Fernsehspione, seltsame Drahtgewebe und Suggestiv-Tonbänder. Manuel Delgado ist ein Genie, das man nicht mit ge wöhnli...
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Fernsehspione, seltsame Drahtgewebe und Suggestiv-Tonbänder. Manuel Delgado ist ein Genie, das man nicht mit ge wöhnlichen Maßstäben messen darf. Murray Douglas will herausbekommen, weshalb Manuel Delgado bestimmte Schauspieler von allen möglichen Bühnen zusammengesucht hat. Warum hat er sie an einem abgelegenen Ort eingesperrt? Warum fördert er ihre Schwächen und Laster? Wes halb werden sie von schweigsamen Dienern bewacht und bevormundet? Wer ist dieser Manuel Delgado – und was hat er vor? Die Schauspieler ahnen nicht, daß das geplante Thea terstück im Grunde genommen ganz unwichtig ist. Es dient Delgado nur als Tarnung, und die Mitwirken den sind wie Marionetten in seiner Hand.
JOHN BRUNNER
SPION AUS
DER ZUKUNFT
Utopischer Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3137
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe
THE PRODUCTIONS OF TIME
Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
Copyright © 1967 by Brunner Fact & Fiction Ltd.
Printed in Germany 1969
Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München
Gesamtherstellung:
Verlagsdruckerei Freisinger Tagblatt,
Dr. Franz Paul Datterer oHG., Freising
1
Eben weil die bloße Vorstellung ihn bereits nervös machte, rief Murray Douglas im Restaurant Prosceni um an und ließ sich einen Tisch reservieren, bevor er seinen Wagen auslöste. Murray kannte die Stimme des Mannes nicht, der seine Bestellung aufnahm, und der andere wiederholte völlig geschäftsmäßig, als be deute ihm der Name nichts: »Mister Murray Douglas ... einen Tisch für eine Person ... ein Uhr. Sehr wohl, Sir.« Es war lange her, viel zu lange. Inzwischen war ei ne Ewigkeit verstrichen. Seine Hand zitterte, als er den Hörer auflegte. Er holte tief Luft, um seine Selbstbeherrschung zurück zugewinnen, und atmete langsam aus. Dann tastete er zum zwanzigstenmal nach seiner Brieftasche, als wolle er sich vergewissern, daß das Geld inzwischen nicht verschwunden war. Schließlich zog er seinen Mantel an, nahm die Reisetasche auf, sah sich noch einmal in seinem Appartement um und ging auf die Straße hinunter, um ein Taxi zu finden. Immerhin hatte die Werkstatt sich nicht verändert. Tom Hickie saß wie früher in seinem engen Glaska sten vor ganzen Stapeln ölverschmierter Kunden dienstblätter und dem ständig klingelnden Telefon.
Von draußen her drangen Musik und Arbeitslärm in das winzige Büro. Murray Douglas ging an reparier ten Fahrzeugen vorbei, stolperte über einen Preßluft schlauch und erreichte den Glaskasten ohne weitere Zwischenfälle. Hickie sah von seiner Arbeit auf, als die Tür geöff net wurde. Einen Augenblick lang runzelte er fra gend die Stirn. Dann fing er sich wieder. »Oh, Mister Douglas! Sie waren schon so lange nicht mehr hier, daß ich Sie fast nicht wiedererkannt hätte.« »Haben Sie meinen Brief bekommen?« fragte Mur ray scharf. Er dachte nicht gern an die lange Zeit oder an Leute, die ihn nicht wiedererkannten. Der Spiegel hatte ihm bereits zuviel erzählt. Als er zuletzt hier in der Werkstatt gewesen war, hatte er bereits viel von seinem jugendlichen Aussehen verloren, dem er ei nen großen Teil seines Erfolgs verdankte; damals wa ren seine Augen schon wäßrig geworden, und die Tränensäcke waren immer geschwollen gewesen. Aber nun war er wirklich verfallen. Die Haut am Unterkiefer war erschlafft. Auf seiner Stirn zeichne ten sich tiefe Falten ab. Und er trug stets einen Hut, weil sein Haar sich bereits lichtete und überall grau wurde. Trotz seiner zweiunddreißig Jahre sah Mur ray Douglas wie ein Mann von Fünfzig aus und fühl te sich wie ein Greis.
»Selbstverständlich, Sir. Wir haben Ihren Brief be kommen, und Ihr Wagen ist gleich fertig. Wir haben uns gut um ihn gekümmert, darauf können Sie sich verlassen.« Hickie legte seine Papiere fort; in seinen Augen erschien ein neugieriger Ausdruck. »Ich habe gehört, daß Sie krank gewesen sind, Sir. Das hat mir wirklich leid getan. Hoffentlich haben Sie sich wieder gut erholt.« Murray hatte diese Erklärung, die sein Agent ver breitet hatte, plötzlich satt. »Unsinn!« widersprach er. »Ich bin nicht krank gewesen – ich war in einem Sa natorium, um mich behandeln zu lassen, bevor ich mich zu Tode trinke.« Hickie öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. Dann schwieg er doch und sah auf seine Papiere her ab. »Tut mir leid, Mister Douglas. Ich wollte nicht neugierig ein.« »Schon gut.« Murray nahm sein Zigarettenetui aus der Tasche; hier achtete niemand auf die großen Schilder Rauchen verboten, die überall an den Wänden hingen. »Zigarette?« »Nein, vielen Dank, Sir. Ich will mir gerade das Rauchen abgewöhnen.« Hickie versuchte zu lachen, aber dann wurde ein Krächzen daraus. »Ah! Dort kommt Bill, um zu sagen, daß Ihr Wagen fertig ist.« Er ging an Murray vorbei zur Tür.
Bill, ein großer Westinder in braunen Overalls, rief ihm zu: »Der Daimler ist fertig, Mister Hickie. Ich ha be das Arbeitsblatt eben abgegeben, damit die Rech nung geschrieben wird.« »Gut!« sagte Hickie. »Wir wollen Sie nicht allzu lange aufhalten, Mister Douglas.« »Ist der Wagen in Ordnung?« wollte Murray wis sen. »Der Daimler, Boß?« Bill wandte sich an ihn. »Nun wir hatten einiges daran zu arbeiten. Entschuldigen Sie, daß ich das sage, aber Sie schenken Ihren Wagen nichts, Sir.« »Das war früher«, murmelte Murray. »Früher habe ich mir selbst auch nichts geschenkt.« »Ja, Boß?« Bill warf ihm einen fragenden Blick zu. »Das habe ich nicht verstanden.« »Macht nichts.« Murray nahm seine Brieftasche heraus. »Was bin ich Ihnen für die Aufbewahrung schuldig, Tom?« Als Murray endlich wieder hinter dem Steuer saß und den wunderbar gleichmäßigen Ton des Achtzy linders unter der abfallenden Motorhaube hörte, ver gaß er sogar, daß Hickie ihn nicht gleich wiederer kannt hatte. Murray fuhr langsam durch das West End zur St. Martin's Lane und dem Proscenium. Aber auch dort hatte sich einiges verändert. Mur
ray stieß auf bisher unbekannte Einbahnstraßen, und an den Straßenrändern standen plötzlich überall Parkuhren. Nachdem er viel Benzin und eine gute halbe Stunde damit vergeudet hatte, in überfüllten Seitenstraßen nach einem Parkplatz zu suchen, be fand er sich wieder in der Stimmung, in der er sich in den letzten Monaten meistens befunden hatte. Was wollte er überhaupt im Proscenium? Das Ganze war nur eine theatralische Geste. Ein Ruf: »Murray ist wieder da!« Um welche Antwort zu bekommen? Viel leicht einige hochgezogene Augenbrauen und ein spöttisches: »Na, und?« Verdammt noch mal, ich muß es trotzdem durchstehen. Ich habe schon zu oft nachgegeben. Ich bin zu lange allen Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen. Er fand schließlich einen Parkplatz und machte sich mit mürrischem Gesicht auf den Weg zum Re staurant. Emile, der Oberkellner, erkannte ihn wieder, aber selbst sein professionelles Lächeln konnte den Schock, den er angesichts dieser Veränderung inner halb eines Jahres empfand, nicht ganz verdecken. Und er hatte noch einen weiteren Grund, sich unbe haglich zu fühlen. »Es tut mir wirklich sehr leid, Mister Douglas«, sagte er eben, »aber Sie hatten einen Tisch für ein Uhr bestellt, nicht wahr? Als Sie um halb zwei noch nicht
gekommen waren, mußte ich ...« Er machte eine viel sagende Handbewegung, die seine Erklärung been dete. Hätte er mich früher so behandelt, hätte ich Krach ge schlagen. Aber das hätte er früher gar nicht gewagt. Nun bildet er sich ein, ich sei fertig ... Murray zwang sich dazu, trotzdem zu lächeln. »Ich habe eine halbe Stunde auf der Suche nach einem Parkplatz vergeudet«, sagte er. »Tut mir leid, wenn Sie dadurch Schwierigkeiten gehabt haben, Emile. Ist irgendwo ein anderer Platz für mich frei?« »Ah ... Wir haben nur noch einen freien Tisch, Mi ster Douglas.« Emile deutete nach rückwärts. »Fran çois wird sich Ihrer annehmen. François, führen Sie Mister Douglas bitte an den Tisch. Ja, Mister Crom bie, ich komme sofort zu Ihnen!« Fragende Blicke (›Ich kenne ihn bestimmt und weiß, wer er ist, aber ...!‹) folgten ihm durch das Re staurant. Er kannte keinen der Gäste, die zu ihm auf sahen; selbstverständlich waren hier einige Leute anwesend, die er kannte, aber er war froh, daß alle seine ehemaligen Freunde anderweitig so beschäftigt waren, daß sie nicht auf ihn achteten. Der Tisch, zu dem er geführt wurde, war zum Glück halb hinter ei ner mit Efeu begrünten Trennwand verborgen. Am Nebentisch, der in einer kleinen Nische stand, saßen zwei Männer, deren Stimmen er sofort erkannte: Pat
Burnett, Kolumnist und Theaterkritiker der Gazette, und Ralph Heston-Wood von der Theaterzeitschrift Acting. Die beiden hatten ihn nicht hereinkommen gese hen. Sie diskutierten eben eine Probe, die sie miter lebt hatten. Murray hörte interessiert zu und versuch te sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen. Du lieber Gott, was er alles versäumt hatte! Warum war er so verrückt gewesen, hier allein aufzutauchen, anstatt seinen Agenten anzurufen. Roger wäre gern bereit gewesen, ihn ... Nein, wahrscheinlich nicht, und es hat keinen Zweck, wenn ich mich selbst betrüge. Er hat bestimmt allmählich genug von mir; ich habe ihn endlos angepumpt, habe mich bei ihm beschwert und bin ihm auf die Nerven gefallen. Seitdem er das Sanatorium verlassen hatte, seitdem er gewartet und gehofft hatte, wo es keine Hoffnung gab, hatte Murray Douglas einen gewissen Murray Douglas wesentlich besser kennengelernt. Und Murray Douglas ist mir nicht übermäßig sympa thisch. Er studierte die Speisekarte mit der Begeisterung eines eben entlassenen Sträflings (und die gräßlichen Schnellimbisse waren eine Art Gefängnis gewesen) und entschied sich für Forelle blau. »Welchen Wein darf ich dazu bringen, Sir?« fragte der Ober.
»Keinen«, antwortete Murray kurz. »Ich trinke Ap felsaft.« Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Die beiden Kritiker am Nebentisch hatten jetzt das Thema gewechselt. Murray hörte zunächst kaum zu, aber als ihm auffiel, worüber sie sprachen, war er plötzlich ganz Ohr. »Was halten Sie von diesem Delgado, Ralph – Sie wissen doch, dieser Argentinier, den Blizzard aufge gabelt hat?« »Oh, der Mann ist nicht übel, das steht fest«, ant wortete Heston-Wood. »Haben Sie nicht gesehen, was er in Paris mit Jean-Paul Garrigue auf die Beine gestellt hat? Trois Fois à la Fois war der Titel, soviel ich mich erinnere.« »Nein, ich habe es nicht gesehen, aber allen Berich ten nach hätte es mir auch nicht gefallen«, grunzte Burnett. Heston-Wood lachte. »Ja, ich weiß noch, was Sie über The Connection geschrieben haben, Pat.« »Hören Sie, Ralph, was soll eigentlich dieser ganze Unsinn?« erkundigte Burnett sich. »Ein Theaterstück ist ein Theaterstück und hat einen Autor, der es ge schrieben hat. Aber soviel ich gehört habe, handelt es sich hier nicht um ein Theaterstück. Da gibt es einen gerissenen Südamerikaner, der angeblich sehr avant
gardistisch ist; er hat es fertiggebracht, Blizzard und einige Geldgeber auf seine Seite zu bringen, und holt nun von überall her Taugenichtse, ehemalige Größen und abgehalfterte Schauspieler aus irgendwelchen Winkeln zusammen, weil kein vernünftiger Mensch sich mit seinem Unsinn abgeben würde.« Murray spürte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach. »Pat, manchmal übertreiben Sie wirklich mit Ihrer Theater-für-die-Massen-Pose. Sie haben Delgados Arbeit noch nie selbst gesehen, aber Sie verdammen sie trotzdem.« Heston-Wood trank einen Schluck Wein. »Das Stück mit Garrigue in der Hauptrolle war für mich das größte Theatererlebnis seit Godot.« »Es war trotzdem kein Erfolg«, stellte Burnett fest. »Richtig. Nun, schließlich hat Garrigue Selbstmord begangen.« »Ja, aber warum war damit alles zu Ende? Warum ist nicht ein Ersatzmann für ihn eingesprungen?« »Weil das Stück auf einer bestimmten Besetzung aufgebaut war. Ein Ersatzmann hätte alles ruiniert. Diese Idee hat etwas für sich, Pat. Das wollen Sie nur nicht einsehen.« »Doch, doch, ich weiß. Vor einigen Jahren war Sa royan hier, erinnern Sie sich noch? Er hat etwas ähn liches im Werkraumtheater versucht. Aber was ist dabei herausgekommen? Unsinn!« Burnett schenkte
sich ein Glas Wein ein. »Man stellt die Schauspieler auf die Bühne, wirft ihnen einige Vorschläge hin, entwickelt daraus in Gemeinschaftsarbeit den Dialog und bezeichnet das Ergebnis als Bühnenstück. Aber wie soll ein Meisterwerk daraus werden, wenn sich lauter zweitklassige Leute zusammentun? Das kann ich nicht glauben, Ralph. Der beste Mann ist noch Murray Douglas, und Sie wissen so gut wie ich, daß es keinen Produzenten in London gibt, der diesen al ten Ginsäufer auch nur ansehen würde. Und er hatte ohnehin nie viel Talent – nur ein hübsches Gesicht.« Murray stand ruckartig auf. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, den Tisch zurückzuschieben; die Beine scharrten über den Teppichboden. Einige Besteckteile fielen hinunter. Murray war kreidebleich, als er an den Nebentisch trat. Heston-Wood ließ seine Gabel fallen, die gegen den Teller klirrte. Das war zunächst das letzte Geräusch. Im ganzen Restaurant herrschte einige Sekunden lang tiefe Stille. Burnett sah zu Murray auf, als habe er ein Ge spenst vor sich. Er war ein großer, kräftig gebauter Mann mit rotem Gesicht. Seine Lieblingsmasche, die vom Herausgeber der Gazette gefördert wurde, war ›Theater für die Massen‹, und er ließ über seine Ko lumne eine Fotografie setzen, die ihn mit einer Meer schaumpfeife im Mund zeigte.
»Stehen Sie auf!« fuhr Murray ihn an. »He ... Seien Sie doch vernünftig, Murray!« Murray packte Burnett an der Krawatte. In seinem Zorn entwickelte er ungeahnte Kräfte. Er riß Burnett hoch, so daß der Stuhl des anderen krachend umfiel. Dann versetzte er Burnett einen gutgezielten Kinnha ken. Der Kolumnist stolperte rückwärts, stieß gegen ei nen Tisch und griff mit einer Hand in eine Schale Ka ramellpudding, als er sich aufstützen wollte. Murray holte tief Luft, ohne auf das Stimmengewirr zu achten. »Das hätte Ihnen schon vor Jahren gebührt, Burnett. Haben Sie verstanden, Sie armseliger Kerl? Sie sind kein Kritiker und werden nie einer sein. Sie sind ein bösartiger Schwätzer ohne Takt und ohne Manie ren. Als ich noch ganz oben war, hätte ich Ihnen oft gern die Zähne ausgeschlagen, aber ich habe es nicht gewagt, weil Ihre schmutzige Kolumne Ihnen Macht gibt. Jetzt bin ich ganz unten, und Sie können mir nicht mehr schaden. Aber Sie versuchen es trotzdem, was? Sie haben mich einen alten Ginsäufer genannt, nicht wahr? Schön, jetzt haben Sie Gelegenheit, es mir ins Gesicht zu sagen!« Burnett richtete sich schweratmend auf. Er ent schuldigte sich murmelnd bei dem Gast, dessen Ka ramellpudding ihm unter die Finger gekommen war. »Mister Douglas! Bon Dieu, was haben Sie getan?«
Emile kam aufgeregt aus dem Hintergrund herange stürzt. »Schon gut, Emile, ich gehe bereits. Hätte ich ge wußt, daß ich hier mit Burnett unter einem Dach sein würde, wäre ich ohnehin nicht gekommen. Sein An blick verdirbt mir den Appetit.« Nun benützte Mur ray absichtlich die Resonanz seiner ausgebildeten Stimme, mit der er früher die Albert Hall ohne Mi krophon gefüllt hatte. Er wußte, daß alle Gäste jedes einzelne Wort verstanden. »Hier, nehmen Sie das als Schadenersatz.« Er drückte Emile fünf Pfund in die Hand und suchte gleichzeitig in der Hosentasche nach Kleingeld. »Das hier ist für Sie, Burnett.« Er warf dem großen Mann einen Penny zu. Die Münze fiel vor ihm auf den Teppich. Murray drehte sich um und ging langsam zum Ausgang; diesmal wußte er, daß alle Gäste ihn beobachteten. Diesmal fragte niemand, wer das sein könnte. Der beste Abgang seit langem, überlegte er sich erbit tert. »Murray!« Er blieb stehen und sah sich um. An einem Tisch in der Nähe der Tür sah er Fleet Dickinson, der sich ganz oben befand und wohl nie absinken würde. Fleet lächelte strahlend. »Murray, ich bin wirklich verdammt froh, daß Sie wieder unter die Lebenden zurückgekehrt sind. Gra
tuliere, das war ein prächtiger Kinnhaken, den Sie Burnett verpaßt haben. Was tun Sie im Augenblick? Ich habe gar nichts mehr von Ihnen gehört, seitdem ... nun, Sie wissen schon.« Er machte eine verlegene Handbewegung. »Seitdem ich eine Entziehungskur machen mußte«, stellte Murray fest. »Ich habe mich ausgeruht. Mei stens vor anderer Leute Türen. Ich habe mich auch um eine Audienz bei Ihnen bemüht, aber Sie waren nicht zu sprechen.« Fleet ließ sich nicht anmerken, daß ihm unbehag lich zumute war. »Nun, Murray, Sie wissen selbst, wie es in solchen Fällen ist ...« »Das weiß ich nur zu gut. Lassen Sie sich nicht wei ter von Ihrem Essen abhalten.« »Augenblick noch ... äh ... Murray!« Murray blieb stehen und sah sich um. »Hören Sie, wenn Sie wirklich Schwierigkeiten ha ben ...« »Jetzt nicht mehr, danke. Blizzard hat mich für sei ne Ansammlung von Taugenichtsen und Schmieren komödianten angeheuert, die Delgados neues Stück auf die Bühne bringen sollen. Bis dahin bin ich ver sorgt. Wir sehen uns bei der Premiere wieder.« Dieser Seitenhieb zum Abschied war ausgesprochen kin disch, warf Murray sich vor, als er auf die Straße hi
naustrat. Das Dumme an der ganzen Sache war na türlich, daß er wie Burnett an Delgados Projekt zwei felte. Hätte sein Agent etwas anderes aufgetrieben – irgend etwas anderes –, hätte er sich nie darauf einge lassen, obwohl er hier eine phantastisch hohe Gage erhielt.
2
Murray fuhr nach Norden durch London auf die M1 zu und dachte dabei noch immer an die Ereignisse der letzten halben Stunde zurück. Er hielt einmal an, um das Verdeck zurückzuklappen – frische Luft würde ihm helfen, Burnett zu vergessen – und ein Sandwich zu kaufen, das die gute Forelle blau erset zen mußte, die er im Restaurant Proscenium zurück gelassen hatte. Bisher war er vorsichtig gefahren; schließlich hatte er seit seinem Zusammenbruch nicht mehr am Steuer eines schnellen Wagens gesessen. Als er jedoch die Autobahn erreichte, fuhr er absichtlich immer schnel ler, schaltete erst bei hundertsiebzig in den vierten Gang und beschleunigte weiter, bis das Tachometer zweihundert Stundenkilometer anzeigte. Murray war Manuel Delgado dankbar, wenn auch nur dafür, daß er ihm genug Geld vorgestreckt hatte, damit er den Wagen wieder auslösen konnte. Er hatte den Daimler nicht verkauft, weil der Wa gen im Lauf der Zeit ein wichtiges Symbol für ihn geworden war. Das Nummernschild trug die Kombi nation 1 MQD – Murray Quest Douglas –, und die Leute erkannten den weißen Daimler SP 250 auf offe ner Straße. »Das ist Murray Douglas in seinem Wa
gen!« hieß es dann. »Ich habe ihn erst letzte Woche im Fernsehen gesehen.« Einmal hatte ihn sogar ein Taxifahrer um sein Au togramm gebeten, als sie beide nebeneinander vor ei ner blockierten Kreuzung standen. Vielleicht war er unerklärlich hartnäckig gewesen. Er hätte noch immer sieben- oder achthundert Pfund dafür bekommen, obwohl der Wagen damals nicht in bestem Zustand war. Er hätte anständig essen kön nen, anstatt aus Büchsen zu leben; er hätte nicht die billigsten Zigaretten zu rauchen brauchen, und er hätte nicht in ungebügelten Anzügen zu nutzlosen Interviews zu kommen brauchen. Roger Grady hatte ihm oft genug vorgeworfen, es sei idiotisch, den Wa gen in der Garage stehen zu lassen, wo jede Woche Geld kostete; Roger hatte nochmals davon angefan gen, als er Murray die unglaubliche Mitteilung mach te, daß Sam Blizzard Schauspieler für Delgados neues Stück suchte und Murray Douglas engagieren wollte. Murray dachte an dieses Gespräch mit Roger zurück. Murray hatte selbstverständlich schon von Delgado gehört. Der Autor stammte aus Argentinien. Er hatte schon früher einen Film gedreht, als der einzige süd amerikanische Name, der einigermaßen bekannt war, Leopoldo Torre-Nilsson hieß. Murray hatte den Film nicht selbst gesehen – er war nur auf irgendeinem ob
skuren Festival gezeigt worden –, aber er kannte eini ge Leute, die ihn gesehen hatten und als phantastisch bezeichneten. Eine Comédie noire, die das Ende aller Comédies noires bedeutete. Delgados Ruf bei seiner Ankunft in Europa war auf diesem Film begründet, und vergangenes Jahr hatte Jean-Paul Garrigue, einer der besten jungen Schau spieler in Paris, die Hauptrolle des Experimentier stücks übernommen, von dem Burnett und HestonWood gesprochen hatten. Murray hatte auch dieses Stück nicht gesehen; er war damals bereits im Sanato rium gewesen. Aber er hatte die Kritiken gelesen; die Kritiker waren teilweise begeistert gewesen. Dann hatte Garrigue Selbstmord begangen. Dieser kurzlebigen Sensation war monatelanges Schweigen gefolgt. Man hätte glauben können, Garrigues De pression sei ansteckend, denn Delgado schien nicht mehr imstande zu sein, andere zu begeistern. Und dann kam Roger mit der Nachricht. »Ob ich annehme?« wiederholte Murray und schüttelte verblüfft den Kopf. »Blizzard will mich en gagieren, und ich könnte da noch zögern? Bist du verrückt geworden, Roger?« »Ich kenne einige Leute, die nicht annehmen wür den«, sagte Roger nach einer kurzen Pause. »Warum? Du lieber Gott, Delgado ist doch letztes Jahr von der Kritik in den Himmel gehoben worden!«
»Ganz recht.« Roger starrte seine Zigarre an. »Du bist seitdem natürlich nicht mehr ganz auf dem lau fenden. Du hörst kaum noch Gerüchte, verstehst du? Ich behaupte nicht, daß die Sache keine große Chance wäre, oder daß du sie nicht verdient hättest, seitdem du dich so zusammengerissen hast. Aber ich muß dir auch sagen, daß es einige Leute gibt, die keine Rolle in Delgados Stück übernehmen würden, selbst wenn sie dafür tausend Pfund täglich bekämen.« »Warum nicht?« »Weil Garrigue Selbstmord begangen hat. Weil Léa Martinez in einer Nervenheilanstalt sitzt. Weil Clau dette Myrin ihre kleine Tochter ermorden wollte.« Roger sprach völlig ernsthaft, und sein Gesichtsaus druck hatte sich verändert. »Das mit den Mädchen habe ich nicht gewußt«, gab Murray zu. »Sie haben in Paris mitgespielt, nicht wahr? Aber hör zu, Roger, das heißt doch nur, daß ein paar Abergläubische sich einbilden, Delgado habe diesen Leuten Unglück gebracht.« »Mehr oder weniger.« »Hast du schon einmal erlebt, daß ich abergläu bisch bin, Roger?« »Nein.« Der Agent seufzte. »Aber ich mußte dich trotzdem warnen. Ich habe erst gestern mit jemand über diese Sache gesprochen, der sofort ablehnte, be vor ich überhaupt ein Angebot machen konnte. Bliz
zard hat einige verrückte Vorstellungen davon, wel che Leute er haben oder nicht haben will ...« »Gehöre ich auch dazu, Roger?« warf Murray ein. »Nein. Wirklich nicht, Murray. Bildest du dir ein, ich sei dumm genug, jemandem vierhundert Pfund zu leihen, wenn ich annehmen müßte, der Betreffen de habe keine Aussichten mehr in seinem Beruf? Nein, ich bin davon überzeugt, daß du es wieder schaffen wirst – vielleicht sogar besser als zuvor, weil du dich jetzt nicht mehr auf dein gutes Aussehen ver lassen kannst.« Roger wußte, daß er mit Murray offen sprechen konnte. »Aber du bist bisher das einzige Mitglied des Ensembles, das mir vertrauenerweckend erscheint. Ich bin allerdings nicht dafür verantwort lich, und Blizzard hat einen harten Kopf. Außerdem hast du auf jeden Fall die Chance, die Kritiker zu be eindrucken, selbst wenn das dämliche Stück schon nach drei oder vier Tagen abgesetzt werden müßte.« »Du bist nur froh, daß ich dich auf diese Weise ei nige Wochen lang nicht mehr belästigen kann«, stellte Murray vorwurfsvoll fest. »Du wirst allmählich verdammt lästig, Murray, und du schuldest mir einen Haufen Geld. Dabei ver dankst du es nur meinem Langmut, daß ich dich nicht schon längst vor die Tür gesetzt habe. Du kämpfst nicht gern, mein Junge, und du läßt es dir auch anmerken!«
»Schon gut, schon gut«, lenkte Murray ab. »Erzähl mir lieber mehr von dieser Sache. Die Gage spielt keine Rolle. Im Augenblick würde ich auch eine Komparsenrolle übernehmen.« »Du hast zum Glück etwas mehr zu erwarten. Da bei ist Geld zu verdienen, alter Junge! Blizzard hat ei nen bankrotten Klub namens Fieldfare House bei Bedford übernommen und will dort das Ensemble unterbringen, bis das Stück in London aufgeführt wird. Wahrscheinlich soll es Amaranth im MargraveTheater ablösen; Amaranth zieht schon lange nicht mehr recht. Vielleicht habt ihr Gelegenheit, eine Wo che vor der Londoner Aufführung in der Provinz zu proben, aber wahrscheinlich kommt ihr gleich in vier Wochen ins Margrave-Theater.« »Hast du vier Wochen gesagt?« »Nein, Blizzard hat davon gesprochen. Du kannst selbst mit ihm darüber diskutieren, alter Junge. Dazu hast du genügend Zeit – er erwartet dich am Freitag in seinem Klub.« Am Freitag fuhr Murray eine Stunde früher als er wartet, weil er das Mittagessen hatte ausfallen lassen, an dem verblichenen Hinweisschild vorbei, das in Richtung Fieldfare House zeigte.
3
Die kiesbestreute Auffahrt zweigte von einer schma len Nebenstraße ab und führte durch einen weitläufi gen Park. Murray vermutete, daß der Klub auch we gen dieses Grundstücks Bankrott gemacht haben mußte, das ungewöhnlich großzügig angelegt und bepflanzt war. Hinter dem Hauptgebäude sah er den erhöhten Rand eines Schwimmbeckens. Das große Haus aus grauem Stein und roten Zie geln war bis zur Dachrinne mit Efeu bewachsen. Es wirkte unbewohnt; die Fenster waren schmutzig, und im Parterre waren die Fensterläden einiger Zimmer geschlossen. Links neben dem Eingang wartete ein geräumiger Parkplatz auf die Fahrzeuge der Besu cher. Murray stellte den Wagen dort ab, schaltete die Zündung aus und erschrak fast, als es um ihn herum totenstill blieb. Er mußte die Befürchtung unterdrük ken, dies sei alles nur ein alkoholisierter Wunsch traum. Hatte Blizzard nie nach ihm gefragt? War er vergebens zu diesem menschenleeren Haus gefah ren? Er zog den Zündschlüssel ab und stieg langsam aus. Dann knallte er die Wagentür zu und öffnete den Kofferraum. Er griff nach seiner Reisetasche.
»Sie sind bestimmt Mister Murray Douglas.« Die leise Stimme kam völlig unerwartet. Murray ließ den Kofferraumdeckel krachend zufallen. Rechts neben ihm stand ein Mann unbestimmbaren Alters; er trug einen schwarzen Anzug und eine schwarze Krawatte. Murray hatte nicht einmal den Kies unter seinen Füßen knirschen gehört. »Ja, das bin ich«, antwortete Murray unsicher. »Sie scheinen mich erwartet zu haben.« »Ganz recht, Sir. Ich heiße Valentine und bin hier Butler. Darf ich Ihre Tasche nehmen und Ihnen Ihr Zimmer zeigen?« Murray schüttelte verblüfft den Kopf. Er starrte Va lentine an, betrachtete das blasse, faltenlose Gesicht mit den dunklen Augen und stellte fest, daß der Mann ihn an einen Beerdigungsunternehmer erinner te. »Ihre Tasche, Sir?« »Oh ... bitte sehr. Ist Mister Blizzard schon ange kommen?« »Nein, Sir. Sie sind der erste. Ich erwarte Mister Blizzard gegen sechs Uhr, und Mister Delgado beglei tet ihn vermutlich. Die übrigen Mitglieder des En sembles dürften im Laufe des Nachmittags eintreffen. Folgen Sie mir bitte, Sir.« Valentine wandte sich ab. Obwohl er jetzt die Rei setasche trug, knirschte der Kies unter seinen Füßen
nicht. Murray hatte das Gefühl, neben einem Ge spenst zu gehen, das ihn in die riesige Eingangshalle des Hauptgebäudes führte, über der sich eine Glas kuppel wölbte. Hier und entlang der Treppe zum er sten Stock waren überall Dekorationsstücke aus der Zeit des Klubs übriggeblieben: Stiche von Jagdsze nen, Waldhörner, Geweihe, alte Waffen und ein Ti gerfell vor dem gewaltigen Kamin. Der Butler führte Murray in den ersten Stock hin auf, wo ein langer Korridor nach rechts abzweigte. Murray vermutete, daß er sich hier in einem neuen Seitenflügel des Hauses befand, den er von der Ein fahrt aus nicht gesehen hatte. »Ihr Zimmer, Sir«, stellte Valentine fest und steckte einen Schlüssel in die letzte Tür. »Nummer Vier zehn.« Murray fiel auf, daß die vorletzte Tür die Nummer Dreizehn trug, und er fragte sich, ob dieser Raum leerstehen würde. Oder sollte dort jemand unterge bracht werden, der von sich behauptete, er sei durch aus nicht abergläubisch? Dann folgte er dem Butler in sein Zimmer und vergaß diese Frage wieder. Statt dessen stieß er einen leisen Pfiff aus. Der quadratische Raum war mit Ahorn getäfelt. Neben dem niedrigen Bett standen zwei moderne Tischchen; auf einem hatte das Telefon seinen Platz gefunden, auf dem andern stand eine große Vase voll
Blumen. An der Wand über dem Bett hing die Re produktion eines Gemäldes von Picasso. Das breite Fenster war von flaschengrünen Vorhängen einge rahmt und gab den Blick auf den Rasen hinter dem Haus frei. Auf einem weißen Gestell am Fenster stand ein Fernsehgerät; in bequemer Reichweite des Schau kelstuhls lagen einige Nummern von Acting und an dere Magazine in einem Zeitungsständer. Murray nickte beeindruckt und ging ans Fenster. Als er sich umdrehte, sah er, daß Valentine seine Ta sche auspacken wollte. »Nein, lassen Sie das, Valentine«, forderte Murray ihn auf. »Hier.« Er suchte nach Trinkgeld, aber Valen tine hob abwehrend die Hand. »Das ist nicht notwendig, Sir Mister Blizzard zahlt mir ein sehr großzügiges Gehalt.« »Aha.« Murray zuckte mit den Schultern und steckte das Kleingeld wieder ein. »Hören Sie, gibt es hier schon eine Art Stundenplan?« Er begann die Ta sche auszupacken. »Soviel ich weiß, hängt alles von Mister Delgado und den Fortschritten ab, die das Stück macht, Sir. Heute abend wird um halb acht gegessen; anschlie ßend will Mister Delgado die Anwesenden selbst kennenlernen und ihnen Gelegenheit zu Fragen und Vorschlägen geben.« »Ausgezeichnet. Waren Sie übrigens schon früher
hier im Klub beschäftigt?« Murray legte Socken und Hemden in die dafür vorgesehenen Schubladen der Kommode, nahm seinen zweiten Anzug und ging damit an den Einbaukleiderschrank. »Nein, Sir. Mister Blizzard hat mich angestellt. Ich bin hier ebenso fremd wie Sie.« »Der alte Blizzard zieht die Sache gleich richtig auf, was?« Murray öffnete die Tür des Kleiderschranks, blieb wie gelähmt stehen und achtete kaum auf Va lentines Antwort. »Das kann ich nicht beurteilen, Sir. Dazu bin ich zu wenig mit dem Theaterleben vertraut. Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?« Murray gab sich einen Ruck. »Ja«, bestätigte er grimmig. »Das hier.« Er öffnete die Tür ganz, nahm eine Flasche White Horse aus dem untersten Fach und drückte sie Valentine in die Hand. »Und das! Und das! Und das!« Murray holte weite re Flaschen aus dem Schrank – Booth's Dry Gin, Le mon Hart Rum und Cognac Hennessy. Er sah auch Gläser, eine Flasche Sodawasser und Flaschen mit Zi tronen- und Orangenkonzentrat – aber das alles war ungefährlich. Murray schwitzte, als er sich wieder Valentine zuwandte, der mit den Flaschen in den Armen und einem höflich fragenden Ausdruck auf dem Gesicht vor ihm stand. »Schaffen Sie das Zeug fort«, wies Murray ihn an.
»Hat Blizzard Ihnen gesagt, Sie sollten es mir brin gen?« »Ganz recht, Sir. Mister Blizzard hat mich beauf tragt, für Erfrischungen in den Zimmern der Gäste zu sorgen.« »Schön, lassen wir das. Bringen Sie das Zeug weg. Erfrischungen! Hm ... Sie können mir ein paar Dosen Obstsaft bringen.« »Sehr wohl, Sir.« Valentine ließ sich nicht anmer ken, ob er wußte, weshalb Murray so erregt war. »Ist das vorläufig alles?« »Ja.« Murray kehrte ihm den Rücken zu. Es würde nicht leicht sein. Aber das hatte er von An fang an gewußt. Im Sanatorium war er gewarnt wor den, daß es unter Umständen einige Jahre dauern konnte, bevor er ein Glas Bier riskieren durfte. Mur ray war sich darüber im klaren, daß er keinen Trop fen Alkohol trinken durfte, bevor er nicht fünf Jahre lang beruflich erfolgreich gewesen war; sonst würde er wieder in die Gosse hinabsinken und dort bleiben. Murray Douglas hielt nicht sonderlich viel von Murray Douglas. Aber in der Gosse würde er nur noch Haß für ihn empfinden. Er hatte noch einige Beruhigungspillen übrig, die er im Sanatorium bekommen hatte. Er nahm die klei ne Schachtel aus der Reisetasche, ging ans Waschbek
ken und schluckte eine Pille mit etwas Wasser. Einige Minuten später fühlte er sich bereits besser. Sein Gepäck konnte bis später warten. Im Augen blick wollte er sich in dem ehemaligen Klub orientie ren, in dem er gelandet war. Valentine hatte den Zimmerschlüssel außen in der Tür stecken lassen. Er schloß die Tür ab und begann seine Entdeckungsrei se. Das Innere des großen Hauses hielt ihn nicht lange auf. Von der Eingangshalle aus führte eine Tür in den geräumigen Speisesaal; andere Türen führten in den Aufenthaltsraum mit der Bar, in eine Bibliothek und zu den Wirtschaftsräumen. Murray hob sich die eine Tür, die seiner Meinung nach in den neuen Seitenflü gel führte, bis zuletzt auf. Dahinter lag jedoch kein Korridor, sondern ein vollständig eingerichtetes klei nes Theater mit etwa sechzig Plätzen, zwei Kinopro jektoren und einer überraschend weiträumigen Büh ne. Murray pfiff anerkennend. Blizzard hatte diesen Klub absichtlich ausgewählt! Es war bestimmt nicht leicht gewesen, etwas Passendes zu finden. Plötzlich kam ihm die Idee, ein Stück innerhalb von vier Wo chen auf die Beine zu stellen, nicht mehr so unwahr scheinlich vor. Autor, Ensemble, Produzent – und vermutlich auch Bühnenbildner, Beleuchter und so weiter – unter einem Dach, wo es ein Miniaturtheater
für Proben gab. Das konnte wesentlich produktiver als die gewohnte Arbeitsweise sein, bei der sich die Schauspieler nach den Proben wieder verliefen. Nach einem letzten Blick auf die leeren Sitzreihen verließ Murray das Theater. In der großen Halle glaubte er Valentine zu sehen, mußte aber feststellen, daß es sich um einen Diener gehandelt hatte; der Mann sah Valentine allerdings ähnlich, war nur et was größer und trug ebenfalls einen schwarzen An zug. Die Eingangstür stand offen. Murray schloß das Verdeck seines Wagens, weil es nach Regen aussah, und ging dann ums Haus, um den Park zu besichti gen. Hinter dem Hauptgebäude lag ein großes Schwimmbecken, das jetzt allerdings kein Wasser enthielt. Weite Rasenflächen und ein Tennisplatz schlossen sich an. Den Abschluß bildete in dieser Richtung ein Tannenwäldchen, das Murray bereits von seinem Zimmer aus gesehen hatte. Er folgte ei nem Fußpfad zwischen den Bäumen und hatte das Haus bereits aus den Augen verloren, als er auf den Zaun stieß. Dieser Zaun war fast zweieinhalb Meter hoch, be stand aus schwerem Maschendraht und wurde oben durch einen dreifachen Stacheldraht wirkungsvoll abgeschlossen. Murray wußte nicht, ob der Klub oder der Grundstücksnachbar ihn errichtet hatte.
Murray wandte sich ab. In entgegengesetzter Rich tung hatte er genügend freie Fläche vor sich, und was außerhalb des Zauns geschah, brauchte ihn nicht zu interessieren. Gleichzeitig überlegte er sich, daß es ei gentlich schade war, hier nur zu arbeiten. Hier hätte er sich nach seiner Entziehungskur wunderbar erho len können – wenn er das Geld dazu gehabt hätte. Er näherte sich bereits wieder dem Haus, als er ei nen Wagen vorfahren hörte. Er ging schneller, denn er war neugierig, wen Blizzard sonst noch für dieses Unternehmen eingefangen hatte, das in so unerwartet luxuriösem Rahmen stattfand.
4
Als Murray den Butler anwies, die Flaschen aus sei nem Zimmer zu entfernen, war ihm eingefallen, es könnte schwierig sein, einen Drink abzulehnen, wenn sich alle zum Abendessen versammelten. Als die zehn oder zwölf Mitglieder des Ensembles sich um halb neun nach dem Essen im Aufenthaltsraum an der Bar versammelten, wo die von Valentine erwähn te Diskussion stattfinden sollte, fühlte Murray sich versucht, seine Sorgen in Alkohol zu ertränken. Irgendwie brachte er es trotzdem fertig, nicht zu Valentine und den beiden Dienern hinüberzusehen – alle drei gleich gekleidet und gleich schweigsam –, die jetzt auf Wunsch Drinks servierten. Die Bar in der Ecke war vor dem Abendessen geöffnet worden, und die vorhandenen Alkoholvorräte hatten seitdem sichtlich abgenommen. Die Luft wurde stickig, weil alle rauchten; irgend jemand hatte einige Schallplat ten gefunden und legte sie nacheinander auf den Plattenspieler in der Ecke. Die Anwesenden lachten und sprachen überlaut, so daß die Versammlung eher an eine Party als an eine grundsätzliche Besprechung erinnerte. Nur Murray hockte allein in einem großen Lehn sessel, hielt ein Glas Zitronensaft mit beiden Händen
umklammert und runzelte die Stirn, während er zu hörte und beobachtete. Die Unterhaltung drehte sich meistens um die bei Schauspielern so beliebten Themen – Klatsch, Eigen lob und die Unfähigkeit aller Kritiker. Bisher hatte noch niemand Murrays Zusammenstoß mit Pat Burnett erwähnt, und Murray war froh darüber. Viel leicht war es Heston-Wood gelungen, seinen Kolle gen zu beruhigen. Natürlich würden die Leute früher oder später davon erfahren, aber wenigstens hatten die Abendzeitungen noch nichts darüber gebracht. Gelegentlich erhitzten sich die Gemüter, wenn ein allgemein interessierendes Thema angeschnitten wurde: die Aussichten dieses Unternehmens und der Wert der Improvisation als Grundlage eines Bühnen stücks. Murray hatte in den letzten Tagen viel dar über nachgedacht und rechnete mit einer ernsthaften Diskussion. Aber er hatte nicht den Mut, sie zu be ginnen. Er wußte jetzt, wen Blizzard außer ihm enga giert hatte, und er wollte möglichst wenig mit diesen Leuten zu tun haben. Blizzard und Delgado waren nicht zum Abendes sen erschienen. Valentine hatte den Schauspielern er klärt, die beiden hätten noch einige Probleme zu be sprechen und zögen es deshalb vor, allein zu essen. Murray glaubte nicht recht daran. Er hatte eher den Eindruck, dieser Delgado wolle sich mit der Aura des
Geheimnisvollen umgeben. Bisher hatte ihn noch niemand zu Gesicht bekommen. Allerdings schien das niemand zu stören. Alle wa ren mit dem guten Essen und den kostenlosen Drinks mehr als zufrieden. Murray sah sich um. Die lautere der beiden kleinen Gruppen bestand aus fünf Leuten; mit vier von ihnen hatte er bereits zusammengearbeitet. Dort saß Ida Marr, rothaarig, noch immer schlank, aber nicht mehr die Jüngste, was an den Krähenfüßen und den Falten am Hals zu sehen war; sie posierte bewußt – aber sie führte sich stets so auf, als stehe sie auf der Bühne. Neben ihr saß Gerry Hoarding; er wirkte sogar jünger als vierundzwanzig, wenn man das hagere Gesicht unter dem wirren Blondschopf sah. Hoarding sollte ihr Bühnenbildner sein; er hatte ohne Zweifel Talent, aber ... Rechts neben Ida saß Adrian Gardner, der in den letzten Jahren etwas Fett angesetzt hatte. Murray hat te in Skeleton mit ihm auf der Bühne gestanden und kannte ihn als gut durchschnittlich begabten Schau spieler. Aber auch er ... Er hatte Constant Baines vor fast zehn Jahren in ei nem Repertoiretheater kennengelernt. Constant saß neben Adrian und beteiligte sich nur selten an der Unterhaltung. Er war immer auf der gleichen Stufe stehengeblieben als Murray das West End erreicht
hatte; keiner von ihnen hatte sich über dieses Zu sammentreffen gefreut, und sie hatten sich eisig be grüßt. Und noch jemand. Ida machte eine Bemerkung, die Murray nicht verstand, die anderen lachten, und das Mädchen, das zu Idas Füßen auf einem Kissen saß, hob den Kopf Ida wurde auf die Bewegung aufmerk sam und strich dem Mädchen rasch übers Haar. Wahrscheinlich ihre letzte Eroberung. Gräßlich. Murray runzelte die Stirn. Er hatte das Mädchen noch nie gesehen und vermutete, daß es von irgendeinem Provinztheater kam; beim Abendessen hatte er ge hört, daß es Heather hieß. Es war bestimmt nicht älter als zwanzig. Seine langen Haare waren rabenschwarz und umrahmten ein interessant geschnittenes Ge sicht. Auch die Figur in dem knappen roten Kleid war sehenswert. Wirklich eine Schande! Murray zuckte mit den Schultern. In diesem Au genblick verstummte die Unterhaltung; er hob den Kopf und stellte fest, daß Blizzard in Begleitung eines Mannes hereingekommen war, der nur der berühmte Manuel Delgado sein konnte. Blizzard – dick, im dunkelblauen Zweireiher, mit einer gewaltigen Zigarre in der Hand – stapfte durch den Raum und grüßte nach rechts und links. »Ida, meine Liebe, ich bin entzückt! Hallo, Murray! Freut
mich, daß Sie sich uns angeschlossen haben! Und die kleine Heather – wie geht's bisher, Süße?« Aber niemand achtete wirklich auf ihn. Alle starr ten nur Delgado an. Das Gesicht des Autors trug einen merkwürdigen Ausdruck. Wie das einer Schlange? Ja, entschied Murray nach kurzem Zögern. Man hatte den Ein druck, die Augen seien lidlos. Delgado war mittel groß und schlank; er hatte das dunkle Haar und die gebräunte Haut eines Südamerikaners; er war ele gant, aber nicht auffällig gekleidet und hielt sich sehr gut. Man hätte ihn eher für einen Schauspieler halten können, als ... nun, zum Beispiel Constant Baines, der eher wie ein erfolgloser Buchhalter wirkte. Murray erwiderte den Blick dieser schwarzen Au gen und hatte das Gefühl, abgeschätzt und gewogen zu werden. Dann wandte Delgado sich ab, und Mur ray stellte fest, daß dieser Vorgang sich bei jedem von ihnen wiederholte. »Alle mal herhören!« Blizzard hatte hinter einem Tisch an der Längsseite des Raums Platz genommen, so daß er die Schauspieler vor sich hatte. »Manuel?« Delgado nickte und ging um den Tisch herum. Murray fiel auf, wie geschmeidig er sich bewegte; er sah zu Adrian Gardner hinüber. Tatsächlich! Ade beobachtete diesen graziösen Gang. Murray hätte am liebsten zum erstenmal seit seiner Ankunft gelacht,
aber er unterdrückte diesen Impuls, weil Blizzard jetzt wieder das Wort ergriff. »Na, ich schätze, daß Sie alle diese ganze Sache für ziemlich verrückt halten, was?« Das Mädchen Heather kicherte nervös, und Adrian machte irgendeine unverständliche Bemerkung. »Das habe ich mir gedacht.« Blizzard lächelte jetzt nicht mehr. »Schön, ab sofort gibt es keinen Grund mehr dafür! Dieses Haus ist kein vornehmer Klub, sondern nur zufällig der ideale Rahmen für unser Unternehmen. Wie viele von Ihnen haben das Theater im Seitenflügel gesehen?« Blizzard machte eine erwartungsvolle Pause. »Was, nur Murray hat es sich angesehen?« fragte er dann enttäuscht. »Du lieber Gott! Seht es euch gefälligst nach der Diskussion an, ja? Es wird euch gefallen. Schön, kommen wir also zur Sache. Ihr wißt alle, was wir hier erreichen wollen. Wir haben uns etwas vorgenommen, das wirklich nicht leicht ist, aber Manuel hat es bereits zwei- oder drei mal mit solchem Erfolg vorexerziert, daß die Kritiker noch immer nicht zur Ruhe gekommen sind. Viele Leute wären froh, wenn sie nur einmal solchen Erfolg hätten, bevor sie sterben.« »Jean-Paul Garrigue?« murmelte Constant im rich tigen Augenblick. Die anderen drehten sich nach ihm um.
»Constant, das war nicht witzig«, stellte Adrian fest. »Es war auch nicht witzig gemeint«, antwortete Constant. Wie reagierten die anderen? Murray sah sich um und glaubte ein leichtes Lächeln auf Delgados schma len Lippen erkannt zu haben, das sofort wieder ver schwand. Er war plötzlich neugierig auf Delgados Ausführungen. »Tut mir leid, Manuel«, flüsterte Blizzard dem Au tor zu. Delgado nickte geistesabwesend, zündete sich eine Zigarette an und beugte sich leicht vor. »Soll ich mir deswegen Gewissensbisse machen?« fragte er. Er sprach gutes Englisch mit spanischem Akzent und amerikanisch gefärbter Aussprache. »Sie sind sich hoffentlich darüber im klaren, daß Jean-Paul das Stück nicht zu diesem ... diesem Erfolg hätte füh ren können, wenn er nicht dem Selbstmord nahe ge wesen wäre.« Sein Gesicht verschwamm in einer Rauchwolke. Er legte den Kopf schief und erinnerte Murray dadurch noch mehr an ein Reptil. »Sie alle kennen mich bisher noch nicht. Ich habe natürlich einen gewissen Ruf, und einige von Ihnen haben vielleicht meinen Film gesehen. Aber keiner von Ihnen hat Trois Fois gese hen, sonst wäre er jetzt nicht hier. Ich habe kein Inter esse daran, mich zu wiederholen. Ich bin nur an et was anderem interessiert. Hören Sie zu, dann erzähle
ich es Ihnen, und wenn ich das sage, befehle ich Ih nen zuzuhören, weil Sie damit leben werden.« Murray beugte sich in seinem Sessel nach vorn. Er hatte im Lauf seiner Karriere als Schauspieler genü gend Gelegenheit gehabt, mit begabten Schriftstellern und Regisseuren zusammenzukommen; er konnte sich an etwa ein halbes Dutzend arroganter Genies erinnern. Dieser Mann gehörte unzweifelhaft dazu. Delgado machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach. »Wir hören immer und überall die gleichen Feststellungen, und wir wissen, daß sie wahr sind. Sie werden in gelehrten Abhandlungen, in langen Bü chern, in Predigten und in philosophischen Semina ren getroffen. Wir befinden uns in einer Periode des Verfalls. Nicht Dekadenz, sondern Verfall. Hier ist eine Beschreibung eines Mannes dieser Zeit, die so großen Wert auf die persönliche Freiheit des einzel nen Menschen legt. Dieser Mann gleicht einer Marionette und ist inner lich verdorben. Kennen Sie ihn? Er hat kein bestimm tes Ziel. Er gilt allgemein als Individualist, aber inner lich schämt er sich seiner Wünsche, die ihm doch ei gentlich nur vergessen helfen, daß er ständig Ent scheidungen treffen muß, denen er im Grunde ge nommen nicht gewachsen ist. Er klammert sich an ir gend etwas; er imitiert seine Nachbarn, um sich nicht selbst entscheiden zu müssen; er hat Kinder, in denen
er einen Schatten seiner selbst über die Zeit hinweg retten will, und er bringt es fertig, auch ihre Jugend zu verderben. Schließlich wird er zum Trinker und tröstet sich mit Alkohol.« Hier sah Delgado zu Mur ray hinüber, und Murray fühlte sich wie ein kleiner Junge, der in der Schule unartig gewesen ist. »Er widert mich an, und er widert Sie an. Jeder kennt ihn, aber niemand versteht ihn, so daß seinet wegen nichts unternommen wird. Das interessiert mich, und für die nächsten vier Wochen – und solan ge das Stück später in London oder sonstwo aufge führt wird – werden Sie sich dafür interessieren müs sen. Ist das klar?« Delgado drückte seine Zigarette aus, lehnte sich in den Sessel zurück und sah von einem zum anderen, als habe er eine Herausforderung vorgetragen und erwarte nun eine Antwort darauf. Die anderen schwiegen. Schließlich ergriff Ida das Wort. »Bedeutet das, Mister Delgado, daß das Ergebnis unserer ... unserer kollektiven Anstrengungen ein ge sellschaftskritisches Stück sein soll?« »Nein, ich habe nicht die Absicht, den Anstoß zu einer Reform zu geben.« Delgado sprach absichtlich gelassen. »Ich bin ein Künstler, kein Arzt. Meine Spe zialität sind Krebs und Wundbrand in einem Stadi um, in dem es keine Hoffnung mehr geben kann.«
Er schob einen Sessel zurück und erhob sich. »Wir treffen uns morgen früh um halb zehn zu ei ner vorläufigen Diskussion des Gesamtthemas. Gute Nacht.«
5
Als Delgado den Raum verlassen hatte, spürte Mur ray vor allem das Bedürfnis nach frischer Luft. Er hat te mit Blizzard über die Flaschen sprechen wollen, die er in seinem Zimmer gefunden hatte, aber das war vorläufig nicht weiter wichtig. Während die an deren dort weitermachten, wo sie durch Delgados Auftritt unterbrochen worden waren, ging Murray nach draußen. Er setzte sich auf die niedrige Steinba lustrade am Eingang, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete nachdenklich die dunklen Büsche entlang der Auffahrt. Er schrak auf, als er eine Stimme hinter sich hörte. »Mister Douglas? Sie sind doch Murray Douglas, nicht wahr?« Murray drehte sich halb um und sah Heather in der Tür stehen. »Oh, hallo. Hat Ida Sie einen Augenblick von der Leine gelassen?« Er hatte nicht boshaft sein wollen, aber in seiner trübseligen Stimmung fiel ihm nichts anderes ein. »Wie bitte? Ich weiß nicht ...?« »Macht nichts. Ja, ich bin Murray Douglas.« Er warf seine Zigarette fort. »Warum?« »Ich dachte, Sie müßten es sein, aber ich wollte
niemand fragen.« Heather kicherte nervös. »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen. Ich habe das Ge fühl, ich müßte wie früher von einem zum anderen gehen und um Autogramme bitten.« »Hier, setzen Sie sich«, forderte Murray sie auf und rückte zur Seite. »Zigarette?« »Nein, danke, Mister Douglas. Ich habe heute abend schon zuviel geraucht.« Sie kam näher und setzte sich neben ihn. »Was halten Sie von der ganzen Sache, Mister Douglas?« fragte sie nach einer kurzen Pause. »Ich habe noch nie etwas Ähnliches gehört – und Sie?« »Nennen Sie mich nicht immer Mister«, sagte Mur ray. »Ich sehe wahrscheinlich alt genug aus, um Ihr Vater zu sein, aber ich bin es nicht.« Sie holte erschrocken Luft. »Das tut mir wirklich leid!« Murray zögerte und lachte dann. »Schon gut. Wie heißen Sie überhaupt? Bisher weiß ich nur Ihren Vor namen.« »Heather Carson.« Unbekannt. »Und wie sind Sie hier gelandet, Hea ther?« »Nun, das weiß ich selbst nicht recht.« Wieder ein nervöses Kichern. »Ich war zwei Jahre lang auf der Gourlay-Schule und bin seitdem in Southampton en gagiert gewesen. Anscheinend ist Mister Blizzard auf
mich aufmerksam geworden; er war vor einigen Mo naten bei uns, und dann ... nun, dann bin ich eingela den worden.« Murray war verblüfft; er hätte nie erwartet, daß ein Mädchen wie Heather ausgerechnet die GourlaySchule absolvieren würde, die als besonders streng galt. Nun, das spielte keine Rolle. Offenbar hatte er sich auch geirrt, als er eine Verbindung mit Ida an nahm, denn sonst hätte das Mädchen bestimmt da von gesprochen. Heather wiederholte ihre ursprüngliche Frage. »Was halten Sie von der ganzen Sache ... äh ... Mur ray?« »Wollen Sie es wirklich wissen?« Er zündete sich eine Zigarette an. »Schön, ich erzähle Ihnen gern, was mir bisher aufgefallen ist. Delgado weiß, was er tut. Sam Blizzard weiß es nicht. Ich habe in London ge hört, wie Burnett von der Gazette behauptet hat, Sam habe sein Ensemble aus Taugenichtsen und abgehalf terten Schauspielern zusammengestellt. Wenn man von Ihnen absieht, hat er mit dieser Meinung ver dammt recht. Ich habe noch nie eine derartige Ver sammlung von zweitklassigen Leuten gesehen.« Heather schwieg betroffen. Dann sagte sie leise: »Aber das verstehe ich nicht. Sie sind doch auch hier. Ich meine, Sie waren doch sechs oder sieben Jahre lang ein Star.«
Murray stand auf. »Das war einmal«, stellte er fest. »Überlegen Sie doch selbst, wen wir hier haben. Ich bin der Mann, der Hauptrollen im West End spielte, bevor er zu trinken begann und innerhalb weniger Monate bei Agenten betteln gehen mußte. Ida Marr ist ... äh, lassen wir das. Wenn Sie es noch nicht wis sen, werden Sie es bald genug merken. Adrian Gard ner ist ein ähnlicher Fall. Erinnern Sie sich nicht an den Skandal, als Ade in Oxford einen Vierzehnjähri gen von der Straße aufgelesen hatte? Damals wäre er fast hinter Gittern gelandet. Das Privatleben anderer Leute ist mir piepegal, solange es wirklich privat bleibt, aber Ade fällt immer wieder öffentlich auf. Dann ist Gerry Hoarding an der Reihe. Gerry war ein Wunderkind wie ich, nicht wahr? Vor einigen Jahren behaupteten die Leute noch, seine Bühnenbilder seien der Beginn einer neuen Epoche der Theatergeschich te. Warum ist er Ihrer Meinung nach hier, anstatt in einem Appartement in Mayfair zu sitzen und sich die besten Aufträge auszusuchen?« »Warum?« fragte Heather. Ihre angenehme Stimme zitterte leicht. Murray holte tief Luft. »Lassen wir das. Ich will kein Pharisäer sein.« »Nein, Sie dürfen jetzt nicht aufhören. Sonst kann ich nicht beurteilen, ob Sie nur verbittert sind oder ...« Er zuckte mit den Schultern. »Gut, meinetwegen.
Der arme Kerl ist rauschgiftsüchtig. Ohne Schnee kann er nicht arbeiten. Hat er seine Tagesration weg, ist er so unzuverlässig, daß niemand ihn haben will. Mir ist es damals ähnlich gegangen, als ich getrunken habe. Zufrieden?« Murray wartete noch einen Augenblick, aber Hea ther antwortete nicht. Er hatte das Gefühl, dem ar men Kind die Spielsachen zerbrochen zu haben, nick te ihm kurz zu und verschwand im Haus. In der Bar ging es lauter als vorher zu. Er ging in sein Zimmer und nahm eine kalte Dusche, als könne er seine Be fürchtungen damit von sich abwaschen. Auch die Dusche half nichts. Murray nahm noch eine Beruhigungspille und überlegte sich dabei, daß er seinen kleinen Vorrat auf diese Weise rasch auf brauchen würde. Bevor er ins Bett ging, fiel ihm ein, daß er noch nicht nachgesehen hatte, ob Valentine seine Anwei sung befolgt hatte. Er öffnete die Schranktür und sah ein Dutzend Konservendosen mit verschiedenen Fruchtsäften auf dem untersten Regal stehen. Die Fla schen waren verschwunden. Ausgezeichnet. Er lösch te das Licht und streckte sich unter der leichten Decke aus. Morgens schrak er auf, als das Telefon auf dem Tischchen neben ihm leise summte. Als er verschlafen
nach dem Hörer griff, teilte Valentine ihm mit unper sönlicher Stimme mit, das Frühstück werde zwischen acht und neun Uhr serviert. Murray bedankte sich und stand auf, bevor er wieder einschlafen konnte. Er hatte am vergangenen Abend nicht alles ausge packt, und sein Rasierzeug lag noch in der Reiseta sche. Murray rasierte sich und öffnete dann den Spie gelschrank über dem Waschbecken, um dort sein Ra sierzeug unterzubringen. Im Schrank standen ein Zahnputzglas – und eine halbe Flasche Whisky. Murray starrte die Flasche lange verblüfft an. Dann griff er wütend danach, schlug den Hals am Wasch becken ab und ließ den Whisky auslaufen. Der Ge ruch betäubte ihn. Er legte die Flasche ins Becken und ging ans Telefon. Der Apparat hatte keine Wähl scheibe. Murray hob ab und wartete. Valentine meldete sich. »Ja, Mister Douglas? Was kann ich für Sie tun?« »Warum hat im Spiegelschrank über dem Wasch becken eine Flasche Whisky gestanden?« »Eine Flasche Whisky, Sir? Das überrascht mich sehr.« »Tatsächlich?« Murray holte tief Luft. »Gut, ich warne Sie. Wenn ich noch einmal Alkohol in meinem Zimmer finde, flöße ich ihn Ihnen mit Gewalt ein, verstanden? Schicken Sie jetzt jemand herauf, der hier sauber macht!«
»Ich kümmere mich nach dem Frühstück selbst darum, Mister Douglas«, versicherte Valentine ihm. »Darf ich Sie daran erinnern, daß es bereits fünfund zwanzig nach acht ist, Sir?« »Ach, scheren Sie sich zum Teufel!« Murray knallte den Hörer auf die Gabel. Er ballte die Fäuste und sah sich im Zimmer um. Hier gab es überall genügend Verstecke für Whiskyflaschen. Er erinnerte sich noch gut daran, wo er früher Flaschen vor Freunden und Ärzten versteckt hatte. Murray durchsuchte den Raum gründlich, ohne etwas zu finden. Er atmete erleichtert auf und griff in seine Reisetasche, um einen Pullover herauszuneh men, der ganz unten lag. Dann richtete er sich er schrocken auf. Unter dem Pullover war eine weitere Flasche Scotch versteckt. Er hielt sie in der Hand und fragte sich im ersten Augenblick, ob er vielleicht selbst ... Nein, das war ausgeschlossen! Murray drehte sich um und warf die Flasche an die Wand über dem Waschbecken. Glas splitter flogen nach allen Seiten, und die bernstein farbene Flüssigkeit floß ins Becken. Murray zog den Pullover an und ging zur Tür. Er hatte mit Blizzard zu reden.
6
Aber Blizzard war nicht im Speisesaal. An einem En de des langen Tisches saßen zwei junge Männer ne beneinander, die Murray nur flüchtig kannte. Alle anderen schienen bereits gefrühstückt zu haben – bis auf Heather, die in der Nähe der Tür saß. Das Gedeck neben ihr war noch unbenützt. Murray nahm dort Platz, und einer der Diener brachte ihm ein Glas Orangensaft. »Guten Morgen«, sagte Murray. »War Blizzard schon hier?« »Oh ... guten Morgen, Murray.« Sie war geistesab wesend und merkte erst jetzt, wer neben ihr saß. »Ich wollte ... äh ... diesen Platz eigentlich für Ida aufhe ben. Sie hat mich darum gebeten.« Das sieht ihr ähnlich. »Dann soll sie rechtzeitig kommen«, entschied Murray. »Haben Sie Blizzard gesehen?« »Nun ... Ja, er hat bereits gefrühstückt und ist vor einigen Minuten hinausgegangen.« Heather zögerte. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Ja, aber es hat nichts mit Ihnen zu tun.« Murray leerte das Glas Orangensaft auf einen Zug und hatte kurz das Gefühl, Whisky getrunken zu haben. »Ver dammt noch mal«, murmelte er vor sich hin.
»Ah, guten Morgen, Murray!« sagte Ida zuckersüß hinter ihm. »Ist das der Platz, den Sie mir aufheben wollten, meine liebe Heather?« »Tut mir leid, Ida, aber ich konnte ihn nicht länger ...« »Macht nichts, gegenüber ist noch einer frei.« Ida ging darauf zu. Sie trug heute morgen einen schwar zen Rollkragenpullover und schwarze Samthosen. Sie sah müde aus. »Ich hätte eben früher kommen sol len.« Sie wandte sich an den Diener, der ihren Oran gensaft brachte. »Danke. Bringen Sie mir nur noch trockenen Toast und viel Kaffee. Was ist mit Ihnen los, Murray? Haben Sie einen Kater?« Murray löffelte schweigend seine Cornflakes. »Nicht witzig?« fragte Ida lächelnd. »Keine Angst, Murray, das gibt sich bis mittags.« »Unsinn«, sagte Murray. »Sie wissen genau, daß ich nichts mehr trinke.« »Richtig, das habe ich gestern abend gehört. Des halb ist mir der Whiskygeruch in Ihrem Zimmer auf gefallen, als ich eben daran vorbeigekommen bin. Ei ner der Diener hat irgend etwas aufgeräumt und da bei die Tür offengelassen.« Ida lächelte strahlend. Murray nahm undeutlich wahr, daß Heather ihm einen erschrockenen Blick zuwarf. Er hatte plötzlich keinen Appetit mehr. »Dieses Haus ist kein Klub«, stellte er fest und
schob seinen Stuhl zurück, »sondern ein Irrenhaus. Wenn wir vier Wochen so weitermachen, wird es je denfalls eines. Lassen Sie sich nicht weiter bei Ihrer neuen Liebesaffäre stören, Ida.« Er wandte sich ruck artig ab. Das hat sie wegen ihrer unverschämten Unterstellungen verdient, überlegte er sich. Aber ich wollte, Heather hätte es nicht gehört. Um halb zehn hatten sich alle Mitglieder des En sembles in dem kleinen Theater versammelt – nur Delgado und Blizzard fehlten auch diesmal. Lester Harkham, der etwa vierzigjährige Beleuchter, der seit langem mit Blizzard zusammenarbeitete, kam als letzter und teilte der Versammlung mit, der Autor und der Produzent würden in einigen Minuten er scheinen; dann ließ er sich in den Sessel neben Gerry Hoarding fallen. Murray sah sich um. Links neben dem Aufgang zur Bühne stand ein Konzertflügel, und Jess Aumen saß auf dem Klavierhocker. Er bewegte die Hände über den Tasten, ohne sie jedoch anzuschlagen. Er wirkte affektiert, aber Murray wußte, daß er ein guter Komponist war. Lester, Jess, Blizzard und Gerry – eine hervorra gende Mannschaft, mit der sich ein gutes Stück auf die Beine stellen ließ. Aber warum hatte Blizzard nicht bessere Schauspieler engagiert? Murray kannte
die meisten von der Bühne her – nur die beiden jun gen Männer nicht, die er beim Frühstück gesehen hat te – Rett Latham und Al Wilkinson –, und ein Mäd chen namens Cherry Bell, von dem er nichts wußte. Das Mädchen saß in der ersten Reihe zwischen Rett und Al. Die Leute warteten gespannt. Das merkte man, auch ohne ihre Unterhaltung zu verfolgen. Dann erschienen Delgado und Blizzard im Hinter grund der Bühne. Sie trugen jeder einen Stuhl, auf dem sie an der Rampe Platz nahmen. Der Autor zün dete sich als erster eine Zigarette an. »Okay, fangen wir also an«, sagte Blizzard und nickte seinen Zuhörern zu. »Vor allem ...« »Vor allem eine Frage, Sam!« Murray war aufge sprungen. »Ich wollte sie Ihnen privat stellen, aber Sie sind leider nie erreichbar und immer beschäftigt. Warum haben Sie Valentine angewiesen, überall in meinem Zimmer Schnapsflaschen zu verteilen?« Delgado warf ihm einen interessierten Blick zu, als sei ihm etwas eingefallen. »Sind Sie übergeschnappt, Murray?« erkundigte Blizzard sich erstaunt. »Ich weiß genau, daß Sie nicht mehr trinken, und ich werde mich hüten, Sie dazu zu verleiten. Ich habe Valentine angewiesen, in jedem Zimmer Erfrischungen bereitzustellen, und dabei vergessen, ihn auf diesen Ausnahmefall aufmerksam
zu machen. Tut mir leid, das soll nicht wieder vor kommen.« »Ich meine etwas anderes, Sam.« Murray beugte sich vor. »Ich meine nicht die offen aufgestellten Fla schen, sondern die Flasche im Schrank über dem Waschbecken und die andere, die in meiner Reiseta sche versteckt war.« »Davon weiß ich nichts, Murray«, versicherte ihm Blizzard. »Halten Sie lieber den Mund, bevor ich Ih nen erzähle, auf welche Weise die Flasche meiner Meinung nach in Ihre Reisetasche gekommen ist.« Murray sah sich um. Die anderen beobachteten ihn. Ida Marr lächelte leicht, aber die anderen warfen ihm mürrische oder besorgte Blicke zu. Er zögerte unent schlossen. »Nein, halten Sie nicht den Mund, Douglas!« for derte Delgado ihn auf. Der Autor beugte sich nach vorn. »Jetzt wird es erst interessant. Sie haben ein Thema vorgeschlagen Sie behaupten, jemand wolle Sie zum Trinken verführen, obwohl Sie nicht mehr trinken dürfen, nicht wahr?« »Ich habe nichts dergleichen behauptet«, antworte te Murray und setzte sich. »Schön, überlegen wir also weiter.« Delgado achte te nicht auf Murrays Widerspruch. »Cherry, kommen Sie hierher.« Das Mädchen, von dem Murray nichts wußte, er
hob sich und nahm auf der Rampe in Delgados Nähe Platz. Es öffnete seine Handtasche, holte einen Steno block heraus und setzte sich eine Hornbrille auf. Oh Murray hatte Cherry für ein Mitglied des En sembles gehalten. Aber sie brauchten natürlich je mand, der die Einfälle notierte und später das Manu skript schrieb. Das schien ihre Aufgabe zu sein. »Denken Sie an Formen der Verfolgung«, schlug Delgado vor. »Zum Beispiel in der Werbung. Kaufen Sie dieses oder jenes Gerät – wer es nicht besitzt, ist rückständig oder einfach dumm.« »Man kann auch Leute dazu bringen, einwandfrei funktionierende Geräte durch neue zu ersetzen«, warf Constant ein. »Das ist auch eine Art Verfolgung, nicht wahr?« »Richtig. Mehr?« Das Stück wuchs. Es wuchs geradezu unglaublich. Gegen Mittag waren sie bereits so gefesselt, daß sie nur widerstrebend die Bühne verließen, als im Spei sesaal serviert wurde. Nachmittags stand bereits eine halbe Szene fest, und Jess Aumen improvisierte mo derne Musik dazu. Auch Gerry Hoarding improvi sierte auf seine Weise; er hatte offenbar von irgend woher seine Tagesration bekommen, die seine Phan tasie unglaublich beflügelte. Jetzt entwarf er mit Kreidestrichen auf dem Boden ein geniales Bühnen
bild, das den Schauspielern alle Entfaltungsmöglich keiten ließ. Um fünf Uhr beendete Delgado plötzlich die Probe, wies Cherry an, ihre Notizen ins reine zu schreiben, und verschwand mit Blizzard durch den rückwärti gen Bühnenausgang. Die Spannung nahm langsam ab, ohne schlagartig zu verschwinden; die Mitglieder des Ensembles zogen sich in den Aufenthaltsraum zurück und diskutierten dort noch lange weiter. Murray hatte schon lange nicht mehr erlebt, daß derartige Begeisterung sich in so kurzer Zeit entfa chen ließ. Das war offenbar Delgados Verdienst, des sen blitzschnell arbeitender Verstand sie alle ständig gelenkt und verbessert hatte. Nicht einmal Ida hatte es gewagt, ihm zu widersprechen. Aber wie lange würde die Begeisterung anhalten? Murray konnte sich vorstellen, wie übermüdet sie alle nächste Woche um die gleiche Zeit sein würden. Aber vielleicht gönnte Delgado ihnen dann einige Tage Er holung, während er das Manuskript überarbeitete. Die Sache wirkte allmählich wahrscheinlicher. An diesem Abend blieb Murray im Aufenthalts raum, bis auch einige andere zu Bett gingen. Dann nick te er den Zurückbleibenden zu und trat in die Halle hinaus. In diesem Augenblick wurde er angesprochen. »Murray, haben Sie einen Moment Zeit für mich?« fragte Gerry Hoarding.
»Ja, natürlich.« »Vielleicht lieber oben?« Gerry wies auf die Treppe zum ersten Stock. »Ich ... äh ... ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll, aber ich muß es sagen. Sie kennen doch meine Schwierigkeiten, nicht wahr?« »Ja, ich weiß. Warum?« Der junge Bühnenbildner zuckte hilflos mit den Schultern. »Nun, ich ... ich habe mehr als genug von dem Zeug in meinem Zimmer. Ich weiß nicht, wo Sam es aufgetrieben hat, aber ich habe es in meinem Zimmer gefunden – wie Sie den Schnaps. Aber ich habe mich nicht darüber beschwert. Ich habe bereits einmal eine Entziehungskur mitgemacht, die ich fast nicht überlebt hätte; außerdem wäre ich dann beruf lich fertig gewesen, deshalb komme ich von dem Zeug nicht mehr los.« Sie erreichten den Treppenabsatz und bogen nach rechts in den Korridor ein. »Das ist mein Zimmer – Nummer Zehn«, sagte Gerry, während er nach dem Schlüssel suchte. »Es liegt ziemlich genau über dem Mittelpunkt des Thea ters. Eigentlich seltsam, nicht wahr? Ein so gut einge richtetes Theater! Nein, kommen Sie herein, Murray, ich bin noch nicht fertig.« Er ließ Murray den Vortritt. Sein Zimmer war ähn lich wie Murrays eingerichtet. »Hören Sie, ich weiß, daß Sie mehr Mut und Wil
lenskraft als ich haben«, fuhr Gerry fort, nachdem er die Tür geschlossen hatte. »Im Gegensatz dazu bringe ich kaum den Mut auf, Ihnen meine Bitte vorzutra gen. Aber ich muß, verstehen Sie? Hier!« Er wandte sich ab und öffnete die oberste Schubla de der Kommode am Fenster. Murray sah ein großes Glas, das bis zum Rand mit weißem Pulver gefüllt war. »Ich habe noch nie soviel auf einmal gesehen«, sag te Gerry leise. »Der Himmel weiß, was es gekostet hat! Stellen Sie sich vor, das Zeug ist chemisch reines Heroin. Und wenn ich ... nun, falls irgend etwas ... oh, verdammt noch mal! Heben Sie es für mich auf, Mur ray? Im Augenblick besitze ich noch genügend Selbstbeherrschung, um Sie darum zu bitten, aber vielleicht bringe ich nie wieder den Mut dazu auf. Heute hat alles gut geklappt – vielleicht zu gut. Aber wenn es einen Rückschlag gibt, habe ich nicht mehr die Geduld, meine Portion zu nehmen und die Wir kung abzuwarten. Das weiß ich aus Erfahrung. Dann nehme ich eine zweite Portion und mache sie viel leicht zu groß, weil ich zuviel von dem Zeug habe. Und das wäre Selbstmord. Ganz bestimmt! Hier!« Er drückte Murray das Glas in die Hand, als fürch te er, im nächsten Augenblick wankelmütig zu wer den. »Bewahren Sie das Zeug für mich auf? Erzählen Sie mir nicht, wo Sie es verstecken. Schließen Sie es
am besten irgendwo ein. Geben Sie mir nie mehr als drei Grane auf einmal, verstanden? Lassen Sie mich um Gottes willen nie mehr nehmen, auch wenn ich weinend zu Ihnen komme und Sie anflehe, mir mehr zu geben!« Murray nickte, wog das Glas in der Hand und ging schweigend zur Tür. Als er die Klinke herabdrückte, fügte Gerry noch hinzu: »Murray, ich ... ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Ich weiß natürlich, daß ich kein Recht habe, Sie um diesen Gefallen zu bitten. Aber Sie wenden sich doch an mich, wenn ich etwas für Sie tun kann, nicht wahr?« »Klar«, sagte Murray und ging hinaus.
7
Murray schaltete das Licht in seinem Zimmer ein, schloß die Tür hinter sich und schüttelte trübselig den Kopf. Du lieber Gott, hat es je eine traurigere Versammlung von abgehalfterten Größen als diesen Haufen hier gegeben? Aber dieser erste Tag unter Delgados Einfluß hatte sich zumindest auf Gerry Hoarding günstig ausge wirkt. Murray hätte nie gedacht, daß der Bühnen bildner jemals den Mut aufbringen würde, sich frei willig von seinem kostbaren Stoff zu trennen. Wo sollte er ihn jetzt verstecken? Eine Schublade kam offenbar nicht in Frage. Draußen auf dem Fen sterbrett? Murray sah hinaus und stellte fest, daß das Fensterbrett viel zu schmal dafür war. Gut, dann eben im Fernsehgerät. Das war eines der besten Ver stecke gewesen, als er noch seine Flaschen zu ver stecken hatte. Der Apparat war allerdings ziemlich schmal wie al le modernen Geräte. Als Murray ihn umdrehte und durch die Luftschlitze der Rückwand sah, mußte er feststellen, daß es kaum möglich war, das Glas dort zu verstecken, ohne daß es irgendwelche Drähte be rührte. Außerdem war die Rückwand mit Spezial schrauben befestigt, die er nicht einfach mit dem Ta
schenmesser lösen konnte. Er biß sich auf die Unter lippe und drehte den Apparat wieder um. Murray dachte an seine Reisetasche, aber dann fiel ihm ein, daß er den Schlüssel dazu irgendwo verloren haben mußte; er hing jedenfalls nicht mehr an seinem Schlüsselring. Nun, das war eben nicht zu ändern. Gerrys Zeug mußte vorläufig unter die Matratze, bis ihm ein besseres Versteck dafür einfiel. Er zog das Bettuch ab. Dabei stieß er mit dem Fuß an den niedrigen rechteckigen Sockel, auf dem die Matratze lag. Der Sockel schien hohl zu sein, aber Murray achtete zunächst nicht darauf. Unter dem Bettuch lag die Matratze. Murray betrachtete sie er staunt und runzelte die Stirn, als er das eigenartige Gewebe aus hauchzarten Metalldrähten sah, das fast die gesamte Oberfläche bedeckte. Merkwürdig. Ich habe noch nie eine so verrückte Ma tratze gesehen. Aber er griff nach dem Kopfende und hob die schwere Matratze an dieser Seite hoch. Dann merkte er, weshalb der Sockel vorhin hohl geklungen hatte. In die Auflagefläche war eine bewegliche Klappe eingelassen. »Was, zum ...« Murray mußte sich anstrengen, um die ganze Ma tratze hochzuheben und auf der anderen Seite des Betts zu Boden gleiten zu lassen. Dabei schien irgend
etwas zu reißen, und er wurde auf ein Glitzern auf merksam gemacht. Als er vorsichtig danach tastete, stellte er fest, daß ein hauchdünner Draht von der Matratze zu der Klappe geführt hatte. Diese Verbin dung war gerissen, als er die Matratze bewegt hatte. Er streckte die Hand aus und öffnete langsam die Klappe. Darunter sah er ein Tonbandgerät stehen. Auf den ersten Blick wirkte es ganz normal. Es war nicht ein geschaltet. Die beiden Spulen mußten für einige Stunden Spieldauer genügen – etwa ein Drittel des Tonbands war auf die rechte Spule aufgewickelt. Murray stellte fest, daß dieses Tonbandgerät sich doch von anderen unterschied: es wies keine Schalter und Knöpfe auf und war offenbar nicht von außen zu steuern. Murray studierte es einige Zeit lang und zuckte dann mit den Schultern. Er verstand nichts von Ton bandgeräten; er wußte nur, wie man sie ein- oder ausschaltete. Aber er hätte gern gewußt, was dieses verdammte Ding unter seinem Bett zu suchen hatte. Gehörte es ebenfalls zur Ausstattung des ehemaligen Klubs? Leise Musik, damit die Mitglieder besser ein schliefen? Aber wo war dann der Lautsprecher – und wo ließ das Gerät sich ausschalten, wenn man keine Musik wollte? Er richtete sich auf und runzelte die Stirn. Er würde
nicht schlafen können, bevor er einige peinliche Fra gen gestellt hatte. Aber dann fiel ihm Gerrys Glas ein. Verdammt! Er mußte es noch verstecken, bevor er das Zimmer verließ. Warum nicht hinter dem Vor hang? Ganz oben, dicht unter der Stange? Murray zog einen Stuhl heran, tastete nach einem herunter hängenden Band und verknotete es um das Glas. Dann bewegte er die Vorhänge mehrmals, um ganz sicherzugehen, daß von außen nichts zu merken war. Schließlich nickte er zufrieden und ging in den Korri dor hinaus. Im gleichen Augenblick kam Gerry Hoarding von der Toilette in sein Zimmer zurück. Er nickte Murray zu und wollte rasch verschwinden. »Augenblick, Gerry!« sagte Murray. »Darf ich schnell etwas nachsehen?« »Ja, natürlich. Was?« Gerry warf ihm einen er staunten Blick zu. »Darf ich mir Ihr Bett ansehen? Ich möchte wissen, ob meines ein spezieller Fall ist oder ob alle ähnlich ausgerüstet sind?« »Womit ausgerüstet?« erkundigte Gerry sich ver wundert. Er sah wortlos zu, als Murray das Bettuch abriß, auf die Metalldrahtstickerei der Matratze deu tete und ihm schließlich das Tonbandgerät unter der Klappe zeigte. Diesmal schien etwas weniger Ton band abgespielt zu sein.
»Du lieber Gott«, meinte Gerry verständnislos. »Was soll denn das?« »Keine Ahnung«, gab Murray zu, »aber ich wüßte es gern, das dürfen Sie mir glauben.« »Ich nehme an, daß Sie das entdeckt haben, als Sie mein ... mein Zeug verstecken wollten.« Gerry lächel te schwach. »Na, dort brauche ich jedenfalls nicht mehr zu suchen.« »Richtig.« Murray tastete nach dem hauchdünnen Metalldraht zwischen Matratze und Sockel, den er diesmal intakt gelassen hatte. Der Draht führte zu dem Tonbandgerät. »Glauben Sie, daß die Klubmitglieder früher damit in den Schlaf gewiegt worden sind?« meinte Gerry zweifelnd. »Der ganze Klub ist ziemlich luxuriös, und ich finde die Idee gar nicht so abwegig.« »Daran habe ich auch schon gedacht.« Murray nickte. »Ich sehe allerdings keinen Lautsprecher.« »Er müßte eigentlich irgendwo hier oben ange bracht sein«, stellte Gerry fest und untersuchte inter essiert das feine Drahtgewebe. Murray stieß einen leisen Schrei aus. Gerry drehte sich nach ihm um. »Was ist los?« wollte er wissen. »Was haben Sie eben getan?« fragte Murray seiner seits. »Ich habe nur die Drähte angefaßt«, erklärte Gerry ihm. »Hier ...«
»Das genügt«, unterbrach Murray ihn. »Dort muß ein Schalter angebracht sein, der auf Druck reagiert. Da, sehen Sie – das Tonband läuft!« Gerry drückte noch immer auf die gleiche Stelle und verdrehte den Hals, um besser sehen zu können. Das Tonband lief tatsächlich ab. »Schön, wo bleibt also die Musik?« fragte Murray. »Eigenartig«, stimmte Gerry zu. »Aber vielleicht ist die Aufnahme versehentlich gelöscht worden?« »Kann sein«, murmelte Murray zweifelnd. Dann nickte er langsam. »Gut, diese Möglichkeit müssen wir auch berücksichtigen. Wissen Sie, in welchem Zimmer Lester Harkham schläft? Ich nehme an, daß er als einziger etwas von diesen Dingen versteht.« »Nein, ich weiß nicht, wo er schläft.« Gerry fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Hören Sie, Murray, ist die ganze Aufregung nicht etwas ver fehlt? Was macht es schon aus, ob hier Musik spielt oder nicht? Warum sehen Sie nicht bei Ihrem nach?« »Weil ich die Verbindung zwischen Matratze und Tonbandgerät versehentlich zerrissen habe«, erklärte Murray ihm. Er legte eine Hand auf die Matratze. »Ein ziemlich leichter Druck genügt bereits, haben Sie das gemerkt? Wahrscheinlich beginnt das Gerät zu laufen, wenn man den Kopf aufs Kissen legt.« Draußen im Korridor waren Schritte zu hören; eine Tür wurde geöffnet und geschlossen.
»Da ist jemand«, stellte Murray fest. »Kommen Sie, Gerry.« Der Bühnenbildner zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Im Korridor war jedoch nicht mehr festzustellen, welche Tür eben geöffnet worden war. Murray seufz te. Er horchte an den Türen Nummer Elf und Zwölf und schüttelte jeweils den Kopf. »In Nummer Dreizehn schläft niemand«, stellte Gerry fest. »Ich habe Valentine danach gefragt.« »Und Vierzehn ist mein Zimmer. Dann muß es auf der anderen Seite gewesen sein. Versuchen wir es mit Neun.« Murray ging zurück. Er glaubte leise Stim men in Nummer Neun zu hören, bevor er klopfte. »Wer ist da?« Heather! Wie interessant! Murray schloß eine kleine Wette mit sich selbst ab. Gleichzeitig sagte er laut: »Hier ist Murray. Gerry Hoarding steht neben mir. Können wir einen Augenblick hereinkommen? Die Sache ist ziemlich wichtig.« Ein aufgeregtes Flüstern, das Murray nicht verstand; dann hörte er: »Gut, kommen Sie herein. Die Tür ist offen.« Er drückte die Klinke herab. Heather saß im Bett. Ihr Gesicht wirkte ohne Make-up noch jugendlicher. Sie trug eine Bettjacke aus Satin über ihrem schwar zen Nachthemd. Im Sessel neben ihrem Bett saß Ida
in schwarzem Rollkragenpullover und schwarzer Samthose; sie rauchte und hielt ein Whiskyglas in der linken Hand. Murray hatte seine Wette mit sich selbst gewonnen. »Ha!« sagte Ida, als Gerry die Tür hinter sich schloß. »Wie kommen wir zu dieser Ehre, Freunde?« »Tun Sie mir einen Gefallen, Heather?« bat Murray. »Hören Sie Musik, wenn Sie sich auf Ihr Kopfkissen legen? Hören Sie irgend etwas, wenn Sie fest auf das Kissen drücken?« »Was soll der ...?« begann Heather. Dann kicherte sie, horchte umständlich an der Matratze und richtete sich wieder auf, wobei sie den Kopf schüttelte. »Schön, was hat das zu bedeuten?« fragte Ida scharf. »Nur Geduld«, wehrte Murray ab. »Stehen Sie bitte auf, Heather, dann zeige ich Ihnen, warum ich ge fragt habe.« Heather sah unsicher zu Ida hinüber und warf Ger ry einen fragenden Blick zu. »Im Sockel unter der Matratze ist irgendein Appa rat versteckt«, erklärte Gerry ihr. »Murray sucht eine Erklärung dafür und kann nicht schlafen, bevor er sie gefunden hat.« »Was für ein Apparat?« erkundigte Heather sich verwirrt. »Oh ... meinetwegen. Ida, seien Sie doch so nett und geben Sie mir meinen Morgenrock, ja? Er hängt über der Sessellehne.«
Sie erhob sich so umständlich, als stehe ihr Bett auf der Bühne und sie habe die Theaterzensur zu be fürchten. Murray zeigte ihr, was er meinte – das Me tallgewebe, den Verbindungsdraht und das Ton bandgerät im Bettsockel. Selbst Ida war verblüfft. »Das haben Sie also mit der Musik im Kopfkissen gemeint«, gab sie zu. »Aber vorläufig passiert gar nichts, oder? Die Spulen drehen sich nur, wenn man auf die Matratze drückt.« Sie drückte selbst darauf. Murray fiel ein, daß jedes Tonbandgerät lautlos lief, solange es aufnahm. Diese Möglichkeit schien al lerdings hier auszuscheiden. Er wußte nicht, weshalb ihm bei dem Gedanken daran ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Weiß jemand, wo ich Sam Blizzard erreichen kann?« fragte er laut. »Gerry hat ganz recht – ich kann erst schlafen, wenn ich eine Erklärung dafür ge funden habe.« Ida lachte. »Sie sind ein verrückter Kerl, Murray. Wenn das Tonbandgerät unter meinem Bett nicht lau ter ist, schlafe ich bestimmt ausgezeichnet.« Sie drückte ihre Zigarette aus und leerte das Glas. »Aber wenn Sie Sam wirklich in seiner Löwenhöhle aufsu chen wollen, finden Sie ihn vermutlich in dem Raum rechts neben dem Speisesaal, wo er gemeinsam mit Delgado Pläne schmiedet. Der Raum ist eine Art Bü
ro, soviel ich gesehen habe. Ich gehe jetzt ins Bett. Gu te Nacht, Heather.« Sie lächelte allen zu und rauschte hinaus. Einige Sekunden später breitete Gerry hilflos die Hände aus und folgte ihr. »Murray, ich wollte, Sie hätten mir nichts von die sem Ding erzählt«, sagte Heather mit einem Blick auf das Tonbandgerät. »Es ist mir unheimlich, weil es keinen Zweck zu haben scheint. Oder hat es einen?« »Das weiß ich nicht, Kleine«, antwortete Murray grimmig. »Aber ich suche jetzt Sam, um ihn danach zu fragen, und wenn ich etwas erfahre, komme ich noch mal zurück. Einverstanden?«
8
Murray klopfte nicht erst an die Tür des Raums, den Ida ihm beschrieben hatte, sondern drückte gleich die Klinke herab. Die Tür war abgeschlossen. Dahinter hörte er eine elektrische Schreibmaschine klappern und leise Stimmen, die sofort verstummten, als er die Klinke bewegte. »Augenblick!« rief Blizzard. Murray trat von der Tür zurück. Der Produzent erschien auf der Schwelle. »Oh, Sie sind's, Murray. Was wollen Sie?« »Unterhalten wir uns hier, oder darf ich herein kommen?« Blizzard zögerte, zuckte dann mit den Schultern und trat zurück. Murray folgte ihm in den Raum, der früher als Sekretariat des Klubs gedient haben mußte. Cherry Bell saß an einem Schreibmaschinentisch; ihre Finger flogen über die Tastatur einer IBM. Delgado hatte einige Blätter auf dem Schoß liegen. Er sah in teressiert auf, als Murray hereinkam. »Nun?« fragte Blizzard. »Ist die Sache wichtig, Murray? Wir haben noch viel zu arbeiten und lieben keine Störungen.« »Es handelt sich um die Tonbandgeräte, die unter unseren Betten versteckt sind«, antwortete Murray laut. Er beobachtete dabei Delgado und stellte zufrie
den fest, daß ein besorgter Ausdruck über dieses völ lig beherrschte Gesicht huschte. »Was soll das schon wieder?« erkundigte Blizzard sich. »Haben Sie nichts anderes mehr im Kopf, Mur ray? Wenn das wieder eine Sache wie heute morgen ist, verliere ich bestimmt bald die Geduld mit Ihnen!« »Fragen Sie Delgado danach«, forderte Murray ihn auf. »Er weiß, was ich meine. Nicht wahr, Delgado?« »Ja, natürlich.« Delgado legte die Blätter fort. »Die se Tonbandgeräte sind Bestandteil meiner neuartigen Arbeitsweise, die noch weitgehend unbekannt ist.« Murray hatte das Gefühl, daß der andere diese Er klärung improvisierte – aber er konnte seinen Ver dacht nicht beweisen. »Weiter«, forderte er Delgado auf. »Kennen Sie die Bedeutung des Wortes Hypnopä die?« Murray antwortete nicht gleich. Er sah zu Blizzard hinüber und stellte fest, daß dieser ebenfalls ver ständnislos zuhörte. Sehr interessant. »Sie meinen das Verfahren, mit dessen Hilfe man angeblich im Schlaf lernen kann? Ich habe bisher nur gehört, daß es nicht funktioniert.« »Glauben Sie, was Sie wollen.« Delgado machte ei ne wegwerfende Handbewegung. »Für mich genügt es jedenfalls. Ich benütze es immer. Ich bin nicht mit Schauspielern zufrieden, die nach den Proben völli
ges Desinteresse zeigen, und die Hypnopädie gibt mir die Möglichkeit, sie in meinem Sinn zu beeinflus sen. Das ist alles.« »Manuel, mir ist nicht ganz klar, was Sie damit sa gen wollen«, warf Blizzard ein. »Wirklich nicht?« fragte Murray. »Gut, hören Sie zu. Bisher habe ich unter meinem, unter Gerry Hoar dings und unter Heathers Bett am Kopfende ein Ton bandgerät gefunden. Ein leichter Druck auf die Ma tratze genügt, um die Geräte einzuschalten; sobald man sich im Bett ausstreckt, beginnt das Band zu lau fen. Delgado behauptet, dadurch solle unsere Rollen beherrschung im Schlaf gefördert werden – durch ständige Wiederholung. Welche Rolle wollen Sie üb rigens Gerry Hoarding eintrichtern, Delgado? Er ist Bühnenbildner, kein Schauspieler.« »Bauschen Sie die Sache nicht unnötig auf, Mur ray?« erkundigte Delgado sich. »Ich habe die Ton bandgeräte nicht erst einbauen lassen, wissen Sie. Sie sollten den Klubmitgliedern beruhigende Musik vor spielen und sind deshalb unter allen Betten instal liert.« »Wirklich? Das ist aus zwei Gründen unwahr scheinlich. Erstens fehlen die Lautsprecher und zwei tens sind die Tonbänder offenbar leer.« »Du liebe Güte!« Delgado machte eine ungeduldi ge Handbewegung. »Murray, diese Tonbandgeräte
sind lange nicht mehr in Betrieb gewesen. Ich habe sie wieder anschließen lassen, um sie zu überprüfen – das ist aber nur möglich, wenn man ein Tonband auf spult, was ich getan habe. Selbstverständlich sind die Bänder noch leer! Die Lautsprecher, die Sie vergeb lich gesucht haben, befinden sich im Innern der Ma tratzen. Außerdem werden Sie ohnehin nichts zu hö ren bekommen, selbst wenn Lernbänder aufgelegt werden, weil mein Verfahren auf das Unterbewußt sein einwirkt, ohne daß der Betreffende diese Beein flussung wahrnimmt. Hoffentlich gelingt es Ihnen, Sam, unseren Freund davon zu überzeugen, daß meine etwas ungewöhnlichen Methoden kein Grund sind, Krach zu schlagen.« Blizzard nahm eine Zigarre aus der Tasche und biß mechanisch das Ende ab. »Warum haben Sie mir bis her nichts davon erzählt, Manuel? Die Idee klingt in teressant, aber ...« »Sie werden bald merken, wie gut das Verfahren funktioniert«, unterbrach Delgado ihn. »Ich habe nur nichts davon erwähnt, weil die Tonbandgeräte zufäl lig bereits vorhanden waren. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten Sie mir ein Dutzend beschaffen müs sen, und wir hätten darüber gesprochen. Ist die Sache wirklich soviel Aufregung wert?« »Nein, wahrscheinlich nicht«, gab Blizzard zu. »Aber falls Sie noch andere Überraschungen vorha
ben, Manuel, wäre es vielleicht besser, die Leute zu informieren.« »Bestimmt nicht.« Delgado schüttelte den Kopf. »Ich bedaure nur, daß Murray zufällig über diese Sa che gestolpert ist. Hoffentlich wird die Aufnahmebe reitschaft des Unterbewußtseins dadurch nicht beein trächtigt. Aber das stellt sich noch heraus. Vielleicht sieht Murray später ein, daß die Hypnopädie doch nützlich sein kann.« Cherry hatte eben das letzte Blatt aus der Maschine genommen. Das Klappern verstummte plötzlich, und der Raum war sehr still. »Fertig, Mister Blizzard«, stellte sie fest. »Oh, wunderbar.« Blizzard gab sich einen Ruck. »Geben Sie Mister Delgado die letzte Seite, dann können Sie ins Bett gehen. War das alles, Murray?« »Nein, keineswegs. Aber ich muß wohl vorläufig damit zufrieden sein.« Murray wollte sein Versprechen halten und klopfte deshalb an Heathers Tür, um dem Mädchen zu erzäh len, was Delgado gesagt hatte. Er bekam jedoch keine Antwort; offenbar schlief Heather bereits. Er ging in sein Zimmer, betrachtete nochmals das Drahtgewebe auf der Matratze, wickelte sich ein Taschentuch um die Hand und zog den Draht heraus. Als er fertig war, hatte er zwanzig Meter Draht vor sich liegen.
Sonst nichts. Er sah keinen Anschluß. Die Matratze enthielt keinen Lautsprecher. Delgado hatte gelogen. Welchen Zweck konnte ein Tonbandgerät ohne Lautsprecher haben? Was konnte es aufnehmen, da es offenbar nichts abspielen konnte? Und wie? Er hat te auch kein Mikrophon gefunden. Nur den langen Draht. Bildete der Draht selbst vielleicht eine Art Mikro phon oder Lautsprecher? Das war die einzige Mög lichkeit, die ihm einfiel. Aber er verstand nicht genug von Elektronik, um beurteilen zu können, ob ein ein facher Draht Schallwellen erzeugen oder aufnehmen konnte ... Der Teufel sollte alles holen. Murray drehte die Matratze um, breitete das Bettuch darüber aus und kroch unter die Decke. Er blieb noch lange wach lie gen und fragte sich, worauf er sich hier eingelassen hatte. Aber dann schlief er doch ein. Am nächsten Tag hatte er nicht gleich Gelegenheit, Lester Harkham nach den Tonbandgeräten zu fragen, denn die drei anderen, die davon wußten, schienen sich deswegen keine Sorgen zu machen, sondern wollten nur an die Arbeit zurück. Heather erkundigte sich, was er erfahren habe, schien jedoch nicht sehr interessiert zu sein; ihr genügte offenbar, daß Delga do sich überhaupt zu einer Erklärung bereitgefunden
hatte, und sie zog es vor, nicht über die Möglichkeit nachzudenken, daß er nur die halbe Wahrheit gesagt haben könnte. Gegen Abend war Murray fast der gleichen Auf fassung. Unter Delgados geschickter Anleitung ent wickelte sich allmählich eine bestimmte Form aus zahlreichen widersprüchlichen Ideen. Nein, daran gab es keinen Zweifel – der Mann war gut. Und trotzdem ... Delgado beendete die Probe auch diesmal wieder pünktlich um fünf Uhr mit einigen kurzen Worten und verschwand dann mit Blizzard durch den Büh nenausgang. Die Spannung ließ allmählich nach, und die Schauspieler starrten sich gegenseitig an, als sei ihnen erst jetzt klar, daß sie sich nicht in ihrer künstli chen Welt, sondern auf der Bühne eines kleinen Thea ters befanden. Dann atmeten sie erschöpft auf und verschwanden nach draußen, um sich an der Bar bei einigen Drinks zu erholen. Jess Aumen blieb am Flügel sitzen und versuchte zum zehntenmal eine eigenartige Tonfolge, die ihm nicht recht gelingen wollte. Gerry Hoarding ging mit einem Blatt Papier und einem Bandmaß über die Büh ne, um die geplante Dekoration auszumessen Lester Harkham, der für die erstaunlich gute Beleuchtungs anlage verantwortlich war, stand im Mittelgang und sah mit nachdenklich gerunzelter Stirn zur Bühne auf.
Murray gab sich einen Ruck und trat auf ihn zu. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich, Lester?« »Hmmm?« Lester schien aus weiter Ferne zurück zukommen. »Oh, natürlich, Murray. Was gibt's?« »Nun ...« Murray hatte plötzlich das Gefühl, es sei lächerlich, wieder von Delgado und seinen Tonband geräten anzufangen. Deshalb wechselte er rasch das Thema. »Hören Sie, Lester, die Sache muß unter uns bleiben, verstanden? Gerry hat mich gebeten, ein Glas Heroin für ihn aufzubewahren, weil er fürchtet, er könnte eine Überdosis nehmen, wenn er deprimiert ist. Das beste Versteck dafür wäre natürlich im Fern sehapparat – dort findet er das Zeug nie. Aber die Rückwand des Geräts in meinem Zimmer läßt sich nicht einfach abschrauben, und ich möchte sie nicht beschädigen. Könnten Sie mir dabei helfen?« Lester starrte ihn verständnislos an. »Menschens kind, das ist die verrückteste Bitte, die ich je gehört habe!« rief er dann aus. »Das glaube ich«, stimmte Murray zu. »Ich bin nur auf Sie gekommen, weil Sie bestimmt der einzige von uns sind, der etwas von Elektronik versteht.« »Richtig, mit Fernsehgeräten kenne ich mich aus. Ich komme gleich mit. Ich muß nur noch etwas mit Gerry besprechen.« »Aber kein Wort davon, Lester! Er darf nicht erfah ren, wo ...«
»Schon gut, schon gut! Ich bin schließlich kein Trot tel. Warten Sie hier auf mich, Murray. He, Gerry, ich muß Sie sprechen!« Lester ging nach vorn zur Bühne. Bisher hatte alles geklappt, überlegte Murray sich. Jetzt konnte er das Gespräch unauffällig auf die Ton bandgeräte bringen. Und er war gespannt, wie Lester auf Delgados Ausflüchte reagieren würde.
9
»Ah, richtig. Wieder einmal die komplizierten Ver schlüsse, die Amateure gleich abschrecken sollen.« Lester beugte sich über den Fernsehapparat, suchte in seiner Jackentasche nach einem Mehrzweckschrau benzieher und machte sich an die Arbeit. »Was halten Sie bisher von der Sache, Murray? Delgado ist ein be gabter Mann, was?« »Er hat Talent«, gab Murray zu. »Ich wüßte aller dings gern mehr über ihn.« »Das haben wir alle gemeinsam! Ich möchte zum Beispiel gern wissen, wo er bisher gesteckt hat.« Le ster löste den ersten Verschluß und nahm den näch sten in Angriff. »Wissen Sie, als Sam Blizzard mir zu erst von diesem Plan erzählt hat, habe ich ihn gefragt, ob er übergeschnappt sei. Wie kann man soviel Geld für eine so unsichere Sache ausgeben? Bevor das Stück nach London kommt, hat es ihn bestimmt fünf tausend Pfund gekostet. Aber allmählich komme ich zu der Überzeugung, daß er vielleicht doch nicht so unrecht hat. Vor allem die Idee mit diesem Theater hier war ausgezeichnet. Normalerweise würde ich in der letzten Reihe sitzen und an den Nägeln kauen; aber hier kann ich mir bereits überlegen, wie ... He, verdammt noch mal!«
Er zog die Hand zurück und ließ den Schrauben zieher fallen. Murray sprang auf. »Was ist passiert?« »Der verdammte Kasten steht unter Strom. Ich habe einen Schlag abbekommen.« Lester beugte sich über das Gerät und rüttelte an einem Knopf. »Hier steht Aus«, murmelte er. »Der verflixte Schalter muß defekt sein. Aber ich sehe trotzdem nicht ein, weshalb dann ...« Er sprach weiter mit technischen Fachausdrücken über Kriechströme und Kondensatoren, die sich nicht richtig entluden. Murray hörte zu, ohne etwas davon zu verstehen. »Soll ich den Stecker aus der Steckdose ziehen?« fragte er nur. »Ja, natürlich. Das hätte ich gleich selbst tun müs sen.« Lester legte eine Hand auf den Apparat und roch dann prüfend an den Luftschlitzen. »Komisch. Der Kasten ist kalt, obwohl er unter diesen Umstän den doch wenigstens warm riechen müßte.« Murray untersuchte das dicke Kabel, das vom Ge rät aus zum Boden führte. Es verschwand unter dem Teppichboden; er ließ sich auf die Knie nieder und hob den Teppich etwas hoch. »Eigenartig«, murmelte er vor sich hin. »Lester, diese Leitung führt nicht zu einer Steckdose. Sie ver schwindet einfach unter der Abschlußleiste. Hier, se hen Sie das?«
»Was?« Lester kam heran und stützte sich mit einer Hand auf Murrays Schulter. »Hmm, das ist wirklich ungewöhnlich.« Das dicke schwarze Kabel lief tat sächlich geradewegs auf die Wand zu, erreichte die Abschlußleiste und verschwand dort in einem Schlitz. »Das ist neu«, stellte Murray fest. »Sehen Sie, hier ist erst vor kurzem ein Stück aus der Leiste herausge sägt worden.« Er bewegte das Kabel, um Lester zu zeigen, was er damit meinte. »Das muß ein Rediffusionssystem sein«, sagte Le ster ohne große Begeisterung. »Aber normalerweise gehört dazu ein externer Wählschalter. Am besten sehe ich mir den Apparat nochmals an – aber diesmal ohne einen Schlag.« Murray drehte sich um und blieb mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden sitzen. Er brauchte nicht lange zu warten, bis Lester die Rückwand abgenom men hatte und einen Blick ins Innere des Geräts wer fen konnte. Lester pfiff leise vor sich hin. »Noch etwas Außergewöhnliches?« fragte Murray, der nichts anderes erwartet hatte. »Wirklich sehr außergewöhnlich«, bestätigte Le ster. »Der Kasten enthält viel mehr als ein normaler Fernsehapparat. Murray, haben Sie das von Anfang an gewußt?« fügte er hinzu. »Haben Sie mich nur mit Gerrys Stoff hierher gelockt, damit ich einen Blick in diesen Apparat werfen würde?«
»Wie kommen Sie darauf?« erkundigte Murray sich ehrlich verblüfft. »Ida hat beim Mittagessen erzählt, daß Sie eigenar tige Drahte in Ihrer Matratze gefunden haben sollen.« »Ah, richtig.« Murray verbarg seine Erleichterung nicht. »Ich bin froh, daß Sie das schon von anderer Seite erfahren haben.« Er berichtete rasch, was am vergangenen Abend passiert war. Lester hörte aufmerksam zu und unter suchte dabei weiter das Innere des Fernsehgeräts. »Und er behauptete, diese Apparate sollten euch helfen, im Schlaf zu lernen?« erkundigte sich Lester, als Murrays Bericht zu Ende war. »Hören Sie, das ist alles blanker Unsinn. Diese Methode wird gelegent lich erwähnt – Huxley hatte sie in Brave New World, erinnern Sie sich? Aber soviel ich weiß, ist sie niemals mit Erfolg angewandt worden. Falls Delgado sich einbildet, sie sei für seine Zwecke brauchbar, kann die Sache jedenfalls nicht schaden, nehme ich an.« »Aber was soll das alles ohne Lautsprecher? Ich habe den ganzen Draht aus meiner Matratze gezogen – aber er war weder mit einem Lautsprecher noch mit einem Mikrophon verbunden.« »Nun, es gibt einige Versuchseinrichtungen ...«, begann Lester. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das ist lächerlich. Die Dinger kosten über fünfhundert
Pfund pro Stück, und niemand würde auf den Ge danken kommen, sie hier in den Zimmern zu vertei len. Kann ich mir die Sache ansehen?« »Nur noch die traurigen Überreste«, sagte Murray und stand auf. »Wahrscheinlich sind die gleichen Drähte an Ihrer Matratze angebracht, wenn Delgado die Wahrheit gesagt hat. Aber alles andere ...« Er sprach nicht weiter. Er hatte das Bettuch zu rückgeschlagen. Das Drahtgewebe war wieder intakt. »Delgado scheint die Sache ziemlich ernst zu neh men«, stellte er fest. »Er hat den Draht ersetzen las sen.« Murray ließ sich nicht anmerken, wie erregt er war. »Okay, was halten Sie davon?« Lester sagte zunächst gar nichts. Dann hob er die Matratze hoch, verfolgte den hauchdünnen Draht bis zu der Klappe und ließ sich zeigen, wann das Ton bandgerät zu laufen begann. Schließlich legte er die Matratze an ihren Platz zurück. »Eines steht jedenfalls fest«, sagte er dabei. »Die Drähte auf der Matratze können unmöglich als Laut sprecher oder Mikrophon dienen.« »Welchen Zweck haben sie sonst?« »Das weiß ich nicht.« Lester biß sich auf die Unter lippe. »Das ist nicht mein Fachgebiet, wissen Sie. Aber wenn ich etwas vermuten sollte ...« »Ja?« warf Murray ein. »Ich könnte mir vorstellen, daß es sich dabei um
eine hochempfindliche Antenne handelt. Sehen Sie hier.« Lester benützte Daumen und Zeigefinger als Stechzirkel und maß einzelne Abschnitte des Draht geflechts ab. »Das Muster besteht aus Einzelteilen, die in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen, nicht wahr? Diese langen Stücke erinnern an einen Dipol – wie bei Fernsehantennen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das erklärt noch lange nicht, weshalb das Zeug hier ist.« »Besteht eine Verbindung zwischen dem Drahtge flecht und dem Kasten dort drüben?« Murray deutete auf den Fernsehapparat. »Kann ich nicht sagen. Ich müßte mich stunden lang damit beschäftigen, aber solange das Ding unter Spannung steht, habe ich keine rechte Lust dazu.« »Können Sie sich überhaupt nicht vorstellen, was nachträglich eingebaut worden ist?« »Nein«, antwortete Lester. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Jedenfalls ist dort nicht Platz genug für Gerrys Zeug. Am besten schraube ich die Rückwand jetzt wieder an und lasse den Kasten stehen.« »Wollen Sie Delgado danach fragen?« »Ich will ihn unbedingt nach seiner Hypnopädie fra gen. Interessiert es Sie, was ich wirklich davon halte?« »Natürlich. Mich interessiert jede Meinung. Die Sa che beunruhigt mich nämlich.«
»Okay.« Lester steckte die Hände in die Hosenta schen. »Meiner Meinung nach wird sich früher oder später herausstellen, daß Delgado in seinem Fort schrittsglauben hereingelegt worden ist. Heutzutage fallen viele Leute, die eine Diode nicht von einem Pferdeschwanz unterscheiden können, auf gerissene Kerle herein, die neue Erfindungen auf dem Gebiet der Bioelektronik gemacht haben wollen. Meistens genügen schon ein paar hochtrabende Worte über die Einstellung auf kosmische Wellenlängen, um die Leu te dazu zu bringen, einen kleinen schwarzen Kasten für hundert Pfund zu kaufen – und der gerissene Kerl verschwindet lachend. Ich nehme an, daß Sie richtig vermutet haben: Delgado benützt die Hypnopädie nur als halbwegs plausible Ausrede, um blanken Un sinn zu verdecken. Wie Mrs. Smith, die ihr Bett auf den magnetischen Nordpol ausrichtet, wissen Sie?« »Ist das Ihr Ernst?« Murray zögerte noch, obwohl er zugeben mußte, daß Lester recht zu haben schien. »Ich würde sogar darauf wetten.« Lester zeigte auf das Drahtgewebe. »Das Muster ist nicht einmal so sinnlos, wie es auf den ersten Blick wirkt. Bestünde es aus Kupferrohren, könnte man es sogar als Fernseh antenne benützen. Aber im Grunde genommen ist es doch zwecklos; es ist gerade unsinnig genug, um zu meiner Theorie zu passen.« »Gilt das auch für das Zeug im Fernsehgerät?«
»Höchstwahrscheinlich.« Lester trat an den Appa rat und setzte die Rückwand vorsichtig ein. »Ich glaube nicht, daß es sich lohnt, sich deswegen Sorgen zu machen. Meinetwegen kann Delgado ans Tisch rücken glauben, wenn es ihm Spaß macht. Wichtig ist doch nur, daß er Talent hat und gut arbeitet, was?« »Ja, aber ...« Lester zog die letzten Schrauben an, richtete sich auf und klopfte Murray auf die Schulter. »Lassen Sie doch den Unsinn!« mahnte er. »An Ih rer Stelle wäre ich froh, noch mal eine Chance be kommen zu haben, anstatt mir wegen Delgados Ver rücktheiten Gedanken zu machen.« Murray rang sich ein Lächeln ab. »Das wäre be stimmt vernünftiger, was? Sie haben wirklich recht. Lieber das hier als eine Suppenküche der Heilsar mee.« Als Lester gegangen war, zündete Murray sich eine Zigarette an und betrachtete nachdenklich das Mu ster auf der Matratze. Das klingt alles ganz plausibel. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, daß es sich nicht so einfach erklären läßt. Hin ter der Sache steckt bestimmt irgend etwas anderes. Er faßte plötzlich einen Entschluß, der dem Ver such glich, ein Hornissennest mit einem Stock in Auf ruhr zu bringen. Er wurde allmählich ungeduldig.
Diese Probleme hinderten ihn daran, auf der Bühne wirklich sein Bestes zu geben. Murray hob die Matratze hoch, bis der dünne Draht riß. Dann zog er den ganzen Draht aus der Ma tratze und ließ ihn im Aschenbecher liegen. Nun war das Fernsehgerät an der Reihe. Als er davorstand, fiel ihm ein, daß er das Kabel lieber nicht mit bloßen Händen anfassen durfte, wenn es tatsächlich unter Spannung stand, wie Lester behauptet hatte. Statt dessen hob er das ganze Gerät hoch – es war viel schwerer als erwartet – und trug es durchs Zimmer. Als das Kabel straff gespannt war, holte er tief Luft, machte einen großen Schritt und erwartete dabei, daß das Kabel entweder reißen oder aus der Wand geris sen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Weitere zwei oder zweieinhalb Meter Kabel kamen unter der Fußbodenleiste hervor, und Murray hörte ein Klirren und einen gewaltigen Krach im Zimmer Dreizehn. Murray zog die Augenbrauen hoch und lächelte leicht. Dann stellte er den Fernsehapparat sorgfältig auf das Tischchen zurück, versteckte das lange Kabel unter dem Teppich und ging an die Tür. Er öffnete sie einen winzigen Spalt breit und beobachtete den Kor ridor. Seine Geduld wurde wenig später belohnt: er sah den sonst so steifen Valentine den Korridor ent langrennen. Wer hätte das gedacht?
Die Tür von Nummer Dreizehn öffnete und schloß sich. Murray schloß seine eigene Tür und horchte an der Wand zum Nebenzimmer. Er hörte jedoch nur ein leises Klirren und Klimpern, als sei Valentine da mit beschäftigt, die Trümmer einzusammeln. Das genügte vorläufig. Nun blieb nur noch Delga dos Reaktion abzuwarten. Er verließ sein Zimmer und ging pfeifend nach unten.
10
Die Reaktion kam, aber obwohl Delgado den Anstoß dazu gegeben haben mochte, wurde sie von Blizzard vorgetragen, und Murray mußte bis eine Stunde nach dem Abendessen darauf warten. Draußen regnete es. Murray hörte Regentropfen an die Scheiben klatschen, während er sich mit Adrian Gardner unterhielt. Dann fiel ihm plötzlich etwas auf. Nur Blizzard und Delgado waren nicht anwesend; al le übrigen Mitglieder des Ensembles waren hier ver sammelt, als entwickle die Gruppe allmählich eine Agoraphobie. Bisher hatte noch niemand vorgeschla gen, die hiesigen Pubs zu besuchen oder auch nur ei nen Spaziergang im Park zu machen. Draußen regne te es, aber die anderen benahmen sich, als wüte ein arktischer Schneesturm. Am besten mache ich morgen nach dem Abendessen eine kleine Spazierfahrt. Ich will mich hier nicht isolieren lassen ... »Murray, ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen. Entschuldigen Sie uns, Ade – es handelt sich um eine wichtige Sache.« Murray schrak aus seinen Gedanken auf. Blizzard war erschienen und hatte ihm gegenüber Platz ge nommen. Adrian zuckte mit den Schultern und stand
auf, um sich einen anderen Gesprächspartner zu su chen. »Ja, Sam – was kann ich für Sie tun?« fragte Murray. »Sie können aufhören, sich so verdammt lästig zu benehmen, wenn Sie es unbedingt wissen wollen«, antwortete Blizzard. Er nahm eine Zigarre aus der Tasche, biß das Ende ab und griff nach einem Tisch feuerzeug. Murray wartete, bis Blizzards Zigarre brannte. Dann sagte er: »Sam, war das ironisch gemeint, oder wollten Sie mich ärgern? In welcher Beziehung be nehme ich mich lästig?« »Was haben Sie mit dem Fernsehgerät in Ihrem Zimmer angestellt?« »Ich wollte es lieber auf der anderen Seite des Betts stehen haben«, log Murray. »Ist das etwa verboten?« Blizzard warf ihm einen prüfenden Blick zu, aber Murrays professionelle Maske war undurchdringlich. Der große Mann seufzte schließlich. »Schön, lassen Sie das in Zukunft«, wies er Murray an. »Valentine hat Ihretwegen fast einen hysterischen Anfall bekommen. Die Fernsehgeräte im ersten Stock sind alle mit einem Rediffusionssystem verbunden. Sie haben offenbar am Kabel Ihres Apparats gezogen und dadurch einige Geräte umgerissen. Der Schaden beträgt über fünfzig Pfund.« Er fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Hören Sie, Murray, ich
brauche Ihnen wahrscheinlich nicht zu erzählen, daß mir für dieses Unternehmen mehr Geld zur Verfü gung steht, als ich je für eine Produktion habe ausge ben können. Aber auch diese Mittel sind nicht uner schöpflich, wissen Sie.« »Aha, jetzt ist es also ein Rediffusionssystem«, murmelte Murray, ohne auf Blizzard zu achten. »Wie eigenartig! Lester war der Überzeugung, das sei aus geschlossen.« Er betrachtete Blizzard mit einem un schuldigen Lächeln. »Lester! Daran sind Sie auch schuld! Murray, was wollen Sie eigentlich? Fühlen Sie sich etwa in Ihrem Stolz verletzt? Los, reden Sie endlich, verdammt noch mal! Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, läßt sich be stimmt arrangieren, daß Sie schon morgen ...« »Augenblick«, unterbrach Murray ihn. »Was soll ich Lester angetan haben?« »Er ist vor dem Abendessen bei mir gewesen, um mich ernsthaft vor Delgado zu warnen.« Blizzard sah sich um, als habe er Angst, die anderen könnten zu hören. »Lester hält Delgado für leicht verrückt, weil Sie ihm von den Tonbandgeräten in den Betten er zählt haben. Murray, tun Sie mir bitte den Gefallen, in Zukunft Ihren Mund zu halten.« Murray beugte sich vor. »Sam, wollen Sie den Klub wie ein Konzentrationslager führen? Wollen Sie uns verbieten, neugierig zu sein? Du lieber Gott, ist Ihnen
nicht klar, welche Leute Sie hier haben? Wollen Sie eine Massenhysterie hervorrufen?« »Genau das will ich nicht – und genau das erzeugt Ihr Gerede unweigerlich. Hören Sie zu, Murray. Wir kennen uns seit Jahren – wir haben schon oft zusam mengearbeitet –, so daß Sie mich nur absichtlich miß verstehen könnten. Ich bin auch nicht damit zufrie den, daß hier ein Dutzend erregbarer Leute unter ei nem Dach versammelt und unerbittlich gedrillt wer den. Ich habe noch nie etwas Ähnliches gehört oder miterlebt. Aber das ist eben Delgados Methode, und wenn er darauf besteht, will ich es auch. Welchen Eindruck haben Sie bisher von Delgado, Murray?« »Das kann ich noch nicht sagen.« »Ich habe jetzt seit vier oder fünf Monaten mit ihm und seinem Kapitalgeber zu tun.« Blizzard streifte die Asche von seiner Zigarre. »Ich weiß, was ich von Delgado halte. Der Mann ist ein Genie. Ich finde ihn unsympathisch, aber ich habe auch einen Heidenre spekt vor ihm. Glauben Sie, daß ich das leichtfertig von einem Menschen behaupten würde, Murray?« »Nein.« »Gut, dann verstehen wir uns. Er ist phänomenal begabt. Er arbeitet mit Unterstützung eines argentini schen Multimillionärs, der anscheinend beweisen will, wie kulturell hochstehend seine Heimat ist, in dem er ihre Kultur den Europaern nahebringt. Ich
muß alle diese Neurotiker unter Kontrolle halten ... Tut mir leid, Murray, das ist mir nur so herausge rutscht.« »Wir sind alle neurotisch«, stellte Murray humorlos fest. »Richtig. Sie müssen vor allem begreifen, daß ich keine Ablenkung dulden kann. Dieser Unsinn kostet nur Zeit. Wenn Delgado von seiner Hypnopädie über zeugt ist, soll er es meinetwegen damit versuchen. Warum regen Sie sich deswegen auf? Falls die Sache funktioniert, ist es gut; funktioniert sie dagegen nicht, kann es Ihnen auch gleichgültig sein. Ich will niemand verbieten, nach Herzenslust neugierig zu sein. Ich ver suche nur, unser Stück zu Ende zu bringen.« Murray zögerte kurz. »Sie hätten anders anfangen sollen, Sam«, meinte er dann. »Ich mache mir keine Il lusionen, was mich betrifft. Sie dürfen mich nicht für undankbar halten; ich bin froh, daß ich diese Chance bekommen habe. Aber angesichts des Films, den Del gado gedreht hat, und seines Theaterstücks in Paris hätten Sie doch Fleet Dickinson engagieren können ... oder etwa nicht?« Dieser Nachsatz war nicht geplant. Aber Murray erinnerte sich jetzt an ein Gespräch mit Roger Grady. Der Agent hatte ihm von einem Schauspieler erzählt, der abgelehnt hatte, bevor Roger ihm ein Angebot machen konnte.
Zum Glück war Blizzard ahnungslos. »Es handelt sich nicht nur darum, Murray. Delgado erwartet, daß seine Anweisungen genau befolgt werden; das ist Ih nen bestimmt schon aufgefallen. Meistens stört das nicht, solange man sich von seiner Begeisterung an stecken läßt. Aber ich habe schon mit Fleet Dickinson zusammengearbeitet und weiß deshalb, daß er es gewöhnt ist, den Boß zu spielen.« Blizzard schüttelte verblüfft den Kopf. »Was ist plötzlich in mich gefah ren? Bisher habe ich noch mit keinem anderen Mit glied des Ensembles über diese Dinge gesprochen.« »Er ist in Sie gefahren«, stellte Murray fest. »Das macht mir Sorgen, Sam. Wir brauchen natürlich Selbstvertrauen, wenn wir mit unserem Stück das West End erobern wollen. Aber ich sehe schon kom men, daß wir uns alle daran berauschen und gar nicht merken, wie schlecht es ist. Sie müssen unbe dingt objektiv bleiben, Sam.« »Ich gebe mir schon Mühe.« Blizzard nickte lang sam. »Aber bevor ich kein fertiges Manuskript in Händen habe, bin ich hier eher Hausvater als Regis seur, nicht wahr?« Murray runzelte die Stirn. »Richtig ... Wissen Sie, Sam, ich habe eigentlich erwartet, daß wir von einer bestimmten Idee ausgehen und nur die Dialoge im provisieren würden, aber statt dessen haben wir gar nichts ...«
»Doch, jetzt haben wir etwas!« widersprach Bliz zard. »Das können Sie nicht bestreiten. Dabei arbeiten wir erst seit zwei Tagen.« »Ja, natürlich«, stimmte Murray zu, ohne überzeugt zu sein. »Zuerst habe ich mir deswegen auch Sorgen ge macht«, gab Blizzard nach einer Pause zu, »aber an scheinend funktioniert die Sache doch ziemlich gut. Deswegen habe ich mich übrigens auch nicht um Fleet bemüht. Fleet sucht sich seine Rollen sorgfältig aus. Selbst Delgados Ruf hätte ihn nicht dazu ge bracht, eine Rolle unbesehen zu akzeptieren.« Murray nickte langsam. »Hören Sie, Sam, ich muß Sie etwas fragen. Ich schleppe diese Frage ständig mit mir herum, aber jetzt muß sie endlich doch heraus. Sie haben mehr mals Delgados persönliche Arbeitsweise erwähnt. Nun, gehört es etwa dazu, uns hier einzusperren, bis wir fast in die Luft gehen, um dann unser Gekreisch auf die Bühne bringen zu können?« Blizzard antwortete nicht gleich. Als er dann sprach, wich er der Frage aus. »Wie kommen Sie darauf, Murray?« »Aus zwei Gründen, Sam. Delgado hat zu Anfang betont, er lege größten Wert darauf, daß seine Schau spieler sich mit ihren Rollen identifizieren. Und ich verstehe nicht, warum Sie sich diese Schauspieler zu
sammengesucht haben. Ich und Alkohol. Gerry und Koks. Ade und hübsche kleine Jungen. Constant, der eine Chance sieht, doch noch ins West End zu kom men – seine erste und letzte Chance. Lauter Leute, die es sich nicht leisten können, Ihnen den Krempel vor die Füße zu werfen, weil dies ihre letzte Gelegenheit ist, Karriere zu machen.« »Sie können jederzeit mit Ihrem Wagen fortfahren, wohin Sie wollen«, versicherte Blizzard ihm ge kränkt. »Glauben Sie mir jetzt, daß hier niemand ein gesperrt wird?« Murray nickte und stand auf. »Genau das habe ich vor«, stellte er fest. »Inzwischen regnet es nicht mehr. Etwas frische Luft tut mir bestimmt gut.« Er war bereits draußen in der Halle, als ihm auffiel, daß Blizzard seine Frage eigentlich nicht beantwortet hatte. Er überlegte noch, ob er zurückgehen und eine Antwort verlangen sollte, als Valentine aus dem Spei sesaal auftauchte. »Sie wollen ausgehen, Mister Douglas?« erkundig te er sich höflich. »Was geht Sie das an?« fragte Murray. »Mister Blizzard hat mich angewiesen, das Haupt tor um elf Uhr zu schließen, Sir. Wenn Sie wünschen, kann ich natürlich veranlassen, daß es für Ihren Wa gen länger geöffnet bleibt.«
»Nein, danke, das ist nicht notwendig.« Murray schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier.« »Sehr wohl, Sir.« Valentine verbeugte sich leicht und ging davon. »Valentine!« rief Murray ihm nach. »Ja, Mister Douglas?« »Tun Sie mir einen Gefallen? Sagen Sie nicht im mer: ›Mister Blizzard hat mich angewiesen.‹ Ich weiß so gut wie Sie, daß Delgado hier die Befehle erteilt.« »Ich ... ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir.« Valen tines Überraschung war gut gespielt, aber nicht ganz echt. »Dann wird es langsam Zeit, daß Sie es herausbe kommen, nicht wahr?« Murray wandte sich ab und stieg die Treppe hinauf. Als er sich noch einmal um sah, war Valentine verschwunden. In seinem Zimmer fand wieder das allabendliche Ritual statt: Murray trennte zwanzig Meter Draht aus seiner Matratze und ließ sie als Knäuel im Aschenbe cher zurück, bevor er zu Bett ging.
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»Okay, wir machen jetzt eine kurze Pause und sehen uns um ... äh ... zehn vor zwei wieder.« »Pause, sagt er«, flüsterte Ida laut. »Dabei brauche ich demnächst eine Erholungskur. Puh!« Murray holte tief Luft und atmete langsam aus. Er notierte sich den Tag in seinem geistigen Kalender. Donnerstag: Sam Blizzard ordnet zum erstenmal eine Pause an; bisher hat Delgado ihm diese Entscheidung ab genommen. Vielleicht wird doch etwas aus unserem Stück. Wir haben die Rollen verteilt und kommen gut voran. Ger ry macht bereits Entwürfe für das Bühnenbild ... Er hörte plötzlich auf, sich die Pluspunkte aufzu zählen. Er hatte eine schemenhafte Gestalt in der letz ten Reihe gesehen. Heather. Großer Gott – sie hat noch keine Rolle. Sie ist heute vormittag nicht einmal auf der Bühne gewesen. Adrian Gardner und Rett Latham gingen vor ihm her zur Tür; die beiden waren so in eine Diskussion über einen strittigen Punkt vertieft, daß sie nur kurz zu Heather hinübernickten. Murray blieb vor ihr stehen. »Hallo«, sagte er. »Wo haben Sie gesteckt?« Sie lächelte gezwungen, hob den rechten Arm und zeigte ihm einen Farbfleck an ihrem Pullover. »Oh, ich habe Gerry geholfen.«
Das war nur die halbe Wahrheit. Heather hatte ge weint, das merkte man an ihren rotgeränderten Au gen. Murray fiel auf, daß bisher noch niemand den Versuch gemacht hatte, das Mädchen an den Diskus sionen und Proben zu beteiligen – nicht einmal Ida, die Heather damit hätte imponieren können. »Warum?« fragte er. »Nun ... Sie wissen schon!« Heather lächelte ver zerrt. »Ich bin im Augenblick ziemlich überflüssig.« »Aber Sie sind doch als Mitglied des Ensembles engagiert, oder? Sie müssen sich bemerkbar machen, anstatt im Hintergrund zu bleiben. Wenn Gerry Hilfe braucht, soll er sich melden.« »Tut mir leid, ich wollte nicht ...« Sie sah ihn er schrocken an. »Du lieber Gott«, murmelte Murray, »ich wollte Ih nen keine Vorwürfe machen. Das war nur als guter Rat gedacht. Kommen Sie, wir gehen zum Mittagessen.« »Danke, ich habe keinen Hunger. Ich gehe lieber etwas spazieren.« »Keine schlechte Idee«, stimmte Murray zu. »Wis sen Sie was, wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe und essen irgendwo im nächsten Pub. Wir haben eine Dreiviertelstunde Zeit. Die Atmosphäre hier bedrückt mich allmählich.« Heathers Miene hellte sich auf. »Oh, das wäre schön! Aber ich will Ihnen nicht lästig fallen!«
Murray nahm lachend ihren Arm. Am Ausgang holte Ida sie ein. »Aha!« sagte sie. »Ich störe doch nicht etwa? Kommen Sie zum Mittagessen, Heather?« »Nein ...« Das Mädchen sah verlegen zu Boden. »Murray hat vorgeschlagen, wir sollten zum Essen in den nächsten Pub fahren.« »Vermutlich in seinem Zweisitzer.« Ida warf den Kopf zurück. »Nehmen Sie sich vor ihm in acht, meine Liebe. Wissen Sie nicht, wie Murrays Frauen enden?« Murray ballte die Fäuste. »Wenn du ein Mann wärst, würde ich dich jetzt verprügeln, Ida«, sagte er laut. »Aber dazu reicht es eben doch nicht, was?« Ida antwortete nicht. Sie erkannte offenbar, daß sie den Bogen überspannt hatte. Anstatt noch etwas zu sagen, drängte sie sich wortlos an Murray vorbei und verschwand. Als Murray die Autoschlüssel aus seinem Zimmer geholt hatte und wieder nach unten kam, sah Heather ihm nachdenklich entgegen. »Murray, darf ich Sie etwas fragen?« Er wußte, wie diese Frage lauten würde, aber er nickte, während er Heather die Tür aufhielt. »Was hat Ida mit ihrer Bemerkung gemeint?« »Ida ist ein bösartiges Weibsbild«, knurrte er. »Sie brauchen nicht alles für bare Münze zu nehmen, was sie sagt.«
»Aber ...« Heather biß sich auf die Unterlippe. »Murray, ich will nicht neugierig sein. Aber ich habe gemerkt, daß Idas Bemerkung Sie getroffen hat, und ich möchte Sie nicht verletzen, ohne es zu wollen. Wissen Sie, was ich meine?« Er antwortete nicht gleich, sondern hielt ihr die Au totür auf. Heather erwiderte seinen Blick. Murray setzte sich ans Steuer, steckte den Zündschlüssel ins Schloß und starrte das Armaturenbrett an. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Die Sache ist schon lange kein Geheimnis mehr. Ganz London weiß davon.« Er holte tief Luft. »Meine Frau hat den Verstand verloren. Sie ist eines Abends davongelaufen, während ich auf der Bühne stand. Zwei Wochen später hat die Polizei sie in einem Bor dell in Poplar entdeckt. Zum Glück hatte sie wenig stens einen falschen Namen angegeben. Nun ist sie in einer Nervenheilanstalt untergebracht, die sie nie wieder verlassen wird. Zufrieden?« »Oh!« Heather starrte ihn an. »Das habe ich nicht gewußt, Murray! Haben Sie deshalb ...?« »Nein, ich habe zu trinken begonnen, um mein Ge wissen zu beruhigen.« Murray ließ den Motor an. »Ich hätte meine Frau rechtzeitig zum Psychiater schicken müssen; vielleicht wäre sie dann jetzt gesund.« Er fuhr an. »Wechseln wir jetzt das Thema, einverstanden?«
Um fünf Uhr nachmittags war Murray ihr sogar dankbar dafür, daß sie diese Angelegenheit zur Spra che gebracht hatte. Die alte Bitterkeit, die wieder in ihm aufgestiegen war, half ihm jetzt, seine Rolle zu gestalten. Gerry Hoarding hatte in der Mittagspause vier Leinwände, Tische und Stühle hereingeschleppt und damit ein Bühnenbild mit zwei Ebenen skizziert. Er war über und über mit Farbe beschmiert, aber trotzdem bester Laune; seine gute Stimmung ver blüffte Murray, denn Gerry hatte sich seit Montag abend kein Heroin mehr geben lassen. Murray wußte, daß er und die anderen gut gespielt hatten, als die letzte Probe der ersten Szene vorüber war. Er erwartete sogar ein Lob von Delgado, denn sie hatten sich alle im Gegensatz zu früher erheblich gesteigert. Aber als Blizzard sich nach Delgado um drehte und ihm einen fragenden Blick zuwarf, rea gierte der Autor auf unerwartete Weise. »So, jetzt können wir mit diesem Unsinn aufhö ren!« Was? Alle starrten Delgado verständnislos an. Blizzard fand als erster die Sprache wieder; er hatte sich allerdings auch nicht mit einer Rolle identifizie ren müssen. »Manuel, was soll plötzlich dieser ...?« Delgado wirkte äußerlich gelassen, aber seine Stimme zeigte, wie erregt er war. »Wir können aufhören, habe ich gesagt. Dieser Un
sinn hängt mir zum Hals heraus. Sie wissen jetzt un gefähr, was ich will, und wir fangen morgen mit dem eigentlichen Stück an.« »Augenblick!« Blizzard war aufgestanden. Die an deren schwiegen noch, weil sie merkten, daß Blizzard ausdrücken würde, was sie alle dachten. »Manuel, Sie können doch nicht einfach die Arbeit einer ganzen Woche wegwerfen, wenn alles tadellos klappt!« »Glauben Sie?« Delgado machte eine verächtliche Handbewegung. »Es lohnt sich wirklich nicht, dieses Zeug aufzuheben. Murray Douglas, den Sie so eifrig angepriesen haben, ruiniert uns alles – er ist kein Schauspieler, sondern ein billiger Schmierenkomödi ant.« »He, das ist eine verdammte Lüge!« Erstaunlicher weise kam Ida Murray zur Hilfe. Sie drängte sich nach vorn und blieb vor Delgado stehen. »Jeder weiß, daß ich nicht gerade in Murray verliebt bin, aber er hat hier bisher ausgezeichnet gespielt, das müssen Sie selbst gemerkt haben. Was soll also der Unsinn? Wol len Sie uns absichtlich gegeneinander aufbringen?« »Sie sind rührend loyal«, versicherte Delgado ihr eisig. »Sobald Sie sich morgen davon erholt haben, können wir vielleicht mit der ernsthaften Arbeit be ginnen. Aber jetzt ... Cherry, bitte das Manuskript.« Das Mädchen gab ihm den dicken Schnellhefter, der den Entwurf des Bühnenstücks enthielt.
»So!« sagte Delgado und stand auf. »Damit Sie se hen, daß ich es ernst meine.« Er hielt den Schnellhefter, der über hundert Blätter faßte, in beiden Händen, zerriß ihn ohne sichtliche Anstrengung, legte die Hälften zusammen und zerriß sie ebenfalls. Die anderen staunten über die unerwar teten Körperkräfte, die er dabei entwickelte. »Die Probe ist beendet. Sie können gehen«, fügte Delgado hinzu und verließ die Bühne in Richtung Ausgang. Blizzard eilte hinter ihm her. Murray sah sich um. »Hat jemand eine Zigarette für mich?« fragte er dann. »Glauben Sie, daß es sein Ernst war?« erkundigte Adrian sich nervös und bot ihm seine Packung an. »Natürlich ist das sein Ernst«, knurrte Murray. »Und niemand von uns kann es sich leisten, ihm vor die Füße zu Spucken und abzureisen.« Er zündete sich die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
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Die anderen schwiegen betroffen. Murray sah sich verständnislos um. Auf allen Gesichtern stand der gleiche ungläubige Ausdruck. »Delgado vor die Füße spucken und abreisen?« wiederholte Constant Baines schließlich. »Hören Sie, Murray, nur weil er Ihnen Vorwürfe gemacht hat, brauchen Sie nicht gleich überzuschnappen.« Murray schüttelte verwirrt den Kopf. »Augenblick! Was soll das? Nur weil dieser Idiot Delgado ...« »Hacken Sie nicht immer auf ihm herum«, unter brach Constant ihn. »Ich habe alles gehört. Trotzdem bleibt die Tatsache, daß wir von vorn anfangen müs sen, weil ihm Ihre Arbeit nicht gefallen hat. Stimmt's?« Jess Aumen knallte den Flügel zu, an dem er bisher gesessen hatte; er sprang auf und ging zum Ausgang. Lester Harkham erschien auf der Bühne und folgte ihm mit hängenden Schultern. »Vielleicht überlegt er sich die Sache noch?« schlug Adrian hoffnungsvoll vor. »Wir sind doch ganz gut vorangekommen. Wahrscheinlich will er uns nur schockieren.« »Unsinn, Ade«, murmelte Ida. »Der Kerl ist ver rückt, darüber brauchen wir uns gar keine Illusionen zu machen.«
»Ich möchte nur wissen, weshalb Sie auf Murrays Seite stehen«, sagte Constant. »Sie haben ihn tapfer verteidigt, aber Delgado kann seine Leistung besser beurteilen, weil er Sie von dort aus gesehen hat.« Er deutete auf die Sitze. »Ich ... mir hat die Szene sehr gut gefallen«, meinte Heather unsicher von der dritten Reihe aus. »Ich weiß nicht, was Delgado daran auszusetzen hat.« »Mischen Sie sich nicht ein, Heather!« forderte Constant Sie auf. »Sie haben bisher noch nichts beige tragen, deshalb müssen Sie auch den Mund halten, verstanden?« »Constant hat recht«, behauptete Rett Latham. »Delgado bleibt bestimmt bei seinem Entschluß, und wir haben eine ganze Woche vergeudet, weil Mur rays Darstellung ihm nicht paßt.« Die anderen äußerten sich nicht dazu; sie beobach teten jetzt Gerry Hoarding, der auf der Bühne er schien, ein Messer aus der Tasche holte und die Ent würfe zerschnitt, die er vor wenigen Stunden so stolz aufgebaut hatte. Dann sprang er wortlos von der Bühne und lief zum Ausgang. »Na, wenigstens einer, der die Sache ernst nimmt«, behauptete Al Wilkinson. »Rett, wir verschwinden jetzt am besten.« »Gute Idee.« Die Bühne leerte sich rasch. Nur Ida blieb noch zu
rück, als wolle sie Murray aufmuntern; dann zuckte sie jedoch mit den Schultern und ging ebenfalls. Sie nahm Heather mit. Murray war allein. Er hatte vorhergesagt, daß der Klub sich in ein Ir renhaus verwandeln würde. Gab es eine bessere Me thode, um dieses Ziel zu erreichen? Dieser Abend würde schrecklich werden, aber morgen stand ihnen noch mehr bevor, wenn Delgado tatsächlich Wort hielt und von vorn anfing. Murray ging an der Reihe vorbei, in der Heather ge sessen hatte. Dort fiel ihm etwas Weißes auf. Ein Ta schentuch, das unter den Sitz gefallen war. Er hob es auf. Es war tränennaß. Die arme Kleine. Warum hatte Blizzard sie engagiert, wenn er ihr keine Rolle geben wollte? Man hätte fast glauben können, Heather sei für Ida bestimmt – wie das Heroin in Gerrys Zimmer, das für den Bühnenbildner bereitgelegen hatte ... In diesem Augenblick hörte er, daß über ihm eine Tür ins Schloß fiel, und dieses Geräusch alarmierte ihn sofort. Gerry hatte ihm erzählt, sein Zimmer liege mitten über dem Theater. Das war eben Gerrys Tür gewesen. »Großer Gott!« sagte Murray und lief erschrocken zum Ausgang. Der junge Bühnenbildner antwortete nicht, als Mur ray kurze Zeit später an seine Tür klopfte. Die Tür
war abgeschlossen. Murray eilte in sein eigenes Zimmer, sah hinter den Vorhang und atmete erleich tert auf, als er das Glas dort sah. Es war noch immer bis zum Rand gefüllt. Murray versteckte es wieder und wandte sich langsam ab. Das ungute Gefühl wurde stärker. Er ging in den Korridor, legte das Ohr an Gerrys Tür und hielt den Atem an. Ein Klirren, Metall auf Metall oder Glas auf Metall. Ein Zündholz wurde angerissen. Murray erschrak, als er sich vorstellte, was hinter der Tür geschah. »Gerry!« rief er laut. »Gerry, lassen Sie das! Hören Sie auf!« Er bekam keine Antwort, aber das Klirren war wieder zu hören. Murray trommelte mit beiden Fäu sten gegen die Tür. »He, was soll das, Murray?« fragte Constant hinter ihm. Er war aus Nummer Elf gekommen. »Helfen Sie mir, die Tür aufzubrechen!« verlangte Murray. »Sind Sie verrückt?« Constant zog die Augenbrau en hoch. »Helfen Sie mir, Sie Idiot! Gerry ist dabei, sich He roin einzuspritzen, und er hat mir gesagt, daß er eine Überdosis nehmen könnte, wenn er deprimiert ist. Wollen Sie zusehen, wie er stirbt?« Constant wurde blaß. Er stellte sich wortlos neben
Murray auf. »Okay, mit der Schulter«, wies Murray ihn an. »Auf drei ... eins, zwei, drei!« Sie warfen sich gleichzeitig gegen die Tür; das Schloß gab nach und wurde aus dem Türstock geris sen. Gerry wandte sich langsam vom Tisch ab, auf dem er seine Ausrüstung liegen hatte – eine Emailschale, in der eine Injektionsspritze lag, ein Glas mit weißem Pulver wie das andere, das er Murray zur Aufbewahrung übergeben hatte, und einen kleinen Spiritusbrenner. Er hielt einen Teelöffel mit verboge nem Stiel in der rechten Hand; sein linker Hemdsär mel war hochgekrempelt, und Murray sah, daß Gerry sich den Arm mit einer Krawatte abgebunden hatte. Dann griff Murray nach dem Teelöffel, verschüttete die wenigen Tropfen Flüssigkeit, die er enthielt, und drängte den hysterischen Mann auf sein Bett zurück. Gerry wehrte sich verzweifelt, aber die beiden Männer waren stärker; er gab schließlich nach und blieb liegen. »Das sollte also die zweite Spritze werden«, stellte Murray fest. Er deutete auf den blutenden Einstich an Gerrys Arm. »Der Teufel soll euch beide holen«, zischte Gerry. »Verschwindet! Los, verschwindet schon!« »Noch nicht.« Murray wandte sich ab und griff nach dem Glas. »Constant, durchsuchen Sie alles. Vielleicht hat er irgendwo noch mehr von diesem Zeug versteckt.«
»Genügt das nicht?« fragte Constant mit einem Blick auf das Glas. »Menschenskind, so viel Koks ha be ich noch nie gesehen.« »Er hat mir ein gleichgroßes Glas zur Aufbewah rung übergeben. Wo es zwei gibt, gibt es vielleicht ein Dutzend. Los, suchen Sie endlich!« »Verschwindet«, forderte Gerry sie auf. Er lag er schöpft auf dem Rücken und schwitzte heftig. Constant drehte sich um und begann den Raum zu durchsuchen. Murray sah in jedem Versteck nach, das ihm einfiel. Sie fanden beide nichts. Gerry war unterdessen eingeschlafen; die erste Spritze wirkte jetzt, und er würde etwa eine Stunde ruhig schlafen. »Okay«, meinte Murray, »jetzt kann ihm nichts mehr passieren. Aber wir nehmen sein Zeug mit, falls er sich nur schlafend stellt.« Er hob den Teelöffel vom Boden auf, legte ihn in die Schale neben die Injekti onsspritze und blies den Spiritusbrenner aus. Constant nickte und folgte ihm schweigend in den Korridor hinaus. Er schien nach Worten zu suchen. Dann räusperte er sich. »Ah ... Murray, ich muß mich noch bei Ihnen ent schuldigen. Ich weiß wirklich nicht, weshalb Delgado es auf Sie abgesehen hatte. Ich hätte den Mund halten sollen.« »Schon gut«, wehrte Murray ab. Constant schluckte trocken. Er starrte das Glas in
Murrays Hand an. »Sie haben Gerry das Leben geret tet, nicht wahr?« »Vielleicht«, antwortete Murray. »Höchstwahr scheinlich. Das Zeug ist chemisch rein, und Gerry weiß selbst, wie gefährlich es in diesem Zustand ist.« »Aber wo hat er es her?« wollte Constant wissen. »Soviel hat er sich nie leisten können! Ich verstehe selbst nichts davon«, fügte er rasch hinzu, »aber man hört schließlich, was andere Leute dafür bezahlen.« Murray wollte schon antworten, als ihm etwas in Constants Zimmer auffiel. Neben dem Bett lag ein Buch auf dem Nachttisch. »Darf ich?« fragte er und betrat das Zimmer, ohne die Antwort abzuwarten. Er setzte Gerrys Ausrü stung ab und nahm das Buch zur Hand. Der Titel lau tete: »Justine oder Das Unglück der Tugendsamen von Mar quis de Sade, neu ins Englische übertragen von Algernon Charles Swinburne. Mit hundert Illustrationen verschie dener Künstler. Privatdruck, London 1892.« Constant wurde rot und machte eine vage Hand bewegung. »Es gehört nicht mir – ich habe es hier ge funden. Ich wußte gar nicht, daß es existiert. Manche Zeichnungen erinnern an Beardsley.« Murray blätterte das Buch durch, legte es fort und warf einen Blick auf die übrigen Titel, die das Regal füllten. Er sah Juliette, Die 120 Tage von Sodom, Millers
Rosige Kreuzigung, eine hübsche Fanny Hill und ein gutes Dutzend anderer Bücher der gleichen Art. »Ich ... äh ...« Constant schluckte trocken. »Ich leihe Ihnen gern ein paar, wenn Sie wollen.« »Nein, danke.« Murray richtete sich auf. »Ich habe genug mit meinen eigenen Schwächen zu kämpfen, ohne mir die anderer Leute zu eigen zu machen.« »Seien Sie nicht so hochnäsig, Murray!« »Tut mir leid.« Murray griff wieder nach der Schale und dem Glas. »Sie wollten wissen, woher Gerry das Heroin hat – er hat es in seinem Zimmer gefunden, wie Sie Ihre Bücher hier gefunden haben. Wie ich ge nügend Alkohol entdeckt habe, um einen Heiligen in Versuchung zu führen. Wissen Sie, was ich glaube, Constant? Delgado hat kein Gehirn, sondern einen Gully im Kopf.«
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Murray versteckte auch das zweite Glas Heroin und die Emailschale mit der Injektionsspritze hinter dem Vorhang in seinem Zimmer. Er hatte noch kein besse res Versteck gefunden. Dann trat er zurück, ließ die Hände herabsinken und schüttelte deprimiert den Kopf, als ihm einfiel, daß schon morgen einer der Diener ein neues Glas und eine neue Spritze in Ger rys Zimmer zurücklassen konnte. Er zündete sich eine Zigarette an und ging im Zimmer auf und ab. Das mußte bereits geschehen sein. Alle anderen Möglichkeiten schieden aus. Gerry hätte sich diese Mengen Heroin nie leisten können. Das Zeug wurde kostenlos geliefert. Murray war davon überzeugt, daß das alles Delga dos Idee gewesen war. Seine ›Arbeitsweise‹ – woraus bestand sie eigentlich? Wollte er die Schauspieler zum Wahnsinn treiben? Murray überlegte sich erst mals, ob er versuchen sollte, mit Schauspielern Ver bindung aufzunehmen, die in Trois Fois à la Fois mit gespielt hatten. Und trotzdem ... einige Mitglieder des Ensembles hatten allzu willig reagiert, als Delgado mit der Peit sche knallte. Murray dachte an Constant; er hatte sich später bei ihm entschuldigt – aber erst nachdem er
Gerry in Lebensgefahr gesehen hatte. Selbst Adrian, der doch viel Bühnenerfahrung besaß, hatte nicht protestiert. Nur Ida war dazu bereit gewesen – und Heather, aber ihre Meinung war unwichtig. Murray drückte seine Zigarette wütend aus und ging an sein Bett. Er hatte das Drahtgewebe jeden Abend automatisch entfernt, um es am nächsten Tag wieder an Ort und Stelle zu finden. Auch heute ent deckte er es auf seiner Matratze, aber diesmal gab er sich nicht damit zufrieden, den Draht abzureißen. Statt dessen öffnete er die Klappe, nahm die Spulen vom Tonbandgerät und warf sie nacheinander aus dem Fenster. Dann atmete er erleichtert auf. Diese Geste war ziemlich kindisch, aber sie beruhigte ihn. Er zündete sich eine neue Zigarette an und überlegte. Wenn er nicht vor morgen früh herausbrachte, was Delgado eigentlich beabsichtigte, war der Teufel los. Die Ressentiments der anderen würden sich dann mit aller Gewalt über ihm entladen. Wahrscheinlich war ihre weitere Arbeit dadurch ernsthaft gefährdet. Aber Murray hatte den Verdacht, daß Delgado sich nicht sonderlich viel daraus machen würde. Was wollte er also überhaupt? Murray spielte mit dem Gedanken, daß Delgado gar keinen Wert darauf legte, das geplante Stück zu Ende zu bringen. Viel leicht hatte er Ähnlichkeit mit den Gestalten in Con
stants Büchern und fand sein Vergnügen daran, an dere zu quälen? Da sein argentinischer Geldgeber ihm offenbar fast unbegrenzte Mittel zur Verfügung stellte, kam es ihm bestimmt nicht darauf an, Tau sende von Pfund zu vergeuden. Nein, diese Idee war zu absurd. Delgado hatte ei nen Film gedreht, der die Anerkennung aller Kritiker gefunden hatte. Das in Paris aufgeführte Theater stück mit Garrigue in der Hauptrolle war ein großer Erfolg gewesen ... An dieser Stelle fiel Murray wieder ein, was Roger Grady gesagt hatte: »Weil Garrigue Selbstmord be gangen hat. Weil Léa Martinez in eine Nervenheilan stalt gebracht werden mußte. Weil Claudette Myrin ihre kleine Tochter zu ermorden versuchte.« Würde Roger nächstes oder übernächstes Jahr zu einem anderen sagen: »Weil Murray Douglas wieder zu trinken begonnen hat. Weil Gerry Hoarding eine Überdosis Heroin genommen hat. Weil ...?« Nein. Murray fühlte, daß ihm der Schweiß ausbrach. Sei ne Hände zitterten. Er konzentrierte sich wieder auf unmittelbare Probleme. Irgend etwas war an der gan zen Sache faul. Es gab keinen vernünftigen Grund, weshalb Delgado plötzlich mit ihren bisherigen Lei stungen unzufrieden sein sollte; er hatte sich offenbar nur über Murray geärgert und wollte sich auf diese
Weise an ihm rächen. Aber Murray hatte ihm erst einmal Anlaß dazu gegeben, als er nach den Ton bandgeräten fragte. Murray wollte diese Angelegenheit weiter untersu chen. Er hatte keine Ahnung, was davon zu erwarten war, aber er mußte schließlich irgend etwas tun und sah keine andere Möglichkeit. Wo sollte er also beginnen? Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete nachdenklich die Wand hinter dem Fernsehgerät, die sein Zimmer von Nummer Dreizehn trennte. Das Kabel war jetzt gesi chert – er hatte bereits daran gezogen –, so daß er keinen Schaden mehr damit anrichten konnte. Und die Tür war immer abgeschlossen. Davon hatte er sich ebenfalls überzeugt. Aber dann fiel ihm etwas ein ... Murray ging ans Fenster, öffnete es und sah hin aus. Ja, er hatte offenbar recht. Wenn Gerrys Zimmer mitten über dem Theater lag, mußte Zimmer Drei zehn sich genau über der Bühne befinden. Er überleg te, ob er von hier aus zum Fenster des Nebenzimmers gelangen könnte, mußte diese Absicht jedoch wieder aufgeben, weil er keine Übung als Fassadenkletterer hatte. Außerdem war das Fenster bestimmt fest ver schlossen. Er ging nach unten.
Murray betrat die Bühne, nachdem er das Licht im Zuschauerraum eingeschaltet hatte. Er sah nach oben, ohne recht zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Der Raum über der Bühne war dunkel, und Murray mußte sich anstrengen, um überhaupt etwas zu er kennen. Aber dann fiel ihm etwas auf. Über der Bühne schien eine Art Metallgitter zu hängen. Er sah sich um. Im Hintergrund standen der Tisch und die Stühle, die Gerry hereingeschleppt hatte. Wenn er einen Stuhl auf den Tisch stellte, mußte er das Gitter mit ausgestreckten Händen erreichen kön nen. Murray kletterte auf den Tisch. Nun befand sich das Metallgitter dicht über ihm. Er berührte es nicht, sondern holte sein Feuerzeug aus der Tasche und be leuchtete damit die Kupferstäbe des Gitters, dessen Muster ihn an das Drahtgeflecht auf seiner Matratze erinnerte. Dieses Gitter schien sich über den gesam ten Bühnenraum zu erstrecken, soviel im Halbdunkel zu erkennen war ... »Was finden Sie so interessant, Murray?« Murray fuhr zusammen, wäre fast von seinem Stuhl gefallen und hielt sich im letzten Augenblick am Gitter fest. Unter ihm stand Delgado an der Ram pe. Sein blasses Gesicht trug einen wütenden Aus druck, aber die Stimme klang beherrscht.
Murray holte tief Luft. Dann antwortete er: »Wenn Sie es nicht wissen, Delgado, weiß es hier bestimmt niemand!« Delgado trat einen halben Schritt zurück, als habe ihn ein Schlag getroffen. »Kommen Sie sofort herun ter, Murray!« befahl er scharf. »Sie haben schon ge nügend Schaden mit Ihrer verdammten Neugier an gerichtet!« Murray zog die Augenbrauen hoch. Er fühlte sich sicher, weil er gesehen hatte, wie Delgado er schrocken war. »Okay, wir schließen einen Kompro miß«, schlug er vor. »Sie erzählen mir, welchen Zweck diese Anlage hat, und ich schnüffle nicht wei ter herum. Aber diesmal möchte ich die Wahrheit hö ren.« Delgado antwortete nicht gleich; er kam auf die Bühne und legte eine Hand auf den Tisch, auf dem Murrays Stuhl stand. »Kommen Sie jetzt herunter oder muß ich Sie herunterholen? Glauben Sie ja nicht, daß ich das nicht könnte!« Murray erinnerte sich daran, daß Delgado ohne sichtliche Anstrengung Hunderte von Blättern mit ei nem Ruck zerrissen hatte; wenn er dazu imstande war, konnte er auch den Tisch umstürzen. Murray blieb keine andere Wahl: er mußte sich ergeben. Delgado trat zurück und beobachtete Murray, der jetzt vom Tisch sprang.
»Ich habe die Sache mit Ihnen allmählich satt, Mur ray«, stellte er fest. »Sie bemühen sich anscheinend, möglichst unangenehm aufzufallen, anstatt anzuer kennen, daß Sie hier bequem untergebracht sind, hervorragend bezahlt werden und noch dazu Gele genheit haben, an einem völlig neuartigen Projekt mitzuarbeiten, das ...« »Haben Sie diese Rede selbst aufgesetzt?« unter brach Murray ihn. »Oder war das auch eine Kollek tivimprovisation?« Delgado zuckte leicht zusammen, und Murray lä chelte zufrieden, als er sah, welche unbeabsichtigte Wirkung seine Frage gehabt hatte. »Was hatten Sie hier vor, Murray?« wollte Delgado wissen. »Warum zerstören Sie Sachen, die nicht Ihnen gehören? Warum machen Sie mir absichtlich Schwie rigkeiten?« »Weil Sie ein ungeschickter Lügner und ein noch schlechterer Schauspieler sind, Delgado«, antwortete Murray. »Ich glaube nicht, daß Ihnen wirklich etwas an unserem Stück liegt. Sie haben Sam Blizzard of fenbar davon überzeugt, daß Sie ein Genie sind, und Sie sind bestimmt talentiert genug, um selbst ein gu tes Stück zu schreiben. Aber Sie können sich darauf verlassen, daß Sie mich weder mit Drohungen noch durch Bestechung dazu bringen, daß ich mich Ihren Anordnungen bedingungslos unterwerfe, ohne neu
gierige Fragen zu stellen! Sie können Gerry sein He roin und Constant seine schmutzigen Bücher geben – vielleicht bilden diese beiden sich ein, Sie täten ihnen einen Gefallen, und sind Ihnen dafür dankbar. Aber ich lasse mich nicht von Ihnen hereinlegen! Solange Sie Ihre Tricks mit mir versuchen, ohne mir die Wahrheit zu sagen, muß ich selbst sehen, wie ich ihr auf die Spur komme. Ist das klar?« Delgado hatte aufmerksam zugehört. Dabei war sein Selbstbewußtsein offenbar wieder gestiegen, denn er lachte kurz, und Murray lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Sie sind sich Ihrer Sache nicht sehr sicher, was?« fragte er lächelnd. »Sie müssen so laut reden, um sich selbst Mut zu machen. Sie haben einfach Angst, daß hier etwas vorgehen könnte, das Sie nicht verstehen. Sie haben das Gefühl, irgendeinen wichtigen Hinweis versäumt zu haben und dieser Gedanke erschreckt Sie. Deshalb zerstören Sie etwas. Sie können es sich nicht leisten, einfach nach London zurückzufahren, aber indem Sie etwas zerstören, beweisen Sie sich selbst, daß Sie eigentlich doch stark sind. Und Sie versuchen mir die Schuld in die Schuhe zu schieben, weil Sie sich Ihr Versagen nicht eingestehen wollen.« »Immer die gleichen Methoden«, stellte Murray verächtlich fest. »Sie weichen meinen Fragen aus, Sie beleidigen mich und hoffen, daß ich mich von einem
Temperamentsausbruch ablenken lasse. Aber darauf falle ich nicht mehr herein. Sie haben irgend etwas vor und benützen das Theaterstück nur als Vorwand. Solange Sie diese Tatsache leugnen, werde ich sie zu beweisen versuchen.« »Sie sind hartnäckig«, sagte Delgado, »aber ich weiß, was ich tue, und Sie wissen es nicht. Ich brau che mich nicht zu fragen, wer von uns beiden in die sem Wettstreit unterliegen wird. Gut, wie Sie wollen. Sie werden einiges auszustehen haben, wenn Ihre Kollegen merken, daß Sie absichtlich ihre Arbeit be hindern. Ich kann es mir jedoch leisten, Sie und alle anderen fortzuschicken.« Er lächelte kurz. »Und Sie können sich nichts lei sten. Ich bin Ihre letzte Hoffnung, Murray.«
14
Mein ... mein Kopf? O Gott, mein Kopf! Murray befreite sich mühsam aus den Klauen eines Alptraums. Er hatte wütende Kopfschmerzen, die seinen Schädel zu sprengen drohten. Ihm war fast schlecht, und sein Hals tat weh, als er zu schlucken versuchte. Die ganze Mundhöhle fühlte sich pelzig an. Murray kombinierte diese Wahrnehmungen zu ei ner bestimmten Vorstellung und schrak auf. Ein Blick zeigte ihm, daß es noch früh sein mußte; durchs Fen ster drang graues Tageslicht in sein Zimmer. Er lag in einem zerwühlten Bett. Es roch nach kaltem Zigaret tenrauch, und Murray weigerte sich zunächst, den anderen Geruch zu erkennen, der fast noch stärker war. Er drehte sich um; nun ließ es sich nicht länger leugnen. Auf dem Nachttisch stand nicht nur ein übervoller Aschenbecher. Daneben lag ein umgefallenes Glas, das längst auf dem Fußboden zersplittert wäre, wenn es nicht von einer Zigarettenpackung aufgehalten worden wäre. Der Inhalt des Glases war aufs Bett und den Boden getropft. Murray brauchte nicht erst an der Flüssigkeit zu riechen, um zu wissen, daß es
Gin war; er sah die leere Flasche vor seinem Bett lie gen. Aber das ist nicht wahr. Gott, laß es nicht wahr sein! Murray richtete sich auf und sah eine zweite Fla sche unter dem Waschbecken stehen. Er setzte die Füße auf den Bettvorleger und schlug beide Hände vors Gesicht. Gestern abend ... was war gestern abend gesche hen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er stand auf, ging ans Waschbecken und hielt den Kopf unter das kalte Wasser. Als er etwas davon getrunken hat te, konnte er wieder klarer denken. »So«, sagte er laut, »ich glaube es nicht.« Das Ganze erinnerte ihn zu sehr an eine Bühnen dekoration. Gerry Hoarding hätte diesen Auftrag übernehmen können: Vermitteln Sie den Eindruck, der Bewohner dieses Raums sei ein Alkoholiker. Alles war geradezu bühnenwirksam aufgebaut. Hatte Delgado ihn diesen bösen Streich spielen las sen? Murray war davon überzeugt, auch am vergange nen Abend keinen Tropfen Alkohol angerührt zu ha ben. Er klammerte sich an diese Überzeugung, obwohl sein Gedächtnis ihn im Stich ließ. Nichts hätte ihn wie der dazu bringen können – weder Delgados Vorwürfe noch die Ressentiments seiner Kollegen. Nichts. Murray wußte jetzt, daß irgend jemand aus irgend einem Grund versucht hatte, diesen falschen Ein
druck in ihm zu erwecken. Eigenartigerweise war un terdessen nichts mehr von den Kopfschmerzen und der Übelkeit zu spüren, unter denen er zuvor gelitten hatte. Eine Illusion? Lächerlich, aber ... Er atmete erleichtert auf, als er merkte, daß selbst der schlechte Geschmack im Mund verschwunden war. Damit schied eine Möglichkeit aus, die er ge fürchtet hatte – daß jemand ihm den Alkohol intrave nös beigebracht haben könnte. Ein Traum? Nein, er konnte alles geträumt haben, nur die Ginflaschen und das Glas nicht. Dann fiel ihm etwas anderes ein; er hob seine Matratze hoch und stellte verblüfft fest, daß die Tonbandspulen, die er am Vorabend aus dem Fenster geworfen hatte, wie der an ihrem Platz waren. Auch das Drahtgewebe war intakt, und die Verbindung zwischen Matratze und Tonbandgerät bestand wieder. Murray sah auf seine Uhr. Noch nicht sieben. Er überlegte angestrengt. Ein Arzt, der eine Blutuntersu chung vornehmen konnte. Ja, das war die einzige Lö sung. Und wenn er dann sicher wußte, daß sein Kör per keinen Alkohol enthielt, konnte er ... Murray zog sich in fliegender Eile an und verließ sein Zimmer. Im gleichen Augenblick kam Valentine aus Zimmer Dreizehn; er schloß die Tür jedoch so rasch, daß Murray keine Gelegenheit hatte, einen Blick in das geheimnisvolle Zimmer zu werfen.
»Guten Morgen, Mister Douglas«, sagte Valentine. Murray murmelte einen Fluch und hastete weiter. »Mister Douglas!« rief Valentine ihm nach. »Woll ten Sie ausgehen?« »Was kümmert Sie das?« fragte Murray. »Ich möchte Ihnen nur mitteilen, daß das Tor um diese Zeit noch geschlossen ist, Sir.« Murray blieb stehen und drehte sich um. Er starrte Valentine an. »Dann öffnen Sie es gefälligst!« verlang te er. »Ich habe meine Anweisungen von Mister Bliz zard, Sir. Das Tor soll bis acht Uhr geschlossen blei ben. Und jetzt ist es noch nicht einmal sieben, nicht wahr?« »Sind wir hier im Gefängnis?« Valentine zuckte mit den Schultern. »Mister Bliz zard besteht darauf, Sir. Ich habe nicht nach seinen Gründen gefragt.« »Schön, das wird sich gleich herausstellen. In wel chem Zimmer schläft er?« »Ich glaube nicht, daß er gestört werden möchte, Sir. Er steht meistens erst spät auf ...« Murray holte tief Luft. »Blizzard!« brüllte er. »Bliz zard, wo stecken Sie?« Er hämmerte mit beiden Fäu sten an die nächste Tür. »Blizzard! Kommen Sie her aus!« »Scheren Sie sich zum Teufel!« antwortete Rett
Lathams Stimme Murray ging von einer Tür zur an deren und rief weiter nach Blizzard. Einer der Diener erschien und wollte wie Valentine protestieren. »Bleiben Sie mir vom Hals«, forderte Murray ihn auf, »sonst werfe ich Sie die Treppe hinunter, ver standen? Blizzard!« Eine der Türen wurde geöffnet. Sam Blizzard er schien im Schlafanzug auf der Schwelle. Er rieb sich verschlafen die Augen und gähnte. »Murray! Was soll das Geschrei?« »Sind wir hier im Gefängnis?« fragte Murray laut. »Sind Valentine und seine schwarzen Krähen unsere Gefängniswärter? Dieser Halunke versucht mir zu erzählen, er dürfe mir das Haupttor nicht aufschlie ßen!« »Was hat das mit mir zu tun?« erkundigte Blizzard sich aufgebracht. »Warum schreien Sie dann nach mir?« »Haben Sie Valentine also nicht befohlen, das Tor erst um acht Uhr zu öffnen?« Murray ballte die Fäu ste. »Großer Gott, natürlich nicht! Meinetwegen kann es immer offen sein. Was wollen Sie überhaupt jetzt schon außerhalb?« Murray ignorierte Blizzards Frage. Er wandte sich an Valentine. »Was haben Sie dazu zu sagen?« er kundigte er sich.
Valentine zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Tut mir leid, Mister Blizzard«, sagte er. »Ich hätte nicht gedacht, daß Mister Douglas Sie wecken würde. Da er sich so eigenartig benahm, hielt ich es für bes ser, ihn auf diese Weise davon abzuhalten, das Haus zu verlassen. Er fährt einen schnellen Wagen, und in dieser nervösen Verfassung ...« Die nächste Tür in Richtung Treppe wurde geöff net, und Delgado erschien in einem dunkelroten Schlafrock. Seine Haare waren gekämmt, und er wirkte keineswegs verschlafen. Valentine sprach nicht weiter. »Was soll die ganze Aufregung?« erkundigte Del gado sich gelassen. »Oh ... guten Morgen, Manuel.« Blizzard rieb sich das Kinn. »Ich bin noch nicht schlau daraus gewor den. Murray will fort, und Valentine hat ihm vorge schwindelt, er dürfe das Tor erst um acht Uhr öffnen. Angeblich soll ich den entsprechenden Befehl erteilt haben – aber ich weiß nichts davon.« Enttäuschung? Angst? Besorgnis? Irgend etwas zeigte sich flüchtig auf dem blassen Gesicht. Aber die Stimme blieb unverändert ruhig. »Valentine hat sich offenbar geirrt. Ich habe vorge schlagen, das Tor nachts zu schließen. Das Haus ent hält genügend Dinge, die Einbrecher anlocken könn ten – zum Beispiel die Alkoholvorräte der Bar.«
»Tut mir leid, Mister Delgado.« Valentine sah schuldbewußt zu Boden. »Ich hatte vergessen, daß Sie mir diese Anweisung gegeben haben.« »Schön, dann befehlen Sie ihm jetzt, daß er mich hinauslassen soll!« warf Murray ein. Delgado warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Sie scheinen erregt zu sein, Murray«, stellte er fest. »Was treibt Sie zu dieser unchristlichen Zeit aus dem Haus?« »Ich will ... Sam, merken Sie sich das, weil es später bestimmt wichtig ist ... ich will zu einem Arzt. Sie kennen den Grund dafür, Delgado.« »Ich kann mir keinen vorstellen«, murmelte Delga do, aber diesmal war sein Unbehagen noch deutlicher wahrnehmbar. »Verdammt noch mal, Murray!« Blizzard trat einen Schritt vor. »Warum haben Sie nicht gleich gesagt, daß Sie krank sind? Wir haben mit einem Arzt ver einbart, daß er sich notfalls um uns kümmert. Er kann in einer halben Stunde hier sein.« »Ein Arzt, den Delgado vorgeschlagen hat?« fragte Murray und schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Ich fahre jetzt weg und suche mir irgendwo einen Arzt. Und ich bin keineswegs krank, Sam. Delgado kann Ihnen erzählen, weshalb ich einen Arzt brauche. Wird das Tor geöffnet oder nicht?« »Sam, ich finde, daß Murray in diesem Zustand nicht ...«, begann Delgado leise.
»Auch recht!« Murray drehte sich wütend um. »Dann fahre ich eben mit dem Auto dagegen! Mein Daimler hält einiges aus ...« »Valentine!« knurrte Blizzard. »Machen Sie ihm das verdammte Tor auf. Ich will nichts mehr von die sem Unsinn hören. Wer hinaus will, darf jederzeit hinaus, verstanden? Und das ist mein Ernst, Manuel. Sie machen uns die Arbeit schon schwer genug, los, beeilen Sie sich, Valentine! Bleiben Sie nicht länger als unbedingt nötig fort, Murray. Wir haben keinen leichten Tag vor uns.« Er sah noch einmal zu Delgado hinüber und ver schwand in seinem Zimmer. Delgado runzelte die Stirn. Murray rechnete schon damit, daß der andere ihn aufzuhalten versuchen würde. Aber Delgado zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ab. Murray ging hinter Valentine her die Treppe hin unter.
15
Valentine blieb wie eine Statue am offenen Tor stehen und sah Murray nach, der nach rechts abbog und rasch davonfuhr. Murray mußte einige Meilen weit fahren, bevor er das nächste Dorf erreichte, das nur aus etwa zwanzig Häusern, einer Kirche, dem Pub und zwei Läden bestand. Im Vorgarten eines der Häuser arbeitete eine Frau. Murray trat auf die Brem se. »Entschuldigen Sie, aber können Sie mir sagen, ob es hier einen Arzt gibt?« rief er. »Ein Arzt!« wiederholte die Frau. »Ja, natürlich! Vier Häuser weiter auf der rechten Straßenseite.« Murray bedankte sich und fuhr wieder an. Inzwi schen hatte es zu nieseln begonnen, und das Nieseln hatte sich in einen Landregen verwandelt, bevor er das angegebene Haus erreichte. Murray achtete nicht darauf, sondern sprang aus dem Wagen und lief zur Haustür. Eine blasse ältere Frau öffnete auf sein Klingeln. »Ich muß den Doktor sprechen«, sagte Murray. »Es ist sehr dringend.« Die Frau runzelte die Stirn. »Oh! Doktor Cromarty frühstückt noch. Die Sprechstunde beginnt erst um ...«
»Das ist mir gleich! Ich muß ihn sofort sprechen«, drängte Murray. »Handelt es sich um einen Unfall?« »Nein. Bitte! Ich kann es Ihnen nicht erklären. Ich brauche nur einen Arzt. Und ich bezahle jedes Hono rar.« »Oh ... nun, kommen Sie lieber herein, Mister ... Mister ...?« »Douglas.« Die Haushälterin starrte ihn an. »Sind Sie etwa Murray Douglas?« »Richtig«, bestätigte er. »Kommen Sie herein, Mister Douglas! Das Warte zimmer ist dort drüben. Ich sage Doktor Cromarty gleich, daß Sie warten.« Sie eilte davon. Murray ging nicht ins Wartezimmer, sondern blieb im Flur stehen. Er überlegte, welchen plausiblen Grund er dem Arzt angeben sollte, aber be vor er zu einem Schluß gekommen war, erschien be reits ein grauhaariger Mann vor ihm, der sich rasch seine Brille aufsetzte, um ihn prüfend zu betrachten. »Mister Douglas!« sagte der Arzt. »Ah, ganz recht, jetzt erkenne ich Sie. Ich dachte schon, meine Haus hälterin habe nicht richtig gesehen. Hmm! Kommen Sie mit in die Praxis und erzählen Sie mir, was ich für Sie tun kann.« Murray folgte ihm. Dr. Cromarty nahm Platz und
bot ihm mit einer Handbewegung einen Stuhl an. »Nun, worum handelt es sich?« fragte er. »Doktor Cromarty, können Sie feststellen, ob mein Blut Alkohol enthält?« begann Murray vorsichtig. »Hmm, Sie sind zufällig an die richtige Adresse gekommen – obwohl das natürlich um diese Tages zeit ein etwas seltsamer Wunsch ist.« Cromarty warf ihm einen forschenden Blick zu. »Ich nehme derartige Untersuchungen meistens im Auftrag der Polizei vor, wenn Verdacht auf Trunkenheit am Steuer besteht.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Sie haben doch nicht etwa einen Unfall gehabt, Mister Douglas? Dann müßte ich ...« »Nein, nein, keineswegs«, beteuerte Murray. »Die Sache ist einfach zu erklären, aber ich will es versu chen. Ich probe mit dem Ensemble eines neuen Thea terstücks im Fieldfare House ...« »Ah! Wirklich schade, daß der Klub schließen muß te. Entschuldigen Sie! Weiter, bitte.« Dr. Cromarty lehnte sich zurück. Murray zögerte kurz. Eine halbe Lüge war hier be stimmt besser als eine ganze. »Dieser Job bedeutet mir viel, weil ich einige Zeit arbeitslos war«, fuhr er dann fort. »Ich war in einer Trinkerheilanstalt.« Cromarty zog die Augenbrauen hoch. »Falls der Verdacht aufkommt, ich hätte wieder zu trinken begonnen, verliere ich meine Rolle. Nun gibt
es in unserem Ensemble jemand, der sie mir ohnehin nicht gönnt, und er hat mir einen bösen Streich ge spielt. Ich bin heute morgen mit einer Ginflasche im Bett aufgewacht, und in meinem Zimmer stinkt es nach Fusel. Deshalb muß ich irgendwie beweisen, daß ich trotzdem nicht getrunken habe.« Cromarty schwieg nachdenklich. »Haben Sie das wirklich nicht?« fragte er dann. »Nein!« antwortete Murray leidenschaftlich. »Hmmm.« Cromarty schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wir können es ja versuchen, Mister Douglas. Aber Sie wissen natürlich, daß der Alkoholgehalt des Bluts seinen höchsten Stand etwa eine Stunde nach dem letzten Drink erreicht, und daß der Körper man cher Menschen den Alkohol verhältnismäßig schnell abbaut. Ein negativer Befund um diese Tageszeit braucht nicht allzuviel zu bedeuten.« »Ich bin seitdem noch nicht auf der Toilette gewe sen«, sagte Murray. Cromarty schüttelte nochmals den Kopf und erhob sich. »Nun, ich nehme die Untersuchung vor, Mister Douglas – aber ich kann nichts versprechen.« »Negativ, Mister Douglas.« Murray hatte das Gefühl, unendlich lange gewartet zu haben. Als der Arzt aus seinem Labor zurückkam und ihm das Untersuchungsergebnis mitteilte, schrak
er so zusammen, daß ihm die Zigarette aus der Hand fiel. Er bückte sich und hob sie wieder auf. »Gott sei Dank«, flüsterte er. »Das Ergebnis ist natürlich nicht hundertprozen tig«, fügte Dr. Cromarty hinzu und nahm an seinem Schreibtisch Platz. »Ich nehme an, daß Sie ein Attest für den Produzenten haben wollen?« »Ja, bitte.« »Gut.« Dr. Cromarty schraubte seinen Füllfederhal ter auf. »Ich schreibe am besten, daß Sie um halb acht zu mir gekommen sind, daß ich auf Ihren Wunsch ei ne Alkoholuntersuchung vorgenommen habe, und daß das Untersuchungsergebnis negativ war.« Er schrieb rasch, steckte das Attest in einen Um schlag und gab es Murray, der es in seine Brieftasche legte. »Was bin ich ...?« begann er, aber Dr. Cromarty hob abwehrend die Hand. »Ich habe immer Mitleid mit Menschen in Ihrer Lage, Mister Douglas. Einer meiner besten Freunde war Alkoholiker, und er hat sich nicht wie Sie davon freimachen können. Die Untersuchung war kosten los.« Murray bedankte sich und eilte hinaus. Die anderen saßen noch beim Frühstück, als er zu rückkam. Murray stellte fest, daß im Speisesaal eine
gespannte Atmosphäre herrschte. Blizzard und Del gado saßen oben am Tisch und stritten sich halblaut; Ida und Heather, die ihnen am nächsten saßen, schwiegen und horchten offenbar angestrengt; Adri an Gardner, Rett Latham und Al Wilkinson saßen mit mürrischen Gesichtern am anderen Ende. Als Murray den Speisesaal betrat, drehten sich alle nach ihm um – selbst Delgado. Er hielt Dr. Cromartys Attest in der Hand und legte es vor Sam Blizzard auf den Tisch. »Okay«, sagte er laut, »das ist mein Beweis.« Blizzard las das Attest. Murray sah inzwischen zu Delgado hinüber. Der Autor lächelte spöttisch, und Murrays Selbstvertrauen verflog. Er wußte plötzlich, was geschehen sein mußte. »Das ist alles gut und schön«, stellte Blizzard fest, »aber haben Sie deswegen den Krach geschlagen, Murray?« Murray sah zu Valentine hinüber, der unbeweglich am Büfett stand. Dann holte er tief Luft und sagte langsam: »Heute morgen habe ich eine leere Ginfla sche, ein umgefallenes Glas und eine volle Flasche in meinem Zimmer gefunden. Das war ein gemeiner Trick, und ich möchte wissen, wer dafür verantwort lich ist.« Blizzard runzelte die Stirn. »Aha!« rief er aus. »Sie wußten nicht, ob es sich wirklich um einen Trick
handelte, und haben sich deshalb untersuchen las sen?« Er deutete auf das Attest. »Ich bin ganz Ihrer Meinung – das war ein gemeiner Trick.« Aber Murray beobachtete ihn nicht. Er behielt Del gado im Auge. Trotzdem merkte er nicht, daß der Autor dem Butler ein Zeichen gab. Vielleicht hatten die beiden sich irgendwie anders verabredet. Jeden falls trat Valentine vor und sagte: »Entschuldigen Sie, Mister Blizzard, aber ich glau be eher, daß Mister Douglas einen sehr lebhaften Alp traum gehabt hat. Ich habe sein Zimmer selbst aufge räumt und nichts Derartiges gefunden.« Delgado gestattete sich ein leichtes Lächeln, das of fenbar nur für Murray bestimmt war. Bevor Murray jedoch widersprechen konnte, erklang eine andere Stimme hinter ihm. »Das ist eine verdammte Lüge!« Die Anwesenden drehten sich um. Gerry Hoarding war unbemerkt hereingekommen. »Ich habe alles gehört«, stellte Gerry fest, »und ich weiß, daß Valentine lügt. Ich bin heute morgen in Murrays Zimmer gewesen, um mich bei ihm zu ... nun, das ist jetzt unwichtig. Ich wollte jedenfalls zu ihm, habe aber keine Antwort auf mein Klopfen be kommen, obwohl im Zimmer etwas zu hören war. Deshalb habe ich den Korridor von meinem Zimmer aus beobachtet und Valentine mit einigen Ginfla
schen unter dem Arm aus der Tür kommen sehen. Das weiß ich ganz bestimmt!« Murray atmete erleichtert auf. »Valentine?« fragte Blizzard scharf. Der Butler war sehr blaß geworden. »Ich muß mich entschuldigen, Sir. Ich bin mir darüber im klaren, daß Mister Douglas unter einer unglücklichen Veranla gung leidet – das hat er mir am Tag seiner Ankunft selbst erzählt. Ich kann nur sagen, daß ich besonders diskret sein wollte.« »Sam, ich glaube, daß wir uns privat unterhalten müssen«, meinte Delgado und schob seinen Stuhl zu rück. »Bleiben Sie sitzen!« brüllte Murray ihn an. »Wir diskutieren hier in aller Öffentlichkeit. Sam, hören Sie zu? Ich behaupte, daß Delgado die Flaschen in mei nem Zimmer verteilt hat – entweder selbst oder mit Valentines Hilfe. Als ich zu einem Arzt gefahren bin, wollte er zurückweichen und hat trotzdem gehofft, ich würde mich zum Narren machen und den Ein druck erwecken, ich litte an Säuferwahn. Das wäre ihm auch geglückt, wenn Gerry mich nicht hätte be suchen wollen. Habe ich recht?« Murray glaubte zunächst, Blizzard werde sich von seinen Argumenten überzeugen lassen. Aber der Pro duzent war so von Delgados Persönlichkeit hypnoti siert, daß er bei seiner ursprünglichen Meinung blieb.
»Douglas ist überdreht«, behauptete Delgado. »Dieser ungerechtfertigte Angriff überrascht mich keineswegs. Offenbar kann er mich nicht mehr aus stehen, seitdem ich gestern vorgeschlagen habe, einen neuen Anfang mit dem Stück zu machen. Vielleicht hat er Angst vor der Arbeit.« »Von Ihnen lasse ich mich nicht beleidigen!« knurr te Murray. »Jedenfalls steht fest, daß jemand den Gin in mein Zimmer geschmuggelt hat. Das Zeug ist nicht von selbst dort aufgetaucht.« »Nein, natürlich nicht. Aber ich nehme an, daß Sie uns diese kleine Komödie vorspielen, um Sam zu be eindrucken.« Diesmal widersprach selbst Blizzard. »Nein, Ma nuel, das kann ich nicht glauben. Aber ich will hier keine Hexenjagd veranstalten.« Er stand auf. »Kom men Sie, wir müssen unter vier Augen darüber spre chen. Murray, Sie bleiben hier und trinken eine Tasse Kaffee, um sich zu beruhigen.« »Aber ...« »Tun Sie, was ich sage. Ich verstehe Ihre Erregung, aber im Augenblick werde ich aus Ihren Behauptun gen nicht recht schlau. Keine Angst, ich komme der Sache noch auf den Grund, darauf können Sie sich verlassen!«
16
»Das ist alles Unsinn, glaube ich.« Rett Latham mach te eine wegwerfende Handbewegung. »Meiner Über zeugung nach hat Murray sich gestern abend in sei nem Zimmer die Nase begossen. Und heute morgen hatte er plötzlich Gewissensbisse.« »Trottel!« sagte Ida scharf. »Kapieren Sie wirklich nicht, daß er deshalb zu einem Arzt gefahren ist? Sam Blizzard hat ein Attest in der Tasche, in dem bestätigt wird, daß Murray nichts getrunken haben kann.« »Aber was nützt die Untersuchung nach so langer Zeit?« warf Al Wilkinson ein. »Manche bauen den Alkohol schneller ab, und ein alter Säufer ist wahr scheinlich schneller als die meisten anderen.« »Ich glaube Murray«, stellte Heather fest. »Delgado versucht zu beweisen, daß Murray die Sache selbst inszeniert hat. Aber warum sollte er das tun?« »Diese Streiterei geht mir auf die Nerven«, behaup tete Constant mürrisch. »Warum sollte Delgado sich die Mühe machen, Murray diesen Streich zu spielen? Das ist eine viel bessere Frage.« »Und ich kann sie beantworten«, erklärte Murray ihm. »Okay, ich höre.« Constant verschränkte die Arme. »Gut, fangen wir an.« Murray holte tief Luft. »Sie
haben gestern selbst zugegeben, daß Sie nicht wirk lich glauben, Delgado habe die Probe meinetwegen abgebrochen, nicht wahr?« Als Constant zögernd nickte, fuhr Murray fort: »Er hat eine persönliche Aversion gegen mich, weil ich über die Apparate in unserem Zimmer gestolpert bin, deren Zweck er nicht erklären kann oder will. Ich habe zum Beispiel immer wieder die Drähte aus der Matratze gerissen, aber ...« Er machte eine Pause, weil er glaubte, Hea ther wolle etwas sagen, aber Adrian Gardner ergriff diese Gelegenheit, um auszurufen: »Doch nicht schon wieder die verdammten Ton bandgeräte! Das wird allmählich langweilig, Mur ray.« »Richtig«, stimmte Jess Aumen zu. Er hatte bisher am Flügel gesessen und ›stumm‹ geübt; nun stand er auf und näherte sich der Gruppe. »Es handelt sich nicht nur um die Tonbänder«, stellte Murray fest. »Auch die Fernsehapparate sind umgebaut worden, und in Zimmer Dreizehn stehen irgendwelche geheimnisvollen Geräte. Lester, wußten Sie, daß hier über der Bühne ein Netz aus Gitterstä ben angebracht ist? Sie können sich selbst davon überzeugen. Und die Bühne liegt unter Zimmer Drei zehn.« Der Beleuchter schüttelte den Kopf. »Sie haben ge hört, was ich davon halte, Murray. Lauter pseudo
wissenschaftliches Zeug. Die ganze Aufregung lohnt sich wirklich nicht.« »Delgado ist anderer Meinung«, erklärte Murray ihm. »Er ist gestern hier aufgetaucht, als ich mir das Gitter angesehen habe, und er hat ...« »Er hat Ihnen einige Grobheiten gesagt, auf die Sie jetzt auf diese Weise reagieren?« unterbrach Rett Latham ihn. »Murray, das ist alles nur Geschwätz. Sie haben bisher nichts bewiesen, und ich habe die Sache allmählich satt.« »Hört! Hört!« stimmte Ade zu und sah demonstra tiv auf seine Uhr. »Sam und Delgado sollten aufhö ren, Murrays Märchen zu diskutieren, damit wir end lich weitermachen können.« »Halt den Mund, Ade!« forderte Gerry Hoarding ihn auf. »Wie kommen Sie dazu, Murrays Erzählung als Märchen zu bezeichnen? Glauben Sie denn, daß ihm das Spaß gemacht hat?« »Warum Sie auf seiner Seite stehen, ist wohl klar, was?« Adrian lächelte spöttisch. »Womit hat Delgado Sie gekauft, Ade?« fragte Ger ry leise. Er ballte dabei die Fäuste, als wolle er sich auf den anderen stürzen. »Mit vielen hübschen Kna ben?« »Verdammt noch mal, haltet endlich die Klappe!« warf Jess Aumen wütend ein. »Wenn ihr so weiter macht, sind wir bald alle irrenhausreif!«
Murray sah ein, daß Jess recht hatte; er zuckte mit den Schultern, ging nach hinten und ließ sich in der vorletzten Reihe auf einen Platz fallen. Wenig später tauchte Gerry neben ihm auf. »Menschenskind, wie haben Sie es nur fertigge bracht, Ade nicht den Schädel einzuschlagen?« fragte der junge Bühnenbildner. »Das weiß ich auch nicht«, gab Murray zu. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht will ich Delgado nur nicht den Gefallen tun, mit den anderen Streit anzu fangen.« »Hmmm.« Gerry zündete sich eine Zigarette an. »Warum tut Delgado das alles? Um sein Stück reali stischer zu machen? Das ist doch verrückt!« »Wahrscheinlich ist er verrückt«, murmelte Mur ray. »Aber das sind wir alle, weil wir uns mit ihm ab geben.« Dann öffnete sich die Tür hinter ihnen. Delgado und Sam Blizzard marschierten auf die Bühne zu. Der Autor wirkte etwas angegriffen. »Sam hat wider Erwarten einen guten Kampf gelie fert«, flüsterte Murray Gerry zu. »Sehen Sie sich Del gado an!« Gerry nickte. »Glauben Sie, daß er ihn dazu ge bracht hat, einen Rückzieher zu machen?« »Nein, das bezweifle ich sehr«, antwortete Murray.
Aber Blizzard hatte es tatsächlich geschafft. Er brauchte sich nicht bemerkbar zu machen, als er auf die Bühne kletterte. Einige Sekunden lang herrschte tiefes Schweigen, während Delgado zu sei nem Stuhl im Hintergrund der Bühne ging. »Ich habe lange mit Manuel gesprochen«, begann Blizzard. »Sie wissen alle, was Murray heute morgen passiert ist – ja? Nun, ich kann nicht feststellen, wer ihm diesen gemeinen Streich gespielt hat, aber da es vermutlich einer der Anwesenden war, möchte ich eindringlich vor einer Wiederholung warnen. Sollte es dazu kommen, fliegt der Urheber auf der Stelle, und ich sorge dafür, daß seine Mitgliedschaft im Schauspielerverband ebenfalls endet. Dann bekommt er hierzulande nie wieder eine Rolle. Ist das klar?« Er sah sich um, nickte zufrieden und wandte sich an Murray. »Genügt Ihnen das, Murray?« »Das braucht den Urheber nicht zu kümmern«, stellte Murray fest. »Er ist kein Mitglied des Schau spielerverbands.« »Halten Sie doch endlich den Mund!« flüsterte Constant ihm zu. »Murray, ich weiß, was Sie damit meinen«, erwi derte Blizzard, »aber es wäre vielleicht besser, wenn ich vorgäbe, nichts gehört zu haben.« »Hört, hört!« sagte Rett Latham. »Gut, machen wir weiter. Ich habe mit Manuel
auch über den bisher erarbeiteten Text gesprochen. Manuel?« Der Autor erhob sich zögernd. Offenbar hatte er sich Blizzard fügen müssen und war nur widerwillig bereit, seine Niederlage einzugestehen. »Ich gebe zu, daß in dem existierenden Manuskript viel Arbeit steckt, und selbst wenn einer von Ihnen weniger ge leistet hat, muß deshalb nicht alles schlecht sein. Des halb habe ich mit Sam vereinbart, daß wir auf dieser Grundlage weiterarbeiten, wenn Sie sich alle mehr Mühe als bisher geben. Aber Ihre Leistungen dürfen nicht nur gut, sie müssen verdammt gut sein. Klar?« Die Zuhörer atmeten erleichtert auf. »Warum haben Sie das nicht gleich gestern gesagt?« wollte Gerry wissen. Er deutete auf seine zerstörten Entwürfe. »Alles vergeudet, nur weil Sie einen Wutan fall bekommen haben – Gott, das macht mich krank!« »Das tut mir leid, Mister Hoarding«, sagte Delgado nach einer Pause. Murray starrte ihn an. Diese Entschuldigung paßte nicht zu Delgado, der es sonst stets irgendwie fertig brachte andere als schuldig hinzustellen. Das bedeu tete ... »Gut, wir machen weiter!« rief Blizzard. »Auf die Plätze! Ade, ich möchte, daß Sie und Murray die bei den Stellen wiederholen, die mir gestern nicht gefal len haben. Murray, hören Sie mich?«
Murray schrak aus seinen Überlegungen auf. Er brachte den Gedankengang jedoch zu Ende, während er zur Bühne ging. Das bedeutet, daß Delgado nichts mehr an unserem Stück liegt. Er gibt hier nach, um seine eigentlichen Ab sichten zu tarnen. Welche Absichten?
17
»Je länger man darüber nachdenkt«, erzählte Murray der Luft, »desto klarer wird einem, daß hier einiges faul ist. Aber ...« Er sprach nicht weiter. Er wußte, daß er sich allein im Zimmer befand, und wenn er Selbstgespräche zu führen begann, würde seine Lage sich noch ver schlimmern. Er zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch trieb zum Fernsehapparat hinüber, der mit dem Bildschirm zur Wand stand. Vielleicht war es unsinnig, aber Murray hatte das Fernsehgerät umgedreht. Seitdem Lester festgestellt hatte, daß der Apparat ständig unter Strom stand, bildete Murray sich ein, die Mattscheibe sei eine Art Auge, das ihn beobachtete. Werde ich verrückt? Bin ich schon verrückt? Murray zwang sich dazu, diese Frage ernsthaft zu untersuchen und kam zu dem gleichen Ergebnis wie zuvor: irgend jemand war hier nicht ganz normal, und dieser Jemand schien Delgado zu sein. Murray lief es bei dem Gedanken an diesen Mann kalt über den Rücken – aber er hatte trotzdem nicht die Ab sicht, alles im Stich zu lassen, um nicht mehr mit ihm zusammenkommen zu müssen. Jetzt versuchte er seine Gedanken zu ordnen; er er
innerte sich daran, wie alles begonnen hatte. Zuerst war er nur mißtrauisch gewesen, weil ihm diese Idee absurd erschienen war, das Ensemble unter einem Dach zu versammeln, um ein Theaterstück ausbrüten zu lassen. Andererseits hatte Delgado einen guten Ruf als erfolgreicher Bühnenautor; Sam Blizzard war der Meinung, dieser Plan lasse sich verwirklichen, und Murray Douglas brauchte jeden Job, den sein Agent ihm damals verschaffen konnte. Dieses Argument traf noch immer zu. Das vorheri ge ebenfalls. Murray sah jetzt auch ein, daß er Sam Blizzard unterschätzt hatte; der Produzent ließ sich nicht leicht etwas vormachen, und er wußte genau, welcher Unterschied zwischen Wutanfällen und ech ten Krisen bestand. Die heutige Probe, in der sie die zweite Szene erarbeitet hatten, bewies zur Genüge, daß Blizzard Wert auf ein gutes Stück legte. Murray vermutete allerdings, daß Delgado keinen Wert darauf legte; er konnte diesen Verdacht aller dings nicht beweisen. Warum litt nur er unter diesem krankhaften Miß trauen? Alle anderen schienen Delgado zu akzeptie ren, wie er war. Lester Harkham war beispielsweise bereit, die elektronischen Geräte als pseudowissen schaftliche Spielerei abzutun, ohne sich darüber Ge danken zu machen. Blizzard schien Delgado nur für einen besonders temperamentvollen Autor zu halten,
dem man mit Nachsicht begegnen müsse. Gerry Ho arding hatte sich vorläufig Murrays Auffassung an geschlossen, aber daran war vor allem die Erleichte rung über den verhinderten Selbstmord schuld; Ger ry sah in Murray seinen Lebensretter, dem er sich zu Dank verpflichtet fühlte. Auch diese Freundlichkeit konnte jederzeit wieder ins Gegenteil umschlagen. Constant war am vergangenen Abend fast zugänglich gewesen, um dann heute zu seiner charakteristischen Intoleranz zurückzukehren. Nein, Murrays Verdacht beruhte auf keinem ein deutigen Beweis. Es handelte sich bestenfalls um eine Aufzählung von Anomalien. An erster Stelle war das seltsame Benehmen der Gruppe zu nennen. Murray hatte vorhin an das Fern sehgerät gedacht; dabei war ihm eingefallen, daß er den Apparat seit seiner Ankunft noch kein einzigesmal ein geschaltet hatte – nicht einmal, um Nachrichten zu empfangen. Er hatte einen Grund dafür: die geheim nisvollen Veränderungen im Innern des Geräts er schreckten ihn. Aber das erklärte noch lange nicht, weshalb keiner der anderen bisher von einem Fernseh programm gesprochen hatte, das er hier gesehen hatte. Und es gab in diesem Haus keine Zeitungen. Soviel Murray wußte, hatte noch niemand eine Zeitung ver langt. Niemand las etwas beim Frühstück. Warum ei gentlich nicht?
Telefongespräche. Vielleicht war das Ensemble ab sichtlich so zusammengestellt worden, daß die Mit glieder keine häuslichen Bindungen hatten. Nun, das war halbwegs verständlich; es gehörte zu Delgados Plan, die Schauspieler unter dem gleichen Dach zu versammeln. Es hätte nur gestört, wenn einige von ihnen abends nach Hause gefahren oder morgens aus irgendwelchen Gründen zu spät zu den Proben ge kommen wären. Im Grunde genommen hatte es vielleicht wirklich nichts zu bedeuten, daß alle Anwesenden unverheira tet oder geschieden waren oder von ihrer Frau ge trennt lebten, wie es bei Murray der Fall war. Aber das hieß noch lange nicht, daß deshalb alle persönli chen Bindungen zu anderen Menschen aufgehoben waren. Weshalb hatte Murray dann noch nie gehört, daß hier jemand ans Telefon gerufen worden war? Auch in seinem Fall – warum hatte Roger Grady nicht angerufen, um sich zu erkundigen, wie die Din ge standen? Murray hatte im Augenblick keine engen Freunde, weil er es seit seiner Entlassung aus dem Sanatorium vermieden hatte, unter die Leute zu ge hen. Aber war das ein Grund dafür, daß auch die an deren keine Telefongespräche mit Freunden führten? Keine Briefe. In der Halle neben Blizzards Büro war ein Schwarzes Brett angebracht. Murray konnte sich nicht erinnern, jemals gesehen zu haben, daß jemand
dort stehenblieb, um seine Post abzuholen. Er hatte es selbst nie getan – er hatte im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick auf das Schwarze Brett geworfen, aber da er keine Post erwartete, war ihm die Bedeu tung dieser Tatsache erst jetzt klar geworden. Draußen auf dem Parkplatz standen fünf Autos – neben seinem Daimler auch Sams Bentley, Idas feuer rote Corvette, Lesters Rover und ein Ford, der seiner Meinung nach Jess Aumen gehörte. Die anderen hat ten entweder keine Autos oder hatten sie zu Hause gelassen, weil sie annahmen, daß sie hier nicht viel Gelegenheit zu Autofahrten haben würden. Trotz dem waren fünf Wagen mehr als genug! Aber bisher war niemand auf den Gedanken gekommen, eine Fahrt nach London vorzuschlagen, um dort ins Thea ter, auf eine Party oder zum Essen zu gehen. Die Mit glieder des Ensembles hatten es sich widerspruchslos angewöhnt, regelmäßig zu den Mahlzeiten zu kom men, abends im Aufenthaltsraum zu sitzen und sich ganz allgemein so ruhig und zurückhaltend zu be nehmen, als seien sie bereits ältliche Leute, die ihren Lebensabend in einem vornehmen Altenheim ver brachten. Murray schlug mit der flachen Hand auf die Lehne seines Sessels und sprang auf. Nein, das war gerade zu lächerlich! Wer hatte es fertiggebracht, ein Dut zend temperamentvoller Theaterleute zu zähmen
und ihnen diesen geruhsamen Tagesablauf als erstre benswert hinzustellen? Oh, es stimmte natürlich, daß Valentine und die anderen unheimlichen Diener ständig um das leibli che Wohl der Gäste besorgt waren, was eine ent spannte Atmosphäre förderte, weil es keine kleinen Probleme zu bewältigen gab. Niemand brauchte sich um das Waschen seiner Wäsche zu kümmern, nie mand brauchte das Haus zu verlassen, um beispiels weise Zigaretten zu holen. Für alles wurde wie in ei nem erstklassigen Hotel gesorgt. Das Essen war her vorragend, die Zimmer waren gemütlich, die Bedie nung ließ nichts zu wünschen übrig. Und trotzdem war irgend etwas faul an der ganzen Sache. Murray ging zwischen Bett und Tür auf und ab. Endlich! Nun hatte er seine schlimmste Befürchtung analysiert, die allerdings am unbestimmbarsten war. Er hatte so lange dazu gebraucht, weil sie eben so va ge war. Nun konnte er seine Liste beliebig verlän gern. Morgen war Samstag, und nach der heutigen Probe hatte niemand davon gesprochen, daß sie übers Wochenende wie bisher weiterarbeiten wür den. Auch etwas anderes war entschieden merkwürdig. Murray erinnerte sich an seinen Streifzug durch den Park und die nähere Umgebung des Hauses. Er hatte am Schwimmbecken einen Schuppen mit allen mögli
chen Sportgeräten entdeckt. Eigentlich wäre zu er warten gewesen, daß junge Männer wie Al und Rett sich dafür interessieren würden. Das Wetter war an manchen Tagen kühl und regnerisch gewesen, aber trotzdem nicht so schlecht, daß sie alle ständig im Haus hätten hocken müssen. Hinter dem Hauptge bäude lagen Tennisplätze, nicht wahr? Das Schwimmbecken hätte sich leicht füllen lassen. Drau ßen herrschte vielleicht kein ideales Badewetter, aber schließlich war es auch nicht Winter. Niemand verließ das Haus zu Spaziergängen So viel Murray wußte, war außer ihm und Heather kei ner der Anwesenden seit dein ersten Tag außerhalb des Grundstücks gewesen. Warum? Bei dem Gedanken an Heather fiel Murray noch etwas anderes ein – sie, Cherry Bell, die kaum zählte, weil sie jeden Abend für Delgado schreiben mußte, und Ida waren die einzigen Frauen in diesem Haus. Allerdings wußte jeder, was mit Ida los war. Aber Heather war wirklich sehr hübsch. Murray hatte sei ne eigenen Gründe, sich nicht um sie zu bemühen; Ade hatte ebenfalls welche, und Gerry war wie alle Rauschgiftsüchtigen kaum an Mädchen interessiert. Trotzdem blieben Rett, Al, Jess Aumen und Lester Harkham übrig – Lester war fast doppelt so alt wie Heather, aber er besaß einen gewissen Ruf als Lady
killer. Auch Sam Blizzard kam in Frage; schließlich hatte er schon drei – oder waren es vier? – Ehen hin ter sich. Ganz zu schweigen von Constant, der hinter jedem hübschen Mädchen hergewesen war, als Mur ray und er noch zum gleichen Ensemble gehört hat ten. Also kein Mangel an passenden Männern. Wegen ihres auffälligen Desinteresses war Murray jedoch zu der Überzeugung gekommen, Heather sei als Köder für Ida vorgesehen, wie Gerry sein Heroin bekom men hatte. Constant war mit seinen pornographi schen Büchern glücklich, und andere hatten vielleicht Dinge bekommen, von denen Murray nichts wußte. Murray erinnerte sich daran, was Gerry am glei chen Morgen Ade vorgeworfen hatte. »Womit hat Delgado Sie gekauft, Ade?« hatte der junge Bühnen bildner gefragt. »Mit vielen hübschen Knaben?« Murray schüttelte deprimiert den Kopf. Alle diese Szenen hätten geradewegs aus einem Theaterstück von Delgado stammen können. Auf der Bühne fand man sie vielleicht sogar wirkungsvoll; in Wirklichkeit war es schrecklich, sie erleben zu müssen und dabei zu wissen, daß man nicht automatisch in eine andere Welt zurückkehren konnte, sobald der Vorhang gefal len war – in eine andere Welt, in der es Freundschaf ten und gemeinsame Interessen gab. Er blieb abrupt stehen und starrte das Telefon auf
dem Nachttisch an. Es hatte seit seiner Ankunft nur einmal geklingelt, als Valentine ihn an die Zeit erin nert hatte. Wer war dieser Valentine überhaupt? Seine Versu che, den Eindruck zu erwecken, Blizzard habe ihn angestellt, waren in Murrays Augen längst fehlge schlagen. Der Mann stand in enger Verbindung mit Delgado; vielleicht schon seit Jahren. War Blizzard sich darüber im klaren – oder bildete der Produzent sich noch immer ein, er habe Valentine selbst ent deckt und als Butler angestellt? Und wie war es über haupt dazu gekommen? Auf Delgados Empfehlung hin? Das wäre zu plump gewesen ... Murray ballte die Fäuste. Er spürte, daß sein Herz wie rasend schlug. Aber er durfte sich von dieser Sa che nicht unterkriegen lassen, sonst landete er noch im Irrenhaus. Er war entschlossen, seine Befürchtun gen entweder zu widerlegen oder zu bestätigen, als er jetzt ans Telefon ging und den Hörer abnahm. Eine Stimme meldete sich. Diesmal war nicht Va lentine, sondern einer der Diener am Apparat. »Ja, Mister Douglas?« »Ich möchte ein Gespräch nach London anmel den.« Murray zog eine Schublade auf und nahm sein Notizbuch heraus. Er schlug Roger Gradys Privat nummer nach. Als er sie durchgegeben hatte, antwortete der Die
ner: »Sehr wohl, Sir. Ich verbinde Sie, sobald der Teilnehmer sich meldet.« Hoffentlich, dachte Murray und legte wortlos auf. Seine Zigarette war unbeachtet im Aschenbecher verglimmt. Er zündete sich eine neue an und merkte dabei, daß seine Hände zitterten. Wenn keine Verbindung zustande kommt? Am besten schreibe ich dann einen Brief – nein, zwei Briefe. Ich muß irgendwo Briefmarken haben. Einen soll Valentine aufge ben, den anderen stecke ich selbst in den nächsten Briefka sten; Roger soll mich dann anrufen und mir sagen, ob er beide Briefe bekommen hat ... Eine verrückte Situation! Einen Augenblick lang zweifelte Murray an seiner Zurechnungsfähigkeit; er hatte sich im Sanatorium ähnlich gefühlt, als er unter dem Alkoholentzug litt und phantastische Pläne schmiedete, wie er eine Flasche in sein Zimmer schmuggeln könnte. Aber darüber war er zum Glück hinweg. Irgendwie war es ihm gelungen, ein neues Gleichgewicht zu finden. Nun fürchtete er die Auswir kungen eines einzigen Drinks zu sehr, um dem gele gentlichen Wunsch nachzugeben, der ihn jetzt wieder quälte. Aber solange er die Folgen bedachte, war er vor dieser Versuchung sicher. Und seitdem Delgado ihm diesen gemeinen Streich gespielt hatte, war Murrays Angst vor den Folgen deutlich gestiegen.
Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. »Roger?« »Tut mir leid, Mister Douglas, unter der angegebe nen Nummer meldet sich niemand.« Lügner – Murray sah auf seine Armbanduhr. Vier tel vor elf. Nein, es war durchaus möglich, daß Roger um diese Zeit nicht zu Hause war. Murray wußte, daß er unwiderlegbare Beweise brauchte, bevor er annehmen durfte, daß er absichtlich behindert wur de. »Schon gut, vielen Dank«, sagte er ausdruckslos und legte auf. Was nun? Sollte er den Brief schreiben? Ein Brief würde natürlich erst am Montag ankommen. Nein, besser war ein zweiter Versuch per Telefon. Roger war kein Frühaufsteher. Wenn Murray ihn in etwa einer Stunde anrief, brauchte er ... Jemand klopfte an die Tür. Murray starrte sie an, und seine Stimme klang ungewohnt heiser, als er fragte: »Ja, wer ist da?«
18
Die Tür wurde geöffnet. Heather stand auf der Schwelle. Sie trug Hosen und eine weiße Nylonbluse. Sie sah unglaublich jung aus, weil sie auf alles Make up verzichtet hatte. »Murray?« sagte sie unsicher. »Störe ich?« »Nein, um Gottes willen. Kommen Sie herein!« Er hoffte nur, daß seine Erleichterung sich nicht allzu deutlich in seiner Stimme bemerkbar machte. Sie schloß die Tür hinter sich und sah zu Murray auf. »Ich ... äh ... ich wollte Sie um Rat fragen«, erklär te sie ihm. »Ich habe Vertrauen zu Ihnen, und ich muß mit irgend jemand darüber sprechen.« Opa, dachte Murray enttäuscht. Ich bin erst zwei unddreißig, aber jetzt kommen die Mädchen schon, um sich bei mir gute Ratschläge zu holen. Er ließ sich jedoch nichts anmerken, als er Heather einen Sessel anbot und seine Zigarette ausdrückte. Sie nahm Platz, zog ein Knie hoch, faltete die Hän de darum und sprach mit gekünstelter Ungezwun genheit, als wolle Sie es vermeiden, gleich über ihr eigentliches Problem zu sprechen. »Nun, heute ist es besser gegangen, was? Ich kann mir vorstellen, daß Sie darüber erleichtert sind.« »Im Gegensatz zu Ihnen.« Murray klappte sein Zi
garettenetui auf, bot Heather eine Zigarette an und suchte nach seinem Feuerzeug. Als sie sich vorbeug te, um ihre Zigarette anzuzünden, schien ihr erst klar zu werden, was Murray eben gesagt hatte. Sie richtete sich auf. »Was meinen Sie damit?« fragte sie und warf ihm einen nervösen Blick zu. »Nicht viel. Es ist schließlich nur menschlich, daß Sie gehofft haben, Sie würden bei einem neuen An fang eine Chance bekommen, anstatt immer in der letzten Reihe sitzen oder Gerry helfen zu müssen.« »Das klingt schrecklich, wie Sie es sagen«, meinte Heather nach einer Pause. »Tut mir leid, wenn Sie diesen Eindruck von mir haben.« »War das nicht schon ein Teil des Problems, das Sie mit mir besprechen wollten?« erkundigte Murray sich. »Oh! Ja, Sie haben eigentlich recht.« Heather sah ihm nicht ins Gesicht; statt dessen betrachtete sie den umgedrehten Fernsehapparat, als hätte sie am lieb sten gefragt, warum die Mattscheibe zur Wand zeig te. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, Murray. Ich bin hier ein fünftes Rad am Wagen. Zuerst war das nicht weiter wichtig. Ich dachte ... nun, das Ganze war ein ausgesprochener Glücksfall für mich, auch wenn ich keine Rolle bekomme und nicht in London auftreten darf. Immerhin ist die Gage hier doppelt so
hoch wie in Southampton, und ich lerne allein da durch, daß ich Delgado, Sam Blizzard und Sie bei der Arbeit beobachte. Aber mein anfänglicher Optimis mus hat nicht lange vorgehalten. Die ganze Sache kommt mir so ... so geplant vor.« Murray starrte sie an. »Was soll das heißen? Wie kommen Sie darauf?« »Das weiß ich selbst nicht recht.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Mir ist nur aufgefallen, daß Sam sich nicht um mich kümmert. Ich meine, er hat mich doch engagiert, er bezahlt mich doch nicht aus Men schenfreundlichkeit, aber bisher hat er kaum etwas zu mir gesagt und nicht einmal geschimpft, wenn ich mich verdrückt habe. Und Sie sind der einzige, der sich irgendwie dazu geäußert hat. Sonst scheint es niemand aufgefallen zu sein. Ida hat allerdings ...« Sie sprach nicht weiter. Bevor Murray etwas sagen konnte, verzog sie das Gesicht und drückte ihre Ziga rette aus. »Ich rauche in letzter Zeit zuviel«, stellte sie fest. »Mein Hals ist schon ganz rauh. Kann ich ein Glas Wasser haben?« »Natürlich.« Murray stand auf. Als er zum Wasch becken ging, fiel ihm etwas ein, und er öffnete den Kleiderschrank. Die Dosen mit Fruchtsaft standen noch dort. Er nahm eine davon und zeigte sie Hea ther.
»Möchten Sie lieber etwas Saft? Ich trinke ihn doch nicht.« Sie nickte, als sei ihr gleichgültig, was er ihr gab. Murray stieß mit seinem Taschenmesser zwei Löcher ins Blech. »Sie wollten vorhin noch etwas sagen«, stellte er fest, während er ein Glas einschenkte und ihr gab. »Danke.« Heather trank durstig und leerte das Glas Orangensaft auf einen Zug, bevor sie sich in den Sessel zurücklehnte. »Richtig, ich wollte etwas sagen. Nun ... ich dachte, Sie könnten mir am ehesten helfen, weil Sie bisher so nett zu mir gewesen sind und weil Sie mehr ... Oh, das klingt lächerlich, aber ich kann es einfach nicht anders ausdrücken! Sie besitzen mehr Initiative als alle anderen. Ich meine, die anderen außer Ihnen wirken so passiv, so unbeteiligt. Das hätte ich nie erwartet. Wis sen Sie, was ich meine? Sie arbeiten den ganzen Tag, schwatzen abends ein bißchen miteinander und gehen dann brav ins Bett. Das ist bereits alles. Ich habe das Ge fühl, daß ich noch niemand richtig kennengelernt habe. Ich habe das Gefühl, daß sich niemand wirklich für die gemeinsame Arbeit interessiert – nur Sie haben wirk lich Interesse an allem. Sie sind überall gewesen, Sie haben die Tonbandgeräte in den Betten gefunden, Sie stellen unbequeme Fragen ... Verstehen Sie, was ich sa gen will?« Heather sprach nicht weiter, aber ihr fra gender Blick verriet, daß sie Angst hatte.
»Ich verstehe es nur allzu gut«, versicherte Murray ihr grimmig. »Weiter, bitte.« Sie stellte das leere Glas ab. »Wissen Sie was? Seit dem Sie mir das unheimliche Zeug unter meinem Bett gezeigt haben, mache ich mir ununterbrochen Sorgen. Den anderen scheint es völlig gleichgültig zu sein. Sie geben sich gelangweilt, wenn Sie davon an fangen, nicht wahr? Aber ich schneide jeden Abend den dünnen Draht durch, der von der Matratze zum Tonbandgerät führt – mit meiner Nagelschere.« Hea ther lachte. »Ist das nicht verrückt? Aber ich will nicht, daß das Gerät die ganze Nacht lang unter mei nem Kopfkissen läuft. Was haben Sie?« »Ich denke nur nach.« Murray runzelte die Stirn und starrte die Wand vor sich an, ohne sie wirklich zu sehen. Heathers Worte betrafen etwas, das sein Unterbewußtsein bereits als wichtig erkannt hatte. »Ich tue sogar noch mehr. Ich ziehe den Draht aus meiner Matratze und werfe ihn weg. Er wird immer wieder ersetzt, aber das muß ziemlich lästig sein. Deshalb tue ich es überhaupt, nehme ich an. Delgado soll die Geduld verlieren und mir sagen, wozu das Zeug dient.« »Sie glauben also, daß er gelogen hat, als er be hauptet hat, die Geräte seien Mittel zur ...« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Hypnopädie? Natürlich hat er gelogen. Das war
sogar Lesters Meinung, als ich ihm das Zeug gezeigt habe. Aber er will es nicht ernst nehmen, sondern ist nach wie vor der Meinung, Delgado sei auf irgend welchen pseudowissenschaftlichen Unsinn hereinge fallen.« Heather fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Kann ich noch ein Glas Orangensaft haben? Ich bin noch immer durstig.« »Natürlich.« Murray erhob sich bereitwillig, öffnete eine zweite Dose und ließ sie neben ihr stehen. »Hat der umgedrehte Fernsehapparat auch irgend etwas mit Delgado zu tun?« erkundigte Heather sich. »Gut geraten«, stellte Murray trocken fest. »Lester hat entdeckt, daß der Apparat einige zusätzliche Teile enthält. Er ist ständig eingeschaltet und läßt sich nicht abstellen. Ich habe das lächerliche Gefühl, auf diese Weise beobachtet zu werden. Deshalb ...« Er verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Ja. Ich weiß, was Sie meinen.« Heather warf ihm einen ernsten Blick zu. »Aber warum? Was soll das alles? Warum kümmern die anderen sich nicht dar um?« »Keine Ahnung«, gab Murray zu. »Ich weiß nur, daß Delgado sich vor allem um diese Dinge Sorgen macht, anstatt sich wirklich um unsere Arbeit zu kümmern.« Er machte eine Pause. »Was wollten Sie mich übrigens fragen? Hängt es damit zusammen?«
»Nein.« Heather leerte ihr Glas und griff nach der zweiten Dose. »Oh – trinke ich Ihren ganzen Vorrat aus?« »Trinken Sie nur. Ich habe noch keine Dose geöff net, und irgend jemand muß das Zeug schließlich trinken.« »Danke. Der Saft schmeckt wirklich gut.« Sie füllte ihr Glas. »Wollen Sie einen Schluck versuchen?« Er schüttelte den Kopf. »Weiter, bitte«, forderte er sie auf. »Ich bin schon froh, daß jemand sich die glei chen Sorgen macht.« »Nun, nicht genau die gleichen«, korrigierte sie ihn. Sie war blaß geworden, als sie von ihren Befürch tungen gesprochen hatte; jetzt bekam sie allmählich wieder Farbe. »Ich versuche mich zu entscheiden, ob ich nicht lieber aufgeben und nach Southampton zu rückfahren soll. Ich bin mit der Illusion hierher ge kommen, viel lernen zu können und vielleicht sogar eine für mich geschriebene Rolle spielen zu dürfen. Stellen Sie sich nur vor, welche Chance das für mich war – eine Rolle in einem Stück von Delgado! Haben Sie gemerkt, wie optimistisch ich bei meiner Ankunft war?« »Ich erinnere mich noch daran, daß ich versucht habe, Ihren Optimismus zu dämpfen«, gab Murray zu. »Das war nur gut! Ich hätte Ihnen dafür dankbar
sein müssen.« Sie trank wieder einen Schluck Saft. »Hätten Sie mich nicht gewarnt, daß ich mir Illusio nen mache, hätte es mich härter getroffen, als ich spä ter zu dem gleichen Schluß gekommen bin.« Murray warf ihr einen forschenden Blick zu. Sie sprach jetzt rascher als zuvor, Schien weniger nervös zu sein und war dafür fast ein wenig rührselig. Er konnte sich keinen Grund dafür vorstellen und sagte deshalb vorsichtig: »Sie wollten mich nicht nur fragen, ob Sie gehen oder bleiben sollten? Wäre das tatsächlich das einzige Problem, würden Sie vermutlich ohnehin bleiben. Al lein das Erlebnis, die Entstehung eines Bühnenstücks verfolgen zu können, ist einiges wert, nicht wahr?« Heather nickte langsam. Sie stellte ihr Glas ab und zündete sich selbst eine Zigarette an. Dabei schien ihr etwas einzufallen; sie legte den Kopf schief, als denke sie darüber nach, aber dann gab sie den Versuch wie der auf. Sie kicherte unerwarteterweise. »Oh, du liebe Güte!« sagte sie. »Eigentlich ist die Sache gar nicht lustig, und ich habe sie vorhin auch sehr ernst genommen – aber sie ist trotzdem irgendwie komisch!« Sie mußte auf stoßen und schlug sich erschrocken auf den Mund. »Was war das?« fragte sie. »Der Saft muß viel Koh lensäure enthalten, nehme ich an. Ich hätte nie ... oh, das ist nicht weiter wichtig.«
Schon verstanden. Murray seufzte und wunderte sich nicht mehr. Die Erklärung für Heathers eigenar tiges Benehmen hätte ihm früher einfallen müssen. Sie hatte sich offenbar etwas Mut angetrunken, bevor sie mit ihrem Problem zu ihm gekommen war. Nun wirkten sich die Drinks aus. »Heather, ich kann wirklich nicht erraten, was Sie mit mir besprechen wollten«, sagte er geduldig. Sie warf ihm einen überraschten Blick zu. »Habe ich Ihnen das noch nicht erzählt? Tut mir leid. Ida be hauptet, sie liebe mich, und ich soll mit ihr ins Bett gehen.« »Haben Sie etwas anderes von ihr erwartet?« fragte Murray ausdruckslos. Er wußte, daß Ida rasch unge duldig wurde; in dieser Beziehung reagierte sie ty pisch männlich. Und er hatte erwartet, daß Heather die Anzeichen richtig deuten würde; sie war jung, aber sie war schließlich keine Klosterschülerin. Das zeigte schon ihre nächste Bemerkung. Sie ki cherte nochmals. »Murray, man kann sie einfach nicht ernstnehmen, nicht wahr? Ich meine, sie ist kei ne schlechte Schauspielerin, aber wenn es darauf an kommt, etwas zu sagen, das sie wirklich meint, kann sie es einfach nicht. Man hat immer den Eindruck, sie stehe auf der Bühne ... Oh!« Ihre Stimme hatte sich völlig verändert. Sie legte die Zigarette in den Aschenbecher, ohne darauf zu
achten, daß sie wieder herausfiel und über den Tisch rollte. Heather starrte angestrengt geradeaus. »Murray, mir ist entsetzlich schwindlig. Ich werde ohnmächtig, glaube ich«, sagte sie. »Ich bin anschei nend betrunken. Aber wie kann ich betrunken sein? Ich habe heute abend nur ein Glas ... o Gott!« Sie versuchte aufzustehen. Unterdessen war alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen. »Murray, Sie haben doch nicht ... Nein, bestimmt nicht!« Sie streckte die Arme aus, als versuche sie sich aus dem Sessel zu ziehen. »Oh, mir ist so schlecht.« Murray sprang auf, stützte Heather und führte sie zum Waschbecken. Er ließ das kalte Wasser laufen, und Heather trank etwas davon. Murray kehrte an den Tisch zurück, griff nach der Dose mit Saft und roch daran. Dann schüttete er sich etwas Fruchtsaft in die Handfläche und probierte ihn vorsichtig. Der Fruchtgeschmack überdeckte fast alles, aber Murray konnte sich vorstellen, womit der Saft versetzt wor den war. Vielleicht mit Wodka – aber wahrscheinlich eher mit reinem Alkohol. Heather würde davon höchstens Kopfschmerzen und einen Kater bekommen. Aber wenn Murray eine dieser Dosen für sich geöffnet hätte, ohne zu ahnen, was sie enthielten, hätte er gleich Zyankali trinken können.
19
Einen Augenblick lang konnte Murray nur an zu künftige Möglichkeiten denken. Wenn Delgado es wirklich darauf abgesehen hatte, ihn zu ... nun, das Wort traf eigentlich zu ... vergiften, würde er sich vielleicht nicht mit diesem Versuch begnügen. Was war also noch von ihm zu erwarten? Die Dosen im Kleiderschrank wirkten so harmlos wie die beiden, die er für Heather geöffnet hatte; Murray untersuchte sie gründlich, ohne etwas Verdächtiges daran zu fin den. Was sollte er tun? Sollte er Blizzard eine der Dosen zeigen? Würde Blizzard diesen Beweis akzeptieren? Nicht jede Dose brauchte Alkohol zu enthalten; viel leicht hatte er zufällig die einzigen genommen, weil sie in der ersten Reihe standen und sich ihm gerade zu angeboten hatten. Wie sollte es weitergehen? War der Zitronensaft, den Valentine ihm zum Abendessen brachte, eben falls mit Alkohol versetzt? Kam demnächst Wodka aus den Wasserhähnen? Murray wußte es nicht und fühlte sich deshalb wie in Draculas Schloß, wo jeder Schatten bedrohlich wirkte. Und er mußte sich mit Schatten zufriedengeben. Schon der Versuch, einen ehemaligen Alkoholiker
mit Alkohol zu vergiften, hatte etwas großartig Ab surdes an sich. Murray hatte diesen Gedanken auf Blizzards Gesicht gesehen, als er ihm Dr. Cromartys Attest zeigte. Es hatte vermutlich wenig Zweck, noch länger hier zu bleiben und mit den anderen zu disku tieren. Murray würde fliehen müssen, und der Teufel konnte seinetwegen alles holen. Heather wandte sich schwankend vom Waschbek ken ab. Sie hatte sich übergeben müssen. Murray wollte sie stützen, als sie zum Bett taumelte. »Lassen Sie mich in Ruhe«, verlangte sie. »O Gott, lassen Sie mich in Ruhe. Das ist mein Ernst.« »Heather, ich habe nichts in Ihr Glas getan«, versi cherte Murray ihr. »Das Zeug war eigentlich für mich bestimmt, nicht für Sie.« Sie gab keine Antwort. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht zugehört. Murray konnte sich vorstellen, wie der reine Alkohol wirkte, den sie getrunken haben mußte. Heather ließ sich aufs Bett fallen und legte den Kopf auf die Arme. Ein Fuß berührte noch den Bo den. Sie atmete unregelmäßig und begann leise zu schluchzen. Murray ballte die Fäuste. Es war zwecklos, einfach nur davonzulaufen. Sein eigenes Problem beschäftig te ihn so sehr, daß er das Offenbare übersehen hatte. Delgado würde sich nicht damit zufriedengeben, ihn
ins Verderben zu reißen; er hatte es auf sie alle abge sehen. Heather war das beste Beispiel dafür. Er mußte nachdenken. Er mußte planen. Irgendwie mußte er fliehen, Heather zur Flucht verhelfen und Delgado daran hindern, seine Anstrengungen fortzu setzen ... Klick! Paris. Garrigues Selbstmord. Er hatte Roger Grady anrufen wollen. Murray hob mit zitternder Hand den Hörer ab und gab nochmals die Nummer in London an. Während er auf das Gespräch wartete, ging er zur Tür, sah mißtrauisch auf den Gang hinaus und schloß die Tür ab. Draußen war niemand in Sicht. Er ließ sich wieder am Telefon nieder und dachte über etwas nach, das Heather erwähnt hatte. Sie hatte ihm erzählt, daß sie ebenfalls jeden Abend die Ver bindung zwischen Matratze und Tonbandgerät un terbrach ... Murray sprang plötzlich auf. Er schob Heather zur Seite. Sie protestierte nicht dagegen. Er hob die Ma tratze hoch und sah seinen Verdacht bestätigt: das Drahtgewebe war ersetzt worden, obwohl er es am Abend zuvor entfernt hatte. Murray wußte nicht, ob es ein Mittel zur Beeinflussung des Schlafenden war, aber diese Erklärung erschien ihm logischer als jede andere.
Eine Art elektrisches Feld? Lester hat das Muster mit einer Antenne verglichen ... Das Telefon klingelte. Murray hob ab und konnte kaum sprechen, als er Rogers vertraute Stimme hörte. »Roger, Gott sei Dank! Murray hier!« »Oh, du!« Murray konnte sich die Handbewegung vorstellen, die diesen Ausruf begleitete. »Was willst du um diese Zeit noch? Ist dir eigentlich klar, was du angestellt hast? Seitdem du Burnett in aller Öffent lichkeit überfallen hast, führt er einen privaten Haß feldzug gegen Delgados Stück und jeden, der auch nur irgend etwas damit zu tun ...« »Halt den Mund, Roger, ich muß dir etwas erzäh len. Wenn die Sache wie bisher weitergeht, gibt es wahrscheinlich kein Stück von Delgado.« »Den Eindruck habe ich auch«, knurrte Roger. »Ich weiß nicht, was Burnett alles versucht hat, aber er scheint einiges erreicht zu haben. Unter Umständen bekommt ihr das Margrave-Theater doch nicht.« »Der Teufel soll das Theater holen! Hörst du jetzt endlich zu? Roger, dieser Delgado ist verrückt. Ich übertreibe nicht. Delgado gehört in eine Nervenheil anstalt. In der vergangenen Woche haben wir mehr Katastrophen erlebt als andere Ensembles in einem Jahr. Delgado hat das erste Manuskript in einem Wutanfall zerrissen und mußte von Sam beruhigt werden ...«
»Dann ist doch alles in Ordnung, was?« »Laß mich endlich ausreden, Roger!« verlangte Murray aufgebracht. »Gerry Hoarding hätte fast Selbstmord begangen, weil Delgado ihm Heroin in unbegrenzten Mengen zur Verfügung stellt. Hier sind überall geheimnisvolle elektronische Geräte instal liert, die Lester Harkhams Meinung nach keinen ver nünftigen Zweck haben. Aber ich bin anderer Über zeugung, weil ...« Er sprach nicht weiter, denn in dieser Sekunde fiel ihm ein, was Heather vorhin angedeutet hatte. Hea ther und er waren die einzigen Menschen in diesem Haus, die peinliche Fragen stellten. Heather und er hatten es sich angewöhnt, die Verbindung zwischen Matratze und Tonbandgerät allabendlich zu unter brechen. Zufall? »Hallo, hallo!« sagte Roger irritiert. Murray kehrte in die Gegenwart zurück. »Ja ... nun, das ist noch nicht alles, Roger. Zum En semble gehört ein Mädchen, für das keine Rolle vor gesehen ist – es soll sich nur von Ida verführen las sen. Es ist als Köder ausgelegt wie Gerrys Heroin oder Constant Baines' Bibliothek schmutziger Bücher. Und in meinem Fall versucht jemand – dafür kommt nur Delgado in Frage –, mich zur Flasche zurückzu bringen. Selbstverständlich nicht offen, sondern zum
Beispiel durch Konservendosen mit Fruchtsaft, der mit Alkohol versetzt ist.« »Murray, stimmt das wirklich!« »willst du herkommen und es dir beweisen lassen? Ich wäre schon erleichtert, wenn endlich jemand kä me. Manchmal zweifle ich selbst an meinem gesun den Verstand.« »Hmm ...« »Roger, du weißt irgend etwas, verdammt noch mal! Los, heraus mit der Sprache! Es ist schon spät genug!« Murray wartete gespannt, bis Roger sich ent schieden hatte. »Ja, du hast vielleicht recht. Ich meine, bisher habe ich es nicht recht geglaubt ... habe ich dir erzählt, warum Léa Martinez nach der Pariser Aufführung von Trois Fois im Irrenhaus gelandet ist?« »Nein. Du hast einige Andeutungen gemacht, aber ich habe nicht darauf geachtet, weil ich den Job brauchte. Weiter!« »Léa Martinez hat behauptet, Delgado habe sie ver folgt und zum Wahnsinn getrieben«, erklärte Roger ihm. »Hör zu, Murray, du weißt doch, warum ich dir das nicht erzählt habe?« »Ja«, antwortete Murray nur. »Gut, wir verstehen uns.« Roger zögerte unent schlossen. »Aber was soll ich aus deinem Bericht ma chen, Murray? Wie kommt es, daß Sam Blizzard und
Ida und Adrian es dort aushalten? Warum sind die anderen mit Delgado zufrieden? Richtet sich etwa al les nur gegen dich?« »Nein, aber ...« Murray biß sich auf die Unterlippe. Wie sollte er Roger seinen Verdacht erklären? »Roger, ich kann jetzt nicht davon sprechen. Ich werde zu fliehen versuchen, aber falls mir das nicht gelingt ...« »Was?« »Das ist mein Ernst. Das Grundstück ist von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben – und das Tor wird abends um elf geschlossen. Vielleicht muß ich den Wagen zurücklassen und zu Fuß fliehen.« »Murray, das Ganze klingt immer unwahrscheinli cher!« »Hör zu, Roger.« Murray mußte sich beherrschen, um das Telefon nicht an die Wand zu werfen. »So bald ich hier herauskomme, suche ich einen gewissen Doktor Cromarty in Bakesford auf, verstanden?« »Ja.« »Roger, ich gebe nicht voreilig auf. Aber ich glaube, daß die Pariser Tragödie sich wiederholt, und ich möchte kein Jean-Paul Garrigue sein.« »Man könnte glauben, Delgado sei ein zweiter Marquis de Sade«, wandte Roger ein. »Gut, ich glau be dir, daß du nicht voreilig aufgibst. Aber dir ist doch klar, daß du dann für Sam erledigt bist?« »Was er denkt, kann mir gleichgültig sein, solange
er nicht merkt, daß sein Ensemble auf diese Weise im Gefängnis, im Irrenhaus oder auf dem Friedhof lan den muß. Komm um Gottes willen hierher, Roger, wenn ich morgen nicht auftauche und nicht bei Dok tor Cromarty erreichbar bin!« »Gut.« Roger schien einen Entschluß gefaßt zu ha ben. »Aber wenn das Stück nach deinem Ausschei den ein Erfolg wird, ohne daß jemand sich umbringt oder im Irrenhaus landet, sind wir geschiedene Leute, Murray. Dann verliere ich wirklich die Geduld mit dir.« »Das riskiere ich«, antwortete Murray nachdrück lich und legte auf. Nun wußte er, was er zu tun hatte. Er ließ sich in dem Sessel nieder und zündete sich eine Zigarette an Heather schlief jetzt friedlich. Sie würde sich bald wieder erholen. Sie hatte bereits davon gesprochen, daß sie dieses Haus verlassen wollte. Folglich ... Murray überlegte sich, daß er den nächsten Mor gen abwarten mußte. Er konnte Valentine jetzt nicht dazu bringen, ihm das Tor zu öffnen, und er konnte keine Bewußtlose zu seinem Wagen tragen. Aber morgen früh würde er Heather dazu überreden, ihn zu begleiten. Und er würde möglichst viel Beweisma terial mitnehmen. Zum Beispiel das Drahtgeflecht. Murray sprang
auf, griff nach seinem Taschenmesser, schnitt den Teil des Matratzenbezugs ab, auf dem die Drähte ange bracht waren, und rollte ihn zusammen. Er steckte ihn in die Tasche und sah sich suchend um. Eine Tonbandspule? Warum nicht? Murray hob die Matratze mit einer Hand hoch, nahm die beiden Spu len vom Tonbandgerät und verstaute sie in seiner Reisetasche. Nur schade, daß der Fernsehapparat zu groß und schwer war; auf diese Weise hatte Murray nicht viel vorzuzeigen. Aber die Saftdosen! Nachdem er sie eingepackt hatte, fiel ihm auf, daß er auch Hea thers Tonband mitnehmen könnte. Er mußte allerdings abwarten, bis er in ihr Zimmer schleichen konnte. Vorläufig war es noch zu früh. Ida würde Heather vielleicht besuchen wollen und Krach schlagen, wenn sie dort Murray fand. Nein, er mußte noch mindestens eine Stunde lang warten.
20
Gegen ein Uhr, als Murray seit fast einer Stunde nur noch Heathers gleichmäßige Atemzüge gehört hatte, konnte er sich nicht länger beherrschen. Er drückte die letzte von vielen Zigaretten aus, ging vorsichtig zur Tür und wollte die Tonbandspulen aus Heathers Zimmer holen. Er öffnete die Tür einen Spalt weit, ohne etwas zu hören. In der vergangenen Stunde hatte er deutlich verfolgen können, wie die anderen nacheinander zu Bett gingen. Er hatte auch Idas leise Frage an Hea thers Tür gehört; Ida war anscheinend daran ge wöhnt, stillschweigend abgewiesen zu werden, denn sie war sofort wieder in ihr eigenes Zimmer gegan gen. Murray hatte in Heathers Taschen nach einem Schlüssel gesucht, ohne ihn zu finden. Jetzt trat er lei se in den Korridor hinaus und schloß die Tür lautlos hinter sich ab. In diesem Augenblick hörte er die Stimmen aus Zimmer Dreizehn, das erstmals seit sei ner Ankunft offen war. Er holte tief Luft, schloß sein Zimmer wieder auf, um sich den Rückzugsweg of fenzuhalten, und näherte sich vorsichtig der Tür des Nebenraums. Die Stimmen gehörten Delgado und Valentine.
Murray hatte nichts anderes erwartet. Eigenartiger war nur, daß diesmal Valentine im Befehlston sprach, während Delgados Stimme fast unterwürfig klang. »Das Mädchen ist nicht in seinem Zimmer«, stellte Valentine fest. »Wo steckt es?« »Ich ... ich weiß nicht.« Delgado war offenbar ner vös. »Vielleicht draußen im Park?« »Unsinn! Ich weiß, wer das Haus verläßt oder betritt. Nein, es muß irgendwo hier sein.« »Kommt kein doppeltes Signal aus Idas Zimmer?« »Heather ist nicht dort. Das verdanken wir diesem Douglas! Sie hätte schon vor vier Nächten auf unsere Beeinflussung reagieren müssen, aber ihr Tonband ist nie gelaufen.« »Wir müssen etwas wegen Douglas unternehmen«, stellte Delgado fest. »Äh ... kann sie nicht in seinem Zimmer sein?« »Woher soll ich das wissen?« knurrte Valentine. »Der Kerl ist zu mißtrauisch. Was hilft uns der Detek tor im Fernsehgerät, wenn er es zur Wand dreht? Ich sehe schon den ganzen Abend nur die Wand seines Zimmers.« »Aber er weiß nichts«, murmelte Delgado. »Er hat nur einen Verdacht. Wir könnten ihn zum Schweigen bringen ...« »Zu spät«, warf Valentine ein. »Er hat heute abend mit seinem Agenten in London telefoniert; er will fort
und hat Garrigue erwähnt. Der andere hat ihm ge glaubt und von Léa Martinez erzählt. Erinnerst du dich noch an Léa?« Seine Stimme war schärfer ge worden. »Aber niemand hat ihr ein Wort geglaubt!« wider sprach Delgado. »Jetzt sitzt sie in einer dieser primiti ven Nervenheilanstalten und ist vielleicht wirklich übergeschnappt.« Er versuchte zu lachen, aber der Versuch mißlang. »Zu spät. Er will fort. Du und deine indirekten Me thoden!« »Aber er ist noch hier, nicht wahr? Wir können di rektere Methoden verwenden. Es ist nicht zu spät.« Delgado widersprach aufgeregt. »Doch! Er hat seinem Freund mitgeteilt, er wolle gehen, und dieser Mann soll Nachforschungen anstel len, wenn er morgen nicht in London ankommt.« »Das läßt sich umgehen!« versicherte Delgado eif rig. »Wir können ein Band für ihn herstellen, das ihm suggeriert, weshalb er doch lieber bleiben will. Das macht auf seinen Freund bestimmt um so mehr Ein druck.« »Meinetwegen soll er verschwinden«, entschied Valentine gelassen. »Er führt sich schlimmer als Léa auf.« »Aber das ist ausgeschlossen!« jammerte Delgado. »Was wird dann aus dem Stück? Er spielt eine
Hauptrolle, und wenn er geht, haben die anderen vielleicht auch keine Lust mehr. Dann sind wir rui niert!« »Das Stück geht mich nichts an«, stellte Valentine ungerührt fest. »Im Augenblick mache ich mir wegen Heather Sorgen. Sie ist gutes Material, und ich möch te sie nicht verlieren.« »Douglas auch!« Delgado wurde noch aufgeregter. »Wir haben das erste Band ausgewertet, und du hast selbst zugegeben, daß er für unsere Zwecke sehr gut geeignet wäre!« »Aber das Band ist nur einmal gelaufen, nicht wahr?« antwortete Valentine scharf. »Ich will jetzt wissen, wo das Mädchen steckt. Wir suchen jetzt in den Räumen ohne Detektor nach Heather; wenn sie dort nicht zu finden ist, müssen wir bei Douglas nachsehen. Und dann können einige Leute sich auf ein Donnerwetter gefaßt machen, Delgado! Das war nicht das vereinbarte Erlebnis, was?« Murray durfte nicht länger zuhören. Die beiden Männer konnten jeden Augenblick im Korridor er scheinen. Er eilte lautlos in sein Zimmer zurück, schloß die Tür hinter sich und holte tief Luft. Dann näherte er sich dem Bett und zupfte Heather am Är mel. »Heather!« flüsterte er ihr ins Ohr. »Wach auf! Los, wach endlich auf!«
Sie bewegte sich nur etwas und stöhnte dabei leise. Murray ging ans Waschbecken und kam mit einem nassen Handtuch zurück, das er ihr auf die Stirn leg te. »Wach auf! Delgado sucht nach dir – du mußt dich verstecken!« »Was?« Sie öffnete langsam die Augen. »Laß mich in Ruhe, ja? Ich will schlafen.« »Du mußt dich verstecken! Delgado ist hinter dir her!« »Was?« Heather war plötzlich hellwach; sie richtete sich auf und starrte Murray an. »O Gott!« flüsterte sie dann. »Jetzt erinnere ich mich wieder! Murray, du verdammter ...« Sie sprach nicht weiter, als ihr auffiel, daß sie völlig bekleidet war. »Hör zu!« flüsterte Murray eindringlich. »Ich habe dir nichts ins Glas getan, verstanden? Der Fruchtsaft war für mich bestimmt. Das war Delgados Idee.« Oder Valentines – aber dafür hatten sie jetzt keine Zeit. »Er sucht nach dir, und du mußt dich verstek ken.« Heather warf ihm einen verständnislosen Blick zu. Murray konnte sich vorstellen, welche Fragen ihr auf der Zunge lagen, deshalb sprach er rasch weiter. »Ich kann dir nicht alles auf einmal erklären«, stell te er fest. »Aber ich verschwinde morgen früh, und wenn du schlau bist, kommst du mit. Sonst findest du
dich in Idas Bett wieder, ohne etwas dagegen tun zu können.« »Ida? Nein, ausgeschlossen! Ich wollte dich nicht fragen, ob ich mich mit ihr einlassen soll oder nicht. Ich wollte nur wissen, wie ich sie mir vom Hals schaf fen kann.« »Du könntest dich nicht dagegen wehren«, versi cherte Murray ihr. »Aber das hat alles Zeit bis später! Du mußt dich verstecken.« Er sah sich nach einem geeigneten Platz um und deutete auf den Kleider schrank. »Hinein mit dir!« Heather schrak zusammen. »Murray, ich ... ich kann nicht«, sagte sie leise. »Ich leide an Klaustro phobie. Ich müßte schreien!« »Aber ...« »Unmöglich! Ich könnte mich nicht beherrschen«, beteuerte sie. »Ausgerechnet ...«, murmelte er und ließ enttäuscht die Hände sinken. »Was ist daran so schlimm, Murray?« fragte sie. »Du kannst die Tür abschließen, nicht wahr?« »Ich bezweifle sehr, daß sie sich von einem einfa chen Türschloß aufhalten lassen«, antwortete Murray niedergeschlagen. »Nun, dann müssen wir ihnen eben entgegentreten. Das wird eine verdammt unan genehme Sache! Es sei denn, wir ...« Er sprach nicht weiter. Ihm war eingefallen, daß
Valentine davon gesprochen hatte, dies sei nicht das vereinbarte Erlebnis gewesen. Er verstand nicht recht, was damit gemeint war – aber offenbar hatte Delgado es als Drohung aufgefaßt. »Es sei denn?« fragte Heather nach einer kurzen Pause. »Es sei denn, wir können sie täuschen!« Murray schaltete das Licht aus. »Keine Widerrede, um Gottes willen. Zieh dich aus und laß die Kleidungsstücke dort drüben auf dem Sessel liegen, wo sie von der Tür aus gut zu sehen sind.« Er machte in fieberhafter Eile das Bett, während er sprach. »Murray ...«, sagte Heather mit schwacher Stimme. »Du brauchst keine Angst zu haben!« flüsterte Murray eindringlich. »Ich habe vorhin gehört, daß Delgado dich in Idas Bett, aber in keinem anderen se hen will. Das klingt verrückt – aber die ganze Sache ist nicht normal. Auf diese Weise hat er wenigstens Grund zur Sorge. Bitte!« Heather nickte wortlos, zog sich rasch aus und warf ihre Kleidungsstücke über den Sessel. Dann streckte sie sich unter der Bettdecke aus. Murray ließ Schuhe, Hose und Pullover am Bettende zurück und legte Hemd und Krawatte auf den Sessel neben Hea thers Sachen. Er kletterte von der anderen Seite her ins Bett. Heather rückte etwas nach links, um ihm Platz zu machen.
»Bleib liegen«, flüsterte er ihr zu. »Stell dich schla fend, wenn sie an die Tür kommen. Horch! Das sind sie schon!« Draußen waren leise Schritte zu hören. Murray drehte sich auf die Seite und hoffte nur, daß es ihm gelingen würde, sich überzeugend schlafend zu stel len. Die Schritte kamen näher. Heather drängte sich plötzlich an Murray; er spürte ihre Haut warm und weich an seinem Rücken. Nun wirkten sie tatsächlich wie ein Liebespaar, während sie darauf warteten, daß die Tür geöffnet wurde.
21
Murray hatte den Schlüssel im Schloß gelassen, um zu verhindern, daß sie mit einem einfachen Nach schlüssel geöffnet wurde. Aber die Eindringlinge wa ren offenbar nicht auf dergleichen primitive Metho den angewiesen. Murray öffnete die Augen vorsich tig einen Spalt breit, als er hörte, daß die Tür geöffnet wurde; im Zimmer war es jedoch völlig dunkel, und im Korridor brannte ebenfalls kein Licht mehr. Valen tine und Delgado kamen fast lautlos näher und holten erschrocken Luft, als sie erkannten, wer im Bett lag. Nicht das vereinbarte Erlebnis. Murray hatte keine Ahnung, was darunter zu ver stehen war, aber er überlegte sich, daß er den beiden zu einem weiteren Erlebnis verhelfen konnte, mit dem sie nicht rechneten. Er hörte, daß sie auf die an dere Seite des Betts gegangen waren. Als er nun aus dem Bett glitt, war er der Tür näher als die beiden Männer; er erreichte sie, während Valentine und Del gado noch wie gelähmt waren, schloß sie und schalte te fast gleichzeitig das Licht ein. Heather drehte sich im Bett um und schien aus tie fem Schlaf zu erwachen. Ihre gespielte Überraschung machte echtem Erstaunen Platz, als sie erkannte, was Murray bereits gesehen hatte.
Delgado und Valentine waren maskiert. Das war der erste Eindruck; sie trugen schwarze Brillen mit riesigen Gläsern, und ein weiteres Objektiv mitten auf ihrer Stirn wirkte wie ein drittes Auge. Murray hatte noch nie eine derartige Brille gesehen, aber er konnte sich ihren Verwendungszweck vorstellen: Die beiden Männer trugen sehr kompakte Nachtsehgeräte, und das ›dritte Auge‹ war der dazugehörige Infrarotscheinwerfer. Valentine hielt in der linken Hand einen Gegen stand, der schwerer zu identifizieren war. Murray er kannte nur einen länglichen Kasten von etwa fünf zehn Zentimeter Seitenlänge und fünf Zentimeter Breite. An der Vorderseite war ein offenes Gitter an gebracht Valentine steckte den Kasten sofort in die Tasche, bevor Murray ihn näher betrachten konnte. »Okay«, sagte Murray nach einer Pause, »was ha ben Sie in meinem Zimmer zu suchen?« Delgados Selbstbeherrschung war verflogen; er er innerte kaum noch an den arroganten Autor, den Murray gekannt hatte. Im Gegensatz dazu machte Valentine keinen Versuch, eine Ausrede oder Ent schuldigung zu finden. »Delgado!« fuhr er seinen Begleiter an. »Du hast ihn beobachtet. Was wird er vermutlich tun?« »Äh ...« Delgado nahm seine Brille ab. »Wahr scheinlich ... äh ... ruft er die anderen, damit sie uns hier sehen, nehme ich an.«
»Wie viele Unbeeinflußbare sind noch übrig?« »Aufhören!« unterbrach Murray sie. »Heather, Delgado hat einen guten Vorschlag gemacht. Hier!« Er warf ihr seinen Bademantel zu. »Du mußt Sam Blizzard aufwecken und herholen. Weißt du, in wel chem Zimmer er schläft?« »Ja«, flüsterte Heather, zog sich den Bademantel an und verließ barfuß das Zimmer. Valentine ließ sich nicht anmerken, ob Blizzard tat sächlich zu den ›Unbeeinflußbaren‹ gehörte, aber Murray vertraute darauf. Die beiden Männer schie nen sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben, und das störte ihn. »Was soll das Schweigen?« fragte er spöttisch. »Überlegen Sie sich eine gute Story?« Valentine sah zu Delgado hinüber. Offenbar wollte er ihn auffordern, in der Öffentlichkeit wieder die be herrschende Rolle zu spielen. Delgado war jedoch zu aufgeregt, um diesen Wink zu verstehen. »Das gefällt Ihnen nicht, was?« fuhr Murray fort. »Dieses Erlebnis war wohl nicht vereinbart?« Selbst Valentine erschrak sichtlich; Delgado wurde leichenblaß. »Was haben Sie eben gesagt?« stieß er hervor. »Ruhig!« fuhr Valentine ihn an. »Aha! Langsam machen Sie sich auch Sorgen, nicht wahr?« Murray lächelte zufrieden. »Dachten Sie et
wa, ich sei ein zweiter Jean-Paul Garrigue? Aber Sie haben sich getäuscht! Und ich bin nicht so hilflos wie Léa Martinez.« Delgado sah zu Valentine hinüber. »Wir müssen ihn zum Schweigen bringen!« rief er aus. »Er darf nicht länger ...« »Halt den Mund!« knurrte Valentine. »Auf diese Weise erfährt er erst alles. Vorläufig kann er noch nichts wissen.« »Nein?« fragte Murray. »Und warum habe ich die Tonbänder unbrauchbar gemacht und den Fernseh apparat zur Wand gedreht?« Delgado zuckte zusammen. »Immer mit der Ruhe«, mahnte Valentine. »Er blufft nur. Er will uns hereinlegen; wir sollen glau ben, er wisse alles.« Murray hätte beinahe zustimmend gelächelt. Er beherrschte sich rechtzeitig und fragte sich dann, warum Heather nicht endlich mit Sam Blizzard zu rückkam. »Sie haben einen entscheidenden Fehler gemacht«, sagte er zu den beiden Männern, um die Wartezeit etwas zu verkürzen, »Sie wissen nichts über mich. Sie sind so an Ihre Detektoren und Tonbänder und ande re Geräte gewöhnt, daß Sie vergessen haben, was sich mit gesundem Menschenverstand erreichen läßt. Delgado hat Sam Blizzard getäuscht, aber ich habe
mich nie von ihm täuschen lassen. Mir ist schon bald klar geworden, daß ihm nichts an dem Stück liegt; er legte es nur darauf an, andere zu korrumpieren.« »Aber wer mit jungen Mädchen ins Bett geht, kor rumpiert sie nicht, was?« meinte Valentine sarka stisch. »Das war nur eine Falle für Sie und Delgado«, er klärte Murray ihm. »Und Sie sind sofort darauf he reingefallen, wie ich sehe.« Hinter ihm wurde an die Tür geklopft. Die Span nung ließ nach. »Jetzt haben Sie Gelegenheit, alles zu erklären«, stellte Murray fest und öffnete die Tür. »Herein zu mir, Heather!« Sie kam herein. Aber nicht freiwillig. Murray hatte so sicher damit gerechnet, daß Blizzard sie begleiten würde, daß er im ersten Augenblick nicht erkannte, was wirklich geschehen war. Dann erschrak er so sehr, daß seine Aufmerksamkeit für einige Sekunden erlahmte, und Valentine nützte diese Gelegenheit. Murray wußte nicht, womit der andere zugeschlagen hatte – vermutlich mit dem Kasten, den er vorhin so rasch versteckt hatte. Bevor Murray zu Boden ging, sah er noch, daß ei ner der schwarzgekleideten Diener, dessen Namen er nie erfahren hatte, Heathers Arme hinter ihrem Rük ken festhielt, während seine andere Hand vor ihrem
Mund lag. Dann kam ihm der Boden entgegen; er war nur kurze Zeit bewußtlos, aber als er wieder aufwachte, war er zu keiner Bewegung fähig. »Ich wollte Blizzards Tonband auswechseln«, be richtete der ›Diener‹ eben, »als das Mädchen an die Tür kam. Ich habe Blizzards Stimme imitiert und es hereingelassen. Da es bereits vor der Tür gesagt hatte, was es wollte, habe ich es lieber mitgebracht.« »Ausgezeichnet, Walter«, lobte Valentine ihn. »Das erspart uns viel Mühe.« »Aber was sollen wir jetzt tun?« Delgado hatte sei nen Schock offenbar noch nicht überwunden. »Valen tine, du hast mir selbst erzählt, daß Douglas seinem Freund versprochen hat, morgen früh abzureisen!« »Ich weiß«, wehrte Valentine ungeduldig ab, »und ich bin jetzt der Meinung, daß wir ihn nicht einfach laufenlassen können. Wir müssen herausbekommen, woher er seine Informationen bezogen hat. War sonst alles in Ordnung, Walter?« »Ja, soviel ich weiß. Blizzard war doch der einzige, der ein neues Band bekommen sollte?« »Richtig, aber das ist nicht mehr so dringend. Wir haben in seinem Fall irgend etwas übersehen; das hat jedoch Zeit bis später. Manuel!« »Ja?« fragte Delgado zögernd. »Du machst dich sofort an die Arbeit und stellst ein Konzenband für das Mädchen her. Am Anfang muß
ein Löscher stehen, damit es endlich aufhört, das Tri plem zu seinem Tonbandgerät zu zerschneiden. Wal ter, du gibst ihm ein Schlafmittel. Bis morgen früh muß der Impuls verankert sein.« »Ist das nicht gefährlich?« warf Walter ein. »Das kann seine ganze Persönlichkeit durcheinanderbrin gen.« »Der Impuls braucht nicht lange vorzuhalten. Au ßerdem haben wir größere Sorgen. Ich komme zu dir, Manuel, sobald ich meinen Rundgang gemacht habe, und helfe dir, ein Band für Douglas herzustellen. Wir müssen eine plausible Erklärung für sein Hierbleiben erfinden. Los, an die Arbeit!« Die Tür wurde geöffnet und schloß sich wieder. Murray versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wörter wie ›Konzenband‹ oder ›Triplem‹ bedeuteten ihm nichts; er ahnte nur, daß diese Männer imstande wa ren, das menschliche Gehirn fast beliebig zu beein flussen. »Was ist eigentlich passiert?« fragte Walter, als die Tür sich hinter Delgado geschlossen hatte. Valentine schilderte die Ereignisse der letzten Stunde. Dann fügte er hinzu: »Irgend jemand muß unvorsichtig gewesen sein, das habe ich Manuel auch schon gesagt. Douglas blufft keineswegs nur; er hat einiges herausbekommen. Wir haben viel Arbeit vor uns, wenn wir alle seine Erinnerungen löschen wol
len, die sonst zufällig wieder an die Oberfläche kommen könnten ... Nun, wir müssen es aber tun, wenn wir dieses Projekt nicht ganz aufgeben wollen. Hilf mir, ihn aufs Bett zu legen. Wahrscheinlich hat er das Triplem wieder von der Matratze gerissen, aber das macht nichts – ich habe die Konditionierer bei mir, und er funktioniert vielleicht noch, obwohl ich ihn Douglas auf den Kopf geschlagen habe.« Murray sammelte seine Kräfte, streckte die Hand aus und tastete nach dem ersten Ding, das in Reich weite war. Als die beiden Männer sich bückten, um ihn aufs Bett zu heben, riß er mit aller Kraft daran und spürte, daß irgend etwas nachgab. »Verdammt, ich dachte, er sei bewußtlos«, sagte Valentine gelassen. »Der alte Säufer ist überraschend zäh, was?« Sein Fuß traf Murrays Hand, und Murray ließ das Kabel des Fernsehgeräts los, an dem er gezogen hatte. Vielleicht hatte er damit wieder etwas beschädigt. Er konnte nicht darauf hoffen, aber wenn er Valentines Bemerkungen richtig deutete, war dies vielleicht die letzte Gelegenheit gewesen, etwas aus dem freien Willen zu tun. »Augenblick«, hörte er Walter sagen, »heute fehlt sogar das Tonband.« »Wahrscheinlich hat er es wieder aus dem Fenster geworfen«, seufzte Valentine. »Am besten holst du
gleich eine neue Spule von Manuel. Ich brauche eine ziemlich lange Aufzeichnung von Douglas, bevor ich anfangen kann, seine Erinnerungen zu löschen.« »Wird gemacht.« Walter ging zur Tür. Murray versuchte seine Kräfte zu sammeln. Wenn er aufspringen konnte, während Valentine allein im Zimmer war ... »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Valentine scharf. »Ja«, antwortete Walter laut. »Ich rieche etwas. Rauch!« »Ein Feuer?« erkundigte Valentine sich ängstlich. »Sieh in Nummer Dreizehn nach!« Eine Tür wurde geöffnet, dann rief Walter er schrocken: »Das reinste Inferno! Douglas muß einen Kurzschluß verursacht haben! Ich habe Manuel ge sagt, er ...« »Laß das jetzt! Weck Victor auf! Beeil dich – diese alten Häuser brennen wie Zündholzschachteln ab!« »Aber was ...?« »Die anderen sollen selbst sehen, wie sie zurecht kommen! Ich habe jedenfalls keine Lust, im Haus zu bleiben und lebendig gebraten zu werden! Aus dem Weg, verdammt noch mal!«
22
Jetzt roch auch Murray, daß irgendwo Gummi ver schmorte. Dieser Geruch brachte ihn auf die Beine. Der Raum drehte sich vor seinen Augen; er mußte sich am Bett festhalten. Dann sah er Heather in dem Sessel am Fenster kauern. Der halbe Ärmel ihres Ba demantels fehlte; sie war damit geknebelt worden. Ihre Arme waren mit Murrays Krawatte gefesselt, um die Knöchel war sein Gürtel geschlungen. Heather stampfte mit den Füßen auf, als wolle sie ihn auf sich aufmerksam machen, weil er nicht gleich zu ihr kam. Aber Murray suchte noch nach seinem Taschenmes ser. Als er es endlich gefunden hatte, zerschnitt er damit ihre Fesseln und half ihr auf die Beine. »Weck sofort die anderen auf!« befahl er ihr heiser. »Zieh dich nicht erst um. Schnell!« Heather nickte, schlüpfte nur rasch in ihre Schuhe und eilte hinaus. Murray stolperte ans Waschbecken und drehte das kalte Wasser auf. Er ließ es sich über den Kopf laufen, aber die Kopfschmerzen blieben. Er sprach mit sei nem Spiegelbild, das er nur undeutlich erkannte. »Ich muß irgendeinen Beweis mitnehmen. Zumin dest das Tonband. Oder den Kasten, den Valentine zurückgelassen hat ... He!«
Er hatte sich unbeabsichtigt gegen die Wand über dem Waschbecken gestützt, und sein langsam funk tionierendes Gehirn hatte so lange gebraucht, um auf die Empfindung zu reagieren, die seine Nerven über trugen. Die Wand war heiß! Und dahinter lag Zimmer Dreizehn – mit Delgado! Murray dachte an nichts anderes mehr. Er lief in den Korridor hinaus. Heather kam ihm schluchzend entgegen. »Ich kann niemand aufwecken, Murray! Alle liegen wie tot in ihren Betten!« »Noch mal! Gib dir Mühe! Wenn sie nicht aufwa chen, werfen wir sie aus den Fenstern. Hier haben sie nicht die geringste Chance!« Er deutete auf die Tür zu Zimmer Dreizehn, unter der bereits dichter Rauch hervorquoll. »Delgado ist noch immer dort drin. Valentine ist mit den beiden anderen verschwunden, und wir ho len sie vielleicht nie ein – aber wenn wir Delgado festhalten können, haben wir immerhin einen Mann, der unsere Fragen beantworten kann!« Heather eilte davon, und Murray öffnete die Tür des Zimmers. Walter hatte recht gehabt, als er von einem Inferno sprach. Der Kurzschluß des Kabels hatte einen Licht bogen erzeugt. Es stank nach Ozon, und in Fenster
nähe rief irgend etwas noch immer einen Funkenre gen hervor. Gleichzeitig schlugen an mehreren Stel len Flammen empor. Als Murray die Tür öffnete, ex plodierte etwas; er duckte sich instinktiv und spürte heiße Glassplitter auf der bloßen Haut. Er war nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet, und die Hitze schlug ihm entgegen, als stehe er vor einem Hochofen. Er hatte keine Zeit, die elektronischen Geräte zu untersuchen, die der Raum enthielt, sondern stürzte auf Manuel Delgado zu, der an seinem Arbeitsplatz zusammengesunken war. Irgend etwas bohrte sich in seine Ferse und ließ ihn zusammenzucken – wahr scheinlich ein glühendheißer Glassplitter. Aber Mur ray achtete weder darauf noch auf die Hitze und den Rauch, sondern griff nach Delgado und brachte es ir gendwie fertig, ihn sich über die Schulter zu legen. Als er zur Tür schwankte, kam es erneut zu einer hef tigen Explosion. Murray erinnerte sich daran, daß es besser war, die Tür zu schließen, weil sonst dem Feu er mehr Sauerstoff zugeführt wurde. Er zog sie hinter sich zu. »Murray!« Heather kam aus einem anderen Zimmer – Idas, wenn er sich recht erinnerte – und stolperte auf ihn zu. »Murray, ich kann niemand wecken! Ich habe geru
fen und sie geohrfeigt und ... und ... o Gott, Murray, ich kann nicht!« »Geh in die Halle hinunter«, befahl Murray ihr und wankte selbst zur Treppe. »Das Telefon steht in Bliz zards Büro. Ruf die Feuerwehr, Krankenwagen, einen Arzt und die Polizei an. Alle sollen sofort kommen. Der Seitenflügel steht wahrscheinlich nicht mehr lan ge, aber vielleicht ist das Hauptgebäude zu retten.« Er erreichte die Treppe und bückte sich, um seine Last zu Boden gleiten zu lassen. Delgado rutschte wie eine Puppe über die Stufen hinab und blieb auf dem ersten Treppenabsatz liegen. Auch das würde er überleben, entschied Murray zy nisch, falls er noch gelebt hatte, als er aus Zimmer Drei zehn herausgeholt worden war. Seine Haare waren versengt, und er schien mehrere Brandwunden an Ar men und Beinen zu haben. Aber ein guter Arzt würde nicht lange brauchen, um ihn wieder zurechtzuflicken. »Los, geh schon ans Telefon!« befahl er nochmals und blieb nicht stehen, um festzustellen, ob Heather seinen Befehl ausführte. Statt dessen rannte er in den Korridor zurück. Nun begann eine Schreckenszeit, an die er sich nach träglich nie mehr ganz deutlich erinnern konnte. Murray glaubte einen Alptraum zu erleben, in dem er ständig Schmerzen hatte und eine Höllenvision vor
sich sah. Alles begann in Zimmer Zwölf, wo Adrian Gardner wie eine Wachsfigur in seinem Bett lag, als sei er einer der Untoten aus Dracula. Kein Wunder, daß Valentine und Delgado unvorsichtig geworden waren und sich nicht mehr darum gekümmert hatten, ob die Tür des Zimmers Dreizehn offenstand, wäh rend sie über ihre Geheimnisse sprachen. Da sie wuß ten, daß die meisten Bewohner des Hauses in diesem todähnlichen Schlaf lagen, waren sie verständlicher weise etwas leichtsinnig geworden. Murray betrat Adrians Raum mit der Absicht, den Draht von der Matratze zu reißen und ihn mit den Tonbandspulen aus dem Fenster zu werfen, um spä ter zusätzliche Beweise zu haben. Aber er gab dieses Vorhaben sofort auf, als er einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte. Zwischen den Bodenbrettern rauchte es bereits, und der beißende Qualm nahm Murray den Atem. Hinter der Wand zu Zimmer Dreizehn knackte und prasselte es laut. Murray riß die Decke vom Bett und schob und zerrte, bis Adrian einigermaßen im Gleichgewicht über seiner Schulter hing. In Zimmer Dreizehn kam es zu einem neuen Kurzschluß. Das Fernsehgerät in Ades Zimmer begann zu rauchen; dann schlugen die ersten Flammen an der Stelle empor, wo das schwar ze Kabel hinter der Fußbodenleiste verschwand. Murray schleppte Adrian zur Tür. Hinter ihm be
gann der Teppich zu qualmen. Das Zimmer füllte sich mit dichtem Rauch. Murray sah zu Zimmer Dreizehn hinüber; die Farbe an der Tür warf bereits Blasen vor Hitze. Er hatte eben Adrian die Treppe hinabrutschen las sen, als der Boden unter seinen Füßen heftig schwankte. Irgend etwas krachte und zersplitterte, und Murray stellte sich vor, wie die schweren Geräte im Zimmer Dreizehn durch den Fußboden gebrochen waren. Und darunter lag die Bühne mit den brennba ren Vorhängen! Sobald das Feuer sich dort ausbreite te, war der erste Stock nur noch durch eine dünne Decke von einem wirklichen Inferno getrennt. Mur ray versuchte die nächste Tür zu öffnen – Constants, der in Nummer Elf schlief. Der Kerl hatte seine Tür abgeschlossen. Murray drehte sich um und hielt nach einem Werkzeug Ausschau, mit dem er die Tür aufbrechen konnte; er wußte, daß er nicht mehr Kraft genug be saß, um das Schloß mit roher Gewalt zu sprengen. Er sah einen geschnitzten Stuhl aus Eichenholz zwischen zwei Türen stehen. Mit Hilfe dieses Stuhls gelang es ihm, die Tür aufzubrechen. Zum Glück handelte es sich um eine Tür moderner Bauart, so daß er nur zwei Sperrholzschichten zu zertrümmern hatte. Bis er Gerry aus Zimmer Zehn zur Treppe ge schleppt hatte, war kein Zweifel mehr daran möglich,
daß nun auch das Theater in Flammen stand. Der Fußboden unter seinen bloßen Füßen war heiß; über all quollen dichte Rauchschwaden aus den Zimmern. Die Tür zu Nummer Dreizehn war bereits vor einiger Zeit ein Raub der Flammen geworden, und Murray hörte überall Fensterscheiben bersten. Der Boden schwankte nochmals und blieb schräg. Oder war das nur eine Illusion? Murray bildete sich ein, in jeder Richtung eine Steigung überwinden zu müssen. »Danke«, murmelte er und merkte erst dann, daß tatsächlich jemand in seiner Nähe war. Heather half ihm, Ida zur Treppe zu tragen. Auch Ida war leichen blaß; ihre Blässe trat noch deutlicher hervor, weil sie ein schwarzes Nylonnachthemd trug. Murray und Heather brachten es irgendwie fertig, den vom Feuer am meisten bedrohten Seitenflügel zu räumen. Die Treppe erinnerte jetzt an eine moderne Theaterkulisse; sie war mit Bewußtlosen übersät ... »Jetzt noch Sam!« flüsterte Murray heiser. Er spürte eine Hand auf seinem Arm. Ja, noch einer, aber nicht über dem brennenden Theater, sondern ganz vorn an der Treppe, wo weniger Gefahr bestand. »Schon gut, schon gut ...« Aber das war nicht Hea ther! Murray kniff seine tränenden Augen zusammen und erkannte eine Gestalt in dunkler Kleidung mit blitzenden Knöpfen. Jemand mit einem Helm auf dem Kopf.
»Ich habe sie gebeten, alle Feuerwehren der nähe ren Umgebung zu alarmieren – und möglichst viele Ärzte und ...« Das war Heather. Murray sah sich langsam um. Die Gestalten auf der Treppe lagen noch immer un beweglich in gleicher Haltung wie zuvor. Aber unten in der Halle erschienen jetzt Männer mit Wasser schläuchen, und irgend jemand brüllte Befehle. Mur ray hatte nur noch eine Frage: Sind alle in Sicherheit? Er hörte wieder Heathers Stimme. »Er hat sie her ausgeholt. Murray hat sie herausgeholt. Ja, das sind alle!« Feuerwehrmänner. Wasserschläuche. Fenster werden von draußen eingeschlagen, anstatt durch die Hitze zu zer splittern. Hoffnung Hilfe. Murray vergaß alles, was hinter ihm lag. Er wollte sich am Treppengeländer festhalten, aber seine Finger glitten ab, und er hatte nichts unter den Füßen, wo er eine Stufe erwartet hatte. Dann hielt ihn jemand fest, bevor er fiel. Er sah ein besorgtes Gesicht unter einem dunklen Helm vor sich. Murray wurde bewußtlos.
23
Murray Douglas kam nur langsam wieder zu sich und mußte eine bewußte Anstrengung machen, um seine Gedanken allmählich wieder unter Kontrolle zu bringen. Nachdem er das Bewußtsein zurückgewon nen hatte, war er mit seiner gegenwärtigen Lage zu frieden; er spürte eine rauhe Decke über sich, hatte ein zusammengerolltes Kleidungsstück als Kissen un ter dem Kopf und hörte den an- und abschwellenden Lärm, den Männerstimmen, aufheulende Motoren, Pumpen und prasselnde Flammen erzeugten. Dann sagte jemand besorgt neben ihm: »Hier ist er, Doktor. Er ... er ist einfach bewußtlos geworden.« Heathers Stimme. Eine andere Stimme, eine Männerstimme mit schot tischem Akzent, die Murray bekannt vorkam, antwor tete: »Das überrascht mich keineswegs, junge Frau! Ich habe ihn neulich gesehen und war entsetzt, wirklich entsetzt, wieviel älter er aussieht, als er eigentlich ist.« Dr. Cromarty. Der Name tauchte langsam aus Murrays Gedächtnis auf, und er zwang sich, die Au gen zu öffnen. Der Arzt stand tatsächlich vor ihm; er mußte sich in aller Eile angezogen haben, denn unter seinem Pullover war der gestreifte Kragen seines Schlafanzugs sichtbar.
»Wie geht es den anderen?« wollte Murray wissen. »Haben wir sie alle rechtzeitig herausgeholt?« Cromarty setzte sich seine Brille auf. Er warf Hea ther einen fragenden Blick zu und machte dann eine beruhigende Handbewegung. »Ja, Mister Douglas, den anderen geht es gut. Bleiben Sie jetzt ruhig lie gen, damit ich ...« »Ich meine nicht, ob sie Brandwunden davongetra gen haben!« unterbrach Murray ihn. Er richtete sich mühsam auf den Ellbogen auf. »Ich will wissen, wie es ihnen geht!« Cromarty schüttelte mißbilligend den Kopf und ver suchte ihn auf die Decke zu drücken. Aber Murray schob seine Hand ungeduldig fort. »Um Himmels wil len!« rief er aus. »Mir fehlt nichts. Ich bin nur von der Hitze und dem Rauch ohnmächtig geworden. Ich ...« »Deine Füße, Murray«, warf Heather ein. Er mach te eine Pause, weil er nicht sofort begriff, was sie meinte; dann sah er, daß sie recht hatte. Seine Fuß sohlen waren sehr empfindlich, aber das hatte Zeit bis später, denn vorläufig waren die Schmerzen noch erträglich. Viel wichtiger waren die Untoten, Delga dos ahnungslose Opfer, die er wie Leichen aus ihren Zimmern geschleppt und zur Treppe gebracht hatte. »Lassen Sie mich doch!« knurrte Murray und be freite sich mit einem Ruck aus Dr. Cromartys Griff. Er richtete sich auf. »Ich muß endlich wissen, was ...«
Er sprach nicht weiter, sondern sah sich um. Im Gras vor dem Hauptgebäude lagen säuberlich neben einander aufgereiht dunkle Gestalten. Zwei Feuer wehrwagen und andere Fahrzeuge beleuchteten die se Szene mit ihren Scheinwerfern. Uniformierte Män ner waren überall zu sehen. »Vorsicht an der zweiten Pumpe!« rief eine aufge regte Stimme. Fast im gleichen Augenblick stürzte hinter dem Haus etwas krachend in sich zusammen. Murray sah einen Funkenregen, der die Unterseite der gewaltigen Rauchwolke beleuchtete, die sich trä ge über den Himmel wälzte. Jetzt ist dort bestimmt nichts mehr zu finden, wo das Feuer gewütet hat ... Murray schloß kurz die Augen und bewahrte müh sam seine Selbstbeherrschung. Als der Einsturz ihn erschreckte, hatte er eine Frage stellen wollen. Jetzt erinnerte er sich wieder daran und drehte sich nach Dr. Cromarty um. »Krankenwagen«, sagte er. »War um sind keine Krankenwagen hier?« »Auf der Fernstraße hat es einen Unfall gegeben«, murmelte der Arzt. »Über zwanzig Verletzte und et liche Tote bei einem Busunglück. Aber die Wagen kommen so schnell wie möglich.« »Oh ...«, murmelte Murray enttäuscht und er schrocken. »Nun, haben Sie sich die Leute wenigstens schon angesehen?«
Cromarty fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich bin erst seit einigen Minuten hier, wissen Sie. Die Feuerwehrmänner sind natürlich in Erster Hilfe ausgebildet und haben festgestellt, daß nie mand ernstliche Verbrennungen davongetragen hat. Diese junge Dame hat darauf bestanden, daß ich zu Ihnen ...« »Delgado?« fragte Murray laut. »Er scheint einen Schlag bekommen zu haben«, er klärte Heather, »aber er ist nicht schwer verletzt.« Murray nickte erleichtert und kam zu seiner ur sprünglichen Frage zurück. »Was fehlt diesen Leuten, Doktor? Sie schlafen nicht. Sie wirken leblos. Sie ... verdammt noch mal, überzeugen Sie sich doch selbst!« Er ging vier oder fünf Schritte weit auf den näch sten ›Untoten‹ zu und stellte beim letzten Schritt fest, daß die Brandwunden an seinen Füßen wesentlich schlimmer als erwartet sein mußten. Er schwankte und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Zum Glück war Heather an seiner Seite geblieben und konnte ihn stützen. Cromarty folgte ihnen, öffne te seine schwarze Arzttasche und griff hinein. »Hier, junge Frau!« knurrte er und gab Heather ei ne Tube Salbe und zwei Mullbinden. »Bringen Sie diesen Idioten dazu, daß er sich ins Gras setzt, wäh rend Sie seine Füße verbinden, bevor Schmutz in sei
ne Brandwunden kommt. Ich versorge ihn später richtig, aber auf diese Weise hat er weniger Schmer zen.« Heather nickte schweigend, half Murray, der sich stöhnend niederließ, und holte die Decke, um sie ihm umzulegen. Murray achtete kaum darauf; er verfolgte Cromarty mit den Augen. Der Arzt ging von einer dunklen Gestalt zur anderen, blieb bei jeder kurz ste hen und kehrte langsam zurück. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, stellte er fest, »aber Sie haben gar nicht so unrecht gehabt, sie schlafen nicht und wirken trotzdem leblos. Diese armen Leute befinden sich in hypnotischer Trance.« »Wissen Sie das bestimmt?« erkundigte Murray sich. »Ganz bestimmt.« Cromarty räusperte sich verle gen. »Meine Praxis ist nicht sehr zeitraubend, und ich beschäftige mich in meiner Freizeit gern mit hypnoti schen Experimenten. Ich habe sogar schon werdende Mütter hypnotisiert – natürlich nur mit ihrem Einver ständnis –, und die Geburt war in jedem Fall schmerzlos.« »Ich dachte ...«, begann Heather und biß sich auf die Unterlippe. »Ja?« »Nun ... könnten sie nicht mit irgendeinem Mittel betäubt worden sein?«
»Möglich«, gab Dr. Cromarty zu. »Aber ich gehe jede Wette darauf ein, daß diese Leute hypnotisiert worden sind.« »Können Sie sie nicht aufwecken?« erkundigte Murray sich. Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wenn der Hypnoti seur seine Sache verstanden hat, sind sie nicht an sprechbar.« »Bleiben sie etwa immer so?« fragte Heather er schrocken. »O nein!« versicherte Cromarty ihr. »Diese Trance geht allmählich in normalen Schlaf über, aus dem sie normal erwachen. Aber ...« »Ja?« sagte Murray. »Aber sie reagieren vielleicht auf posthypnotische Befehle«, fügte der Arzt langsam hinzu. »Und wenn wir nichts dagegen unternehmen, müssen die armen Leute sie auch gegen ihren Willen ausführen, sobald sie wieder wach sind.« Murray hatte oft genug erlebt, wie sich Versuchs personen benahmen, die auf der Bühne hypnotisiert worden waren. Er wußte, was Cromarty sagen wollte; wenn die hypnotischen Befehle nicht gelöscht wur den, bestand die Gefahr, daß die Betroffenen sich wie Geisteskranke aufführten. Bevor der Arzt weitersprechen konnte, hielt ein Streifenwagen hinter ihnen. Der Fahrer stieg aus und
hielt einem Mann in Zivil die Tür auf. Dieser Mann wechselte einige Worte mit den anwesenden Polizei beamten, erkannte dann Cromarty und kam auf ihn zu. »Morgen, Doktor!« sagte er. »Tut mir leid, daß ich so spät komme, aber heute nacht ist einiges los.« »Wann kommen die Krankenwagen?« wollte Cro marty wissen. »Wir haben dreizehn gebraucht, um die Verletzten von der Straße wegzubringen. Haben Sie schon da von gehört? Aber die Wagen laden nur aus und kommen so schnell wie möglich hierher. Was geht ei gentlich hier vor?« »Das wollte ich eben Mister Douglas fragen«, stell te Cromarty fest. »Mister Douglas – Chefinspektor Wadeward.« »Murray Douglas, der bekannte Schauspieler«, murmelte Wadeward nickend. »Ich habe schon ge hört, daß Sie hier mit einem Ensemble proben. Nun?« Murray fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Heather hatte ihre Arbeit beendet und seine Füße verbunden. Jetzt hockte sie neben ihm im Gras, als sei sie zu erschöpft, um aus eigener Kraft aufzustehen. »Die ganze Sache ist so kompliziert, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.« Murray zögerte und versuchte seine Gedanken in eine logische Ord nung zu bringen.
»Sie könnten damit anfangen, daß Sie uns erklären, weshalb diese Leute alle hypnotisiert sind«, schlug Cromarty vor. »Haben Sie hypnotisiert gesagt?« Wadeward dreh te sich um und warf den bewegungslosen Gestalten im Gras einen ungläubigen Blick zu. »Ich ... nein, er zählen Sie mir erst mehr, bevor ich Fragen stelle!« »Sie wissen also bereits, weshalb wir hier zusam mengekommen sind?« fragte Murray. »Um ein neues Theaterstück zu erarbeiten«, ant wortete der Chefinspektor prompt. »Das hat in der hiesigen Zeitung gestanden. Es war offenbar eine wichtige Sache.« »Diese angeblich so wichtige Sache diente aller dings nur zur Tarnung«, erklärte Murray seinen Zu hörern. »Ich weiß noch jetzt nicht recht, was eigent lich beabsichtigt war, aber ich glaube, wir sollten alle völlig hysterisch gemacht werden. Und dann ...« Triplem. Konzenband. Das vereinbarte Erlebnis. Zwecklos. Spätestens hier wurde alles so undeut lich und verschwommen, als sehe er die Ereignisse durch die große Rauchwolke, die hinter dem Haus aufstieg. »Ich ... ich fange am besten ganz von vorn an«, murmelte er.
Dr. Cromarty und Chefinspektor Wadeward hör ten mit wachsendem Erstaunen von Trois Fois à la Fois, von Jean-Paul Garrigues Selbstmord, von Léa Martinez, die in eine Nervenheilanstalt eingeliefert werden mußte, und von Claudette Myrin, die ver sucht hatte, ihre kleine Tochter zu ermorden. Wadeward konnte plötzlich nicht länger schweigen. »Aber hat denn niemand etwas gegen diesen Ver rückten unternommen?« wollte er wissen. »Man kann doch nicht einfach zusehen, wie Unschuldige im Na men der Kunst verfolgt und ruiniert werden! Ob Ge nie oder nicht – das ist ungeheuerlich und hätte längst unterbunden werden müssen!« »Delgado ist so gerissen, daß man seine Behand lungsweise aus eigener Anschauung kennen muß, um sie für möglich zu halten«, stellte Murray fest. »Ich weiß selbst nicht, weshalb wir ihm nicht zum Opfer gefallen sind. Wahrscheinlich haben wir ein fach Glück gehabt.« »Nein, nicht nur das«, widersprach Heather ener gisch. »Du warst einfach zu zäh für ihn, Murray.« »Schmeichelhaft, aber leider nicht wahr«, erwiderte Murray seufzend. »Nun, schon am ersten Abend ...« Murray erzählte von den Tonbandgeräten unter ih ren Betten, von den seltsamen Metallstäben über der Bühne, von umgebauten Fernsehgeräten und von den seltsamen Apparaten in Zimmer Dreizehn. Er er
wähnte Delgados Empfindlichkeit, wenn diese Dinge zur Sprache gebracht wurden. Er sprach davon, daß selbst Lester Harkham plötzlich alles Interesse an den geheimnisvollen Apparaten verloren hatte. Er berich tete, daß die Fruchtsaftdosen in seinem Zimmer au ßer Saft auch Alkohol enthalten hatten, um ihn wie der zum Trinker zu machen. Er wiederholte das Ge spräch zwischen Valentine und Delgado, fügte hinzu, was er später gehört hatte, als Valentine und Walter ihn für bewußtlos hielten, und ... und ... Wadeward schüttelte schließlich den Kopf und gab zu: »Ich weiß einfach nicht, was ich daraus machen soll. Werden Sie daraus schlau, Doktor? Ich kann diesen ›Butler‹ und seine beiden Mitverschwörer höchstens wegen Rauschgifthandels suchen lassen. Vielleicht können wir ihnen noch Kuppelei vorwerfen, aber das ist schon alles. Oh, tut mir leid, junge Dame!« »Ich glaube«, flüsterte Heather, ohne ihn anzuse hen, »daß sie mich auch gegen meinen Willen dazu gebracht hätten, alles zu tun, was sie wollten.« »Aber die ganze Sache ist unglaublich!« protestier te Cromarty. »Sehen Sie sich nur das deutlichste Bei spiel an. Mister Douglas ist davon überzeugt, ein Drahtgeflecht auf der Matratze habe die hypnotische Trance dieser Leute hervorgerufen. Aber ich beschäf tige mich seit Jahren mit diesem Gebiet, und mir er scheint diese Vorstellung absurd!«
Murray ließ enttäuscht die Schultern sinken. Er hat te widersprechen wollen, aber nun sparte er sich lie ber die Mühe. Die Beweise, die er hatte in Sicherheit bringen wollen, waren inzwischen ein Raub der Flammen geworden. Was würden einige Kleinigkei ten helfen, die vielleicht später gefunden wurden? Pseudowissenschaftlicher Kram, der besser zu Lesters Theorie als zu Murrays phantastischen Vorwürfen paßte. Er legte den Kopf auf die Arme. Cromarty unter suchte ihn besorgt. Murray achtete kaum noch dar auf, was um ihn herum geschah; deshalb hätte er Heathers Vorschlag fast überhört. »Warum fragen wir nicht einfach Delgado, anstatt selbst Theorien aufzustellen?« meinte sie eben. »Er muß inzwischen wieder zu Bewußtsein gekommen sein. Valentine und die anderen sind entkommen, aber Delgado liegt dort drüben.«
24
Murray richtete sich abrupt wieder auf. Daran hätte er selbst denken müssen! Er hatte sogar daran ge dacht, den ›Autor‹ zu verhören, aber dann war die Rettung der übrigen Mitglieder des Ensembles wich tiger gewesen. Er wartete ungeduldig, bis Dr. Cro marty Delgado untersucht und bestätigt hatte, daß der Mann nur leicht verletzt war. Delgados Brand wunden waren bereits versorgt worden, und er war wieder bei Bewußtsein, als Cromarty ihn erreichte. Nun zitterte er vor Angst und schluckte dabei hörbar; er sah erschrocken von einem zum anderen. Als Cromarty zustimmend nickte, ließ Wadeward sich neben ihm auf die Knie nieder, gab sich zu er kennen und verlangte, Delgado solle zu Murrays Be hauptungen Stellung nehmen. Aber der Mann vor ihm stöhnte nur erschrocken und drückte die Lippen zusammen. »Los, reden Sie endlich!« brüllte Murray ihn an. »Reden Sie, verdammt noch mal!« Er war so wütend, daß er dem Liegenden einen Fußtritt versetzt hätte, wenn seine Füße nicht so emp findlich gewesen wären. Cromarty war abgelenkt worden und hatte nicht gesehen, daß Murray auf sei nen Verbänden ging, sonst hätte er es ihm verboten.
»Es hat keinen Zweck, noch länger den Mund zu halten«, stellte Heather fest. »Das hilft Ihnen nicht weiter. Die anderen haben Sie Ihrem Schicksal über lassen. Sie hätten hier sterben können. Ist Ihnen das klar?« Delgado zeigte erstmals Interesse. Die Angst ver schwand aus seinen Augen, als er Heather prüfend ansah. »Die anderen haben Sie in Zimmer Dreizehn zu rückgelassen, und Sie wären dort verbrannt«, erklärte Heather ihm. »Valentine und ... Victor und Walter! Wir wissen nicht, wohin sie verschwunden sind, aber sie wollten jedenfalls nicht bleiben und lebendig be graben werden. Sie sind fortgelaufen und haben Sie im Stich gelassen, und wenn Murray nicht gekom men wäre, um Sie zu retten, wären Sie lebendig ver brannt. Begreifen Sie das nicht? Ihre verdammten Freunde haben Sie zurückgelassen, aber Murray hat Ihr wertloses Leben gerettet!« Heather schluchzte fast, als sie das letzte Wort her vorstieß. Delgado war von diesem Gefühlsausbruch sichtlich beeindruckt; seine Angst machte jetzt blan kem Haß Platz. »Ist das wahr?« flüsterte er und fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Ja ... ja, ich erinnere mich wieder! Ich wollte das Tonband zusammenstellen, das Valentine brauchte, aber dann gab es plötzlich ei
nen Funken ... irgendwo ein Kurzschluß ... ich be rührte das Mischpult und wurde bewußtlos ...« Er richtete sich ruckartig auf und sah sich um. Dann starrte er Murray an. »Sie ... Sie haben mich dort herausgeholt?« krächzte er. Murray nickte langsam. »Aber ich dachte ...« Delgado machte wieder eine Pause, und als er weitersprach, klang seine Stimme erschreckend haßerfüllt. »Diese herzlosen, erbärmlichen, verdammten Sadi sten! Sie haben mich einfach zurückgelassen! Und ich sollte hier verbrennen!« Delgado schüttelte wütend die geballte Faust. »Aber dafür bezahlen sie noch! Sie sollen nur versuchen, sich irgendwie herauszureden, wenn die Temporegs sie eines Tages erwischen. Das sollen sie nur! Ich lasse sie bis zum Kinn in Atommüll vergraben. Ich lasse ihr Gedächtnis löschen, bis sie nur noch als leere Hüllen ohne Verstand existieren. Ich lasse sie mit falschen Redukes in Substate ver wandeln. Ich ...« Substate? Redukes? Konzenband? Triplem? Murray beugte sich nach vorn und sprach eindringlich. »Sparen Sie sich Ihre Worte. Die anderen können Sie ohnehin nicht mehr hören. Was ist ein Triplem, Delgado?« Der Autor schloß die Augen, lehnte sich auf die
Ellbogen zurück und schien sich resigniert mit sei nem Schicksal abzufinden. »Triplem? Das ist ein mikrominiaturisiertes Mehr fachkabel – der feine Draht, den Sie immer von Ihrer Matratze gerissen haben. Sie konnten es nicht erken nen. Es wird erst 1989 entwickelt, wenn ich mich recht erinnere.« Einen langen Augenblick herrschte völliges Schwei gen. Murray wollte zunächst seinen Ohren nicht trauen – schließlich machten die Feuerwehrmänner soviel Lärm, daß man ... Dann merkte er jedoch, daß alles wunderbar zu sammenpaßte. Er hatte richtig gehört, und das Puzz lespiel fügte sich vor seinen Augen zu einem logi schen Bild zusammen. Das Ende war noch nicht ab zusehen, aber Murray wußte jetzt, daß er richtig ver mutet hatte. »Und ... Temporegs?« fragte er langsam. »So haben Sie sie genannt, nicht wahr?« »Temporale Regulatoren«, murmelte Delgado. »Ei ne Art Polizei. Und wenn sie Valentine erwischen, hoffe ich nur, daß sie ...« »Substate?« fragte Murray scharf. »Unverbesserliche Verbrecher, deren Persönlich keit ausgelöscht worden ist, weil sie nicht auf Psycho therapie reagierten.«
»Redukes?« »Umerziehungsbänder, mit deren Hilfe die krimi nelle Persönlichkeit durch eine gesellschaftlich an nehmbare ersetzt wird.« »Konzenband?« Murray sah sich nach den übrigen Zuhörern um; Cromarty und Wadeward hörten sicht lich verblüfft zu, aber Heather verfolgte jedes Wort mit leuchtenden Augen. »Ein illegal hergestelltes Band, das die Orientie rung einer bestimmten Persönlichkeit in eine andere Richtung ablenken soll.« Delgado brachte seine Ant worten in dem mechanischen Tonfall eines Kindes vor, das ein Gedicht auswendig gelernt, aber nicht verstanden hat. »Konditionierer?« Das war der Kasten, mit dem Valentine ihn bewußtlos geschlagen hatte. »Ein Gerät zur zeitweiligen absoluten Beeinflus sung anderer.« »Erzeugt dieser ... dieser Konditionierer einen Zu stand, der an eine hypnotische Trance erinnert?« »Es ist eine hypnotische Trance.« Richtig. Murray holte tief Luft. »Manuel Delgado, wann sind Sie geboren?« »Augenblick«, sagte Wadeward und trat einen Schritt nach vorn, »ich verstehe nicht, was Sie damit ...« »Ruhe!« verlangte Murray und wiederholte seine
Frage. Dann folgte eine längere Pause. Schließlich fuhr Delgado sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Da ich Ihnen schon soviel erzählt habe – und ich hoffe sehr, daß es genügt, um Valentine zu sterilisie ren und seine Haare ausfallen zu lassen und seine Haut ...« »Delgado!« »Oh ... Ich bin im Jahr zweihundertachtzehn des Weltkalenders geboren. Nach Ihrer primitiven Rech nung wäre das etwa ... äh ... zweitausendvierhundert fünfzig.« Murray nickte langsam. »Jetzt weiß ich auch, was Sie hier getan haben«, stellte er ruhig fest. »Sie haben illegal Erlebnisse gesammelt, um sie in die Zukunft zu schmuggeln.« Delgado zuckte sichtlich zusammen. »Hören Sie, ich kann nicht ... ich darf nicht ...« »Doch, Sie können und müssen sogar«, stellte Mur ray fest. »Ich lasse nicht zu, daß Sie durch eine Ma sche Ihrer ... temporalen Regulationen schlüpfen. Sie werden das Loch so sehr vergrößern, daß man mit ei nem unserer primitiven Kraftfahrzeuge hindurchfah ren könnte. Haben Sie mich verstanden?« »Aber ich kann nicht!« beteuerte Delgado. »Ich darf nicht! Ich ...« Murray beugte sich über ihn, sprach so eindring
lich wie nur möglich und wußte, daß dies die wich tigste Vorstellung seines Lebens war, in der es um viel mehr als um das Lob der Kritiker und Dutzende von erfolgreichen Aufführungen ging. »Delgado!« sagte er laut. »Wenn Sie uns nicht die ganze Wahrheit sagen, nehme ich Sie auf den Rücken und trage Sie wieder ins Haus und lasse Sie dort zurück, wo ich Sie gefunden habe. Sie können sich darauf verlassen, daß selbst alle Ihre futuristischen Geräte mich nicht davon abhalten werden!« Er griff nach Delgados Hemd, raffte es auf der Brust zusammen und schüttelte kräftig. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete er, daß Wadeward den Mund öffnete, als wolle er einen Einwand vor bringen; Heather streckte die Hand aus, um ihn zu rückzuhalten, und Dr. Cromarty starrte die beiden Männer fasziniert an, obwohl er offensichtlich nicht mehr verstand, was sich hier ereignete. »Aber Sie haben anscheinend noch immer nicht begriffen!« antwortete Delgado verzweifelt. »Wenn ich Ihnen mehr erzähle, riskiere ich damit, daß ich be straft werde, daß alle möglichen Vergeltungsmaß nahmen gegen mich ergriffen werden ...« »Werden vielleicht sogar Ihre Erinnerungen ge löscht?« erkundigte Murray sich verächtlich. »Um so besser, Delgado! Eine gründliche Säuberung könnte Ih rem schmutzigen Verstand bestimmt nicht schaden!
Aber die anderen sind nicht hier, was? Und ich bin hier! Nun, was darf's sein – wollen Sie reden oder lieber ins Haus zurückgeschleppt werden, um dort zu braten?« »Aber wenn ich rede ...« Delgado murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann gab er sich einen Ruck. »Was bleibt mir schließlich übrig? Ich habe keine Hoffnung mehr, nicht wahr? Ich sitze hier fest – der Teufel soll diesen Valentine holen! – und muß bei diesen primitiven Idioten bleiben. Wenn ich den Mund halte, sperren sie mich wahrscheinlich in eines dieser schrecklichen Irrenhäuser – wie das Mädchen in Paris. Das könnte ich nicht ertragen, und dies ist wenigstens ein rascher Ausweg ...« »Ein rascher Ausweg?« wiederholte Murray und sah zu Cromarty hinüber. »Doc, sehen Sie lieber nach, ob er keine Selbstmordpille im Mund hat!« Dr. Cromarty trat auf ihn zu, aber Delgado winkte mit einer Handbewegung ab, aus der arrogante Über legenheit sprach. »Gift? Meinen Sie das? Oh, ich weiche nicht so weit von der Norm ab. Eine Veranlagung zum Selbstmord wäre schon in meiner Jugend korrigiert worden. Ich bin kein potentieller Selbstmörder. Ich bin nur ein si cherer Todeskandidat.« Er sah wieder zu Murray auf und lächelte dabei aus unerfindlichen Gründen.
»Scharfrichter«, sagte er leise. »Nun, fragen Sie mei netwegen. Aber ich kann nicht versprechen, daß ich al le Fragen beantworte.« »Alle, sonst schleppe ich Sie wie versprochen ins Haus zurück«, drohte Murray ihm. »Seitdem Sie mir das alles angetan haben ...« »Sie wollen nur Ihre Rache«, warf Delgado ihm vor. »Keine Angst, Sie bekommen bald, was Sie woll ten, und ich hoffe nur, daß Sie später noch ruhig schlafen können, wenn alles vorbei ist. Ihr Primitiven müßt starke Magennerven haben, um euer normales Leben auszuhalten, aber wenn das zuviel für euch ist, habt ihr nicht die gleichen Möglichkeiten, die ich bis her bei jeder Rückkehr aus der Vergangenheit gehabt habe. Sie können schreckliche Erinnerungen nicht einfach löschen, Douglas – Sie müssen sie aushalten, nicht wahr?« »Halten Sie den Mund und reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden«, fuhr Murray ihn an. Sein Gedächt nis enthielt zu viele schreckliche Erinnerungen, mit denen er leben mußte, weil er sie nicht vergessen konnte. »Mister Douglas«, warf Cromarty nervös ein, »ich muß etwas wissen, bevor Sie weiterfragen. Wie steht es mit den anderen dort drüben? Da ihr Zustand so ... so ungewöhnlich ...« »Machen Sie sich ihretwegen keine Sorgen«, ant
wortete Delgado mit einer wegwerfenden Handbe wegung. »Bringen Sie sie in eine Ihrer ›Nervenheilan stalten‹ und lassen Sie sie dort aufwachen. Wir haben bisher nur ihre natürlichen Tendenzen verstärkt. Die Leute erholen sich in einigen Wochen oder Monaten wieder davon.« Er warf Murray einen haßerfüllten Blick zu. »Das verdanken wir alles nur Ihnen!« Cromarty zögerte noch und zuckte dann mit den Schultern; er sah zum Tor, als könne er dadurch das Eintreffen der Krankenwagen beschleunigen. Delgado hatte wieder den alten Faden aufgenom men. »Hier könnte ich es ohnehin nicht aushalten – was ist also schon dabei? Bei uns ist es schon schlimm genug, weil es Leute gibt, die dergleichen Dinge pri vat genießen wollen, aber hier werden sie als ›Kunst‹ glorifiziert und ...« »Was?« fragte Murray, ohne eine Antwort zu be kommen. Er wartete einige Sekunden lang und fuhr dann eindringlich fort: »Delgado! Was sind Sie wirk lich?« »Ein ... Augenblick, der richtige Ausdruck fällt mir gleich ein ... ein Prügelknabe, ein Sündenbock.« Er war jetzt sehr blaß, und seine blutlosen Lippen be wegten sich kaum noch. »Ich hätte nie gedacht, daß hier jemand die Wahrheit vermuten würde. Wir hät ten Sie nicht nehmen dürfen – ich habe Valentine vor Ihnen gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören.«
»Bleiben Sie bei der Sache«, forderte Murray ihn auf. »Ja, richtig ...« Er wurde sichtlich schwächer; seine Stimme war ein heiseres Flüstern geworden. »Sie wissen, daß wir imstande sind, in die Vergangenheit zu reisen; aber dieses Unternehmen ist gefährlich, unhygienisch und illegal. Und wir haben Methoden entwickelt, mit denen sich der Verstand und die Per sönlichkeit eines Menschen manipulieren lassen. Manche Leute halten das für einen großen Fortschritt, andere sind der Meinung, dieses Verfahren sei zu ge fährlich, weil die begabtesten Menschen oft charak terlich labil sind. Ich weiß nur, daß mir die Idee nie gefallen hat, mein Verstand könnte offiziell beeinflußt werden, um dann einer Norm zu entsprechen.« Delgado machte erschöpft eine Pause; auf seiner Stirn erschienen große Schweißtropfen. »Man kann natürlich nicht alle zehn Milliarden Menschen der Erde auf diese Weise umerziehen; das kommt nur für Verbrecher und Abweichler in Frage, die sich freiwil lig dieser Behandlung unterziehen. Deshalb bleiben natürlich genügend Leute übrig, die sich öffentlich normal und privat anomal benehmen. Und die Gerä te, die Sie gesehen haben, sind allgemein erhältlich; sie werden zu Unterhaltungszwecken benützt, und ... nun, wenn Sie sich beispielsweise von Ihrer Freundin trennen, können Sie noch ein Band mit gemeinsamen
Erlebnissen herstellen, damit beide ein Andenken ha ben. Aber manche Leute legen eben Wert auf Erlebnisse, die in unserer Zeit nicht mehr zugänglich sind. Und Valentine versuchte diese Lücke zu füllen, indem er Primitive in der Vergangenheit für sich agieren ließ. Er versuchte es mit verschiedenen Jahrhunderten, nach dem er sich auf illegale Weise Zugang zu einer Zeitma schine verschafft hatte, aber alle Versuche schlugen fehl – die Bänder waren nicht zu gebrauchen ...« Delgado fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er stöhnte leise, winkte jedoch ab, als Hea ther sich ihm nähern wollte. »Dann habe ich meine große Idee gehabt«, fuhr er leise fort. »Ich habe Valentine vorgeschlagen, es mit Schauspielern zu versuchen. Schauspieler sind labil und leicht zu beeinflussen ... Und es hat geklappt. Er hat dreimal ein Vermögen damit verdient, dieser Schweinehund! Alles mit meiner Idee, und er läuft fort und läßt mich hier zurück, ohne sich darum zu kümmern, ob ich verbrenne! Schweinehund!« Diesmal war das Stöhnen lauter und von einer schmerzverzerrten Grimasse begleitet. Heather fuhr zusammen. Murray zögerte, weil er nicht wußte, ob er Delgado in diesem geschwächten Zustand weitere Fragen stellen durfte. Dann trat Dr. Cromarty plötz lich vor und sagte laut:
»Der Mann ist krank!« Er bückte sich und schlug die Wolldecke zur Seite, in die Delgado eingewickelt gewesen war. Nun sahen sie alle, wie Delgado dafür bestraft worden war, weil er die Wahrheit gesagt hatte, obwohl er hätte schwei gen müssen. Und sie sahen, weshalb er zuvor be hauptet hatte, sie würden starke Magennerven brau chen. Durch irgendeine teuflische Konditionierung, durch irgendeine psychomatische Technik der Zu kunft, die sich keiner von ihnen erklären konnte, war sein Körper verfault, während Delgado Sprach. Unter der Decke hatte sein Körper sich von den Zehen bis zum Hals in eine widerliche schleimige Masse ver wandelt. In der Ferne heulten die Sirenen der Krankenwa gen wie Höllengelächter.
25
Heathers Hand umklammerte Murrays Arm so fest, daß der Griff schmerzte, und sie rang nach Atem, als müsse sie sich mit letzter Kraft beherrschen, um sich nicht zu übergeben. Wadeward starrte wie betäubt zu Boden, und selbst Cromarty, der in seiner Arztpraxis schon einiges gesehen haben mußte, schien sich überwinden zu müssen, bevor er nach der Decke griff und sie über Delgado breitete. Dann kamen die Krankenwagen an, und Cromarty und Wadeward ließen sich gern ablenken. Murray hatte weniger Glück. Er stand noch immer an der gleichen Stelle, spürte Heathers Gewicht an seinem Arm und konzentrierte sich darauf, nicht zusammen zusacken. Als er die Augen nach unendlich langer Zeit wieder öffnete, sah er Cromarty vor sich, der eben Delgados Überreste fortschaffen ließ. »Mister Douglas, Sie zittern vor Kälte – und das ist kein Wunder!« rief Wadeward aus, der inzwischen wieder herausgekommen war. »Mann, Sie sind prak tisch nackt! Los, bringen Sie ihm einen Mantel, Ro berts!« Nicht so laut, das tut mir in den Ohren weh. Aber Murray konnte nicht sprechen. »Doktor, ist noch Platz in einem der Wagen?«
»Die verdammten Kerle haben uns nur drei ge schickt!« Cromarty fuhr sich mit allen zehn Fingern durchs Haar. »Aber ich nehme Mister Douglas mit zu mir nach Hause. Bei mir ist ein Bett frei, und ich muß seine Verbrennungen ohnehin noch versorgen.« Er sah zu Heather hinüber. »Und was wird aus Ihnen, junge Frau? Am besten kommen Sie gleich mit uns. Mein Wagen steht vorn am Tor.« Murray ließ sich von einem Polizisten, den Wadeward herangerufen hatte, einen warmen Mantel geben. Er konnte nicht mehr allein gehen und mußte sich auf den Weg zu Cromartys Wagen stützen lassen. Dann sank er erleichtert auf dem Rücksitz zusammen. Hea ther saß neben ihn und hielt seine Hand. Als sie abfuhren, sah Murray, daß die Feuerwehr männer sich darauf konzentrierten, das Hauptgebäu de zu retten. Der Seitenflügel würde wahrscheinlich noch einige Stunden lang brennen, aber das Feuer konnte nicht mehr übergreifen. Hoffentlich sind sie gut versichert, sonst kann Sam Bliz zard den Konkurs anmelden ... Murray fiel etwas anderes ein, und er beugte sich vor, um zu sagen: »Doktor Cromarty, wahrscheinlich bekommen Sie morgen Besuch von meinem Agenten Roger Grady. Ich habe ihm gestern am Telefon er zählt, ich würde zu fliehen versuchen und dann zu Ihnen kommen.«
Erst gestern abend? Großer Gott, wie kurz kann eine Ewigkeit sein? »Sie wollten fliehen?« wiederholte der Arzt erstaunt. »Menschenskind, wer Ihnen zuhört, muß glauben, Sie hätten in einem Konzentrationslager gesessen!« »Es war nicht viel besser«, stellte Heather fest. »Haben Sie nicht gehört, was Murray Ihnen erklärt hat?« »Ich kann es kaum glauben«, gab Dr. Cromarty zu. »Das betrifft Sie nicht persönlich, Mister Douglas, aber Sie sind nervös überreizt und ...« Er sprach nicht weiter. »Nein, nein! Ich glaube jetzt jedes Wort, seit dem ich diese unerklärliche Auflösung gesehen habe. Sie erinnert an eine Geschichte von Poe, nicht wahr?« »Monsieur Valdemar«, warf Heather ein. Murray spürte, daß ihre Hand zitterte. »Er war hypnotisiert worden, nicht wahr? Doktor, besteht etwa die Gefahr, daß die anderen alle ...?« »Delgado hat selbst gesagt, daß sie auf natürliche Weise erwachen und sich innerhalb weniger Wochen oder Monate erholen werden«, antwortete Murray und legte ihr beruhigend einen Arm um die Schul tern. »Aber ich habe auch gehört, daß er behauptet hat, er sei irgendwann im nächsten Jahrtausend geboren.« Heather schüttelte den Kopf. »Er war verrückt, fin dest du nicht auch?«
»Nein, er muß die Wahrheit gesagt haben«, erklärte Murray ihr, »denn sonst gäbe es keine vernünftige Erklärung für unsere Erlebnisse – und für seine Auf lösung.« »O Gott, das war einfach schrecklich!« rief Heather aus. »Ich kann mir vorstellen, was für ein Schock das für Sie war, junge Frau«, stellte Dr. Cromarty fest. »Seien Sie unbesorgt, ich gebe Ihnen nachher etwas, damit Sie schlafen können. Wir sind bald bei mir zu Hause.« Er wandte sich an Murray. »Mister Douglas, Sie scheinen sich eine Erklärung für alles zurechtgelegt zu haben – wer war er also?« Murray seufzte leise. Morgen früh würde ihm diese Nacht wie ein Alptraum vorkommen. In Zukunft wür de er seine Erinnerungen nicht mehr beweisen können, weil alle Beweise verbrannt und verglüht waren. »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich selbst vermute, seitdem ich Delgados Antwort gehört habe«, begann er. »Irgendwann in der Zukunft – im fünfundzwan zigsten Jahrhundert – hat die Wissenschaft solche Fortschritte gemacht, daß es möglich ist, Zeitreisen zu unternehmen und die menschliche Persönlichkeit zu verändern. Dazu wird eine Triplem-Antenne benützt, die auf unseren Matratzen angebracht war. Um die il legalen Wünsche einiger Perverser zu erfüllen, hat Valentine es übernommen, zahlungskräftigen Kun
den Bänder mit primitiven Erlebnissen zu liefern. Diese Kunden müssen gut gezahlt haben, denn Va lentine hat offenbar ein Vermögen damit verdient, nachdem Delgado ihn auf die Idee gebracht hatte, für seine Zwecke Schauspieler zu verwenden, die leicht beeinflußbar waren. Um ihre begrenzten Möglichkeiten besser auszu nützen, haben sie labile Menschen absichtlich dazu gebracht, sich gegenseitig auf die Nerven zu fallen. Auf diese Weise waren die Gefühlsreaktionen, die sie auf Band nehmen konnten, erheblich intensiver und klarer. Hätte ich nicht rechtzeitig etwas dagegen un ternommen, wäre ich als hoffnungsloser Alkoholiker in ihrer Sammlung von ›Erlebnissen‹ aufgetaucht ...« »Und ich als Lesbierin«, stellte Heather fest. »Das erschreckt mich noch nachträglich, Murray! Der Im puls war mehrmals auf meinem Band, das haben Va lentine und Delgado selbst zugegeben, und wenn du mich nicht gewarnt hättest, wäre ich nie auf die Idee gekommen, den Draht jeden Abend durchzuschnei den. Dann hätte ich mich von Ida verführen lassen, und später hätte irgend jemand, der noch nicht ein mal geboren ist, sich dieses ... dieses Erlebnis ...« »Nur keine Übertreibung!« warf Dr. Cromarty ein und versuchte beruhigend zu lächeln, was ihm je doch mißlang. »Der Versuch hätte schließlich fehl schlagen können, junge Frau!«
»Aber er wäre gelungen«, versicherte sie ihm. »Sie als Arzt wissen selbst am besten, daß etwas davon in jedem Menschen steckt. Es liegt unter der Oberfläche und wartet nur auf eine Gelegenheit, um ...« Zunehmende Hysterie, stellte Murray fest. Er frag te sich, ob ein paar Ohrfeigen helfen würden, falls Heather noch erregter wurde. Aber in diesem Au genblick bremste Dr. Cromarty bereits, und vor ihnen tauchte sein Haus aus der Dunkelheit auf. An einem Fenster im ersten Stock bewegte sich der Vorhang. Die Lampe über der Haustür wurde eingeschaltet, dann erschien Cromartys Haushälterin auf der Schwelle. Sie schlug besorgt die Hände über dem Kopf zu sammen, als sie Heathers Zustand sah, und führte sie fort, um ihr das Bad und ihr Bett zu zeigen. Dr. Cro marty brachte Murray einen warmen Schlafrock, be vor er sich daran machte, die Verbrennungen an bei den Füßen zu behandeln. Er arbeitete schweigend und stellte die entscheidende Frage erst, als die Brandwunden versorgt waren. »Mister Douglas, glauben Sie wirklich, was dieser Delgado gesagt hat?« »Fragen Sie mich morgen danach«, bat Murray müde. »Ja, natürlich.« Cromarty machte eine entschuldi gende Handbewegung. »Tut mir leid, ich hätte Sie
längst ins Bett schicken sollen. Meine Haushälterin hat das für Sie vorgesehene Bett wahrscheinlich der jungen Dame gegeben, aber wir finden bestimmt et was anderes für Sie ... Mrs. Garbett!«
26
Ein schrilles Klingeln. Murray schrak auf, dachte an das Telefon auf seinem Nachttisch und bildete sich ein, Valentine rufe an, um ihm zu sagen, das Früh stück werde zwischen acht und neun Uhr serviert. Er richtete sich auf, bevor ihm klar wurde, daß das alles vorbei war. Murray blieb auf der Bettkante ... nein, auf dem Rand der großen Couch in Dr. Cromartys Wohnzim mer sitzen. Draußen schien die Sonne. Er sah auf sei ne Uhr und stellte fest, daß sie um zwanzig nach eins stehengeblieben war. Dann hielt er sie sich ans Ohr und merkte, daß sie noch tickte. Sie geht noch. Folglich ... Jemand klopfte an die Tür. Mrs. Garbett erschien lächelnd. »Er ist aufgewacht, Doktor«, rief sie über die Schulter. Dann sagte sie zu Murray: »Guten Mor gen, Mister Douglas – oder vielmehr guten Nachmit tag. Doktor Cromarty wollte Sie vor allem ausschla fen lassen.« »Ich ... oh, dann ist es also zwanzig nach eins.« Murray rieb sich die Augen. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände gemacht habe.« »Umstände? Gott segne Sie, Sir, nach allen Ihren Erlebnissen gestern abend ... Es steht in der Zeitung,
und ich habe den Artikel zweimal gelesen. Sie haben alles verdient, was wir für Sie tun können. Draußen wartet Besuch für Sie, sonst hätte ich Sie noch nicht gestört.« Besuch? Dann bin ich also von der Türklingel aufge wacht. Murray lächelte zufrieden, als er zu diesem logi schen Schluß gelangt war. Bevor er fragen konnte, was bereits in den Zeitungen gestanden habe, trat Mrs. Garbett zur Seite und ließ den Besucher eintre ten. Roger Grady eilte besorgt auf Murray zu. »Großer Gott, Murray, bin ich froh, dich gesund wiederzusehen! Als ich beim Frühstück die letzten Nachrichten gehört habe, bin ich sofort aufgebrochen. Kannst du mir je verzeihen, daß ich unser Telefonge spräch von gestern abend nicht gleich ernst genom men habe?« »Augenblick«, sagte Murray langsam. »Welche Nachrichten hast du gehört?« »Daß Fieldfare House abgebrannt ist, und daß du die Leute gerettet hast!« Jetzt machte Roger ein er stauntes Gesicht. »Aber wie ist das in die Zeitungen gekommen? Es war doch so spät, daß ...« »Nicht zu spät für die Londoner Ausgaben, die mindestens bis hierher geliefert werden. Jemand hät te dir sagen können ... oh, du hast natürlich den gan
zen Morgen verschlafen. Nachdem ich die Meldung im Radio gehört und mit Sam gesprochen hatte ...« »Was hast du?« Murray hob abwehrend die Hand. »Du bist zu schnell für mich. Mein Gott – Sam! Was tun Sie hier? Sie gehören doch eigentlich ins Kran kenhaus!« »Mir fehlt aber nichts«, stellte Blizzard fest. Er hatte schweigend an der Tür gewartet, bis Murray auf ihn aufmerksam wurde. »Nachdem ich gehört hatte, was letzte Nacht passiert war, habe ich alle gewarnt, daß sich jeder ein blaues Auge holen würde, der mich daran zu hindern versuchte, selbst zu Ihnen zu kommen und Ihnen zu danken.« »Sam hat mich angerufen, um herauszubekommen, wohin du verschwunden sein könntest«, erklärte Ro ger Murray. »Im Krankenhaus wußte niemand etwas von dir – das war vielleicht noch dein Glück, weil du auf diese Weise von Reportern verschont geblieben bist. Ja, Mrs. Garbett?« »Hier steht alles, Sir«, sagte Mrs. Garbett und zeig te ihm die Morgenzeitung. »›Schauspieler als Lebens retter. Heute nacht gegen zwei Uhr brach im Fieldfare House, Bakesford, wo ein Ensemble unter Delgado ein neues Stück einstudierte, ein Großfeuer aus. Nur Murray Douglas, der bekannte Schauspieler, war um diese Zeit wach; er schlug Alarm und brachte die üb rigen Mitglieder des Ensembles, die bereits Rauch
vergiftungen erlitten hatten, nacheinander in Sicher heit. Drei Feuerwehren aus der näheren Umgebung bekämpften den Brand.‹« »Hat schon jemand behauptet, das sei nur ein von Delgado inszenierter Gag?« erkundigte Murray sich nach einer Pause. »Ja«, antwortete Roger verlegen. »Du weißt be stimmt selbst, wer es war.« »Tut der Kinnhaken noch weh?« »Offenbar.« »Aber ich sorge dafür, daß er seine Lügen nicht weiter verbreiten kann!« warf Blizzard erregt ein. »Ich besuche heute nachmittag den Herausgeber der Gazette, und wenn Burnett sich morgen nicht öffent lich in seiner Kolumne entschuldigt, sorge ich dafür, daß er in jedem Londoner Theater Hausverbot be kommt. Darauf kann er Gift nehmen!« Der Produzent wandte sich an Murray und sprach leiser. »Ich bin Ihnen nicht nur Dank schuldig, Mur ray – ich muß mich auch bei Ihnen in aller Form ent schuldigen. Vorläufig weiß ich noch nicht, was Del gado eigentlich vorhatte, aber jedenfalls steht fest, daß nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Wir sollen alle sanft und selig geschlafen haben, wäh rend das Haus in Flammen stand? Unmöglich! Das kann ich nicht glauben. Ich bin weder im Kranken wagen noch beim Ausladen aufgewacht. Wir haben
alle wie tot geschlafen. Und ohne Sie wären wir tot gewesen. Ich habe mich von Delgado täuschen lassen, daran ist nichts zu ändern!« »Der Mann war ein Genie. Seine Bänder haben ihm dazu verholfen.« »Was?« fragte Blizzard verständnislos. »Lassen wir das«, wehrte Murray ab. »Ich möchte jetzt vor allem frühstücken und irgendwo halbwegs passende Kleidungsstücke auftreiben ...« »Ich hole dir einen Anzug.« Roger stand auf. »Ich habe alles mitgebracht, kann aber nicht garantieren, daß die Schuhe passen.« Er verschwand, aber Blizzard ließ sich nicht von seinem Thema abbringen. »Murray, Sie dürfen mich jetzt nicht im Stich lassen. Wir haben viel Arbeit und Geld in dieses Theaterstück gesteckt, und ich will es auch ohne Delgado zu Ende bringen. Mit seiner Hypnopädie und seinen verdammten Geräten kann er mir gestohlen bleiben.« »Seien Sie lieber froh, daß alles so glimpflich abge gangen ist«, riet Murray ihm. »Noch einige Wochen dieser Art, dann hätten Sie ein Stück gehabt, im Ver gleich zu dem Marat/Sade ein harmloses Kindermär chen wäre.« »Aber ich bringe das Stück in London heraus«, ver sicherte Blizzard ihm. »Wir haben natürlich das Thea ter verloren, aber dafür muß die Versicherung auf
kommen, und wir beide können das Stück und die Dialoge rekonstruieren. Vielleicht führen wir es zu erst in der Provinz auf, bis wir bestimmt wissen, daß in London nichts schiefgehen kann.« »Ist das Ihr Ernst?« fragte Murray. »Soll ich etwa das gute Geld zum Fenster hinaus werfen?« rief Blizzard laut. »Denken Sie dann auch an Heather? Sie wissen doch, warum Delgado sie im Ensemble haben wollte, nicht wahr?« »Das ist mir heute morgen klar geworden«, gab Blizzard zu. »Sie sollte ... äh ... nur Ida amüsieren.« »Richtig.« Murray nickte nachdrücklich. »Nun, in der neuen Produktion bekommt sie eine Rolle, selbst wenn ich eine für sie schreiben müßte.« »Darum wollte ich Sie bereits bitten«, sagte Bliz zard. »Schließlich verdanken wir Ihnen fast die Hälfte aller Einfälle, und ...« Aber Murray hörte nicht mehr zu. Er hatte Dr. Cromartys Schlafrock angezogen, ging in die Diele hinaus und achtete nicht auf Roger, der mit einem Anzug über dem Arm hereinkam. »Mrs. Garbett! Mrs. Garbett! Wo haben Sie Heather untergebracht?« »Im Zimmer rechts oben an der Treppe, Mister Douglas«, antwortete die Haushälterin. »Ich weiß nicht, ob sie schon wach ist, aber ich wollte ihr eben eine Tasse Tee bringen und ...«
Sie erschien mit einem Tablett, auf dem zwei Tas sen standen. Murray nahm es ihr grinsend ab und humpelte die Treppe hinauf. Seine Füße schmerzten, aber diese Schmerzen gehörten noch zur Vergangen heit, und er war in die Zukunft unterwegs. Würde sie ihnen allen tatsächlich bringen, was Delgado angedeutet hatte? Nun, das spielte jetzt kei ne Rolle. Murray war dem Schicksal dafür dankbar, daß es ihm eine neue Chance gegeben hatte. Er mußte sich erst an diese Idee gewöhnen, aber die Vorstel lung gefiel ihn. Er klopfte an die Tür, die Mrs. Garbett ihm bezeichnet hatte, betrat das Zimmer und schloß die Tür hinter sich.