberin wirbelte rascher, als sie auf Zerbeulten Schild zuglitt. »Warte, Zerbeulter Schild«, rief Krusten-Kriecher. Aus sicherer Entfernung, außer Reichweite des Peitschenschwertes schoß er einen Positronenstrahl auf die Eintreiberin ab. Er hinterließ ein großes Loch. Während ihr die Körpersäfte aus Sohle und Hülle flössen, ließ die Eintreiberin ihr Schwert vorschnellen, um sich ein Auge ihres Peinigers zu holen, doch ein zerbeultes Schild hielt den Schlag ab. Ein weiterer Schuß aus der Antimateriewaffe brannte ein tiefes Loch in ihren Gehirnknoten. Die Eintreiberin zerfloß. Die Kruste um Attila herum wurde immer stiller, aber das ultrarote Licht strahlte weiter. Attila hörte einen Moment lang auf, seine biegsamen Schwerter zu schwingen, um mit seiner Sohle zu erlauschen, was ringsum vor sich ging. Die Manipulatoren, die die Schwerter hielten, spürten ein Vibrieren in den Griffen. Als Attila die Schwerter erneut 3*5 schwenken wollte, war nichts mehr zum Schwenken da. Die Schwertklingen hatten sich aufgelöst. Attila schob ein rosa Auge in das ultrarote Glühen hinaus und erblickte eine gefleckte Hülle!« »Gib mir dein Schwert«, befahl er. »Sehr wohl, o Schrecklicher«, kam die Antwort, und Buchstaben-Lesers Schwert schnitt das emporgereckte Auge ab. »Das war die Rache für Rächendes Auge!« tönte Buchstaben-Leser. Attila schrie laut vor Schmerz. Krusten-Kriecher hob seinen Positronenstrahler. »Bringen wir es hinter uns.« »Nein!« wandte Zerbeulter Schild ein. »Er gehört mir!« Sie sprang auf die Oberseite von Attila. Sein Körper wand und drehte sich, und seine Sohle hob fast von der Kruste ab, als er verzweifelt versuchte, seine Angreiferin abzuschütteln. Doch sie drückte ihn nieder und stach ihr Kurzschwert in seinen Gehirnknoten. Attilas Augenlappen entspannten sich, und die rosa Augen sanken auf die Kruste nieder, während das ultrarote Licht aus den Augen des Glänzenden endlich verblaßte. Zerbeulter Schild hob einen leblosen Augapfel hoch und schlug ihn von seinem Stiel ab. Dann wandte sie sich dem nächsten zu. »Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf«, zählte sie. »Damit wäre abgegolten, was du mir schuldest. Jetzt für die Ältesten, die neben mir gestanden haben.« Sie glitt weiter um den leblosen Körper herum, bis sie an das letzte Auge kam. Krusten-Kriecher hielt es in seinem Manipulator und hatte bereits ein kleines Messer gezückt. »Ich habe genug«, meinte Zerbeulter Schild. »Du kannst es haben.« »Das ist für Be-Be.« Und Krusten-Kriecher schnitt das letzte Auge des Imperators von Drachenei ab. »Wer ist Be-Be?« wollte Zerbeulter Schild wissen. »Jemand, den ich vor langer Zeit einmal gekannt habe«, erwiderte er. 316 Zeit: 21:04:17 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 »Ausgezeichnete Frequenzwahl, Jean«, lobte Seiko. »Kurzes Ultraviolett. Zu lang für die Sicht eines normalen Cheela und zu kurz, um den sexuellen Nebeneffekt hervorzurufen. Das hat die Schlacht eindeutig beeinflußt.« »Was geschieht gerade?« fragte Abdul. »Du meinst wohl: was ist geschehen. Es war alles in einer Zehntelsekunde vorbei.« »Aber wer hat gewonnen?« rief Abdul.
»Natürlich die Cheela aus dem All.« Seiko besah sich die Bruchstücke der zusammengefaßten Nachrichten, die von der Kruste unten hinauf gesendet worden waren. »Mit einer kleinen Unterstützung von ihren Freunden«, sagte Abdul. »Sie werden noch ein wenig mehr Hilfe brauchen«, meinte Seiko. »Ihre Bibliotheken sind bei dem Sternbeben zerstört worden, und sie möchten, daß wir ihnen die Information aus unseren Speicherkristallen übersenden. Da sie nicht alles brauchen, werden sie unseren Computern mitteilen, welche Abschnitte sie senden sollen.« »Ich werde den ersten Kristall hinaufbringen.« Pierre, der an der Bibliothekskonsole saß, griff in den Kristallspeicher und zog den ersten Kristall heraus. Er war immer noch mit A bis AME beschriftet, aber der Inhalt der menschlichen Lexika war schon vor langer Zeit durch das Wissen der Cheela ersetzt worden. Der Kristall konnte von der Kommunikationskonsole auf dem Hauptdeck aus schneller überspielt werden, daher zog sich Pierre so rasch er konnte an der Metalleiter empor, wohl wissend, daß ein Mensch sich noch so schnell bewegen mochte, es war in jedem Fall zu langsam für einen Cheela. 317 Rettung Zeit: 01:01:10 Mittlere Greenwich-Zeit Dienstag, 21. Juni 2050 »Das ist der letzte Speicherkristall, Pierre«, meldete Jean und wandte sich von der Kommunikationskonsole ab. »Der größte Teil hierauf ist allerdings verschlüsselt. Ich hoffe, sie haben die Schlüssel dafür.« Sie schwenkte herum, als das Abbild von Himmels-Sprecher auf dem Schirm aufleuchtete. »Schlüssel eindeutig«, sagte er. »Auf Wiedersehen.« »Mir hat der alte Himmelslehrer besser gefallen«, . brummte Pierre. »Er hat sich wenigstens immer so wortreich ausgedrückt, daß einem genug Zeit zum Überlegen blieb.« »Jetzt haben wir eine Menge Zeit zum Überlegen«, sagte Jean leise, als sie die Kommunikationskonsole abschaltete. Sie griff unter den Tisch, nahm den Speicherkristall heraus, der aus der Bibliothek stammte und ersetzte ihn durch den regulären Arbeitskristall, auf dem alle Informationen aufgezeichnet wurden, die die Konsole durchliefen. »Zuviel Zeit«, sagte Pierre. Er folgte Jean, die sich wie ein Otter den Weg durch den Schacht zum Mannschaftsdeck entlangwand. Sie schwebte zur Bibliothekskonsole und legte den Kristall wieder in seinem Speicherfach ab. Pierre, der als Kommandant für alle die Verantwortung trug, suchte die Kombüse auf und ging die Lebensmittellisten an den Schränken durch. Die Vorräte reichten noch für acht Tage bei normalen, sechszehn bei halben, zweiunddreißig bei Viertelrationen ... das war nur ein Monat. Aber bis Otis seine lange elliptische Umlaufbahn um das Ei hinter sich gebracht hatte, würden noch weitere fünf Monate vergehen. Pierres Blick mied die Reihe der Schränke mit leeren Etiketten. Er schwebte an Jean vorbei, die immer noch an der Bibliothekskonsole saß und schwenkte in den Wohnraum ein, wobei er in der geringen Schwerkraft mehrmals 319 den Kontakt mit dem Boden verlor und leicht auf und ab hüpfte. Doc sprach gerade mit Seiko, und Abdul blickte angestrengt aus dem Sichtfenster im Boden. »Alles klar mit den Speicherkristallen?« fragte Abdul und schaute auf. »Ja«, sagte Pierre und schwebte sanft auf das Sitzkissen neben ihm herunter. »Bleibt uns, die wir ja bloß Menschen sind, noch irgend etwas zu tun?« wollte Abdul wissen. »Die. Cheela brauchen uns nicht mehr. Sie sind schon dabei, die Folgen der Katastrophe zu überwinden.« Ein winziger, weißglühender Punkt erschien vor dem Sichtfenster und verharrte dort auf der Stelle. »Lächeln«, sagte Abdul, »du wirst wahrscheinlich gerade von ein paar Touristen fotografiert.« Aus dem Punkt ergoß sich ein Funkenschauer. Dann blitzte ein flimmerndes Licht auf, die Funken vereinigten sich wieder mit dem glühenden Punkt, und er raste davon. »Wie sehen deine Pläne für den Rest der Mission aus, Pierre?« fragte Seiko. »Ich habe keine Pläne.« »Du mußt aber welche haben!« Seiko klang verstört. »Wir dürfen nicht unser Leben vergeuden, indem wir gar nichts tun, bis wir sterben.« Pierre hob die Augen von dem Sichtfenster. Der Schmerz, den seine Miene ausdrückte, war auch durch den zotteligen, ungekämmten Bart zu erkennen. »Ich sehe keine Möglichkeit, uns zu retten«, sagte er, und in seinen Augen stiegen Tränen auf. »Natürlich nicht«, beruhigte ihn Seiko. »Es gibt keine Möglichkeit, uns zu retten. Das ist einfach Mathematik. Es gibt fünf Menschen, die ernährt werden müssen, und wir haben nur eine Lebensmittelration, die acht Tage reicht. - Vielleicht gelingt es uns, die Menge zu strecken, indem wir unsere Körperreserven aktivieren, aber deshalb stehen wir in einem Monat trotzdem ohne Nahrung da. Wir könnten sogar in Erwägung ziehen, Amalitas Körper zu verspeisen. I 320 Im günstigsten Fall brächte uns das ungefähr 50 Kilo Fleisch ein.« Sie wandte sich an Doktor Wong. »Wie viele Kalorien hat Fleisch, Doktor?« »Ich kann einfach nicht glauben, was ich hier höre!« entrüstete sich Abdul. »Nie und nimmer werde ich zum Kannibalen! Ich gehe!« Er wollte gerade durch die Tür zu seinem Privatquartier tauchen, als Pierre ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn zurückhielt. Er ließ sie dort, während er dem Doktor zunickte, daß er antworten
sollte. »Die meisten Fleischsorten haben ungefähr 4000 Kalorien pro Kilogramm«, erklärte Doktor Wong. »Eine durchschnittliche Person könnte mit einem halben Kilo pro Tag auskommen, wenn diese Ernährungsweise mit Vitaminen ergänzt würde.« »Dann würden diese 50 Kilo also bei voller Ration nur 20 Tage für uns reichen, oder 80 Tage bei Viertelrationen«, überlegte Seiko. »Damit bleiben uns immer noch zwei Monate.« Sie schwieg einen Augenblick. »Wie ich schon sagte, es gibt keine Möglichkeit, uns zu retten.« »Ich hatte eigentlich fest damit gerechnet, daß du uns als nächstes vorschlagen würdest, Strohhalme zu ziehen«, meinte Abdul bissig und blickte Pierre dabei an. »Abdul!« sagte Pierre streng. »Ich habe auch diese Möglichkeit durchkalkuliert«, gab Seiko zu. »Dabei gibt es ein Problem. Wenn wir darauf warten, daß eine Person an Hunger stirbt, dann bleibt nur sehr wenig Substanz an ihrem Körper übrig.« »An meinem werdet ihr gar nichts mehr finden!« rief Abdul trotzig. »Stirbt eine Person jedoch am Anfang unserer Berechnungszeit, dann wird nicht nur ihr Körper zur Nahrungsquelle für die anderen, sondern sie verbraucht auch selbst keine Lebensmittel mehr in diesem Zeitraum. Ausgehend von Doktor Wongs Kalorienschätzung können wir also feststellen, daß zwei Körper nur eine Viertelration für vier Leute bieten, wohingegen drei eine angemessene Versorgung über sechs Monate für die restlichen drei sichern würden.« 321 »Fabelhaft!« rief Abdul. »Warum sollte man bei Kannibalismus haltmachen, wenn man vor Ritualmorden auch nicht zurückschreckt?« »Obwohl eine solche Lösung technisch durchaus durchführbar wäre«, fuhr Seiko fort, »habe ich persönlich nicht die Absicht, sie ernsthaft vorzuschlagen oder an einer derartigen Durchführung teilzunehmen.« »Was ist los?« fragte Abdul. »Angst davor, den kurzen Strohhalm zu erwischen?« »Nein. Den langen«, erwiderte Seiko ruhig. »Weder du noch ich noch irgendeiner der anderen könnte in unsere ehrbaren Kulturen zurückkehren, wenn er durch eine solche Lösung überlebt hätte. Was mich angeht, so werde ich meine letzten Tage damit verbringen, meine wissenschaftlichen Studien zu vervollständigen, meine Arbeiten für die Veröffentlichung fertigzumachen und sie zum St. George zurücksenden. Das wird der Höhepunkt meiner Karriere sein. Und wenn ich das geschafft habe, bin ich bereit abzutreten.« Erneut wandte sie sich an Doktor Wong. »Wir haben doch entsprechende Kapseln an Bord, Doktor?« »Natürlich«, antwortete Cesar. Dann wandte sie sich wieder zu Pierre. »Es wird nicht leicht sein, rational zu bleiben, wenn es ernst wird«, sagte sie sachlich. »Daher schlage ich vor, daß wir Amalitas Körper jetzt dem All übergeben. Auf diese Weise laufen wir nicht Gefahr, später der Versuchung zu erliegen.« Sie tauchte durch die Tür und zog sich den Schacht entlang auf das Forschungsdeck hinauf. Pierre blickte sich im Kreis der anderen um. »Sie hat recht«, sagte Jean. »Ich werde mithelfen, sie hinauszubringen«, bot Cesar an. »Wenn ihr nichts dagegen habt, dann würde ich mich lieber zurückziehen«, sagte Abdul. »Ich glaube nicht, daß ich das ertragen kann.« »Sicher«, stimmte Pierre zu. »Doc und ich schaffen das 322 schon allein, und Jean kann für uns die EVA-Steuerung bedienen.« Amalita war in embryonaler Haltung in einen der Kühlschränke gelegt worden, so daß es relativ einfach war, sie auf dem Deck zu bewegen, aber an den Durchgangslöchern wurde es eng. Sie trug noch immer ihren Raumanzug, denn Doktor Wong hatte darauf verzichtet sie näher zu untersuchen, nachdem er ihr den Helm abgenommen und das gebrochene Genick gesehen hatte. Seiko schaltete die Raumbeobachtungskonsole ab und dämmte das Licht des Direktbildtisches, als sie Amalita auf das Forschungsdeck brachten. »Ich halte sie, während ihr eure Anzüge anlegt«, sagte sie leise und nahm ihnen die gefrorene Last ab. »Die Schleuse ist bereit«, meldete Jean. Sie stand von der EVA-Konsole auf, half Pierre und Cesar bei den Anzügen und ging mit ihnen die Checkliste durch, wobei sie so sorgfältig und gründlich zu sein versuchte, wie es Amalita gewesen war. »Magnetstiefel ...« sagte sie. Pierre drückte auf einen Knopf an der Kontrolltafel seines Anzugs und bewirkte damit, daß sich das Pseudostreumuster der magnetischen Mono-Pole in den Sohlen seiner Stiefel neu ordnete, so daß es mit dem hexagonalen Muster der Mono-Pole übereinstimmte, die sich in den inneren Platten und der Hülle des Drachentöters befanden. In einem Winkel von 30 Grad leicht nach außen geneigt, klirrten seine Stiefel auf das Deck. »Alles klar«, sagte er und stapfte dann in die EVA-Schleuse. Dort drehte er sich um und half Cesar dabei, Amalitas Körper durch die Tür zu schieben. »Vergeßt eure Sicherheitsleinen nicht«, mahnte Jean. »Da draußen gibt es ein paar unheimliche Schwerkraftfelder.« Pierre befestigte eine Leine an seinem eigenen Anzug und eine zweite an einem Ring an
Amalitas Körper. In diesem Augenblick tauchte ein dunkler Kopf im Schacht des Decks auf. »Ich muß mich doch verabschieden«, sagte Abdul. Er 323 zwang sich, in Amalitas scheußlich verbranntes Gesicht zu sehen. Mit der linken Hand fuhr er durch das versengte Haar und hielt zärtlich ihren Kopf fest, während er die Finger der rechten Hand zweimal an seine Lippen führte und dann sanft die gefrorenen Blasen von Amalitas geschlossenen Lidern berührte. Schließlich wandte er sich ab, tauchte in den Durchgang ein und ließ eine kleine Traube schwereloser Tränen zurück, die auf den Luftwirbeln nach oben stiegen. Mit Jeans Hilfe passierten sie die Schleuse. »Der beste Platz, um sie loszulassen, ist nahe dem Sichtfenster«, meinte Pierre, als er aus der äußeren Schleuse herausstieg. Er drückte sorgfältig seine Magnetstiefel gegen die Hülle und befestigte seine Sicherheitsleine an einer Ankeröse. »Sie wird dann zum Ring der Kompensator-Massen fortgezogen und verschwindet in einem Plasmablitz. Das Letzte, was ich mir wünsche, ist, daß sie oder »Teile« von ihr um uns herumkreisen.« Vorsichtig schoben sie sich an der Hülle entlang bis zu, einer Stelle nahe dem Sichtfenster. Sie klebten jetzt am Südpol ihres kleinen Mondes, der fünfmal in der Sekunde den Drachenstern umkreiste. Die Hülle des Drachentöters drehte sich auf dieser Umlaufbahn allerdings nicht mit, sondern blieb an den fernen Sternen orientiert. Für die zwei Menschen, die auf der Hülle standen, schien der weißglühende Neutronenstern fünfmal in der Sekunde den Äquator des Schiffes zu umrunden, und über und unter ihnen wirbelte der Ring der sechs roten Massen über beide Pole des kugelförmigen Schiffes hinweg, das sich ununterbrochen drehte, um ständig die Bahntangente zu dem Stern zu halten. In dieser Konstellation wogen die Gravitationskräfte des Massenringes die bedrohlichen Kräfte des Sterns auf und ermöglichten es den Menschen, zu überleben. »Ich gebe ihr einen leichten Schubs, und du paßt auf die Sicherheitsleine auf.« Pierre ließ Amalitas Leichnam los, der sofort von nicht kompensierten Kräften fortgezogen wurde. Je weiter sie vom Schiff entfernt war und je dichter 324 sie an die massiven Körper der Ringe herankam, um so stärker wurde die Wirkung dieser Kräfte. Eine winzige Gruppe weißglühender Punkte sammelte sich in der Ferne und schaute ihnen zu. »Sie wird schwer«, sagte Cesar. »Es scheint klarzugehen«, meinte Pierre. »Laß sie los.« Das Ende der Sicherheitsleine schnellte durch die Öse und schwebte hinter Amalita her, während sie mit steigender Geschwindigkeit auf den Ring in 200 Metern Entfernung zuflog. Kurz bevor sie ihn erreichte, war ihr Körper ein paar Augenblicke lang von einer wirbelnden Wolke weißglühender Punkte umgeben. Dann blitzte es grell auf, und sie war verschwunden. Als Pierre und Cesar hereinkamen, halfen ihnen Jean und Seiko aus ihren Anzügen. »Wenn niemand die Bibliothekskonsole braucht, dann werde ich mich jetzt dorthin begeben und an meinem Buch arbeiten«, verkündete Pierre. »Was ist das für ein Buch?« fragte Jean. »Eine populärwissenschaftliche Version von dem, was sich auf unserer Reise ereignet hat. Ich wollte es >Das Drachenei< nennen, aber die Verleger von Ballantine Interplanetary haben mir mitgeteilt, daß sie bereits einen solchen Titel in ihrem Verzeichnis hätten; außerdem hätten sie sich etwas Persönlicheres vorgestellt. Daher heißt' es jetzt: >Mein Besuch bei unseren nukleonischen Freundengestärkt< werden.« »Die Cheela bringen sie jetzt her.«.Cesar blickte aus dem Bullauge seines Tanks. Die Steigerungsmassen besaßen eine recht bescheidene Größe; es waren einfach altmodische Cheela-Raumschiffe, die ungefähr die Größe eines Softballs besaßen. Die Schwarzen Löcher in ihrer Mitte erzeugten ausreichend Schwerkraft, um die darauf fahrenden Cheela in ihrem dichten Zustand zu halten. »Sieht aus, als bekäme jeder von uns zwei Steigerungsmassen«, sagte Abdul, während er das Treiben vor seinem Bullauge beobachtete. »Ich hatte angenommen, es gäbe nur zwei große.« »Das liegt an der Art, in der sich Gravitationskräfte auf347 bauen«, erklärte Seiko. »Sie erzielen bessere Ergebnisse, wenn sie die Kräfte für jeden Tank einzeln auf Null bringen.« »Die Asteroiden sind jetzt nur noch winzige Punkte«, stellte Jean fest. »Und der Ring beginnt zu schrumpfen«, fügte Pierre hinzu. »Ich werde mich nie wieder über lächerliche 200 G pro Meter beklagen«, meinte Abdul. »He! Der UltraschallDruckkompensator hat eingesetzt. Jetzt wird es ernst!« »Der Asteroidenring besitzt mittlerweile einen Radius von 50 Metern und ist zu einem festen Ring verschmolzen«, teilte Carole mit. »Jetzt scheint der Vorgang zum Stillstand gekommen zu sein.« Plötzlich waren die Schirme leer, und dann erschien auf allen folgende Mitteilung: NÄCHSTE PHASE STARTEN IN 10 SEKUNDEN. DRACHENTÖTERBESATZUNG WIRD IN SECHS MONATEN ZURÜCKKEHREN. Die zehn Sekunden vergingen nur langsam. Die darauffolgenden zwei Millisekunden allerdings waren mit hektischem Treiben erfüllt. Jeder Tank wurde von dem Mittelpunkt des Ringes fort nach oben gezogen. Dann fiel der Ring in sich zusammen, bis er nur noch wenige Meter Durchmesser aufwies. Während er immer mehr schrumpfte, wurde das rote Glühen seiner Oberfläche immer intensiver, bis es schließlich in ein tiefes, finsteres, unnatürliches Schwarz überging, das nicht einmal mehr das gelb-weiße Leuchten des Eis reflektierte. Jetzt wurde ein Tank nach dem anderen durch das Loch in der Mitte des unsichtbaren Ringes geschoben. Die schweren Stahltanks verformten sich dabei deutlich. Doch sie kamen auf der anderen Seite nicht wieder zum Vorschein. 348 Zeit: 04:03:01 Mittlere Greenwich-Zeit Mittwoch, 22. Juni 2050 Pierre schrie laut auf, als seine Arme gegen die unter der Belastung kreischenden Wände des Stahltanks geschleudert wurden. Gerade in dem Augenblick, als er dachte, seine Finger würden ihm von den Händen gerissen, war alles vorbei. Er hustete etwas Wasser aus, das er eingeatmet hatte, wischte seine Maske ab und überprüfte seine Kontrolltafel. Da die Videoübertragung tot war, blickte er aus seinem Sichtfenster. Anhand des Lichts, das aus den Bullaugen fiel, konnte er drei der anderen Tanks ausmachen. Ei und sein ewiges Leuchten jedoch gab es nicht mehr.
Der größte Teil des Himmels war schwarz, ohne Sterne. In der Ferne entdeckte er einen elliptischen Flecken mit ein paar Dutzend Sternen darin. Die Farben der Sterne in diesem Flecken des Himmels reichten von blau bis ultraviolett. Was ihn am meisten verwirrte, war die Tatsache, daß der Flecken mit den Sternen zu kreisen schien, während sein eigener Tank und die der anderen Tanks still standen. »Das war eine Kerr-Raumkrümmung!« sagte Pierre laut. »Völlig korrekt«, tönte eine Stimme. Das Bild von Himmelssprecher erschien auf dem Schirm. »Aber das kann nicht sein!« sagte Pierre ungläubig. »Ich erinnere mich aus meinen Kursen in Gravitationstechnik, daß ein Kerr-Ring mit der Masse der Sonne ein Loch von einem Kilometer Durchmesser haben muß. Die Kompensatormassen der Asteroiden sind ungleich weniger massiv als die Sonne. Der größte Ring, den sie erzeugen könnten, hätte weniger als ein Mikron Durchmesser. Laut Einstein war dies unmöglich ...« »Einstein war zwar intelligent, aber bloß ein Mensch«, sagte Himmelssprecher. »Er hat es versäumt, Schwerkraft und Magnetismus zu vereinen. Das haben wir getan. Die vereinheitlichte Theorie stimmt durchaus mit der von Einstein überein, solange es sich um große Massen handelt. Bei sehr kleinen Massen sind die Durchmesser von magne349 tisierten Raumkrümmungen größer, als Einstein vorhergesagt hat.« Während Himmelssprecher sprach, bemerkte Pierre, daß der Strang der freischwebenden Kugeln bewegt wurde. Die Tanks, die von ganzen Wolken robotergesteuerter Wartungsgeräte umgeben waren, waren wieder unter den rotierenden Himmelsflecken zurückgeschwebt. Die Cheelaroboter schoben die Tanks zu einem Kreis zusammen und beschleunigten sie, bis sie sich in derselben Richtung bewegten wie der wirbelnde Flecken Himmel über ihnen. Die Beschleunigung wurde fortgesetzt. »Wir bewegen uns in der Zeit«, stellte Pierre fest. »Ja«, bestätigte Himmelssprecher. »Die Größenordnung dieser Bewegung beträgt einen Monat normaler galaktischer Zeit auf zehn Minuten verhältnismäßiger Zeit für deine Mannschaft. Ihr werdet in einer Stunde wieder aus der Zeitkrümmung auftauchen. Im normalen Raum sind dann sechs Monate vergangen, und der Asteroid Otis ist wieder da.« Die Cheela-Roboter hatten mittlerweile die Kommunikationsverbindungen zwischen den Tanks fertiggestellt, und Pierre konnte jedes Mitglied seiner Mannschaft auf den Miniaturbildschirrnen sehen. »Ist bei euch alles in Ordnung?« fragte er. »Ja«, erwiderte Abdul. »Aber ich bin nicht gerade begierig darauf, noch einmal durch diesen Fleischwolf gedreht zu werden.« »Das technische Überwachungsprogramm zeigt ein Problem an«, meldete Jean. »Es wundert mich, daß es überhaupt noch funktioniert, nach den ganzen drastischen Änderungen, die die Cheela vorgenommen haben«, meinte Seiko. »Was ist los?« wollte Pierre wissen. »In Tank 6 ist ein Leck«, berichtete Jean. »Wessen Tank ist das?« fragte Pierre. »Meiner«, kam die Antwort von Abdul. »Sie hat recht. Ich habe einen geringen Druckabfall. Aber das Wasser muß 350 gefroren sein und hat damit das Leck verstopft. Der Druck scheint sich stabilisiert zu haben.« »Der Tank muß repariert werden!« warf Cesar ein. »Er kann mit Sicherheit keine zweite derartige Reise unter diesen extremen Bedingungen aushalten.« »Die Cheela können Wunder bewirken. Aber ich glaube nicht, daß sie den Nebel zusammenschweißen können, den wir Stahl nennen. Ich muß das Risiko eben auf mich nehmen.« Abdul schwieg und blickte ratlos um sich. Dann wandte er sich von seinem Videoaufnahmegerät ab und preßte die Hände gegen die hintere Wand seines Tanks. »He!« sagte er. »Ich spüre ein winziges Zerren der Schwerkraft nahe an der Wand. Sie wechselt ständig die Richtung.« »Da geschieht etwas außerhalb unserer Tanks«, erklärte Seiko. »Sieht aus wie ein elektrischer Bogen. Ich glaube, sie versuchen, das Leck zuzuschweißen.« »Dann kann ich nur hoffen, daß es hält«, meinte Abdul. Zeit: 05:06 Mannschaftszeit, Mittwoch, 22. Juni 2050 (00:01 Mittlere Greenwich-Zeit, Sonntag, 25. Dezember 2050) »Zehn Sekunden bis zum Wiedereintritt«, meldete Himmelssprecher. Pierre sah, wie das Bild vor seinem Bullauge kippte und sich verschob, als der Kreis der Tanks sich wieder zu einer Reihe auseinanderzog, die in einem großen Bogen unter dem Himmelsflecken entlangschoss, und dann kopfüber mit Höchstgeschwindigkeit durch die Kerr-Krümmung jagte. Die nächsten paar Millisekunden gingen zu schnell vorüber, als daß die gepeinigten Menschen sie hätten verfolgen können. Als Oscar sich der Raumkrümmung näherte, stürzten die Tanks einer nach dem anderen aus dem flachen
schwarzen Kreis heraus. Nachdem der zweite Tank hindurchgefal351 len war, erweiterte sich der Durchmesser des Ringes ein wenig und schrumpfte dann weiter, während der dritte Tank I ihn passierte. Diese Schwingungen des Kreises wurden allmählich immer ausgeprägter, und der vierte Tank wurde von den Kräften des kontrahierenden Ringes arg verbogen. Die Cheela hatten eine derartige Instabilität offensichtlich nicht erwartet. Es gelang ihnen, den letzten Tank so weit abzubremsen, daß er nicht gerade in dem Augenblick durch den I Ring drängte, als dieser seinen minimalsten Radius erreicht hatte, aber das genügte nicht. Der Tank brach und spie seinen menschlichen Insassen und eine entsprechende Menge Wasser in das Vakuum des Raumes. Direkt unterhalb der Periapsis des herabstürzenden - Asteroiden Oscar sammelten die Cheela-Roboter die verbliebenen vier Tanks in einer Reihe hintereinander. Der Asteroid flog mit hoher Geschwindigkeit an den Tanks vor- $ bei und hob einen nach dem anderen auf eine höher gelegene Flugbahn, auf der sie sich rasch von Ei und seinen tödlichen Kräften entfernten. Jetzt versuchten die Cheela, dem zurückgebliebenen Menschen zu helfen. Sie schoben ein Stück des Tanks heran, um ihn vor der Strahlung des Eis zu schützen. I Indem sie mit ihren dichten Raumschiffen einen MiniaturKompensatorring bildeten, bewahrten sie ihn davor, vorr"' den widerstreitenden Kräften zerrissen zu werden. Sie konnten jedoch nicht verhindern, daß er allmählich wieder durch die massive Raumkrümmung zurückgezogen wurde. Seine Augen waren noch durch die Unterwasseratemmaske vor dem Vakuum des Raumes geschützt, und Abdul blickte auf und winkte seinen entschwindenden Freunden zum Abschied. Dann wurde er von dem schweren Stück des Stahltanks fortgedrückt. Er tauchte kopfüber in den wirbelnden schwarzen Ring ein, um sich dort mit den Atomen zu vereinigen, die einst Amalita gewesen waren. Kurz bevor er den Ring erreichte, war sein Körper einen Moment lang von einer wirbelnden Wolke weißglühender Pünktchen umgeben. Dann gab es einen Lichtblitz, und er war verschwunden. 352 05:15 Mannschaftszeit, Mittwoch, 22. Juni 2050 (00:10 Mittlere Greenwich-Zeit, Sonntag, 25. Dezember 2050) Auf dem Scheitelpunkt ihrer Flugbahn trafen die vier Tanks mit einem Beiboot des St.George zusammen, das sie in Schlepptau nahm. Während eine Gestalt in einem Raumanzug die Zugleine sickerte, kam eine andere herüber und spähte in Pierres Bullauge hinein. Es war Kommandantin Carole Swensoh. Er bemerkte ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie ihren Helm gegen die äußere Wand des Tanks drückte und zur Begrüßung dagegenklopfte. »Das war das letzte Mal, daß ich Ihnen ein Raumschiff anvertraut habe«, sagte sie. »Haben Sie sich wenigstens die Nummer des Lastwagens aufgeschrieben?« Sie wußte, daß Pierre unter Wasser nur durch das Mikro in seinem Anzug sprechen konnte, daher rief sie ihm noch eine zweite Bemerkung zu, bevor sie wieder zu dem Beiboot zurückschwebte, das sie zum Raumschiff bringen sollte: »Ich habe eine Überraschung für Sie. Wir treffen uns in der Luftschleuse.« Pierre konnte nicht verstehen, warum Carole so fröhlich war. Vielleicht lag es daran, daß zumindest vier Mitglieder der Mannschaft des Drachentöters wohlbehalten zurückgekehrt waren. Aber Pierre mußte immerzu an die beiden denken, die es nicht geschafft hätten. Er hatte die Verantwortung für sie gehabt, und nun waren sie tot. Er scheute den Gedanken, daß er nun ihre Familien informieren mußte. Wie brachte man jemandem bei, daß ein Mensch, den er geliebt hatte, in Atome zerfallen war? 353 Zeit: 05:50 Mannschaftszeit, Mittwoch, 22. Juni 2050 (00:45 Mittlere Greenwich-Zeit, Sonntag, 25. Dezember 2050) Die vier Tanks wurden in der Lastluftschleuse auf St. George zusammengedrängt, und bald darauf war die Schleuse voller Wasserkügelchen und voller nasser, schluchzender Menschen. »Es tut mir so leid wegen Amalita und Abdul, Carole«, sagte Pierre betrübt, als er seine Maske abnahm. »Wenn ich nur irgend etwas tun ...« »Psst ...« Carole lächelte glücklich. »Komm! Ich möchte dich ein paar gemeinsamen Freunden zeigen.« Sie nahm seine Hand und zog ihn den Korridor entlang zum Kommunikationsraum. Bis auf ein Nachrichtenübermittlungsgerät war dieser Raum völlig leer. Pierre war völlig durcheinander. »Hallo, Pierre.« Es war Amalitas Stimme. »Hattest du einen schönen Flug von Ei hier rauf?« fragte eine Stimme, die wie Abduls klang. Pierre fuhr herum und starrte auf den Kommunikationsschirm am anderen Ende des Raumes. In den zwei Feldern des Schirmes erblickte er die Videoabbildungen von Amalita und Abdul. »Überraschung! Überraschung!« brüllte Abdul. »Wir sind es wirklich«, sagte Amalita. »Oder zumindest alles von uns, das zählt.«
»Ich habe sogar einen Schnurrbart, den ich zwirbeln kann.« Abdul hob die Hand und drehte das Ende des Bartes zwischen seinen Fingerspitzen. »Und er fühlt sich ziemlich echt an, obwohl er aus Software besteht, statt aus Hardware.« Carole drückte Pierres Arm zur Bekräftigung, als sie sprach. »Die Cheela tasteten sie durch und durch ab, bevor ihre Körper zerstört wurden«, erklärte sie. »Ihr Bewußtseinsmuster lebt jetzt in zwei Supercomputern der Cheela.« »Aber Amalita war von der Strahlung verbrannt und 354 dann eingefroren gewesen.« Pierre konnte es nicht glauben. »Ich gebe zu, daß mir etliche Erinnerungen fehlen«, sagte Amalita, »aber die Grundlagen der Persönlichkeit sind immer noch da.« »Jawohl!« bestätigte Abdul. »Sie ist genauso herrschsüchtig wie immer.« »Ruhe!« »Siehst du?« sagte Abdul, zog die Augenbrauen in die Höhe und zuckte die Schultern. »Und sie wird sogar noch herrschsüchtiger werden, wenn wir diese Körper zum Umherwandern bekommen, die sie für uns basteln.« »Wir haben unsere Aktivitäten extra verlangsamt, damit wir uns von euch und unseren Familien verabschieden können«, teilte Amalita mit. »Doch danach kehren wir besser wieder zu normalen Cheela-Geschwindigkeiten zurück, wenn wir mit ihnen Schritt halten wollen ...« »Doc! Seiko! Jean!« brüllte Abdul plötzlich los. »Hier drüben auf dem Schirm!« Pierre wandte sich um und blickte in die erstaunten Gesichter der anderen Mannschaftsmitglieder, die gerade den Raum betraten. Sein Chronometer gab ein akustisches Zeitsignal ab, und er schaute auf die Anzeige. Er wollte ihn schon stellen, damit er wieder mit der Uhr an der Wand übereinstimmte, entschied sich dann aber dagegen. Es gab schließlich nicht allzu viele Menschen, die auf einer Zeitlinie lebten, die sechs Monate kürzer war als alle anderen im Universum. 06:00 Mannschaftszeit, Mittwoch, 22. Juni 2050 Der lange Tag war vorüber. 355 Technischer Anhang In den folgenden Kapiteln werden Auszüge aus dem Buch My visit with our nucleonic friends (»Mein Besuch bei unseren nukleonischen Freunden«) von Pierre Carnot Niven, Ballantine Interplanetary, New York, Erde und Washington, Mars (2053) präsentiert.* Dies ist bis heute das einzige Buch, für das im gleichen Jahr der Nobelpreis, der Pulitzerpreis, der Hugo-, und Nebüla-Award und der Möbius-Preis verliehen wurde. DRACHENEI Die Menschen gaben dem Heimatstern der Cheela den phantasievollen Namen »Drachenei«, weil er direkt am hinteren Ende des Sternbilds Draco (dem Drachen) steht, als hätte der Drache ein Ei in sein Nest gelegt. Die Cheela nennen ihr Zuhause zufälligerweise auch »Ei«, denn es ist die Quelle lebensspendender Wärme und die Quelle des Lichts, und sein Leuchten ist wie das der Eier, die sie legen. Ei rotiert wie die meisten anderen Neutronensterne mit hoher Geschwindigkeit, denn es handelt sich hier um einen kleinen, kompakten Körper, der nur 20 Kilometer im Durchmesser aufweist und der in einer Entfernung von mehreren Millionen Kilometern in der Tiefe des Alls aus einem verdichteten, langsam rotierenden Roten Riesen entstanden ist. Der größte Teil der Masse, des Magnetfeldes und des Drehmoments des ursprünglichen Sterns blieb in dem Neutronenstern erhalten. Das Drachenei besitzt eine Oberflächengravitation von 67 Milliarden G, ein Magnetfeld von einer Billion Gauß an den Polen und eine Rotationsgeschwindigkeit von 5,0183495 Umdrehungen pro Sekunde. Daher entspricht eine Umdrehung von Ei in etwa einem Millionstel Erdentag. Diese ungefähre Entsprechung * Deutsche Ausgabe in Vorbereitung bei Bastei-Lübbe. Anm. d. Hrsg. 357 von einer Million zu eins auf einer relativen Zeitskala scheint sich auch auf die Lebensvorgänge der Cheela zu erstrecken. Unsere nukleonischen Freunde denken, reden, leben und sterben eine Million Mal schneller als wir Menschen. RELATIVE ZEITTABELLE Die Cheela benutzen ein Duodezimalsystem als Grundlage ihrer Berechnungen, denn sie haben zwölf Augen. Die Zeiteinheiten der Cheela werden in der folgenden.Tabelle dargestellt, gemeinsam mit den groben Entsprechungen der menschlichen Zeitspannen, wobei das Verhältnis der durchschnittlichen Lebensdauer eines Cheela zu der eines Menschen berücksichtigt worden ist. Menschen Zeit Cheela-Zeit Bemerkungen 1 Tag 3000 Groß 1 Stunde 126 Groß 45 Min. 94 Groß 15 Min. 31 Groß
29 Sek. l Groß = 144 Umdrehungen 0,2 Sek. 1U = 1 Umdrehung von Ei 17 mSek. 1/12 U = Doth-Umdrehung 1,4 mSek. 1/144 U = Greth-Umdrehung 115 /uSek. 1/1728 U = Meth-Umdrehung 10 fiSek. 1/20736 U = Seth-Umdrehung 800 nSek. 1/248832 U = Blinzeln 100 Cheela-Generationen 4 Cheela-Generationen Lebenserwartung eines Cheela eine Cheela-Generation (entspricht Menschen-Jahr) (entspricht M.-Tag) (entspricht M.-Stunde) (entspricht 10 M.-Min.) (entspricht 1 M.Min.) (entspricht 4 M.-Sek.) (entspricht M.-Blinzeln) UNSERE NUKLEONISCHEN FREUNDE Man kann sich schwerlich eine fremdartigere Lebensform vorstellen als einen Cheela. Ein durchschnittlicher Cheela wiegt genauso viel wie ein durchschnittlicher Mensch: 358 ungefähr 70 Kilogramm, doch die Nuklei in den Körpern der Cheela haben ihre Elektronen verloren; sie sind daher in einem winzigen Körper verdichtet, der von der extremen Gravitation niedergedrückt und von dem starken Magnetfeld zu einem ovalen pfannkuchenartigen Gebilde verzerrt wird, das ungefähr einen halben Zentimeter Durchmesser besitzt und einen halben Millimeter hoch ist — ein wenig größer als ein Sesamkorn. Der Körper ist zäh und elastisch, mit einer Sohle an der Unterseite, die der unserer Schnecken vergleichbar ist. Im Gegensatz zu einer Schnecke kann ein Cheela jedoch nicht gleich gut in alle Richtungen gleiten. Die Cheela besitzen zwölf Augen, die um ihre Peripherie herum sitzen, und die ihnen eine Rundumsicht von 360 Grad ermöglichen. Sie werden von Stielen getragen, ähnlich wie bei einer Schnecke, aber aufgrund der extremen Schwerkraft sind diese Stiele im Vergleich dicker. Die Augen der Cheela reagieren im Ultraviolett- und im weichen Röntgenlichtbereich; ein derartiges Licht wird von der 8200 K heißen Oberfläche abgestrahlt. Trotz ihrer fremdartigen Erscheinung haben wir in den Cheela niemals häßliche, furchteinflößende Monster gesehen. Sie sind statt dessen unsere Freunde geworden. Man mag vielleicht vermuten, daß ihre geringe Größe dabei eine Rolle spielt, ebenso wie die Tatsache, daß es auf der Erde absolut nichts gibt, für das sie Verwendung hätten, ja nicht einmal die Erde selbst. Alles, was aus normaler Materie besteht, würde bei der Berührung mit ihren extrem dichten Körpern zusammenfallen. LEBEN AUF EINEM NEUTRONENSTERN Das Leben auf einem Neutronenstern unterscheidet sich erheblich von dem Leben auf der Erde, aber unsere Freunde, die Cheela, finden es sehr angenehm. Das extrem starke Gravitationsfeld, dessen Stärke das 67-fache der Erde beträgt, hat zur Folge, daß alles dicht an die Kruste 359 und überaus solide gebaut werden muß. Das ungeheure Magnetfeld von einer Billion Gauß neigt dazu, die Objekte entlang der Magnetfeldlinien stark in die Länge zu ziehen, und das macht es schwierig, irgendwelche Gegenstände über diese Linien hinwegzutransportieren. Die beiden Magnetpole des Dracheneis liegen nahe dem Äquator auf gegenüberliegenden Seiten des Neutronensterns und werden »Ostpol« und »Westpol« genannt. Auf halbem Wege zwischen diesen Polen verlaufen die Magnetfeldlinien parallel zur Oberfläche, und die Cheela finden es daher leicht, sich nach Osten und Westen zu bewegen, aber schwer, nach Norden und Süden zu kommen. Auf einem Neutronenstern fehlen viele Dinge, die für uns selbstverständlich sind. Es gibt keine Sonne. Das Licht und die Energie, die uns auf der Erde am Leben erhalten, strömen bei Tag von der Sonne auf uns herab, während es nachts dunkel und kalt ist. Auf Ei dringen Licht und Wärmeenergie, die die Cheela zum Leben brauchen, aus der Kruste empor. Es ist niemals dunkel, daher haben die Lebensformen auf Ei auch nie den Schlaf erfunden. Es gibt keinen Mond, daher kennen sie auch keine Monate. Sie kreisen nicht um einen Stern herum, somit kennen sie auch kein Jahr. Ihre einzige natürliche Zeiteinheit ist die Rotation der Fixsterne am Himmel. Daher liegt ihre Entsprechung eines Tag-und-Nacht-Zyklus in einer Umdrehung des Sterns. Die Cheela haben keine Lampen, Kerzen, Kamine oder Scheinwerfer, denn sie kennen keine Dunkelheit und keine Kälte auf der glühenden Oberfläche von Ei. Selbst das Innere einer Höhle wird durch das Strahlen der Wände hell erleuchtet. Die Cheela haben keine aufgehängten Bilder, eingehängte Türen oder Fenster, keine Bücher mit Seiten, keine Dachfirste oder überhaupt Überdachungen, denn dafür ist die Schwerkraft zu stark. Sie kennen keine Flugzeuge, Ballons, Drachen, Pfeifen, Fächer, Strohhalme, Parfüms, besitzen keine Lungen und atmen nicht, denn es gibt keine Luft. Die Atmosphäre, die dort existiert, besteht aus ein paar Elektronen und Eisen-Ionen oder anderen typi360 sehen Krusten-Nuklei. Sie haben auch keine Schirme, Badewannen, Duschen oder Wasserklosetts, denn es gibt dort keinen Regen, keine Ströme, Seen oder Ozeane. Das Leben ist für einen modernen Cheela jedoch nicht eintönig. Obwohl die Cheela keine Kleidung tragen, um ihre geschmeidigen, elastischen und vielfach formbaren Körper zu verhüllen, machen sie sich doch zurecht. Selbst unzivilisierte Cheela bemalen sich mit Körperfarbe, um ihre Blöße zu bedecken, und die modernen, fluoreszierenden Flüssigkristallfarben mit variabler Leuchtfähigkeit machen die Straßen farbenprächtig und
vielgestaltig, wenn die übliche Hektik zum Umdrehungsmahl einsetzt. Zivilisierte Cheela verlassen darüber hinaus niemals ihre Wohnstätten, ohne zuvor in die Ringmuskeln in ihren Seiten einen Satz von sechs Abzeichen gesteckt zu haben, die ihren Beruf und ihren Rang innerhalb ihrer Berufsgruppe erkennen lassen. Bei festlicheren Gelegenheiten können diese Abzeichen durch Juwelen auf der Hülle ersetzt oder ergänzt werden, und an den zwölf Augenstielen werden dann Juwelenringe getragen. Eine Ecke einer typischen Cheela-Wohnstätte ist in Abb. 1 dargestellt. Es gibt zwar Gemälde an der Wand, aber sie sind direkt auf die Mauer aufgetragen. Wir finden auch Bücher, aber sie stecken als zusammengerollte Schriftrollen in sogenannten Rollenwänden. Es gibt weiche Matten und Kissen, doch sie sind zum Ausruhen und zum Lesen gedacht, nicht zum Schlafen, denn die Cheela kennen keinen Schlaf. Es gibt auch Fenster, aber sie haben keine Glasscheiben, denn sie müssen weder Kälte noch Hitze ausschließen. Wenn ein Cheela sich zurückziehen möchte, dann schiebt er die horizontal gleitenden Fensterläden zu. Die Anlage hat auch eine Tür, die ebenfalls auf Gleitschienen auf- und zugeschoben werden kann. Obwohl die modernen Cheela heutzutage atomgetriebene Zeitmesser verwenden, funktionieren die altmodischen Pendeluhren auf Ei genauso gut wie auf der Erde, vorausgesetzt, sie haben einen soliden Rahmen, der das Pendel in der enormen Schwerkraft halten kann. Auf der Erde tickt ein Pendel 361 von einem Meter Länge einmal in der Sekunde, wohingegen auf Ei ein Ein-Millimeter-Pendel dreimal in einem Blinzeln tickt. Auf der rechten Seite finden wir eins der beliebtesten Haustiere der Cheela, eine langhaarige Schleiche. Da die Cheela eierlegende Lebewesen sind, die ihre Eier in den Gehegen ihrer Clans ablegen, bilden sie keine Familieneinheiten, und jeder Cheela lebt allein mit seinen Haustieren. Am beliebtesten sind dabei die Schleichen. Es gibt auf Ei ungefähr so viele verschiedene Rassen von Schleichen, wie es Hunderassen auf der Erde gibt, und der Grund dafür ist offensichtlich der gleiche. Die typische, überall vorkommende Schleiche ist ein kleines felltragendes Tier von ovaler Gestalt, mit einer Sohle für die Fortbewegung und zwölf Augen, die auf Stielen sitzen. Obwohl die meisten Cheela es vor sich selbst nicht wahrhaben wollen, ähnelt eine Schleiche in ihrem Äußeren und in ihrem Verhalten sehr stark einem kleinen Cheela-Jungen, nur das Fell und die entschieden geringere Intelligenz unterscheiden sie von einem solchen. Auf der Erde ließe sich das damit vergleichen, wenn die weitverbreitetsten Haustiere nicht Hunde oder Katzen, sondern Affen wären. Im Gegensatz zu ihrer Höhe ist die Breite der Cheelakörper erheblich, so daß sie viel Platz benötigen. Um diesen breiten Körper ohne Tiefgeschosse oder mehrstöckige Gebäude gerecht zu werden, sind die Wohn- und Arbeitsstätten in der Breite ebenfalls großzügig angelegt, und die Wände reichen bis an die Straßen heran, wie es früher in alten Städten auf der Erde auch der Fall war. Die Architektenversion einer typischen Cheela-Straße in der Stadt Schnell-Aufstieg wird in Abb. 2 dargestellt. In der Ferne ist das Ostpol-Gebirge zu sehen, während sich zur Rechten die Klippen des Südens erheben, die die südliche Verwerfungslinie markieren. Die Hauptstraße verläuft von Osten nach Westen, und an jeder Seite finden sich dicht an der Straße die Wohnanlagen, die die Gleitwege begrenzen. In der Nähe des Ostpols kommen die Magnetfelder aus der Tiefe bis dicht unter die Oberfläche hinauf, so daß alle Rich363 tungen »schwere« Richtungen sind und kreuzende Straßen rechtwinklig aufeinandertreffen. In den Städten, die weit von den Polen entfernt liegen, wie zum Beispiel in der Hauptstadt, Paradies des Glänzenden, kreuzen die Querstraßen in einem Winkel von dreißig zu sechzig Grad die »leichten« ost-westlich verlaufenden Hauptwege. Wenn sie sich an diesen Kreuzungen entlang bewegen, stützen die Cheela ihren Körper gegen die glatten Wände der Wohnanlagen ab und schieben sich im Winkel zu dem vorherrschenden Magnetfeld voran, um die nächste ost-westliche Straße zu erreichen, wo die Wellenbewegung der Sohle dann wieder leichter fällt. Die Cheela haben von den Menschen vieles über Verkehrsprobleme gelernt, lange bevor sie Städte hatten, die groß genug waren, daß in ihnen überhaupt Verkehrsprobleme entstehen konnten. Die hier abgebildete Straße mit der gelben Doppellinie in der Mitte wartet noch auf die Stoßzeit des Umdrehungsmahls. Jede Anlage bildet üblicherweise einen in sich abgeschlossenen Block. (In Paradies des Glänzenden besitzt ein solcher Block die Form eines Dreiecks oder einer Raute.) Die Straßennamen-Markierungen befinden sich in den Ecken der Mauern, während die Eingänge zu den Anlagen mit Hausnummern in der Mauer versehen sind, und in der Gleitwegplatte vor dem Eingang steht der Name des Eigentümers. Bei der Wohnanlage auf der linken Seite handelt es sich um eine moderne Version mit halbkreisförmigen Fensterausschnitten und einem ummauerten inneren Hof, in dem ein Dreistamm-Baum steht. Die Wohnstätte zur Rechten stellt eine ältere Variante dar mit einfachen, quadratischen Fenstern und ohne Innenhof. 365 PFLANZENLEBEN AUF EI Die Pflanzen auf Ei erzeugen Nährstoffe, indem sie durch ihr Wurzelsystem Energie aus der heißen Kruste des Eis ziehen und die überflüssige Wärme an die Kühle des Himmels abgeben. Eine Hauptform stellt die Sonnenschirm oder Blattschotenpflanze dar, die in Abb. 3 gezeigt wird. Sie besitzt eine einzelne Pfahlwurzel, die sich tief in die Kruste bohrt. Aus dieser einzelnen Wurzel entsprießen zwölf starke, leicht gebogene Kompressionsglieder oder »Stämme«, die durch Spannungsfasern untereinander und mit einem Pfahl in der
Mitte verbunden sind. Zwischen jedem Stamm, ebenso wie über der Oberseite der Pflanze spannt sich eine Membran-»Haut«. Diese Spitzmembran, die sich dem kalten Himmel entgegenreckt, ist sehr dunkel und besitzt eine große Abstrahlungsfähigkeit. Am oberen Ende von jedem der zwölf Stämme sitzen die Pollenschleudern und Käscher. Die Cheela haben sich vor Urzeiten aus den Sonnenschirmpflanzen entwickelt und besitzen immer noch den genetischen Code der Pflanzenform in ihren Erbanlagen. Bei angemessener Manipulation ihres »Hormonhaushalts« erstarren sie, lösen ihre inneren Muskeln auf und bilden sich zu einer Riesenform dieser Sonnenschirmpflanze
Abbildung 3: Sonnenschirm-Pflanze 366 zurück, die »Drachenpflanze« genannt wird. Bei der Umkehrung dieses Prozesses bauen sie einen neuen jungen Körper auf, wobei Gehirnknoten und Nervensystem von dieser Umwandlung unangetastet bleiben. Durch einen derartigen Tier-Pflanze-Tier-Prozeß wurde den Cheela die Möglichkeit zur Verjüngung geschenkt. Eine weitere Pflanzenart ist der Dreistamm-Baum, vorgestellt in Abb. 4. Er bildet zunächst Sekundärstämme aus, wie der Banyon-Baum auf der Erde und baut dann ein
Abbildung 4: Dreistamm-Baum 367 untereinander verbundenes Dreistamm-System auf, wobei Membranen und Spannungsfasern die Struktur vervollständigen. Eine dritte Art, die hier vorgestellt werden soll, ist das Spaltenkraut, berühmt als Markenzeichen der Netz-BauFirma. Man rindet es hauptsächlich in den Felsspalten der gebirgigen Regionen am östlichen und westlichen Magnetpol, obwohl diese zähe Gebirgspflanze auch in den Ecken und Winkeln der Gebäude in den Städten gedeiht. Wie in
Abbildung 5: Spaltenkraut-Pflanze 368 Abb. 5 dargestellt, sucht sich das Spaltenkraut Felsen und Simse, um sich dort auf mechanische Weise anzuklammern. Die Pfahlwurzel klettert in einer Nische bis auf die obere Kante empor, wo sie sich mit breiten Oberflächenwurzeln an gegenüberliegenden Seiten der Spalte festhält. Von diesen Oberflächenwurzeln wiederum gehen Spannungsfasern aus — vergleichbar dem Muster eines Spinnennetzes in der Ecke eines Raumes — die sich fest verankern. Diese Netzfasern stützen die Membran, die zwischen ihnen aufgespannt ist. Die Oberseite einer derartigen Membran besitzt eine große Abstrahlungsfähigkeit, wodurch überflüssige Wärme an den kalten Himmel abgegeben werden kann, während die Unterseite silbrig ist, um die Hitze der Kruste zu reflektieren. STERNBEBEN Das einzige »Wetter«, das die Cheela auf dem nahezu luftlosen Ei kennen, entsteht durch Erdbeben, oder besser gesagt durch Krusten- oder Sternbeben; die Bezeichnung hängt von der Stärke ab. Während ein großes Beben auf der Erde eine Stärke von 8 oder mehr auf der Richterskala erreicht, haben große Sternbeben auf Neutronensternen eine vergleichbare Stärke von bis zu 16! Da wir aus unmittelbarer Nähe Zeugen eines solchen Sternbebens geworden sind, wobei eine ganze Anzahl verschiedener Instrumente Beobachtungen und Meßdaten liefern konnte, sind wir nun in der Lage, uns ein genaueres Bild von einem großen Sternbeben zu machen. Unser gegenwärtiges Wissen ist in einem kürzlich veröffentlichten Buch zusammengefaßt worden, das von mehreren der Besatzungsmitglieder des Drachentöters geschrieben wurde.1 Unsere Ergebnisse unterscheiden sich nicht wesentlich von älteren Veröffentlichungen zu diesem Thema, in denen erörtert wurde, wie die Vibrationsenergie der Kruste in das Magnetfeld gelangen und von da aus in die Ionen und Elektronen der dünnen Atmosphäre gelan369 gen kann,2,3 wie anhand von kleineren Beben größere vorhergesagt werden können,4 und wie ein großes Beben den Zusammenbruch des Kerns oder ein sogenanntes Sternbeben bewirken kann. Unglücklicherweise war die Fähigkeit, größere Beben aufgrund von kleineren vorhersagen zu können, für uns Menschen, die wir dabei waren, keine Hilfe, denn der ganze Vorgang spielte sich in weniger als einer Sekunde ab. EXTREM DICHTE TECHNISCHE GERÄTE UND ANLAGEN Da die Cheela selbst eine außergewöhnlich große Dichte besitzen und auf einer extrem dichten Welt leben, haben sie sich auch extrem dichte technische Geräte und Anlagen entwickelt, deren Bau und Funktionsweise unser gegenwärtiges Verständnis übersteigt, obwohl Einstein und andere uns bereits einige Hinweise dazu gliefert haben. Wir Menschen mußten uns ja auch in bescheidenem Umfan die Verwendung ultradichter Materie zunutze machen, um uns überhaupt mit unserem Raumschiff »Drachentöter« dem Drachenei nähern zu können. Abb. 6 zeigt deutlich das Grundproblem bei der Annäherung an einen Neutronenstern. Wenn sich unser Raumschiff auf einer Höhe h in der Umlaufbahn um einen Neutronenstern herum befindet, der eine Masse M und einen Radius R besitzt, dann herrscht nur im Zentrum des Raumschiffes Schwerelosigkeit. Der Rest der Objekte innerhalb des Flugkörpers, einschließlich der Besatzung, unterliegt der Schwerkraft. Die Größe der Gravitationsbeschleunigung a, die auf jedes Mitglied der Besatzung einwirkt, ist proportional zu der Entfernung
1 vom Zentrum der Masse des Raumschiffes. Wir wollten mit dem Drachentöter in einer Höhe von 406 Kilometern eine synchrone Umlaufbahn um das Ei erreichen (wobei die Position auf der Umlaufbahn immer im 370 Verhältnis zur. Umdrehung des Sternes gehalten werden sollte). In einer derartigen Entfernung von einem Neutronenstern beträgt die Beschleunigung aufgrund der Gravitationskräfte 200 G pro Meter außerhalb der Radialrichtung auf den Stern und 100 G pro Meter innerhalb einer Plantangente zu den Sternen, obwohl durch die Umlaufbewegung die Anziehungskraft aufgehoben wird. Um diesen Kräften entgegenzuwirken, stellte die Mannschaft des Drachensterns einen Kräftekompensator zusammen, der aus sechs extrem verdichteten Massen bestand, die in einem Ring um das Raumschiff herumgruppiert wur(R + h)3
Abbildung 6: Kräftebeschleunigung oberhalb einer Masse 371 den. Wie in Abb. 7 zu sehen ist, sind die Kräfte in der Mitte eines Ringes denen oberhalb einer einzelnen Masse genau entgegengerichtet. Indem wir die Masse M und den Raum r einer Ringmasse entsprechend ausrichteten, gelang es uns, die Kräfte des Neutronensterns zu kompensieren und nahe genug an ihn heranzukommen, um zufriedenstellende wissenschaftliche Daten zu erhalten. Später dann, als die Cheela den Massenring schrumpfen lassen wollten, überstiegen die Kräfte der Kompensatormassen diejenigen des Neutronensterns, und die Notwendigkeit war gegeben, die Neutronenstern-Kräfte zu »verstärken«, um wieder einen Ausgleich zu erzielen. Wie in Abb. 8 dargestellt, wurde dies durch einen Kräfteverstärker mit zwei Massen erreicht. Diese Anordnung hebt die Gravitationskraft zwischen den beiden Massen auf, so daß die orbitalen Parameter des Objektes dazwischen nicht verändert werden, jedoch die Beschleunigung an Punkten außer-
& -2a +a +a ■