Alexander Straßner (Hrsg.) Sozialrevolutionärer Terrorismus
Alexander Straßner (Hrsg.)
Sozialrevolutionärer Terrorismus Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien
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1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15578-4
Inhaltsverzeichnis Alexander Straßner Sozialrevolutionärer Terrorismus: Typologien und Erklärungsansätze
I.
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Die Heterogenität sozialrevolutionärer Grundlagen
Benjamin Zeitler Terrorismus als Revolutionshindernis: Karl Marx und Friedrich Engels
37
Nina Huthöfer Der Katechismus des Revolutionärs: Sergej Nechaev
47
Marcus Gerngroß Anarchismus im Zarenreich: Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin
57
Ilona Steiler Die Idee der „Permanenten Revolution“: Leo Trotzki
69
Johannes Wörle Die Avantgarde als Keimzelle der Revolution: Vladimir I. Lenin
77
Tobias Nerb Angewandte Guerillatheorie: Mao Tse Tung
87
Stephanie Rübenach Die Theorie der Revolutionsherde: Befreiung der Dritten Welt oder Wegbereiter des Terrorismus?
97
Philip Gursch Gewalt als Widerstandsrecht? Herbert Marcuse
115
Daniel Heller Die Frankfurter Schule – Das Primat der Theorie
125
6
Inhaltsverzeichnis
II. Organisationen A. Klassische sozialrevolutionäre Organisationen Marcus Gerngroß Terrorismus im Zarenreich mit Vorbildfunktion: Die „Narodnaya Wolya“
147
Ilona Steiler Bewaffneter Kampf im Mutterland des Imperialismus: Der Weather Underground
159
Philip Gursch Revolution als Tradition: Die Action Directe in Frankreich
177
Barbara Fendt und Susanne Schäfer Orthodoxer Marxismus und Antiimperialismus: Die Belgischen Kommunistischen Zellen
189
Alexander Straßner Perzipierter Weltbürgerkrieg: Rote Armee Fraktion in Deutschland
209
Lutz Korndörfer Terroristische Alternative in der BRD: Die Bewegung 2. Juni
237
Johannes Wörle Erdung durch Netzwerkstruktur? Revolutionäre Zellen in Deutschland
257
Carolin Holzmeier und Natalie Mayer Erdung durch Arbeiternähe? Die Roten Brigaden Italiens
275
Florian Edelmann Die Schimäre der Weltrevolution: Rote Armee Faktion, Vereinigte Rote Armee und Japanische Rote Armee – Bewaffneter Kampf in Japan und im internationalen Kontext
305
Inhaltsverzeichnis
7
Florian Edelmann Die Phantomguerilla: Revolutionäre Organisation 17. November in Griechenland
329
Nina Huthöfer Erfolgreicher Terrorismus? Die Tupamaros in Uruguay
345
B. Strukturelle und ideologische Grenzfälle Alexandra Bürger Terrorismus oder Guerilla? Der Sendero Luminoso in Peru
365
Franz Kurz Ein „tragisch-groteskes“ Missverständnis: Das Scheitern der argentinischen Montoneros
387
Stephanie Rübenach Die Brasilianische Stadtguerilla: Aktionskonglomerat auf widersprüchlicher Grundlage
411
Daniel Heller Moderner Terrorismus zwischen religiösen, politischen und sozialrevolutionären Motiven: das Beispiel AlQaida
435
Folgerungen Alexander Straßner Die Zukunft des sozialrevolutionären Terrorismus
457
Anhang
Der Herausgeber/ Die Autorinnen und Autoren
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Sozialrevolutionärer Terrorismus: Typologien und Erklärungsansätze
Typologien und Erklärungsansätze
Alexander Straßner
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Sozialrevolutionärer Terrorismus: neues Stiefkind der Forschung
Terrorismus ist seit dem 11. September 2001 zu einem Kernthema in Wissenschaft und Belletristik avanciert. Gerade systematisierende Darstellungen erscheinen seither vornehmlich in Form von mitunter schmalen und wenig aussagekräftigen Sammelbänden und in regelmäßiger Abfolge.1 Seltener sind hingegen die monographischen Abhandlungen geworden, die eine Gesamtbetrachtung der terroristischen Logik und Struktur zum Ziel hatten.2 Nur ein Teil der publizierten Literatur ist aber tatsächlich von wissenschaftlichem Mehrwert3, ein Gros der Publikationen dient dem Zweck, die aktuelle Diskussion um kulturelle Brüche in einer globalisierten Welt als Ursache für Terrorismus zu ergänzen, die seit Huntingtons Kulturkampfhypothese4 die Politikwissenschaft mit beeinflusst.5 So prägen angesichts der aktuellsten Literatur kurze historische Darstellungen6 ebenso das Bild wie Versuche, eine enzyklopädische Bewältigung des Phänomens zu leisten.7 Im Zentrum der Untersuchungen steht dabei der religiös motivierte Terrorismus. In der öffentlichen Wahrnehmung reduzieren sich Inhalt, Struktur, Vorgehensweise und Bedrohungspotenzial augenblicklich auf die lineare Organisation AlQaida. In der Tat hat Terrorismus seit dem 11. September 2001 eine neue Qualität erreicht. Quantitativ durch die Viel1
Als aktuelles Beispiel siehe Gehl, Günter (Hrsg.), Terrorismus. Krieg des 21. Jahrhunderts? Weimar 2006. Wie beispielsweise die aktuelle Standardliteratur von Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, München 22005 und Hoffman, Bruce, Terrorismus - Der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt, Frankfurt am Main 1999. 3 Siehe dazu vor allem Kemmesies, Uwe E. (Hrsg.), Terrorismus und Extremismus. Der Zukunft auf der Spur. Beiträge zur Entwicklungsdynamik von Extremismus und Terrorismus. Möglichkeiten und Grenzen einer prognostischen Empirie, München 2006. Siehe dazu außerdem Waldmann, Peter (Hrsg.), Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2005. Begrenzt sinnvoll dagegen Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Herausforderung Terrorismus. Die Zukunft der Sicherheit, Wiesbaden 2004, 4 Huntington hatte methodisch und inhaltlich fragwürdig acht Kulturkreise prognostiziert, an deren Nahtstellen sich die Konflikte der Zukunft entzünden würden, von deren zahlreichen Vorboten einer der internationale Terrorismus sei.. Huntington, Samuel P, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996. 5 Dazu gehören auch die Neuauflagen der Monographien Walter Laqueurs, dessen Standardwerk deshalb vorzuziehen ist. Siehe dazu Laqueur, Walter, Die globale Bedrohung. Neue Gefahren des Terrorismus, München 2001 und Laqueur, Walter, Krieg dem Westen. Terrorismus im 21. Jahrhundert, München 2003. Als neuere Publikation siehe Richardson, Louise, Was Terroristen wollen. Die Ursache der Gewalt und wie wir sie bekämpfen, Frankfurt am Main 2007. 6 So beispielsweise Townshend, Charles, Terrorismus. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2005. 7 Dietl, Wilhelm/ Hirschmann, Kai/ Tophoven, Rolf, Das Terrorismus-Lexikon. Täter, Opfer, Hintergründe, Frankfurt am Main 2006. Es handelt sich dabei aber weniger um ein Lexikon im eigentlichen Wortsinne als vielmehr um eine generelle Aufarbeitung und Klassifizierung mit notwendigerweise meist unterkomplex gehaltenen biographischen Skizzen der jeweiligen Organisationen. 2
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zahl an zivilen Opfern, die mit einem einzigen Anschlag getötet wurden, qualitativ durch eine neuartige terroristische Struktur, die dem bis dato vorherrschenden Verständnis terroristischer Gruppierungen als strikt hierarchische Organisationen diametral entgegen stand.8 Sozialrevolutionärer Terrorismus befindet sich dagegen auf dem Abstellgleis, was die mediale Berichterstattung betrifft. Wird er heute in wissenschaftlichen Publikationen noch erwähnt, dann fristet er auch quantitativ ein Nischendasein gegenüber momentan prominenteren Fallbeispielen. Die letzte synoptische, wissenschaftliche Darstellung mit kurzen Skizzen sozialrevolutionärer Organisationen stammt aus dem Jahr 1992 und ist auf europäische Gruppen beschränkt.9 Nicht zuletzt seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und damit dem Wegfall der argumentativen Grundlage für zahlreiche sozialrevolutionäre Gruppierungen haben terroristische Organisationen, die sich auf Karl Marx oder eine der Folgeideologien bezogen, unter den erodierenden Tendenzen in der Berichterstattung gelitten, gleichwohl sie sich in dien siebziger Jahren zu öffentlichkeitswirksamen und damit auch publizistischen Höhen aufgeschwungen hatten, die ihren Niederschlag in Wissenschaft, Presse und öffentlicher Debatte fanden. Mit dem Epochenwandel 1989/90 und dem Aufstieg der AlQaida ab Anfang und Mitte der neunziger Jahre fand die Forschung nur noch zu einem stiefmütterlichen Umgang mit dem sozialrevolutionären Terrorismus, sieht man von der speziell deutschen Situation anlässlich des Jahrestages des „Deutschen Herbstes“ im Jahr 2007 ab. Als wissenschaftlich die Hypothese vorgebracht wurde, dass der sozialrevolutionäre Aktivismus als gescheiterte „dritte Welle“ des Terrorismus historisiert werden könne10, hat sich auch in der Wissenschaft der Fokus unmerklich in Richtung des islamistisch motivierten Netzwerkterrorismus verschoben. Die Vorstellung von terroristischen Organisationen als hierarchische Gebilde hatte bis dahin gerade in der Bundesrepublik die öffentliche Einschätzung geprägt. Bis heute bekannt und dominant sind in dieser Sichtweise die linksterroristischen Gruppen der siebziger und achtziger Jahre, Rote Armee Fraktion (RAF), Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen, und angesichts der Diskussion um die Wiederauferstehung des sozialrevolutionären Terrorismus in Italien auch die Roten Brigaden. Zahlreiche andere Organisationen, die in der nationalen Geschichte des jeweiligen Landes für Aufsehen sorgten bzw. diese sogar erheblich mitprägten, sind dagegen weithin unbekannt. Dies gilt besonders für die Tupamaros in Uruguay wie auch für die Montoneros in Argentinien. Das Argument, angesichts der aktuellen Bedrohungslage sei sozialrevolutionärer Terrorismus keine wissenschaftliche Analyse wert, ist allerdings zu kurz gegriffen. Einerseits, da einige Organisationen noch immer oder aber wieder aktiv sind. Beweggründe für sozialrevolutionäres Engagement scheint es also auch lange nach dem Kollaps des Sowjetkommunismus noch zu geben. Andererseits gilt es auch festzuhalten, dass sich zahlreiche Verbrechen bis heute noch immer nicht haben klären lassen, was letztlich auch den Grad an gesellschaftlicher Relevanz mitbestimmt. Allein die vehemente Diskussion, welche die geplante Freilassung von Gefangenen aus der RAF in 8
An der Literatur zu AlQaida hat sich die schwer zu treffende Einordnung niedergeschlagen. Es überwiegen bis heute journalistische und populärwissenschaftliche Darstellungen, die wohl nicht zuletzt aus Vermarktungszwecken die Literatursituation prägen und deshalb hier keine weitere Erwähnung finden. Eine der wenigen wissenschaftlichen Klassifizierungen stammt von Ulrich Schneckener, Transnationaler Terrorismus. Charakter und Hintergründe des „neuen“ Terrorismus, Frankfurt am Main 2006. 9 Alexander, Yonah/Pluchinsky, Dennis A., Europe`s red terrorists. The fighting communist organizations, Portland 1992. 10 So Rapoport, David C., The Fourth Wave. September 11 in the History of Terrorism, in: Current History, December 2001, S. 419-424.
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Deutschland im Winter 2007 auslöste, verdeutlichte. dass die ideologischen Grabenbrüche der siebziger Jahre weder verheilt noch deren Konsequenzen für Staat und Gesellschaft hinreichend analysiert wurden.11 Der Umgang mit dem Phänomen Terrorismus insgesamt wird allerdings durch die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit und die mediale Darstellung nicht selten erschwert. Dabei spielt weniger die inhaltliche Komponente eine Rolle, als vielmehr die unscharfe Verwendung von Begriffen, die eine übersichtlichere Landschaft terroristischer Organisationen zur Folge hätte. Insofern ist es Auftrag dieses einführenden Beitrages, das Phänomen sozialrevolutionärer Terrorismus zu definieren und abzugrenzen von Nachbarbegriffen und verwandten Formen politischer Gewalt. Anschließend wird die qualitative Veränderung der politisch motivierten Gewalt untersucht, um aufzuzeigen, dass Zellenstruktur und lineare Organisationsformen keine Erfindung moderner Islamisten sind. Ein kurzer Ausblick auf die Beiträge des Sammelbandes beschließt die einführenden Bemerkungen.
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Diffizile Begriffe: Terror, Terrorismus, Guerilla
Gemäß dem Diktum Friedrich Nietzsches, demzufolge nur Dinge definiert werden könnten, die keine Seele haben, verböte sich eine Darstellung des Terrorismusbegriffes ebenso wie der Versuch, ihm einen klar verortbaren Inhalt zuzuweisen. Für die wissenschaftliche Arbeit sind Definitionen aber nicht nur dringend notwendig, um Missverständnisse und klare Strukturen herauszuarbeiten. Wie am Beispiel des Terrorismusbegriffes aber besonders deutlich wird, ist hier eine Definition ebenso dringend erforderlich wie unmöglich zu leisten. Der Grund hierfür liegt in der normativen Aufladung des Begriffes, seiner Konnotationen, seiner Vielschichtigkeit und nicht zuletzt der Gefahr seiner Instrumentalisierung.12 Bevor der Versuch unternommen wird, eine Arbeitsdefinition von (sozialrevolutionärem) Terrorismus, der für die hier zu untersuchenden Fallbeispiele Gültigkeit beanspruchen kann, unternommen wird, ist so die Form politisch motivierter Gewalt von anderen Formen zu unterscheiden. In der medialen Berichterstattung mittlerweile ebenso gängig wie unzutreffend ist die Austauschbarkeit der Begriffe Terror und Terrorismus. Terror wird hier verstanden als eine Form der Gewaltausübung von oben, als „staatliche Schreckensherrschaft“13, ein Instrument der politischen Eliten, im speziellen durch ein politisches System und seine Institutionen, um oppositionelle Bestrebungen zu bekämpfen oder im Keim zu ersticken oder aber die Bevölkerung der rigiden Kontrolle durch die eigenen Geheimdienste oder Polizeien zu unterwerfen. In der Tat sind zwar spezifische Gemeinsamkeiten zwischen Terror und Ter11
Diese Aufgabe zu bewältigen hat sich das Hamburger Institut für Sozialforschung gestellt, am Ende der Bemühungen stand eine der Heterogenität der Thematik entsprechend voluminöse Publikation. Siehe dazu Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006. Die sofort nach Erscheinen kontrovers in den Tageszeitungen geführte Diskussion um die Möglichkeit der Historisierung des sozialrevolutionären Terrorismus legte Zeugnis ab von der Tatsache, dass die Nachwehen des sozialrevolutionären Aktivismus es verbieten, diesen terroristischen Teilbereich aus dem Blickwinkel zu verlieren. Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 12 Vgl. zur Problematik insgesamt Backes, Uwe, Auf der Suche nach einer international konsensfähigen Terrorismusdefinition, in: Möllers, Martin H.W./van Ooyen, Robert Chr. (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2002/2003, Frankfurt 2003, S. 153-165. 13 So Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, aaO (FN 2), S. 17.
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rorismus wie die Ausrichtung auf Furcht und Schrecken auszumachen.14 Beiden inhärent sind ein Gewaltakt oder zumindest dessen Androhung, eine darauf folgende emotionale Reaktion (Furcht oder Sympathie) und daraus resultierende Verhaltensweisen, die dem eigenen Schutz dienen sollen. Der geschärfte analytische Blick allerdings lässt fundamentale Unterschiede deutlich werden: Terror vermag aufgrund seiner staatlichen Organisation weitaus mehr Todesopfer zu fordern als der im Gegensatz dazu extrem risikobehaftete Terrorismus kleiner Gruppierungen. Während kleine Gruppen daher stets auf Bündnisgenossen angewiesen sind, kann ein Regime Terror mithilfe einer Ideologie zum Hauptgesetz seines Handelns machen, ohne sich auf die Reaktion aus der Bevölkerung einlassen zu müssen. Wie Friedrich/Brzezinski15 festgehalten haben, gehört Terror als Form der institutionell verankerten Gewaltausübung zu den Merkmalen totalitärer Diktaturen.16 Wie am Beispiel der stalinistischen Sowjetunion Ende der dreißiger Jahre und am nationalsozialistischen „Dritten Reich“ nachzuvollziehen war, gehörte das Höchstmaß an Repression gegenüber perzipierten und tatsächlichen Systemgegnern zu den Wesensbestandteilen des totalitären Staates.17 In der Berichterstattungen vor allem Tageszeitungen ist in begrifflicher Verwirrung auch in neologistischer Form versucht worden, eine treffende Beschreibung zu wählen.18 Ebenso vorsichtig muss bei der Unterscheidung zwischen Terrorismus und Guerilla vorgegangen werden. Für die sozialrevolutionären Terroristen selbst ist ihr Aktivismus der Kampf gegen ein als ungerecht empfundenes System. Ebenso wie nicht-gewalttätige Extremisten sehen sie sich daher selbst nie als Terroristen, sondern als legitime Widerstandsund Freiheitskämpfer gegen ein aus unterschiedlichsten Gründen abgelehntes „System“. Insofern versuchen sich Linksterroristen stets den Lorbeer der Legitimität anzuhaften und beanspruchen nicht selten den Status einer regulären Gegenarmee und stilisieren sich selbst zu einer „Guerilla“, um den Eindruck einer regulär kämpfenden Kombattantentruppe mit weit reichenden Machtbefugnissen zu erwecken. In zahlreichen Darstellungen ist jedoch bereits eingehend beschrieben worden, dass sich eine derartige Parallelisierung und Analogisierung von „Terrorismus“ und „Guerilla“/„Partisan“ trotz der häufigen Gleichartigkeit taktischen Vorgehens und der prinzipiellen Gemeinsamkeit irregulärer Kampfmethoden nicht aufrecht erhalten lässt.19 Terroristische Strategien können zwar den Auftakt einer späteren Guerillakriegsführung bilden oder sogar Schwächephasen einer Guerillabewegung überbrücken helfen, nicht selten sind spätere terroristische Organisationen ursprünglich als 14 Siehe zu den folgenden Ausführungen Waldmann, Peter, Terrorismus als weltweites Phänomen. Eine Einführung, in: Hirschmann, Kai/Gerhard, Peter (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen. Schriftenreihe zur Neuen Sicherheitspolitik Band 18, Berlin 2000, S. 16-21. 15 Auch wenn ihre Formulierung einer „terroristischen Geheimpolizei“ im Lichte heutiger präziser Definitionen bereits wieder ungenau war. Siehe dazu Friedrich, Carl J. /Brzezinski, Zbigniew, Totalitarian dictatorship and Autocracy, Cambridge 1956. 16 Der Totalitarismusbegriff hat sich daher ähnlichen Diskussionen ausgesetzt gesehen wie der Terrorismusbegriff. Siehe dazu Kailitz, Steffen, Der Streit um den Totalitarismusbegriff. Ein Spiegelbild der politischen Entwicklung, in: Jesse, Eckhard/ Ders. (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, München 1997, S. 219-250. 17 Exemplarisch nachvollzogen durch Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 61998, S. 944-979. 18 So titelte eine überregionale Tageszeitung über einen „Terrorkrieg gegen Amerika“, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.09.2001, S. 1. 19 Vgl. dazu Waldmann, Peter, Terrorismus und Guerilla – Ein Vergleich organisierter antistaatlicher Gewalt in Europa und Lateinamerika, in: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 1993, Bonn 1993, S. 69-103.
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Guerilla-Bewegungen entstanden20, die fließenden Übergänge können über fundamentale Diskrepanzen aber nicht hinwegtäuschen.21 Guerillakampf ist im Gegensatz zu Terrorismus eine militärische Strategie, welche die permanente Herausforderung, allmähliche Umzingelung und letztlich die physische Vernichtung des militärischen Feindes zum Ziel hat. Bei Guerillaorganisationen handelt es sich in der Regel um größere, bewaffnete Gruppierungen, die alleine Angriffe auf den militärischen Feind durchführen, ohne dabei klare Frontkonturen entstehen zu lassen. Die Organisationsform Guerilla, die über ihren militärischen Zweck hinaus breitere soziale Schichten einbeziehen kann, hat eine reale Möglichkeit zur Machterlangung, da sie über eine territoriale Basis in Form eines von ihr besetzten Teils des umkämpften Landes verfügt und in der Bevölkerung verankert ist.22 Durch ihren zumindest partiellen Rückhalt unter den Menschen eines Landes kann die Guerilla tatsächlich als „Gegenarmee“ auftreten und das ihr bekannte und vertraute Gebiet als Refugium nutzen. Insofern fällt es dem Guerillero leicht, sich im Volk zu bewegen wie ein „Fisch im Wasser“, seine „Technik der Nadelstiche“ anzuwenden und von seinen ruralen Rückzugsbasen aus die „Einkreisung der Städte durch das Land“ (Mao) zu beginnen. Die staatliche Macht kann aber, folgt man der theoretischen Literatur, nur durch einen regulären Feldzug erlangt werden.23 Modifikationen der Guerillatheorie waren dahingehend zu beobachten, als sich terroristische Gruppierungen vor allem dann, wenn sie in urbanen Ballungsräumen agierten, sich als „Stadtguerilla“ bezeichneten, um ihre Anweichungen von der klassischen Guerillatheorie auch begrifflich zu untermauern und legitimieren.
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Terrorismus, Terrorismen
In der Unterscheidung zwischen Terrorismus und Guerilla wird deutlich, dass eine Definition von Terrorismus aus normativen Gesichtspunkten unmöglich ist. Zwar ist der Aphorismus „des einen Freiheitskämpfer, des anderen Terrorist“ ein beliebig vorzubringendes und damit immunisierendes Argument, die Tatsache, dass Terrorismus negativ konnotiert ist, rückt einen so titulierten Aktivisten aber stets in den Bereich der Illegitimität, in welchem der Guerillero sich gerade nicht befindet. Aber euch inhaltlich-strukturell ist eine Definition nur schwer zu leisten. In den zahlreichen unternommenen Versuchen, diesem Phänomen begrifflich Herr zu werden, wurde die Ambivalenz und Vielschichtigkeit des Begriffes deutlich. Vereinheitlichende Beschreibungen mussten darüber hinaus stets komplexitätsreduzierend sein, was zu erheblichen Verzerrungen und Einebnungen zwischen den unterschiedlichen terroristischen Gruppierungen führte. Und auch die strukturellen Konsti20 Siehe dazu am Beispiel der IRA Lynch, Robert John, The Northern IRA and the early years of partition 19201922, Dublin 2006. 21 Siehe Waldmann, Terrorismus als weltweites Phänomen, in: Hirschmann/ Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO. (FN 14), S. 17-20. 22 Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Partisanen. In Carl Schmitts wegweisender Beschreibung ist es neben seiner Irregularität, der Intensität seines politischen Engagements und seiner Mobilität in Anlehnung an Jover Zamora der „tellurische Charakter“ (von lat. tellus = Boden, Landschaft, Erde, Erdreich) des Partisanen, seine Verankerung im heimatlichen Territorium, aus welcher er seine Stärke bezieht. Siehe dazu Schmitt, Carl, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 26. 23 Vgl. dazu Tse-Tung, Mao, Theorie des Guerilla-Krieges oder Strategie der Dritten Welt. Mit einem einleitenden Essay von Sebastian Haffner, Hamburg 1966, S. 57.
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tuenten terroristischer Spielarten verschiedener Provenienz sowie deren allgemeine Logik wurden nicht immer in adäquater Weise berücksichtigt. Eine erste begriffliche Fassung des terroristischen Phänomens wurde in der Genfer Konvention von 1937 versucht. Darin wurden als konstitutive Variablen von Terrorismus (...) kriminelle Taten, die gegen einen Staat gerichtet sind und das Ziel verfolgen, bestimmte Personen, eine Gruppe von Menschen oder die Allgemeinheit in einen Zustand der Angst zu versetzen24
beschrieben. Heute lässt die Definition der Bundesverfassungsschutzberichte den Aspekt der Verbreitung von Furcht unberücksichtigt: Terrorismus ist demzufolge (...) der nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden soll.25
In der aktuellen Debatte um den Terrorismus vergangener Dekaden und seine strukturelle Veränderung differenzierte sich die Argumentationskette aus und ordnete terroristisch motivierten Gruppierungen noch andere Strukturmerkmale bei. Walter Laqueur ging zunächst noch allein von der Furcht als konstituierendem Merkmal terroristischer Aktivität aus, nicht ohne auf die latente politische Zielsetzung hinzuweisen. Terrorismus sei somit die Anwendung von Gewalt oder die Androhung von Gewalt, beabsichtigt, um Panik in einer Gesellschaft zu säen, die Regierenden zu schwächen oder zu stürzen, oder einen politischen Wechsel herbeizuführen.26
Bahnbrechend neu allerdings wurde die Betrachtung des Phänomens erst unter soziologisch-kommunikativen Gesichtspunkten. Den Faktor der allgemeinen Verunsicherung bezog daher der Augsburger Soziologe Peter Waldmann in der Tradition der Analyse von Schmid/de Graaf27 als einen Hauptaspekt in seine Abhandlung mit ein, nicht ohne auf die gleichzeitig in zwei Richtungen zielende Kommunikationsabsicht des Terrorismus hinzuweisen: Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Sie sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen.28
Unüberbrückbar aber bleibt der Widerspruch zwischen den begriffen Freiheitskämpfer und Terrorist. Terrorismus ist stets das militante Vorgehen gegen ein als repressiv empfundenes Regime. Das Fehlen objektiv fassbarer Kategorien für die Repressivität eines Regimes aber machen eine allgemeine Definition aber unmöglich, will man auf der einen Seite um der Generalisierung willen nicht nivellieren, auf der anderen Seite nicht zu fallspezifisch argu24 Zitiert nach Heintze, Hans Joachim, Völkerrecht und Terrorismus, in: Hirschmann/Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO. (FN 14), S. 220. 25 Definition gemäß dem jährlich vom Bundesminister des Innern herausgegebenen Verfassungsschutzbericht. 26 Laqueur, Walter, Postmodern Terrorism, in: Foreign Affairs September/October 1996, S. 24. 27 . Schmid, Alex P./Graaf, Jonny de, Violence as Communication. Insurgent Terrorism and the Western News Media, London 1982. 28 Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, aaO. (FN 2), S. 10.
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mentieren. Auf der anderen Seite handelt es sich bei der Terrorismusforschung um ein so vehement politisiertes und damit subjektiviertes Forschungsfeld, dass eine objektive Systematisierung verunmöglicht wird.29 Insofern ist auf die technischen Merkmale zu rekurrieren, um zumindest Taktik, Strategie, Motive und Ziele besser untersuchen zu können. Entgegen plakativen Vorstellungen sind Terroristen nicht mental derangierte Persönlichkeiten und ihr Aktivismus kein Ausdruck individueller Defekte. Der Weg der militanten Opposition und ihre inhärente Logik sind stattdessen eine bewusste, rationale Entscheidung und folgen einer Nutzenmaximierungslogik und damit dem „rational choice“.30 In terroristischen Gruppierungen wird die Gewalt daher nicht ausschließlich wegen ihres Zerstörungsund Vernichtungseffektes gebraucht, sondern ist essentieller Bestandteil der langfristigen, im Zuge einer Tatserie ausgeübten terrorismusspezifischen Kommunikationsstrategie. Im Vergleich zur Guerilla stellt sich dies als ein wesentlicher Nachteil heraus. Der symbolischkommunikative Terrorismus, der sich auf extremistische Splittergruppen beschränkt und keine territoriale Basis für seine Aktionen vorweisen kann, hat keine Möglichkeit, tatsächlich die politische Macht zu übernehmen. Vielmehr erweist er sich, je länger er andauert, als kontraproduktiv zu seinem eigentlichen Anliegen. Dass der Terrorist keine Basis in der Bevölkerung und auch kein ländliches Rückzugsgebiet besitzt, stört ihn dabei wenig – er sieht sich mitunter als messianisch Berufener, als elitärer Vorkämpfer für Unterdrückte, als eigenmächtig handelnder Anwalt Dritter, die sich ihrer schlechten Lage nicht in ausreichendem Maße bewusst sind. Im Gegensatz zum Guerillero stehen dem Terroristen aber die Möglichkeiten zur Verwirklichung seines Zieles nicht zur Verfügung. Er kann keine direkte Verbindung zu seiner Klientel oder zur Bevölkerung knüpfen, da er unter großen Teilen der Menschen, für die er zu kämpfen vorgibt, Furcht und Schrecken durch einen „offensiven Normbruch“31 verbreitet. Er setzt stattdessen auf den aufklärerischen Effekt seiner „Botschaften“, und sein Terrorismus wird daher im Vergleich zur basisorientierten Guerilla zu einer „Verlegenheitsstrategie“.32 Im Ertrag muss der terroristische Kampf damit hinter denjenigen der Guerilla zurückfallen. Und in der Tat ist kein Beispiel bekannt, in welchem eine terroristische Organisation ihr Ziel einer gewaltsamen Umwälzung erreicht hätte, während es den Guerillakriegern Maos in China, Guevaras auf Kuba oder den Sandinisten in Nicaragua gelungen ist, ihren jahrelangen Kampf in eine (nationale) Revolution mit weit reichenden gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Konsequenzen münden zu lassen.33 Nicht zuletzt aus den genannten Gründen kann sich der Terrorist nur darauf beschränken, Angst zu verbreiten, eine tatsächliche Möglichkeit zur Machtübernahme hat er aufgrund seiner faktischen Isolation nicht. Um diese latent vorhandene Furcht vor neuerlichen Aktionen unter der gesamten Bevölkerung zu verbreiten, hat er die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten aufgegeben. Das widersinnige Konzept „Stadtguerilla“ der westeuropäischen Linksterroristen potenzierte dieses Problem als Übertragung auf 29
Siehe zu den Definitionsproblemen auch Kemmesies, Uwe E., Zukunftsaussagen wagen: Zwischen verstehen und Erklären – Methodologische und theoretische Notizen zur Prognoseforschung im Phänomenbereich Extremismus/Terrorismus, in: Ders. (Hrsg.), Terrorismus und Extremismus, aaO., (FN 3), S. 8-12. 30 Siehe dazu statt Vieler Crenshaw, Martha, The Logic of Terrorism. Terrorist Behavior as a Product of Rational Choice, in: Howard, Russel D./Sawyer ,Reid L. (Hrsg.), Terrorism and Counterterrorism, Guilford 2003, S. 55-67. 31 So Waldmann, Peter, Terrorismus und Bürgerkrieg, München 2003, S. 40. 32 Vgl. dazu Waldmann, Terrorismus als weltweites Phänomen, in: Hirschmann/ Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO., (FN 13), S. 12. 33 Waldmann, Terrorismus und Guerilla, in: Backes/Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, aaO. (FN 18), S. 76.
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die Metropolen der westlichen Welt noch einmal: Territoriale Rückzugsbasen im Stile weitgehend unerschlossener süd- oder mittelamerikanischer Landstriche sind in den modernen Industrienationen mit ihrer infrastrukturellen Durchdringung nicht mehr auszumachen, der Terrorist kann sich also nicht unerkannt unter eine mit ihm sympathisierende Bevölkerung mischen noch weitgehend unwegsame Gebiete eines Landes als Refugium nutzen. Schon allein aus diesem Grund ist es ersichtlich, wieso sich die Aufständischen Westeuropas im Gegensatz zu ihren süd- und mittelamerikanischen Genossen auf eine terroristische Strategie versteiften. Darüber hinaus konnten die marxistisch inspirierten Terroristen in Westeuropa niemals auf ein pauperisiertes Lumpenproletariat oder eine verarmte Landbevölkerung als revolutionäres Subjekt hoffen, da das Einkommensniveau und das Sozialstaatsprinzip in den Industrieländern gerade in den städtischen Unterschichten für eine relativ gesicherte und komfortable Existenz sorgte, so dass es an der generellen Unzufriedenheit, jenem kollektiven und leicht entzündlichen prärevolutionären Ressentiment, in Westeuropa von Beginn an fehlte. In Folge dieser strukturellen Unterschiede wie ihrer permanenten Leugnung werden Terroristen durch fortwährende Kleingruppenisolation und der darin stattfindenden Selbstbestätigung schließlich zu einer „autistischen Gruppe von Gleichgesinnten“.34 Der generelle und für diese Bearbeitung bedeutendste Unterschied zwischen Terrorismus und Guerilla verdichtet sich jedoch in der Kommunikationsfunktion. Auf eine schlagwortartige Formulierung verkürzt, besetzt der Terrorist durch seine Verbreitung von Furcht das Denken, während der Guerillero durch seine Verankerung in Volk und Territorium den Raum besetzt.35 Es bleibt die Kommunikationsfunktion des Terrorismus genauer zu betrachten. Die terroristischen Gewaltakteure verlassen sich auf die kommunikativen Auswirkungen ihrer Taten. Auf diese Weise erstreben sie es zum einen, durch den Schockeffekt ihrer Aktivitäten Angst unter der Bevölkerung zu verbreiten. Besonders relativ gewaltfreie Formen des Zusammenlebens wie die offenen Gesellschaften westlicher Demokratien bieten sich zu einer derartigen Strategie idealtypisch an, da schockierende Attentate und Entführungen hier stets größtmögliches öffentliches Interesse hervorrufen. Mit dieser allein negativen Beurteilung der Kommunikationsstrategie ist jedoch nur ein Aspekt terroristischen Handelns beleuchtet, denn Gruppierungen terroristischen Ursprungs sind schon allein aufgrund ihrer quantitativen Schwäche stets auf Gleichgesinnte und Bundesgenossen zum Erreichen ihrer politisch deklarierten Ziele angewiesen. Außerdem ist es daher ihre Absicht, mit den Aktionen ihr Umfeld und die Sympathisanten näher an sich zu binden, indem man sie von der eigenen Schlagkraft überzeugt. Zum anderen besteht die kommunikative Funktion des Terrorismus in seiner Ausrichtung auf die staatliche Autorität:36 Es soll verdeutlicht werden, dass es eine militante und militärische Opposition gibt, die zum Äußersten entschlossen ist und das System herauszufordern in der Lage ist. Wendet die staatliche Autorität sich in ihrer Reaktion auf die Herausforderung mit aller Härte gegen die terroristische Bedrohung, so besteht die Gefahr, dass 34
So Rabert, Bernhard, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, Bonn 1995, S. 21. So Wördemann, Franz, Mobilität, Technik und Kommunikation als Strukturelemente des Terrorismus, in: Funke, Manfred (Hrsg.), Terrorismus. Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik, Bonn 1977, S. 140-158, hier S. 145. Siehe dazu auch Wördemann, Franz, Terrorismus. Motive, Täter, Strategien, München 1977, S. 53-60. 36 Terrorismus als kommunikatives Phänomen betrachtet vor allem und überzeugend Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, aaO. (FN 2), S. 13, S. 48 und besonders S. 28-39. 35
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sie sich durch die rigide Anwendung der Strafverfolgung und das eventuelle Verlassen des Bodens des demokratischen Rechtsstaates selbst ihrer Grundlagen beraubt.37 Die Betonung des eigenen Aktionismus liegt deshalb für Terroristen auf der Erregung allgemeiner Aufmerksamkeit und der Verankerung in einer breiten Öffentlichkeit, in der Regel hat daher die ausgeübte Gewalt gegen eine Person meist relativ wenig mit ihr selbst als vielmehr mit ihrer symbolischen Funktion zu tun.38 Der aus der Reaktion des Staates resultierende Verlust an Legitimation soll den Boden bereiten für eine breite Zustimmung zur terroristischen Gruppierung in der Bevölkerung. Die Terroristen führen darauf hin erneut Anschläge durch, worauf der Staat mit noch größerer Härte reagiert, was wiederum dem Terrorismus eine breitere Basis verschafft usw.. Das Ziel dieser „Aktions-Repressions-Spirale“ ist die völlige Erosion staatlicher Macht, sowie das Forcieren der kollektiven Bewusstwerdung über die Unterdrückung und die Provokation durch die staatliche Macht. In der Regel wird seitens der Terroristen in dieser Hinsicht aktivistisch argumentiert, als ob sie den staatlichen Institutionen das Gesetz des Handelns zu diktieren in der Lage sind. Angesichts der symbiotischen Beziehung zwischen Terrorismus und Medien39 allerdings kann auch negativistisch argumentiert werden. Da Terroristen unweigerlich als kleine Gruppe auf Thematisierung in den Medien angewiesen sind, verbietet sich eine Strategie der Abnutzung und Zermürbung mit Hilfe stets gleicher Aktionen. Um in der Öffentlichkeit Gehör und in den Medien Berücksichtigung zu finden, bedarf es eines permanenten Wechsels der Anschlagsformen ebenso wie einer sich stetig steigernden Spirale der Militanz und Brutalität („Militanzfalle“).40 Neben den dargestellten inhaltlichen Unterschieden zwischen Guerilla/Partisan und Terrorist ist jedoch auch der Terrorismusbegriff hinsichtlich der beabsichtigten Zielstellung selbst noch einmal äußerst heterogen zusammengesetzt. Er subsumiert unter seiner Rubrik vielfältige und hochgradig voneinander differente Organisationen und Motivationen. Zahlreiche Länder hatten sich mit dieser Erscheinungsform des politisch motivierten Widerstandes auseinander zusetzen, wobei die Gründe dafür meist sehr unterschiedlicher Natur waren und somit vor allem hinsichtlich ihrer Zielsetzung variierten. Auch wenn ihre gemeinsame Aktionsform als „politisch motivierte Gewalt“41 bezeichnet werden kann, so ist daher doch zwischen den verschiedenen terroristischen Gruppen und ihren voneinander differenten Zielen genau zu unterscheiden. Dabei sind mehrere Unterscheidungen ge37
Nur ein Beispiel für das staatliche Dilemma zwischen der Gewährleistung von Sicherheit und dem Übertreten rechtsstaatlicher Prinzipien ist das Gefangenenlager in Guantanamo auf Kuba. Siehe zur Beurteilung aus völkerrechtlicher Perspektive Manfred Nowak, Das System Guantanamo, in: APuZ B 36/2006, S. 23-30. Frappierend dahingehend auch weiter zurückliegende staatliche Bekämpfungsmethoden wie die bislang bewährte und auch lange praktizierte Strategie Israels gegen den palästinensischen Terrorismus, führende Mitglieder von Fatah und Hamas gezielt zu „liquidieren“, wobei allein der Sprachduktus Demokratien nicht einträglich ist. Darüber hinaus ist die Tatsache bedenkenswert, dass Israel im Kampf gegen den Terrorismus faktisch die Folter legalisiert hat. Siehe dazu Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, aaO. (FN 2), S. 63. Siehe zur rechtlich bedenklichen Form der präventiven Terrorismusbekämpfung im Gefolge der Bush-Doktrin besonders „Weg in eine andere Rechtsordnung“, in: FAZ vom 10. Januar 2003, S. 8. 38 Waldmann, Terrorismus als weltweites Phänomen, in: Hirschmann/Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO. (FN 13), S. 12. 39 Siehe dazu allgemein Glaab, Sonja (Hrsg.), Medien und Terrorismus. Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung, Berlin 2007. Am Beispiel von Entführungen und ihrer medialen Inszenierung siehe Buck, Christian F., Medien und Geiselnahmen. Fallstudien zum inszenierten Terror, Wiesbaden 2007. 40 Siehe dazu ausführlicher das abschließende Kapitel von Alexander Straßner in diesem Band. 41 Siehe dazu Kaouras, Georgios, Terrorismus. Historische und politische Komponenten des terroristischen Phänomens, Frankfurt am Main 1994, S. 15.
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bräuchlich. So ist zunächst zwischen Links- und Rechtsterrorismus zu unterscheiden. Der Rechtsterrorismus zielt auf den Ersatz der bestehenden staatlichen Ordnung durch ein autoritär-faschistisches Staatssystem ab, seine Anschläge richten sich gegen Bürger ausländischer Herkunft ebenso wie gegen „nationale“ Interessen vernachlässigende staatliche Institutionen oder ausländische Militäreinrichtungen. Die Motivationslage für terroristische Aktionen von links differenziert sich in Analogie zum Linksextremismus aus. Linksterroristen ziehen ihre Motivation aus den Strukturfeldern des Antikapitalismus, -imperialismus und des Antirassismus mit all ihren Unterverzweigungen. Originär linksterroristische Gruppierungen zeichnen sich im Gegensatz zu ihrem Pendant dadurch aus, dass sie, ebenso wie zahlreiche militante sozialrevolutionäre Bestrebungen, sich in einem pervertierten Altruismusverständnis zugunsten eines vermeintlich begünstigten Dritten engagieren.42 Die Bidimensionalität des Links-Rechts-Schemas verhindert aber auch hier eine differenziertere Analyse und kann die vorherrschende Komplexität der terroristischen Erscheinungsformen nicht zufrieden stellend erklären. Ein detaillierterer Einblick eröffnet sich erst dann, wenn die Zielstellung mit der zugrunde liegenden Motivation kombiniert wird. So schält sich zunächst erneut eine dichotomische Deskription des terroristischen Phänomens heraus. Auf der einen Seite liegen gewaltbereiten Gruppierungen mehrere Streitfragen zugrunde („multiple-issue-terrorism“), auf der anderen Seite gibt es Aktionisten, die sich in der Regel lediglich auf einen Themenkomplex „spezialisiert“ haben, wie zum Beispiel dem Kampf für den Tierschutz oder gegen Abtreibung und die zunehmende Umweltverschmutzung.43 Diejenigen Gruppierungen, die sich auf einen Inhalt konzentrieren, finden hier keine Berücksichtigung, unter den Themenbündeln der anderen Organisationen finden sich erneute Ausdifferenzierungen: Die älteste Form von Terrorismus und in der jüngsten Vergangenheit zu höchster Virulenz erstarkt ist der religiös motivierte Terrorismus durch Sekten oder islamistische Gruppierungen. Er bezieht seine Legitimation in der Regel aus transzendenten Glaubensinhalten und war in allen drei großen monotheistischen Religionen (Christentum, Islam, Judentum) beobachtbar. Bei seinen Anschlägen hat der religiös motivierte Terrorismus im Zuge eines Anschlages weniger das Los bestimmter Gruppen im Auge als vielmehr das persönliche Heil des Attentäters, der sich durch seinen Aktionismus ein Stück weit näher an die religiös determinierte Endzeitvorstellung herangerückt sieht.44 Im Verbund damit zeigen sich freilich weiterführende Motivlagen, die den Kampf gegen eine empfundene territoriale (Hamas, Hisbollah, Islamischer Dschihad) oder aber gegen eine kulturelle Unterdrückung (AlQaida) wurzeln. Durch seine gleichzeitige Transzendenz und Verankerung in weiten Teilen der entsprechenden Bevölkerung erweist sich der religiös inspirierte Terrorismus gerade unter fanatisierten Individuen besonders islamistischer Provenienz als ausgesprochen langlebig und integrativ.45 Anhand der gegenüber sozialrevolutionären und eth42
Waldmann, Peter, Terrorismus, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1996, S. 780. Siehe dazu die Darstellung von Hirschmann, Kai, Terrorismus in neuen Dimensionen. Hintergründe und Schlussfolgerungen, in: APuZ B 51/2001, S. 8. Als wohl bekanntestes Beispiel für „Ökoterrorismus“ und Tierschutz fungiert wohl die britische „Animal Liberation Front“ (ALF). Siehe dazu Laqueur, Die globale Bedrohung. Neue Gefahren des Terrorismus, aaO. (FN 5), S. 255-261. 44 Siehe dazu auch Rapoport, David C., Fear and Trembling. Terrorism in Three Religious Traditions, in: American Political Science Review 78 (1984), S. 658-677. 45 Religiös motivierten Organisationen wird so unter den terroristischen Spielarten auch die längste Lebensdauer beschieden. Vgl. dazu Straßner, Alexander, Terrorismus und Generalisierung. Gibt es einen Lebenslauf terroristischer Gruppierungen?, in: ZfP Nr. 4/2004, S. 359-383. 43
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nisch-separatistischen Organisationen vorhandenen quantitativen Überlegenheit wird das Ausmaß an Integrationsfähigkeit deutlich.46 Dass der religiös motivierte Terrorismus sich dabei in Verquickung mit nationalistischen Motiven als Widerstandspotential von ungeheurer Dimension entpuppt, ist an den palästinensischen Befreiungsbewegungen mit ihren zahlreichen Selbstmordattentaten47 ebenso nachvollziehbar wie an fundamentalislamistischen Bewegungen wie derjenigen Osama Bin Ladens, welche den religiösen Anspruch zu zutiefst säkularen Zwecken missbraucht. Im Augenblick wird der religiös inspirierte Terrorismus ausschließlich am Islamismus festgemacht, der seine vermeintliche Legitimation zum einen aus einer tief religiösen und damit transzendenten Motivation bezieht, zum anderen in einigen Ausprägungen eine Verteidigungsstrategie gegen westliche Einflüsse und ihre vermeintlichen Vergiftungserscheinungen durch das Überstülpen der westlichen Gesellschaftsform über die muslimisch geprägte („Westoxikation“) darstellt.48 Spezifisch linksterroristische Ausprägungen sind im religiös inspirierten Terrorismus schon aufgrund der Areligiösität der marxistischen Ideologie selten, lediglich die palästinensische PFLP vermochte die Unüberbrückbarkeit von marxistischer Ideologie und religiöser Motivation noch tatsächlich sozialrevolutionär umzuinterpretieren: Erst durch ihre ethnonationalistische Komponente erhielt aber auch sie ein Höchstmaß an Schlagkraft. Dem gegenüber blieben vigilantistische Formen wie der Ku-Klux-Clan in den USA, welche die Bewahrung eines Systems unter bewusstem Bruch der darin gültigen Normen anstreben, stets in einem vernachlässigbaren Rahmen.49 46
So konnte die Abu-Nidal-Gruppe zu jeder Phase ihrer Existenz auf mindestens 500 stets einsatzbereite Männer zählen, während die RAF bestenfalls 20-25 Personen in der Kommandoebene vorweisen konnte. Auch die personelle Stärke der ETA und der IRA ging wohl nie über 200-400 Personen hinaus. Siehe dazu Hoffman, Bruce, New Forms of Terrorism and The Threat of Terrorist Use of Chemical, Biological, Nuclear and Radiological Weapons, in: Hirschmann/ Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO. (FN 13), S. 38. 47 Die durch die Verquickung von Religion und Nationalismus – eine dem Islam eher fremde Verbindung - entstehende Integrationskraft führte auf Seiten der Palästinenser etwa dazu, dass die traditionellen Diskrepanzen zwischen Schiiten und Sunniten auf Seiten der Selbstmordattentäter keine Rolle mehr zu spielen scheinen. Vgl. dazu Tophoven, Rolf, Sterben für Allah. Die Schiiten und der Terrorismus, Herford 1991, S. 185. Zur Logik von Selbstmordattentaten siehe Reuter, Christoph, Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter – Psychogramm eines Phänomens, Gütersloh 2002. 48 Vgl. dazu Heine, Peter, Religiös motivierter Terrorismus, in: Hirschmann/Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO. (FN 13), S. 96. Es kann jedoch angesichts der aktuellen Entwicklung nicht häufig genug betont werden, dass eine so geartete generelle Fronstellung und Antithetik Islam-Westen nicht vorliegt, sondern lediglich in der Perzeption islamistischer Splittergruppen existiert. Siehe dazu Ebd., S. 72. Vgl. dazu besonders auch Biermann, Werner/Klönne, Arno, Ein Kreuzzug für die Zivilisation? Internationaler Terrorismus, Afghanistan und die Kriege der Zukunft, Köln 2002 und Benoist, Alain de (Hrsg.), Die Welt nach dem 11. September. Der globale Terrorismus als Herausforderung des Westens, Tübingen 2002. Vereinzelt wird aus dieser Frontstellung und den daraus resultierenden Verschiebungen in der internationalen Politik auch eine grundlegende Neuordnung der Weltpolitik in Aussicht gestellt. Siehe dazu besonders Czempiel, Ernst-Otto, Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen, München 2002 und als aktuelle Behandlung der Thematik Laqueur, Walter, Krieg dem Westen. Terrorismus im 21. Jahrhundert, München 2003. 49 Waldmann bezeichnet den Vigilantismus daher auch als eine Mischform aus Terror und Terrorismus. Siehe dazu Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, aaO. (FN 80), S. 92-97. In der neuesten Literatur wird in Anlehnung an Huntington, Samuel P., Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1997, Terrorismus unabhängig von seiner Zielstellung als Ergebnis von Globalisierungsprozessen und daraus resultierenden regionalen Krisen und quasi-staatlichen Implosionen beschrieben. Dadurch entstünde eine quasi-natürliche Verbindung von Terrorismus und organisierter Kriminalität. Wie anderweitig dazu angeführt wird, ist mit diesem Ansatz eine zweifelhafte und neuerliche Verkomplizierung eines bisher ohnehin nicht geklärten Begriffes geleistet. Siehe dazu Lange, Klaus, Terrorismus als Folge regionaler Konflikte: Einige Hypothesen
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Die zweite Unterform terroristischer Spielarten stellt der ethnisch-nationalistisch motivierte Terrorismus dar. Er hat das Ziel der eigenen Staatsbildung einer bislang in einem anderen Staat integrierten Minderheit oder aber zumindest die Absicht der Erlangung weitgehender Autonomierechte für diese. Im Gegensatz zur Orientierung der Sozialrevolutionäre auf als prinzipiell interessierte Dritte gilt die Aufmerksamkeit des ethnisch fundierten Terrorismus primär der eigenen Gruppe, der Minderheit, welche sie als gefährdet ansehen und welcher sie in der Regel entstammen.50 Der Kampf ethnischer Minoritäten mit seiner teleologischen Ausrichtung auf Separatismus (wie zum Beispiel der Terrorismus der ETA im spanischen wie französischen Baskenland, der IRA in Nordirland oder der tamilischen Befreiungsfront auf Sri Lanka) kann mitunter ebenso linksterroristische und auf dem Marxismus basierende Züge tragen, diese sind jedoch stets nur ein weiteres auf Integration ausgerichtetes Addendum zu den separatistischen Beweggründen.51 So begann sich innerhalb der ETA gegen Ende der sechziger Jahre kurzfristig die Präferenz eines „red separatism“ durchzusetzen, der sich neben der nationalistisch-ethnischen Komponente der marxistischen Ideologie als zusätzlichen Integrationsinstruments bediente. Seine nationale Komponente tritt daher stets in den Vordergrund, ohne dadurch zu einem rechtsterroristischen Phänomen zu werden. Gerade die IRA der achtziger Jahre zeichnete sich entgegen früherer Jahre vermehrt durch ihren Anti-Ideologismus aus.52 Die sozialrevolutionäre Komponente erweist sich stets als integratives Zubrot zu ausnahmslos ethnisch motivierten Zielsetzungen. Zuletzt ist der sozialrevolutionäre Terrorismus zu nennen. Zu seinen Zielen gehören allgemein weit reichende politische und gesellschaftliche Veränderungen eines Systems nach den Vorstellungen von Karl Marx oder der mit dem Marxismus verwandten oder aber aus ihm hervor gegangenen Ideologien. Motiv für die angestrebte gewaltsame Veränderung eines Systems ist eine perzipierte soziale oder ökonomische Schieflage, die auf systemkonformem Wege nicht zu beseitigen ist, da die Eliten des Systems an eine qualitative Veränderung des Systemcharakters zu verhindern suchen. So speiste sich diese Form des Terrorismus auch aus anderen linksextremistischen Wurzeln wie der anarchistischen wie der marxistischen Bewegung mitsamt ihrer Folgeideologien und Spielarten.53 Die ideologische und damit intellektuell nicht selten hoch anspruchsvolle Stoßrichtung lässt den sozialrevolutionären Terrorismus denn auch zu einem Erklärungs- und Rechtfertigungsterrorismus werden. Dabei geht es nicht nur um die kommunikative Funktion der Aktionen und die Verbreitung von Angst und Schrecken, sondern parallel dazu auch stets um eine transzendente Unterfütterung, die in programmatischen Schriften und Bekennerschreiben ihren Niederschlag findet.
zur Frage eines erweiterten Terrorismusbegriffes, in: Hirschmann/ Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO. (FN 13), S. 61-66. 50 Vgl. dazu Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, aaO. (FN 2), S. 11-115. 51 So begann sich innerhalb der ETA gegen Ende der sechziger Jahre kurzfristig die Präferenz eines „red separatism“ durchzusetzen, der sich neben der nationalistisch-ethnischen Komponente der marxistischen Ideologie als zusätzlichen Integrationsinstruments bediente. Siehe dazu Sullivan, John, ETA and Basque Nationalism. The Fight for Euskadi 1890-1986, London/New York 1988, S. 92. 52 Vgl. dazu Schröder, Dieter, Der fanatische Nationalismus der IRA, in: Ders. (Hrsg.), Terrorismus. Gewalt mit politischem Motiv, München 1986, S. 141. 53 Siehe dazu die Ausführungen von Backes, Uwe, Die geistigen Wurzeln des Linksterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: APuZ B 3/4 1992, S. 40-46.
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Besonderen Einfluss erhielten die russischen Anarchisten des ausklingenden 19. Jahrhunderts54 mit ihren wegweisenden Theorien ebenso wie der Marxismus-Leninismus und seine Folgeideologien. Der daraus resultierende Linksterrorismus entstand unter der Prämisse sozialer Schieflagen, gesellschaftlicher Verkrustungen, aus dem im Kapitalismus typischen Gegensatz von Kapital und Arbeit, die einen revolutionären Umsturz notwendig erscheinen lassen, da die staatliche Autorität nicht zum Wohle der Gesamtbevölkerung, sondern nur zum Wohle der Bourgeoisie und des Kapitals zu arbeiten scheint.55 So verstanden war eine der ersten linksterroristischen Bewegungen die „Narodnaya Wolya“ im russischen Zarenreich Ende des neunzehnten Jahrhunderts.56 Ein erneutes Aufflammen sozialrevolutionären Gedankenguts in zahlreichen Ländern war mit der studentischen Erhebung und dem Engagement des US-Militärs in Vietnam ab Mitte der sechziger Jahre zu beobachten. Um gegen gesellschaftliche Blockaden, „imperialistische“ Bestrebungen einzelner Administrationen, rassistische Tendenzen in Gesellschaften, ökonomisch definierte Ungleichgewichte, die nicht geleistete Aufarbeitung der nationalen diktatorischen Vergangenheit zu demonstrieren, gründeten sich in Westeuropa und den USA als Zerfallsprodukte der Studentenbewegung militante Organisationen, die den Kampf gegen das System nicht mehr nur mit systemkonformen Mitteln zu führen gedachten.57 In den siebziger Jahren bis hinein in die letzte Dekade des 20. Jahrhunderts fielen unter diese Rubrik der Löwenanteil der europäischen Organisationen: Die Brigate Rosse Italiens, die Cellules Communistes Combattantes (CCC) in Belgien, die Action Directe in Frankreich sowie mehrere kleinere Gruppierungen in In- und Ausland, die nicht selten neben bedeutenderen nationalen Organisationen ein Schattendasein fristeten und hier aus quellentechnischen Gründen keine eigene Erwähnung finden können.58 In seinem Selbstverständnis kämpft der sozialrevolutionäre Terrorismus aber nicht nur für einen Umsturz des politischen Systems, sondern auch eine Umwälzung gesellschaftlicher Konventionen. Daher will er den Anstoß geben zur Mobilisierung der Massen und Ausgangspunkt sein für eine „gerechtere Welt“.59 Sozialrevolutio54
Siehe dazu Kropotkin, Pjotr, Eroberung des Brotes. Über den anarchistischen Kommunismus, Berlin 1972; Bakunin, Michael, Gesammelte Werke, 3. Bde., Berlin 1921/24; Lehning, Arthur, Michel Bakounine et ses relations avec Serge Nechaev, Leiden 1971. 55 Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (Hrsg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1998, S. 3. 56 Siehe dazu Hoffman, Bruce, Terrorismus. Der unerklärte Krieg. Neue gefahren politischer Gewalt, Frankfurt am Main 1998, S. 20. 57 Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Terrorismus und Studentenbewegung herrscht in der Forschung weiterhin Uneinigkeit. Während ungerechtfertigter Weise oftmals ein monokausaler Zusammenhang unterstellt wird, wird in der aktuellen Literatur darauf verwiesen, dass bereits terroristische Zirkel sich während der studentischen Erhebung zu formen begannen. Siehe dazu Kraushaar, Wolfgang/Wieland, Karin/Reemtsma, Jan Philip, Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005. In komprimierter Form Kraushaar, Wolfgang, Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, in: Ders. (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, aaO., (FN 10), S. 218-247. 58 So beispielsweise die GRAPO (Grupos de resistencia antifascista de primero de Octubre), die man als spanische RAF bezeichnen kann, die es aber im Gegensatz zu ihr trotz immenser Brutalität nicht schaffte, die öffentliche Berichterstattung in dem Maße für sich einzunehmen, wie die baskische ETA es tat. In der wissenschaftlichen Literatur schlägt sich dieser Mangel ebenso nieder. Bis heute existiert neben Randnotizen in allgemeinen terrorismustheoretischen Monographien keine brauchbare deutsche Abhandlung. Allein im Rahmen eines Forschungskollegs im Jahre 2004 an der FU Berlin wurde die GRAPO untersucht, die aber ihren Schwerpunkt auf die komparatistische Bekämpfung des Terrorismus legt. 59 Eine Vorstellung, welcher beispielsweise die RAF schriftlich Ausdruck verliehen hat in „Dem Volk dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf“, in: ID-Verlag (Hrsg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 112.
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näre Linksterroristen verstehen sich demnach stets als kämpfende Avantgarde für wirtschaftlich und politisch benachteiligte und unterdrückte Dritte.60 Während die Behörden diese Erscheinungsform stets als Verbrechen deklarieren, so stellt der sozialrevolutionäre Terrorismus in seinem Eigenverständnis den revolutionären Kampf einer „Guerilla“ für eine gerechtere und humanere Welt dar.61 So ist der sozialrevolutionäre Terrorismus insofern „revolutionär“, als es um eine Umwälzung der bestehenden staatlichen wie gesellschaftlichen Strukturen geht. Er ist insofern „sozial“, als er eine materielle Verbesserung der Situation einer meist ökonomisch unterdrückten oder zumindest benachteiligten Bevölkerungsschicht geht, welcher die Aktivisten selbst nicht angehören.62 In der Literatur sind vereinzelt mehrere weitere Spielarten formuliert worden.63 So wurden neben sektiererischen Formen des Terrorismus (auf der Grundlage von Offenbarungs- bzw. Verschwörungstheorien fußende Organisationen wie die Christlichen Patrioten in den USA oder die AUM-Sekte in Japan) auch vigilantistische Erscheinungsformen (Organisationen, die ein System zu bewahren oder in anachronistischer Form wieder herzustellen versuche, indem sie die normativen Regeln des Systems brechen, in den USA etwa der Ku-Klux-Clan, besonders in Lateinamerika die „Todesschwadronen“ gegen die „subversive Bedrohung“ des Kommunismus besonders in den achtziger Jahren) festgestellt. Die sektiererischen Formen aber sind eher den Geheimbünden oder sogar der religiös motivierten Variante zuzuordnen, während der Vigilantismus im Grunde eine Spielart zwischen Terror und Terrorismus darstellt, da Todesschwadronen nicht selten zwar ohne behördlichen Auftrag handeln, sehr wohl aber die Interessen der staatlichen Autorität vertreten. Um der ohnehin vorherrschenden begrifflichen Verwirrung, die nicht zuletzt durch die Literatur64 mit immer neuen Mode- und Lehnbegriffen weiter betrieben wird, nicht noch zusätzlich Vorschub zu leisten, wird hier die etablierte Trias terroristischer idealtypischer Motivationen beibehalten.
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Der Gedanke der Stellvertreterschaft ist dabei elementar und zeitigt Auswirkungen auf den Aktionsradius der jeweiligen Gruppe. Aktuell sind ähnliche Gedanken des stellvertretenden Aktionismus auch bei modernen terroristischen Organisationen zu beobachten. Siehe dazu besonders Heym, Franziska, Das advokatorische Handeln terroristischer Gruppen. Analyse terroristischer Gewaltkonzepte am Beispiel Rote Armee Fraktion und AlQaida, Saarbrücken 2007. 61 So Kaouras, Terrorismus, aaO. (FN 40), S. 27. 62 Siehe dazu Malthaner, Stefan, Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppen. Anvisierte Sympathisanten und tatsächliche Unterstützer, in: Waldmann (Hrsg.), Determinanten des Terrorismus, aaO (FN 3), S. 99. 63 Siehe dazu beispielsweise Laqueur, Walter, Die globale Bedrohung. Neue Gefahren des Terrorismus, München 2001, S. 302. 64 Siehe dazu besonders die einer grundlegenden Systematisierung abträglichen Termini des „Superterrorismus“ und des „Ultraterrorismus“ bei Townshend, Charles, Terrorismus. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2005, S. 47 und 69. Dennoch ist zu konstatieren, dass es der Wissenschaft noch nicht zufrieden stellend gelungen ist, das Phänomen des Rechtsterrorismus in diese Trias einzuordnen. Während der Linksterrorismus ungerechtfertigterweise mit dem sozialrevolutionären Terrorismus gleich gesetzt wird, kann rechtsextremes Gedankengut in mehreren Spielarten subkutan wirksam sein. So finden sich rechtsterroristische Ansätze sowohl bei vigilantistischen Gruppierungen (Ku-Klux-Klan) als auch bei den nationalistischen Motiven separatistischer Gruppierungen. Letztere aber handeln aus einer ethnischen Unterdrückung heraus, nicht aber aufgrund rassischer Grundintentionen. Letztlich muss aber auch die Frage gestellt werden, ob nicht der sozialrevolutionäre Ansatz das Fundament für Rechtsterrorismus sein kann, geht es doch bei rechtsterroristischen Organisationen nicht selten auch um eine sozialistische Ausgestaltung auf einem national begrenzten Territorium.
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Alter und neuer Terrorismus
Der Terrorismus unterlag seit seinen ersten Erscheinungsformen65 (Sikarier, Zeloten, Assassinen) steten Wandlungsprozessen. Diese Veränderungen in terroristischen Organisationen waren bis heute programmatisch, waffentechnisch oder organisatorisch-strukturell bestimmt. Die programmatische Innovation terroristischer Kleingruppen in verschiedenen Phasen ihrer Existenz soll hier nicht weiter verfolgt werden, die waffentechnische Modifizierung war nicht selten durch Erfindungen wie diejenige des Dynamits durch den schwedischen Physiker Alfred Nobel geprägt.66 Wichtiger scheint hier der organisatorischstrukturelle Wandel67: So handelte es sich dabei stets um den Versuch einzelner Organisationen, die eigene Vorgehensweise zu effektivieren und sich dadurch simultan den staatlichen Bestrebungen nach Zerschlagung der eigenen Struktur zu entziehen. Nicht zuletzt die Ereignisse des 11. September 2001 lassen diese Erkenntnisse unter zusätzlich neuen Prämissen analysierbar erscheinen.68 Hier wurde eine neuartige Organisationsform des Terrorismus deutlich. In den jüngsten Theorien zur strukturellen Veränderung des terroristischen Phänomens werden diese Erscheinungsformen des „neuen Terrorismus“ Netzwerke genannt.69 Der zentrale Inhalt der aktuellen Veränderung, wie er in der AlQaida-Organisation70 manifest geworden ist, besteht besonders darin, dass er sich auf den ersten Blick und besonders idealtypisch von traditionellen Gruppierungen wie der ETA, der IRA oder aber auch der RAF unterscheidet:71
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Zu den ersten Beispielen terroristischer Taktik siehe Laqueur, Die globale Bedrohung, aaO. (FN 5), S. 13-18. Laqueur, Walter, Terrorismus. Die globale Herausforderung, London 1987, S. 71. 67 Siehe dazu aus organisationssoziologischer Sicht Renate Mayntz, Hierarchie oder Netzwerk? Zu den Organisationsformen des Terrorismus, in Berliner Journal für Soziologie, Heft 2/2004, S. 251-262. 68 Zur terrorismustheoretischen Einordnung des 11. September vgl. Bakonyi, Jutta (Hrsg.), Terrorismus und Krieg. Bedeutung und Konsequenzen des 11. September 2001, Hamburg 2001. Als Resultat der qualitativen Veränderung des terroristischen Phänomens werden in der Literatur mitunter methodisch schwach auch Zukunftsszenarien aufgezeigt und künftige Bedrohungslagen prognostiziert. Siehe dazu Scheerer, Sebastian, Die Zukunft des Terrorismus. Drei Szenarien, Lüneburg 2002. 69 Vgl. Hirschmann, Kai, Terrorismus in neuen Dimensionen. Hintergründe und Schlussfolgerungen, in: ApuZ B 51/2001, S. 7-15. 70 Brauchbare deskriptive Literatur zur Al-Qaida-Organisation liegt bisher kaum vor. Siehe dazu bislang Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind – Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus, München 2005, Burke, Jason, Al-Qaida – Wurzeln, Geschichte, Organisation, Düsseldorf 2004, Roth, Jürgen, Netzwerke des Terrors, Hamburg 2001 und Gunaratna, Rohan, Inside Al Qaeda – Global Network of Terror, Columbia 2002. 71 Die Graphik ist eine nur gering abgeänderte und methodisch fragwürdige, weil schwer operationalisierbare Fassung von Kai Hirschmann, Das Phänomen „Terrorismus“: Entwicklungen und neue Herausforderungen, in: Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, Hamburg 2001, S. 460. Zur Systematisierung findet sie hier dennoch Verwendung. 66
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Tabelle 1:
Charakteristika des traditionellen und des „neuen“ Terrorismus Traditioneller Terrorismus
Neuer Terrorismus
Organisation
bestimmbar
weniger gut bestimmbar
Organisationsform
in der Regel hierarchisch mittelmäßig professionalisiert klein bis mittelgroß, Rekrutierungsbereich stark begrenzt regional oder national begrenzt vorhersehbar und identifizierbar ausgewählt, kleine Opferzahlen
eher linear
Operationsqualität Gruppenstärke und Rekrutierungspotential unter Gleichgesinnten Operationsgebiete Operationsziele Opfer(-zahlen)
voll professionalisiert Individuum oder Kleingruppe, hohes Rekrutierungspotential durch Internationalisierung Operationen auf internationaler Ebene kaum vorhersehbar und identifizierbar Bereitschaft zu höheren Opferzahlen auch unter Unbeteiligten zunehmend hinsichtlich Konsequenzen und Effekte
Quantitatives Ausmaß der Bedrohung
begrenzt hinsichtlich Konsequenzen und Effekte
Intellektuelle Bekenntnismotivation
hoch (Bekennerschreiben)
abnehmend, geringer
Querverbindungen zur organisierten Kriminalität
relativ gering
intensiv ausgeprägte Verbindungen zur organisierten Kriminalität, zu Migrantengemeinden und legalen Geschäftsbereichen
Finanzierungsmöglichkeiten
geringere finanzielle Möglichkeiten, Finanzierung ausschließlich durch Erpressungen und Entführungen oder „Revolutionssteuern“ (ETA)
bessere finanzielle Möglichkeiten durch weltweiten Kapitaltransfer und legale Geschäftsaktivitäten
Die klassischen terroristischen Kleingruppen organisierten sich in der Regel hierarchisch. Einer für die Mordanschläge zuständigen Führungsebene um die zuverlässigsten und am ehesten zur Gewalt bereiten Protagonisten waren eine oder mehrere Ebenen vorgeschaltet, die für diverse Unterstützungsleistungen verantwortlich zeichneten. Diese konnten von begleitenden Anschlägen bis hin zu einfacher logistischer Unterstützung reichen. Neben ihren unterstützenden Aktionen dienten sie stets auch als Rekrutierungsreservoir für die Führungsebene. Aus der hierarchischen Organisationsform herrührend gestaltete sich die quantitative Zusammensetzung der traditionellen Gruppierungen stets überschaubar. Derjenige Teil der Terroristen, der als zuverlässig eingestuft wurde, war in der Regel eng bemessen und musste sich dem entsprechend harten Selektionskriterien aussetzen, bevor er in die Führungsstruktur vordringen durfte. Schon allein aus diesem Grund war die Zahl an bekannten Aktivisten stets gering. Der Regenerationsfähigkeit klassischer terroristischer Organisationen
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waren daher frühe strukturelle Grenzen gesetzt.72 Die Ziele der Organisationen waren gemäß der in der Regel ideologischen Ausrichtung ebenso eingrenzbar. Da sich zahlreiche traditionelle Formen terroristischer Gruppen auf sozialrevolutionäre Motivationen bezogen, konnten sowohl die Ausrichtung der einzelnen Erscheinungsformen auf bestimmte Etappenziele als auch die Zahl potentieller Opfer stets relativ sicher bestimmt werden. Aus den genannten Variablen bestimmte sich auch der Gestaltungsspielraum der traditionellen terroristischen Organisationen, der sich in einem Aktionsradius niederschlug, der sie in der Regel auf die nationalen Grenzen ihrer Herkunft reduzierte.73 Eine Tendenz zur Internationalisierung konnte aus ihnen in der Regel nicht abgelesen werden. Was für die ethnisch-separatistischen Gruppierungen ohnehin zutraf, galt aus diesem Grund zunehmend auch für sozialrevolutionäre Terroristen. Das Ausmaß ihrer Bedrohung war schon allein aufgrund ihrer meist knapp bemessenen personellen Zusammensetzung eher gering, Gefahr ging von ihr lediglich für einen relativ kleinen und in der Regel klar definierten Personenkreis aus. Die generelle Infragestellung oder gar faktische Bedrohung der staatlichen Stabilität gelang keiner der traditionellen Organisationen, im Gegenteil befanden sich vor allem sozialrevolutionäre Gruppen stets in einer gewissen Distanz zu den von ihr vertretenen Bevölkerungsteilen wieder. Analog zur ideologischen und intellektuellen Färbung der eigenen Ansprüche war das Bedürfnis stets hoch, dem eigenen Aktionismus durch schriftliche Begründungen intellektueller Provenienz zusätzliche Legitimation zu verschaffen. Dadurch sollten die eigenen Ideen unter der Bevölkerung verbreitet werden und somit ein breiteres Unterstützer- und damit auch Rekrutierungsreservoir geschaffen werden. Querverbindungen zur organisierten Kriminalität gab es im klassischen Terrorismus aus ideologischen Gründen kaum. Vor allen Dingen sozialrevolutionäre Aktivisten konnten kein Bündnis mit semilegalen Organisationen aus profitablen Wirtschaftszweigen eingehen, und auch die verschiedenen Möglichkeiten der ethnisch-separatistisch Motivierten, durch „Revolutionssteuern“ den eigenen Kampf zu finanzieren, waren nicht erfolgreich. Gerade aufgrund der transzendenten Ausrichtung fanden sich nur wenige Geldgeber. Der Spielraum der Aktivisten sah sich daher vor allem durch die faktische Beschneidung der finanziellen Mittel eingeschränkt, zudem gefährdeten die durch die Frontkämpfer selbst durchgeführten Banküberfälle die Organisation als Ganzes. Dem gegenüber steht der Terrorismus neuer Prägung74, der sich in den dargestellten Variablen durch entgegen gesetzte Determinanten auszeichnet: Im Gegensatz zu alten terroristischen Organisationen handelt es sich bei den neuen Netzwerken um Plattformen, die als Dachverband selbständiger Gruppierung fungieren.75 Die Organisation stellt grundlegende Verfahrensweisen und Personen zur Ausbildung an modernen Waffen und Schulung in 72 Allgemein scheinen sich unterschiedliche Lebensspannen terroristischer Organisationen von den ihnen zugrunde liegenden Entstehungsgründen herzuleiten. So haben sozialrevolutionäre Bewegungen die geringste Lebenserwartung, während nationalistisch-separatistisch und besonders religiöse Organisationen offensichtlich genug Integrationswirkung entfalten, um auch längerfristig handlungsfähig zu bleiben. Siehe dazu Hoffmann, Terrorismus, aaO. (FN 2), S. 225-240. 73 Siehe dazu und zu den folgenden Ausführungen besonders Hirschmann, Terrorismus in neuen Dimensionen. Hintergründe und Schlussfolgerungen, aaO. (FN 63), S. 11-13. 74 Die bis heute überzeugendste systematisch-wissenschaftliche Abhandlung entstammt der Feder von Schneckener, Ulrich, Transnationaler Terrorismus, Charakter und Hintergründe des „neuen“ Terrorismus, Frankfurt am Main 2006. 75 Hirschmann, Kai, Terrorismus, Hamburg 2003, S. 33.
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Guerillataktik bereit und entlässt die Absolventen dann wieder zurück in die Organisationen, denen sie entstammen.76 Die Organisationsform des neuen Terrorismus ist daher aufgrund zunehmender Konspiration und professioneller Verfahrensweise kaum noch bestimmbar, nicht zuletzt auf Grund der fortschreitenden technischen und logistischen Organisationsfähigkeit. Moderne terroristische Gruppierungen setzen sich außerdem aus einem Zellensystem zusammen, das einen globalen Gefährdungszusammenhang entstehen lässt: Die Organisation ist jederzeit bereit, überall auf der Welt einen Anschlag durchzuführen und sich an einen regionalen Konflikt anzulehnen. Aus dem klassischen Terrorismus begrenzter Reichweite wird damit eine transnational77 agierende, hoch professionalisierte Struktur. Zeitgleich hat sich die Nutzung moderner Technologien durchgesetzt. Die ausgeprägte Verwendung modernster Kommunikationsmittel (Fax, Satellitentelefon, Internet) erschwert darüber hinaus das theoretische Durchdringen dieser Organisationen ebenso wie deren Infiltration, bietet dem Netzwerk aber zeitgleich die Möglichkeit, jederzeit mit jeder ihrer Zellen in der Welt Kontakt aufzunehmen.78 Dazu kommt ein weitgehend unbekanntes Organisationsmuster von einschlägigen Individuen oder Kleingruppen. Die quantitativ geringe Zusammensetzung dieser Gruppen sagt dabei nichts über ihr faktisches Bedrohungspotential aus. Im Gegenteil kommt es zur „asymmetrischen Bedrohungslage“,79 in der eine relativ kleine Organisation für weit reichende Verwerfungen in einem Staatsgebilde sorgen kann. Zur Teilnahme am terroristischen Kampf sind jedoch nun nicht mehr nur ideologisch geprägte Individuen prädispositioniert, sondern grundsätzlich jeder, der die weit gesteckten Ziele der Organisation teilt. Im Gegensatz zu den hierarchischen Strukturen bisheriger Organisationen spricht man bei modernen Gruppierungen von einer „Linearisierung“ des Terrorismus, in welchem nun gleichrangige, voneinander unabhängige Zellen in Form einer Netzwerkstruktur operieren („Weintrauben-Prinzip“80), die nur eine lose Verbindung zu ihren Ausbildern und Mentoren vorzuweisen haben und autonom handlungsfähig sind.81 Insofern sind Verhaftungen von führenden Mitgliedern für die Gesamtorganisation keine bedeutende Schwächung. Hinzu gesellt sich eine hohe Rekrutierungsfähigkeit, welche die quantitative Überschaubarkeit zusätzlich erschwert. Ein ebenso großes Hindernis in der Bekämpfung dieser Strukturen ist die ausgeprägte Internationalisierung durch das Anwerben von Mitgliedern aus verschiedenen Ländern. Diese „Entterritorialisierung“ verhindert sowohl die nachhaltige Durchdringung der terroristischen Struktur, die Eingrenzbarkeit der potentiellen Opfer und eine effektive, regional oder national begrenzte Strafver76 Al-Qaida etwa sind derzeit rund 14 Organisationen angeschlossen, zu denen einige bekannte Beispiele (so „Abu Sayyaf“ auf den Philippinen oder die ägyptische „Al-Jama at al-Islamiyya“, die für den Anschlag auf das World Trade Center von 1993 verantwortlich zeichnete) ebenso wie exotische und bis dato relativ unbekannte Organisationen (etwa die jemenitische „Islamische Armee Aden“) gehören. Siehe dazu Ebd., S. 65. 77 Der Begriff ist von „multinational“ und „international“ insofern abgrenzbar, da er eine vernetzte Organisation bezeichnet, die mehrere Standorte vorzuweisen hat und eine zwischen diesen bestehende Verbundstruktur unterstellt. Siehe dazu Behr, Hartmut, Neue Organisationsformen des Terrorismus und Ordnungstypologien transnationaler Politik, in: Bendel, Petra/Hildebrandt, Mathias (Hrsg.), Im Schatten des Terrorismus. Hintergründe, Strukturen , Konsequenzen des 11. September 2001, Wiesbaden 2002, S. 111. 78 Tophoven, Osama bin Laden als neuer Typ des Terroristen, in: Hirschmann/Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO. (FN 14), S. 186. 79 Münkler, Herfried, Asymmetrische Gewalt. Terrorismus als politisch-militärische Strategie, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken Jg. 56, Nr. 633/2002, S. 1-12. 80 Heiligsetzer, Edda, Extremismus, Terrorismus, “Heiliger Krieg”: Zur Soziologie religiöser Terroristen, in: Bendel/Hildebrandt (Hrsg.), Im Schatten des Terrorismus, aaO. (FN 70), S. 153-154. 81 Vgl. Behr, Hartmut, Neue Organisationsformen des Terrorismus, in: Ebd., S. 111-115.
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folgung. Aus der nationalen Aufgabe der Herstellung von Sicherheit wird bei der Verfolgung terroristischer Netzwerkstrukturen mehr und mehr eine Aufgabe international agierender Geheimdienste wie des Militärs, da sich eine adäquate Internationalisierung der Terrorismusbekämpfung bis heute noch nicht abzeichnet.82 Eine weitere von den traditionellen Organisationen differente Variable ist der Verzicht auf ideologische Grundmotive und damit eine bis heute andauernde Abkehr von sozialrevolutionären Prämissen. Als kleinster gemeinsamer Nenner fungiert eine Idee, an Al-Qaida ablesbar die Ablehnung der westlichen Zivilisation und des amerikanisch-zionistischen Imperialismus. Auf diese Weise wird der Handlungsspielraum moderner terroristischer Organisationen erweitert. Die Aktivisten des „neuen“ Terrorismus stellen zunehmend den Symbolgehalt ihrer Aktionen in den Hintergrund, und auch ein als „interessiert unterstellter Dritter“ ist nicht mehr zu erkennen, weshalb gezielte Anschläge auf Repräsentanten eines „Systems“ unterbleiben. Im Gegenteil sind nun die ökonomischen Zusammenhänge in den zu bekämpfenden Ordnungen und deren Destabilisierung das Anschlagsziel neuerer Terroristengruppen, die damit dem Evolutionsprozess moderner Gesellschaften folgen.83 Daneben werden hohe Opferzahlen und die Tötung Unbeteiligter nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst angestrebt, um die Verunsicherung der Öffentlichkeit und das Verbreiten von Furcht und Schrecken zu perfektionieren und quantitativ zu steigern. Für Behörden und Geheimdienste ergibt sich daraus die diffizile Lage, den Kreis gefährdeter Personen nicht mehr eingrenzen zu können. Der Verlust an ideologischer Grundmotivation macht auch die schriftliche Begründung ihrer Taten obsolet und damit die Einsicht in die Motivation der Gruppe entsprechend schwierig. Die Vermittlung motivationaler Grundlagen ist keine selbstdefinierende Variable moderner terroristischer Gruppen mehr, womit auch der Kreis an potentiellen Mitgliedern der Organisation sich erheblich erweitert. Die konspirative Organisationsform und das Opportunitätsprinzip ermöglichen Verbindungen zur organisierten Kriminalität, zu Migrantengemeinden und legalen Geschäftsbereichen, was die finanziellen Möglichkeiten der Gruppe und damit ihren potentiellen Aktionsradius noch einmal erheblich ausdehnt. Das Netzwerk folgt dabei den Vorbildern von international agierenden Wirtschaftsunternehmen. Durch diese verbesserte Ausstattung werden der Gruppierung auch logistisch umfangreiche Aktionen ermöglicht. Einerseits ist Bin Laden der ideelle Anführer einer „Terror-Holding“, andererseits aber verfügt er über ein weit gespanntes Netz von international tätigen Firmen, Unternehmensbeteiligungen und Finanzmarktaktivitäten, die er über Mittelsmänner kontrolliert.84 Besondere Effizienz erwächst der terroristischen Gruppierung dadurch, dass sie durch ihren Aktionismus und die Zurschaustellung ihrer Schlagkraft neue Spendengelder der weltweit verteilten Unterstützer freisetzt. Deutlich wird, dass besonders mit dieser Veränderung des Terrorismus ein qualitativer Quantensprung vollzogen wurde, der eine besondere Herausforderung an die Terrorismusbekämpfung ebenso wie die Analyse seiner Ursachen stellt. Fraglich ist in dieser Hinsicht nur, ob diese Modifikationen neuer „Netzwerke“ erst in jüngster Zeit und in einem glatten Bruch mit der terroristischen Vergangenheit erfolgten, oder ob nicht bereits weitaus frühzeitiger Tendenzen in verschiedenen terroristischen Organisationen zu erkennen waren, die erste Bestandteile des neuen Terrorismus erkennen ließen. So wird sich für verschiedene 82
Hirschmann, Terrorismus, aaO. (FN 69), S. 76. Münkler, Herfried, „Grammatik der Gewalt“, in: FAZ vom 16. Oktober 2002, S. 8. 84 Hirschmann, Terrorismus, aaO. (FN 70), S. 35. 83
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sozialrevolutionäre Fallbeispiele herausstellen, dass sie sich sowohl durch Elemente des klassischen als auch des neuen Terrorismus auszeichneten.
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Zu den Beiträgen
In der Gliederungslogik für vorliegenden Band findet sich die grundlegende Herangehensweise an die Problematik des Terrorismusbegriffes und seine Auswirkungen wieder. So wurden die den jeweiligen Beiträgen inhärenten Wirkabsichten zu einer zweidimensionalen Gliederung verschmolzen: den Einfluss der jeweiligen Theoretiker bzw. Ideologen auf die Organisation offen zu legen und aufzuzeigen, inwiefern die Organisation tatsächlich auf dem Boden der Ideologie verhaftet blieb oder sich aus pragmatischen Gründen davon löste. Insofern ergibt sich aus diesen Prämissen eine Einteilung in zwei Grobkomplexe. Im ersten Teil des Sammelbandes werden die tatsächlich vorhandenen oder aber nur durch die Aktivisten in Anspruch genommenen theoretischen Vorbilder untersucht. Dabei wird deutlich, dass die ideologische Fundierung sozialrevolutionärer Aktivisten vielfältiger war, als es angesichts der „Dreispaltung“85 des Marxismus in große Teilideologien zu vermuten wäre. Jede biographische Skizze folgt dabei einem groben Aufbau, demzufolge die zeithistorischen Lebensumstände beleuchtet, die wichtigsten Werke für die sozialrevolutionäre Ideologie untersucht und ihre Rezeption durch sozialrevolutionäre Organisationen analysiert werden. Gerade bei Karl Marx und Friedrich Engels wird deutlich, das sie selbst quer durch ihre Schriften einen uneinheitlichen Standpunkt an den Tag legten, was die Frage betrifft, inwiefern Terrorismus der Revolution dienlich sei. Auch wenn beide letztendlich tendenziell zu der Sichtweise neigen, dass Terrorismus im Grunde kontraproduktiv sei und ihm eine Absage erteilen86, ist in der Literatur davon mitunter nur wenig zu lesen. Im Gegenteil haben sich auch bis heute Ansichten erhalten, die von einer grundlegenden Affinität Marx` für den Terrorismus ausgehen und diese Sichtweise verbreiten.87 Gleichwohl ist zu konstatieren, dass der Marxismus letztlich als Keimzelle des sozialrevolutionären Terrorismus gilt. Nicht nur, da sich Terroristen in zahlreichen Ländern expressis verbis oder aber implizit auf ihn beriefen, sondern da der Marxismus der Ausgangspunkt für eine Reihe von Folgeideologien war, die für sich letztendlich die Synthese von Marx` Gedankengut und Terrorismus begünstigten.88 Gerade die Auseinandersetzung zwischen Marx und den zeitgenössischen Anarchisten muss an dieser Stelle erwähnt werden. Nicht nur war es die revolutionäre Blaupause, die Sergej Nechaev, einem religiösen Katechismus gleich, entworfen hat. Für zahlreiche Anarchisten war es die persönliche Betriebsanleitung, wie sich der einzelne Revolutionär für die Sache des Volkes dienlich machen konnte.89 Ähnlich prägend für die russischen Anarchis85
Leonhard, Wolfgang, Die Dreispaltung des Marxismus. Ursprung und Entwicklung des Sowjetmarxismus, Maoismus und Reformkommunismus, Düsseldorf und Wien 1970. 86 Siehe dazu Laqueur, Walter (Hrsg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg/Ts. 1978, S. 171-180. 87 Siehe dazu Konrad Löw, Marxismus und Terrorismus. War die Begünstigung der terroristischen Rote Armee Fraktion durch die DDR ideologisch zu begründen?, in: Ders. (Hrsg.), Terror und Extremismus in Deutschland, Berlin 1994, S. 141-154. 88 Siehe dazu den Beitrag von Benjamin Zeitler in diesem Band. 89 Siehe dazu den Beitrag von Nina Huthöfer in diesem Band.
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ten der Narodnaya Wolya waren die Schriften eines Michail Bakunin oder des russischen Adeligen Pjotr Kropotkin. Die fundamentale Verneinung der bestehenden Systeme bei modernen sozialrevolutionären Gruppierungen rührte letztlich von anarchistischen Grundmustern her. Im Falle Kropotkins diente seine Herkunft aus der Bildungselite letztlich auch der Rechtfertigung für die Tatsache, dass sozialrevolutionäre Terroristen letztlich nicht der Schicht angehören, für die sie selbstmandatiert und ohne Legitimation zu kämpfen vorgeben.90 Ähnlich verhält es sich mit den Gedanken an die Permanenz der Revolution. Das trotzkistische Argument, dass eine Revolution sich nicht an ihrem aktivistischen Erfolg messen lassen kann, sondern eine Aufgabe aus zahlreichen Einzelaktionen sind, die sich am Ende des revolutionären Prozesses zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen, hat aktivistischen Hochphasen bei gleichzeitiger relativer Isolation terroristischer Kleingruppen eine argumentative Legitimation verschafft.91 Der „Take-Off“ für moderne Sozialrevolutionäre aber war der Gedanke Lenins an eine Avantgarde. Ursprünglich als Realisierung seiner „Partei neuen Typs“ aus Berufsrevolutionären gedacht, konstruierten die Aktivisten das Gedankengebäude in ihrem Sinne um: die Avantgarde ernennt sich selbst aufgrund Dignität und Kenntnis, fundamentales Kennzeichen ist die Statthalterschaft. Wenn eine gesellschaftliche Bewegung im Verlauf des revolutionären Prozesses verharrt und kein Fortschritt zu erkennen ist, sind Kader vonnöten, die eine höhere Einsicht in die dialektischen Prozesse der Weltgeschichte vorweisen können. Auch ohne Auftrag oder Einverständnis durch die Gesellschaft kann sich die Avantgarde so zum bewaffneten Kampf entschließen. Gegenüber Kritik von außen oder sogar aus dem eigenen sympathisierenden Umfeld konnten Aktivisten in terroristischen Gruppen in strikter ideologischer Immunisierung (Hans Albert) auf die eigene Überlegenheit und das gesteigerte Zielbewusstsein verweisen.92 Besonders auffällig bei modernen sozialrevolutionären Organisationen aber ist ihre ideologische Uneinheitlichkeit. Auch wenn sich Guerillagruppen von terroristischen Organisationen erheblich unterscheiden, so haben Terroristen nicht selten als Eigenbezeichnung die Hochstilisierung zum Guerillero im Munde geführt. In der Regel waren die Argumente hiefür pragmatischer Natur. Die Überzeugung, dass die politische Macht den Gewehrläufen entspringe, macht auch Mao Tse-Tung zu einem nützlichen Theoretiker, wenn es der Rechtfertigung für die eigene Militanz dienlich war, auch wenn seine wichtigsten Schriften Anleitungen zur Führung eines Bürgerkrieges waren.93 Ebenso eklektizistisch gerierte sich die Rezeption lateinamerikanischer Guerillatheorien, die von Ernesto „Che“ Guevara und dem französischen Arzt Régis Debray formuliert worden waren. Die Theorie der Revolutionsherde („foci“) war insofern zur Übernahme geeignet, da die territoriale Abschottung und relative Isolation von Organisationen positiv umgedeutet werden konnte. Die Vexierspiele um Konnotationen und Denotationen bedeuteten aber auch ein Hindernis für die Verankerung der jeweiligen Organisation im nationalen Rahmen: der Teil der Bevölkerung, für den die Sozialrevolutionäre zu kämpfen vorgaben, konnte die transzendenten Motive und Ziele in der Regel kaum nachvollziehen. Um den leninistischen Gedanken der Statthalterschaft seiner schweren Vermittelbarkeit zu entheben, wurde neben dem Kampf für die ökonomisch deprivierten Bevölkerungsanteile im nationalen Bezugsrahmen die international
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Siehe dazu den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. Siehe dazu den Beitrag von Ilona Steiler in diesem Band. Siehe dazu den Beitrag von Johannes Wörle in diesem Band. 93 Siehe dazu den Beitrag von Tobias Nerb in diesem Band. 91 92
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durch Kapitalismus und Imperialismus unterdrückten Massen der Dritten Welt zur eigenen Klientel ernannt, auf deren dramatische Situation Frantz Fanon hingewiesen hatte.94 Für die deutsche terroristische Szene wurden mehrere einheimische Theoretiker mitverantwortlich gemacht. In zwei Beiträgen soll versucht werden, inwiefern der von der Studentenbewegung bereits stark vereinnahmte Gedanke Herbert Marcuses an ein Naturrecht auf Widerstand mit dem aus der Antike bekannten Prinzip des Tyrannenmords vereinbar ist. Darüber hinaus ist Gegenstand eines Beitrages, inwiefern die Frankfurter Schule um Wolfgang Adorno und Max Horkheimer die Legitimität des demokratischen Systems argumentativ untergraben hatten und somit der Legitimität des bewaffneten Widerstandes Vorschub geleistet hätten. Aktuelle Publikationen95 weisen darauf hin, dass die Thematik gerade in der Bundesrepublik noch keineswegs als historisiert gelten kann. Schon allein aus diesem Grund ist eine detaillierte Untersuchung der theoretischen Fundierung sozialrevolutionärer Organisationen notwendig, um die meist verkürzte Reflexion und Rezeption durch Aktivisten aufzuzeigen. Der in theoretischen Schriften vorgebildete Leser mag an dieser Stelle die für die Stadtguerilla wegweisende Schrift von Carlos Marighella96 vermissen. Seine Ausklammerung liegt jedoch darin begründet, dass er lediglich einen pragmatischen Handlungsleitfaden für Stadtkämpfer formulierte, der aber keinen theoretischen Mehrwert mit beinhaltete und so für die sozialrevolutionäre Ideologie bedeutungslos ist. Der zweite Teil des Sammelbandes besteht daher aus einer detaillierten Analyse der untersuchten sozialrevolutionären terroristischen Organisationen. Dabei werden die jeweiligen Entstehungsumstände, die Struktur und Programmatik der Gruppierung und ihr Aktionismus zueinander in Beziehung gesetzt. Da bei zahlreichen Organisationen ähnliche Entwicklungsmuster und gleichförmige Zerfallsprozesse beobachtbar waren, werden auch die Degenerationsprozesse ein Bestandteil der Fallstudien sein. Das jeweilige Kapitel wird durch die Untersuchung beschlossen, inwiefern sich Gedankengut, Aktionen oder Akteure in das kollektive Bewusstsein eingegraben haben und Bestandteil der politischen Kultur geworden sind. Bei der Auswahl der Fallbeispiele97 wurde der Fokus auf westliche Gesellschaften beibehalten. Eine Konzentration auf die Einteilung nach Herkunft, wie die Verliererhypothese sie postuliert, der zufolge sozialrevolutionärer Terrorismus vornehmlich in den Verliererländern des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, verbot sich anhand der mannigfaltigen Gegenbeispiele (USA, Frankreich). Außerdem war eine Einteilung nach ideologischer 94
Siehe dazu den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Band. Siehe dazu besonders Kailitz, Susanne, Frankfurter Schule, Studentenbewegung und RAF. Eine Analyse am Beispiel der Gewaltfrage, Wiesbaden 2007. 96 Marighella, Carlos, Handbuch des Stadtguerillero, o.O. 1969. Eine kürzere Auseinandersetzung findet sich in dem Beitrag von Nina Huthöfer zu den Tupamaros in Uruguay. 97 Für die Übernahme der Fallanalysen bin ich den Autoren für ihre fristgerechte Lieferung, stete Verlässlichkeit und unkomplizierte Kooperation trotz Mehrfachbelastung zu herzlichem Dank verpflichtet. Es handelt sich ausnahmslos um Kollegen, aber auch um (ehemalige) Studenten der Universität Regensburg, die ich in zahlreichen Übungen, Seminaren und Kolloquien betreuen durfte, und die unter www.aktf.de ein Internetportal zum Thema Terrorismus entworfen haben, das als prinzipiell offenes Forum für Autoren zum Thema gilt. Entgegen der deutschen universitären Tradition, Publikationsmöglichkeiten zu monopolisieren und an akademische Abschlüsse zu binden, haben Ihre exzeptionellen schriftlichen und mündlichen Leistungen sie für die für eine Universität als gesellschaftliche wissenschaftliche Institution selbstverständliche Gelegenheit mehr als qualifiziert, an Publikationen mitzuwirken. Für die Endredaktion zeichne selbstverständlich ich verantwortlich, so dass alle inhaltlichen und sonstigen Monita zu meinen Lasten gehen. Für dementsprechende Hinweise an meine E-mail-Adresse
[email protected] bin ich jederzeit dankbar. 95
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Zuordnung wenig sinnvoll, da in der terroristischen Praxis argumentative Grundlagen aus aller Herren theoretischer Länder herangezogen wurden, sofern sie dem Primat der Praxis das Wort zu reden oder aber zumindest eine nachvollziehbare Legitimation zu liefern vermochten. Insofern folgt die Systematisierung der Fallbeispiele allein den beiden Grobkomplexen „klassischer“ terroristischer Organisationen, die ihre ideologische Heimstatt in einer der vorgestellten theoretischen Grundlagen gefunden hatten. Die Grenzfälle dem gegenüber sind entweder struktureller Natur, so dass eine Einordnung in Terrorismus oder Guerilla nicht mehr eindeutig möglich ist, da sich die Handlungsmotive im Verlauf der Existenz der Organisation änderten, ebenso wie die exerzierte Vorgehensweise.98 Andererseits definieren sich die Grenzfälle durch ideologische Ungereimtheiten, sei es, dass sie einen autochthonen und lokal begrenzten ideologischen Beitrag verwerteten (wie der Sendero Luminoso99 in Peru oder die Montoneros100 in Argentinien), oder aber inhaltlich nach ihren eigenen Motiven nicht mehr eindeutig zu klassifizieren waren. So sind bei einigen primär anders motivierten Gruppierungen wie der baskischen Separatisten-Organisation ETA und der nordirischen IRA zeitweise ebenso sozialrevolutionäre Argumente verfolgt worden. Zweifelsohne ist das ethnische Motiv hier weitgehend im Vordergrund geblieben, der sozialrevolutionäre Aspekt war demgegenüber nur ein argumentatives Zubrot, das es erlaubte, die eigenen Legitimitätsaspekte auszuweiten und eventuell die eigene Verankerung in der Bevölkerung auch anderweitig zu ermöglichen. Auch bei religiös motivierten Organisationen werden sozialrevolutionäre Argumente verwendet. Das Beispiel AlQaida ist aus diesem Grund in den Band mit aufgenommen worden, um die inhaltliche Perversion des Islam und die ideologische Beliebigkeit des Netzwerkes aufzuzeigen, wenngleich ihr religiöses Potenzial das sozialrevolutionäre ebenso übersteigt wie das ethnisch separatistische bei ETA und IRA.101 So konzentriert sich die erste Analyse zunächst auf die revolutionäre Blaupause aller Organisationen des späten zwanzigsten Jahrhunderts, die russischen Anarchisten der Narodnaya Wolya. In einer gesellschaftlich fundierten Bewegung gegen das repressive zaristische Regime Russlands hatten sie es auf ihrem aktionistischen Höhepunkt geschafft, den Zaren Alexander II. durch ein (unfreiwilliges) Selbstmordattentat zu töten.102 Dass sich sozialrevolutionärer Aktivismus auch in rigide antikommunistischen Systemen und Zeiten halten konnte, zeigen dem gegenüber die Weathermen in den USA, wobei rassische Motive ebenso zu beobachten waren wie grundlegende Unzufriedenheit mit der ökonomischen Realität in den Vereinigten Staaten.103 Den Aufgalopp zum Gros der übrigen Organisationen bildet letztlich die in zahlreichen Ländern sich formierende Studentenbewegung. Während sich in der ohnehin vorhandenen revolutionären Tradition Frankreichs ein rigider Leninismus ausbreitete und nach Amnestien stets wieder neu formieren konnte, bedeutete die Verhaftung der gesamten Führungsebene der Action Directe 1987 letztlich auch ihren aktionistischen Endpunkt.104 Bis heute ein Problem der Quellenlage sind hingegen die Cellules Communistes Combattantes (CCC, Belgische Kommunistische Zellen), die in enger Kooperation mit RAF und Action Directe standen, bei denen aber auch vermutet wurde, dass 98
Siehe dazu die Beiträge von Tobias Nerb und Stephanie Rübenach in diesem Band. Siehe dazu den Beitrag von Alexandra Bürger in diesem Band. 100 Siehe dazu den Beitrag von Tobias Nerb in diesem Band. 101 Siehe dazu den Beitrag von Daniel Heller in diesem Band. 102 Siehe dazu den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 103 Siehe dazu den Beitrag von Ilona Steiler in diesem Band. 104 Siehe dazu den Beitrag von Philip Gursch in diesem Band. 99
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sogar Personenidentität mit der Führungsebene der Franzosen bestehe.105 Die in der Bundesrepublik bis heute wirkmächtigste und bekannteste Organisation war hingegen die Rote Armee Fraktion (RAF).106 Während es zu ihrer Gründungszeit die „charismatischen“ Führungsfiguren waren, die für öffentliches Aufsehen sorgten, waren es nach deren Verhaftung die professionalisierten Aktionen, welche deren Freilassung herbeiführen sollten und im Deutschen Herbst 1977 ihren traurigen Höhepunkt fanden. Im Gegensatz zu den Revolutionären Zellen107, einer bis heute weitgehend unerforscht gebliebenen Form terroristischen Engagements in Deutschland, propagierte die RAF ihren leninistisch motivierten Führungsanspruch auch und besonders gegenüber Gleichgesinnten, was letztendlich zu ihrem Zerfall ebenso beitrug wie ihre gesamtgesellschaftliche Isolation. Gerne in Vergessenheit gerat die in München und Berlin entstandene Bewegung 2. Juni, die ihren argumentativen Ursprung und an der Namensgebung ablesbar auch in der Tötung des Studenten Benno Ohnesorg im Zuge der Demonstrationen gegen den iranischen Präsidenten Rehza Pahlevi hatte. Mit der Entführung des Berliner Bürgermeisterkandidaten Peter Lorenz, in deren Verlauf sich der Regierende Bürgermeister Berlins, Willy Brandt, auf die Forderungen der Aktivisten einließ, bildete das Vorbild für die Entführung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF, die sich nach langen Jahren der Degenerierung letztendlich 1998 selbst auflöste.108 Nachdem sich das systemische Scheitern des Terrorismus in Deutschland abzuzeichnen begann, suchten Aktivisten den Schulterschluss zu ausländischen Organisationen. Obwohl die Brigate Rosse109 (Rote Brigaden, BR) in Italien durch ihre enge Verbindung zu ihrer Klientel in den norditalienischen Industrierevieren es zu einer dauerhafteren Verankerung gebracht hatten, konnte keine effektive Kooperation herbeigeführt werden. Teile der Roten Brigaden scheinen dabei bis heute aktiv zu sein, wie ein vereitelter Anschlag Anfang 2007 deutlich machte.110 Ein exotisches Beispiel für sozialrevolutionären Aktivismus stellte die Japanische Rote Armee dar. Eingebettet in breiten gesellschaftlichen Widerstand, relativ isoliert aber in ihrer Agitation gegen das Tenno-System, konnte sie lediglich Aufmerksamkeit erregen durch ihre Kooperation mit palästinensischen Kommandos, die ihnen letztlich auch eine territoriale Heimstatt bieten konnten. Andere Formen des Ideologieexports nach Nordkorea scheiterten dagegen nachhaltig.111 Der griechische 17. November, benannt nach dem Datum der Niederschlagung einer Studentenrevolte durch die griechische Militärdiktatur, hingegen konnte auf erfolgreiche Aktionen zurückblicken, will man systematisch verübte Attentate auf westliche militärische und politische Eliten als terroristisch geglückte Strategie bezeichnen. Besondere Bedeutung erhielt die sozialrevolutionäre Organisation durch ihre vermutete langjährige und intensive Kooperation mit der Sozialdemokratie in Griechenland.112 Als letztes Fallbeispiel der klassischen Organisationen werden die uruguayischen Tupamaros analysiert. Ursprünglich aus der Bewegung der Zuckerrohrarbeiter hervorgehend, entwickelte sie sich zu einer Organisation, die letztendlich durch ihren stets sich brutalisierenden Aktionismus zur eigenen Isolation und durch ihre Herausforderung des Staates ungewollt zur Militärdiktatur in Uruguay beitrug. Heute hingegen finden sich mehrere 105
Siehe dazu den Beitrag von Susanne Schäfer und Barbara Fendt in diesem Sammelband. Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. Siehe dazu den Beitrag von Johannes Wörle in diesem Band. 108 Siehe dazu den Beitrag von Lutz Korndörfer in diesem Band. 109 Siehe dazu den Beitrag von Carolin Holzmeier und Natalie Mayer in diesem Band. 110 Siehe dazu „Das rote Gespenst lässt Italien erzittern“, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.02.2007, S. 8. 111 Siehe dazu den Beitrag von Florian Edelmann in diesem Band. 112 Siehe dazu den Beitrag von Florian Edelmann in diesem Band. 106 107
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Ex-Tupamaros in Regierungsverantwortung wieder, ein Hinweis auf die relative gesellschaftliche Relevanz der Organisation.113 Im Anschluss an die Darstellung der genannten ideologischen, inhaltlichen und strukturellen Grenzfälle beschließt eine Zusammenfassung die Reihe der Einzelfallanalysen. Hier wird die Hypothese vertreten, dass Terrorismus insgesamt, vor allem aber sozialrevolutionärer Terrorismus, dauerhaft nicht erfolgreich sein kann. Außerdem wird untersucht, wie wahrscheinlich es ist, dass sozialrevolutionärer Terrorismus wieder neu entstehen kann angesichts neuer ökonomischer Ungleichgewichte, angestoßen durch Globalisierung und die sich stetig dynamisierende freie Beweglichkeit des Kapitals.114
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Siehe dazu den Beitrag von Nina Huthöfer in diesem Band. Siehe dazu den abschließenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band.
I. Die Heterogenität sozialrevolutionärer Grundlagen
Terrorismus als Revolutionshindernis: Karl Marx und Friedrich Engels
Karl Marx und Friedrich Engels
Benjamin Zeitler
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Karl Marx und Friedrich Engels – Biographisches
Karl Heinrich Marx1 wurde am 5. Mai 1818 als Sohn des Rechtsanwalts Heinrich Marx in Trier geboren. Er kam somit in einer Zeit zur Welt, in der die nationaldeutsche Erhebung der Befreiungskriege gegen Napoleon erst kurze Zeit zurücklag und die alten Mächte es auf dem Wiener Kongress nochmals geschafft hatten, die alte Ordnung aufrecht zu erhalten. Diese Phase der Restauration unterdrückte liberale und nationale Gedanken vor allem auch in der studentischen Jugend. Trotz der regen politischen Tätigkeiten dieser Zeit zeigte Marx zunächst aber nur wenig politisches Interesse.2 Im Jahr 1935 begann er nach seinem Abitur ein Jurastudium in Bonn, das er in Berlin fortsetzte und schließlich mit der Promotion in Jena abschloss. Im selben Jahr (1841) wurde er Mitarbeiter und 1842 Chefredakteur der Rheinischen Zeitung, einem Blatt, das liberale und demokratische Ideen vertrat. Aus politischen Gründen legte er bereits ein Jahr später, noch vor dem Verbot der Zeitung, dieses Amt nieder und zog sich „von der öffentlichen Bühne in die Studierstube“ zurück.3 Nach der Heirat mit Jenny von Westphalen, mit der er seit 1836 verlobt war, veranlasste ihn der Überdruss über die Verhältnisse in Deutschland, nach Paris zu gehen. Dort gab er zusammen mit Arnold Ruge (1802-1880) die Deutsch-Französischen Jahrbücher heraus, deren erster und einziger Band im Frühjahr 1844 erschien. Marx steuerte dazu die Aufsätze Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung4 und Zur Judenfrage5 bei, in denen er seine rücksichtslose Kritik des Bestehenden anbringen konnte. In die Pariser Zeit fiel auch der Beginn seiner lebenslangen Freundschaft zu Friedrich Engels6, den er bereits 1842 kennen gelernt hatte. Seit 1844 war diese Freundschaft geprägt von einem regen Briefwechsel, vielfachen gemeinsamen Publikationen, aber auch von der finanziellen Abhängigkeit Marxens von Engels. Engels, am 28. November 1820 in Barmen (heute Wuppertal) geboren und gelernter Kaufmann, war seit 1842 im väterlichen Betrieb in Manchester tätig. 1 Es gibt mittlerweile mehrere Karl Marx-Biographien, die meist älteren Datums sind. Vgl. u.a. Blumenberg, Werner, Karl Marx, Reinbek-Hamburg 1962; Stadler, Peter, Karl Marx, Göttingen 1966; Berlin, Isaah, Karl Marx, Sein Leben und sein Werk, Frankfurt/Berlin 1968; McLellan, David, Karl Marx, Leben und Werk, München 1974; Fetscher, Iring, Marx, Wiesbaden 2004. 2 Vgl. Reichart, Ludwig/ Stammen, Theo, Karl Marx, in: Rausch, Heinz (Hrsg.), Politische Denker III, München 1978, S. 61. 3 Vgl. Marx, Karl/ Engels, Friedrich, „Werke“ (MEW), Bd. 1-39 u. 2 Ergänzungsbände, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin/DDR, 1956-1968, 30, 509 (im Folgenden zitiert als MEW); Zur Problematik dieser Textausgabe s. Rolf Peter Sieferle, Karl Marx zur Einführung, Hamburg 2007, S. ff. 4 Vgl. MEW, aaO. (FN 3) 1, 378-391. 5 Vgl. ebd., 1, 347-377. 6 Vgl. zum Leben von Friedrich Engels Mayer, Gustav, Friedrich Engels, 2 Bde., Den Haag, 1934, Neuausgabe Köln 1971.
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Beim Tod seines Vaters erbte er den Anteil an der Firma, bei der er 1869 schließlich seine Tätigkeit beendet und in London bis zu seinem Tod am 5. August 1895 weiter ein gutbürgerliches Leben führte. Im Jahr 1845 wurde Karl Marx auf Druck Preußens aus Paris ausgewiesen und ging nach Brüssel. Dort entstanden zusammen mit Engels die Deutsche Ideologie7 und die Thesen über Feuerbach8. Engels schrieb zur selben Zeit über Die Lage der arbeitenden Klasse in England9. 1847 traten Marx und Engels in den Londoner deutschen Arbeiterverein ein und wandelten ihn in den „Bund der Kommunisten“ um. Wegen der gemeinsam verfassten Schrift Das Manifest der Kommunistischen Partei10 wurde Marx im Jahr 1848 aus Brüssel ausgewiesen und kam zurück nach Deutschland, um auf die radikaldemokratische Republik hinzuwirken. Dies versuchte er mit der Gründung der Neuen Rheinischen Zeitung, die aber bereits ein Jahr später ihr Erscheinen wieder einstellen musste. Nach dem Scheitern ging Engels nach Manchester zurück in den väterlichen Betrieb und Marx zunächst nach Paris und dann nach London. Aus dem vermeintlich kurzen Aufenthalt wurden schließlich 34 Jahre des „Forschens, Publizierens und Agitierens.“11 So veröffentlichte Marx 1852 mit Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte12 eine Streitschrift gegen Napoleon III. Im Jahr 1859 erschienen bereits seine Hauptthesen des Werks Das Kapital in der Publikation Zur Kritik der politischen Ökonomie13. Unter Mitwirkung von Marx und Engels wurde im Jahr 1864 die Internationale Arbeiter-Assoziation gegründet, die vor allem als 1. Internationale bekannt wurde. In den Folgejahren kam es dort zu heftigen Auseinandersetzungen mit Bakunin, dem Vertreter des Anarchismus, die schließlich in dem Ausschluss der Anarchisten aus der Internationalen gipfelte (1872). Sein Hauptwerk Das Kapital14 wurde 1867 in einem ersten Band veröffentlicht. Die beiden weiteren Bände wurden erst posthum von Friedrich Engels 1885 und 1894 herausgegeben. Am 14. März 1883 starb Karl Marx in London. Laut Frank R. Pfetsch15 lässt sich die journalistisch/wissenschaftliche Arbeit weniger chronologisch als örtlich einteilen. So war während ihrer Aufenthalte in Deutschland bei Marx und Engels die Hegelsche Philosophie dominant. In England arbeiteten Sie vor allem an den Prinzipien der Politischen Ökonomie und in Frankreich standen die Auseinandersetzung mit den frühsozialistischen Schriften von Proudhon und Blanqui im Mittelpunkt sowie das Erleben „der Politik in Gestalt von Klassenkämpfen und Revolutionen“16.
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Vgl. MEW, aaO. (FN 3), 3, S. 348. Vgl. ebd., 3, 5ff. Vgl. ebd., 2, 225-506. 10 Vgl. ebd., 4, 459-493. 11 Fenske, Hans u.a., Geschichte der politischen Ideen, Von der antike bis zur Gegenwart, akt. Neuausgabe, Franfurt a.M. 2003 (erstmals 1981), S. 437. 12 Vgl. MEW aaO. (FN 3) 8, 111-207. 13 Vgl. ebd., 13, 3-160. 14 Vgl. ebd., 23, 11-802. 15 Pfetsch, Frank R., Theoretiker der Politik. Von Platon bis Habermas, Paderborn 2003, S. 443. 16 Vgl. ebd. 8 9
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Wichtigste Kernaussagen von Karl Marx und Friedrich Engels zum Terrorismus
Dieser Artikel ist zwei Grundproblemen in der Marxforschung ausgesetzt. Zum einen muss man sich mit der hohen Publikationsdichte von Karl Marx und Friedrich Engels selbst und der noch viel unüberschaubareren Sekundärliteratur zu Ihnen auseinandersetzen. Zum anderen ist wiederum eine Vielzahl von Publikationen aufgrund der ideologisierten subjektiven Meinung vieler Autoren auf Anhieb unbrauchbar. Zu diesen beiden gängigen Problemen der Marxforschung steht dieser Aufsatz aber noch vor einer größeren Problematik. Eine Untersuchung der Aussagen von Karl Marx und Friedrich Engels zum Terrorismus ist deshalb nicht eindeutig, da sie schon die Begriffe wie Terror, Terrorismus und Gewalt nicht unterschieden bzw. keinen Versuch unternahmen, diese Begriffe zu definieren. Dieser Missstand wird dadurch noch vergrößert, dass sich auch in der Sekundärliteratur die bemerkenswerte Unschärfe bei den Begrifflichkeiten fortführt.17 Doch gerade da sich viele sozialrevolutionäre Terroristen auf Marx und Engels berufen haben und sie Ausgangspunkt für wichtige Nachfolgeideologien waren, verspricht die Untersuchung der Haltung von Marx und Engels zu Terror und Terrorismus gewinnbringend für die Forschung zu sein.18 Dabei lässt sich Marx und Engels keine klare Haltung zum Terrorismus attestieren. Zwar betont Konrad Löw, dass Marx und Engels „stets eindeutig“ illegale Gewalt und „Schreckenstaten zur Durchsetzung des historisch Gebotenen“ bejahten19, doch ergibt sich aus deren Aussagen in den verschiedensten Werken ein differenzierteres Bild. Andererseits spiegelt auch die verallgemeinernde Aussage von Helga Grebing, dass „sich keine Stelle bei Marx und Engels finden [dürfte], die sich als Parteinahme für oder Legitimierung von Terror auslegen ließe“20, ein zu einseitiges Bild wider. Hilfreich erscheint dagegen die Unterscheidung zwischen individuellem und organisiertem Terrorismus, wie es Albert Stahel vorschlägt. Laut ihm lehnten Marx und Engels ersteres ab und befürworteten letzteres als Mittel der Revolution.21 Zwar lässt sich auch diese Unterscheidung nicht in dieser klaren Form in den Schriften belegen, doch soll diese Einteilung für diese Untersuchung übernommen werden. Zunächst soll die Stellung des organisierten Terrorismus in der Ideologie von Marx und Engels untersucht werden. Entscheidend ist dabei die Bedeutung der Revolution und der Gewalt für den Klassenkampf in der Ideologie von Marx. Die Revolutionen wurde in Anlehnung an den Historischen Materialismus als historische Notwendigkeit gesehen, als „Lokomotiven der Geschichte“22. Denn die Arbeiterklasse könne „nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen“23. Vielmehr müsse sie „zerschlagen“, „gesprengt“ und schließlich durch eine andere
17
So merkt etwa Andreas Wildt in einem Aufsatz zum revolutionären Terror und die Moral bei Karl Marx an: „Ich mache in diesem Aufsatz keinen Versuch, die Begriffe „Terror“ bzw. „Terrorismus“ zu definieren. Ich meine damit aber immer eine Form von politischer Gewalt, die moralisch unakzeptabel ist (…)“. So Wildt, Andreas, Revolutionärer Terror und Moral bei Marx und Engels, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 50 (2002), Heft 3, S. 426, FN 5. 18 Zur Problematik der Definition von Terrorismus vgl. den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 19 Löw, Konrad, Marx und Marxismus, Eine deutsche Schizophrenie, München 2001, S. 371. 20 Grebing, Helga, Arbeiterbewegung und Gewalt, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 2/1978, S. 66. 21 Stahel, Albert A., Marxistisch-Leninistische Konzeptionen des Terrorismus und der Revolution, Frauenfeld 1987. 22 MEW, aaO. (FN 3) 7, 85. 23 Ebd., 17, 336.
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Staatsform ersetzt werden.24 Aus dieser festgestellten Eigenschaft der Unterdrückung durch den Staat im Kapitalismus, zieht Marx folgende bekannte Schlussfolgerung: Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.25
Dabei war es für Marx selbstverständlich, dass die Revolution und die Zwecke der Kommunisten nur durch den „gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“ erreicht werden könne.26 Marx und Engels kam es Mitte des 19. Jahrhunderts nicht in den Sinn, dass diese Ziele anders als durch Massenaufstand und gewaltsame Revolution nach dem Vorbild der Französischen Revolution erreicht werden könnten, und so führt Marx im Kommunistischen Manifest von 1848 aus: Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoise sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es (…) die Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.27
Erst im letzten Drittel ihres Jahrhunderts mit dem Entstehen erster zögerlicher Ansätze bürgerlicher Demokratie setzten Marx und Engels den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht mehr ausschließlich gleich mit Gewalt, sondern zogen auch die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs in Betracht. So betonte Marx im Jahr 1872 in seiner „Rede über den Haager Kongress“: Wir wissen, dass man die Institutionen, die Sitten und die Traditionen verschiedener Länder berücksichtigen muß, und wir leugnen nicht, dass es Länder gibt, wie Amerika, England und wenn mir eure Institutionen bekannt wären würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können. Wenn das wahr ist, müssen wir aber auch anerkennen, dass in den meisten Ländern des Kontinents der Hebel unserer Revolution die Gewalt sein muß; die Gewalt ist es, an die man eines Tages appellieren muß, um die Herrschaft der Arbeit zu errichten.28
Und Engels unterstreicht dies, indem er in der Einleitung zu „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ aus dem Jahr 1895 betont, dass die deutschen Arbeiter „ihren Genossen aller Länder eine neue, eine der schärfsten Waffen geliefert [haben], indem sie ihnen zeigten, wie man das allgemeine Stimmrecht gebraucht“. Das Wahlrecht würde so zu einem Werkzeug der Befreiung und lässt die früheren Formen von Revolutionen, den Straßenkampf und die Barrikaden „bedeutend veralten“29. 24
Vgl. MEW, aaO. (FN 3) 33, 205. Ebd., 19, 28. Ebd., 4, 493; zur Rolle der Gewalt in den theoretischen Ausführungen von Marx und Engels siehe umfassend Balibar, Étienne, Gewalt, in: Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Hamburg 2001, S. 694 f., 1270ff. 27 MEW, aaO. (FN 3) 4, 481f. 28 Rede über den Haager Kongreß, MEW (FN 3) 18, 160. 29 Ebd., 7, 519. 25 26
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Gleichzeitig implizieren aber diese Aussagen sehr deutlich, dass in einem Großteil der Länder ein gewaltsamer Übergang zum Kommunismus notwendig und deshalb aus der Sicht von Marx auch gerechtfertigt ist. Denn nach Marx und Engels ist alles, was dem Aufbau des Sozialismus dient, legitim und alles, was ihm entgegensteht, illegitim.30 Letztlich überwiegt also die Befürwortung der Gewalt, des Terrors und der Repression in den Schriften von Marx und Engels. Vor allem in früheren Schriften zeigt sich deutlich, dass Gewalt eben nicht nur „Ultima Ratio“31 ist, sondern als legitimes Mittel zum Umsturz angesehen wurde. So betonte Marx bereits in einer seiner ersten Publikationen, in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, dass die Kritik allein nicht reiche, um die revolutionären Ziele zu erreichen, denn die „Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffe nicht ersetzen. Die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt (…).“32 Die deutlichsten Aussagen von Marx und Engels zum Terrorismus entstanden im Zuge der Revolutionsjahre 1848 und 1849. Aufgrund des Sieges der Konterrevolution sprach der enttäuschte Marx klar von „revolutionäre[m] Terrorismus“. Allerdings sah er diese als Reaktion auf die Gewalt der restaurativen Kräfte, wie er in einem Artikel in der Neuen Rheinischen Zeitung im November ausführte: Dann werden wir uns erinnern an den Juni, an den Oktober, und auch wir werden rufen: Vae victis! Die resultatlosen Metzeleien seit den Juni- und Oktobertagen, das langweilige Opferfest seit Februar und März, der Kannibalismus der Konterrevolution selbst wird die Völker überzeugen, dass es nur ein Mittel gibt, die mörderische Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus.“33
Und ein Jahr später im Mai 1849 wiederholte er dieses Zitat im selben Blatt wortgleich und fügte hinzu: „Wir haben es von Anfang an für überflüssig gehalten, unsere Ansicht zu verheimlichen (…). Wir sind rücksichtslos, wir verlangen keine Rücksicht von euch. Wenn die Reihe an uns kömmt, wir werden den Terrorismus nicht beschönigen.“
Auch Engels sprach sich in dieser Zeit in seinen Artikeln in der Neuen Rheinischen Zeitung sehr deutlich für die revolutionäre Gewalt aus. Dies zeigte sich vor allem bei den Kommentaren zu der drohenden Niederschlagung des Aufstands Ungarn, wobei er zunächst den ungarischen Widerstand mit den Jakobinern verglich:
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Pabst, Martin, Staatsterrorismus, Theorie und Praxis Kommunistischer Herrschaft, Graz 1997, S. 12. Diese Meinung vertreten Grebing, Arbeiterbewegung und Gewalt, aaO. (FN 13), S. 67 und Fetscher, Iring/ Rohrmoser, Günter, Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus 1, Opladen 1981. 32 MEW, aaO. (FN 3) 1, 385. 33 Ebd., 5, 457. 31
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Benjamin Zeitler Zum ersten Mal in der revolutionären Bewegung von 1848, zum ersten Mal seit 1793, wagt es eine von der konterrevolutionären Übermacht umzingelte Nation, der feigen konterrevolutionären Wut die revolutionäre Leidenschaft, der terreur blanche die terreur rouge entgegenzustellen. (…) Der Aufstand in Masse, die nationale Waffenfabrikation, die Assignaten, der kurze Prozeß mit jedem, der die revolutionäre Bewegung hemmt, die Revolution in Permanenz, kurz alle Hauptzüge des glorreichen Jahres 1793 finden wir wieder in dem von Kossuth bewaffneten, organisierten, enthusiasmierten Ungarn.34
In einem weiteren Artikel dazu betont er auch die übernationale Bedeutung der Revolution und stellt sie in einen breiteren Rahmen, indem er in seinem Artikel von Februar 1849 aufruft: „Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus - nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution!“35 Allerdings sind diese Zitate im historischen Kontext zu verstehen. Weder vor diesen Ereignissen noch danach wird in so deutlicher Form von revolutionärem Terrorismus gesprochen. Zum zweiten ist anzumerken, dass Marx und Engels zwar in ihren Artikeln in der Neuen Rheinischen Zeitung den revolutionären Terrorismus beschworen haben, aber nie direkt die Arbeiter in Köln zum Aufstand aufgerufen, sondern ganz im Gegenteil sie mehrmals zur Zurückhaltung gedrängt haben. So schrieben sie in Ihrer letzten Ausgabe: „Wir warnen Euch schließlich vor jedem Putsch in Köln. Nach der militärischen Lage wäret Ihr rettungslos verloren“36 In der aktiven Politik in Köln ließen sich also Marx und Engels nicht provozieren.37 Doch blieb auch nach den gescheiterten Revolutionen in den Jahren 1848/1849 die Kontinuität der Bejahung der Gewalt nach dem selbst ausgegebenen Motto „Die Revolution ist tot! – Es lebe die Revolution!“38 erhalten. Und so forderten sie bereits 1850: „Die Bewaffnung des ganzen Proletariats mit Flinten, Büchsen, Geschützen und Munition muß sofort durchgesetzt, der Wiederbelebung der alten, gegen die Arbeiter gerichteten Bürgerwehr muß entgegen getreten werden.“39 Auch befürwortete Marx die Hinrichtung von 64 Geißeln durch die Pariser Kommune im Jahr 1870. Aber die Hinrichtungen der 64 Geißeln, voran der Erzbischof von Paris, durch die Kommune! – Die Bourgeoisie und ihre Armee hatten im Juni 1848 eine längst aus der Kriegführung verschwundene sitte wieder eingeführt – das Erschießen wehrloser Gefangener (…) Das Leben der Geißeln war aber und abermals verwirkt durch das anhaltende Erschießen von Gefangenen durch die Versailler.40
Noch weitere Zitate mit ähnlichen Intentionen und positiven Äußerungen zur Gewaltanwendung finden sich bis zum Tod Marx im Jahr 1883.41 Wichtig ist, in diesem ersten Teil festzuhalten, dass Gewalt prinzipiell als Mittel der Revolution befürwortet wird. Der Begriff Terrorismus steht dabei oftmals synonym für die 34
MEW, aaO. (FN 3) 6, 165f. Ebd., 6, 286. 36 Ebd., 6, 519. 37 Vgl. Hunt, Richard N., The Political Ideas of Marx and Engels. Marxism and Totalitarian Democracy 18181850, Pittsburgh 1974. 38 MEW, aaO. (FN 3) 7, 32. 39 Ebd., 7, 249f. 40 Ebd., 17, 359. 41 Vgl. die Zitatsammlung bei Löw, Konrad, Rotbuch der kommunistischen Ideologie. Marx und Engels – Die Väter des Terrors, München ²2000, S. 28-231. 35
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Gewalt bzw. den gemeinsamen Aufstand. Entscheidend ist dabei für Marx und Engels, dass die Revolution nur gelingen kann, wenn sich die gesamte Klasse verbündet und sich am Aufstand oder organisierten Terrorismus beteiligt. Im Gegensatz dazu lehnen sie den individuellen Terrorismus ab. Noch vielmehr betonen Marx und Engels mehrfach, dass die Aktionen Einzelner die große Sache gefährden. Dies zeigen ganz deutlich die scharfen Verurteilungen der Aktionen der Fenier42, obwohl Marx und Engels pro-irisch waren. So bezeichnet etwa Marx in einen Brief im Dezember 1867 an Engels einen Anschlag auf das Gefängnis in Clerkenwell, bei dem mehrere Londoner ums Leben kamen, als „äußert dumme Angelegenheit“43. Auch Engels stimmt dieser Einschätzung zu und ergänzt, dass dieses Kannibalen im allgemeinen die größten Feiglinge sind, wie dieser Allen, der sich offensichtlich schon zum Kronzeugen machen ließ, und dann seine Idee, Irland zu befreien, indem er ein Londoner Schneidergeschäft in Brand steckt.44
Darüber hinaus distanziert sich Engels dann auch klar davon und will sich auch „nicht in irgendeiner Weise verantwortlich machen [lassen] für die Dummheiten, die bei jeder Verschwörung vorkommen.“45 Sehr deutlich klingt auch diese Kritik am Terrorismus Einzelner bei der Auseinandersetzung mit den Bakunisten an. In heftigen Polemiken gegen Michael Bakunin verteidigte Karl Marx die organisierten Massenaktionen des Proletariats gegen dessen Abenteurertum. Bakunin dagegen setzte auf vorbildhafte, terroristische Aktionen kleinerer Verschwörergruppen, die die großen Massen mitreißen sollten und formuliert dies sehr deutlich: Indem wir keine andere Tätigkeit als die der Zerstörung zulasen, erkennen wir an, dass die Form, in der sich diese Tätigkeit äußern muß, eine höchst mannigfaltige sein kann: Gift, Dolch, Strick etc. Die Revolution heiligt alles ohne Unterschied. Also das Feld ist offen!46
Folglich vertrat Bakunin eine Tat-Philosophie und interpretierte Verbrechen als Form des sozialen Protests.47 Marx und Engels haben dafür aber nur abfällige Bemerkungen übrig.48 Unter anderem deshalb kam es schließlich auch zum Bruch zwischen Marx und Bakunin, der im Ausschluss der Anarchisten aus der Ersten Internationale und schließlich zu ihrer Auflösung führte.49 Also zeigt sich auch hier die klare Position von Marx und Engels gegen den Aktionismus Einzelner.
42 Die Fenianische Brüderschaft war eine nationalistische Irische Organisation, die für die Unabhängigkeit Irlands eintrat. Sie wurde 1858 von John O´Mahony gegründet. 43 MEW, aaO. (FN 3) 42, 501. 44 Ebd., 42, 505. 45 Laqueur, Walter (Hrsg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg/Ts. 1978, S.173. 46 MEW, aaO. (FN 3) 18, 2-3. 47 Bartsch, Günter, Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus und Karl Marx, von Mazdak bis Mao – von Saint Simon bis Saragat – von Godwin bis Bakunin, 4. überarb. Aufl., Bonn 1971, S. 44. 48 Etwa MEW, aaO. (FN 3) 18, 2-3. 49 Eine ausführliche Darlegung des Verhältnisses von Marx zu Bakunin liefert u.a. Brupbacher, Fritz, Marx und Bakunin, Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation, München 1976 und die Einleitung von Wolfgang Eckhardt, in: Bakunin, Michael, Konflikt mit Marx, Teil 1: Texte und Briefe bis 1870, Berlin 2004, S. 11-145.
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Doch auch in der Frage terroristischer Einzeltaten wandelte sich die Meinung von Marx und Engels und sie kamen gerade bei den russischen revolutionären Terroristen zu genau gegenteiligen Meinungen wie etwa bei den Feniern und bewerteten ihre Aktionen in den 1870er und 1880ern deutlich positiver. So schreibt er über die Mörder von Alexander II. im Jahr 1881: „Sie waren durch und durch tüchtige Männer, sans pose mélodramatique, einfach, sachlich, heroisch“50. Und weiter erklärt Marx den russischen Einzelterrorismus als „historisch unvermeidliche Aktionsweise (…), worüber ebenso wenig zu moralisieren ist – für oder gegen – als über das Erdbeben in Chios.“51 Begründet lagen diese Rechtfertigungen in der Ansicht, dass in Russland entgegen aller Vorhersagen die Revolution ausbrechen könne. Und in einem Brief an Zasulich im Jahr 1885 weist Engels auf die außergewöhnlichen Umstände in Russland hin. Deswegen könne es „einer Handvoll Menschen gelingen“, eine Revolution zu entfachen. „Mit einem kleinen Stoß können sie ein ganzes System (…) zum Einsturz bringen. Sie können mit einer kleinen an sich unbedeutenden Aktion Explosionskräfte freisetzen, die dann nicht mehr zu zügeln sind.“52 So lobt Engels auch die Narodniki, da sie die einzigen seien, die wenigstens etwas unternehmen würden.53 Schon vorher im Jahr 1879 rief Engels dazu auf, sich gegen die Gewalttaten der russischen Agenten zu wehren. (…) gegen solche Tiere muß man sich nach besten Möglichkeiten mit Pulver und Blei zur Wehr setzen. Politischer Mord ist für intelligente und anständige Menschen mit einem starken Charakter der einzig gangbare Weg, sich gegen Agenten eines Despotismus von nie gekanntem Ausmaß zu wehren.54
Auch wenn hier die deutlicheren Aussagen von Engels stammen, zeigen die Äußerungen von Karl Marx ebenso deutlich, dass aus der ursprünglichen deutlichen Ablehnung terroristischer Aktionen Einzelner im Fall Russlands eine klare Unterstützung wurde. Im Ergebnis geht aus der Analyse hervor, dass die Aussagen von Marx und Engels zu Gewalt, Terror und Terrorismus uneinheitlich und größtenteils widersprüchlich bleiben. So lassen sich zwar sehr viele Belegstellen finden, in denen beide diese Formen von Gewalt als legitim, ja als notwendig ansehen, doch gleichermaßen erwähnen Marx und Engels mehrmals die Möglichkeit, gewaltlos zum Ziel zu kommen. Doch die Tendenz zur Unterstützung von Gewalt überwiegt deutlich in den Werken beiden Denker.
50
MEW, aaO. (FN 3) 35, 179. Ebd. 52 Laqueur, Zeugnisse politischer Gewalt, aaO. (FN 38) S. 178. 53 Ebd., S. 171. 54 MEW, aaO. (FN 3) 6, 279. 51
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Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte durch sozialrevolutionäre Terroristen
Karl Marx und Friedrich Engels waren und sind für viele sozialrevolutionäre Terroristen Ausgangspunkt Ihres Handelns. Sie berufen sich auf die Analysen von Marx und Engels55 und für viele wurde „Das Kapital“ von Karl Marx zur Pflichtlektüre.56 Ralf Baptist Friedrich, RAF-Mitglied von 1977 bis 1980 antwortete auf die Frage, was das theoretische Rüstzeug für ihn gewesen sei: „Wir haben das ‚Kapital‘, den ersten oder den zweiten Band, in Arbeitsgruppen gelesen und diskutiert.“57 Werner Lotze, der zur zweiten RAF-Generation gezählt wird, nannte auf die Frage, wie er zur RAF gekommen sei, als erstes Marx, dann Lenin und Bakunin.58 Hier wäre noch eine Reihe weiterer Zitate deutscher Terroristen anzufügen. Doch auch im Ausland beriefen sich Terroristen auf Marx. So schreibt Pentzlin über den Italiener Pietro Cavallero, der mit seinen Banküberfällen und Morden eine Revolution einleiten wollte, um die letzten Reste des Kapitalismus zu beseitigen: „Er las Marx und lieh sich dann eine Maschinenpistole.“59 Auch der Vordenker der sozialistischen Terrorismusgruppierung Sendero Luminoso, der Philosophieprofessor Pietro Guzman, wurde von seinen Anhängern als „das vierte Schwert des Marxismus“ nach Marx, Lenin und Mao bezeichnet.60 Doch bleibt bei all diesen Aussagen klar, dass sich die Terroristen zwar oftmals auf Marx als Urvater berufen haben und sich selbst vielfach als Marxisten gesehen habe, aber zumeist nicht intensiv mit dem kompletten Werk von Karl Marx und Friedrich Engels auseinandergesetzt haben. Zum zweiten ist anzumerken, dass sich etwa die RAFIdeologie einen kennzeichnenden Umgang mit den Theorien angeeignet hatte. Passten die Theorien nicht in die Gedankengebäude der Gruppe, wurden sie aufgrund der zentralen Bedeutung der marxistischen Theorie, so die Interpretation der führenden RAF-Mitglieder, so lange uminterpretiert, bis sie z.B. für das „Konzept Stadtguerilla“ der RAF passten.61 So deutete etwa Horst Mahler, einer der entscheidenden Vordenker der RAF, Aussagen von Engels so um, dass sie sich adäquat in dieses Konzept einfügten.62 Versuchten allerdings Mahler und auch Meinhof noch, ihren „bewaffneten Kampf“ mit einer marxistischen Legitimation zu untermauern, weisen etwa die Revolutionären Zellen mit ihrem existenzialistischen Pathos keinerlei Beziehungen zur Marxschen Theorie auf.63 Doch Iring Fetscher stellt auch für die RAF fest, dass Sie insgesamt zutiefst theoriefeindlich war. Letztlich war das von Mahler und Meinhof formulierte „Primat der Praxis“ die Theorie des Theoriedefizits.64 Und aufgrund dessen ist das „Selbstverständnis der Terroristen als MarxistenLeninisten (…) ein Irrtum, eine Selbsttäuschung, ja in gewisser Weise absurd, wenn man es am Maßstab der Klassiker mißt.“65
55
Hobe, Konrad, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, Ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Gesellschaftskritik und der Revolutionstheorie des Terrorismus, Bonn 1979. 56 Stern, Ausgabe 20, 1978. Dieses und folgende Zitate wurden zusammengestellt von Löw, Konrad, Terror, Theorie und Praxis im Marxismus, Eystrup/Weser, 1991, S. 13-18. 57 „‘Ich bitte um Vergebung‘…“, in: Der Spiegel, Heft 34, 1990, S. 57. 58 „Terrorist Lotze in München vor Gericht“, in: FAZ, 10.01.1991. 59 Pentzlin, Kurt, Marxisten überwinden Marx, Düsseldorf 1969, S. 11. 60 Mayes, Monte, Der Krieg ist noch nicht zu Ende, in: SZ, 09.10.1992, S. 10. 61 Fetscher/ Rohrmoser, Ideologien und Strategien, aaO. (FN 24), S. 152. 62 Ebd., S. 152-152. 63 Ebd., S. 174. 64 Ebd., S. 179. 65 Ebd., S. 283-284. Siehe dazu den Beitrag von Johannes Wörle in diesem Band.
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Nichtsdestotrotz waren Marx und Engels durch ihre eindeutige Befürwortung von Gewalt und ihr Konzept der Revolutionen Ausgangspunkt sozialrevolutionärer terroristischer Ideologien und bildeten so eine der geistigen Wurzeln des sozialrevolutionären Terrorismus.
Der Katechismus des Revolutionärs: Sergej Nechaev
Sergej Nechaev
Nina Huthöfer
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Sergej Gennadievich Nechaev – biographischer Hintergrund
He was „not a product of our world [but] a stranger among us”1. So urteilt eine Weggefährtin über Sergej Nechaev. Der folgende Beitrag stellt das Leben und Werk eines Mannes vor, der, trotz seiner Brutalität und Gnadenlosigkeit, viele Menschen seiner und nachfolgender Zeiten in seinen Bann gezogen hat. Sergej Gennadievich Nechaev wurde am 20. September 1847 in Ivanovo, dem „russischen Manchester“, einer rasch wachsenden Textilstadt 250 km nordöstlich von Moskau geboren. Sowohl der Vater Gennadij Nechaev, Servier und Maler, als auch die Mutter Praskovja Petrovna Litvinova, eine Näherin, waren Freigelassene in der dritten Generation. Nechaev erfuhr nicht nur in der Stadt, sondern auch in seinem eigenen Heim, was es bedeutete, in seiner Freiheit eingeschränkt zu sein. Die Kluft zwischen Arm und Reich war überall spürbar. Auf der einen Seite bestand noch das Feudalwesen, auf der anderen Seite gründeten ehemalige Leibeigene2 Textilmanufakturen, in denen die abhängigen Bauern im Winter ihren Frondienst verrichteten. Nechaev selbst genoss einige Vorzüge. Obwohl er in der Malerwerkstatt der Großeltern helfen musste, gab sein Vater dem Wissensdurst seines Sohnes nach. Er erhielt mit seinen Geschwistern Privatunterricht und wurde von seinem Lehrer Filip Nefedov in den Kreis der provinziellen Intelligencija eingeführt. Hier wurde Nechaev sensibilisiert für die sozialen Missstände und kam mit den Ideen des narodniestvo3 und der Volksaufklärung in Berührung. Er war begierig danach zu lernen und erhoffte sich davon eine bessere Zukunft, hatte aber gegenüber seiner Familie, der er als Arbeitskraft fehlte, stets Schuldgefühle. Bereits in seiner Kindheit und Jugend wurde so der Grundstein für das Spannungsfeld zwischen ihm und der privilegierten Schicht gelegt, in dem er sich sein Leben lang bewegte. Mit 18 Jahren zog Nechaev nach St. Petersburg und unterrichtete an Pfarrschulen. In der Stadt wurden ihm die Grenzen seiner persönlichen Entwicklung bewusst. Er konnte sich lediglich als Gasthörer an der Universität einschreiben. Die Frustration über den verwehrten Aufstieg gepaart mit den Gefühlen der Minderwertigkeit aus seiner Kindheit ließen in ihm den Hass und die Aggression gegen die Oberschicht wachsen, die sich gegen jeden richtete, egal ob Freund oder Feind. Das „privilegierte Gut“ Bildung war für ihn deshalb nicht länger erstrebenswert. Seine ganze Energie investierte er fortan in den revolutionären 1
So Zasulich, Vera, zitiert nach Avrich, Paul, Bakunin and Nechaev, London 1974, S. 5. Die Leibeigenschaft wurde 1861 abgeschafft. 3 Narodniestvo kann mit Volkstümlerbewegung übersetzt werden und meint die Verehrung der bäuerlichen Bevölkerung durch die Revolutionäre. Siehe Braunsperger, Sergej Neaev und Dostojewskijs Dämonen, Frankfurt a. Main 2002, S. 43. 2
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Kampf und ein „destruktive[s] Spiel mit der Macht“4. Die russischen Universitäten der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts boten dafür einen geeigneten Nährboden. Die jungen Studenten bildeten eine „nihilistische“ Protestkultur. Erst einmal wurde von ihnen lediglich die Pflicht und Akzeptanz gegenüber tradierten Werten und Moralvorstellungen in Frage gestellt, später strebten sie nach radikalen, sozialen Reformen und der Begriff des Nihilisten wurde zum Synonym für den russischen Revolutionär.5 Auf den ersten Blick scheint diese Entwicklung an den Universitäten überraschend in einer Zeit, in welcher Zar Alexander II. dringend notwendige Reformen durchführte.6 Jedoch bildete sich durch die Öffnung des Bildungssystems eine neue Schicht der Intelligencija heraus und die Lockerung der Zensur sowie die Gewährung der Versammlungsfreiheit erleichterten die Verbreitung systemkritischer Texte, wie Auszüge aus der Glocke des russischen Revolutionärs Theodor Herzen. Anfangs versuchte die Studentenbewegung, das Volk mit friedlichen Mitteln zum Aufstand zu führen. Viele Revolutionäre gründete konspirative Zirkel, arbeiteten als Lehrer und publizierten Erklärungen, die über die Ziele der Bewegung aufklärten. Als die Bemühungen nicht zum gewünschten Ergebnis führten, begann sich ein Teil der Studentenbewegung zu radikalisieren. Die junge Linke trennte sich bewusst von den „Alten“, wie Herzen, Ogarev und Bakunin7, die im schweizerischen Exil lebten und an einen Umsturz durch Reformen glaubten. Innerhalb dieser radikalen Minderheit machte sich Nechaev aufgrund seines Ehrgeizes und Einsatzes für die Sache einen Namen und nahm bald eine führende Rolle ein. Er machte die Bekanntschaft von Zamfirij Ralli und Varlaam Cherkezov, die dem Kreis um Ishutin8 angehörten, ebenso wie Petr Tkachev, der als Publizist in Russisches Wort und der Sturmglocke („Nabat“) bekannt geworden war. Auch den Anarchisten nahe stehende Sozialisten wie Mark Natanson, German Lopatin sowie L. B. Goldenberg gehörten diesem Umfeld an. An der Universität las er Buonarrotis Geschichte von Babeufs Verschwörung der Gleichen, wodurch sein Interesse an Geheimgesellschaften und dem Leben als Verschwörer geweckt wurde. Durch die Lektüre Robespierres kam er mit dem Jakobismus und Blanquismus9 in Berührung. Er schloss sich der jakobinischen Strömung innerhalb der russischen Revolutionsbewegung an, die konspirative Taktiken und die revolutionäre 4
Braunsperger, Sergej Neaev und Dostojewskijs Dämonen, aaO. (FN 3), S. 46. Vgl. Braunsperger, Sergej Neaev und Dostojewskijs Dämonen, aaO. (FN 3) S. 17. 6 Alexander II. folgte auf die repressive Herrschaft Nikolaus I. Die herbe Niederlage im Krimkrieg (1853-1856) hatte Russland gezeigt, dass es in Europa keine dominierende Rolle mehr spielte. Hinsichtlich der Industrialisierung bestand großer Aufholbedarf. Alexander II. erkannte dies und führte Reformen im militärischen, politischen und gesellschaftlichen Bereich durch. So wurden die Zensur und der Zugang zu den Universitäten gelockert. Siehe dazu Stökl, Günther, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 61997, S. 567-592. 7 Siehe zum Werk Bakunins den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 8 Dieser von Nikolaj Ishutin gegründete revolutionäre Zirkel war der bekannteste Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Die Mitglieder nannten sich Karakozovtsy, nach dem Namen des vermeintlichen Zar-Attentäters, der aus ihrem Kreis stammte. Sie pflegten die machiavellistische Konspiration und den Zarenmord ebenso wie Anschläge auf andere missliebige Personen, die Bestrafung abweichender Kameraden wurden ernsthaft als Mittel zur revolutionären Umwälzung in Betracht gezogen. Die Bewegung führte eine hierarchische Struktur, Skrupellosigkeit, Subordination, Terror und Gewalt ein, die bis dahin unbekannt waren. Siehe dazu Braunsperger, Neaev und Dostojewskijs Dämonen, a.a.O (FN 3), S. 30ff. 9 Utopischer Frühsozialismus, der das Bild eines „neuen Menschen“ propagiert. Der Staat sollte in genossenschaftlichen Einheiten organisiert werden und jegliche Abhängigkeitsverhältnisse, ob emotionaler oder materieller Art sollten abgeschafft werden. Vertreter waren Louis Blanc, Pierre-Joseph Proudhon, Robert Owen und Charles Fourrier. Durch die Tatsache, dass der Marxismus sich letztlich durchsetzte, geriet der Begriff des Blanquismus zum Schimpfwort und Kampfbegriff und damit auch zu einem im heutigen Sprachgebrauch arrivierten Synonym für generelles Abweichlertum. Siehe dazu Bergmann, Karl Hans, Blanqui. Ein Rebell im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main et alii 1986. 5
Der Katechismus des Revolutionärs: Sergej Nechaev
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Diktatur als ausschlaggebend für ihren Erfolg betrachtete. Das autoritäre und rücksichtslose Verhalten der Jakobiner diente ihm als Vorbild für den Umgang mit seinen Mitmenschen, die für ihn „Bestien“ waren. Seinen Kampf für die Freiheit des Volkes rechtfertigte er damit, dass er den Allgemeinwillen kenne und wisse, was für das Volk gut sei. Zwei Mal reiste Nechaev zu den „grauen Eminenzen“ des russischen Anarchismus in die Schweiz. Während es ihm nicht gelang, eine Beziehung zu Herzen herzustellen, der ihm von Anfang an misstraute, arbeitete er eng mit Ogarev und Bakunin zusammen. In den Monaten seines ersten Aufenthaltes verfasste er, vermutlich mit Hilfe Bakunins, den Katechismus des Revolutionärs. Es war lange Zeit umstritten, wer der Urheber dieses Dokuments war.10 Spätestens seit der Veröffentlichung von Bakunins Brief an Nechaev vom 2. Juni 1870, in dem er dessen „jesuitische Methoden“ kritisierte, kann Nechaev jedoch eindeutig als Autor identifiziert werden. Als er sich in Folge seiner Flucht das zweite Mal in der Schweiz aufhielt, wurde er von einem Spitzel der russischen Geheimpolizei an die Schweizer Behörden verraten. Diese lieferten ihn nach einigem Zögern an Russland aus. Auf Befehl des Zaren wurde er als politischer Gefangener in die Peter-Pauls-Festung gesperrt, wo er am 21. November 1882, dem Jahrestag des von ihm und seinen Kameraden ermordeten Ivanov, an Skorbut verstarb.
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Nechaev’s „Werk“: strenge Selbstdisziplin und Härte gegen die Anderen
Sergej Nechaev hat den folgenden Generationen revolutionärer Gruppen wenig theoretische Grundlagen hinterlassen. Er zeichnete sich nicht als großer Theoretiker aus, sondern bestach als Mann der Tat. Sein bedingungsloses Aufgehen in der Sache faszinierte seine Mitmenschen auch dann noch, als er wegen seiner Verbrechen bereits in der Peter-PaulsFestung einsaß. Seine Ziele stimmten mit der utopischen, sozialistischen Tradition der Mitte des 19. Jahrhunderts überein. In seinen Methoden dagegen lehnte er sich an den linken Flügel der französischen Revolutionsbewegung an.11 Seine kleinbürgerliche12 Herkunft brachte ihm die Anerkennung seiner revolutionären Genossen ein, die überwiegend aus adligen Elternhäusern kamen. Sie glaubten, indem sie ihm folgten und das Volk befreiten, sich von ihrer Schuld, die ihnen augrund ihrer sozialen Zugehörigkeit anhaftete, befreien zu können. Sein Hass gegen die Oberschicht machte jedoch auch vor seinen Freunden nicht halt. Zudem sah er jeden Menschen lediglich als Kapital für die Revolution13, aus dem die ganze Energie gepresst werden musste und der ansonsten wertlos war. Selbst die Tiefe der Freundschaft ergab sich aus dem Wert, den die
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So behauptete Karl Marx in seinem Feldzug gegen Bakunin, der dessen Ausschluss aus der Ersten Internationale zur Folge hatte, dass der Katechismus aus Bakunins Feder stammte. 11 Vgl. Pomper, Philip, Sergei Nechaev, New Jersey 1979, S. 216. 12 Das Kleinbürgertum im Russland des 19. Jahrhunderts war die unterste der sechs Verwaltungskategorien innerhalb der städtischen Bevölkerung. Die Zugehörigkeit war erblich und obwohl war zwar frei, aber dennoch arm. Siehe Braunsperger, Sergej Neaev und Dostojewskijs Dämonen, aaO (FN 3), S. 44. 13 Siehe Nechaev, Sergej, Der Katechismus des Revolutionärs – Die Pflichten des Revolutionärs gegen seine revolutionären Genossen, § 10, zitiert nach Lehning, Arthur (Hrsg.), Michael Bakunin - „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“ Ein Brief von Michael Bakunin an Sergej Neaev, Berlin 1980, S. 119. Der Katechismus ist auch in Marx, Karl/Engels, Friedrich, Werke, Band 18, Berlin 1969 abgedruckt. Eine Aufführung der wichtigsten Paragraphen des Katechismus findet sich bei Laqueur, Walter (Hrsg.), Zeugnisse politischer Gewalt – Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg/Ts. 1978, S. 56-59.
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Person für die Revolution hatte.14 Er begegnete seinen Kameraden mit der gleichen Härte und Rücksichtslosigkeit, mit der er sich der Sache widmete. Um sie an sich zu binden, sammelte er belastende Dokumente, mit denen er sie kompromittieren konnte. Gemeinsam mit anderen Studenten gründete er das Revolutionskomitee, in dessen Aktionsprogramm15 Ideen aus Bakunins Narodne delo16 mit einflossen und praktische Anleitungen von der Organisation Ishutins übernommen wurden. Vorbild für die jungen Revolutionäre war die Romanfigur Rakhmetov aus Chernyshevskys „Was tun?“, der sich mit asketischen Methoden auf den Kampf vorbereitete. Er unterzog sich physischen Schmerzen, unterhielt keinerlei persönliche Kontakte und spendete sein Geld zur Verwirklichung der Revolution. Die Mitglieder des Revolutionskomitees handelten nach dem Prinzip „Der Zweck [der Revolution] heiligt die Mittel“. Im Frühjahr 1869 reiste Nechaev zum ersten Mal in die Schweiz. Er wollte mit der dort lebenden Elite russischer Emigranten Kontakt aufnehmen, um ihre Beziehungen für die Vorbereitung der Revolution auszunutzen. Am 4. März überquerte er die russische Grenze und reiste nach Genf. Dort machte er die Bekanntschaft von Bakunin und Ogarev und behauptete, Führer einer starken revolutionären Gruppe in Russland zu sein. Vor allem Bakunin fühlte sich von dem „jungen Wilden“ angezogen. Er sah in ihm den „jugendlichen Vollstrecker seines „Lebenswerkes“17. Die Exil-Anarchisten glaubten, dass die neue Generation von Revolutionären mit ihrer Willensstärke und Tatkraft das zaristische Imperium stürzen würde, nachdem sie selbst versagt hatten. Neben dem Katechismus des Revolutionärs entstanden in diesen Monaten weitere Pamphlete und Manifeste18, in denen der soziale Umsturz proklamiert wurde. Zwischen April und August 1869 entstand Nechaevs Hauptwerk. Beeinflusst wurde der Katechismus von den Ideen europäischer revolutionärer Bewegungen: Zaichnevsky und Ishutin19 in Russland sowie Carbonari und Junges Italien im Westen. Allerdings trieb Nechaev die Grausamkeit und Immoralität noch weiter als seine Vorbilder, wodurch der Katechismus innerhalb der revolutionären Bewegung für mehr als ein Jahrhundert einen exponierten Platz einnahm.20 Nechaevs Prototyp des Revolutionärs kennt keine Skrupel und schreckt auch vor Mord nicht zurück, wenn es der Zerstörung der bestehenden Ordnung dient. Eine rigorose Einteilung der Menschen in Kategorien21, nach 14 Siehe Nechaev, Sergej, Der Katechismus des Revolutionärs – Die Pflichten des Revolutionärs gegen seine revolutionären Genossen, § 8, zitiert nach Lehning (Hrsg.), Michael Bakunin - „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“, aaO. (FN 13), S. 119. 15 Ein Auszug aus dem Aktionsprogramm findet sich bei Pomper, Sergei Nechaev, aaO. (FN 11), S. 56ff. 16 Bakunin verurteilte Bildung als Privileg der Wohlhabenden, das von der revolutionären Sache ablenke. Das Volk war für ihn der eigentliche Träger der Revolution, weshalb es so früh wie möglich in den Kampf mit einbezogen werden müsse. Die Studenten sollten deshalb direkt mit dem Volk zusammen arbeiten. 17 Braunsperger, Sergej Neaev und Dostojewskijs Dämonen, a.a.O (FN 3), S. 50. 18 Eines war betitelt mit „Some Words to Our Young Brothers in Russia”. Außerdem verfasste Nechaev gemeinsam mit Nicholas Ogarev “Russian Students”, das unter den Studenten verbreitet wurde. Die Autoren von „How the Revolutionary Question Presents Itself“, „Principles of Revolution“ und „Publications of the Society of ‚The People’s Justice’ No. 1” sind unbekannt, wobei “Principles of Revolution” aufgrund stilistischer Ähnlichkeiten zum „Katechismus des Revolutionärs” Nechaev zugeschrieben wird. In allen wurde jedes Mittel, das der Revolution dient, als legitim bezeichnet. 19 Nechaev orientierte sich an den Anleitungen von Hölle, dem terroristischen Arm der Karakozovtsy. Siehe Pomper, Sergei Nechaev, aaO. (FN 11), S. 42. 20 Vgl. Avrich, Bakunin and Nechaev, aaO. (FN 1), S. 11. 21 Nechaev, Sergej, Der Katechismus des Revolutionärs – Die Pflichten des Revolutionärs gegen seine revolutionären Genossen, § 15ff., zitiert nach Lehning (Hrsg.), Michael Bakunin - „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“, aaO. (FN 13), S. 120ff.
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denen sich das Ob und Wann ihres Todes richtet, bringt die absolute Menschenverachtung zum Ausdruck, die Nechaevs Handeln generell prägte. Die aus dem Manifest resultierende Grausamkeit schreckte viele Zeitgenossen ab. Nicolas Walter bezeichnete den Katechismus als „revolting rather than revolutionary document“22, in dem ein „pure, total, fanatical, destructive, nihilistic, self-defeating revolutionism“23 vertreten wurde. Der Katechismus ist in vier Teile untergliedert. In den ersten beiden Abschnitten finden sich Handlungsanweisungen, die die Person des Revolutionärs selbst und sein Verhalten gegenüber Genossen betreffen. Im dritten Teil werden die Pflichten gegenüber der Gesellschaft aufgezählt. Schließlich geht Nechaev noch auf die Bedeutung ein, die die Vereinigung für das Volk einnimmt. Nechaev ließ seine Kameraden in Russland und auch in der Schweiz seinen Einfluss spüren. Er schickte ihnen belastende Briefe und revolutionäre Literatur, was zu einer regelrechten Verhaftungswelle führte. Als er im Herbst 1869 zurückkehrte, war von seinen früheren Vertrauten nahezu keiner mehr auf freiem Fuß. Die revolutionäre Stimmung wurde durch die Verhaftungen angeheizt und Nechaev wurde zur unangefochtenen Führungsfigur des revolutionären Untergrundes. Die Schweiz hatte er nicht verlassen, ohne auch von Bakunin und seinem Umfeld Dokumente zu stehlen, mit denen er sie erpressen konnte. Mit diesem schmutzigen Gebaren gegenüber den Kameraden ging Nechaev in die Geschichte der revolutionären Studentenbewegung ein. Der nach ihm benannte Nechaevismus24 weist auf den Einsatz jakobinischer Strategien hin. Der Begriff impliziert eine hierarchische Struktur des Geheimbundes, den despotischen Willen des Führers, absoluten Gehorsam und Unterwerfung der Gruppe unter den Führer sowie den Elitarismus einer Kaderpartei. Das Bedürfnis, Rache an der privilegierten Schicht und dem ungerechten System zu üben, war ein Gefühl, das eine breite Masse der jungen Generation im Russland des 19. Jahrhunderts verspürte. Im Nechaevismus wurde der Wille, Vergeltung zu üben, bis zum Äußersten getrieben. Bei seiner Rückkehr konnte sich Nechaev als Vertreter der Russischen Sektion der weltweiten revolutionären Allianz25 und Vertrauter der grauen Eminenzen ausgeben, zu dem ihn Bakunin in der Schweiz ernannt hatte. Ausgezeichnet mit diesem Titel gründete er den revolutionären Geheimbund Narodnaja Rasprava (Strafgericht des Volkes), der streng hierarchisch organisiert war. Auf seinem Siegel waren eine Axt und die Worte „Komitee der Gerechtigkeit des Volkes vom 19. Februar 1870“ abgebildet. Die Vereinigung war in Gruppen von jeweils fünf Personen untergliedert26, die dem Führer unbedingten Gehorsam schuldeten. Dieser wiederum erhielt Befehle von einem Zentralkomitee, welches einzig aus der Person Nechaevs bestand, was den anderen jedoch verborgen blieb. Seine Anordnungen 22
Zitiert nach Avrich, Bakunin and Nechaev, aaO. (FN 1), S. 11. Ebd. 24 Ihre Ablehnung gegenüber dem Nechaevismus drückten nachfolgende russische Revolutionäre aus, indem sie statt des „-ismus“ das Suffix „-shchina“ anfügten. Auf diese Weise unterstrichen sie die Primitivität und Skrupellosigkeit eines solchen Verhaltens. Siehe Pomper, Sergei Nechaev, aaO. (FN 11), S. 216. 25 Diese existierte ebenso wenig wie die revolutionäre Bewegung Russlands, als deren Anführer sich Nechaev vor den Emigranten ausgab. Bakunin gab der Legendenbildung um Nechaev zudem Nahrung, indem er Ogarev veranlasste, sein Gedicht über den Märtyrertod eines Studenten in Sibirien Nechaev zu widmen. Durch das Gedicht wurde die Verbindung zwischen Nechaev und den russischen Anarchisten bekannt, was ihm den Respekt der revolutionären Bewegung einbrachte. Nikolaj Platonovic Ogarev, Die lichte Gestalt, zitiert nach Lehning (Hrsg.), Michael Bakunin - „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“, aaO. (FN 13), S.10f. 26 Der Aufbau der Vereinigung war von der ersten überregionalen Untergrundorganisation „Land und Freiheit“ (gegr. 1862) geprägt worden und wurde von vielen nachfolgenden Bewegungen übernommen. 23
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mussten ohne Widerrede ausgeführt werden. Wiederum brachte er die Mitglieder gegeneinander auf und führte es soweit, dass jeder jeden beobachtete. Ziel der Organisation war es, einen Volksaufstand am 19. Februar 1870, dem Ende der Übergangsregelung der Bauernbefreiung, vorzubereiten. Für diesen Tag erwartete man eine spontane Bauernerhebung, die man unterstützen wollte. Die finanziellen Mittel der Gruppe besorgte Nechaev mit Hilfe von Erpressungen. Als Ivan Ivanov, ein Mitglied der Vereinigung, die Nechaevs Praktiken in Frage stellte, damit drohte auszusteigen und eine demokratischere Organisation zu gründen, überzeugte Nechaev einige Gefährten27, dass man mit Ivanov nach Paragraph 1628 des Katechismus verfahren müsse. Schließlich hatte dieser die Sache verraten. Sie lockten ihn unter dem Vorwand, eine geheime Druckerei einzurichten, in eine abgelegene Grotte auf dem Gelände der Landwirtschaftsakademie, wo sie ihn zusammenschlugen und Nechaev ihn erschoss. Danach versenkten sie die Leiche in einem Eisloch.29 Auf diese Weise hatte Nechaev einen Gegner beseitigt, sich der Loyalität der Gefährten überzeugt und sie durch das Verbrechen an sich gebunden.30 Bereits vier Tage nach der Ermordung wurde die Leiche gefunden und 300 Revolutionäre verhaftet, von denen 84 im Sommer 1871 der Prozess gemacht wurde.31 Nechaev selbst gelang die Flucht. Über St. Petersburg verließ er im Januar 1869 mit einem gefälschten Pass das Land. Auf mysteriösem Weg ließ er eine Nachricht übermitteln, in der er mitteilte, dass er verhaftet worden sei, jedoch aus der Peter-Pauls-Festung hatte fliehen können. Die Kameraden sollten den Kampf weiterführen. Obwohl die Behörden die Verhaftung Nechaevs abstritten, zweifelte niemand an der Glaubwürdigkeit seiner Nachricht. Die „Entführung durch die Regierung“ und seine angebliche Flucht über Odessa, wo er nach einer erneuten Verhaftung wieder fliehen konnte, machte ihn zu einem Helden. Tatsächlich reiste Nechaev über Moskau und Brüssel erneut in die Schweiz, wo er die Zusammenarbeit mit Ogarev und Bakunin wieder aufnahm. Nechaev ließ die Glocke neu erscheinen.32 Die Zeitschrift erschien aber lediglich sechs Mal. Die Werke, die in dieser Zeit entstanden, zielten in zwei Richtungen. Zum einen baute Nechaev sein System an propagandistischen Halbwahrheiten33 weiter aus, zum anderen bereitete er sich auf die Zeit nach dem gelungenen Aufstand vor. Hatte er sich bislang der Aktion selbst, der Mobilisierung und der Durchführung der Revolution gewidmet, so dachte er nun vermehrt über die darauf folgende Gesellschaft nach. In Die Hauptgrundlagen der zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung, dem Leitartikel der zweiten Ausgabe des Strafgerichts des Volkes, entwarf er eine nach jakobinischen Prinzipien strukturierte kommunistische Gesellschaft. Die Macht 27
Weiterhin an der Tat beteiligt waren Petr Uspenskij, Aleksej Kuznecov, Ivan Pryžov und Nikolaj Nikolaev. Danach ist die Ermordung eines Menschen gerechtfertigt, wenn dieser der Organisation schadet. Siehe Sergej Nechaev, Der Katechismus des Revolutionärs – Die Pflichten des Revolutionärs gegen seine revolutionären Genossen, § 16, zitiert nach Lehning (Hrsg.), Michael Bakunin - „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“, aaO. (FN 13), S. 121. 29 Der Mord an Ivanov und die darauf folgenden Verfahren gegen die Täter erregten große Aufmerksamkeit. Hier wurde das unmoralische Verhalten Nechaevs zum ersten Mal für die Öffentlichkeit sichtbar. Fedor Dostoevskij verarbeitete den Stoff in seinem Roman „Die Dämonen“. 30 Avrich, Bakunin and Nechaev, aaO. (FN 1), S. 17. 31 Bei den Mordermittlungen waren die Polizisten auf Dokumente des Strafgerichts des Volkes gestoßen. Dadurch wurde ihnen die Verhaftung zahlreicher Revolutionäre leicht gemacht. Ebd., S. 17. 32 Die Projekte wurden mit Geldern aus dem Bakmethiev-Fonds finanziert, den ein russischer Adliger Alexander Herzen überlassen hatte. Auf Druck von Ogarev und Bakunin hatte Nechaev Zugang dazu erhalten. 33 Gegenüber den Emigranten und in Veröffentlichungen behauptete er, dass die Geheimpolizei ihn umbringen wolle, ihm aber die Flucht aus Sibirien gelungen sei. 28
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sollte auch nach dem Aufstand beim Revolutionskomitee bleiben, das weiterhin diejenigen bestrafen konnte, die sich der neuen Gesellschaftsform verweigerten.34 Während seines zweiten Aufenthalts kam es zunehmend zu Spannungen zwischen Nechaev und seinen Gönnern. Er beanspruchte für sich, der Einzige mit einer schlagkräftigen revolutionären Organisation zu sein. German Lopatin setzte Bakunin über Nechaevs wahren Charakter und dessen üble Machenschaften in Kenntnis, was diesen zutiefst erschütterte. Es wurde ihm bewusst, dass Nechaevs Visionen einer Revolution nichts mit den Ideen der gemäßigten Anarchisten gemein hatten. In seinem Brief vom 2. Juni 1870 an Nechaev legt er dar, wie tief die ideologische Kluft zwischen beiden war. So lehnte Bakunin Nechaevs Radikalität und dessen Streben nach einer revolutionären Diktatur ab. Dadurch würden die etablierten Knechter des Volkes nur durch neue ersetzt und das müsste abermals mit seiner Freiheit bezahlen. Er warf ihm vor, über keinerlei Menschenkenntnis zu verfügen.35 Ihre falsche Einschätzung der Menschen bringt Ihnen notwendigerweise Enttäuschungen ein. Sie fordern und erwarten zuviel von Ihnen, dadurch, dass Sie ihnen Aufgaben übertragen, die ihre Kräfte übersteigen, in der Überzeugung, dass alle Menschen von der gleichen Leidenschaft beseelt sein müssen wie Sie. Außerdem haben Sie überhaupt kein Vertrauen zu ihnen (…) Sie versuchen, sie in völliger Abhängigkeit von sich zu halten, sie einzuschüchtern (…).36
Trotz der grundlegenden Meinungsunterschiede sah Bakunin in Nechaev einen wahren Revolutionär, der nicht nur redete, sondern auch handelte. Dieser Kühnheit und Energie schrieb er Nechaevs große Anziehungskraft zu.37 Zwischen 1870 und 1872 pendelte Nechaev zwischen London38, Paris und der Schweiz hin und her. Adolf Stempkowski, ein ehemaliger polnischer Revolutionär und russischer Spion, verriet ihn am 14. August 1872 an die schweizerische Polizei, die ihn unter der Bedingung eines regulären Strafverfahrens an ihre russischen Kollegen überstellte. Am 8. Januar 1873 wurde er zu 20 Jahren Arbeitslager verurteilt. Der Zar beschloss allerdings, ihn als politischen Gefangenen in die Peter-Pauls-Festung bringen zu lassen. Dort wurde er in der Aleksej-Bastion eingesperrt. Doch auch die Schmerzen und Entbehrungen der Haft konnten Nechaev nicht brechen. Von seiner Faszination hat er nichts verloren. Seine Wachen, die ihn „den Adler“ nannten, versorgten ihn mit Literatur und Schreibmaterial und schmuggelten seine Briefe in die Freiheit und damit in die anarchistische Szene. Auf diese Weise stellte er den Kontakt zu Narodnaya Wolya39 (Volkswille) her und bat um seine gewaltsame Befreiung. Allerdings sollte erst das Attentat auf den Zar stattfinden. Nach der Ermordung Alexanders II. am 1. März 1881 wurde jedoch das Bündnis zwischen Nechaev und seinen Wärtern entdeckt und seine Haftbedingungen erschwert. Am 21. November 1882 starb er im Alter von 35 Jahren.
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Vgl. Braunsperger, Sergej Neaev und Dostojewskijs Dämonen, a.a.O (FN 3) S. 61. Bakunin in seinem Brief an Nechaev vom 2. Juni 1870, zitiert nach Lehning (Hrsg.), Michael Bakunin - „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“, aaO. (FN 13), S. 71ff. 36 Ebd., S. 57f. 37 Siehe dazu ebd., S. 53-96. 38 Von London aus publizierte er gemeinsam mit Vladimir Serebrennikov die Zeitschrift Obšina, in der er sein jakobinisches System weiterentwickelte. 39 Siehe dazu den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 35
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Nina Huthöfer Der Katechismus als Handlungsanweisung für sozialrevolutionäre Terroristen?
Obwohl die Mehrheit der revolutionären Bewegung Nechaevs Methoden und seinen Despotismus missbilligte, wog seine Selbstaufopferung für die Revolution seine Defizite in den Augen Vieler wieder auf. So beschrieb ihn Arman Ross, in der Emigration und ein erbitterter Gegner Nechaevs, entsprechend ambivalent: Doué d’une énergie formidable, d’un caractère d’acier, d’une capacité de travail et d’une activité inlassables, il était fanatiquement attaché à la cause révolutionnaire.40
Der Katechismus des Revolutionärs fand ein breites Echo. Während die Darstellungen der Vereinigung wenig Interesse hervorriefen, wurden die Handlungsanweisungen für den Revolutionär in viele Sprachen übersetzt und verbreitet. Die Originalversion nahm Nechaev selbst im August mit zurück nach Russland, wo sie bei einer Durchsuchung von Nechaevs Kameraden drei Monate später gefunden und im darauf folgenden Prozess gegen sie verwandt wurde. Das Manuskript wurde 1871 in der Zeitung Pravitel’stvennyi Vestnik zum ersten Mal veröffentlicht, ging dann aber bei einem Brand im Justizministerium 1917 verloren. Man fand jedoch im Archiv der zaristischen Geheimpolizei eine Abschrift, die 1924 in Bor’ba Klassov abgedruckt wurde. Der zweite Teil alleine wurde 1873 von den Marxisten in ihrer Kampagne gegen Bakunin in französischer Sprache veröffentlicht. Englische Übersetzungen wurden in Max Nomads Apostles of Revolution (1939) und in Robert Paynes The Terrorists (1957) publiziert und verarbeitet. Franco Venturi zitierte in seinem Werk Wurzeln der Revolution (1960) weite Teile, der Katechismus wurde in Form eines Pamphlets mindestens drei Mal unter anderem von der Black Panther-Partei in Berkeley aufgelegt.41 In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts löste in Russland der gemäßigtere Narodnichevismus den Nechaevismus ab. Ab 1875 konnte man jedoch aus Enttäuschung über das Scheitern des Narodnichevismus eine Radikalisierung beobachten, doch in den Revolutionen von 1905 und 1917 hatten sich viele junge Militante Nechaev zum Vorbild genommen, was sich in ihren terroristischen Methoden und ihrer radikalen Ablehnung gegenüber Intellektuellen niederschlug. Während Marx und Engels Nechaev verachteten, schätzte Lenin das Werk Nechaevs. Er lobte dessen Organisationstalent und die Klarheit, mit der er seine Forderungen formulierte. Deshalb verlangte Lenin, dass Nechaevs Gesamtwerk veröffentlicht werden sollte.42 In den 1960er Jahren erlebte der Nechaevismus eine Renaissance. Nechaevs Persönlichkeit wurde von den jungen Revolutionären bewundert. Die Immoralität seiner Praktiken wurde rehabilitiert, weil er Wege zum individuellen Terrorismus anbot. Rudi Dutschke orientierte sich nach Angaben seiner Frau am Katechismus. „’Ich bin ein Revolutionär’“, sagte Rudi ernst. ‚Ein Revolutionär muß die Revolution machen.’ Es gebe einen alten russischen Anarchisten, Sergej Netschajew, der einen Verhaltenskodex für Revolutionäre aufge-
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Ross, Arman, Souvenirs, in: Lehning, Arthur (Hrsg.), Michel Bakounine et ses rélations avec Neaev, 18701872, Archives Bakounine, Bd. 4, Leiden 1974, S. 365. 41 Siehe Avrich, Bakunin and Nechaev, aaO. (FN 1), S. 12. 42 Die Wertschätzung Nechaevs durch Lenin ist lediglich mündlich überliefert. Wolkogonow, Dimitri, Lenin: Utopie und Terror, Düsseldorf 1994, S. 40.
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stellt habe. Darin stehe, dass der Revolutionär mit der Revolution verheiratet sei und es keinen Platz gebe für eine Frau.“43 In der 1974 anonym erschienen Broschüre Anarchistisches Kochbuch lobte man Nechaevs Methoden als beispielhaft. Auch in Nordamerika diente er als Ideal terroristischer Gruppen. Eldridge Cleaver, führendes Mitglied der Black Panther sah im Katechismus seine Bibel und versuchte, die enthaltenen Ratschläge in sein tägliches Leben einzubauen. Dazu gehörte auch die Schonungslosigkeit gegenüber den Mitmenschen.44 Nicht nur Nechaev selbst diente als Vorbild, sondern auch der Mord an Ivanov fand seine Nachahmer. So töteten die Black Panther 1969 in New Haven einen vermeintlichen Informanten und die Vereinigte Rote Armee45 in Japan richtete vierzehn Mitglieder hin, denen man Verstöße gegen die revolutionäre Disziplin vorwarf.46 Nechaevs Verbrechen verblassten in der Erinnerung, sein völliges Aufgehen im revolutionären Kampf dagegen beeindruckte seine Zeitgenossen und folgende Generationen: (…) Neaev [war] einer der aktivsten und energievollsten Menschen (…). Da sein Handeln nun einmal dem dient[e], was er die Sache [nannte], zögert[e] er nicht und schreckt[e] vor nichts zurück und zeigt[e] sich mit sich selbst ebenso mitleidlos wie mit allen anderen.47
Letztlich zeigte das Beispiel Nechaev jedoch auch, dass allein eine edle Gesinnung nicht alle Mittel heiligt. Allzu aggressives Verhalten sowohl gegenüber dem Feind als auch dem Freund verwandelt sich schnell in eine menschenverachtenden Haltung gegenüber den Mitmenschen, die durch nichts mehr zu rechtfertigen ist, da sie sich kaum zu rechtfertigen braucht.
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Dutschke, Gretchen, Rudi Dutschke. Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Eine Biographie, München 1998, S. 16. 44 Cleaver, Eldridge, Seele auf Eis, München 1969, S. 19f. 45 Siehe dazu den Beitrag von Florian Edelmann in diesem Band. 46 Avrich, Bakunin and Nechaev, aaO. (FN 1), S. 29. 47 Bakunin in seinem Brief an Talandier, 24. Juli 1870, Lehning (Hrsg.), Michel Bakounine et ses rélations avec Neaev, aaO. (FN 40), S. 151.
Anarchismus im Zarenreich: Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin Marcus Gerngroß
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Bakunin und Kropotkin: Lebenswege zwischen Traum und Theorie
Michail Aleksandrovi Bakunin (1814 - 1876) und Pjotr Kropotkin (1842 - 1921) gelten heute als Symbolfiguren des klassischen Anarchismus und werden dabei meist in einem Atemzug genannt. Da sie sich auf sehr unterschiedliche Weise ihren anarchistischen Theorien näherten, ist es besonders interessant, ihre Werke und ihr Wirken gemeinsam vorzustellen.1 Ihrer Persönlichkeit und ihren Lebensläufen nach hätten die beiden Vordenker des Anarchismus kaum unterschiedlicher sein können. Bakunin war anfangs inspiriert vom deutschen Romantizismus und Idealismus,2 fasziniert von konspirativen Zirkeln und blieb Zeit seines Lebens „a romantic sort of revolutionary, part man of action and part dreamer“3. Er machte weniger durch seine Schriften, denn durch seinen Lebensweg auf sich und seine Ansichten aufmerksam und wurde dadurch zur schillerndsten Symbolfigur des Anarchismus. Kropotkin hingegen überzeugte durch seine Wissenschaftlichkeit und wurde aufgrund seiner Reputation als Naturwissenschaftler zum anerkannten Fürsprecher der Anarchisten. Waren beide zu ihren Lebzeiten viel beachtete Integrationsfiguren, wird Bakunin posthum durch seinen Lebenswandel zur Galionsfigur Figur des Anarchismus stilisiert, während Kropotkin eher in dessen Schatten steht.4 Trotz der unterschiedlichen Charaktere eint die beiden ihre adelige Herkunft, denn beide stammten aus privilegierten Familien des Zarenreichs. Als ältester Sohn von Aleksandr Michajlovi Bakunin, der die Anfänge der Französischen Revolution 1789 in Paris miterlebte, wuchs Michail zusammen mit seinen zehn Geschwistern in ländlicher Idylle auf dem elterlichen Gut auf.5 Die Familie stand den libertären Ideen ihrer Zeit aufgeschlossen gegenüber. Der Vater sympathisierte anfangs mit revoltierenden Adeligen, die 1825 im so genannten Dekabristenaufstand gegen die Zarenherrschaft rebellierten.6 Als deren Aufbe-
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Siehe hierzu Crowder, George, Classical Anarchism, The Political Thought of Godwin, Proudhon, Bakunin, and Kropotkin, Oxford 1991, S. 118. Zur biographischen Aufarbeitung besonders Grawitz, Madeleine/Löhrer, Andreas, Bakunin. Ein Leben für die Freiheit, Berlin 2001. 2 Siehe hierzu Huch, Ricarda, Michael Bakunin und die Anarchie, Leipzig 1923, S. 41-54. 3 George Crowder, Classical Anarchism, aaO. (FN 1), S. 118. 4 Dies spiegelt sich an der Anzahl der Sekundärliteratur zu beiden Theoretikern wieder. Einen Überblick über die Publikationen zu Kropotkin und Bakunin bieten: Hug, Heinz, Peter Kropotkin: Bibliographie, Grafenau 1994; sowie: Eckhardt, Wolfgang, Michail A. Bakunin (1814 - 1876): Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur in deutscher Sprache, Berlin 1994. 5 Das Familiengut Premuchino lag im Gouvernement Tver, nordwestlich von Moskau. 6 Die Weigerung russischer Adeliger und Offiziere, den Eid auf den Zaren zu leisten, wird als Dekabristenaufstand bezeichnet. Diese wollten damit im Dezember 1825 ihren Unmut über die Zarenherrschaft und Missstände im Reich kundtun. Der Aufstand war die erste bewusste revolutionäre Bewegung unter dem zaristischen Regime. Der
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Marcus Gerngroß
gehren jedoch niedergeschlagen wurde, bekannte er sich bedingungslos zum Zaren und schickte Michail Ende 1828 auf die Petersburger Artillerieschule. „Seinem bisherigen kultivierten Milieu entrissen, kann Bakunin gegenüber dem Stumpfsinn und sturen Drill des Militärs nur äußersten Abscheu empfinden.“7 Nach der Strafversetzung nach Litauen und Weißrussland kehrte er von einer Heimreise nicht mehr zum Militär zurück. Die drohende Festnahme wegen Desertion konnten Freunde der Familie abwenden. Vor dem Drängen des Vaters, „nun wenigstens einen Posten im Staatsdienst anzunehmen“8, floh Bakunin nach Moskau, wo er sich mit den Werken deutscher Philosophen auseinander setzte. Angefangen von Kant über Fichtes romantischen Idealismus faszinierte ihn vor allem Hegel, dessen Werke er ins Russische übersetzte. Ab 1840 besuchte Bakunin mit finanzieller Unterstützung des sozialkritischen Schriftstellers Alexander Herzen die Berliner Universität, wo er, durch den Linkshegelianismus beeinflusst, sich zusehends politischen Fragen zuwendete.9 Der deutschen Intellektuellen überdrüssig,10 reiste Bakunin nach Zürich und Bern, wo er mit dem Schneidergesellen Weitling bekannt wurde. Dieser beeindruckte Bakunin mit seiner Schrift Garantien der Harmonie und Freiheit, worin er „eine Verbindung zwischen Sozialismus und kommunistischem Urchristentum intendiert“11. Weitlings Ansichten beeinflussten Bakunins Philosophie nachhaltig. Kurzfristig hatte dies jedoch zur Folge, dass er aus der Schweiz ausgewiesen und von der russischen Gesandtschaft aufgefordert wurde, wieder nach Russland zurückzukehren. Als er dieser Aufforderung nicht nachkam und sich stattdessen nach Paris absetzte, wurden ihm Adelstitel wie russische Staatsbürgerschaft aberkannt. In Paris traf Bakunin auf Marx, beide waren sich wohl von Beginn an unsympathisch. So schreibt Bakunin über die Begegnung: „Unsere Temperamente vertrugen sich nicht. Er nannte mich einen sentimentalen Idealisten, und er hatte recht; ich nannte ihn einen perfiden tückischen eitlen Menschen, und ich hatte auch recht.“12 Engere Beziehung pflegte Bakunin in seiner Pariser Zeit hingegen zu Pierre-Joseph Proudhon, dem ein Sozialismus ohne Staat vorschwebte. In Paris begann auch Bakunins revolutionäres Wirken. Als er 1847 auf einer Versammlung polnischer Emigranten zum Sturz des Zaren in Russland aufrief, wurde er in ganz Europa bekannt. Fortan lebte er als Revolutionstourist seine „Philosophie der Tat“13 und gastierte überall, wo seiner Auffassung nach Revolutionäres im Gange war. Sein Enthusiasmus stieß bei den Obrigkeiten stets auf Unbehagen, weshalb er 1849 in Sachsen zum Tode verurteilt wurde. Nach seiner Begnadigung wurde er an Österreich ausgeliefert, wo ebenfalls die Todesstrafe auf ihn wartete. Schließlich wurde er 1851 nach Russland abgeDekabristen- oder auch Dezembristenaufstand wurde letztlich niedergeschlagen. Die Anführer des Aufstandes wurden gehängt, die Gefolgsleute inhaftiert oder degradiert. 7 Eckhardt, Wolfgang, Von der Dresdner Mairevolution zur Ersten Internationale: Untersuchungen zu Leben und Werk Michail Bakunins, Lich 2005, S. 7. 8 Ebd., S. 8. 9 Bakunin bekannte sich in seinem 1842 publizierten Aufsatz „Die Reaction in Deutschland“ klar zum linkshegelianischen Lager. Siehe hierzu Heinlein, Markus, Klassischer Anarchismus und Erziehung: Libertäre Pädagogik bei William Godwin, Michael Bakunin und Peter Kropotkin, Würzburg 1998, S. 163. 10 Vgl. Bakunin, Michail, Brief aus dem Gefängnis. Die »Beichte«, Reprint der Ausgabe von Kurt Kersten aus dem Jahr 1926, Berlin 1988, S. 7. 11 Heinlein, Markus, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 164. 12 Bakunin, Michael A., Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, Herausgegeben und eingeleitet von Horst Stuke, Frankfurt a.M. 1972, S. 403. 13 Siehe hierzu Lawen, Irene, Konzeptionen der Freiheit: Zum Stellenwert der Freiheitsidee in der Sozialethik John Stuart Mills und Michail A. Bakunins, Saarbrücken 1996, S. 218-221.
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schoben und dort inhaftiert.14 Im Gefängnis schrieb er Die Beichte15 an den Zaren Nikolai I., worin er angab, sein Handeln zu bereuen und um Gnade ersuchte. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes wurde er 1857 nach Sibirien gebracht, von wo aus ihm die Flucht über Japan und die USA nach London gelang.16 Fortan nahm er seine revolutionären Bemühungen wieder auf und reiste quer durch Europa. 1869 traf er in Genf auf den radikalen Revolutionär Sergej Nechaev, dessen Enthusiasmus er anfangs lobte, sich bald darauf jedoch von ihm lossagte.17 1876 starb er in Bern. Wie Bakunin so erfuhr auch der 1842 in Moskau geborene Pjotr Kropotkin eine privilegierte Erziehung und Bildung. Da sein Vater dem russischen Hochadel angehörte, schien Pjotrs Karriere im Staatsdienst schon vorgezeichnet. So schickten ihn seine Eltern im Alter von 15 Jahren an das so genannte Pagenkorps.18 Kropotkin war von der militärisch geprägten Konformität der elitären Schule angewidert.19 Dennoch waren seine Zensuren sehr gut, weshalb ihm bald das Privileg zuteil wurde, am Hof Pagendienst zu verrichten. Dieser Einblick in das zaristische Hofleben prägte seine spätere Anklage gegen die monarchische Regierungsform.20 Erste Bekanntschaft mit reformistischen Ideen machte er 1859, als er zufällig einige Zeitschriften in die Hände bekam, die von Alexander Herzen, der die Zarenherrschaft kritisierte, herausgegebenen wurden.21 Die regressiven Reaktionen des Zaren Alexander II. auf Petersburger Studentenunruhen im Oktober 1861 prägten ihn nachhaltig.22 Er beendete seine Schulausbildung und meldete sich anschließend freiwillig für den Militärdienst in Sibirien. Eigentlich schwebte ihm eine universitäre Laufbahn vor, doch durch den Kommiss konnte er den Bruch mit dem Vater verhindern, ohne weiter am Hof tätig sein zu müssen.23 Zudem galt Sibirien, da es der Verbannungsort für Aufständische und unbequeme Intellektuelle war, als vergleichsweise liberal.24 Von dort aus beteiligte er sich an Expeditionen nach China und in die Mandschurei, wobei seine Beigeisterung für Geographie und Geologie geweckt wurde. Anschließend begann er sein Mathematikstudium an der Petersburger Universität, wo er mit wissenschaftlichen Publikationen im Bereich der Geologie Furore machte.25 Einen daraufhin von der Russischen Geografie-Gesellschaft angetragenen Posten lehnte Kropotkin ab und begründet diesen Schritt in seinen Memoiren pathetisch: 14
Vgl. Eltzbacher, Paul, Der Anarchismus, Vaduz 1978, S. 102. Bakunin, Michail A., Die Beichte, in: Kurt Kersten (Hrsg.), Michail Bakunins Beichte aus der Peter-Pauls Festung an Zar Nikolaus I., Berlin 1926, S. 1-92. 16 Siehe hierzu ausführlicher Cattopoel, Jan, Anarchismus: Rechts- und staatsphilosophische Prinzipien, München 1973, S. 50-52. 17 Vgl. ebd., S. 52-55; siehe hierzu ebenso den Beitrag von Nina Huthöfer in diesem Band. 18 Die Eliteschule diente der Vorbereitung des russischen Adelsnachwuchses auf eine Laufbahn im Militär oder am Zarenhof. Vgl. Markus Heinlein, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 253. 19 Vgl. Kropotkin, Peter, Memoiren eines Revolutionärs, Frankfurt a. M. 1973, S. 87-88. 20 Vgl. Heinlein, Markus, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 255. 21 Diese propagierten die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild in Russland, was zur damaligen Zeit eine äußerst revolutionäre Forderung war. Siehe hierzu Miller, Martin A., Kropotkin, Chicago 1976, S. 33 sowie Kropotkin, Peter ,Memoiren eines Revolutionärs, aaO. (FN 19), S. 150. 22 Der Zarenhof ließ die Petersburger Universität, die als Keimzelle der Unruhen galt, schließen und verbot fortan auch die Sonntagsschulen. Diese waren eine Einrichtung von Studenten und Offizieren, die freiwillig Arbeiter und Bauern unterrichteten. Auch Kropotkin lehrte an den Sonntagsschulen. Siehe hierzu: Woodcock, George/Avakumovic, Ivan, The Anarchist Prince. A biographical study of Peter Kropotkin, London/New York 1970, S. 41-42. 23 Vgl. Heinlein, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 255. 24 Vgl. Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, aaO. (FN 19), S. 200-201. 25 Vgl. Heinlein, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 256. 15
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Aber welches Anrecht hatte ich auf diese höheren Freuden, wenn ich um mich herum nur Elend sah und den Kampf um ein schimmeliges Stück Brot, wenn alles, was ich ausgab, um in jener erhabeneren geistigen Welt weilen zu können, notwendigerweise denen vor dem Munde weggenommen werden musste, die den Weizen bauten und kein Brot für ihre Kinder hatten?26
Als 1871 Kropotkins Vater starb, fiel ihm ein großes Erbe zu, welches ihm nun ermöglichte, sich voll der sozialen Frage und revolutionären Ideen zu widmen. Da das zaristische Russland unter Alexander II. zunehmend in die repressive Politik nikolaiischen Typs zurückfiel, war ihm dies, wie auch schon Bakunin, nur im Ausland möglich.27 Kropotkin reiste 1872 nach Zürich, wo er sich zunächst im Kreis russischer Denker um Pjotr Lavrov bewegte, der als sozialkritischer Denker großen Einfluss auf die soziale NarodniestvoBewegung in Russland ausübte.28 In Genf lebte er als Arbeiter. In Neuchatel schloss er sich Uhrmachern an, die sich kollektivistisch im so genannten Jura-Bund organisierten. Dieser lehnte sich gegen den zentralistisch strukturierten Generalrat der Internationalen ArbeiterAssoziation auf. Nach dieser Zeit, so schrieb Kropotkin später in seinen Memoiren, „standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war Anarchist“29. Obwohl zur selben Zeit auch Bakunin in der Schweiz weilte,30 sah Kropotkin von einem Besuch ab. Er reiste weiter nach Belgien, wo er ähnliche Erfahrungen mit Tuchmachern machte, die sich durch individuelle Aktionen auszeichneten und nicht durch eine straffe Kaderorganisation gelähmt waren, wie die von ihm kritisierte Internationale Arbeiter-Assoziation.31 Noch im Jahr 1872 kehrte Kropotkin nach Petersburg zurück, wo er sich dem so genannten Tschaikowskij-Zirkel um den sozialrevolutionär umtriebigen Nikolai Tschaikowskij, Bruder des berühmten Komponisten, anschloss und versuchte, die Arbeiter in den Wollfabriken für seine revolutionäre Gesinnung zu gewinnen.32 1874 wurde er wegen seiner Aktivitäten in Russland verhaftet und konnte noch vor Prozessbeginn 1876 fliehen. Über Schweden und England gelangte er in die Schweiz, wo er sich erneut dem Jura-Bund anschloss. Mit seiner Zeitschrift Le Révolté,33 die er ab 1879 in Genf verlegte, übte er großen Einfluss auf die anarchistische Bewegung aus. Als 1881 der russische Zar Alexander II. von Anarchisten ermordet wurde,34 musste Kropotkin nach öffentlicher Verteidigung des Attentats die Schweiz nach Frankreich verlassen. Da sich in der Folgezeit auch in Frankreich Sprengstoffattentate von Anarchisten häuften, wurde Kropotkin von 1883 bis 1886 inhaftiert. Danach lebte er in London, wo er Ökonomie studierte und sich seinen Lebensunterhalt mit 26
Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, aaO. (FN 19), S. 283-284. Vgl. Heinlein, Markus, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 255. 28 Zur Narodniestvo-Bewegung siehe den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 29 Kropotkin, Peter, Memoiren eines Revolutionärs, 2. Bd., Stuttgart 1903, S. 91. 30 Bakunin war zu dieser Zeit von misslungenen Revolutionsversuchen enttäuscht. Freunde Kropotkins sollen ihm daher einen Besuch bei Bakunin ausgeredet haben. Siehe hierzu Mertl, Helge, Peter Kropotkin: Eine Einführung in Leben und Werk, in: Kropotkin, Peter, Der Anarchismus: Mit einer Einführung in Leben und Werk, SiegenEiserfeld 1983, S. 13-14. 31 Vgl. Ratsch, Ulrich, Vom guten und vom bösen Menschen: Der „wissenschaftliche Anarchismus“ von Peter Kropotkin, in: Diefenbacher, Hans (Hrsg.), Zur Geschichte und Idee der Herrschaftsfreien Gesellschaft, Darmstadt 1996, S. 52-66, hier: S. 53. 32 Vgl. Mertl, Helge, Peter Kropotkin: Eine Einführung in Leben und Werk, in: Peter Kropotkin, Der Anarchismus, aaO. (FN 30), S. 14. 33 Le Révolté, zu deutsch der Rebell, wurde später in La Révolte umbenannt. Siehe hierzu: Cattopoel, Jan, Anarchismus: Rechts- und staatsphilosophische Prinzipien, München 1973, S. 98. 34 Siehe hierzu den Beitrag über die Narodnaya Wolya in diesem Band. 27
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journalistischen und wissenschaftlichen Publikationen verdingte. Nach der Russischen Revolution 1917 kehrte er, vom Umsturz angetan, in seine Heimat zurück. Vom Aufbau des bolschewistischen Machtapparats war er jedoch bald enttäuscht.35 1921, kurz bevor die anarchistische Bewegung Russlands endgültig durch die Bolschewisten zerschlagen wurde, starb Kropotkin.
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Werke, sozialrevolutionäre Ideologie und Kernaussagen
2.1 Bibliographisches Die Publikationen, die Bakunin und Kropotkin zu ihren Lebzeiten herausgegeben haben, waren vornehmlich Sammlungen von Zeitungsartikeln und pädagogisch-propagandistischen Flugblättern, deren Inhalte eng mit ihren biographischen Erlebnissen verbunden sind. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse konnten sie revolutionäre Ereignisse in nahezu ganz Europa für die jeweilig Betroffenen kommentieren und diese direkt ansprechen.36 Bakunin wählte dafür häufig die Briefform, Kropotkin kommentierte das Zeitgeschehen vorwiegend in Leitartikeln unter anderem in seiner Zeitschrift Le Révolté.37 Als eines der wichtigsten Frühwerke Bakunins gilt seine in Berlin unter dem Pseudonym Jules Elisard verfasste Schrift Die Reaction in Deutschland. Ein Fragment von einem Franzosen38, die, zwar noch stark geprägt von seinem Hegelstudium, retrospektiv aber als seine erste anarchistische Schrift gelten kann. Die Publikation endet mit dem zu Bekanntheit gekommenen Satz: „Die Lust an der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“39. Während seiner Jahre als reisender Revolutionär publizierte er kaum. Aus den Jahren der Gefangenschaft liegt nur seine sog. Beichte vor. Danach versuchte er in seinem unvollendeten Werk Fédéralisme, Socialisme et Anti-Théologisme40 seine Ansichten zu bündeln. Lagerkämpfe mit Marx fanden in der darauffolgenden Zeit ihren Ausdruck in zahlreichen Zeitschriftenartikeln und Polemiken. Die späteren Schriften Bakunins waren stark durch seinen nunmehr progressiver vertretenen Atheismus geprägt. Sein Werk Gott und der Staat, in dem er sich offen zum Materialismus und Atheismus bekannte, sei hier repräsentativ für diesen Lebensabschnitt genannt.41 Seine letzte und zugleich umfassendste Schrift ist Staatlichkeit und Anarchie, die er 1873 auf russisch publizierte. Eine systematische Darlegung seines anarchistischen Denkens gelang ihm jedoch auch mit dieser bruchstückartigen Arbeit
35
Vgl. Ratsch, Ulrich, Vom guten und vom bösen Menschen, in: Diefenbacher, Hans (Hrsg.), Zur Geschichte und Idee der Herrschaftsfreien Gesellschaft, aaO. (FN 31), S. 52-66, hier: S. 54. 36 Bakunin publizierte vornehmlich auf deutsch, französisch, russisch und italienisch. Siehe hierzu: van Dooren, Wim , Bakunin, SOK-Einführungen, Hamburg 1985, S.12. 37 Neben seiner Herausgeberschaft der Révolté schrieb Kropotkin bspw. für die Zeitschriften „Nature“ und „The Times“ in England. Siehe hierzu Mertl, Helge Peter Kropotkin: Eine Einführung in Leben und Werk, in: Peter Kropotkin, Der Anarchismus, aaO. (FN 30), S. 10-56, hier: S. 17. 38 Der Artikel erschien 1842 in „Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst“, die von Arnold Ruge herausgegeben wurden. 39 Zitiert nach Nettlau, Max, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin, Berlin 1927, S. 24. 40 Das Werk ist 1868 erschienen. 41 Vgl. Cattopoel, Anarchismus, aaO. (FN 16), S. 56.
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nicht.42 Ebenso wie sich sein schriftliches Erbe eher fragmentarisch zusammenfügt,43 so bleibt auch seine Idee vom Anarchismus eher Stückwerk. Kropotkin hingegen erfand in seinen Schriften den Anarchismus zwar nicht neu, er vermochte es aber, ihn zu einer eklektizistischen Lehre zu formen. Er baute auf den Ideen Proudhons und Bakunins auf und verband unterschiedliche anarchistische Strömungen, denen er durch die Révolté ein Sprachrohr verlieh. Kropotkins größere Schriften waren meist Zusammenführungen seiner Zeitschriftenartikel. So erschien 1881 aus einer Aufsatzreihe im Révolté hervorgehend die aufsehenerregende Broschüre L`Esprit de Révolte, in der Kropotkin für die so genannte direkte Aktion oder auch Propaganda der Tat44 warb. „Permanente Revolte durch das gesprochene und geschriebene Wort, durch Dolch, Gewehr, Dynamit (…). Uns ist alles recht, was sich außerhalb der Legalität bewegt.“45 Überzeugt davon, dass die Propaganda der Tat mehr mitreisen könne als jedes geschriebene Wort, wurde er zum wortführenden Sympathisanten anarchistisch motivierter Attentate der 1880er und 1890er Jahre. Im Révolté ergriff er Partei für die Attentäter des russischen Zaren Alexander II. und kritisierte deren Verurteilung und Hinrichtung.46 In seiner Londoner Zeit entstand 1892, erneut aus verschiedenen Aufsätzen hervorgehend, sein Werk Die Eroberung des Brotes. Darin versuchte er mittels historisch-empirischer Befunde eine Anleitung zur Verwirklichung der anarchistischen Utopien auf Basis der existierenden wirtschaftlichen Verhältnisse zu bieten.47 In den Jahren 1896/97 erschienen von ihm die Aufsätze Der Anarchismus. Seine Philosophie – sein Ideal und Die historische Rolle des Staates, mit denen er die theoretische Fundierung des Anarchismusbegriffs schärfte. 1899 publizierte er die Aufsatzsammlung Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, in der er auf den technischen Fortschritt einging und eine ausgeglichene Ausbildung in Kopf- und Handarbeit forderte.48 Im selben Jahr wurde mit hoher Auflage das autobiographische Werk Memoiren eines Revolutionärs verlegt, worin er die Ereignisse seines Lebens mit seinem anarchistischen Denken verband. 1909 publizierte er seine historische Abhandlung Die Französische Revolution 1789-1793, die wie zuvor schon Die Eroberung des Brotes vor allem das Ziel verfolgte, eine praktische Anleitung zum Umsturz zu bieten. Ferner wollte er darin die post-revolutionären Fehler aufdecken, die zur Etablierung der jakobinischen Herrschaft geführt hatten.49 Seine letzten Lebensjahre arbeitete er an seiner Schrift Ethik, die unvollendet 1922 posthum erschien.
42
Vgl. Heinlein, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 173. Siehe dazu Zenker, E. V., Der Anarchismus: Kritische Geschichte der anarchistischen Theorie, Frankfurt a.M. 1966, S. 103. 44 Der Begriff Propaganda der Tat wurde erstmals von Paul Brousse, einem französischen Arzt und Anarchisten, in der Zeitschrift L`Avant Garde verwendet. Siehe Stafford, David, From Anarchism to Reformism: A Study of the Political Activities of Paul Brousse within the First International and the French Socialist Movement 1870-90, Toronto 1971, S. 76-88. 45 Zitiert nach Heinlein, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 259; dieser bezieht sich wiederum auf Maitron, Jean, Histoire de mouvement anarchiste en France (1880-1914), Paris 1951, S. 70. 46 Vgl. Heinlein, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 260. 47 Vgl. Cattopoel, Anarchismus, aaO. (FN 16), S. 101. 48 Vgl. Heinlein, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 261. 49 Ebd., S. 263. 43
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2.2 Der Kern anarchistischer Ideologie nach Bakunin und Kropotkin Der klassische Anarchismus nach Bakunin und Kropotkin basiert auf einem Menschenbild, das von Darwins Evolutionstheorie beeinflusst war. So galt für Bakunin: „Der Mensch ist, wie die ganze übrige Welt, ein vollständig materielles Wesen.“50 Kropotkin ging von der These Darwins aus, dass sich innerhalb derselben Art „gegenseitige Hilfe“51 durchsetzen würde.52 Angelehnt daran ging er von einem der menschlichen Natur zugrunde liegenden Prozesscharakter aus, der schließlich den Menschen als Sozialwesen auf Solidarität und Kooperation ausrichtet. Der natürliche Trieb nach Geselligkeit werde jedoch durch negative menschliche Wesenszüge konterkariert.53 Leider verhindern die im Menschen von den niedersten Entwicklungsstufen an bewahrten räuberischen Instinkten die Anerkennung des Geselligkeitsgefühls und des Bewußtseins der Gleichberechtigung als Grundlagen der sittlichen Urteile des Menschen. Diese Instinkte wurden nicht nur erhalten, sondern auch zu verschiedenen Zeiten sehr gefördert (…), was manchen fortgeschrittenen Gemeinschaften die Möglichkeit bot, sich durch die Arbeit der rückständigen Nachbarn zu bereichern.54
Sich auf Rousseau beziehend kommt Kropotkin zur Auffassung, dass die Menschen im Naturzustand, bevor sie sich durch den Staat in Ketten legen ließen, ein glückliches Dasein hatten.55 Abwägend zwischen der pessimistischen Sicht Huxleys, der als Sozialdarwinist den Kampf ums Dasein als Kernprinzip der Evolution propagierte, und der optimistischen Sicht Rousseaus, der den Naturzustand als Friedenszustand begriff, sieht Kropotkin in der Natur das Prinzip gegenseitiger Hilfe innerhalb einer Gemeinschaft als dominierend und somit als Erfolgsmodell an, das sich durchsetzen wird.56 Daher besitzen einzig die Gesetze der Natur legitime Autorität, die zugunsten der sozialen Instinkte die „räuberischen“57 zurückdrängen können. Gegen die Naturgesetze kann der Mensch nicht rebellieren, sondern muss als bislang letztes Evolutionsglied „die lebendige Arbeit der Natur“58 fortsetzen. Sich 50
Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, aaO. (FN 12), S. 177. Siehe Kropotkin, Peter, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, herausgegeben von Henning Ritter, Grafenau 1989. 52 Vgl. Heinlein, Klassischer Anarchismus und Erziehung, aaO. (FN 9), S. 277 sowie Cantzen, Rolf, Weniger Staat mehr Gesellschaft: Freiheit – Ökologie – Anarchismus, Frankfurt a. M. 1987, S. 22. 53 Bakunin sieht, basierend auf Darwins Evolutionstheorie, einen stringenten Prozess vom animalischen Kampf ums Dasein hin zu den menschlichen Entwicklungsstufen. Diese führten vom Kannibalismus zu den Anfängen der Zivilisation und über die Erfindung von Werkzeugen und Ackerbau hin zur Ausbeutung der Mitmenschen durch Sklaverei und schließlich zum Lohnproletariat und zur Unterdrückung der Frau. Vgl. hierzu Lawen, Konzeptionen der Freiheit, aaO., (FN 13), S. 175 sowie Bakunin, Michail A., Philosophische Betrachtungen über das Gottesphantom, über die wirkliche Welt und über den Menschen. Anhang zu Gott und Staat, in: Rholfs, Erwin/ Nettlau, Max (Hrsg.), Michael Bakunin. Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin 1921, S. 201-306, hier S. 245. 54 Kropotkin, Peter, Ethik, Erster Band: Ursprung und Entwicklung der Sittlichkeit, Berlin 1923, S. 236. 55 Kropotkin bezieht sich auf Rousseaus Aussage: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ Daraus folgert er, dass man die Ketten, nach seinem Verständnis den Staat, abschaffen und zum Naturzustand zurückkehren müsse, um Freiheit zu erlangen. Rousseau war es jedoch nicht an einer Rückkehr zum Naturzustand gelegen, sondern an der Legitimation der Ketten durch die Idee des Gesellschaftsvertrages. „Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.“ Rousseau, Jean-Jaques, Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 2003, S. 5. Siehe hierzu außerdem Zenker, Der Anarchismus, aaO. (FN 43), S. 126. 56 Vgl. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, aaO. (FN 50), S. 25-26. 57 Kropotkin, Ethik, aaO. (FN 54), S. 236. 58 Lawen, Konzeptionen der Freiheit, aaO. (FN 13), S. 179. 51
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diesen Gesetzen zu unterwerfen bedeutete für die Anarchisten jedoch keine Sklaverei, da diese einen äußeren Gesetzgeber voraussetzt, „der sich außerhalb desjenigen befindet, dem er gebietet; diese Gesetze aber liegen nicht außer uns, sie sind uns inhärent“59. Die Anerkennung der Naturgesetze bedingt daher die Freiheit der Menschen. Den Naturgesetzen gegenüber ist für den Menschen nur eine Freiheit möglich: sie zu erkennen und sie immer anzuwenden, seinem Ziel der kollektiven und individuellen Emanzipation oder Humanisierung entsprechend. Sind diese Gesetze einmal erkannt, üben sie eine von der Masse der Menschen nie diskutierte Autorität aus. (…) Die Freiheit des Menschen besteht einzig darin, dass er den Naturgesetzen gehorcht, weil er sie selbst als solche anerkannt hat und nicht weil sie ihm von außen her von irgendeinem fremden Willen, sei er göttlich oder menschlich, kollektiv oder individuell auferlegt sind.60
Um Freiheit zu erlangen, muss der Mensch folglich die Naturgesetze als faktische Autorität akzeptieren und sich aktiv für ein Leben im Einklang mit ihnen entschließen. Dieser Entschluss setzt voraus, dass der Mensch über einen freien Willen verfügt, der allein dem Menschen attestiert wird, „weil nur er durch Reflexion Einsicht in die natürlichen Notwendigkeiten gewinnt“61. Die zentrale Triebkraft im Denken und Wirken Bakunins und Kropotkins stellte der unbändige Drang nach Freiheit dar. Bakunin rechtfertigte sein Handeln daher folgendermaßen: Liebe zur Freiheit und unüberwindlicher Haß gegen jede Unterdrückung, mehr noch, wenn sie anderer als mich selbst betraf – mein eigenes Glück in fremdem Glücke zu suchen, meine eigene Würde in der aller mich Umgebenden, frei zu sein in der Freiheit anderer – das war mein ganzer Glaube, das Bestreben meines ganzen Lebens. Ich hielt es für meine heilige Pflicht, mich gegen jede Unterdrückung, woher sie auch kam, und wen sie betraf, zu erheben.62
Der Freiheitsbegriff ist das zentrale Moment in Bakunins wie Kropotkins Denken. Freiheit kann bei ihnen nur ein kollektiv empfundener Zustand sein, er kann niemals nur für ein Individuum gelten. Kropotkin stellt den sozialen Instinkt in den Mittelpunkt seiner Anthropologie und erachtet ihn als das dem Menschen von Natur aus innewohnende Gute. Der Sozialtrieb kann sich nur im Miteinander entfalten, weshalb vollständige Freiheit der Individuen nur innerhalb einer Gesellschaft herbeigeführt werden kann.63 Nur in der Gesellschaft und nur durch die gemeinsame Tätigkeit der ganzen Gesellschaft wird der Mensch Mensch, kommt er zum Bewußtsein sowohl als auch zur Verwirklichung seines Menschentums, nur durch die gemeinsame oder soziale Arbeit, welche allein imstande ist, die Oberfläche der Erde in einen der Entwicklung der Menschheit günstigen Aufenthaltsort umzuwandeln (…) die Freiheit jedes Menschen ist nichts anderes als die Spiegelung seines Men-
59
Bakunin, Michail A., Gott und der Staat, in: Hillmann, Susanne (Hrsg.), Michail Bakunin: Gott und der Staat und andere Schriften, Reinbeck 1969, S. 56-166, hier S. 74. 60 Ebd. S. 74-75. 61 Lawen, Konzeptionen der Freiheit, aaO. (FN 13), S. 181. 62 Bakunin, Michail A., Die Beichte, in: Kersten, Kurt (Hrsg.), Michail Bakunins Beichte aus der Peter-Pauls Festung an Zar Nikolaus I., Berlin 1926, S. 1-92, hier S. 47-48. 63 Vgl. Lawen, Konzeptionen der Freiheit, aaO. (FN 13), S. 185.
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schentums oder seine Menschenrechte im Bewußtsein aller freien Menschen, seiner Brüder, seiner Genossen. Nur in Gesellschaft anderer Menschen kann ich mich als frei ansehen.64
Erst die gegenseitige Bestätigung der Menschen frei zu sein, macht sie tatsächlich frei. Dafür muss der Einzelne allerdings in einer Gesellschaft leben, in der kein Mitglied unterdrückt ist. Dies sieht Bakunin als den positiven Aspekt der Freiheit. Im Rückkehrschluss hat für ihn Freiheit jedoch auch ein negatives Element, und das ist „die Empörung des menschlichen Individuums gegen jede göttliche und menschliche, gegen jede kollektive und individuelle Autorität“65. Hierin steckt zum einen der Aufruf, keine Autorität außer der Naturgesetze anzuerkennen, und zum anderen gleichzeitig die dem menschlichen Wesen innewohnende Abscheu gegen die als illegitim gebrandmarkten Herrschaftsformen. Die anarchistische Kritik an Autoritäten trifft in erster Linie den Staat. Dieser repräsentiert den von Menschen künstlich aufgezwungenen Machtapparat, der aufgrund seiner Existenz jede Form von individueller Freiheit unmöglich macht, da ein Staat per definitionem Herrschaft bedingt und diese wiederum laut Bakunin Sklaverei bedeutet, da zwangsläufig eine Klasse über eine andere herrscht.66 Somit liegt in der Existenz des Staates die Ausbeutung der Arbeiter, die Unfreiheit des Menschen und die Behinderung sozialen Fortschritts begründet.67 Die Herrschaftsform spielt dabei keine Rolle. Auch in der repräsentativen Demokratie erachtete Bakunin den Bürger als unfrei, da der Wählerwille nur scheinbar zähle. Sobald die Repräsentanten gewählt seien, würden sie von der Macht korrumpiert und handelten fortan eigennützig.68 In der Überzeugung, dass jegliche Form von Herrschaft zur Einschränkung der menschlichen Freiheit führt, liegt die Ursache für das Schisma zwischen Marx und Bakunin bzw. zwischen Kommunisten und Anarchisten.69 Für Bakunin ist die Gleichheit unter den Menschen Vorrausetzung für deren Freiheit, da erst die Vernichtung von Klassenunterschieden zur Solidarisierung aller Menschen führen kann.70 Deshalb schlägt er eine Güterverteilung zu ungefähr gleichen Mitteln vor.71 Kropotkin sieht das Privateigentum als Hemmnis zur Erlangung von Freiheit und erwartet im Zuge der Errichtung einer anarchistischen Gesellschaft deren Abschaffung.72 Im Streben nach ökonomischer und politischer Freiheit sieht er daher eine Einheit, die nur ein anarchistischer Kommunismus erfüllen kann.73
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Bakunin, Michail A., Gott und der Staat, in: Hillmann, Susanne (Hrsg.), Michail Bakunin: Gott und der Staat und andere Schriften, Reinbeck 1969, S. 56-166, hier S. 137-139. 65 Ebd. S. 141. 66 Vgl. Solms, Friedhelm, Ich will nicht Ich sein; ich will Wir sein: Die Geschichte des ersten Berufsrevolutionärs Michail Alexandrowitsch Bakunin, in: Diefenbacher, Hans (Hrsg.), Zur Geschichte und Idee der Herrschaftsfreien Gesellschaft, Darmstadt 1996, S. 105-128, hier: S. 122. 67 Vgl. Cattopoel, Anarchismus, aaO. (FN 16), S. 64. 68 Vgl. Solms, Ich will nicht Ich sein; ich will Wir sein, in: Diefenbacher (Hrsg.), Zur Geschichte und Idee der Herrschaftsfreien Gesellschaft, aaO. (FN 66), S. 105-128, hier: S. 123. 69 Siehe hierzu ausführlicher Joll, James, Die Anarchisten, Berlin 1964, S. 88-118 sowie den Beitrag von Benjamin Zeitler in diesem Band. 70 Vgl. Lawen, Konzeptionen der Freiheit, aaO. (FN 13), S. 223. 71 Vgl. ebd., S. 190. 72 Siehe hierzu Eltzbacher, Der Anarchismus, aaO. (FN 14), S. 144-154. 73 Vgl. Eltzbacher, Der Anarchismus, aaO. (FN 14), S. 148.
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Marcus Gerngroß Mit dem Anarchismus als Ziel und als Mittel wird der Kommunismus möglich. Ohne ihn würde er mit Notwendigkeit die Knechtschaft bedeuten, und – als solche – könnte er nicht bestehen.74
Aus seiner Gesellschaftskritik folgert Bakunin, dass sich letztlich das Volk auflehnen wird, da es einerseits eine natürliche Empörung gegenüber jedweder Unterdrückung verspürt und andererseits, und hier sind die Berührungspunkte zu Marx, die Klassenpolarisierung eine umfassende Umwälzung determiniert.75 Jedoch kritisiert Bakunin die Marxsche postrevolutionäre Idee der Diktatur des Proletariats im Kern, da er darin eine erneute Errichtung einer Herrschaftsform erkannte. Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist und weil ich mir nichts Menschliches ohne Freiheit vorstellen kann. Ich bin kein Kommunist, weil der Kommunismus alle Kräfte der Gesellschaft auf den Staat lenkt und in diesem absorbiert; weil er notwendig zur Zentralisierung des Eigentums in den Händen des Staates führt, während ich die Abschaffung des Staates will – die radikale Auslöschung des Prinzips der Autorität und Vormundschaft des Staates, das die Menschen unter dem Vorwand, sie moralischer und zivilisierter zu machen, immer nur versklavt, unterdrückt, ausgebeutet und verdorben hat.76
Den Anarchisten schwebte statt einer alleinherrschenden kommunistischen Partei eine auf Freiwilligkeit basierende Vereinigung von Kommunen vor, die sich wiederum in Föderationen organisieren sollten.77 Die Überzeugung, jede Herrschaftsform abschaffen zu müssen, um das menschliche Zusammenleben zu vervollkommnen,78 wird von Bakunin wie von Kropotkin mit bedingungsloser Radikalität vertreten. Um diese gesellschaftliche Umwälzung zu erreichen, erfordere es eine soziale Revolution, die durch die so genannte „Philosophie der Tat“79 oder auch „Propaganda der Tat“80 herbeizuführen sei. Beide plädieren explizit für die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele, da die Überzeugungsarbeit um ein Vielfaches effektiver sei, wenn sie durch Taten wirkt denn durch Worte. Deshalb sollten „unaufhörliche Aufstandsversuche“81 schließlich die Revolution ermöglichen. Bakunin lehnte zwar individuelle Attentate ab, da er bezweifelte, dass sie in einem Aufstand münden könnten. Kropotkin hingegen ergriff öffentlich Partei für anarchistisch motivierte Attentäter und erhoffte sich, dass die Volksmassen ihrem Beispiel folgen würden.82 Gewalt wurde nicht als Selbstzweck verherrlicht, wohl aber als notwendiges Mittel erachtet, da sich die Staaten nicht von selbst abschaffen würden.83 Für diesen notwendigerweise gewaltsamen sozial-revolutionären Umsturz benötige es Agitatoren, die die Volksmassen für die Revolution gewinnen. Diese sollten jedoch keine Avantgarde darstellen, die 74
Kropotkin, Peter, Kommunismus und Anarchismus, in: Peter Kropotkin, Der Anarchismus: Mit einer Einführung in Leben und Werk, Siegen-Eiserfeld 1983, S.102-117, hier S.117. Vgl. Lawen, Konzeptionen der Freiheit, aaO. (FN 13), S. 217. 76 Zitiert nach Joll, Die Anarchisten, aaO. (FN 69), S. 111. 77 Vgl. Cattopoel, Anarchismus, aaO. (FN 16), S. 106. 78 Beide streben einen Zustand an, in dem ein „möglichst glückliches Dasein aller Menschen“ (Cattopoel, Anarchismus, aaO., (FN 16) S. 106) möglich ist. Siehe hierzu auch Eltzbacher, Der Anarchismus, aaO. (FN 14), S. 108 und 135. 79 Siehe Lawen, Konzeptionen der Freiheit, aaO. (FN 13), S. 218. 80 Siehe Cattopoel, Anarchismus, aaO. (FN 16), S. 67. 81 Ebd., S. 106. Häufig ist auch von „Propaganda durch die Tat“ die Rede. 82 Vgl. Mertl, Helge, Peter Kropotkin: Eine Einführung in Leben und Werk, in: Kropotkin, Peter, Der Anarchismus: Mit einer Einführung in Leben und Werk, Siegen-Eiserfeld 1983, S. 10-56, hier: S.27-29. 83 Siehe hierzu Lawen, Konzeptionen der Freiheit, aaO. (FN 13), S. 234. 75
Anarchismus im Zarenreich
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nach der Revolution Machtansprüche erhebt, sondern lediglich das Volk dazu anspornen, aus politischen Unruhen eine soziale Revolution hervorgehen zu lassen. Sie nämlich könne ausschließlich vom Volk getragen werden.
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Wirkungsgeschichte und Rezeption durch sozialrevolutionäre Terroristen
Bakunins gelebte Philosophie der Tat wie auch Kropotkins moralische wie theoretische Fundierung gewaltsamer Umsturzbemühungen hatten großen Einfluss auf terroristische Gruppierungen ihrer Zeit. Auch noch nach ihrem Tod schöpften Terroristen das ideologische Fundament Bakunins und Kropotkins für ihre Taten ab. Dank Bakunins und Kropotkins Popularität und Reisetätigkeit trugen sie selbst zur Verbreitung des Anarchismus auf dem europäischen Kontinent bei.84 Allerdings erreichte der Anarchismus bereits zu ihren Lebzeiten den Zenit seiner Popularität. Die Strahlkraft Bakunins und Kropotkins beeinflusste etwa den italienischen Anarchisten Errico Malatesta,85 der mit seinen Gefolgsleuten im ausgehenden 19. Jahrhundert gewaltsam versuchte, die italienische Monarchie zu stürzen. Bakunin wie auch Malatesta sprachen sich noch deutlich für einen durch das Volk getragenen revolutionären Umsturz aus. Kropotkin hingegen lobte die Ermordung des Zaren Alexander II. durch die russische Narodnaya Wolya und pries vier Monate nach dem Attentat auf dem Anarchistenkongress in London den Tyrannenmord als legitimes Mittel, um den revolutionären Wandel herbeizuführen.86 Dem Vorbild der Narodnaya Wolya und der propagandistischen wie moralischen Fundierung solcher Attentate durch Kropotkin folgten zahlreiche Nachahmer. Zenker urteilt daher: „Kropotkins Anarchismus beruht auf den wissenschaftlichsten und humansten Grundlagen und nimmt die unwissenschaftlichsten und brutalsten Formen an.“87 Die Propaganda der Tat wurde immer mehr als Aufruf zu individuellen Gewalttaten verstanden. So tötete der Italiener Sante Jeronimo Caserio, dem Nähe zu anarchistischen Zirkeln nachgesagt wurde, am 24. Juni 1894 den französischen Präsidenten Sadi Carnot. Dieser Mord markierte den Höhepunkt zahlreicher anarchistischer Anschläge in Frankreich.88 Auch die Ermordung des amerikanischen Präsidenten William McKinley am 6. September 1901 durch Leon Czolgosz soll anarchistisch motiviert gewesen sein.89 Die zunehmende Fokussierung der Anarchisten auf Einzelattentate hatte jedoch zur Folge, dass der Anarchismus zunehmend mit bloßer Gewalt gleichgesetzt wurde.90 Da über die Attentate hinaus keine Anstrengungen mehr unternommen wurden, um das Volk für eine Revolution zu begeis84
Vgl. Cattopoel, Anarchismus, aaO. (FN 16), S. 109. Malatesta hatte persönlichen Kontakt zu beiden und war zusammen mit Kropotkin einer der Wortführer des so genannten Anarchistenkongresses 1881 in London. 86 Vgl. Hoffman, Bruce, Terrorismus: Der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt, Frankfurt a.M. 1998, S.21. 87 Zenker, Der Anarchismus, aaO. (FN 43), S. 117. 88 Einer der spektakulärsten war der Bombenanschlag auf die Pariser Deputiertenkammer 1893 durch den Anarchisten Auguste Vaillant. Dieser wurde daraufhin von Präsident Carnot zum Tode verurteilt. Vor seiner Hinrichtung prophezeite er: „Vive l`anarchie! Man wird meinen Tod rächen.“ Zitiert nach: Joll, Die Anarchisten, aaO. (FN 69), S. 137. 89 Vgl. Hoffman, Terrorismus: Der unerklärte Krieg, aaO. (FN 85), S.22. 90 Neben den genannten Ermordungen waren Anarchisten unter anderem an den tödlichen Attentaten auf die Kaiserin Elisabeth von Österreich 1897 und den König Umberto I. von Italien im Jahr 1900 beteiligt. Vgl. Joll, Die Anarchisten, aaO. (FN 69), S. 135. 85
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Marcus Gerngroß
tern, verkam die Gewaltanwendung zum Selbstzweck. Die meisten terroristischen Vereinigungen, die sich dem Anarchismus verschrieben hatten, fanden daher meist mit ihren Attentaten einhergehend auch ihr eigenes Ende.91 Eine Ausnahme bildeten die spanischen Anarchisten. Diese waren Anfangs von Bakunins Einfluss geprägt und etablierten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Katalonien und Andalusien. Allerdings ging der Aufstieg des Anarchismus in Spanien besonders stark mit Gewalt einher.92 Mit dem spanischen Anarchismus entwickelte sich die Form des Anarcho-Syndikalismus, der über Spanien auch in Lateinamerika an Popularität gewann. Diese Anarchismusform förderte die Organisation der Anarchisten in Gewerkschaften, um so eine anarchistische Revolution des Proletariats herbeiführen zu können.93 Darin zeigte sich, wie schwer es für die Anarchisten war, ihre Gesellschaftsordnung zu implementieren und dabei ihren anti-autoritären Prinzipien treu zu bleiben. Ihr Impetus schwand letztlich mit dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs 1939 und der Etablierung der FrancoDiktatur. Der tatsächliche Einfluss Bakunins und Kropotkins auf die zahlreichen Einzelattentate ist jedoch nur schwer auszumachen, da sich einerseits häufig anarchistische Gruppierungen mit Attentaten brüsteten, die sie gar nicht begangen hatten und andererseits Attentate von der Polizei fingiert wurden, um Gründe zu haben, gegen die Anarchisten vorzugehen.94 Ferner ist der Logik der Propaganda der Tat geschuldet, dass die Attentate für sich selbst stehen sollten und daher häufig nicht durch Bekennerschreiben ideologisch fundiert wurden und somit auch die tatsächliche Beeinflussung der Terroristen durch Bakunin und Kropotkin offen bleibt. Da zudem die terroristischen Vereinigungen häufig aus eher kleineren losen Gruppen mit etwa zwei oder drei Mitgliedern bestanden, waren deren Aktionen kaum von kriminellen, ideologisch unbedarften Individualtaten zu unterscheiden.95 Festzuhalten bleibt jedoch, dass Bakunin wie Kropotkin Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ideen propagierten, ja diese sogar als notwendig erachteten, um sozialen Wandel herbeizuführen. Mit Aufforderungen wie: „Zu den Waffen!“96, stifteten sie zur Gewalt an und boten anarchistischen Terroristen das ideologische Fundament für ihre Taten.
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Siehe hierzu den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. Siehe hierzu: Joll, Die Anarchisten, aaO. (FN 69), S. 262-279. 93 Der Anarcho-Syndikalismus ist vom Anarchismus nach Bakunin und Kropotkin abzugrenzen, da ihnen die gewerkschaftliche Organisationsform zuwider war. Auch der Generalstreik, den die Syndikalisten als Mittel zum revolutionären Umsturz propagierten, fand etwa bei Malatesta nur wenig Anklang. Vgl. Joll, Die Anarchisten, aaO. (FN 69), S. 224. 94 Das bekannteste Beispiel ist hierfür die so genannte Mano Negra, zu deutsch Schwarze Hand. Die anarchische terroristische Vereinigung soll im ausgehenden 19. Jahrhundert in Spanien die großangelegte Ermordung von Großgrundbesitzern geplant haben. Zahlreiche Verhaftungen und gar Exekutionen vermeintlicher Mitglieder der Mano Negra folgten. Ob der Geheimzirkel Mano Negra tatsächlich jemals existierte, ist jedoch noch heute ungeklärt. Sicher ist nur, dass die spanische Polizei den Mythos um die Mano Negra dazu nutzte, um gegen Anarchisten im Land vorzugehen. Siehe hierzu Brennan, Gerald, The Anarchists, in: Rapoport, David C. (Hrsg.), Terrorism: Critical Concepts in Political Science, Vol. I, The First or Anarchist Wave, London 2005, S. 153-188, hier: S. 175. Siehe zudem Joll, Die Anarchisten, aaO. (FN 69), S. 134. 95 Vgl. ebd. 96 Bakunin, Michail A., Proklamation der revolutionären Föderation der Kommunen, in: Schneider, Dieter Marc (Hrsg.), Pariser Kommune 1871, Bd. I, Bakunin, Kropotkin, Lavrov, Hamburg 1971, S. 7. 92
Die Idee der „Permanenten Revolution“: Leo Trotzki
Leo Trotzki
Ilona Steiler
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Ein Leben in permanenter Auflehnung
„Ich will nicht leugnen, dass mein Leben in nicht ganz geregelter Weise verlief“, schreibt Leo Trotzki in seinem Versuch einer Autobiographie,1 und leitet damit in höflicher Untertreibung die Memoiren eines außergewöhnlichen Menschen ein, dessen Lebensumstände ihn und sein Werk ebenso entscheidend prägten, wie er die geschichtlichen Ereignisse mitzugestalten vermochte. In der Tat verkörpert die Persönlichkeit Trotzkis selbst die Idee einer permanenten Revolution in dem Sinne, dass er Zeit seines Lebens gegebene Denkweisen und Theorien kritisch hinterfragte und diesen ohne Opportunismus seine eigenen Ansichten entgegensetzte. Bereits als achtzehnjähriger Student suchte Lew Dawidowitsch Bronstein als Gründer der Geheimorganisation „Südrussischer Arbeiterbund“ und als Autor einer populistischen und marxistischen Untergrundzeitung den Konflikt mit dem zaristischen System Russlands. Nachdem er die Zeit seiner Haftstrafe und in der Verbannung für das Studium eines breiten Spektrums an philosophischer und sozialwissenschaftlicher Literatur genutzt und sich als Verfasser revolutionärer Schriften einen Namen gemacht hatte,2 lehnte er sich auf dem II. Parteikongress der SDAPR 1903 gegen die bolschewistische Fraktion um Lenin auf, der ihn im Londoner Exil in die Redaktionsarbeit der russisch-marxistischen Zeitung Iskra eingeführt hatte, distanzierte sich aber auch wenige Monate später von den Menschewiki.3 Den Konflikt zwischen Lenin und dem „Einzelkämpfer“4 legten beide während ihrer engen Zusammenarbeit des Revolutionsjahres 1917 weitgehend bei, doch schon bald begann sich die Auseinandersetzung zwischen Trotzki und seinem Kontrahenten Stalin deutlich abzuzeichnen. Nach Lenins Tod und bis zu seiner Ermordung im Exil in Mexiko durch einen Agenten Stalins im Jahr 1940 verteidigte Trotzki seine Theorie der Permanten Revolution gegen die „Epigonen“ um Stalin, denen er vorwarf, mit dem Konzept des „Sozialismus in einem Lande“ die Revolution verraten zu haben.5
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Trotzki, Leo, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1930, S. VIII. Ausführlich dazu Broué, Pierre, Trotzki. Eine politische Biographie, Bd.1, S. 47-71. 3 Dazu Trotzki, Mein Leben, aaO. (FN 1), S. 143-166. 4 Broué, Trotzki, aaO. (FN 2), S. 90. 5 Trotzki, Leo, Verratene Revolution, Zürich ca. 1958, insb. S. 283-293. 2
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Ilona Steiler Entstehungsgeschichtlicher Hintergrund
Trotzkis Theorie versuchte eine Antwort auf die Fragen und Widersprüche zu geben, die in der Diskussion zwischen deutschen und russischen Sozialdemokraten sowie später in der Auseinandersetzung von Bolschewiki und Menschewiki hinsichtlich der Voraussetzungen, des Charakters, des Verlaufs und der Ziele der proletarischen Revolution aufgeworfen worden waren. Ausgehend von dem Zerwürfnis mit Lenin über die Parteiorganisation und deren Rolle in der Mobilisierung der proletarischen Massen entwickelte Trotzki, in jeweiliger Abgrenzung zu den Bolschewiki und den Menschewiki, in Zusammenarbeit mit seinem Freund „Parvus“ Alexander Helphand und unter den Eindrücken des Revolutionsjahres 1905 eine radikale Position innerhalb der sozialdemokratischen Theorie, die er 1906 im Gefängnis in der Aufsatzsammlung Ergebnisse und Perspektiven zusammenfasste und die sich während der Geschehnisse des Oktobers 1917 weitgehend bestätigen sollte.6 Während er sich zunächst noch am Marxschen Etappenschema orientierte, dem zu Folge die proletarische Revolution dem Zarentum erst nach einer Phase der bürgerlichen Herrschaft folgen konnte,7 ließ ihn seine Analyse der besonderen historischen Situation Russlands zwei Jahre später einen anderen Verlauf der Revolution vorhersehen. Seiner Ansicht nach hatte das russische Proletariat in den Aufständen und Streiks in Sankt Petersburg gezeigt, dass es nicht nur den Willen hatte, sondern auch in der Lage war, die Revolution im Alleingang ohne die Bourgeoisie durchzuführen. Diese Abweichung von Marx’ Modell lag nach Trotzki in der Geschichte Russlands begründet, die sich wesentlich von den westeuropäischen Staaten unterschied: Während in Europa die Herausbildung staatlicher Macht und die ökonomische Entwicklung als Grundlage für die Existenz einzelner Stände und Klassen parallel verlaufen waren, hatte sich die Struktur des russischen Absolutismus unter dem äußeren Druck der fortschrittlicheren Staaten künstlich in einem ansonsten rückständigen und weitgehend agrarisch geprägten Land formiert. Somit war der zaristische Staatsapparat ein militärisches und bürokratisches Konstrukt, das jeglichen Bezugs zu den von ihm unterdrückten und ausgebeuteten Massen entbehrte und zur Sicherung seiner Existenz mit Hilfe ausländischen Kapitals, (von dem es dadurch zunehmend in Abhängigkeit geriet) künstlich von oben eine kapitalistische Ordnung und Industrialisierung in Russland durchsetzte, ohne dass sich – wie in Europa – das Handwerk und eine städtische Bourgeoisie hatten etablieren können.8 Der Schwäche der Bourgeoisie stellte Trotzki die Stärke des Proletariats gegenüber, das in Russland rapide anwuchs und dessen neu erwachtes Klassenbewusstsein voll im historischen Trend lag, wie er im Vergleich der Revolutionen von 1789, 1848 und 1905 zeigte. So hatte die Bourgeoisie die Französische Revolution noch angeführt und das Volk im Kampf 6
Eine ausführliche Darstellung des Diskurses zwischen den einzelnen Strömungen der Sozialdemokratie und der Herausbildung Trotzkis Position dazu findet sich bei Mehringer, Hartmut, Permanente Revolution und Russische Revolution. Die Entwicklung der Theorie der permanenten Revolution im Rahmen der marxistischen Revolutionskonzeption 1848-1907, Frankfurt/Main u.a., 1978. Zu Trotzkis Kritik an Lenin und der Iskra siehe Trotzki, Leo, Unsere politischen Aufgaben, in: Mehringer, Hartmut (Hrsg.), Schriften zur revolutionären Orgnisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 7-134. 7 Trotzki äußert sich hier folgendermaßen: „In Opposition zur Autokratie stehen jedoch auch weite Kreise der Bourgeoisie, die in Russland noch nicht als herrschende Klasse erscheint; die Regierung stellt noch nicht wie in den parlamentarischen Ländern ein Exekutivkomitee der Bourgeoisie dar. Deshalb ist auf politischer Ebene der breite Kampf gegen sie für uns jetzt noch nicht möglich. Indessen verleiht doch gerade dieser Kampf der Bewegung des Proletariats seinen Klassencharakter.” Trotzki, Aufgaben, aaO. (FN 6), S. 66. 8 Dazu Trotzki, Leo, Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt/Main 1971, S. 36-52.
Die Idee der „Permanenten Revolution“: Leo Trotzki
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gegen den Absolutismus vereint. In den deutschen und österreichischen Märzrevolutionen dagegen habe sie bereits eine sehr zweifelhafte Rolle eingenommen, indem sie ihre Privilegien im Schulterschluss mit dem Adel gegen das Proletariat zu verteidigen versuchte. Dieses sollte erst mehr als ein halbes Jahrhundert später in Russland fähig sein, die Revolution selbst in die Hand zu nehmen. Ein entscheidender Faktor für den Erfolg in Sankt Petersburg sei dabei die Bewaffnung des Volkes gewesen, die 1848 von der Bourgeoisie verhindert worden war.9 Bis zu diesem Punkt befand sich Trotzki noch in Übereinstimmung mit den russischen Sozialdemokraten, die vor dem Dilemma der „prinzipielle[n] Versöhnung revolutionärdemokratischer und sozialistischer Aufgaben, die zwei selbständige historische Tendenzen repräsentieren“, standen.10 Trotzki widersprach aber nun nicht nur den Menschewiki mit seiner Forderung, die Revolution ohne die Unterstützung liberaler Kräfte durchzuführen, er sprengte nach einer Untersuchung der in Russland und Europa gegebenen Voraussetzungen für den Sozialismus auch den Rahmen der Bolschewiki mit seiner These, dass das Proletariat, einmal an die Macht gelangt, sich nicht auf die Aufgaben einer bürgerlichen Regierung, die es vertrat, zu beschränken habe, sondern vielmehr direkt dazu übergehen sollte, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen.11 Dies war der entscheidende Kern der „ununterbrochenen Revolution“.12 Über diese zentrale These hinaus gelangte Trotzki aufgrund seiner Beobachtung zu weiteren für seine Theorie essentiellen Schlussfolgerungen, die er 1928 in der Verbannung in Alma-Ata in Die permanente Revolution gegen seine stalinistischen Kritiker, allen voran seinen ehemaligen Freund Radek, noch einmal herausarbeitete und verteidigte.13
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Zentrale Thesen
Zunächst folgt aus Trotzkis Analyse, dass die Rolle des revolutionären Subjekts zukünftiger Revolutionen ausschließlich der Arbeiterklasse zukommen kann. Er schließt sich dabei der Aussage Plechanows an: „Die russische revolutionäre Bewegung wird als Arbeiterbewegung siegen, oder sie wird überhaupt nicht siegen.“14 Wie dargestellt kam für Trotzki die Bourgeoisie als möglicher Partner in einem revolutionären Umsturz besonders in Russland nicht mehr in Frage, dazu lehnte er auch Lenins Vorstellung einer „Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ ab, da letzterer ein einheitliches Klassenbewusstsein fehlte und die historische Erfahrung zeige, dass sie „völlig unfähig ist, eine selbständige politische Rolle zu spielen.“15 Aus dieser revolutionären Hegemonie des Proletariats ergibt sich konsequent die Permanenz der Revolution in drei Dimensionen. 9
Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, aaO. (FN 8), S. 53-63. Trotzki, Aufgaben, aaO. (FN 6), S. 12. Als Aufgaben einer bürgerlichen Regierung gilt dabei das sozialdemokratische Minimalziel (freie Wahlen, Einberufung einer konstituierenden Versammlung, etc.) ; Trotzki sah es dagegen als unabdingbar an, dass eine proletarische Regierung spezifisch proletarische Interessen auch gegen den Willen anderer Klassen durchsetzen musste, wie beispielsweise den Acht-Stunden-Tag und später die Einführung der Planwirtschaft. Siehe Trotzki, Ergebnisse, aaO. (FN 8), S. 77-84. 12 Ebd., S. 83 (Hervorhebung im Original). 13 Trotzki, Leo, Die permanente Revolution, Frankfurt/Main u.a. 1969. 14 Plechanow, Georgi, zitiert in Trotzki, Aufgaben, aaO. (FN 6), S. 12. 15 Trotzki, Ergebnisse, aaO. (FN 8), S. 74 (Hervorhebung im Original) 10 11
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Erstens betrifft dies die Ausübung der Regierungsgewalt durch das Proletariat, das innerhalb der Regierung zwar zuerst mit anderen Klassen zur Erweiterung seiner Basis kooperieren kann, dabei jedoch führen und dominieren muss, denn die Politik der Intelligenz aufgrund ihrer sozialen Zwischenposition und politischen Haltlosigkeit; die Politik der Bauernschaft infolge ihrer sozialen Heterogenität, ihrer Zwischenstellung und Primitivität; die Politik des Kleinbürgertums wiederum als Folge seiner Charakterlosigkeit, seiner Mittelstellung und dem völligen Mangel an politischen Traditionen (...) ist völlig unbestimmt, ungeformt, voller Möglichkeiten und also voller Überraschungen.16
Die Arbeiterklasse ist also die einzige Kraft, welche die Voraussetzungen für die Diktatur des Proletariats und diese selbst verwirklichen kann. Ein proletarisches Regime muss sämtliche Machtmittel dazu nutzen, fortwährend seine Interessen gegenüber anderen Klassen durchzusetzen und dabei sein eigenes Klassenbewusstsein zu schärfen.17 Permanenz der Revolution bedeutet hier die Aufhebung des Unterschieds zwischen den Minimalzielen einer sozialdemokratisch-bürgerlichen und dem Maximalziel einer proletarischen Revolution. Von einer Arbeiterregierung seien dabei jedoch keine Wunder zu erwarten; der Prozess verläuft nicht geradelinig und wird auf das Hindernis des massiven Widerstands der nichtproletarischen Klassen stoßen, wodurch auch mit Rückschlägen zu rechnen sei.18 Die zweite Dimension der Revolution in Permanenz beschreibt die sozialistische Revolution als einen Prozess, der zwar in erster Linie politisch bleibt, aber auch sämtliche anderen gesellschaftlichen Ebenen durchdringt. In Die permante Revolution fasst Trotzki diesen Aspekt wie folgt zusammen: Während einer unbestimmt langen Zeit und im ständigen inneren Kampfe werden alle sozialen Beziehungen umgestaltet. Die Gesellschaft mausert sich. Eine Wandlungsetappe ergibt sich aus der anderen. Der Prozess bewahrt notwendigerweise einen politischen Charakter, d.h. er entwickelt sich durch Zusammenstöße verschiedener Gruppen der sich umgestaltenden Gesellschaft. Ausbrüche von Bürgerkriegen und äußeren Kriegen wechseln ab mit Perioden ‚friedlicher’ Reformen. Revolutionen der Wirtschaft, der Technik, der Wissenschaft, der Familie, der Sitten und Gebräuche entwickeln sich in komplizierten Wechselwirkungen und lassen die Gesellschaft nicht ins Gleichgewicht kommen.19
Es ist die Gefahr der Rückschläge, die diesen langwierigen Prozessen inhärent ist, die Trotzki auf die dritte Dimension der permanten Revolution schließen lässt. Die dauerhafte Verankerung der Diktatur des Proletariats kann laut Trotzki nur gelingen, wenn die Revolution einen internationalen Charakter aufweist. Seiner Prognose folgend war das russische Proletariat 1905 noch nicht dazu fähig, seine Zielsetzungen gegen die Reaktion zu verteidigen und brauchte die Unterstützung der europäischen Arbeiterklasse, der umgekehrt durch die Revolution in Russland ein enormer Motivationsschub verliehen werden sollte.20 Komplexe internationale Verflechtungen des Kapitalismus, des Imperialsimus und der Reaktion
16
Trotzki, Ergebnisse, aaO. (FN 8), S. 71. Ebd., S. 77-84. 18 Ebd., S. 105-110. 19 Trotzki, Revolution, aaO. (FN 13), S. 28. 20 Vgl. Trotzki, Ergebnisse, aaO. (FN 8), S. 111-120. 17
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und sich daraus ergebende wechselseitige Abhängigkeiten stehen für ihn in unvereinbarem Widerspruch zu Stalins Konzept des „Sozialismus in einem Land“: Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. (...) Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.21
Trotzki kann so auch erklären, weshalb die Revolution entgegen Marx’ Stufenmodell in einem rückständigen Land stattfinden kann: Unter den Bedingungen des entscheidenden Übergewichts kapitalistischer Beziehungen in der Weltarena wird dieser Kampf unvermeidlich zu Explosionen führen, d.h. im Inneren zum Bürgerkrieg und außerhalb der nationalen Grenzen zum revolutionären Krieg. Darin besteht der permanente Charakter der sozialistischen Revolution, ganz unabhängig davon, ob es sich um ein zurückgebliebenes Land handelt, das erst gestern seine demokratische Umwälzung vollzogen hat, oder um ein altes kapitalistisches Land, das eine lange Epoche der Demokratie und des Parlamentarismus durchgemacht hat.22
Auch wenn sich Trotzkis These der Notwendigkeit des internationalen Charakters der Revolution 1917 und danach in Russland nicht bestätigt hat, sollte es ausgerechnet dieser Gedanke sein, dem von seinen Anhängern große Glaubwürdigkeit23 und in der Rezeption durch sozialrevolutionäre Terroristen die größte Bedeutung der Theorie der Permanenten Revolution beigemessen wird.
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Trotzki zu Terror und Terrorismus24
Trotzki hat in den Werken zur Permanenten Revolution das Thema der Gewaltanwendung zwar ausgespart, sich jedoch an anderer Stelle explizit sowohl zu staatlicher wie auch individueller Gewalt geäußert. Als adäquate Methode für die Revolution des Proletariats sah Trotzki zunächst Massenstreiks an, da diese es dem Proletariat ermöglichten, seine Position im Produktionsprozess der kapitalistischen Wirtschaft auszunutzen und andere Bevölkerungsteile zur Beteiligung zu ermutigen.25 Ebenso sollte die Partei nach der Eroberung der Macht alle zur Verfügung stehenden Mittel des Staatsapparats nutzen, um die Revolution voranzutreiben. Doch während Trotzki diese Mittel in Ergebnisse und Perspektiven noch vor allem auf Agitation und Propaganda zur Lenkung der Massen beschränkt hatte, sah er 21
Trotzki, Revolution, aaO. (FN 13), S. 151. Ebd. 23 Siehe dazu Mandel, Ernest, Leo Trotzki. Eine Einführung in sein Denken, Berlin 1981, S. 34-48. 24 Trotzki benutzt hierbei die Begriffe “Terror” und “Terrorismus” indifferent sowohl als Bezeichnung für staatliche Gewaltherrschaft als auch kriminelle Gewaltanwendung von Individuen und Gruppen, die gegen den Staat gerichtet sind. Im folgenden werden die Begriffe entsprechend dem einführenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band verwandt. 25 Die traditionelle Kampfmethode aus früheren Aufständen der direkten Konfrontation in Straßenschlachten mit der Staatsgewalt und dem Errichten von Barrikaden lehnte Trotzki dagegen als nicht mehr zeitgemäß und ineffektiv ab. Siehe dazu Mehringer, Permanente Revolution, aaO. (FN 6), S. 210-213. 22
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in seiner 1920 auf die Kritik Karl Kautskys verfassten Antwort Gewalt als unabdingbares Instrument zum Kampf gegen die Reaktion. Unter der Bedrohung durch die „weißgardistischen Banden“, der Blockade von außen und des Bürgerkriegs sei die Diktatur des Proletariats nur durch Waffengewalt zu verteidigen.26 Dabei trifft Trotzki allerdings eine normative Unterscheidung zwischen dem „roten Terror“ und dem „weißen Terror“, da letzterer „das Werkzeug einer historisch-reaktionären Klasse“ sei, die ihren unausweichlichen Untergang hinauszögern will, wogegen ersterer dazu dient, diesen Untergang zu beschleunigen und zu verhindern, dass „die russische Bourgeoisie im Verein mit der Weltbourgeoisie uns lange vor dem Eintritt der Revolution in Europa erwürgt.“27 Entgegen dieser Rechtfertigung der im Namen einer revolutionären Masse ausgeübten Klassengewalt lehnt Trotzki jegliche Form des Terrorismus entschieden ab.28 Die Ursache für die Entstehung sozialrevolutionärer Gruppen in Russland sieht er (hier kristisiert er vor allem die Narodnaya Wolya) in der Abgehobenheit der russischen Intelligenz, die ebenso wie ihr Gegner, der zaristische Staat, jeglichen Bezug zur Bevölkerung verloren hat. Anstatt auf die Entwicklung eines breiten Klassenbewusststeins hinzuarbeiten und die Massen zu organisieren, verschwendeten sie ihre Zeit und Kraft auf die Planung und Durchführung von Anschlägen, die bislang ohne Effekt geblieben waren, und ignorierten dabei, dass sie von der geschichtlichen Entwicklung und der inzwischen erfolgten Bildung der Voraussetzungen der proletarischen Revolution überholt worden waren.29 Derartiger Terrorismus untergrabe die Bedeutung des Klassenkampfs, der Organisation sowie der Partei und fördere gerade durch die „Propaganda der Tat“ die Selbstbeschränkung der Massen auf die Rolle der passiven Zuschauer; zudem würden so staatliche Brutalität und Repressionen provoziert.30 Dies spiegelt auch Trotzkis Ablehnung des leninschen Prinzips der Berufsrevolutionäre wider und entspricht seiner These, allein ein reifes Proletariat mit entwickeltem Klassenbewusstsein könne aus eigener Initiative die Revolution herbeiführen.
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Die Bedeutung der „Permanenten Revolution“ für sozialrevolutionäre Organisationen
In Bezug auf die Rezeption des Konzepts der Permanenten Revolution durch linksterroristische Gruppen ist zunächst einmal festzustellen, dass sich diese nur in einigen wenigen Fällen explizit auf Trotzkis Äußerungen beziehen. Dabei erscheint Trotzkis deutliche Verurteilung der sozialrevolutionären Vorgehensweise nicht als ursächlich für die geringe Berücksichtigung seiner Thesen in den Erklärungen diverser Organisationen, wenn in Betracht gezogen wird, dass diese zumeist eklektizistisch zusammengesetzten Strategiepapiere den Aspekt der Ablehnung des Terrorismus durch ihre ideologischen Väter (vor allem bei 26
Trotzki, Leo, Terrorismus und Kommunismus, Hamburg ca. 1960, S. 30-32. Ebd., S. 48. 28 Trotzki verurteilt dabei von einzelnen Personen oder Gruppen durchgeführte Sabotageakte, Gewaltandrohungen, Attentate auf Regierungsvertreter etc., die er von revolutionären Handlungen der aufständischen Massen, wie beispielsweise Streiks, wirtschaftlichem Boykott, Demonstrationen etc. unterscheidet. Siehe Trotsky, Leon, Why Marxists Oppose Individual Terrorism, 1911, http://www.marxists.org/archive/trotsky/1909/11/tia09.htm [zuletzt abgerufen am 03.01.2008]. 29 Dazu Trotsky, Leon, The Bankruptcy of Individual Terrorism, 1909, http://www.marxists.org/archive/trotsky/1909/xx/ tia09.htm [zuletzt abgerufen am 03.01.2008]. 30 Siehe Trotsky, Why Marxists Oppose, aaO. (FN 28). 27
Die Idee der „Permanenten Revolution“: Leo Trotzki
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Marx) ignorieren und nichtsdestotrotz Versatzstücke von deren Konzepten beinhalten. Vielmehr bietet seine Rechtfertigung der Gewalt, die im vermuteten Auftrag der Masse angewendet wird, ein ideologisches Schlupfloch seiner Terrorismuskritik, in der er nicht zuletzt die Argumentation der sozialrevolutionäre Terroristen bezüglich der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfs vorwegnimmt; so beschreibt er in Terrorismus und Kommunismus die Intensivierung des Klassenkampfs und die Gewalt des Proletariats als logische Folge imperialistischer Brutalität: Der Imperialismus riss die Gesellschaft gewaltsam aus dem Zustande des labilen Gleichgewichts (...) Er zerstörte die Schleusen, welche die Sozialdemokratie dem Strome revolutionärer Energie des Proletariats vorgebaut hatte, und leitete diesen Strom in sein Bett. (...) Mit der Waffe, die er selbst verfertigt hat, in den Händen, wird der Arbeiter in die Lage gestellt, in der das politische Schicksal des Staates unmittelbar von ihm abhängt. (...) Das Proletariat, das durch die Schule des, die Krieges gegangen ist, wird beim ersten Hindernis innerhalb des eigenen Landes das Bedürfnis empfinden Sprache der Gewalt zu gebrauchen.31
Anklänge an dieses Begründungsmuster finden sich beispielsweise im Konzept Stadtguerilla der RAF: Wir behaupten, dass die Organisation von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und in Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. (…) Dass der bewaffnete Kampf als ‘die höchste Form des Marxismus-Leninismus’ (Mao) jetzt begonnen werden kann und muss, dass es ohne das keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt.32
Neben dieser Rechtfertigung revolutionärer Gewalt ist es vor allem die zweite Dimension der Permanenten Revolution, die, wenn auch nicht expressis verbis mit Trotzki in Verbindung gebracht, dennoch dem Revolutionsbegriff vieler sozialrevolutionärer Gruppen zugrunde liegt. Die Annahme, dass die Revolution nicht in einem Tag zu gewinnen sei, sondern über einen langen Zeitraum, als Kette zusammenhängender politischer, gesellschaftlicher und kultureller Prozesse geführt werden müsse, wobei auch mit Rückschlägen für die Bewegung zu rechnen sei, erlaubt nicht nur eine breite Definition dessen, was als terroristischer bzw. Klassenkampf gezählt werden kann, sondern legitimiert auch die Existenz und den Aktionismus terroristischer Gruppen bei ausbleibendem bzw. nicht sichtbarem Erfolg ihrer Umsturzbestrebungen. Wie aus einer vergleichenden Untersuchung der ideologischen Grundlagen europäischer linksterroristischer Gruppen deutlich wird, teilen sie alle diesen Aspekt trotzkistischen Gedankenguts:
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Trotzki, Terrorismus, aaO. (FN 26), S. 49f; siehe zu Trotzkis Argumentation auch Rubenstein, Richard E., Alchemists of Revolution. Terrorism in the Modern World, New York 1987, S. 174ff u.184ff. Rote Armee Fraktion, Das Konzept Stadtguerilla, in: ID-Verlag (Hrsg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 27-48, hier: S. 31.
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Ilona Steiler The revolutionary war against imperialism will be a long, protracted armed struggle.(...) The FCOs [Fighting Communist Organisations, d.V.] know that even though their victory over capitalism is ‚inevitable’, it will be a long, hard, bloody armed struggle. They expect political and military defeats and know that they will encounter periods of inactivity (‚strategic withdrawals’).33
Die europäische Rezeption Trotzkis beschränkt sich weitgehend auf die Idee der Ununterbrochenheit der Revolution. Lediglich in Frankreich entwickelten sich Anfang der Sechziger verschiedene trotzkistische Strömungen innerhalb der Neuen Linken, die sich jedoch bald von den Studentenaufständen distanzierten und von denen keine Verbindung zu terroristischen Organisationen bekannt ist.34 Für die Protestbewegung der Sechziger Jahre und die aus ihr hervorgehenden terroristischen Gruppen spielte vor allem die Idee des internationalen Charakters der Revolution eine entscheidende Rolle, wie die häufige Berufung auf die Befreiungskämpfe der Dritten Welt deutlich macht. Dies trifft besonders auf den amerikanischen Weather Underground zu, der sich zwar nicht wörtlich auf Trotzki bezog, sich aber zusammen mit den Kubanern, dem Vietcong und den Völkern des Trikont in einer Front gegen den von den USA angeführten Weltkapitalismus und US-Imperialismus wähnte.35 Noch deutlicher vertraten die Mitglieder der Roten Armee Japans die Ansicht, dass nur eine weltweite Revolution des Proletariats die Herrschaft der Bourgeoisie in den Nationalstaaten beenden könnte, und drückte dies auch in ihrer internationalistisch angelegten Organisationsstruktur aus.36 Die junge japanische Protestbewegung verstand „Trotzkismus“ aber auch in jenem Sinne, als er eine Abweichung von der strengen dogmatischen Linie der Alten Linken und eine Kritik an stalinistischen Positionen, insbesondere des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande“ und der Idee der „friedlichen Koexistenz“ darstellte.37 Wenn Trotzki hierbei nur in Ausnahmefällen zur theoretischen Begründung der terroristischen Handlungsalternative dient,38 fanden doch einige seiner zentralen Gedanken Eingang im ideologischen Amalgam sozialrevolutionärer terroristischer Gruppierungen. Die Scheu vor der Verwendung des Namens dieses verfemten Revolutionärs mag ein später Nachklang stalinistischer Propaganda sein. Dies kann dem Bemühen um den Beweis für die Ernsthaftigkeit des eigenen revolutionären Projekts geschuldet sein, war „Trotzkismus“ doch über Jahrzehnte in der internationalen kommunistischen Bewegung eher ein Synonym für falsche, wenn nicht gar konterrevolutionäre Analyse.
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Pluchinsky, Dennis A., Western Europe’s Red Terrorists: The Fighting Communist Organizations, in: Alexander, Yonah/ Pluchinsky, Dennis A., Europe’s Red Terrorists: Fighting Communist Organizations, London 1992, S. 16-54, hier: S. 25. 34 Dazu Reader, Keith A., The May 1968 Events in France. Reproductions and Interpretations, New York 1993, S. 8 f. und S. 56-58. 35 Siehe dazu den Beitrag von Ilona Steiler in diesem Band. 36 Siehe dazu den Beitrag von Florian Edelmann in diesem Band. 37 Siehe Derichs, Claudia, Japans Neue Linke. Soziale Bewegung und außerparlamentarische Opposition, 19571994, Hamburg 1995, S. 74-77. 38 Explizit trotzkistisch verstand sich etwa die argentinische ERP (Ejército Revolutionario del Pueblo). Siehe dazu auch den Beitrag von Franz Kurz in diesem Band.
Die Avantgarde als Keimzelle der Revolution: Vladimir I. Lenin Johannes Wörle
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Vladimir Ilji Uljanov, genannt „Lenin“: Biographischer Hintergrund
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sozialrevolutionärem Terrorismus ist vielfach von „marxistisch-leninistischen“ Gruppen die Rede.1 Begrifflich ist dies zweifellos die richtige Bezeichnung für Lenins Interpretation der Werke von Marx und Engels, in der Anwendung auf die ideologische Konzeption terroristischer Organisationen aber problematisch. Lenin baute seine theoretischen Konzeptionen und deren praktische Umsetzung zwar auf Marx` grundlegenden Theorien auf und entwickelte sie zum Teil auch direkt daraus, in entscheidenden Punkten verfolgte er aber völlig konträre Ansätze oder bediente sich anderer Vorlagen.2 Schließlich ist auch umstritten, ob Lenins Handlungen wirklich ganz und gar auf den von Marx vorgegebenen Konzepten beruhten.3 Die Gründe für die unterschiedliche Beurteilung der Ausgangslage der Revolution und die zu verwendende Vorgehensweise sind wohl hauptsächlich in Lenins Werdegang zu finden. Lenin wurde am 10. April 1870 in Simbirsk, einer kleinen Hafenstadt an der mittleren Wolga, in der russischen Provinz geboren. Sein Geburtsname war Vladimir Ilji Uljanov. Seinen revolutionären Tarnnamen „Lenin“ sollte er erst später annehmen.4 Die genaue Herkunft seiner Familie lässt sich nicht bestimmen, zu viele politisch opportune Mythen und Legenden haben sich nach seinem Tod gebildet, auch fehlt es schlicht an Dokumenten. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass Lenin väterlicherseits keine rein russische Abstammung vorzuweisen hatte. Fest steht aber, dass Lenins Eltern, Ilja und Maria Uljanov loyale Anhänger des Zaren und russische Patrioten waren. Sein Vater, Schulinspektor im Governement Simbirsk, wurde auf Grund seiner Verdienste sogar mehrmals ausgezeichnet und war von niederem Adel. Fest steht, dass Lenin zwar nicht politisch von seinen Eltern geprägt wurde, aber von ihnen den Ehrgeiz und die harte Arbeitsmoral erbte, die sie als moderne, westeuropäisch geprägte Russen ihrem Leben zu Grunde gelegt hatten.5 1
Dies ist nicht zuletzt auch deren Selbstbezeichnungen und Verständnis geschuldet, wie etwa das der RAF, die in Bezug auf Mao ihren „bewaffneten Kampf“ als die „höchste Form des Marxismus-Leninismus versteht“. Siehe dazu Anonymus, Das Konzept Stadtguerilla, in: Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 31. 2 Etwa denen des Anarchisten Nechaev oder des Marx-Gegners Bakunin, vgl. dazu Stahel, Albert A., MarxistischLeninistische Konzeption des Terrorismus und der Revolution, Frauenfeld 1987, S. 35. Zur Verwendung von Marx` Theorien durch terroristische Organisationen siehe den Beitrag von Benjamin Zeitler in diesem Band. 3 So Service, Robert, Lenin – Eine Biographie, München 2000, S.26; dem entgegenstehend: Harding, Neil, Lenin’s Political Thought, Band 1, London 1977. 4 Siehe Wolkogonow, Dimitri, Lenin: Utopie und Terror, Düsseldorf 1994. 5 Vgl. Service, Lenin – Eine Biographie, aaO. (FN 3), S. 50ff.
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Ebenfalls nicht ganz sicher ist, in wie weit die Verurteilung und die Hinrichtung von Lenins älterem Bruder Alexander seine Einstellung zum Terrorismus und der Revolution beeinflussten. Alexander, zu Beginn seines Studiums eher unpolitisch eingestellt, wurde durch die repressiven Verhältnisse an den Universitäten Russlands mehr und mehr zum Gegner der Monarchie. Ausschlaggebend war wohl die strikte Reglementierung und Kontrolle der Universitäten, die Alexander als Hindernis für seine naturwissenschaftliche Forschung sah. Die persönliche Betroffenheit machte ihn empfänglich für die sozialistische Lehre und die Aktivitäten einer Gruppe von Verschwörern. Spätestens 1886 schloss er sich dieser Gruppe an und war an der Planung eines Bombenanschlags auf Zar Alexander III. beteiligt. Durch einen Zufall wurden zwei Mitglieder der Gruppe während der Vorbereitung des Anschlags im Februar 1987 von der Geheimpolizei festgenommen. Durch die Verhörmethoden der Ochrana wurden kurz darauf alle Mitglieder der Gruppe verhaftet. Die Anführer, unter ihnen Alexander, wurden hingerichtet.6 Vielfach wurde der Tod seines Bruders als Wendepunkt in Lenins Leben verklärt, an dem er endgültig zum Revolutionär wurde. Fest steht, dass die ganze Familie nach Alexanders Verhaftung und Hinrichtung als Staatsfeind von einer gesellschaftlichen Ächtung betroffen war und den Zaren dafür verachtete, allerdings hatten sich Vladimir und Alexander in den Jahren vor dessen Tod nicht besonders gut verstanden. Wahrscheinlicher ist, dass mit dem Tod Alexanders ein gewisses Interesse Lenins an dessen Beweggründen geweckt worden war. Die Grundlage für eine revolutionäre Karriere war wohl damit bei dem gerade 17 jährigen Lenin gelegt, die Radikalisierung fand aber erst in den Jahren danach statt.7 Nachdem er im ersten Semester seines Jurastudiums wegen der Beteiligung an einer Demonstration von der Universität in Kazan exmatrikuliert wurde, beschäftigte er sich in Samara und St. Petersburg mit der Literatur und suchte den Kontakt zu Bauernsozialisten und Terroristen. Besonders ideologische und strategische Schriften zur Arbeiterfrage wie Nikolai ernyševskijs „Was tun?“, Michail Bakunins Werke und Sergey Nechaevs Katechismus8 hatten, neben Marx und Engels, einen prägenden Einfluss.9 Als 1895 Lenins Reiseverbot aufgehoben wurde, suchte er Kontakt zu Gleichgesinnten, darunter seinem ideologischen Idol Georgi Plechanov in der Schweiz. Nach der Rückkehr in die Heimat erfolgten erste Treffen mit anderen Revolutionären und damit zwangsläufig die Verbannung nach Sibirien, in der er umfangreiche Studien betrieb und auch publizierte. 1900 nahm Lenin die Gelegenheit zur Flucht ins Ausland war, wo er bis 1917 blieb. In dieser Zeit widmete er sich nahezu ausschließlich dem Aufbau einer Organisation, die fähig sein sollte, die Macht in Russland zu übernehmen.10 Im April 1917 kehrte Lenin, ermöglicht durch die deutsche Oberste Heeresleitung, mittels des bekannten verplombten Zuges zurück nach Russland. Statt einer Verhaftung erwartete ihn eine freudige Begrüßung in Petrograd. Hier legte er auch seinen Zehn-Punkte Plan vor, indem er das Proletariat auf seine Aufgaben in der gegenwärtigen Revolution einschwor. Es war die Geburtsstunde des Leninismus und der Schlachtpan für die Machtübernahme der Bolschewiki. Nachdem die Bolschewiki bis Oktober ihre Machtstellung in den Sowjets ausgebaut hatten, erfolgte in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober der endgültige Schlag. Auf Anordnung des Zentralkomitees der Bolschewiki erhob sich die Arbei6
So Wolkogonow, Lenin: Utopie und Terror, aaO. (FN 4), S. 36ff. Service, Lenin – Eine Biographie, aaO. (FN 3), S. 91. 8 Siehe dazu die Beiträge von Markus Gerngroß und Nina Huthöfer in diesem Band. 9 Siehe Wolkogonow, Lenin: Utopie und Terror, aaO. (FN 4), S. 40. 10 Malia, Martin, Vollstreckter Wahn. Russland 1917-1991, Stuttgart 1994, S. 94. 7
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terschaft unter Führung der Roten Garden und zerschlug die Reste der schwachen provisorischen Regierung.11 Die folgenden Jahre wurden von der Partei unter Lenins Führung benutzt, um mit allen Mitteln die errungene Macht zu festigen und den neuen kommunistischen Staat zu schaffen.12 Lenin starb im Januar 1924. Kurz darauf, während der Machtkämpfe um seine Nachfolge, wurde der Begriff Leninismus geprägt. Er wurde vor allem von den bolschewistischen Diadochen genutzt, um sich in dessen politische Tradition zu stellen. Welche Thesen umfasste aber der Leninismus, und wie beeinflussten sie die Ideologie sozialrevolutionärer Terroristen?
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Pragmatischer Mittelpunkt sozialrevolutionärer Ideologie: „Was tun im Partisanenkrieg“?
Verkürzt dargestellt ist unter Terrorismus eine Taktik verstehen, um vermeintliche politische Ziele, etwa einen Umsturz, mittels Gewalt „von unten“ durch das Verbreiten von Angst zu erreichen.13 Folglich sind an dieser Stelle Lenins Aussagen in drei Bereichen von besonderem Interesse: Erstens zur Anwendung von Gewalt in politischen Fragen, zweitens zum Terrorismus und drittens zu den Parametern, also Struktur, Subjekt und Ziel der Revolution. Lenin gliederte, in Anlehnung an Engels, die Durchführung der Revolution in zwei Phasen: Die erste Phase umfasst den Aufstand des Proletariats im Inneren, die zweite Phase den Krieg der Roten Armee gegen die restlichen inneren und äußeren Feinde.14 Für die Untersuchung seiner Werke im Hinblick auf die sozialrevolutionäre Theorie sind also besonders Lenins Konzeptionen für die erste Phase, also vor der Machtergreifung, zu betrachten. Die Schriften, die am häufigsten von Terroristen zur Begründung ihrer Ideologie herangezogen wurden, sind „Was tun?“ von 1902 und „Über den Partisanenkrieg“ von 1906.15 Außerdem ging Lenin in einigen anderen Werken in kurzen Passagen auf die Frage des Terrorismus und der Revolution ein.16 Interessant ist, dass Lenin viele seiner anfänglichen Konzeptionen, die er für die Phase vor der Machtergreifung entwickelte, später wieder relativiert hat. Dies ist sicherlich den Erfahrungen während der Revolution geschuldet, fand aber nur selten auch Eingang in die Erklärungen terroristischer Organisationen.17 Gerade das erscheint befremdlich, da den terroristischen Gruppen gerade diese praktische Erfahrung fehlte und sie so durchaus durch die Beachtung der Leninschen Modifikationen von Anfang an „Fehler“ hätten vermeiden können.
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Harding, Neil, Leninism, Durham 1996, S. 81ff. Meyer, Alfred G., Leninism, New York 1957, S. 185ff. Es ist heftig umstritten, wie Terrorismus genau zu definieren ist. Die obigen Parameter finden sich aber in den meisten Definitionsversuchen. Siehe weiterführend zur Definitionsproblematik: Hoffman, Bruce, Inside Terrorism, New York 2006, S. 20 und den einführenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 14 Stahel, Marxistisch-Leninistische Konzeption des Terrorismus und der Revolution, aaO. (FN 2), S. 35. 15 Hobe, Konrad, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, Bonn 1979, S. 36. 16 Etwa in „Warum die Sozialdemokraten den Sozialistischen Revolutionären den Krieg erklären müssen“ oder „Revolutionäres Abenteurertum“, siehe dazu Laqueur, Walter (Hrsg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978, S. 180ff. 17 Hobe, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, aaO. (FN 15), S. 36. 12 13
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Lenin betrachtete Gewalt stets aus einem Kosten-Nutzen-Kalkül heraus. Daher versuchte er auch nie, die Anwendung von Gewalt moralisch zu verteidigen oder dafür eine spezielle Rechtfertigung zu finden. So war der Kampf für die Revolution, insbesondere der Bürgerkrieg in Russland ein „gerechter Krieg und nützlich, da durch ihn eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen und die Befreiung der Arbeiterklasse erkämpft werden sollte. Dies zeigte sich auch in seiner Politik, die häufig aus militärischen Ansätzen entwickelt wurde. Zutreffend wird Lenin daher auch als Schüler von Clausewitz gesehen.18 Etwas diffiziler ist Lenins Verhältnis zum Terrorismus. Wie so häufig findet sich auch in Lenins Schriften keine Unterscheidung von Terrorismus und Terror. So muss jeweils genau auf den jeweiligen Zusammenhang geachtet werden, da in diesem Beitrag der Terror, also politische Gewalt „von oben“, nicht betrachtet wird.19 Folgerichtig setzt sich Lenins Kosten-Nutzen-Kalkül bei der Gewaltanwendung auch nach der Machtübernahme im Terror fort.20 Lenin kritisierte in seinem Aufsatz „Was tun?“ den Terrorismus in der aktuellen Lage in Russland als unnütz. Wie festgestellt hat diese Kritik nichts mit moralischen Überlegungen zu tun, sondern mit funktionalen Erwägungen. Auch waren terroristische Gruppen wie die von Lenin scharf kritisierte Swoboda eine mögliche Konkurrenz zu seinem Konzept der Revolution für Russland. Konkret kritisierte er, dass der Terrorismus damit begründet würde, die Arbeiterbewegung anzustacheln und ihr einen Anstoß zu geben. Dem entgegnet er: Gibt es denn, fragt man, in der russischen Wirklichkeit noch zu wenige Schweinereien, so dass man besonders „anstachelnde“ Mittel erfinden muss? Und wer andererseits selbst durch die in Rußland herrschende Willkür nicht angestachelt wird (…), der wird offenbar auch im Zweikampf zwischen der Regierung und einem Häuflein Terroristen ruhig zusehen und ,die Daumen drehen’.21
Als weitaus wichtiger und geradezu als Hauptpflicht des Revolutionärs schlechthin betrachtete Lenin die politische Agitation.22 Relativiert wird seine Argumentation dadurch, dass er die terroristische Organisation „Semlja i Wolja“, den Vorgängern der Narodnaja Wolja23, für ihren Kampf lobte. Deren Fehler sei nur gewesen, über keine revolutionäre Ideologie als Grundlage verfügt und es nicht fertig gebracht zu haben, ihren Aktionismus mit den anderen Teilen des Klassenkampfes zu verknüpfen.24 Im Umkehrschluss befürwortete Lenin also einen Terrorismus, der auf einer revolutionären Theorie beruhend versucht, die Arbeiterklasse in den Kampf mit einzubinden. Besonders an der Wirksamkeit von isolierten terroristischen Aktionen zweifelte Lenin, da diese von der Arbeiterklasse missverstanden
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Fetscher, Iring/ Rohrmoser, Günter, Ideologien und Strategien, Opladen 1981, S. 148. Zur Begriffgeschichte und Unterscheidung der Wörter Terrorismus und Terror siehe Hoffman, Bruce, Inside Terrorism, aaO. (FN 13), S. 3ff. und den einführenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 20 Eine kurze Darstellung zu Lenins Ansicht zum Terror findet sich in Labica, Georges/Bensussan, Gérard (Hrsg.), Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 7, Hamburg 1988, S. 1290ff. Weiterführend zu Lenins Begriff der Gewalt Huber, Wolfgang/Schwerdtfeger, Johannes, Frieden, Gewalt, Sozialismus, Stuttgart 1976, S. 88. 21 Lenin, Was tun?, in: Ausgewählte Werke Band 1, Berlin 1962, S. 256. 22 Lenin, Was tun?, 1902, zitiert nach: Fetscher, Iring (Hrsg.), Lenin Studienausgabe, Band 1, Frankfurt 1970, S. 96. 23 Siehe zur Narodnaya Wolya den gleichnamigen Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 24 Lenin, Was tun?, aaO. (FN 22), S. 143. 19
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werden könnten.25 Allerdings wäre das allein nicht ausreichend. Um den Kampf der Arbeiterschaft zum wirklichen Klassenkampf zu wandeln, müsste eine noch fähigere Organisation von Berufsrevolutionären geschaffen werden.26 Der zentrale Punkt ist für ihn die Zusammenführung und Kopplung der proletarischen Disziplin der Arbeiterschaft mit dem undisziplinierten, intellektuellen Bewusstsein der Intelligenzija: „Die wirklichen Helden unserer Zeit sind diejenigen Revolutionäre, welche die Volksmassen anführen, die sich gegen ihre Unterdrücker erheben.“ Als gelungenes Beispiel führte Lenin den Aktionismus der Revolutionäre in Frankreich von 1789 an: „Die Geschichte dieses Terrorismus ist außerordentlich instruktiv für die russische Revolution.“27 Lenin sah den Terrorismus also als eine Taktik, die innerhalb des Aufstandes der Massenbewegungen der Proletarier unter Führung der Avantgarde28 sehr nützlich sein kann. Als strategisches Konzept einer Organisation lehnte er den Terrorismus allerdings als unnütz und kontraproduktiv ab.29 Der Terrorismus sei somit weder als Ersatz noch zur Anstachelung zum Massenaufstand tauglich. Lenin gab in seinen Werken strikte Parameter für die Revolution vor. Man kann grob drei Bedingungen ausmachen: der geeignete Ort, die Avantgarde und das revolutionäre Subjekt. Als erstes müsse der geeignete Ort gefunden werden, das schwächste Glied in der Kette des weltweiten Kapitalismus. Dies war für Lenin die Peripherie der Weltwirtschaft, also ein im Gegensatz zu den westlichen Mächten noch schlecht entwickeltes Land mit einem großen Potential an Industriearbeitern. Eine Revolution im Zentrum der Weltwirtschaft durchzuführen, schied für Lenin von vornherein aus. Russland war also prädestiniert für Lenins Plan, der seinen „wissenschaftlichen Kommunismus“ exakt an die dortigen Verhältnisse anpasste.30 Weiterhin musste eine revolutionäre Vorhut geschaffen werden, die als Agitatoren und Führer die Massen im Aufstand leiten kann. Dies ist die „Avantgarde“.31 Die Avantgarde verfügt über die höhere Einsicht in die dialektischen Prozesse der Weltgeschichte und muss die intellektuellen Terroristen und das Industrieproletariat umfassen, höchst diszipliniert und straff organisiert sein. Um eine Zerschlagung zu vermeiden, muss berufsmäßig klandestin vorgegangen werden. Der Part der Intellektuellen ist es, die Theorie der Revolution in die Arbeiterklasse hineinzutragen. Ziel muss es aber zu jeder Zeit sein, den Unterschied zwischen den beiden Gruppen zu minimieren und die einheitliche Partei zum schlagkräftigen Organ und zur Keimzelle der Revolution zu machen. Die Avantgarde muss eine breite Basis in der Bevölkerung haben, losgekoppelt vom Proletariat erweist sie sich als sinnlos.32
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So Lenin in „Warum die Sozialdemokraten den Sozialistischen Revolutionären den Krieg erklären müssen“. Siehe Laqueur (Hrsg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, aaO. (FN 16), S. 180. 26 Ebd., S. 143. 27 Lenin, Eine militante Zustimmung für den Aufstand, zit. nach Laqueur (Hrsg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, aaO. (FN 16), S. 184. 28 Der Begriff der Avantgarde bezeichnet die Vorhut, die, stets kampfbereit, dem Heer vorangeht und aufklärt. Siehe weiterführend dazu: Hecken, Thomas, Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld 2006, S. 12. 29 Fetscher/ Rohrmoser, Ideologien und Strategien, aaO. (FN 18), S. 156. 30 Fetscher (Hrsg.), Lenin Studienausgabe, Band 1, aaO. (FN 22), S. 8. 31 Lenin, Was tun?, aaO. (FN 22), S. 106. 32 Hobe, Konrad, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, aaO. (FN 15), S. 37.
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Dadurch ergab sich für Lenins revolutionäre Organisation eine Schema, bestehend aus fünf Prämissen: 1. 2. 3. 4. 5.
Eine revolutionäre Bewegung kann ohne eine stabile Führungsebene nicht kontinuierlich existieren. Eine avantgardistische Führungsebene wird umso notweniger, je breiter die Massenbewegung wird. Die Avantgarde muss aus „Berufsrevolutionären“, also aus geschulten und professionellen Kadern bestehen. Je besser selektiert und ausgebildet die Avantgarde ist, desto schwieriger wird die Zerschlagung der gesamten Organisation sein. Je fähiger die Avantgarde ist, desto mehr Personen können aus dem Rest der Gesellschaft, besonders aus dem Proletariat an der Bewegung teilnehmen.33
Dabei ging Lenin immer wieder davon aus, dass die Führung von einer Partei übernommen werden sollte, und durchaus nebenher legale und halblegale politische Arbeit geleistet werden sollte.34 Damit befand sich Lenin aber im Widerspruch zu Marx` These des „Revolutionären Subjekts“. Nach Lenin wäre die Arbeiterbewegung ohne die Avantgarde nie in der Lage, selbstständig die Macht zu übernehmen.35 Allerdings relativierte Lenin nach der ersten Revolution scheinbar die Bedeutung der Avantgarde. In seinen „Lehren aus der Revolution“ von 1910 stellte er fest, dass das Proletariat alleine schon sehr mächtig und auch die entscheidende Kraft sei, unter deren Führung die Revolution gelänge.36 Möglicherweise erfolgte diese neue Einschätzung aber nicht aus aktiver Selbstkritik37, sondern der Empfänger der Schrift war ein anderer. Liest sich „Was tun?“ wie ein Strategiepapier an einen Kreis von Vertrauten, so sind die Lehren der Revolution eher eine Propagandaschrift, die erstens den Feinden der Revolution deren ganzen Schrecken und Macht zeigen und zweitens das Proletariat für Lenins Sache gewinnen sollte. Dafür spricht auch, dass Lenin 1917 wieder den Kadern der Partei und später den Politoffizieren in der Roten Armee große Bedeutung beimaß.38 Gleichzeitig ist die Schlussfolgerung aber zutreffend, dass weder auf Lenins Grundkonzept zur Avantgarde noch auf etwaige Wandlungen in dessen Ansichten in terroristischen Schriften zutreffend eingegangen wird.39
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Lenin, Was tun?, aaO. (FN 22), S. 134. Etwa auch noch 1917 in seinem Vortrag „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, Lenin, in: Fetscher (Hrsg.), Lenin Studienausgabe, Band 1, aaO. (FN 22), S. 384. 35 Pohlmann, Friedrich, Marxismus-Leninismus-Kommunsimus-Faschismus. Aufsätze zur Ideologie und Herrschaftsstruktur der totalitären Diktaturen, Pfaffenweiler 1995, S. 69. 36 Lenin, Die Lehren der Revolution…, aaO. (FN 22), S. 287ff. 37 So Hobe, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, aaO. (FN 15), S. 36. 38 Etwa in seinem maßgeblichen Aufsatz „Staat und Revolution“ von 1917 in dem die Bedeutung der Partei als Avantgarde des Proletariats erneut hervorgehoben wird. Siehe Lenin, Staat und Revolution, in: Fetscher, Iring (Hrsg.), Lenin Studienausgabe, Band 2, Frankfurt 1970, S. 24. 39 Hobe, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, aaO. (FN 15), S. 36ff. 34
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Wirkungsgeschichte und Rezeption
Wie haben sich also Lenins Lehren, insbesondere das Konzept der Avantgarde, in den Ideologien sozialrevolutionärer Terroristen niedergeschlagen? Es trifft zu, dass sich nahezu alle sozialrevolutionären terroristischen Organisationen als Avantgarde verstanden.40 Dadurch war ihr Aktionismus leichter zu begründen und es konnte eine Abgrenzung und Selbsterhöhung stattfinden, die maßgeblich für eine vermeintliche Legitimierung der eigenen Gewalt in einem perzipierten Stellvertreterkampf ist.41 Im Folgenden wird aber nur die konkrete textliche Rezeption Lenins durch sozialrevolutionäre Vereinigungen untersucht. Hier soll anhand ausgewählter Beispiele die Fehlperzeption in terroristischen Ideologien aufgezeigt werden, die sich auf Lenins Prämissen der revolutionären Situation und der handelnden Avantgarde stützten. So fehlte Lenins erste Prämisse, das Bestehen einer revolutionären Grundsituation, durchgehend in allen Ländern, in denen sozialrevolutionäre Terroristen tätig waren.42 Lenin ging davon aus, dass eine Revolution in entwickelten Industrieländern keine Chance hätte, sondern in schwach entwickelten Staaten mit einer hohen Zahl an Bauern und Industriearbeitern stattfinden müsste. Im Falle der Kenntnis des theoretischen Schrifttums wurde versucht, die Leninschen Prämissen zu umgehen und durch andere Vorgaben zu relativieren. So etwa in Deutschland, wo lediglich Horst Mahler eine tiefere Auseinandersetzung mit Lenins Konzepten für die RAF vornahm. Unter Bezug auf dessen Werk „Über den Partisanenkrieg“ stellte Mahler eine vermeintliche Bürgerkriegssituation in Frankreich und Europa fest und setzte sie mit der Lage in Russland von 1905 gleich.43 Mahler konstatierte dabei als einziger, dass Terrorismus durchaus zum Aktionismus der RAF gehörte. Dafür wurde er heftig kritisiert und widersprach der herrschenden Lehre in der RAF - obwohl Lenin den Terrorismus als legitime Taktik in einem Klassenkampf sah.44 Im ideologischen Mittelpunkt stand dabei ein dialektischer Kunstgriff: das Fehlen einer revolutionären Situation sollte durch die Entschlossenheit der Avantgarde ausgeglichen werden. Da auf den eigenständigen Aufstand des Proletariats nicht gehofft werden konnte, sollte das Proletariat durch die Aktionen der Avantgarde wachgerüttelt werden.45 Genau diese revolutionäre Situation war aber das Fundament, welches Lenin für den Versuch einer Revolution voraussetzte. Ebenso wurde der hohe Stellenwert einer Partei, aus der nach Lenin die Avantgarde hervorgehen müsste, für Deutschland ausgeschlossen. Zu ungewiss sei die zukünftige Form des revolutionären Kampfes.46 Der bewaffnete Kampf in der BRD entsprang der Negation der beiden wichtigsten Prämissen Lenins. Die RAF sah sich selbst als „Speerspit-
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Einzige Ausnahme scheint das Al-Qaida-Netzwerk im engeren Sinn zu sein, das sich mittlerweile dadurch auszeichnet, andere zu unterstützen und zu inspirieren. Die Abgrenzung und Selbsterhöhung findet in einem viel weiteren Rahmen statt und die Selbstbezeichnung „Al-Qaida“ ist für jeden Willigen verfügbar. Siehe dazu den Beitrag von Daniel Heller in diesem Band. 41 Vgl. Schneckener, Ulrich, Globaler Terrorismus, in: Informationen zur politischen Bildung 280, 2003, S. 54. 42 Am nächsten an einer solchen Situation war wohl die Lage in Uruguay während des Aktionismus der Tupamaros. Siehe dazu den Beitrag von Nina Huthöfer in diesem Band. 43 So in Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, in: Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, aaO. (FN 1), S. 55. 44 So Fetscher/ Rohrmoser, Ideologien und Strategien, aaO. (FN 18), S. 153. 45 Vgl. „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“, in: Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, aaO. (FN 1), S. 61. 46 Ebd., S. 60.
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ze“ des Widerstandes gegen den Staat, als die Vorhut der revolutionären Bewegung.47 Nach Mahler sollte, in Übereinstimmung mit Lenins Lehren, die intellektuelle Avantgarde das gewaltbereite Proletariat lenken und mittelfristig mit diesem zusammengeführt werden.48 Überraschend ist, wie wenig Beachtung dem wirklichen Avantgarde-Konzept von Gruppen geschenkt wurde, die ein oberflächlich oder eklektisch marxistisch-leninistisches Selbstverständnis hatten. So widersprach auch nahezu die komplette grundlegende Konzeption der Revolutionären Zellen49 (RZ) in Deutschland dem Leninschen Verständnis. Zum einen bestritten die RZ stets, als Avantgarde dienen zu wollen, zum anderen waren sie eben keine Berufsrevolutionäre, sonder übten terroristische Anschläge neben ihrem bürgerlichen Leben aus. Versucht wurde allerdings, die Vorgabe Lenins umzusetzen, dass immer der Kontakt zu den Massen des Proletariats gesucht werden sollte. Nichts desto trotz blieben die Schriften der RZ weit hinter den Strategiepapieren der RAF zurück.50 Auch die Weathermen51 in den USA sahen sich selbst als Avantgarde und meinten sich an Lenins Kader-Modell anlehnen zu können. So nahmen sie allerdings fälschlicherweise Rassenunruhen als Ausdruck einer vorrevolutionären Situation wahr und meinten durch ihre Aktionen weitere militante Proteste initiieren zu können. Die in Elendsvierteln lebenden Schwarzen sollten so an die Stelle des Industrieproletariats treten.52 Ein tiefer gehender Kontakt oder eine genaues Verständnis für die Ursachen der Unruhen fehlte jedoch. Die RAF, die sich am intensivsten mit Lenins Konzepten auseinandersetzte, verkannte jedoch, dass in Lenins Lehre der Terrorismus lediglich zu bestimmten Zeiten als Taktik innerhalb der übergeordneten Strategie der Revolution benutzt werden soll. Die RAF legte aber den Terrorismus per se schon als Strategie an.53 Daher konnte auch die Argumentation der RAF nicht überzeugen, wenn sie sich mit Lenins Haltung zum Terrorismus auseinandersetzte. Zutreffend wurde Lenins Prämisse, dass Terrorismus nur in Verbindung mit einem vom Proletariat getragenen Aufstand einhergehen kann, dargelegt, und somit auch die Widersprüchlichkeit des eigenen Aktionismus erkannt. Allerdings wurde, fußend auf dieser Erkenntnis, zur Rechtfertigung eine vergleichbare Konstellation für die RAF und die Situation in Deutschland konstruiert.54 Fraglich bleibt auch, wie viele Mitglieder der jeweiligen „avantgardistischen“ Organisationen wirklich die Theorien, in deren Tradition sie sich stellten, internalisiert hatten und so auch praktizieren konnten und wollten. So fand in der RAF nach und nach eine „Entideologisierung“ statt, die besonders in der dritten Generation feststellbar war.55 Außerdem wurde der RAF mit zunehmendem Aktionismus das Avantgarde-Konzept auch in linksextremistischen Kreisen nicht mehr geglaubt.56 47
Siehe Hecken, Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF, aaO. (FN 27), S. 98. 48 Fetscher/ Rohrmoser, Ideologien und Strategien, aaO. (FN 18), S. 113. 49 Siehe dazu den Beitrag von Johannes Wörle in diesem Band. 50 Siehe Hobe, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, aaO. (FN 15), S. 17. 51 Siehe dazu den Beitrag von Ilona Steiler in diesem Band. 52 Hecke, Avantgarde und Terrorismus, aaO. (FN 27), S. 95. 53 Fetscher/ Rohrmoser, Ideologien und Strategien, aaO. (FN 18), S. 157. 54 Vgl. Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, in: Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, aaO. (FN 1), S. 81. 55 Weiterführend hierzu: Straßner, Alexander, Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003, S. 278ff. 56 Hobe, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, aaO. (FN 15), S. 18.
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Aber auch für die erste Generation ist davon auszugehen, dass der „nichtsnutzige Bohème-Typ“57 Andreas Baader sicherlich kein tieferes Verständnis für die leninistische Ideologie mitbrachte. Ähnliches gilt wohl beispielsweise auch für Hans-Joachim Klein von den Revolutionären Zellen58 und Michael „Bommi“ Baumann von der Bewegung 2. Juni59. Diese Schwäche in den ideologischen Begründungen findet sich also bei vielen sozialrevolutionären, marxistisch-leninistischen Gruppierungen, die eher unter Lenins Kategorie „Revolutionäres Abenteurertum“60 gefallen wären. Ein sprachliches Missverständnis bei der Interpretation von Lenins Lehre, wie von Mahler für die RAF angeführt, lag aber sicherlich nicht vor.61 Letztlich bleibt das Argument, dass Lenins Theorie auf die aktuelle Situation in den westlichen Industriestaaten angewendet und weiterentwickelt werden sollte.62 Wenn aber jede Prämisse einer Theorie bis ins Gegenteil hinein interpretiert wird, bleibt von der Theorie selbst nichts übrig.
57 Jesse, Eckhard, Die Ursachen des RAF-Terrorismus und sein Scheitern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 40-41/2007, S. 15. 58 Siehe dazu den Beitrag über von Johannes Wörle in diesem Band. 59 Siehe dazu den Beitrag von Lutz Korndörfer in diesem Band. 60 So der Titel eines Aufsatzes von Lenin in: Ausgewählte Werke Band 6, Berlin 1971, S. 184ff. 61 So zutreffend Fetscher/ Rohrmoser, Ideologien und Strategien, aaO. (FN 18), S. 157. 62 Vgl. Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, in: Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, aaO. (FN 1), S. 60.
Angewandte Guerillatheorie: Mao Tse Tung
Mao Tse Tung
Tobias Nerb
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Biographie1
Mao Tse Tung2 wurde am 26. Dezember 1893 als ältester Sohn einer Bauernfamilie im zentralchinesischen Shaoshan geboren. Trotz der finanziell bescheidenen Verhältnisse seiner Familie erfuhr Mao Tse Tung mit Hilfe eines Privatlehrers eine einfache Schulausbildung. Das Lesen wurde für Mao zu einer Leidenschaft, die er Zeit seines Lebens beibehielt. Im Jahr 1909 verließ er gegen den Widerstand des Vaters das Elternhaus und besuchte eine Mittelschule in der Bezirkshauptstadt Changsha. Geprägt von der Stimmung am Vorabend der Chinesischen Revolution begann Mao sich zunehmend für Politik zu interessieren. Binnen kurzer Zeit machte er sich auch mit politischer Theorie und Philosophie vertraut. So verfasste Mao Tse Tung einen ersten Aufsatz zur politischen Theorie, in dem er republikanische Positionen vertrat.3 Bei Ausbruch der Chinesischen Revolution von 1911 wurde Mao Tse Tung Mitglied der antikaiserlichen Armee. Im Jahr 1918 wurde er als Bibliothekar an der Universitätsbibliothek in Peking angestellt. So erfolgten erste Kontakte zu chinesischen Marxisten, unter anderem zu Li Dazhao, einem der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh).4 Entgegen der offiziellen chinesischen Darstellung war Mao somit kein Gründungsvater der KPCh. Aktiv engagierte er sich erst ab 1921 in der KPCh. 1923 wurde Mao auf dem zweiten Parteikongress in das Zentralkomitee der Partei gewählt. Nach dem Bruch zwischen der nationalistischen Partei Kuomintang und der Kommunistischen Partei und dem daraus resultierenden Bürgerkrieg im Jahr 1927 initiierte Mao den HerbsternteAufstand, der von den Nationalisten indes schnell niedergeschlagen wurde. Mit den Überlebenden zog sich Mao in das Gebirge zurück. Bereits zu diesem Zeitpunkt begann Mao Tse Tung seine Kämpfer aus der lokalen Bevölkerung zu rekrutieren. Mittels Einschüchterung durch sog. Säuberungen gelang es ihm eine Drohkulisse aufzubauen und seine Gegner systematisch auszuschalten. Das Rückzugsgebiet der Guerilleros vergrößerte sich rasant. Im Jahr 1928 umfasste es bereits ein Territorium mit über 500.000 Einwohnern. Unter dem Druck der Kuomintang wurde das Zentrum der Guerillabewegung 1931 verlagert und die Jiangxi Sowjetrepublik wurde gegründet. Im Kampf der Zwei Linien kam es zu Auseinandersetzungen, zwischen dem Lager Mao Tse Tungs, das die Revolution mittels Guerilla1
Aktuellste und ausführlichste Biographie zu Mao Tse Tung: Chang, Jung/Halliday, Jon: Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes, München 2005. 2 Andere Schreibweisen des Namens sind z.B. Mao Tse-tung oder Mao Zedong. 3 Klasen, Hans, Von Marx bis Mao Tse-tung. Eine Einführung in die Ideologie des Kommunismus, Trier 1977, S. 194f. 4 Vgl. Chén, Jerome, Great Lives Observed. Mao, Englewood Cliffs/ New Jersey 1969, S. 46-60.
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kampf und Unterstützung der Bauern erreichen wollte und der Opposition, die sich der Unterstützung der Komintern bedienen wollte. 1934 wurde der militärische Druck der Kuomintang allerdings so stark, dass die Jiangxi-Sowjetrepublik aufgegeben werden musste. An den Bürgerkriegsfronten entwickelten die militärischen Führer der KPCh die Guerillakriegstaktik, die Mao später theoretisch verarbeitete.5 Die Kommunistischen Truppen durchbrachen den Belagerungsring der Nationalisten und zogen sich auf einen Langen Marsch zurück. Auf verschlungenen Wegen versuchten die Truppen das vorbereitete Rückzugsgebiet Yan'an zu erreichen. Dabei waren sie Attacken der Nationalisten und regionaler Warlords ausgesetzt. Mao gelang es hierbei, sich als Anführer der Kommunistischen Partei durchzusetzen. In der Provinz Shaanxi konnte sich die KPCh erneut stabilisieren, da das Gebiet abgelegen genug war, um erfolgreiche Angriffe der Kuomintang zu verhindern. Zudem führte der Chinesisch-Japanische Krieg 1937 zur Beendigung des Bürgerkriegs.6 Nach der Kapitulation Japans und dem Rückzug der japanischen Truppen aus China nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1946 flammte der Bürgerkrieg erneut auf. Die nationalistische Kuomintang und ihr Führer Chiang Kai-shek hatten jedoch während der japanischen Okkupation deutlich an Stärke verloren, während die Kommunisten – nicht zuletzt wegen des militärischen und politischen Erfolgs der Sowjetunion – an Stärke gewonnen hatten. Nach der Ausrufung der (sozialistischen) Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 zog sich Chiang Kai-shek mit seinen Anhängern nach Taiwan zurück.7 Mao Tse Tung stand fortan an der Spitze der neuen Volksrepublik China. In den folgenden fast dreißig Jahren seiner Herrschaft initiierte Mao eine Reihe verschiedener Kampagnen. Neben der systematischen Ausschaltung von Dissidenten und intellektuellen Systemkritikern wurde von Mao in seiner Großer Sprung nach Vorne – Kampagne auch volkswirtschaftlich interveniert. Auf Kosten der Landwirtschaft wurde eine Industrialisierung von oben angestoßen, deren Resultat eine der größten Hungerskatastrophen der Geschichte war. Die Schätzungen der Todesopfer variieren von 20 bis 40 Millionen Menschen.8 Zu trauriger Berühmtheit brachte es auch die sog. Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976. Das Proletariat sollte sich in dieser groß angelegten Aktion gegen die „Rechtsabweichler“ – also vornehmlich gegen Parteikader, Lehrer, Gelehrte und andere Intellektuelle zur „Wehr“ setzen. In dieser brisanten Mischung aus Denunzierung und Diffamierung, gepaart mit jugendlichem Hass, Zerstörung und Plünderung wurden zahlreiche Kulturschätze Chinas zerstört und ebenfalls Millionen von Menschen getötet. Maos Macht wurde indes bis zu seinem Tod 1976 nachhaltig gefestigt. So kamen während der Kulturrevolution zahlreiche parteiinterne Konkurrenten, u.a. sein designierter Nachfolger Lin Bao ums Leben.9 Mao Tse Tung selbst starb am 8. September 1976 in Peking.10
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Tse-tung, Mao, Theorie des Guerillakrieges, oder: Strategie der Dritten Welt. Mit einem einleitenden Essay von Sebastian Haffner, Hamburg 1966. Vgl. Hartmann, Jürgen, Politik in China. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 36-38. 7 Vgl. Thielbeer, Siegfried, Revolution oder Kollektive Sicherheit. Stalin, Mao und die Großmächte, Baden-Baden 1986, S. 165-172. 8 Vgl. Rummel, Rudolph Joseph, Demozid – der befohlene Tod, Münster et al. 2003, S. 84f. 9 Vgl. Chang/ Halliday, Mao, aaO. (FN 1), S. 247. 10 Vgl. Klasen, Von Marx bis Mao Tse-tung, aaO. (FN 3), S. 196. 6
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Militärische Ideologie und Anwendung
2.1 Der Guerillakrieg in drei Phasen Von zentraler Bedeutung für das Werk Maos und für die Guerilla-Theorie im Besonderen ist das Theorem der Three stages of the protracted war: Since the Sino-Japanese War is a protracted one and final victory will belong to China, it can reasonably be assumed that this protracted war will pass through three stages. The first stage covers the period of the enemy´s strategic offensive and our strategic defensive. The second stage will be the period of the enemy´s strategic consolidation and our preparation of the counteroffensive. The third stage will be the period of our counteroffensive and the enemy´s strategic retreat.11
Der Guerillakrieg erstreckt sich demzufolge über drei verschiedene Phasen: In der ersten Phase ist der Gegner überlegen und man selbst kräftemäßig unterlegen. Es ist die Phase des strategischen Angriffs des Feindes und der eigenen strategischen Verteidigung. Der Feind dringt tief ins Landesinnere vor und besetzt die strategischen Schlüsselstellen wie Brücken, Verkehrs- und Kommunikationswege etc., während die eigene Armee den Angriffen des Gegners ausweicht und sich zurückzieht. Gleichzeitig dringen Guerillaeinheiten in das Gebiet hinter den feindlichen Linien vor, entfachen einen Partisanenkrieg und errichten Rückzugsstützpunkte. Es ergeben sich zwei „widersprüchliche Veränderungen auf beiden Seiten“12. Für die verteidigenden Kräfte bedeuten die Verluste an Gebieten, Infrastruktur und militärischen Ressourcen eine Verschlechterung ihrer Situation – eine Verstärkung der Asymmetrie des Konflikts. Allerdings, so Mao, gewinnt man deutlich an Erfahrungen und schafft eine Kultur des politisch bewussten Widerstandes, auf deren Basis sich ein Partisanenkrieg beginnen bzw. ausbauen und fortführen lässt. Ähnlich dialektisch verhält sich die Situation beim Feind. Der infrastrukturelle und territoriale Zugewinn steht im Gegensatz zu langen Versorgungswegen, Mangel an Truppen, ökonomischer Belastung und Unzufriedenheit der Soldaten. Während beim Feind die negativen Folgen zunehmen, steigen die eigenen positiven Entwicklungen. Es kommt zu einer Situation strategischen Gleichgewichts, der zweiten Phase. Diese Phase ist gekennzeichnet durch die strategische Konsolidierung des Gegners und die Vorbereitung der eigenen Gegenoffensive. Der Partisanenkrieg wird mit aufgelockerten regulären Kräften unterstützt. Nach und nach verliert der Gegner so jeglichen strategischen Vorteil. Nach Abschluss der Vorbereitung der Gegenoffensive beginnt die dritte Phase. In dieser Phase sind die eigene strategische Gegenoffensive und der strategische Rückzug des Feindes maßgeblich. Der Krieg wird von innen nach außen verlagert. Nachdem isolierte und geschwächte Truppen des Feindes angegriffen wurden – nicht zuletzt um Waffen zu erbeuten – findet ein Übergang zum Bewegungskrieg, zum offenen Gefecht statt. Der Partisanenkrieg dient nur noch der Unterstützung der regulären Truppen durch Sabotage, die Errichtung von Stützpunkten oder durch die Versorgung mit Nachschub.13 11
Tse-tung, Mao, The Three Stages of the Protracted War, in: Laqueur, Walter (Hrsg.), Voices of Terror. Manifests, Writings and Manuals of Al Qaeda, Hamas, and other Terrorists from around the World and throughout the Ages, Naperville/Illinois 2004, S. 352. 12 Schäfer, Ingo, Mao Tse-tung. Eine Einführung in sein Denken, München 1978, S. 215. 13 Vgl. ebd., S. 215-217.
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Das eigentliche Novum an Maos Kriegstheorie ist indes nicht der ergänzende Einsatz von Partisanenkämpfern hinter feindlichen Linien, welche durch Sabotage und Überraschungsangriffe große Teile der gegnerischen Truppen binden sollten, sondern dass Mao Tse Tung diesen Verbänden nicht nur eine taktische und operative, sondern eine strategische Bedeutung beimisst.14 Die Bedingungen im japanisch-chinesischen Krieg ermöglichen überhaupt ein solches Agieren Maos, bzw. machen ein solches Vorgehen notwendig. Das ressourcenschwache aber militärisch überlegene Japan war gezwungen eine schnelle Entscheidung herbeizuführen. Die Kosten des Krieges wären sonst zu groß geworden. Das Wissen um diesen Druck der Japaner machte sich Mao zu Nutze und kombinierte ihn mit seinen Erfahrungen aus dem Langen Marsch. Seine Truppen wichen den Japanern aus und verlagerten sich auf Überraschungsangriffe und Sabotagakte. Bereits 1938 war Mao Tse Tung klar, dass ein Sieg nicht absehbar war und der Krieg entsprechend langwierig werden würde. Aufgabe der Roten Armee war es zudem, den Widerstandsgeist der Bevölkerung zu wecken oder aufrecht zu halten.15 Die lange Dauer eines solchen Krieges gereicht also dem Guerillero zum Vorteil. Daraus leitet Mao Tse Tung das allgemeine Gesetz ab, dass Partisanen in einem lang andauernden Zermürbungskrieg am Ende als Sieger hervorgehen, gesetzt den Fall, dass sie ihn überlebt haben. Diese Phänomene ließen sich erstmals am Beispiel der spanischen Guerilla während der napoleonischen Besatzung oder aber ansatzweise schon im amerikanischen Bürgerkrieg beobachten. Die von Mao angenommene Überlegenheit von Guerillatruppen gegenüber regulären Verbänden ist auf zwei Aspekte zurückzuführen. Der kleine Guerillakrieg unterscheidet sich vom großen regulären Krieg darin, dass räumliche und zeitliche Begrenzungen des Kampfgeschehens nicht existieren. So gibt es keine Front, keine Erholungs- oder Kampfphasen. Der Guerillakrieg ist überall und jederzeit gegenwärtig. Eine Konzentration der Kräfte auf einen Frontabschnitt ist folglich nicht möglich. Der Guerillakrieg entfaltet sich in der Tiefe des Raumes und lässt den gegnerischen Truppen keine sicheren Rückzugsräume. Den daraus resultierenden Effekt auf Militärs und Zivilgesellschaft lässt sich auch in den neuen asymmetrischen Kriegen16, wie im Irak oder in Afghanistan beobachten. Taliban-Verbände oder irakische Terroristen agieren getreu dieses alten Prinzips. Der Guerillakrieg kann also mit anfangs militärischer, bzw. waffentechnischer Unterlegenheit geführt werden. Die zunehmende Demoralisierung des Gegners führt über kurz oder lang zur Stärkung der eigenen Position. Denn die Qualität der regulären gegnerischen Kräfte schwindet. Das Erfordernis permanenter Kampfbereitschaft hat eine überproportionale physische und psychische Belastung der Soldaten zur Folge. Der zweite Aspekt sind die rapide ansteigenden Kosten des Krieges. So wird mit zunehmender Erfolglosigkeit der Einsatz der Truppen im entsprechenden Land in Frage gestellt – wobei nicht nur die finanziellen Kosten, sondern auch der Sinn des Einsatzes bei zunehmenden Verlusten in Frage gestellt wird, wie die aktuellen Beispiele Irak und Afghanistan, aber auch historische Beispiele wie Algerien und Vietnam eindrucksvoll belegen.17 14
Schrupp, Antje, Die Partisanentheorie Mao Tse-tungs, in Münkler, Herfried (Hrsg.), Der Partisane. Theorie, Strategie, Gestalt, Opladen 1990, S. 99. Ebd. 16 Zur Struktur und Genese neuer Kriege siehe die Standardliteratur von Kaldor, Mary, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000 und Münkler, Herfried, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002. 17 Vgl. Münkler, Herfried, Die Gestalt des Partisanen. Herkunft und Zukunft, in: Ders. (Hrsg.), Der Partisan. Theorie, Strategie und Gestalt, Opladen 1990, S. 25-27 15
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Allerdings ist der Guerillakrieg dann zum Scheitern verurteilt, wenn er den Rückhalt und die Unterstützung der Bevölkerung verliert. Die Bevölkerung stellt die Hauptressource in einem solchen Krieg dar. Neben der Rekrutierung von Kämpfern wird der Krieg über die Bevölkerung – manchmal auch mit internationaler Hilfe – finanziert, z.B. über Drogenanbau wie in den Anden oder in Afghanistan. Der Gewinn der Drogenbauern wird dann versteuert. Ferner deckt die Bevölkerung die Aktionen der Guerilleros und versteckt diese vor Patrouillen oder ähnlichem. Bestes Beispiel hierfür ist die Vorgehensweise des Vietcongs bei der Infiltration des vietnamesischen Südens. Der Guerillakrieg ist dann hinfällig, wenn ein strategisches Gleichgewicht zwischen den eigenen und den feindlichen Truppen herbeigeführt wurde. Unverzichtbare Vorteile bis zu diesem Gleichgewicht sind neben der besseren Motivation der Kämpfer die genaue Ortskenntnis und die Unterstützung durch die Bevölkerung mit Nahrung und Informationen. Um sich der Unterstützung der Bevölkerung gewiss zu bleiben, musste Plünderung, Vergewaltigung, also übertriebene Kriminalisierung der eigenen Truppen vermieden werden. So sieht Mao die größte Gefährdung seiner Truppen in einer „Schwäche, die sich in Mangel an Disziplin, übertriebenen Vorstellungen von Demokratie und lockerer Organisation ausdrückte“18. Um solcher Disziplinlosigkeit entgegenzuwirken verabschiedete Mao Tse Tung „Drei Regeln der Disziplin“: 1. 2. 3.
Militärischer Gehorsam, Verbot zu plündern und zu vergewaltigen, Verpflichtung zur Abgabe von Beutegut.19
Diese Regeln sind so Spiegel der tatsächlichen Umstände und Notwendigkeiten. So kann an dieser Stelle der Rückschluss gezogen werden, dass erst Plünderungen und Vergewaltigungen ein solches Regelwerk notwendig erschienen ließen. Ausgangspunkt all dieser strategischen Überlegungen ist die Ungleichheit der beiden Kriegsparteien. Der Gegner ist stark, man selbst ist schwach. Der Krieg wäre mit konventionellen Mitteln, dem regulären Gefecht oder der Schlacht nicht zu gewinnen. Mao Tse Tung baut seine Argumentation in Form einer Kausalkette auf. Mittel in dieser Kette von Guerilla-, Volks- und Bewegungskrieg ist der freiwillig motivierte Kämpfer – der Partisan oder Guerillero
2.2 Der Partisan Der Guerilla-Kämpfer ist für Mao Tse Tung ein genuin ungeschulter Kämpfer, der aus bestimmten Motivlagen den gleichen Feind bekämpft wie die Rote Armee, der reguläre Truppenverband. Allerdings kann auch die reguläre Truppe am Partisanenkrieg partizipieren. Im Gegensatz zu regulären Truppen, welche auf einen reinen Befehl hin marschieren und kämpfen, kämpft der Partisan oder Guerilla-Kämpfer jedoch aus Gründen politischer Überzeugung. Die militärischen Strukturen von Befehl und Gehorsam, die auch im Guerillakrieg Bestand haben, werden folglich zu sekundären Ordnungssystemen degradiert. Wenn allerdings Befehl und Gehorsam die ursprünglich „politisch motivierte Freiwilligkeit des 18 19
Snow, Edgar, Roter Stern über China, Erice, 1974, S. 214. Vgl. hierzu Schrupp, Die Partisanentheorie Mao Tse-tungs, aaO. (FN 14), S. 100.
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Kampfes“20 dominiert, wird der Partisan zum regulären Soldaten. Auf der anderen Seite bedeutet der Verlust sämtlicher militärischer Regeln das Abgleiten in die reine Kriminalität.21 Als Beispiel sei an dieser Stelle auf den Leuchtenden Pfad22 in Peru oder kolumbianische Guerillaorganisationen wie etwa die FARC verwiesen. Ursprünglich dienten der Anbau und das Raffinieren von Koka, bzw. Kokain nur zur Finanzierung eines revolutionären Zieles. Doch wurde er über die Jahre hinweg zum eigentlichen Zweck.23 Die politische Motivation wich so einem per se rein wirtschaftlich-finanziellen Interesse. Der Partisan oder Guerillero verfügt über einen „chamäleonhaften Charakter“24. Er kann so sowohl die Gestaltungsform normaler Militärs (Regularität) annehmen oder aber sich in dem Terroristen (Irregularität) annähern, der in völliger Klandestinität lebt. Je stärker eine Guerillabewegung ist, desto eher wird der Kämpfer sich der Regularität angleichen. Das Tragen von Uniformen, die Akzeptanz und die Einhaltung des Kriegsrechtes vor und nach Kampfhandlungen können hierfür klare Indizien sein. Ist die Position der Guerillaorganisation hingegen geschwächt, nehmen die Kämpfer die Gestalt von Terroristen an, die Attentate und Sabotageakte verüben, welche keines Falls mit Kriegs- und Völkerrecht vereinbar sind. Hierin liegt die Stärke des Guerilleros begründet. Die große Flexibilität – dank der politischen Überzeugung – ermöglicht sowohl den offenen Kampf im Felde als auch den Kampf im Untergrund. Im Vergleich zu den beiden idealtypisch fassbaren bzw. definierbaren Termini Terrorist und Soldat lässt sich der Guerillakämpfer also wissenschaftlich nicht exakt bestimmen. Er bewegt sich ebenso wie im Gelände frei auf der Skala des Gegensatzes zwischen Regularität und Irregularität. Vielmehr jedoch beschreibt Mao ihn als transitorische Figur. Die im Feld möglichen Formen der Konfliktaustragung markieren also einen Übergang vom Terroristen zum Soldaten (in Maos idealtypischen drei Stufen des protracted war) oder aber umgekehrt vom Soldaten zum Terroristen.25 Für Mao Tse Tung besteht das Ziel also darin, aus den Partisanen reguläre Truppen zu gewinnen. In der Phase der strategischen Defensive werden die Kräfte des Widerstandes erprobt, die Phase des strategischen Gleichgewichts zwischen Guerilla und Feind dient zur Vorbereitung auf die strategische Offensive, die indes mit regulären Truppen in einem regulären Kampf geführt wird. Der endgültige Sieg ist nur möglich, wenn aus den Partisanen reguläre Soldaten geworden sind. Für Mao wird der Guerillakrieg dann zum Bewegungskrieg, der neben der Transformation der Kämpfer auch die breite Unterstützung der Bevölkerung bedarf.26 Dieser transitorische Charakter des Krieges und der Kämpfer findet sich später auch bei Ernesto Che Guevara wieder.27 Für Terroristen dient dieser Übergangscharakter als eine zusätzliche ideologische Legitimation. So bleibt jederzeit die Rechtfertigung sich in einem Prozess der Transformation zu befinden. Andererseits ist auch ein Rückschritt des Guerillakämpfers zum Terroristen 20
Münkler, Herfried, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Der Partisan. Theorie, Strategie und Gestalt, Opladen 1990, S. 9. Ebd. Siehe dazu den Beitrag von Alexandra Bürger in diesem Band. 23 Vgl. Hofmann, Aletta/Nerb, Tobias, Kolumbien zwischen Guerillakrieg, Drogenkartellen und Reststaatlichkeit, in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.), Wenn Staaten scheitern. Theorie und Empirie eines Staatszerfalls, Wiesbaden 2007, S. 109-130. 24 Münkler: Die Gestalt des Partisanen, aaO. (FN 17), S. 15. 25 Ebd., S. 16f. 26 Vgl. Tse Tung, Mao, Vom Kriege. Die kriegswissenschaftlichen Schriften. Mit einem Geleitwort von Brigadegenreal Heinz Karst, Gütersloh 1969, S. 171-177 27 Vgl. hierzu den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Band. 21 22
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wahrscheinlich und empirisch nachweisbar, wenn er in militärische Bedrängnis gerät. So verlagert er folglich seine Aktivitäten in den Untergrund und agiert mit Attentaten und Sabotage, dem Repertoire des Terroristen. Aus der Sicht Maos verfügt der Partisan darüber hinaus über keine eigene Identität. „Die Gestalt des Partisanen ist (…) eine Maske des Revolutionärs, und der Partisanenkrieg ist ein Instrument der revolutionären Veränderung“.28 Es handelt sich beim Guerillakämpfer nur um eine Erscheinungsform des Revolutionärs, beim Guerillakrieg lediglich um eine Konfliktform des großen revolutionären Ganzen. Diesem Ganzen ist alles untergeordnet. Allerdings lässt diese eindimensionale Ansicht die Möglichkeit einer Konterrevolution außer Acht. So stellt sich an dieser Stelle die Frage nach der Identität der Guerillakämpfer erneut, die Mao aber unbeantwortet ließ. Über die Rekrutierung von Kämpfern im Guerillakrieg machte sich Mao keine Gedanken, weil seiner Ansicht nach „die Partisaneneinheiten im Widerstandskrieg gewöhnlich aus dem Nichts enstehen“.29
2.3 Klassenkampf und Befreiungskrieg Maos Theorie fand in zwei völlig unterschiedlichen Kriegen Anwendung. Zum einen im Bürgerkrieg gegen die nationalistische Kuomintang unter ihrem Führer Chiang Kai-shek 1927 bis 1937 und 1945 bis 1949 sowie im Krieg gegen die japanischen Okkupanten 1937 bis 1945. Die Kuomintang, und hier liegt die Besonderheit in Maos Anwendung, war kein fremder Besatzer, „ja nicht einmal die Armee eines Diktators, sondern eine nationale Partei mit demokratischen Ursprüngen, die ihre Wurzeln mindestens ebenso im chinesischen Volk hatte wie die Kommunistische Partei, die zu Anfang viel stärker von westlichen Einflüssen geprägt war“30. Der Akzeptanz der Bevölkerung gelang durch die Enteignung der Großgrundbesitzer oder reicheren Bauern. So waren die ersten Unterstützer der Bewegung Maos meist einfache Bauern die sich eine Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Situation versprachen. Chinesische Tradition wurde oftmals missachtet, was sich z.B. im Abschneiden der traditionellen Zöpfe manifestierte. Der Klassenkampf wurde nur für den Kampf gegen den nationalen Feind Japan unterbrochen und eine Einheitsfront gegen einen langen Widerstands Tschiang Kai-sheks eingerichtet. Im einzigen Zeitabschnitt, in dem die Rote Armee als reguläre Armee, als 8. RouteArmee, fungierte, operierte sie im feindlichen Hinterland und setzte ihr – auf dem Langen Marsch – erworbenes Know-How in der Guerillakriegsführung um. Zu dieser Kooperation gab es eine Reihe gegenseitiger Zugeständnisse. So verzichtete die Rote Armee während der Einheitsfront auf die Enteignung von Grundbesitzern. Im Gegenzug durfte die Rote Armee als eigenständige Organisationsform weiterhin bestehen, die KPCh an der Regierung mitwirken und die Begnadigung aller politischen Gefangenen erwirken.31 Im nationalen Krieg war der Gegner Japan in Maos Augen die Ausgeburt des Imperialismus und der Befreiungskrieg so eine Fortsetzung des Klassenkampfes, obwohl er zwischen zwei Staaten und zwei regulären Armeen gefochten wurde. 28
Münkler, Die Gestalt des Partisanen, aaO. (FN 17) , S. 17. Tse Tung, Mao, Ausgewählte Werke, Bd. II, Peking et al., S. 87. Schrupp, Die Partisanentheorie Mao Tse-tungs, aaO. (FN 14) , S. 101. 31 Ebd., S. 102. 29 30
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Tobias Nerb Wirkungsgeschichte und Rezeption durch sozialrevolutionäre Terroristen
Eine historische oder politische Beurteilung Maos gestaltet sich indes schwierig. Die Erlangung der chinesischen Unabhängigkeit gehört sicherlich zu den Verdiensten Mao Tse Tungs. Innenpolitisch kamen durch seine zahlreichen Kampagnen, die in erster Linie der Festigung seiner Macht dienten und verhindern sollten, das sich erneut bürgerliche Strukturen bildeten, Millionen Menschen ums Leben. Wenngleich Mao Tse Tung in seinen kriegstheoretischen Schriften stets betonte, dass der Bewegungskrieg und nicht der Partisanenkrieg die herausragende Rolle in der Kriegsführung einnehmen, so bleibt doch das eingangs beschriebene transitorische Moment, bildete doch der Partisanenkrieg die Grundlage für die Herausbildung der regulären kommunistischen Armee Chinas. Darüber hinaus schafft der Partisanenkrieg erst die Bedingungen, indem der Feind geschwächt und Zeit gewonnen wird, unter denen eine reguläre Armee rekrutiert und eingesetzt werden kann: Von allen Formen der Kriegsführung im Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression steht an erster Stelle der Bewegungskrieg und an zweiter Stelle der Partisanenkrieg. (…) Aber das bedeutet keineswegs, dass im Widerstandskrieg die strategische Rolle des Partisanenkrieges unbedeutend wäre. Die strategische Bedeutung des Partisanenkrieges steht in diesem Krieg, wenn man ihn als Ganzes nimmt, nur sehr wenig hinter der Bedeutung des Bewegungskrieges zurück, da es ohne die Unterstützung des Partisanenkrieges unmöglich ist, den Feind zu bezwingen.32
Die Wissenschaft hingegen hält die gesamte Rote Armee für eine Partisanenarmee. So sollen 1944 über sieben Millionen Menschen hinter den japanischen Linien militärisch organisiert worden sein – die größte Guerillaorganisation der Weltgeschichte.33 „Auf kongeniale Weise war es Mao gelungen, das tellurisch-nationale Element der Heimatverteidigung mit der Idee des internationalen Klassenkampfes zu einem Instrument zu verschweißen, mittels dessen er in einem langwierigen Kampf die moderne chinesische Nation zu konstituieren vermochte“.34 Die tatsächlichen positiven politischen Leistungen des großen Vorsitzenden fallen folglich in die Zeit der Machtübernahme während des Bürgerkriegs und nach der japanischen Besatzung. Das ideologische Wirken Maos – und an erster Stelle seiner Guerillatheorie ist indes umso nachhaltiger.35 Seine politische Bewegung und politische Theorie, die sich in einer breiten Anzahl verschiedenster Schriften manifestierte, beeinflusste verschiedene Guerilla-Bewegungen auf der ganzen Welt – unter anderem den Sendero Luminoso in Peru36, die Rote Khmer in Kambodscha und die Naxaliten in Indien. Die Drei Stufen des lang andauernden Krieges wurden Vorbild für fokistische Guerilliatheorien. Die Flexibilität von Guerillakämpfern, sich zwischen Terrorismus und regulärem Kampf zu bewegen lässt sich auch heute bei vielen Guerillaorganisationen beobachten und erschwert deren Bekämp32
Tse Tung, Mao, Ausgewählte Werke, aaO., Bd. II, S. 203. Snow, Edgar, Roter Stern über China, aaO. (FN 18), S. 526. 34 Ronneberger, Joachim Klaus, Der Partisan im terroristischen Zeitalter. Vom gehegten Kriegsraum zum reinen Krieg. Carl Schmitt und Paul Virilio im Vergleich, in: Münkler (Hrsg.), Der Partisan, aaO. (FN 20), S. 91. 35 In der Volksrepublik China wurde Maos Wirken von seinen Nachfolgern offiziell nach der sog. Deng-Formel beurteilt. Ergebnis war, dass 70% seines Handelns für China positiv und lediglich 30% nachteilig gewesen waren. Noch heute ist Mao in China, das sich einer Aufarbeitung der Diktatur verweigert, eine Mischung aus patriotischem Heiligen und sozialistischer Vaterfigur. 36 Siehe hierzu den Beitrag von Alexandra Bürger in diesem Band. 33
Angewandte Guerillatheorie: Mao Tse Tung
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fung nachhaltig. Das ideologische Moment des Klassenkampfes und des Übergangs hin zur endgültigen kommunistischen Revolution, die letztlich der Friedenssicherung dient, ist hingegen in den Hintergrund gerückt, wenngleich die Mao-Bibel, das „Rote Buch“, noch heute als Quelle ideologischer Inspiration zu dienen scheint. Schließlich beinhaltet sie den für avantgardistisch-sozialrevolutionäre Organisationen legitimierenden Grundsatz, dass die politische Macht stets den Gewehrläufen entspringt.
Die Theorie der Revolutionsherde: Befreiung der Dritten Welt oder Wegbereiter des Terrorismus? Stephanie Rübenach
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Avantgardisten der anti-imperialen Revolution unter sich? Im November 1969 (…) beschlossen [Andreas Baader und Gudrun Ensslin], mit [Thorwald] Proll erst einmal unterzutauchen. (…) Wochenlang lebten sie in der Pariser Wohnung des französischen Schriftstellers und Revolutionstheoretikers Regis Debray, Kampfgenosse Che Guevaras. 1967 war Debray in Bolivien gefangengenommen und zu 30 Jahren Haft verurteilt worden. 1970 wurde der Sohn einer einflußreichen französischen Familie freigelassen.1
Diese nicht unumstrittene Anekdote könnte schlicht der Ausdruck globaler Solidarität zwischen antistaatlichen, systemkritischen und sozialistisch-orientierten Kräften in den späten 60er Jahren sein. Gleichermaßen ist diese geschichtliche Gegebenheit allerdings symbolischer Ausdruck für die verbreitete Idee, dass Terrorismus, oder vielmehr politisch motivierte Gewalt, kein isolierter, statischer Punkt in der Geschichte ist, sondern sich in eine Vielzahl politischer, geschichtlicher und sozialer Prozesse einbettet. In diesem Sinne kann man auch dem Thema des sozialrevolutionären Terrorismus nur gerecht werden, wenn man dessen theoretische Fundamente, zu denen auch Debray gehört, zurückverfolgt. Obiges Zitat beschreibt die Begegnung zwischen den späteren sozialrevolutionären und elitären RAF-Terroristen und einem ebenso sozialrevolutionär geprägten Guerillero und Theoretiker der (genauso elitären) Fokustheorie. Die Theorie des foco (span.), was soviel wie ‚Keimzelle’, ‚Brennpunkt’ oder im Kontext ‚Revolutionsherd’ bedeutet, stellt eine Weiterentwicklung der klassischen maoistischen Guerillastrategie dar. Sie geht davon aus, dass eine kleine Guerillagruppierung, der elitäre foco, den Anstoß zu einem revolutionären Volkskampf gibt. Die Entwicklung dieser Theorie findet sich in den Schriften Ernesto Guevaras in der Folge der kubanischen Revolution und in einigen Werken von Castros französischem Chefideologen Régis Debray (besonders Revolution in der Revolution?). An dieser Theorie und ihren Schöpfern orientiert sich diese Arbeit.2 Weshalb ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Fokustheorie in einem Band über sozialrevolutionären Terrorismus gerechtfertigt? Zum einen reiht sich die Fokustheorie zur Befreiung Lateinamerikas selbst ein in den Diskurs zur Befreiung der Dritten Welt von imperialer oder neo-imperialer Herrschaft durch oder mit Hilfe des Guerillakampfes. Dieser begann in seiner heutigen Form mit den asiatischen Vertretern Mao oder Giap und wurde
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Aust, Stefan, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 2005, S. 97. Spätere Werke Debrays beispielsweise, in denen er seine früheren Thesen widerruft, werden daher nicht berücksichtigt.
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beispielsweise für Afrika von Fanon mit dessen Hauptwerk Die Verdammten dieser Erde3 adaptiert4. Es war jedoch auch dieser Diskurs, dessen sich sozialrevolutionäre Terroristen bedienten, sei es als ideologische Basis oder Rechtfertigung. Die Analyse der Fokustheorie kann zum Verständnis beitragen, weshalb sozialrevolutionäre Terroristen sich so häufig zu Befreier und Mandatsträgern der Dritten Welt und zur Avantgarde des Volkes stilisierten.
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Kontext: Reaktion auf und Dialog mit Revolutions- und Guerillatheorie
2.1 Basis: Maos Guerillakampf und die Erben der marxistischen Revolution Da anti-staatliche politische Gewalt bereits einleitend dezidiert als Prozess definiert wurde, der auf politische, soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten reagiert, verlangt eine ausgewogene Analyse der Fokustheorie als Theorie des Guerillakampfes und als Revolutionskonzept ebenfalls eine Einordnung in den theoretischen Kontext. Wie etwa die Philosophie keine isolierten Standpunkte als vielmehr eine Jahrhunderte lange Diskussion darstellt, sind auch die Theorien politischer Gewalt nur um den Preis inhaltlicher Verluste voneinander zu trennen. Die Fokustheorie muss zu diesem Zwecke sowohl in ihrer Eigenschaft als Theorie des Guerillakampfes und als Revolutionskonzept definiert werden, da sich der foco als Keimzelle der Revolution in einer Gruppe guerrilleros manifestiert. Es liegt daher nahe, Parallelen zu Maos5 Schriften zu ziehen, dessen Werke den Guerillakampf als vielleicht wichtigste Taktik der Revolution darstellen, wie beispielsweise Strategie des chinesischen revolutionären Krieges6 oder Über den verlängerten Krieg7. Obwohl Guerillakampf als Taktik regulärer Kriegsführung ein bereits seit Jahrhunderten bekanntes Phänomen ist, war Mao derjenige, der den Guerillakampf theoretisierte und ihn als Massen- oder Volkskampf zu einer der wichtigsten Kampfformen der sozialistischen Revolution erhob. Er geht damit an erster Stelle davon aus, dass Guerillakampf der regulären Armee unter bestimmten Bedingungen überlegen sein kann - zu diesen Bedingungen zählt unter anderem das Überraschungsmoment und die Tatsache, dass keine Schlachten geschlagen werden sollten, die nicht gewonnen werden können.8 Im chinesischen Bürgerkrieg erschien der Guerillakampf dabei als Taktik innerhalb staatlicher Kriegsführung und als Taktik der sozialistischen Revolution unter Leitung der Kommunistischen Partei.9
3
Fanon, Frantz, Die Verdammten dieser Erde, Reinbek bei Hamburg 1969. Er zählt jedoch nicht zu den großen Guerillatheoretikern. So etwa stellvertretend für viele Caute, David, Frantz Fanon, München 1970, S. 111. 5 Siehe dazu den Beitrag von Tobias Nerb in diesem Band. 6 Zedong, Mao, Strategie des chinesischen revolutionären Krieges (Dezember 1936), in: Raddatz, Fritz J. (Hrsg.), Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt (Einleitender Essay von Sebastian Haffner), Reinbek bei Hamburg 1966. S. 35-102. 7 Zedong, Mao, Über den verlängerten Krieg (Mai 1938), in: Raddatz, Fritz J. (Hrsg.), Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt (Einleitender Essay von Sebastian Haffner), Reinbek bei Hamburg 1966. S. 133204. 8 Vgl. Zedong, Mao, Die Gegenwärtige Lage und unsere Aufgaben (25. Dezember 1947), in: Ausgewählte Werke. Band IV, Peking 1969, S. 166. 9 Vgl. Haffner, Sebastian, Der neue Krieg, in: Raddatz, Fritz J. (Hrsg.), Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt (Einleitender Essay von Sebastian Haffner), Reinbek bei Hamburg 1966,S. 10-13. 4
Die Theorie der Revolutionsherde
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Letztere organisiert alle „revolutionären Maßnahmen“, friedliche wie nicht-friedliche10, besonders jedoch die Unzufriedenheit der Masse der bäuerlich-geprägten Bevölkerung, die die Revolution tragen soll: Mit den Bauern als Fundament und Bodenreform oder Bodenverteilung als Methode konnte man über weite Gebiete die offizielle Staatsgewalt außer Kraft setzten, kleine Bauernkommunen schaffen und diese dann zu schon nicht mehr gar so kleinen wehrhaften Bauernrepubliken verschmelzen. Der Grundstock einer bewaffneten Macht fand sich in den Resten kommunistischer Truppenteile; eine organisierende und regierende „Gegenstaatsgewalt“ war mit der Kommunistischen Partei vorgegeben.11
Besonders hervorzuheben ist die Betonung des Nebeneinanders von Volk – Armee – Partei12 und der Koordination von Militärmacht und politischer, staatsbildender Macht (Kommunistische Partei) im Sinne einer revolutionären Gesamtstrategie. Entsprechend dieser Gegenseitigkeit und Überschneidung der bäuerlichen Zivilbevölkerung mit den Guerillatruppen, stützt sich der Beginn der Revolution zuerst auf die ländlichen Gebiete, um die Städte erst gegen Ende nach und nach einzunehmen.13 Hinsichtlich der Machtverhältnisse zwischen Partei und Guerillaarmee ist jedoch darauf zu verweisen, dass die Strategie der Revolution prinzipiell von der Politik vorgegeben wird, was wiederum bedeutet, dass der Guerillakampf eine Taktik innerhalb dieser Revolution einnimmt. Allerdings diente der Guerillakampf von Anfang an der bewaffneten politischen Propaganda zur Rekrutierung der Massen und war entscheidend für den Sieg: So wurde der „Partisanenkrieg auf ein strategisches Niveau gehoben“14. Es soll unterstrichen werden, dass es sich um strategisches Niveau handelt, das heißt der Guerillakampf nimmt auf die Gesamtstrategie Einfluss, bestimmt die Strategie aber nicht komplett. Es lässt sich zusammenfassen, dass sich in Maos Konzept des Guerillakampfes diejenigen Kriterien manifestieren, die gemeinhin angeführt werden, um Guerillakampf zu definieren15: Es handelt sich um einen Kampf, der sich mit der, für die und durch die Masse des Volkes (in diesem Falle die Masse der Bauern) entwickelt und zivile Opfer vermeidet. Aus diesem Grund bilden sich relativ schnell territoriale Stützpunkte heraus („Bauernrepubliken“), in denen sich die Guerillakämpfer frei bewegen können und mit der Masse des Volkes verschmelzen, die unter anderem als Nachschub-, Logistik- und Rekrutierungsbasis fungieren. Der Kampf beginnt auf dem Land, wo die Guerillaeinheit in unwägbarem Gelände für die feindlichen Truppen schlecht aufzuspüren ist und Überraschungsangriffe
10 Vgl. Redaktionen der „Renmin Ribao“ und der Zeitschrift „Hongqi“, „Die proletarische Revolution und der Revisionismus Chruschtschows. Achter Kommentar zum Offenen Brief des ZK der KPdSU (31. März 1964)”, in: Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung, Berlin 1971, S. 442. 11 Ebd., S. 10. 12 Vgl. Zedong, Mao, Die Bewegung zur Pachtherabsetzung, zur Produktionssteigerung und zur Unterstützung der Regierung und Sorge für das Volk in den Stützpunktgebieten entfalten (1. Oktober 1943), in: Ausgewählte Werke. Band III, Peking 1969, S. 156. 13 Vgl. Zedong, Die gegenwärtige Lage und unsere Aufgaben, aaO. (FN 8), S. 165. 14 Schröder, Hartmut, Der Staseologie-Komplex und seine Genese in der politischen Theorie Ernesto Guevaras. Ihr Standort in der dichotomen Struktur des heutigen Weltkommunismus, Kiel 1974, S. 462. 15 Siehe dazu etwa Münkler, Herfried, Guerillakrieg und Terrorismus, in: Neue Politische Literatur, 3/1980, S. 299-326; Waldmann, Peter, Terrorismus und Guerilla: Ein Vergleich organisierter antistaatlicher Gewalt in Europa und Lateinamerika, in: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie (E&D), Bonn 1993, S. 69-103.
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schlagen kann. Der Guerillakampf verfolgt, wie Waldmann festhält, einen militärischen Zweck16 und hat im besten Fall die Chance auf eine Machtübernahme.17 Auch in anderer Hinsicht muss Mao als eine der Hauptgrundlagen gelten, auf derer Guevara und Debray ihre Theorien über den Guerillakampf entwickelten, denn nicht umsonst trägt die Ausgabe der wichtigsten Essays Maos über Guerillatheorie von 1966 den Untertitel Strategie der Dritten Welt. So schreibt Haffner, dass die „Totalguerilla Maoscher Prägung“ überhaupt nur in den ‚unterentwickelten’ Ländern möglich ist18. Der Mao’sche Ansatz, auf dessen Grundlage auch die Theorie des foco entwickelt wurde, unterscheidet sich bereits deutlich vom Marxistischen Revolutionskonzept sowie der russischen Revolutionspraxis: Marx sieht die revolutionäre Initiative immer und ausschließlich bei der Masse des Industrieproletariats der Großstädte, deren Revolution aus einem bereits ausgereiften kapitalistischen System heraus entsteht und einen schnellen, vollständigen Umsturz anstrebt.19 Maos Bauernbewegung hingegen setzt unterhalb des kapitalistischen Systems an, von welchem sie systematisch depriviert werden20 und setzt auf die Entwicklung eines verlängerten Guerillakrieges. Um die Fokustheorie und damit die Ideen Debrays und Guevaras in den Kontext sozialistischer Revolutionsideen einordnen zu können, ist es ferner wichtig, die Frage der revolutionären Initiative zu beleuchten, sprich welche Klasse diese übernimmt und ob es eine Avantgarde gibt: So ist beispielsweise im Manifest der Kommunistischen Partei von der revolutionären Rolle der Bourgeoisie (Großbürgertum, Kapitalistenklasse) zu lesen, die sich gegen feudale Verhältnisse wendet, da dieses System nicht mit der expandierenden kapitalistischen Wirtschaft vereinbar ist. Es wird jedoch klar herausgestellt, dass sich in der postrevolutionären Stufe die Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat verschärfen. Es folgt eine zweite, sozialistische Revolution des Proletariats gegen die städtische Bourgeoisie.21 Auch Mao sieht diesen unvermeidlichen Antagonismus in „Die Millionenmassen für die antijapanischen Einheitsfront gewinnen“22. Natürlich betont er das Bündnis zwischen Bauern und Proletariat. Genauso gesteht Mao jedoch die Notwendigkeit einer vorübergehenden Kooperation des Volkes mit der Bourgeoisie ein – eine Tatsache, die ihn in die orthodox marxistische Tradition stellt. Jedoch beschleunigt seine Theorie den historischen Prozess und erwartet „das Hinüberwachsen der Revolution“23 – das heißt, es gibt einen fließenden Übergang zwischen national-bürgerlicher und sozialistischer Revolution und keine zwei getrennten Abschnitte: „Die Teilnahme der Bourgeoisie an der Revolution wegen ihres zeitweiligen Charakters abzulehnen (…) – das ist eine trotzkistische These, der wir nicht zustimmen können“.24
16
Im Gegensatz zu Terrorismus, der einen kommunikativ-symbolischen Zweck verfolgt. Vgl. Waldmann, Terrorismus und Guerilla: Ein Vergleich organisierter antistaatlicher Gewalt in Europa und Lateinamerika, aaO. (FN 15), S. 71. Genaueres zu den Kennzeichen des Guerillakampf bietet in diesem Band der Beitrag von Rübenach 18 Siehe dazu Haffner, Der neue Krieg, aaO. (FN 9), S. 28. 19 Siehe dazu Engels, Friedrich/ Marx, Karl, Manifest der kommunistischen Partei, Berlin 1946. 20 Vgl. Haffner, Der neue Krieg, aaO. (FN 9), S. 25. 21 Vgl. Engels/ Marx, Manifest der kommunistischen Partei, aaO. (FN 19), S. 3-16. 22 Vgl. Zedong, Mao, Die Millionenmassen für die antijapanische Einheitsfront gewinnen (Mai 1937), in: Ausgewählte Werke. Band I, Peking 1968, S. 335-346. 23 Ebd., S. 341. 24 Ebd., S. 342. 17
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Diese These Trotzkis ist die ‚permanente Revolution’: Die Tatsache, dass Russland gegenüber dem westlichen Europa kapitalistisch rückständig war, führte ihn zu der Überzeugung, dass es zwar Arbeiterheere in ausländisch finanzierten Fabriken gab, jedoch keine nennenswerte Bourgeoisie. Aus diesem Grund war er der Überzeugung, dass sowohl die demokratische Revolution gegen die feudalen Verhältnisse als auch die sozialistische Revolution vom Proletariat in Allianz mit der Bauernschaft25 durchgeführt werden könne.26 Auch hier findet ein ‚Hinüberwachsen’ der einen Revolution in die andere statt (die permanente Revolution)27, denn „The political domination of the proletariat is incompatible with its economic enslavement“28 (das heißt: politische Herrschaft des Proletariats, aber kapitalistische Herrschaft der Bourgeoisie). Dieses Basiswissen wird wieder aufgegriffen, um die Art der Revolution richtig einordnen zu können, die die Fokustheorie propagiert.
2.2 Reaktion: Die Grundzüge des lateinamerikanischen foquismo 2.2.1 Guerillakrieg: Rolle des foco im Volkskrieg Die wohl bekannteste Erwähnung des foco ist in Guevaras drei Lehren der kubanischen Revolution für die Technik der revolutionären Bewegung in Lateinamerika zu finden29: „Nicht immer muß man warten bis alle Bedingungen für die Revolution gegeben sind; der aufständische Brennpunkt kann sie schaffen.“30 Der foco als Brennpunkt ist in diesem Sinne wörtlich als ein ‚Herd’ zu sehen, in dem einige wenige überzeugte Guerilleros die Bedingungen der Revolution schaffen und von dem aus sie sich später (und hierauf liegt die Betonung) ausbreitet. Man beachte, dass Guevara in „Guerillakrieg – Eine Methode“ darauf hinweist, dass der foco nur durch die Unterstützung der Massen, die er sich nach und nach erarbeitet, überlebensfähig ist – eine Idee die selbstverständlich von Mao übernommen ist, im Zusammenhang mit der Fokustheorie jedoch, wie sich zeigen wird, durchaus paradox ist. Genauso geht Guevara von der bäuerlichen Masse als Basis der Revolution aus, die jedoch sowohl der Führung der Arbeiterschaft als auch der revolutionären Intellektuellen bedarf31 – kein Wort fällt hier über die Organisation letzterer Gruppen in einer Partei32, wie Mao es unbedingt fordert. Mit der Zeit wurde Guevara, was den Kampf in ländlichen Gegenden gegen25
Vgl. Trotzki, Leo, The Permanent Revolution, in: The Permanent Revolution and Results and Prospects, New York 1965, S. 152-153. 26 Vgl. Revolution in Permanenz. Eine Einführung in Trotzkis Theorie der “Permanenten Revolution“, in: Morgenrot 40/Februar 2006, Onlineausgabe: www.sozialismus.net/zeitung/mr40/permanente-revolution.html. 27 Vgl. Trotzki, The Permanent Revolution, aaO. (FN 25), S. 154. Siehe dazu auch den Beitrag von Ilona Steiler in diesem Band. 28 Trotzki, Leo, Results and Prospects, in: The Permanent Revolution and Results and Prospects, New York 1965, S. 233. 29 Vgl. Guevara, Ernesto, Guerillakrieg – eine Methode (September 1963), in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Guerillakampf und Befreiungsbewegung. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band 1, Bonn 20034, S. 25-26. 30 Ebd., S. 25. 31 Die Vorstellung einer derartigen Avantgarde ist durchaus nicht neu. Sie findet sich ähnlich auch bereits bei Lenin, der die Bedeutung der Fühurung der Arbeiterschaft durch die Intellektuellen betont. Vgl. Lenin, Vladimir Ilij, What is to be done?, Moskau 1947, S. 31. „The conscious effort of those who understand Marxism and are organized for this task“. Siehe dazu Woddis, Jack, New Theories of Revolution. A Commentary on the View of Frantz Fanon, Régis Debray and Herbert Marcuse, London 1972, S. 21. 32 Vgl. ebd., 27.
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über den Städten betrifft, radikaler: Sprach er in „Der Guerillakrieg“ noch davon, der Krieg müsse je nach dem Entwicklungsstand des Landes ‚hauptsächlich’ in landwirtschaftlichen Gebieten geführt werden33, so ist es in „Guerillakrieg – Eine Methode“ ‚grundsätzlich’ das ländliche Gebiet.34 Dass die Natur des foco eher militärischer Art und nicht die der Politik oder der ParteiPolitik ist, wird mehr als einmal deutlich, wenn Guevara darauf hinweist, man „dürfe[n] die Gewalt nicht fürchten, die Hebamme der neuen Gesellschaften; nur dass die Gewalt genau in dem Moment entfesselt werden muß, in dem die Führer des Volkes die günstigsten Umstände ausfindig gemacht haben.“35 Bis es zu diesem Moment kommt, ist es in der ersten, noch sehr schwachen Guerilla-Phase für den foco üblich, sich in unerschlossenes Hinterland zurückzuziehen, um sich dort unter dauernder Beweglichkeit, dauernder Wachsamkeit und dauerndem Argwohn vorzubereiten. Guevara betont, man wolle sich hierbei bereits im Gelände festsetzen und erste Kontakte zur Bevölkerung knüpfen, um die überlebenswichtige Unterstützung zu gewinnen.36 Um die grundsätzliche Paradoxie dieser Situation zu erfassen, muss man sich bewusst machen, dass gerade die drei genannten Überlebensbedingungen nicht ideal sind, um Integrationspotential zu entfalten, besonders wenn die Bedingungen der Revolution noch nicht gegeben sind: „Die Guerilleros dürfen sich nie absolut auf die Loyalität der Bauern verlassen“37 und „Ihre Verbindungen zur Landbevölkerung sind auf ein Minimum begrenzt“38. Aus diesem Grunde ist die erste Phase der vom foco zu initiierenden Revolution eher eine Phase der Isolation. Debray unterstreicht dies, indem er herausarbeitet, dass die bewaffnete Propaganda der militärischen Aktion nachfolgt und ihr nicht vorausgeht.39 Hierfür spricht, einfach gesagt, auch die Tatsache, dass es keines foco bedürfte, gäbe es bereits eine revolutionäre Initiative der Massen. Somit sieht sich der foco zugleich als Avantgarde und Elite. Damit nimmt er die Position ein, die in der marxistischen Tradition sonst der kommunistischen Partei zusteht. Die Isolation des foco verabsolutiert diesen Anspruch auf ‚Führerschaft’ in der ersten Phase des Kampfes durch den fehlenden Austausch mit der Volksmasse. Theoretisch glaubt Guevara jedoch, im Folgenden die Unterstützung der bäuerlichen Massen zu erlangen (bereits durch die erste erfolgreiche Operation40), einen Volkskrieg führen zu können, um letztlich den Schritt hin zu einer regulären Armee zu vollziehen, wie
33
Vgl. Guevera, Ernesto, Der Guerillakrieg (April 1960), in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Guerillakampf und Befreiungsbewegung. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band 1, Bonn 20034, S. 54. 34 Vgl. Guevara, Guerillakrieg – eine Methode, aaO. (FN 29), S. 26. Jedoch gibt es in Bezug auf diese Thematik nennenswerte Unterschiede zwischen Guevara und Debray, nachzulesen bei Schröder, Der Staseologie-Komplex, aaO. (FN 14), S. 231-232. 35 Ebd., S. 32. 36 Vgl. ebd., S. 41. 37 Guevara, Der Guerillakrieg, aaO. (FN 33), S. 128. 38 Ebd., S. 136. 39 Vgl. Berner, Wolfgang, Der Evangelist des Castroismus-Guevarismus. Régis Debray und seine GuerillaDoktrin. Wieso „Revolution in der Revolution?“, Köln 1969, S. 39; vgl. Debray, Régis, Revolution in der Revolution?, München 1967, S. 48-61. Quartim schreibt zu diesem Problem, dass es für Debray kaum wichtig sei “was man den Massen sagt, wenn man es nur mit dem Gewehr in der Hand tut.“ Diese Einstellung nennt er „Propaganda der Waffen“ im Gegensatz zur „bewaffneten Propaganda“, die der Bevölkerung in der klassischen Guerillatheorie einen theoretischen Mehrwert vermittelt (Quartim, João, „Debray und die brasilianische Revolution”, in: Focus und Freiraum: Debray, Brasilien, Linke in den Metropolen, Berlin 1970, S.89). 40 Vgl. Guevara, Der Guerillakrieg, aaO. (FN 33), S. 136.
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dies auch bei Mao zu lesen ist: „Der Sieg wird stets das Ergebnis der Operationen einer regulären Armee sein, wenngleich sie im Kampf der Guerillaarmee geboren wird.“41 Kurzum, die erste Phase des Guerillakrieges ist eine Phase der Schwäche: Der foco besitzt keine Unterstützung, wenig Ausrüstung und kann sich auf kein eigenes Territorium oder logistisches Netz stützen. Folglich können sie noch nicht kämpfen, da es, wie auch bei Mao zu lesen ist, unklug ist, Kämpfe zu führen, die man nicht gewinnen kann.42 Demnach wird hauptsächlich marschiert, wobei Land und Leute ins Visier genommen werden. Trotz dieser Tatsache, der fehlenden bewaffneten Propaganda und äußerstem ‚Misstrauen’ geht Guevara davon aus, bereits in der Bevölkerung Fuß fassen und territoriale Stützpunkte herausbilden zu können – also klassische Kriterien des Guerillakampfes erfüllen zu können: Dieser Moment wird erreicht, wenn man die Schwierigkeiten taktischer und politischer Natur gleichzeitig überwunden hat. Die Guerilla darf niemals ihre Funktion als Avantgarde des Volkes (…) vergessen und muß deshalb die notwendigen politischen Voraussetzungen schaffen für die Errichtung der revolutionären Macht.43
Drei Dinge lassen sich aus dieser Aussage herauslesen: Erstens bleibt Guevara die Antwort schuldig, wie genau die Schwierigkeiten taktischer und politischer Natur zu überwinden sind, das heißt die Unterstützung oder das Wohlwollen des Volkes zu gewinnen sind. Der Übergang von foco zu Volkskampf bleibt unklar. Zweitens ist der foco offensichtlich auch tatsächlich das Zentrum der politischen Arbeit und nicht eine separate politische Organisation. Drittens lässt gerade diese Aussage daran zweifeln, ob der Übergang von foco zu Volkskampf überhaupt stattfindet, denn zu erwähntem Zeitpunkt – dies ist bereits die Phase des Volkskampfes – sollte die Guerilla keine Avantgarde mehr darstellen; vielmehr sollten Guerilla und Volk untrennbar verzahnt sein, wie dies bei Mao der Fall war.44 Eventuell lässt sich diese Tatsache aus dem Fehlen eines politischen Rückgrats in Form einer Partei als Stratege des Kampfes erklären, deren Führungsrolle der foco ersetzen muss und sich damit gleichzeitig von der Masse absetzen und in ihr aufgehen muss. Das ist natürlich paradox und erhöht die Wahrscheinlichkeit der Volksnähe nicht. Aus diesen Fakten über die Rolle des foco in der ersten Phase des Guerillakampfes, besonders der äußersten Beweglichkeit und der fehlenden Unterstützung, lässt sich folgern, dass eines der wichtigsten maoistischen Kriterien des Guerillakampfes45, nämlich die Errichtung territorialer Basen inklusive der Unterstützung oder Toleranz der ansässigen Bevölkerung46, in der Fokustheorie erst einmal hintangestellt wird:
41
Guevara, Der Guerillakrieg, aaO. (FN 33), S. 62. Vgl. Guevara, Guerillakrieg – Eine Methode, aaO. (FN 29), S. 42. 43 Ebd., S. 43. 44 Diese Verzahnung bewahrt die Kämpfer normalerweise vor Enttarnung. Die Fokustheorie setzt stattdessen auf Beweglichkeit. 45 Vgl. Waldmann, Terrorismus und Guerilla: Ein Vergleich organisierter antistaatlicher Gewalt in Europa und Lateinamerika, aaO. (FN 15), S. 71; S. 74-75. 46 Zwar ist dies nicht ausreichend, um eine Guerillaeinheit von Terroristen zu unterscheiden, da beispielsweise in Nordirland die PIRA ebenfalls über Zonen verfügte, in denen sie sich frei bewegen konnten (Free Derry), dennoch gilt es als eines derjenigen Merkmale, die zu berücksichtigen sind, wenn man anti-staatliche Gewalt klassifiziert. 42
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Stephanie Rübenach Eine feste Basis zu beziehen oder sich auf eine Sicherheitszone stützen zu wollen (…) bedeutet, sich seiner, wie es scheint, besten Waffe zu berauben, der Beweglichkeit sich in eine Kampfzone einschließen zu lassen und dem Feind den Gebrauch seiner besten Waffen zu ermöglichen. Der Tribut für die zum Fetisch gemachte Sicherheitszone ist das unbewegliche Lager.47
Die Frage, wie Versorgung und Nachschub in dieser ersten Phase geregelt werden sollen, wird unzulänglich beleuchtet – meistens beruft man sich auf den (kaum ausreichenden) Rucksack der Guerilleros. So muss man bei Zeiten auf städtische Versorgung zurückgreifen, obwohl der Aufbau einer städtischen Organisation vernachlässigt oder zurückgewiesen wird.48 Dass die Unterstützung der Massen in der ersten Phase des Guerillakrieges noch mangelhaft ist und bleibt, liegt an den oftmals noch nicht vorhandenen Bedingungen für die Revolution. Der foco glaubt, als Avantgarde diese Bedingungen, sowohl die objektiven als auch die subjektiven, schaffen zu können, um damit für die bäuerlichen Massen den Weg zu einer Revolution zu ebnen, deren Notwendigkeit sie im Laufe dieses Prozesses erkennen werden. Die fehlenden Bedingungen können jedoch nur geschaffen werden, wenn im Folgenden „den Volksmassen die Ursachen und Ziele der Revolution beharrlich immer wieder dargelegt und erläutert werden“49. Dies geschieht durch den foco, der ja auch politisches Zentrum ist. Was genau ist unter diesen Bedingungen, objektiv wie subjektiv, zu verstehen? Ramm legt dar, dass die objektiven Bedingungen der Revolution diejenigen seien, die nicht von einer revolutionären Organisation beeinflusst werden können und zu einer revolutionären Situation führen50 („prozesshafte Vorbedingungen“51), wie etwa ein revolutionärer Aufstand der Bevölkerung52. Es fällt ins Auge, dass ein Widerspruch besteht zwischen dem Anspruch, der foco könne die Bedingungen der Revolution schaffen und der Definition, dass die objektiven Bedingungen unabhängig sind von jeglicher revolutionären Organisation. Guevara jedoch erklärt die objektiven Gegebenheiten in Lateinamerika einfach für günstig53 und bemerkt, dass "All that was necessary was willing and determined combatants – the subjective condition.“54 Wie auch Debray hält Guevara außerdem wenig von spontanen Aufständen.55 Debray betont, man dürfe den foco nicht verstehen als „spontane[n], ansteckungsartige[n] Ausbreitung der Rebellion von ihrem Ausgangsort auf die benachbarten Zonen“ und sie nicht verwechseln mit „einem politischen Agitationszentrum“56.
47
Vgl. Debray, Régis, Revolution in der Revolution?, München 1967, S. 65-66. Vgl. Ramm, Hartmut, The Marxism of Régis Debray, Kansas 1978, S. 79-80. 49 Ebd., S. 66. 50 Vgl. Ramm, The Marxism of Régis Debray, aaO. (FN 48), S. 20. 51 Weiß, Ulrich, Revolution/ Revolutionstheorien, in: Nohlen, Dieter/ Schultze, Rainer-Olaf (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft. Band 2. N-Z. München 2004², S. 835. 52 Vgl. Lenin, Vladimir Ilij, Marxism and Insurrection, in: Collected Works.Band 26, Moskau 1972, S. 22-23. 53 Vgl. Guevara, Guerillakrieg – eine Methode, aaO. (FN 29), S. 32. 54 Ramm, The Marxism of Régis Debray, aaO. (FN 48), S. 22. Nach Weiß handelt es sich beim subjektiven Faktor um „revolutionäres Handeln“ (Weiß, Revolution, aaO. (FN 51). 55 Vgl. Debray, Revolution in der Revolution?, aaO. (FN 47), S. 25-47 sowie Ramm, The Marxism of Régis Debray, aaO. (FN 48), S. 72-75. 56 Berner, Der Evangelist ..., aaO. (FN 39), S. 39. 48
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Letztlich spricht er dem foco die Rolle zu, individuelle Unzufriedenheit zu organisieren57, aber ausdrücklich in militärischem Rahmen: „political conditions could be created by military means“58. Hieraus erklärt sich die Überflüssigkeit einer Kommunistischen Partei: Die militärischen Mittel sind allen anderen übergeordnet und politische Funktionen gehen in den militärischen auf. Daher rührt auch das Misstrauen in die Stadt – Sitz der Parteien und Großbürger – als Aktionsraum.
2.2.2 Abwandelung der Revolutionstheorien Nach den bisherigen Erkenntnissen ist die Fokustheorie, besonders bei Guevara, eine Theorie des praktischen Guerillakampfes. Der theoretische Mehrwert eines ausgefeilten Revolutionskonzeptes fehlt. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sowohl Guevaras Werke als auch besonders Revolution in der Revolution? den Anspruch erheben, den foco als Beginn einer Revolution zu installieren und sich entsprechend auch auf die Schriften sozialistischer Revolutionstheoretiker beziehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, welche Position in der Frage, welche Klasse der Hauptträger und Initiator der Revolution ist, eingenommen wird. Guevara antwortet mit unverhohlenem Zweifel in Bezug auf eine revolutionäre Initiative der Bourgeoisie.59 Guevara spricht der Bourgeoisie vielfach jegliches revolutionäre Potential ab, welches traditionell eine Grundlage der ersten national-demokratischen Phase der Revolution bildet: Unter den gegenwärtigen historischen Bedingungen Lateinamerikas kann die nationale Bourgeoisie den antifeudalen und antiimperialistischen Kampf nicht anführen. Die Erfahrung zeigt, dass in unseren Nationen diese Klasse, auch wenn ihre Interessen zu denen des YankeeImperialismus im Widerspruch stehen, unfähig gewesen ist, jenem die Stirn zu bieten, paralysiert durch die Angst vor der sozialen Revolution und erschreckt durch die Stimme der ausgebeuteten Masse.60
Er schreibt jedoch auch, dass die Bourgeoisie sich nicht automatisch der Seite der ‚Imperialisten’ zuwendet – er gesteht ihnen zu, sich auch für den ‚Volkskrieg’ entscheiden zu können.61 In „Taktik und Strategie der lateinamerikanischen Revolution“ jedoch unterstellt er der nationalen Bourgeoisie schlichtweg Kollaboration mit den imperialen Mächten zur Steigerung des Gewinns aus der Industrialisierung.62 Da die Bourgeoisie als wahrscheinlicher Gegner gesehen wird und das Industrieproletariat über deutlich weniger revolutionäres
57
Vgl. Ramm, The Marxism of Régis Debray, aaO. (FN 48), S. 21-22. Ramm, The Marxism of Régis Debray, aaO. (FN 48), S. 22. Debray vertrat 1966, also vor Revolution in der Revolution? noch die These, man müsse die Bourgeoisie zu großen Teilen in die antiimperialistische Front integrieren (Debray, Régis, „Castroism: The Long March in Latin America”, in: Blackburn, Robin (Hrsg.), Debray, Régis, Strategy for Revolution, London 1970, S. 72). Man beachte jedoch, dass dies nicht bedeutet, dass sie diese anführen. 60 Guevara, Guerillakrieg – Eine Methode, aaO. (FN 29), S. 27. 61 Vgl. ebd., S. 41. 62 Vgl. Guevara, Ernesto, Taktik und Strategie der lateinamerikanischen Revolution (Oktober-November 1962), in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Schriften zum Internationalismus. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band 4, Bonn 2003, S. 130. 58 59
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Potential verfügt als die bäuerliche Masse, wird die Stadt als Aktionsgebiet ausgeschlossen.63 Entsprechend der Natur des foco liegt die revolutionäre Initiative beim foco selbst und wird dann auf die bäuerlichen Massen übertragen. Es kann folglich kaum von einer Revolution in zwei Stufen gesprochen werden, und die Antwort auf die Frage, ob man dem Trotzkismus anhängt, bleiben die Fokustheoretiker schuldig. Das kubanische Vorbild ist wenig hilfreich: Hier ließ sich zwar das Hinüberwachsen der Revolution beobachten – jedoch stützte sich die Revolution anfänglich stark auf bürgerliche Kräfte (was wiederum an Mao erinnert).64 Guevara spricht zumeist von der sozialistischen Revolution, wofür auch der kontinentale Aspekt seiner Arbeiten spricht. Gleichzeitig thematisiert er jedoch Agrarreformen und die damit verbundene Zerstörung der feudalen Strukturen sowie den Kampf in einem einzelnen Land.65 Das zeugt davon, dass Trotzkijs Thesen ihn zwar stark beeinflussten, ihm aber wohl weniger ein Hinüberwachsen, sondern mehr eine gleichzeitige Beseitigung des Feudalismus und Imperialismus unter den Bedingungen der Proletarisierung vorschwebten. Die Frage ist nur, inwiefern die ihrer Natur nach militärische Gruppierung des foco, die „diesen Kampf als militärisches Stoßtruppunternehmen ohne bestimmte ideologische Perspektive begonnen hat“66, eine sozialistische Revolution glaubhaft verkörpern und durchsetzen will. Nicht gerade eine umfassende, aber zumindest eine teilweise Erklärung bietet der Umstand, dass Guevara den foco bereits proletarisiert nennt („el Ejército Rebelde ya es ideológicamente proletario y piensa en función de clase desposeída“67) und Debray hieraus folgert, dass das Leben in den Bergen und wohl auch die Isolation die Guerilleros, egal welcher Herkunft, proletarisiert, während das Leben in den Städten verbürgerlicht.68 Das impliziert, dass eine durch diesen proletarisierten foco angeleitete Revolution früher oder später nur eine sozialistische sein kann. Durch diese avantgardistische Proletarisierung und die Rolle des foco als einzig wahrer Keim der Revolution macht er sich und damit den Guerillakampf für die sozialistische Revolution unentbehrlich. Im von den lateinamerikanischen kommunistischen Parteien favorisierten Zwei-Phasen-Modell ist der Guerillakampf hingegen entbehrlich oder sogar überflüssig.69 So muss man zu dem Zwischenfazit kommen, dass innerhalb der Fokustheorie eine eigentümliche Kongruenz zwischen Guerillatheorie und Revolutionskonzeption geschaffen wird: Der foco ist und bleibt die Volksvorhut70, schafft die Bedingungen der Revolution und ersetzt die politische Rolle der Partei in der Revolution. So setzt sich der Guerillafokus bis zu einem gewissen Grad gleich mit der Revolution an sich. Diese Idee weicht vom Mao’schen Gedankengut gänzlich ab und entspräche eher der Grundlage terroristischer 63
Vgl. Berner, Der Evangelist, aaO. (FN 39), S. 44. Lowy argumentiert, dass die Logik der kubanischen Revolution „precisely that of the „permanent revolution“ (Lowy, Michael, The Marxism of Che Guevara. Philosophy, Economics, and Revolutionary Warfare, New York/London 1973, S. 81) sei. Dieser Standpunkt wird hier aufgrund der von Trotzki beschriebenen Führerschaft der Arbeiter und Bauern in der permanenten Revolution zu jeder Zeit des Kampfes angezweifelt. 65 Vgl. Guevara, Der Guerillakrieg, aaO. (FN 33), S. 59; S. 97. 66 Ebd., S. 52. 67 Guevara, Ernesto, Prólogo al libro El partido marxista-leninista, in: Guevara, Ernesto El partido marxistaleninista, Havanna 1963, Onlineversion: Centro de Estudios Miguel Enriquez, http://www.archivochile.com /America_latina/Doc_paises_al/Cuba/Escritos_del_Che/escritosdelche0058.pdf, Stand: 06.01.2008, S. 4. 68 Vgl. Berner, Der Evangelist, aaO. (FN 39), S. 44. 69 Vgl. Lowy, The Marxism of Che Guevara, aaO. (FN 64), S. 76. 70 Vgl. hierzu FN 43. 64
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Organisationen, deren Welt ebenfalls einen in sich abgeschlossenen, isolierten Mikrokosmos bildet, der sich nicht an realen Gegebenheiten orientiert und den Kampf verabsolutiert. Im Folgenden wird daher die Fokustheorie einerseits noch einmal präzise in ihrer Eigenschaft als Teilnehmer am Diskurs zur Befreiung der Dritten Welt untersucht und andererseits wird die sich abzeichnende Vorbildrolle für den Terrorismus analysiert.
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Aspekte des foco
3.1 National – Kontinental – International? Anknüpfungspunkt für die Frage, inwiefern die Fokustheorie besondere Bedeutung für die Befreiung der Dritten Welt von imperialer Einflussnahme gewann, ist die Intention einer sozialistischen Revolution. Diese wird selten auf rein nationaler Ebene gedacht, sondern (wie das gegnerische kapitalistische System) bereits übergreifend auf kontinentaler oder globaler71, da man auf das Zusammenwirken aller Volkskräfte gegen alle Repressionskräfte setzen muss, um den Sieg zu erringen.72 Nicht umsonst finden sich bei Guevara diverse Schriften zum Internationalismus, wie etwa „Wir sind die revolutionäre Hefe für ganz Lateinamerika“73. So erlangt die Fokustheorie zwei neue Ebenen: Während der foco zwar zunächst national agiert, wird er letztlich als einzig wahres Konzept für ganz Lateinamerika gesehen. Aus diesem Grund hält Lamberg als einen der Lehrsätze der Zweiten Havanna-Deklaration folgendes fest: „Der Guerillakampf ist kontinental zu führen, er überwindet nationale Grenzen. Die Guerillaherde, los focos, sind zu vervielfältigen.“74 So finden sich auch in Guevaras Bolivianischem Tagebuch immer wieder Hinweise darauf, dass die geplante bolivianische Revolution möglicherweise als Beginn einer kontinentalen Revolution gesehen wurde. So schreibt Guevara beispielsweise über Chino, dessen Ziel der Wiederaufbau der peruanischen Guerilla war, und der sich daher in den bolivianischen Guerillafoco einfindet: “He [Chino] wants $5,000 a month for 10 months, and Havana told him to discuss it with me. (…) I told him that I agreed on the basis that they would go to the mountains in six months. He planned to go to the region of Ayacucho – himself as chief, with 15 men.”75 Des Weiteren ist in diesem Werk auch explizit von der “continent-wide magnitude of the task”76 die Rede. In diesem Zusammenhang vertritt Varlin gar die These, dass das bolivianische Projekt eventuell ex origo überhaupt nicht als nationales geplant war: Die Zusammensetzung von Kubaner, Peruanern, Mitgliedern der kommunistischen Partei Boliviens und anderen Landsmännern spricht laut Varlin eher dafür, dass es sich noch nicht um 71
Vgl. Guevara, Guerillakrieg – Eine Methode, aaO. (FN 29), S. 45. Ebd., S. 39. 73 Guevara, Ernesto, Wir sind die revolutionäre Hefe für ganz Lateinamerika. Interview mit der französischen Zeitung „Express“ (Juli 1963), in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Schriften zum Internationalismus. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band 4, Bonn 2003², S. 140-145. 74 Lamberg, Robert F., Die castristische Guerilla in Lateinamerika. Theorie und Praxis eines revolutionären Modells, Hannover 1971, S. 17. 75 Guevara, Ernesto. James, Daniel (Hrsg.), The Complete Bolivian Diaries of Ché Guevara and Other Captured Documents, Eintrag vom 20. März 1967, New York 1968, S. 127. 76 Ebd., Eintrag vom 14. Februar 1967, S. 113. 72
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einen foco handelte, sondern eher um eine Gruppierung, die einen Ort für die Ausbildung künftiger foco-Führer suchte. Die Eröffnung eines Kampfes an mehreren Fronten wäre nicht so leicht niederzuschlagen gewesen wie das zum Scheitern verurteilte bolivianische Projekt.77 Folgende Aussage würde zu einem solchen Kampf an mehreren Fronten innerhalb einer kontinental ausgerichteten sozialistischen Revolution passen: Alle Länder des Kontinents sind reif für einen Kampf (…) Neue Kriegsherde werden in diesen und anderen amerikanischen Ländern erwachsen (…) bis sie [USA] sich eines Tages gezwungen sehen werden, wachsende Mengen regulärer Truppen zu entsenden, um die relative Stabilität einer Regierung zu sichern, deren nationale Marionetten-Armee angesichts der Guerillagefechte in Auflösung gerät. Das ist der Weg Vietnams; das ist der Weg, den die Völker einschlagen müssen; (…) Amerika (…) wird eine Aufgabe von viel größerer Bedeutung haben: Die Schaffung eines zweiten, dritten Vietnams oder des weltweiten zweiten und dritten Vietnams.78
Hier geht es tatsächlich um die Schaffung verschiedener Fronten, um die Kräfte der USA aufzuspalten und letztlich zu schwächen. Diese Forderung ordnet Guevara zugleich in den kontinentalen und durch Gleichsetzung mit Vietnam in den internationalen Kontext ein. Hier wird der lateinamerikanische Kampf als Element einer weltweiten Befreiungsbewegung der Dritten Welt dargestellt. Der proletarische Internationalismus war für Guevara „a supreme ideal, a secular faith, a categorical imperative.“79 So bezeichnet Lowy seine Schriften zum Internationalismus als „a world strategy against imperialism“80, eine Tatsache von der auch Guevaras Interesse an Algerien und dem Kongo zeugt. Es ist allerdings offensichtlich, dass besonders Castro und Debray dem kontinentalen Kampf dabei eine Vorreiterrolle einräumten. So wurde auf der Trikontinentalen Konferenz81 zugleich die Organización Latinoamericana de Solidaridad gegründet82, die Lateinamerika ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Hier wurden die Thesen Debrays bestätigt, die mit Revolution in der Revolution? eine Verabsolutierung der Fokustheorie darstellten, sowie die Rolle Kubas als Vorhut der lateinamerikanischen Revolution.83 Der eher kontinentale als internationale Anspruch beider Sachfelder ist evident. Der kontinentale Kampf gewann auch in demjenigen Maße an Bedeutung, in welchem das Vertrauen in einen nationalen Kampf, dessen Orientierung in Allianz mit der Bourgeoisie häufig eher demokratischer Natur war, sank. Dies lässt sich bereits im vorhergehenden Kapitel anhand der Position in Bezug auf die Rolle der Bourgeoisie herauslesen. Ramm begründet diese Entwicklung zudem aus der Geschichte heraus: In Guerilla Warfare Guevara added the proviso that a guerrilla outbreak is not feasible against a government which maintains the appearance of constitutional legality (…) But he dropped this qualification after the Latin American democracies backed Cuba’s expulsion from the Organization of American States in 1962. Henceforth Guevara extended the meaning of dictatorship to 77
Vgl. Varlin, Thomas, La mort de Che Guevara. Les problèmes du choix d’un téâtre d’opérations en Bolivie, in: Hérodote 5/1977. S. 39-81. 78 Guevara, Ernesto, Botschaft an die Völker der Welt (16. April 1967), in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Schriften zum Internationalismus. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band 4, Bonn 2003², S. 223-225. 79 Lowy, The Marxism of Che Guevara., aaO. (FN 64), S. 106. 80 Ebd., S. 107. 81 Konferenz der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas (1966 erstmals in Havanna). 82 Vgl. Lamberg, Die castristische Guerilla, aaO. (FN 74), S. 30. 83 Vgl. ebd., S. 31.
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cover all Latin American states whether autocratic or democratic, defining dictatorship as the domination, direct or indirect, of one class over another.84
Interessanterweise erschien auch die harsche Verurteilung der Bourgeoisie in „Taktik und Strategie der lateinamerikanischen Revolution“ zwischen Oktober und November 1962 punktgenau zum Ausschluss aus der OAS, die ebenfalls im Oktober vorgenommen wurde. Diese Verurteilung der Bourgeoisie erklärte Guevara in „Taktik und Strategie (…)“ mit der Hoffnung der Bourgeoisie, durch Kooperation mit den USA Zollvergünstigungen zu erhalten nachdem letztere enorme Zollmauern aufgebaut hatten. Die Aussicht auf Gewinn und industriellen Fortschritt lässt die Bourgeoisie zu den ‚Imperialisten’ überlaufen.85 Diese theoretischen Konstrukte ließen sich natürlich bestätigen, als die USA im Zuge der Kubakrise weitere Maßnahmen erließen, die einer Wirtschaftsblockade Kubas gleichkamen und andere lateinamerikanische Länder ökonomisch zwangen, mit den USA gleichzuziehen.86 So wurde die Isolation Kubas mit einer Art ‚imperialen Verseuchung’ des gesamten Kontinents gleichgesetzt. Dies begründete die Notwendigkeit einer kontinentalen sozialistischen Revolution unter Anwendung der Fokustheorie und militärischer Gewalt. Der kontinentale Vorrang sowie die Verquickung mit nationalen Interessen lässt den Anspruch, Teil einer internationalen Befreiungsbewegung zu sein, freilich bei Zeiten als Farce erscheinen.
3.2 Phase der isolierten Elite: Taktik als politisch-militärische Gesamtstrategie Diese Unklarheiten bezüglich der Klassifikation der Fokustheorie rühren auch aus einer Verschiebung des Verhältnisses von Theorie und Praxis gegenüber beispielsweise Marx oder Mao her. Noch in “Castroism: the Long March in Latin America” zitiert Debray Althusser: „Marxists know that no tactic is possible which does not rest on some strategy and no strategy which does not rest on some theory“87. Bei Debray erscheint ‚Theorie’ im Folgenden jedoch als der Strategie und Taktik nachgeordnet88 und als etwas, was sich aus praktischen Ereignissen ergibt. Die Gefahr besteht, dass im Nachhinein entstandene Theorien häufig nicht viel mehr sind als eine Rechtfertigung vergangener Taten. Dieses Konzept erinnert bereits an das von der RAF im Konzept Stadtguerilla vertretenen „Primat der Praxis“: „Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.“89 Auch Maos Schriften sind sehr praktisch orientiert und sind fast nicht zu trennen von ihrem historischen Kontext, dem chinesischen Bürgerkrieg. Dennoch muss man bedenken, dass sein ganzes Konzept auf folgendem Gedanken beruht: „Die Partei kommandiert die Gewehre und niemals darf zugelassen werden, dass die Gewehre die Partei kommandie84
Ramm, Der Evangelist, aaO. (FN 48), S. 22. Vgl. Guevara, Taktik und Strategie, aaO. (FN 62), S. 130. 86 Vgl. Guevara, Über die Freiheit des Wettbewerbs in unserer Zeit. Ansprache bei der Konferenz der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung in Genf (25. März 1964), in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Schriften zum Internationalismus. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band 4, Bonn 2003², S. 162. 87 Debray, Castroism: the Long March in Latin America, aaO. (FN 59), S. 27. 88 Vgl. ebd., S. 4-5. 89 RAF, Das Konzept Stadtguerilla, zitiert nach: Pflieger, Klaus, Die Rote Armee Fraktion – RAF – 14.5.1970 bis 20.4.1998, Baden-Baden 2004, S. 24. Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 85
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ren“90. Das bedeutet, dass die Gesamtstrategie, deren Quelle die Partei ist, zumindest auf irgendeiner Art Programm oder Ideologie beruht. Diese dienen als Leitfaden, an denen sich sowohl die politische als auch militärische Praxis orientiert. Da jedoch die Fokustheorie die Bindung des foco an eine Partei herkömmlichen Typs, auch die kommunistische, ablehnt91, sie die militärische Ausrichtung des foco betont, in den sich die politische Arbeit einbettet, und sie mehr und mehr die Notwendigkeit militärischer, also nicht-friedlicher Mittel, propagiert92, liegt eine Wegbereitung für spätere terroristische Organisationen nahe. Im Falle der Fokustheorie manifestiert sich das Verhältnis von Theorie zu Praxis auf dreifache Weise: Erstens durch den Vorrang von militärischer Praxis vor politischer oder Militär-Theorie. Zweitens zeigt sich dies in der Geschichte selbst: Tatsächlich ging die kubanische Revolution, also die praktische Erfahrung, den Schriften Guevaras und Debrays, die die Fokustheorie und anderen Grundsätze des Castroismus-Guevarismus darlegten, voraus. So gilt die kubanische Erfahrung als vermeintliches Vorbild für die Revolution in ganz Lateinamerika und Kuba als Vorhut für die Entwicklung Lateinamerikas.93 Letztlich wird man aber feststellen müssen, dass sich die castristischen Kämpfer zwischen Guatemala und Argentinien dabei nicht an den Realitäten des kubanischen Kampfes gegen Batista orientierten, sondern nach einer Ideologie vorgingen, nach strategischen und taktischen Leitsätzen und technischen Reglements, die erst a posteriori von dem Kreis um Fidel Castro ausgearbeitet worden waren. 94
Drittens sind in Analogie zu diesen zwei Punkten auch die Werke Guevaras und Debrays als Werke zu betrachten, deren Theorien keinen Selbstzweck darstellten und deren oberstes Kriterium wiederum die Praxis war.95 Diese Tatsache lässt sich symbolisch ablesen an dem erneuten Aufbruch Guevaras in den bolivianischen Guerillakampf, an welchem sich wiederum die Schwächen der Theorie in der Praxis manifestierten. Die praktische Anwendung der Fokustheorie in Bolivien machte deutlich, dass die erste Phase der Schwäche kaum zu überwinden ist. Die Probleme der Fokustheorie, die in diesem Artikel theoretisch erschlossen wurden (Überhöhung der Beweglichkeit, Misstrauen, Isolation), können in der Praxis nicht bezwungen werden. Das heißt, der foco verbleibt 90
Zedong, Mao, Probleme des Krieges und der Strategie (6. November 1938), in: Ausgewählte Werke. Band II, Peking 1968, S. 262. 91 Vgl. Ramm, The Marxism of Régis Debray, aaO. (FN 48), S. 90-99. Bei Guevara finden sich im Gegensatz zu Revolution in der Revolution jedoch besonders vor 1963 diverse Überlegungen zu geeigneten politischen Organisationen; siehe hierzu: Massari, Roberto, Che Guevara. Politik und Utopie. Das politische und philosophische Denken Ernesto Che Guevaras, Frankfurt a.M. 1987, S. 94-101. Bei Debray findet sich eine Akzeptanz der Partei nur dann, wenn sie in einer kompletten Identifikation mit den Guerilleros mit in die Berge geht, um sich dem korrumpierenden Einfluss der Stadt zu entziehen (vgl. Berner, Der Evangelist ..., aaO. (FN 39), S. 43): „Diese Umstürzung der Lehre Lenins von der Rolle der Partei in der Vorbereitungsphase der eigentlichen sozialistischen Revolution, ohne Preisgabe der marxistisch-leninistischen Gesamtkonzeption des revolutionären Übergangs von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft, das ist jene „Revolution in der Revolution““ (Vgl. Ebd., S. 52-53). 92 Siehe dazu Guevara, Der Guerillakrieg, aaO. (FN 33), S. 55 (Gewalt nachdem friedliche Mittel ausgeschöpft) gegenüber Guerillakrieg – Eine Methode, aaO. (FN 29), S. 32 (Gewalt als Mittel der Wahl) 93 Vgl. Guevara, Ernesto, Kuba – Historische Ausnahme oder Vorhut im Kampf gegen den Imperialismus (4. April 1961), in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Schriften zum Internationalismus. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band 4, Bonn 2003², S. 27-46. 94 Lamberg, Die castristische Guerilla, aaO. (FN 74), S. 14. 95 Vgl. Schröder, Der Staseologie-Komplex., aaO. (FN 14), S. 359.
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im Zustand einer kleinen, isolierten avantgardistischen Gruppierung. Die Unterstützung der Massen wird nicht erworben und Begründung territorialer Basen geschweige denn der Volkskampf finden nicht statt. Von diesen Phänomenen sowie von Misstrauen und sogar terroristischen Taktiken zeugen folgende Zitate aus dem Bolivianischen Tagebuch: “Now begins the real guerrilla phase and we will test the troops; (…) Of all the things foreseen, the one that is going slowest is the recruitment of Bolivian combatants.”96; The peasant is typical: capable of helping us, but incapable of foreseeing the dangers involved and therefore potentially dangerous. He told us numerous things about the peasants but was not willing to join us because of a certain insecurity.”97; the isolation continues to be complete (…) The peasant base has not yet been developed although it appears that through planned terror we can neutralize some of them; support will come later.98; We still have not incorporated the peasants, which is logical when one considers the little contact we have had with them in recent weeks”.99
Diese Phase des foquistischen Guerillakampfes – die einzige, die sich in der Praxis manifestiert – weist bereits viele Züge einer terroristischen Gruppierung auf: Die soziale Isolierung ist beispielsweise ein wichtiges Merkmal, das je nach Ausmaß häufig den Radikalisierungsgrad terroristischer Vereinigungen bestimmt, da es kein Privatleben mehr gibt und die Gruppe zu einer totalen, sich gegenseitig kontrollierenden Institution wird.100 Es versteht sich von selbst, dass auch das Fehlen territorialer Basen und einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung eher Merkmale einer sozialrevolutionären terroristischen Gruppierung als einer Guerillaeinheit im Mao’schen Sinn sind. Es zeigte sich außerdem, dass eine revolutionäre Situation bei weitem nicht gegeben war – die Kleinbauern waren relativ zufrieden mit Barrientos, seinem Regime und ihrer Lebenslage.101 Diese Informationen lassen sich theoretisch anhand der Begrifflichkeiten von Strategie (eher theoretisches Gesamtkonzept) und Taktik (die jeweilige Vorgehensweise in der Praxis) folgendermaßen klassifizieren: Wie bei Mao deutlich wurde, ist der Guerillakampf prinzipiell als eine Taktik in Kombination mit anderen Taktiken der Revolution, die oft politischer oder sozialer Art sind, der Gesamtstrategie einer Partei untergeordnet. Mao räumt jedoch dem Guerillakampf als Taktik einen essentiellen Platz ein und erhebt ihn auf strategisches Niveau. Die Fokustheorie vertritt die Linie – wenig überraschend aufgrund ihrer militärischen und praxisorientierten Natur – dass es die Taktik ist, die den Lauf der Revolution bestimmt: This latter [die Taktik, S.R.], however, must in the context in which Debray is working (…) determine the course of action, even where this comes to seem impossibly isolated or precarious. (…) An orthodox Marxist or Communist argument (as in Mao’s ‘Put politics in command`) would hold that military action must at all times be subordinate to and governed by the correct political line – a rerunning of the `strategy/tactics` dichotomy referred to above.102
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Guevara, The Complete Bolivian Diaries of Ché Guevara and Other Captured Documents, Analyse des Monats Januar, aaO. (FN 75), S. 108. 97 Ebd., Eintrag vom 10. Februar 1967, S. 111. 98 Ebd., Analyse des Monats April, S. 151. 99 Ebd., Analyse des Monats August, S. 202. Hervorhebungen durch den Verfasser. 100 Vgl. Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, München 2001², S. 166-168. 101 Vgl. Lamberg, Robert F., Che in Bolivia: The „Revolution“ that Failed, in: Problems of Communism Nr. 4/1970, S. 30. 102 Reader, Keith, Régis Debray. A Critical Introduction, London/East Haven 1995, S. 13.
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Im Prinzip bezieht sich diese Überzeugung der Fokustheorie hauptsächlich auf die absolute Natur des foco, dessen militärische Aktion politische Agitation zu großen Teilen absorbieren soll.103 Das heißt, dass die Taktik aufgrund des Fehlens eines Gesamtstrategen zu einer Art „spontanen Strategie“ wird. Debray bekräftig diesen Punkt in Revolution in der Revolution?: „Dieses langsame Aufsteigen der Taktik zur Strategie, das die Strategie zugleich umschließt und hervorruft (…) kennzeichnet ein wenig die Geschichte der kubanischen Revolution und ist auch eine gute methodische Regel für die praktische Lehre.“104 Dieser Sachverhalt rechtfertigt einen weiteren Seitenblick auf die Terrorismusforschung: So wie der Guerillafokus die Verkörperung der Strategie der von ihm initiierten Revolution ist, ist es auch Kennzeichen des Idealtyps ‚Terrorismus’, den Terrorismus zur Strategie zu erheben. Terrorismus wird als das einzig mögliche oder zumindest als das entscheidende Mittel zum Erreichen des Endzieles verstanden: „Wenn im folgendem von terroristischer Strategie die Rede ist, dann ist damit ein Vorgehen regierungsfeindlicher Gruppen gemeint, das sich primär, wenn nicht ausschließlich auf terroristische Methoden und Mittel stützt.“105 Im Prinzip handelt es sich in beiden Fällen, Fokustheorie wie Terrorismus, um eine Verabsolutierung eines einzigen Mittels zur Erreichung einer Maximalforderung.
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Einordnung in die Strategie der Dritten Welt und deren zweifelhaftes Erbe
Es wurde aufgezeigt, inwiefern sich die Fokustheorie, vertreten durch Guevara und Debray, direkt auf Maos Vorstellungen von der Revolution und der Rolle des Guerillakampfes bezieht. Zwar steht die Fokustheorie vielfach in Opposition zu den Mao’schen Ausführungen, dennoch sind beide Theorien Teil ein und desselben Diskurses zur Rolle und Form des Guerillakampfes zur Befreiung der Dritten Welt. Der Kampf der ‚unterentwickelten’ Länder findet einen seiner wichtigsten Ansatzpunkte in der asiatischen Guerillakriegsführung und deren Theoretikern, fand seinen lateinamerikanischen Blickwinkel in Guevara und Debray und gleichermaßen beispielsweise einen afrikanischen Blickwinkel in Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde106. So vereinen sich deutlich nationale, kontinentale und internationale Positionen zu einem einheitlichen Bild eines konträren Diskurses. Vergleicht man Fanon mit den Fokustheoretikern, fällt ebenfalls die wichtige Rolle der Bauernschaft107 ins Auge. Die absolute Notwendigkeit gewaltsamen Vorgehens verbindet ihn wiederum mit Debrays Revolution in der Revolution („in der ersten Zeit des Aufstandes muß getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen“108) und die Einheit der Dritten Welt sowie die Ablehnung der nationalen Bourgeoisie109 besonders mit Guevara. Die Ablehnung der Führerschaft durch Partei oder foco, da der revolutio-
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„Debray’s efforts are geared to reducing the political aspects of the revolution to the military sphere, not to opposing one to the other.” Siehe dazu Ramm, The Marxism of Régis Debray, aaO. (FN 48), S. 90. Debray, Revolution in der Revolution?, aaO. (FN 47), S. 63. 105 Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, aaO. (FN 100), S. 28. 106 Fanon, Die Verdammten dieser Erde, aaO. (FN 3). 107 Vgl. Sartre, Jean-Paul, Vorwort zu Die Verdammten dieser Erde, in: Ebd., S. 10. 108 Ebd., S. 18. 109 Vgl. ebd., S. 10. 104
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näre Impuls der Bauernschaft selbst entspringt110, wiederum kreiert ein gänzlich eigenes Element. Und so beweist dieses in der Einleitung angesprochene Beispiel, worum es im Diskurs über die Befreiung der Dritten Welt geht und was bereits einleitend behauptet wurde: Reaktion und Innovation. Und so nehmen auch Guevara und Debray ihren Platz innerhalb dieses Diskurses ein; sie stellen die Bedeutung des Guerillakampfes und einer revolutionären Vorhut für diese Befreiung heraus. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass dieser internationale Anspruch für nationale Zwecke missbraucht wurde und somit an Glaubwürdigkeit einbüßte. Genauso nehmen die Theoretiker der Fokustheorie und deren Beschreibung der ersten Phase der Schwäche und Isolation – ohne dass sie sich dessen wohl bewusst waren – einen wegweisenden Platz im Terrorismus-Diskurs, besonders natürlich in seiner sozialrevolutionären Form, ein. Der foco ist sich selbst genug: er braucht keine Kompromisse, keine Bourgeoisie, keine Bedingungen der Revolution, keine übergeordnete politische Strategie. Das unbedingte Ziel ist eine neue Ordnung sozialistischer Art – und dieses darf nicht Opfer von Diskussionen, Verhandlungen, Politik oder Kompromiss werden. In diesen Punkten gleicht der foquismo terroristischen Überlegungen. Die soziale Isolation, der Weg zum Primat der Praxis, die Erhebung der Taktik zur Strategie, die Vorstellung vom foco als Avantgarde und proletarisierter Elite, die agiert, um eine Gegenreaktion des Staates herauszufordern, die dessen repressives Gesicht enthüllen soll111, um damit die Bedingungen der Revolution erst zu schaffen, sind weitere prominente Elemente terroristischer Gruppierungen. Zudem darf man nicht vergessen, dass einige wichtige Kriterien des Guerillakampfes vom foquismo nicht berücksichtigt werden. Es soll jedoch keineswegs angedeutet werden, dass es angebracht wäre, Guevara und Debray als Terroristen zu bezeichnen, denn eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Kriterium zur Unterscheidung von Guerillakampf und Terrorismus ist die Unterscheidung von Kombattanten und Non-Kombattanten bei der Auswahl potentieller Opfer. So ist der Unterschied zwischen einem foco, dessen Ziel nicht die Tötung von Zivilisten112 ist, und einer terroristischen Organisation bedeutend. Jedoch bedenke man, dass in der bolivianischen ‚Fokuspraxis’ die Frustration über die Isolation so groß war, das man wohl aus Verzweiflung zu terroristischen Maßnahmen griff (Neutralisation der Bauern, etc.). In der ‚Fokuspraxis’ war somit der Schritt zum Terrorismus nicht mehr weit. Es kommt dennoch hinzu, dass man den als ländlichen Kampf konzipierten Guerillakrieg nicht mit dem am städtischen Kampf (der mehr zivile Opfer fordert) orientierten strategischen Terrorismus gleichsetzen kann. Es geht vielmehr darum, dass der schwache, isolierte foco, als der er sich vor allem in der Praxis manifestierte, bereits viele Elemente des Terrorismus aufweist, auf die sich viele spätere sozialrevolutionäre Terroristen beriefen, besonders um den eigenen Kampf als Guerillakampf zu tarnen. So war die Fokustheorie nicht als Teil des Terrorismus-Diskurses konzipiert, wurde jedoch gerne aufgegriffen. Zweifelsohne nimmt die Fokustheorie damit eine wichtige und interessante Zwischenstellung ein, deren Bedeutung weder für die Erforschung von Revolutionstheorien, des Guerillakampfes, des Terrorismus im Allgemeinen und des sozialrevolutionären Terrorismus im Besonderen unterschätzt werden darf. Spezifischere Untersuchungen der Strategien und Taktiken lateinamerikanischer revolutionärer Praxis nach Guevara und Debray und auch die Ausarbeitung der Unterschiede 110
Vgl. Caute, Frantz Fanon, aaO. (FN 4), S. 113. Vgl. Guevara, Guerillakampf – Eine Methode, aaO. (FN 29), S. 34. 112 Vgl. ebd., S. 73. 111
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dieser beiden Theoretiker unter Einbeziehung der Zwischenstellung der Fokustheorie, könnten mit Sicherheit noch weitere interessante, detailliertere Aspekte zu Tage fördern. Diese wären auch zum Verständnis des zeitgenössischen Terrorismus nationaler und internationaler Natur nicht ohne Bedeutung.
Gewalt als Widerstandsrecht? Herbert Marcuse
Herbert Marcuse
Philip Gursch
In der Debatte zur ersten Lesung des Anti-Terror-Gesetzpaketes im Deutschen Bundestag vom 28. Oktober 1977 definierte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Alfred Dregger als wichtigste Aufgabe die Bekämpfung der geistigen und politischen Ursachen des Terrorismus. Seiner Meinung nach hätten Studenten in die Praxis umgesetzt, was ihnen von Professoren gelehrt wurde. Weiter führte er aus: Bildungspolitik und Unterrichtspraxis dürfen sich nicht an Karl Marx, Herbert Marcuse oder anderen Propheten orientieren, die die einen von uns als richtigen Propheten und die anderen von uns als die falschen Propheten betrachten. (…) Statt Tatsachenkenntnis zu vermitteln, wird ideologisiert und indoktriniert mit Bildern, Begriffen und Ideologien des 19. Jahrhunderts, die ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit einfach auf die Gegenwart übertragen werden.1
Indirekt unterstellt Dregger mit diesen Worten Marcuse eine Form der geistigen Urheberschaft für den Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). „Ich habe niemals Terror gepredigt“2 bekannte Marcuse als eine Art Antwort in einem Stern-Interview vom 19. Juli 1978. Dienten nun Marcuses Ideen als abstrakte Munition in den Waffen der RAF, indem er Gewalt als Mittel des Widerstandes legitimierte oder wurden die Theorien des „Idol[s] der rebellierenden Studenten“3 in der Praxis pervertiert? Des Pudels Kern liegt in den Schriften von Herbert Marcuse, von denen besonders „Triebstruktur und Gesellschaft“, der „Eindimensionale Mensch“, der Aufsatz „Repressive Toleranz“ und Interviewbeiträge im Folgenden untersucht werden, um damit Aussagen zu gewaltsamem Widerstand mit dem Terrorismus der RAF zu spiegeln.
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Biographischer Hintergrund
Herbert Marcuse (1898-1979) wurde am 19. Juli 1898 in Berlin-Charlottenburg als Sohn einer wohlhabenden assimilierten jüdischen Familie geboren. Bürgerlich und konventionell erzogen, prägten literarische und musische Interessen sowie die Wandervogelbewegung seine Jugend. Nach dem Notabitur 1916 wurde er zur Reichswehr einberufen. Ein Jahr später trat Marcuse der SPD bei, die er jedoch nach der Ermordung von Rosa Luxemburg 1
Zitiert nach Deutscher Bundestag, Plenarprotokolle 8. Wahlperiode. 53. Sitzung am 28.10.1977, S. 4103 f. Online im Internet: URL: http://dip.bundestag.de/btp/08/08053.pdf [Stand 03.01.2008] 2 Marcuse, Herbert, Ich habe niemals Terror gepredigt. Stern-Interview zu Marcuses 80. Geburtstag, zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Hamburg 1998 Band 2, S.828-831, hier S. 828. 3 Wiggershaus, Rolf, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Wien 1986, S. 9.
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und Karl Liebknecht mit dem Vorwurf einer Mitschuld der Partei verließ. Fasziniert von der Münchener Räterepublik unter Kurt Eisner ließ er sich 1918 in den Soldatenrat von Berlin-Reinickendorf wählen, um wenige Zeit später wieder auszutreten. Die gescheiterte Revolution führte bei Marcuse zu einem Interesse für die Frage, wie es geschehen konnte, dass unter den damaligen, als günstig erscheinenden revolutionären Bedingungen die Revolution dennoch scheiterte.4 Mit diesem Hintergrund setzte bei ihm eine Auseinandersetzung mit Philosophie und Schriften von Freud und Marx ein. Marcuse studierte daraufhin an der Humboldt-Universität zu Berlin und später an der Universität Freiburg Neuere deutsche Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie, um 1922 mit einer germanistischen Arbeit „Der deutsche Künstlerroman“ zu promovieren. Er kehrte nach Berlin zurück, arbeitete als Teilhaber in einem Verlags- und Buchantiquariats-Unternehmen und besuchte literarische, expressionistische Zirkel. Sechs Jahre später zog es ihn erneut an seine Alma Mater nach Freiburg um bei Martin Heidegger Philosophie zu studieren und als Assistent zu arbeiten. 1932 stellte Marcuse seine Habilitationsschrift „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“ fertig, die zwar veröffentlicht aber jedoch aufgrund der sich abzeichnenden politischen Entwicklung nicht eingereicht wurde. Durch die Vermittlung Leo Löwenthals kam es zu Kontakten zwischen Max Horkheimer und Marcuse in der vorübergehenden Zweigstelle des Instituts für Sozialforschung in Genf. Über diese Zwischenstation verließen Marcuse und seine Familie noch vor Hitlers Machtantritt Deutschland und emigrieren 1934 in den USA. In New York beantragte Marcuse sogleich die amerikanische Staatsbürgerschaft, die er 1940 erhielt. Gleich darauf wurde er im dorthin verlagerten Institut für Sozialforschung angestellt und publizierte in der hauseigenen Zeitschrift für Sozialforschung bis 1941. Im selben Jahr veröffentlichte er seine erste englische Monographie „Reason and Revolution“ („Vernunft und Revolution“) als eine Einführung in das dialektische Denken von Hegel und Marx. Wieder zog das Institut um, diesmal im Jahr 1941 nach Santa Monica in Kalifornien und erneut folgte Marcuse Horkheimer, dem er sich in der Zwischenzeit persönlich eng verbunden fühlte.5 Das Problem vor Ort war jedoch, dass sein Gehalt empfindlich gekürzt werden sollte. Aus diesem Grund nahm Marcuse eine neue Stelle beim Office of Strategic Services (OSS) des FBIs in Washington DC an. Zusammen mit Franz Neumann und Otto Kirchheimer erarbeitete er in dieser Phase Analysen zum Nationalsozialismus. Von 1945 bis 1951 arbeitete Marcuse für das US State Department (Division of Research and Intelligence); kurzweilig war er 1945 als amerikanischer Offizier in Deutschland.6 Obwohl er sich weiterhin Horkheimer und seinem Institut zugehörig fühlte, wurde er nicht zu einer erneuten Mitarbeit eingeladen. Von 1951 bis 1954 widmete er sich wissenschaftlichen Studien über den Sowjet-Marxismus am Russian Institut der Columbia University in New York und an der Harvard University. 1954 erhielt er seine erste Professur für Philosophie und Politologie an der Brandeis University in Boston. Ein Jahr später erschien sein Werk „Triebstruktur und Gesellschaft“ („Eros and Civilization“) und 1958 „Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“. Im selben Jahr nahm er eine Einladung an die Pariser Ecole Practique des Hautes Etudes an. Im Jahre 1964 wurde die wohl bekanntes-
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Vgl. Fuchs, Christian, Herbert Marcuse interkulturell gelesen, Nordhausen 2005, S. 13. Vgl. Kailitz, Susanne, Von den Worten zu den Waffen? Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007, S. 91. 6 Vgl. Waschkuhn, Arno, Kritische Theorie. Politikbegriffe und Grundprinzipien der Frankfurter Schule, München/Wien 2000, S. 132. 5
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te Arbeit Marcuses mit der „größten Breitenwirkung“7 unter dem Titel „Der eindimensionale Mensch“ veröffentlicht. Kurze Zeit später folgte er dem Ruf für den Lehrstuhl für Politische Wissenschaft an der Staatsuniversität von San Diego. Als eine seiner Schlüsselpublikationen erwies sich der 1965 edierte Aufsatz „Repressive Tolerance“. Zwischen 1968 und 1969 hielt er sich für Vorträge und Diskussionen unter anderem in Berlin, Paris, London und Rom auf. In der Zeit der aufkommenden amerikanischen und europäischen Studentenbewegung avancierte Marcuse zu einer populären intellektuellen Symbolfigur dieser Bewegung und unterstützte deren Emanzipationsbestrebungen.8 Kurz nach seinem 81. Geburtstag starb Herbert Marcuse bei einem Besuch Jürgen Habermas` am 29. Juli 1979 in Starnberg.
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Werkauswahl
Marcuses theoretische Werke können allesamt als kritische „Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“9 verstanden werden. In einer Status quo-Analyse setzen seine Diagnosen mit der Feststellung ein, dass der technische Fortschritt weiterhin Unterwerfung und Repression aufrechterhält.10 Jedoch verlässt Marcuse in seinen Schriften das Stadium der Analyse und entwickelt alternative Entwicklungsvorschläge. Dies geht einher mit seinem Anspruch nach einer wechselseitig befruchtenden Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Für Wiggershaus stellt „Triebstruktur und Gesellschaft“ Marcuses theoretisches Hauptwerk dar.11 Alle zentralen Motive und Themen aus dem Werk kehren in späteren Schriften komplettiert und konkretisiert wieder. Hervorgegangen aus einer Vorlesungsreihe von Marcuse 1950/ 51 an der Washington School of Psychiatry erschien es 1955 unter dem Titel „Eros and Civilization. A philosophical Inquiry into Freud“. Mit diesem Werk versuchte Marcuse in erster Linie Freuds These zu widerlegen, dass Triebverzicht und unterdrückung in einer Zivilisation unabdingbar wären. Der Ansatz von Marcuse geht in die diametrale Richtung: Seiner Meinung nach ist eine Kultur ohne Unterdrückung möglich. Jedoch sei der Verlauf in den Industriegesellschaften davon geprägt, dass die an den Bedürfnissen der Individuen orientierten Mittel nicht zu deren Befriedigung führen. Vielmehr verknüpft Marcuse den technischen Fortschritt mit Herrschaft über die Individuen und mit Unterdrückung.12 Oder wie er schreibt:
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Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO. (FN 6), S. 132. Vgl. ebd. 9 Marcuse, Herbert, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/Berlin 1968. 10 Marcuse, Herbert, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Darmstadt/ Neuwied 1977, S. 372. 11 Vgl. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, aaO. (FN 3), S. 555. 12 Vgl. Marcuse, Herbert, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1968, S. 41. 8
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Philip Gursch Man erhält den Eindruck, dass in den Brennpunkten der industriellen Zivilisation der Mensch in einem Zustand sowohl kultureller wie psychischer Verarmung gehalten wird. (…) [D]as bessere Leben wird mit der alles erfassenden Kontrolle über das Leben bezahlt.13
Neben einer grundsätzlichen, aber für das zivilisierte gesellschaftliche Miteinander notwendigen Unterdrückung der Lusttriebe macht Marcuse eine herrschaftsbedingte zusätzliche Unterdrückung aus, welche die erotischen Merkmale der Triebenergie schwächt und die destruktiven Komponenten im Sinne von Aggressionen betont. Dabei geht die Triebunterdrückung zur Freisetzung produktiver Tätigkeit in modernen Industriegesellschaften durch die Herrschaft des Kapitals über das notwendige Maß hinaus, mit dem Ziel, eine Arbeits- und Produktivitätsmaximierung zu erhalten.14 Marcuse schreibt dazu: Je breiter die Kluft wird zwischen der möglichen und der tatsächlichen menschlichen Verfassung, desto größer wird das Bedürfnis nach dem, was wir ,zusätzliche Repression’ genannt haben, das heißt: Triebunterdrückung, die nicht der Bewahrung und Entfaltung der Kultur dient, sondern dem sanktionierten Interesse am Fortbestand der etablierten Gesellschaft.15
Das Prinzip der Lust verkörpert für Marcuse in diesem Sinne das Gegenteil von Repression und Ausbeutung, denn [e]ine verstärkte Abwehr gegen die Aggression ist notwendig; aber um wirksam zu sein, müsste die Abwehr gegen die erhöhte Aggression den Sexualtrieb stärken, denn nur ein starker Eros kann die Destruktionstriebe mit Erfolg ,binden’. Und genau dies ist es, was die entwickelte Kultur zu leisten außerstande ist, denn sie hängt, um existieren zu können, von einer gesteigerten und umfassenden Reglementierung und Kontrolle ab.16
Marcuse weist demnach Eros die Kraft zu, die zusätzliche Unterdrückung und die daraus folgende Repression zurückzuweisen oder gar einzudämmen. Sekundiert wird dem mit dem Verhalten der „Großen Weigerung“, um „die Trennung vom libidösen Objekt (oder Subjekt) zu ertragen“17 und sich gegen die Unterdrückung zu richten sowie eine Befreiung zu fokussieren; personifiziert in den Urbildern Orpheus und Narziss. Das Ergebnis seiner Überlegungen wäre eine Zivilisation ohne Unterdrückung und der Wandel von „entfremdeter Arbeit“ in „,libidöse’ Arbeit“18. Als eine inhaltliche Weiterführung dieser Gedanken im Sinne der kritischen Sozialphilosophie von Marcuse kann der „Eindimensionale Mensch“ gelten. Gleich in den ersten Ausführungen fallen die gleichen Vokabeln wie in „Triebstruktur und Gesellschaft“ auf: „Unfreiheit“ und „Unterdrückung“. Die analysierte Gesellschaft sei oppositionslos und irrational, von politischer und geistiger Gleichschaltung gekennzeichnet und von einer verführerischen „komfortable[n], reibungslose[n], vernünftige[n], demokratische[n] Un-
13
Zitiert nach Reijen, Willem van: Philosophie als Kritik. Einführung in die Kritische Theorie, Konigstein/Ts. 1984, S. 137. Vgl. Fuchs, Herbert Marcuse interkulturell gelesen, aaO. (FN 4), S. 59. 15 Marcuse, Herbert, Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft. In: Schriften Band 8 von ders., Frankfurt/ Main 1984, S. 44. 16 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, aaO. (FN 12), S. 82. 17 Ebd., S. 168. 18 Ebd., S. 217. 14
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freiheit“19 als ein Zeichen technischen Fortschrittes geprägt. Nach Marcuse sind die Fortschritte in der Technik für neue, effektive und angenehmere Möglichkeiten der sozialen Kontrolle verantwortlich. Technik versteht er als ein Medium, in welchem (…) Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System [verschmelzen, P.G.], das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt. Produktivität und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die Gesellschaft und halten den technischen Fortschritt im Rahmen von Herrschaft. Technologische Rationalität ist zu politischer Rationalität geworden.20
Paradoxer Weise erhält Freiheit in dieser „Herrschaft des repressiven Ganzen“21 die Funktion eines Herrschaftsinstrumentes: Die freie Wahl der Herren schafft die Herren oder die Sklaven nicht ab. Freie Auswahl unter einer breiten Mannigfaltigkeit von Gütern und Dienstleistungen bedeutet keine Freiheit, wenn diese Güter und Dienstleistungen die soziale Kontrolle über ein Leben von Mühe und Angst aufrechterhalten – das heißt Entfremdung. Und die spontane Reproduktion aufgenötigter Bedürfnisse durch das Individuum stellt keine Autonomie her; sie bezeugt nur die Wirksamkeit der Kontrolle.22
Deshalb würden den Menschen falsche Bedürfnisse nach Konsumgütern eingeimpft, die durch herrschaftliche Macht manipulativ bestimmt werden und in einer unentrinnbaren Bindung zu den Herstellern manifestiert werden. Denn [d]ie Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen; sie befördern ein falsches Bewusstsein, das gegen seine Falschheit immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination aus, Reklame zu sein; sie wird ein Lebensstil, und zwar ein guter – viel besser als früher –, und als ein guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziel, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden.23
Somit führt die Kraft der Technik zu einer Instrumentalisierung der Menschen, die nur schwer zu durchbrechen ist, denn es gilt die Regel: Je rationaler, produktiver, technischer und totaler die repressive Herrschaft ist, desto unmöglicher ist die Befreiung aus diesem Zustand.24 Die einzige Möglichkeit einer Befreiung von den totalitären Rahmenbedingungen in der eindimensionalen Gesellschaft sieht Marcuse im Gang des Lösungsweges durch ein Bewusst-Werden der Knechtschaft, dem Ersatz von falschen durch wahre Bedürfnisse und eine „Befreiung der Phantasie“25, um ein „befriedetes Dasein“26 zu verwirklichen. Deswegen bedarf es nach Marcuse Kräften, die die „Eindämmung durchbrechen und die 19
Marcuse, Der eindimensionale Mensch, aaO. (FN 9), S. 21. Ebd., S. 19. Ebd., S. 27. 22 Ebd., S. 27 f. 23 Ebd., S. 32. 24 Vgl. ebd., S. 26. 25 Ebd., S. 261 26 Ebd., S. 246. 20 21
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Philip Gursch
Gesellschaft sprengen“27. Für ihn stellten dieses Potential die Außenseiter, wie Arbeitslose, rassistisch Verfolgte oder Ausgebeutete dar, die als revolutionäre Opposition das unerträgliche System abschaffen wollen28: „Die Tatsache, dass sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert.“29 Eine deutliche Radikalisierung erfährt Marcuses Theorie in dem Aufsatz „Repressive Toleranz“. Im Mittelpunkt steht dabei seine These, unterdrückte Minderheiten verfügten über das Recht, mit dem Ziel ihrer Befreiung außergesetzliche Mittel zu benutzen. Nicht ohne Grund widmete Marcuse sein Essay den politisch aktiv gewordenen Studenten der Brandeis University. Was in seinen vorangegangenen Schriften bisher nur anklang, wird in dem Aufsatz zu einer handlungsbestimmenden Dimension in Form eines Bekenntnisses zum praktischen Engagement – eine Zusammenführung von Gewalt und Widerstand. Dabei untersucht er zunächst den inneren Widerspruch einer immer mehr durch zunehmend totalitär organisierte, ökonomische und politische Strukturen geprägten „liberalen Funktion der Toleranz.“30 Dabei kommt er zu der Erkenntnis, dass das (…) was heute als Toleranz verkündet und praktiziert wird, in vielen seiner wirksamsten Manifestation den Interessen der Unterdrückung (…).31
diene. Aus diesem Grund wird gewaltsamer Widerstand Teil seiner Überlegungen, um das aus seiner Sicht repressive System zu überwinden, denn andernfalls (…) drohen in einer repressiven Gesellschaft selbst fortschrittliche Bewegungen in dem Maße in ihr Gegenteil umzuschlagen, wie sie die Spielregeln hinnehmen.32
Er führt in diesem Sinne weiter aus, dass auch die Ausübung von politischen Rechten in das Gegenteil umschlägt, da sie nur den Anschein von Freiheit verkörperten, aber tatsächlich in Inhalt und Effektivität pervertiert wären. In der Konsequenz untersucht Marcuse deshalb „(…) den Tatbestand der Gewalt und die traditionelle Unterscheidung von gewaltsamer und gewaltloser Aktion neu (…)“33 Gewalt wird bei ihm nicht gleich zu Gewalt: Vielmehr legt er auf die Unterscheidung zwischen revolutionärer und reaktionärer Gewalt, „(…) zwischen der von den Unterdrückten und der von den Unterdrückern ausgeübten Gewalt (…)“34 größten Wert. Zwar seien beide Formen der Gewalt als unethisch einzustufen, jedoch relativiert Marcuse dies mit dem Hinweis auf das Urteil der Geschichte. Als Beleg dafür schreibt er: Es scheint,
27
Marcuse, Der eindimensionale Mensch, aaO. (FN 9), S. 17. Vgl. ebd., S. 267. 29 Ebd. 30 Brunkhorst, Hauke/ Koch, Gertrud, Herbert Marcuse zur Einführung, Hamburg 1987, S. 104. 31 Marcuse, Herbert, Repressive Toleranz, in: Wolff, Robert Paul/ Moore, Barrington/Ders. (Hrsg.), Kritik der reinen Toleranz., Frankfurt am Main 1968,S.92-128, hier S. 93. 32 Ebd., S. 95. 33 Ebd., S. 113. 34 Ebd., S. 114. 28
Gewalt als Widerstandsrecht? Herbert Marcuse
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(…) dass die aus dem Aufstand der unterdrückten Klassen erwachsene Gewalt das geschichtliche Kontinuum von Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Stillschweigen für einen kurzen Augenblick durchbrach, kurz aber explosiv genug, um eine Erweiterung des Spielraums von Freiheit und Gerechtigkeit, eine bessere und gleichmäßigere Verteilung von Elend und Unterdrückung in einem Gesellschaftssystem zu erreichen – mit einem Wort: einen Fortschritt der Zivilisation.35
Gewaltsamer Widerstand wird damit als Möglichkeit gewertet, gesellschaftliche Entwicklungsstufen zu gestalten. Als Beispiele führt er aus der Geschichte die englischen Bürgerkriege, die Französische Revolution sowie die Chinesische und Kubanische Revolution an. Toleranz wird bei ihm ein Instrument, die repressive Gesellschaft zu schützen und zu erhalten, indem sie in pervertierter Form eine Opposition verhindert und die Menschen gegen alternative Lebensformen immunisiert. Marcuse warnt, dass sich (…) der beruhigende Abstand von Ideologie und Wirklichkeit, von repressivem Denken und repressivem Handeln, zwischen dem zerstörerischen Wort und der zerstörerischen Tat (…).36
gefährlich verkürzt. Der Ausweg liegt für ihn im Durchbrechen des falschen Bewusstseins, welches sich in der Praxis in einem Widerstandsrecht ausdrückt, das auch den Umsturz beinhaltet. Marcuse schreibt dazu: Aber ich glaube, dass es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ,Naturrecht’ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schützen (…). (…) Wenn sie [die Minderheiten, P.G.] Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte.37
Gewaltsamer Widerstand wird so mit dem Vorzeichen der Gegengewalt legitimiert, mit dem Ziel der Befreiung von Unterdrückung und Repression.
3
Rezeptions- und Wirkungsgeschichte
Die politische Philosophie von Marcuse mit ihren polarisierenden Elementen war äußerst umstritten und führte zu kontroversen Diskussionen. Besonders sein pessimistischer Blick auf die Technik und seine Revolutionsrhetorik standen in der Kritik.38 Die Überprüfbarkeit, ob seine Aussagen zutreffend sind sowie die Beweiskraft seiner Belege wurden regelmäßig kritisch hinterfragt. Auf den Punkt gebracht, ist bei Waschkuhn zu lesen:
35
Marcuse, Repressive Toleranz, aaO. (FN 31), S. 118 f. Ebd., S. 122. Ebd., S. 127. 38 Vgl. Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO. (FN 6), S. 144. 36 37
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Philip Gursch Marcuse war sicherlich kein strenger oder systematischer politischer Philosoph. Viele seiner Positionen sind unklar und verschwommen, in den Diskussionen hat er Aperçus bevorzugt und ist oftmals den Schwierigkeiten ausgewichen. (…) Er konnte und wollte provozieren, also Gedanken anstoßen. Das ,wilde Denken’ war sein Metier (…). Attitüden wie die ,große Weigerung’ waren die Stärken seiner Rhetorik. (…) Vor allem aber hat er das bei Horkheimer und Adorno Implizierte politisch explizit gemacht.39
Von Relevanz ist bei Marcuse die konkrete Wirkung auf die Studentenbewegung der 1960er Jahre. Vom „Idol der rebellierenden Studenten“40, über „Ideengeber“41 bis zum „Philosophen der Jugendrevolte“42, der ihnen mit der „großen Weigerung“ eine Einstellungshaltung lieferte, reichen die Einschätzungen über diese befruchtende Beziehung. Besonders die Stellungnahmen Dutschkes zur Gewaltfrage waren von Marcuses Ausführungen eingefärbt.43 Bernd Rabehl kommt deshalb in seiner Analyse der archaischen Inszenierung linksradikaler Politik in Bezug auf Marcuses Anteil zu dem eindeutigen Urteil: „Die Gewaltfrage wurde entschlüsselt über die Schriften von Herbert Marcuse.“44 Die inspirierende und Impuls gebende Kraft von Marcuse auf die Studentenbewegung lassen die Sätze aus einem Brief von Dutschke und Kurnitzky an den Philosophen vom 26. Dezember 1967 erahnen. Dort heißt es: „Wie groß Ihre Wirkung als intellektueller und politischer Lehrer war – und noch ist – konnten Sie in der Veranstaltung erleben.“45 Und weiter: In Projektgruppen mit ca. 200 Mitgliedern „(…) diskutieren [wir] unter dem Aspekt der politischen Praxis die „Repressive Toleranz“ und Ihre Manuskripte (…).“46 Für Marcuse aber stellte vor allem die USamerikanische Studentenrevolte – wie er in einem Interview in „Le Monde“ vom 11. Mai 1968 deutlich machte – kein Potential einer unmittelbaren revolutionären Kraft dar, wobei ihr jedoch eine gewaltige Zersetzungskraft inne wohne.47 Ein Jahr zuvor hatte er ihr noch prognostizierte, dass sie „vielleicht einmal zu einer revolutionären Kraft werden kann.“48 War Marcuse nun aber, wie von Rohrmoser erklärt, ein „geistiger Ziehvater“49 von Terroristen? Waren die Terroristen der RAF sozusagen „Marcuses Kinder“50? Einen selte39
Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO. (FN 6), S. 144 f. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, aaO. (FN 3), S. 9. 41 Vgl. Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO. (FN 6), S. 132. 42 Habermas, Jürgen, Zum Geleit, in: Ders. (Hrsg.) Antworten auf Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1969, S. 916, hier S. 13. 43 Vgl. Rabehl, Bernd, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik. Ursache und Auswirkungen des politischen Existentialismus in der Studentenrevolte 1967/ 68, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Hamburg 1998 Band 3, S. 34-64, hier S. 46. 44 Ebd.. 45 Dutschke, Rudi/ Kurnitzky, Horst, Brief an Herbert Marcuse. 25.12.1967, in: Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, aaO. (FN 2), S. 329-330, hier S. 330. 46 Ebd. 47 Vgl. Marcuse, Herbert, Ich habe schon seit langem keine aktive militante Politik mehr gemacht. Auszüge aus einem Interview „Der Philosoph Herbert Marcuse – Meisterdenker der Studentenrevolte“ in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ 11.05.1986, in: Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, aaO. (FN 2), S. 380-381, hier S. 381. 48 Marcuse, Herbert, Das Problem der Gewalt in der Opposition, in: Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, aaO. (FN 2), S. 272-275, hier S. 272. 49 Zitiert nach Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, aaO. (FN 3), S. 728. 50 Vgl. Jesse, Eckhard, Die Ursachen des RAF-Terrorismus und sein Scheitern, in: APuZ B40-41/ 2007, S. 15-23, hier S. 18. 40
Gewalt als Widerstandsrecht? Herbert Marcuse
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nen direkten Bezug auf Marcuse gibt es durch Andreas Baader bei der Gerichtsverhandlung im Oktober 1968 zur Brandstiftung in zwei Frankfurter Warenhäusern. In seiner Argumentation beruft sich Baader explizit auf das von Marcuse im Aufsatz „Repressive Toleranz“ beschriebene gewaltsame Widerstandsrecht.51 Weiterhin schrieb Gudrun Ensslin in einer Notiz vom 07. Juli 1973: „denn ich sage ja, marcuse gehört uns“52. Dass Marcuses Theorien dabei für die Zwecke der RAF benutzt, wenn nicht sogar korrumpiert wurden, zeigt eine anschließende Äußerung von Ensslin. Sie schrieb in der Notiz weiter: „also, der witz, den ich z.b. auch darin sehe, dass man mit marcuse so umgeht, wie marcuse nat. selbst nicht mit sich umgeht.“53 Nichtsdestotrotz gibt es zwischen Marcuse und der RAF ähnliche Wirklichkeitsperzeptionen, indem die westliche Industriegesellschaft als totalitär und repressiv wahrgenommen wurde. Vorsichtig ausgedrückt kann deshalb angenommen werden, dass Marcuses Ausführungen mindestens zu einer argumentativen Bereicherung der RAF-Terroristen geführt haben. Das von ihm postulierte Recht des gewaltsamen Widerstandes, dessen Maßstab Marcuse ausdrücklich vor „allen verfassungsmäßigen und gesetzlichen Kriterien“54 angesiedelt hat, konnte von der RAF darüber hinaus als eine Art Persilschein für ihren „revolutionären Kampf“ interpretiert werden. An dieser Stelle darf jedoch nicht vernachlässigt werden, dass sich Marcuse vom Terrorismus – in concreto dem von der RAF – distanzierte. So sprach er den damaligen Bedingungen in der Bundesrepublik und in den USA das Attribut einer „revolutionären Situation“55 ab und sprach in eigenwilliger Weise unter der Überschrift „Mord darf keine Waffe der Politik sein“ in der „Zeit“ vom 16. September 1977 dem RAF-Terrorismus jegliche Legitimation ab. Dort heißt es: „Die physische Liquidierung einzelner Personen, selbst der prominentesten, unterbricht nicht das normale Funktionieren des kapitalistischen Systems selbst, wohl aber stärkt es sein repressives Potential – ohne (und das ist das Entscheidende) die Opposition gegen die Repression zu aktivieren oder auch nur zum politischen Bewusstsein zu bringen.“56 Diesbezüglich unterscheidet er zwischen revolutionärer und politisch sinnloser Gewalt. Währenddessen die revolutionäre Gewalt von revolutionären Massen ausginge, stellte der RAF-Aktionismus für ihn eine Ansammlung individueller terroristischer Akte dar, die keine revolutionäre Funktion erfüllte57, denn Terrorismus kleiner Gruppen hätte nie der Sache einer Revolution gedient. Kann Marcuse nun aber eine geistige Urheberschaft des RAF-Terrorismus vorgeworfen werden? Im weitesten Sinne gilt hier, wie Rohrmoser schreibt, dass „[d]as Denken (…) in der Geschichte, wenn es öffentlich artikuliert wurde, niemals folgenlos (…)“58 blieb. Trotz seiner Distanzierung vom RAFTerrorismus hat Marcuse in jedem Fall mit seinen Lehren die Argumentationspalette der Terroristen erweitert. Seine Ausführungen über die Situation in repressiven Industriestaaten 51
Vgl. Hakemi, Sara/ Hecken, Thomas, Die Warenhausbrandstifter, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006 Band 1, S. 316-331, hier S. 327f. 52 Zitiert nach Fetscher, Iring/Rohrmoser, Günter, Ideologien und Strategien, Opladen 1981, S. 57. 53 Zitiert nach ebd. 54 Marcuse, Repressive Toleranz, aaO. (FN 31), S. 115 55 Vgl. Marcuse, Herbert, Zu den Ereignissen in Stockholm, Interview des ARD-Magazins „Monitor“ am 28.04.1975, in: Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, aaO. (FN 2), S. 793. 56 Marcuse, Herbert, Mord darf keine Waffe der Politik sein. Kritik an der RAF, in: Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, aaO. (FN 2), S. 806-807, hier S. 807. 57 Vgl. Marcuse, Herbert, Die Verlegenheit des revolutionären Geistes, in: Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, aaO. (FN 2), S. 759-761, hier S. 760. 58 Rohrmoser, Günter, Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart, München 2000, S. 19.
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Philip Gursch
konnten als Aufforderung verstanden werden, das Naturrecht auf Widerstand anzuwenden und durch manche ungenauen Äußerungen vielleicht sogar in Form von Terrorismus. Aus diesem Grund ist wohl eher nachzufragen, ob er nicht mit seinem Ansatz einen Beitrag geleistet hat, der in den Kreisen seiner Leser ein Klima geschaffen hat, in dem Terrorismus und Gewaltbereitschaft gedeihen konnten.
Die Frankfurter Schule – Das Primat der Theorie Daniel Heller
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Allgemeines zur Frankfurter Schule und ihre Anfänge
Die Frankfurter Schule ist keine örtlich, institutionell und personell klar zurechenbare Denkschule: vielmehr ist sie ein multiperspektivisches Unterfangen, das weder inhaltlich noch personenbezogen leicht zuzuordnen und abzugrenzen ist.1 „Frankfurter Schule“ ist die erst seit den 1950er Jahren verwendete (Fremd-)Bezeichnung für die sozialphilosophische „Kritische Theorie“, die maßgeblich von Max Horkheimer begründet und geprägt wurde. In Jürgen Habermas wird ihr einflussreichster Erbe gesehen.2 Der Frankfurter Schule wird ein großer intellektueller Einfluss auf die junge Bundesrepublik Deutschland zugestanden.3 Sie soll mit ihren Werken die studentische Protestbewegung der „68er“ inspiriert und theoretisch untermauert haben, oftmals wird ihr auch – vor allem von konservativer Seite – die ideologische Inspiration und theoretische Unter1
Vgl. Waschkuhn, Arno, Kritische Theorie. Politikbegriffe und Grundprinzipien der Frankfurter Schule, München/Wien 2000, S. 1. Die Begriffe Frankfurter Schule bzw. Kritische Theorie werden im allgemeinen mit den Namen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno identifiziert; in der Regel werden auch Jürgen Habermas, häufig Friedrich Pollock, Herbert Marcuse und Walter Benjamin dazugerechnet, mitunter Erich Fromm und Leo Löwenthal, gelegentlich Franz Neumann, Otto Kirchheimer, Arkadij R.L. Gurland und Heinz Maus, seltener nur Karl August Wittfogel, Frank Borkenau und Henryk Grossmann. Der Grund für die Zurechnungsprobleme liegt darin, dass Kritische Theorie bzw. Frankfurter Schule wissenschaftsparadigmatische Selbstetikettierungen (Kritische Theorie) bzw. Fremdzuschreibungen (Frankfurter Schule) waren und sind und nicht Institutionen mit formeller Mitgliedschaft – im Unterschied zum in Frankfurt am Main gegründeten Institut für Sozialforschung, das den institutionellen Kern dessen bildete, woraus sich die Kritische Theorie bzw. die Frankfurter Schule entwickelte. Herfried Münkler, Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, in: Ballestrem, Karl Graf / Ottmann, Henning, (Hrsg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1990, S. 179-210. 2 Als die bedeutsamsten Vertreter der Kritischen Theorie werden Max Horkheimer, Theoder W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas gesehen. Siehe dazu den Beitrag von Philip Gursch in diesem Band. Das Denken und das Werk von Jürgen Habermas läßt sich nicht als nahtlose Fortführung der Kritischen Theorie Horkheimer'scher und Adorno'scher Prägung, wie sie in der „Dialektik der Aufklärung“ ihren Höhepunkt findet, sehen. Die gesellschaftlichen Diagnosen und die Gesellschaftskritik unterscheiden sich maßgeblich auch aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Beide sind „Kinder ihrer Zeit“. Während die Kritische Theorie Horkheimer'scher und Adorno'scher Prägung in der Auseinandersetzung mit dem faschistischen System des Nationalsozialismus kulminierte und in einen generell vernunftkritischen Geschichtspessimismus und in eine vernichtende Wissenschafts- und Kulturkritik mündete, sieht Habermas noch einen vernünftigen Gehalt in der „bürgerlichen“ Wissenschaft und entwirft seine Gesellschaftskritik auf der Basis eines kommunikationstheoretischen Ansatzes. Deshalb soll hier in Anlehnung an Dubiel, Helmut, Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas, Weinheim/München 1992, S. 86ff. die „frühe Kritische Theorie“, wie sie von Horkheimer und Adorno begründet und geprägt wurde, und die „späte Kritische Theorie“ von Habermas differenziert werden. 3 Siehe dazu ausführlich: Albrecht, Clemens, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. et al. 1999. Dort wird ihr Einfluß auf die Pädagogik betont. Ihre Vertreter haben sich maßgeblich bei der „Reeducation“ nach der Herrschaft der Nationalsozialisten beteiligt. Von der rechten Seite des politischen Spektrums wird ihr die intellektuelle Auflösung von traditionellen Werten vorgeworfen, siehe dazu Rolf Kosiek, Die Frankfurter Schule und ihre zersetzende Wirkung, Tübingen 2001.
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mauerung des deutschen sozialrevolutionären Terrorismus der späten 1960 und 1970er Jahre vorgeworfen. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist aus den Arbeiten hervorgegangen, die im wesentlichen am Institut für Sozialforschung (IfS)4, entstanden sind. Die Idee, Initiative und vor allem auch die Finanzierung zur Gründung verdankt das Institut für Sozialforschung im wesentlichen Felix Weil, einem marxistisch eingestellten Unternehmersohn, der sich selbst als Student der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft mit der konkreten und praktischen Sozialisierung des Unternehmertums in Deutschland auseinander setzte.5 Dabei und angesichts des politischen Scheiterns der kommunistischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte Weil ein Bedürfnis nach einer Institutionalisierung marxistischer Diskussion jenseits der Zwänge des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebes wie der ideologischen Engstirnigkeit einer kommunistischen Partei.6 Weil konzipierte das IfS zusammen mit dem renommierten linksintellektuellen Akademiker Kurt Albert Gerlach als akademisches Forschungsinstituts zur Ergründung und Vertiefung des wissenschaftlichen Marxismus und zur Erforschung wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge auf der Basis der Marx'schen Theorie. Nachdem der erste Leiter des Instituts, Carl Grünberg, der auch schon die vorgebliche Objektivität der „bürgerlichen“ Wissenschaft in Zweifel zog und den Fokus auf die Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung gelegt hat, bereits nach dreieinhalb Jahren an der Spitze des Institutes gestorben war, übernahm der Sozialphilosoph Max Horkheimer die Leitung des IfS und – mit dieser Position verbunden – den Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Frankfurter Goethe-Universität. In seiner öffentlichen Antrittsrede7 kritisiert er die idealistischen und auf liberalistischem Gedankengut basierenden Philosophien Kants und Hegels, weil sie nicht mehr das Wohl des Einzelnen (Hegel) oder der gesamten Gesellschaft (Kant) im Auge hätten und die gesellschaftlichen Zusammenhänge (ideologisch) verklären würden, und umreißt die Aufgabenstellung der Sozialphilosophie die unter seiner Leitung im IfS stattfinden solle: in der Sozialphilosophie, Soziologie wie auch in der „allgemeinen Philosophie“ hätten sich die Diskussionen über die Gesellschaft immer deutlicher „um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten“ kristallisiert.8 Das IfS würde sich zur Aufgabe machen, ohne in „dogmatischer“ oder „vereinfachender“ Weise auf vorausgegangene philosophische Theorien wie einen strengen Idealismus oder Materialismus zurückzugreifen, durch Einzelstudien auf verschiedenen Gebieten den Gesamtzusammenhang „zwischen diesen drei Verläufen“ zu ergründen.9 In dieser Rede legte Horkheimer den – auch für heutige Verhältnisse hochgra4
Als die wichtigsten Mitarbeiter des Frankfurter Instituts im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten in die USA emigrierten, wurde das Institut als „International Institute for Social Research“ an die New Yorker Columbia University verlegt. 5 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte und zu den Umständen der Gründung des IfS siehe Migdal, Ulrike, Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Frankfurt a.M./New York 1981; Wiggershaus, Rolf, Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, München/Wien 1986, hier besonders S. 19-49. 6 Vgl. ebd., S. 24. 7 Horkheimer, Max, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, S. 20-35. 8 Vgl. ebd., S. 31-32. 9 Vgl. Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, aaO. (FN 7), S. 32ff.
Die Frankfurter Schule – Das Primat der Theorie
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dig – interdisziplinären Forschungsansatz des Instituts fest: es komme darauf an, „auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen, Untersuchungen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen und (…) ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen (…).“10 Ein jeder als Experte seines Faches sollte aus seiner Perspektive zu einer umfassenden kritischen Theorie der bestehenden Gesellschaft beitragen.
2
Grundzüge der kritischen Gesellschaftstheorie
Schon die Wortbestandteile der Bezeichnung „Kritische Theorie“ enthalten die wesentlichen Merkmale der Kritischen Theorie: Kritik und Theorie. Das gemeinsame, die Vertreter der Frankfurter Schule verbindende und das die Besonderheit dieser Denkrichtung ausmachende Element ist die fundamentale und universale Gesellschaftskritik, eine sämtliche Lebensbereiche des Menschen und der Gesellschaft betreffende Kritik. Insofern hat die Kritische Theorie den Anspruch, eine allumfassende Theorie mit universalem Erklärungsanspruch zu liefern, die sich ex negativo, als Kritik an anderen philosophischen Denktraditionen, speziell an bürgerlichen Denkrichtungen wie dem Liberalismus und am Positivismus, sowie als Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem, an bürgerlicher und später faschistischer Ideologie und bürgerlicher bzw. spätkapitalistischer Kunst und Kultur („Kulturindustrie“) begründet.
2.1 Die Kritik der frühen Kritischen Theorie an der „bürgerlichen“ Wissenschaft Mit dem im Jahre 1937 veröffentlichten programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“, begründet Max Horkheimer über die kritische Abgrenzung von der „traditionellen“, „bürgerlichen“ oder positivistischen Wissenschaft bzw. Theoriebildung die kritische Theorie als Wissenschaftsparadigma. „Traditionelle Theorie“ ist für Horkheimer „das aufgestapelte Wissen in einer Form, die es zur möglichst eingehenden Kennzeichnung von Tatsachen brauchbar macht.“11 Mit anderen Worten: positivistische Wissenschaft ist aus der Sicht Horkheimers – wie auch Adornos und Marcuses – „eine Form von Wissenschaft, deren Ziel die Erkenntnis des Bestehenden ist, ohne dieses selbst in Frage zu stellen.“12 Sie sei „darauf gerichtet, Gesellschaft mittels Tatsachenforschung und Faktenwissen zu erschließen.“13 Horkheimer kritisiert, dass sich auch die Geisteswissenschaften vor allem im Hinblick auf ihren Formalismus immer mehr den Naturwissenschaften annäherten. Er bemängelt 10
Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, aaO. (FN 7), S. 29-30. 11 Horkheimer, Max, Traditionelle und kritische Theorie, S. 162, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, S. 162-216. 12 Schmidt, Alfred, Die Kritische Theorie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, in: Evangelische Akademie Bad Boll, Die Kritische Theorie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Tagung, Bad Boll 1973, S. 11; Apel, Hartmut, Die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule. Materialien zur Kritischen Theorie von Adorno, Horkheimer und Marcuse, Frankfurt a.M. 1980, S. 10. 13 Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 164.
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schon in diesem Aufsatz, dass die Formensprache, das Formalisieren der „traditionellen“ Wissenschaft, a lá „unter Voraussetzung der Umstände a b c d muß das Ergebnis q erwartet werden, fällt d weg, das Ereignis r, tritt g hinzu (...)“14 etc. zu einem Selbstzweck der Wissenschaft werden würde: „Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbständigt wird, als ob er etwa aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie.“15 Hier kommt schon die Kritik an einem weit um sich greifenden Formalismus zum Ausdruck, die in der „Dialektik der Aufklärung“ auf die Spitze getrieben wird. Horkheimer kritisiert seinen gesamten Aufsatz hindurch die „traditionelle“, bürgerliche Wissenschaft und Philosophie vehement. Indem sie die sozialen Bedingungen unter denen die Theoriebildung stattfindet als exogen ansehen würde, würde sie nicht dazu beitragen, die gesellschaftlichen Bedingungen tatsächlich für das Gros der Menschen zu verbessern. Er kritisiert eine Intelligenz, die sich von der Mehrheit der Menschen absondere, Theoriebildung im Sinne eines formalisierten Selbstzwecks, abgehoben von gesellschaftlichen Strukturen, als intellektuelles Spiel betreibe. Letztendlich diene ihre Wissenschaft den partikularen bürgerlichen Interessen, indem sie das ausbeuterische kapitalistische System rechtfertige, die Ausbeutung verschleiere und ideologisch „verkläre“ und diese ungerechten Verhältnisse reproduziere.
2.2 Die Ideologiekritik der frühen Frankfurter Schule In Zusammenhang mit der Kritik an der bürgerlichen Wissenschaft steht die Kritik an der bürgerlichen Ideologie. Beide würden nach der Kritischen Theorie letztendlich dieselbe Funktion erfüllen und demselben Zweck dienen: die maroden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verschleiern, zu „verklären“, um sie aufrechtzuerhalten, zu reproduzieren – was die bürgerliche Elite beabsichtigt, da es ihr unter den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus möglich ist, die Massen, insbesondere die Arbeiter, für ihre Zwecke und ihren Profit auszubeuten. Insbesondere diejenigen, die am meisten unter den negativen Gesellschaftsverhältnissen litten: die Arbeiter, sollen von diesen vor allem für sie elenden Verhältnisse abgelenkt werden, sie sollen verblendet werden, um sie gefügig zu machen und von jedem Widerstand abzubringen. Horkheimer exemplifiziert diese Kritik an der bürgerlichen Ideologie in seinem Aufsatz „Egoismus und Freiheitsbewegung“16 von 1936. Darin vergleicht er die Anthropologien von Machiavelli und Thomas Morus, wobei er die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe dieser Auffassungen analysiert. Die beiden Denkrichtungen unterlegte theoretische Disqualifizierung des Egoismus stehe im Widerspruch zur täglichen Praxis der bürgerlichen Gesellschaft. Jedoch komme das von den Bürgerlichen gelebte Nebeneinander von propagiertem Altruismus und praktiziertem Egoismus dem bürgerlich-kapitalistischen System entgegen, da es die Immunisierung der Interessen privilegierter Gruppen gegen die Ansprüche des allgemeinen Interesses ermögliche. Die von Führern geleiteten Massen dürfen dagegen ihren Egoismus, ihre (berechtigten) materiellen Bedürfnisse nicht befriedi14
Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 168. Ebd. Horkheimer, Max, Egoismus und Freiheitsbewegung, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. Von Alfred Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-88.
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gen, ihre Forderungen werden zurückgedrängt auf innere Läuterung, Gehorsam, Ergebung, Opferbereitschaft.17 Im Aufsatz „Traditionelle und Kritische Theorie“ schreibt Horkheimer „Wenn sich auch bei den verschärften Klassengegensätzen der letzten Jahrzehnte die Herrschaft zunehmend auf den realen Machtapparat verlassen muss, so bildet doch die Ideologie einen nicht zu unterschätzenden Kittfaktor des rissig gewordenen Gesellschaftsbaus. In der Losung, sich an die Tatsachen zu halten und jede Art von Illusion preiszugeben, steckt selbst heute noch etwas wie eine Reaktion gegen den Bund von Unterdrückung und Metaphysik.“18
2.3 Die Dialektik der Kritischen Theorie Demgegenüber sei es das Interesse der Kritischen Theorie, „die Totalität der Gesellschaft als widerspruchsvollen Gesamtzusammenhang zu entlarven.“19 Gegenüber der „traditionellen“ Wissenschaft wäre die Kritische Theorie „an der Aufdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche“ interessiert und vom „Interesse an einer menschenwürdigen Gesellschaft“ geleitet.“20 Horkheimer betont die „fundamentale Verschiedenheit“ zwischen einem gespaltenen Gesellschaftsganzen, in dem die materielle und ideologische Macht zur Aufrechterhaltung von Privilegien funktioniert, gegenüber der Assoziation freier Menschen, bei der jeder die gleiche Möglichkeit habe, sich zu entfalten.21 Letztere Gesellschaftsform sieht er hier noch nicht als Utopie, sondern als tatsächliche Möglichkeit an: „Von abstrakter Utopie unterscheidet sich diese Idee durch den Nachweis ihrer realen Möglichkeit beim heutigen Stand der technischen Produktivität.“22 Horkheimer stellt mit dieser Sichtweise eine Spannung zwischen den gegebenen Verhältnissen und einer möglichen Gesellschaft her. Den Trägern des kritischen Verhaltens seien die Tatsachen, wie sie aus der Arbeit in der Gesellschaft hervorgingen, nicht in gleichem Maße äußerlich wie dem Gelehrten. Insofern die Sachverhalte, die in der Wahrnehmung gegeben seien, als Produkte begriffen würden, die grundsätzlich unter menschliche Kontrolle gehörten und jedenfalls künftig unter sie kommen sollten, verlören sie den Charakter bloßer Tatsächlichkeit. Während der Fachgelehrte als Wissenschaftler die gesellschaftliche Realität mitsamt ihren Produkten für äußerlich ansehe, wäre das kritische Denken durch den Versuch motiviert, den Gegensatz zwischen dem im Individuum angelegten Zielbewusstsein, der Spontaneität und Vernünftigkeit einerseits und der für die Gesellschaft grundlegenden Beziehungen des Arbeitsprozesses andererseits aufzuheben.23 Es komme der kritischen Theorie auf eine Neuordnung der Arbeitsverhältnisse an. Wenn von Vernunft bestimmtes Handeln zum Menschen gehöre, sei die gegebene gesellschaftliche Praxis, welche das Dasein bis in die Einzelheiten forme, unmenschlich, und diese Unmenschlichkeit wirke auf alles zurück, was sich in der
17
Vgl. Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO. (FN 1), S. 24. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 206-207. 19 Apel, Die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule, aaO. (FN 12), S. 10. 20 Ebd. 21 Vgl. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 193. 22 Ebd., S. 193. 23 Vgl. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 183. 18
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Gesellschaft vollziehe.24 Die in der bestehenden Gesellschaft herrschenden Regeln und die für die Gesellschaft grundlegenden Beziehungen des Arbeitsprozesses seien als unnatürliche Widersprüche zu erkennen und es seien Vorkehrungen zu treffen, sie zukünftig aufzuheben. Kritische Theorie wolle Missstände aufheben, sei sich aber dessen bewusst, dass diese mit der gesamten Struktur der Gesellschaft verknüpft seien und es insofern wenig Sinn habe, theoretisch wie praktisch nur einzelne negative Phänomene zu begreifen und zu eliminieren. Das kritische Denken und seine Theorie müsse die Gesellschaft als Ganzes begreifen, weil sie die Veränderung des Ganzen anzielten und auf Emanzipation der ganzen Gesellschaft gerichtet sein.25
2.4 Kritik und soziale Umwälzung Die Erkenntnis eines widerspruchsvollen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und die an die Marx'sche Theorie angelehnte Kritik an der „traditionellen“, bürgerlichen Wissenschaft, an der „bürgerlichen“ Ideologie und an der bürgerlichen Kultur ist für Horkheimer gleichzeitig mit dem Anspruch auf eine Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden. Die kritische Anerkennung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien enthalte für ihn aber schon zugleich seine Verurteilung.26 Die Begriffe, die unter dem Einfluß der kritischen Theorie entstünden, würden die Gegenwart kritisieren.27 Die Marx'schen Kategorien Klasse, Ausbeutung, Mehrwert, Profit, Verelendung, Zusammenbruch seien Momente eines begrifflichen Ganzen, dessen Sinn nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen zu suchen sei. Sie laufe auch den herrschenden Denkgewohnheiten, die zum Fortbestehen der Vergangenheit beitragen und die Geschäfte der überholten Ordnung besorgen würden, entgegen.28 Die kritische Theorie ist für Horkheimer ein „Moment einer auf neue gesellschaftliche Formen abzielenden Praxis“.29 Was Horkheimer mit der kritischen Theorie bezweckt, versucht er noch einmal in einem „Nachtrag“30 zum Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ zum Ausdruck zu bringen. Die kritische Theorie der Gesellschaft habe die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. Was jeweils gegeben sei, hänge nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermöge.31 Die kritische Theorie folge ganz bewusst dem Interesse an der „vernünftigen Organisation der menschlichen Aktivität.“32 Sie ziele nirgends bloß auf Vermehrung des Wissens ab, sondern auf die „Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen.“33 Die
24
Vgl. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 184. Vgl. Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO. (FN 1), S. 25; Rosen, Zvi, Max Horkheimer, München 1995, S. 108109. 26 Vgl. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 181. 27 Vgl ebd., S. 192. 28 Vgl. ebd., S. 192. 29 Ebd., S. 190. 30 Horkheimer, Max, Nachtrag, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, S. 217-225. 31 Vgl. Horkheimer, Nachtrag, aaO. (FN 30), S. 217. 32 Vgl. ebd., S. 218. 33 Vgl. ebd., S. 219. 25
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kritische Theorie, die das Glück aller Individuen zum Ziel hat, vertrage sich, anders als die wissenschaftlichen Diener der autoritären Staaten, nicht mit dem Fortbestand des Elends.34 Der Beruf des „oppositionelle[n] Theoretiker[s]“ sei „der Kampf, zu dem sein Denken gehört, nicht das Denken als etwas Selbständiges, davon zu Trennendes.“35 „Die Konstruktion des Geschichtsverlaufs als des notwendigen Produkts eines ökonomischen Mechanismus enthält zugleich den selbst aus ihm hervorgehenden Protest gegen diese Ordnung und die Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts, das heißt eines Zustands, in dem seine Taten nicht mehr aus einem Mechanismus, sondern aus seinen Entscheidungen fließen. Das Urteil über die Notwendigkeit des bisherigen Geschehens impliziert hier den Kampf um ihre Verwandlung aus einer blinden in eine sinnvolle Notwendigkeit. Den Gegenstand der Theorie von ihr getrennt zu denken, verfälscht das Bild und führt zum Quietismus oder Konformismus. Jeder ihrer Teile setzt die Kritik und den Kampf gegen das Bestehende in der von ihr selbst bestimmenden Richtung voraus.“36 In diesem Sinne sei die Kritische Theorie der Versuch, die gesellschaftliche Rolle von Wissenschaft zu untersuchen und dann die richtige Form der Wissenschaft, die dem Menschen wirklich nützt, zu bestimmen.37 Die Kritische Theorie erhebt gegenüber der vermeintlich wert(urteils)frei, also nicht normativ und „objektiv“ forschenden „traditionellen“ Wissenschaft zunächst noch den Anspruch, normativ, mithilfe sozialphilosophischer Forschung die Prinzipien und Maximen einer besseren Gesellschaftsordnung herauszuarbeiten. Die frühe Kritische Theorie will die Überwindung der bestehenden ungerechten Klassenverhältnisse des Kapitalismus.38 In der Anfangsphase der frühen Kritischen Theorie glaubt Horkheimer an die Möglichkeit einer Besserung durch Umwälzung. In der Diagnose und der Kritik an unmenschlichen sozialen Verhältnissen und in der Überzeugung, dass mithilfe der kritischen Theorie eine gerechtere soziale Ordnung möglich gemacht werden könne, offenbart sich das sozialrevolutionäre Gedankengut der frühen Kritischen Theorie Horkheimerscher Prägung.
2.5 Die Kritische Theorie und Karl Marx Die kritischen Theoretiker gehen grundsätzlich von einem dialektisch-materialistischen Geschichts- und auch Gesellschaftsbild aus. In ihrem Selbstverständnis von Gesellschaft knüpft die Frankfurter Schule – aufbauend auf den im wesentlichen von Marx begründeten dialektischen Materialismus – an die Marx'schen Kapitalismusanalyse an, aus der wesentliche Theorem entlehnt werden.39 Die Marx'sche Gesellschaftstheorie als Ausgangspunkt40 wird von ihnen fortentwickelt.41 Deshalb wird die Kritische Theorie als eine Spielart des Marxismus, als eine Art des Neo-Marxismus klassifiziert. 34
Vgl. Horkheimer, Nachtrag, aaO. (FN 30), S. 221. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 190. 36 Vgl. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S. 203. 37 Vgl. auch Schmidt, Die Kritische Theorie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, aaO. (FN 12), S. 11. 38 Vgl. Apel, Die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule, aaO (FN 12), S. 10; Habermas intendiert demgegenüber später keinen Umsturz der bundesrepublikanischen Demokratie. Er glaubt auch an Emanzipationsmöglichkeiten der Gesellschaft innerhalb des Kapitalismus, dazu später. 39 Vgl. Apel, Die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule, aaO. (FN 12), S. 26. 40 Vgl. Reijen, Willem van, Philosophie als Kritik. Einführung in die kritische Theorie, Königstein 1984, S. 9. 41 Vgl. Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO. (FN 1), S. 3. 35
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Die Frankfurter Philosophen kritisieren in Anlehnung an Marx und Engels an der damaligen Gesellschaft, dass durch die kapitalistische Produktions- und Tauschwirtschaft zusammen mit dem technisch-industriellen Fortschritt zwar eine nie zuvor da gewesene Produktivität und dadurch ein riesiger Überschuss an Gütern produziert werden könnte, diese Möglichkeiten aber nicht dem Gros der Menschen, und vor allem nicht den Menschen, die maßgeblich diese Produkte produzierten –den Arbeitern – zugute kommen. Darin wird die fundamentale Ungerechtigkeit gesehen, die die Wirtschafts- und Gesellschaftskritik sowohl von Marx und Engels als auch von der Frankfurter Schule antrieb. Die durch die Industrialisierung produzierbaren Mitteln würden nicht optimalerweise dazu eingesetzt alle Menschen zu versorgen und gegen natürliche Katastrophen abzusichern. Die Grundproblematik auf die sie diese Ungerechtigkeit zurückführen ist, dass die eigentlich für alle segensreich wirken könnende Produktivität in eine soziale Macht- und Herrschaftskonstellation eingespannt ist, in der sie, anstatt die Menschen von Naturkatastrophen zu emanzipieren, von sich aus Zusammenbruch, Ruin, Hunger, Obdachlosigkeit bewirkt, als wären es Naturkatastrophen.42 Hier kommt die Diagnose eines Missverhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen – ein Marx'sches Theorem – zum Ausdruck, an dem alle kritischen Theoretiker festhalten. Die kritischen Theoretiker machen sich für ihre Theoriebildung darüber hinaus die Arbeits- und Tauschwertlehre von Marx zu eigen. „Nach Marx beinhaltet das Kapitalverhältnis ein Tauschverhältnis: der Arbeiter tauscht seine Arbeitskraft gegen ein bestimmtes Geldquantum und stellt als Gegenleistung dem Käufer für eine gewisse Zeit seine Arbeitskraft zur Verfügung.“43 Marx will aufzeigen, wie sich hinter diesem scheinbar gerechten Austausch in Wahrheit ein Ausbeutungsverhältnis verberge.44 Der Kapitalist würde das Arbeitsvermögen des Arbeiters für eine bestimmte Geldsumme erwerben, um es im Produktionsprozess anzuwenden. Die Ungleichheit des Tauschverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit bestehe nun darin, dass der Arbeiter während des Produktionsprozesses mehr Wert schaffe, als er koste. Wäre dies nicht so, würde der Kapitalist den Arbeiter nicht einstellen, denn dem Kapitalisten gehe es um die Vermehrung seines Kapitals. Würde der Arbeitsprozess mit der Ersetzung des vom Kapitalisten gezahlten Wertes der Arbeitskraft aufhören, dann würde der Kapitalist keinen Gewinn erzielen. Während in vorkapitalistischen Gesellschaften das Ausbeutungsverhältnis offensichtlich gewesen wäre, sei es in der kapitalistischen Gesellschaft verschleiert.45 Marcuse wie auch Horkheimer und Adorno nehmen den Marx'schen Gedanken über das Wesen des Tausches auf; sie machen ihn zu einer weiteren Grundlage ihrer Gesellschaftskritik.46 Die Frankfurter Theoretiker sehen die Verhältnisse zwischen den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaftsform als verdinglicht in dem Sinne an, als dass die Beziehungen zwischen den Menschen zu Beziehungen zwischen Dingen oder Werten geworden sind. Sie sehen die Menschen im Kapitalismus nur noch zu den Geschäftsträgern bestimmter Vermögensverhältnisse degradiert.47 Marx sieht in den Produktions- und 42
Vgl. Türcke, Christoph / Bolte, Gerhard, Einführung in die Kritische Theorie, Darmstadt 1994, S. 8. Apel, Die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule, aaO. (FN 12), S. 26. 44 Vgl. ebd., S. 26-27. 45 Vgl. ebd., S. 27. 46 Vgl. Apel, Die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule, aaO. (FN 12), S. 27. 47 Vgl. Reijen, Philosophie als Kritik, aaO. (FN 40), S. 10. 43
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Tauschverhältnissen des Kapitalismus das entscheidende Bestimmungsmerkmal für die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse.48 Die Begründer der Kritischen Theorie greifen das materialistische Grundaxiom von Karl Marx, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, auf.
2.6 Materialistische Kulturkritik Auch der Kulturkritik der Frankfurter Schule liegt eine materialistische Anschauung zugrunde, nämlich die Annahme, dass die Deutungsmuster, Wertsysteme und politische Ideologien einer Gesellschaft irgendwie beeinflusst sind von der Art und Weise wie die Menschen ihre Wirtschaft organisieren. Die Kritischen Theoretiker gingen davon aus, dass die ökonomischen Verhältnisse sich nicht nur auf die Bewusstseinstruktur des Menschen auswirken, sondern auch auf das Zustandekommen von Ideologie, genauso wie auf die Kultur – auf das kulturelle Bewusstsein, um diese beiden Bereiche zu verbinden. Orthodoxe Marxisten vor Horkheimer seien einfach davon ausgegangen, dass Kultur eigentlich keine eigenständige Sphäre mit eigenständiger Existenzberechtigung wäre, die eigenen Regeln folge: Kultur wäre für sie nur eine „Spiegelung“ der ökonomischen Verhältnisse, ein „ökonomischer Reflex“.49 Mit dem Marx'schen Basis-Überbau-Schema ausgedrückt: die ökonomische Basis determiniert nicht nur den ideologischen, sondern auch den kulturellen Überbau, der seinerseits nur eine Ausprägung ist, eine Spiegelung, ein von der Ökonomie ableitbares Epiphänomen. Zwar hätte Horkheimer grundsätzlich die materialistische Auffassung der Abhängigkeit der kulturellen Bewusstseinsformen von den ökonomischen Verhältnissen einer Gesellschaft geteilt. Er hätte aber die Ansicht der orthodoxen Marxisten aber als eine unterkomplexe Basis-Überbau-Schematik erachtet. Ihn hätte besonders der Vermittlungszusammenhang zwischen Basis und Überbau interessiert, wie also die ökonomischen Verhältnisse der Basis in die Kultur vermittelt werden. Dieses Problem ist für ihn eines, das man nicht mehr allein innerphilosophisch entscheiden könne, sondern vielmehr als ein Problem das sich eigentlich erst sozialpsychologischer Forschung erschließe.50 Mit dem Aufstieg des Faschismus untersuchen die Kritischen Theoretiker das Phänomen der „Massenkultur“ und der „Kulturindustrie“ als Mittel zur Massenmanipulation und Herrschaftsinstrument mithilfe psychoanalytischer Methoden. In diesem Zusammenhang zeigt sich, wie die Frankfurter Schule die Psychoanalyse benutzte um kultureller und ideologischer Vermittlung von Herrschaft, die aber doch wieder auf ökonomischen Verhältnissen beruht, auf den Grund zu gehen versucht. Die Verzahnung der materialistischen Geschichtsauffassung, der materialistischen Kulturkritik und der Kapitalismuskritik mit der modernen Tiefenpsychologie, wird als eine der bedeutendsten Leistungen der Frankfurter Schule angesehen. Für Adorno wird im Faschismus Kultur als „Massenkultur“ zu einem Herrschaftsinstrument, Kunst wird zu der Möglichkeit politischer Verfügung. Adorno sieht in der spät-
48
Vgl. Reijen, Philosophie als Kritik, aaO. (FN 40), S. 10. Vgl. Dubiel, Kritische Theorie der Gesellschaft, aaO. (FN 2), S. 26. 50 Vgl. ebd., S. 28. 49
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kapitalistischen „Massenkultur“ nichts anderes als eine durch und durch manipulative, propagandistische und ideologische Zurichtung des Bewusstseins der Massen.51
2.7 Die Kritische Theorie und die Rolle des Proletariats Horkheimer geht anfangs davon aus, dass die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation der menschlichen Arbeit immanent sei, ohne jedoch den Individuen oder dem öffentlichen Geist in richtiger Form gegenwärtig zu sein. Es gehöre ein bestimmtes Interesse dazu, diese Tendenzen wahrzunehmen. Es sei die Lehre von Marx und Engels, dass es im Proletariat notwendig erzeugt werde: „Aufgrund seiner Situation in der modernen Gesellschaft erfährt das Proletariat den Zusammenhang zwischen einer Arbeit, welche den Menschen in ihrem Kampf gegen die Natur immer mächtigere Hilfsmittel an die Hand gibt, und der fortwährenden Erneuerung einer veralteten gesellschaftlichen Organisation. Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen, Militarisierung, terroristische Regierungen, der ganze Zustand der Massen ist nicht etwa in den geringen technischen Möglichkeiten gegründet, wie es in früheren Epochen der Fall sein mochte, sondern in den der Gegenwart nicht mehr angemessenen Verhältnissen, unter denen produziert wird. Die Anwendung der gesamten geistigen und physischen Mittel der Naturbeherrschung wird dadurch behindert, dass sie unter den herrschenden Verhältnissen partikularen, sich widerstreitenden Interessen anheim gegeben sind. Die Produktion ist nicht auf das Leben der Allgemeinheit abgestellt und besorgt auch die Ansprüche der Einzelnen, sondern auf den Machtanspruch von Einzelnen und besorgt auch zur Not das Leben der Allgemeinheit.“52 Allerdings deutet Horkheimer schon in seinem frühen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ an, dass er in der Situation des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis sieht., wodurch sich schon eine erste Distanzierung von der optimistischen Marx'schen Zukunftsprognose ergibt, wonach sich das Proletariat zu dem Zeitpunkt, zu dem sie sich ihrer elenden und ungerechten Situation bewußt würde, auch automatisch zum bewußten revolutionären Subjekt der Geschichte aufschwingen würde und die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus umstürzen werde. Horkheimer stellt hier schon fest: „Wie sehr es (das Proletariat, D.H.) die Sinnlosigkeit als Fortbestehen und Vergrößerung der Not und des Unrechts an sich selbst erfährt, so verhindert doch die von oben noch geförderte Differenzierung seiner sozialen Struktur und die nur in ausgezeichneten Augenblicken durchbrochene Gegensätzlichkeit von persönlichem und klassenmäßigen Interesse, dass dieses Bewusstsein sich unmittelbar Geltung verschaffe.“53 In den folgenden Werken aller kritischen Theoretiker wird immer deutlicher, dass für sie das Proletariat als bewusstes Subjekt der Geschichte abgedankt hat.54
51
Vgl. Dubiel, Kritische Theorie der Gesellschaft, aaO. (FN 2), S. 33. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, aaO. (FN 11), S. 187. 53 Ebd., S. 187-188. 54 Die Gründe hierfür werden ausführlich von Türcke/ Bolte, Einführung in die Kritische Theorie, aaO. (FN 42), S. 12ff. erläutert. 52
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2.8 Die Erforschung des Nationalsozialismus Mit dem wachsenden Einfluss des Faschismus verliert die Frankfurter Schule den Glauben, dass Kapitalismus und Faschismus historische Erscheinungen von vorübergehender Art sein könnten, die durch das Proletariat als revolutionäres Subjekt überwunden werden könnten.55 Das die Frankfurter Schule ab den späten 1930er Jahren antreibende „Motiv“, „war das einer enttäuschten Revolutionserwartung, - das für sozialistische Intellektuelle traumatische Paradox, dass die entscheidende Krise in der Geschichte des Kapitalismus nicht nur kein revolutionäres Klassenbewusstsein hervorbrachte, sondern im Gegenteil die Empfänglichkeitsschwelle für autoritäres politisches Verhalten gerade bei jenen senkte, die am meisten unter jener Krise zu leiden hatten.“56 Ab den 1940er Jahren wird von der Frankfurter Schule systematische und umfassende Faschismusforschung betrieben: es sollen Begründungen und Erklärungen dafür gefunden werden, wie es zum Faschismus kommen und warum das Proletariat dies nicht verhindern konnte. Zu Anfang bemühten sich die Theoretiker der Frankfurter Schule die Machtergreifung der Nationalsozialisten streng marxistisch als Folge des bis zur Unerträglichkeit verdichteten Widerspruchs zwischen der nachliberalen Wirtschaftsorganisation (als Basis) der späten Weimarer Republik und deren liberaler politischer Kultur (als Überbau)zu erklären. Zunächst interpretiert die Kritische Theorie den Übergang zum deutschen Faschismus als die totalitäre Anpassung des politischen Apparats der ersten deutschen Republik an die „monopolkapitalistische“ oder „staatskapitalistische“ Struktur ihres Wirtschaftssystems, die auch als „totalitärer Kapitalismus“ bezeichnet wird.57 Später setzt sich die Überzeugung durch, dass der Faschismus nicht mehr aufgrund seiner ökonomischen Basis erklärt werden kann. Die Überzeugung wächst, dass Kapitalismus und Faschismus schon an den Wurzel der herrschenden Kultur angelegt sind: Kultur war für die Kritische Theorie nun nicht mehr länger ein aus der ökonomischen Basis heraus ableitbares Epiphänomen.58 Nun werden Erklärungsansätze entwickelt, die sämtliche Instrumente der Kritischen Theorie mit einbeziehen. Es wird versucht, den Nationalsozialismus, die Massenmanipulation durch Massenpropaganda und den herrschenden Antisemitismus mithilfe von Psychoanalyse auf sehr subtile Weise zu erklären. Hierbei tut sich besonders Adorno hervor. Er widmet sich intensiv der detaillierten Analyse der psychologischen Aspekte des Faschismus und seiner Propaganda wie auch des Antisemitismus.59 A55
Vgl. Reijen, Philosophie als Kritik, aaO. (FN 40), S. 43. Dubiel, Kritische Theorie der Gesellschaft, aaO. (FN 2), S. 63. 57 In dem Aufsatz „Bemerkungen zur Wirtschaftskrise“, der im Frühjahr 1933 niedergeschrieben wurde, hat Friedrich Pollock die These aufgestellt, dass schon die Weltwirtschaftskrise – neben anderen Faktoren – strukturell verursacht worden sei durch das Missverständnis zwischen einer wirtschaftlichen Dynamik, die durch die drastische Abnahme wirtschaftlicher Handlungseinheiten (Monopolisierung) gekennzeichnet sei und einem rechtlichen Rahmen, der eigentlich auf die Verhältnisse des Liberalkapitalismus zugeschnitten gewesen wäre. Die repressiven Maßnahmen der Nationalsozialisten (Reichtagsbrandverordnung, die Grundrechte außer Kraft setzte; „Ermächtigungsgesetz“, das – indem es dem Kabinett legislative Befugnisse einräumte – letztlich die Gewaltenteilung aufhob ...) interpretierte Pollock als Symptome eines Prozesses der politischen Disziplinierung der Gesellschaft; dessen Notwendigkeit resultierte wiederum aus dem Widerspruch zwischen der monopolkapitalistischen Struktur der Produktionsverhältnisse und der politischen Form der Gesellschaft. Der Faschismus, speziell der deutsche Nationalsozialismus, sei die adäquate Form politische Form des hoch entwickelten Monopolkapitalismus. Vgl. Ebd., S. 64ff. 58 Vgl. Münkler, Die kritische Theorie der Frankfurter Schule, aaO. (FN 1), S. 186. 59 S. z.B. Adorno, Theodor W., Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Ders., Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1971, S. 61ff. 56
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dorno untersucht mit einer Forschungsgruppe in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre im Rahmen der berühmten Arbeit „Studien zum autoritären Charakter“60, ob es bestimmte autoritäre Persönlichkeitsstrukturen gibt, die besonders empfänglich sind für faschistische Propaganda. Die Forschungsgruppe versuchte einen „autoritären Charakter“ mithilfe einer Liste von theoretisch deduzierten und empirisch bestätigten Merkmalen zu charakterisieren. Es wurden Skalen zur quantitativen Einstufung verschiedener Merkmale eines autoritären Charakters entwickelt: eine Antisemitismusskala, eine Ethnozentrismus-Skala sowie eine Polit-ökonomische Konservativismus-Skala aus der schließlich eine Faschismus-Skala („FSkala“) entwickelt wurde, die den Grad an faschistischem Potential eines autoritären Charakters messen bzw. quantifizieren sollte. Für die Theoretiker der Frankfurter Schule werden die eigentlich irrationalen, autoritätenhörigen Momente des Faschismus im wesentlichen durch die Familie – besonders durch die Autorität des Vaters, und die propagandistische Massenkultur vermittelt.
2.9 Kritik an einer instrumentellen Vernunft In der 1947 zuerst erschienen „Dialektik der Aufklärung“, einem Gemeinschaftswerk von Horkheimer und Adorno, erreicht die frühe Kritische Theorie Horkheimerscher und Adorno’scher Prägung ihren Höhepunkt. Die Theoreme vom Tauschwert, einer Unterwerfung des Individuellen unter das Allgemeine durch theoretische Abstraktion, die Kritik am Formalismus des Positivismus, die Kritik an der generellen Verdinglichung und die Ökonomisierung der Gesellschaft und eine subtile Kapitalismuskritik werden in der „Dialektik der Aufklärung“ erweitert zu einer umfassenden Kritik an der Aufklärung an sich. Alle genannten Elemente werden in diese geschichtliche Fundamentalkritik an der Aufklärung eingebettet, wodurch sie zu einem Gesamtzusammenhang verschmelzen. Die Dialektik wird durch die These ausgedrückt, dass Aufklärung selbst Mythologie ist und Mythologie Aufklärung. Die Perzeption, dass sich der Kreis von Faschismus, Stalinismus und kapitalistischer Massenkultur zu einem totalitären Ganzen gegen den Menschen als individuelles Subjekt geschlossen habe,61 was die Arbeiterbewegung nicht verhindern konnte, ließ sie endgültig allen optimistischen Zukunftsprognosen des Marxismus und allen Fortschrittskonzeptionen der Aufklärung Abschied nehmen und führte zu der kultur- und geschichtspessimistischen, fortschrittskritischen Vernunftkritik der „Dialektik der Aufklärung“.62 Nicht mehr nur das kapitalistische System, sondern ein instrumentelles Verhältnis von Vernunft wird als die Ursache für die totale Unterdrückung des Menschen, die sich am augenscheinlichsten im Faschismus offenbart, gesehen. In der „Dialektik der Aufklärung“ beklagen Horkheimer und Adorno eine totale Beherrschung des Menschen durch eine technisch-rationalisierte Vernunft, die zu einer total verwalteten Welt führen würde. Ein technisch-instrumentelles Verständnis der Vernunft würde nicht nur die Natur, sondern auch die innere Natur des Menschen beherrschen:„[D]ie Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden 60
Adorno, Theodor W., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a.M. 1973. Vgl. Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO, (FN 1), S. 4. 62 Vgl. ebd. 61
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beide nichtig.“63 „Mit der Preisgabe des Denkens, das in seiner verdinglichten Gestalt als Mathematik, Maschine, Organisation an den seiner vergessenden Menschen sich rächt, hat Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung entsagt. Indem sie alles einzelne in Zucht nahm, ließ sie dem unbegriffenen Ganzen die Freiheit, als Herrschaft über die Dinge auf Sein und Bewußtsein der Menschen zurückzuschlagen.“64 Im technischen Fortschritt sahen die Dialektiker zugleich eine Naturverfallenheit der Menschen, denn die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleihe andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über sie verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung: “Die Totalisierung politischer Herrschaft im Faschismus, die Verstümmelung von Individualität, die autoritäre Disziplinierung aller Formen kultureller Wertorientierung in Massenkultur und Propaganda sind jetzt für Horkheimer und Adorno nur noch zeitgenössische Begleiterscheinungen einer für Herrschaftszwecke unmittelbar in Regie genommener Vernunft.“65 In der „Dialektik der Aufklärung“ findet sich wenig Hoffnung auf die Möglichkeit der Verwirklichung einer vernünftigen Gesellschaft, auf die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Änderung zum Besseren, einer Revolution oder zumindest Emanzipation der Menschheit: „Der mythische wissenschaftliche Respekt der Völker vor dem Gegebenen, das sie doch immerzu schaffen, wird schließlich selbst zur positiven Tatsache, zur Zwingburg, der gegenüber noch die revolutionäre Phantasie sich als Utopismus vor sich selber schämt und zum fügsamen Vertrauen auf die objektive Tendenz der Geschichte entartet. Als Organ solcher Anpassung, als bloße Konstruktion von Mitteln ist Aufklärung so destruktiv, wie ihre romantischen Feinde es ihr nachsagen.“66
2.10 Späte Kritische Theorie: Kommunikatives Handeln (Habermas) Habermas entwickelt seine eigene Theoriebildung zunächst anhand einer Rezeption und Auseinandersetzung mit den großen philosophischen und soziologischen Theorien.67 Er verhält sich auch kritisch gegenüber der Kritischen Theorie Horkheimerscher und Adorno’scher Prägung. Er ist den Gesellschaftsdiagnosen der „Dialektik der Aufklärung“ nicht gefolgt,68 sondern hält an dem „vernünftigen Gehalt der Moderne“ fest: für Habermas wäre die Selbstreflexion der Wissenschaft imstande, über die pure Produktion technisch verwertbaren Wissens hinauszugehen, die Kraft ästhetischer Grunderfahrung sei – allen Konventionalisierungen zum Trotz – ein Garant der Selbstverwirklichung des Subjekts.69 Habermas stehe somit in der Tradition Kritischer Theorie, indem er diese kritisiert und versucht, sie weiterzuentwickeln.70 Habermas versucht die Defizite der früheren Kritischen Theorie zu überwinden, indem er eine kommunikationstheoretische Deutung der Moderne und der 63
Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 41. 64 Ebd., S. 48. 65 Dubiel, Kritische Theorie der Gesellschaft, aaO. (FN 2), S. 22. 66 Horkheimer/ Adorno, Dialektik der Aufklärung, aaO. (FN 63), S. 48. 67 Vgl. Münkler, Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, aaO. (FN 1), S. 194. 68 Vgl. ebd., S. 193; Dubiel, Kritische Theorie der Gesellschaft, aaO. (FN 2), S. 127. 69 Vgl. Münkler, Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, aaO. (FN 1), S. 193. 70 Vgl. Jäger, Wieland/ Baltes-Schmitt, Marion, Habermas, Jürgen, Einführung in die Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 43.
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Gesellschaft entwickelt.71 Für Habermas unterscheide sich eine Gesellschaft von allen anderen Entitäten durch Kommunikation.72 In seinen frühen Arbeiten unterscheidet er zunächst zwischen Arbeit und Interaktion, später – breiter angelegt – zwischen zweckrationalem und kommunikativem Verhalten.73 Auf der elementaren grundbegrifflichen Unterscheidung zwischen „zweckrationalem“ und „kommunikativen“ Handeln baut sein gesamtes späteres Theoriegebäude auf. Grundsätzlich gehe Habermas davon aus, dass die Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Subsysteme von der integrativen Kraft eines zwanglos erzielten, kommunikativen Einverständnisses (Konsens) abhängig sei.74 Ein kommunikativ erzieltes und diskursiv begründbares, zwangloses Einverständnis, das deshalb zwanglos sei, weil es allein auf dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments beruhe, sei für Habermas Ausdruck einer Rationalität, die sich von Zweckrationalität dadurch unterscheide, dass ihr einziger Maßstab die argumentative Begründbarkeit und nicht schon der Einsatz geeigneter Mittel für irgendeinen vorausgesetzten Zweck sei.75 Habermas entwirft in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ ein zweistufiges Konzept der Gesellschaft, in dem Modernisierungsprozesse als Entkoppelung von System und Lebenswelt zu verstehen sind.76 Dazu verquickt er soziologische Systemtheorie und Handlungstheorie. Mit seiner These von der „Kolonialisierung der Lebenswelten“ will Habermas pathologische Varianten der spätkapitalistischen Gesellschaft mit der Unterwerfung der lebensweltlichen Handlungszusammenhänge unter systemische Imperative erklären.77 Er setzt sich mit den aus einem Rationalisierungsparadoxon resultierenden Pathologien der spätkapitalistischen Gesellschaft auseinander, nämlich mit den Tendenzen der Verrechtlichung und Unterwerfung unter die Maxime der Wirtschaft.78 Die Gefahr für die moderne industriekapitalistische Gesellschaft liege nach Habermas darin, dass Monetarisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung der lebensweltlichen Handlungs- und Funktionszusammenhänge zu einer systemischen Vereinnahmung der Lebenswelt führen und sich in diesem Bereich und in deren Handlungszusammenhängen system-funktionale Imperative ausbreiten und verselbständigen. Diesen Prozess der sukzessiven Okkupation der Lebenswelt durch systemische Imperative nennt er Kolonialisierung. Kolonialisierte Lebenswelten seien immer weniger fähig, ihre Funktionen, nämlich soziale Integration, personale Sozialisation und kulturelle Reproduktion, entsprechend der eigenen lebensweltlichen Imperative zu erfüllen.79 Doch nicht Marktwirtschaft, Bürokratie und Verrechtlichung an sich seien das Problem, sondern ihre Entkoppelung von der öffentlichen Kontrolle durch die Bürger. Mit der Ablösung des Kapitals, der Macht und der Funktionseliten würden von Haus aus nicht vermachtete, nicht marktförmige und nicht rechtliche Verständigungsverhältnisse in Familien, Schulen, Gewerkschaften, Universitäten, politischen Parteien, Fernsehsendern, öffentlichen Foren, Vereinen, im Internet usw. geöffnet und der Vermachtung, Vermarktung und Verrechtlichung preisgegeben und in ihrem kommunikativen Eigensinn verletzt.80 Die 71
Vgl. Jäger/ Baltes-Schmitt/ Habermas, Einführung in die Theorie der Gesellschaft, aaO. (FN 70), S. 44. Vgl. Brunkhorst, Hauke, Habermas, Leipzig 2006, S. 24. 73 Vgl. Münkler, Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, aaO. (FN 1), S. 192. 74 Vgl. Brunkhorst, Habermas, aaO. (FN 72), S. 29. 75 Vgl. ebd., S. 30-31. 76 Vgl. Jäger/ Baltes-Schmitt, Jürgen Habermas, aaO. (FN 70), S. 24. 77 Vgl. ebd., S. 26. 78 Vgl. ebd., S. 43. 79 Vgl. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Band II, Frankfurt a.M. 1999, S. 539. 80 Vgl. Brunkhorst, Habermas, aaO. (FN 72), S. 53. 72
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Aufrechterhaltung einer politischen Öffentlichkeit, deren Entdemokratisierung durch Macht, Konsumismus und Verrechtlichung Habermas in seiner Arbeit „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ kritisierte, war ihm ein zentrales Anliegen.81 Habermas hat prinzipiell eine positive Einstellung zur gegenüber der Demokratie als Gesellschaftsordnung. Allerdings sieht er die bundesrepublikanische Demokratie – insbesondere ihre Legitimation – durch die im Spätkapitalismus sich vollziehende „Kolonialisierung der Lebenswelt“ – durch Vermachtung, Vermarktung, Bürokratisierung, Verrechtlichung der Gesellschaft – und einer mangelnden Beteiligung der Bürger an der Politik gefährdet. Aus seiner Beschäftigung mit Demokratietheorien heraus entwickelt er das Konzept einer „deliberativen Demokratie“, die er diesen öffentlichkeits-, diskurs- und kommunikationsfeindlichen Tendenzen entgegensetzt.82 Habermas glaubt an ein Emanzipationspotential des Menschen, das die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ nunmehr skeptisch sehen. Er setzt an die Stelle einer technischrationalisierten Vernunft, die den Mythos und den Mensch durch Herrschaft verschlinge, eine kommunikative Vernunft.83 Für ihn ergibt sich soziale Evolution durch Kommunikationsprozesse. „Die sozialevolutionäre Stufe moderner Verständigungsverhältnisse“ enthalte für Habermas Alternativen zum und sogar im Kapitalismus, die ergriffen und ausprobiert werden könnten und in sozialen Kämpfen immer von neuem zur Disposition stünden.84
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Die Einstellung von Horkheimer, Adorno und Habermas zur RAF und die Rezeption ihrer Kritischen Theorie durch die RAF
Theoretische und praktische Ideen, Absichten und Ziele der – abgesehen von Marcuse – bedeutsamsten Vertreter der Kritischen Theorie, Horkheimer, Adorno und Habermas, erschließen sich durch den komplizierten Inhalt aber auch durch die unsystematische und unstrukturierte Form ihrer Schlüsseltexte für den Leser keinesfalls einfach. Aufgrund der Komplexität, der Unklarheit, der schieren Länge der Texte und der Mühe ihrer Erschließung erscheint es als sehr unwahrscheinlich, dass die Protagonisten des sozialrevolutionären Terrorismus, neben ihrem Aktionismus (Vorbereitung und Durchführung ihrer Aktionen, was Ausbildung und die Beschaffung von Geldmitteln umfasst, aber auch neben ihrer sonstigen Protesttätigkeit) Zeit und Muße gefunden haben, sich die schwer zugänglichen Texte der kritischen Theoretiker wirklich eingehend zu Gemüte zu führen und zu durchdenken. Wenn man davon ausgehen würde, dass Aktivisten wie Baader, „Bommi“ Baumann, Boock und Konsorten sich von der Frankfurter Schule in authentischer Weise theoretisch-ideologisch inspiriert hätten, indem sie sich ihre Theoreme erarbeitet hätten, dann würde man sie überschätzen. Dementsprechend schreibt Waschkuhn, dass die „Dialektik der Aufklärung“ von den revoltierenden Studenten nur ahnungsvoll im Sinne einer symbolischen Munitionierung des Protests gegen den Status quo und den Spätkapitalismus „verstanden“ worden wäre.85 81
Vgl. ebd., S. 16. S. dazu das Kapitel „Deliberative Demokratie“ in: Reese-Schäfer, Walter, Jürgen Habermas, Frankfurt/New York 2001, S. 102ff. 83 Vgl. Brunkhorst, Habermas, aaO. (FN 72), S. 49. 84 Ebd., S. 52. 85 Waschkuhn, Kritische Theorie, aaO. (FN 1), S. 36. 82
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Davon abgesehen ist es keinesfalls so, dass man aus den Texten keinerlei praktische Handlungsanweisungen herauslesen oder ableiten kann. Die Kritische Theorie ist bewusst und absichtlich als Theorie konzipiert worden. Die Praxisfeindlichkeit und der Rückzug zur Theorie hat sich bei Horkheimer und Adorno im Laufe der Zeit zunehmend verstärkt. Dementsprechend schreibt Susanne Kailitz: „So ausführlich Horkheimers und Adornos Gesellschaftsanalyse war, so wenig praktische Auswege boten die Gründer der Kritischen Theorie aus dem Bestehenden Schlechten an.“86 Horkheimer schreibt in dem Aufsatz „Traditionelle und Kritische Theorie“ mehrmals, dass die Kritische Theorie eine menschenwürdige(re), vernünftige(re) Gesellschaft, in der die produzierten Güter der Allgemeinheit zugute kommen, zum Ziel hat. Wie diese konkret, in organisatorischer oder institutioneller Hinsicht aussehen sollte oder durch welche Mittel, durch welche Form der Praxis diese erreicht werden sollte, wird auch nicht ansatzweise formuliert. Auch Habermas bleibt mit seinem Konzept der deliberativen Demokratie eher im Vagen. Gerade in der „Dialektik der Aufklärung“ zeigt sich, dass Horkheimer und Adorno eine tatsächlich befreiende und emanzipierende Praxis als kaum mehr möglich oder Erfolg versprechend gesehen wurde. Man kann gerade ihnen nicht vorwerfen, dass sie in irgendeiner Art und Weise Handlungsanleitungen für terroristische Organisationen gegeben hätten. Das Ziel Habermas' war es stets, Menschen zu einer friedlichen politischen Betätigung zu bewegen, besonders zu einer Kontrolle der Politik. Für Horkheimer, Adorno und Habermas hat das Proletariat als revolutionäres Subjekt abgedankt, sie drücken auch mehrmals ihre Abscheu gegenüber dem real existierenden sozialistischen System der Sowjetunion aus. Also kann auch nicht angenommen werden, dass sie im Sozialismus eine positive Alternative für die kapitalistische Gesellschaft gesehen hätten. Die Kritische Theorie ist eine tiefgehende, umfassende, fundamentale und radikale Kritik an der damals bestehenden Gesellschaft. Die kritischen Theoretiker formulieren also kaum positive Ziele. In ihrem ex negativo-Ansatz bei gleichzeitiger Verweigerung, konkrete eigene, positive Ziele zu formulieren, ist ein Strukturmerkmal zu sehen, das auch den sozialrevolutionären Terrorismus im besonderen und Terrorismus als gewaltsamster Form des Protests allgemein charakterisiert. Doch auch damit ist keine Verantwortung zu begründen. Kailitz beobachtet und betont diese Diskrepanzen hinsichtlich der Rolle von Theorie und Praxis, die bei den Vertretern der Frankfurter Schule und den Protagonisten des sozialrevolutionären Terrorismus bestehen. Als Voraussetzung für die Untersuchung eines potentiellen Zusammenhangs zwischen den Lehren der Frankfurter Schule und dem sozialrevolutionären deutschen Terrorismus, im wesentlichen der RAF, analysiert Kailitz zuerst die Wahrnehmung der politischen Situation verschiedener Vertreter der Frankfurter Schule und der RAF und danach die Einstellungen der Vertreter der Frankfurter Schule und der RAF zur Gewaltfrage, also zu der Frage, ob Gewalt ein legitimes und auch probates Mittel des politischen Protests sei. In der „Dialektik der Aufklärung“ hätten Horkheimer und Adorno angedeutet, was sie späteren Schriften deutlich ausdrückten: für sie wäre gesellschaftliche Herrschaft immer mit Gewalt verbunden.87 Das Denken von Horkheimer und Adorno wäre geprägt gewesen durch eine Vorstellung von Gewalt, die vom herrschenden System der totalen Integration ausgehe, dem alle Individuen physisch und psychisch ausgeliefert seien. Doch in ihrem 86
Kailitz, Susanne, Von den Worten zu den Waffen. Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007, S. 85. 87 Vgl. Kailitz, Von den Worten zu den Waffen, aaO. (FN 36),S. 82.
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Spätwerk seien sie davon ausgegangen, dass es keinen praktischen, gesellschaftlichen, kollektiven Ausweg mehr gebe. Laut Kailitz hegten Horkheimer und Adorno denen gegenüber, die sich wie die rebellierenden Studenten mit dieser Vergeblichkeit nicht abzufinden vermochten und nach Auswegen suchten, ein tiefes Misstrauen.88 Horkheimer hätte befürchtet, dass sich aus einer Bewegung, die glaubte, sich auf das Volk berufen zu können, eine neue faschistische Speerspitze bilden könnte.89 Im kurzschlusshaften, fixen Denken von Studenten und Funktionären sei das Volk oberste Kategorie. Doch die Jungen seien nur einig, dass sie aktiv sein wollten.90 Horkheimer hätte bekannt, dass er früher an die Revolution geglaubt und nichts im Sinn gehabt habe als die revolutionäre Veränderung des Bestehenden. Er sei aber zu der Auffassung gelangt, die Welt sei voll von Revolutionen, mittels derer sich Schrecken ausbreite.91 Horkheimer hätte immer wieder seine Überzeugung bekräftigt, die Machtergreifung einer radikalen Gruppe werde zu totalitärer Herrschaft führen.92 Weil immer die Gefahr eines Umschlagens in das eigentlich Bekämpfte bestehe, hätte Horkheimer nicht geglaubt, dass im Kampf um die Freiheit jedes Mittel recht gewesen wäre. Horkheimer wäre der Ansicht gewesen, dass solange ein denkender Mensch die Möglichkeit des Terrorismus in seine Reflexionen mit einbeziehe, er nicht grundsätzlich für eine Revolution einstehen könne. Für Adorno verlor nach Auschwitz jedes praktische Handeln seinen Sinn.93 Der Einsatz von Gewalt entzog sich Adorno zufolge jeglicher Diskussion. Nach den Erfahrungen des nationalsozialistischen und des stalinistischen Grauens galt ihm Gewalt als nicht mehr zu rechtfertigen: „Entweder die Menschheit verzichtet auf das Gleich und Gleich der Gewalt, oder die vermeintlich radikale politische Praxis erneuert das alte Entsetzen.“94 In der „Dialektik der Aufklärung“ kommt zum Ausdruck, dass für Horkheimer und Adorno nur noch das freie, unkonventionelle Denken, das aber in der total verwalteten Welt, von der der Mensch bis hin zu seinen Trieben total beherrscht wird, als kaum mehr möglich erachtet, als möglicher Ausweg aus der Misere des Menschen gesehen wird. Gesellschaftliche Implikationen lassen sich aber aus dieser Ansicht nicht ableiten. Das Denken ist gerade auch die gewaltfreiste Form des Protests. In einem späten Spiegel-Interview erklärt Adorno, er könne sich „eine sinnvoll verändernde Praxis nur als gewaltlose Praxis vorstellen.“95 Adorno hätte dem Vorwurf, er habe den gewalttätigen Aktionen der Studenten den geistigen Boden bereitet, hilflos gegenüber gestanden. Da Adorno in der studentischen Praxis nicht die Umsetzung der Kritischen Theorie sehen wollte und konnte, lehnte er es ab, Verantwortung dafür zu übernehmen. Er hätte keine Schuldgefühle gehabt, denn niemand, der seine Arbeiten gelesen oder seine Vorlesungen gehört hätte, hätte diese als Anweisungen zu Gewaltakten interpretieren können. Adorno hätte betont, er habe niemals Modelle für Handlungen und Aktionen gegeben, sein Denken habe immer schon in einem 88
Vgl. ebd., S. 82. Vgl ebd. Vgl. ebd. 91 Vgl. ebd., 84. 92 Vgl. ebd. 93 Vgl. ebd. 94 Adorno, Theodor W., Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Adorno, Theodor, Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M. 1969, S. 179, zit. n. ebd., S. 87-88. 95 Adorno, Theodor W., Keine Angst vorm Elfenbeinturm, Spiegel-Gespräch vom 5. Mai 1969, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Bd. 1, Hamburg 1998, S.622, zit. n. ebd., S. 88. 89 90
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sehr indirekten Verhältnis zur Praxis gestanden.96 Immer wieder hätte er den Aktionismus kritisiert.97 Das heißt, dass Horkheimer und Adorno zuletzt keine Möglichkeit der praktischen Verwertung ihrer Theorie mehr sahen. Vor allem Horkheimer hat seine Ansicht über die Möglichkeit einer revolutionären Änderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse im Laufe der Zeit, vom Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ zur „Dialektik der Aufklärung“ fundamental geändert. Bei Adorno wird davon ausgegangen, dass er schon immer eine gewissen Vergeblichkeit eines Auswegs aus der gesellschaftlichen Misere akzeptiert hätte. Das heißt, dass sozialrevolutionäre Aktivisten, die sich auf die theoretischen Ausführungen Horkheimers zur Möglichkeit einer revolutionären Änderung der Gesellschaftsordnung in dem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ berufen, einfach nur seine Spätwerke hätten lesen müssen, aus denen eine Resignation und auch eine Vergeblichkeit der praktischen Änderung spricht. Jede Form der Kritischen Theorie war sozusagen „ein Kind ihrer Zeit“, das heißt eine theoretische Analyse der gesellschaftlichen Umstände ihrer Zeit. Sie schreiben selbst, dass sie keine universelle Theorie der Geschichte abliefern wollen, sondern eine Analyse ihrer Zeit, zur Behebung von damaligen gesellschaftlichen Missständen. Horkheimer und Adorno reflektierten mit ihren kritischen Ausführungen im wesentlichen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Faschismus. Das bedeutet, dass ihre Analysen eigentlich für eine gesellschaftliche Diagnose in den späten 1960er und 1970er nicht herangezogen werden durften. Horkheimer, Adorno und auch Habermas stimmten bei der Bewertung der Studentenbewegung in dem Punkt überein, dass sie in der damaligen Situation – da keine revolutionäre Situation vorlag und die Bundesrepublik nicht als faschistisch oder totalitär erachtet wurde – jede Form individueller Gewalt, insbesondere Terrorismus, der selbst in die Repression führe, ablehnten.98 Nur in einem faschistischen System, sei Gewalt legitim.99 Das politische System der Bundesrepublik haben Horkheimer, Adorno und Habermas – laut Kailitz – nicht als faschistisch oder totalitär erachtet.100 Horkheimer erschien – ähnlich wie Habermas – die Demokratie der Bundesrepublik lediglich als verfälscht.101 Wenn auch Habermas kaum ein gutes Haar an der politischen Realität des demokratischen Verfassungsstaates der BRD gelassen hätte, sei er weit davon entfernt gewesen, ihn als repressiv wahrzunehmen.102 Obwohl Habermas in seinen Werken ein Misstrauen gegenüber der „formalen“ Demokratie hegte, die ihm als eine auf einer entpolitisierten Öffentlichkeit beruhenden Zuschauerdemokratie erschien, hätte er das staatliche Gewaltmonopol nicht in Frage gestellt.103 Seine Kritik an den Aktionen der Studenten bezog sich maßgeblich auf das von ihm wahrgenommene Gewaltpotential.104 Auch er hat die Situation in der Bundesrepublik während der Studentenproteste nicht als revolutionär eingestuft.105 Es hätte für ihn in der damaligen Lage für die Studenten keinen Grund gegeben, gegen die Freiheit verbürgenden Prinzipien der Rechtsordnung vorzugehen und mit den Methoden der Gegenwelt nicht nur falsche Legitimation, sondern auch Freiheitsnormen zu 96
Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 89. 98 Vgl. ebd., S. 90. 99 Vgl. Adorno, Keine Angst vorm Elfenbeinturm, aaO. (FN 96), S. 90. 100 Vgl. ebd., S. 112. 101 Vgl. ebd., S. 89. 102 Vgl. ebd., S. 104. 103 Vgl. ebd., S. 105. 104 Vgl. ebd. 105 Vgl. ebd., S. 106. 97
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zerstören. Schon auf einem Hochschulprotest im Januar 1967, als die Studentenbewegung noch in ihren Kinderschuhen steckt, kritisierte er „den Anarchismus jener verhinderten Bombenleger, die von der Vergeblichkeit der Diskussion überzeugt sind und nur mehr der unmittelbaren Aktion vertrauen.“106 Seiner Meinung nach hätte die Beschränkung der Studentenbewegung auf Techniken des gewaltlosen Widerstandes selbstverständlich sein müssen.107 Für Habermas wäre Gewaltanwendung kein vertretbares Mittel damaligen politischen Kampf gewesen.108 Als versucht worden wäre, die Theorie der Frankfurter Schule zum Nährboden des RAF-Terrorismus zu stilisieren, hätte Habermas erklärt, dass irre, wer einen Zusammenhang zwischen linken Theorien und den Attentaten der 70er-Jahre herzustellen versuche. Auch die politische Tradition von Marx und der Arbeiterbewegung habe den Terrorismus, der immer das Werk einzelner sei, stets kritisiert.109 Horkheimer, Adorno und Habermas lehnten Terrorismus ab. Sie waren immer der Meinung, dass zu ihrer Zeit keine revolutionäre Situation vorgelegen hätte und diese auch nicht durch Terrorismus herbeigeführt werden könnte. Sie sahen Terrorismus als kontraproduktiv, als konträr zur Marx'schen Lehre an. Sie waren der Ansicht, er werde unweigerlich in neuen Faschismus und neue Repression münden. Während sich die Vertreter der Frankfurter Schule zu der Frage, ob sie nicht so etwas wie die geistigen Väter – oder, da die RAF aus der Protestbewegung hervorgegangen war, die die Kritische Theorie für sich entdeckt hatte, Großväter – der Terroristen waren, durchaus äußerten – wenn auch durch Vorwürfe von Seiten der Öffentlichkeit gezwungenermaßen – schwiegen die Mitglieder der RAF hierzu. In einer Sammlung der wichtigsten Schriften der RAF tauchten laut Susanne Kailitz die Namen Horkheimer, Adorno, oder Marcuse nur an wenigen Stellen auf.110 Weiterhin stellt sie fest, dass sich die RAF fast nie explizit zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule äußerte – obwohl sie aber zahlreiche ihrer Elemente verinnerlicht hätte.111 Kailitz ist der Auffassung, dass „große Teile der Gesellschafts- und Kulturkritik der RAF (…) auf der Kritischen Theorie [basieren].“112 Ihre theoretischen Ausführungen zu Aspekten wie Selbstentfremdung, Kulturrevolution und Antisemitismus seien von den Schriften Horkheimers und Adorno beeinflusst. Nur äußerst selten sei klar preisgegeben worden, dass man die Werke der Frankfurter Theoretiker gelesen hätte – und wenn dann auch noch verbunden mit scharfer Kritik: Ulrike Meinhof habe ausgeführt, dass Adorno in der Minima Moralia zwar Wahres über die bürgerliche Gesellschaft geschrieben hätte, dies aber ohne Bezug zur proletarischen Revolution und ohne Klassenstandpunkt. Er hätte alles mit einer „gewissen intellektuellen präzision verhackstückt.“113 Damit den Kampf um das Bewusstsein der Massen zu führen, wäre – nach Meinhof – Selbstzerstörung. Dass Textstellen der RAF mit Bezug auf die Frankfurter Schule rare Ausnahmen geblieben seien, hat verschiedene Gründe: zum einen hätte die RAF einen dezidierten Antiintelektualismus gepflegt, demgemäß die Praxis zum höchsten Gut erhoben wurde 106
Habermas, Jürgen, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a.M. 1969, S.88, zit. n. ebd., S. 106-107. Vgl. ebd., S. 108. 108 Vgl. ebd. 109 Vgl. ebd., S. 108-109 110 Vgl. Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, aaO. (FN 107), S. 214. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Meinhof, Ulrike, das problem bei mir ist…, in: Info, hektographierte Broschüre ohne Seitenangaben, von Ebd., S. 214 zit. n. Fetscher, Iring/ Rohrmoser, Günter, Ideologien und Strategien, hrsg. vom Bundesministerium des Inneren, Opladen 1981, S. 60. 107
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und die Aktivisten lieber Praktiker der Revolution (an deren Möglichkeit Horkheimer und Adorno – wie gezeigt – schon früh, mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, den Glauben verloren haben) denn intellektuelle Analysten sein wollten (was wiederum spiegelbildlich zu einer regelrechten Verabscheuung der Praxis und dem Festhalten am „Primat der Theorie“ durch Horkheimer und Adorno passt). Die RAF hätte festgestellt, dass die revolutionäre Theorie gerade keine akademische Betrachtung sei, sondern in erster Linie eine praktikable Anleitung zum revolutionären Handeln.114 Doch während Horst Mahler immer bemüht gewesen wäre, eine revolutionäre Theorie zu entwickeln, die in Einklang mit den Schriften der Theoretiker stehen sollte, die die RAF als Vorbilder und Ideengeber betrachtete, an der sich dann das revolutionäre Handeln der RAF orientieren sollte, hätten Meinhof, Baader und Ensslin in der Theorie zunehmend ein Mittel zum Zweck gesehen und hätten Fragmente verschiedener Denkströmungen benutzt, um ihr Handeln im Nachhinein zu rechtfertigen. Sie hätten sich so eine Theorie „gebastelt“, die einzig an ihren Bedürfnissen ausgerichtet gewesen wäre und jederzeit gültig werden hätte können, wenn die Praxis dies erfordert hätte.115 Sie hätten nur eine Theorie, die die Praxis stützte oder so interpretiert werden konnte, akzeptiert.116 Diese Ansicht spricht dafür, dass der Umgang der RAF mit Theorien höchst selektiv war und dass es keinesfalls eine authentische, unverfälschte und konsequente Aneignung einer bestimmten Gesellschaftstheorie, auch nicht die der Frankfurter Schule gab. Die Kritischen Theoretiker Horkheimer, Adorno und Habermas haben nur gedacht, die RAF Gewalt ausgeübt. Man kann sich den Zusammenhang zwischen der Frankfurter Schule und der RAF vielleicht mithilfe des deutschen Straf- bzw. Verfassungsrechts vorstellen. In der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der BRD darf man grundsätzlich verfassungsfeindlich denken – solange man nicht besondere Tatbestände wie Volksverhetzung oder Anstiftung zu einer verfassungsfeindlichen Straftat erfüllt. Verfassungswidrig ist ein auf den Umsturz der Verfassungsordnung gerichtetes Handeln – zumal ein gewaltsames. Da Horkheimer und Adorno in ihren späten Schriften in keiner Weise irgendeinem umstürzlerischen Handeln Vorschub leisten wollten, vielmehr haben sie überhaupt keinen Bezug zur Praxis hergestellt und auch die Bundesrepublik nicht als repressives System erachtet und auch Habermas sich explizit gegen ein umstürzlerisches Vorgehen gegen die Bundesrepublik ausgesprochen hat, kann man nicht sagen, dass die Theoretiker die RAF in irgendeiner Weise den Terrorismus der RAF theoretisch untermauert hätte. Die Wahrnehmung der politischen Situation der Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren, die Ziele und Absichten und auch die Ansichten über legitime Mittel des politischen Protests unterschieden sich doch so deutlich, dass man Horkheimer, Adorno und Habermas keine Verantwortung für den Terrorismus der RAF beimessen kann.
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Kailitz, Von den Worten zu den Waffen, aaO. (FN 85), S. 215 weist an dieser Stelle auf das Dokument „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ der RAF, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 49 hin. 115 Vgl. ebd., S.185. 116 Vgl. ebd., S. 186.
II. Organisationen A. Klassische sozialrevolutionäre Organisationen
Terrorismus im Zarenreich mit Vorbildfunktion: Die „Narodnaya Wolya“
Die „Narodnaya Wolya“
Marcus Gerngroß
Der Terrorismus im russischen Zarenreich ist eng mit der Geschichte der konspirativen Vereinigung „Narodnaya Wolya“, russisch für „Volkswille“ oder auch „Volksfreiheit“, verbunden. Der von einer Einzelattentäterin verübte Mordversuch auf den St. Petersburger Stadtkommandanten Trepov Anfang 1878 war die Initialzündung für die Formierung der terroristischen Vereinigung. Nach etlichen fehlgeschlagenen Versuchen gelang der Gruppe am 1. März 1881 ihr größter Erfolg,1 das tödliche Attentat auf den Zaren Alexander II. in St. Petersburg. Dieses bildete paradoxerweise zugleich Höhepunkt und Ende der „Narodnaya Wolya“.
1
Entstehungsgeschichte
Im 19. Jahrhundert waren anarchistische Terroranschläge in westeuropäischen Ländern meist von kleineren Splittergruppen oder Einzeltätern durchgeführt worden. Die russischen terroristischen Attentate hoben sich dahingehend vom restlichen Europa ab, indem sie von einem Kollektiv geplant und durchgeführt worden waren, das von einer sozialen Bewegung getragen wurde.2 Der Hauptgrund für diese russische Eigenart liegt in der Entstehung der „Narodnaya Wolya“ aus verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen. Diesen lagen anarchistische, nihilistische und sozialistische Gedankenansätze, die schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet wurden, zu Grunde. Bereits in den 1830er Jahren schlossen sich Kritiker der bestehenden Verhältnisse um den Philosophen Nikolaj Stankevi (1813-1840) zum so genannten „Stankevi-Kreis“3 zusammen, der sich mit den Ideen Hegels auseinandersetzte und grundlegende Kritik an der Zarenherrschaft übte. Im Laufe der 1850er Jahre tat sich die Bewegung „Narodniestvo“ hervor, die in westlichen Publikationen häufig mit „Populismus“ übersetzt wird.4 Dazu zählten Theoretiker 1
Nach gregorianischem Kalender, der außerhalb Russlands üblich ist, war das Datum des Attentats der 13. März 1881. Hier werden die Daten nach julianischem Kalender angegeben. 2 Vgl. Waldmann, Peter, Terrorismus: Provokation der Macht, Hamburg 2005, S. 58. 3 Dazu zählten unter anderem der Literaturkritiker Vissarion Belinskij (1811-1848), der spätere Vertreter der Slawophilen Konstantin Aksakov (1817-1860), der Wegbereiter des russischen Liberalismus und Historiker Timofej Granovskij (1813-1855), der Publizist Michail Katkov (1818-1887) und Michail Bakunin (1814-1876), der sich noch zu Lebzeiten zum schillerndsten Denker des Anarchismus entwickelte. 4 Mit dem heutigen Sprachgebrauch des Wortes Populismus hat es jedoch wenig zu tun. Auch im russischen wird unter dem Begriff „Narodniestvo“ Unterschiedliches verstanden. Die Bezeichnung Populismus trifft insofern den Kern der Bewegung, als diese von unterschiedlichen ideologischen Strömungen, wie etwa den Nihilisten und Anarchisten, beeinflusst war, und sich als einendes Prinzip die Massenmobilisierung zum Ziel gesetzt hatte. Siehe Ford, Franklin L., Der politische Mord: von der Antike bis zur Gegenwart, Hamburg 1990, S. 273.
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wie etwa Alexander Herzen (1812-1870), der die Intelligenzija dazu aufrief „ins Volk zu gehen“, und Peter Lavrov (1823-1900), der von der „Schuld vor dem Volke“ sprach. Ihnen ging es grundsätzlich um eine Annäherung der Intelligenzija an das Volk.5 Demnach sei es an der gebildeten Jugend, das Volk durch einen gesellschaftlichen Umsturz zu befreien. Eine Art Agrarsozialismus sollte die bäuerliche Bevölkerung vom ausbeuterischen Adel und dem zaristischen Joch dispensieren. Die Anhänger des „Narodniestvo“ wurden gemeinhin „narodniki“ genannt. Aus ihnen ging in den 1870er Jahren die Bewegung „choždenie v narod“, zu deutsch „in das Volk gehen“, hervor. Die Bewegung wollte die bäuerliche Bevölkerung über ihre ungerechte Situation aufklären und zur Auflehnung gegen das Zarenregime anstiften. Dabei hatten Persönlichkeiten wie der Anarchist Michail Bakunin Vorbildcharakter und inspirierten die junge russische Bildungselite durch ihr revolutionäres Handeln.6 Die Bewegung „choždenie v narod“ entpuppte sich jedoch bald als wenig Erfolg versprechend. Die Bauern waren größtenteils zarentreu oder politisch apathisch und mehr an Privat-, denn an Kollektiveigentum, wie es den „narodniki“ vorschwebte, interessiert. Da die jungen Agitatoren zusehends mit polizeilichen Repressionen konfrontiert waren, organisierte sich die lose Bewegung 1876 zur Organisation „Zemlya i volya“, zu deutsch „Land und Freiheit“. „Zemlya i volya“ versuchte nun mittels einer gleichnamigen illegalen Zeitschrift und zunächst friedlichen Aktionen langfristig ein revolutionäres Bewusstsein im Volk zu wecken, um den gewünschten Sturz der Zarenherrschaft herbeizuführen. Doch führte zum einen die zunehmende Repression von staatlicher Seite und zum anderen die wachsende Überzeugung innerhalb der Bewegung, dass die so genannte „Propaganda der Tat“7 größeres Aufsehen für die revolutionäre Sache erreichen könne als friedliche Agitation, zum Abdriften in den Terrorismus. Bald schon überlagerten gewaltsame Aktionen die anfängliche Friedfertigkeit der Organisation. Der missglückte Mordversuch auf den Petersburger Stadtkommandanten General Trepov durch Vera Zasuli 1878 läutete eine neue Stufe der Radikalisierung in Russland ein. Der Anschlag der Einzeltäterin war eine Racheaktion für die Auspeitschung eines Studenten.8 Vor allem der folgende Gerichtsprozess sorgte für großes Aufsehen, da es in dessen Verlauf der Verteidigung der Attentäterin Vera Zasuli gelang, das Zarenregime zu attackieren und die Tat als heroischen Akt der Befreiung des Volkes vom Despotismus zu generieren. Der daraus resultierende Freispruch der Attentäterin vor dem Geschworenengericht hatte Sympathiebekundungen breiter Bevölkerungsschichten zur Folge. Dies offenbarte zum einen die weitläufige Akzeptanz innerhalb des Volkes für die grundsätzliche Kritik der „Zemlya i volya“ am Zarenregime.
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Siehe Borcke, Astrid von, Gewalt und Terror im revolutionären Narodniestvo. Die Partei Narodnaja volja (1879-1883): Zur Entstehung und Typologie des politischen Terrors im Russland des 19. Jahrhunderts, in: Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hrsg.), Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, 1979-85, Köln 1979, S. 8. 6 Auch die Schriften Bakunins, die dazu aufriefen, im Volk für den revolutionären Umsturz zu werben, waren Quellen der Inspiration und Motivation für die russischen Aktivisten. Siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 7 Unter dem Slogan „Propaganda der Tat“ warben vor allem anarchistische Theoretiker wie etwa Pjotr Kropotkin für Gewalttaten. Diese sollten den Staat treffen, um so das Volk für den revolutionären Umsturz zu mobilisieren. Siehe hierzu den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 8 Siehe hierzu ausführlicher Bergman, Jay/ Zasulich, Vera, The Shooting of Trepov and the Growth of Political Terrorism in Russia, 1878-1881, in: Rapoport, David C. (Hrsg.), Terrorism: Critical Concepts in Political Science, Vol. I, The First or Anarchist Wave, London 2005, S. 215-236.
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Zum anderen erfuhr dadurch der politische Mord eine gewisse Legitimität durch die Bevölkerung.9 Im darauffolgenden Jahr häuften sich Nachahmerattentate, die noch eher den Charakter von Individualtaten hatten. Ihnen fielen offizielle Vertreter des Zarenregimes zum Opfer.10 Den vorläufigen Höhepunkt dieser Attentatsserie bildete der gescheiterte Mordversuch auf den Zaren am 2. April 1879. Der junge Lehrer Alexander Solowjew feuerte fünf Schüsse auf den Zaren ab, der ihnen nur knapp entging. Solowjew wurde gefasst und erklärte seine Motive für die Tat wie folgt: „Ich wurde in der orthodoxen Religion getauft, aber ich erkenne keine Religion an (…). Auf die Idee, Seine Majestät zu töten, bin ich durch sozialrevolutionäre Lehren gekommen. Ich gehöre der russischen Sektion der Partei an, die es für ungerecht hält, dass die Mehrheit des Landes sich abmühen muß, damit eine Minderheit die Früchte der Arbeit des Volkes und alle Wohltaten genießt, die den meisten vorenthalten werden.“11 Das Zarenregime reagierte auf das Attentat mit extremer Härte. Der Zar ernannte Generalgouverneure, die er mit Sonderbefugnissen zur Terrorismusbekämpfung ausstattete. Eines politischen Vergehens Beschuldigte konnten fortan ohne Prozess zum Tode verurteilt werden.12 Die repressive Reaktion der Regierung hatte zugleich eine wachsende Radikalisierung der revoltierenden Jugend zur Folge. Zudem nutzten die Radikalen die zunehmenden Repressionen als Grund für weitere Gewalttaten. So schrieb Wera Figner, selbst radikale Aktivistin und spätere Terroristin, dazu in ihren Memoiren: „Als sich die Jugend mit friedlicher Propaganda an das Volk gewandt hatte, war sie mit Massenverhaftungen bedacht worden, mit Verbannung, Zwangsarbeit, Zuchthaus und Gefängnis. Als sie, empört durch diese Gewalttätigkeit, einige Schergen der Regierung gestraft hatte, wurde geantwortet mit Einsetzung von General-Gouverneuren und mit Hinrichtungen.“13 Die zunehmende Radikalisierung spiegelte sich auch innerhalb der „Zemlya i volya“ wieder. Um den radikalen Agitator Alexander Michailow bildete sich ein Geheimzirkel, der den Zarenmord forderte. Sein Gegenspieler innerhalb der „Zemlya i volya“ war der moderate Georgi Plechanow, der den Terrorismus nicht als Mittel zum revolutionären Umsturz betrachtete. Er sah darin stattdessen die Gefahr, dass die politischen Ziele der Bewegung in den Hintergrund gedrängt würden. „Mit dem Terror aber wurde deutlich: Die Radikalen kämpften in erster Linie nicht gegen soziale Ungerechtigkeit und die Gefahr eines aufsteigenden Kapitalismus, sondern gegen den Staat.“14 Im Juni 1879 vollzog sich auf einer geheimen Tagung der „Zemlya i volya“ in Woronesch auch offiziell die sich schrittweise abzeichnende Spaltung der Sozialrevolutionäre in Friedfertige und Gewaltbereite. Die Bewegung teilte sich in die moderate „ernyj peredel“, zu deutsch „Schwarze Umverteilung“, und die terroristische Gruppierung „Narodnaya Wolya“, was mit „Volksfreiheit“ oder „Volkswille“ übersetzt wird. Die „ernyj peredel“ wollte weiter durch soziale Aufklärung 9
Vgl. Borcke, Gewalt und Terror im revolutionären Narodniestvo, aaO. (FN 5), S. 10. Am 24. Mai 1878 wurde der Kiewer Gendarmeriehauptmann Baron Heyking ermordet. Am 4. August 1878 wurde der Chef der Staatspolizei, General Mezenzow, aus Rache für den zum Tode verurteilten Demonstrationsorganisator Kowalskij, auf offener Straße erstochen. Am 9. Februar 1979 wurde der Gouverneur von Charkow, Fürst Kropotkin, der Vetter des Anarchisten Pjotr Kropotkins, erschossen. Siehe hierzu ausführlicher Troyat, Henri, Zar Alexander II., Frankfurt a.M. 1991, S. 178-180. 11 Zitiert nach ebd., S. 181. 12 Vgl. ebd., S. 182-183. 13 Figner, Wera, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., Berlin 1981, S. 25. 14 Borcke, Gewalt und Terror im revolutionären Narodniestvo, aaO. (FN 5), S. 10. 10
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auf dem Land die Revolution herbeiführen. Ihr ging es vor allem um eine Neuverteilung der Agrarflächen. Da jedoch bald darauf ihre Führungsfigur Plechanow ins Exil ging und nur noch von dort aus agierte, verlor die „ernyj peredel“ schnell an Bedeutung. Die „Narodnaya Wolya“ wurde so zur größten und bekanntesten Nachfolgeorganisation der „Zemlya i volya“.15 „Es war die politisch-terroristische Narodnaja volja, die in den kommenden 2 Jahren alle geistigen und materiellen Kräfte der Bewegung auf sich vereinte.“16
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Die „Narodnaya Wolya“: Motivation und Organisationsstruktur
Noch vor der endgültigen Spaltung der „Zemlya i volya“ sammelte der radikale Michailow gleichgesinnte Genossen in einem Geheimzirkel um sich. Diese bezeichneten sich als „Vollzugskomitee“17 oder auch „Exekutivkomitee“18, welches sich vor der Versammlung in Woronesch, wo die Teilung der „Zemlya i volya“ offiziell vollzogen wurde, in dem Kurort Lipezk traf. Dort berieten sie sich über die Zukunft des revolutionären Kampfes und wollten einem drohenden Ausschluss aus der „Zemlya i volya“ durch Formierung einer eigenständigen Organisation zuvorkommen. „Die versammelten 11-12 Menschen schlossen sich zu einer Gruppe zusammen, nahmen das von Morosow [ein Wortführer der Radikalen; Anm. d. Verf.] verfasste Statut an, indem als Ziel der Organisation die Niederwerfung des Selbstherrschertums und die Eroberung politischer Freiheiten, als Mittel aber bewaffneter Kampf gegen die Regierung ausgesprochen wurde.“19 Damit war die Stoßrichtung der Gruppe klar und der Bruch mit den Friedfertigen der „Zemlya i volya“ präjudiziert. Auf der Konferenz in Woronesch traten die gewaltbereiten Revolutionäre als geschlossene Fraktion auf. Die neu gegründete „Narodnaya Wolya“ verurteilte dort sogleich den Zaren Alexander II. zum Tode. Damit gaben sie zugleich Zielsetzung und Programm bekannt. Von der Ermordung des Zaren erhoffte sich die „Narodnaya Wolya“ zweierlei. Zum einen fürchteten sie eine Verzögerung des revolutionären Umsturzes aufgrund der Reformbemühungen des Zaren. Zum anderen wollten sie durch die Ermordung des obersten Repräsentanten des Zarenregimes deutlich machen, dass sie nicht gegen eine Einzelperson, sondern gegen das gesamte politische System kämpfte, das diese Person verkörperte. Da es sich bei Alexander II. zudem um einen, im Vergleich zu seinem Vorgänger, relativ milden Herrscher handelte, sollte dies besonders augenscheinlich werden.20 Da sich die Organisation aus verschiedenen Motiven für den Zarenmord entschloss, gab es kein fundiertes politisches Programm. Ein solches hätte die „Narodnaya Wolya“ vor erhebliche Probleme gestellt, zumal sich die Gruppe durchaus bewusst war, dass die Aktivisten unterschiedliche politische Ansichten hatten. „Wir fragten nur: Bist Du bereit, sofort Dein Leben, Deine persönliche Freiheit und alles, was du besitzt, für die Befreiung des Vaterlandes hinzugeben?“21 Die Organisation setzte sich folglich aus Anhängern verschiedener politischer Strömungen zusammen: Anarchisten, Sozialisten und Liberale. Alle einte 15
Vgl. Troyat, Zar Alexander II., aaO. (FN 10), S. 184. Borcke, Gewalt und Terror im revolutionären Narodniestvo, aaO. (FN 5), S. 14. Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 14. 18 Borcke, Gewalt und Terror im revolutionären Narodniestvo, aaO. (FN 5), S. 13. 19 Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 16. 20 Vgl. Ford, Der politische Mord, aaO. (FN 4), S. 277. 21 Morosow, ein führendes Mitglied der „Narodnaya Wolya“, zitiert nach Borcke, Gewalt und Terror im revolutionären Narodniestvo, aaO. (FN 5), S. 19. 16 17
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jedoch das Ziel, die Staatsmacht im Mark zu treffen, um diese schließlich zu zerstören. „Most of the members envisioned not the building of a new system of government but the killing of an incubus.”22 Die „Narodnaya Wolya“ war zu der Auffassung gekommen, dass eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse, wie es sich die Anhänger der einstigen „Zemlya i volya“ wünschten, erst nach der Beseitigung der Zarenherrschaft möglich sei.23 Ferner erhofften sie sich nach der Ermordung des Zaren ein Aufbegehren des gesamten Volkes und so schließlich den revolutionären Umsturz. Diese Ansicht teilte auch der russische Anarchist Kropotkin mit ihnen, der zeitgleich für eine derartige „Propaganda der Tat“ vom europäischen Exil aus warb.24 Indem ihnen primär an der Zerschlagung der Zarenherrschaft lag, entsprachen sie den zeitgenössischen anarchistischen Ideen von politischer Freiheit. Aus anarchistischer Sicht kann Freiheit nur erlangt werden, wenn jegliche Form von Herrschaft zerstört wird. Hierin wird deutlich, weshalb die „Narodnaya Wolya“ gemeinhin als anarchische Terrororganisation eingeordnet wird und ihre Taten von führenden anarchistischen Theoretikern wie etwa Pjotr Kropotkin befürwortet wurden.25 Da jedoch ein fundiertes Programm für die Zeit nach dem Zarenmord fehlte, fällt es schwer eine Begründung für die Einordnung der „Narodnaya Wolya“ als anarchische Terrororganisation zu finden. Aufgrund der vielfältigen politischen Strömungen, die in der Gruppe vereint waren, würde eine derartige Zuordnung die unterschiedlichen Beweggründe der Aktivisten überdecken. Vielmehr muss explizit darauf hingewiesen werden, dass sich zwar Anarchisten wie Kropotkin ausdrücklich hinter die Attentate der Organisation stellten, die Mitglieder der „Narodnaya Wolya“ sich selbst jedoch nicht primär als Anarchisten verstanden. Indem sie beispielsweise Attentate in Demokratien als illegitim bezeichneten,26 distanzierten sie sich deutlich von den anarchistischen Ideen Bakunins und Kropotkins,27 die auch die Demokratie als inakzeptable Herrschaftsform verurteilten. Statt sich einer politischen Strömung zu verschreiben, setzte sich die Gruppe vielmehr intensiv mit ethischen Fragen hinsichtlich der Anwendung von Gewalt auseinander. Ihrer Auffassung nach legitimierten sich ihre Attentate in zweierlei Hinsicht: Erstens ermögliche die repressive und autokratische Staatsmacht einzig gewaltsame Aktionen als Mittel zur Opposition. Zweitens seien die Opferzahlen terroristischer Anschläge weitaus geringer als die eines Volksaufstandes.28 Dennoch erachteten sie den Terrorismus nur als Wegbereiter zum Massenaufstand. Der politische Mord war dementsprechend als Instrument gedacht, um besonders reaktionäre Elemente des politischen Systems für deren Handeln zu bestrafen. Zudem galt es Spitzel aus der Gruppe zu entfernen.29 Diese Vergeltungsaktionen waren zugleich probates Mittel zur Agitation im Volk, das so schließlich aus seiner politischen Apathie erwachen würde. Manche der Terroristen sahen sich als russische Jakobiner, die als 22
Wortman, Richard, The Crisis of Russian Populism, Cambridge 1967, S. 83. Vgl. Naimark, Norman M., Terrorists and Social Democrats, The Russian Revolutionary Movement Under Alexander III., Harvard 1983, S. 13. 24 Vgl. Heinlein, Markus, Klassischer Anarchismus und Erziehung: Libertäre Pädagogik bei William Godwin, Michael Bakunin und Peter Kropotkin, Würzburg 1998, S. 260. 25 Siehe hierzu den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 26 Vgl. Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, aaO, (FN 2), S. 58. 27 Vgl. Solms, Friedhelm, Ich will nicht Ich sein; ich will Wir sein: Die Geschichte des ersten Berufsrevolutionärs Michail Alexandrowitsch Bakunin, in: Hans Diefenbacher (Hrsg.), Zur Geschichte und Idee der Herrschaftsfreien Gesellschaft, Darmstadt 1996, S. 105-128, hier: S. 123. Siehe dazu außerdem den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 28 Siehe Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, aaO. (FN 2), S. 58-59. 29 Siehe Laqueur, Walter, Terrorismus: die globale Herausforderung, Frankfurt a. M. 1987, S. 46. 23
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Speerspitze des Volkes den Umsturz einläuteten.30 Der Terror galt ihnen „nur als Strafe für den Zaren und seine Söldlinge“31. Angenommen wurde, dass das autokratische Regime zerfallen würde, wenn einige Stützen des Systems ermordet würden.32 Wie sich letztlich aus dem Terror die Revolution entzünden sollte, blieb im Unklaren. Der Terror verkam zum Selbstzweck. Tscheljabow, einer der damals prominentesten Mitglieder der „Narodnaya Wolya“, gestand rückblickend selbst: „Wir verterrorisierten“33. Dennoch schaffte es die „Narodnaya Wolya“ durch ihre Anschläge und die moralische Begründung für ihre Gewaltanwendung, dass breite Bevölkerungsschichten, darunter vor allem das Bildungsbürgertum, mit ihnen sympathisierten. „Es bildete sich der Mythos vom tugendhaften Mörder heraus, der fremdes Leben, aber auch das eigene nicht schont, um der Sache des Volkes zu dienen.“34 So konnte sich die Terrorgruppe mit Hilfe wohlhabender Sympathisanten finanzieren und wurde durch Informanten, die im Staatsdienst tätig waren, über die Reisetätigkeiten des Zaren in Kenntnis gesetzt. Außerdem vermochte sie es trotz des Terrorismus, nahezu alle einstigen Anhänger der „Zemlya i volya“ an sich zu binden. Intern versuchte die terroristische Organisation Beschlüsse überwiegend in Ausschusssitzungen zu fällen, um so der funktionsgeschuldeten tendenziellen Zentrierung der Vereinigung auf eine Führungsfigur zu entgehen.35 Dennoch war der Planungsstab der Gruppe auf nur wenige beschränkt, da die Gefahr, entdeckt zu werden, stets gegenwärtig war. Es wurden zwar rund 500 Mitglieder zum Umfeld der „Narodnaya Wolya“ gezählt, von denen jedoch höchstens ein Zehntel an den Aktionen der Gruppe aktiv beteiligt war.36 Die Organisation umhüllte sich mit dem Deckmantel einer gleichnamigen Partei, in der die Sympathisanten organisiert wurden. Diese war „streng zentralistisch aufgebaut und von vornherein in allrussischem Maßstabe entworfen“37. Den Kern der Partei bildete jedoch die terroristische Gruppierung, die sich als „Vollzugs-„ bzw. „Exekutivkomitee“ verstand. In diesem Gremium wurde per Mehrheitsentscheidung über Planung und Durchführung von Attentaten entschieden. Wera Figner, selbst Komiteemitglied, gibt Aufschluss über die Satzung des Ausschusses: Laut Statut war jedes Komiteemitglied verpflichtet: 1. alle Geistes- und Seelenkräfte der revolutionären Sache hinzugeben, ihretwillen alle Familienbande, Sympathien, Liebe und Freundschaft aufzugeben; 2. wenn nötig das Leben hinzugeben, ohne Rücksicht auf sich und andere; 3. nichts zu besitzen, das nicht gleichzeitig der Organisation gehörte; 4. seinem individuellen Willen zu entsagen und ihn den Mehrheitsbeschlüssen der Organisation unterzuordnen; 5. streng geheimzuhalten alle Angelegenheiten, Pläne und Absichten, sowie den Mitgliederbestand der Organisation; 6. in allen Beziehungen öffentlichen und privaten Charakters, in allen offiziellen Handlungen und Erklärungen sich nie als Mitglied, sondern stets nur als Beauftragter des Vollzugskomitees zu bezeichnen; 7. im Falle des Austritts aus der Gesellschaft unverbrüchliches Schweigen zu bewahren über alles die Tätigkeit der Gesellschaft betreffende.38 30
Vgl. Borcke, Gewalt und Terror im revolutionären Narodniestvo, aaO. (FN 5), S. 22. Laqueur, Terrorismus: die globale Herausforderung, aaO. (FN 29), S. 48. 32 Siehe ebd., S. 48-49. 33 Zitiert nach Borcke, Astrid von, Die Ursprünge des Bolschewismus. Die jakobinische Tradition in Russland und die Theorie der revolutionären Diktatur, München 1977, S. 409. 34 Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, aaO, (FN 2), S. 59. 35 Siehe Laqueur, Terrorismus: die globale Herausforderung, aaO, (FN 29), S. 121. 36 Vgl. ebd., S. 49. 37 Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 27. 38 Ebd., S. 28. 31
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Neben der Integrationsfigur der Radikalen, Alexander Michailow, waren unter anderem Andrej Tscheljabow, Alexander Kwatkowski, Nikolai Morosow, Sofja Perowskaya, Wera Figner, Maria Oschanina, Lev Tichomirow, Anna Yakimova, Michail Frolenko und Alexander Baranikow Mitglieder des „Exekutivkomitees“. Aufgrund von Festnahmen und gleichzeitiger Rekrutierung neuer Aktivisten fand innerhalb der Organisation ein steter personeller Wechsel statt. Auffallend ist, dass die Mitglieder durchweg sehr jung waren. Tscheljabow galt mit seinen 30 Jahren schon als alter Mann, da manche seiner Mitstreiter noch zur Schule gingen oder nicht viel älter als 20 waren.39 Ebenso ist der für die damalige Zeit ausgesprochen hohe Frauenanteil innerhalb der Organisation frappant. Dies erklärt sich wohl daraus, dass Frauen auch schon in der „Zemlya i volya“ stark vertreten waren.40 Ihr soziales Engagement und Auftreten galt als gesellschaftliche Provokation: „Als wollten sie alle Welt herausfordern, laufen sie schlampig herum. (…) Studentinnen in kurzen Röcken, kurzgeschnittenen Haaren, Zigarette im Mundwinckel.“41 Die Mehrzahl der Terroristen, wie auch deren Sympathisanten, entstammten privilegierten Familien und konnten eine höhere Bildung genießen. Perowskaya beispielsweise war die Tochter des Generalgouverneurs von St. Petersburg. „Von 365 Revolutionären, die in den 1880er Jahren verhaftet wurden, gehörten 180 der Oberschicht an (darunter 32 Offiziere). 104 gehörten zur oberen oder unteren Mittelschicht, und die Väter von 64 waren Priester.“42
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Aktionismus und Zerfall
Im Gegensatz zu anderen terroristischen Gruppen, die mit dem Axiom „Propaganda der Tat“ hohe Opferzahlen und das Sterben Unschuldiger rechtfertigten, „offenbarte die Narodnaya Wolya eine beinahe an Don Quichote erinnernde skrupulöse Haltung gegenüber der Gewalt, die sie ausübte“43. Die Gruppe suchte sich ihre Opfer nach deren funktionalen Stellung im politischen System aus. Grundsätzlich galt es die Opferzahlen gering zu halten. Neben dem Zaren und Angehörigen der Zarenfamilie wurden aber auch Regierungsbeamte als „unterwürfige Handlanger eines korrupten und tyrannischen Regimes ausgewählt“44. Hauptziel war jedoch stets die Ermordung des Zaren. Auf dieses Vorhaben stürzte sich die Gruppe mit aller Energie. Die „Narodnaya Wolya“ war nicht nur wegen ihrer Organisationsstruktur und der breiten Sympathisantenbasis in der Bevölkerung zukunftsweisend, sondern auch in der Art und Weise, wie sie ihre Anschläge durchführten. Die „Narodnaya Wolya“ brachte mit ihrer klaren Zielvorgabe, den Zaren zu töten, den Tyrannenmord wieder in Mode.45 Außerdem bediente sie sich der modernsten Waffe der damaligen Zeit: der Bombe. Mit der Entwick39
Siehe hierzu Laqueur, Terrorismus: die globale Herausforderung, aaO. (FN 29), S. 101. Für eine ausführliche Analyse der Rolle der Frauen innerhalb des „Narodniestvo“ siehe Maxwell, Margaret, Narodniki Women: Russian Women Who Sacrificed Themselves for the Dream of Freedom, New York 1990. 41 Troyat, Zar Alexander II., aaO. (FN 10), S. 182. 42 Laqueur, Terrorismus: die globale Herausforderung, aaO. (FN 29), S. 107. 43 Hoffman, Bruce, Terrorismus – der unerklärte Krieg, Bonn 2002, S. 19. 44 Ebd. 45 So eiferten dem russischen Vorbild vor allem anarchistisch motivierte Einzeltäter in Westeuropa und den USA nach. Beispielhaft zu nennen sind hier die Attentate auf den französischen Präsidenten Sadi Carnot 1894 und den amerikanischen Präsidenten William McKinley 1901. Siehe hierzu auch den Beitrag von Marcus Gerngroß in diesem Band. 40
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lung des Dynamits durch Alfred Nobel in den 1860er Jahren revolutionierte sich auch der Terrorismus. Die „Narodnaya Wolya“ nutzte die Bombe sowohl als Mordwaffe als auch als effektives Mittel, um großes Aufsehen zu erregen. Die „Propaganda der Tat“ erreichte dadurch eine neue Stufe. Zwar kam Sprengstoff schon zuvor bei Einzeltätern zum Einsatz, die „Narodnaya Wolya“ war jedoch die erste terroristische Organisation, die Dynamit systematisch verwendete und in hohem Maß professionell damit umging. Vor allem der naturwissenschaftlich begabte Sergej Kibaltschitsch tat sich innerhalb der Gruppe als innovativer Kopf im Umgang mit Sprengstoffen hervor.46 Die Anschläge der „Narodnaya Wolya“ waren folglich von dieser neuen Waffe geprägt.47 Ende 1879 platzierte die Gruppe eine Sprengladung auf der Eisenbahnstrecke von Kursk nach Moskau, um den Zug des Zaren zu sprengen. Die Detonation traf jedoch nicht den kaiserlichen Waggon, da dieser zufällig an einen anderen Zug angehängt war. Dem Anschlag fielen keine Menschenleben zum Opfer, dennoch offenbarte sich der Regierung ein erster Eindruck der Entschlossenheit und Professionalität der Terroristen.48 Einen weiteren Beweis dafür lieferte der Aktivist der „Narodnaya Wolya“ Stepan Chalturin. Dieser arbeitete als Tischler im Winterpalast des Zaren in St. Petersburg und schmuggelte über Wochen insgesamt rund fünf Kilo Dynamit in den Palast, welche er in seinem Arbeitsraum unter dem kaiserlichen Speisesaal deponierte. Am 5. Februar 1880 zündete er die Sprengsätze und floh. Der Zar entkam wiederum nur durch Zufall dem Attentat, da sich das geplante Dinner wegen der Verspätung eines Gastes verzögerte. Der Anschlag kostete jedoch aufgrund der enormen Sprengkraft elf Gardekorpsmitgliedern das Leben und verletzte 65 weitere Soldaten.49 In einer Stellungnahme zu dem Anschlag gab die „Narodnaya Wolya“ bekannt, den Kampf fortzusetzen, „solange der Zar die Organisation des öffentlichen Lebens nicht einer frei gewählten verfassungsgebenden Versammlung überlässt“50. Nach weiteren gescheiterten Sprengstoffattentaten auf Zuggleise, Brücken oder Straßen auf den Reisestrecken des Zaren,51 ging die Gruppe zu einer neuen Taktik über: Sie entwickelten und erprobten Handgranaten ähnliche Dynamitwurfgeschosse. Am 1. März 1881 wurden in St. Petersburg an verschiedenen Stellen entlang der möglichen Reiserouten des Zaren Bomben platziert und, um sicher zu gehen, zusätzliche Aktivisten mit Dynamitgranaten auf die Strecken verteilt.52 Die Gruppe wollte den Zarenmord am 1. März mit allen Mitteln erzwingen. Tscheljabow, einer der wichtigsten Köpfe der Organisation, wollte sich, falls auch die Granatenwerfer scheitern sollten, mit einem Dolch auf den Zaren stürzen. Er wurde jedoch noch vor dem Attentat zusammen mit einem weiteren Mitglied der Gruppe verhaftet. Nachdem der Zarentross am 1. März tatsächlich die geplante Strecke verließ und somit den platzierten Bomben entging, gab die Terroristin Sofja Perowskaya ihren beiden Mitstreitern am Katharinen-Kanal das Signal, ihre Sprengsätze auf die Zarenkutsche zu werfen. Die Bombe des 19-jährigen Nikolai Rysakow zerstörte den Zarenschlitten und verletzte einige Passanten. Als der Zar ausstieg, warf der 46
Siehe Laqueur, Terrorismus: die globale Herausforderung, aaO. (FN 29), S. 134. Eine detaillierte Schilderung der Attentate und der damit verbundenen Vorbereitungen liefert Wera Figner in ihren Memoiren. Siehe Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 29-46. 48 Siehe hierzu Troyat, Zar Alexander II., aaO. (FN 10), S. 185-186. 49 Siehe ebd., S. 189. 50 Zitiert nach ebd., S. 190. 51 Insgesamt wurden rund 20 Versuche unternommen den Zaren zu töten. Die letzten sieben davon werden der „Narodnaya Wolya“ zugeschrieben. Siehe hierzu Franklin L. Ford, Der politische Mord, aaO. (FN 4), S. 277. 52 Für eine ausführliche Chronik der Ereignisse am 1. März 1881 aus Sicht der Terroristen siehe Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 56-66. 47
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zweite Attentäter Ignatius Grinewitskij seine Granate Alexander II. direkt vor die Füße. Die Explosion verletzte den Zaren und den Attentäter tödlich.53 Nach dem gelungenen Attentat verfassten die Mitglieder der „Narodnaya Wolya“ ein Schreiben an den Sohn und Nachfolger des Getöteten, den neuen Zaren Alexander III. Darin bekräftigten sie ihre beiden Hauptforderungen: „1) Allgemeine Amnestie für alle politischen Verbrecher der letzten Zeit, da sie keine Verbrechen begangen, sondern nur ihre Bürgerpflicht erfüllt haben. 2) Einberufung der Repräsentanten des ganzen Volkes zu einer Revision der bestehenden Formen des staatlichen und socialen Lebens und deren Umgestaltung entsprechend den Volkswünschen.“54 Weiter verkündeten sie, dass sie sich einer frei gewählten Nationalversammlung unterordnen und gegen eine daraus hervorgehende Regierung keine Gewalttaten verüben würden. Alexander III. konnte jedoch auf einen in den Jahren 1878-1881 hochspezialisierten Polizeiapparat zugreifen, der zudem auf einer gesetzlichen Grundlage stand. Dies ermöglichte eine effektive und erbarmungslose Verfolgung der Terroristen.55 In den Tagen nach dem Attentat wurden beständig Mitglieder der „Narodnaya Wolya“ entlarvt und verhaftet. In einem Schauprozess wurden die Terroristen Andrej Tscheljabow, das prominenteste Mitglied der Gruppe, Nikolaj Kibaltschitsch, der Bombenexperte, der Student und Attentäter Nikolaj Rysakow, der 21 jährige Arbeiter Timofej Michailow, die „asketische Revolutionärin“56 adliger Herkunft Sofja Perowskaya und die Schwangere Hesja Helfman als Zarenmörder angeklagt. Den Prozess nutzten die Angeklagten als Bühne, um die Illegitimität des Zarenregimes anzuprangern. Kibaltschitsch etwa hielt eine flammende Rede vor Gericht, in der er sein Handeln rechtfertigte und die Zarenherrschaft anklagte: Der Zar mußte getötet werden. Ich sage, er mußte sterben, weil er der Repräsentant eines unmenschlichen, bösen, verabscheuungswürdigen Prinzips war, des Prinzips der Alleinherrschaft. Ein Prinzip, das sich der geschichtlichen Entwicklung mit Terror entgegenstemmt! Nicht wir sind die Terroristen! Das Zarentum ist eine Inkarnation des Terrors! Wir sind die Ohnmächtigen, die aufwachten! Bringt uns doch um! Tut es doch endlich! Das Zarentum wird zu Ende gehen! Die Alleinherrschaft liegt im Sterben! Daran können die Herrn dort oben, die uns zum Tode verurteilen werden, nichts mehr ändern (…).57
Alle Angeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Todesurteil der Terroristin Helfman wurde aufgrund ihrer Schwangerschaft verschoben. Sie starb im folgenden Jahr im Gefängnis.58 Sofja Perowskaya war die erste weibliche Aktivistin, die in Russland gehängt wurde. Dies beförderte einen verklärenden Heldenmythos um ihre Person.59 Die schnellen Verhaftungen und das immer dichtere Netz aus Spitzeln machte St. Petersburg zu einem gefährlichen Ort für die sich noch auf freiem Fuß befindenden Aktivisten der „Narodnaya Wolya“. Diese verließen die Stadt oder wurden ebenfalls gefasst. Da die vorhergehenden Attentate stets schon Verhaftungen zur Folge hatten, war die Gruppe stark 53
Vgl. Ford, Der politische Mord, aaO. (FN 4), S. 278. Zitiert nach Enzensberger, Hans Magnus, Vorbericht, in: Enzensberger, Hans Magnus (Hrsg.), Boris Savinko, Erinnerungen eines Terroristen, Nördlingen 1985, S. VII-XLV, hier S. XXXIV. 55 Vgl. ebd., S. XXXV. 56 Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 66. 57 Zitiert nach Schröder, Siegfried, Bomben, Blut und Bitterkeit, Berlin 1990, S. 116. 58 Vgl. Schröder, Bomben, Blut und Bitterkeit, aaO. (FN 57), S. 116. 59 Siehe dazu etwa die Glorifizierung der Sofja Perowskaya in: Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 66-71. 54
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dezimiert.60 Durch die Festnahmen nach dem Zarenmord war die Organisationsstruktur der Gruppe schließlich empfindlich getroffen. Der gelungene Zarenmord entfachte zwar eine neue Welle der Begeisterung für die „Narodnaya Wolya“, diese war nunmehr jedoch nicht mehr im Stande zu agieren. Da es auch zur Taktik der Organisation gehörte, die russische Regierung im Ausland zu diskreditieren und dort einen Sympathisantenkreis für die Terrorgruppe aufzubauen, fand der Zarenmord bei Revolutionären in ganz Europa frenetischen Beifall. Vor allem über russische Emigranten wie Lavrov, der als Bevollmächtigter der „Narodnaya Wolya“ außerhalb Russlands in ihrem Geiste agitieren sollte, pflegten sie Kontakte ins Ausland. So soll ihnen beispielsweise Karl Marx seine Hochachtung attestiert haben.61 Pjotr Kropotkin pries die Tat der „Narodnaya Wolya“ auf dem Anarchistenkongress in London 1881 als vorbildhaft und hoffte auf Nachahmer.62 Lew Tolstoi verurteilte den Staatsterror, der auf das Attentat folgte und schrieb dazu: „Untaten, die auf Anweisungen von Königen und Kaisern geschehen (…), sind unvergleichlich grausamer als alle Morde, welche die Anarchisten verüben (…).“63 Tatsächlich nahm die Herrschaftspraxis unter Alexander III. noch totalitärere Züge an als unter seinem Vater. Die zaristische Reaktion befeuerte den Heldenmythos um die russischen Aktivisten im In- wie im Ausland. Trotz der Sympathiebekundungen gelang es der Gruppe nicht, die Massen zu einem politischen Umsturz zu bewegen. Das „Exekutivkomitee“ widmete sich noch vor dem finalen Attentat der Frage, ob einhergehend mit dem Anschlag das Volk zu mobilisieren sei. Eine derartige Anfrage in den einzelnen Sektionen der Organisation und der verschiedenen Sympathisantenkreise fiel jedoch enttäuschend aus. „Die Zahl der Mitglieder unserer Gruppen und jener, die mit uns unmittelbar verbunden waren, zeigte klar, dass unsere Kräfte zu gering waren, als dass ein offener Aufstand möglich gewesen wäre.“64 Obwohl sich die Gruppe augenscheinlich bewusst war, keinen revolutionären Umsturz herbeiführen zu können, rückten sie nicht von ihrem Ziel, den Zaren zu töten, ab. Auch wenn sich dadurch allenfalls die Drohung Georgi Plechanows, dem Führer der abgespaltenen „ernyj peredel“ und grundsätzlichen Gegner des Terrorismus, bewahrheitete: dieser prophezeite der „Narodnaya Wolya“ einzig erreichen zu können, dass künftig drei statt zwei Striche hinter dem Namen Alexanders stünden.65 In der Tat kann man retrospektiv bezüglich der Ergebnisse des Terrorismus der „Narodnaya Wolya“ Plechanows Vorhersage bestätigen. Ein vom Volk getragener Umsturz konnte nicht entfacht werden und weitere Anschläge wurden nicht mehr verübt, da die Gruppe handlungsunfähig war. Erst eine zweite Generation, die sich anknüpfend an die „Narodnaya Wolya“ die Ermordung Alexander III. zum Ziel gesetzt hatte, konnte nochmals einen Anschlag auf den Zaren verüben, der jedoch scheiterte. Die fünf Attentäter, zu denen Alexander Uljanov, der ältere Bruder Lenins, zählte, wurden gefasst und hingerichtet.66 Damit endete der Terrorismus im Namen der „Narodnaya Wo-
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So wurde beispielsweise die wichtige Integrationsfigur der Organisation, Alexander Michailow, bereits im Oktober 1880 verhaftet und im Januar 1881 wurden die Terroristen Kolodkewitsch und Baranikow gefasst. Siehe Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 42 und 53. 61 Vgl. ebd., S. 47. 62 Hoffman, Terrorismus – der unerklärte Krieg, aaO. (FN 43), S. 21. 63 Zitiert nach Schröder, Bomben, Blut und Bitterkeit, aaO. (FN 57), S. 120. 64 Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S. 56. 65 Vgl. Borcke, Gewalt und Terror im revolutionären Narodniestvo, aaO. (FN 5), S. 18. 66 Vgl. Enzensberger, Vorbericht, aaO. (FN 54), S. XXXVII.
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lya“ endgültig. Zwar gab es nochmals Versuche, die Partei wieder aufzubauen,67 für das politische Geschehen blieb dies jedoch folgenlos. Ehemalige Aktivisten der „Narodnaya Wolya“ traten der im Jahr 1900 gegründeten „Sozialrevolutionären Partei“ bei. Diese gab zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Anstoß für eine neuerliche Phase terroristischer Attentate im Zarenreich.68 Der Terrorismus der „Narodnaya Wolya“ war ihnen ein Vorbild.
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Nachwirkungen der „Narodnaya Wolya“
Obwohl der Wirkungszeitraum der terroristischen Organisation relativ kurz war, muss den russischen Terroristen eine nachhaltige Prägekraft attestiert werden: Erstens ist ihre historische Bedeutung für die nachfolgenden Ereignisse in Russland nicht von der Hand zu weisen. Indem sie die Zarenherrschaft angriffen, trieben sie das zaristische Regime zu einer repressiveren Politik. Die Reaktion des Zarenhauses auf die terroristische Bedrohung schürte wiederum Unmut innerhalb der Bevölkerung und offenbarte Missstände des Regimes. So gesehen war der Terrorismus der „Narodnaya Wolya“ nicht nur „das Vorspiel zur Revolution von 1917“69. Vielmehr legte sie indirekt die gesellschaftlichen wie politischen Weichen für einen späteren Massenaufstand, der sich mitunter an der Gegenreaktion des Zarenregimes auf den Terrorismus entzündete. Zweitens hatte sie eine unvergleichliche Vorbildfunktion für spätere terroristische Gruppierungen. Dadurch, dass sie mit Dynamit eindrucksvoll professionell umgingen und systematisch ihr Ziel, den Tyrannenmord, verfolgten, waren sie ihrer Zeit voraus. Ebenso war die Einbettung der Organisation in einen breiten Sympathisantenkreis und die ideologische Verwurzelung in wie auch die personelle Rekrutierung aus einer sozialen Bewegung vorbildhaft für spätere Gruppen.70 Eine wichtige Rolle spielte dabei die geschickte Aufteilung der „Narodnaya Wolya“ in die illegale Sektion, die aus dem Untergrund agierte und die Partei, in der die Sympathisanten organisiert und als Finanziers und Helfer instrumentalisiert wurden.71 Zusätzlich diente der Deckmantel der Partei den Terroristen dazu, eine Verankerung im Volk vorzugaukeln. Dadurch konnten sie den Eindruck erwecken, im Namen des Volkes zu handeln und so ihre Taten zusätzlich legitimieren.
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Vgl. Laqueur, Terrorismus: die globale Herausforderung, aaO. (FN 29), S. 53. Im Jahr 1902 stieß die Ermordung des russischen Innenministers Sipjagin eine erneute Welle an Attentaten an. Die „Sozialrevolutionäre Partei“ sprach sich für systematische terroristische Aktionen aus. Diese wurden als probates Mittel gelobt, um einen Massenaufstand einzuläuten. Siehe dazu Ebd., S. 54-56. 69 Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, aaO. (FN 2), S. 58. 70 Die deutschen terroristischen Organisationen, die aus der Studentenbewegung der 1968er hervorgingen, seien hierfür exemplarisch genannt. Siehe hierfür die Beiträge von Alexander Straßner und Lutz Korndörfer in diesem Band. 71 Vgl. Figner, Das Attentat auf den Zaren Alexander II., aaO. (FN 13), S.54-55. 68
Der Weather Underground
Bewaffneter Kampf im Mutterland des Imperialismus: Der Weather Underground Ilona Steiler
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Wiederbelebung der Sechziger: Krieg und Terrorismus
Im Rahmen der Oscarverleihungen 2003 erhielt die Produktion „The Fog of War“ die Auszeichnung für den besten Dokumentarfilm. Neben dessen filmischer Qualität war der Erfolg auch dem durch die unterstellte Analogie1 des Irakkriegs zu den Ereignissen in Vietnam erneut entfachtem Interesse an früherem militärischen Engagement der USA in Indochina geschuldet. Bezeichnender Weise war als Konkurrenz zu „The Fog of War“, der aus Sicht Robert McNamaras die Entscheidungsprozesse der Administrationen Kennedy und Johnson nachzeichnet, mit „Weather Underground“2 eine Dokumentation nominiert worden, deren aktueller Bezug ebenso durch den gegen die USA gerichteten Terrorismus und den „War against Terrorism“ gegeben ist, jedoch die erklärten Gegner der amerikanischen Regierungen der späten Sechziger und frühen Siebziger zu Wort kommen lässt: ehemalige Mitglieder des Weather Underground,3 die als radikale Abspaltung der Protestbewegung das System der Vereinigten Staaten von innen heraus zu Fall bringen wollten. Mit dieser Dokumentation hatten die Filmemacher ein Thema aufgegriffen, das ansonsten in der amerikanischen Aufarbeitung der turbulenten Proteste dieser Epoche bislang nur als Randaspekt behandelt wird. Unter jungen Amerikanern ist die Geschichte der Gruppe, die 1969 die Führung über die zehntausende Mitglieder zählende Studentenorganisation Students for a Democratic Society (SDS) übernahm und danach in den Untergrund ging, nahezu unbekannt. Aufgrund ihrer relativ zu den Massen der Widerstandsbewegung kleinen Mitgliederzahl, dem daraus resultierenden geringen Aktionspotenzial und ihrem frühen Entschluss, auf medienwirksame, gegen Personen gerichtete Anschläge zu verzichten, war es dem Weather Underground nicht gelungen, sich unter der aus dem Aufsplittern der Bewegung hervorgehenden Vielzahl politischer und teilweise gewaltbereiter Gruppierungen jeglicher Couleur als bedeutende, von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommene terroristische Organisation zu behaupten. Dementsprechend widmet sich auch die sozialwissenschaftliche Literatur in insgesamt unbedeutendem Umfang dem Phänomen Weathermen. Allein im Rahmen übergeordneter Forschungsgegenstände, wie der zeitgeschichtlichen Untersuchung
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U.a. der demokratische Präsidentschaftskandidat Howard Dean in The New York Times vom 08.09.2003, S. 10. Green, Sam/ Siegel, Bill, The Weather Underground, 2003. 3 Die Gruppe nannte sich zunächst nach einem von ihr verfassten Strategiepapier Weatherman, ihre Mitglieder bezeichneten sich selbst als Weathermen/-women/-people. Mit dem Gang in den Untergrund wurde der Name in Weatherman Underground und später in Weather Underground geändert, um der Kritik aus den eigenen Reihen bezüglich des durch die frühere Endung „–man“ implizierten Sexismus entgegenzukommen. Hier orientiert sich die Bezeichnung daher an der zeitlichen Einordnung der beschriebenen Ereignisse. 2
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amerikanischer politischer Kultur4, des Zerfalls der SDS5, oder in vergleichender Gegenüberstellung mit terroristischen Organisationen in anderen Staaten6 fand die Organisation Berücksichtigung. Ausschließlich auf Weatherman konzentrierte Darstellungen stammen meist aus dem engen Umfeld der Organisation und sind wegen ihrer persönlichen7 oder ideologischen Nähe8 kritisch zu bewerten. Die fast ausnahmslos monographischen Beiträge zu Weatherman9 gehen dabei chronologisch vor, wobei die Entstehungsgeschichte der Organisation stets nahtlos in deren Zerfall übergeht.
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Aus der Masse in die Isolation: Die Genese des Weather Underground
In der Tat liegen die Ursachen für die im Vergleich zu anderen terroristischen Organisationen kurze Lebensdauer des Weather Underground in seiner Entstehung begründet. Eine Herausarbeitung des Werdegangs der Gruppe im Zusammenhang mit der ideologischen Gedankenwelt der Protestbewegung, insbesondere der scharfen Wahrnehmung rassistischer Missverhältnisse in den USA, ist daher unabdingbar für das Verständnis von Weathermans Zuwendung zur Militanz, der Funktionslogik der Gruppe und ihrem späteren Scheitern.
2.1 Politischer und kultureller Protest: Die Neue Linke und ihre Verbündeten Die Proteste der sechziger Jahre unterschieden sich nicht nur durch ihre Massendimension und dem niedrigen Durchschnittsalter der Aktivisten von vorhergegangenen linken Bewegungen. Ein entscheidendes, für die Dekade bezeichnendes Element war der antidisziplinäre Charakter des Protests: Verschiedenste Strömungen der Bewegung – Aussteiger, Hippies, „Freaks“, Anarchisten, Studentenverbände – teilten ein Gefühl der Entfremdung von den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, antikapitalistische Ziele und in ungleichem Ausmaß die Ablehnung von Disziplin, Gehorsam, Ordnung, Hierarchie und ideologischen Zusammenhängen.10 Gemäß dem Motto „Do it!“11 fing die Revolution beim eigenen Lebensstil an, Veränderungen konnten nur außerhalb und entgegen dem System staatlicher Institutionen durchgesetzt werden. Auch die SDS, die eher orthodoxe linke Positionen vertraten, hatten sich von ihrer Mutterorganisation League for Industrial Democracy und traditionellen Organisationen der „alten Linken“ wie der kommunistischen 4
U.a. Woods, Randall Bennett, Quest for Identity. America Since 1945, New York 2005. Ebenso Hollander, Paul, Anti-Americanism. Irrational and Rational, New Brunswick u.a. 1995. 5 Adelson, Alan, SDS, New York 1972. Siehe dazu auch Sale, Kirkpatrick, SDS, New York 1973. 6 Varon, Jeremy, Bringing the War Home. The Weather Underground, the Red Army Faction, and Revolutionary Violence in the Sixties and Seventies, Berkeley/ Los Angeles/ London 2004; Juchler, Ingo, Die Studentenbewegungen in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland der sechziger Jahre. Eine Untersuchung hinsichtlich ihrer Beeinflussung durch Befreiungsbewegungen und –theorien aus der dritten Welt, Berlin 1996. 7 Stern, Susan, With the Weathermen. The Personal Journal of a Revolutionary Woman, New York 1975; Ayers, William, Fugitive Days, Boston 2001. 8 Jacobs, Ron, Woher der Wind weht. Eine Geschichte des Weather Underground, Berlin 1999. 9 Die einzige der Autorin bekannte Ausnahme bildet der Beitrag von Juchler, Ingo, Die Weathermen, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Band 2, S. 768-781. 10 Siehe dazu Woods, Quest for Identity, aaO. (FN 4), S. 357-362 u. Stephens, Julie, Anti-Disciplinary Protest. Sixties Radicalism and Postmodernism, Cambridge 1998, S. 12-27. 11 Rubin, Jerry, Do it! Scenarios für die Revolution, Reinbek 1971.
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Partei und Gewerkschaften abgegrenzt, propagierten das Bild von Studenten und jungen Menschen, nicht der Arbeiterklasse, als treibender Kraft der Revolution und zeigten sich offen gegenüber antidisziplinären Tendenzen der anarchistischen New Yorker Gang Up Against the Wall, Motherfucker oder der Action Faction aus den eigenen Reihen.12 Der Protest der heterogenen Bewegung richtete sich zunehmend nicht nur gegen einzelne politische Ziele wie die Rassensegregation und Unterdrückung von Schwarzen im Süden und das sich ausweitende militärische Engagement der USA in Vietnam. Vielmehr wurden die politischen Missstände im eigenen Land und der Vietnamkrieg als Symptome eines ungerechten und unmenschlichen, kapitalistischen und imperialistischen Systems in Zusammenhang gestellt: „We must name that system (...). For it is only when that system is changed and brought under control that there can be any hope for stopping the forces that create a war in Vietnam today or a murder in the South tomorrow (...)“ verkündete SDSPräsident Paul Potter 1965 vor Teilnehmern des „Marsch[s] auf Washington“. Die Bewegung, so Potter weiter, müsse die Herausforderung in ihrer Gesamtheit erfassen und in allen Gesellschafts- und Lebensbereichen auf eine Veränderung des Systems hinarbeiten; gegebenenfalls sollte die Regierung durch „massiven zivilen Ungehorsam“ mit der Problematik des Krieges im eigenen Land konfrontiert werden.13 Die äußeren Umstände erforderten eine Ausweitung und Radikalisierung der Proteste. Durch die Eskalation des Vietnamkriegs, die zunehmende staatliche Gewalt gegen weiße Demonstranten und die blutig niedergeschlagenen Ghettoaufstände in Detroit und Newark frustriert und mit der Hilf- und Wirkungslosigkeit ihres Widerstands konfrontiert, entstand bei der linken Bewegung ein neuer Bedarf an ideologischen Erklärungen und revolutionären Vorbildern – und eine weit über das bisherige Maß hinausgehende Gewaltbereitschaft. Einen Erklärungsansatz für fehlenden Rückhalt und Unterstützung von Seiten der amerikanische Arbeiterklasse bot Herbert Marcuses „One-Dimensional Man“14, dem zu Folge breite Schichten der Gesellschaft durch technischen Fortschritt und den Besitz materieller Güter zu stark korrumpiert war, um sich in Opposition zum System zu stellen. Dazu beflügelten die Ausführungen Régis Debrays15 die Phantasie der Protestbewegung, ungeachtet dessen, dass seine Focus-Theorie für den Guerillakampf in ländlichen Regionen Lateinamerikas entworfen worden war, entsprechend Fidel Castros Diktum „Es ist die Pflicht des Revolutionärs, die Revolution herbeizuführen“ durch das Aufnehmen des bewaffneten Kampfs in den Strassen die breiten Massen zum Aufstand mobilisieren zu können.16 Nach der Ermordung Che Guevaras als Lichtgestalt des internationalistischen Widerstands suchte die Bewegung den Schulterschluss mit Kräften, die dem US- Imperialismus tatsächlich trotzen konnten und so seine Besiegbarkeit offenbarten. Die neuen Idole wurden somit die Kubaner, der Vietcong, und die Entkolonisierungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent. SDS und andere Gruppen bauten persönliche Kontakte zu Vertretern dieser Kräfte auf und organisierten Treffen außerhalb der USA, die eine stark inspirierende Wirkung auf die amerikanischen Teilnehmer dieser Reisen hatten.17 Anhand des gewandel12
Siehe Stephens, Anti-Disciplinary Protest, aaO. (FN 10), u. Sale, SDS, aaO (FN 5), S. 338f. Potter Paul, zitiert in Sale, SDS, aaO. (FN 5), S. 188f. Deutsch: Marcuse, Herbert, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1998. 15 Siehe dazu den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Band. 16 Siehe Gitlin, Todd, The Sixties. Years of Hope, Days of Rage, New York 1987, S. 244-249. 17 In dem 1975 von Emile de Antonio im Untergrund gedrehten Dokumentarfilm „Underground“ berichten die Führungsmitglieder der Organisation, wie sehr diese Begegnungen mit Kubanern und Vietnamesen sie in ihrem 13 14
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ten Verhältnisses zu Vietnam kristallisierte sich deutlich heraus, dass 1967/68 ein Teil der Friedensbewegung zu einer gewaltbereiten Systemopposition mutiert war: (...) increasingly, we found our exemplars and heroes in Cuba, in China, in the Third World guerilla movements, in Mao and Frantz Fanon and Che and Debray, most of all – decisively – in Vietnam. It no longer felt sufficient – sufficiently estranged, sufficiently furious – to say no to aggressive war; we felt driven to say yes to revolt, and unless we were careful, that yes could easily be transferred onto Marxism-Leninism which had commandeered the revolt in the interest of practicality.18
Die nun als notwendig anerkannte Formierung einer marxistisch-leninistischen Avantgarde fand ihren Ausdruck in der Befreiungsbewegung der Schwarzen, allen voran der Black Panther Party (BPP). Ursprünglich zur Selbstverteidigung der Afroamerikaner gegen rassistische Übergriffe gegründet, verkörperten ihre Anführer den mutigen Widerstand der am stärksten ausgebeuteten Minderheit; ihre Militanz schien durch die von der Staatsgewalt gegen sie angewandte Brutalität rechtfertigt. Im Gegensatz zu anderen schwarzen Organisationen begrüßte sie die Unterstützung durch weiße Linke und forderte diese dazu auf, sich in der kommenden Revolution an ihre Seite zu stellen und zusammen für „Black Power“ zu kämpfen.19 Mit der Ermordung Martin Luther Kings im Frühjahr 1968 galt die pazifistische Bürgerrechtsbewegung unter weiten Teilen der Linken als gescheitert und die gewaltsame Konfrontation mit dem rassistischem System als unausweichlich. SDS, deren hoher Organisationsgrad sie als effektive Kraft der Neuen Linken in die öffentliche Wahrnehmung rücken und im Laufe der beschriebenen Entwicklung bundesweit auf schätzungsweise 80.000 Mitglieder anwachsen ließ, erklärten die Unterstützung des schwarzen Befreiungskampfes zur obersten Priorität. Diese Entscheidung folgte einem der weißen studentischen Bewegung inhärenten Schuldgefühl, durch ihre soziale Prägung selbst vom Rassismus des Systems geimpft und als Zugehörige des amerikanischen Mittelstands Profiteure der Ausbeutung und Unterdrückung der Schwarzen sowie der Dritten Welt zu sein.20
2.2 Der Anfang vom Ende: Zersplitterung der Linken Der enorme Zulauf zu SDS, die Massenmobilisierung anderer linker Organisationen und der rege Aktionismus der späten sechziger Jahre21 konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass innerhalb der Neuen Linken gewaltige Differenzen hinsichtlich der konkreten politischen Ziele und der Mittel und Methoden zu deren Erreichen bestanden. Als größte studenrevolutionärem Denken gestärkt und zu ihrer Überzeugung beigetragen haben, dass der bewaffnete Kampf gegen die USA nicht nur der einzige, sondern auch ein aussichtsreicher Weg sei. 18 Gitlin, The Sixties, aaO. (FN 16), S. 263. 19 Ebd., S. 348-352. 20 Begriffe wie „white racism“, „white supremacy“, „white-skin privilege“ und „white guilt“ wurden Schlagworte, die zukünftige innere ideologische Auseinandersetzungen des SDS prägen sollten. Siehe Sale, SDS, aaO. (FN 5), S. 418-421. 21 Zwischen 1968-69 zählte SDS nahezu 100,000 Mitglieder und unterhielt ca. 350 Ortsverbände, die bundesweit an mehr als 300 Universitäten Protestaktionen durchführten; dazu kamen Protestkundgebung anderer Organisationen wie beispielsweise des National Mobilization Committee to End the War in Vietnam (Mobe), gewaltsame Aktionen wie Brandanschläge auf Rekrutierungsbüros etc. Siehe Woods, Quest for Identity, aaO. (FN 4), S. 359f, u. Gitlin, The Sixties, aaO. (FN 16), S. 342f.
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tische Organisation wurden die SDS zum Hauptschauplatz der Austragung zunehmender Konflikte. Die längerfristig auf nationaler und lokaler Ebene schwelende Auseinandersetzung zwischen der älteren Generation der Praxis Axis, die sich für die Organisierung und Mobilisierung großer studentischer Massen am Campus als primäres und die Durchführung von Aktionen als sekundäres Ziel aussprach, und den zumeist jüngeren Anhängern (darunter spätere Mitglieder von Weatherman wie Ted Gold oder Mark Rudd) der Action Faction, der an öffentlichkeitswirksamen Aktionen einer kleinen, schlagkräftigen Truppe gelegen war, wurde stellvertretend an der Columbia University im Frühjahr 1968 zugunsten der letzteren entschieden. Nach ergebnislosen Verhandlungen mit der Universitätsverwaltung besetzten Studenten aus Protest gegen die Kooperation der universitären Forschungseinrichtungen mit dem US-Militär und dem geplanten Bau einer Turnhalle auf dem Gelände einer schwarzen Gemeinschaft in Harlem verschiedene Gebäude des Campus. Columbia stellte ein Musterbeispiel dar für die Vernetzung von Imperialismus, Rassismus, und dem erzwungenen Selbsterhalt des Systems sowohl durch Indoktrination des Bildungssystems als auch durch repressive Mittel, wie die gewaltsame Räumung durch die Polizei verdeutlichen sollte. Die Aktion verhalf den SDS zu großer (skeptischer) Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, aber auch zu neuen Mitgliedern und der Anerkennung als ernstzunehmende Vetospieler. In Analogie zu Guevaras „zwei, drei, viele Vietnams“ wollten SDS nun „zwei, drei, viele Columbias“ im Kampf gegen das System schaffen. Der „Erfolg“ von Columbia überzeugte weite Teile der SDS von ihrer Schlagkraft und sollte ausschlaggebend für die Etablierung der Weathermen-Linie sein.22 Die Begeisterung für diesen neuen, radikalen Aktionismus teilte jedoch längst nicht das gesamte in den SDS vertretene Spektrum an Gruppierungen. Neben der Praxis Axis, die trotz der Divergenzen hinsichtlich der Form des Protests die grundsätzliche Politik der SDS nicht in Frage stellten, regte sich Widerstand der besonders im Süden einflussreichen und mitgliedsstarken Progressive Labor Party (PL), der zu Folge die Revolution nur in enger Zusammenarbeit mit den Massen der Arbeiterklasse gelingen könnte und die deren Rückhalt durch derartige, lediglich auf Durchsetzung von studentischen Interessen ausgerichtete Aktionen zu verlieren fürchtete. Vielmehr sollten Studenten in „Worker-Student-Alliances“ den Kontakt zu Arbeitern suchen, deren Lebensumstände verstehen lernen und sie von der Notwendigkeit der Revolution überzeugen. Diese Ansichten standen konträr zu der angestrebten Vorgehensweise des übrigen Teils der SDS, allen voran der Action Faction, die zudem gegenüber PL den Vorwurf hegte, die Organisationsstruktur der SDS nur als Rekrutierungsbasis zu benutzen. Nachdem die Spannungen zwischen beiden Strömungen im Sommer 1968 deutlich zu Tage gekommen waren, wurde im Dezember mit dem Dokument „Towards a Revolutionary Youth Movement“ (RYM) ein Gegenentwurf zu PL verabschiedet, der den Aufbau einer breiten, aktionistisch angelegten Jugendbewegung vorsah, die verbündet mit verschiedenen nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und Vietnams den Kampf gegen den US-Imperialismus führen sollte.23
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Ausführlich zur Besetzung der Columbia-Universität siehe Sale, SDS, aaO. (FN 5), S. 430-451 u. Gitlin, The Sixties, aaO. (FN 16), S. 306-310. 23 Der ideologische Konflikt zwischen PL und RYM ist hier nur in knapper, zusammenfassender Darstellung möglich, ausführlich dazu u.a. Jacobs, Harold, „Introduction“, in: ders. (Hrsg), Weatherman, Berkeley 1970, S. 113; Kopkind, Andrew, The Real SDS Stands Up, in: Jacobs, Harold (Hrsg.), Weatherman, aaO, S. 15-28; Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 45-56.
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Unter den Unterzeichnern des RYM-Entwurfs fanden sich einflussreiche Führungsmitglieder der SDS-Ortsverbände in New York, Michigan, und des Nationalen Sekretariats in Chicago, die auf dem Nationalkonvent im Sommer 1969 ein Strategiepapier mit dem Titel „You Don’t Need a Weatherman to Know Which Way the Wind Blows“ vorlegten.24 Der Text stellte die radikalisierte Fortführung der RYM-Linie sowie die Grundlage für die Delegitimierung und den Ausschluss von PL aus den SDS dar: Während PL als selbsterklärte Anhänger marxistisch-leninistisch-maoistischer Ideologie den Aufbau einer breiten proletarischen Massenbewegung anstrebten und sämtliche Befreiungsbewegungen einzelner Volksgruppen als der Revolution hinderliche Partikularinteressen ablehnte, erkannten Weatherman die Befreiung der Schwarzen (deren Gemeinschaft den Status einer Kolonie innerhalb der Vereinigten Staaten erhielt), der Vietnamesen und der Dritten Welt als integralen Bestandteil eines internationalistisch geführten Kampfs gegen den US-Imperialismus an. Dabei kam den Afroamerikanern als Teil der „internationalen revolutionären Avantgarde“ die Rolle zu, innerhalb Amerikas ein „schwarzes Vietnam“ zu schaffen.25 Aufgabe der „white mother country radicals“ war es demnach, diese Befreiungsbewegungen durch den Aufbau einer breiten Jugendfront im Mutterland des Imperialismus als Teil einer „internationalen Befreiungsarmee“ zu unterstützen, die von einer zentralistischen, klandestin operierenden, marxistisch-leninistischen Kaderpartei angeführt werden sollte. Gleichzeitig wurde der stark ideologischen Ausrichtung von PL eine Absage erteilt. Statt an theoretischen Vorlagen sollte sich die neue Strategie an der revolutionären Praxis im spezifisch amerikanischen Umfeld orientieren.26 Die Annahme der Weathermen und der Ausschluss von PL läuteten das Ende der SDS als bedeutender Kraft der „Neuen Linken“ und als Organisation ein. Nicht nur verloren die SDS einen Großteil der Mitglieder an PL, die sich fortan zu den „wahren SDS“ erklärten. Auch aus den eigenen Reihen sahen sich die Weathermen heftiger Kritik ausgesetzt: Carl Oglesby, ehemaliger Präsident des SDS, verurteilte die „Avantgarditis“ der Weathermen und die Erwartung der bevorstehenden Revolution als Fehleinschätzung, die von den eigentlichen Aufgaben der SDS, dem Aufbau breiter Unterstützung und sukzessiver Reformerfolge an den Universitäten, ablenke.27 Ebenso boten die Überschätzung der Afroamerikaner als Anführer der Revolution28 und die negative wie widersprüchliche Einschätzung der Rolle der Arbeiterklasse29 des Konzepts eine Angriffsfläche für Skeptiker und Gegner. Insgesamt war das Weathermen-Papier voller inhaltlicher Widersprüche und Ungenauigkeiten, zeugte von der maßlosen Selbstüberschätzung der Verfasser und bot kaum Identifikationsmöglichkeiten für die revolutionäre Jugend.30 Da die nationale Führung der
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Die Wahl einer Textzeile aus Bob Dylans „Subterranean Homesick Blues“ zeugte nicht nur von der Nähe der Weathermen zur antiautoritär ausgerichteten Gegenkultur, sondern sollte auch die selbst zugewiesene Rolle der Gruppe im internationalen Kampf deutlich machen, indem zunächst der Vers „the pump don’t work ’cause the vandals stole the handles“ den Verfassern des Papiers den Namen „The Vandals“ geben sollte. Siehe Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 49. 25 Ashley, Karin/Ayers, Bill/Dohrn, Bernadine/Jacobs, John/Jones, Jeff/Long, Gerry/Machtinger, Howie/Mellen, Jim/Robins, Terry/Rudd, Mark/Tappis, Steve, You Don’t Need a Weatherman to Know Which Way the Wind Blows, in: Jacobs, Harold (Hrsg), Weatherman, aaO. (FN 20), S. 51-90, hier 58-64. 26 Ebd., S. 87-90. 27 Oglesby, Carl, 1969, in: Harold Jacobs (Hrsg), Weatherman, aaO. (FN 20), S. 119-136, hier: S. 135f. 28 Ebd., S. 133. 29 Weinberg, Jack/ Gerson, Jack, Weatherman, in: Jacobs, Harold (Hrsg.), Weatherman, aaO (FN 20), S. 111-118. 30 Siehe Sale, SDS, aaO. (FN 5), S. 560-562.
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SDS nach dem Konvent ausschließlich mit Weathermen besetzt war, fiel die Kritik auf die gesamte Organisation zurück. Jedoch beschleunigte die Übernahme der SDS durch Weatherman letztlich einen Zerfallsprozess, der schon über Monate vorangeschritten war. Die andauernden Spannungen zwischen Action Faction und Praxis Axis in den lokalen Verbänden und die Auseinandersetzungen von PL und RYM hatten viele Mitglieder der Organisation entfremdet und Energien gebunden, die eigentlich zur Erweiterung der Mitgliederzahlen und des Aktionsradius sowie der Weiterentwicklung inhaltlicher Konzepte vonnöten gewesen wären. Nur einige Hundert der fast 100.000 Mitglieder zählenden Organisation hatten den Weg zum Nationalkonvent nach Chicago auf sich genommen, da die verbissen geführte und für Außenstehende völlig unverständliche Diskussion um ideologische Versatzstücke nichts mehr mit der Realität der Studenten gemeinsam hatte, die auf dem Campus, in den Ghettos oder in den Arbeitervierteln für Veränderungen kämpften.31 Der harte Kern in Chicago war der wesentliche Teil dessen, was den Weathermen von den SDS noch blieb.
2.3 Der Weg in den Untergrund: Mut zur Verzweiflung Die Isolation, in der sich die neue SDS-Führung nach dem Konvent im Sommer befand, erweckte den Eindruck, dass tatsächlich niemand einen „Weatherman“ brauchte. Ein großer Teil der RYM-Faktion warf den Weathermen ihre Arroganz, Militanz, Sektierer- und Abenteurertum vor und spaltete sich von ihnen ab. Die Allianz mit der BPP begann bereits im Juli zu bröckeln, was Weatherman vor das legitimatorische Problem stellte, von der von ihnen ernannten Avantgarde abgelehnt zu werden.32 Für ihre Aktionen im Herbst fanden sie nur wenig Unterstützung und kaum Zustimmung. Bei der Organisation von Massenprotesten gegen den Vietnamkrieg im November war Weatherman nur geringfügig beteiligt. Jedoch führte diese Entwicklung bei den Anführern von Weatherman nicht zu einem Umdenken, sondern bestätigte ihre Selbsteinschätzung, die eigentliche revolutionäre Speerspitze Amerikas zu sein. Die Kritik aus der Bewegung wurde als individualistisch und defätistisch abgelehnt und als Zeichen des reaktionären und bourgeoisen Charakters der „movement people“ interpretiert, von denen sich Weatherman nun deutlich abzugrenzen versuchte.33 Nicht mehr die Truppen sollten zurück, sondern der Krieg ins eigene Land geholt werden; das Motto lautete nicht mehr „serve the people“, sondern „fight the people“: There’s a lot in white Americans that we do have to fight, and beat out of them, and beat out of ourselves (...) – white privilege, racism, male supremacy – in order to build a revolutionary movement. We know there’s going to be polarization, but we also know that through that polarization, there’s going to be change.34
Nach Treffen mit Kubanern und Vietcong vom Bevorstehen der Weltrevolution überzeugt, sahen Weatherman die Verhältnisse auch innerhalb der USA als reif für die Revolution an, die Massen mussten nur noch durch Aktion mobilisiert werden. Auf dem letzten, als „Nati31
Siehe ebd., S. 485-497, u. Gitlin, The Sixties, aaO. (FN 16), S. 384-391. Siehe Sale, SDS, aaO. (FN 5), S. 590f. Ayers, Bill, A Strategy to Win, in: Jacobs (Hrsg.), Weatherman, aaO. (FN 20), S. 183-195, hier: S. 185-188. 34 Ebd., S. 191f. 32 33
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onalen Kriegsrat“ titulierten Konvent zum Jahreswechsel 1969/70 motivierte sich Weatherman mit radikaler, Gewalt verherrlichender Rhetorik zum Gang in den Untergrund. Dabei versuchten sie, die „Freaks“ der Gegenkultur als Unterstützer anzusprechen und konnten von der Ernsthaftigkeit ihrer Vorhaben überzeugen; ihre Äußerungen entfernten sie aber noch stärker von moderaten Teilen der Bewegung.35 Der Entschluss, aus dem Untergrund heraus den Kampf mit terroristischen Mitteln zu führen, war die logische Folge der (gewollten) sozialen Abgrenzung der seit dem Sommer in Kollektiven organisierten Weathermen, der aus dieser Isolation heraus entstehenden Immunisierung gegen jede Kritik von außen, einer aus dieser Gruppendynamik resultierenden vollkommenen Fehlinterpretation der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA und maßloser Selbstüberschätzung. Es ist jedoch zu kurz gegriffen, die Motivation für das Handeln von Weatherman hauptsächlich gruppenintrinsisch zu vermuten und auf einen pseudo-religiösen Versuch der „Reinigung von der ‚weißen Schuld’“36 zurückzuführen, ohne das politische Klima der ausklingenden sechziger Jahre in den USA zu berücksichtigen, das stark von Gewalt geprägt war.37 Nicht entschuldigend, sondern erklärend kann angefügt werden, dass die Nixon-Administration keinerlei Anstrengungen zur Deeskalation der inneren Konflikte unternahm.38 Vom FBI verfolgt und in Erwartung teilweise langjähriger Haftstrafen für vorherige kriminelle Aktionen, machten die Weathermen aus der Not eine Tugend und sich aus perzipierter Alternativlosigkeit zur Avantgarde.
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Die Führungsmitglieder von Weatherman präsentierten sich als „crazy motherfuckers (...) scaring the shit out of honky America“, dekorierten den Raum mit Pappgewehren, sangen selbst gedichtete Kriegslieder und äußerten ihre Bewunderung für Charles Manson, der mit seiner Gang die schwangere Schauspielerin Sharon Tate und sechs weitere Opfer brutal ermordet hatte. Siehe San Francisco Good Times, „Stormy Weather“, abgedruckt in Jacobs (Hrsg.), Weatherman, aaO. (FN 20), S. 341-350. 36 Juchler, Ingo, Die Weathermen, in: Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, aaO. (FN 9), S. 780. 37 Die im Fernsehen übertragenen Grausamkeiten in Vietnam, alltägliche gewaltsame Auseinander-setzungen zwischen Staatsgewalt und Demonstranten, Todesopfer unter demonstrierenden Studenten, die eskalierende Gewalt zwischen Polizei und militanten Afroamerikanern bildeten den Hintergrund für die politischen Morde an den Reformern Robert Kennedy und Martin Luther King, die wesentlich zur Radikalisierung einzelner Aktivisten beitrugen. Weatherman war bei weitem nicht die erste oder einzige terroristische Gruppierung: Zwischen Januar 1969 und April 1970 starben bundesweit 40 Menschen bei Bombenanschlägen, deren Anzahl je nach Quelle zwischen 250 und 4.330 variiert; dazu kamen unzählige Brandanschläge auf staatliche und militärische Einrichtungen. Siehe Woods, Quest for Identity, aaO. (FN 4), S. 291-301; Walton, Paul, The Case of the Weathermen: Social Reaction and Radical Commitment, in: Taylor, Ian/ Taylor, Laurie (Hrsg.), Politics and Deviance, Middlesex/Baltimore/Victoria 1973, S. 157-181, hier: S. 177. 38 Vielmehr verstärkten Nixon, Vizepräsident Spiro Agnew und FBI-Direktor J. Edgar Hoover die Spannungen dadurch, dass sie auf die Differenzierung zwischen moderaten und radikalen Kriegsgegnern verzichteten, diese als Gegner der „schweigenden Mehrheit“ der Amerikaner diskreditierten und im Rahmen des FBI-Programms COINTELPRO illegal überwachen und mit Provokateuren unterwandern ließen. Siehe Woods, Quest for Identity, aaO. (FN 4), S. 292f; Churchill,Ward/ Wall, Vander Jim, The COINTELPRO Papers. Documents from the FBI’s Secret Wars Against Dissent in the United States, Boston 1990, S. 165-230. Auch wenn die Proteste Nixons außenpolitische Entscheidungen beeinflussen sollten, zeigte er nach außen keinerlei Kompromissbereitschaft oder Nachgiebigkeit und kündigte an, sich statt den Massenprotesten im November 1969 in Washington lieber der Fernsehübertragung eines Footballspiels zu widmen. Siehe Gitlin, The Sixties, aaO. (FN 16), S. 378f.
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Zweihundert gegen zweihundert Millionen: Die „Weathermachine“
Nach dem Konvent im Juni 1969 organisierte sich der harte Kern der WeathermanAnhänger in bundesweit verteilten Kollektiven, die entsprechend Che Guevaras FocusPrinzip als voneinander unabhängige, jedoch unter der Führung eines zentralen Kommandos stehende Zellen exemplarische Aktionen durchführen sollten. Schätzungen über die Anzahl der so organisierten Personen schwanken zwischen 20039 und 50040. Die zentrale Koordination übernahm das nun als „Weatherbureau“ bezeichnete Kollektiv der Führungsmitglieder von Weatherman aus dem SDS-Bundesbüro in Chicago heraus. Innerhalb der Kollektive verordnete das Weatherbureau strenge Regeln des Zusammenlebens und überwachte deren Einhaltung. Die geforderte Teilnahme an gruppeninternen Ritualen diente drei Zwecken: Erstens sollte der Zusammenhalt der Kader durch gemeinschaftlichen Konsum von Drogen (vor allem Haschisch und LSD), Gruppensex, und gemeinsam durchgeführte gewaltsame Aktionen gestärkt werden. Zweitens wurden mit einer „smash monogamy“-Kampagne, andauernden Kritik-Selbstkritik-Sitzungen, in denen die Mitglieder sich gegenseitig ihre fehlende Hingabe an die Revolution vorwarfen, und der verlangten Aufgabe sämtlichen persönlichen Besitzes die Auflösung persönlicher Beziehungen und die totale Unterordnung der Individualität unter die Ziele des Kollektivs angestrebt. Daran machte das Weatherbureau nach dem „Kriegsrat“ in Flint auch die Auswahl derjenigen Personen fest, die nach Ansicht des Führungskollektivs die Revolution „genug wollten“ und in den Untergrund folgen sollten, während andere aufgrund des Drucks die Organisation freiwillig verließen.41 Drittens war eine Unterwanderung der Kollektive durch Informanten oder Deep-Cover-Agenten des FBI so gut wie unmöglich, was sich als ein wesentlicher Grund für die Erfolglosigkeit der FBI-Ermittlungen erwies.42 Mit dem Abtauchen in den Untergrund nannte sich das Weatherbureau in Zentralkomitee um und teilte sich in Flügel im Mittleren Westen, der Ost- und der Westküste auf. Das Zentralkomitee (während der gesamten Aktivität des Weather Underground zwischen vier und sechs Personen) galt als Kopf der Organisation, gab die politische Strategie vor, teilte die untergeordneten Kollektive geografisch und nach Aufgaben ein und veröffentlichte Bekennerschreiben; ihm untergeordnet stand eine sekundäre Führungsschicht zum Nachrücken bereit.43 Über die Logistik und die Kommunikation zwischen Kollektiven und Zentralkomitee ist wenig bekannt: Unterstützt wurden sie bundesweit von sympathisierenden 39
Sale, SDS, aaO. (FN 5), S. 580f. Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 57. 41 Darunter die Gründungsmitglieder Jim Mellen und Gerry Long; siehe Collier, Peter/ Horowitz, David, Destructive Generation. Second Thoughts About the Sixties, New York u.a. 1989, S. 82-98. 42 Die Deckung von Larry Grathwohl, des einzigen FBI-Informanten, der sich Zugang zum Weatherman Underground geschaffen hatte, flog bereits mit der Verhaftung zweier Weatherman-Mitglieder im April 1970 auf. Insgesamt gelangen dem FBI bis 1974 nur fünf Verhaftungen, von denen ein Weatherman gleich nach Hinterlegung der Kaution wieder im Untergrund verschwand. Siehe Federal Bureau of Investigation (FBI), Weather Underground Organization (Weatherman), S. vi, vii (Pt. 1a), http://foia.fbi.gov/foiaindex/weather.htm (zuletzt abgerufen am 21.11.2007). Der ehemalige Agent Cril Payne führt die Einstellung des Deep-Cover-Programms unter anderem darauf zurück, dass sich kaum Agenten (und vor allem kaum Agentinnen) mit der Bereitschaft fanden, an den sexuellen Praktiken ihrer Überwachungsobjekte zu partizipieren. Siehe Payne, Cril, Deep Cover. An FBI Agent Infiltrates the Radical Underground, New York 1979, S. 330f. 43 Siehe Collier/ Horowitz, Destructive Generation, aaO. (FN 41), S. 98-110. Als Mitglieder des Zentralkomitees sind Bill Ayers, Bernadine Dohrn, John Jacobs, Mark Rudd und Jeff Jones bekannt, später auch Cathlyn Wilkerson, Kathy Boudin, Eleanor Stein und David Gilbert. 40
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Kommunen, Künstlern, Intellektuellen, und Rechtsanwälten.44 In einer kurz vorher von den Weathermen verlassenen Bombenwerkstatt in San Francisco stellte das FBI Fingerabdrücke von 16 Weather Underground-Mitgliedern aus verschiedenen Kollektiven sicher,45 was auf engen Kontakt innerhalb der Organisation schließen lässt. Aus den Akten des FBI geht weiter hervor, dass die Behörde 23 Mitglieder im Untergrund verfolgte und ca. 120 Personen im engen Umfeld des Weather Underground vermutete.46 Eine Untersuchung im Auftrag des Senats bezifferte die Anzahl der Personen im Untergrund mit 37 und die des engeren Umfelds mit 158.47 Mitte der siebziger Jahre musste der Weather Underground die Wirkungslosigkeit seiner Anschläge erkennen. Von der Symbionese Liberation Army (SLA), deren Entführung von Patty Hearst zeitweise die Nachrichten dominierte, als bedeutendste terroristische Organisation verdrängt, änderte Weather seine Strategie und verkündete den Aufbau eines legalen Arms in Form einer kommunistischen Massenpartei. Eine führende Rolle sollte dabei aufgetauchten Weather-Mitgliedern zukommen, deren Strafverfahren aufgrund illegaler Ermittlungsmethoden des FBI eingestellt worden war, und den Vertrauten des engen Umfelds, die als Prarie Fire Organisation Committee (PFOC) in Kooperation mit anderen linken Gruppierungen eine Konferenz mit dem Namen „Hard Times“ im Frühjahr 1976 organisierten.48 Dieses Vorhaben scheiterte an der politischen und ideologischen Uneinigkeit der ca. 2000 Konferenzteilnehmer, die dem Weather Underground die Unterstützung entsagten und dessen Politik verurteilten. Danach blieb Weather nur noch die Auflösung. Die meisten Mitglieder stellten sich in den folgenden Jahren, wenige schlossen sich anderen radikalen Splittergruppen der amerikanischen Linken an.49
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Von exemplarischer Gewalt zum Primat der Politik: Strategie und Praxis
Zwei Ereignisse waren für die Formulierung und vor allem die Ausführung von Weathermans Vorhaben, den US-Imperialismus im Mutterland zu bekämpfen, von entscheidender Bedeutung und sollten auch die Wahrnehmung der Gruppe in der Öffentlichkeit nachhaltig prägen: die „Tage des Zorns“ in Chicago im Oktober 1969 und die Explosion einer New Yorker Stadthauswohnung im März des darauf folgenden Jahres. Weatherman / SDS hatten auf dem Konvent im Sommer 1969 die Planung einer „Nationalen Aktion“ beschlossen. Analog zu den heftigen Protesten im Herbst 1968, bei denen Zehntausende während des Konvents der Demokratischen Partei gegen den Krieg, Imperialismus, Kapitalismus und Rassismus demonstriert hatten, sollten auf den „Tagen des Zorns“ ebenso viele Jugendliche die gewaltsame Auseinandersetzung mit dem System suchen. Unter dem Motto „Bring the War Home!“ sollte somit der Stein für den Aufbau einer Roten 44 Siehe Weatherman Underground, Communiqué #1 From the Weatherman Underground, in: Jacobs, Weatherman, aaO (FN 20), S. 509-510; Collier/ Horowitz, Destructive Generation, aaO. (FN 41), S. 109f. 45 FBI, Weather Underground Organization (Weatherman), aaO. (FN 42), S. 384 (Pt.2c). 46 Das FBI versuchte dabei eine Indoktrination des Weather Undergrounds und materielle Unterstützung durch kommunistische und anti-amerikanische kubanische und vietnamesische Organisationen aufzudecken, konnte aber nur Belege für eine ideologische Beeinflussung der Gruppenmitglieder bei Auslandsreisen liefern. Siehe FBI, Weather Underground Organization (Weatherman), aaO. (FN 42), S. 187-376, (Pt.2a-c) 47 Siehe The New York Times vom 03.03.1975, S. 38. 48 Collier/ Horowitz, Destructive Generation, aaO. (FN 41), S. 112-116. 49 Siehe Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 297-299.
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Armee ins Rollen gebracht werden, indem durch die Aktion bereits bestehende revolutionäre Kader militärisch und politisch gestärkt, neue Revolutionäre gewonnen, ein breites Bewusstsein unter Jugendlichen über den repressiven Charakter des Systems geformt und ein Maßstab für weitere Kämpfe gesetzt würde. Außerdem sollte die Eröffnung einer neuen Front gegen den Imperialismus den Befreiungskampf der Vietnamesen erleichtern helfen.50 Doch trotz des immensen Organsationsaufwands der Weatherman-Kollektive, die an Schulen, Drive-Ins, auf der Strasse und vor den Fabriken mit Jugendlichen diskutiert und für die Aktion geworben hatten, fanden sich in Chicago nur etwa 300 Weatherman-Anhänger ein, die einer gut ausgerüsteten Überzahl aus Polizei und Nationalgarde gegenüberstanden.51 Andere linke Organisationen wie Mobe hatten Weatherman die Unterstützung schon im Vorfeld entzogen; die RYM-II-Faktion52 veranstaltete eine Gegenaktion, auf der BPPFührer Fred Hampton vor ca. 400 friedlichen Demonstranten die Tage des Zorns als „anarchistic, opportunistic, adventuristic, and Custeristic“ verurteilte.53 Die Bilanz der über vier Tage verteilten Straßenschlachten mit der Polizei waren eine gesprengte Polizeistatue am Haymarket Square, Dutzende verletzte Weathermen und mehrere zum Teil schwer verletzte Polizisten, 287 Festnahmen mit einer zu hinterlegenden Kaution in Höhe von insgesamt eineinhalb Millionen und Sachschaden im Wert von einer Million Dollar. Das Echo der Tage des Zorns war nahezu ausschließlich negativ: Vertreter von Staat und Kirche sowie die bürgerliche Presse bezeichneten die Gewalt und Zerstörungswut Weathermans als barbarisch; linke Gruppierungen hielten die Aktion für ineffektiv, kontraproduktiv, oder schlichtweg wahnsinnig. Dass sich die Baseballschläger und Steine von Weatherman nicht nur gegen Schaufenster und Limousinen, sondern auch gegen Wohnungsfenster und Autos derjenigen gerichtet hatten, die Weatherman zu vertreten vorgab, entzog der Aktion weitere Legitimation.54 Auch wenn einzelne Kommentatoren die Aktion befürworteten und Weathermans Mut und Entschlossenheit bewunderten, war der fehlende Rückhalt bei den Massen deutlich geworden. Weathermans Schlussfolgerung daraus war jedoch nicht, sich den Massen der revolutionären Jugend zuzuwenden, stattdessen waren sie umso mehr davon überzeugt, die Revolution im Alleingang durch exemplarische Gewaltakte herbeiführen zu müssen. Für die Bewertung der Tage des Zorns und weiterer Aktionen von Weatherman zählte nun deren moralischer Wert und ihre Symbolkraft, nicht deren taktischer oder politischer Erfolg.55
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Ono, Shin’ya, A Weatherman: You Do Need A Weatherman to Know Which Way the Wind Blows, in: Jacobs (Hrsg.), Weatherman, aaO. (FN 20), S. 227-274, hier: S. 238f. 51 Siehe ebd., S. 256-263. Die Erwartung zehntausender Teilnehmer zeigt das Wunschdenken von Weatherman: Die Kollektive ignorierten das von den Jugendlichen oft deutlich (in einigen Fällen steckten die Weathermen Prügel ein) geäußerte Desinteresse und Unverständnis, glaubten sich von ihnen bewundert und sahen ihre Anführerrolle bestätigt. Dazu u.a. Stern, With the Weathermen, aaO. (FN 7), S. 106-108; Sale, SDS, aaO. (FN 5), S. 601f; Motor City SDS, Break on Through to the Other Side, in: Jacobs, Weatherman, aaO (FN 20), S. 152-160. 52 Die Unterstützer des ursprünglichen RYM-Ansatzes teilten die Ablehnung der PL-Position, zerstritten sich jedoch nach dem Ausschluss von PL. Im Gegensatz zu Weatherman räumte RYM-II der Bildung und Mobilisierung einer breiten Jugendbewegung eine wichtigere Bedeutung ein als der Durchführung militanter Aktionen. 53 Siehe Thomas, Tom, The Second Battle of Chicago 1969, in: Jacobs (Hrsg.), Weatherman, aaO. (FN 20), S. 196-226, hier: S. 207f. 54 Dazu ausführlich Ono, You Do Need A Weatherman, in: Jacobs (Hrsg.), Weatherman, aaO. (FN 50), S. 270274; Sale, SDS, aaO. (FN 5), S. 603-612; Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 82-86. 55 Weatherman verglich dabei die Vereinigten Staaten mit Nazi-Deutschland und Nixons „silent majority“ mit „good Germans“, wogegen ihnen selbst die Rolle von Widerstandskämpfern zukam, die vor allem eine moralische Aufgabe zu erfüllen hatten. Siehe Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 86-101.
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Um der kleinen und isolierten Gruppe die notwendige Schlagkraft zu verleihen, mussten die Mittel dem Ziel angepasst werden. Der Weatherman Underground ging dazu über, Bomben zu bauen und plante Entführungen von Vertretern der herrschenden Klasse. Ein New Yorker Kollektiv verübte im Februar 1970 einen Bombenanschlag auf das Haus des Richters John Murtagh, der dem Prozess über 21 angeklagte Black Panther vorsaß, und fertigte Bomben, die auf einem Armeeball in Fort Dix detonieren und möglichst viele Todesopfer fordern sollten.56 Wenige Wochen später zerstörte eine versehentlich ausgelöste Explosion des in einer Stadtwohnung gehorteten Sprengstoffs das gesamte Haus und tötete drei Mitglieder des Kollektivs. Weatherman Underground hatte den Krieg wirklich nach Hause gebracht. Nun aber erstmals mit dem wahren Gesicht der zuvor verherrlichten Zerstörung konfrontiert und schockiert von der Brutalität, mit der ihre Kameraden ums Leben gekommen waren, beschlossen die Mitglieder, ihre Anschläge auf Objekte zu konzentrieren und jeweils rechtzeitige Bombenwarnungen herauszugeben. Eine öffentliche Erklärung über die innere Auseinandersetzung nach der Explosion und den gezogenen Konsequenzen ließ mehrere Monate auf sich warten, bis der Weather Underground im Dezember 1970 in „New Morning – Changing Weather (Communique # 7)“ seinen absoluten Führungsanspruch aufgab und betonte, dass Gewalt ein möglicher Weg unter vielen sei, um das System zu Fall zu bringen, aber nur in Zusammenhang mit anderen Beiträgen zur Revolution wie Massenkundgebungen erfolgreich sein könnte. Dabei sprachen die Weathermen auch das Problem ihrer Isolation an: Diese Tendenz, nur Bombenanschläge oder den Griff zum Gewehr als revolutionär anzusehen und eine Aktion umso mehr zu verherrlichen, je militanter sie ist, nennen wir den militärischen Fehler (…). Uns wurde auch klar, dass eine Gruppe, die klandestin agiert und von der Jugendkultur isoliert ist, den Sinn dafür verliert, was läuft (…). Leute werden in den Schulen, in der Armee, in den Gefängnissen, in Kommunen und auf der Strasse zu Revolutionären. Nicht in einer Zelle im Untergrund.57
Dem Strategiepapier weiter zu Folge erfüllten die Bombenanschläge des Undergrounds den Zweck, der Welt zu zeigen, dass „sogar die weiße Jugend in Babylon selbst zur Gewalt greift“.58 Aus dieser Motivation verübte Weather Underground zwischen Mai 1970 und September 1975 ca. zwei Dutzend symbolische Bombenanschläge auf staatliche, militärische oder wirtschaftliche Einrichtungen, die in Bekennerschreiben meist mit einem aktuellen Anlass begründet wurden.59 Obwohl diese in einer Vielzahl von anderen terroristischen und kriminellen Gruppierungen verübten Anschlägen fast untergingen60, wurden die Aktionen von Weatherman-Anhängern euphorisch begrüßt. Herausragende Bedeutung kam je56
Collier/Horowitz, Destructive Generation, aaO. (FN 41), S. 97-100. Dohrn, Bernadine, New Morning – Changing Weather. Communiqué # 7, abgedruckt in: Dohrn, Bernadine/Ayers, Bill/Jones, Jeff/Sojourn, Celia, 200 Jahre USA. Resistance, Frankfurt (Main) 1976, S. 106-114, hier: S. 108f. 58 Ebd., S. 110. 59 Eine Übersicht über die einzelnen Anschläge findet sich bei FBI, Weather Underground Organization (Weatherman), aaO. (FN 42), S. 176-185 (Pt. 1c). 60 Neben Weathermen existierten 1970 schätzungsweise zwanzig weitere Gruppierungen, die sich als Guerilla bezeichneten und terroristische Anschlage planten und ausführten, so Sale, Kirkpatrick, SDS, aaO. (FN 5), S. 633f. Dazu gehören die New Years Gang, bei deren Bombenanschlag auf ein Forschungszentrum der Universität in Madison, Wisconsin, ein Student starb. Über Kontakte und Querverbindungen zwischen dem Weather Underground und diesen Gruppen ist nichts bekannt. Siehe Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 193. 57
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doch der Explosion einer Bombe im Capitol als Ausdruck des Protests gegen die Eskalation des Krieges in Laos und einem Bombenanschlag auf das Pentagon am Geburtstag Ho Chi Minhs zu.61 In beiden Fällen entstand nur Sachschaden, von den Befürwortern des Weather Undergrounds allerdings als Erfolg wahrgenommen: „Weather hatte das Herz der Kriegsmaschine angegriffen. Die Aktion gab so manchem revolutionären Geist in den USA und dem Rest der Welt neuen Auftrieb“.62 Eine spektakuläre Aktion gelang auch im September 1970 mit der Befreiung des Drogengurus Timothy Leary aus dem Gefängnis, der nach Algerien fliehen konnte, sich langfristig aber wenig dankbar erwies und nach seiner Rückkehr in die USA 1974 vor Gericht über die beteiligten Weathermen aussagte.63 Die mit „New Morning – Changing Weather“ eingeschlagene Richtung, neben Gewalt auch andere Formen politischen Protests als wirksame Elemente eines revolutionären Umbruchs anzuerkennen, fand ihren Ausdruck in dem kollektiv verfassten Buch „Prairie Fire“ und den in „Osawatomie“, dem Sprachrohr des Weather Underground, veröffentlichten Überlegungen zum Aufbau einer kommunistischen Massenpartei und kam mit dem Papier „Politics in Command“ zu ihrem logischen Abschluss. Gewalt gegen das System, so der Weather Underground darin, sei nicht per se eine probate Taktik, sondern könne nur eingebunden in ein politisches Gesamtkonzept erfolgreich sein.64 Gewalt war somit die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, kein Ersatz für diese selbst. Da es der Organisation jedoch nicht mehr gelang, über die Politik der Masse mitzubestimmen, fehlte es auch an einer Legitimation für ihre Bombenanschläge: Der Weather Underground hatte sein Ende besiegelt.
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Wetterumschwung: Die Widerspruche des Weather Undergrounds
Nachdem die Teilnehmer der „Hard Times“-Konferenz dem Weather Underground und seinem Führungsanspruch ihre Zustimmung vorenthalten hatten, wurde dies innerhalb der Organisation dem Zentralkomitee angelastet. Unter der Führung des 61-jährigen Clayton Van Lydegrafs, der wegen Linksabweichung die Kommunistische Partei der USA verlassen hatte und als Mentor für die Weathermen bei der Entwicklung der Prairie-Fire-Linie gewirkt hatte, verurteilte ein „Revolutionäres Komitee“ das Führungskollektiv und schloss sie aus ihrer eigenen Organisation aus.65 Mitglieder des Revolutionären Komitees wurden im folgenden Jahr nach einem Bombenanschlag auf die Einwanderungsbehörde in San Francisco von einem FBI-Agenten überführt; andere Teile des Weather Underground organisierten sich als Weather Underground Organisation oder May 19th Movement, das sich als Unterstützung der militanten BPP-Splittergruppe Black Liberation Army (BLA) sah; der Großteil tauchte aus dem Untergrund auf.66 In den folgenden Jahren kam der Weather Un61
Die Bekennerschreiben finden sich bei FBI, Weather Underground Organization (Weatherman), aaO. (FN 42), S. 165-175. 62 Tatsächlich hatte die Bombe eine Toilettenanlage des Pentagon gesprengt. Jacobs, Woher der Wind weht, aaO. (FN 8), S. 115. 63 Zur Flucht Learys siehe Lee, Martin A./ Shlain, Bruce, Acid Dreams. The Complete Social History of LSD: The CIA, the Sixties, and Beyond, New York 1985, S. 264-267; The New York Times vom 22.08.1974, S. 40. 64 Auszüge aus „Politics in Command“ finden sich bei FBI, Weather Underground Organization (Weatherman), aaO. (FN 42), S. 26-30 (Pt.1a). 65 Dazu Collier/ Horowitz, Destructive Generation, aaO. (FN 41), S. 113-115. 66 Ebd., S. 116; Jacobs, Woher der Wind weht, aaO. (FN 8), S. 143-149.
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derground nur noch in die Schlagzeilen, wenn sich ehemalige Untergrundkämpfer der Polizei stellten.67 Den tragischen letzten Höhepunkt medialer Aufmerksamkeit bildete ein Überfall auf einen Geldtransport, bei dem 1981 zwei Polizisten und ein Wachmann starben und an dem neben einigen Anhängern der BLA auch drei ehemalige Mitglieder des Weather Underground beteiligt waren. Obwohl die Angeklagten vor Gericht den Kampf gegen das System und ihre Unterstützung der schwarzen Befreiungsbewegung als Motivation für ihr Handeln anführten, fehlte den Morden jegliche politische Rechtfertigung und der Überfall wurde weitläufig als schlichtweg krimineller Akt gedeutet.68 Die Suche nach Erklärungsansätzen für das Ende der Organisation steht in engem Zusammenhang mit der Frage danach, ob der Weather Underground wie andere terroristische Organisationen eine logische Folge der Protestbewegung oder deren Zerfallsprodukt69 war, und lässt sich nur mit der Interdependenz beider Faktoren beantworten: Weatherman ging aus der Bewegung direkt hervor, war zugleich Wirkung wie auch Beschleuniger der Zersplitterung der Linken und scheiterte an der Polarisierung, die seine Mitglieder herbeigeführt hatten, ebenso wie an ihrer selbstverschuldeten Isolation. Die Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Situation speiste sich aus den der Protestbewegung inhärenten Widersprüchen, welche in Weathermans Strategie komprimiert wurden und ausschlaggebend für den Zerfall des Weather Undergrounds waren. Weatherman konnte sich 1969 an die Spitze der bedeutendsten amerikanischen Protestorganisation stellen, weil seine Politik das Bedürfnis der Organisation nach radikalem Aktionismus widerspiegelte. Die Eskalation des Krieges in Vietnam und die Gewalt im eigenen Land ließen in den Augen Vieler keinen anderen Schluss zu, als das System mit seinen eigenen Mitteln zu bekämpfen. Aber Weatherman verspielte seinen Führungsanspruch durch avantgardistische Arroganz und die voreilige Ablehnung der Arbeiterklasse.70 Auch standen die hierarchische Ordnung und die verlangte Kaderdisziplin von Weatherman in krassem Gegensatz zu dem antiautoritären Empfinden der Gegenkultur, die Weatherman für die Revolution zu gewinnen versuchte. Das Chaos der „Tage des Zorns“ und die gewaltverherrlichende Rhetorik auf dem „Kriegsrat“ polarisierte die Linke noch stärker in Anhänger und Gegner von Weatherman, doch die Anführer der Organisation interpretierten die fehlende Massenunterstützung lediglich als Bestätigung ihrer Avantgardeposition. Erst der Tod von drei Weathermen brachte die notwendige Konfrontation mit der Realität und führte zu dem Versuch, die Scherben der zuvor eigenhändig zerschlagenen Bewegung wieder zusammenzufügen; allerdings löste sich der Weather Underground zu spät von der falschen Erwartung der bevorstehenden Revolution und hielt in vollkommen fehlerhafter Selbstwahrnehmung an seiner Führungsrolle beim Aufbau einer Massenpartei fest. Das Umschwenken auf die zuvor vehement abgelehnte, auf die Organisation des Arbeiterprole67
Der letzte gesuchte Weatherman, Jeffrey Powell, stellte sich im Januar 1994, dazu The Cleveland Plain Dealer vom 08.01.1994, S.10. Zwei der drei in diesem Fall angeklagten Weathermen, David Gilbert und Judith Clark, erhielten mehrfach lebenslängliche Haftstrafen, siehe The Washington Post vom 21.02.1984, S.1; Kathy Boudin wurde 2003 aus der Haft entlassen; dazu The New York Times vom 18.09.2003, S. B1. 69 Siehe dazu den Beitrag zur RAF von Alexander Straßner in diesem Band. 70 Die überhebliche Annahme der Weathermen, als einzige Faktion der Linken die notwendige Handlungsweise erkannt zu haben, brachte ihnen Kritik und Spott ein: In Analogie zur unter Weatherman-Gegnern gängigen Redewendung „You don’t need a rectal thermometer to know who the assholes are“ nannte sich ein alternatives Kollektiv „Fishermen“, entsprechend der Parodie „You don’t need a fishermen to know when something’s fishy“. Siehe Gitlin, The Sixties, aaO. (FN 16), S. 396. 68
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tariats ausgerichtete Politik der „Alten Linken“ wurde auf der „Hard Times“-Konferenz als Ausverkauf der Revolution und als rassistische Verleumdung der Notwendigkeit des schwarzen Befreiungskampfs verurteilt.71 Ironischerweise sollten ausgerechnet das Entgegenkommen der Weathermen und die Zugeständnisse an die Überbleibsel der ehemaligen Bewegung ausschlaggebend für ihre Ablehnung sein. Ebenso war ausgerechnet der moralische Pluspunkt, der den Weather Underground im Vergleich zu anderen sozialrevolutionären Organisationen auszeichnete, ein wesentlicher Grund dafür, dass die Gruppe nicht den „Erfolg“ vorweisen kann, als personifizierter Schrecken in die Geschichte der USA eingegangen zu sein. Mit ihrer Entscheidung, als Reaktion auf die New Yorker Stadthaustragödie von Anschlägen auf Personen Abstand zu nehmen, setzten sie sich selbst eine Grenze, die ein Abrutschen in die „Militanzfalle“72 verhinderte. Davon abgesehen, dass der Weather Underground personell und materiell kaum in der Lage war, größere Schäden zu verursachen, senkte die Selbstbeschränkung auf symbolische Aktionen die mediale Aufmerksamkeit, die stattdessen der SLA zukam. Auch diesbezüglich zeigt sich die Widersprüchlichkeit der Weathermen: Aus ihrer schwachen Position heraus argumentierten sie in „Prarie Fire“ für ein Primat der Politik und verurteilten sinnlose Gewalt, erklärten sich aber gleichzeitig mit der SLA solidarisch.73 Eine wesentliche Rolle im Zerfall des Weather Underground bleibt auch den äußeren Umständen zuzuschreiben. Die Administration unter Präsident Nixon sah die Protestbewegung und ihre militanten Splittergruppen als ernstzunehmende Gefahr für die innere Stabilität und scheute keine Kosten zu deren (großteils) illegalen Überwachung und Unterwanderung. Isoliert, verfolgt, und paranoid fand der Weather Underground zwar bewundernde Nachahmer in anderen Gruppen, aber keine Rekruten für die eigene Organisation. Schließlich entfiel mit dem Ende des Vietnamkriegs die Legitimation für den bewaffneten Kampf, sowohl für den Vietcong als auch gegen die Amerikaner geführt, auf deren Grundlage sich die Weathermen jahrelang definiert hatten: Die Vietnamesen hatten gesiegt, doch der Zusammenbruch des Imperialismus und die Weltrevolution blieben aus. Als in Folge der Watergate-Affäre die Ermittlungsmethoden des FBI am Pranger standen74 und die Verfahren zu Aktionen des Weather Underground aus Mangel an legal beschafftem Beweismaterial eingestellt wurden, nutzten die zu diesem Zeitpunkt ohnehin desillusionierten Mitglieder in Erwartung geringer Bewährungsstrafen oder Geldbußen das Friedensangebot des Staates und stellten sich.
71
Siehe Collier/ Horowitz, Destructive Generation, aaO. (FN 41), S. 114. Siehe dazu den abschließenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. Als Reaktion auf den Tod von sechs SLA-Mitgliedern während eines Feuergefechts mit der Polizei bombardierte der Weather Underground 1975 das Büro des kalifornischen Staatsanwalts; siehe FBI, Weather Underground Organization (Weatherman), aaO. (FN 42), S. 184 (Pt. 1c). 74 Nach mehrjährigen Verhandlungen waren zwei führende Beamte des FBI wegen der Autorisierung illegaler Abhörungen und Einbrüche zu Haftstrafen verurteilt, jedoch von Präsident Reagan begnadigt worden. Dazu The Washington Post vom 15.05.1981, S. 8. 72 73
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Ilona Steiler Vom Winde verweht? Weatherman bis heute
Derzeit verbüßen noch zwei ehemalige Weathermen, David Gilbert und Judith Clark, lebenslängliche Haftstrafen für den Überfall auf den Geldtransporter mit tödlichem Ausgang. Die Haftentlassung von Kathy Boudin, die ebenfalls an dem Überfall beteiligt gewesen war,75 sorgte in der amerikanischen Öffentlichkeit ebenso wie Präsident Clintons Begnadigung von Linda Evans und Susan Rosenberg,76 weiterer ehemaliger Mitglieder des Weather Undergrounds, in weitaus beschränkterem Maß für Aufregung als die Entlassung/Begnadigung ehemaliger Militanter der RAF in Deutschland im Frühjahr 2007.77 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade ihre „middle-class“- und „whiteskin“-Privilegien, deren Verachtung einst den Antrieb für ihren revolutionären Eifer gebildet hatte, den Weathermen ein beschauliches Leben nach ihrem Auftauchen ermöglichen sollten. Vielen von ihnen verhalfen ihre Familien und ihre vormals gute Ausbildung zu gesellschaftlich anerkannten Positionen: Mark Rudd und Bill Ayers beispielsweise sind nun als Collegedozenten tätig.78 Bernadine Dohrn, inzwischen mit Ayers verheiratet, lehrt an der Northwestern University School of Law und ist Direktorin des von ihr gegründeten „Children and Family Justice Center“.79 Nahezu alle früheren Weathermen, auch die noch Inhaftierten, engagieren sich auf legalem Weg für soziale Belange, in Bürger- und Menschenrechtsangelegenheiten, in Projekten zur Armutsbekämpfung, dem Kampf gegen AIDS, oder setzen sich für verbesserte Haftbedingungen in den USA ein.80 Der Umgang der Weathermen mit ihrer Vergangenheit bezeugt noch einmal die Widersprüchlichkeit dieser Gruppierung. Zwar reflektieren sie ihre Beweggründe, Strategie und Zielsetzungen heute kritisch, doch selbst nach dem Eingeständnis, den falschen Weg beschritten zu haben, behaupten einige, dasselbe unter ähnlichen Umständen wieder zu tun.81 Bill Ayers kommentierte seine 2001 erschienenen Memoiren mit „I don’t regret setting bombs (...) I feel we didn’t do enough“, doch distanzierte sich nach den Anschlägen des 11. September: „My book is a condemnation of terrorism in all its forms“.82 Insgesamt gilt das Kapitel „Weather Underground“ für die USA als abgeschlossen, auch wenn die Parallelität globaler Eereignisse und die Verwicklung der USA darin durchaus den Verdacht nähren könnte, eine Neuauflage des bewaffneten Widerstandes stünde unmittelbar bevor. Die Vergleichbarkeit von Vietnam- und Irakkrieg sowie der damaligen und der heutigen terroristischen Bedrohung ist jedoch schnell erschöpft, und so bietet Sam Greens und Bill Siegels Dokumentation eher die historische Aufarbeitung einer geschichtlichen Kuriosität, mit den Weathermen als Sinnbild für die Romantik, den Idealismus, aber auch den gescheiterten Radikalismus der Sechziger, als eine Auseinandersetzung mit einer Problematik von aktueller Relevanz. Angesichts der von Al Qaida in den Hintergrund ge75
Siehe FN 67. Dazu Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 300. Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 78 Zu den Karrieren einiger Weathermen siehe u.a. The New York Times vom 24.08.2003, S. 29. 79 Northwestern University School of Law, http://www.law.northwestern.edu/faculty/clinic/dohrn/dohrn.html (zuletzt abgerufen am 21.11.2007) 80 Dazu Varon, Bringing the War Home, aaO. (FN 6), S. 299f. 81 Vergleiche dazu die Interviews mit ehemaligen Weathermen in Green/Siegel, The Weather Underground, aaO. (FN 2). 82 Siehe The New York Times vom 11.09.2001, S.E-1; Bill Ayers: Weekend of Heartache: Let Us Honor the Dead, in The New York Times vom 16.09.2001, S.10. 76 77
Der Weather Underground
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drängten Tatsache, dass in den USA derzeit ca. 14 aktive terroristische Gruppierungen existieren83, wird die Beschäftigung mit dem Problem des bewaffneten Kampfs im eigenen Land jedoch auf absehbare Zeit weiter von Bedeutung sein.
83
Dabei handelt es sich um Gruppierungen religiöser, nationalistischer und islamisch-fundamentalistischer Ausrichtung sowie um militante Tierschutzgruppen unterschiedlicher Mitgliederstärke und Schlagkraft. Sozialrevolutionäre Gruppen wie die BLA, das May 19th Movement oder die United Freedom Front gelten dagegen als inaktiv. Siehe Memorial Institute for the Prevention of Terrorism (MIPT) Terrorism Knowledge Base, http://www.tkb.org/Country.jsp?countryCd=US (zuletzt abgerufen am 21.11.2007).
Revolution als Tradition: Die Action Directe in Frankreich Die Action Directe in Frankreich
Philip Gursch
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Entwicklung der Action Directe
Nomen est omen war wohl bei der Namensgebung der französischen, sozialrevolutionären Terrorismusgruppe Action Directe entscheidend. In der Tat sollte die „direkte Aktion“, die „direkte Handlung“ mittels physischer und psychischer Gewalt fernab von Diskussionsrunden oder Straßendemonstrationen den Weg für revolutionäre Ziele im Sinne der klandestinen Gruppenphilosophie dienen. Dieser Gruppenleitsatz lautete bei Action Directe folgendermaßen: [W]reck society through direct action by destroying the institutions and men who serve it, and by relying on the people focus.1
1979 bombte sich die damals gänzlich unbekannte Organisation in die französische Öffentlichkeit und sollte mit den Bestrebungen eines „Euroterrorismus“ den französischen Staat vor neue Herausforderungen stellen. Die folgende Gliederung orientiert sich an einer inhaltlichen Strukturierung. Eine alternative, zeitliche Einteilung liefern Michael Dartnell2 und Stephan Segaller3.
1.1 Entstehungsumstände und Anfänge Action Directe (AD) war das Kind vieler Väter. Zu ihnen gehört jedoch nicht die Studentenbewegung: Bei der Betrachtung der französischen Studentenbewegung und der linken Bewegungen im Allgemeinen fällt auf, dass sich nicht, wie bei ihren Äquivalenten in Deutschland oder Italien, aus ihr heraus eine terroristische Organisation entwickelte. Die konkreten Wurzeln von Action Directe liegen demnach nicht in der Bewegung der aufbegehrenden Studenten in Frankreich. Vielmehr erstreckte sich ihr Einfluss auf Action Directe in Form einer bestimmten Situationsanalyse. Das Besondere war damals, dass die Studentenrevolte eine immense Streikwelle auszulösen vermochte, die ab dem 14. Mai 1968 fast zehn Millionen Arbeiter und Angestellte in Frankreich erfasste. Damit wurde gerade im Hinblick auf den späteren Terrorismus der Action Directe die Illusion genährt, man könne
1 Alexander, Yonah, Pluchinsky, Dennis, Europe's red terrorists. The fighting communist organizations, London 1992, S. 134. 2 Vgl. Dartnell, Michael, Action Directe. Ultra-Left Terrorism in France 1979-1987, London 1995, S. 73. 3 Vgl. Segaller, Stephan, Invisible Armies. Terrorism into the 1990s, San Diego/ New York/ London 1987, S. 41.
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mit der Inanspruchnahme einer Avantgardestellung unter der Bevölkerung eine führende Rolle bei der Bewirkung von gesellschaftlichen Veränderungen spielen. Die Organisation gründete sich Ende der 1970er Jahre aus mehreren terroristischen Gruppen, welche die weitere Entwicklung und das Vorgehen der AD-Terroristen maßgeblich prägen sollten. Eine Wurzel liegt zum einen in der 1973 gegründeten Organisation Groupes d’action révolutionnaire internationaliste (GARI), deren Mitglieder sich aus dem Kreis der politischen Asyl-Spanier in Toulouse rekrutierten und sich dem gewaltsamen Kampf gegen die Franco-Diktatur verschrieben hatten. Konzentriert auf Südfrankreich und Paris verübten sie 1974 insgesamt 24 Attentate wie beispielsweise auf das spanische Generalkonsulat in Toulouse.4 Nach diesem Anschlag kam die Polizei der Gruppe schnell auf die Spur und verhaftete fünf Mitglieder von GARI, darunter auch Jean-Marc Rouillan, einer der Schlüsselpersonen der späteren Action Directe. Zum anderen war die Noyaux armés pour l’autonomie populaire kurz NAPAP eine zweite Entwicklungsbasis für AD. Diese entstammte dem radikalen Flügel der 1968er Bewegung und war gewaltbereiter als GARI. NAPAP demonstrierte dies im März 1977 mit der Ermordung von Antoine Tramoni, einem Racheakt für dessen Aufsehen erregende Tötung des Maoisten Pierre Overney im Zuge einer Auseinandersetzung während einer Demonstration 1972 als damaliger Sicherheitsmann im Renault-Werk Boulogne-Billancourt. Bei NAPAP waren Michael Lapeyre und Frédéric Oriach Mitglieder, die auch bald bei Action Directe zentrale Rollen übernehmen sollten. Verbindungen bei der Gründung zur maoistisch geprägten Brigades Internationales werden ebenfalls angenommen.5 Schließlich gehörten auch die französischen Autonomen mit insbesondere den Mitgliedern der Gruppe Camarades als Gründer zur Verfügung. Die Anfangskontakte durch die Autonomen halfen der Action Directe, mit einem subkulturellen Milieu in Beziehung zu treten, so dass eine totale Isolation der im Untergrund operierenden Gruppe wenigstens zu Beginn verhindert wurde. Aus diesem Konglomerat verschiedener Vorläufer- und Gründungsorganisationen bildete sich die Action Directe mit einer räumlichen Aufteilung: Eine Pariser Gruppe unter der Führung von Jean-Marc Rouillan und Nathalie Ménigon sowie eine Lyoner Gruppe geleitet von André Olivier. Dies entsprach jedoch noch nicht einer tatsächlichen Spaltung, weshalb im Folgenden von einer Organisation gesprochen wird. Einer der ersten Anschläge der jungen Organisation galt am 15. und 16. September 1979 fast gleichzeitig mehreren Einrichtungen: den Gebäuden des Arbeits- und Gesundheitsministeriums und der Wohnungsbaugesellschaft SONACOTRA in Paris durch Sprengstoff und dem Hauptsitz des Arbeitsministeriums durch MP-Salven.6 Nach einer Art Konsolidierungsphase begann Action Directe im Februar 1980 erneut mit einer Anschlagsreihe vor allem gegen öffentliche Einrichtungen.7 Dies stand jedoch noch nicht im öffentlichen Fokus und wurde weitestgehend von den Medien ignoriert. Am 18. März entschloss sich deshalb die Gruppe für einen aufsehenerregenderen Anschlag. Am helllichten Tag beschossen zwei AD-Terroristen das Entwicklungshilfeministerium aus Maschinenpistolen. Allein sieben Kugeln durchschlugen die Fenster des Ministerbüros. Auf Flugblättern, die am Tatort hinterlassen wurden, verurteilte Action Directe die „neokolonistische(...) Politik der 4
Vgl. Paas, Dieter, Frankreich: Der integrierte Linksradikalismus, in: Hess, Henner/ Moerings, Martin/ Paas, Dieter et al., Angriff auf das Herz des Staates, Frankfurt am Main 1988 Bd. 2, S. 167-279, hier S. 256. 5 Vgl. ebd., S. 257. 6 Vgl. Paas, Frankreich: Der integrierte Linksradikalismus, aaO. (FN 4), S. 256. 7 Vgl. Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 77.
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Regierung Giscard d’Estaings in Afrika“8 und erklärte ihr den Kampf. Wenig später wurden daraufhin 28 Personen von der Polizei festgenommen und gegen 17 wurde wegen der Zugehörigkeit zu Action Directe Anklage erhoben. Die Hauptpersonen des Anschlages auf das Entwicklungshilfeministeriums – Jean-Marc Rouillan und Nathalie Ménigon – konnten jedoch vor dem Zugriff der Polizei flüchten. Trotz des herben Rückschlages durch den Verhaftungserfolg der Polizei oder gerade deswegen verübte Action Directe am 15. April 1980 mit erhöhtem Waffeneinsatz einen Anschlag: Man beschoss zwei Gebäude des Verkehrsministeriums mit Antipanzerraketen aus Bazookas. Interessant ist dabei nicht unbedingt der erhebliche Sachschaden, sondern die Tatzeit um sechs Uhr, mit der wohl eine bewusste Minimierung eines Tötungsrisikos beabsichtigt war. Erst fünf Monate später, am 13. September 1980, wurden die zwei Führungspersonen Jean-Marc Rouillan, Nathalie Ménigon und zwei Dutzend weitere AD-Mitglieder mithilfe eines Informanten durch die Polizei festgenommen. Dabei wurden die Terroristen durch ein vorgegebenes Treffen mit dem Top-Terroristen Carlos in eine Falle gelockt.9 Die war der letzte Schritt zu der vorläufigen Zerschlagung der Action Directe innerhalb kürzester Zeit.
1.2 Amnestie und Neuformierung Mit Regierungsübernahme 1981 durch den Sozialisten François Mitterrand wurde den inhaftierten Mitgliedern der Action Directe eine Amnestie gewährt. Die Überlegungen einer Entradikalisierung und Reintegration, verbunden mit dem Ziel eines gangbaren Weges in die Legalität, standen hinter dieser damals nicht unumstrittenen Amnestiepolitik gegenüber den Terroristen.10 Eine zentrale Figur in den Gesprächen mit der Action Directe war Lionel Jospin, der Erste Sekretär der Sozialistischen Partei und Abgeordneter des 18. Arrondissements in Paris. Er fungierte als Mittler und Kontaktmann zwischen Regierung und Action Directe. Erstaunlicherweise war die staatliche Haltung gegenüber den ehemaligen Häftlingen der Action Directe, die kurz nach ihrer Freilassung in der Autonomen- und Hausbesetzerszene untertauchten, von gefährlichem Wegsehen und Ignorieren geprägt. Sie wurden bei Razzien der Polizei bei Pariser Hausbesetzungen mehrfach verhaftet, jedoch mit Hilfe der Einflussnahme vom Justizminister und Jospin schnell wieder freigelassen.11 Das bewusste Ignorieren durch Politik und Polizei war mit dem Wunsch keiner erneuten Kriminalisierung der Action Directe im Sinne einer gewissen Kulanzphase auf dem Weg in die Legalität verbunden.12 Diese eigene Art im Umgang mit Terrorismus galt aber bei Weitem nicht nur für Action Directe. Vielmehr musste sich die französische Regierung bis in die 1980er Jahre den Vorwurf gefallen lassen, dass sie sich auch bei der Bekämpfung ausländischer Terroristen weitestgehend passiv verhalte, sofern sie nicht auf französischem Boden agierten.13 Heinrich Boge, der Nachfolger des legendären Horst Herolds als Leiter des deutschen Bundeskriminalamtes, bezeichnete Frankreich damals diesbezüglich als „einen wich8
Zitiert nach Paas, Frankreich: Der integrierte Linksradikalismus, aaO. (FN 4), S. 258. Vgl. Chimelli, Rudolph, Die „Action directe“ schreckt Frankreich, in: Redaktion Süddeutsche Zeitung (Hrsg.), Terrorismus. Gewalt mit politischem Motiv, München 1986, S. 114-122, hier S. 117. 10 Vgl. Paas, Frankreich: Der integrierte Linksradikalismus, aaO. (FN 4), S. 260. 11 Vgl. Paas, Frankreich: Der integrierte Linksradikalismus, aaO. (FN 4), S. 261. 12 Vgl. Hamon, Alain/ Marchand, Jean-Charles, Action directe. Du terrorisme français à l’euroterrorisme, Paris 1986, S. 56. 13 Vgl. Chimelli, Die „Action directe“ schreckt Frankreich, aaO. (FN 9), S. 120. 9
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tigen Herd der Unterstützung des Terrorismus.“14 Für die Action Directe stellte diese Amnestiepolitik einen Scheideweg dar. Wie sollte sie adäquat auf die ausgestreckte Hand des Staates reagieren? Zwei verschiedene Strömungen prallten dabei in der Planung des weiteren Vorgehens aufeinander: Einige Führer versuchten mithilfe eines Schutzkokons durch Sympathisanten der terroristischen Gruppe eine halblegale Struktur zu geben, während wiederum eine sich später durchsetzende Fraktion innerhalb der Action Directe bemüht war, den klandestinen bewaffneten Kampf aufrecht zu erhalten. Die Folge war eine fragile Situation, in der die Gewalt beim kleinsten als Anlass angesehenen Moment wieder ausbrechen konnte. Dieter Pass spricht in diesem Zusammenhang von einem komplizierten Beziehungsgeflecht innerhalb der Action Directe und von einem Kampf zwischen der „weichen“ und „harten“ Linie.15 Während des Neuformierungsprozesses fiel die Entscheidung zunächst auf weitere, aber vorsichtige Aktionen, die hauptsächlich durch ein hohes Maß an Symbolgehalt gekennzeichnet waren. Dazu gehörten neben den fortwährend durchgeführten Geldbeschaffungsmaßnahmen durch Banküberfälle beispielsweise die Plünderung von Luxusrestaurants oder der Diebstahl einer Büste des Präsidenten Mitterrands aus einem Museum. Dies sollte aber nur als eine Einstimmung für das Folgende dienen.
1.3 Neuausrichtung und Spaltung Im Jahr 1982 verabschiedete sich die Action Directe von dem moderateren Kurs und orientierte sich wieder verstärkt am erhöhten Gewalteinsatz. Diese Phase ist ebenfalls von einem Novum bei Action Directe gekennzeichnet: Die Gruppe arbeite mit libanesischen und palästinensischen Organisationen auf französischem Boden zusammen. Die Ziele richteten sich auf israelische und US-amerikanische Einrichtungen. Bei einem tödlichen Attentat auf den Militärattaché der US-Botschaft und den zweiten Sekretär der israelischen Botschaft in Paris im Januar 1982 durch die Fraction Armées Revolutionnaires Libanaises (FARL) wurde eine Maschinenpistole verwendet, die die Polizei der Action Directe zuordnete. Weiterhin wurde das Fluchtauto zuvor von dem AD-Terroristen Régis Schleicher benutzt. Dies waren erste Zeichen einer Neuausrichtung der Action Directe: Sie suchten sich Bündnispartner und orientierten die Wahl der Ziele daran, wie beispielsweise gegen israelische Einrichtungen. Des Weiteren stellt es den Beweis dafür dar, dass die Vertreter der härteren Linie innerhalb der Gruppe obsiegten. Am 1. August 1982 wurde daraufhin der Dienstwagen eines Sicherheitsbeamten der israelischen Botschaft beschossen und Action Directe bekannte sich zu diesem Anschlag. Es folgte am 11. August ein Bombenattentat auf die israelische Firma Citrus. Jean-Marc Rouillan rechtfertigte diesen Anschlag in einem Interview mit der Zeitschrift Liberation als eine „normale Antwort auf die Situation im Libanon.“16 Daraufhin wurde Action Directe am 18. August 1982 als terroristische Organisation von Präsident Mitterrand verboten. Die Gruppe ging danach endgültig in den Untergrund. Ende 1982 stellte sich Action Directe als eine zutiefst gespaltene Gruppe dar. Es bildeten sich nach Einschätzung der französischen Polizei drei Strömungen innerhalb der Gruppe heraus.17 Die erste Richtung lässt sich als die „Internationalisten“ bezeichnen: Vertreter 14
Zitiert nach Chimelli, Die „Action directe“ schreckt Frankreich, aaO. (FN 9), S. 120. Vgl. Paas, Frankreich: Der integrierte Linksradikalismus, aaO. (FN 4), S. 262. Zitiert nach ebd., S. 263. 17 Vgl. Hamon/ Marchand, Action directe, aaO. (FN 11), S. 101 f. 15 16
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waren unter anderen Jean-Marc Rouillan, Régis Schleicher und Frédéric Oriach, die eine Einheit des bewaffneten Kampfes über Ländergrenzen hinweg und eine „Organisation der kämpfenden kommunistischen Organisationen Westeuropas“18 propagierten, wie es Schleicher mit seinen Worten in einem Brief schrieb. In ihrem theoretischen Dokument „Kontinuität eines kommunistischen Projekts“ von 1982 erklären sie den Zusammenhang zwischen Terrorismus und Internationalisierung folgendermaßen: In den Ghettos haben wir praktisch verstanden, dass das proletarische Bewusstsein keinerlei Bewusstsein keinerlei Trennung akzeptieren kann. Dass die Neuzusammensetzung dieser Klasse durch den Internationalismus führt, [sowohl] in den Metropolen, als auch in ihrer Entwicklung in der 3. Welt.19
Die internationalistische Strömung war antizionistisch geprägt und richtete ihren Zielfokus auf den Staat Israel, aber auch gegen die NATO und einen empfundenen USImperialismus. Die „Legalisten“ waren die zweite, moderatere Gruppe. Sie setzte sich für eine Mäßigung in der Mittelwahl des Terrorismus ein. Als letzte Gruppe sind die „Nationalisten“ zu nennen, die zwar ebenfalls den Imperialismus geißelten, aber ihren Aktionsradius auf Frankreich beschränkten. Strukturell manifestierten sich im August 1982 die beiden einflussreichsten Strömungen der „Internationalisten“ und „Nationalisten“ in der Teilung zweier voneinander unabhängig und selbständig agierenden Action Directe-Gruppen:20 Der AD-Flügel Lyon trennte sich als eine national operierende und auf Frankreich als Handlungsgebiet konzentrierte Gruppe von der restlichen AD-Organisation mit dem neuen Kürzel ADn. Die Pariser Gruppe mit ihrer internationalen Ausrichtung durch ehemalige GARI-Mitglieder und ihren Verbindungen zum Terrorismus des Nahen Ostens und Westeuropa trat nunmehr als Action Directe international (ADi) auf. ADi sollte aber in der Folgezeit aufgrund des höheren Maßes an Aggressivität und Radikalität die andere Gruppe in der öffentlichen Wahrnehmung überlagern, so dass in der Literatur und auch im Folgenden häufig Action Directe und ADi weitestgehend synonym verwendet werden.
1.4 Europäisierung des AD-Terrorismus – Ungleich unter Gleichen Der Teil der „Internationalen“ besann sich auf seine guten Beziehungen zur libanesischen FARL und intensivierte sowie verbesserte sie durch logistische und propagandistische Unterstützung.21 Die Entscheidung, mit ausländischen terroristischen Gruppen zusammenarbeiten zu wollen, wurde 1983 auf die Communisti Organizzati per la Liberazione Proletaria (COLP), einer Nachfolgeorganisation der Prima Linea (eine Abspaltung von den Roten Brigaden) aus Italien, ausgeweitet. Am 31. Mai 1983 erschossen jeweils zwei Mitglieder von Action Directe und der COLP zwei Polizisten, die sie in Paris zuvor kontrollieren wollten. Über den Verbindungsmann Régis Schleicher war Action Directe an mehreren Aktionen mit den Italienern, hauptsächlich Banküberfälle, beteiligt. Die Motive für die Zusam18
Zitiert nach Straßner, Alexander, Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003, S. 302. 19 Zitiert nach ebd., S. 300. 20 Vgl. Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 79. 21 Vgl. Paas, Frankreich: Der integrierte Linksradikalismus, aaO. (FN 4), S. 265.
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menarbeit mit der COLP lagen zum einen bei Action Directe, um ihre Schwäche durch die ausländische Unterstützung auszugleichen, zum anderen hatten die Italiener den Vorteil, in Frankreich ein Rückzugsgebiet und in der AD willfährige Helfer im Waffen- und Finanznachschub gefunden zu haben. Zum Jahreswechsel 1983/1984 wurde der Beginn der Zusammenarbeit zwischen Action Directe und einer neuen Organisation – der deutschen Roten Armee Fraktion (RAF) – deutlich. Die zwischen 1980 und 1982 in Paris verhafteten RAF-Terroristen waren dabei erste Hinweise auf eine langsame Annäherung. Besonders auf RAF-Seite bestand großes Interesse am französischen Äquivalent. AD-Kommuniques und andere Publikationen der französischen Terroristen zirkulierten in RAF-Kreisen und wurden intern diskutiert. Vice versa galt das gleiche. Aus Sicht der RAF wiederum wurde Action Directe „als die damals einzige funktionsfähige marxistisch-leninistische Terrororganisation in Europa (…)“22 bewertet. Diese sich daraus entwickelnde Zusammenarbeit zum Aufbau einer „revolutionäre[n] antiimperialistische[n] Front in Westeuropa“23 gestaltete sich hauptsächlich in einer wechselseitigen Unterstützung in logistischen Fragen. Im Vordergrund standen dabei die Bereiche Finanzen sowie Waffen und Sprengstoff.24 Belegt ist die finanzielle Unterstützung der RAF durch Action Directe. Bei der Aushebung des Führungszirkels der Action Directe 1987 fanden die Ermittler Schuldscheine der RAF über einen Betrag von 200.000 Franken, welche die Action Directe höchstwahrscheinlich durch zwei Banküberfälle im März/Juli 1986 erbeuteten. Die Zusammenarbeit erstreckte sich aber auch auf die Beschaffung und Verteilung von Waffen und Sprengstoff. Am 4. Juli 1984 wurden 800 kg TNT aus einem belgischen Steinbruch in Eccausines gestohlen. In diesem Zeitraum benutzten Rouillan und Ménigon Belgien als Rückzugsraum. Teile des Sprengstoffs wurden von der RAF beim Anschlag auf die NATO-Schule in Oberammergau im Dezember 1984 verwendet; Action Directe benutzte den Sprengstoff wiederum bei ihrem Anschlag auf den Sitz der OECD im Juli 1986. Das gleiche Prinzip galt für einen Überfall eines Waffengeschäftes im deutschen Maxdorf durch die RAF im November 1984. Teile der erbeuteten Waffen konnten sowohl bei der RAF als auch bei Action Directe durch Polizeiaktionen sichergestellt werden. Mitte 1984 wurde der neue Pakt zwischen beiden Gruppen mit einer Reihe von Bombenanschlägen gegen militärische Einrichtungen und gegen die Rüstungsindustrie besiegelt. Diese Kooperation verfügte aber nicht über die Kennzeichen einer Partnerschaft auf gemeinsamer Augenhöhe. Das gemeinsame Dokument „Die Einheit der Revolutionäre in Westeuropa“ vom Januar 1985 zeigt eine deutliche Unterordnung der Action Directe unter dem Führungsanspruch der RAF. Das Originaldokument wurde in deutscher Sprache verfasst und erst danach ins Französische übersetzt.25 Kurz nach der Veröffentlichung der gemeinsamen Erklärung wurden in einer Art synchronisierter Aktionsabfolge zuerst der französische General Audran am 25. Januar 1985 durch die Action Directe ermordet, gefolgt von dem Mord an Ernst Zimmermann, dem Vorsitzenden der Motoren und Turbinenunion GmbH (MTU) sowie Präsidenten des Bundesverbandes der Luft- und Raumfahrtindustrie, durch die RAF am 1. Februar 1985. Für den Mord an dem französischen General 22
Zitiert nach Horchem, Hans Josef, Der Verfall der Roten Armee Fraktion, in: APuZ B46-47/ 1990, S. 54-61, hier S. 58. 23 Rebmann, Kurt, Probleme bei der Bekämpfung des Terrorismus, Melle 1986, S. 13. 24 Vgl. Suter, Martin, Action directe (AD) und Rote Armee Fraktion (RAF) in den Jahren 1985/ 1986, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift Nr. 9/ 1988, S. 569-574, hier S. 570. 25 Vgl. ebd.
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bekannte sich ein „Kommando Elisabeth van Dyck“ (eine von der Polizei 1979 erschossene RAF-Terroristin) aufgrund seiner Schlüsselfunktion im französischen Verteidigungsministerium und seiner Arbeit an Rüstungskooperationen verantwortlich. Ebenfalls waren die für die Action Directe als neu einzustufende Ziele wie die Rüstungsindustrie oder militärische Institutionen ein Beleg für die Unterordnung gegenüber der Strategie der RAF. Alain Hamon, Mitautor von „Action directe“, schreibt zu dem RAF-AD-Verhältnis: „Kein Zweifel – die RAF denkt für AD und unterhält mit ihr ein Vater-Kind-Verhältnis.“26 Eine vertiefte Fortführung erlebte diese unheilige Allianz mit dem gemeinsam durchgeführten Anschlag auf die Rhein-Main-Airbase in Frankfurt am 8. August 1985. Besonders das fundamentale Feindbild der NATO wurde als Bindemittel des länderübergreifenden Terrorismus definiert. Bei Action Directe hieß es dazu: NATO, das ist das totale und totalisierte Instrument der Ausbreitung eines absoluten Systems. Sie handelt als globale Koordination des Kreuzzuges der ,freien Welt’, das heißt grundlegend multinationaler Interessen.27
Darüber hinaus führten die beiden Organisationen mehrere Anschläge durch, die mindestens eine zeitliche Abstimmung nahelegen.28 Trotz der gemeinsam durchgeführten Anschläge und anderer Verbindungen gelang es der Action Directe und der RAF jedoch nicht, eine dauerhafte und strapazierfähige logistische oder personelle Zusammenarbeit zu verwirklichen.29 Gründe waren hierfür der propagierte Avantgardeanspruch der RAF, der auch gegenüber der Action Directe gelten sollte, aber auch die mit der Brutalisierung einhergehende Entfremdung der RAF von gemeinsamen Zielen, was sie durch die Ermordung des US-GIs Pimental zeigten.30 In diesen Zeitraum fiel auch die Angleichung der staatlichen Möglichkeiten der Terrorismusbekämpfung an die Herausforderung durch den AD-Aktivismus. Das „Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus und der Angriffe auf die Sicherheit des Staates“ vom 9. September 1986 schuf eine Reihe von neuen Organen, die nicht nur speziell zur Terrorismusbekämpfung geschaffen waren, sondern vielmehr auch die französischen Geheim- und Informationsdienste koordinieren sollte. Das Gesetz ermöglichte außerdem die vereinfachte strafrechtliche Verfolgung von Terrorismus.31 Gleichzeitig zur RAF suchte Action Directe die Nähe zu den belgischen Cellules Communistes Combattants (CCC) mithilfe logistischer Zusammenarbeit im Zeitraum von 1984 bis 1985. Zwei Jahre später, am 21. Februar 1987, wurden die Führungspersonen der Action Directe, wie unter anderen Rouillan und Ménigonin Vitry aux Loges bei Orléans durch ein Aufgebot von 100 Elitepolizisten der französischen Spezialeinheit RAID (Recherche, Assistance, Intervention, Dissuasion) festgenommen. Das gleiche Schicksal erfuhr zuvor ADn. Schwer bewaffnet wurden deren Führungspersonen André Olivier und Bernard Blanc am 28. März 1986 verhaftet. Ihren zentralen Figuren und der Kerngruppe beraubt, 26
Zitiert nach Suter, Action directe (AD) und Rote Armee Fraktion (RAF), aaO. (FN 23), S. 574. Action Directe, Kontinuität eines kommunistischen Projektes, zitiert nach Straßner, Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“, aaO. (FN 17), S. 301. 28 Vgl. Suter, Action directe (AD) und Rote Armee Fraktion (RAF), aaO. (FN 23), S. 570 f. 29 Vgl. Straßner, Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“, aaO. (FN 17), S. 303. 30 Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 31 Vgl. Vogel, Wolfram, Frankreich, der 11. September 2001 und das Recht, in Rill, Bernd (Hrsg.), Terrorismus und Recht – Der wehrhafte Rechtsstaat, München 2003, S. 35-44, hier S. 38. 27
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verlor Action Directe damit ihre Handlungsmöglichkeiten und erhielt lediglich nur noch durch Verlautbarungen aus dem Gefängnis beziehungsweise Solidaritätsbekundungen von Sympathisanten oder ausländischen Gruppen des sozialrevolutionären Terrorismus eine schwache Stimme.
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Organisation und Soziostruktur
Die Grundzüge der Organisation von Action Directe lagen im Zusammenschluss von GARI, NAPAP und den autonomen Strömungen, wodurch im Hinblick auf Ideologie und Ausrichtung der Aktionen unterschiedliche Prägungen zusammengeführt wurden. Damit war AD eine Art Flügelstruktur mitgegeben, welche zu Beginn noch grob durch die regionalen Gruppen Paris und Lyon zusammengehalten wurde, später jedoch zu einer konkreten Teilung in ADi und ADn führen sollte. Action Directe verfügte jedoch zu keinem Zeitpunkt über eine straffe oder kohärente Organisation. Vielmehr existierte unter dem Mantel des gemeinsamen Namens eine Vielzahl von Splittergruppen, welche durch lose Verbindungen netzwerkartig zusammengehalten wurden. Ein Merkmal dieses Bausteinsystems war die doppelte Mitgliedschaft der Terroristen in den verschiedenen, lose vernetzten Splittergruppen, aber auch in ausländischen Organisationen, die über einen gewissen Zeitraum hinweg in Frankreich agierten. Folgende Splittergruppen sind als Einheiten von Action Directe bekannt: CLODO („Gruppe gegen Computer“), Jeaune Taupe („Junger Maulwurf“), Casse-Noix („Nussknacker“), Moutons Enragés („Wütende Schafe“).32 Der gemeinsame Nenner dieser Splittergruppen lag in der linksextremistischen Orientierung. Die Mitglieder von Action Directe verfügten schon durch die Vorgängerorganisationen über Erfahrungen im bewaffneten Kampf. Das idealtypische AD-Mitglied der späten 1970er Jahre war relativ jung, beruflich gut ausgebildet, aber arbeitslos.33 1980 standen beispielsweise Studenten, ein Klempner, ein Apotheker und ein Schriftsetzer wegen der Mitgliedschaft bei AD vor Gericht.34 Rouillon und Ménigon, die überdies seine Lebensgefährtin war, studierten zum Beispiel in Toulouse. Das zeigt, dass die Organisation verschiedene gesellschaftliche Gruppen anzog und integrieren konnte. Interessant ist dabei, dass die Mitglieder von Action Directe sich nicht ausschließlich aus intellektuellen oder studentischen Kreisen rekrutierten, wie es häufig bei anderen sozialrevolutionären Gruppen in den 1970er Jahren der Fall war. Augenfällig bei dem erwähnten Gerichtsprozess war auch der hohe Anteil von Frauen. Unter den 15 führenden Mitgliedern fanden sich fünf Frauen. Auch mehrere Zeugenaussagen belegen die maßgebliche Rolle von Frauen, allen voran Nathalie Ménigon, bei AD-Anschlägen.35 Nach der ersten Zerschlagung der AD-Struktur im Jahr 1980 durch die französische Polizei entstand eine neue, professionellere Organisation von Action Directe. Man plante die Anschläge nun teilweise anhand einer Art „Feierabendterrorismus“. Die netzwerkartige Organisation der Gruppen, die aus fünf bis sechs Mitgliedern bestanden, wurde beibehalten. Jedoch gingen die Mitglieder nunmehr einer geregelten Arbeit nach, waren in der Gesellschaft integriert und trafen selten aufeinander. 32
Vgl. Moxon-Brown, Edward, Terrorism in France, London 1983, S. 24. Vgl. Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 75. Vgl. ebd., S. 76. 35 Vgl. Moxon-Browne, Terrorism in France, aaO. (FN 30), S. 24. 33 34
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Die Terroristen von heute arbeiten als Bankangestellte oder Metzger und legen Bomben nur samstags oder sonntags. Die Erkennung fällt damit sehr schwer36,
lautete die Einschätzung der Pariser Kriminalpolizei zur neuen Vorgehensweise der Terroristen und zu den daraus entstehenden Problemen für die polizeilichen Ermittlungen. Nach der Spaltung von ADi und ADn wurde die Einteilung der Gruppen mit nicht mehr als sechs Mitgliedern aufrechterhalten.37 Finanziert wurde das terroristische Netzwerk durch Raubüberfälle auf Banken, wobei sich die Verteilung an der Hierarchie innerhalb Action Directes orientierte. Rouillon erklärte 1981 diese Praxis folgendermaßen: Some of our people underground live on the money that they get from banks, but that’s because they are unable to go to work in the normal way. (…) It’s a sort of salary. They are given money according to their needs, about five thousand francs a month. It’s all relative, it’s done according to the part they play in the organisation.38
Zwischen 1982 und 1984 gingen dabei über 40 Banküberfälle auf das Konto von Action Directe.39 Die Besonderheit der Organisation von ADi war, dass es über ein internationales Netzwerk verfügte, welches durch einzelne Mitglieder aufrechterhalten wurde. ADn wiederum verfügte über eine gute Organisation, was vor allem bei ihren Banküberfällen dienlich war.
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Ideologie und Ziele
In der Regel lässt sich die ideologische Ausrichtung terroristischer Organisationen anhand ihrer Erklärungen und Verlautbarungen ableiten. Bei Action Directe gestaltet sich dies schwierig: Die Organisation gab nur vereinzelt Bekennerschreiben heraus, veröffentlichte lediglich bis zu vier ideologische Schwerpunktschriften und äußerte sich durch Interviews in hauptsächlich linksextremen Printmedien, wie L’Internationale, Libération und Rebelles.40 Im Vergleich zu anderen europäischen Gruppen sozialrevolutionärer Prägung hat Action Directe damit verhältnismäßig wenige Verlautbarungen veröffentlicht. Allgemein gilt, dass Action Directe durch ihre zwei größeren Vorläuferorganisationen von den zwei unterschiedlichen ideologischen Prägungen des Marxismus-Leninismus (GARI) und Maoismus (NAPAP) beeinflusst und geprägt wurde. Darüber hinaus richtete sie ihren Kampf in den Metropolen im Sinne einer Stadtguerilla nach dem Verständnis Carlos Marighellas aus. Ihr bewaffneter Kampf galt im Großen und Ganzen dem Kapitalismus und dem Imperialismus vor allem Israels und der USA. Action Directe ging davon aus, dass ihr in diesem Kampf die Rolle einer revolutionären Avantgarde zukomme.41 Dies erklärt teilweise auch ihre zeitlebens wechselseitig distanzierte Beziehung zu den linken Intellektuel-
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Zitiert nach Chimelli, Die „Action directe“ schreckt Frankreich, aaO. (FN 9), S. 117. Vgl. Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 80. 38 Zitiert nach Segaller, Invisible Armies, aaO. (FN 3), S. 278. 39 Vgl. Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 80. 40 Vgl. Alexander/Pluchinsky, Europe's red terrorists, aaO. (FN 1), S. 134. 41 Vgl. Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 47. 37
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len Frankreichs.42 Eine andere Ursache dürfte dafür das mangelhafte theoretische Rüstzeug der AD-Mitglieder sein, welches sich in einem niedrigen theoretischen Niveau in den ideologischen Erklärungen der Gruppe manifestierte. Ein ehemaliges AD-Mitglied beschreibt Rouillon, als Chef der Organisation diesbezüglich mit den Worten: „He was absolutely not interested in intellectual matters, political theory, or anything like that.“43 Anstelle eines ausgeprägten Theorieverständnisses und einer konkreten Verwendung wurde hingegen die „Direkte Tat“, wie auch die Namensgebung veranschaulichen sollte, betont und zu einer ideologischen Maxime erhoben. In diesem Zusammenhang wurde propagiert, dass andere linksextreme Gruppierungen nur diskutierten oder Debatten führten, währenddessen Action Directe den Kampf in die Tat umsetze. Präsident Mitterrand, obwohl Sozialist, wurde dabei vollständig als Feind betrachtet. Zum einen lag darin eine grundsätzliche, in der politischen Kultur Frankreichs nachgerade traditionelle Abneigung gegen das politische Establishment Frankreichs. Zum anderen war man bei einem Präsidenten der Sozialistischen Partei besonders kritisch, da bei diesem teilweise ein schmerzhafter Ausverkauf der eigenen Werte und der eigenen Sache befürchtet werden konnte oder aber, dass er im schlimmsten Fall eine Politik betreiben würde, welche die Grundlage für eine revolutionäre Bewegung mittels Terrorismus obsolet erscheinen ließe. Tatsächlich wurde Mitterrand von Seiten der AD vor allem die Anbiederung an den US-Imperialismus AD vorgeworfen. Die Zielkoordinaten der Organisation waren demgegenüber weitaus schwieriger zu umreißen. Rouillon beschrieb in einem Radio-Interview mit France-Inter 1981 die nur vage zu verortende Zielsetzung und Motivation der Terroristen: We want a communist society, with every proletarian conscious of his class identity – that is to say the destruction of capitalist society based on the merchants profiting from the wage-earning class. And we think that the end of man’s exploitation of man will come with the destruction of this capitalist society, full of unemployment, misery, exploitation, organised murder, accidents at work in the name of profit. We are true communists.44
Wenn man aus diesen Sätzen ein revolutionäres Subjekt herauslesen könnte, wäre dies der proletarische Arbeiter, den es aus den Klauen des Kapitalismus zu befreien galt. Wie gestaltete sich nun aber die ideologische Ausrichtung von ADn und ADi? Zunächst ist festzuhalten, dass ADn über ein geringeres ideologisches Fundament als ADi verfügte, dies aber durch eine erhöhte Aggressivität kompensierte. Beide Spaltgruppen zielten auf die gestaltende Kraft einer Revolution in der französischen Gesellschaft. Erreicht werden sollte das durch die Mobilisierung der Massen durch Terrorismus. In einem Kommuniqué von Action Directe heißt es im Juli 1984 dazu im Sinne einer Aufforderung: Everyone must fight in the area where he is the strongest but always in relation to the fights of other proletarians engaged in other sectors of the armed struggle. Therefore, hit at every level of preparation, harass their administration centres, and sabotage their projects.45
ADn konzentrierte sich hierfür zwischen 1982 und 1987 auf die Themen Dekolonisation, den Konflikt im Mittleren Osten, Militarisierung und französischen Imperialismus.46 ADi 42
Vgl. Paas, Frankreich: Der integrierte Linksradikalismus, aaO. (FN 4), S. 265. Zitiert nach Segaller, Invisible Armies, aaO. (FN 3), S. 44. Zitiert nach ebd., S. 47. 45 Zitiert nach Alexander/ Pluchinsky, Europe's red terrorists, aaO. (FN 1), S. 137. 43 44
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formulierte seine zentralen Auffassungen in der theoretischen Schrift „Für ein kommunistisches Projekt“ von 1982. Darin wird eine Abkehr von der marxistisch-leninistischen Maxime und der Vorstellung einer Avantgardestellung deutlich. Man definierte Action Directe nun ideologisch zwischen dem Marxismus und dem Anarchismus stehend.47 Terroristischer Handlungsbedarf wurde bei drei Hauptthemen gesehen: a. b. c.
Die revolutionäre Organisation und Einheit, Imperialismus, Kapitalismus und Arbeitslosigkeit, Bedingungen für ein Entstehen des kommunistischen Projekts.
Im Vordergrund stand dabei, dass ADi Themen wie Neokolonisation, Arbeitslosigkeit und Migration in einen globalen Kontext fasste. Gewalt wird dadurch laut der Schrift (…) self-legitimated, since it is the logical form of expression for those humiliated and ridiculed by the mechanisms of the capitalist mode of production; and it is not only a desperate reaction born from misery, it is a hopeful action that aims to surpass exploitation and domination through revolutionary practice. Action directe and all who share its reasoning are part of this process of rebellion.48
Mitte der achtziger Jahre orientierte sich der Kampf der Organisation an folgenden vorwiegend negativ formulierten Zielen: „Kampf gegen die Globalität des Ausdrucks des Imperialismus“49, der sich am 21. Juli 1986 öffentlichkeitswirksam in einem Sprengstoffattentat auf die OECD; aber auch „gegen die zionistische Invasion und die Massaker im Libanon“50 richtete, sowie gegen das multinationale Kapital und mit besonderem Nachdruck gegen die NATO. Zusammen mit der RAF veröffentlichte AD im Januar 1985 ein Kommuniqué mit dem Titel „Die Einheit der Revolutionäre in Westeuropa“, welches vor allem den Kampf gegen die NATO propagierte.
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Zerfallsmuster
Der Zerfall von Action Directe ging einher mit einer Phase der Delegitimierung und Isolierung.51 In dieser Periode sank die öffentliche Unterstützung aufgrund eines Dreiklangs von zur Schau gestellter Professionalisierung, Radikalisierung und Brutalisierung, die notwendige Rückkoppelung von Motiven und Zielen der Terroristen mit denjenigen von Sympathisanten oder Anhängern ging sukzessive verloren. In der terroristischen Verlaufsgeschichte von Action Directe sieht man diesen Zerfallsprozess sehr deutlich. Zu Beginn setzte die Organisation bei der Durchführung ihrer Aktionen auf ein wohl kalkuliertes Risiko, keine Todesopfer zu verursachen oder „Unbeteiligte“ zu verletzen. Der Anschlag auf das Verkehrsministerium vom 15. April 1980 um sechs Uhr morgens steht dafür pars pro toto. In 46
Vgl. Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 100 ff. Vgl. Straßner, Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“, aaO. (FN 17), S. 300. 48 Zitiert nach Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 107. 49 Zitiert nach Straßner, Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“, aaO. (FN 17), S. 301. 50 Zitiert nach ebd. 51 Vgl. Straßner, Alexander, Terrorismus und Generalisierung. Gibt es einen Lebenslauf terroristischer Gruppierungen, in: Zeitschrift für Politik Nr.4/ 2004, S. 359-383, hier S. 373. 47
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Philip Gursch
dieser Phase wurde der Einsatz von Gewalt gezügelt und begrenzt, sofern Menschen zu Schaden hätten kommen können. Diese Überlegungen werden gestützt durch einen Sprengstoffanschlag im Juni 1980 auf den Flughafen Orly-Ouest, bei dem sieben Reinigungskräfte verletzt wurden. Damit war genau das eingetreten, was vermieden werden sollte, nämlich die Verletzung derjenigen, für die man eigentlich sprechen wollte. Zu Schaden kam bei AD-Aktionen mehr und mehr der interessiert unterstellte Dritte, das revolutionäre Subjekt. Gerade bei diesem Anschlag ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion von Action Directe noch ersichtlich, denn die Gruppe erkannte die Kontraproduktivität der Aktion und widmete sich in der Folgezeit organisatorischen Belangen.52 Nach der ersten Zerschlagung der Gruppe entwickelt Action Directe Tendenzen der Professionalisierung besonders im Hinblick auf die Organisation in netzwerkartigen Strukturen. Das hatte jedoch den Nachteil, dass sich AD immer weiter von möglicherweise mäßigenden Verbindungen zu Sympathisanten oder Unterstützer entfernte. Dies wurde jedoch teilweise durch die Form des „Feierabendterrorismus“ von AD-Mitgliedern wieder ausgeglichen. Eine neue Phase der Radikalisierung wurde mit der Spaltung in ADn und ADi im Jahr 1982 eingeläutet. Die Anzahl der Anschläge erhöhte sich kontinuierlich bis 1985, Morde gehörten nunmehr zum gängigen Repertoire, der Waffeneinsatz wurde massiver und die Zahl der Verletzten und Toten stieg.53 Durch die Anlehnung von ADi an andere europäische Terrorismusgruppen ist auch ein gegenseitiges Beeinflussen in dem Maß der Gewaltanwendung anzunehmen. Dies erfolgte in dem Sinne, dass Action Directe bei der Zusammenarbeit mit den weitaus schlagkräftigeren Gruppen, wie beispielsweise der RAF, durch den tätigen Beweis der Gewaltbereitschaft ihre Allianzwürdigkeit unter Beweis stellen wollte. Action Directe stellte jedoch zu keinem Zeitpunkt eine starke terroristische Organisation geschweige denn eine Bewegung dar. In dieser Situation musste AD automatisch in eine sog. Militanzfalle54 geraten. Gewalt sollte dabei aus dem terroristischen Kalkül von Action Directe die Massen entfesseln und den Weg zu einer revolutionären Bewegung ebnen; diese schlug jedoch in Brutalität um und desavouierte die Ziele von AD in den Augen von Sympathisanten und Bevölkerung. Weiterhin kam es bei der Analyse der Situation in Frankreich zu der Fehlperzeption, dass die Bedingungen einer revolutionären Situation und die Grundlagen einer revolutionären Bewegung gegeben wären, was schlichtweg nicht existierte. Schließlich löste sich Action Directe durch Zerschlagung in Form der Verhaftung der Führungsriege von sowohl ADn und ADi 1986/ 1987 auf. „LASST EUCH NIEMALS DURCH DIE GEWALTIGEN DIMENSIONEN EURER EIGENEN ZIELE ABSCHRECKEN“55 hatte es noch im Jahr 1985 in einer Erklärung der Organisation gelautet. Schlussendlich aber ist Action Directe gerade an den „gewaltigen“ Dimensionen und am Maßstab der eigenen Ziele gescheitert. Was blieb, war nach der Verhaftung der Versuch, eine Art Solidaritätsbewegung zu den Inhaftierten AD-Terroristen aufzubauen. Dies erreichte jedoch nur wenig Widerhall und bewegt sich bis heute nahe an der Bedeutungslosigkeit.
52
Vgl. Dartnell, Action Directe, aaO. (FN2), S. 77. Vgl. ebd. S. 182 ff. Siehe dazu den abschließenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 55 Zitiert nach Hoffman, Bruce, Terrorismus – der unerklärte Krieg, Frankfurt am Main 2006, S. 367. 53 54
Die Belgischen Kommunistischen Zellen
Orthodoxer Marxismus und Antiimperialismus: Die Belgischen Kommunistischen Zellen
Die Belgischen Kommunistischen Zellen
Barbara Fendt und Susanne Schäfer
Zum ersten Mal traten die Cellules Communistes Combattantes (CCC), zu deutsch die Kämpfenden Kommunistischen Zellen, am 2. Oktober 1984 in Belgien in Erscheinung, als sie sich zu dem Anschlag auf die US-Firma LITTON Industries in Evere bekannten. Bis zum 6. Dezember 1985 folgten 23 weitere Sprengstoffanschläge auf belgischem Staatsgebiet. Basierend auf antiimperialistischer, marxistisch-leninistischer Ideologie richteten sich die Attentate gegen Einrichtungen der NATO, Unternehmen, die angeblich Geschäftsbeziehungen zu Mitgliedern der NATO-Streitkräfte unterhielten oder ihre Vertreter waren. Bei den Aktionen wurden etliche Menschen verletzt und zwei getötet. Vier führende Mitglieder der CCC wurden am 16. Dezember 1985 festgenommen, 1988 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt und befanden sich bis vor wenigen Jahren im Gefängnis.
1
Kurzcharakteristik der CCC
Die Aktivisten formierten sich Anfang bis Mitte der achtziger Jahre und gründeten die CCC im Juni 1983. Entstanden ist die CCC nach eigenem Bekunden durch die belgische Wirtschaftskrise, die neoliberale Sparpolitik, die antisozialen Maßnahmen und dem daraus resultierenden „sehr harten proletarischen Widerstand“1 Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre. Hinzu kam das Scheitern der bestehenden belgischen kommunistischen Kräfte2 und die von der NATO geführten „imperialistische Kriegstreiberei“ mit ihrem Bemühen, den „Krieg wieder nach Europa zu bringen“.3 Daraus resultierte die Notwendigkeit, für das Volk zu kämpfen.4 Angeführt wurden die Kämpfenden Kommunistischen Zellen von Pierre Carette, einem früheren Mitglied der Action Directe, der sich 1981 nach Belgien abgesetzt hatte.5 Weitere Mitglieder der Gruppe waren Bertrand Sassoye, Pascal Vandegeerde und Didier Chevolet. Diese vier führenden Köpfe waren schon vor der Gründung der CCC seit mehreren Jahren im linken Aktivismus tätig. Pascal Vandegeerde stieß nach eigenem Bekunden erst im Herbst 1985 hinzu. Zuvor war Vandegeerde „open militant“ in der von Carette gegründeten Unterstützerorganisation und gleichnamigen Zeitschrift „Ligne Rouge“, die Pamphlete der CCC druckte und verbreitete.6 1
Internationale Solidarität, Bulletin der Roten Hilfe, November 2005, S. 7. Ebd., S. 20. Ebd., S. 7. 4 Ebd., S. 19. 5 Vgl. Adams, James, Geld und Gewalt, Gladbach 1990, S. 330. 6 Siehe dazu das im Internet zugängliche Interview with the Cellules Communistes Combattantes, Gent/De Nar 1998, http://members.lycos.nl/docom/interview_with_the_cellules_communistes_combattantes.html (Stand: 23.11.2008). 2 3
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Barbara Fendt und Susanne Schäfer
Über Ziele und Taktik der CCC ist zunächst lange spekuliert worden. Nach ihrem ersten Anschlag 1984 meldeten sich bei einer belgischen Nachrichtenagentur die bis dahin unbekannten „Gewählten kommunistischen Kombattanten“7 und es wurden Flugblätter mit einem dreifachen C gefunden. Erst ihre zunehmenden Bekennerschreiben und Veröffentlichungen haben ihre ideologischen Motive und Forderungen ans Tageslicht gebracht. Die CCC bauten sich ihre eigene Ideologie auf: eine Mischung aus Marxismus-Leninismus, Guerillakampf und Antiimperialismus. Nach der spektakulären Festnahme der vier Mitglieder am Bahnhof von Namur fahndete die Polizeiformation GIA (Groupe Interforces Antiterrorisme) noch nach einem knappen Dutzend von Verdächtigen. Es schien sich erst nach einiger Zeit herauszustellen, dass man mit den vier Gefangenen die Führung der CCC gefasst hatte.8 Die genaue Anzahl der Mitglieder der Kämpfenden Kommunistischen Zellen bleibt unklar, Schätzungen gehen von zehn bis 20 Mitgliedern aus.9
2
Ideologie
2.1 Der Marxismus-Leninismus und seine belgische Umsetzung „Objektiv gesehen ist der Staat nichts anderes als das Instrument der Diktatur einer Klasse, also heute das Instrument der Bourgeoisie. Als Kommunisten wollen wir natürlich die Abschaffung des Staates erreichen, da wir für eine klassenlose Gesellschaft kämpfen und da der Staat sich nur durch die Existenz der Klassen ausdrückt.“10 Anders als die RAF oder die Action Directe sahen sich die CCC nicht nur nach eigenem Bekunden als „orthodoxe Marxisten“11. Sie legten großen Wert darauf, dies ausführlich ideologisch zu fundieren und zu veröffentlichen.12 Nicht selten unterstellten sie dabei anderen sozialrevolutionären Gruppen, dass sie die marxistisch-leninistische Ideologie falsch oder gar nicht verstanden hätten und dass die Ideologie für andere Gruppen nur eine leere Hülle sei: Diese hätten „unter dem Gewicht von Entfremdung, Verfall der Willenskräfte, zermürbender Mittelmäßigkeit und Herdentrieb Hoffnung und Wille in eine feige und ängstliche Flucht in einer Art Gewerkschaftsbewegung des Alltags umgekehrt.“13 „Wir wollen den Kommunismus. Um dahin zu gelangen, muß das Proletariat die Macht übernehmen und sie ungeteilt ausüben. Das ist heute angesichts der derzeitigen Polarisierung der Gesellschaft möglicher denn je, die aus dem Proletariat die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegenüber einer Bourgeoisie gemacht hat, die sich zunehmend um die imperialistische Oligarchie schart.“14 Basis dafür ist eine strukturierte Organisation, strategisch zentralisiert, im Untergrund und bewaffnet, antiimperialistisch und international, proletarisch durch ihre Zusammensetzung und ihre Klassenstellung. Die Durchsetzung
7
Zitiert nach Strick, Hans-Josef, „Belgiens „Kämpfende Kommunistische Zellen“, in: Schröder, Dieter (Hrsg.), Terrorismus, Gewalt mit politischen Motiven, München 1986, S. 125. 8 Ebd., S. 123. 9 »Die Nato – höchste Form der Bourgeoisie«, in: Der Spiegel vom 04.02.1985, S. 21. 10 Anonymus, CCC, Texte 1984-85, Amsterdam 1985, S. 3. 11 Ebd., S. 4. 12 Vgl. Ebd. 13 Ebd., S. 1. 14 Ebd., S. 6.
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der Ziele soll mit einer „bewaffneten Politik zur Machtübernahme“15 erreicht werden, da der bewaffnete Kampf im Vergleich zu legalen Aktionen qualitativ höher und effektiver ist.16 „Der bewaffnete Kampf kämpft gegen das Aufgeben, die Entmutigung und die Passivität, indem er zeigt, dass es eine wirkliche Oppositionspolitik, eine Praxis des realen Bruchs geben kann, dass die Furcht das Lager wechseln kann, die Straflosigkeit und Permanenz der Ausbeuter und Unterdrücker nichts endgültiges sind, dass auch für die Unterdrückten Angriff möglich ist.“17 Der proletarische Befreiungskrieg ist die „öffentliche Äußerung der politischen Linie“.18 Er muss als militante Hauptform die Guerilla wählen, „da der Partisanenkrieg das einzige militärische Mittel ist, das bei einer Konfrontation mit zahlenmäßig und technisch überlegenen Kräften erfolgreich sein kann.“19 Die kämpfenden Gruppen sollten dabei auf dem „demokratischen Zentralismus“ beruhen, mit einer zentralen politischen Führung, welche „die Kollektivierung und Vereinheitlichung der Synthese der politischen, militärischen, theoretischen und organisatorischen Praxis der verschiedenen Kampfeinheiten und jedes einzelnen Militanten gewährleistet.“20 Die Partisanen müssen ihre politische Zugehörigkeit geheim halten und die Organisation sollte völlig hermetisch sein. Die Ziele der Aktionen sollten so gewählt sein, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht angegriffen fühlt und „die bewaffneten Aktionen müssen in den proletarischen Schichten Zustimmung finden.“21 Sie müssen so durchgeführt werden, dass „die breiten Massen sich daran gewöhnen, die bewaffnete Aktion als einzig legitime, normale und natürliche Form des politischen Kampfes an[zu]sehen.“22 Dabei geht es aber nicht darum, Sympathisanten zu gewinnen: „eine wirklich kommunistische Organisation [kann] keine aktiven Sympathisanten haben (…) Es ist besser sich auf aufrichtige und solide Kommunisten abzustützen, statt auf Leute, die den bewaffneten Kampf billigen, ihn unterstützen wollen, aber keine kommunistischen Militanten sind.“23 Auf dem Weg zur Etablierung des Kommunismus muss neben dem „Prozeß des Erwerbs eines Klassenbewußtseins durch das Proletariat“24, dem Bekehrungseifer und der bewaffneten Propaganda eine Massenorganisation unter der Führung von Kadern entstehen. Diese Kaderführung sollte sich Partisanen, die höchst politisiert sind und Erfahrung mit Agitation und Organisation haben, zusammensetzen.25 „Die Rolle dieser Massenkader ist es, eine politische Massenpraxis zu organisieren und durchzuführen, die sich in ihren Entscheidungen und Ausrichtungen an der strategischen Linie der kämpfenden kommunistischen Organisation orientiert.“26 Schließlich soll der „langandauernde“27 Krieg zur Herausbildung einer Avantgarde innerhalb des Proletariats und zur Gründung einer kommunistischen Partei nach leninistischem Vorbild führen: „Die Partei ist zugleich Träger und Produkt des Klassenbewusst15
Anonymus, CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 1. Ebd., S. 2. 17 Ebd., S. 7. 18 Ebd., S. 8. 19 Ebd., S. 6. 20 Ebd., S. 7. 21 Ebd., S. 7. 22 Ebd., S. 7. 23 Ebd., S. 8. 24 Ebd., S. 2. 25 Vgl. ebd., S. 6-7; vgl. Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 9. 26 Ebd., S. 8. 27 Ebd., S. 6. 16
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seins, da sie die Zentralität des Proletariats als Klasse zum Ausdruck bringen muß und die am weitesten fortgeschrittene Organisationsform des Proletariats“28 ist. Folglich ist der bewaffnete Kampf Ausdruck des Klassenbewusstseins, während die Partei Träger und dessen Produkt ist. „Die legale politische Aktion bildet den Raum, durch der die kämpfenden kommunistischen Kräfte ihre politische Linie aufbauen und richtig strategische Richtungen einschlagen können, sowie eine korrekte Praxis hinsichtlich der objektiven und subjektiven Interessen der breiten proletarischen Massen verfolgen können. Durch die systematische politische Unterstützung müssen die wirklichen Bedürfnisse und Kapazitäten der Volksmassen ergriffen werden.“29 Diesem Schema folgend waren die CCC bis zu ihrer Verhaftung in der Phase der bewaffneten Propaganda bzw. des Guerillakampfes. Sie war eine abgeschlossene, kleine, bewaffnete Organisation, aufgeteilt in mehrere kämpfende Einheiten. Aber „sie haben (…) nie die Rolle einer organisierten Avantgarde im revolutionären Kampf beansprucht.“30 Sich selbst sahen sie höchstens als „politisch-strategische Avantgarde, [die] den Weg zur Neubelebung des Kampfes geebnet hatten“31. Zwar blieb die Gründung einer Partei, der PCC (Parti Communiste Combattant), die „hauptsächliche strategische Zielsetzung“, doch sahen die CCC wohl schon in ihrer Aktionszeit, dass sie selbst durch „ihre Schwäche (…) nicht vorgeben [konnten], der Kern der zukünftigen kämpfenden kommunistischen Partei“ zu sein.32 „Unsere Realität hinderte uns daran, diesen „Königsweg“ zur Parteigründung einzuschlagen.“33 Eine Verbindung zur bestehenden Kommunistischen Partei Belgiens bestand offiziell nicht.34
2.2 Die NATO und ihre Verbündeten als Ausdruck des Imperialismus „Man darf nie vergessen, dass wir in einem System des politischen Liberalismus leben, die politische Form der bourgeoisen Diktatur ist hier die Demokratie.“35 Konkretes Feindbild der CCC war der Imperialismus und die von ihm produzierte „imperialistische Realität in der wir uns befinden“36. Von den USA und Frankreich ausgehend hatte der Imperialismus seine Taktik geändert. Dehnte sich die „imperialistische Produktionsweise in der vorherigen Phase zunächst in Richtung Peripherie aus“37, wurden anschließend imperialistische Zentren gebildet. Auch die Dritte Welt wurde zunehmend durch den Imperialismus ausgebeutet, was zu einer „ständigen Vergrößerung der Ungleichheiten“38 führte. Die CCC wollte aber verstanden wissen, dass es ihnen nicht um reine Solidaritätsbekundungen für die Dritte Welt ging, sondern dass ihr primäres Anliegen der Klassenkampf auf „nationaler 28
CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 6. Ebd., S. 3. 30 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 8. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Vgl. Hotterbeex, Marcel, The Price of Delayed Adaption, The Comminist Party of Belgium, in: Waller, Michael/Meindert, Fennema (Hrsg.), Communist Parties in Western Europe, Decline or Adaptation? Oxford 1988, S. 179-191; Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 18ff. 35 CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 2. 36 Ebd., S. 1. 37 Ebd. 38 Ebd. 29
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Ebene“39 war. Dazu gehörte auch, die Existenz eines Proletariats im Westen anzuerkennen. Dank der nationalen Befreiungskämpfe und der Ausweitung der sozialistischen Regime steckte der Imperialismus schon in einer Krise, er war auf den „Widerstand des Weltproletariats gestoßen“40. Der Imperialismus wiederum versuchte dieser Krise durch noch höhere Ausbeutung, Verlagerung in die „imperialistischen Metropolen“ und somit einer „Erhöhung der Produktivitätsrate“41 entgegenzuwirken.42 Anschläge wurden daher gegen die NATO und ihre Verbündeten als Vertreter der imperialistischen Ausweitung durchgeführt: „Auf internationalem Niveau steht uns das System der NATO gegenüber, die Koordination der Polizeien, die Informatisierung der Nachrichtendienstes und damit der Aufschwung des internationalen Austausches (…), die aktive Tendenz zur europäischen Standardisierung der Bullen-, Justiz- und Knastapparate“43 Nach Auffassung der CCC hätte sich der Guerillakampf gegen den Imperialismus anschließend zu einem Bürgerkrieg ausweiten sollen. Durch die Vervielfachung der terroristischen Aktionen und die Ausweitung der Guerilla sollte die „bourgeoise Diktatur“44 in die Defensive gedrängt werden. Diese würde sich noch stärker militarisieren, was eine „subjektive Distanz zwischen sich und den Volksmassen“45 entstehen ließe. Die „Legitimität der imperialistischen Diktatur gerät ins Wanken“ und würde zu einer „Verengung der Abstützbasis des imperialistischen Staates und damit zu einer fortschreitenden institutionellen Destabilisierung“46 führen, bis dem Staat nur noch seine militärische Macht bliebe. Dadurch käme es zum revolutionären Bürgerkrieg zwischen den Guerillas und der Staatsmacht, die sich „in den Prozeß der Militarisierung und des Selbstschutzes immer tiefer verstrickt, dass er zu einem wachsenden Sicherheitsaufwand genötigt wird.“47 Die CCC spielten damit offen auf die Sicherheitsdoktrin der NATO an. „Der imperialistische Staat beginnt zu zerfallen und die Machtentfaltung des Proletariats kann beginnen.“48
2.3 Treue Ideologen Auch während ihrer Haftzeit blieben die Aktivisten der CCC ihrer strengen marxistischleninistischen Ausrichtung treu. Nach ihrer Verurteilung wandte sich das „Gefangenenkollektiv der Kämpfenden Kommunistischen Zellen“49 immer wieder an die Öffentlichkeit, nahm zu verschiedenen Diskussionen schriftlich und durch Hungerstreiks Stellung: „Wir denken, dass es um unsere Verantwortung und politische Solidarität gegenüber der gesam-
39
CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 1. Ebd. Ebd. 42 Neben dem Imperialismus finden sich bei der CCC auch klassische sozialrevolutionäre Feindbilder wie der „Sozialfaschismus“, der bestimmte soziale Gruppen formen will, und der „Zionismus“, der die „arabischislamische Identität zu zerbrechen“ versucht. Vgl. Ebd., S. 2. 43 Ebd., S. 6. 44 Ebd., S. 8. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Anonymus, Gefangenenkollektiv der CCC, Eine nicht zu rechtfertigende Erklärung, in: Agitare bene, Dokumentation: RAF, politische Gefangene, Widerstand, Köln 1993, S. 36. 40 41
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ten revolutionären Bewegung geht.“50 Als die RAF 1992 in einem offenen Brief erklärte, den bewaffneten Kampf aufgeben zu wollen, übte das Gefangenenkollektiv massive Kritik an ihrer ideologischen Gesinnung.51 Anscheinend fehlte der RAF schon seit den 70er Jahren die nötige marxistisch-leninistische Fundierung, als sie nämlich begonnen hatte sich „vom Marxismus und einer siegreichen Strategie“52 loszusagen. Vielmehr noch unterstellte die CCC der RAF eine „Fehleinschätzung (…) des historischen Determinismus“53. Einzig mit der ersten Generation der RAF schien die CCC zufrieden: „Ursprünglich bezog sich die Organisation teilweise auf marxistische Prinzipien und marxistische Analyse, bewies politische Kreativität und Initiative im revolutionären Kampf. (…) 1982 bestätigte sie (…) die komplette Preisgabe ihrer anfänglichen marxistischen Referenzen und ihr gänzliches Einschreiben in den Subjektivismus und den Militarismus. (…) Heute scheint die RAF nicht mehr zu verstehen, gegen wen sie kämpft und weshalb. Dies ist auf Zeit unvermeidbar, wenn man den historischen Materialismus und den wissenschaftlichen Sozialismus, das Ziel der Klassenrevolution und der Diktatur des Proletariats aufgegeben hat.“54 Dass die RAF den Kampf aufgeben wollte, war für das Gefangenenlager unverständlich, schließlich hatte sich an dem kapitalistisch-imperialistischen Feindbild nichts geändert: „Die Revolution ist eine Sache sozialer Klassen, hier und heute eine proletarische Sache. Die Revolution hat nichts mit einer Alternative zur Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft zu tun, aber alles mit einer Umwandlung der Gesellschaft, der gesamten Gesellschaft.“55 Für die CCC war das kapitalistische System nicht von innen her reformierbar, es gab weiterhin nur eine Lösung: den Kommunismus. „Die Art, mit der die bürgerliche Macht gelegentlich auf die besonderen Forderungen des alternativen Sumpfes eingehen kann, ist mit dem Klassenwiderspruch, der die ganze Gesellschaft durchzieht, nicht zu vergleichen. (…) Wenn es eine Lösung für die Widersprüche gäbe, die den Kapitalismus unterminieren und dazu führen, dass er gestürzt wird, wenn es interklassistische Lösungen für die ökonomische Krise gäbe, glaubt die RAF nicht, dass die bürgerlichen Herrscher diese nicht längst entdeckt und angewandt hätten?“56 Da es keine Alternative zur Umformung der Gesellschaft als den bewaffneten Kampf gab, plädierte die CCC auch aus dem Gefängnis heraus für dessen Fortführung: „Der revolutionäre Kampf verursacht zwangsläufig eine Repression; der revolutionäre Sieg wird immense Opfer erfordern, dies ist ein historisches Gesetz und sich davor vorrangig zu schützen suchen, führt zwangsläufig zur Aufgabe des Kampfes.“57
50
Anonymus, Gefangenenkollektiv der CCC, aaO. (FN 49), S. 36. Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. Anonymus, Gefangenenkollektiv der CCC, aaO. (FN 49), S. 32. 53 Ebd., S. 33. 54 Ebd., S. 31. 55 Ebd., S. 35. 56 Ebd. 57 Ebd. 51 52
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Verbindungen zum westeuropäischen Linksterrorismus
Die Internationalisierung des linken Terrorismus vollzog sich in den späten 60er und frühen 70er Jahren. Eine erste bekannte Zusammenarbeit entstand zwischen der RAF und palästinensischen Gruppen. 1985 verband sich die RAF mit der Action Directe (AD), „um eine PLO-ähnliche »Antiimperialistische Front westeuropäischer Guerillas« als Schirmorganisation zu bilden.58 Dem sollten sich auch die italienischen Roten Brigaden (BR) und die CCC anschließen. Bis auf eine kurzzeitige logistische Zusammenarbeit trat die CCC dieser Guerillafront wegen ideologischer Differenzen aber nicht bei.59 Innerhalb von zwei Jahren löste sich die angekündigte Kampagne gegen den kapitalistisch-imperialistischen Euroterrorismus auf, nicht zuletzt durch die Verhaftung der führenden Mitglieder der französischen und belgischen Gruppen. „Die globalen Rahmenbedingungen, die diese Organisation hervorgebracht und gefördert hatten, die ihnen die grundlegende Daseinsberechtigung gegeben hatten, änderten sich nun schneller, als die genannten Gruppen sich anpassen konnten, so dass sie Gefahr liefen, hoffnungslos anachronistisch zu werden.“60 Doch schon vor dem offiziell geplanten Zusammenschluss der vier europäischen Organisationen zu einer „kommunistischen Guerilla in Westeuropa“61, gab es Anzeichen für eine Zusammenarbeit in einer Art „losen Verbund“ und „in wechselseitigen Kooperationen“62, wobei Belgien anscheinend zum Treffpunkt der Kader geworden war. Die Vermutungen von Ermittlern und Journalisten, dass Belgien zumindest in der „europäischen Untergrund-Logistik (…) seit einiger Zeit eine zentrale Rolle spielt“63 bestätigten sich. So wurden im Juni 1984 aus einem belgischen Steinbruch 800 Kilo Sprengstoff gestohlen, der sich bei dem missglückten Attentat der Action Directe auf ein Pariser Gebäude der Westeuropäischen Union und dem vereitelten Anschlag der RAF auf die NATO-Schule in Oberammergau am 18. Dezember 1985 wiederfand.64 Dass die CCC ihren Anschlag auf ein NATO-Erholungsheim in Brüssel dem Hungerstreik ihrer RAF-Genossen in deutschen Gefängnissen widmeten, lässt auf eine enge Verbindung zwischen den beiden Terrorgruppen schließen.65 Nachdem am 16. Dezember 1985 an einem deutsch-belgischen Grenzübergang ein Auto mit belgischen Kennzeichen die Kontrollen durchbrach und der Fahrer nach einer fünfstündigen Verfolgungsjagd zu Fuß fliehen konnte, hinterließ der Verdächtige im Kofferraum seines Wagens ein Arsenal an internationalen Kennzeichen, die in Franreich, Deutschland und Belgien zusammengetragen worden waren.66 Vor BundeswehrEinrichtungen in Deutschland wurden zunehmend belgische Fahrzeuge gesichtet, die wohl zu Spähzwecken unterwegs waren.67 Ein weiterer Hinweis auf die Zusammenarbeit fand sich auf der Suche nach potentiellen Fluchtwegen von Terroristen. Fünf Erdlöcher wurden auf belgischem Boden am Grenzübergang Bildchen bei Aachen gefunden. Die Löcher hat58
Hoffman, Bruce, Terrorismus der unerklärte Krieg, Bonn 2002, S. 107; James Adams, Geld und Gewalt, Gladbach 1990, S. 107. Vgl. Interview with the Cellules Communistes Combattantes, aaO. (FN 6). 60 Hoffman, Terrorismus der unerklärte Krieg, aaO. (FN 57), S. 107. 61 Zitiert nach „Die Nato – höchste Form der Bourgeoisie“, aaO. (FN 9), S. 20. 62 „Politische Pflanze“, in: Der Spiegel vom 02.12.1985, S.20. 63 Ebd., S. 20. 64 „Die Nato – höchste Form der Bourgeoisie“, aaO. (FN 9), S. 20. 65 Ebd., S. 21. 66 „Politische Pflanze“, aaO. (FN 61), S. 20. 67 Ebd., S. 20. 59
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ten exakt die Abmessungen der zuvor gefundenen RAF-Erddepots.68 Bei der Fahndung nach Pierre Carette, dem Anführer der CCC, konnten die Ermittler feststellen, dass die RAF und die CCC gemeinsam konspirative Wohnungen unterhielten. Neben Waffen und Papieren der CCC wurden auch „umfangreiche schriftliche Unterlagen in deutscher Sprache“69, die von den RAF-Terroristen Brigitte Mohnhaupt, Christof Wackernagel und Stefan Wisniewski stammten, gefunden.70 Da sich Wackernagel und Wisniewski schon seit 1977 und 1978 in Haft befanden, liegt die Vermutung nahe, dass die Verbindungen schon vor der Gründung der CCC bestanden.71 Nach der Verhaftung der vier führenden Köpfe der CCC konnten auch Fingerabdrücke von Regis Schleicher, Nathalie Menigon und Jean-Marc Rouillon aus der Führung der Action Directe in einem CCC-Schlupfwinkel gefunden werden. Die drei französischen Aktivisten konnten im März 1984, einige Monate bevor die CCC mit ihren Anschlägen in Erscheinung trat, der belgischen Polizei entkommen. 72 Neben dieser logistischen Verbindung gab es etliche gegenseitige Solidaritätsbekundungen für die hungerstreikenden Gefangenen. Zu weiterführenden Kooperationen zwischen den Terrorgruppen kam es wohl vor allem wegen ideologischen Differenzen nicht. Obwohl der Kampf der RAF zunächst die Herangehensweise der CCC für ihr eigenes Anliegen beeinflusste und die CCC in der Anfangszeit mit der Action Directe zusammenarbeiteten,73 distanzierte sie sich mit ihrer zunehmenden Entwicklung immer weiter von den deutschen und französischen Terrorgruppen. Hingegen näherten sie sich den Thesen der italienischen Brigate Rosse und der spanischen GRAPO (Grupo de Resistencia Antifascista Primero de Octubre). Auch schien die unterschiedliche Struktur der Gruppen hemmend für eine weitere Zusammenarbeit zu sein: agierten die Belgier in drei bis vier Kleinstgruppen, war die RAF hierarchisch organisiert.74 Im Januar 1985 spaltete sich nach Angaben der CCC die revolutionäre kämpfende Bewegung in zwei Tendenzen: “die marxistischleninistische Strömung und die aniimperialistische Strömung (…) AD schließt sich dabei (wie bekanntlich auch die RAF) der zweiten an und die CCC (bekanntlich mit der (…) GRAPO) der ersten, die Kontakte CCC/AD werden abgebrochen.“75 Ein endgültiger Bruch der CCC mit der RAF war 1992 zu erkennen, als sich die dritte Generation der RAF von der Gewalt distanzierte.76 Nach der Festnahme der führenden Mitglieder der CCC im Dezember 1985 wurden die Verbindungen zu den anderen europäischen linken Terrorgruppen minimiert. Die anfänglichen gegenseitigen Solidaritätsbekundungen nahmen ab, da weder die Hungerstreiks noch die Prozesse große öffentliche Aufmerksamkeit hervorriefen.77 Des Weiteren verfüg68
„Politische Pflanze“, aaO. (FN 61), S. 20-21. „Belgische Helfer“, in: Der Spiegel, 30.12.1985, S.12. 70 Ebd., S. 12. 71 Ebd., S. 12. 72 Dabei nahmen sie einen belgischen Polizisten als Geisel, ließen ihn aber in Frankreich wieder laufen. Bei dieser Aktion wurde offenbar das Bulletin „Docom“ (Documentation Communiste) verbreitet. Es sollte die revolutionären Kräfte zusammenschließen, einschließlich der Roten Brigaden und der RAF. Das Bulletin schien aber nicht die gewünschte Verbreitung erhalten zu haben. Vgl. Strick, Belgiens „Kämpfende Kommunistische Zellen“, aaO. (FN 7), S. 124. 73 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 22. 74 Ebd., S. 308. 75 Ebd., S. 22. 76 Ausführlicher hierzu siehe Punkt 2.3. oben. Vgl. Anonymus, Gefangenenkollektiv der CCC, aaO. (FN 49), S. 31-36. 77 Ebd., S. 308. 69
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ten die Gruppen nicht über „ein breites und öffentlichkeitswirksames Umfeld.“78 Eine dauerhafte Mobilisierung mit unterstützenden Aktionen von Sympathisanten kam nicht zustande. Neben den CCC gab es in Belgien eine zweite Terror-Gruppe: die FRAP (Front Revolutionaire d´Action Proletarienne). 1985 fanden drei Sprengstoffattentate der FRAP in Brüssel statt. Eine dauerhafte Zusammenarbeit konnte auch hier offenbar wegen ideologischer Differenzen nicht entstehen.79 Nach eigenem Bekunden der CCC war die FRAP eine Satellitengruppe der französischen Action Directe. Die CCC sah in der Gründung und Aktivität dieser Gruppe folgenden Hintergrund: „To give the illusion of a real existing „West European Guerilla Front“ as called by the RAF and AD some time earlier, and to which the CCC in Belgium (and the GRAPO in Spain) refused to join”.80 Aus der Führung der FRAP konnte Chantal Paternostre schon im August 1985 gefasst werden. Am 16. Januar 1985 konnte der 22-jährige Elektrotechniker Luc van Acker gefasst werden, der sowohl für die FRAP als auch für die CCC Zeitbomben baute. Während die Anklagen von Paternostre und van Acker auf Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation lauteten, forderten die CCC-Häftlinge für sich einen politischen Prozess.81
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Aktionismus
Als überzeugte Marxisten-Leninisten legten die CCC eine ihnen eigentümliche Systematik bei der Wahl ihrer Anschläge und Angriffsziele an den Tag: Sie führten ihre Aktionen jeweils im Rahmen von übergeordneten Kampagnen aus. Durch diese Vorgehensweise sollte ihr vorrangiges Ziel, die proletarische Revolution und die damit verbundene Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum, am schnellsten und effektivsten erreicht werden.82 Den Ausdruck „Kampagne“ definierten die CCC als „eine Serie von politisch-militärischen, bewaffneten Propagandaaktionen, die um ein Zentralthema herum bestimmt sind.“83 In der Praxis lief eine Kampagne nach Bekunden der CCC folgendermaßen ab: Die Gruppe entdeckt in den damals aktuellen politischen Geschehnissen einen scheinbaren Widerspruch, überträgt diesen auf die globale Ebene und plant schließlich eine Reihe von Aktionen zu diesem Zentralthema, um die Aufmerksamkeit der Masse zu gewinnen.84 Abgeschlossen war eine Kampagne, wenn das mit ihr verbundene Teilziel erreicht ist und die CCC ihrem Endziel nach eigenem Empfinden ein Stück näher gekommen sind.85 In Anlehnung an die Überlegungen Mao Tse Tungs verbarg sich hinter dieser Vorgehensweise die Überzeugung, dass man „von konkreten Situationen und Teilkämpfen ausgehen [muss] (Streiks, Besetzungen, militante Forderungen…), um sie auf die Gesamtheit des Problems zu bringen“86. 78
Anonymus, Gefangenenkollektiv der CCC, aaO. (FN 49), S. 308. Vgl. hierzu Strick, Belgiens „Kämpfende Kommunistische Zellen“, aaO. (FN 7), S. 124; Interview with the Cellules Communistes Combattantes, aaO. (FN 6). 80 Interview with the Cellules Communistes Combattantes, aaO. (FN 6). 81 Strick, Belgiens „Kämpfende Kommunistische Zellen“, aaO. (FN 7), S. 125. 82 Vgl. CCC, Texte 1984- 85, aaO. (FN 10), S. 41. 83 Ebd. 84 Vgl. ebd., S. 22. 85 Antiimperialistische Kampagne und Kampagne Pierre Akkerman wurden abgeschlossen, vgl. ebd.. S. 19, 42. 86 Ebd., S. 23. 79
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Die Auswahl ihrer Zielobjekte erfolgte akribisch und jedem der CCC-Anschläge haftete etwas Demonstratives und Symbolisches an. „Unlike RAF and AD, however, the CCC tended (...) to target property rather than human life, using the terrorist event as ‚armed propaganda’ for publicizing their own specific issues or causes rather than direct military tactics to achieve revolution.”87 Um Tote und Verletzte zu vermeiden, wurden kurz vor der Aktion entweder Flugblätter mit den jeweiligen Anschlagsorten in Umlauf gebracht oder es erfolgte ein Telefonanruf zur Warnung.88 Bis auf den Anschlag vom 1. Mai 1985, bei dem zwei Feuerwehrmänner getötet wurden, verhinderte diese Methode tatsächlich, dass Menschen zu Tode kamen. Das Ausbleiben von Personenschäden dürfte wohl auch ein Grund für die anfängliche Gleichgültigkeit der belgischen Bevölkerung gegenüber dem Terrorismus der CCC gewesen sein.89 Zur Rechtfertigung und um Unterstützung von Seiten der Arbeiterschaft für ihre Ziele zu erlangen, leiteten die CCC nach jedem Anschlag ein Bekennerschreiben bzw. Kommuniqué mit detaillierten, ideologisch fundierten Ausführungen über ihre Ziele und Beweggründe an die belgische Presse. Diese beinhalteten abwechselnd Aufrufe zu Arbeiteraufständen oder zu zivilem Ungehorsam, Gedanken über soziale Missstände und Zitate von Marx, Lenin, Stalin und Mao Tse Tung.90 Insgesamt drei verschiedene Kampagnen und eine Einzelaktion führten die CCC in der kurzen Zeit ihres Bestehens durch. Wie die polizeilichen Untersuchungen nach der Festnahme der vier führenden Mitglieder ergaben, waren zahlreiche weitere Anschläge, auch gegen Einzelpersonen wie den Finanzier Albert Frère und einige ehemalige Minister, geplant.91 Die Aufklärungsarbeit belegte insbesondere, dass die Aktionen nicht spontan oder unkoordiniert durchgeführt wurden, sondern im Gegenteil genauestens überlegt und vorbereitet waren. Aufgrund der durchdachten, professionell erscheinenden Vorgehensweise der CCC machten schon bald Spekulationen die Runde, nach denen die CCC nur der belgische Ableger einer internationalen Terrororganisation sein könne.92 Diese Theorie ist jedoch als bloßer Ausdruck der Hilflosigkeit und Ohnmacht der belgischen Öffentlichkeit gegenüber der neuartigen terroristischen Bedrohung zu werten.93 Von den ehemaligen CCCMitgliedern wurde sie im Nachhinein mit den Worten „[die CCC war] eine Gruppe von Revolutionärinnen in Belgien, die sich eigenständig organisiert und finanziert hat“94 entkräftet. Auch darauf, dass sie „immer mit Überlegung, Kritiken, Ordnung und Methode, ausgehend von genauen Analysen“95 handeln würden, hat die CCC bereits in einem Bekennerbrief hingewiesen.96
87
Anderson, Sean/ Sloan, Stephen, Historical Dictionary of Terrorism, London 1995, S. 70-71. Vgl. Petermann, Simon, The CCC phenomenon in Belgium: unbacked terrorism, in: Gal-Or, Noemi (Ed.), Tolerating Terrorism in the West: An International Survey, New York 1991, S. 93-104, http://www.droit.ulg.ac.be/~ogci/petermann%20article.html, Stand: 23.12.2007. 89 Vgl. ebd. 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. ebd. 92 Vgl. ebd. 93 Vgl. ebd. 94 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 14. 95 CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 41. 96 So in dem Bekennerschreiben zum Anschlag auf die Bank of America im Dezember 1985. 88
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4.1 Die antiimperialistische Oktoberkampagne Völlig unvorbereitet traf die Ankunft des Terrorismus auf dem belgischen Staatsgebiet Politiker und Öffentlichkeit. Während in anderen europäischen Staaten die jeweiligen Regierungen schon seit Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre mit terroristischen Anschlägen und schwer zu fassenden Aktivisten konfrontiert waren, blieb Belgien bis zum Oktober 1984 von politisch motivierter Gewalt verschont.97 So war die Bestürzung, vor allem aber die Unbeholfenheit groß, als am 2. Oktober 1984 ein Sprengstoffanschlag auf die US-Firma LITTON Industries in Evere erfolgte und die Polizei danach Flugblätter fand, auf denen die bis dahin unbekannten Cellules Communistes Combattantes „eine organisierte Praxis des bewaffneten politisch-militärischen Kampfes“98 in Belgien ankündigten.99 Nur einen Tag später, am 3. Oktober 1984, explodierte eine Brandbombe in der belgischen Niederlassung der MAN AG in Grand-Bigard. Nach weiteren fünf Tagen, am 8. Oktober, wurde die belgische Niederlassung der US-Firma Honeywell in Evere Ziel eines CCC-Anschlags. Als aktuellen Anlass für diese erste Anschlagserie sahen die CCC die politische Debatte in Belgien (und Europa) über die Stationierung von US-Atomraketen in Westeuropa im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses. Im belgischen Florennes sollten, sofern Regierung und Parlament zustimmen würden, 48 US-Atomraketen in Position gebracht werden. Umfragen in Belgien in den Jahren 1983/84 ergaben, dass die große Mehrheit (zwischen 76 und 78 %) der Staatsbürger gegen dieses Vorhaben war.100 Trotz empörter, aber friedlicher Massenproteste war zu erwarten, dass sich das Parlament für die Stationierung der USRaketen entscheiden würde, was die CCC als Beweis für die Ohnmacht der pazifistischen Linken ansah.101 Durch Reformismus und Revisionismus, zwei Eigenschaften, welche die belgischen Zellen den Gewerkschaften und linken Parteien vorwarfen, seien die Vorbereitungen der imperialistischen Mächte zum atomaren Krieg nicht aufzuhalten. Nur durch den bewaffneten Kampf könne die kommunistische Revolution erfolgreich sein.102 Mit den Anschlägen auf LITTON, MAN und Honeywell wählten die CCC zunächst drei multinationale Konzerne, die als Waffenhersteller bzw. –lieferanten agierten und insbesondere an der Herstellung der Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles beteiligt waren.103 In ihren Bekennerschreiben forderten die Mitglieder der CCC das Proletariat zum Kampf auf: „Gegen den imperialistischen Krieg - den Bürgerkrieg!“104 Nach diesem demonstrativen Auftakt gegen die Ökonomie wendete die CCC ihre Aufmerksamkeit dem politischen Geschehen zu: Am 15. Oktober 1984 griffen die Zellen den Sitz der liberalen Stiftung Jean Rey in Ixelles an, zwei Tage später das Büro der christlich-sozialen Partei CVP in Gand. Die Stiftung war, so die CCC, das wissenschaftliche Zentrum der liberalen Koalitionspartei und damit maßgeblich verantwortlich für die Ausbreitung der neoliberalen Lehre in der politischen Praxis.105 Die CVP war die Partei von 97
Vgl. Petermann, »The CCC phenomenon in Belgium«, aaO. (FN 87). CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 12. 99 Vgl. Strick, Belgiens „Kämpfende Kommunistische Zellen“, aaO. (FN 7), S. 125. 100 Vgl. Velpen, Jos Vander, Les CCC – L’Etat et le terrorisme, Anvers 1988, S. 41. 101 Vgl. Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 7. 102 Vgl. CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 11-14. 103 Vgl. Strick, Belgiens „Kämpfende Kommunistische Zellen“, aaO. (FN 7), S. 125, ebenso: CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 11-14. 104 Vgl. dazu die Bekennerschreiben in: CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10). 105 Vgl. Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 12. 98
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Premierminister Wilfried Martens und wurde aufgrund ihrer Regierungsfunktion angegriffen.106 Spätestens mit der Offensive gegen die politische Führung Belgiens wurde deutlich, dass die CCC eine Bedrohung für den Staat darstellten und Handlungsbedarf geboten war: So startete die Regierung am 19. Oktober 1984 mit der neu gegründeten Polizeieinheit GIA (Groupe Interforces Anti-Terrorisme) die „Operation Mammut“. Im Laufe dieses ersten staatlichen Gegenschlags durchsuchten 750 schwer bewaffnete Polizisten und Gendarmen ca. 120 Häuser und Wohnungen von Angehörigen des linken und linksextremen Milieus.107 Der Großeinsatz schwächte die terroristische Organisation jedoch kaum: „Die ‚Mammut’Operation berührte die CCC in keiner Weise. Einige Genossen, die in der Legalität arbeiteten und lebten, aber in Verbindung mit der Untergrundstruktur standen, wurden durchsucht und festgenommen, aber keine Verbindung konnte zwischen ihnen und der Organisation hergestellt werden. Die ,Mammut’-Operation ist eine Niederlage im Kampf gegen die Zellen. (…) Sie haben alles abgesucht, sie haben nichts gefunden“108, erläuterten Bertrand Sassoye und Pierre Carette in einem Interview mit Mitarbeitern der Zeitschrift „Internationale Solidarität“ im Jahr 2005. Zudem wiesen die ehemaligen Aktivisten darauf hin, dass die konspirativen Wohnungen der CCC von Gruppenmitgliedern mit gefälschten Ausweispapieren angemietet worden waren.109 Mit der Anspielung auf die Genossen in der Legalität meinten die Befragten wohl Didier Chevolet und Pascale Vandegeerde, die erst im Oktober 1985 in den Untergrund gingen und zum Zeitpunkt der „Operation Mammut“ auch noch offiziell für das Unterstützungskomitee „Ligne Rouge“ arbeiteten. Im Zuge der polizeilichen Großoffensive wurden die beiden eingehend durchleuchtet, jedoch konnte ihnen noch keine terroristische Tätigkeit nachgewiesen werden.110 Dass die „Operation Mammut“ die CCC tatsächlich nicht erschütterte, untermauerte die Tatsache, dass die Terroristen bereits am 26. November 1984 in der Lage waren, erneut einen Anschlag zu verüben: Dieses Mal zerstörte ein Sprengstoffanschlag zwei Telekommunikationsmasten des Luftwaffenstützpunktes von Bierset. Als Rechtfertigung führten sie in ihrem Bekennerschreiben an, dass in dieser Militärbasis der belgischen Armee die „Mirage 5-Jagdbomber Staffeln stationiert [seien], die zur taktischen Luftwaffe dieses Landes gehören und dem direkten Kommando der NATO (…) unterstehen.“111 Nach den Anschlägen auf scheinbare Unterstützer und Profiteure der NATO, wurde also diese nun selbst zum Ziel der CCC. Schon am 11. Dezember 1984 erfolgte ein weiterer Schlag gegen die militärischen Einrichtungen der NATO: An sechs verschiedenen Stellen gleichzeitig gingen Sprengstoffladungen in die Luft und zerstörten Teile des Ölpipeline-Netz CEPS (Central Europe Pipeline System) der NATO in Belgien.112 In ihren Ausführungen vertraten die CCC die Überzeugung, dass die NATO ihre Standpunkte in Westeuropa bewusst in Ländern gewählt hatte, in denen kein bzw. wenig Widerstand zu erwarten sei. So sei Belgien die logische Wahl gewesen, „in dem das antiimperialistische Bewusstsein schwach und politisch reformistisch, moralisch bürgerlich (…) und die Parteien an der Macht offen (pro106
Vgl. CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 15. Vgl. Vander Velpen, Les CCC, aaO. (FN 99), S. 43, ebenso; Petermann, The CCC phenomenon in Belgium, aaO. (FN 87). 108 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 13 f. 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. ebd., S. 34 f. 111 CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 17. 112 Vgl. ebd., S.42. 107
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)atlantisch“113 seien. In diesem Zusammenhang übten die CCC vehemente Kritik an den flämischen und französischsprechenden pazifistischen Organisationen in Belgien: „Indem sie uns zu einer neuen sterilen Demonstration aufrufen, mit kleinbürgerlichen Parolen, mit der reformistischen Politik des Pazifismus, sind [sie] die objektiven Totengräber der Antikriegsbewegung.“114 Aufgrund der Präzision, mit der die beiden Offensiven gegen die NATO erfolgten, verbreiteten einige Journalisten eine weitere Theorie in den Medien: Demnach sollten die CCC-Anschläge Bestandteil einer rechtsextremen Verschwörung sein. Durch die Zusammenarbeit mit Aktivisten aus den Reihen der Armee seien der CCC Lagepläne und andere Informationen über die anvisierten Militäreinrichtungen zugänglich gemacht worden. Nur so sei die minutiöse Planung und präzise Durchführung der Anschläge zu erklären, so die Meinung einiger Medienvertreter.115 Auch die Tatsache, dass der Bruder von Pierre Carette, Henri Carette, Verbindungen zur rechtsextremen Szene hatte, nährten die Gerüchte über ein rechtsextremes Komplott. Im Laufe der polizeilichen Ermittlungen wurden jedoch keinerlei Hinweise für die Richtigkeit dieser Theorie gefunden. Des Weiteren betitelten sich die ehemaligen CCC-Aktivisten auch nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis weiterhin als „kommunistische Revolutionär[e]“116 und rücken bis heute von keinem ihrer damaligen Ideale ab, so dass sich die Theorie über eine rechtsextreme Verschwörung als bloße Fiktion einordnen lässt. In einem Interview mit der linken Plattform ABC (Anarchist Black Cross) erklärte das Gefangenenkollektiv der CCC 1998 zusätzlich, dass Pierre Carette gerade aufgrund der ideologischen Differenzen keinen Kontakt zu seinem Bruder habe.117 Abgeschlossen wurde die erste umfangreiche Kampagne der CCC am 15. Januar 1985. An diesem Tag explodierte eine Autobombe in einem NATO-Zentrum in Stint-StevensWoluwee, in dem unter anderem die NATO Support Group und der US Defensive Investigate Service untergebracht waren.118 Gewidmet war die Aktion den Gefangenen der RAF, die sich zu dieser Zeit im Hungerstreik befinden. Dass sie auf die bekannten deutschen Genossen Bezug nahmen, muss aber wohl primär als geschickter Schachzug der CCC gewertet werden, um die Bekanntheit der RAF für ihre eigenen Propagandazwecke nutzen zu können.119 Noch zwei andere Ereignisse fanden am 15. Januar 1985 statt: Zum einen schlossen sich RAF und Action Directe zur „Westeuropäischen Guerillafront“120 zusammen. Wie dargestellt lehnten die CCC das „Front“-Konzept jedoch ab. Zum anderen fiel in Washington die endgültige Entscheidung, dass atomare Raketen in Westeuropa stationiert werden sollen. Der Beschluss stellt aus heutiger Sicht den Erfolg der ersten CCCKampagne in Frage, bedenkt man, dass die belgischen Aktivisten auch durch ihre Anschläge die Stationierung der US-Raketen nicht verhindern konnten. Folglich hätten die CCC keinen Grund gehabt, ihre Kampagne zu beenden. Die Terroristen werteten die Aktionsse-
113
CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 17. Ebd., S. 18. 115 Vgl. Petermann, The CCC phenomenon in Belgium, aaO. (FN 87). 116 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 11. 117 Vgl. Interview with the Cellules Communistes Combattantes, aaO. (FN 6). 118 Vgl. CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 44. 119 Vgl. Straßner, Alexander, Die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“, Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003, S. 308. 120 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 35. 114
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rie dennoch als Teilerfolg: Sie hätten „die Frage des imperialistischen Krieges wieder in ihre Matrize zurückgebracht: Die kapitalistische Produktionsweise.“121
4.2 Die Aktion am Tag der Arbeit - 1. Mai 1985 Nach Abschluss der ersten Kampagne vergingen bis zur nächsten Aktion zweieinhalb Monate. Die Gruppe nutzte die Phase, um Dokumente zu ihren ideologischen Grundlagen anzufertigen und „ihre politischen und strategischen Ansichten aus(zu)führen“122. Veröffentlicht wurden die Grundsatzdokumente mit dem Titel „Zum bewaffneten Kampf“ am 1. Mai 1985, am Tag ihres ersten Anschlags der neuen Kampagne. Bewusst wählten die Terroristen den Tag der Arbeit, einen internationalen Feiertag, für die Offensive gegen den Sitz der belgischen Arbeitgebervertretung. Trotz der üblichen Warnung mittels Flugblättern und der Aufforderung zur Evakuierung des Zielortes, betrat die Feuerwehr das Gelände und zwei ihrer Einsatzkräfte kamen bei der Explosion ums Leben.123 Zwanzig Jahre nach diesem Unglück übten die ehemaligen Mitglieder der belgischen Zellen Selbstkritik, indem sie erklären: „Das Drama des 1. Mai durfte nicht passieren, aber es ist passiert. Und das gegen den Willen und das Grundkonzept der Organisation.“124 Auch die Tatsache, dass die beiden Todesopfer nicht von der CCC gewollt waren, ändert nichts daran, dass der 1. Mai einen Umschwung der öffentlichen Meinung zur Folge hatte. Von nun an standen die CCC zunehmend einer feindlich gesinnten Öffentlichkeit gegenüber. Im Unterschied zu allen anderen ihrer Aktionen war die Offensive am 1. Mai 1985 keiner bestimmten Kampagne zugeordnet, sie blieb ein Einzelanschlag. Bis zur Eröffnung der nächsten Kampagne sollten noch weitere vier bis fünf Monate vergehen.
4.3 Die Kampagne „Karl Marx“ Mit den Parolen „Gegen den Kapitalismus und seine Krise, den Bürgerkrieg! Vorwärts in Richtung Aufbau der Kämpfenden Organisation der ProletarierInnen!“125 eröffneten die Kämpfenden Kommunistischen Zellen die Kampagne „Karl Marx“ - ihre zweite Aktionsserie. Wie der Name erahnen ließ, war es nun die soziale Frage, welche die Rechtfertigung für die erneuten Anschläge lieferte. Für die CCC stellte sich dabei vor allem die „Frage des Kampfes der Arbeiter gegen die Austerity und die der Notwendigkeit der Arbeiterorganisation“126. Eröffnet wurde die Kampagne am 8. Mai 1985 mit einem Sprengstoffanschlag gegen INTERCOM in Brüssel. Bei dem Unternehmen handelte es sich um einen Energieproduzenten und –verteiler, der von den CCC beschuldigt wurde, den Tod zahlreicher Menschen verschuldet zu haben. Indem der Konzern die Energiepreise in die Höhe getrieben habe, seien Heizungen für viele Arbeiter unbezahlbar geworden oder von den Energieunternehmen 121
CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 44. Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 37. 123 Vgl. ebd. 124 Ebd., S. 14. 125 CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 34. 126 Ebd., S. 44. 122
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zwangsweise abgeschaltet worden. Dadurch hätten viele Proletarier im Winter 1983/84 den Tod gefunden.127 Mit dem 8. Oktober 1985 wählte sie ganz bewusst das Datum der Parlamentswahlen in Belgien, welche die CCC als bloße Farce ansahen. Die Ursache der politischen Krise sei, so die CCC in einem ihrer Bekennerschreiben, im kapitalistischen System zu suchen und letztlich nur durch einen Umsturz zu beheben.128 Da Wahlen nach Auffassung der Terroristen nur ein Instrument darstellten, mit dessen Hilfe sich die „Diktatur der Ausbeuter das Alibi des repräsentativen Charakters gibt“129, forderten sie die Bevölkerung auf, „die Wahlen zu verweigern, weiß oder ungültig zu wählen, nicht am Funktionieren der bürgerlichen Macht mitzuarbeiten.“130 Die politischen Parteien wurden in Folge dessen beschuldigt, ihre Wähler ein ums andere Mal zu betrügen.131 Schon am 12. Oktober folgten zwei weitere Aktionen der Kampagne „Karl Marx“: Gleichzeitig wurden eine Niederlassung von FABRIMETAL (Unternehmerverband der Metallurgie, Maschinenbau-, Elektro- und Kunststoffindustrie) und das Steueramt in Charleroi mit einem Sprengstoffanschlag angegriffen. Beide Ziele stellten für die CCC Zentren der bürgerlichen Herrschaft dar.132 In ihrem Bekennerschreiben wiesen sie erneut auf das Ziel ihrer Kampagne hin: „Trotzdem ist es immer klarer, dass wir etwas anderes brauchen. Dafür muss man weitergehen, es ist nötig, die Einheit der Arbeiterklasse zu stärken, den Feind ohne Unterlass anzugreifen, den Marxismus-Leninismus wieder voranzustellen.“133 Am 4. und 5. November 1985 fanden die letzten Aktionen im Rahmen der Kampagne „Karl Marx“ statt: Dabei griffen die Zellen vier wichtige Kreditanstalten des Landes an und erklärten in ihrem Bekennerschreiben die Gründe: „(…) Die Finanzoligarchie und ihre klarste Aktivität, die Banken, werden als unbestreitbare und objektive Feinde des Proletariats bezeichnet, als zentrale Elemente der imperialistischen Bourgeoisie, und sie werden auch als solches behandelt.“134 Am 6. Dezember konstatierten die CCC in einem Brief an die französischen ArbeiterInnen, dass die Kampagne „Karl Marx“ noch nicht beendet ist.135 Allerdings wurden die vier führenden Mitglieder der CCC zehn Tage später in Namur von der Polizei festgenommen.
4.4 Die Kampagne „Pierre Akkerman“ „Die Könige berauschten uns mit Rauch, Frieden zwischen uns, Krieg den Tyrannen! Wenden wir den Streik gegen die Armeen an, kehren wir das Gewehr um und geben wir die Reihen auf! Wenn diese Menschenfresser hartnäckig darauf bestehen aus uns Helden zu machen, dann werden sie bald wissen, dass unsere Kugeln für ihre eigenen Generäle sind.“136 Mit diesem Zitat, der 5. Strophe der Internationale, leitete die CCC ihr erstes Kommuniqué zur Kampagne „Pierre Akkerman“ ein. Obwohl sich zu dem Zeitpunkt noch 127
Vgl. Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 42. Vgl. CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 39. 129 Ebd. 130 Ebd., S. 34. 131 Vgl. ebd. 132 Vgl. ebd., S. 35. 133 Ebd., S. 36. 134 Ebd., S. 38. 135 Vgl. ebd., S. 44. 136 Ebd., S. 36. 128
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kein Ende der Kampagne „Karl Marx“ abzeichnet, sehen sich die CCC aufgrund der damaligen Ereignisse gezwungen, „in diesem Oktober 1985, eine zweite Front zu eröffnen.“137 Zweck der parallel laufenden Kampagne soll die Bekämpfung des „bürgerlichen Militarismus und des kleinbürgerlichen Pazifismus“138 sein. Damit stand die neue Anschlagserie in der Tradition ihrer ersten antiimperialistischen Oktoberkampagne, von den CCC wurde sie auch als deren Fortsetzung angekündigt.139 Gewidmet war sie dem militanten belgischen Kommunisten Pierre Akkerman, der als Freiwilliger der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte und dort im Januar 1937 gefallen war. 140 Eröffnet wurde die Kampagne am 19. Oktober 1985 mit einem Anschlag gegen das Informationsbüro der Streitkräfte in Namur. Dieses wurde von den Terroristen als ein „Werbezentrum für die imperialistische Armee“ und als „Instrument[e] der Irreführung zahlreicher Söhne und Töchter des Proletariats“ angesehen.141 Umfangreich rechtfertigten die CCC die Eröffnung ihrer zusätzlichen Kampagne, indem sie auf die politischen Ereignisse hinwiesen: „die letzte Versammlung der Außenminister des Atlantischen Paktes in Brüssel, (…) die große Anti-Raketen Mobilisierung (…) und das nächste innerimperialistische Treffen in Genf während des Novembers.“142 In der Kritik standen dabei zunächst wieder die Organisatoren von pazifistischen Demonstrationen und Protesten gegen die weitere Aufstellung von US-Raketen. Nach Auffassung der CCC stellten gerade die friedlichen Massenveranstaltungen eine Gefahr für die Friedensbewegung dar. Die Demonstrationen gaben sie der Lächerlichkeit preis, indem sie als „Folkloredemonstration[en] mit Gebeten und sterilen Warnungen“143 abgewertet wurde. Dementsprechend folgte bereits am Tag darauf, dem 20. Oktober 1985, der nächste Anschlag: Die CCC warfen einen Molotowcocktail auf das Auto von Pierre Galand, dem Präsidenten des CNAPD (Nationales Komitee der Friedens- und Entwicklungsaktion). Als „ein Akteur ersten Ranges in der kleinbürgerlich-pazifistischen Orientierung der Massenbewegung gegen den Krieg“144 wurde er von den CCC verantwortlich gemacht für die pazifistische und regierungstreue Ausrichtung seiner Organisation. Im November 1985 griffen die CCC erneut an. Wie bereits in ihrem ersten Kommuniqué zu der Kampagne „Pierre Akkerman“ angedeutet, verübten die CCC am Tag des Treffens zwischen dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan in Brüssel mit den NATOMinistern für auswärtige Angelegenheiten (21. November 1985) einen Anschlag auf das europäische Hauptquartier von Motorola Corp. In dem Bekennerschreiben wurde die Aktion als ein „Willkommensgruß für den Repräsentanten des barbarischsten und kriminellsten Systems in der Geschichte der Menschheit“145 bezeichnet. Die Tatsache, dass Reagan zwei Tage zuvor auf dem Gipfeltreffen in Genf zusammen mit dem damaligen KPdSUGeneralsekretär Michail Gorbatschow eine gemeinsame Erklärung abgegeben hatte, in der beide Seiten zusicherten, „dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals
137
CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 36. Ebd. 139 Vgl. ebd., S. 42. 140 Vgl. Petermann, The CCC phenomenon in Belgium, aaO. (FN 87). 141 CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 36. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 45. 145 CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10) S. 40. 138
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ausgefochten werden darf“146, ließ die belgischen Terroristen unbeeindruckt. Entgegen der von den Medien propagierten Darstellung des Treffens als „Friedensgipfel“ betitelten die CCC diesen als „Kriegsgipfel“ und verschärften ihre Aussage dadurch, dass sie das Treffen mit dem Gipfel von München im Jahre 1938 verglichen.147 Der vierte Anschlag im Rahmen der Kampagne „Pierre Akkerman“ fand am 4. Dezember 1985 statt: Die CCC griff dabei den Sitz der Bank of America in Antwerpen an, die zweitgrößte Bank der Welt. Da auch im Zuge der Kampagne „Karl Marx“ schon vier Banken angegriffen wurden, folgte bei der Gelegenheit eine Erklärung der CCC zur Wahl dieser Anschlagsziele: So seien alle Kampagnen als Ausdruck des Klassenkampfes anzusehen und stünden daher dem gleichen Feind gegenüber: „dem Kapitalismus und der bürgerliche[n] Diktatur.“148 Dies sei der Grund dafür, dass der Finanzsektor im Rahmen von zwei verschiedenen CCC-Kampagnen angegriffen wurde. Abgeschlossen wurde die „Pierre Akkermann“-Kampagne mit einem erneuten Angriff auf das belgische Netz der NATO-Pipeline CEPS (Central Europe Pipeline System) in Petegem am 6. Dezember 1985. Dieser CCC-Anschlag war Teil einer größeren, international koordinierten Offensive, bei der, wie die Terroristen in ihrem Kommuniqué schrieben, eine „Gruppe internationalistischer Kommunisten“149 zeitgleich in Frankreich das Hauptquartier des CEPS angegriffen hatte. Bei den französischen Aktivisten dürfte es sich wohl um Mitglieder der Action Directe gehandelt haben, was bis heute nicht geklärt ist.150 Eine weitere Aktion gegen das Pipeline-Netz auf belgischem Territorium war in Hulssignies geplant, misslang jedoch.151 In einer Art Fazit stellten die CCC abschließend fest, dass die Kampagne „Pierre Akkerman“ die politischen und organisatorischen Fortschritte der terroristischen Gruppe deutlich gemacht habe: „Politisch beinhaltete sie eine zentrale Kritik des kleinbürgerlichen Pazifismus und damit gewann sie einen unmittelbaren taktischen Wert; organisatorisch bewies sie in der Praxis die Fortschritte der Guerilla. Die internationalistische Aktion gehört hier voll hinein, da einer der widerwärtigsten Fehler des Pazifismus der Nationalismus ist.“152
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Das Ende der CCC
Der Politikwissenschaftler Simon Petermann macht auf einen anderen Aspekt der letzten Aktion der Kampagne „Pierre Akkerman“ aufmerksam: Seiner Ansicht nach war die Wiederaufnahme der Kooperation mit der französischen Action Directe der Versuch, sich einen internationalen Fluchtweg zu schaffen.153 Diese Interpretation scheint insofern schlüssig, da die belgische Regierung nach der missglückten Operation „Mammut“ immer vehementer 146
Zitiert nach: ohne Autor, Annäherung am Kaminfeuer. Vor 20 Jahren: Gipfeltreffen von Reagan und Gorbatschow in Genf, auf: http://www.wdr.de/themen/kultur/stichtag/2005/11/19.jhtml, Stand: 28.12.2007. 147 Vgl. CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 40. 148 Ebd., S. 41. 149 Ebd., S. 42. 150 Vgl. Kjøk, shild/ Lia, Brynjar, Terrorism and oil- an explosive mixture? Survey of Terrorist and Rebel Attacks on Petroleum Infrastructure 1968- 1999, auf: http://rapporter.ffi.no/rapporter/2001/04031.pdf, Stand: 23.12.2007. 151 Vgl. CCC, Texte 1984-85, aaO. (FN 10), S. 43. 152 Ebd., S. 42. 153 Dies würde auch die lange logistische Zusammenarbeit, die offenbar noch nach dem ideologischen Bruch zwischen CCC und Action Directe bestand, erklären. Siehe Punkt 3.
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ihre Autorität zur Schau stellte und ihre Fahndungsmaßnahmen intensivierte. Auch die Öffentlichkeit unterstützte die härtere Gangart des Staates zunehmend. Spätestens seit dem Tod der zwei Feuerwehrmänner begegnete die Bevölkerung den CCC mit Skepsis: „The change in public opinion was more complex than a simple switch from surprise to fear. As a matter of fact, from evident indifference at the outset, public opinion became seriously concerned with the threat of terrorism and became increasingly insistent in its demands that the state exercise its authority to curb terrorism.”154 Dass der belgischen Polizei der Schlag gegen den CCC-Terrorismus nicht schon früher gelang, erscheint insofern erstaunlich, da die Polizeistärke Belgiens mit 30.000 Mann relativ zur Gesamtbevölkerung weit über dem europäischen Durchschnitt lag.155 Da Belgien bis zum Erscheinen der CCC jedoch weitgehend vom Terrorismus verschont geblieben war, waren die Ordnungskräfte nicht ausreichend vorbereitet und ausgestattet, um der neuen terroristischen Bedrohung entgegentreten zu können. Erst mit Gründung der Spezialeinheit GIA (Groupe Interforces Antiterrorisme) schaffte sich der Staat das erforderliche Instrument zur Terrorismusbekämpfung. Am 16. Dezember 1985 in Namur gelang der GIA schließlich mit der Festnahme der vier führenden Mitglieder der entscheidende Schlag gegen die CCC.156 Insgesamt acht Personen wurden von der Polizei in den darauf folgenden Tagen in Gewahrsam genommen. Im Rahmen einer breit angelegten Fahndungsaktion stieß die Polizei unter anderem auf konspirative Wohnungen, Fahrzeuge, Waffen, Munition, gefälschte Papiere und Ausweise der CCCMitglieder. Auch „Straßenkarten, die Kartenpläne der NATO-Pipeline (…) und Listen mit Namen und Wohnbeschreibungen führender Politiker und Wirtschaftler mit Premier Wilfried Martens an der Spitze“157 wurden gefunden. Wie sich in der Folgezeit herausstellte, war an diesem Tag die Ära der CCC bereits nach 14 Monaten abrupt zu Ende gegangen. Die Festnahme der Führungsriege erwies sich als entscheidender Schlag, von dem sich die CCC nicht mehr erholten. Auch die letzten Versuche, die CCC bestehen zu lassen oder gar sie wieder zu beleben, scheiterten: im Juni 1986 wurde ein Sympathisant der Ligne Rouge festgenommen, der mit dem Wiederaufbau der CCC beschäftigt war. Im Sommer löste sich die Ligne Rouge auf: „Infiltrierter Bulle entdeckt, Führung wird «gesäubert»“158. Das Fehlen von Führungskräften, die Zusammenarbeit einzelner Mitglieder mit der Polizei und die Unterwanderung der Organisation durch die Behörden, fand so ihre logische Konsequenz in der Aufgabe des bewaffneten Kampfes.159 „In den Monaten und Jahren, die auf unsere Verhaftung und den Zusammenbruch der Untergrundorganisation folgten, sind die Cellules beim Versuch ihres Wiederaufbaus gescheitert. Der Kampf wurde nicht fortgeführt.“160
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Die CCC heute
Die Zeit im Gefängnis stellte eine harte Belastung für die CCC-Inhaftierten dar: Von Beginn an wurden sie vollständiger Isolationshaft unterworfen, waren in unterschiedlichen
154
Petermann, The CCC phenomenon in Belgium, aaO. (FN 87). Vgl. ebd. 156 Vgl. Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 45 f. 157 Strick, Belgiens „Kämpfende Kommunistische Zellen“, aaO. (FN 7), S. 127. 158 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 22. 159 Vgl. ebd., S. 46. 160 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 48. 155
Die Belgischen Kommunistischen Zellen
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Gefängnissen untergebracht und durften weder Post noch Besuch empfangen.161 Um eine Milderung der Haftbedingungen zu erzwingen, traten sie zweimal in Hungerstreik: Der erste Streik im Mai 1986 dauerte 43 Tage und brachte die Inhaftierten knapp an die Grenzen ihrer Überlebensfähigkeit. Einen weiteren Streik initiierten die Gefangenen im September 1988 unmittelbar vor ihrem Prozessbeginn. Mit der Gerichtsverhandlung endete schließlich die Zeit der Isolationshaft für die CCC.162 Alle vier Führungsfiguren der CCC wurden am 16. Dezember 1988 zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach Prozessende war es den Gefangenen zwar erlaubt, Arbeitstreffen abzuhalten163 und Post zu empfangen, ihren eigenen Aussagen zufolge standen sie jedoch unter stärkerer Beobachtung als andere Häftlinge. Diese Angabe wird von der Tatsache untermauert, dass die CCC-Mitglieder nicht wie üblich - der Gefängnisverwaltung unterstanden, sondern ein spezielles Komitee des Justizministeriums für sie zuständig war und ihre Briefkontakte offenbar durchgehend überwacht wurden.164 An ihrer Ideologie und ihren Überzeugungen, an den „Prinzipien des MarxismusLeninismus, [den] Ziele[n] der Proletarischen Revolution und dem Aufbau des Sozialismus“165 hielten die Gefangenen unbeirrbar fest. Auch die NATO war für die CCCHäftlinge weiterhin eine „kriminelle Organisation“166. Als Gefangenenkollektiv gründeten die ehemaligen CCC-Mitglieder unter anderem die „Internationale Plattform für revolutionäre Gefangene“, verfassten zahlreiche Briefe und Stellungnahmen zu ihrer Ansicht nach politisch brisanten Themen und gaben Interviews.167 Sie selbst erhielten allerdings nur wenig Unterstützung von nationalen und internationalen Genossen. Lediglich einige Anarchisten und die „Organisation der Eltern und Freunde der Kommunistischen Gefangenen“ (APAC) bekundeten ihre Solidarität mit dem Gefangenenkollektiv der CCC. Aus der linksextremen Szene Belgiens kam keine Reaktion, was für die CCC ein weiterer Beweis dafür war, dass die linken Bewegungen und Organisationen des Landes bereits ein Teil des verhassten und korrupten Systems geworden waren.168 Die Tatsache, dass große Protestaktionen gegen die Haftbedingungen der CCC-Terroristen ausblieben, wurde von der Forschung unter anderem auf den „ideologischen Dogmatismus“169 der Gruppe zurückgeführt. Solidaritätsbekundungen erhielten die belgischen Terroristen hingegen aus dem internationalen linken Milieu. Der CCC-Aktivist Didier Chevolet sagte sich im Sommer 1995 vom Kollektiv los und entschied sich dafür, dass sein Fall von da an „individuelle et apolitique“ 170 behandelt wer161
Vgl. APAC, Informationen zur aktuellen Situation des Gefangenenkollektivs aus den kämpfenden kommunistischen Zellen, auf: http://www.rote-hilfe.de/layout/set/print/publikationen/die_rote_hilfe_zeitung/ 1999/3/informationen_zur_aktuellen_situation_des_gefangenenkollektivs_aus_den_kaempfenden_kommunistisch en_zellen_ccc , Stand: 28.12.2007. 162 Vgl. Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 9. 163 Diese Arbeitstreffen dienten dazu Stellungnahmen zu politischen Ereignissen zu verfassen, wie beispielsweise 1992 zur Entmilitarisierung der RAF. Sie Punkt 2.3. 164 Vgl. Interview with the Cellules Communistes Combattantes, aaO. (FN 6). 165 APAC, Informationen zur aktuellen Situation des Gefangenenkollektivs aus den kämpfenden kommunistischen Zellen, aaO. (FN 159). 166 Ebd. 167 Vgl. ebd., S. 5. 168 Vgl. Interview with the Cellules Communistes Combattantes, aaO. (FN 6). 169 Petermann, “The CCC phenomenon in Belgium”, aaO. (FN 87). 170 Ohne Autor, Entrevue avec les prisonniers des Cellules Communistes Combattantes (Juin 2000), auf: http://apa.online.free.fr/article.php3?id_article=39, Stand: 27.12.2007.
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den sollte. Seine Distanzierung von den Ideen und Methoden der CCC ermöglichten ihm die Freilassung nach zehn Jahren Gefängnis.171 Üblicherweise gilt im belgischen Strafrecht, dass bei lebenslänglichen Haftstrafen nach zehn Jahren Gefängnis automatisch „das Gesetz über die Freilassung auf Bewährung“172 angewendet wird. Die Freilassungskommission, welche die Entscheidungsbefugnis über die Entlassung auf Bewährung innehatte, lehnte die Anträge der CCC-Terroristen wiederholt ab oder verzögerte das Verfahren. So war Pascal Vandegeerde zeitweise die älteste belgische Gefangene.173 Im Jahr 2000 wurden schließlich Vandegeerde und Bertrand Sassoye entlassen. Der mutmaßliche ehemalige Kopf der CCC, Pierre Carette, musste weitere drei Jahre - bis zum 23. Februar 2003 - im Gefängnis bleiben. Heute sind die vier führenden CCC-Aktivisten wieder frei und haben ihren Platz in der Gesellschaft gefunden. Wie nicht anders zu erwarten, sind sie ihrer marxistisch-leninistischen Ideologie treu geblieben und haben ihren Kampf für den Kommunismus nach der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen wieder aufgenommen: Sie engagieren sich im Secours Rouge (Rote Hilfe)/Belgien, im marxistischleninistischen Block, in der Kommission für die Internationale Rote Hilfe und sehen darin ihre programmatische und ideologische Kontinuität gewahrt.174 Mit einem erneuten Aktionismus in Form von Anschlägen ist dabei nicht zu rechnen. In Rückschau auf die kurze Ära der CCC bestätigen die ehemaligen Aktivisten, dass die Organisation zerstört wurde und suchen die Gründe für das Scheitern der terroristischen Bewegung bei sich selbst: „Im Spezialfall der CCC lagen die Grenzen an unserer eigenen Unfähigkeit, rechtzeitig auf eine militärische Entartung zu reagieren.“175 Diese Aussage muss als Anspielung auf den schwindenden Rückhalt in der belgischen Bevölkerung gedeutet werden. Die CCC hatten sich – wie zahlreiche ihrer sozialrevolutionären Schwesterorganisationen in Westeuropa – zunehmend auf den militärischen Aspekt ihrer Aktionen konzentriert und dabei nicht genügend auf die „Verankerung der Organisation in der Klasse“176 geachtet. Doch auch wenn die ehemaligen Aktivisten das Scheitern der CCC anerkennen mussten, so sind sie heute doch weiterhin von der Richtigkeit des historischen Determinismus von Karl Marx überzeugt.177 Im November 2005 beantworteten die ehemaligen Terroristen die Frage nach der revolutionären Zukunft im Stile orthodoxer Kommunisten: „Früher oder später (ob wir es mitbekommen oder nicht ist eine andere Sache), wird der revolutionäre Kampf von Neuem mit seiner Offensive beginnen: es ist die Geschichte, die uns das aufdrängt (…) ja, davon sind wir überzeugt. (…) Wir sind überzeugt davon, dass die CCC die richtigen Fragen gestellt haben, auf die man Antworten finden muss.“178
171
Vgl. ebd. APAC, Informationen zur aktuellen Situation des Gefangenenkollektivs aus den kämpfenden kommunistischen Zellen, aaO. (FN 159). 173 Vgl. ebd. 174 Vgl. Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 10. 175 Ebd., S. 9. 176 Ebd. 177 Siehe dazu den Beitrag von Benjamin Zeitler in diesem Band. 178 Bulletin der Roten Hilfe, aaO. (FN 1), S. 16. 172
Perzipierter Weltbürgerkrieg: Rote Armee Fraktion in Deutschland Rote Armee Fraktion in Deutschland
Alexander Straßner
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Aktualität des Vergangenen
Die „Rote Armee Fraktion“ war die bedeutendste terroristische Organisation in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Feststellung betrifft dabei nicht nur Attentate und Opfer der Gruppe, sondern auch ihre politisch-kulturellen Nachwirkungen. In einer unerwartet emotionalen und nicht selten irrational geführten Debatte um die Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar im Winter 2007 wurde deutlich, dass das „Trauma“1 RAF die Bundesrepublik auch zehn Jahre nach der Selbstauflösung 1998 in gesellschaftliche Kontroversen stürzt.2 Zeitgleich ist in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem RAFTerrorismus der siebziger und achtziger Jahre die Tendenz sichtbar geworden, dass die Organisation zu einem Bestandteil der politischen Kultur avanciert ist. Neben diversen, stets kontrovers diskutierten Ausstellungen wurden auch mehrere filmische Abhandlungen präsentiert und Bühnenversuche unternommen, Aktionen und Konsequenzen des Terrorismus zu beleuchten, auf der Basis von Fakten ebenso wie rein fiktiver Natur.3 Die Gründe für die hohe Resonanz, die auch noch so geringfügige oder in ihrer Bedeutung nachrangige Nachrichten oder Erkenntnisse auslösen, sind vielfältig. Eine Ursache ist sicher die Tatsache, dass der bewaffnete Widerstand aus der Gesellschaft selbst hervorging, mithin sogar aus dem Bürgertum, ein in der spezifisch deutschen, politisch-kulturellen Tradition ungekannter Aspekt. Daneben ist aber auch von Bedeutung, dass zahlreiche Fragen die RAF betreffend bis heute ungeklärt sind. Zahlreiche, und weitgehend allesamt widerlegte, Legenden ranken sich um die Todesumstände verschiedener Inhaftierter, um Verbrechen der achtziger Jahre und haben mehr als zweifelhafte, aber gut vermarktbare Literatur hervorgebracht, die aber keineswegs RAF-typisch sind.4 Darüber hinaus zeitigte 1
So Greiner, Ulrich, Klammheimliche Freunde, in: Die Zeit Nr. 13/2007, S. 3. Dabei bedeutete die von der Organisation selbst gesetzte Zäsur für die Publizistik und (Populär-)Wissenschaft eine Gelegenheit, zusammenfassende Gesamtbeurteilungen zur Geschichte der RAF abzufassen. Siehe dazu Winkler, Willi, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007; Peters, Butz, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004; Pflieger, Klaus, Die Rote Armee Fraktion. 14.5.1970-20.4.1998, Baden-Baden 2004. Die Erklärung ist abgedruckt in IG Rote Fabrik (Hrsg.), Zwischenberichte. Zur Diskussion über die Politik der bewaffneten und militanten Linken in der BRD, Italien und der Schweiz, Berlin 1998, S. 217-237. Eine kritische Diskussion der Auflösungserklärung ist nachzulesen in Straßner, Alexander, Die dritte Generation der RAF. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003, S. 256-265. 3 Siehe dazu Kreitmeier, Klaus, Die RAF und der deutsche Film, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Band 2, S. 1155-1170. Allgemein zur medialen Inszenierung der RAF siehe Elter, Andreas, Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt am Main 2008. 4 Terrorismus und Verschwörungstheorien sind dabei zwei Seiten einer Medaille. Die Tatsache, dass terroristische Organisationen schon aufgrund quantitativer Aspekte auf Medienwirksamkeit angewiesen sind, hat im Falle terroristischer Niederlagen dazu geführt, eigene Todesopfer umzufunktionieren zu Märtyrern, die von staatlichen 2
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Alexander Straßner
der RAF-Terrorismus vor allem im Verlauf seiner aktivistischen Hochphase 1977 erhebliche psychologische Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Nicht nur spielte dabei die sechswöchige Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer eine dominante Rolle, auch die Reaktion der staatlichen Behörden, die nicht selten den Eindruck erweckten, es gebe eine fundamentale Bedrohung für die staatliche Kohäsion, leistete einen entscheidenden Beitrag zur Eskalation der Ereignisse. Die öffentliche Aufgeregtheit bleibt dabei aber nicht nur auf die Ereignisse und personellen Verbindungen innerhalb der Organisation beschränkt, auch bezüglich der Entstehungsursachen herrscht weder in der Wissenschaft noch in der Öffentlichkeit Einigkeit.
2
Entstehungsumstände: Am Anfang war die Studentenbewegung?
Die Feststellung, dass die RAF ohne die Studentenbewegung der Jahre 1965 bis 1968 nicht denkbar war, scheint auf den ersten Blick eine Banalität, gilt sie doch auch für die anderen terroristischen Organisationen in der Bundesrepublik. Gerade um die Frage, ob es einen monokausalen Zusammenhang zwischen RAF und Studentenrevolte gibt, hat sich allerdings eine Kontroverse in verschiedenen Wissenschaftszweigen heraus kristallisiert. Ob ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Studentenbewegung und Terrorismus besteht, ist heute nicht mehr Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses. Im Zentrum der zeithistorischen Analysen steht vielmehr die Frage, ob Gedanken einer bewaffneten Opposition nicht vor die Zeit der Studentenrevolte zurückreichen.5 Die Frage, ob der Terrorismus in der Bundesrepublik eine logische Folge der Studentenbewegung6 war oder nur ein „Zerfallsund damit faschistischen „Killkommandos“ ermordet worden waren. Am Beispiel der RAF siehe dazu Wisnewski, Gerhard/ Landgraeber, Wolfgang/ Sieker, Ekkehard, Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen, München 1997. Am Beispiel der Roten Brigaden und der Entführung und Ermordung des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro siehe dazu Kellmann, Klaus, Der Staat lässt morden. Politik und Terrorismus – heimliche Verbündete, Berlin 1999. Die einzig wissenschaftlich basierte Auseinandersetzung mit der Thematik erfolgt bei Ganser, Daniele, NATO`s secret armies. Operation Gladio and terrorism in Western Europe, Abingdon 2005. Unglückseligerweise ist auch prinzipiell beachtenswerte Literatur in einigen Verlagen aus Vermarktungszwecken bewusst belletristisch gehalten. Die ertragreichen Ansätze geraten damit auch durch bewusst reißerische Titel unfreiwillig in die Nähe zur Verschwörungsliteratur. Siehe zu diesem Beispiel etwa Napoleoni, Loretta, Die Ökonomie des Terrors. Auf den Spuren des Dollars hinter dem Terrorismus, München 2003. Zur Problematik allgemein siehe Straßner, Alexander, Terrorismus zwischen Einebnung und Generalisierung, in: Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 2006, (Band 18), BadenBaden 2007, S. 284-293. 5 Siehe dazu besonders Kraushaar, Wolfgang, Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, in: Ders. (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Band 1, S. 218. Die Hypothese geht von einer mehr individuellen Prägung militanten Widerstandes aus denn gruppendynamische Theorien. Insofern geraten dementsprechend frühe Zeugnisse der Aktivisten in den Fokus der Wissenschaft. Und in der Tat lassen sich bei deren Analyse neben eindeutigen Hinweisen auf militante Veranlagungen teilweise auch humoristische Ansätze erkennen, die zwar auf eine spätere terroristische Aktivität keinen Fingerzeig geben, aber doch eine gewisse Beschreibung des subkulturellen Milieus um die Studentenbewegung herum vermitteln. So schrieb etwa Brigitte Mohnhaupt vor ihrem Gang in den Untergrund an einen damaligen Bekannten die briefliche Schlussformel: „Gruß und Kuß, bleib sauber, setz mir keine Kinder in die Welt, krieg keinen Spießerbauch, heirate nicht zu früh, schmeiß fleißig Stinkbomben in die Uni, das schadet nie und ist auch ein Argument (…).“ Mein Dank an dieser Stelle gilt Herrn Gerhard Thutewohl für die Überlassung des Briefes sowie seiner Tochter Julia Thutewohl, einer meiner Studentinnen, die den Brief in einem meiner Seminare zur RAF einzubringen bereit war. 6 Bereits die Bezeichnung als Studentenbewegung ist unzutreffend. In der Tat ging die Initiative von intellektuellen und studentischen Kreisen aus, griff dann aber rasch auf andere gesellschaftliche Gruppen (Schüler, Lehrlinge) über. Siehe dazu Rabert, Bernhard, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis
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produkt“7, bleibt bis heute heftig umstritten und ist aus dieser Warte letztlich nur eine Anschlussfrage. Während Langguth8 überzogen davon spricht, dass die RAF ohne die Studentenbewegung nicht denkbar gewesen wäre, verbieten sich für Steinert9 einfache UrsacheWirkungs-Verhältnisse in Ermangelung gesicherter theoretischer Erkenntnisse. Unwidersprochen ist aber sowohl bei ehemaligen führenden Vertretern der Studentenbewegung ebenso wie bei ihren heftigsten Kritikern die Tatsache, dass die Entstehung terroristischer Organisationen ohne die Studentenbewegung nicht erklärbar ist. Die Aussage, dass „am Anfang (…) die Studentenbewegung [war]“10, ist damit ebenso zutreffend wie problematisch. In der Tat standen die gesellschaftliche Sensibilisierung und die grundlegende Infragestellung tradierter Werte nur durch das Aufbegehren gesellschaftlicher Eliten überhaupt zur Debatte. Daraus eine monokausale Notwendigkeit hin zu terroristischen Aktionen abzuleiten wird der Komplexität der Entwicklungen aber nicht gerecht. Schließlich liefern eindimensionale Erklärungen kaum befriedigende Antworten auf die Frage, wieso der anfänglich verfolgte Pazifismus in eine militante Eskalationsstrategie mündete. Ebenso wenig kann so erklärt werden, weshalb die Militanz durch einzelne Gruppen noch fortgeführt wurde, als die Studentenbewegung längst zerfallen war. Während verschiedentlich Autoren eine direkte Verbindung zwischen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und dem sich formierenden Terrorismus konstatierten11, war das Gros der Wissenschaftler der Ansicht, dass der Weg von der Protestbewegung zum sozialrevolutionären Terrorismus nicht linear gewesen war: Allein eine radikalisierte Minderheit der Studenten fand sich bereit, in stereotyp extremistischer Unduldsamkeit die eigenen Ziele mittels erheblicher Gewaltanwendung zu verfolgen.12 Die einzelnen Stationen von der friedlichen Studentenbewegung hin zum Terrorismus lesen sich wie eine sukzessive Aneignung militanter Strategien. Ab 1965 kam es zu relativ schwach organisierten und spontanen Protestkundgebungen. Vor allem in Berlin erhitzten sich die studentischen Gemüter zunächst an der Tatsache, dass die juristische Fakultät der Freien Universität angesichts der hoffnungslosen Überfüllung der Hörsäle mit der Einführung einer Studienhöchstdauer und Zwangsexmatrikulationen begonnen hatte. Der Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Tschombé, der für die Hinrichtung Patrice Lumumbas (dem deutschen Studentenführer Rudi Dutschke zufolge der „bedeutendste afrikanische Revolutionär“) verantwortlich gemacht wurde, bot eine erste Gelegenheit, den Protest in politische Bahnen zu lenken und angesichts der Illegalität der Demonstration den
heute, Bonn 1995, S. 89. Aktuell dazu siehe Straßner, Alexander, Die 68er-Bewegung und der Terrorismus in der Bundesrepublik, in: Historisch-Politische Mitteilungen Nr. 14/2007, S. 99-119. 7 So Straßner, Die dritte Generation der Roten Armee Fraktion, aaO. (FN 2), S. 426. 8 So der ehemalige RCDS-Vorsitzende und CDU-Bundestagsabgeordnete Langguth, Gerd, Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983, S. 32. Ebenfalls problematisch eindimensional Ders., Mythos `68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke. Ursachen und Folgen der Studentenbewegung, Bonn 2001. 9 Steinert, Heinz, Erinnerungen an den „linken Terrorismus“, in: Hess, Henner (Hrsg.), Angriff auf das Herz des Staates Band I, Frankfurt am Main 1988, S. 15-54, hier besonders S. 19. 10 Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1996, S. 220. 11 Erstaunlich in dieser Hinsicht ist auch die kaum zu beobachtende Differenzierung in einigen Publikationen. Obwohl das (in-)offizielle Gründungsdatum der RAF auf den 14.05.1970, der Befreiung Andreas Baaders aus dem Institut für soziale Fragen in Berlin, allgemein anerkannt ist, werden die ersten Gewaltereignisse, die noch im Rahmen der Studentenbewegung stattfanden, bereits der RAF-Geschichte zugeordnet. Siehe dazu Pflieger, Klaus, Die Rote Armee Fraktion - RAF. 14.5.1970 bis 20.4.1998, Baden-Baden 2004, S. 15-19. 12 So Rabert, Links und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik, aaO. (FN 6), S. 89.
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Alexander Straßner
„Beginn der Kulturrevolution“ (Dutschke) in der Bundesrepublik einzuläuten.13 Teile der Studentenbewegung hatten ohnehin durch eine romantisierende Fraternisierung mit dem Vietkong die bewusste Provokation zur staatlichen Ordnungsmacht gesucht, zu der man sich nun auch aus innenpolitischen Gründen in Fundamentalopposition zu stellen gedachte. Das dynamisierende Element, das die Studentenbewegung zur Massenbewegung anschwellen ließ, war die Bildung einer Großen Koalition auf Bundesebene unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (1966-1969). Die Tatsache, dass eine echte parlamentarische Opposition angesichts der strukturellen und quantitativen Schwäche der FDP im Bundestag nicht mehr gewährleistet werden konnte, ließ die Aktivität auf den Straßen weiter zunehmen, verstand man sich doch nun als „Außerparlamentarische Opposition“, die auch über das nötige Rüstzeug verfügte, um auf die eigenen Anliegen aufmerksam machen zu können und erste antiparlamentarische Züge beinhaltete. Zum Gegenstand der Protestbewegung wurden auch einzelne gesetzliche Maßnahmen der Regierung Kiesinger wie die so genannten „Notstandsgesetze“, die eine schrittweise Entmachtung des Parlamentes in Krisenzeiten beinhalteten. Dazu gesellte sich der Umstand, dass angesichts des ersten wirtschaftlichen Einbruchs seit Gründung der Bundesrepublik “neoliberale“ Wirtschaftskonzeptionen unter den Studenten zunehmend in Misskredit gerieten. Außerdem wurde die Auseinandersetzung mehr und mehr in den Medien ausgetragen und von diesen nicht unwesentlich beeinflusst bzw. angefacht. In den Augen der Studenten war die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik mehr und mehr durch die konservative Springer-Presse manipuliert.14 Angesichts der Manipulationen durch den latent faschistischen Staat leiteten die Aktivisten zunehmend die Legitimation für ihre Handlungen aus den philosophischen Schriften Herbert Marcuses15 ab, die dieser aber auch als strikt gegen die real existierenden sozialistischen politischen Systeme gerichtet sehen wollte.16 Die Tatsache, dass die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Legalität und Illegalität als Argument für die eigene Gewaltsamkeit missbraucht wurde, bot einen ersten Vorgeschmack auf die terroristischen Exzesse und ihre ideologische Rechtfertigung. Ab 1967 kam es zu Massendemonstrationen, deren Beweggründe sich nun auszudifferenzieren begannen. Neben den Protesten gegen die in den Augen der Demonstranten verkrustete Struktur an deutschen Universitäten („Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“) beinhaltete die Revolte auch das Selbstbewusstsein, in leninistischavantgardistischer Lesart die treibende gesellschaftliche Kraft zu sein. Die terroristische Subkultur in der Bundesrepublik war das Ergebnis der letzten Phase der Erhebung ab 1968/1969, in welcher die Studentenbewegung sich in mehrere Faktionen gespalten hatte, 13
Siehe dazu Bartsch, Günter, Anarchismus in Deutschland, Band II/III 1965-1973, Hannover 1973, S. 22. Vgl. dazu Kailitz, Susanne, Von den Worten zu den Waffen? Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007. Siehe dazu in Aufsatzform: Dies., Auseinandersetzungen mit der Gewalt. Frankfurter Schule, Studentenbewegungen und RAF, in: Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie2004, Baden-Baden 2004, S. 83. Siehe zum grundlegenden Zusammenhang zwischen Frankfurter Schule und Terrorismus auch Kraushaar, Wolfgang (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Hamburg 1998. 15 Seine Synthese aus Karl Marx und Sigmund Freud („Psychomarxismus“) diente der Verstärkung der Abhängigkeitsperzeption von ökonomischen Grundprämissen. Siehe dazu Marcuse, Herbert, Der eindimensioniale Mensch, Berlin 1967, besonders S. 267. Zusammenfassend Ders., Die Studentenbewegung und ihre Folgen (Nachgelassene Schriften Bd. IV), hrsg. von Peter- Erwin Jansen, Springe 2004. Siehe dazu auch den Beitrag von Philip Gursch in diesem Band. 16 Siehe dazu die harsche Kritik von sozialistischen Intellektuellen in den osteuropäischen Staaten in den sechziger und siebziger Jahren in Bartsch, Anarchismus in Deutschland, aaO. (FN 13), S. 29. 14
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darunter einen Teil, der den von Dutschke eingeforderten „langen Marsch durch die Institutionen“17 antreten und das politische System von innen reformieren wollte, und einen Teil, der aus radikalisierten Individuen bestand, welchen die prognostizierte evolutionäre Überlegenheit des eigenen Gesellschaftsmodells zu langfristig konzipiert war. Aus diesen Splittergruppen entwickelten sich nach und nach die auf unterschiedliche Theorie- und Ideologiefragmente zurückgreifenden terroristischen Gruppierungen der beginnenden siebziger Jahre. Die bedeutendste diese Splittergruppen war der anarchistisch motivierte “Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“, der „Freiräume für ungestörten Rauschgiftgenuß“ erobern wollte.18 Angetrieben von den Splittergruppen änderte sich die Qualität der Proteste. So erlebte die studentische Protestbewegung erste symbolische und manifeste Gewalteskalationen. Während die bisherigen Proteste stets gewaltfrei und teilweise auch subtil ironisch verlaufen waren, wurde der Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Horatio Humphrey zu einem Höhepunkt der Gewalt mit schweren Sachbeschädigungen.19 Einer der entscheidenden, die Ereignisse dynamisierenden Höhepunkte der Studentenproteste forderte mit Benno Ohnesorg, der durch die Polizei im Rahmen einer Demonstration gegen das persische Schah-Regime erschossen wurde, ein erstes Todesopfer.20 Das Datum des tödlichen Schusses, der 2. Juni 1967, diente der „Bewegung 2. Juni“ letztendlich zur Namensgebung und Eigenlegitimation. Auch organisatorisch begann die Studentenbewegung damit aus dem Ruder zu laufen. Für den SDS bedeutete der Tod Ohnesorgs einen Zustrom an Mitgliedern und Aktivität, den er nicht mehr zu fassen vermochte. Die terroristische Initialzündung erlebte die linksmilitante Szene mit der Frankfurter Kaufhausbrandstiftung, im Verlauf derer die Kerngruppe der späteren ersten Generation der RAF zusammengeführt wurde. Die beteiligten Personen lesen sich wie ein „Who is Who“ der späteren RAFFührungsebene: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Thorwald Proll legten einen Brandsatz in einem Frankfurter Kaufhaus. Auch wenn trotz immensen Sachschadens niemand verletzt worden war, bedeutete die sich anschließende Distanzierung des SDS von der Tat doch einen Vorgeschmack auf die Verselbständigung der Militanz und den Weg, den der Protest sich nun zu bahnen andeutete. Den Prozess gegen die unmittelbar danach Verhafteten versuchten sie in ein Tribunal gegen das moralisch wie politisch diskreditierte System der Bundesrepublik umzufunktionieren, in dem sich bereits die später deutlich zutage tretenden Züge terroristischer Selbstmandatierung abzeichneten: „Wir taten es aus Protest gegen die Gleichgültigkeit, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusehen.“21 Nach der Befreiung Andreas Baaders aus dem Institut für soziale Fragen in Berlin machten sich die bis dahin eher lose miteinander verbundenen Aktivisten an den Aufbau einer schlagkräftigen Organisation und Logistik. 17
Prägekraft entwickelte dieser Teil der Studentenbewegung vor allem auch hinsichtlich der SPD. Durch die Linkswende der Hochschulgruppen und der Jusos trat die SPD in eine Phase gesteigerter innerparteilicher programmatischer Grundsatzentscheidungen ein. Siehe dazu Gebauer, Annekatrin, Der Richtungsstreit in der SPD. Seeheimer Kreis und Neue Linke im innerparteilichen Machtkampf. Mit einem Geleitwort von Helmut Schmidt, Wiesbaden 2005, S. 110-113. Zur Bilanz de Strategie siehe Faber, Richard, Die Phantasie an der Macht? 1968. Versuch einer Bilanz, Hamburg 2002. 18 Zitiert nach Horchem, Hans-Josef, Extremisten in einer selbstbewussten Demokratie. Rote Armee Fraktion, Rechtsextremismus, der lange Marsch durch die Institutionen, Freiburg im Breisgau 1975. 19 Aust, Stefan, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1997, S. 47-50. 20 Vgl. dazu Peters, Butz, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004, S. 91. 21 Aust, Baader-Meinhof-Komplex, aaO. (FN 19), S. 69.
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Alexander Straßner Zwischen Hierarchie und Zellenstruktur: Die Organisationslogik der RAF
In struktureller Hinsicht war die RAF weitgehend eine klassisch hierarchische Organisation, mit einer Kommandoebene an der Spitze, an die sich zu Beginn eine („Sympathisanten“), ab Mitte der achtziger Jahre mehrere nachgeordnete Ebenen an Unterstützern anschlossen. Damit einher ging eine Aufgabendelegierung von der Kommandoebene an untere Ebenen und Sympathisanten. Die Komplexität der Binnenstruktur erwies sich dabei zunächst als Vorteil für die RAF, da sie es den Behörden massiv erschwerte, erfolgreiche Gegenmaßnahmen einzuleiten. Als Kommandoebene wurde die Gruppe der aus der Illegalität heraus operierenden Personen verstanden. Ihre Mitglieder lebten im Untergrund unter falschen Namen und waren ausgerüstet mit gefälschten Pässen.22 Um das eigene finanzielle Auskommen und den bevorstehenden Aktionismus zu sichern, waren Banküberfälle das probate Mittel der RAFKommandos. Jedoch betrachteten sie derlei Aktivitäten niemals als kriminelles Phänomen, sondern als legitime „Enteignung“ und die Zuführung materieller Güter zu einem gerechten Zweck, in marxistischer Diktion als „Expropriation der Expropriateure“. Die Kommandoebene war zuständig für Mordanschläge, in ihrer eigenen Diktion „militärische“ Anschläge mit dem Ziel der Tötung von Personen oder für Anschläge auf Objekte mit Personenschäden.23 Sie allein war aufgrund ihrer Avantgardestellung befugt, über die Durchführung einer Aktion zu entscheiden, wobei alle im Untergrund lebenden Mitglieder gemeinsam über eine geplante Aktion abstimmten. Daraus ergab sich die Kenntnis jedes einzelnen Kommandomitglieds über bevorstehende Aktionen sowie deren Durchführung als Sprengstoffanschlag oder als Erschießungsaktion, außerdem fungierte die Teilnahme an der Abstimmung als Einverständniserklärung zu der jeweiligen Aktion. Daneben hatten die Stimmen der einzelnen Mitglieder offensichtlich nach Dauer der Zugehörigkeit, Erfahrung und Persönlichkeit unterschiedliches Gewicht.24 Die am längsten der Organisation zugehörigen und militantesten Kämpfer bildeten dabei innerhalb der Kommandoebene diejenige Fraktion, die das absolute Gestaltungsrecht innehatte (im RAF-Jargon: „die mit den Hüten“). Ansätze einer zellularen Organisationsform waren aber bereits innerhalb der Kommandoebene erkennbar: Über die Einzelheiten des Anschlages waren lediglich die ausführenden Mitglieder des jeweiligen Kommandos informiert. Sinn dieser „need-to-know“-Regel war es, bei Verhaftungen anderer Angehöriger der Kommandoebene mögliche Aussagen über bevorstehende Aktionen zu verhindern.25 In enger Kooperation mit der Kommandoebene befand sich eine Gruppe von 20-50 Personen, die als „Kämpfende Einheiten“, „Illegale Militante“ oder auch szeneintern als „Antiimps“ bezeichnet wurde. Sie bestand aus Personen, die offenkundig zu jedem Zeitpunkt bereit waren, eine durch Verhaftungen oder Tötungen geschrumpfte Kommandoebene personell aufzufüllen und damit den Gang in den Untergrund anzutreten.26 Der Eintritt in 22
Backes/ Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik, aaO. (FN 13), S. 239. Zachert, Hans-Ludwig, Aktuelle Probleme des Terrorismus in der Bundesrepublik, in: TerrorismusInformationsdienst Nr. 1/1991, S. 4. 24 Vgl. dazu die Urteilsschrift des Oberlandesgerichts Stuttgart gegen Eva Sybille Haule-Frimpong vom 8. November 1988, S. 19. 25 So die Ausführungen in der Urteilsschrift des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main gegen Eva Sybille Haule vom 28. April 1994, S. 31/32. Die Erkenntnisse stützten sich auf Aussagen der inhaftierten RAF-Mitglieder Pohl, Mohnhaupt und Möller; S. 47/48. 26 Boge, Heinrich, Wirtschaftsbranchen im Fadenkreuz der Terroristen, in: Kriminalistik 12/86, S. 621. 23
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die personale Führungsebene wurde dabei symbolisch durch das Überreichen einer Waffe als Zugeständnis der Loyalität und Verlässlichkeit des neuen Mitglieds vollzogen. Die Illegalen Militanten entstanden erst mit dem in der Frankfurter Berger Straße 1982 aufgefundenen Papier, in welchem sie der Kommandoebene ihre Unterstützung und ihren Beitrag zum antiimperialistischen Kampf anboten. Sie hatten ihren Ursprung in der Konstituierung des „antiimperialistischen Widerstands“ Anfang der achtziger Jahre wie zum Beispiel der Agitation gegen die Erweiterung des militärischen Teils des Frankfurter Flughafens.27 Von den Kommandos wurden sie auch als die „innere Seite des Widerstands“ bezeichnet. Sie führten Anschläge auf Objekte durch, ohne dass Personen zu Schaden kamen. Diese Aktionen waren als Unterstützung für die personenbezogenen Anschläge der Kommandoebene konzipiert.28 Die auch semantisch vorhandenen Überschneidungen in den Bekennerschreiben der illegalen Militanten dokumentierten eine nahtlose ideologische Übereinstimmung mit den Kommandos. Wie ersichtlich wurde, versuchte die Ebene der Illegalen Militanten dabei nicht nur Unterstützung zu den Personenanschlägen zu leisten, sondern auch Anschläge zu demselben „Thema“ zu verüben.29 Einen bedeutenden Qualitätswandel erfuhren deren Aktionen Mitte der achtziger Jahre: Nun wurden sie anhand ihrer fortschreitenden Brutalisierung als nahezu eben so gefährlich eingestuft wie die Kommandoebene selbst.30 Bei Tatmittelvergleichen wurde festgestellt, dass zum Teil Sprengstoff gleicher Herkunft bei Anschlägen der Kommandos wie auch der Illegalen Militanten verwendet wurde, ein Hinweis auf eine enge logistische Kooperation zwischen beiden RAF-Ebenen. Diese Verbindungen mündeten in Verdachtsmomenten, die personelle Überschneidungen zwischen beiden Ebenen bis hin zur Personenidentität nahe legten.31 Den „Kämpfenden Einheiten“ wiederum vorgelagert war eine Gruppe von ca. 200 Personen, die so genannten „Militanten“ oder auch das engere RAF-Umfeld. Allerdings waren die Aktionen der Militanten im Vergleich zu den ihr übergeordneten Ebenen tatsächlich weniger risikobehaftet, sie führten kleinere Anschläge auf Objekte mit geringerem Gefährdungspotential für Opfer wie Aktivisten selbst durch.32 Einen gewichtigen Anteil an den Anschlägen der RAF-Kommandoebene gewannen die Militanten jedoch durch das „Ausspähen“ von späteren Angriffszielen der übergeordneten Ebenen.33 Sie operierten im Gegensatz zur Kommandoebene oder zu den Illegalen Militanten nicht ausschließlich aus illegalen Untergrundstrukturen heraus. Die RAF war damit entgegen ihrer Selbstdarstellung keine reine Untergrundorganisation. Viele Illegale Militante gingen tagsüber einer geregelten Tätigkeit nach, um am Abend einen Anschlag zu verüben. Ihr daraus resultierender 27
Bundesverfassungsschutzbericht 1985, S. 123. Bauer, Egon, Hungerstreik und Mordanschlag auf Alfred Herrhausen. Die RAF im Jahre 1989, in: Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 1990, Bonn 1990, S. 211. 29 Vgl. dazu Klink, Manfred, Hat die RAF die Republik verändert? 30 Jahre Terrorismus und Terrorismusbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland, in: BKA (Hrsg.), Festschrift für Horst Herold zum 75. Geburtstag, Wiesbaden 1998, S. 76. 30 Bundesverfassungsschutzbericht 1986, S. 131. 31 So wurde der Sprengstoff gleicher Herkunft bei dem versuchten Attentat auf die NATO-Schule in Oberammergau 1984 durch die Kommandos ebenso wie durch die illegalen Militanten bei einem versuchten Anschlag auf das BWB verwendet. Siehe dazu Bundesverfassungsschutzbericht 1985, S. 124 und auch Landesverfassungsschutzbericht Rheinland-Pfalz 1985, S. 60. Der Verdacht der Personenidentität wurde vom ehemaligen BKA-Präsident Heinrich Boge erstmals geäußert. Siehe dazu Boge, Heinrich, Wirtschaftsbranchen im Fadenkreuz der Terroristen, in: Kriminalistik Nr. 12/86, S. 621. 32 Backes/ Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik, aaO. (FN 13), S. 239. 33 Verfassungsschutzbericht Rheinland-Pfalz 1988, S. 59. 28
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Charakter als „Feierabendterroristen“ machte sie für die Behörden schwer zu identifizieren.34 Sie beteiligten sich an der Logistik der RAF, indem sie konspirative Wohnungen anmieteten, Geld, Waffen und Ausweise versteckten, Informationsmaterial für die Kommandoebene bereitstellten und Kontakte zu ausländischen terroristischen Organisationen unterhielten und anknüpften.35 Auch wenn die Militanten nach außen als eigenständige Kraft gesehen werden wollten,36 so betrachteten sie sich doch gleichzeitig als Bestandteil des Kampfes gegen den Antiimperialismus, außerdem standen auch diese beiden Ebenen offensichtlich in engem Kontakt zueinander, wohl um ihr Vorgehen eng aufeinander abzustimmen. Die Militanten waren konstitutiver Bestandteil der RAF und befanden sich in absoluter und bis dato nicht hinterfragter ideologischer Übereinstimmung mit dem Kommandobereich.37 Den Höhepunkt ihres begleitenden Terrorismus erlebten die Militanten somit in den Jahren 1982 bis 1986, in Unterstützungsaktionen für die mehrfach in den Hungerstreik getretenen Häftlinge aus der RAF oder im Vollzug terroristischer Offensiven wie etwa 1985/86. Dabei unterlagen die Aktionen der Militanten, was ihre Quantität betrifft, durchaus erheblichen Schwankungen. Während in den beiden Jahren nach 1982 kein einziger Anschlag durch sie ausgeübt wurde, gab es auch Phasen der terroristischen Hochkonjunktur.38 Gegen die Bezeichnung ihrer nachrangigen Mitglieder als „Legale“ legten die Kommandos heftigen Widerspruch ein, nicht zuletzt, um einen jederzeit möglichen Rückzug der legalen Militanten in ein allein bürgerliches Dasein zu verhindern39 Als vierte Ebene der RAF galt das „weitere Umfeld“, der „legale Arm“ der RAF.40 Herausragende Bedeutung wurde dem legalen Unterstützerfeld zuteil durch die regelmäßige Edition der Zeitschrift „Zusammen Kämpfen“, die als Substitut für eventuell längerfristig ausbleibende strategisch-ideologische Verlautbarungen der Kommandos fungierte. Bis ins Jahr 1990 erschien diese Zeitschrift in regelmäßiger Folge, danach erlag auch sie den spalterischen Tendenzen in der RAF.41 Dem weiteren Umfeld wurden annähernd 2000 Personen zugerechnet. Seine Mitglieder warben für die Ziele der Organisation („Öffentlichkeitsarbeit“) und betreuten Gefangene.42 Die Unterstützung und Betreuung von Inhaftierten war dabei keine vorrangig humanitäre Tätigkeit. Sie diente vielmehr dazu, die Gefangenen in ihrer Haltung zu bestärken und sie dazu anzuhalten, den Kampf aus den Haftanstalten heraus fortzusetzen und ihm durch die Durchführung von Hungerstreiks noch mehr Nachdruck zu verleihen. Daneben erfüllte die Unterstützung der Gefangenen auch die Funktion der Aufrechterhaltung der Kommunikationsstruktur zwischen den einzelnen Ebenen der RAF. Die Inhaftierten nutzten ihrerseits die Betreuung zur Indoktrination der Betreuenden und zur konspirativen Weitergabe von Nachrichten an die Ebene der Militanten, meist in Form von Kassi-
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Bauer, Hungerstreik und Mordanschlag, aaO. (FN 28), S. 212. Verfassungsschutzbericht Rheinland-Pfalz 1985, S. 60. 36 Bauer, Hungerstreik und Mordanschlag, aaO (FN 28), S. 212. 37 Ebd. 38 Landesverfassungsschutzbericht Bayern 1985, S. 140. 39 „Zur Hafenstrasse. Erklärung vom 24. 9. 1990“, in: ID-Archiv (Hrsg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Ge3schichte der RAF, Berlin 1997, S. 399. 40 Backes/Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik, aaO. (FN 10), S. 239. 41 Die erste Ausgabe erschien propagandistisch begleitend zum Hungerstreik 1984/85 und diente zur Veröffentlichung von Pamphleten nachrangiger militanter Gruppierungen. Zur Geschichte von „zusammen kämpfen“ siehe Horchem, Hans Josef, Die verlorene Revolution, Herford 1988, S. 171. 42 Landesverfassungsschutzbericht Rheinland-Pfalz 1988, S. 59. 35
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bern.43 Daneben betrieben sie „politische Agitation zur Vermittlung der militärischen und militanten Unternehmungen“.44 In ihrer Funktion als Träger terroristischer Vorstellungen nach außen fungierten sie im politischen Selbstverständnis der RAF somit als deren „Sprachrohr“.45 Ihre fundamentale Bedeutung erfüllten die Anhänger des weiteren RAFUmfeldes jedoch in ihrer Funktion als Rekrutierungspotential für die Kommandoebene.46 Die Kommandoebene allein aber wurde von den Behörden und von der Öffentlichkeit als „die RAF“ angesehen.47 Und in der Tat verlief die Willensbildung innerhalb dieser Vierebenen-Struktur nur in eine Richtung, nämlich von oben nach unten. Von den nachgeordneten Ebenen wurde seitens der Kommandos unbedingter Gehorsam gegenüber den Kadern eingefordert. Es darf bei aller strukturellen Differenzierung aber nicht übersehen werden, dass alle vier Ebenen zusammen das praktizierende terroristische Phänomen „RAF“ bildeten. Die avantgardistische Selbstüberschätzung der Kommandos ließ eine so geartete Bedeutungsaufwertung der unteren Ebenen nicht zu, wenn sie konstatierten, dass sie und die Militanten die einzige Macht seien, welche die Situation radikal wenden könnten.48 Kein Bestandteil aber wäre für sich dauerhaft lebensfähig gewesen, auch die Kommandoebene konnte nicht ohne Rückhalt in der „Szene“ den bewaffneten Kampf führen. So war die Kommandoebene auf das Umfeld angewiesen, um den Kontakt zur gesamten „linken Szene“ aufrechtzuerhalten und um das Nachrücken von Mitgliedern in die Kommandoebene zu gewährleisten. Andererseits konnte das RAF-Umfeld seinen Forderungen nicht in dem Maße Ausdruck verleihen, wie die Kommandoebene es durch ihre Aktionen tat. Von besonderer Bedeutung war darüber hinaus die Stellung von so genannten „Nahtstellenpersonen“, die zwischen den einzelnen Ebenen angesiedelt und für das reibungslose Funktionieren der intersegmentalen Verbindungen, vornehmlich durch Kurierdienste, verantwortlich waren. Gleichzeitig erwuchs der RAF in ihnen aber auch eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber staatlichen Infiltrationsstrategien. Laut Umfeld wurden durch des BKA zu diesen Personen „Lagebilder“ vermerkt.49 Vereinzelt wurden auch durch die regionale Zersplitterung Ansätze einer Zellenstruktur deutlich. In mehreren Ländern der Bundesrepublik schienen sich Anfang der achtziger Jahre voneinander unabhängige Regionalkommandos etabliert zu haben. Neben einer „Baden-Württemberg-Gruppe“ wurde so auch die Existenz
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Bundesverfassungsschutzbericht 1987, S. 74. Siehe dazu Zachert, Aktuelle Probleme des Terrorismus in der Bundesrepublik, aaO. (FN 23), S. 4. Ebd., S. 3. 46 Backes/ Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik, aaO. (FN 10), S. 239. Als Beispiel für diese Funktion ist etwa das durch den Heidelberger Assistenzarzt Dr. Wolfgang Huber ins Leben gerufene SPK in Heidelberg zu nennen. Gemäß dem Motto „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“ (ein zeitgenössischer beliebter Liedtext), wurde hier Systemkritik am Kapitalismus in der Art geübt, da er für die psychischen Krankheiten der Menschen verantwortlich und aus diesem Grund zu bekämpfen sei. Aus dem SPK waren bereits die führenden Mitglieder der zweiten Generation hervorgegangen, ohne dass es mehrere zwischengeordnete Auffanglager (Militante etc.) zu durchlaufen gegeben hätte, für die dritte Generation spielte es keine Rolle mehr. Zur Bedeutung des SPK als Rekrutierungsreservoir für die RAF siehe exemplarisch die Biographie von Schiller, Margrit, „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung“. Ein Lebensbericht aus der RAF, herausgegeben von Jens Mecklenburg, Hamburg 1999, S. 32-34. 47 Bundesverfassungsschutzbericht 1986, S. 132. 48 „An die gefangenen Revolutionäre. Brief der RAF an die Hungerstreikenden vom 2. Februar 1985“, in: IDArchiv (Hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 331. 49 Redaktionsgruppe, Gegen die Kriminalisierung linker Politik, in: ID-Archiv (Hrsg.), Bad Kleinen und die Erschießung von Wolfgang Grams, Berlin/Amsterdam 1994, S. 275. 44 45
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einer „Rhein-Main-“ sowie einer „Hamburg-Gruppe“ postuliert.50 Die Tatsache, dass die Mitglieder der einzelnen „Zellen“ einander kannten, machte das lineare Organisationsniveau aber weitgehend wirkungsunfähig. Dazu kam die – meist weitgehend unbewusst leninistische Grundattitüde51, die eine strikt hierarchische Vorgehensweise und nicht hinterfragbare Deutungshoheit der Kommandos mit beinhaltete. Vor diesem Hintergrund war autonomes Handeln einzelner Zellen unmöglich.
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Aktionismus: Von der ersten zur dritten Generation der RAF
Das Geburtsdatum der RAF ist mittlerweile anerkannt und auf den 14. Mai 1970 datiert. An diesem Tag wurde Andreas Baader52, der wenige Monate zuvor im Rahmen einer Verkehrskontrolle verhaftet wurde, unter dem Vorwand, ein Interview zu führen und Zeitschriften einzusehen, aus dem Institut für Soziale Fragen in Berlin befreit. Bei der Aktion wurde ein Institutsangestellter schwer verletzt. An der Aktion beteiligt waren die führenden Mitglieder der ersten Generation, Gudrun Ensslin und Horst Mahler, dabei indirekt auch bereits Ulrike Meinhof. Nach beiden und ihren Helfern wird zunächst noch unter der Rubrik „Baader-Meinhof-Gruppe“ gefahndet.53 Drei Wochen nach Baaders Befreiung meldete sich die RAF nun in einem ersten Text zur Befreiung Baaders zu Wort. Nicht einmal ein Jahr später publizierte die RAF ihre erste Programmschrift unter dem Titel „Das Konzept Stadtguerilla“, welches als ideologische Blaupause und Legitimation dienen, gleichermaßen aber das Rekrutierungsreservoir der RAF verbreitern sollte. In der Zwischenzeit begaben sich die ersten Frontkämpfer (Meinhof, Baader, Ensslin, Brigitte Asdonk, Manfred Grashof, Wolfgang Thomas, Petra Schelm, Heinrich Jansen, Hans-Jürgen Bäcker) in ein Ausbildungslager nach Jordanien. Dort erlernten sie unter zum Teil erheblichen disziplinarischen Problemen, die aus ihrem Avant-gardeverständnis herrührten, die Grundtechniken des Guerillakrieges und begannen die Ausarbeitung ihrer taktischen Offensive in der Bundesrepublik.54 Nach ihrer Rückkehr im August 1970 verschaffte sich die RAF in drei nahezu zeitgleich erfolgenden Banküberfällen („Dreierschlag“) ihre finanzielle Basis, während mit Holger Meins und Jan-Carl Raspe auch personeller Nachwuchs zu den Gründungsvätern und –müttern hinzu stieß, der die Entwicklung der Organisation nachhaltig prägen sollte. Außerdem wurde deutlich, dass das „Sozialistische Patientenkollektiv“ (SPK), ein von Wolfgang Huber als Heilverfahren konzipiertes Gruppentherapie-Projekt, als Rekrutierungsreservoir seine Aufgabe mehr als erfüllte und der RAF den entscheidenden personellen Nachwuchs bescherte, flankiert durch die logistische Unterstützung der „Roten Hilfe“ wie der „Schwarzen Hilfe“, unter anderem in München.55 Obwohl Horst Mahler zusammen mit mehreren Frauen der ersten Generation schon im Oktober 1970 verhaftet werden konn50
Außerdem wurde eine geographische Schwerpunktbildung im süddeutschen Raum vermutet. Unklar bleib allerdings, ob diese nicht der hohen Dichte von US-amerikanischen- und NATO-Stützpunkten dort widerspiegelt und dem entsprechend eine organisatorische Adaption darstellt. Siehe dazu Horchem, Die verlorene Revolution, aaO. (FN 41), S. 159. 51 Siehe dazu den Beitrag von Johannes Wörle in diesem Band. 52 Als biographisch neueste und ergiebige Aufarbeitung siehe Stern, Klaus/Herrmann, Jörg, Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes, München 2007. 53 Siehe dazu Peters, Tödlicher Irrtum, aaO. (FN 20), S. 177-183. 54 Siehe dazu Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, aaO. (FN 19), S. 121-127. 55 Siehe dazu Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, aaO. (FN 6), S. 123.
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te, startete die RAF 1972 ihre erste terroristische Offensive, die Zeugnis ablegte von der Gewaltbereitschaft der in der Organisation aufgegangenen Individuen wie der Schlagkraft der Organisation insgesamt. Bei mehreren Bombenanschlägen („Mai-Offensive“) auf das V. Armeekorps der US-Streitkräfte in Frankfurt am Main, das Augsburger Polizeipräsidium, das bayerische Landeskriminalamt, den Wagen des Bundesrichters Wolfgang Buddenberg, ein Gebäude des Springer-Verlages und letztlich das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Heidelberg, wurde ein Mensch getötet und über zwanzig Menschen verletzt. Die im „Konzept Stadtguerilla“ festgelegte Stoßrichtung der ersten Generation war damit umgesetzt: Antiimperialismus, Anti-Vietnamkrieg und Antikapitalismus verbanden sich zu einem explosiven Gemisch. Doch schon einen Monat später wurde innerhalb von nur acht Tagen die gesamte Führungsriege der ersten Generation verhaftet. Mit der Festnahme von Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe verschob sich der Konflikt jedoch auf eine andere Ebene und die Hoffnung, dass terroristische Aktionen damit ihr Ende gefunden hätten, erwies sich als trügerisch. Auch wenn die RAF unmittelbar nach 1972 auf eine Kernmitgliederzahl reduziert worden war, so war es nun neben diversen Solidaritätskomitees vor allem das SPK, das seine Rekrutierungsfunktion abermals wahrnahm. Auch wenn ein erster Reorganisationsversuch mit der „Gruppe 4.2.“ um Margrit Schiller durch eine rasche Verhaftungsaktion scheiterte, so strömten doch zahlreiche Sympathisanten nun in die Führungsebene der RAF und definierten auch den Aufgabenkatalog der Organisation neu. Im Zentrum der eigenen Aktionen stand nun nicht mehr nur die Agitation und Aktion gegen Imperialismus und Kapitalismus, sondern zunächst die Befreiung der inhaftierten Genossen aus den Gefängnissen. Die zweite Generation der RAF degenerierte hinsichtlich ihres gesamten Aktionismus zur „Befreit-die-Guerilla-Guerilla“.56 Triebfeder war dabei auch das gespaltene Konkurrenzverhältnis zur „Bewegung 2. Juni“.57 Ein erster Versuch, die Inhaftierten freizupressen, hielt 1975 Einzug, als ein RAF-Kommando die deutsche Botschaft in Stockholm besetzte. Die Aktion scheiterte, als die angebrachten Sprengsätze aus Versehen oder technischem Dilettantismus frühzeitig detonierten.58 Die gescheiterte Botschaftsbesetzung, in deren Verlauf zwei Botschaftsangehörige ermordet wurden, war dabei jedoch nur der Aufgalopp zum aktivistischen Höhepunkt der RAF im Jahr 1977. Angeführt von Brigitte Mohnhaupt, die Baader aus dem Gefängnis heraus zur Lordsiegelbewahrerin der RAF-Tradition auserkoren hatte, begannen die Vorbereitungen zur Aktion „Big Raushole“. Zunächst wurde im April Generalbundesanwalt Siegfried Buback, von unbekannten Tätern in seinem Wagen von einem Motorrad aus erschossen. Im Juli erschütterte die Nachricht von der Ermordung Jürgen Pontos, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, die Republik.59 Die Entführung eines hochrangigen Repräsentanten60 gelingt der RAF dann in der „Aktion Spindy“. Im September 1977 kidnappte ein „Kommando Sieg56
Siehe dazu Wunschik, Tobias, Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF, Opladen 1997, S. 246319. In komprimierter und aktualisierter Form siehe Ders., Aufstieg und Zerfall. Die zweite Generation der RAF, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, aaO. (FN 2), S. 472-488. 57 Siehe dazu den Beitrag von Lutz Korndörfer in diesem Band. 58 Siehe dazu Peters, Tödlicher Irrtum, aaO. (FN 19), S. 361-370. 59 Ponto sollte eigentlich entführt werden. Zugang verschaffte sich die RAF leicht durch die langjährige Bekanntschaft der Aktivistin Susanne Albrecht mit Ponto. Albrechts Vater und Ponto waren Studienkollegen gewesen. Als Ponto sich weigerte, den in sein Haus eingedrungenen RAF-Aktivisten Folge zu leisten, wurde er erschossen. Siehe dazu Wunschik, Baader-Meinhofs Kinder, aaO. (FN 56), S. 211-215. 60 Die Annahme, dass die Entführung einer Person der wirtschaftlichen oder politischen Elite die Chancen auf Freilassung der Inhaftierten erhöhen würde, war durch die Lorenz-Entführung der „Bewegung 2. Juni“ angestoßen worden. Siehe dazu den Beitrag von Lutz Korndörfer in diesem Band.
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fried Hausner“61 den Vorsitzenden des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, der gleichzeitig auch Vorstandsvorsitzender des Arbeitgeberverbandes war. Schleyer war aber für die RAF nicht nur Repräsentant des kapitalistischen Systems. Darüber hinaus avancierte Schleyer auch zur vermeintlichen Symbolfigur der „faschistischen Kontinuität“ der Bundesrepublik, war er doch nicht nur in der NS-Studentenschaft aktiv, sondern später auch im nationalsozialistischen Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren.62 Die Entführung Schleyers dauerte insgesamt sechs Wochen, in welchen durch Medien und Politik mehr als einmal der Eindruck miterweckt wurde, die Republik befände sich in tatsächlicher Gefahr. In der Tat waren verschiedene Maßnahmen der Behörden wie das Kontaktsperregesetz unter den Stammheimer Inhaftierten oder die Einberufung eines Großen und Kleinen Krisenstabes zwar symbolische Politik, verdeutlichten aber nur das Dilemma staatlicher Terrorismusbekämpfung: geht man mit aller Rigidität mit einer terroristischen Herausforderung um, bestätigt man eventuell für potentielle Sympathisanten das Bild des repressiven Systems. Versucht man hingegen, eine terroristische Bedrohung mit einem kriminologischen Minimalaufwand oder Ignoranz auszusitzen, kommt der Staat seiner natürlichen Schutzfunktion nicht mehr nach und verliert an Legitimität.63 Verschärft wurde die Situation nach einem wochenlangen Ränkespiel zwischen RAF und Regierung, das über die Medien ausgetragen wurde, durch die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch palästinensische Gesinnungsgenossen der PFLP („Kommando Martyr Halimeh“). Als die deutsche Regierung unter Kanzler Schmidt auch durch die Umkehrung der Kaiaphas-Logik nicht zu einem Einlenken bereit war, sondern auf eine gewaltsame Erstürmung der Maschine setzte, begann sich die terroristische Logik zu verselbständigen. Nach der Befreiung der „Landshut“ ohne Verluste auf Seiten der Geiseln begingen die Stammheimer Gefangenen Baader, Raspe und Ensslin Selbstmord, nachdem sich Ulrike Meinhof aufgrund gruppeninterner Divergenzen bereits Wochen zuvor das Leben genommen hatte. Schleyer wurde von seinen Entführern exekutiert und sein Leichnam im Kofferraum eines Wagens den deutschen Behörden überstellt. Das Jahr 1977 erwies sich insofern als fundamentale Niederlage für die RAF. Die Gruppe in Freiheit verlor sich in der Folge in aller Herren Länder, ein teil zog sich ins bürgerliche Leben zurück, ein Teil ging in den Nahen Osten oder nach Jugoslawien64, wieder ein Teil fand eine Heimstatt im sozialistischen Refugium DDR.65 Als nach einigen wenigen Attentaten auf NATO- und US-Militärs 1980 Peter-Jürgen Boock und letztlich drei Jahre später die Rädelsführer der zweiten Generation
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Hausner war bei der frühzeitigen Detonation in Stockholm mit schweren Verbrennungen nach Deutschland ausgeflogen worden, wo er kurze Zeit später verstarb. 62 Siehe dazu die aktuelle biographische Darstellung von Hachmeister, Lutz, Schleyer. Eine deutsche Geschichte, München 2004, S. 105-113 und 187-189. 63 Bis heute Standardliteratur, ebenso aber in der theoretischen Diskussion weitgehend vernachlässigt, sind die ab Ende der siebziger Jahre durch das Bundesministerium des Innern herausgegebenen Analysen zum Terrorismus. Siehe hierzu Sack, Fritz/ Steinert, Heinz, Protest und Reaktion (Analysen zum Terrorismus Nr. 4/2). Unter Mitarbeit von Uwe Berlit, Horst Dreier, Henner Hess, Susanne Karstedt-Henke, Martin Moerings, Dieter Paas, Sebastian Scheerer und Hubert Treiber, Opladen 1984. 64 Auch aktionistisch war nach dem logistischen Aufwand des Jahres 1977 die RAF vor dem Aus. Der Teil der Gruppe, die nach Jugoslawien gegangen war, war eine Zeit lang nur damit beschäftigt, den Morphinismus eines Mitglieds zu bekämpfen. Siehe dazu Wunschik, Baader-Meinhofs Kinder, aaO. (FN 56), S. 293. 65 Siehe dazu vor allem Müller, Michael/ Kanonenberg, Andreas, Die RAF-Stasi-Connection, Berlin 1992.
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Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und Adelheid Schulz verhaftet werden konnten, hoffte die Bundesrepublik verfrüht auf ein „Ende der Gewalt“.66 Stattdessen aber formierte sich die RAF, nun die „dritte Generation“67 neu. Zu Hilfe kam ihr dabei eine programmatische Neuausrichtung, die noch von Aktivisten der zweiten Generation verfasst wurde und eine kompromisslose Offensive ankündigte: das „MaiPapier“. Ab 1985 begannen die bis heute nur schemenhaft bekannten Aktivisten der dritten Auflage terroristischen Handelns, die programmatischen Vorgaben mit Leben zu erfüllen. Während die Fundamentalopposition sich bereits in Anschlägen manifestierte, versammelten sich Umfeld und Sympathisanten der RAF und anderer europäischer Organisationen in Frankfurt am Main zu einem „Antiimperialistischen und antikapitalistischen Kongreß“ im Gebäude der dortigen Fachhochschule. Obwohl zeitweise bis zu 1.000 Aktivisten und Unterstützer daran teilnahmen, wurde dort bereits ein frühes Hemmnis deutlich: die unterschiedlichen Konzeptionen verschiedener Gruppierungen. Die fehlende Bereitschaft von inländischen Gruppen wie der Revolutionären Zellen (RZ) oder der sogenannten Autonomen, den Avantgardeanspruch der RAF anzuerkennen und gleichzeitig das Unvermögen der dritten Generation, von diesem abzusehen, standen der effektiven Errichtung der Front seit ihrer Propagierung im Wege. Ungeachtet der fundamentalen Differenzen im linksterroristischen Milieu begann die dritte Generation der RAF mit ihren menschenverachtenden Aktionen gegen führende Vertreter aus Wirtschaft und Militär im Rahmen ihrer „Offensive `85/`86“. Nach einem missglückten Anschlag auf eine NATO-Schule in Oberammergau forderte das „Kommando Patrick O`Hara“ das erste Todesopfer der dritten Generation: der MTUManager Ernst Zimmermann wurde in Gauting bei München als ein Vertreter des „multinationalen Kapitals“ erschossen. Die vollständige Pervertierung des eigenen Anspruchs, für eine „bessere Welt“ zu kämpfen, folgte mit dem Anschlag auf die Rhein-Main-Airbase 1985 in Frankfurt und ihrer Vorbereitung. Um einen Wagen mit Sprengstoff auf dem militärischen Gelände lozieren zu können, bedurften die Aktivisten des Ausweises eines Soldaten. Zu diesem Zweck wurde der Marine-Soldat Edward Pimental von einem weiblichen Mitglied der Kommandoebene in einen Hinterhalt gelockt und mit einem Genickschuss getötet. In der Aktion zeigte sich, dass nicht nur jeglicher theoretische Bezug zur „revolutionären Ideologie“ verloren gegangen war, sondern auch auf die politische Vermittelbarkeit der Anschläge gegenüber dem eigenen Umfeld kein Wert mehr gelegt wurde. Die Inhaftierten aus der ersten RAF-Generation waren über das Vorgehen der eigenen „Enkel“ befremdet und vermuteten hinter dem Bekennerscheiben des „Kommandos George Jackson“ zunächst eine Fälschung: „Wir haben uns im Lübecker Knast aus dem Fenster zugerufen: ‚Das ist eine Counter-Aktion.’ Und als sich dann herausstellte, dass es keine Geheimdienstaktion war, konnten wir das erst gar nicht fassen.“68 Bei dem nachfolgenden Anschlag auf den Luftwaffen-Stützpunkt kamen zwei Menschen ums Leben. Zwar schob die RAF nach einer rechtfertigenden Erklärung sehr wohl ein Bekenntnis über einen „begangenen Fehler“ nach; ungeachtet der sich fortsetzenden 66
So Meyer, Thomas, Am Ende der Gewalt? Der deutsche Terrorismus. Protokoll eines Jahrzehnts, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980. 67 Siehe dazu synoptisch Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN 3). 68 So die 1994 entlassene, am längsten Inhaftierte Frau in der Geschichte der Bundesrepublik, Irmgard Möller in Tolmein, Oliver, „RAF – das war für uns Befreiung“. Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke, Hamburg ²1999, S. 179.
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Kritik aus dem eigenen Umfeld setzte sie jedoch ihre „Offensive“ fort. Das Jahr 1986 erinnerte in Intensität und Logistik an das Jahr 1977: Mit einem Bombenanschlag wurde der Siemens-Manager Karl-Heinz Beckurts getötet, nur wenige Monate später der Diplomat Gerold von Braunmühl auf offener Straße mit jener Waffe erschossen, mit welcher bereits Hanns-Martin Schleyers „klägliche und korrupte Existenz“69 beendet worden war. Mit dem Mord an von Braunmühl hatte die RAF darüber hinaus ihre auf den „militärischindustriellen Komplex“ beschränkte Zielauswahl auf Personen aus der Politik ausgeweitet. Ein behördlicher Schutz wurde damit völlig unmöglich, konnte doch für die Unzahl der gefährdeten Personen nun nicht mehr ausreichend Personal abgestellt werden. Zwar wurden besonders exponierte Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Militär nunmehr einem besonderen Schutzprogramm des Verfassungsschutzes unterzogen. Wie man am Beispiel des Vorstandes der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, jedoch leidvoll in Erfahrung bringen musste, hielt auch dies die dritte Generation nicht davon ab, ihren Charakter einer „Mörderbande“70 vollends zu bestätigen. 1989 wurde gerade jener Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft, der sich besonders für eine Entschuldung der Länder der Dritten Welt eingesetzt hatte, mittels einer raffiniert gezündeten Sprengladung von denen hingerichtet, welche in hemmungslosem Realitätsverlust für diese Länder zu kämpfen vorgaben. Die RAFErklärung zu diesem Anschlag bot ein Paradebeispiel ideologischer Immunisierung: „Herrhausens Pläne gegen die Länder im Trikont, die selbst in „linksintellektuellen Kreisen“ als humanitäre Fortschrittskonzepte gepriesen werden, sind nichts anderes als der Versuch, die bestehenden Herrschafts- und Ausplünderungsverhältnisse längerfristig zu sichern; sie verlängern und verschärfen noch weiter die Leiden der Völker.“71 Das letzte Todesopfer der dritten Generation war der Vorsitzende der Deutschen Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder. Zwei Jahre nach Herrhausen wurde er in seinem Haus in Düsseldorf durch zwei präzise Schüsse in den Rücken getötet, da er „einer jener Schreibtischtäter“ gewesen sei, „die im Interesse von Macht und Profit Elend und Not von Millionen Menschen planen.“72 Dem Attentat auf Rohwedder war das traumatische Ereignis für die gesamte Linke in der Bundesrepublik vorausgegangen: der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Osteuropa. Für die RAF beinhaltete diese geostrategische Wende eine doppelte Tragik. Nicht nur wurde das eigene, vermeintlich marxistische Weltbild zerstört, es wurden in der ehemaligen DDR zudem zehn ehemalige Mitglieder der Kommandoebene der zweiten RAF-Generation festgenommen, die eine erhebliche Aussagebereitschaft gegenüber den Behörden an den Tag legten. So räumten die in die DDR Exilierten unter anderem auch mit dem „Stammheim-Mythos“, demzufolge die Mitglieder der ersten Generation durch den Staat „hingerichtet“ worden seien, auf und erklärten, es habe in der RAF der zweiten Generation durchaus einen Plan mit Namen „Suicide Action" gegeben. Für die Mitglieder der dritten Generation mussten diese Aussagen fatale Konsequenzen haben, hatten doch viele in ihrem Protest gegen die „Stammheimer Mordnacht“ einen wesentlichen Antrieb zum Eintauchen in terroristische Strukturen erhalten. Der RAF wurde 69 So die RAF der zweiten Generation in ihrer Erklärung zur „Entführung von Hanns-Martin Schleyer. Erklärung vom 19.10.1977“ in ID-Archiv (Hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 273. 70 So Klink, Manfred, Hat die RAF die Republik verändert?, aaO. (FN 29), S. 73. 71 „Anschlag auf Alfred Herrhausen. Erklärung vom 2. Dezember 1989“, in: ID-Archiv (Hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 392. 72 „Anschlag auf Detlev Karsten Rohwedder. Erklärung vom 4. April 1991“, in: ID-Archiv (hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 405.
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durch die veränderte weltpolitische Konstellation und die eigene Isolation im gesamten linken Lager die eigene Aussichtslosigkeit deutlich vor Augen geführt. Um auf diese neue Lage angemessen zu reagieren, versuchte sie zunächst einen Strategiewechsel - hin zum Kampf gegen das „faschistische Vierte Reich Bundesrepublik“, gegen das „imperialistische Großdeutschland“, das sich in einer staatsstreichartigen und gleichzeitig kolonialistischen Aktion die DDR einverleibt habe.73 Den kämpferischen Parolen folgten jedoch andere Erklärungen, die von Resignation und Larmoyanz geprägt waren. Vom kämpferischen Frontkonzept der achtziger Jahre war nichts mehr geblieben, vielmehr versuchte man seitens der Aktivisten die eigene Isolation mittels der Anrufung einer „sozialen Gegenmacht von unten“ aufzuheben. Dieses Sammelbecken für politisch Unzufriedene wie linke und fortschrittliche Kräfte in der Bundesrepublik sollte die neue Grundlage für die Umwälzung der Verhältnisse schaffen. In diesem Sinne wurde mit dem Zugeständnis der Erfolglosigkeit des eigenen Avantgardekonzeptes die Bewegung gegen den Golfkrieg ebenso wie die Frauenbewegung angesprochen und zu nutzen versucht. Die letzte Aktion der Kommandoebene gegen eine Institution des „Systems“ stand exemplarisch für die Anbiederung an Konzeptionen, die man einstmals arrogant von sich gewiesen hatte. Der Anschlag auf den Gefängnisneubau in Weiterstadt 1993 hatte einen derart antipersonalen Charakter – das „Kommando Katharina Hammerschmidt“ warnte vor der Sprengung alle sich in dem noch nicht betriebsbereiten Gefängnis befindlichen Personen –, dass er absolut konform ging mit der sich auf Objekte konzentrierenden Strategie der RZ. Den drohenden Verfall vermochten die Aktivisten mit diesen Volten jedoch nicht aufzuhalten. Ihre Drohung am Ende der Gewaltverzichtserklärung vom April 1992, in welcher sie ihr zukünftiges Verhalten von der Abkehr des Staates vom „Ausmerzverhältnis“ gegenüber der RAF, insbesondere gegenüber den Gefangenen, abhängig gemacht hatten, konnten oder wollten sie nicht erfüllen. Die Formulierungen des Gewaltverzichts ließen vielmehr darauf schließen, dass die Organisation aus eigener Schwächer heraus den Schritt der Deeskalation eingeleitet hatte, nicht aus geänderten geopolitischen Rahmenbedingungen. Insofern war die Gewaltverzichtserklärung der Versuch, der eigenen Isolation Rechnung zu tragen, in dem Bewusstsein, „ohne tatsächlich bereit oder in der Lage zu sein, im Falle staatlicher Verfolgungsmaßnahmen den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen“.74 Denn auch nachdem im Juni 1993 in Bad Kleinen Birgit Hogefeld durch ein Kommando der GSG 9 festgenommen worden war und sich ihr Lebensgefährte Wolfgang Grams nach einem kurzen Feuergefecht mit den Beamten selbst getötet hatte, nahm sie entgegen ihrer Bekundung den bewaffneten Kampf nicht wieder auf. Statt dessen lieferten sich die inhaftierten „Hardliner“ um Eva Haule, Brigitte Mohnhaupt, Rolf Heissler, Christian Klar und Helmut Pohl eine öffentlich ausgetragene verbale Schlammschlacht mit den in Celle inhaftierten
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Zitat nach dem Landesverfassungsschutzbericht Hessen 1990, S. 53. Mein herzlicher Dank gilt den Seminarteilnehmern der Übung zu den Strategiepapieren terroristischer Organisationen im Sommersemester 2007 an der Universität Regensburg, vor allem der hier zitierten Frau Anna Maria Nowotny, für ihre diesbezügliche hermeneutische Interpretation der Gewaltverzichtserklärung.
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„Freunden der Vernunft“ um Karl-Heinz Dellwo75, Knut Folkerts und Lutz Taufer, der in Frankfurt-Preungesheim inhaftierten Birgit Hogefeld und der Kommandoebene.76 Grund für die Auseinandersetzung war der Vorwurf der Hardliner an die CelleFraktion, sie erkauften sich in einem „Deal mit dem Staat“ ihre Freiheit, während die auf der militärischen Option beharrende „Beton-Fraktion“ auf unbestimmte Zeit in den Haftanstalten verbleiben müsse. Die in Celle Inhaftierten hatten eine „Gesamtlösung“ für den RAF-Widerstand angestrebt und somit über den Rechtsanwalt Christian Ströbele Kontakt zu Mittelspersonen aus Wirtschaft und Politik (Ignaz Bubis und Edzard Reuter) aufgenommen, um über diese mit der Bundesregierung zu verhandeln. Als sich im Laufe des Jahres der damalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel mit einer Versöhnungsinitiative nach vorne wagte und die Freilassung von ehemaligen Terroristen in Aussicht stellte, um den Aktivisten eine wesentliche Begründung für ihren gewaltsamen Protest zu nehmen, eskalierte der Streit unter den Gefangenen. Die Hardliner widersetzten sich der Verknüpfung von Gewaltverzicht und Gefangenenfrage und warfen den „Freunden der Vernunft“ in Celle vor, dem Staat die Initiative zu überlassen und Verrat an der revolutionären Sache zu üben. Im Laufe der Auseinandersetzung sprachen sich die Parteien wechselseitig die „revolutionäre Identität“ ab und bezichtigten sich des „Reformismus“ ebenso wie der „Entpolitisierung“, was im linksextremistischen Spektrum für gewöhnlich große Animositäten hervorzurufen pflegte. Die Spaltung auf der Ebene der Inhaftierten setzte sich bis in das Umfeld fort und konnte trotz des Versuches von Birgit Hogefeld, zu einer Klärung zu kommen, nicht mehr überbrückt werden. Der Streit zwischen den Inhaftierten untereinander und den Kommandos in Freiheit legte Zeugnis ab von der völligen Orientierungslosigkeit der Linken nach 1990 und der bitteren Erkenntnis eines Teils der RAF, wie sinnentleert und realitätsfern der eigene „Kampf für eine bessere Welt“ gewesen sein musste. Von einer einheitlichen RAF war spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auszugehen. Sie stellte ihre Aktionen endgültig ein. In den folgenden Jahren veröffentlichte sie lediglich einige wenige langatmige Erklärungen. Am 20. April 1998 löste sich die RAF offiziell auf.77
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Dellwo ist einer der Aktivisten, die sich in den letzten Jahren an pseudobiographischen Aufarbeitungen und einer retrospektiven Beurteilung der RAF-Geschichte beteiligt haben. Siehe dazu Dellwo, Karl-Heinz, Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen: Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel, Hamburg 2007 76 Dokumentiert ist die Selbstzerfleischung der (ehemaligen) Aktivisten in Edition ID-Archiv (Hrsg.), „wir haben mehr fragen als antworten...“. RAF-Diskussionen 1992-1994, Berlin/Amsterdam 1995. 77 Zum Prozess der Degeneration und zur Analyse des Auflösungsschreibens siehe auch Straßner, Alexander, Das Ende der RAF, in: Möllers, Martin H.W./van Ooyen, Robert Chr. (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2006/2007, Frankfurt am Main 2007, S. 37-59.
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Charisma und Professionalität: Die Degeneration der RAF
Die ersten beiden Generationen78 hatten sich in ihren Bekennerschreiben stets auf ihre ideologischen Grundlagen berufen, auch wenn es sich bei dem Gedankengebäude der RAF stets um eklektizistisch rezipierte Versatzstücke unterschiedlicher Ideologien handelte und sie diverse Denker für sich nur insofern in Anspruch nahm, als sie ihrem militanten Aktionismus das Wort zu reden vermochten. Neben den „Klassikern“ Marx und Engels zählten dazu auch Theoretiker aus der Dritten Welt wie der Brasilianer Carlos Marighella, Mao TseTung oder der französische Schriftsteller Régis Debray sowie anarchistische Literatur.79 Deutlich wurde dabei, dass aus jeder Ideologie die jeweilige Rechtfertigung für den bewaffneten Kampf gezogen wurde: aus dem Leninismus der Avantgardegedanke, aus dem Maoismus die Anschauung, dass die politische Macht den Gewehrläufen entspringt. In den achtziger Jahren entfielen nun nach und nach auch diese ideologischen Vorgaben und Motive und ordneten sich einem pragmatischen, ja utilitaristischen Verständnis des bewaffneten Kampfes unter. Das veränderte Selbstverständnis bekundete die RAF in der ersten Kampfschrift seit zehn Jahren, dem so genannten „Mai-Papier“ („Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“) aus dem Jahr 1984, das noch von Mitgliedern der zweiten Generation in der DDR formuliert worden war. In ihm propagierte sie den Aufbau der westeuropäischen „Front“, stellte die „totale Konfrontation mit dem System“ in Aussicht und konstatierte die Loslösung von bis dahin bedeutsamen ideologischen Bezugsgrößen: „Wir können mit den Scheingefechten um den Fetisch militante Aktion oder um die Beschwörung der „Verbindung mit den Massen“ nichts anfangen.“80 Stattdessen rückte nun die militärische Aktion in den Vordergrund. Die kurzfristig nicht zu erreichende Revolution wurde auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Auf diese Weise erreichte die RAF ein Höchstmaß an Immunisierung - nicht nur mit Blick auf gesellschaftliche Kritik, sondern auch gegenüber dem eigenen militanten Umfeld: Wer ein potentielles und in der terroristischen Strategie sinnvolles Opfer der dritten Generation war (im Jargon des Mai-Papiers: ein Repräsentant des „militärisch-industriellen Komplexes“), lag nun im alleinigen Ermessen der im eigentlichen Wortsinne exekutierenden Kommandoebene. Insofern legte sie auf die Vermittelbarkeit der Anschläge als Bestandteil revolutionärer Strategie keinen Wert mehr. Gerade in dieser strikt avantgardistischen Haltung aber lag der Keim des Zerfalls begründet. Die starre hierarchische Ordnung der terroristischen Organisation geriet von der Kommandoebene bis zum sympathisierenden Umfeld in Auflösung. Der Gefahr eines schieren Utilitarismus war Tür und Tor geöffnet, und letztlich fand die pragmatische Orientierung der terroristischen Strategie in den Attentatsopfern der RAF seinen Niederschlag. Dass der Terrorismus der RAF sich in seiner 78
Wenngleich sich der Terminus der „Generation“ angesichts der personell unterschiedlich zusammengesetzten Kommandoebene der RAF eingebürgert hat, so ist er doch missverständlich, impliziert er doch gleichsam eine offizielle „Stabübergabe“ der vorherigen Kämpfer an die nächste Generation. Tatsächlich aber waren RAFFührungsmitglieder kaum mandatiert, den bewaffneten Kampf weiterzuführen. Wenn überhaupt, dann trifft dies noch auf die Mitglieder der zweiten Generation, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar zu, die in ihrem militanten Rigorismus Andreas Baader noch am nächsten standen. Spätestens aber mit den beginnenden achtziger Jahren aber war auch die personelle Kontinuität nicht mehr gewährleistet. Siehe dazu Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN 3), S. 78-81. 79 Zu den ideologischen Grundlagen siehe besonders Fetscher, Iring/Rohrmoser, Günter, Ideologien und Strategien (Analysen zum Terrorismus Band 1, unter Mitarbeit von Jörg Fröhlich, Hannelore Ludwig und Herfried Münkler), Opladen 1981. 80 Nachzulesen in ID-Verlag (Hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 297.
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schieren Zweck-Mittel-Relation auch kontrafaktisch gegen die langfristige revolutionäre Strategie wenden konnte, zeigte der Mord an dem US-Marinesoldaten Pimental.81 Ein einfacher Soldat konnte trotz zahlreicher sprachlicher Verrenkungen dem Umfeld schwerlich als nachvollziehbares Zielobjekt vermittelt werden. Vom Standpunkt der Ideologie aus hätte Pimental aus seiner Verbindung mit dem Kapitalismus herausgelöst und befreit werden müssen. Außerdem verstieß die RAF damit gegen ihre unausgesprochene Devise, mit ihren Aktionen niemals Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen, die nichts mit den Verbrechen des Imperialismus zu tun hatten. An die Stelle der ideologischen Motivation war mit Pimentals Identifikationskarte ein menschenverachtender Machiavellismus getreten.82 Die Lossagung von ideologischen Prämissen schlug sich auch in den Bekennerschreiben nieder. Sie waren fortan leichter verständlich als die von „Politchinesisch“ geprägten Ergüsse der ersten beiden Generationen: „Wir mussten zu jedem Text, jedem Bekennerschreiben der ersten Generation mehrere Mann starke Arbeitsstäbe einrichten, um sie analysieren zu können. Dagegen waren die Schriftstücke der dritten Generation die reinste Bettlektüre.“83 Die Entideologisierung fand aber auch in einer Entmythisierung ihren Ausdruck: Bis 1993 fanden Vertreter der These Gehör, die dritte Generation sei ein von den Behörden erfundenes Phantom, um sich unliebsamer Industrieller zu entledigen.84 Auch zum zehnten Jahrestag des tödlichen Attentats auf den Vorsitzenden der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, fand die Horrorgeschichte von der „faschistischen Bestie“ Bundesrepublik Niederschlag in manchen Film- und Fernsehproduktionen.85 Mit dem Jahr 1993, der Verhaftung von Birgit Hogefeld in Bad Kleinen86 und der Selbsttötung von Wolfgang Grams auf dem
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Im Jahr 1985 hatte ein Kommando „George Jackson“ einen US-Marine in Frankfurt am Main allein aus funktionalistischen Gründen getötet. Zur Durchführung eines Bombenattentates auf den militärischen Teil des Frankfurter Flughafens benötigte die RAF die Berechtigungskarte des Soldaten. Vgl. dazu Alexander Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN 3), S. 146-150. 82 An den Pimental-Mord schloss sich eine langwierige Diskussion unter Unterstützern und Inhaftierten über die Rechtmäßigkeit seiner Tötung an. Siehe dazu stellvertretend Klaus Dieter Wolff, Alles wäre besser, als so weiterzumorden, in: tageszeitung (taz) vom 13. September 1985, S. 7. 83 So der ehemalige Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Günther Scheicher, im Interview im BKA Meckenheim am 11. Oktober 1999. 84 Mit der Phantomthese hatten sich jahrelang Verschwörungstheorien gehalten, die teilweise auch heute noch wirksam sind, wenngleich deren Absurdität mittlerweile unbestritten ist. Siehe dazu Wisnewski, Gerhard/Landgraeber, Wolfgang/Sieker, Ekkehard, Das RAF-Phantom. Wozu Staat und Wirtschaft Terroristen brauchen, München 1992. Nicht von ungefähr traten anlässlich des 11. September 2001 erneut – und teilweise dieselben – Autoren auf den Plan, welche die Anschläge auf das World Trade Center als Intrige der CIA und des Mossad interpretierten. Vgl. dazu Gerhard Wisnewski/Martin Brunner, Mythos 9/11. Der Wahrheit auf der Spur. Neue Enthüllungen, München 2004. 85 Zur medialen Inszenierung der Phantomthese Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN3), S. 400. 86 Nachdem der hessische Verfassungsschutz einen V-Mann in die Führungsebene der RAF hatte einschleusen können, wurde auf dem Bahnhof in Bad Kleinen (Mecklenburg-Vorpommern) Birgit Hogefeld festgenommen, ihr Lebensgefährte Wolfgang Grams vermochte sich dem Zugriff zu entziehe und lieferte sich mit den Beamten der GSG 9 ein Feuergefecht. Im Zuge der Auseinandersetzung kam der Beamte Michael Newrzella ums Leben, Grams fiel von mehreren Schüssen getroffen auf die Gleise. In den Wochen nach der Aktion schien es fraglich, ob sich Grams dort selbst getötet hatte oder ob er von GSG 9-Beamten „hingerichtet“ wurde. Heute scheint gesichert, dass Grams sich durch einen Kopfschuss selbst tötete. Durch die zahlreichen Pannen im Verlauf des Zugriffs trat Innenminister Seiters zurück, Generalbundesanwalt von Stahl musste ebenfalls sein Amt zur Verfügung stellen. Zum genauen Ablauf der Ereignisse und den Versäumnissen der Behörden siehe Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN 2), S. 204-234. Siehe zur teilweise unsachlichen medialen Aufbereitung der Vorfälle Holger Lösch, Bad Kleinen. Ein Medienskandal und seine Folgen, Frankfurt am Main 1994.
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dortigen Bahnhof, wurde jedoch offensichtlich, dass eine dritte Generation existiert hatte.87 Daneben zeigten sich die in der DDR untergetauchten und nach der Wende festgenommenen ehemaligen Terroristen der zweiten Generation auskunftsfreudig. Schonungslos zerstörten sie den Mythos von Stammheim, die Gefangenen der ersten Generation, Baader, Meinhof, Raspe und Ensslin seien durch den Staat hingerichtet worden. Um die Lücke aufzufüllen wurde in linksextremistischen Kreisen an einem neuen Mythos gestrickt: Grams sei von den Beamten der GSG 9 in Bad Kleinen hingerichtet worden. Der Abschlußbericht der Bundesregierung sowie mehrere in Auftrag gegebene wissenschaftliche Gutachten zu den Vorfällen in der mecklenburgischen Stadt vermochten jedoch auch diese Chimäre weitgehend zu zerstören. Den völligen Verlust an ideologischen Vorgaben dokumentierte die RAF mit ihrem Auflösungsschreiben. Die Erklärung wurde am 20. April, dem Geburtstag Adolf Hitlers, des Jahres 1998 den Behörden über eine Nachrichtenagentur übermittelt. Horst Herold konstatierte: „An einem solchen Tag löst sich eine RAF, wie ich sie kenne, nicht auf.“88 Für die Aktivisten spielte dieses Datum jedoch schon längst keine Rolle mehr. In der Tat war die RAF der dritten Generation nicht mehr die RAF der siebziger Jahre, und das nicht nur in ideologischer Hinsicht. Dem Mord an Pimental schloss sich eine hitzige Diskussion zwischen Umfeld und Kommandoebene an. Ein grundlegendes Novum in der Geschichte der RAF war dies nicht, neu allerdings war die Schärfe der in der Öffentlichkeit ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten. Wie schwer es dem Umfeld der RAF fiel, den Mord als „ihre“ Aktion zu erfassen, zeigte die sogleich geäußerte Vermutung, der Mord an Pimental sei eine von den Behörden durchgeführte Aktion gewesen, um die Kommandos in ihrem Umfeld zu diskreditieren. Alsbald aber meldete sich die Kommandoebene selbst zu Wort: „Wir haben Edward Pimental erschossen, den Spezialisten für Flugabwehr (...), der seinen früheren Job an den Nagel gehängt hat, weil er schneller und lockerer Kohle machen wollte, weil wir seine idCard gebraucht haben, um auf die Air-Base zu fahren.“89 Die Sympathisantenszene reagierte auf das Bekenntnis der Kommandoebene in ungewohnter Schärfe. Der ehemalige Bundesvorsitzende des Sozialdemokratischen Studentenbundes, Klaus Dieter Wolff, machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für den Mord an dem Soldaten: „Ich will nicht den (...) Verlust von aktuellem politischen Bezug nachzeichnen. Aber wie ihr (...) phantasiert, ist unerhört. (...) Alles wäre besser (...)als so weiterzumorden.“90 Offensichtlich war der Kommandoebene bewusst, dass eine für sie unheilvolle Entwicklung eingetreten war. Die zunehmende Brutalisierung beförderte ihre Anliegen nicht, sondern begann sie nicht nur ins gesellschaftliche Abseits zu rücken: auch das eigene Umfeld begann systematische und fundierte Kritik zu üben. In einem nachgereichten Schreiben versuchten die Kommandos daher noch einmal, die Notwendigkeit der Ermordung plausibel zu machen. Der darin gequält hergestellte Zusammenhang zwischen Anschlag und 87
Bemerkenswert ist außerdem, dass ich die RAF in einer ihrer Kommandoerklärungen dagegen verwahrt, als nicht existent dargestellt zu werden. Die Verfasser des Briefes deklarierten die Urheber der Hypothese als „mit Falschinformationen gefütterte“ Journalisten. Siehe dazu die „Erklärung vom 29. November 1996“, in: ID-Verlag (Hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 503. 88 Zitiert nach „Abgang ins Ungewisse“, in: Der Spiegel Nr. 18/1998, S. 32. 89 „Zur Aktion gegen die Rhein-Main-Airbase und die Erschießung von Edward Pimental. Erklärung vom 25. August 1985“, in: ID-Verlag (Hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 344. 90 Klaus Dieter Wolff, An die RAF, in: Verlag Neue Kritik (Hrsg.), Der blinde Fleck: die Linke, die RAF und der Staat, Frankfurt 1987, S. 182-185.
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„notwendigem“ Opfer legt Zeugnis ab von ihrer defensiven Position in dieser Diskussion – sie fiel zurück in die verquaste Sprache der ersten beiden Generationen: „Revolutionäre Strategie (...) als Eskalation des politisch-militärischen Angriffs gegen (...) alle, die in diesen Krieg verwickelt sind. (...) An der Air-Base wird das (...) sehr klar: die Soldaten dort halten Computer, Waffen für Interventionen einsatzfähig, fliegen zum Teil selbst in den (...) Nahen und Mittleren Osten.“91 Trotz dieses Legitimationsversuchs blieb die Spaltung zwischen Kommandoebene und ihrem Umfeld jedoch fundamental, und das „zufällige Tod-Austeilen“ (Wolff) im Falle Pimentals bildete den Präzedenzfall für die Entfremdung zwischen der Kommandoebene und dem sympathisierenden Umfeld. In der Szenezeitschrift „Hau Ruck“ meldeten sich noch einmal Mitglieder der Sympathisantenszene zu Wort: „es ist erbärmlich, dass die raf versucht, dem 19jährigen noch den rang eines spezialisten der flugabwehr zuzuordnen, wohl um den mord begreifbarer zu machen. warum verdammt noch mal wurde er nicht für die dauer der aktion gefangengehalten oder betäubt? denn es gibt nichts begreifbar zu machen an diesen eiskalten mord.“92 In der Rückschau bleibt der Mord an Pimental der Sündenfall der dritten Generation. Eine Einschätzung, die auch Birgit Hogefeld in der Distanz zu den Geschehnissen: „Wenn ich heute versuche, mir eine solche Situation bildlich vorzustellen, wenn ich mir vorstelle, dass Menschen (...) einen jungen Mann erschießen, weil er Soldat der US-Armee ist, dann empfinde ich das als grauenhaft und zutiefst unmenschlich. (...) Schon allein daran wird für mich deutlich, dass vieles in unserer Geschichte als Irrweg anzusehen ist.“93 Einer zunehmenden Vertiefung der Spaltung zwischen der Kommandoebene und dem sympathisierenden Umfeld wurde jedoch auch durch andere Verbrechen Vorschub geleistet. So war es etwa nicht nur die Wahl der Opfer, sondern auch die Tatausführung, welche zu vermehrter Kritik führte. Das Umfeld und die so genannten „Autonomen“ verabschiedeten sich von der vor „peinlichen Avantgardearroganz“ und „Selbstüberschätzung“94 strotzenden Kommandoebene. Neben Pimental war es auch der Anschlag auf den Diplomaten Gerold von Braunmühl am 10. Oktober 1986. Er war nicht das Opfer des zur Schau gestellten funktionalen Verständnisses von revolutionärer Strategie, sondern wurde von dem RAF-Kommando „Ingrid Schubert“ völlig willkürlich ausgewählt. Er gehörte nicht zu den führenden Repräsentanten aus Wirtschaft, Politik oder Militär, sondern war eine Person aus der „zweiten Reihe“, auf welche der behördliche Schutz nicht mehr auszuweiten war. Bekenntnisse aus dem BKA bestätigen diese Annahme: „Der Name von Braunmühl war mir bei der Nachricht von seinem Tode kein Begriff.“95 Es steht zu vermuten, dass die RAF mit diesem Anschlag durch die fortwährende Kritik aus dem Umfeld in einen hektischen Aktionismus verfallen war, um das verstimmte Umfeld wieder auf eine einheitliche Linie einzuschwören. Dieser Aktionismus hatte im Anschlag auf Karl Heinz Beckurts am 9. Juli des Jahres bereits seinen Niederschlag gefunden. Die RAF hingegen begründete ihren tödlichen Anschlag mit von Braunmühls Rolle als „... zentraler Figur in der Formierung westeuropäi-
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„Interview mit der RAF, September 1985“, in: ID-Verlag (Hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 346. Zitiert nach Verfassungsschutzbericht Hessen 1985, S. 36-37. 93 So die 1993 in Bad Kleinen festgenommene Birgit Hogefeld, Vieles in unserer Geschichte ist als Irrweg anzusehen. Das Schlusswort der Angeklagten, in: Psychosozial-Verlag (Hrsg.), Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen, Gießen 1997, S. 137. 94 Die Vorwürfe des Umfelds sind entnommen aus dem Bundesverfassungsschutzbericht 1982, S. 101. 95 Scheicher: Interview im BKA Meckenheim am 11. Oktober 1999. 92
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scher Politik im imperialistischen Gesamtsystem.“96 In Abwandlung liegt das Attentat auf Detlev Karsten Rohwedder ebenso in einer logischen Reihe mit den besprochenen Anschlägen, was ihre spalterischen Tendenzen für das Gesamtgefüge RAF betrifft. Neben revolutionären Gesichtspunkten schienen dabei auch persönliche Animositäten ausschlaggebend gewesen zu sein. Das Attentat auf den Vorsitzenden der Treuhandanstalt wurde durch das Kommando „Ulrich Wessel“ ausgeführt und begründet als die Liquidierung eines „brutalen Sanierers“, der für die imperialistischen Pläne der Regierung „mit seiner Brutalität und Arroganz auch der Richtige“ gewesen sein soll.“97 Der Anschlag auf einen der „Architekten Großdeutschlands“ war Ausdruck eines offenkundig stattgefundenen Strategiewechsels. Nun war nicht mehr der militärischindustrielle Komplex allein im Fokus der Linksterroristen, sondern – und wohl auch um das Umfeld wieder neu an sich zu binden – gegen das vermeintliche „faschistische Vierte Reich Bundesrepublik“ nach der Wiedervereinigung gerichtet. Deutlich erkennbar war das Hände ringende Suchen nach einem neuen Bezugspunkt nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa.98 Die Tatausführung machte diese Avancen der Kommandos jedoch wieder zunichte. Zwar war der Anschlag gegen einen Spitzenrepräsentanten des Systems gerichtet, seine Ausführung durch Schüsse in den Rücken hatte jedoch mehr von einem mafiösen Fememord denn von einer revolutionären Tat. Insofern konnte er die bereits bestehende Spaltung nicht heilen, sondern vertiefte sie vielmehr. Auch die gesamtgesellschaftliche Isolation schritt voran. Eine Entwicklung, die von wenigen Terroristen in der Retrospektive geteilt wird: „ (...) ist es nicht (...) so, dass die Bestimmung der Schärfe unserer Angriffe (...) zwangsläufig in die gesellschaftliche Isolierung führen musste, weil die unmittelbare Verbindung zur Lebensrealität der Menschen hier dadurch abgeschnitten war und unsere Aktionen (...) eine nicht nachvollziehbare Eskalation darstellten?“99 Die öffentlich ausgetragenen Debatten einen Autoritätsverlust der Kommandos, der zu Zeiten eines Andreas Baader nicht möglich gewesen wäre. Durch die zunehmende Kritik aus dem Umfeld und die fortschreitende Immunisierung der Kommandos gegen jedwede kritische Haltung wurde der Zusammenhang zwischen Widerstand und Guerilla völlig aufgelöst. Zwischen die Kommandoebene auf der einen Seite und die Ebenen der illegalen bzw. der legalen Militanten und des sympathisierenden Umfeldes auf der anderen Seite war ein tiefer Graben aufgerissen, der nicht mehr zu überwinden war und letztlich in die Spaltung des RAF-Gefangenenkollektivs 1993 und in die Auflösung der Gesamtorganisation 1998 mündete. Zusätzlich zu den spalterischen Tendenzen der Entideologisierung und der Isolierung trat noch ein weiteres Spezifikum der dritten RAF-Generation hinzu, das von den Aktivisten eigentlich als Schutzmechanismus gedacht war: Ihre fortschreitende Professionalisierung, welche die Arbeit der ermittelnden Behörden bis heute erschwerte. Die erste und zweite Generation hatte stets Spuren hinterlassen. Gerade bei den Gründern der RAF war dies wohl auf den Fatalismus Baaders` zurückzuführen: „Für ihn war es egal, ob er Spuren hinterließ. Wenn er geschnappt werden würde, war es gut, wenn nicht, 96 „Anschlag auf Gerold von Braunmühl. Erklärung vom 10. Oktober 1986“, in: ID-Verlag (Hrsg.) Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 376. 97 „Anschlag auf Detlev Karsten Rohwedder. Erklärung vom 4. April 1991“, in: Ebd., S. 405. 98 Siehe zur Wirkmächtigkeit der geopolitischen Ereignisse und deren Auswirkungen auf die RAF Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN 2), S. 176-180. 99 So Birgit Hogefeld, Zur Geschichte der RAF, in: Psychosozial-Verlag (Hrsg.), Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen, aaO. (FN 92), S. 51.
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dann auch. Für ihn gab es nur zwei Alternativen: Tod oder Sieg.“100 Dieser offensive Defätismus hatte sich auf die zweite Generation übertragen. Stets konnten die Behörden damit rechnen, entweder einen Fingerabdruck etwa von Toilettensitzen oder aus dem Inneren von Kühlschränken entnehmen zu können, die Christian Klar dort ganz bewusst als „persönliches Markenzeichen“ zu hinterlassen pflegte.101 Mit der dritten Generation endeten diese Mittel der Beweisaufnahme: Wohl durch die Zuhilfenahme von auf die Fingerkuppen aufgetragenem Flüssigpflaster vermieden die Terroristen bei ihren Anschlägen das Hinterlassen von brauchbaren Fingerabdrücken. Daneben bevorzugte die dritte Generation nun die Methode der Konspiration, sie verhielt sich in allen ihren Aktionen klandestin und versuchte, ihre jeweiligen Vorhaben unter allen Umständen unauffällig auszuführen. Im Gegensatz etwa zu Baader, der Scheicher zufolge vor Verbrechen „...am liebsten mit einem auberginefarbigen Porsche entgegen einer Einbahnstraße fuhr und dabei die Knarre neben sich auf dem Sitz liegen hatte“102, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen, bevorzugten die Aktivisten der achtziger und neunziger Jahre Wagen der Mittelklasse und angemietete Wohnungen in einfachen Wohngegenden mit unauffälligen Legenden. Für die RAF war nun die eigene Sicherheit zum obersten Gebot erhoben worden. Offensichtlich erstellte sie Risikoanalysen vor ihren Anschlägen, um das Ausmaß der eigenen Gefährdung zu eruieren und die Gefahr einer dauerhaften Schwächung durch Verhaftung oder Tod von Mitgliedern nahezu auszuschließen. Die genaue Kenntnis der behördlichen Rasterfahndung ermöglichte der RAF zusätzlich eine Vorgehensweise, die dieses Risiko minimierte.103 Hinzu kam die Perfektionierung der terroristischen Praxis bei der Vorbereitung wie bei der Durchführung terroristischer Anschläge. Bei den Attentaten auf Beckurts 1986 wie auf den damaligen Staatssekretär im Finanzministerium, Hans Tietmeyer, zwei Jahre darauf tarnten sich die Täter als Landvermesser, um den Ausführungsort möglichst unbemerkt auszukundschaften und eine etwaige langfristige Vorbereitungszeit ungestört hinter sich zu bringen. In der Tatdurchführung trat das fortgeschrittene Maß an Professionalisierung deutlich hervor, wobei vor allem das Attentat auf Alfred Herrhausen bedeutsam werden sollte. In einem logistisch wie technisch hochkomplexen Tatverlauf war der RAF der Mord an dem Vorsitzenden der Deutschen Bank gelungen, ohne dass bis heute erwiesen wäre, wer für das Bombenattentat verantwortlich wäre. Das Bombenpaket für den Anschlag war auf einem Kinderfahrrad neben der Fahrbahn deponiert und durch einen Reflektorspiegel mittels einer Lichtschranke mit der gegenüberliegenden Straßenseite verbunden worden. Art und Ausführung der Tat lassen vermuten, dass es zumindest einen Sprengstoffexperten bei der dritten Generation gegeben haben musste.104 Die technische Perfektionierung stellte die ermittelnden Behörden vor unlösbare Aufgaben, da sich für die Spurensicherung keine verwertbaren Hinweise finden ließen.
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Scheicher: Interview am 11. Oktober 1999 in Meckenheim. Siehe dazu Hoffman, Bruce, Terrorismus. Der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt, Frankfurt am Main 1999, S. 240. 102 Scheicher: Interview am 08. Februar 2001 in Bonn/Bad Godesberg. 103 Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN 2), S. 291-298. 104 Lange Zeit galt Horst Ludwig Meyer als „Sprengmeister der RAF“. Nach seiner Erschießung durch die österreichische Gendarmerie nach einem Feuergefecht 1999 in Wien stellte sich aber heraus, dass er genau wie seine Begleiterin Andrea Martina Klump nicht zur Kommandoebene der dritten Generation gehört hatte. Siehe dazu ebd., S. 104-105 und S. 326-328. 101
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In jedem Falle war der RAF ihre seitens der Behörden nicht angreifbare Stellung bewusst. Ihre Selbstsicherheit demonstrierte sie darin, dass das tödliche Attentat auf von Braunmühl und der versuchte Anschlag auf den Staatssekretär im Innenministerium Alfred Neusel am 29. Juli 1990 in unmittelbarer Nähe staatlicher Institutionen stattfanden, gleichsam um die Machtlosigkeit der Ermittler zu verdeutlichen. Gleichwohl gab es eine Beschränkung der Wirkungsbreite der dritten Generation. So kamen etwa langwierige Entführungen wie die Hanns Martin Schleyers 1977 nicht mehr in Frage: „Für Entführungen war ein großes Maß an manpower wie auch eine ausgefeilte Logistik vonnöten. Um Bombenattentate auszuführen, bedurfte es zwar auch einer Logistik, doch die Anzahl der beteiligten Personen konnte weitaus geringer gehalten werden.“105 Offensichtlich verfügte die Kommandoebene der dritten Generation weder über eine ausreichende logistische Basis noch über eine genügend große Anzahl an Mitgliedern, so dass an Stelle der Entführungen nun punktuelle Attentate mit Sprengsätzen oder durch Handfeuerwaffen traten, die an Brutalität die Anschläge der Vorgänger zu übertreffen vermochten. Maßnahmen dieser Art konnten sich jedoch im Bewusstsein der Öffentlichkeit nicht verankern wie dies etwa durch die langwierige Entführung von Schleyer möglich gewesen war. Somit verkehrte sich die Wirkabsicht der vorgenommenen Professionalisierung in ihr Gegenteil, und die dritte Generation leistete damit letztlich selbst einen aktiven Beitrag zu ihrem Versinken in der öffentlichen Bedeutungslosigkeit. Dieser galt es durch die Suche nach neuen Bundesgenossen im Ausland vorzubeugen, nachdem sich das Scheitern der nationalen Front frühzeitig abgezeichnet hatte. Bereits die erste Generation hatte sich in palästinensischen Lagern in Guerillataktik ausbilden lassen, zu einer dauerhaften schlagkräftigen Verbindung war es jedoch nicht gekommen.106 Die dritte Generation versuchte hingegen eine in ihrem Mai-Papier propagierte „westeuropäische Front“ aufzubauen.107 Deutlich zutage tritt diese Tendenz an den Bekennerschreiben der dritten Generation: Jedes Kommando trug den Namen eines getöteten – meist ausländischen – Terroristen, um dem Gedanken des Internationalismus neues Gewicht zu verleihen: „Für den antiimperialistischen Kampf heißt das, dass gegen diese Einheit der imperialistischen Kräfte die Kämpfe an allen Linien parallel geführt werden müssen.“108 Um diesen Kampf wirkungsvoll bestreiten zu können, unterhielt sie zum Teil engen Kontakt etwa mit der Action Directe (AD) in Frankreich, den Cellules Communistes Combattantes (CCC) in Belgien wie den Brigate Rosse in Italien. Die ersten Gehversuche der internationalen Front waren von erschreckender Schlagkraft: Im Januar 1985 gab die RAF ein gemeinsam mit der AD verfasstes Kommunique mit dem Titel „Die Einheit der Revolutionäre in Westeuropa“ heraus. Kurz darauf verübte die dritte Generation ihr erstes tödliches Attentat auf Ernst Zimmermann in einer zeitlich so abgestimmten Aktion mit dem 105 Interview mit dem ehemaligen Direktor des BKA Meckenheim, Dr. Manfred Klink am 11. Oktober 1999 in Meckenheim. 106 Siehe dazu die Schilderungen von Peter Jürgen Boock, einem führenden Aktivisten der zweiten RAFGeneration, in „Notfalls erschießen“, in: Der Spiegel Nr. 38/2001, 144-145. Zur Internationalität der RAF insgesamt siehe Wunschik, Tobias, Baader-Meinhof international?, in: APuZ B 40-41/2007, S. 23-29. 107 Zur fortschreitenden Internationalisierung der dritten RAF-Generation siehe Hans-Josef Horchem, Der Verfall der Roten Armee Fraktion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) B46/47 1990, S. 52-61. In der angelsächsischen Literatur vgl. dazu Alexander, Yonah/ Pluchinsky, Dennis A., Europe`s red terrorists. The fighting communist organizations, Portland 1992. 108 „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“, in: ID-Verlag (Hrsg.), Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 39), S. 295.
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Alexander Straßner
Mord der AD an dem französischen General René Audran, dass von einer konzertierten Aktion ausgegangen werden musste, was sich durch das Bekennerschreiben bewahrheitete.109 Die beiden Gruppierungen begriffen ihren Anschlag als Fanal für ihre Bereitschaft, den antiimperialistischen Kampf gemeinsam zu führen. Die Zusammenarbeit schien sich zu vertiefen, als auch der Anschlag auf die Rhein-Main-Airbase 1985 gemeinsam durchgeführt wurde. Ebenso wurden bei verschiedenen Sprengstoffanschlägen Material für Sprengsätze aus einem Überfall auf ein Munitionslager in Eccausines (Belgien) verwendet. Zu einer weiterführenden Zusammenarbeit kam es allerdings nicht, was die RAF auch bestätigte: „In vielen Flugblättern reden Genossen vom „Zusammenschluss RAF-Action directe“. Das vermittelt so was wie „organisatorisch-logistisch“ – was es nicht gibt.“110 Am 21. Februar 1987 wurden die vier führenden Mitglieder der AD in Orleans verhaftet, und es ergab sich nach der Verhaftung durch den Fund zahlreicher Dokumente ein klares Bild über das tatsächliche Ausmaß der Zusammenarbeit. Da sich die AD allerdings nicht mehr erholen sollte, war die Kooperation endgültig beendet.111 Die dritte Generation begab sich nun auf die Suche nach einem neuem Bündnispartner und versuchte, die Roten Brigaden (Brigate Rosse) Italiens für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.112 Zu mehr als einer verbal bekundeten Verbindung kam es jedoch hierin nicht. Zwar wurde nach dem missglückten Anschlag auf Hans Tietmeyer 1988 ein gemeinsames Kommuniqué in deutscher wie italienischer Sprache hinterlegt und es kam zu Sympathiekundgebungen italienischer Terroristen für die RAF bei Gerichtsverhandlungen. Langsam aber zerrüttete die unterschiedliche Ausrichtung die beiden Organisationen so weit, dass beide letztlich zu „feindlichen Konkurrenten“ wurden.113 Die Rotbrigadisten etwa betrachteten ihren Kampf als Revolution im Konflikt am Arbeitsplatz, der einen weitaus pragmatischeren Ansatz beinhaltete als dies der abstrakt anmutende Terrorismus der RAF tat. So betrachteten die Roten Brigaden die deutschen Vorkämpfer als Organisation, welche ihren revolutionären ideologischen Charakter bereits lange verloren hatte. Die bestehenden Gegensätze waren jedoch nicht nur ideologischer Natur: Eigentümlicherweise vertrat die RAF gegenüber ihren italienischen Gesinnungsgenossen einen unberechtigten Führungsanspruch. Dieser Gedanke der Präponderanz war schon deshalb unangebracht, da die Brigate Rosse weitaus potenter und effektiver in ihren Aktionen waren. Zur vollendeten Loslösung von der RAF kam es durch deren Gewaltverzichtserklärung aus dem Jahr 1992. Die Roten
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„Erschießung von Ernst Zimmermann. Erklärung vom 1. Februar 1985“, in: Ebd., S. 330-331. Zur Kooperation der beiden Organisationen siehe Suter, Martin, Action Directe (AD) und Rote Armee Fraktion (RAF) in den Jahren 1985/1986, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift Nr. 9/1988, S. 569-574. 110 „Interview mit der RAF. Aus der Flugschrift „Zusammen kämpfen“, September 1985“, in: Ebd., S. 348. 111 Zur Geschichte der Action Directe siehe Dartnell, Michael York, Action Directe. Ultra-Left Terrorism in France 1979-1987, London 1995, S. 182. Zur Zusammenarbeit zwischen RAF und AD siehe auch Plenel, Edwy, Ist „Action Directe“ in deutscher Hand? Ursprünge und Verbindungen des Terrorismus in Frankreich, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog und internationale Zusammenarbeit Nr. 2/1985, S. 143-152. 112 Erste Versuche der Kontaktaufnahme fanden laut den Memoiren einiger Brigate Rosse-Mitglieder bereits Anfang der siebziger Jahre statt, gingen jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht zuletzt aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten niemals über den Austausch von Waffen und Passfälschungsdokumenten hinaus. Siehe dazu Alberto Franceschini, „Das Herz des Staates treffen“, Mailand 1988, S. 29. 113 So der italienische Terrorist und Entführer von Aldo Moro, Valerio Morucci. Siehe dazu „Die RAF und wir – feindlichen Konkurrenten“, in: Der Spiegel Nr. 31/1986, S. 106-108.
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Brigaden warfen der RAF damit die vollzogene Aufgabe revolutionärer Ziele, antiimperialistischer Gegenstrategie sowie der Bildung einer revolutionären Gegenmacht vor.114 Weitere Internationalisierungstendenzen schlugen fehl: So versuchten die Aktivisten der dritten Generation eine Annäherung an die spanische GRAPO ebenso wie an die griechische Bewegung „17. November“, die in ihrer strikt antiamerikanischen Ausrichtung den Interessen der RAF noch am nächsten kam. Die Zusammenarbeit mit den belgischen Cellules Communistes Combattantes (CCC) bewegte sich lediglich im Bereich der Logistik, beide Organisationen verwendeten partiell Sprengstoff gleicher Provenienz. Auch die CCC übten intensive Kritik an dem Gewaltverzicht der RAF 1992. Die westeuropäische Front zerschellte jedoch nicht zuletzt daran, dass die schlagkräftigsten terroristischen Organisationen sich der Anbiederung durch die RAF verwahrten. Sowohl die spanische ETA als auch die nordirische IRA lehnten das Konzept der deutschen Terroristen ab, kämpften beide doch für national-separatistische Ziele, während die bundesdeutschen Terroristen ob ihrer verschrobener Legitimation einhellig abgelehnt wurden. Als die dritte Generation den Mord an Zimmermann durch ein „Kommando Patrick O`Hara“ ausführte, verbat sich die IRA sogar die „Schändung des Namens.“115 Darüber hinaus versuchte die dritte Generation traditionell den Schulterschluss mit palästinensischen Befreiungsorganisationen. Unbekannt ist, wie weit diese Kontakte gingen, die Tatsache, dass mehrere untergetauchte Aktivisten der dritten Generation unter anderem im Libanon Unterschlupf fanden, lässt jedoch zumindest eine Zusammenarbeit auf der logistischen Ebene vermuten.116 In den neunziger Jahren versuchten die nach dem Spaltungsprozess 1993 zersplitterten Reste des Umfeldes als „Antiimperialistischer Widerstand“ eine Vertiefung der Kontakte zu türkischen Genossen aus der Arbeiterpartei PKK ebenso wie zur Befreiungsorganisation „Devrimci Sol“.117 Die Verbindungen zum kurdischen Befreiungskampf wurden besonders deutlich, als Presseberichten zufolge das ehemalige Mitglied aus dem RAF-Umfeld Andrea Wolf bei der Unterstützung ihrer türkischen Genossen ums Leben kam.118 Auch die seit jeher bestehenden Verbindungen zu den Tupamaros nach Südamerika sollten intensiviert werden, eine schlagkräftige Verbindung wurde damit jedoch nicht erreicht. Die Internationalisierungstendenzen nach 1990 hatten vielmehr kaum mehr aufzuweisen als den Charakter der Pflege althergebrachter und gutnachbarschaftlicher Beziehungen. Die grundlegende internationalistische Ausrichtung des Kampfes, der bereits seit der Gründung der RAF Bestand hatte, behielt die dritte Generation zumindest pro forma bei. In einer Pervertierung des Wortes war der Befreiungskampf der RAF altruistisch. Das dialektische Verhältnis von Kampf und Befreiung war für sie weiterhin gültig, die Befreiung in der Dritten Welt war von derjenigen in Europa nicht zu trennen. Insofern fand der bewaffnete Kampf der dritten Generation für die Länder im „Trikont“ statt, darüber hinaus verstand sich die dritte Generation als eigenständige Guerilla im „imperialistischen Zentrum Europa“.
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Vergleiche dazu Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN 3), S. 309-315. Aktuell von der Akteursperspektive aus auch Jansen, Christian, Brigate Rosse und Rote Armee Fraktion. Protagonistinnen, Propaganda und Praxis des Terrorismus der frühen siebziger Jahre, in: von Mengersen, Oliver (Hrsg.), Personen, soziale Bewegungen, Parteien, Heidelberg 2004, S. 483-500. 115 Zitiert nach „Terror: Da waren Superprofis am Werk“, in: Der Spiegel Nr. 29/1986, S. 28. 116 Siehe dazu Straßner, Die dritte Generation der RAF, aaO. (FN 3), S. 109-110. 117 Siehe dazu exemplarisch den Bundesverfassungsschutzbericht 1998, S. 108-110. 118 Siehe dazu „Besonders mutige Kämpfer“, in: Der Spiegel Nr. 46/1998, S. 94 – 96.
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Alexander Straßner Nachwirkungen: Ansätze einer Historisierung?
Für keine andere terroristische Organisation in der Bundesrepublik war das Wechselspiel mit den Medien so erfolgreich wie für die RAF.119 Bis heute stellen der Einfluss der Medien ebenso wie dynamisierende und eskalierende Maßnahmen des Staates Reizthemen dar, welche die Gesellschaft weitgehend polarisieren.120 Im Winter und Frühling 2007 erhitzte die Diskussion um die vorzeitige Entlassung Brigitte Mohnhaupts und Christian Klars die Gesellschaft in einem Maße, das nach der öffentlichen Bedeutungslosigkeit der RAF seit 1993 nicht mehr in dieser Schärfe zu erwarten war. Während führende konservative Politiker öffentlich(e) Reue einforderten121 und abhängige und unabhängige juristische Gutachten von fehlendem Gefahrenpotenzial sprachen122, forderten Angehörige von Opfern zumindest Hilfe bei der Aufklärung bis heute nicht zuzuordnender Verbrechen ein.123 Anhand der Diskussion um die vorzeitige Freilassung von Mohnhaupt und die Begnadigung Christian Klars wurde mehr als einmal deutlich, dass eine Verbindung zwischen der RAF und ihrer „Klientel“, den unterdrückten Massen der Bundesrepublik und der Dritten Welt, niemals Bestand hatte. Logisches Resultat war, dass sowohl Mohnhaupt als auch Klar auf die Rechtstaatlichkeit bzw. Gnade des ehedem als faschistisch verunglimpften Systems hoffen mussten, während das Rechtsempfinden der Bevölkerungsmehrheit einer vorzeitigen Freilassung skeptisch bis ablehnend gegenüberstand.124 Zusätzliches Feuer erhielt die Diskussion um die Begnadigung Klars, als dieser in einer Grußbotschaft an die Rosa-LuxemburgKonferenz aus der Zelle heraus betonte, dass die Zeit reif sei für eine Überwindung des Kapitals.125 Während Mohnhaupt ohne größere weitere Diskussionen entlassen wurde, wurde die Entscheidung über Klars Begnadigung weiter aufgeschoben, auf den Druck der Öffentlichkeit hin konnten nicht einmal mehr Hafterleichterungen für ihn durchgesetzt werden, die er fortan auf dem Klageweg durchzusetzen suchte.126 Insgesamt schien die Diskussion mehr und mehr irrationale, weil instrumentalisierende Züge anzunehmen. Weder wurden Selbstgestellungen ehemaliger, vermeintlich führender Aktivisten wie Christoph Seidler oder Barbara Meyer angesprochen, die Ende der neunziger Jahre aufgrund mangelnder Erkenntnisse sofort wieder auf freien Fuß gesetzt werden mussten, noch die Tatsache, dass über eine Freilassung Birgit Hogefelds, die sich im Gefängnis als Einzige auf äußerst kritische Art und Weise mit der RAF-Geschichte auseinandergesetzt hat127, aufgrund ihrer erst geringen Haftzeit nicht einmal angedacht wurde. An ihrem Beispiel 119 Siehe dazu besonders Weinhauer, Klaus/Requate, Jörg/Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt am Main 2006. 120 Siehe dazu synoptisch, aber tendenziös Kunath, Jana, RAF. Die Reaktion des Staates auf den Terrorismus der Roten Armee Fraktion, Marburg 2004, in kritischer Diskussion bezüglich der Schleyer-Entführung Kraushaar, Wolfgang, Der nicht erklärte Ausnahmezustand. Staatliches Handeln während des so genannten Deutschen Herbstes, in: Ders. (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 1011-1025. Ferner an aktueller Literatur Petri, Mario, Terrorismus und Staat, München 2007 und Deiß, Tanja Kristin, Herausforderung Terrorismus. Wie Deutschland auf den RAF- und AlQaida-Terrorismus reagierte, Marburg 2007. 121 Siehe dazu „Politiker fordern gedenken an RAF-Opfer“, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.02.2007, S. 5. 122 Siehe dazu „Christian Klar ist keine Gefahr“, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.02.2007, S. 5. 123 Siehe dazu „Genug der Sühne?“, in: Der Spiegel Nr. 5/2007, S. 20-28. 124 Siehe dazu Jessen, Jens, Kein letztes Gefecht, in: Die Zeit Nr. 6/2007, S. 1. 125 Siehe dazu „Grußwort aus der Zelle“, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.02.2007, S. 6. 126 Siehe dazu „Christian Klar klagt auf Hafterleichterung“, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.03.2007, S. 5. 127 Siehe dazu vor Hogefeld, Birgit, Zur Geschichte der RAF, in: Edition ID-Archiv (Hrsg.), Birgit Hogefeld. Ein ganz normales Verfahren…Prozesserklärungen, Briefe und Texte zur Geschichte der RAF. Mit einem Vorwort von Christian Ströbele, Berlin 1996, S. 86-115.
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würde eine Begnadigung wohl weitaus mehr Sinn machen als am Beispiel Christian Klars, der sich geistig noch immer in den ideologischen Grabenkämpfen der siebziger und achtziger Jahre befindet. Die Gnadengesuche Klars wie Hogefelds wurden im Mai 2007 abgelehnt.128 Aber bereits im Herbst 2006 war deutlich geworden wie polarisierend die Thematik auf die Gesellschaft wie auf die Wissenschaft wirkt, als der Hamburger Sozialwissenschaftler Wolfgang Kraushaar eine voluminöse zweibändige Studie zur RAF vorlegte. Während einige Rezensenten anmahnten, die Geschichte der RAF sollte ad acta gelegt und als Bestandteil der zeithistorischen Forschung analysiert werden129, würdigten andere die Analyse von Nachbarbereichen.130 Daneben gab es aber auch altbekannte Vorwürfe der „staatsfreundlichen Geschichtsschreibung“, die eine kritische Diskussion der RAF-Motive ohnehin nicht zulasse.131 Der zentrale Vorwurf lautete aber, mit zusammenfassenden Analysen die RAF „historisieren“ und dem entsprechend bestimmte Aspekte des RAF-Terrorismus (Kampf gegen Ungerechtigkeit, sich selbst reproduzierende Unterdrückungsstrukturen im Kapitalismus) überhaupt nicht mehr aufgreifen und weiter entwickeln zu wollen. Es scheint zweifelhaft, ob eine Historisierung überhaupt von intellektuellen und publizierenden Eliten „verordnet“ werden kann. Angesichts des Grades an öffentlicher Erregung scheint es Gebot, den Zeitpunkt der Historisierung der Gesellschaft zu überlassen. Gerade an der Rezeption von Literatur in der Öffentlichkeit ist ablesbar, dass die Historisierung der RAF längst Einzug gehalten hat. Es sind nicht mehr die (populär-) wissenschaftlichen Abhandlungen und Gesamtdarstellungen, die seit der Selbstauflösung der Gruppe die öffentliche Diskussion bestimmen. Nun sind es die sekundären Bekenntnisse nachrangiger Mitglieder, besonders aber Erlebnisberichte von Angehörigen von getöteten Aktivisten132 ebenso wie neuerdings auch die Kehrseite, Hinterbliebene der Opfer133, deren Erlebnisse, Schilderungen und Interpretationen in den Mittelpunkt der Diskussion rücken. Auch die Zunahme an selbstkritischen Reminiszenzen ehemaliger Frontkämpfer spricht für eine sukzessive Historisierung.134 Während die Einsichten in die Verfehltheit des eigenen Aktionismus aber Randnotizen der öffentlichen Wahrnehmung bleiben, stürzen sich Medien wie Eliten hingegen auf problematische Äußerungen wie die weitgehend isolierten Ansichten eines Christian Klar. So hat sich aus der Gesellschaft heraus die Tendenz fortgesetzt, die Problematik aufzuarbeiten. Für wissenschaftliche Zwecke ungenügende Literatur135 gehört dabei genauso zum Rüstzeug wie Erfahrungsberichte von Personen, die für die Geschichte der RAF und
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Siehe dazu „Ein kurzes Nein nach langem Zögern“, in: Süddeutsche Zeitung vom 08.05.2007, S. 3. Siehe dazu Lohmann, Martin, Lasst die Toten endlich ruhen, in: Die Zeit Nr. 5/2007, S. 55. Siehe dazu „Wirrnis und Wahnsinn“, in: Der Spiegel Nr. 4/2007, S. 44-45. 131 Siehe dazu besonders Oy, Gottfried, Enzyklopädie des Terrors, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. Januar 2007, S. 24. 132 Siehe dazu etwa Thimme, Ulrike, Eine Bombe für die RAF. Das Leben und Sterben des Johannes Thimme von seiner Mutter erzählt, Frankfurt am Main 2004. 133 Siehe dazu Siemens, Anne, Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus, München 2007. 134 Siehe dazu die Ausführungen des führenden Mitglieds der zweiten RAF-Generation Dellwo, Karl-Heinz, Kein Ankommen, kein Zurück, in: Holderberg, Angelika (Hrsg.), Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit, Gießen 2007, S. 97-129 135 So der äußerst schmalbrüstige Versuch, eine Art „RAF-Vademecum“ zu verfassen, nachzuvollziehen am Beispiel von Kellerhoff, Sven F., Was stimmt? RAF. Die wichtigsten Antworten, Freiburg im Breisgau 2007. 129 130
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Alexander Straßner
ihre Bedeutung ohne jegliche Relevanz waren.136 Von besonderer Bedeutung ist hinsichtlich der Diskussion um die Freilassung von ehemaligen RAF-Mitgliedern die Interdisziplinarität der Perspektive.137 Ohne moraltheologische, soziologische, historische und juristische Beiträge wird diese Frage nicht zur Zufriedenheit zu klären sein. Bewusst provokativ und innovativ zeigte sich hier die künstlerische Bewältigung. Neben zahlreichen filmischen Bearbeitungen, die sich, wie der Streifen „Baader“, durchaus weit abseits der historischen Fakten bewegen kann, waren es auch Dokumentationen wie Heinrich Breloers preisgekröntes „Todesspiel“, welches Opfer- und Täterschicksale auf eindrucksvolle Weise miteinander zu kombinieren wusste. Ebenso Legion sind mittlerweile die Versuche, die RAF auf der Bühne künstlerisch zu bearbeiten, aktuell in Bezugnahme auf klassische Figuren der Literatur.138 Das erstaunlichste Phänomen und auch der drastischste Hinweis auf eine Historisierung der RAF ist ihr Eingang in die jugendliche Subkultur. Heute zieren Ereignisse der RAF-Geschichte - wie das Bild des toten Andreas Baader - Kleidungsstücke.139 Dahinter eine RAF-Nostalgie geschweige denn eine inhaltliche und ideologische Affinität zu vermuten, würde zu weit führen. Mehr als die jugendliche Sehnsucht nach Revolte und einem vermeintlich eine Grenzerfahrung darstellenden Leben im Untergrund ist von der Degenerationsgeschichte der RAF für die nachfolgenden Generationen nicht geblieben. Insofern können auch freigelassene ehemalige Terroristen nicht zu einer Wiederauferstehung des hierarchisch organisierten Linkterrorismus in der BRD führen. Auch die Befürchtung, dass bestehende Ungerechtigkeiten, wachsende soziale Spannungen und gesellschaftliche Ungleichgewichte spontaneistisch-militante Strömungen begünstigen könnten, zeigte sich seit der Auflösungserklärung ebenso nur vereinzelt bestätigt.
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Vgl. dazu Stuberger, Ulf G., Die Tage von Stammheim. Als Augenzeuge beim RAF-Prozess, München 2007. Generell zur Frage, ob der literarisch-quantitative Niederschlag der RAF nicht mittlerweile die Grenze zur Unverhältnismäßigkeit überschritten hat, siehe Gottschling, André, RAF - und kein Ende?, in Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 2005, Baden-Baden 2005, S. 264-275. 137 Siehe dazu Hilpert, Konrad, Die Zumutung der Versöhnung. Ein moraltheologischer Blick auf die RAFDebatte, in: Herder-Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion Nr. 3/2007, S. 119-122 und Wassermann, Rudolf, Mythos RAF. Vom Umgang mit RAF-Tätern und Opfern, in: Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik Nr. 4/2003, S. 228-230. 138 Siehe dazu „Ewig spukt der Geist des Terrors“, in: SZ Extra vom 29.03.2007, S. 1. 139 Siehe dazu „Die Prada-Meinhof-Bande“, in: Der Spiegel Nr. 9/2002, S. 202-204. Siehe dazu ausführlicher Sachsse, Rolf, Prada Meinhof. Die RAF als Marke. Ein Versuch in politischer Ikonologie, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 1260-1269. Neuerdings werden biographische Aufarbeitungen der RAF-Geschichte in den Buchhandlungen bereits unter der Rubrik Jugendliteratur geführt. Siehe dazu Prinz, Alois, Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof, Basel 2007.
Terroristische Alternative in der BRD: Die Bewegung 2. Juni
Die Bewegung 2. Juni
Lutz Korndörfer
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Das Jahr des Rückblicks
2007 war das Jahr des großen RAF-Rückblicks. 30 Jahre nach dem Deutschen Herbst berichteten nahezu alle politischen Medien, zum Teil in detaillierten Serien, über die Wirkungsgeschichte der bedeutendsten terroristischen Vereinigung in der Bundesrepublik Deutschland.1 Zeitgleich entbrannte eine hitzige Debatte um die mögliche Entlassung der ehemaligen RAF-Terroristen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. Die Rote Armee Fraktion stand plötzlich wieder im Fokus des öffentlichen Interesses. Das Jahr 2007 bot sich aber auch für einen Rückblick auf die Geschichte einer anderen terroristischen Organisation an. Der Todestag des Studenten Benno Ohnesorg jährte sich 2007 zum 40. Mal. Am 2. Juni 1967 war der friedfertige Demonstrant während eines Protestaufmarsches gegen den Schah von Persien von einem Polizeibeamten erschossen worden. Nach dem folgenschweren Ereignis hatte sich Anfang der 70er Jahre „Die Bewegung 2. Juni“ benannt. Obwohl die terroristische Vereinigung aus Westberlin niemals das aktionistische und medienwirksame Niveau der RAF erlangte2 und heute im Bekanntheitsgrad weit hinter der Roten Armee Fraktion rangiert, war die Gruppe um Fritz Teufel, Michael „Bommi“ Baumann und Ralf Reinders mehr als eine bloße „Spaßguerilla“, die bei ihren Banküberfällen Schokoküsse an verunsicherte Kunden verteilte.3 Neben derartigen Aktionen, die von der konkurrierenden RAF als populistisch verurteilt wurden4, schreckte die „Bewegung 2. Juni“ auch vor Morden nicht zurück, um den kapitalistischen Staat zu überwinden. Wie die RAF entschloss sich die „Bewegung 2. Juni“ also zum bewaffneten Kampf gegen die Vertreter des angeblich repressiven Systems. Mit der Geiselnahme des CDU-Politikers Peter Lorenz – die spektakulärste Aktion in der Geschichte der Bewegung und „ein Meilenstein in der Geschichte der linksradikalen Militanten in der BRD“5 - gelang der Berliner Stadtguerilla 1975 sogar die Freipressung von fünf inhaftierten Genossen. Durch diesen Coup ermutigt, aber auch unter Zugzwang6, hatte sich die zweite RAF-Generation zwei Jahre später ein ähnliches Ziel gesetzt. Doch die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer brachte nicht den erwünschten Erfolg – die Freipressung der gefangenen RAF1
Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. Vgl. Wunschik, Tobias, Die Bewegung 2. Juni, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Band 1, S. 531. 3 Vgl. Lee, Felix, Der verblasste Mythos vom hippen Guerillero, auf: http://www.taz.de/index.php?id= archivseite&dig =2005/02/26/a0347, Stand: 7. November 2007. 4 Vgl. Reinders, Ralf/ Fritzsch, Ronald, Die Bewegung 2. Juni. Gespräche über Haschrebellen, Lorenzentführung, Knast, Berlin 1995, S. 50. 5 Ebd., S. 61. 6 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 552. 2
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Lutz Korndörfer
Führungsriege scheiterte.7 Vermutlich muss man der „Bewegung 2. Juni“ in diesem Zusammenhang attestieren, dass sie im Vergleich zur RAF besser einzuschätzen vermochte, welche Forderungen realistische Chancen auf eine Erfüllung hatten.8 Trotz der strategisch durchdachten Lorenz-Entführung beschäftigte sich die Terrorismusforschung nicht allzu intensiv mit der „Bewegung 2. Juni“. „Das kollektive Gedächtnis in Bezug auf den sogenannten ,Terrorismus’ in der BRD ist von der RAF geradezu okkupiert“9, glaubt Marius Schiffer, der vor allem den Mangel an Sekundärliteratur zur „Bewegung 2. Juni“ beklagt.10 Auch Tobias Wunschik ist der Auffassung, dass die Westberliner Terroristenvereinigung von der Wissenschaft bislang eher „stiefmütterlich behandelt“11 worden ist. Dabei weisen die Entstehungsumstände von RAF und „Bewegung 2. Juni“ durchaus Parallelen auf.
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Entstehungsumstände: Gammler- trifft Studentenbewegung
Nicht nur Wunschik vertritt die Auffassung, dass sich der „der deutsche Linksterrorismus (…) personell aus der studentischen Revolte heraus“ 12 entwickelt habe. Auch Ulrich Matz und Gerhard Schmidtchen kommen zu dem Schluss: „Der (…) Stand der zeitgeschichtlichen Forschung rechtfertigt die Feststellung, dass der deutsche Terrorismus nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Neuen Linken (…) verstanden werden kann.“13 Und Bernhard Rabert ist sich sicher: „Die Herkunft des deutschen Linksterrorismus aus der zerfallenden Studentenbewegung ist unbestritten.“14 Für die RAF, deren Mitglieder überwiegend aus studentischen Kreisen stammten, mögen diese Aussagen zutreffen. Doch welche Bezugspunkte hatte die „Bewegung 2. Juni“ zur Studentenbewegung? Die Wurzeln der terroristischen Gruppierung sind in der Berliner Subkultur zu finden. Von der Proteststimmung Mitte der 60er Jahre wurde aber nicht nur der akademische Nachwuchs erfasst, sondern auch Heranwachsende aus bildungsfernen Schichten.15 Etwa zeitgleich zur Studentenbewegung entstand vor allem in Berlin und Frankfurt die so genannte Gammlerbewegung, der in erster Linie Jugendliche der „Unterschicht“ angehörten.16 Merkmale dieser Gruppierung waren die Vorliebe für Beat- und Rockmusik, der Verzicht auf Konsum und Arbeit, ein äußerlich ungepflegtes Erscheinungsbild (lange Haare) sowie die Verweigerung des gesamten bürgerlichen Lebensstils. Zahlreiche „Gammler“ verzichte7
Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. Siehe hierzu Viett, Inge, Nie war ich furchtloser, Hamburg 1997, S. 126 und 172 und Reinders/Fritzsch Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 65. 9 Schiffer, Marius, Die Bewegung 2. Juni. Eine historische Untersuchung zum „Bewaffneten Kampf“ in der Bundesrepublik Deutschland, Bochum 2001, S. 4. 10 Ebd., S. 6. 11 Wunschik, Tobias, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 532. 12 Wunschik, Tobias, Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF, Opladen 1997, S. 122. 13 Matz, Ulrich/ Schmidtchen, Gerhard, Gewalt und Legitimität, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Analysen zum Terrorismus, Band 4/1, S. 24. 14 Rabert, Bernhard, Terrorismus in Deutschland. Zum Faschismusvorwurf der deutschen Linksterroristen, Bonn 1991, S. 35. 15 Siehe Claessens, Dieter/ Ahna, Karin de, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Gruppenprozesse, Analysen zum Terrorismus, Band 3, S. 103. 16 Vgl. Sigfried, Detlef, Ästhetik des Andersseins: Subkulturen zwischen Hedonismus und Militanz, 1965-1970, in: Weinhauer, Klaus/Requate, Jörg/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt/Main 2006, S. 79f. 8
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ten beispielsweise auf ein geregeltes Arbeitsleben.17 Obwohl die „Gammler“ politische Aktionen meist ablehnten, entstand innerhalb der Bewegung eine Fraktion, die politische Ziele formulierte: „Der politische Flügel der Gammler rückte radikaler als alle anderen Gruppierungen die Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten und erklärte, anstatt sich auf einen langwierigen Kampf für den Sozialismus einzurichten, die Expropriation der Expropriateure zum Sofortprogramm.“18 In Berlin versammelte sich die Gammlerbewegung vor allem im Umfeld der Gedächtniskirche.19 Von der späteren „Bewegung 2. Juni“ gehörten der Gammler-Szene unter anderem Ralf Reinders und Michael „Bommi“ Baumann an. Letzterer nannte die „Monotonie im Arbeitsbereich“ und die „Ablehnung der Umwelt für Andersartigkeit“ als Ursachen für seinen Beitritt zur Gammlerbewegung.20 Die Ablehnung der Gesellschaft äußerte sich laut Reinders unter anderem darin, dass die langhaarigen „Gammler“ nur wegen ihrer äußeren Erscheinung Arbeitsstellen verloren und verprügelt worden sind.21 Im September 1965 kam es dann zu einem identitätsstiftenden Ereignis: Nach einem Rolling-Stones-Konzert auf der Waldbühne entwickelten sich schwere Ausschreitungen zwischen Polizei und Konzertbesuchern. Reinders erklärt diesbezüglich: „Es waren etwa 200 bis 250 Leute, die dann losmarschierten. Unter ihnen waren die späteren Aktivisten des 2. Juni stark vertreten (…) Jeder kannte jeden und es gab ein Stück Gemeinsamkeit, ein gemeinsames Gefühl.“22 Im selben Jahr initiierten Studenten in Berlin erste Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. 23 Die Beteiligung an derartigen Protestkundgebungen führte zu einer weiteren Politisierung innerhalb der Gammlerbewegung – auch wenn die Gammler eher emotional als studentisch rational argumentierten.24 Die entscheidende Zäsur in der Entstehungsgeschichte der „Bewegung“ stellte aber der 2. Juni 1967 dar. An diesem Tag versammelten sich etwa 3000 Schaulustige vor der Deutschen Oper in Berlin, um dem Staatsbesuch des Schahs von Persien beizuwohnen. Unter ihnen skandierten rund 400 Demonstranten – größtenteils Studenten - Sprechchöre gegen den persischen Staatschef. Denn dieser hatte die Opposition im eigenen Land „blutig unterdrückt“25. Als die ersten Steine in Richtung Wagenkolonne des Schahs flogen, griff die Polizei „in beispielloser Brutalität“26 gegen die Demonstranten durch, „damit einem klassischen Diktator (…) der Kunstgenuss nicht eingetrübt wurde“27. Der Journalist Uwe Soukop geht im Übrigen davon aus, dass die Steinewerfer aus dem Umfeld der Polizei stammten, weil sich Demonstranten bis dahin zu wenig aggressiv verhalten hätten. Doch die Polizei habe der rebellischen Studentenschaft an diesem Tag eine Lektion erteilen wol-
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Vgl. Schiffer, Marius, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 20. Ebd., S. 82. Vgl. ebd. und. Schiffer, Marius, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S.20 sowie Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 103f. 20 Zitiert nach Claessens, Dieter/ Ahna, Karin, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 104. Siehe dazu auch seine skizzenhafte Autobiografie Baumann, Michael „Bommi“, Wie alles anfing, Frankfurt/Main 1976. 21 Vgl. Reinders/ Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 13. 22 Ebd., S. 14. 23 Vgl. ebd., S. 15. 24 Vgl. Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 105. 25 Peters, Butz, RAF. Terrorismus in Deutschland. München 1993, S. 47. 26 Matussek, Matthias/ Oehmke, Philipp, Die Tage der Kommune, In: Der Spiegel, Nr. 5/2007, S. 149. 27 Winkler, Willi, Der Tod des Träumers, in: Süddeutsche Zeitung, S. 3, 31. Mai 2007. 18 19
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len und dazu einen Vorwand benötigt.28 In einer Seitenstraße ereignete sich dann jener Vorfall, der die studentische Revolte intensivieren und die extreme Linke radikalisieren sollte: Polizeibeamte umzingelten den Studenten Benno Ohnesorg, den sie fälschlicherweise für einen der Anführer der Protestkundgebung hielten. Die Beamten warfen den 26Jährigen zu Boden und schlugen auf ihn ein. Im Verlauf der Auseinandersetzug löste sich aus der Waffe des Kriminalobermeisters Karl-Heinz Kurras eine Kugel, die den Romanistik-Studenten Ohnesorg tödlich in den Kopf traf.29 Im darauf folgenden Prozess erklärte der zuständige Richter: „Es besteht leider der dringende Verdacht, dass auf Benno Ohnesorg auch dann noch eingeschlagen wurde, als er schon tödlich getroffen auf dem Boden lag.“30 Obwohl Soukup in seinen Forschungen zu dem Ergebnis kommt, dass Kurras nicht aus Notwehr geschossen habe, blieb der Polizeibeamte von einer Strafe verschont: Er wurde freigesprochen, was innerhalb der Studentenschaft für weitere Empörung sorgte.31 Der Tod Benno Ohnesorgs bedeutete eine neue Phase in der Entwicklung der bundesdeutschen Protestbewegung und führte zu einer Eskalation im Verhältnis zwischen Studenten und Staatsapparat.32 Ingrid Gilcher-Holtey schreibt, dass das Ereignis in der Studentenschaft „Panik, Entsetzen und Wut“33 ausgelöst habe. Und auch Neidhardt erläutert, dass der studentische Widerstand nach dem Tod Ohnesorgs „mit Sicherheit militanter“34 geworden sei. Fast alle westdeutschen Universitäten organisierten Trauerkundgebungen. Der Protest weitete sich „schlagartig“35 auf ganz Deutschland aus und führte zu einer wesentlichen Vergrößerung der revolutionär eingestellten Basis, die nun ihrerseits auf Gewalt als Lösungsmittel setzte.36 Exemplarisch sei hier auf die Schlacht am Tegeler Weg verwiesen, bei der sich Studenten, junge Arbeiter und Rocker eine spektakuläre Straßenschlacht mit der Polizei lieferten und den Beamten erstmals eine empfindliche Niederlage bereiteten.37 Zudem lieferte die Erschießung Ohnesorgs den militanten Staatskritikern zusätzliche Argumente: „Ohne den 2. Juni 1967 keine ,RAF’, jedenfalls nicht so, wie es dann gekommen ist. (Das gleiche gilt natürlich auch für die ,Bewegung 2. Juni’ in Berlin, nicht nur wegen des Namens)“38, schreibt Soukup. Dass seine Einschätzung den Tatsachen entspricht, untermauert Reinders, der sich zu den Entstehungsursachen der „Bewegung 2. Juni“ äußert: „Die eigentliche Politisierung kam (…) erst mit der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967. Nach all den Prügeln und Schlägen hatten wir das Gefühl, dass die Bullen auf uns alle geschossen haben.“39 Deshalb entschlossen sich die Berliner Terroristen, ihre Gruppierung nach dem Todesdatum Ohnesorgs zu benennen. Reinders und Ronald Fritzsch erläu28
Vgl. Soukup, Uwe, Wie starb Benno Ohnesorg? Protokoll einer Eskalation, Berlin 2007, S. 36, 68. Peters, Terrorismus in Deutschland, aaO. (FN 25),S. 49. 30 Zitiert nach Soukup, , Wie starb Benno Ohnesorg, aa0. (FN 28), S. 97. 31 Vgl. ebd., S. 101, 106. 32 Vgl. Kunath, Jana, RAF. Die Reaktion des Staates auf den Terrorismus der Roten Armee Fraktion, Marburg 2004, S. 17. 33 Gilcher-Holtey, Ingrid, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA, München 2005, S. 66. 34 Neidhardt, Friedhelm, Soziale Bedingungen terroristischen Handelns. Das Beispiel der „Baader-MeinhofGruppe“ (RAF), in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Gruppenprozesse, Analysen zum Terrorismus, Band 3, S. 336. 35 Matz,/Schmidtchen, Gewalt und Legitimität, aaO. (FN 13), S. 36. 36 Vgl. Langguth, Gerd, Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die Neue Linke seit 1968. Köln 1983, S. 27 und Gilcher-Holtey, Ingrid, Die 68er Bewegung, aaO. (FN 33), S. 66. 37 Vgl. Schiffer, Marius, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 18. 38 Soukup, Uwe, Wie starb Benno Ohnesorg? aaO. (FN 28), S. 242. 39 Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 18. 29
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tern dazu: „Das war ein Datum, welches alle noch miteinander verband. Alle wußten, was der 2. Juni bedeutete. Eine andere Überlegung war dabei für uns genauso wichtig. Dieses Datum wird immer darauf hinweisen, dass sie zuerst geschossen haben! (…) Jedesmal wenn jemand etwas zur Bewegung 2. Juni sagt, wird auch erwähnt, dass am 2. Juni `67 Benno Ohnesorg von den Bullen erschossen wurde.“40 Die Gründung der „Bewegung 2. Juni“ erfolgte allerdings erst Anfang 1972. Vorher traten die späteren Terroristen als Mitglieder des „Zentralrates der umherschweifenden Haschrebellen“ in Erscheinung. Dieser entstand im Frühjahr 1969 aus Teilen der politisierten Gammlerbewegung. Nach ihrem Selbstverständnis bildeten die Haschrebellen den „militanten Kern der Berliner Subkultur“41. Mit seinem Namen betonte der „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ in ironischer Art und Weise seine Distanz zu den westdeutschen kommunistischen Parteien.42 Deren Symbolfigur Mao Tse-Tung hatte eine Schrift mit dem Titel „Über die Mentalität umherschweifender Rebellenhaufen“ verfasst. Die Gruppierung setzte sich aus Aktivisten zusammen, die einerseits einen politischen Anspruch formulierten und das bundesdeutsche, spätkapitalistische „Sklavenhaltersystem“ kritisierten, die sich andererseits aber auch zu ihrer hedonistischen Gammlervergangenheit bekannten, gesellschaftliche Zwänge kritisierten, individuelle Entfaltungsmöglichkeiten priesen und dabei in erheblichem Umfang Marihuana konsumierten.43 Ein Leitspruch der Haschrebellen lautete: „High sein, frei sein, Terror muß dabei sein.“44 Die Qualität des „Terrors“ hielt sich zunächst freilich in Grenzen: Im Juli 1969 veranstalteten die Haschrebellen ein „Smoke-In“ im Berliner Tiergarten, gehäuft kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, die den Drogenkonsum in der Szene zu unterbinden versuchten. Darüber hinaus entwickelten die Haschrebellen vor allem bei Demonstrationen eine gesteigerte Gewaltbereitschaft.45 Der Höhepunkt der Militanz wurde während einer Aufführung des Musicals „Hair“ erreicht: Eine von den Haschrebellen gezündete Rauchbombe sollte die Aufführung verhindern.46 Trotz oder gerade wegen ihres unberechenbaren Aktionismus stießen die Haschrebellen bei organisierteren Teilen der Protestbewegung auf Ablehnung: Sie kritisierten den „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ wegen ihrer strategielosen und spontanen Vorgehensweise als eine Ansammlung naiver und pseudopolitischer Anarchisten.47 Ein Strategiewechsel der gewaltbereiten Szeneangehörigen setzte nach dem Ebracher „Knastcamp“ ein. Hierbei hatten es sich Anarchisten aus ganz Deutschland zum Ziel gesetzt, vom 12. bis 19. Juli 1969 vor der Justizvollzugsanstalt Ebrach ein Camp zu errichten, um sich für die Freilassung des inhaftierten Genossen und APO-Aktivisten Reinhard Wetter einzusetzen. Um die Organisation des „Happenings“ hatte sich in erster Linie die West-
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Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 7. Vgl. Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 107. 42 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO (FN 2), S. 543. 43 Vgl. Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 106108. 44 Viett, Inge, Nie war ich furchtloser. Autobiographie, Hamburg 1996, S. 76. 45 Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 22-24. 46 Vgl. Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 25. 47 Vgl. Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 107, 114. 41
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berliner Kommune 1 gekümmert.48 Nachdem Teilnehmer des „roten Knastcamps“ den Arbeitsbetrieb im Bamberger Landratsamt gestört und Verwüstungen hinterlassen hatten, wurden sie verhaftet.49 Die Kundgebung war damit gescheitert. Dennoch war das „Knastcamp“ von immenser Bedeutung für die Entwicklung des westdeutschen Linksterrorismus. Schließlich hatte sich bei dem Treffen das „Who is who“ der späteren Terroristenszene versammelt. Neben Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Brigitte Mohnhaupt, Astrid Proll, und Irmgard Möller hatten auch Georg von Rauch, Ina Siepmann, Thomas Weißbecker, Ralf Reinders und Fritz Teufel an der Veranstaltung teilgenommen. „Es ist zu vermuten, dass bei diesem Aufeinandertreffen (…) über Vorstellungen des Widerstands diskutiert und Kontakte geknüpft wurden“50, schreibt Schiffer. Das „Knastcamp“ von Ebrach war „ohne dass es den Beteiligten bewusst war, ein gemeinsamer Abschied von der APO“51 und läutete die Phase des bewaffneten Kampfes gegen das System der BRD ein. Ein Teil der späteren „Bewegung 2. Juni“ brach nach Ebrach zur El Fatah nach Jordanien auf, um sich dort einer militärischen Ausbildung zu unterziehen. Nach der Rückkehr aus dem Nahen Osten gründeten Ina Siepmann, Georg von Rauch, Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und ihre Genossen die „Tupamaros Westberlin“ sowie die „Tupamaros München“, zwischen denen „enge persönliche und ideologische Verflechtungen“52 bestanden. Nach dem Vorbild der lateinamerikanischen Stadtguerilla sollten nun militantere Aktionen folgen. Die Zeit harmloser Spaßaktionen war damit endgültig vorbei.
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Hierarchie vs. Masse: Die Organisationsstruktur der „Bewegung 2. Juni“
Üblicherweise bezeichnen Sozialwissenschaftler die „Bewegung 2. Juni“ als „proletarische“ Stadtguerilla, die ihre Wurzeln im Arbeitermilieu hatte und deshalb stets eine Verbindung zu den Massen suchte. Im Vergleich zu den RAF-Aktivisten hatten die Angehörigen der Westberliner Gruppierung tatsächlich einen stärkeren Bezug zum Proletariat. Michael „Bommi“ Baumann zum Beispiel kam aus dem Arbeiterviertel Lichtenberg, verließ die Schule nach der achten Klasse und brach eine Lehre als Betonbauer ab, ehe er sich in der Protestszene Berlins einen Namen machte.53 Till Meyer wuchs ebenfalls in ärmlichen Verhältnissen auf, besuchte die Schule nur bis zur achten Klasse und arbeitete als Lehrling auf einem Frachtschiff und später als Hilfspolizist, Aushilfsfahrer und Verkäufer.54 Ronald
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Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 25 und Schwind, Hans-Dieter, Zur Entwicklung des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ders. (Hrsg.), Ursachen des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978, S. 29. 49 Vgl. Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 120. 50 Schiffer, Marius, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 26. 51 Scheerer, Sebastian, Deutschland: Die ausgebürgerte Linke, in: Hess, Henner, Angriff auf das Herz des Staates, Band 1, Frankfurt/Main 1988, S. 339. 52 Vgl. Sturm, Michael, Tupamaros München: „Bewaffneter Kampf“, Subkultur und Polizei, in: Weinhauer, Klaus/Requate, Jörg/Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt/Main 2006, S. 106. 53 Vgl. Backes, Uwe, Biographisches Porträt: Michael („Bommi“) Baumann, in: Backes, Uwe/Eckhard Jesse (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd.1, Bonn 1989, S. 196. 54 Vgl. Wunschik, Tobias, Till Meyer-Ein biographisches Porträt, auf: http://www.extremismus.com/texte/bewegung2juni.htm, Stand: 15.10.2007 und Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 534.
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Fritzsch schloss zwar die Handelsschule ab, aber da sein „Alter keine Knete“55 hatte, nahm er ein Praktikum im gehobenen Verwaltungsdienst an, das er allerdings abbrach. Ralf Reinders war Sohn eines Monteurs und schloss eine Lehre als Drucker ab56, Inge Viett hatte lediglich einen Hauptschulabschluss und verdiente ihren Lebensunterhalt später unter anderem als graphische Hilfskraft und Stripteasetänzerin.57 Verena Becker, Gudrun Stürmer, Gerald Klöpper und Andreas Vogel hatten ebenfalls nie studiert und kamen aus einem nichtakademischen Umfeld. Bernhard Rabert stellt daher zusammenfassend fest: „Die Terroristen der Bewegung 2. Juni entstammten in weitaus größerem Maße dem Arbeitermilieu, hatten kein Studium vorzuweisen und waren nicht, wie viele Terroristen der RAF, vom Elternhaus eher im gehobenen Bildungsbürgertum verwurzelt.“58 Verallgemeinernde Aussagen sind dennoch unzulässig: Wunschik verweist diesbezüglich auf die große Anzahl von akademisch geprägten Mitgliedern der Bewegung: So hätten Georg von Rauch, Werner Sauber, Ina Siepmann, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Angelika Goder, Thomas Weisbecker, Susanne Plambeck, Gabriele Rollnik, Fritz Teufel, Reiner Hochstein, Harald Sommerfeld, Siegfried Mahn und Rolf Pohle allesamt zumindest zeitweise studiert. Weitere Mitglieder der Bewegung stammten wiederum aus einem akademischen Elternhaus.59 Die „Bewegung 2. Juni“ war also kein rein proletarischer Gegenentwurf zur avantgardistischen RAF. Auch für die Westberliner Stadtguerilla traf zu, dass die Mehrheit ihrer Mitglieder über ein höheres Bildungsniveau verfügte als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.60 Darüber hinaus hat es die „Bewegung 2. Juni“ nie geschafft, eine enge Verbindung zur Arbeiterklasse auch tatsächlich herzustellen.61 Eine soziostrukturelle Besonderheit der linken Terroristenszene im Allgemeinen und der „Bewegung 2. Juni“ im Besonderen stellte ihr hoher Frauenanteil dar. 39 Prozent der Westberliner Aktivisten waren weiblich. Damit rangiert die „Bewegung 2. Juni“ im bundesdeutschen Vergleich neben den „Revolutionären Zellen“ auf Platz eins – vor der RAF mit 34 Prozent.62 Dabei waren die weiblichen Terroristen keinesfalls bloße Erfüllungsgehilfen, die nur niedere Dienste auszuführen hatten: Die Frauen waren ebenso am aktiven Kampf gegen das System beteiligt wie ihre männlichen Genossen.63 Mehr noch: In der „Bewegung 2. Juni“ nahmen Frauen wie Ina Siepmann und Inge Viett herausragende Positionen ein und galten zeitweise als „Anführerinnen“.64 Schließlich waren es auch Frauen, die am 2. Juni 1980 das Ende der „Bewegung 2. Juni“ erklärten.65 55
Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 11. Vgl. Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 13 und Wunschik, Tobias, Die Bewegung 2. Juni, aaO (FN 2), S. 534. 57 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 67 und Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 534. 58 Rabert, Terrorismus in Deutschland, aaO. (FN 14), S. 119. 59 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 533f. 60 Vgl. Diewald-Kerkmann, Gisela, „Verführt“–„abhängig“–„fanatisch“: Erklärungsmuster von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten für den Weg in die Illegalität – Das Beispiel der RAF und der Bewegung 2. Juni (19711973), in: Weinhauer, Klaus/Requate, Jörg/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt/Main 2006, S. 217f. 61 Vgl. della Porta, Donatella, Politische Gewalt und Terrorismus: Eine vergleichende und soziologische Perspektive, in: Weinhauer/Requate/Haupt (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik, aaO. (FN 60), S. 40. 62 Vgl. Diewald-Kerkmann, Gisela, Bewaffnete Frauen im Untergrund. Zum Anteil von Frauen in der RAF und der Bewegung 2. Juni, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Band 1, S. 666. 63 Vgl. Diewald-Kerkmann, „Verführt“ – „abhängig“ – „fanatisch“, aaO. (FN 58), S. 219. 64 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 556. 65 Vgl. Diewald-Kerkmann, Bewaffnete Frauen im Untergrund, aaO. (FN 58), S. 660f. 56
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In ihrer Autobiographie schreibt Inge Viett über das Geschlechterverhältnis in ihrer Organisation: „Auf eine Interviewfrage nach den Beziehungen in der Guerilla haben Bär, Ronni und Fritz (…) geantwortet: ,In der Bewegung 2. Juni unterdrücken die Frauen die Männer und die Arbeiter die Studenten.’ Es sollte ein Scherz sein. Mit einem Kern Wahrheit. (…) Was hier die Genossen augenzwinkernd mit Unterdrückung bezeichnen, ist die vehemente Entfaltung der Eigenständigkeit von uns Frauen, die umfassende Entwicklung von Fähigkeiten, wie sie die Männer nicht von Frauen gewöhnt waren.“66 Viett unterschlägt allerdings, dass ihre ehemaligen Kampfgenossen mit ihrer ironischen Antwort nicht auf das Geschlechterverhältnis, sondern die hierarchischen Strukturen in der „Bewegung 2. Juni“ eingegangen waren. Die exakte Frage des Sternreporters Wolfram Bortfeldt hatte nämlich gelautet: „In der RAF gab es starke hierarchische Tendenzen. Wie sieht das in der Bewegung 2. Juni aus? Wie wurden Entscheidungen getroffen? Wie war das Verhältnis zur RAF?“ Die vollständige Antwort darauf: „In der Bewegung 2. Juni unterdrücken die Frauen die Männer und die Proleten die Studenten, sowie umgekehrt. Entscheidungen werden durch würfeln oder Schlägereien getroffen, aber immer falsch. Unser Verhältnis zur RAF ist sehr erotisch und verwandtschaftlich.“67 Die Interviewten machten also auf eine weitere strukturelle Besonderheit ihrer Gruppierung aufmerksam: Die mangelnde Hierarchie. Wunschik geht allerdings davon aus, dass erfahrene Aktivisten wie Reinders, Kunzelmann und von Rauch durchaus einen höheren Stellenwert innerhalb der Gruppe besaßen als andere Mitglieder.68 Auch Rabert bezeichnet Reinders als „Chef der Gruppe“69 und Claessens/Ahna kommen zu dem Ergebnis, dass von Rauch anfänglich „wichtigste Mittelpunktfigur“ 70 der Bewegung gewesen sei. Dennoch ist davon auszugehen, dass die hierarchischen Strukturen innerhalb der „Bewegung 2. Juni“ weit weniger ausgeprägt waren als beispielsweise in der RAF.71 Eine „dezidierte Führungsperson“72 hat es nie gegeben. Neben Reinders und Fritzsch bestritt auch Meyer die Existenz einer klaren Führungsstruktur.73 Viett sowie Reinders/Fritzsch beschrieben den Prozess einer Entscheidungsfindung demnach als langwieriges und teils lähmendes Unterfangen.74 Dass die „Bewegung 2. Juni“ hierarchische Tendenzen bewusst abgelehnt hat, untermauert außerdem das nicht mehr erfüllte Vorhaben, sich in unabhängig voneinander operierenden Zellen zu organisieren75 – eine Strategie, mit der Al Qaida heute erfolgreich Anschläge verübt. Neben dem stärkeren – oder zumindest stärker gewünschten – Bezug zum Proletariat und der weitgehenden Gleichrangigkeit der Gruppenmitglieder unterschied sich die „Bewegung 2. Juni“ in einem weiteren strukturellen Merkmal erheblich von der RAF: Die Aktivisten sollten so lange wie möglich aus legalen Verhältnissen heraus operieren. Die Motive hierfür schildert Ronald Fritzsch: „Bei uns war das etwas anderes als bei der RAF. Die 66
Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 176. Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 120. 68 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 557. 69 Rabert, Terrorismus in Deutschland, aaO. (FN 14), S. 60. 70 Claessens/ Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 145. 71 Vgl. Backes, Uwe, Bleierne Jahre. Baader-Meinhof und danach, Gütersloh 1991, S. 84. 72 Claessens/ Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 145. 73 Vgl. Meyer, Till, „Konnten wir nicht der Funke sein, der zum Steppenbrand führt?“, in: Frankfurter Rundschau vom 3. Februar 1987, S. 10. 74 Vgl. Viett, Nie war ich furchtloser, aaO (FN 43), S. 113 und Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 75. 75 Vgl. Viett, Nie war ich furchtloser, aaO (FN 43), S. 88 und Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 41. 67
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hatten den Anspruch, du mußt die Brücken hinter dir abbrechen, dir selbst den Rückweg versperren und mit falscher Pappe in die Illegalität gehen. Bei uns war es so: Solange dich die Bullen nicht auf der Rolle hatten, war es klar, dass du legal bleibst. Auch deshalb, weil es weniger Aufwand macht. Für jeden Illegalen brauchst du Leute, die eine Pappe zur Verfügung stellen, brauchst eine Wohnung, ein enormer zusätzlicher Aufwand. Das hätten wir allein als Illegale gar nicht alles leisten können.“76 Diese Strategie hatte jedoch ihren Preis: Die „Bewegung 2. Juni“ musste damit zurechtkommen, dass sich vergleichsweise viele Aktivisten zu einer Abkehr vom Terrorismus entschlossen. Unter anderem deshalb, weil sie den Schritt in die Illegalität nicht so konsequent vollzogen hatten wie zum Beispiel Mitglieder der RAF.77 Wie die Rote Armee Fraktion erhielt die „Bewegung 2. Juni“ allerdings Unterstützung einer großen Sympathisantenszene. Als die terroristische Vereinigung im März 1975 etwa 30.000 Flugblätter gedruckt hatte, um darin Stellung zur Lorenz-Entführung zu nehmen, erklärten sich innerhalb kürzester Zeit etwa 120 Unterstützer bereit, die Flugschrift zu verteilen.78 Daher erscheint es durchaus glaubwürdig, wenn Inge Viett erklärt, dass ihre Bewegung großen Rückhalt aus der Berliner Szene erfahren habe und von dieser als Teil eines gemeinsamen Anliegens betrachtet wurde.79 Die Unterstützung sei auch mit ein Grund dafür gewesen, dass sich die „Bewegung 2. Juni“ nicht auf Westdeutschland ausgedehnt habe, sondern in Berlin geblieben ist: „Wir hatten in Berlin stabile logistische Strukturen mit einem ausladenden Unterstützerkreis und mit einem breiten Sympathisantenfeld auch eine politische Basis.“80 Für die Gruppierung war es demnach von enormer Bedeutung, dass die Massen, insbesondere die linke Szene, positiv auf ihre Aktionen reagierten.81 Denn ihrem Selbstverständnis nach fühlten sich die Terroristen als Bewegung des Volkes, als Teil einer massenhaften „Bewegung 2. Juni“, die sich dem „Terror“ des Kapitalismus widersetzte. Zu dieser Bewegung zählten sie Jugendliche, Hausbesetzer, Frauengruppen, Mitarbeiter von alternativen Zeitungen, Demonstranten etc.82 In einem Interview erklärten Fritz Teufel, Ralf Reinders, Ronald Fritzsch und Gerald Klöpper: „Wenn KKW-Gegner durch Bauplatzbesetzungen oder Sabotage die Verwüstung ihrer Umwelt verhindern, wenn Frauengruppen Abtreibungsfahrten oder –kliniken organisieren, wenn Schüler sich durch anonyme Bombendrohungen einen Tag Befreiung vom Leistungsterror in den Lernfabriken erkämpfen, dann ist das auch eine Art Guerilla. Guerilla ist keine Religion, sondern die Kampfform gerade der Massen.“83 Hierbei unterschied sich die Bewegung abermals von der RAF, die der Wirkung ihrer Aktionen auf die Massen weitaus weniger Bedeutung zumaß. Aufgrund ihrer hierarchischen Strukturschwäche ist es nachvollziehbar, dass die „Bewegung 2. Juni“ nicht besonders lange existierte. „Unter den wichtigeren linksterroristi-
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Reinders/ Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 53. Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 558. 78 Vgl. ebd., S. 105f. 79 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 88 und Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO (FN 4), S. 107. 80 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 99. 81 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 540 und Rabert, Terrorismus in Deutschland, aaO. (FN 14), S. 61. 82 Reinders/ Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 121. 83 Ebd., S. 120. 77
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schen Organisationen besaß sie mit rund acht Jahren die kürzeste Lebensdauer“84, schreibt Wunschik. Wenn man die Phase der Tupamaros Westberlin und München in die Lebensdauer der terroristischen Organisation mit einschließt, was wegen der personellen Kontinuität sinnvoll erscheint, hat es die „Bewegung 2. Juni“ etwa elf Jahre lang gegeben.
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Aktionismus: Von den Tupamaros Westberlin/München zur „Bewegung 2. Juni“
Nach der Rückkehr aus Jordanien vollzog sich bei den Aktivisten der späteren „Bewegung 2. Juni“ ein Strategiewandel. Die etwa 15-köpfige Gruppe um Dieter Kunzelmann hatte sich dazu entschlossen, von nun an militantere Maßnahmen gegen das bundesdeutsche System zu initiieren, um endlich eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen.85 Ihr neu gewonnenes Know-how sollte erstmals am 9. November 1969 zur Anwendung kommen: Die Gruppe verübte einen Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin, der allerdings fehlschlug.86 In einem Flugblatt äußerten sich die Tupamaros zu den Hintergründen ihrer Tat: „Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.“87 Im Februar 1970 zog die neu gegründete Münchner Gruppe um Teufel, Mohnhaupt und Heißler mit einem Anschlag auf die Wohnung eines Amtsgerichtsrats nach. Die Tat stand vermutlich in Zusammenhang mit einer Kampagne der Tupamaros gegen den gesamten Justizapparat.88 Zwischen dem 16. und 31 Mai ereigneten sich dann mehrere Anschläge in München, unter anderem auf das Landeskriminalamt und einen USamerikanischen Laden.89 Im Juni 1970 schrieb die Bielefelder Zeitung „Neue Westfälische“, dass die Aktivisten aus Bayern sogar eine Entführung der Fußballidole Franz Beckenbauer und Uwe Seeler geplant hätten.90 Auf die Festnahme Teufels Mitte Juni 1970 reagierte die Gruppe mit einer erneuten Steigerung ihrer Militanz, vor allem gegenüber Polizeieinrichtungen. Auch in Berlin blieben die Tupamaros aktiv: Zwischen Ende April und Juli 1970 gingen insgesamt zwölf Anschläge auf ihr Konto, insbesondere USEinrichtungen stellten dabei das Ziel der terroristischen Aktivitäten dar. Laut Verfassungsschutz steigerte sich die Anzahl „politisch motivierter Sprengstoff- und Brandanschläge“ in der BRD und West-Berlin im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 100 Prozent. Berlin galt als Zentrum politisch motivierter Attentate. 91 Die methodische Vorgehensweise der Linksaktivisten wurde dabei immer professioneller. Anstatt Molotow-Cocktails zu werfen, griffen die Terroristen jetzt auf Brandsätze mit Zeitzündern sowie Rohrbomben zurück.92 1970 begann die Gruppe außerdem, schrittweise ihre logistischen Fähigkeiten zu verbessern. Mit Einbrüchen in Supermärkte und später Banküberfällen verfügten die Terroristen stets über finanziellen Spielraum. Konspi84
Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 561. Vgl. ebd., S. 544. 86 Siehe dazu Kraushaar, Wolfgang, Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005. 87 Zitiert nach Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 28. 88 Vgl. Claessens, /Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 121, 123. 89 Vgl. Sturm, Tupamaros München, aaO. (FN 51) S. 104. 90 Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S.29f. 91 Vgl. ebd., S. 31. 92 Vgl. Schwind, Zur Entwicklung des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, aaO. (FN 47), S. 30. 85
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rative Wohnungen gehörten ebenso zum Repertoire der Bewegung wie gestohlene Autos.93 Zudem bewaffneten sich die Aktivisten ab Ende 1970 mit Schusswaffen.94 Im Juni starteten die Berliner Tupamaros die „Free-Bommi-Kampagne“, in deren Verlauf Michael Baumann zum Anführer der Gruppierung „hochstilisiert“ wurde.95 In dieser Phase riefen die Aktivisten dazu auf, sich gegen die „Unterdrückung“ des Staates zur Wehr zu setzen und formulierten einen ihrer ideologischen Leitsätze: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“96 Bereits im März 1970 hatte es erste Annäherungsversuche zwischen den Köpfen der Tupamaros Westberlin und den Anführern der RAF gegeben. Obwohl schnell deutlich wurde, dass sich beide Gruppen nicht zusammenschließen würden, arbeiteten sie bei drei parallel verübten Banküberfällen im September zusammen und teilten sich später die Beute.97 Im Herbst 1971 hatten es sich die Tupamaros außerdem zum Ziel gesetzt, zwei inhaftierte RAF-Mitglieder zu befreien. Die Aktion scheiterte jedoch und hatte eine Distanzierung der RAF zur Folge. Die Westberliner Aktivisten waren offensichtlich nicht in der Lage, in Planung und Effizienz mit der RAF Schritt zu halten.98 Einen bedeutsamen Einschnitt in der Entwicklung der Bewegung bedeutete schließlich der Tod der „Mittelpunktsfigur“99 Georg von Rauch, im Dezember 1971. Von Rauch wurde nach einem Autodiebstahl von einem Polizeibeamten erschossen. Dieser hatte eine Bewegung des gestellten Terroristen vermutlich als Griff zu einer versteckten Waffe interpretiert.100 Während sich der geschockte Michael Baumann und mindestens ein weiterer Genosse nach dem Ereignis sukzessive vom Terrorismus zurückzogen, fühlten sich andere, wie zum Beispiel Till Meyer, nun noch mehr dem Aktivismus verpflichtet. In seiner Autobiographie schreibt letzterer: „Weitermachen! Ja, in der Trauer über Georgs Tod wollte ich jetzt erst recht. Der ist als Rebell gestorben, du mußt es fortsetzen.“101 Dementsprechend kam es in den folgenden Wochen zu einer Neuformierung der terroristischen Vereinigung. Die Erschießung von Rauchs am 4. Dezember 1971 wird häufig als „Geburtsstunde“ der „Bewegung 2. Juni bezeichnet, obwohl ein „offizielles Gründungsdatum“ der Gruppierung nicht zu ermitteln ist.102 Reinders erklärt hierzu, dass sich insgesamt zwölf Aktivisten aus drei verschiedenen Fraktionen im Januar 1972 zur „Bewegung 2. Juni“ zusammengeschlossen hätten.103 Möglicherweise meint Reinders mit den drei Untergruppen die Tupamaros Westberlin, die Tupamaros München und die Schwarze Hilfe, die sich vor allem um inhaftierte Genossen und deren Angehörige gekümmert und kleinere Anschläge verübt hatte.104 93
Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 33f. Vgl. Sturm, Tupamaros München, aaO. (FN 51), S. 105. Vgl. Claessens/ Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 124f. 96 Vgl. ebd., S. 125. Das ursprünglich von der Mitte der siebziger Jahre aktiven Musikgruppe „Ton Steine Scherben“ formulierte Motto hatte bereits das Sozialistische Patientenkollektiv für den Widerstand gegen das politische und gesellschaftliche System instrumentalisiert, das im Zusammenhang mit der Rekrutierung von RAFMitgliedern zeitweise eine mit entscheidende Rolle spielte. Siehe dazu Peters, Butz, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004, S. 239-241. 97 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 546. 98 Vgl. Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 144f. 99 Ebd., S. 145. 100 Vgl. Backes, Biographisches Porträt: Michael („Bommi“) Baumann, aaO. (FN 52), S. 198 und Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 547. 101 Meyer, Till, Staatsfeind. Erinnerungen, Hamburg 1996, S. 179. 102 Vgl. Rabert, Terrorismus in Deutschland, aaO. (FN 14), S. 58. 103 Vgl. Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 39. 104 Vgl. Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 129132. 94 95
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Offenbar hatte Ina Siepmann den neuen Namen „Bewegung 2. Juni“ vorgeschlagen.105 Schiffer weist allerdings darauf hin, dass die neue Namensgebung nicht mit einer existenziellen Neugründung zu verwechseln sei: „Im Grunde bestand die Bewegung 2.Juni zum Zeitpunkt ihrer ,Gründung’ bereits seit längerem.“106 Der erste Anschlag der neu formierten Gruppe ereignete sich am 2. Februar 1972. Nachdem die britische Armee am 30. Januar eine Demonstration irischer Nationalisten in Londonderry blutig niedergeschlagen hatte („Bloody Sunday“), entschlossen sich die aufgebrachten Aktivisten aus Berlin zu einer Reaktion auf deutschem Boden. Viett beschreibt die damalige Stimmungslage: „Hitzig empört wären wir am liebsten sofort in den britischen Sektor gefahren, um dort die britischen Einrichtungen anzuzünden.“107 Aus den emotionalen Gedankenspielen entstand schließlich der Plan, einen Anschlag auf den britischen Yachtclub in Berlin-Glatow zu verüben. Die Terroristen legten eine Bombe mit Zeitzündung, die allerdings nicht explodierte. Erst als der Bootsbauer Erwin Beelitz den getarnten Sprengsatz am nächsten Tag untersuchte, ging er hoch und tötete Beelitz. Der Anschlag mit ungewollter Todesfolge ist vermutlich symptomatisch für die strategische Vorgehensweise der „Bewegung 2. Juni“. Die Revolution beziehungsweise Überwindung des verachteten kapitalistischen Systems war zwar das „Fernziel“108 der Terroristen. Der Bewegung fehlte jedoch ein übergeordneter Plan, mittels dessen es zu erreichen gewesen wäre. Die Anschläge und Attentate der „Bewegung 2. Juni“ hatten meist spontanen, racheähnlichen Charakter und nahmen jeweils Bezug zu einem Ereignis, das erst kurz zurücklag.109 Oder anders ausgedrückt: Die terroristische Vereinigung agierte nicht, sondern reagierte nur. Dementsprechend erschien die Praxis den Aktivisten auch bedeutsamer als die Theorie: „Ansonsten mögen diverse Schriften wohl Denkanstöße geben und Zusammenhänge vermitteln; die Motivation aber, bewaffneten Widerstand zu leisten, bezieht man aus den konkreten praktischen Erfahrungen“110, erklärten Mitglieder der Bewegung in einem Interview. Auch im Programm der „Bewegung 2. Juni“, dessen Verfasser den meisten Mitgliedern der Vereinigung bezeichnender Weise unbekannt blieb111, heißt es: „Die Bewegung ist bemüht, dauernd revolutionäre Praxis zu treiben. (…) Das Kriegführen aber lernen wir nur in der Praxis, Praxis heißt für uns: Schaffung militanter legaler Gruppen, Schaffung von Milizen, Schaffung von Stadtguerilla – bis zur Armee des Volkes.“112 Als Thomas Weisbecker im März 1972 von Polizeibeamten erschossen worden war, reagierte die „Bewegung 2. Juni“ wieder mit einer spontanen Rachaktion: Nur einen Tag nach dem Vorfall verübten die Terroristen einen Brandanschlag auf das Berliner Landeskriminalamt. Ein anderes aktionistisches Charakteristikum der „Bewegung 2. Juni“ war die Motivation, als „menschlichere Alternative“113 zur RAF wahrgenommen zu werden. Ihre Aktionen waren dementsprechend weniger militant, als die der RAF. Vor allem die einfache Bevölkerung sollte bei den Anschlägen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. „Eine
105
Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 548. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 41. 107 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 90. 108 Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 44. 109 Vgl. Claessens/Ahna, Das Milieu der Westberliner „scene“ und die „Bewegung 2. Juni“, aaO. (FN 15), S. 157. 110 Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 118. 111 Ebd., S. 38 und Viett, Nie war ich furchtloser, aaO (FN 43), S. 108. 112 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 108-111. 113 Rabert, Terrorismus in Deutschland, aaO. (FN 14), S. 60. 106
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eventuelle Gefährdung von Unbeteiligten sollte immer vermieden werden“114, erklärte Fritzsch im Interview. Die Massenbezogenheit der West-Berliner Stadtguerilla setzte die RAF mit Populismus und Opportunismus gleich.115 Doch die „Bewegung 2. Juni“ verstieß auch mehrmals gegen ihr selbst gesetztes Ideal des moralisch integren Aktivismus. Nachdem das Guerilla-Mitglied Ulrich Schmücker im Mai 1972 verhaftet worden war, kooperierte er mit der Polizei, so dass es zu zahlreichen weiteren Fahndungserfolgen kam. Bereits im Juli galt die „Bewegung 2. Juni“ als zerschlagen. Nach seiner Entlassung suchte der vom Verfassungsschutz überwachte Schmücker wieder den Kontakt zu den Resten der Bewegung, um sich im Kreis der Terroristen zu rehabilitieren. Dieser Versuch scheiterte allerdings: Am 4. Juni 1974 wurde der 22-jährige Student durch einen Kopfschuss hingerichtet. Zu der Tat bekannte sich ein Kommando „Schwarzer September“, eine Unterstützergruppe aus Wolfsburg. Im Bekennerschreiben heißt es unter anderem: „in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages wurde der konterrevolutionär und verräter ulrich schmücker von einem unserer kommandos hingerichtet. Schmücker war von einem tribunal der bewegung 2. juni wegen seiner aussagen vor staatsschutzbehörden der BRD und west-berlin zum tode verurteilt worden.“116 Auch wenn die Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ wohl nicht direkt an der Tat beteiligt waren: Inge Viett und Ralf Reinders sollen zuvor auf den Verrat aufmerksam gemacht haben.117 In ihrer Autobiographie bemerkt Viett zur Erschießung Schmückers lapidar: „Ulrich Schmücker wurde (…) als Agent des Verfassungsschutzes erschossen. Er starb offensichtlich an einer Kugel, mit der der die Verfassungsschützer Billard gespielt hatten und die ihnen dann vom Tisch gerollt war.“118 Die Erschießung hatte für die Berliner Guerilla negative Folgen: In der linken Szene verlor sie zahlreiche Sympathisanten.119 Ein weiterer Mord verdeutlicht, dass die „Bewegung 2. Juni“ keineswegs dem Bild einer humanen Untergrundbewegung entsprochen hat. Nachdem der inhaftierte RAFTerrorist Holger Meins am 9. November 1974 an den Folgen eines Hungerstreiks verstorben war, entschlossen sich die West-Berliner Aktivisten abermals zu einer spontanen Rache-Aktion. Inge Viett beschreibt die Gefühlslage unter ihren Genossen: „Eine ungeheure Wut, eine ungeheure Ohnmacht setzt uns unter Druck. Wir wollen zurückschlagen und überlegen fieberhaft, wo und wen wir aus dem Stand heraus angreifen können. Sie sollen spüren, dass die Vernichtung unserer Gefangenen sie etwas kosten wird.“120 Einen Tag nach Meins Tod brachen mindestens sieben Aktivisten zur Wohnung Günther von Drenkmanns auf. Die Terroristen hatten vor, den Präsidenten des Berliner Kammergerichts zu entführen. Bereits seit Sommer 1974 hatte die Gruppierung geplant, eine hochrangige Person des öffentlichen Lebens zu verschleppen, um inhaftierte Genossen freizupressen. An der Tür von Drenkmanns gab ein Aktivist mit Nelkenstrauß dann vor, Blumen von Fleurop abliefern zu wollen. Der Kammergerichtspräsident hatte einen Tag zuvor seinen 64. Geburtstag gefeiert und öffnete deshalb die Türverriegelung. Als die Eindringlinge in die Wohnung stürmten, setzte sich von Drenkmann allerdings entschlossen zur Wehr, so dass 114
Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 55. Vgl. dazu besonders Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 99 und außerdem Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 50. 116 Zitiert nach Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 51. 117 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 548 f. 118 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 93. 119 Vgl. Rabert, Terrorismus in Deutschland, aaO. (FN 14), S. 59. 120 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 125. 115
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die Terroristen ihr Opfer nicht zu fassen bekamen. Daraufhin erschossen die Aktivisten von Drenkmann. Nach der Tat schickte die „Bewegung 2. Juni“ ein Bekennerschreiben an die Presse. Darin erklärten die Terroristen: „als der hungerstreik der gefangenen begann, haben wir gesagt: wenn die vernichtungsstrategie des systems erneut das leben eines revolutionärs kostet, werden die verantwortlichen selber mit ihrem leben bezahlen. Günter von drenkmann war der oberste richter in berlin, er gehörte somit zum ,harten kern’ der verantwortlichen.“121 Die Terroristen gaben also fälschlicherweise an, dass es sich bei der Erschießung um eine gezielte Ermordung und nicht um einen gescheiterten Entführungsversuch gehandelt habe. Möglicherweise beabsichtigte die „Bewegung 2. Juni“ damit, den befürchteten Spott der konkurrierenden RAF abzuwenden. Unverständnis erntete die Berliner Stadtguerilla stattdessen von der Linken, die den Mord scharf verurteilte. Nur wenige Monate später gelang der „Bewegung 2. Juni“ ihr spektakulärster Coup: Die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz. Bereits im August 1974 hatten die Aktivisten einen Laden in Berlin-Kreuzberg gemietet und im Keller des selbst betriebenen Secondhand-Geschäfts ein „Volksgefängnis“ errichtet. Potenzielle Geiseln sollten darin festgehalten werden.122 Nach dem ungewollten Mord an von Drenkmann entschloss sich die Bewegung zu einem weiteren Entführungsversuch, um inhaftierte Genossen freizupressen. Der CDU-Politiker Lorenz war bei der kurz bevorstehenden Landtagswahl Herausforderer des amtierenden Berliner SPD-Bürgermeisters Klaus Schütz. Das Kalkül der Terrorristen schildert abermals Inge Viett: „Lorenz ist der Spitzenkandidat der Opposition. Uns ist natürlich klar, dass die Entscheidung für den Austausch der Gefangenen nicht im Berliner Senat, sondern in Bonn, in Schmidts Krisenstab getroffen wird. Eine einfache Psychologie überzeugt uns: Die SPD als Regierungspartei in Bonn wie in Berlin kann es sich moralisch nicht erlauben, den einzigen und aussichtsreichen Oppositionskonkurrenten von der Guerilla erschießen und damit die CDU die Wahl gewinnen zu lassen. (…) Wir zweifeln keinen Moment daran, dass die Regierung ihn austauschen wird.“123 Nach akribischer Vorbereitung schlugen die Terroristen am 27. Februar 1975 zu: Als Lorenz von seinem Fahrer gegen 8.50 Uhr abgeholt wurde, nahm eine weibliche Aktivistin die Verfolgung auf. Auf der Rückbank versteckten sich zwei weitere Terroristen.124 Aus einer Seitenstraße lenkte ein anderes Gruppenmitglied kurz vor der Ankunft des Bürgermeisterkandidaten einen LKW auf den Dienstweg und versperrte dem Fahrer von Lorenz so die Weiterfahrt. „Dann fährt ihm eine Frau (die Verfolgerin) hinten drauf. Die tut ganz erschreckt, schöne lange Perücke und wie die Typen halt so sind, steigt der (Fahrer) mit Sicherheit aus. Und das hat so voll hingehauen“125, berichten die Terroristen. Den Fahrer schlugen die Entführer von hinten nieder, überwältigten daraufhin Lorenz und brachten ihn in ihr Kellergefängnis. Am darauf folgenden Tag erhielt die deutsche Presseagentur (dpa) eine Mitteilung. Darin betonten die Aktivisten: „Peter Lorenz ist Gefangener der BEWEGUNG 2. Juni. Als solcher wird er nicht gefoltert oder unmenschlich behandelt; im gegensatz zu den über 60000 gefangenen in den zuchthäusern der BRD und berlin.“126 Darüber hinaus erklärten die Terroristen in dem Schreiben die ideologischen Beweggründe der Ent121
Zitiert nach Pflieger, Klaus, Die Rote Armee Fraktion – RAF, Baden-Baden 2004, S. 50. Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 56. 123 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 126. 124 Vgl. ebd., S. 129. 125 Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 72. 126 Zitiert nach ebd., S. 78. 122
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führung und stellten schließlich ihre Forderungen: „sofortige freilassung, d.h. annulierung der urteile der gefangenen, die bei demonstrationen anläßlich der ermordung des revolutionärs holger meins in berlin verhaftet und verurteilt sind. diese forderung ist innerhalb 24 stunden zu erfüllen.“127 Zudem verlangte die „Bewegung 2. Juni“ die „sofortige Freilassung“ der gefangenen Terroristen Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Horst Mahler, Rolf Pohle, Ina Siepmann und Rolf Heissler. Die Freilassung ihrer Genossen stellten sich die Aktivisten folgendermaßen vor: die in westdeutschland gefangen gehaltenen genossen kröcher, pohle und heissler sind binnen 48 stunden nach west-berlin einzufliegen. Eine boing [sic!] 707 hat in west-berlin vollgetankt und mit 4 mann besatzung bereitzustehen. die obengenannten genossen werden bis zu ihrem reiseziel von einer person des öffentlichen lebens begleitet. die person ist der pfarrer und bürgermeister a.d. heinrich albertz. außerdem sind den 6 genossen jeweils 20.000.- dm auszuhändigen. diese forderungen sind binnen 72 stunden zu erfüllen. (…) bei nichterfüllung oder auch nur dem versuch der täuschung ist die unversehrtheit des gefangenen bedroht.128
In den folgenden Tagen, in denen die Bewegung intensiv mit dem Bonner Krisenstab verhandelte, entwickelte sich laut Aussage der Terroristen eine erstaunlich positive Beziehung zwischen Entführern und Entführtem. Nach Gesprächen mit der Geisel standen die Aktivisten vor einem potenziellen Dilemma: „Wir hatten den unten im Keller, alle haben sich den angeguckt und dann ging es übereinstimmend rum: Wer soll den denn umlegen, wenn der ganze Plan nicht klappt? Alle haben das gesagt. War gar kein Schwein mehr. Eher naiv.“129 Es scheint so, als ob die „Bewegung 2. Juni“ im Fall Lorenz tatsächlich human verfahren sei. Im späteren Lorenz-Drenkmann-Prozess kam das Gericht zu dem Schluss, dass Lorenz während seiner Gefangenschaft verhältnismäßig gut behandelt worden sei.130 Auch seine eigenen Aussagen lassen auf eine wohlwollende Behandlung durch die terroristische Gruppierung schließen.131 Ein Entführer habe mit Lorenz regelmäßig Schach gespielt und nach der Bürgermeisterwahl kam es offenbar zu Glückwunschbekundungen: „Wir sind runter zu ihm und haben gesagt: Herr Lorenz, Herzlichen Glückwunsch, Sie sind ja wohl der nächste Bürgermeister. Da hat er gestrahlt.“132 Unter anderem, weil sich sein Amtsvorgänger Schütz intensiv um die Freilassung seines Kontrahenten bemühte133, erreichte die „Bewegung 2. Juni“ letztlich das, was sie wollte: Bis auf Horst Mahler, der seine Freilassung ablehnte, wurden die inhaftierten Genossen am 3. März 1975 in den Südjemen ausgeflogen. Daraufhin stießen die Entführer gemeinsam mit Lorenz auf das Ergebnis der Verhandlungen mit einem Glas Wein an und setzten ihn mit verklebten Augen in einem Park ab. „Zuvor hatte er noch bedauert, dass wir uns unter diesen Umständen kennengelernt hätten. (…) Letztlich hat er uns dann noch zu einer seiner Gartenpartys eingeladen“134, berichteten die Entführer. Obwohl das Verhältnis zwischen den Terroristen und Peter Lorenz vermutlich auf gegenseitiger Sympathie beruhte, weist Schiffer darauf hin, dass die Täter wohl auch
127
Reinders/ Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 78f. Ebd., S. 79. Ebd., S. 81. 130 Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 73. 131 Vgl. Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 98f. 132 Ebd., S. 91. 133 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 550. 134 Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 98f. 128 129
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aus pragmatischen Gründen ein entspanntes Verhältnis zu dem CDU-Politiker lanciert hätten. So habe die gesamte Aktion reellere Chancen auf ein erfolgreiches Ende gehabt.135 Obwohl es nach der Freilassung zu intensiven Fahndungsmaßnahmen kam, verzeichnete die Polizei zunächst keine nennenswerten Erfolge. Die Entführer setzten sich vorübergehend ins Ausland ab.136 Erst bei der Rückkehr in die BRD kam es zu zahlreichen Verhaftungen. Im April 1975 wurden Fritzsch und Klöpper festgenommen, im Juni traf es Meyer, im September Reinders, Viett, Rollnik, Teufel und Juliane Plambeck, im März 1976 auch noch Dreher und Vogel.137 Die „Bewegung 2. Juni“ schien damit zerschlagen, denn außer einer Unterstützerin waren alle Mitglieder der terroristischen Organisation inhaftiert. Dies sollte sich allerdings schon bald wieder ändern: Im Juli 1976 gelang Viett, Rollnik und Plambeck die erfolgreiche Flucht aus ihrer Berliner Justizvollzugsanstalt. In den folgenden Monaten kam es dann zu neuen Aktionen: Der letzte große Coup der Bewegung war die Entführung des österreichischen Industrie-Millionärs Walter Palmers, dessen Freilassung den Aktivisten 4,3 Millionen Mark Lösegeld einbrachte. Jeweils eine Million der Beute ging an die RAF sowie die palästinensischen Widerstandskämpfer.138 Die spektakuläre Aktion im November 1977 änderte allerdings nichts an den fortscheitenden Auflösungserscheinungen der „Bewegung 2. Juni“.
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Degeneration: Ernüchterung, Spaltung und Strategiewechsel
„Berlin als politische und dauerhafte logistische Basis für eine Untergrundorganisation war bereits 1976 erschöpft. Die neugeschaffenen Anti-Terrorgesetze, §88a, §129a, die ausgefeilten Methoden der Rasterfahndung, die psychologische Kriegsführung hatten uns viel Terrain abgegraben, aber mehr noch der durchdringende Verfall revolutionärer Perspektiven in der gesamten linken Bewegung“139, schreibt Inge Viett in ihrer Autobiographie. Und weiter: „Die Bewegung 2. Juni war 1976 nicht mehr wirklich existent.“140 Die linke Szene hatte sich also schon Mitte der 70er Jahre weitgehend von der Westberliner Stadtguerilla distanziert. Verantwortlich für die schrittweise Entfremdung war die Brutalität der terroristischen Aktionen. Die Morde an Schmücker und von Drenkmann konnten die einstigen Sympathisanten nicht nachvollziehen. Darüber hinaus wurde dem linken Unterstützerkreis wohl immer stärker bewusst, dass auch ein Höchstmaß an Militanz nicht die erhoffte Wirkung brachte: Ein Systemwandel ließ sich gewaltsam nicht erreichen. Der bundesdeutsche Staat hatte der studentischen Protestbewegung getrotzt und ließ sich vom Terrorismus ebenso wenig in seinen Grundfesten erschüttern. Die Revolution der Massen war deshalb in weite Ferne gerückt. „Wer sich jetzt für den bewaffneten Kampf entschied, entschied sich für ein von der Masse der Linken abgestoßenes Projekt, für einen isolierten Kampf“141, schreibt Viett. Und auch Fritz Teufel hatte schon vor seiner Verhaftung ernüchtert feststel-
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Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 73. Vgl. ebd., S. 74-79. 137 Vgl. Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 552. 138 Vgl. ebd., S. 553. 139 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 166. 140 Ebd. 141 Ebd. 136
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len müssen, dass die Arbeiter für einen revolutionären Umsturz nicht zu gewinnen waren.142 Die „Bewegung 2. Juni“ hatte aber nicht nur mit der zunehmenden Infragestellung ihrer Aktionen durch die linke Szene zu kämpfen. Hinzu kamen interne Differenzen: Während des Gerichtsprozesses gegen die inhaftierten Terroristen vollzog sich unter ihnen eine Spaltung. Während Teufel, Reinders, Fritzsch und Klöpper seit Ende 1977 gemäßigter argumentierten, eine „populistische“ Zielrichtung einschlugen und sich teilweise vom bewaffneten Kampf abwandten, propagierten unter anderem Vogel, Meyer und auch Viett einen Strategiewechsel hin zum Antiimperialismus.143 Die unterschiedliche ideologische Anschauung führte zu intensiven Spannungen zwischen den ehemaligen Kampfgenossen, die sich jetzt als Feinde gegenüber standen und beißende Kritik aneinander übten.144 Als die Gruppe um Reinders und Teufel dem „Stern“ ein Interview geben wollte, intervenierte die Meyer-Gruppe und drohte abstruser Weise juristische Konsequenzen an, falls ihre einstigen Gefährten im Namen der „Bewegung 2. Juni“ sprechen sollten.145 Dabei war auch der kampfbereiten Fraktion bewusst geworden, dass sie mit ihren Aktionen auf wenig Zustimmung bei den Massen gestoßen war. Die Verwirklichung einer gesamteuropäischen antikapitalistischen Arbeiterrevolution wurde auch von ihnen als träumerische „Schimäre“ bezeichnet.146 Umso wichtiger war es nun, eine alternative Strategie zu finden, mittels derer die Militanten ihr Lebenskonzept vom Untergrundkampf nicht aufgeben mussten. Nach ihrem Ausbruch flohen Viett, Rollnik und Plambeck in den Nahen Osten, wo sie auf Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher-Tiedemann trafen. Letztere waren nach der Lorenz Aktion im Jemen geblieben. Im Ausland entwickelten die Frauen dann ein neues revolutionäres Konzept: Von nun an sollte nicht mehr nur die innergesellschaftliche Veränderung im unmittelbaren Wirkungsbereich vorangetrieben werden. Die „Bewegung 2. Juni“ richtete ihren Fokus jetzt mehr auf internationale Entwicklungen. Dazu schreibt Viett: „Wir hatten im Camp stärker über die außenpolitischen Interessen der BRD nachgedacht, ihre Europa-Politik, die Rolle der NATO, die Rolle der BRD in ihr. So fern von Deutschland betrachteten wir das kleine Ungeheuer nun in seinen großen Zusammenhängen und trachteten danach, diese zu stören.“147 Zudem ging die Organisation nun auf Distanz zu den Massen: „Die Linke hatte ihre revolutionären Ziele aufgegeben, sie hatte die Guerilla aufgegeben, jetzt hatten wir die Linke aufgegeben“148. Schiffer erkennt in dem Strategiewechsel der antiimperialistischen Gruppenmitglieder eine „klare Annäherung“ an die Ideologie der RAF.149 Auf die Schleyer-Entführung reagierte Viett zwar mit „Unverständnis“, gleichzeitig empfand sie für die konkurrierende Guerilla aber auch „Bewunderung“.150 Die Erschießung Schleyers stellte für die militantere Fraktion der „Bewegung 2. Juni“ lediglich „eine folgerichtige Entscheidung“ dar, schreibt Viett.151 Im Gegensatz dazu grenzte sich die 142
Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 122. Vgl. dazu besonders Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO (FN 2), S. 554 und Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 115. 144 Vgl. Wunschik, Till Meyer - Ein biographisches Porträt, aaO. (FN 54), S. 390. 145 Ebd. 146 Vgl. Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 167, 183. 147 Ebd., S. 168. 148 Ebd., S. 169. 149 Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 84. 150 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 172. 151 Vgl. ebd., S. 173. 143
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populistische Fraktion vehement von den Aktionen der RAF ab. Die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ bezeichneten die inhaftierten Fritzsch, Reinders, Teufel und Klöpper beispielsweise als „volksfeindlich“152. Und auch zum antiimperialistischen Kurs der militanten Fraktion äußerten sie sich in einem Brief an den Tunix-Kongress kritisch: „Als eine Form der Resignation betrachten wir die Hinwendung von bewaffneten Gruppen zu einem neuen antiimperialistischen Konzept. Die Genossen sagen, dass aufgrund der Korrumpierung der Massen in der Metropole BRD eine breite Entwicklung proletarischer Gegenmacht unmöglich, der Aufbau einer sozialen Widerstandsbewegung sinnlos ist. Aufgrund der Tatsache, dass die Völker der Dritten Welt am stärksten unterjocht und ausgebeutet werden, gehen sie davon aus, dass nur diese die Basis für einen weltweiten revolutionären Kampf bilden können. (…) Wir können diese Position nicht übernehmen.“153 Die populistische Gruppe rief die Linke weiterhin dazu auf, direkten Widerstand in allen Lebensbereichen zu praktizieren und damit eine massenhafte Gegenmacht zu bilden. Unterschrieben ist das Papier mit „RGO – Revolutionäre-Guerilla-Opposition aus der der Konkursmasse der Bewegung 2. Juni“154. Nach der gescheiterten RAF-Aktion 1977 planten die nach Berlin zurück gekehrten Frauen die Befreiung von Till Meyer und Andreas Vogel aus der Haftanstalt Moabit. Die Aktion sollte den Terroristinnen allerdings nur teilweise gelingen: Nachdem sich zwei Aktivistinnen mit gefälschten Ausweisen Zugang zur JVA verschafft hatten, konnten sie lediglich mit Meyer in die Freiheit fliehen. Vogel blieb inhaftiert.155 Gemeinsam setzte sich die Gruppe nach Bulgarien ab, wo Meyer, Rollnik und zwei weitere Aktivistinnen jedoch schnell wieder gefasst und zurück in die BRD geflogen wurden. Inge Viett, Ingrid Siepmann und Regina Nicolai hingegen gelangten mit Unterstützung der DDR abermals in den Nahen Osten. Mit gefälschten Papieren, welche die drei Frauen von Juliane Plambeck erhalten hatten, kehrten Viett und Nicolai zurück nach Europa. Siepmann hingegen hatte sich für den Kampf an der Seite der Palästinenser entschlossen und war im Nahen Osten geblieben.156 In Paris näherte sich die auf Viett und Plambeck dezimierte Bewegung schließlich der RAF an. Viett schildert ihre damalige Verfassung als labil und von Zweifeln geplagt: „Mit stillem Entsetzen registrierte ich, wie meine einstmalige Kampfkraft von Tag zu Tag mehr aus mir herausgewaschen wurde. (…) Jeden Tag waren wir unterwegs in Sachen Revolution, aber niemand sah noch irgendwelche Chancen und niemand sprach die Zweifel aus. Wir müssen kämpfen, einfach weiterkämpfen war die verinnerlichte Parole.“157 Doch trotz des Ohnmachtgefühls klammerte sich die Terroristin an ihre Existenz als Guerillakämpferin: „ich wünschte mir keine Alternative, die mit Versöhnung und Akzeptanz des alten Lebens zusammenhing. Ich war zu Hause in meiner Zugehörigkeit zu den weltweit kämpfenden antiimperialistischen Kräften. (…) Ich wollte nirgendwohin zurück aber ich konnte kaum noch vorwärts, weil die Machtlosigkeit, die Zersplitterung, die Isoliertheit unserer Aktivitäten mich überfiel.“158 Als Viett mit einigen RAF-Mitgliedern zusammentraf, wurde sie für die „opportunistische“ Strategie der „Bewegung 2. Juni“ scharf kritisiert. Und auch sie 152
Reinders/Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 4), S. 122. Zitiert nach Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 88. 154 Ebd., S. 90. 155 Vgl. Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 87f. 156 Vgl. ebd., S. 92. 157 Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 212f. 158 Ebd., S. 213. 153
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selbst begegnete den dogmatisch argumentierenden Terroristen der RAF mit großer Skepsis. Dennoch ließen sich Viett und Plambeck – vermutlich aus Mangel an Alternativen – in die Rote Armee Fraktion eingliedern.159 Nach Darstellung Vietts verfassten die RAFAktivisten gemeinsam mit Plambeck ein Auflösungspapier160, das Gabriele Rollnik – dramaturgisch passend – am 2. Juni 1980 im Gerichtssaal vortrug. Darin heißt es unter anderem: „Wir lösen die Bewegung 2. Juni als Organisation auf und führen in der RAF – als RAF – den antiimperialistischen Kampf weiter. (…) Die Bewegung war eine vermeintliche Alternative zur RAF als eine Möglichkeit derjenigen Genossen, denen der kompromißlose Kampf zu weit ging. Das hat 10 Jahre lang Spaltung, Konkurrenz und Desorientierung unter den Linken produziert und es hat auch unseren eigenen revolutionären Prozeß behindert.“161 Des Weiteren kritisierten die Verfasser der Erklärung die populistische Fraktion der „Bewegung 2. Juni“ als „pervertierte Spaßguerilla“ und kündigten die Zerschlagung des Staates an. Viehmann, Reinders und Fritzsch reagierten ihrerseits mit Kritik und erklärten, dass sich die „Bewegung 2. Juni“ nicht wie ein „kleinbürgerlicher Schrebergartenverein“ auflösen lasse.162 Tatsächlich war das Ende der „Bewegung 2. Juni“ aber schon viel früher eingetreten. Gabriele Rollnik jedenfalls stellt fest: „Die Bewegung 2. Juni endete als bewaffnetes Projekt, als klar war, dass ihre Aktionen nicht massenhaft aufgegriffen und nachgeahmt wurden.“163
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Nachwirkungen: Verschwunden in der Bedeutungslosigkeit?
Nach ihrer Auflösungserklärung verschwand die „Bewegung 2. Juni“ von der politischen Bildfläche. Ein Teil der Aktivisten führte den bewaffneten Kampf in der RAF weiter. Doch auch die terroristische Schwesterorganisation hörte spätestens 1998 auf zu existieren. Während sich die Medien aber intensiv mit der RAF-Historie auseinandersetzen, geriet die „Bewegung 2. Juni“ nur mehr vereinzelt in die Schlagzeilen. Über die zerschlagene Stadtguerilla berichten Journalisten heute meistens dann, wenn ehemalige Aktivisten in unverbesserlicher Art und Weise ihre terroristische Vergangenheit zu rechtfertigen versuchen. So erklärte Inge Viett auf einem Kongress in Zürich im Oktober 2007 revolutionäre Gewalt nach wie vor für legitim.164 Bereits im Februar hatte sie den „politisch/militärischen Angriff“ als „angemessenen Ausdruck für unseren Widerstand gegen den Kapitalismus“165 bezeichnet und betont, dass dem bewaffneten Kampf in der BRD und anderen Staaten „verdammt mehr Erfahrung, Klugheit, Ausdauer und Unterstützung zu wünschen gewesen wären“166. Gleichzeitig kritisierte sie das kapitalistische System als verbrecherisch. Ralf 159
Vgl. Viett, Nie war ich furchtloser, aaO. (FN 43), S. 214-218. Vgl. ebd., S. 219. 161 Zitiert nach Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 93f. 162 Vgl. dazu neben Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 2), S. 554 auch Schiffer, Die Bewegung 2. Juni, aaO. (FN 9), S. 95. 163 Rollnik, Ella, Nach dem bewaffneten Kampf, in: Holderberg, Angelika (Hg.), Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit, Gießen 2007, S. 149. 164 Vgl. Ohne Autor, Ex-RAF-Mitglied Viett im Züricher Volkshaus, auf: http://www.news.ch/290534/ detail.htm, Stand: 4. Dezember 2007. 165 Zitiert nach: Ohne Autor, Klar greift Politiker an, Viett rechtfertigt Terror, auf: http://www.spiegel.de/politik/ debatte/0,1518,druck-469524,00.html, Stand: 4. Dezember 2007. 166 Ebd. 160
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Reinders schaffte es im Mai 2007 mit ähnlichen Äußerungen in die Schlagzeilen. Während einer Demonstration in Berlin kritisierte er Hanns-Martin Schleyer und Siegfried Buback, die beide 1977 von der RAF ermordet worden waren. Dem ehemaligen Arbeitgeberpräsidenten Schleyer warf Reinders vor, „die rechte Hand“ des SS-Funktionärs Reinhard Heydrich gewesen zu sein, den einstigen Generalbundesanwalt Buback wiederum bezeichnete er als „Erfinder des toten Trakts“ in den Justizvollzugsanstalten. Der Tagesspiegel kommentierte die Aussagen folgendermaßen: „So wie Reinders redet, zwingt sich der Eindruck auf, die Schuld der Täter werde relativiert.“167 Mehrere ehemalige Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ machten auch durch schriftliche Erzeugnisse auf sich aufmerksam. Inge Viett, Gabriele Rollnik, Michael Baumann und Till Meyer schrieben allesamt mehrere Bücher beziehungsweise Autobiographien, im Falle Vietts wurden sogar frühe Briefe ediert.168 Baumann und Meyer gaben zudem im November 2007 das Buch „Radikales Amerika. Wie die amerikanische Protestbewegung Deutschland veränderte“ heraus. Ronald Fritzsch und Gerald Klöpper arbeiten heute als selbständige Unternehmer, die mit Büroartikeln beziehungsweise Heizungs- und Sanitäranlagen handeln. Zumindest Klöpper steht seiner Vergangenheit heute selbstkritisch gegenüber und hat seine politischen Ansichten gravierend verändert. Gegenüber dem Deutschlandradio äußerte der ehemalige Aktivist Sympathien für die Politik der FDP. Angesprochen auf seine Zeiten als Linksextremist antwortete der Unternehmer, dass er angefangen habe, „vorwärts zu schauen, weil er sein Leben selbst in die Hand nehmen wollte“. In dieser Darstellung habe er sich vorgenommen, Projekte zu machen, vielleicht in der Konstellation nichts mehr Großartiges zu bewegen, aber zumindest im primären sozialen Umfeld „neue Werte zu schaffen“.169
167 Ohne Autor, Hetze gegen RAF-Opfer, auf: http://www.tagesspiegel.de/berlin/;art270,1928444, Stand: 4. Dezember 2007. 168 Viett, Einsprüche! Briefe aus dem Gefängnis, Hamburg 1996. 169 Vgl. hierzu den Beitrag von Köppchen, Ulrike, Der Wähler als Warentester. Ein Stimmungsbild aus der deutschen Demokratie, auf: http://www.dradio.de/download/37773/, Stand: 5. Dezember 2007.
Erdung durch Netzwerkstruktur? Revolutionäre Zellen in Deutschland
Revolutionäre Zellen in Deutschland
Johannes Wörle
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Entstehungsumstände: Das Scheitern der Ersten Generation der RAF
Die Prozesse gegen Adrienne Gerhäuser und Thomas Kram während der Debatte um die Begnadigung von Christian Klar haben auch die Revolutionären Zellen (RZ) kurzfristig wieder in das Licht der Öffentlichkeit gerückt. Dennoch blieb die Berichterstattung sehr kurz und oberflächlich.1 Wie auch früher schon stehen die RZ ganz „im Schatten der RAF“2, zu der sie als revolutionäre Alternative konzipiert waren. Trotzdem waren die RZ eine der „Großen Drei“ unter den terroristischen Organisationen in der BRD. Die Aufarbeitung der Geschichte der RZ begann aber im Gegensatz zur RAF und der Bewegung 2. Juni sehr spät. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass bis 2000 auch die ermittelnden Behörden kaum belastbare Informationen über die RZ hatten.3 Gerade die Struktur, die quantitative Dimension ihrer Anschläge und ihr Aktionismus als „Feierabendterroristen“ aus der bürgerlichen Tarnung heraus hat die RZ möglicherweise zu der am wenigsten berechenbaren Organisation avancieren lassen. Obwohl im Vergleich zu den anderen deutschen Gruppierungen eher unbekannt, waren die RZ sowohl bundesweit als auch international für mehr Anschläge als RAF oder „Bewegung 2. Juni“ verantwortlich.4 Auch die RZ hatten ihren Ursprung in der Bewegung des Jahres 1968, die allerdings nie eine reine Studentenbewegung war. Die anfängliche Radikalisierung der Mitglieder der RZ erfolgte nahezu analog zu der der RAF.5 Auffallend ist allerdings, dass sich der Kern der späteren Führungsriege aus einem Kreis von Personen zusammensetzte, die schon in anderen Projekten zusammengearbeitet hatten. So waren Wilfried Böse, Johannes Weinrich, Hans-Joachim Klein, Gerd Albartus und Sabine Ecke Mitglieder in einer oder mehreren der in Frankfurt angesiedelten Gruppen Föderation Neue Linke, der Stadtteilgruppe Roter Gallus und der Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe. Treibende Kraft in all diesen Gruppen war Karl Dietrich Wolff, der unter Beteiligung von Böse und Weinrich 1970 sogar einen eigenen Verlag aus der Taufe hob.6 Allerdings war Wolff wohl nie innerhalb der RZ 1
Exemplarisch dazu: Gast, Wolfgang, Die populäre Stadtguerilla steigt aus, in: taz vom 05.02.2007, S. 5, oder „Rote Zora“ vor Gericht, in: Süddeutsche Zeitung vom 06.03.07, S. 6. So der Titel eines Aufsatzes von Wolfgang Kraushaar über die Entstehungsgeschichte der RZ, siehe dazu Kraushaar, Wolfgang, Im Schatten der RAF. Zur Entstehungsgeschichte der Revolutionären Zellen, in: Ders. (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Band 2, S. 583. 3 Das änderte sich erst mit den Aussagen von Kronzeugen wie Hans-Joachim Klein und Tarek Mousil, siehe dazu Landesverfassungsschutzbericht Bayern 2000, S. 144. 4 Rabert, Bernhard, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, Bonn 1995, S. 197. 5 Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 6 Siehe dazu Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 588. 2
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aktiv und erklärte später, er habe sich mit den aktiven Mitgliedern zerstritten und sich von ihnen gelöst.7 Zusätzlich zu der Radikalisierung in den alternativen Gruppen wurde die Entstehung der RZ maßgeblich von der Inhaftierung der ersten Generation der RAF geprägt. Die Zerschlagung der ersten Generation und die sich anschließende Debatte über deren Aktionismus haben sowohl das ideologische als auch das taktische Konzept der RZ beeinflusst. Innerhalb der linken Szene gab es nach der Serie von Bombenanschlägen Kontroversen über die richtige Kampfform.8 Besonders dass mehrere Unbeteiligte aus der „Arbeiterklasse“, für die der Kampf ja stellvertretend geführt werden sollte, bei den Anschlägen zu Schaden kamen, war nur schwer zu vertreten.9 Es kam bei vielen Gruppen zu einer grundlegenden Spaltung in zwei Lager. Die Einen suchten nach neuen Kampfformen und übten sich in „solidarischer Kritik“, die Anderen waren bereit, den Weg des bewaffneten Widerstandes weiter zu verfolgen. Einige Gründungsmitglieder der RZ hielten wohl zu diesem Zeitpunkt die Vorgehensweise der RAF und ihre theoretische Begründung für völlig falsch. Nach späteren Aussagen sei dies ein wichtiger Grund gewesen, die RZ in dieser Form zu gründen.10 Wilfried Böse, der schon in der Unterstützerebene der RAF tätig gewesen war, war zu diesem Zeitpunkt bereits Experte in logistischen Fragen und verfügte anscheinend auch über wichtige Kontakte zur Waffenbeschaffung. Seine Funktion innerhalb der RAF, neben Kurierdiensten, Waffen- und Sprengstoffbeschaffung, soll auch so wichtig gewesen sein, dass er einigen bereits aktiven Mitgliedern vorgezogen wurde. Gerhard Müller, ein ehemaliges Mitglied, gab bei späteren Vernehmungen an, er habe den Eindruck gehabt, Böse würde von den RAF-Kadern, vor allem von Ensslin und Meinhof, für wichtiger als er selbst gehalten.11 Böse soll auch die treibende Kraft hinter der Gründung der ersten Revolutionären Zelle gewesen sein. Nach Müller hatte Böse schon während seiner Zeit in der UnterstützerEbene der RAF konkrete Pläne für eine eigene „Stadtguerilla-Truppe“ in Frankfurt gehabt. Dazu soll er auch versucht haben, Mitglieder abzuwerben und so viele Informationen wie möglich über Struktur und Aktionismus der RAF zu erhalten.12 Nachdem die Debatte in der linken Szene 1972 mehr und mehr von der Frage nach der Befreiung der ersten Generation der RAF geprägt war und weniger von politischen Inhalten, begann Böse die konzeptionelle Planung und Umsetzung einer neuen terroristischen Gruppierung. Dabei sollten die Erfahrungen in der RAF und die Umstände der Zerschlagung ihrer ersten Generation maßgeblich mit einfließen. Nach der Aufbauphase fanden die ersten Anschläge, zu denen sich erstmals eine „Revolutionäre Zelle“ bekannte, im Jahre 1973 statt. Am 16. und 17. November des Jahres explodierten Sprengsätze bei den Niederlassungen des ITT-Konzerns in Berlin und Nürnberg.13
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Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 592. Siehe dazu Kahl, Werner, Vorsicht Schußwaffen! Von kommunistischen Extremismus, Terror und revolutionärer Gewalt, München 1986, S. 101. 9 Siehe dazu Backes, Uwe, Bleierne Jahre. Baader-Meinhof und danach, Erlangen 1991, S. 85. 10 Die Carlos Haddad Connection, in: Jungle World 29, 2000, S. 3. 11 Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 593. 12 HIS-Archiv, SO 01/011,002-008, S. 48, zitiert nach Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 593. 13 Siehe Revolutionärer Zorn Nr. 1, in: Die Früchte des Zorns, Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora, Band 1, Berlin 1993, S. 116. 8
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Bis Dezember 1976 wurden auch alle Bekennerschreiben und Briefe nur mit dem Singular unterzeichnet. Erstmals beim Anschlag auf das Offizierskasino der Rhein-Main Airbase wird die Selbstbezeichnung „Revolutionäre Zellen“ verwendet.14
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Aufbau der Organisation und Soziostruktur: Ein perfektes Netzwerk?
Die RZ sollten nicht nur inhaltlich einen Gegenentwurf zur RAF bilden, sondern auch organisatorisch. Dies lag nicht zuletzt daran, dass 1972 während der Gründungsphase der RZ die meisten Gründungsmitglieder der RAF schon inhaftiert waren und sich die Diskussion innerhalb der Unterstützerszene mehr darum drehte, wie die Gefangenen zu befreien seien und die politischen Ideen in den Hintergrund rückten. Es war wahrscheinlich Wilfried Böse, der, schon als Unterstützer der RAF aktiv, das zukünftige Konzept aufstellte.15 Dem Konzept lagen zwei organisatorische Maximen zu Grunde: das Aufrechterhalten einer bürgerlichen Existenz als Tarnung und eine Netzwerkstruktur, die als egalitärer Gegenentwurf zum leninistisch-avantgardistisch geprägten Gefüge der RAF konzipiert war. Diesen Aufbau hatte der lateinamerikanische Guerilla-Stratege Carlos Marighella in seinem „Handbuch des Stadtguerillero“ als Organisationsform empfohlen. So muss der Stadtguerillero „von seiner normalen beruflichen Beschäftigung leben“. Dabei darf innerhalb der Organisation jeder „nur das kennen, was sich auf seine Arbeit bezieht“.16 Die Aufrechterhaltung einer bürgerlichen Existenz war in zweierlei Hinsicht wichtig für die Funktionslogik der RZ. Zum einen ermöglichte sie den Mitgliedern, frei zu entscheiden wie weit sie mit ihrem Aktionismus gehen wollten und welche Ziele sie sich aussuchten. Somit konnten leichter neue Zellen gegründet werden, die sich in ihrer Radikalität und der Schwere ihrer Anschläge steigern konnten. Die Mitglieder sollten bewusst auch in legalen Gruppen aktiv sein. Jede Zelle sollte „ihre eigene Politik“ machen.17 So war zu jeder Zeit eine „Rückkopplung“ an die Zielgruppe der Aktionen möglich. Die Zielgruppe waren Sympathisanten oder Aktivisten, die an einem Thema wie dem Startbahnausbau am Frankfurter Flughafen, der Erhöhung von Fahrkartenpreisen oder der Asylgesetzgebung aktiv oder zumindest daran interessiert waren. Durch die Rückkopplung konnten die Außenwirkungen des Aktionismus überprüft werden und Gründe für Fehler oder mangelndes Verständnis, etwa bei Aktionen zur Geldbeschaffung oder zur „Bestrafung“ Einzelner, aufgearbeitet werden. Die RZ verstanden sich als eine „populäre Guerilla“.18 Es galt der Grundsatz, dass eine Aktion aus sich heraus verstanden werden müsste. Möglicherweise mehr als alles andere war für den Aktionismus der Bezug zu der zu erreichenden Zielgruppe wichtiger als das Streuen von Furcht oder die Botschaft, die an den „Feind“ übermittelt werden sollte. Allerdings galt es nicht nur auf Grund der Rückkopplung an die Sympathisanten in den legalen linken Gruppen den Weg in die Illegalität zu vermeiden. Die RZ hatten festgestellt, dass Deutschland „viel zu gut durchorganisiert“ sei, um aus der Illegalität heraus zu agieren. Um eine Zerschlagung zu vermeiden, war die Illegalität nur der letzte Ausweg für den Fall, dass man durch einen Fehler oder Zufall enttarnt würde. Ansonsten wurde das System 14
Siehe Anschlag auf das US-Offizierskasino, Frankfurt, in: Die Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 370. Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 595 ff. 16 Marighella, Carlos, Handbuch des Stadtguerillero, 1969, S. 14 u. 43. 17 Revolutionärer Zorn Nr. 5, in: Die Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13), S. 638. 18 Revolutionärer Zorn Nr. 6, in: Die Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 259. 15
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als sicher angesehen. Es gäbe keine Möglichkeit „diese Struktur aufzurollen“ und das Netzwerk aus autonomen Zellen zu zerschlagen.19 Dennoch legte jeder für sich bei Eintritt in die RZ ein Depot mit einer Waffe, Ausweispapieren und Geld an, für den Fall, dass er doch in den Untergrund gehen müsste.20 Dieses Prinzip der „Abstraktion“ und „Anonymität“ 21 beim Aufbau schlug sich in der Form des Netzwerkes nieder. Es gab keinen Avantgarde-Gedanken, wie etwa bei der RAF, eher kann man von einem Gedanken der Inspiration aus der Mitte der Zielgruppe heraus sprechen.22 Klandestine Netzwerke, wie etwa kriminelle und terroristische Organisationen, gleichen vom Typus her meistens einer Mischform aus verschiedenen Arten von Netzwerken.23 Die Struktur der RZ ist am ehesten als eine Mischung aus einem Ketten- oder Reihennetzwerk und einem Netzwerk mit zentraler Schnittstelle zu beschreiben. Bei einem Kettenoder Reihennetzwerk ist jeder Akteur nur mit einem anderen verbunden, wie etwa bei einer Gruppe von Schmugglern.24 Die Zellen untereinander hatten nur über jeweils eine beauftragte Person Kontakt miteinander. Dadurch hatte auch der Ausfall einzelner Zellen keine gravierenden Auswirkungen auf die RZ, wie im Falle der Heidelberger Zelle deutlich wurde, auch wenn die Ermittler erstmals Einblicke in die Struktur der RZ bekamen. 25 Beim Netzwerk mit zentralen Schnittstellen bestehen zentrale Knotenpunkte, über die die Akteure indirekt in Kontakt treten können. Diese zentralen Punkte können einerseits nur Übermittlungs-, daneben aber auch Steuer- und Kontrollfunktion haben.26 Zwar bestanden die RZ aus einer linearen Struktur, aus sehr vielen Klein- und Kleinstgruppierungen ohne übergeordnete Elemente, trotzdem muss eine gewisse Koordination stattgefunden haben. Dies lässt sich aus der Existenz des Mediums „Revolutionärer Zorn“ schließen, in dem unwidersprochen theoretische Konzeptionen und Begründungen im Namen aller Zellen abgegeben wurden. Auch stellten sich einzelne Teile wie die „Rote Zora“, die Frauenorganisation der RZ, darin vor. Weiterhin wurden an verschiedenen Orten und von verschiedenen Zellen Sprengstoffe und Waffen der gleichen Art verwendet.27 Nach Kleins Schilderungen kannten auch einzelne Mitglieder, wie etwa Böse oder später Weinrich durchaus alle Teile der RZ und hatten auch die Möglichkeit, Einfluss auf mehrere Zellen zu nehmen. Wie die RZ intern als „Familie“ firmierte, so bezeichnete Klein Böse als „Familienoberhaupt.28
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Revolutionärer Zorn Nr. 5, in: Die Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13), S. 638. Siehe Klein, Hans-Joachim, Rückkehr in die Menschlichkeit. Appell eines ausgestiegenen Terroristen, Hamburg 1979, S. 173. 21 Siehe dazu „Das Ende unserer Politik“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S.45 22 Ebd., S. 38. 23 Siehe Schneckener, Ulrich, Transnationaler Terrorismus, Frankfurt am Main 2006, S. 74. 24 Im Juni 1978 explodierte in Heidelberg bei der Herstellung ein Sprengsatz, der für einen Anschlag auf das argentinische Konsulat in München vorgesehen war. Das RZ-Mitglied Hermann Feilinger verlor dabei beide Beine und sein Augenlicht. Bei der Befragung im Krankenhaus enthüllte Feilinger noch unter Narkoseeinfluss Details über die Heidelberger Zelle und die Struktur der RZ. Allerdings konnte die Polizei dadurch nur wenige weitere Mitglieder der Heidelberger Zelle verhaften. Siehe dazu: Kahl, Vorsicht Schußwaffen!, aaO. (FN 8), S. 106 f. und Backes, Bleierne Jahre (FN 9), S. 89. 25 Siehe Schneckener, Transnationaler Terrorismus, aaO. (FN 23), S. 73. 26 Ebd. 27 Siehe dazu Kahl, Vorsicht Schußwaffen!, aaO. (FN 8), S. 89. 28 Siehe Klein, Rückkehr in die Menschlichkeit, aaO. (FN 20), S. 49 u. 86. 20
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Die ideale Struktur eines terroristischen Netzwerkes besteht aus linear gleichgeordneten Zellen, die durch eine Ideologie, Doktrin und einzelne Verbindungen über Vertrauenspersonen geeint sind und über geeignete Organe kommunizieren können. Weiterhin muss die Möglichkeit bestehen, Innovationen und Wissen innerhalb des Netzwerkes zu verteilen, um einen höheren Grad an Professionalität zu erreichen.29 Das Netzwerk der RZ erfüllte mehrere dieser Bedingungen und hatte darüber hinaus den Vorteil, dass durch die lokalen Zellen im Netzwerk lange Zeit die Verbindung zur Sympathisantenszene aufrechterhalten werden konnte. Das Netzwerk selbst bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil waren die Zellen in Deutschland, der zweite war die Internationale Zelle. Trotzdem existierten enge Kontakte zwischen den beiden Teilen, wenn auch nur wenige ausgewählte Personen die ganze Organisation kannten.30 Jede Zelle bestand nur aus etwa drei bis fünf Mitgliedern.31 In Deutschland ist die Existenz von mindestens elf Zellen nachgewiesen.32 Besonders aktiv waren, neben der Frankfurter Ursprungszelle, die Zellen in Berlin und im Ruhrgebiet, zwischen denen auch häufiger eine Art Konkurrenz zu beobachten war.33 Auch dies könnte eine Begleiterscheinung der linearen Struktur sein. Durch das Fehlen einer übergeordneten Instanz findet innerhalb des Netzwerkes ein Ringen um die Position des „Ersten unter Gleichen“ statt. Allerdings verleitete das Prinzip auch Nachahmungstäter, sich als Teile der RZ auszugeben und in ihrem Namen Anschläge zu verüben. Die RZ gaben zwar an, kein Vorrecht auf den Namen zu haben, warnten aber vor unprofessionellem, blindem Aktionismus und befürchteten, dass der Name missbraucht und der Organisation so Schaden zugefügt werden könnte.34 Hier liegt auch eine Schwäche des Systems. Da es keine Hierarchie oder Führungsfigur gab, die als Inspirationsquelle und ideologische oberste Instanz dienen konnte, war es jedem Teil des Netzwerkes möglich, im Namen aller zu handeln oder zu sprechen.35 Auch gab es ein erhebliches Gefälle innerhalb der RZ, was die Professionalität betraf. Einige hatten paramilitärisches Training in Lagern der PFLP36 genossen, andere lernten Sprengstoffbau und ähnliches aus Büchern und im Selbstversuch. Diese Problema29
Arquilla, John/ Ronfeldt, David (Hrsg.), Networks and Netwars: The Future of Terror, Crime, and Militancy, Santa Monica 2001, S. 325 ff., zitiert nach Schneckener, Transnationaler Terrorismus, aaO. (FN 23), S. 74. 30 Klein nennt diese Zelle den „Europa-Teil“. Ob dies die Bezeichnung innerhalb des Netzwerkes war oder er sie selbst gewählt hat lässt sich nicht bestimmen. Fest steht, dass diese Zelle auch außerhalb Europas operierte. Siehe dazu besonders die Biographie von Kopp, Magdalena, Die Terrorjahre. Mein Leben an der Seite von Carlos, Frankfurt am Main 2007. 31 Siehe Landesverfassungsschutzbericht Bayern 2000, S. 143. 32 Vier Zellen in Frankfurt, eine in Mainz, Wiesbaden, Berlin, Raum Wuppertal, Bochum und Heidelberg. Siehe dazu Kahl, Vorsicht Schusswaffe!, aaO. (FN 8). Weiterhin existierten die Roten Zora als Frauengruppe sowie die Internationale Zelle. Hier sind aber personelle Überschneidungen mit anderen Zellen zu vermuten. 33 So soll sich gerade Zelle im Ruhrgebiet sich stärker für rücksichtslosere Anschläge, bei denen auch Personenschaden einkalkuliert war, eingesetzt haben. Nach dem Tod Böses in Entebbe plante die Zelle ein Hotel zu zerstören. Auch Weinrich verlangte härtere Anschläge, was sich mit den Aussagen Kleins deckt, der nach der Übernahme der Führung durch Weinrich mehrere geplante Mordanschläge publik machte. Siehe dazu Kahl, Vorsicht Schusswaffe!, aaO. (FN 8), S. 110 und Klein, Rückkehr in die Menschlichkeit, aaO. (FN 20), S. 87. 34 Revolutionärer Zorn Nr, 5, in: Die Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13), S. 638. 35 Ebd. und Revolutionärer Zorn Nr. 2, in: Revolutionärer Zorn, Band 1, aaO. (FN 13), S. 165 ff. 36 Die „Popular Front for the Liberation of Palestine“ (Volksfront für die Befreiung Palästinas) war eine palästinensische terroristische Organisation. Ihr stellvertretender Chef, Dr. Waddi Haddad, war Auftraggeber für mehrere Attentate an denen die RZ beteiligt waren. Ab 1976 operierte Haddad auf eigene Faust und verließ die PFLP. Siehe Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 583 und Klein, Rückkehr in die Menschlichkeit, aaO. (FN 20), S. 73.
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tik wurde aber erst relativ spät innerhalb der RZ thematisiert. In einer Sonderausgabe des Organs „Revolutionärer Zorn“ wurden Ratschläge und Anleitungen zum Aufbau einer Zelle, Training und ähnliches erläutert.37 Dennoch ist davon auszugehen, dass die Möglichkeiten der „Autodidakten-Zellen“ ohne direkten Kontakt zum harten Kern oder Zugang zu Trainingseinrichtungen sehr eingeschränkt waren. Auffallend häufig wurden RZ Mitglieder oder Nachahmer beim Bombenbau oder der Platzierung von Sprengstoff schwer verletzt oder starben.38 Hier zeigt sich ein bedeutender Fehler innerhalb der Struktur des Netzwerks. Die Möglichkeit zum Wissensaustausch und der Weitergabe von Ergebnissen aus Lernprozessen war nur eingeschränkt möglich, nur ein kleiner Teil konnte professionell agieren. Obwohl die Struktur ihren ersten Zweck erfüllte, möglichst viel Sicherheit vor der Strafverfolgung zu bieten, konnte durch sie nicht, wie angestrebt, eine „Vermassung“ des Widerstandes erreicht werden. Gleichzeitig waren durch strukturimmanente Fehler die Möglichkeiten großer Teile des Netzwerkes eingeschränkt. Das Motto, „Schafft viele Revolutionäre Zellen!“39 ging nicht auf.
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Aktionismus: Vom Anschlag auf Fahrkartenschalter zur Flugzeugentführung
Der Aktionismus der RZ konzentrierte sich auf zwei Paradigmen: Das Konzept des „klandestinen Kampfes“ und das Primat der „Vermassung“.40 Erhoben die RZ den Anspruch, eine Guerilla zu sein, mussten sie sich doch indirekt eingestehen, dass ein Guerillakampf noch nicht in ihren Möglichkeiten stand. Dieser sollte erst in einer späteren Phase beginnen. Dabei lehnten sich die RZ an die von Régis Debray mitentwickelte Focustheorie an.41 Ihr zufolge sollte sich Widerstand in „kleinen Kernen“ überall dort organisieren und agieren, wo die „politische Massenarbeit“ schon durchgeführt wird. Sollten dann viele „Kerne“ als Foci entstanden sein, wäre die Zeit der „Stadtguerilla als Massenperspektive“ gekommen.42 Diese Foci, als Vorstufe der durch die Massen gestützten Guerilla, sollten sich der Vorstufe des Guerillakampfs bedienen: des „klandestinen Kampfes“. Diese Kampfform ist aber „noch nicht Guerillakampf“, sondern eine Form des Kampfes, die dazu dient, Erfahrungen zu sammeln und Lernprozesse in Gang zu setzen. Ziel ist es herauszufinden, ob man geeignet ist, den „Widerstand mit Waffen zu führen“. Gleichzeitig sollte der Vorteil des Prinzips des „klandestinen Kampfes“ sein, dass er „massenhaft“ geführt werden kann. Auch hier ist also wieder das Prinzip der Vermassung zu finden.43
37
Revolutionärer Zorn Nr, 5, in: Die Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13 ), S. 638. In den Publikationen der RZ finden sich Verweise auf mindestens vier solcher Vorfälle. In Hamburg wurden bei dem Versuch Fahrscheinautomaten zu sprengen zwei junge Frauen 1977 schwer verletzt, eine davon tödlich. Im Dezember 1981 starb ein junger Mann beim Platzieren eines Brandsatzes. Siehe dazu: Revolutionärer Zorn Nr. 5, in: Die Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13 ), S. 646 ff. 39 Dieses Motto fand sich unter allen späteren Bekennerschreiben und Erklärungen, wie auch in den Ausgaben des „Revolutionären Zorns“. 40 So wird im Revolutionären Zorn Nr. 4 mehrfach die Bedeutung der „Massenorganisationen“, der „Massen“ und der „Massenbewegungen“ für die Strategie der RZ hervorgehoben. Siehe Revolutionärer Zorn Nr. 4, in: Die Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 245f. 41 Debray, Régis, Revolution in der Revolution?, München 1967. Siehe dazu analytisch Fetscher, Iring/Rohrmoser, Günter, Analysen zum Terrorismus. Ideologien und Strategien, Opladen 1981, S. 168. 42 Siehe Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 115. 43 Revolutionärer Zorn Nr. 4, in: Die Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 245. 38
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Die RZ selbst teilten ihre Aktionen in drei Sparten ein, die sich nach dem vermeintlichen Ziel und zu treffenden Gegner richteten: antiimperialistische Aktionen, Aktionen gegen den Zionismus und Aktionen für die Rechte von Frauen, Jugendlichen und Arbeitern und deren vermeintliche Feinde.44 Eine sehr breit aufgestellte Zielsetzung, unter die sich, mit Ausnahme des Punktes „Antizionismus“45 nahezu jeglicher Aktionismus subsumieren ließ. Zusammen mit dem Primat der Vermassung waren die Ziele der Anschläge der RZ vorgegeben: Innerhalb dieser drei Felder musste der Aktionismus an aktuelle Ereignisse gekoppelt werden, um die Zielgruppe zu erreichen. Ausnahmen im Inland waren drei „Bestrafungsaktionen“ nach dem Vorbild der „Knieschüsse“ der Italienischen Roten Brigaden.46 1981 starb bei einer dieser Aktionen im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Startbahn West und gegen Atomkraftwerke der damalige hessische Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry. Im Bekennerschreiben bezeichneten die RZ den Tod als Unfall, sie hätten ihn nur verletzen wollen und deswegen eine kleinkalibrige Pistole verwendet.47 So können grob drei Phasen im Aktionismus der RZ ausgemacht werden. Die Gründungsphase mit einem ausgeprägtem Aktionismus im Bereich der Diskussion um die Erhöhung der Fahrkartenpreise und mit starken internationalen Verflechtungen von 1973 bis 1976. Danach eine zweite Phase der Schwäche, mit wenig Aktionismus und dem Versuch einer „2. Generation“ der RZ, sich mit der Bindung an die Anti-Atomkraftbewegung neu zu definieren. Diese zweite Phase dauerte etwa von 1977 bis Anfang und Mitte der 1980 Jahre. Dann begann die dritte Phase bis etwa 1991, die nach einem kurzzeitigen Erstarken in dem Konflikt um die Startbahn-West ab Mitte der 80er Jahre von Auflösungserscheinungen, hauptsächlich aber von einem gesteigerten Aktionismus im Bereich der Asyl- und Flüchtlingsfragen geprägt war. Davon zu unterscheiden sind die Aktionen der Roten Zora, die, erst unter dem Namen „Frauen der Revolutionären Zellen“, konstant von 1975 bis 1991 Anschläge gegen gentechnologische Einrichtungen und gegen vermeintliche Ausbeuter und Unterdrücker von Frauen verübten. Die übertriebenen Bemühungen um die Emanzipation der Frauen wurden stets auch mit dem Kampf gegen den Imperialismus verquickt. Dabei wurde meistens auch auf die unterdrückten Frauen in der Dritten Welt verwiesen.48 Lehnte die RZ auch generell den Avantgarde-Gedanken ab, so fanden sich durchaus Tendenzen eines Vorhut- und Befreiungsbewusstseins in den Schriften der Roten Zora, begründet mit der Unterdrückung der Frauen.49 Besonders gentechnische Labore waren häufig Ziel der Anschläge. Der letzte Anschlag, der der Roten Zora zugerechnet wird, fand 1995 auf eine Werft in Bremen statt. Er fand allerdings kaum Widerhall in der Öffentlichkeit.50 So fanden die ersten Anschläge, zu denen sich eine Revolutionäre Zelle bekannte, 1973/74 auf die Niederlassungen des ITT-Konzerns in Berlin und Nürnberg und auf das 44
Siehe Revolutionärer Zorn Nr. 1, in: Die Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 88. Siehe zu diesem Themenkomplex Kraushaar, Wolfgang, Antizionismus als Trojanisches Pferd. Zur antisemitischen Dimension in den Kooperationen von Tupamaros West-Berlin, RAF und RZ mit den Palästinensern, in: Ders. (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 696-713. 46 Siehe Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, aaO. (FN 4), S. 204. 47 Siehe Die Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13), S. 450. 48 Siehe Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, aaO. (FN 4), S. 205. 49 Siehe Die Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13), S. 602f. 50 „Rote Zora“ vor Gericht, in: Sueddeutsche Zeitung vom 06.03.07, S. 6. 45
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chilenische Konsulat in Berlin statt. Begründet wurden die Anschläge mit der vermeintlichen Unterstützung von ITT für die Putschisten in Chile und die vom imperialistischen Westen unterstütze Machtübernahme des Militärs.51 Neben diesen Zielen, die sich allgemein in den Kontext des Imperialismusvorwurfes einfügten, betrieben die RZ immer auch einen sehr lokalen Aktionismus. So wurde über mehrere Jahre hinweg in Berlin und Norddeutschland eine Kampagne gegen Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr geführt. Dabei wurden Anschläge auf Fahrkartenautomaten, Fahrzeuge und Gebäude verübt, aber auch gefälschte Fahrkarten verteilt. In der ersten Ausgabe des Organs der Organisation finden sich auch Bekennerschreiben für eine Vielzahl von Anschlägen und Aktionen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.52 Diese Ausgabe soll in der Schweiz gedruckt worden sein, die späteren dann im Großraum Frankfurt. Die benutzte Druckerpresse soll auf Matratzen von Wohnung zu Wohnung gebracht worden sein, die dann auch zur Lärmdämmung verwendet wurden, um keinen Argwohn bei Nachbarn zu erzeugen.53 Die Vielzahl an unterschiedlichen Anschlägen und Typen von Bekennerschreiben geht mit der Organisationsform einher, da es kein zentrales Gremium oder keine oberste Ebene wie bei der RAF gab, die Definitionshoheit beanspruchen hätte können. Die RZ versuchten gerade keine als abgehoben wahrgenommene Agenda zu vertreten, sondern bewusst an aktuellen, teils regionalen Ereignissen mit ihrem Aktionismus anzuknüpfen. Daher zielten die Aktionen aber auch immer auf einen möglichen Aufruf: „Schafft viele Revolutionäre Zellen“. 54 Hier wird auch wieder eine Parallele zum modernen Netzwerkterrorismus sichtbar, wo ebenfalls immer auch die Verbindung zum konkreten Milieu, das vertreten werden soll, angestrebt wird. Hier zeigt sich eine Stärke der Struktur des Netzwerkes, die sich direkt auf den Aktionismus auswirkt: die weit gefasste Ideologie, die es auch Klein- und Kleinstgruppierungen ermöglicht, Teil des Netzwerkes RZ zu sein. Prinzipiell waren die Publikationen der RZ weniger theoretisch als beispielsweise die der RAF, möglicherweise auch bewusst, da die ideologische und theoretische Grundlegung ein möglichst breites Spektrum an Anschlägen rechtfertigen und Raum für möglichst viel Identifikation für Interessenten bieten sollte55, kein Vergleich also zu Mahlers oder Meinhofs theoretischen Konzepten der Stadtguerilla.56 Bemerkenswert ist auch der Spagat zwischen dem nationalen und internationalen Terrorismus, der in den Aktionen der RZ zu finden ist. Waren im Inland fast nur Objekte, die mit einer gewissen Symbolik behaftet waren, Ziel der Anschläge, waren bei Aktionen im Ausland immer Personen das Ziel.57 Der internationale Aktionismus war auch stets mit dem „Antizionismus“ verbunden. Gleichzeitig waren sich die RZ bewusst, dass ihre internationalen Aktionen nicht verstanden werden würden. Sie sollten nur der Solidarität mit anderen Gruppierungen im antiimpe51
Siehe Revolutionärer Zorn Nr.1., in: Die Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 116. So etwa eine sympathisierende Stellungnahme zu dem Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972, aber auch Bekennerschreiben zu einem Brandanschlag auf das Auto eines Berliner Bezirksstadtrates, der an der Schließung eines Jugendtreffs beteiligt war. Siehe Revolutionärer Zorn Nr. 1, in: Die Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 85. 53 Siehe Kahl, Vorsicht Schusswaffe!, aaO. (FN 8), S. 108. 54 Siehe „Das Ende unserer Politik“, in: Die Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 43. 55 Siehe ebd. Das zeigt sich auch, wenn man Kleins gesamtes Buch betrachtet. Hier zeigt sich, dass er eher Abenteurer als Revolutionär war, und sich auch nicht für theoretische oder abstrakte Ideologien interessierte. 56 Siehe Fetscher/ Rohrmoser, Analysen zum Terrorismus, aaO. (FN 41), S. 101 ff. 57 Siehe die Zusammenstellung des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen „Revolutionäre Zellen und Rote Zora“, abrufbar unter: www.im.nrw.de/sch/387.htm, [Stand: 18.07.07]. 52
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rialistischen Kampf dienen. Nach Kleins Aussagen waren aber auch die logistischen Vorteile, die die RZ, aber auch andere deutsche Gruppen von der Kooperation hatten, ausschlaggebend. So wurden nicht nur Waffen, sondern auch Geld und - besonders wichtig - Trainingsmöglichkeiten in Lagern der PFLP zur Verfügung gestellt.58 Beim Agieren außerhalb Deutschlands konnte auch auf das Prinzip der Vermassung verzichtet werden. Der internationale Aktionismus konnte deswegen auch auf Personen zielen, denn eine Zielgruppe in Deutschland, die „zu interessieren“ gewesen wäre, war so gut wie nicht vorhanden. Der erste internationale Anschlag mit Beteiligung der RZ richtete sich gegen ein Flugzeug der israelischen Fluggesellschaft EL-AL. Am 13.01.1975 versuchte das „Kommando Mohammed Budia“ am französischen Flughafen Orly mit einem sowjetischen Granatwerfer Typ RPG-7 das vollbesetzte Flugzeug beim Start abzuschießen. Beide Geschosse verfehlten das Ziel und schlugen in ein jugoslawisches Flugzeug und ein Verwaltungsgebäude ein. Der Pilot schafft es, durch einen schnellen Start das Flugzeug aus der Gefahrenzone und die 136 Passagiere in Sicherheit zu bringen. Das dreiköpfige Kommando bestand aus einem Libanesen, dem international gesuchten Terroristen Ilich Ramirez Sanchez („Carlos“) und dem RZ-Gründungsmitglied Johannes Weinrich.59 Auch beim nächsten größeren Anschlag kooperierten die RZ wieder mit „Carlos“, der im Auftrag der PFLP handelte. Am 21. Dezember 1975 überfiel eine Gruppe von Terroristen unter seiner Führung die OPEC-Konferenz in Wien. Bei dem Versuch, mehrere Minister zu entführen, kamen ein österreichischer Polizeibeamter, ein libyscher Delegierter und eine irakische Sicherheitskraft ums Leben. Das an der Durchführung beteiligte RZ-Mitglied Hans-Joachim Klein erlitt einen Bauchschuss, konnte aber freigepresst werden und entkam mit „Carlos“ und den anderen Mitgliedern der Gruppe. An Planung und Logistik des Überfalls waren Böse, Gabriele Kröcher-Tiedemann und mehrere RZ-Mitglieder beteiligt.60 Die letzte große internationale Kooperation der RZ war die Entführung eines EL-AL Flugzeuges nach Entebbe in Uganda. Ein zehnköpfiges Kommando, darunter die RZMitglieder Böse und Kuhlmann brachten das Flugzeug auf dem Rückflug nach Frankreich in ihre Gewalt. Nachdem Böse angefangen hatte, die Passagiere nach Juden und Nichtjuden aufzuteilen, um 53 inhaftierte Gesinnungsgenossen frei zu pressen und Druck auf Israel auszuüben, wurde das Flugzeug von einer israelischen Spezialeinheit gestürmt. Böse und Kuhlmann kamen bei der Befreiung der Geiseln ums Leben. Die Details dieser Aktion führten zu einer Auseinandersetzung innerhalb der RZ und untermauerten den Vorwurf des Antisemitismus, der den Zerfall der Organisation beschleunigte.61 Damit war die international operierende Zelle der RZ nahezu ausgelöscht. Die meisten der treibenden Kräfte aus der „Ursprungszelle“ waren tot und es fehlten die Ressourcen für weitere internationale Aktionen. Nach Klein wurden zwar noch einige Anschläge zusam-
58
Siehe Klein, Rückkehr in die Menschlickeit, aaO. (FN 20), S. 79 f. Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 583. 60 Siehe Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, aaO. (FN 4), S. 207. 61 Am 04. Juli 1977 wurde eine israelische Spezialeinheit mit vier Herkulesmaschinen eingeflogen, darunter eine Lazarettmaschine. Es gelang den Israelis nach einem längeren Feuergefecht, die Geiseln zu befreien. Dabei kamen der Kommandeur der Einheit, drei Geiseln, sieben Terroristen und 46 ugandische Soldaten, die die Entführer unterstützt hatten, ums Leben. Siehe Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 599, Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, aaO. (FN 4) , S. 207 und Pflieger, Klaus, Die Rote Armee Fraktion-RAF. 15.5.1970 bis 20.4.1998, Baden-Baden 2004, S. 67. 59
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men mit Haddad, der durch einen Zufall dem Kommando in Entebbe entkommen war, geplant, aber nicht mehr umgesetzt. Böse scheint auch stets die treibende Kraft hinter den RZ gewesen zu sein.62 Sein Ausfall als Knotenpunkt innerhalb der Netzwerkstruktur hatte wohl erhebliche Auswirkungen. Die RAF und die Bewegung 2. Juni, mit denen „Carlos“ ebenso stets intensiven Kontakt hatte, füllten die Lücke.63 Somit ist es wenig verwunderlich, dass auch hauptsächlich die internationale Zelle für die - teils beträchtliche - Kooperation mit den anderen beiden deutschen terroristischen Organisationen verantwortlich war. Nach den Schilderungen Kleins wurden Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni teilweise in denselben Lagern im Jemen ausgebildet. Auch scheint es, als ob sie sich „safe houses“ und andere Infrastruktur geteilt hätten. Klein schreibt von einer Hütte in den Alpen, die auch der Bewegung 2. Juni zur Verfügung stand und nach Kleins Angaben durchaus häufiger genutzt wurde.64 Die Zusammenarbeit mit der RAF zeigt sich auch anhand anderer Umstände. Sowohl die RAF als auch die RZ benutzten Waffen, die bei denselben Einbrüchen gestohlen wurden. So wurden 1970 bei einem schweren Einbruch in ein US-Munitionsdepot mehrere Pistolen Kaliber .22 entwendet. Eine dieser Waffen wurde beim Anschlag auf HeinzHerbert Karry 1981 verwendet, andere bei Anschlägen der RAF.65 Für Sprengsätze wurde von den RZ der Sprengstoff meistens selbst hergestellt, aus Materialien, die legal in Fachgeschäften oder großen Kaufhäusern gekauft wurden. Nach der Herstellung wurden die Reste vernichtet, die Sprengvorrichtungen wurden in Erddepots versteckt. So bediente sich die Rote Zora für ihre Sprengsätze immer desselben Weckertyps als Zünder. Das BKA hatte daraufhin bundesweit alle Exemplare nummerieren lassen und Käufer und Käuferinnen observiert, was schließlich auch zu Fahndungserfolgen führte.66 Weiterhin schienen die RZ über einige Experten für das Fälschen von Dokumenten verfügt zu haben. Die dafür notwendigen Dokumente wurden bei Studentenfeiern und in Lokalen aus abgelegten Jacken gestohlen.67 Durch die internationale Zelle, vor allem aber durch Johannes Weinrich, sollen die RZ auch Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit gehabt haben.68 Ebenso soll es einen Verbindungsmann zur baskischen ETA gegeben haben, der für Waffenbeschaffung zuständig war.69 Nach der Auflösung der internationalen Zelle bildete eine Phase der Schwäche den Anfang des zweiten Abschnittes des RZ-Aktionismus. Interne Auseinandersetzungen um die Aktionen der vergangen Jahre - die einen sprechen von einer faktischen Neugründung, die anderen von einer Spaltung - wurden geführt. Auch weist die Kritik am Verhalten der RAF auf einen Richtungskampf innerhalb der RZ hin. In einem offenen Brief, der von anderen als Produkt des Staates gesehen wurde, wirft eine Zelle der RZ der RAF vor, egoistisch zu handeln und nicht solidarisch zum Rest der „Bewegung“ zu stehen. An einigen 62
Siehe Klein, Rückkehr in die Menschlichkeit, aaO. (FN 20), S. 1. Ebd., S. 80f. 64 Ebd., S. 18. 65 Siehe Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 594. 66 Siehe Villinger, Christoph, „Prozess gegen Rote Zora beginnt“, in: taz, 06.06.07, S. 3. 67 Siehe dazu Klein, Rückkehr in die Menschlickeit, aaO (FN 20), S. 83 und Kahl, a Vorsicht Schusswaffe, aaO. (FN 4), S.109. 68 Siehe dazu Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, aaO. (FN 4), S. 207. 69 Siehe Kahl, Vorsicht Schusswaffe!, aaO. (FN 8), S. 108. 63
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Stellen liest sich der Brief allerdings wie ein Empfehlungsschreiben für die Sache der RZ, die im Gegensatz zur RAF verstanden hätte, für und mit wem sie kämpften. In einem anbiedernden Ton wird betont, wie sehr sich die RZ um die legalen Initiativen sorgten. Fest steht, dass daraufhin der Fokus der Aktionen wieder vermehrt darauf lag, Anschluss an legale Protestbewegungen zu suchen. So wurden 1976 bis etwa 1982 Anschläge gegen US und NATO-Einrichtungen verübt und mit dem „Antiimperialismus“ begründet. Überraschenderweise verübte zur selben Zeit aber auch die rechtsterroristische Hepp-KexelGruppe70 Anschläge auf ähnliche Ziele. Für viele Sympathisanten aus der Friedensbewegung, die hier nach der „Vermassungsstrategie“ von der RZ erreicht und gewonnen werden sollten, waren diese kaum auseinanderzuhalten. Die RZ bemühten sich in einer Stellungnahme, die Unterschiede zwischen ihrem vermeintlich positiv konnotierten Aktionismus und dem der „faschistischen Gruppen“ zu verdeutlichen.71 Auch hier wurde der Versuch deutlich, eine neue Richtung für die Organisation zu finden. In der gleichen Zeit gelang es den RZ teilweise, mit ihrem Aktionismus die AntiAtomkraftbewegung zu erreichen. In einem Interview gaben sie 1980 auch zu, dass ihr Interesse an der Bewegung hauptsächlich deswegen geweckt wurde, weil sie dort eine teilweise militante Zielgruppe ausgemacht hätten. Als Begründung für den Aktionismus wurde dann aber wieder der breit gefasste Imperialismusvorwurf benutzt. So würde Deutschland mit seinen internationalen Atomgeschäften zur „Neokolonalisierung“ beitragen und der Bau von Atomkraftwerken in der BRD die „ideologische Formierung der Bevölkerung“ erleichtern.72 Danach folgte eine zweite Phase der Schwäche, mit wenig Aktionismus und dem Versuch einer „2. Generation“ der RZ, sich mit der Bindung an die Anti-Atomkraftbewegung neu zu definieren. Gleichzeitig stießen diese aber auch durch ihre Anschläge auf Kritik. So wurde ihnen von einer Bürgerinitiative vorgeworfen, die Zusammenarbeit von Initiative und Linken mit blindem Aktionismus zu erschweren.73 Erst als die RZ Anfang der 80er Jahre mit Anschlägen im Zuge der Proteste um den Ausbau der Startbahn-West am Frankfurter Flughafen in eine weitere „Teilbereichsbewegung“ einstieg, schien die Organisation wieder zu erstarken. Tatsächlich gab es mehrere militante Kleingruppen, die kleinere Anschläge auf das Gelände der Startbahn unternahmen. Über eine längere Zeit hinweg fand sich massiver Widerstand gegen das Projekt zusammen. Innerhalb der RZ kam man zu der Einschätzung, dass es zum ersten Mal „gelang, Anspruch und Umsetzung weitgehend in Einklang zu bringen.“ Für kurze Zeit schien die Strategie der „Vermassung“ aufzugehen. Die RZ führten in diesem Zeitraum mehrere Anschläge gegen Zulieferbetriebe durch, ein Bombenanschlag auf das hessische Wirtschaftsministerium scheiterte. Gleichzeitig fordert der Anschlag auf den hessischen Wirtschaftminister HeinzHerbert Karry, zwischen Anti-AKW und Anti-Startbahn-Aktionismus, das erste Todesopfer im Inland. Karry wurde im Bett liegend in die Beine geschossen und starb an einer Verletzung der Beckenschlagader.74 Das sarkastische Bekennerschreiben zeigte, dass auch nach 70
Siehe dazu als Kurzinformation Dietl, Wilhelm/ Hirschmann, Kai/ Tophoven, Rolf, Das Terrorismus-Lexikon. Täter, Opfer, Hintergründe, Frankfurt am Main 2006, S. 394-396. 71 Siehe Revolutionärer Zorn, Band 1, aaO. (FN 13), S. 364. 72 Ebd., S. 342. 73 Ebd. , S. 339. 74 Siehe Revolutionärer Zorn, Band 1, aaO. (FN 13), S. 397 ff.
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der „faktischen Neugründung“ nach 1976 die nächste Generation der RZ die Illusion, Menschenleben zu achten, nur aufrechterhalten wollte, um die anvisierte „Zielgruppe“ nicht abzuschrecken. Zwar wurde die Tat als Unfall dargestellt, das Schreiben selbst zeigt aber keine Einsicht oder gar Reue.75 Im Endeffekt ging das Konzept aber nicht auf. Trotz kurzzeitigen Erstarkens gelang es den RZ nicht, mehr Sympathisanten zu gewinnen. Die folgenden Jahre waren hauptsächlich durch Aktionen gegen Mietpreiserhöhungen und Anschläge im Bereich der Ausländer- und Asylproblematik sowie durch weitere Zerfallserscheinungen geprägt.76 Bei einem weiteren „Knieschussattentat“ erlitt der Leiter der Berliner Ausländerbehörde Hollenberg schwer Verletzungen, ein Jahr später wurde der Vorsitzende Richter des Asylsenats am Bundesverwaltungsgericht, Günter Korbmacher, bei einer ähnlichen Aktion lebensgefährlich verletzt.77 Dabei wurden die Anschläge als politische Notwendigkeit dargestellt und streng von einem Mord getrennt. Wohl auch um das eigene Gewissen zu erleichtern und die möglicherweise letzten Sympathisanten nicht zu verschrecken, wurden Morde aus politischen Gründen scharf verurteilt. Die RZ stellten fest, dass die Guerilla „diese absolut verpflichtenden Gesetze der politischen Moral und Verantwortung“ einhalten müsse und bei der Ermordung des Diplomaten von Braunmühl78 durch die RAF die Grenze überschritten wurde. Relativiert wurde das aber noch im selben Schreiben dadurch, dass der Mord der RAF an Siegfried Buback als etwas anderes und notwendig begrüßt wurde.79 Am 17. Juli 1991 fand der letzte den RZ zugerechnete Anschlag statt. Auf zwei Filialen einer Supermarktkette wurden Brandanschläge verübt. Begründet wurde diese Aktion damit, dass das Unternehmen, welches 1933 Nutznießer der Arisierung gewesen sein soll, eine Filiale vor den Toren des Konzentrationslagers Ravensbrück plante.80 Das war das Ende des Aktionismus, dessen Ziel nie die Machtfrage gewesen sein soll, sondern eine Verbreitung sozialer Selbstbestimmung aus der Gesellschaft heraus.81
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Zerfallsmuster: Aussteiger und Kronzeugen
Durch die Netzwerkstruktur kann nicht von einem einheitlichen Niedergang der RZ gesprochen werden. Der Vorteil eines lineraren Aufbaus ist gerade, dass die Zerschlagung oder Auflösung einzelner Zellen oder Suborganisationen die gesamte Organisation nur marginal beeinflusst. Folglich müssen die Degenerationserscheinungen der einzelnen Zellen und offene Konflikte zwischen Teilen des Netzwerkes betrachtet werden. Erste Zerfallserscheinungen zeigten sich nach dem fehlgeschlagenen Anschlag von Entebbe. Wie oben festgestellt, schwächte der Tod Böses und die damit verbundene Auflösung des harten Kerns der Ursprungszelle die RZ sehr. Die Böse-Nachfolger, darunter Gerd 75 Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, aaO. (FN 4), S. 204. 76 Siehe Revolutionärer Zorn Nr. 6, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 259 ff. und Zorn Extra-9. Zeitung der Revolutionären Zellen, in: Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13) , S. 539. 77 Siehe Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, aaO. (FN 4), S. 204. 78 Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 79 Zorn Extra-9. Zeitung der Revolutionären Zellen, in: Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13), S. 538. 80 Siehe Früchte des Zorns, Band 2, aaO. (FN 13), S. 657. 81 „Das Ende unserer Politik“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 42f.
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Schnepel und Weinrich, konnten die entstandene Lücke nicht füllen. Der internationale Aktionismus wurde eingestellt und die Zelle löste sich auf. 82 Wie die RZ später selbst schrieben, dauerte es Jahre, bis sie sich von diesem Schlag erholt hatten.83 Im Nachhinein betrachtet haben sich die RZ aber wohl nie ganz davon erholt. Kurz darauf zeigte sich ein Auseinanderdriften der Zellen. Ein „Teil aus den Revolutionären Zellen“ kritisierte in einem Brief die Aktionen der RAF und warf ihnen vor, die Bodenhaftung verloren zu haben und unsolidarisch zu handeln.84 Die dritte Ausgabe des offiziellen Organs der RZ widmete sich dann auch zur Hälfte diesem Brief und kritisierte ihn scharf.85 Einen weiteren Beitrag zum Zerfall der RZ leisteten die Antisemitismus-Vorwürfe, mit denen sich die RZ vor allen Dingen im Inneren zu beschäftigen hatten. Wurde es erst abgestritten und als Propaganda des Staates gesehen, dass Böse und seine Freundin bei der Entführung des El-Al-Jets nach Entebbe sich besonders bei der Selektion der jüdischen von den nichtjüdischen Passagieren hervorgetan hatten, mussten sie es einige Zeit danach doch eingestehen. Später bezeichneten die RZ es als Fehler, die antisemitischen Tendenzen und deren negative Wirkung auf die Unterstützerszene nicht mehr hinterfragt zu haben. Eine breite Auseinandersetzung darüber innerhalb der gesamten RZ aber fand nie wirklich statt. Erschreckend aber und tragisch war es, dass die einzige Geisel, die in Entebbe ums Leben gekommen war, eine Holocaust-Überlebende war. Generell wurde der gesamte internationale Aktionismus vor 1991 nie hinterfragt. Gerade hier zeigte sich eine bedenkliche Linie für eine „linke“ Organisation. So machten sich die RZ „die Losungen des palästinensischen Widerstands zu eigen“ und setzten sich „darüber hinweg, dass unsere Geschichte eine vorbehaltslose Parteinahme ausschloss“.86 Dabei zeigte sich die antisemitische Einstellung mehrer Gründungsmitglieder deutlich. Gerade Böse soll auch mehrere Anschläge gegen hochrangige Repräsentanten der jüdischen Gemeinden angeregt haben.87 Wie Hohn muss es da erscheinen, dass die RZ erst spät feststellten, dass Mitglieder rechtsterroristischer Gruppen in denselben Lagern im Jemen ausgebildet wurden.88 Diese Tendenz des Antisemitismus und der willkürlichen Gewaltanwendung führte auch zum ersten Ausstieg aus der RZ. Hans Joachim Klein, der am OPEC-Anschlag beteiligt war, verließ die Organisation und begann, auf der Flucht vor Polizei und RZ, seine Erfahrungen zu schildern. Gleichzeitig wandte er sich mit einem Brief an den „Spiegel“ an die Öffentlichkeit, um geplante Attentate auf die Leiter der Jüdischen Gemeinden in Berlin und Frankfurt zu verhindern. Neben dem Antisemitismus-Vorwurf wurde die Auseinandersetzung, die durch mehrere offene Briefe und Texte in der Zeitschrift „Pflasterstrand“ geführt wurde, von der Debatte um eine „Liquidierungsliste“ bestimmt.89 Aufgrund von Kleins umfangreichen Wissen, besonders um die internationalen Verbindungen und die Kooperation mit Sanchez, sollte er laut seinen Angaben „aus dem Weg geschafft“ wer-
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Die Carlos-Haddad-Connection, in: Jungle World 29, 2000, S. 3. „Gerd Albartus ist tot“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 23. Siehe Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 175. 85 Siehe Revolutionärer Zorn Nr. 1, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13) , S. 170f. 86 „Gerd Albartus ist tot“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 22. 87 Siehe Kraushaar, Im Schatten der RAF, aaO. (FN 2), S. 599. 88 Ebd., S. 600. 89 Siehe Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 188. 83 84
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den.90 In dem Antwortschreiben der RZ wird Klein als Egomane dargestellt, der durch andere instrumentalisiert worden sei, um der gesamten „Guerilla“ zu schaden. Gleichzeitig wurden aber die behaupteten Mordpläne an jüdischen Gemeindevorsitzenden nicht bestritten. Im Gegenteil wurde sogar ausführlich Stellung genommen zur Vita einer der Zielpersonen und deren vermeintlicher Rolle bei „Verbrechen des Zionismus“.91 Um Klein zu schützen drohten Teile der Sponti-Szene in Frankfurt, Namen von RZ-Mitgliedern zu verraten, falls ihm etwas zustoßen würde.92 Als Klein in einem Interview mit der französischen Zeitschrift „Libération“ eineinhalb Jahre später Details über den Anschlag in Wien und die Konkurrenz der Zellen untereinander beschrieb, antworteten die RZ erneut mit einem mehrseitigen Schreiben. Darin wurde wiederum der Vorwurf erhoben, Klein würde nur in eigener Sache „Public Relation“ betreiben.93 Daneben wurde er als ideologisch nicht sattelfester Abenteurer dargestellt, der nur aus profilneurotischen gründen in die RZ eingetreten war. Wurde zuerst festgestellt, dass Klein nichts von der Politik der RZ begriffen hätte und dass es die RZ nicht nötig hätten, „seine Geschichten zurechtzurücken“ und sich zu rechtfertigen, folgte dennoch eine ausführliche Beschreibung und Rechtfertigung der Aktivitäten der RZ. Die Darstellung der Kontinuität und vermeintlich erfolgreiche Rückbindung an die Massen, hier wird wieder auf die Aktionen gegen die Fahrpreiserhöhung verwiesen, kann nicht überzeugen. Die zweite große Auseinandersetzung innerhalb der RZ und ihrer Sympathisanten begann 1991. Fünfzehn Jahre nach der Debatte um den Ausstieg Kleins waren erneut die internationalen Verbindungen Auslöser für den Konflikt. Vier Jahre zuvor war Gerd Albartus, Mitglied der internationalen Zelle, von einer Gruppe palästinensischer Terroristen hingerichtet worden.94 Nachdem lange Zeit nichts über seinen Verbleib bekannt geworden war, entschloss sich eine Zelle, nachdem sie von seinem Tod erfahren hatte, zu einer umfangreichen Selbstreflexion. Kernpunkte waren wiederum der Antisemitismusvorwurf und die internationalen Verbindungen. Dabei wurde festgestellt, dass sich die RZ lange Zeit selbst betrogen hätten und Konflikte unter den Teppich gekehrt worden wären „Wem nützen wir damit, wenn wir unter dem Banner des Internationalismus eine falsche Einheit vorgaukeln, während hinter den Kulissen die Gegensätze aufeinanderprallen“. Sollte es der Sinn der 90
So beschreibt Klein einen versuchten Hinterhalt durch Weinrich und andere, während er sich in einer der RZ gehörenden Hütte in Italien versteckte. Siehe Klein, Rückkehr in die Menschlichkeit, aaO. (FN 20), S. 97. 91 Siehe Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 193f. 92 Ebd., S. 188. 93 So schildert Klein, dass für einen Vergeltungsanschlag auf einen Flughafen anlässlich des Todes von Böse und Kuhlmann ein Spezialist aus einer deutschen Zelle angeworben wurde. Während der Vorbereitung habe dieser aber Waffen der internationalen Zelle aus einem Depot gestohlen, was zu Konflikten mit anderen terroristischen Gruppen, darunter die von Sanchez, führte. Nachdem die Waffen zurückgegeben worden waren, hätte eine andere Gruppe diese erneut gestohlen. Siehe Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 201. 94 Gerd Albartus war wohl eine der widersprüchlichsten Figuren innerhalb der RZ. Er lebte offen seine Homosexualität, war als Gründungsmitglied besonders in die Kooperationen mit den palästinensischen Gruppen involviert. Nachdem er wegen eines Brandanschlags auf ein Kino in dem ein Film über die Flugzeugentführung von Entebbe lief, und Mitgliedschaft in den RZ zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, traf er nach seiner Haft auf völlig veränderte Bedingungen innerhalb der RZ. Fast alle internationalen Kontakte waren beendet worden, die Gründungsmitglieder tot oder im Untergrund. Diesen Bruch sah Albatus als Schwäche und prophezeite das rasche Ende der RZ. Er selbst suchte wieder den Anschluss an palästinensische Organisationen und wurde 1987 bei einem Treffen mit einer Gruppe getötet. Siehe „Gerd Albartus ist tot“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 29. Die biographischen Schilderungen Magdalena Kopps legen nahe, dass Albartus zum Vorwurf gemacht wurde, er habe im Auftrag der Staatssicherheit der DDR den internationalen Flügel der RZ infiltrieren sollen. Nach mehrstündiger Folter sei er dann exekutiert worden. Siehe dazu Kopp, Die Terrorjahre, aaO. (FN 30), S. 140.
Erdung durch Netzwerkstruktur? Revolutionäre Zellen in Deutschland
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Veröffentlichung gewesen sein, das Gedenken an Gerd Albartus aufrecht zu erhalten, so wird doch deutlich, dass es eher um eine Katharsis der RZ selbst ging. Deutlich erkennbar aber war, dass der Konflikt bezüglich der internationalen Verbindungen seit Entebbe die RZ faktisch in mehrere Lager gespalten hatte.95 Kurz darauf veröffentlichte eine Gruppe aus dem Raum Düsseldorf eine Erklärung mit ihrer Selbstauflösung. Zutreffend analysierte diese Gruppe das Scheitern der Politik der RZ. So sei es nicht gelungen, in den Teilbereichsbewegungen Fuß zu fassen und die Zielgruppe für den Aktionismus der RZ zu interessieren. Ausnahme sei die Ankoppelung an die Startbahn-West- Bewegung gewesen, die funktioniert habe. Durch die Ermordung Karrys seien aber die Sympathisanten schlagartig abgeschreckt worden. Die RZ habe an Popularität und damit an Rückkopplung zu den Massen eingebüßt. Im letzten Teil der Auflösungserklärung beschäftigte sich die Zelle auch noch mit dem internationalen Aktionismus. Der wurde grundlegend als Fehler angesehen und es wurde darauf verwiesen, dass die RZ zwar die Verantwortung dafür übernehmen müssten, sie entschuldigten sich selbst aber als spätere Generation und sprachen von einer faktischen Neugründung.96 Darauf antworteten ehemalige Mitglieder einer Zelle, offensichtlich aus dem Raum Frankfurt, und sprachen den Verfassern jegliches Verständnis für die RZ im Gesamten ab. Der Text liest sich wie das Zusammenprallen zweier Generationen: Die Älteren warfen den Jüngeren vor, die „revolutionäre Sache“ und die alten Strukturen verraten zu haben, während die Jüngeren in den RZ eine völlig andere Organisation zu sehen schienen. Gleichzeitig warfen sich beide Seiten Versagen bei den jeweiligen Aktionsschwerpunkten vor. Die Düsseldorfer Zelle kritisierte das Scheitern der Aktionen rund um die Startbahn-West, während die ehemaligen Mitglieder einer Frankfurter Zelle „das Absurde und Paradoxe“ der Anschläge zur Flüchtlingspolitik bemängelte und der Düsseldorfer Zelle „mangelndes Theorieverständnis“ vorwarf.97 Hier scheint sich wieder eine Schwäche des Netzwerkes der RZ zu zeigen: die Unfähigkeit Lern- und Innovationsprozesse ins gesamte Netzwerk weiterzuleiten. Möglicherweise war dies auch durch den Wegfall des „Knotenpunktes“ Böse begründet. Eine weitere Gruppe nahm im Mai 1992 Stellung zur Selbstauflösungserklärung und dem Papier zu Gerd Albartus. Sie warf den Verfassern des Albartus-Textes vor, die internationale Solidarität zu verraten. So hätte es bei der Entebbe-Geiselnahme keine Selektion durch Böse und Kuhlmann gegeben. Gleichzeitig hätten die palästinensischen Gruppen ihre Politik der Flugzeugentführungen revidiert, da die „Entführung beliebiger Menschen aus den imperialistischen Staaten verwischt, dass der Befreiungskampf gegen die herrschenden Klassen und Militärapparate dieser Länder gerichtet ist.“98 Hier offenbart sich der Realitätsverlust von Teilen der RZ. Es ist eher zu vermuten, dass das Ende der Flugzeugentführungen mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen, dem Eingreifen von Spezialeinheiten in Entebbe und Mogadischu und dem gleichzeitigen Mangel an aufnahmebereiten Staaten zu begründen war. Das letzte Schreiben in diesem Selbstzersetzungsprozess stammte wieder von den Verfassern des Albartus-Papiers. Wiederum waren Entebbe und die Schlussfolgerungen daraus 95
Siehe „Gerd Albartus ist tot“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 29. „Das Ende unserer Politik“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 46. 97 Siehe dazu „Wenn die Nacht am tiefsten…ist der Tag am nächsten“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 48f. 98 Siehe „Tendenz für die internationale soziale Revolution“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 58. 96
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für die RZ das Thema. So hätte es, wenn zwei Ethnien ein Staatsgebiet für sich beanspruchten, keinen Platz für revolutionäre Politik gegeben, da eine übergeordnete Macht ohnehin fehlte. Gleichzeitig hätten solche Konflikte nur zur Stärkung der männlichen Eliten geführt, die Rolle der Frau sei dem gegenüber ins Abseits gerückt worden.99 Hier wurde ein Argument ins Feld geführt, dass wieder einmal den ideologischen Spagat innerhalb der RZ zeigt: die feministische Ausrichtung der Ideologie der RZ und die Unterstützung palästinensischer Gruppierungen mit einem völlig gegensätzlichen Frauenbild. Weiterhin wurde die „Flüchtlingskampagne“ als mögliches Zukunftsprojekt gepriesen. Hier sei erstmals die Möglichkeit gegeben, „aus den Konjunkturzyklen der Bewegungen (…) herauszukommen und eine (…) zentrale Thematik aufzugreifen“.100 Auch hier offenbart sich eine völlige Fehleinschätzung der politischen Lage in Deutschland und der Möglichkeit, Sympathisanten zu erreichen. Als Begleiterscheinung dieses Zerfallsprozesses trennte sich 1984 die Rote Zora erst politisch, drei Jahre später auch organisatorisch von den RZ. Die Gründe dafür waren wohl, dass die RZ immer weniger in der Lage waren, eine gemeinsame Ausrichtung zu finden und dadurch die Anliegen der Roten Zora innerhalb des Netzwerkes untergingen.101 Ende 1999 und Anfang 2000 konnten mehrere Mitglieder der RZ verhaftet oder nach Deutschland ausgeliefert werden. So konnte das Berliner RZ-Mitglied Tarek Mousli festgenommen werden. Mousli erklärte sich bereit, als Kronzeuge zu fungieren und ermöglichte die Festnahmen von sechs weiteren RZ Mitgliedern, weshalb seine Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auch der 1998 in Frankreich verhaftete Klein stellte sich als Kronzeuge zur Verfügung. Er wurde zu neun Jahren Haft verurteilt. Am 17. Januar 2000 wurde Johannes Weinrich zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt.102 Zuletzt wurden 2007 Adrienne Gerhäuser und Thomas Kram, die sich selbst gestellt hatten, wegen Mitgliedschaft in den RZ verurteilt.103 Damit sind die RZ wohl endgültig auch juristisch aufgearbeitet, nachdem der innere Zerfall schon Jahre zuvor begonnen hatte. Auffallend ist, dass in keinem der Schreiben zur Auseinandersetzung mit den RZ von einem Versagen gesprochen wird. Auch Zeichen von Reue sind nicht zu finden. Nach den Darstellungen verschiedenerer Teile der RZ sind die Gründe für das Scheitern des Aktionismus der RZ bei den restlichen Linken und dem Zusammenbruch des Realsozialismus zu suchen.104 Interessant ist, dass genau das zur Selbstauflösung der RZ führte, was ihnen ihre stärkste Phase beschert hatte: die internationalen Verbindungen und der damit verbundene Aktionismus. Hier zeigt sich auch, dass das Konzept der RZ nicht aufgehen konnte. Der Spagat zwischen kleinsten lokalen Zellen, die sich an Bürgerinitiativen und Protestbewegungen anschließen wollten und einem groß angelegten internationalen Aktionismus waren für die personelle und organisatorische Struktur überdimensioniert. Die Motivationen der einzelnen Mitglieder waren zu verschieden. So stellt Kleins Gesprächspartner von der „Libération“ treffend fest: „Einerseits Fahrscheinautomaten, andererseits große internationale Aktio99
„Wir müssen so radikal sein wie die Wirklichkeit“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 65. Ebd., S. 68. 101 Siehe „Das Ende unserer Politik“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 39. 102 Siehe Landesverfassungsschutzbericht Bayern 2000, S. 143f. 103 Siehe „Rote Zora“ vor Gericht, in: SZ, 6.3.07, S. 6. 104 Siehe „Das Ende unserer Politik“, in: Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 36. 100
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nen, das unterscheidet sich wie Tag und Nacht. Der kleine Handwerker und die große Industrie.“105 Eine breite Ideologie wäre zwar als Brücke denkbar gewesen, da aber der Konsens zwischen den Zellen fehlte und mangels ideologischer Definitionshoheit auch nicht herstellbar war, war auch diese nutzlos oder sogar kontraproduktiv. Folglich konnte die erwünschte Rückkopplung und die angestrebte Vermassung des Protests zur Erreichung des gemeinsamen Ziels, trotz knapp 200 begangener Anschläge106, nicht gelingen. Die angestrebte Erdung durch die Netzwerkstruktur blieb letztendlich aus.
5
Restkonstanten: Noch heute beobachtbare Nachwirkungen
Waren die Prozesse gegen Mitglieder der RZ in den Jahren 2000/2001 noch von einem gewissen Maß an Aufmerksamkeit in der linken Szene begleitet, war Ähnliches bei dem Prozess gegen Adrienne Gerhäuser und Thomas Kram nicht mehr zu beobachten. Im Jahr 2000 wurden in Szenezeitschriften häufiger die Versuche unternommen, die Geschichte der RZ aufzuarbeiten oder zu Solidarität mit den Angeklagten aufzurufen. Die wenigen Straftaten, meist Sachbeschädigungen, wie etwa die Zerstörung eines Trafohäuschens des Bundesgrenzschutzes mit einem zeitverzögerten Brandsatz, fanden keine öffentliche Aufmerksamkeit. Die Urheber des Brandanschlages begründeten ihre Tat mit dem Prozess gegen die RZ-Mitglieder und dem vermeintliche Verhalten des Staates gegenüber der linken Szene.107 Bei den Prozessen 2007 war im Gegensatz zur RAF-Debatte keine nennenswerte Reaktion mehr zu verzeichnen. Einzige Ausnahme war die Berichterstattung und Kommentierung auf einer Sympathisanten-Seite im Internet. Im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in den RZ oder der Roten Zora wird heute nur noch die 56-jährige Juliane B. aus Duisburg gesucht.108 Durch den im Vergleich zur RAF geringen Bekanntheitsgrad ist auch nicht zu erwarten, dass sich Symbole der RZ als Kleidungsaufdruck oder Bestandteil einer jugendlichen Subkultur wieder finden. Der Jahrestag des „Deutschen Herbstes“ rückte erneut die RAF in den Vordergrund, die terroristische Alternative RZ dagegen geriet einmal mehr ins gesellschaftliche und mediale Abseits. Das Netzwerk, das an sich selbst den Anspruch stellte, eine „populäre Guerilla“ zu sein, konnte weder zu Gründungszeiten noch in ihren aktionistischen Hochphasen jemals „die Massen“ erreichen. Der Versuch der alternativen Erdung durch Netzwerkstruktur ist gescheitert.
105
Früchte des Zorns, Band 1, aaO. (FN 13), S. 200. Siehe Pflieger, Die Rote Armee Fraktion-RAF, aaO. (FN 62), S. 66. Siehe Landesverfassungsschutzbericht Bayern 2000, S. 144. 108 Siehe Villinger, Christoph, „Prozess gegen Rote Zora beginnt“, in: taz, 06.06.07, S. 3. 106 107
Erdung durch Arbeiternähe? Die Roten Brigaden Italiens
Die Roten Brigaden Italiens
Carolin Holzmeier und Natalie Mayer
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„Buongiorno, notte“
Dieser Titel des gleichnamigen Films aus dem Jahr 2003, der die Entführung Aldo Moros durch die Brigate Rosse (BR, in der Folge Rote Brigaden) thematisiert, muss als kultureller Anstoß zu einer auf politischer und gesellschaftlicher Ebene stattfindenden Auseinandersetzung mit dem italienischen Links-Terrorismus und dessen Verantwortung für eine der dunkelsten Episoden der jüngsten Geschichte Italiens verstanden werden. Dabei firmiert die künstlerische Umsetzung als verdichteter Ausdruck all jener stereotypisierenden Momente, welche die Debatte um die Gewalterfahrungen der Vergangenheit (und auch der Gegenwart) durchziehen. So rekurriert der Film sowohl in Bezug auf die Figurenzeichnung wie auch hinsichtlich der Darstellung einer im Rechts-Links-Konflikt erstarrten Gesellschaft auf eine im kollektiven Gedächtnis verankerte Typenbildung. Deren Wirkmächtigkeit außerhalb cineastischer Fiktion gründet auf zahlreichen, die Geschichte der Roten Brigaden betreffenden Ungereimtheiten sowie der emotional aufgeladenen Diskussion in der publizistischen und auch wissenschaftlichen Literatur. Neben der Problematik des Vorliegens politisch-ideologisch gefärbter Analysen und Darstellungen gilt es auf die zahlreichen Verschwörungstheorien hinzuweisen, welche das Phänomen des italienischen LinksTerrorismus zu einem bedeutenden Teil durch das Wirken externer Akteure zu erklären versuchen.1 Die hier angedeutete Vielschichtigkeit in der Aufarbeitung der die italienische Geschichte über Jahrzehnte hinweg prägenden politischen Gewalt, stellt für das Treffen qualitativer Aussagen eine besondere Herausforderung dar. Unter Beleuchtung der Entstehungsumstände, der organisatorischen Strukturen, des Aktionismus, der Zerfallsmuster und der Nachwirkungen der Roten Brigaden im politischen und gesellschaftlichen Bereich kann dennoch eine angemessene Annäherung an eine der virulentesten sozialrevolutionären terroristischen Gruppierungen Europas vorgenommen werden. Gerade das erneute Aufflammen von Gewalt unter dem „fünfzackigen Stern“2 verdeutlicht, dass die Roten Brigaden jenseits ihrer Mystifizierung immer noch Referenzpunkt manifesten terroristischen Agierens sind und damit bis in die Gegenwart ein dunkles Kapitel italienischer Geschichte nicht mit einem „Buona Notte“ zum Abschluss gebracht werden kann. 1
Überlegungen zu diversen internen und externen Verschwörungstheorien finden sich u.a. bei: Feldbauer, Gerhard, Agenten, Terror, Staatskomplott, Köln 2000; Igel, Regina, Linksterrorismus fremdgesteuert? Die Kooperation von RAF, Roten Brigaden, CIA und KGB, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10/2007, S. 1221-1235; Kellmann, Klaus, Der Staat lässt morden: Politik und Terrorismus – heimliche Verbündete, Berlin 1999. 2 Der fünfzackige Stern der Roten Brigaden ist ursprünglich das Symbol der Tupamaros aus Uruguay. Die Gründer übernahmen ihn, um damit ihre internationalen Bezüge zu verdeutlichen. Vgl. Curcio, Renato, Mit offenem Blick. Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden in Italien von Mario Scialoja, Berlin 1997, S. 11.
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Carolin Holzmeier und Natalie Mayer Entstehungsumstände: Von il sessantotto zu den Roten Brigaden
Eine Betrachtung der Entstehungsumstände des sozialrevolutionären Terrorismus Italiens ist eng mit einer Freilegung der Ursachen verknüpft, auf welche die Etablierung der Roten Brigaden zurückgeführt werden kann. Die Darstellung dieser Wurzeln des terroristischen Agierens wird dabei unter Umgehung von Verschwörungstheorien und psychopathologischen Ansätzen aus einer Perspektive vorgenommen, welche die Multikausalität der Bedingungen berücksichtigt, die der Gründung der Roten Brigaden zugrunde liegen.3 Hinsichtlich dieser Intention erscheint eine Differenzierung zwischen langfristig wirksamen strukturell gelagerten Faktoren (1), den an diese Aspekte anknüpfenden Prozessbedingungen (2) und den unmittelbar auslösenden Momenten, den so genannten „Triggern“ (3) als hilfreich.4
2.1 Strukturfaktoren Eine historisch-kulturelle, das Entstehen des sozialrevolutionären Terrorismus beeinflussende Pfadabhängigkeit findet sich in der Tradition gewalttätiger Rebellion, welche die italienische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts prägte.5 Diesem kulturellen Charakteristikum ist mit der antifaschistischen Resistenza ein Moment von besonderer Attraktionskraft auf den Linksterrorismus inhärent. Eine Manifestation des Einflusses dieser Tradition auf die Roten Brigaden findet sich im Rekurs eines der Mitglieder ihrer Gründergeneration auf die Partisanen als mythischen Anknüpfungspunkt des revolutionären Kampfes: „Wir wussten alles über jene Zeit: die Namen der Brigaden, ihre Aktionen, die politische Bedeutung der einzelnen Kommandanten. Sie waren unsere Väter. Und sie entschieden über unsere Reife. Mein ‚Reifezeugnis’ waren die Worte und die deutschen Pistolen der alten Partisanen: ich war nun erwachsen. Der ‚rote Faden’ war geknüpft. Er sollte lange halten.“6 An Brisanz gewinnt dieser Bezug auf antifaschistisches Agieren im Rahmen des Fortbestehens einer ebenso tiefen Verwurzelung faschistischer Grundhaltungen in Teilen der Bevölkerung, die ihren Ausdruck in der Existenz der neofaschistischen Partei des Movimento Sociale Italiano (MSI) findet. Dabei bilden eine sich in die Tradition der Resistenza stellende Linke und eine in faschistischer Ideologie verhaftete Rechte die Pole eines die politische Sphäre bis in die 70er Jahre ordnenden Links-Rechts-Kontinuums, welches als mentales Konstrukt das politische Denken der Bevölkerung sowie die Perzeption der Realität in 3 Eine solche Perspektive trägt der Annahme Louise Richardsons Rechnung, Terrorismus sei weder auf das „Werk von verrückten Einzelgängern oder kriegslüsternen Staaten zurückführbar, sondern könne angemessen durch Rekurs auf die Gesellschaften, die Terrorismus hervorbringen, erklärt werden.“ Richardson, Louise, Was Terroristen wollen. Die Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, Frankfurt/New York 2007, S. 105. 4 Vgl. dazu Krumwiede, Heinrich-W., Ursachen des Terrorismus, in: Waldmann, Peter (Hrsg.), Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2005, S. 35-40. 5 Jansen verweist im Hinblick auf die Verankerung der Gewalttradition im historisch-kulturellen Gedächtnis unter anderem auf die Brigantenkriege der Zeit des Risorgimento, auf die Aufstände der Fasci Siciliani und die Konfrontation zwischen faschistischen Squadri und einer gewalttätigen Linken. Siehe dazu Jansen, Christian, Brigate Rosse und Rote Armee Fraktion. ProtagonistInnen, Propaganda und Praxis des Terrorismus der frühen siebziger Jahre, in: Mengersen, Oliver et al. (Hrsg.), Soziale Bewegungen. Parteien. Beiträge zur Neuesten Geschichte. Festschrift für Hartmut Soell, Heidelberg 2004, S. 483-484. 6 Franceschini, Alberto/ Buffa, Pier Vittorio/ Giustolisi, Franco, „Das Herz des Staates treffen“, Wien/ Zürich 1990, S. 13.
Erdung durch Arbeiternähe? Die Roten Brigaden Italiens
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Freund-Feind-Kategorien leitete.7 Dieses konsensskeptische Moment der politischen Kultur wird um den als Ausfluss einer jahrzehntelangen Alleinherrschaft der Democrazia Cristiana (DC) geltenden Klientelismus ergänzt. Neben der durch dieses Faktum induzierten Verfilzung und Reformresistenz des politischen Systems spiegelt sich in der mangelnden Alternation zwischen Regierung und Opposition der Geburtsfehler der italienischen Demokratie8 wider, dessen Produkt eine defizitäre Möglichkeit der politischen Partizipation durch die Bevölkerung darstellt. Gerade durch den partiell erst ab 1975 gelösten, von allen Regierungsparteien getragenen Ausschluss des Partito Communista Italiano (PCI) von jeglicher Regierungsbeteiligung auf nationaler Ebene, war es einem nicht unerheblichen Teil der Wählerschaft unmöglich, Einfluss auf die Regierungsbildung zu nehmen. Eine derartige Ausgestaltung des politischen Systems als blockierte Demokratie forcierte die Entfremdung der Bürger von den politischen Institutionen und die Zementierung der Wahrnehmung einer Kluft zwischen piazza und palazzo.9 Die hier evident werdende geringe spezifische Unterstützung des politischen Systems entfaltete auf terroristische Organisationen insofern Prägekraft, als dass eine Interessenvertretung auf dem außerparlamentarischen Wege aufgrund der Blockade des Systems als Notwendigkeit erschien. Neben dem skizzierten institutionellen Rahmen gilt es hinsichtlich der auf den sozialrevolutionären Terrorismus wirkenden Strukturfaktoren, den sozioökonomischen Kontext in den Blick zu nehmen. Der im Zuge der 50er und 60er Jahre stattfindende Wandel von einer agrarisch zu einer industriell geprägten Gesellschaft, dessen Konsequenz mitunter eine von Süden nach Norden verlaufende Arbeitsmigration war, wurde begleitet von sozialen Problemlagen, die der italienische Staat nicht adäquat zu bewältigen in der Lage war.10 Die desolaten Arbeitsbedingungen des industriellen Dreiecks Mailand-Turin-Genua wurden ergänzt durch die mit zunehmender Stagnation der Wirtschaft einsetzenden Entlassungen, die einen enormen Anstieg der sozialen Unzufriedenheit generierten.11 Hinzu kam die Existenz einer nicht unerheblichen Zahl von sich mit weit unter ihrem Ausbildungsniveau liegenden Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert sehenden Hochschulabgängern. Dieses Phänomen des „intellektuellen Proletariats“12 wurzelte in einer missglückten Kopplung zwischen der Entwicklung des Arbeitsmarktes einerseits und einer Bildungsexpansion andererseits, was die Universität zu einem Aufenthaltsort für Jugendliche mit prekären Berufsaussichten mutieren ließ.13 Für die Entstehung der sozialrevolutionären terroristischen Gruppierungen scheint diese Ausgangslage der Arbeiter- und Studentenproteste insofern relevant, als dass sie den Herkunftskontext der 7
Vgl. dazu Sani, Giacomo, The Political Culture of Italy: Continuity and Change, in: Almond, Gabriel A./ Verba, Sidney (Hrsg.), The Civic Culture Revisited, Newbury Park/ London/ New Delhi 1989, S. 299. 8 Vgl. dazu Kellmann, Klaus, Die Entführung und Ermordung des Aldo Moro. Terrorismus und Politik in Italien, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr.3/1986, S. 232. 9 Vgl. dazu Köppl, Stefan, Das politische System Italiens. Eine Einführung, Wiesbaden 2007, S. 31. 10 Vgl. dazu Salvioni, Daniela/Stephanson, Anders, Reflections on the Red Brigades, in: Orbis, Fall/1985, S. 491. Eine umfassende Darstellung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen findet sich bei Hess, Henner, Italien: Die ambivalente Revolte, in: Ders. et al., Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus, Bd.2, Frankfurt/Main 1988, S. 22-32. 11 So verringerte sich die Beschäftigtenzahl zwischen 1963 und 1965 um 5,2%. Vgl. dazu Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S.27. 12 Meade, Robert C. Jr., Red Brigades. The Story of Italian Terrorism, London 1990, S. 20. 13 1966 fanden 25% der Universitätsstudenten nach ihrem Abschluss keine Arbeit. Siehe dazu und zur allgemeinen Situation an den italienischen Universitäten unmittelbar vor Eruption der Studentenproteste Hess , Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S.32-44 sowie Meade, Red Brigades. The Story of Italian Terrorism, aaO. (FN 12), S.16-30.
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in ihr aktiven Militanten darstellte und zugleich eine soziale Ungleichheit vor Augen führte, die als veränderungsbedürftig perzipiert wurde. Generell muss jedoch das Vorliegen einer unmittelbaren Kausalität zwischen den skizzierten Strukturfaktoren und dem sozialrevolutionären Terrorismus in Italien negiert werden. Die statisch-strukturellen Rahmenbedingungen fungierten vielmehr als Hintergrundfolie, vor welcher prozesshaft wirkende Momente ihre Wirkmächtigkeit erst voll entfalten konnten.
2.2 Prozessfaktoren Insbesondere diese, durch den institutionellen Kontext und die soziökonomischen Rahmenbedingungen evozierten „strukturellen Spannungen“14 bildeten das Fundament der ab 1967 einsetzenden Protestbewegungen, welche maßgeblichen Einfluss auf das Entstehen des sozialrevolutionären Terrorismus in Italien hatten. Ein adäquates Verständnis für die dynamisch-prozessualen Wirkaspekte eröffnet die Berücksichtigung eines Zusammenwirkens von Protestbewegungen, einsetzenden Veränderungen des politischen Systems, terroristischem Agieren rechtsgerichteter Kräfte sowie dem Umgang des Staates mit den Protesten. Ausgehend von Unruhen an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät in Trient, breiteten sich die durch inneruniversitäre Missstände motivierten Universitäts- und Institutsbesetzungen auf ganz Italien aus.15 Als ein italienisches Spezifikum kann die zeitliche Koinzidenz zwischen Studentenbewegung und radikaler Arbeiterbewegung gewertet werden, die ihre Manifestation in der Genese zahlreicher operaistischer Gruppierungen16 aus dem Kontext der studentischen Unruhen fand.17 Mittels dieser Organisationen der Neuen Linken gelang es in den Jahren 1968 und 1969, eine Symbiose zwischen den Arbeiter- und Studentenbewegungen aufzubauen, die den zunächst universitär bezogenen Protest über den akademischen Bereich hinaus trug. Wahrend die genuin studentisch getragene Bewegung im Jahre 1968 sukzessive an Virulenz verlor, kulminierten die Arbeiterproteste im „heißen Herbst“ des Jahres 1969, dessen Grundhaltung von einem stark antigewerkschaftlichen Impetus getragen wurde, der in den in den Betrieben kursierenden Flugblättern deutlich hervortritt: „Es liegt im Wesen des Verlaufs dieses Kampfes, […] dass er die reaktionären Manöver der Gewerkschaften und des PCI demaskiert, sie beide als Agenten entlarvt hat, die immer nur Unterschriften sammeln, um die respektvoll irgendeinem Präfekten oder Minister vorzuzeigen.“18 Die Dynamik der Bewegungen kann lediglich durch eine Platzierung innerhalb eines Kontextes verstanden werden, der gekennzeichnet ist durch eine trotz der Existenz einer Mitte-Links-Regierung fortgesetzten Reformresistenz des politischen Systems und einem gewaltsamen Vorgehen staatlicher und nicht-staatlicher Kräfte gegen die Proteste. 14
Scheerer, Sebastian, Ein theoretisches Modell zur Erklärung sozialrevolutionärer Gewalt, in: Hess, Henner et al., Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus, Bd. 1, Frankfurt/Main 1988, S. 84 Vgl. dazu Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 37-38. 16 Diese operaistischen Gruppierungen fokussieren den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital und legen damit eine Konzentration auf die Arbeiterklasse an den Tag. Studenten stellen dabei den Interessen der Arbeiterklasse dezidiert untergeordnete Gruppierungen dar. Vgl. dazu Silj, Alessandro, Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien, Frankfurt/Main 1998, S. 89. 17 Vgl. dazu Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 13. 18 „FIAT: Der Kampf geht weiter.“ Flugblatt der Arbeiter- und Studentenbewegung in Turin zur Verbreitung in ganz Italien, in: Rieland, Wolfgang (Hrsg.), FIAT-Streiks. Massenkampf und Organisationsfrage, München 1970, S. 91. 15
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Gerade im Hinblick auf diese Reaktion muss auf die Attentate neofaschistischer Gruppierungen hingewiesen werden, die ab 1969 eine Steigerung an Zahl und Vehemenz erfuhren. Der Terminus der „Strategie der Spannung“ steht dabei stellvertretend für die von Seiten rechtsextremer Kräfte bestehende Intention, durch Erzeugung von Unsicherheit eine Verschiebung der öffentlichen Meinung nach rechts zu forcieren.19 Ihren Niederschlag fand diese „Strategie“ nicht nur in Anschlägen neofaschistischer Gruppierungen, sondern auch in gewaltsamen Konfrontationen zwischen Anhängern der linken Protestbewegung und rechtsextremen Militanten.20 Das durch diese Auseinandersetzungen generierte Klima der Gewalt ist neben der durch die Reformresistenz bedingten Unfähigkeit des politischen Systems die Forderungen der außerparlamentarischen Bewegungen zu absorbieren21 als eine virulente, die Radikalisierung der Protestbewegung fördernde Variable zu identifizieren. Damit wird deutlich, dass die Arbeiter- und Studentenbewegung einen unabdingbaren Faktor für das Entstehen der Roten Brigaden darstellte, welcher aber erst im Zusammenwirken mit weiteren auslösenden Momenten Einfluss auf die Genese der terroristischen Organisation entfalten konnte.
2.3 Auslösende Faktoren Als wirkungsmächtiger „Trigger“ ist die Steigerung rechtsextremer Gewaltakte anzuführen, die in einem Bombenanschlag auf der Piazza Fontana in Mailand, der 16 Tote und 88 Verletzte forderte, ihren vorläufigen Kulminationspunkt fand.22 Die auf das Attentat folgenden polizeilichen Ermittlungen23 sowie restriktive Maßnahmen des Staates gegenüber den Arbeiter- und Studentenprotesten können als Initiationsmomente für den Zerfall der Bewegungen und das Entstehen der ersten terroristischen Untergrundorganisationen gewertet werden. Der sich abzeichnende Rückgang der Massenmobilisierung ging einher mit einer Hinwendung der Mehrheit der am Protest Beteiligten zum PCI und zu den Gewerkschaften.24 Das sukzessive Versickern des Protestpotentials bewirkte also eine Spaltung der Bewegung in zwei Gruppen: Eine, die im Zuge ihrer Hinwendung zum politischen System eine Institutionalisierung durchlief, und eine weitere, deren Unterorganisationen in eine Spirale der Radikalisierung traten.25 Insbesondere der Wandel des PCI, der sich unter der Führung Enrico Berlinguers ab 1972 zunehmend von leninistischen Organisationsprinzi19
Siehe dazu Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 55. Einen dezidierten Überblick über die mit dem Terminus der „Strategie der Spannung“ bezeichneten Aktivitäten gibt Silj, Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien, aaO. (FN 16), S. 107-148. 20 Vgl. dazu Tarrow, Sidney, Violence and institutionalization after the Italian protest cycle, in: Catanzaro, Raimondo (Hrsg.), The Red Brigades and left-wing terrorism in Italy, New York 1991, S. 50. 21 Vgl. dazu besonders della Porta, Donatella Protestbewegung und Terrorismus in Italien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 45/1988, S. 24. 22 Vgl. dazu Silj, Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien, aaO. (FN 16), S. 93. 23 Im Hinblick auf die Ermittlungen zu den Hintergründen des Anschlages hielten die damit betrauten Instanzen trotz der Evidenz der neofaschistischen Urheberschaft lange Zeit an der Theorie fest, die Gewaltakte in Mailand seien Produkt anarchistischer Agitation. Siehe dazu Meade, Red Brigades: The Story of Italian Terrorism, aaO. (FN 12), S. 36. Zu den näheren Umständen der Ermittlungen siehe Silj, Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien, aaO. (FN 16), S. 115-124, sowie Tarrow, Violence and institutionalization after the Italian protest cycle, aaO. (FN 20), S. 44-48. 24 Vgl. dazu Tarrow, Violence and institutionalization after the Italian protest cycle , aaO. (FN 20), S. 53-54. 25 Vgl. dazu della Porta, Protestbewegung und Terrorismus in Italien, aaO. (FN 21), S. 28.
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pien abwandte und seinen Blick auf eine Integration in die italienische Demokratie lenkte,26 bewirkte ein Versiegen der input-Kanäle des politischen Systems für die Forderungen von operaistischem und marxistisch-leninistischem Gedankengut verpflichteten Gruppierungen. So an den Rand der Bewegung gedrängt, konkurrierten sie um eine in Erosion begriffene Anhängerschaft. Radikalität avancierte dabei zu einem Instrument der Abgrenzung gegenüber inhaltlich ähnlich ausgerichteten Programmatiken.27 Gerade dies bewirkte einen weiteren Rückgang der potentiellen Klientel und eine weitere Marginalisierung radikalisierter Organisationen, deren extreme Konsequenz die Bildung einer terroristischen Untergrundorganisation darstellte.28 Die parallel verlaufenden Spaltungen und Symbiosen verschiedener Vorgängerorganisationen der Roten Brigaden und die Einbindung ihrer späteren Mitglieder in diesen Prozess verdeutlichen die Radikalisierung der Konflikte innerhalb der Bewegung.29 So wurde zwischen 1969 und 1970 unter der Ägide Renato Curcios und Margherita Cagols - zweier Kernfiguren der späteren Roten Brigaden - das Collettivo Politico Metropolitano (CPM) gegründet, in welchem mit dem Collettivo Politico Operai Studenti (CPOS) eine aus Reggio Emilia stammende, von Alberto Franceschini und damit einem weiteren Gründungsmitglied der Roten Brigaden geleitete Entität aufging.30 Als Beleg für die fortgeschrittene Radikalisierung der Gruppierung gilt das im Winter 1969 auf einem Kongress des CPM in Chiavari verkündete Postulat des bewaffneten Kampfes als Instrument zur Lösung der Probleme der Arbeiterklasse.31 Nachdem sich das Kollektiv 1970 auflöste, wurde der Schritt zur Gründung der Roten Brigaden während eines Treffens von Arbeitern und Studenten nahe der Stadt Reggio Emilia vollzogen.32 Im selben Monat erschien der fünfzackige Stern zum ersten Mal als Ausdruck der Urheberschaft auf Flugblättern in einer Mailänder Fabrik.33 Generell lassen sich die Entstehungsumstände der Roten Brigaden zu einem Ursachenbündel verdichten, welches strukturelle Faktoren, prozessual-dynamisch wirkende Momente und auslösende Ereignisse birgt. Aufgrund der sukzessiven Entscheidung der Roten Brigaden für den Untergrund ist es nicht möglich ein singulär ausschlaggebendes Moment für die Entstehung der Gruppe zu identifizieren. Viele der skizzierten Wirkfaktoren, insbesondere der Wandel des PCI beeinflussten zudem nicht nur die Gründung der Organisation, sondern waren auch für deren weitere Radikalisierung maßgeblich. Abschließend gilt es darauf hinzuweisen, dass im Fortlauf der Entwicklung der Gruppierung Orga26
Vgl. dazu Kellmann, Klaus, Die Entführung und Ermordung des Aldo Moro, aaO. (FN 8), S. 233. Dieser Wandel des PCI war zum einen durch das Ende des sozialistischen Experiments in Chile durch einen Militärputsch sowie durch die Verstärkung neofaschistischer Agitation in Italien bedingt. Beide Momente sensibilisierten die Parteispitze gegenüber politischen Gefahren aus dem rechten Spektrum und forcierten die Suche nach einer bündnispolitischen Absicherung vor einem reaktionären coup d’etat. Siehe dazu Fritzsche, Peter, Die politische Kultur Italiens, Frankfurt/Main 1987, S. 169. 27 Vgl. dazu Tarrow, Violence and institutionalization after the Italian protest cycle, aaO. (FN 20), S. 56-57. 28 Vgl dazu ebd., S. 43. 29 Siehe dazu Kapitel 3.1. 30 Vgl. dazu Jamieson, Alison, The Heart Attacked. Terrorism and Conflict in the Italian State, London/New York 1989, S. 72-73. 31 Siehe dazu Rossi, Elena Maria, Untergrund und Revolution. Der ungelöste Widerspruch für Brigate Rosse und Rote Armee Fraktion, Zürich 1993, S. 64. 32 Vgl. dazu Magherini, A comparative analysis of the effectiveness of political violence in Italy: Fascist Squadrism (1919-1922) and Red Brigades terrorism (1970-1982), Michigan 1993, S. 172-173. 33 Vgl. dazu Rossi, Untergrund und Revolution, aaO. (FN 31), S. 85.
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nisationsprozesse zum Tragen kamen, welche die Perzeption der Realität durch die beteiligten Individuen einer gravierenden Veränderung unterzogen. Neben den feststellbaren Rahmenbedingungen war demzufolge deren persönliche Wahrnehmung von nicht geringer Bedeutung für das Entstehen der Roten Brigaden.
3
Organisationsaufbau, Soziostruktur und Ideologiemuster
3.1 Organisationsstruktur Die frühen Organisationsstrukturen der Roten Brigaden waren noch stark von den egalitären Erfahrungen aus der Studentenbewegung und dem CPM geprägt. So bewegten sich Renato Curcio und Margherita (Mara) Cagol nach ihrem Umzug nach Mailand noch völlig unverdeckt in den Arbeitervierteln, knüpften Kontakte, diskutierten öffentlich soziale und politische Entwicklungen und beteiligten sich an Demonstrationen, Häuserbesetzungen und ähnlichen Aktionen. Der Übergang zwischen aktiven Mitgliedern, Unterstützern, passiven Sympathisanten und solidarischem Umfeld war damit zwischen 1970 und 1972 fließend. Die Roten Brigaden verstanden sich selbst zu diesem Zeitpunkt noch als Gruppierung mit „doppelter Militanz“ (doppia militanza), die sowohl aus dem Untergrund heraus agierte wie auch das öffentliche politische Engagement ihrer Mitglieder unterstützte und forderte. Hierarchien ergaben sich, wenn überhaupt, aus persönlichen Beziehungen und den besonderen Führungsqualitäten der Gründungsmitglieder Curcio, Cagol und Alberto Franceschini. Bereits in dieser frühen Phase zeigt sich allerdings an der Biographie Franceschinis die Notwendigkeit, eine offene Organisationsstruktur in eine geschlossene umzugestalten. Obwohl dessen politischer Werdegang zunächst in den PCI integriert war, zwangen ihn seine politischen Überzeugungen und sein sich zunehmend radikalisierender Aktionismus noch vor dem Beginn der subversiven Tätigkeiten der Roten Brigaden zum Untertauchen, um einen Konflikt mit den staatlichen Behörden zu vermeiden. Nach einer ersten Welle von Hausdurchsuchungen und Festnahmen musste sich die gesamte Gruppe mit der strategischen Frage der Klandestinität auseinandersetzen. Das Ergebnis dieser Analyse der eigenen Organisationsstruktur war die ab 1972 gültige Unterscheidung zwischen „regulären“ und „irregulären“ Mitgliedern. Dabei galten als Reguläre jene Personen, die ausschließlich für die Roten Brigaden arbeiteten und meist unter falschem Namen im Untergrund lebten. Die irregulären Kräfte führten, neben ihrer unterstützenden Tätigkeit für die Organisation, ihr „legales“ Leben normal weiter. Anfang der 70er Jahre agierten in Mailand, Turin und Padua jeweils ca. 15 Reguläre.34 Die nächste qualitative Veränderung ihrer organisatorischen 34
Siehe dazu im Detail: Caselli, Gian Carlo / della Porta, Donatella, The history of the Red Brigades: organizational structures and strategies of action (1970-82), in: Catanzaro, Raimondo, The Red Brigades & Left-Wing Terrorism in Italy, New York 1991, S. 72-74, Salvioni/Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 491-493 sowie Rossi, Maria Elena, Untergrund und Revolution. aaO. (FN 31), S. 87. Renato Curcio erklärt den Übergang zur strafferen Organisation der Roten Brigaden und den Schritt in die Klandestinität u. a. mit der Tätigkeit von Fabrikspitzeln, die aktive Arbeiter bei Aktionen photographierten und damit für deren Entlassung sorgten. Nach seiner Aussage war die Aufgabe des offenen politischen Vorgehens allerdings auch eine Folge der neuen Anschlagsstrategie (Ziele waren die Fahrzeuge von Fabrikaufsehern) und der Notwendigkeit zur Finanzierung der neuen illegalen Organisation über Banküberfälle (s.u.). Letztendlich stand die Polizei zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Festnahme aller wichtigen Aktivisten. Siehe Curcio, Mit offenem Blick, aaO. (FN 2), S. 9-12 und S. 57.
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Struktur nahmen die Roten Brigaden nach der Entführung Mario Sossis35 vor. Durch den großen Mitgliederzuwachs (1974: ca. 300 reguläre und irreguläre Mitglieder) und die damit verbundenen operativen Herausforderungen, wurde die Einsetzung eines strategischen Kommandos und die Aufteilung in Städtekolonnen beschlossen. Eine durchgehend hierarchische Organisation erhielten die Roten Brigaden im Zuge der zweiten Festnahme Renato Curcios und nach der Erschießung Mara Cagols, unter der neuen Generation um Mario Moretti, Lauro Azzolini, Franco Bonisoli und Barbara Balzerani. Diese waren weniger ideologisch ausgerichtet als die Gruppe unter Curcio, konzentrierten sich auf die organisatorische Konzeption der Roten Brigaden und verdichteten die sich bereits im Vorfeld abzeichnenden Entwicklungen zu folgendem Organigramm: An unterster Stelle standen die wiederum aus einzelnen Zellen bestehenden Brigaden, zu denen zwei bis fünf irreguläre Brigadisten zählten. Die einzelnen Brigaden konzentrierten sich z. B. auf Aktionen in Fabriken, politische Informationen oder die Abwehr staatlicher Gegenmaßnahmen. Übergeordnet war den Brigaden die jeweilige Kolonne, die entweder auf eine Stadt oder ein Gebiet begrenzt war und aus den regulären Brigadisten bestand. 1980 gab es Kolonnen in Turin, Mailand, Genua, Veneto und Rom. Aufgebaut werden sollten Kolonnen in Neapel und Sardinien. Kontakt zu den anderen Kolonnen hatte grundsätzlich nur der jeweilige Anführer. Aktionen von regionaler Bedeutung wurden von den Kolonnen selbstständig durchgeführt. Die Spitze der Hierarchie bildeten das ExekutivKomitee (comitato esecutivo) und die Strategische Direktion (direzione strategica). Jede Ebene war durch einen Repräsentanten auf der nächst höheren vertreten. Neben dieser vertikalen (Entscheidungs-)Struktur versuchten die Roten Brigaden allerdings von Anfang an auch auf ein horizontales Fronten-Prinzip zu bauen, das die Möglichkeit zur Bündelung verschiedener Aktionsfelder auf nationaler Ebene eröffnen sollte. Die wichtigsten Fronten waren die logistische Front und die Front der Masse. Letztere war für Propaganda und Rekrutierung unter den Arbeitern zuständig, erstere für die Bewältigung der „alltäglichen“ Notwendigkeiten der Organisation. Dazu gehörte das Einrichten von Rückzugsmöglichkeiten oder das Beschaffen von Waffen, Fahrzeugen, Nummernschildern und gefälschten Dokumenten. Bereits im Zuge einer strategischen Neuausrichtung nach der Sossi-Entführung wurde außerdem die konterrevolutionäre Front geschaffen, um sich für das neue Ziel „Staat“ zu rüsten. Diese Front konzentrierte sich auf die Sicherheitskräfte und übernahm für die Roten Brigaden geheimdienstähnliche Aufgaben. Die Anführer der Fronten, der Kolonnen, wichtige Irreguläre und das ExekutivKomitee bildeten die bereits erwähnte Strategische Direktion. Diese war für die nationale militärische Strategie, die Verabschiedung interner Verhaltensvorschriften und das Budget verantwortlich und wählte das Exekutiv-Komitee. Die Mitglieder des Komitees, bestehend aus vier bis fünf Personen, legten dagegen die politische Richtung der Kampagnen der Roten Brigaden fest und waren für die internationalen Kontakte der Organisation zuständig.36
35
Zur Entführung Mario Sossis siehe Kapitel 4.1. Dazu Caselli/ della Porta, The history of the Red Brigades, aaO. (FN 34), S. 80-82, Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 77-79, Jamieson, Alison, Entry, Discipline and Exit in the Italian Red Brigades, in: Terrorism and political violence, Nr. 2/1990, S. 4-5, Moretti, Mario, Brigate Rosse. Eine italienische Geschichte. Interview mit Carla Mosca und Rossana Rossanda, Hamburg 1996, S. 106-107, Rossi, Untergrund und Revolution, aaO. (FN 31), S. 75-76 und 153-155, Salvioni/ Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 496.
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Diese Organisationsstruktur hielt sich nach Aussage Patrizio Pecis, eines ehemaligen Terroristen, bis zur Verhaftung Mario Morettis und der Zersplitterung der Roten Brigaden in zahlreiche kleinere Gruppierungen.37 Im Hinblick auf die tatsächliche Entwicklung der Organisation muss allerdings festgehalten werden, dass trotz der Bemühungen um fabrikund städteübergreifende Zusammenarbeit im Rahmen des Fronten-Konzepts die vertikale Hierarchiestruktur dominierte und die Fronten wenn überhaupt nur logistische, aber keinerlei strategische Verantwortung trugen. Diese Tatsache und die zunehmende Bürokratisierung und Verfestigung der Entscheidungswege sorgte im Laufe der Zeit für interne Spannungen.38 Auch war die Organisationsstruktur von der Anzahl der Mitglieder abhängig, die jedoch durch Verhaftungen stets schwankte. Letztlich ermöglichte nur eine ausreichend hohe Anzahl an (Führungs-)Mitgliedern das Erarbeiten von Strategien und das Ausführen von Aktionen.39
3.2 Soziostruktur der Akteure Charakteristisch für die Gründungsmitglieder der Roten Brigaden waren ihre vorhergehenden Aktivitäten in verschiedenen linksextremen Gruppierungen, radikalen Fraktionen innerhalb der Gewerkschaften oder des PCI. Bereits hier waren manche in halb-militärischen, bewaffneten Organisationen aktiv gewesen, so z.B. einige Gründungsmitglieder in Turin, die sich den Gruppi Armati Proletari, eines der ersten bewaffneten Kollektive Italiens, angeschlossen hatten. Damit war von vielen bereits während ihres legalen Aktionismus politische Gewalt unterschiedlicher Ausprägung mitgetragen worden, so dass der Schritt in die tatsächliche Illegalität und die eskalierende Gewalttätigkeit außerhalb etablierter politischer Akteure nur noch ein gradueller war, der zudem von einem weit gefächerten sozialen Netzwerk mitgetragen wurde. Die wichtigsten Personen kannten sich bereits, hatten ein intensives Gruppengefühl aufgebaut und Freundschaften geschlossen. Dies zeigt sich beim „historischen Kern“, aber auch bei der zweiten Generation, der so genannten „legendären Einheit“. So wuchsen beispielsweise Roberto Ognibene und Alberto Franceschini beide in Reggio Emilia auf, kannten sich gut und hatten ähnliche Stationen in ihrer politischen Entwicklung durchlaufen. Dagegen stammten viele Mitglieder ab Mitte der 1970er ursprünglich aus den besonders aktiven Kreisen von Potere Operaio (wichtige außerparlamentarische Organisation) und hatten hier eine gemeinsame politische Vergangenheit.40 Die Brigadisten verband jedoch nicht nur diese beinahe elitäre Gruppenzugehörigkeit zu den wichtigsten Netzwerken innerhalb der extremen Linken. Auch ihre Biographien ergeben ein zusammenhängendes Bild. So stammten die Akteure meist aus einem katholischen oder kommunistischen Milieu und gehörten der Arbeiter- oder Mittelschicht an. Vie37
Vgl. Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 77. Vgl. Caselli/ della Porta, The history of the Red Brigades, aaO. (FN 34), S. 88-89. 39 Laut Mario Moretti kämpften die Roten Brigaden nach ihrem Mitgliederhoch im Verlauf der Sossi-Entführung, nach der Verhaftung Curcios und Franceschinis mit ihrer eigenen Handlungsfähigkeit. So musste die Leitungsgruppe aufgrund polizeilichen Drucks ca. alle sechs Monate neu aufgebaut werden und bestand zeitweise nur aus vier Personen oder weniger. Siehe: Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 103. 40 Dazu besonders: della Porta, Protestbewegung und Terrorismus in Italien, aaO. (FN 21), S. 29-31, Pisano, Vittorfranco S., The Red Brigades: A Challenge to Italian Democracy, in: Conflict Studies, Nr. 120/1980, S. 6 und Weinberg, Leonard, The Violent Life: An Analysis of Left- and Right-Wing Terrorism in Italy, in: Merkl, Peter H. (Hrsg.), Political Violence and Terror: Motives and Motivations, Berkeley 1986, S. 161-163. 38
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le von ihnen waren Studenten, hatten jedoch oft ihren Lebensunterhalt in Fabriken verdient. Renato Curcio beispielsweise wurde katholisch erzogen und wuchs mit dem Partisanenbewusstsein seiner älteren Verwandten auf. Später studierte er an der Universität von Trient Soziologie, wo er sich bereits 1967 politisch in der Studentenbewegung engagierte und an der politischen, linksorientierten Zeitschrift „Lavoro politico“ mitarbeitete. Aus einem ähnlichen Umfeld stammte auch Mara Cagol, die er später heiratete. Franceschini und seine Gruppe aus Reggio Emilia kam überwiegend aus kommunistischen Arbeiterfamilien, die ebenfalls auf eine Tradition von Widerstandskämpfern zurück blicken konnten. Die meisten von ihnen waren selbst Arbeiter. Die dritte Mitgliedergruppe, mit ihrem prominentesten Vertreter Mario Moretti, hatte sich bereits Ende der 1960er in Mailänder Großbetrieben in Basisgruppen41 organisiert, ihre Akteure waren zumeist Angestellte oder ausgebildete Techniker.42 Für die erste Generation der Roten Brigaden und ihrer Unterstützer gilt, dass sie überwiegend aus dem industrialisierten Norden Italiens und dessen Metropolen stammten bzw. dort aktiv wurden. Erst die nachfolgenden Brigadisten zogen zunehmend Mitglieder aus dem Süden an und erstreckten ihre Aktivitäten bis in den Süden Italiens oder auch in ländliche Gebiete. Allerdings blieb der Norden bzw. die Metropole Dreh- und Angelpunkt für den Terrorismus der Roten Brigaden.43 Zusammenfassend kann damit festgehalten werden, dass die Akteure der Roten Brigaden hauptsächlich in Familien der Arbeiter- und Mittelklasse mit starken, insbesondere auch emotionalen Verbindungen zur italienischen Resistenza sozialisiert wurden und im Kontext der Industriebetriebe des Nordens und der italienischen Großstädte aufgewachsen waren. In einem nächsten Schritt hatten sich ihre politischen Überzeugungen anhand von Erfahrungen in den außerparlamentarischen Aktionsformen der Studenten- und Arbeiterbewegung radikalisiert, um schließlich in einem fließenden Prozess, über enge soziale Bindungen, den Schritt zur bewaffneten terroristischen Gruppierung zu machen.
3.3 Ideologiemuster und Programmatik Auch die ideologischen Grundlagen der Roten Brigaden waren von diesem Prozess betroffen. Zentrale Figur für die Entwicklung ihrer Programmatik während ihrer ersten Existenzphase war Renato Curcio. Dieser wandte sich im Rahmen seiner frühen Aktivitäten bei „Lavoro politico“ noch gegen „bewaffnetes Abenteurertum“ und vertrat die Ansicht, die Revolution des Proletariats müsse von einer Partei, er meinte eine etwas radikalere Abspaltung des PCI, angeführt werden. Nachdem sich 1969 rechter Terrorismus und staatliche Repression verschärften, änderte Curcio seine Einstellung zur Gewalt. Er war nun der Überzeugung, die politische und wirtschaftliche Elite Italiens befände sich in einer Phase des bewaffneten Aufstands gegen das Proletariat, während dieses seine politischen Interessen 41
Ende der 1960er organisierten sich viele Arbeiter in großen Industriebetrieben in Basisgruppen, die als Alternative zur Gewerkschaft gebildet wurden, da diese nicht mehr als genuine Interessenvertreterin wahrgenommen wurde. Sie gehören damit zur außerparlamentarischen Kultur Italiens. 42 Siehe Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 68-70, Jansen, Brigate Rosse und Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 5), S. 487-488 und Salvioni/Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 491. 43 Für konkrete Zahlen zur geographischen Herkunft siehe z.B.: Weinberg, Leonard/ Eubank, William Lee, The Rise and Fall of Italian Terrorism, Boulder 1987, S. 79, 83-85, 92-94.
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noch im Rahmen traditioneller Diskussionsplattformen verfolge. Seine neue Ausrichtung zeigte sich in der Programmatik des CPM. Dieses wollte auf eine Organisation des revolutionären Kampfes hinarbeiten, um das gesamte kapitalistische System anzugreifen. Dieser Kampf sollte aber nun außerhalb der traditionellen politischen Institutionen und damit auch unabhängig von jeder Partei geführt werden. Der Bruch mit dem System sollte sich auf alle Lebensbereiche erstrecken, um es letztlich besiegen und durch ein neues, kommunistisches Gesellschaftskonzept ersetzen zu können. Konkret wollte das CPM die spontanen Aktionen der Arbeiter- und Studentenbewegung durch eine einheitliche strategische Linie ergänzen, ohne den Bezug zu aktuellen Problemsituationen zu verlieren. Die Problemlagen der italienischen Gesellschaft konnten nach Ansicht Curcios und seiner Mitstreiter nicht mehr allein mit politischen oder ideologischen Mitteln bekämpft werden und machten ein militärisches Vorgehen notwendig. Von besonderer Bedeutung für die militärische Strategie war dabei das Konzept der Stadtguerilla. Im Zentrum des Kapitalismus, der Metropole, sollten Organisationszellen aktiv werden, um durch ihre Aktionen erstens den „Feind“ zu destabilisieren, zweitens die Bevölkerung von der Notwendigkeit zur Revolution zu überzeugen und sie drittens zunehmend in die Durchführung der Aktionen mit einzubeziehen. Die Mitglieder des CPM gingen somit davon aus, dass es objektiv existierende Gründe für einen Systemwechsel gab, nämlich die zahlreichen sozialen und politischen Probleme Italiens, die durch das subjektive Bewusstsein der Bevölkerung ergänzt werden mussten. Letztlich ging es um politischideologische Überzeugungsarbeit durch militärische Aktionen: kurzum, „bewaffnete Propaganda“. Die erste Generation der Roten Brigaden definierte sich selbst als eine politische Avantgarde, die abgeschlossen innerhalb einer breiten sozialen Bewegung agierte. Ihr Ziel war der Aufbau einer unabhängig einsetzbaren Organisation, die durch ihre Aktionen zur Vereinheitlichung und Ausdehnung des „Klassenkampfes“ beitrug. In der Praxis legten die Roten Brigaden diese grundlegenden Überzeugungen immer wieder in Kommuniqués und Selbstinterviews im Stil der uruguayischen Tupamaros44 dar. Dabei wurde zum einen stets die eigene strategische und ideologische Entwicklung, zum anderen aber auch die aktuelle politische Situation Italiens analysiert. Ebenso wurden besondere Entwicklungen innerhalb von Unternehmen, beispielsweise dem FIAT-Konzern, als Diskussionsgrundlage genutzt, um die Arbeiter von der Notwendigkeit politischer Einheit zu überzeugen. Nicht nur die formale Struktur der schriftlichen Äußerungen sollte Überzeugungsarbeit leisten, auch die Sprache, oft gekennzeichnet von emotionalen, heftigen Ausdrücken und ideologischen Phrasen, sollte die Identifikation mit den von den Roten Brigaden als Interessen der Arbeiterschaft definierten Zielen unterstützen. Insgesamt sind die Dokumente der Anfangsphase von einem massiven Rechtfertigungszwang gegenüber der Zielgruppe „Arbeiter“ und der permanenten Rückbindung der eigenen Intellektualität, Emotionalität und Ideologie an die wahrgenommenen sozialen Realitäten Italiens gekennzeichnet.45 44
Siehe dazu den Beitrag von Nina Huthöfer in diesem Band. Die hier beschriebenen Ideologiemuster ergeben sich aus einer intensiven Quellenanalyse: Brigate Rosse, Bewaffneter Kampf für den Kommunismus. Zwei Interviews mit den Roten Brigaden, in: Manifest-Flugschriften Nr.1/1974. Vgl. aber auch Hess, Italien: Eine ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 70-72, Salvioni/ Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 492-494. Eine ausführliche Analyse der politischen Ideologie der Roten Brigaden liefern Manconi, Luigi, The political ideology of the Red Brigades, in: Catanzaro, Raimondo, The Red Brigades & Left-Wing Terrorism in Italy, New York 1991, S. 115-143 sowie Rossi, Untergrund und Revolution, aaO. (FN 31), S. 63-81. Alison Jamieson bezeichnet die erste Phase der Roten Brigaden, bis zur 45
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Für die weitere Entwicklung der Roten Brigaden, insbesondere für die Neuausrichtung ihres Aktionismus, ist die strategische Resolution des Jahres 1975, welche die Verschiebung des Schauplatzes von der Fabrik zum Staat vollzieht, von besonderer Bedeutung. Auch sie wurde von Curcio maßgeblich mitbestimmt. Feind der Roten Brigaden war nun der Stato Imperialista Multinazionale (SIM), der „Imperialistische Staat der Multinationalen Konzerne“. Darunter verstanden die Roten Brigaden einen seit der Ölkrise von 1973 durch Anleihen vom Ausland abhängigen Staat, dessen Handlungen von anderen Nationen und der Wirtschaft diktiert wurden. Als Beweise sahen die Roten Brigaden dabei die Bedingungen an, welche die USA, die BRD und der Internationale Währungsfonds Italien bezüglich des Umgangs mit der kommunistischen Partei stellten, sowie zahlreiche Korruptionsskandale, bei denen die USA auf die ein oder andere Weise die italienischen Christdemokraten finanziert hatten.46
3.4 Finanzierung Die Roten Brigaden stellten auch ihre Finanzierungspraxis in einen weiteren ideologischen Kontext und argumentierten mit Carlos Marighella47: Banküberfälle wurden als Enteignungen durch das Proletariat definiert und sollten sich von einer kriminellen Tat vor allem dadurch unterscheiden, dass Arbeiter und einfache Leute nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden. Eine Rechtfertigung dieser Finanzierungsmethode ergab sich letztlich aus den sozialrevolutionären Zielen. Aus strategischen Gründen bekannten sich die Roten Brigaden nur zögerlich zu solchen Raubzügen, um den Sicherheitskräften keine zusätzliche Angriffsfläche zu bieten. Nach Angaben von Mario Moretti verübten die Roten Brigaden Mitte der 1970er Jahre beinahe wöchentlich einen Überfall. Daneben versuchten die Roten Brigaden auch, sich über Entführungen von Industriellen Lösegelder zu verschaffen.48
Entführung Mario Sossis, als soziale Phase, in der sich die Moral der Roten Brigaden als Gegenposition zum Faschismus und rechten Terrorismus, zum historischen Kompromiss und zu wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen innerhalb Italiens entwickelte. Sie bewegte sich damit zwischen der Verbundenheit zur PartisanenVergangenheit und zur Arbeiter-Gegenwart und sollte zum Handeln im Bewusstsein konkreter sozialer Problemlagen verpflichten. Siehe: Jamieson, Alison, Identity and Morality in the Red Brigades, in: Terrorism and political violence, Nr. 2/1990, S. 510-513. 46 Vgl. Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 105-106 und Salvioni/ Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 494-495. 47 Carlos Marighella war in verschiedenen brasilianischen Guerillabewegungen aktiv und gilt als einer der prominentesten Theoretiker der Stadtguerilla. Sein „Minimanual of the Urban Guerilla“ war für viele sozialrevolutionäre Terroristen wichtiges Grundlagenwerk für die „bewaffnete Propaganda“. Siehe dazu den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Band. 48 Jamieson, Entry, Discipline and Exit, aaO. (FN 36), S. 3-4, Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 116-118.
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Von der „bewaffneten Propaganda“ zum „Angriff auf das Herz des Staates
Zwischen 1970 und 1988 zeichneten die Roten Brigaden für 75 Ermordungen, 115 versuchte Tötungen und 17 politische Entführungen verantwortlich und firmierten deshalb als die aktivste und „schlagkräftigste“ Organisation des „roten“ Terrorismus in Europa.49 Die terroristischen Handlungen der Gruppierung lassen sich mittels der Unterscheidung von nach außen gerichteten und nach innen gerichteten, die Organisation fokussierenden Aktivitäten fassen.50 Peter Waldmanns Terrorismus-Definition51 legt eine weitere Aufgliederung des auf die Öffentlichkeit konzentrierten Handelns in Akte der Einschüchterung einerseits und in ein Vorgehen zur Gewinnung von Unterstützung durch die Bezugsgruppen andererseits nahe. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass je nach Entwicklungsphase der Roten Brigaden andere Formen des Agierens an Relevanz besaßen. Der Lebenslauf der Organisation52 umfasst drei Phasen, welche insbesondere hinsichtlich der Aktionsformen differieren. So folgt auf den ersten, sich von 1970 bis 1974 erstreckenden Handlungszeitraum (1), eine die Jahre 1974 bis 1978 umfassende Periode (2), welche in der Literatur oftmals in zwei Aktionsphasen aufgegliedert erscheint.53 Die letzte Phase der Entwicklung der Roten Brigaden bildet ein von 1979 bis 1988 reichender Zeitraum (3), der in dem die Zerfallsmuster der Organisation behandelnden Abschnitt weitergehend thematisiert wird. Der Verzicht auf die Einführung einer die Jahre 1977 und 1978 umfassenden Phase liegt in der Tatsache begründet, dass hier zwar unter veränderten zeitgeschichtlichen Umständen ein quantitativer Anstieg der terroristischen Handlungen zu konstatieren ist, der Aktionismus aber dennoch hinsichtlich der strategischen Ausrichtung einen starken Bezug zu den ab 1974 ausgeführten Handlungen aufweist.
4.1 Die Phase der „bewaffneten Propaganda“ (1970-1974) 4.1.1 Operationsqualität und Militanzniveau Als Initiationspunkt der Phase der „bewaffneten Propaganda“ in den frühen 70er Jahren ist der im September 1970 verübte Brandanschlag auf den Wagen des Sit-Siemens-Direktors Giuseppe Leoni anzuführen, dem eine Reihe von auf Sachen ausgerichteten, vergleichbaren Handlungen folgten. Allerdings gerät in zunehmendem Maße nicht nur das Eigentum von Unternehmern, sondern auch der Besitz von Anhängern des Neofaschismus in das Visier 49 Vgl. dazu Alexander, Yonah/ Pluchinsky, Dennis A., Europe’s Red Terrorists: The Fighting Communist Organizations, London 1992, S. 194. 50 Vgl. dazu della Porta, Donatella, Social movements, political violence, and the state. A comparative analysis of Italy and Germany, Cambridge 1995, S. 114. Dabei scheint es diffizil, eine Handlung unter eines dieser Momente einzuordnen, da insbesondere ein auf die Kohäsion der Gruppierung abzielender Hintergrund für den externen Beobachter kaum zu erschließen ist. Da ein nach innen gerichtetes Agieren aber in Aktivitäten zur Finanzierung der Organisation sowie in defensiven Handlungen gegenüber staatlicher Verfolgung manifest wird, kann an dieser Forschungsperspektive im Folgenden durchaus festgehalten werden. 51 „Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Sie sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen.“ Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, München ²2005, S. 10. 52 Zum Lebenslauf terroristischer Gruppierungen siehe Straßner, Alexander, Terrorismus und Generalisierung. Gibt es einen Lebenslauf terroristischer Gruppierungen?, in: Zeitschrift für Politik Nr. 4/2004, S. 359-383. 53 Siehe dazu Caselli/ della Porta, The history of the Red Brigades, aaO. (FN 34), S. 71.
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der Gruppierung.54 Aufgrund der von den Roten Brigaden angenommenen Verknüpfung von Kapitalismus und Faschismus gilt für die Frühphase der Gruppierung eine Konvergenz von Ideologie und Zielobjekten.55 Der Gebrauch der Gewalt stand den angestrebten Zielen demzufolge nicht diametral gegenüber und zeigte auch keine starken Abweichungen von den Praktiken der sozialen Bewegungen.56 Ein erster Wandel dieses Aktionismus zeichnete sich mit dem Einsetzen von Entführungen ab, deren Auftakt die Gefangennahme des SitSiemens-Managers Idalgo Macchiarini am 3. März 1972 bildet. Das Resultat der eine halbe Stunde andauernden Aktion stellte eine Fotografie dar, welches das Opfer mit einem Schild um den Hals zeigte, dessen Inschrift die dieser exemplarischen Handlung inhärenten revolutionären Pädagogik freilegte: „Brigate Rosse. Beiß zu und verschwinde. Nichts wird ungesühnt bleiben. Triff einen, um hundert zu erziehen. Die Macht dem bewaffneten Volk.“57 In der Weitergabe des Bildes an die Medien manifestierte sich der Versuch, durch den Angriff auf eine als Feind der Arbeiterklasse ausgemachte Person sowohl die Sympathien der Arbeiter auf sich zu vereinigen als auch einen Effekt der Einschüchterung in Unternehmerkreisen zu erzielen. Verstärkt traten diese beiden Absichten in der am 11. Februar 1973 begangenen Entführung des Regionalsekretärs der konservativen Gewerkschaft CISNAL, Bruno Labate, zu Tage, der im Zuge seiner Freilassung von den Roten Brigaden unbekleidet an einen Laternenpfosten vor den Toren des Fiat-Werkes in Turin gefesselt worden war.58 Als weitere Entführung der Frühphase und zugleich markanter Punkt des Lebenslaufs der Organisation ist die am 10. Dezember 1973 durchgeführte Geiselnahme des Direktors des Fiat-Personalbüros, Ettore Amerio anzuführen. Diese acht Tage andauernde Operation fand ihr Ende mit der Erfüllung der Forderung der Brigadisten, 400 kurze Zeit zuvor entlassene Arbeiter wieder einzustellen. Dieser Triumph ermöglichte der Gruppierung, sich als „Wachkomitee der Arbeiterklasse“59 zu gerieren, dessen Verhandlungsmacht die der Gewerkschaften und des PCI bei weitem übertraf.60 Hinsichtlich des skizzierten Aktionismus der Frühphase gilt es, den symbolischen Impetus der gewaltsamen Aktionen zu betonen sowie dessen Prägung durch eine soziale, populäre Botschaft.61 Dennoch wird an der gesteigerten zeitlichen Länge der Entführungen eine Zunahme des Militanzniveaus evident, die zur maßgeblichen Determinante der Entwicklung der Roten Brigaden avancierte.
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Vgl. dazu Brigate Rosse, Bewaffneter Kampf für den Terrorismus, aaO. (FN 45), S. 30. Vgl. dazu Rossi, Untergrund und Revolution, aaO. (FN 31), S. 147. 56 Vgl. dazu Ruggiero, Vincenzo, Brigate Rosse: Political Violence, criminology and social movement theory, in: Crime, law and social change, Nr. 4/2005, S. 300. 57 Zit. nach Rossi, Untergrund und Revolution, aaO. (FN 31), S. 106. 58 Vgl dazu Jamieson, The Heart Attacked, aaO. (FN 30), S. 78. 59 Furlong, Paul, Political Terrorism in Italy: Responses, Reaction and Immobilism, in: Lodge, Juliet (Hrsg.), Terrorism. A Challenge to the State, Oxford 1981, S. 71. 60 Vgl. dazu Jamieson, Identity and Morality in the Italian Red Brigades, aaO. (FN 45), S. 512. 61 Vgl. dazu Brigate Rosse, Guerilla Diffusa, Autonomia und PCI. Diskussion mit Piero Bassi, Tonino Loris Paroli, Daniele Pifani, Ferruccio Dendena, Ermanno Gallo, Ada Negroni, in: IG Rote Fabrik (Hrsg.), Zwischenberichte. Zur Diskussion über die Politik der bewaffneten und militanten Linken in der BRD, Italien und der Schweiz, Berlin 1998, S. 52. 55
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4.1.2 Soziale Unterstützung Angesichts des propagandistischen Gehalts der Aktionen stellt sich die Frage nach der tatsächlichen Unterstützung der Organisation durch die anvisierten Bezugsgruppen. Eine Kommunikation mit der potentiellen Klientel war dabei durch die Begrenzung des Aktionismus auf die industriellen Metropolen des Nordens möglich, wobei die Roten Brigaden diesen Kontext unter Bezugnahme auf das theoretische Konzept der Stadtguerilla als besonders günstigen Handlungsraum identifizierten.62 Aufgrund der anfänglich bestehenden Kontakte zu ideologisch gleich ausgerichteten kollektiven Bewegungen war den Roten Brigaden ein Agieren innerhalb eines „Komplizenumfeldes“63 möglich, welches sie partiell vor staatlicher Repression schützte: „Man versteht nicht die Funktion […] der BR, wenn man sich nicht das Verhältnis vergegenwärtigt, das zwischen den ganz wenigen regulären Mitgliedern der BR und den vielen Sympathisanten bestand, zwischen der Gruppe der ersten und der großen, nicht quantifizierbaren Masse derer, die an uns das delegierten, was sie selbst nicht machen wollten oder konnten.“64 Auch wenn es den Roten Brigaden nicht gelungen war, die gesamte Arbeiterschaft zu mobilisieren, bleibt doch festzuhalten, dass es der Gruppierung nicht an Sympathie durch die anvisierten Bezugsgruppen mangelte.65
4.1.3 Organisationsentwicklung Der durch polizeiliche Ermittlungserfolge verursachte Rückzug in die Klandestinität legte den Pfad für die zukünftige Entwicklung der Organisation insofern fest, als er eine Spirale der zunehmenden Isolation in Gang setzte, die eine mangelnde Korrektur der in der Binnenkommunikation entwickelten Überzeugungen evozierte und eine Mäßigung der radikalen Handlungsentwürfe durch Einflüsse aus der Außenwelt immer unwahrscheinlicher erscheinen ließ.66 Die daraus resultierende Militanzsteigerung der Gruppierung lässt sich an der zunehmenden Länge der durchgeführten Entführungen ablesen. Dennoch kann in Übereinstimmung mit della Porta und Rossi für diese frühe Phase bis zur Entführung Mario Sossis von einem „Terrorismus von links unterhalb der Alarmschwelle“67 gesprochen werden.
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„Unsere Ansicht ist, dass der bewaffnete Kampf in Italien von einer Organisation geführt werden muss, die der direkte Ausdruck der Klassenbewegung ist und deswegen arbeiten wir an der Organisierung der Arbeiterkerne in den Fabriken und Stadtteilen in den großen Industriezentren und Metropolen, wo sich Revolte und Ausbeutung am meisten konzentrieren.“ Brigate Rosse, Bewaffneter Kampf für den Kommunismus, aaO. (FN 45), S. 5. 63 Richardson, Was Terroristen wollen, aaO. (FN 3), S. 81. 64 Zitat des ehemaligen Militanten der Roten Brigaden Lauro Azzolini, zit. nach Fritzsche, Die politische Kultur Italiens, aaO. (FN 26), S. 195. 65 Vgl. dazu Salvioni/Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 494. Als Ausdruck dieser Sympathie kann die Tatsache gewertet werden, dass an den Nationalfeiertagen der Jahre 1971 und 1972 auf den Mietskasernen der Mailänder Arbeiterghettos Hunderte gelb-roter Fahnen der Roten Brigaden gehisst wurden. Vgl. dazu Jansen, Brigate Rosse und Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 5), S. 493. 66 Vgl. dazu Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 74. 67 Zit. nach Fritzsche, Die politische Kultur Italiens, aaO. (FN 26), S. 188.
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4.1.4 Zäsur: Die Sossi-Entführung Den Abschluss der ersten Phase des Aktionismus bildete die Geiselnahme des stellvertretenden Staatsanwalts von Genua am 18. April 1974. Als Kulminationspunkt des bisher aufgezeigten Handelns sowie als Beginn der Transformation der Roten Brigaden hin zum „High-Scale-Terrorismus“68 erscheint eine Einordnung der Entführung unter diesen ersten Aktionszyklus noch möglich - wenn auch nicht mehr idealtypisch - da eine basale strategische Neuorientierung erst unter der Ägide der zweiten Generation erfolgte. Mario Sossi rückte aufgrund seiner Beteiligung am Gerichtsverfahren gegen die sozialrevolutionäre Gruppierung des „22. Oktober“69 sowie seiner Vergangenheit in einer faschistischen Studentenorganisation in das Visier der Roten Brigaden. Diese banden die nach 35 Tagen Geiselhaft erfolgende Freilassung des Staatsanwalts an die Forderung eines Gefangenenaustausches, dessen Subjekte die Mitglieder der genannten Gruppe sein sollten. Als Sossi nach dem Beschluss des Schwurgerichts von Genua zu einer vorläufigen Freilassung der Inhaftierten freigegeben wurde, suspendierte kurze Zeit später der Kassationsgerichtshof in Rom den Genueser Beschluss und besiegelte damit eine bedeutende Niederlage der Organisation.70 Verstärkung erfuhr diese Tatsache durch die der Polizei mittels einer Infiltration der Roten Brigaden gelungenen Inhaftierung großer Teile des „historischen Kerns“, im Zuge derer auch Waffenarsenale und Rückzugsbasen entdeckt wurden.71 Die gezeichnete Situation mündete allerdings nicht linear in eine Auflösung der Roten Brigaden, sondern leitete einen zweiten Aktionszyklus ein, der die erste Phase des terroristischen Aktionismus an Vehemenz noch übertreffen sollte.
4.2 „Der Angriff auf das Herz des Staates“ (1974-1978) 4.2.1 Operationsqualität und Militanzniveau Im Zentrum der zweiten Aktionsphase der Roten Brigaden stand der „Angriff auf das Herz des Staates“: „[D]ie Entscheidung zum Konflikt mit dem Staat - ‚Angriff auf das Herz des Staates’ lautete die vereinfachte und rhetorische Formel - entstand nicht an einem bestimmten Tag oder Monat, sie reifte aus der Entwicklung unserer ersten Erfahrungen, als wir uns bewusst wurden, dass enge Beziehungen zwischen Industrieeigentum und Staat bestehen und man die eine Seite nicht treffen kann, ohne dass die andere interveniert.“72 Analog zu einer verstärkten Konzentration auf den politischen Kontext erfolgte eine Expansion des Aktionsradius durch den Aufbau einer Kolonne in der Hauptstadt Rom. Von besonderer Bedeutung in ihrer zweiten Entwicklungsphase erwies sich der von den Mitgliedern der 68
della Porta, Protestbewegung und Terrorismus in Italien, aaO. (FN 21), S. 34. Die Organisation des „22.Oktobers“ bestand aus ehemaligen Mitgliedern des PCI sowie gewöhnlichen Kriminellen und ist unter die Gruppierungen der sozialrevolutionären Linken Italiens zu subsumieren. Vgl. dazu Jamieson, The Heart Attacked, aaO. (FN 30), S. 74. 70 Vgl. dazu Brigate Rosse, Bewaffneter Kampf für den Terrorismus, aaO. (FN 45), S. 49-50. 71 Von den Festnahmen waren unter anderem Renato Curcio, Alfredo Buonavita, Alberto Franceschini, Prospero Gallinari betroffen. Vgl. dazu Weinberg/Eubank, The Rise and Fall of Italian Terrorism, aaO. (FN 43), S. 63. Zu den näheren Umständen der Infiltration siehe Meade, The Red Brigades: The Story of Italian Terrorism, aaO. (FN 12), S. 58-62. 72 Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 119. 69
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Kolonnen des Nordens abweichende Herkunftskontext der römischen Militanten. Da die Hauptstadt nicht als Zentrum industrieller Produktion firmierte, mangelte es den neuen Rekruten partiell an Vertrautheit mit den Problemlagen der Arbeiterschaft.73 Die Entfremdung vom betrieblichen Kontext stand in einem engen Zusammenhang mit der Dominanz terroristischer Handlungen, denen gruppeninterne Beweggründe zugrunde lagen. Exemplarisch hierfür sind eine Konzentration der Aktivitäten auf die Gefangenenbefreiung anzuführen sowie die zum Zwecke der Finanzierung der Organisation durchgeführten Entführungen wohlhabender Industrieller. Das erstgenannte Moment gewann mit einem zahlenmäßigen Anstieg der inhaftierten Brigadisten an Virulenz, wobei es seine erste Manifestation in der gewaltsamen Befreiung Renato Curcios im Jahre 1975 fand.74 Unter den Kombattanten des Befreiungskommandos befand sich Mara Cagol, die im Zuge der auf die bloße Finanzierung der Organisation ausgerichteten Entführung des Weinmillionärs Gancia in einem Feuergefecht mit der Polizei im Juni ihr Leben ließ.75 Ein Fortbestehen der Ende desselben Jahres nicht mehr als 15 Aktive zählenden Organisation76 wurde durch den Zerfall von neben den Roten Brigaden existierenden sozialrevolutionären Gruppierungen gesichert, der einen Zulauf an neuen Militanten sicherte.77 Neben diesen auf die Organisation per se gerichteten Aktivitäten durchlief der nach außen gerichtete Aktionismus der Roten Brigaden einen Prozess der zunehmenden Brutalisierung. Dabei kann das Jahr 1974 als Zäsur angeführt werden, da die Organisation im Juni 1974 im Zuge eines Überfalls auf ein Parteibüro des MSI in Padua zum ersten Mal zwei Menschen tötete. Während diese Morde als nicht intendierte Handlungen zu klassifizieren sind, zu welchen sich die Organisation lediglich zögerlich bekannte, präsentiert sich der tödliche Anschlag auf das Leben des Staatsanwaltes Francesco Coco sowie zwei seiner Leibwächter im Jahre 1976 als geplanter Akt, der als Initiationsmoment einer Eskalationsspirale der terroristischen Gewalt gewertet werden kann.78 Neben diese Morde trat ab 1974 mit den gambizzazioni eine Taktik der gezielten Schüsse auf die Beine, der meist Angehörige des mittleren sowie höheren Unternehmertums, Parteikader der DC und Journalisten zum Opfer fielen.79 Hinsichtlich der Ermordung Cocos gilt es die Motivationslage zu berücksichtigen, welche die Tat sowohl als Vergeltungsakt als auch als einschüchterndes Agieren ausweist. Die Verhinderung der im Zuge der Sossi-Entführung geforderten Freilassung der Mitglieder des „22.Oktober“ durch den Staatsanwalt gab der Tat den Anstrich eines Racheakts, während die zeitliche Nähe zum Gerichtsverfahren gegen den „historischen Kern“ der Roten Brigaden dem Mord eine einschüchternde Wirkung verlieh. Tatsächlich trug die Befürwortung des Attentats durch die vor Gericht sitzenden Brigadisten zu einer Verschiebung des Gerichtstermins auf 73
Vgl. dazu Meade, The Red Brigades: The Story of Italian Terrorism aaO. (FN 12), S. 106-107. Dabei gilt es allerdings anzufügen, dass mit Franco Bonisoli, Mario Moretti und Carletta Brioschi durchaus Militante der noriditalienischen Kolonnen am Aufbau des römischen Stützpunktes beteiligt waren. Vgl. dazu Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 120. 74 Vgl. dazu Meade, The Red Brigades: The Story of Italian Terrorism, aaO. (FN 12), S. 64. 75 Vgl. dazu Jamieson, The Heart Attacked, aaO. (FN 30), S. 89. 76 Vgl. dazu Salvioni, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 496. 77 Siehe dazu Silj, Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien, aaO. (FN 16), S. 237. Exemplarisch für die Gruppierungen, deren Mitglieder von den Roten Brigaden absorbiert wurden, kann die zwischen 1976 und 1977 zerfallende Nuclei Armati Proletari (NAP) angeführt werden. Vgl. dazu Jamieson, The Heart Attacked, aaO. (FN 30), S. 295. 78 Vgl. dazu Caselli/ della Porta, The history of the Red Brigades, aaO. (FN 24), S. 85. 79 Bis Dezember 1978 fielen dieser Einschüchterungstaktik mindestens 75 Personen zum Opfer. Siehe dazu Hess , Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 89.
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das Jahr 1977 bei. Die gleiche Wirkung erzielte die Organisation mit der fünf Tage vor der Wiederaufnahme des Turiner Prozesses stattfindenden Ermordung des Präsidenten der Vereinigung der Turiner Richter, Fulvio Croce am 28. April 1977. Der Anschlag zeugte ebenso wie das tödliche Attentat auf Carlo Casalegno, einem Mit-Herausgeber der ‚La Stampa’ von einer sich öffnenden Kluft zwischen dem „historischen Kern“ und der „legendären Einheit“. Während der Journalist das erste Opfer aus dem Bereich der Medien war, wurde mit Fulvio Croce erstmals eine Person mit Partisanenvergangenheit Opfer des terroristischen Agierens der Gruppierung.80 Die Aufgabe des mythischen Referenzpunktes der Resistenza stand in einem engen Konnex zur Entfremdung von den gesellschaftlichen Problemlagen, welchen sich die Gruppe originär verpflichtet sah. So schien die Organisation mehr und mehr in einen Kleinkrieg gegen Justiz und Polizei involviert zu sein, dem die Motivation der Gefangenenbefreiung und Einschüchterung zugrunde lag.81
4.2.2 Organisationsentwicklung Die Erosion der Rückbindung an die ursprünglichen Bezugsgruppen, die der Organisation sukzessive ihre Sympathien entzogen, stellte nicht nur eine Konsequenz der gesteigerten Brutalisierung der Handlungen dar, sondern war auch ein Resultat des staatlichen Vorgehens gegen die Roten Brigaden. Zahlreiche Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb der Polizeikräfte hatten zu Ermittlungserfolgen beigetragen und damit den Rückzug der Gruppe aus der äußeren Umgebung und den Verlust des Kontaktes zum als „interessiert unterstellten Dritten“82 begünstigt. Dieser Prozess des „squeezing in“83 wurde begleitet von einer Substitution eines von der Vorstellung des Sozialrebellentums geprägten Selbstbildes durch eine extreme Verpflichtung auf die Gruppe, innerhalb derer sich das Individuum auflöste: „When you get involved in a long term project which absorbs you totally, then you have to accept certain rules. You accept for example that when there are political disagreements you follow the majority line […] It’s a kind of pact of obedience.”84 Adriana Faranda, eine an der Moro-Entführung beteiligte Brigadistin, betont neben dieser Unterordnung des Individuums unter die Gruppe den Aspekt des exponentiell zur Klandestinität ansteigenden Realitätsverlustes: „And when you remove yourself from society, even from the most ordinary things, ordinary ways of relaxing, you no longer share even the most basic emotions with other people. You become abstracted, removed.”85 Gerade dieser gruppendynamische Aspekt eröffnet ein Verständnis für das sich zunehmend radikalisierende Agieren in der zweiten Entwicklungsphase der Roten Brigaden.
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Vgl. dazu Jamieson, The Heart Attacked, aaO. (FN 30), S. 98-100. Vgl. Jansen, Brigate Rosse und Rote Armee Fraktion, aaO. (FN 5), S. 498. 82 Münkler, zit. nach Malthaner, Stefan, Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppen. Anvisierte Sympathisanten und tatsächliche Unterstützer, in: Waldmann, Determinanten des Terrorismus aaO. (FN 4), S. 86. 83 Jamieson, Entry, Discipline and Exit in the Italian Red Brigades, aaO. (FN 36), S. 18. 84 Adriana Faranda in einem Interview mit Alison Jamieson, zit. nach Jamieson, The Heart Attacked, aaO. (FN 30), S. 281. Es gilt darauf hinzuweisen, dass der Verweis ehemaliger Terroristen auf die Zwänge respektive die Verbundenheit mit der Organisation oftmals als Legitimationsversuche für partiell individuell verantwortetes Handeln herangezogen wird. 85 Zit. nach ebd., S. 267-268. 81
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4.2.3 Zäsur: Die Moro-Entführung Ähnlich wie die Geiselnahme Sossis ist auch die Entführung Aldo Moros nicht problemlos unter die Aktionsformen der von 1974 bis 1978 reichenden Phase zu subsumieren. Dieses Faktum ist zum einen dadurch bedingt, dass der Akt Zeugnis über eine zuvor nie gezeigte Schlagkraft der Gruppierung ablegt, zum anderen dadurch beeinflusst, dass das Handeln unter veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stattfand. Die Entführung des DC-Parteivorsitzenden und ehemaligen Ministerpräsidenten Moro durch die Roten Brigaden stand in einem engen Bezug zu der 1977 in Italien stattfindenden Eruption einer durch kreativen Spontaneismus sowie operaistisch-autonomes Gedankengut geprägten Protestbewegung86. Auf Basis dieser erneuten Welle der Bewegung bildeten sich mit Primea Linea und der Guerilla Diffusa neue Organisationen des bewaffneten Kampfes, die in Konkurrenz zu den Roten Brigaden traten. Gerade dieses kompetitive Agieren um potentielle Unterstützergruppen und Rekruten forcierte eine Explosion der Gewalt,87 die begleitet und verschärft wurde durch eine fortgesetzte Annäherung des PCI an die DC. Im Zuge des „historischen Kompromisses“ intendierte die kommunistische Partei unter der Führung Enrico Berlinguers eine Zusammenarbeit mit den Christdemokraten auf der Regierungsebene und plädierte damit für eine Systemintegration des PCI.88 Eine derartige Transformation generierte eine Abkehr der Partei von ihrem Status als Referenzpunkt der Opposition. Die damit einhergehende Unfähigkeit des PCI, den systemfeindlichen Strömungen angemessen zu begegnen,89 war für die Entführung Moros von ebenso großer Relevanz, wie die Tatsache, dass der DC-Parteivorsitzende als Befürworter des „historischen Kompromisses“ galt. Ungeachtet aller Spekulationen über die Hintergründe der Entführung90 können, unter Betrachtung dieser als alleinigen Akt der Roten Brigaden, diverse Ziele des Vorgehens identifiziert werden. So verfolgte die Gruppierung mit der am 16. März 1978 stattfindenden Geiselnahme Moros und der Tötung fünf seiner Leibwächter die Absicht, einen endgültigen Beweis für die Existenz des SIM zu erlangen sowie eine politische Anerkennung durch den Staat zu erfahren.91 Aus der Außenperspektive erschöpften sich die Intentionen der Roten Brigaden jedoch in der Forderung nach der Haftentlassung von 13 Mitgliedern sozialrevolutionärer terroristischer Gruppierungen, unter welchen sich auch die inhaftierten Militanten des „historischen Kerns“ befanden. Während sich die Regierung und
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In Italien hatte sich aufgrund vielfältiger politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen ein marginaler Sektor gebildet, der hauptsächlich desillusionierte Jugendliche, Frauen und ältere Personen umfasste. Diese befanden sich entweder in unsicheren Arbeitsverhältnissen und/oder studierten und empfanden ihre Situation zunehmend als aussichtslos. Die Auflehnung gegen diese Zukunftsperspektiven äußerte sich ähnlich der 1960er Jahre in einer Protestbewegung, die eine Solidarisierung der Außenseiter und das Schaffen einer Kontra-Kultur anstrebte. Allerdings sahen sich die Subjekte dieser Bewegung vollkommen apolitisch und bemühten sich weniger um gesellschaftliche Veränderungen als vielmehr um die Sicherung des Glücks im Privaten. Daneben waren anarchistische Strömungen dominant, welche diese Flucht aus der desillusionierenden Gesellschaft mit deren Zerstörung gleichsetzten. Siehe dazu ausführlich: Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 102119. Siehe dazu auch Salvioni/ Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 498-500. 87 Vgl. dazu Fritzsche, Die politische Kultur Italiens, aaO. (FN 26), S. 204. 88 Vgl. dazu ebd., S. 171. 89 Vgl. dazu Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 97-98. 90 Einen knappen Überblick über die sich am Fall der Entführungen kristallisierenden Verschwörungstheorien zum sozialrevolutionären Terrorismus in Italien bietet Silj, Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien, aaO. (FN 16), S. 226-236. 91 Vgl. dazu Rossi, Untergrund und Revolution, aaO. (FN 31), S. 96.
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die politischen Parteien auf eine Ablehnung jeglicher Verhandlungen einschworen,92 versuchten die Roten Brigaden im 54 Tage umfassenden Zeitraum der Entführung mittels der Veröffentlichung von neun Kommuniqués und Briefen Moros aus der Geiselhaft in den Medien, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Gerade im Hinblick auf den kommunikatorischen Aspekt war die Entführung, die mit der Ermordung des Politikers und damit einem vermeintlichen Triumph der Brigadisten endete, ein Pyrrhussieg. Die Ermordung der Leibwächter Moros ist dabei als Wurzel der schwach ausgeprägten Sympathiebekundungen der Bevölkerung mit den Roten Brigaden auszumachen.93 Zudem konnte selbst die von einem hohen Symbolgehalt geprägte Platzierung der Leiche des Christdemokraten im Kofferraum eines zwischen den Parteizentralen des PCI und der DC in Rom geparkten Autos, langfristig die Tatsache nicht verdecken, dass die Entführung Moros keine Erkenntnisse über Existenz und Agieren des SIM hervorgebracht hatte.94 Von diesen Anzeichen des beginnenden Zerfalls der Organisation konnte allerdings zunächst eine Reihe von im zeitlichen Kontext der Entführung stattfindenden weiteren Attentaten ablenken, unter welche auch zwei Morde zu subsumieren sind, die im Zusammenhang mit der erneuten Aufnahme des Turiner Gerichtsverfahrens verübt wurden.95 Das in der Entführung kulminierende Agieren beraubte die Roten Brigaden jeglicher Legitimationsgrundlagen und versah den Gewalteinsatz mit einem Anschein von Willkür, was dem ideologischen Grundgerüst der Organisation diametral entgegenzulaufen schien. Dieses Faktum ist durch eine Verlagerung der Ausrichtung des terroristischen Handelns erklärbar, welches in zunehmendem Maße auf die Organisation per se ausgerichtet war und sich in Entführungen zu Finanzierungszwecken, Gefangenenbefreiungen und einem Kohäsion generierenden Handeln erschöpfte. Der skizzierte Prozess der strategischen Radikalisierung bei gleichzeitigem Kontaktverlust mit den anvisierten Bezugsgruppen generierte zudem eine defizitäre Passung zwischen den ursprünglichen Intentionen der Roten Brigaden und ihren Opfern. Steter Begleiter dieser Degeneration der Gruppierung war der durch die Klandestinität bedingte Realitätsverlust, was eine Klassifikation der zweiten Aktionismusphase als eine in den Zerfall mündende schleichende Implosion rechtfertigt.96
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Eine Ausnahme diesbezüglich stellte der Partito Socialista Italiano (PSI) dar, welcher dem geforderten Gefangenenaustausch zumindest partiell zu begegnen beabsichtigte. Vgl. dazu Salvioni, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 500. 93 Ein anderes Bild zeichnet allerdings eine bei Hess zitierte Umfrage unter Arbeitern, die zwar keinesfalls repräsentativ ist, aber eine zwischen Ungerührtheit und offene Sympathie changierende Einstellung zur Entführung offen legt: „Wenn Familienväter sterben, wenn Carabinieri umgebracht werden, Familienväter wie wir, da passiert nichts. Jetzt haben sie Moro geschnappt, und ganz Italien ist in Aufruhr.“ Zit. nach Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 99. 94 Vgl dazu Salvioni, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 501. 95 Vgl. dazu Pisano, The Red Brigades, aaO. (FN 40), S. 10. 96 Vgl. dazu della Porta, Social movements, political violence, and the state, aaO. (FN 50), S. 134.
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Zerfallsmuster: Aldo Moro und der Anfang vom Ende
5.1 Delegitimierungsphase Die Moro-Entführung war der Höhepunkt des Aktionismus der Roten Brigaden, größter strategischer Erfolg und gleichzeitig der Anfang vom Ende. Denn die sich hier offenbarende Praxis des Terrorismus war gekennzeichnet von der Doppelstruktur methodischer und struktureller Professionalisierung und gleichzeitiger Sinnentleerung und Delegitimierung. Ging es in der Phase der bewaffneten Propaganda noch um Aktionen um der Ideologie willen, war die Entführung Aldo Moros das eindringlichste Beispiel für die zunehmende Militarisierung der Roten Brigaden: zum einen auf der praktischen Ebene, auf der die Brigadisten ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen konnten, zum anderen aber auf der strategischen Ebene, die ihre Ziele nicht mehr aufgrund eines programmatischen Konzepts, sondern um der militärischen Strategie willen auswählte. Denn der „Angriff auf das Herz des Staates“, vollendet in der Moro-Aktion, hatte die Zahl der Übergriffe auf Personen massiv erhöht: Repräsentanten dieses Staats wurden in die Beine geschossen oder ermordet. Die „Vergehen“ der Zielpersonen bezogen sich dabei nicht mehr auf konkrete Ereignisse, sondern gründeten einzig auf deren konstruierter Position im System. Ein System, das zunehmend aus der isolierten Position der klandestinen Organisation betrachtet und nur mehr vereinfachenden und polemischen Analysen unterzogen wurde. Die Folgen des Abtauchens in die Klandestinität und der taktischen Abkapselung von der alltäglichen Realität ihrer Mitmenschen hatten nun auch das Denken und das Selbst- und Fremdbild der Brigadisten erreicht. Begriffe wie die „Anderen“, der „Staat“ oder der „Feind“ wurden vollständig in unpersönliche Dichotomien übertragen und ergaben zunehmend abstrakte, rein schematische Handlungsmuster, die einzig auf den militärischen Erfolg von Einzelaktionen abzielten. Der Vorwurf des militarismo wurde insbesondere intern geäußert, da viele Brigadisten sich über dessen entfremdende Wirkung vom sympathisierenden Umfeld bewusst waren. Militärische Effizienz und zunehmende Brutalität führten zu Schwierigkeiten bei der Mobilisierung potentieller neuer Mitglieder. Damit deutete sich letztlich der Untergang der Organisation an.97 Die Roten Brigaden befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig in der „Militanzfalle“98: Von ihrem Organisationsniveau her in der Lage, den Staat herauszufordern99, jedoch inhaltlich von der politischen Realität Italiens entfernt und außer Stande, ein sozialrevolutionäres Gesamtkonzept zur Neuordnung der Gesellschaft zu liefern. Als einzige Handlungsoption nur mehr die Wiederholung terroristischer Aktionen, ohne Rückbindung an ein logisch nachvollziehbares Konzept.100 Damit war die Idee des bewaffneten Kampfes zum Selbstläufer geworden, der nur mehr um seiner selbst willen weiter geführt wurde. Jamieson beschreibt die Phase nach der Ermordung Aldo Moros als die „Überlebens“97
Caselli/ della Porta, The history of the Red Brigades, aaO. (FN 34), S. 91. Siehe dazu auch Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 75-77 und außerdem Jamieson, Identity and Morality, aaO. (FN 45), S. 513-517 und Rossi, Untergrund und Revolution, aaO. (FN 31), S. 157. 98 Straßner, Terrorismus und Generalisierung, aaO. (FN 52), S. 359. 99 Laut Mario Moretti bestanden die Roten Brigaden zu diesem Zeitpunkt aus ca. 120 regulären Mitglieder und zehnmal so vielen Irregulären und Unterstützern. Vgl.: Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 215. Hess nennt für den gleichen Zeitpunkt 300 Reguläre in sieben Kolonnen mit einigen tausend Irregulären als aktive Unterstützung. Vgl.: Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 131. 100 Siehe dazu im Detail: Straßner, Terrorismus und Generalisierung, aaO. (FN 52), S. 359-383.
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Phase. Neben der stark militärischen Ausprägung der Aktionsmuster, zeigt diese Phase auch Handlungsmotive wie Rache oder Machtkämpfe. Einschneidendes Ereignis und dadurch auch entscheidender Wendepunkt in diesem Zusammenhang war der Rachemord am jüngeren Bruder des ersten wichtigen „reuigen“ Terroristen Patrizio Peci, der intensiv mit den Behörden zusammenarbeitete und wichtige Informationen zu Aufbau und Handlungsweise der Roten Brigaden offenbarte. Doch auch die medienwirksame Entführung des NATO-Generals James Lee Dozier machte in eklatanter Weise deutlich, wie sehr sich die Brigadisten der 1980er Jahre von den moralischen und intellektuellen Eckpunkten Renato Curcios entfernt hatten. Keine Spur mehr von dem Anspruch, komplexe politische Zusammenhänge zu durchschauen, wie es noch bei der Entführung Mario Sossis betrieben wurde. Vielmehr versuchte sich die verantwortliche Kolonne mit dieser Aktion von anderen Gruppierungen der Roten Brigaden abzugrenzen und internationale Anerkennung zu erreichen. Zu den Opfern der Terroristen zählten nun auch Gewerkschaftler und Arbeiter, ein Vorgehen, das von der Öffentlichkeit, wie bereits im Falle der Ermordung des ehemaligen Partisanen Croce, als massiver Tabubruch mit den ursprünglich postulierten Zielen und Überzeugungen empfunden wurde. Morde an liberalen Richtern und die Tatsache, dass viele Opfer der Anschläge der Roten Brigaden zunehmend „einfache“ Leute waren - beispielsweise junge Männer aus dem Süden, die in Armee und Polizei ihr Geld verdienten - waren mit der traditionell staatskritischen Einstellung der italienischen Bevölkerung nicht mehr in Einklang zu bringen. Durch weitere Aktionen, die eindeutig mehr einer kriminellen Intention als einer sozialrevolutionären Zielvorgabe zuzuordnen waren, verspielte sich die einst auf viele Sympathisanten zählende Organisation den Rest intellektueller Unterstützung linker Kräfte in Italien und verlor ihr anfängliches „Robin-Hood-Image“.101 Die Abkehr von traditionellen Zielen und einer Moral der Arbeiterklasse besiegelte schließlich ein Dokument aus dem Jahr 1987, in dem sich ein Teil der Roten Brigaden zur Zusammenarbeit mit einer internationalen „anti-imperialistischen Front“ bekannte, die nicht unbedingt dafür kämpfte, „das Proletariat an die Macht zu bringen“. Die Betonung dieser neuen außenpolitischen Seite schien bereits 1985 mit der Verhaftung Barbara Balzeranis (altes Mitglied der Roten Brigaden und späteres Führungsmitglied einer der Splittergruppen) für die RestBrigadisten einzige tragende ideologische Säule geworden zu sein: die Ermordung eines pro-israelischen Politikers 1986 und Solidarisierungsbekundungen an die arabische Welt, oder auch der tödliche Anschlag auf den Luftwaffen-General Licio Giorgieri, der strategisch in die Anti-SDI-Strategie102 anderer westeuropäischer Gruppierungen passte, machen dies deutlich.103 Kommuniqués aus den Jahren 1986 bis 1988 mischen die alten Parolen der frühen 1970er Jahre mit Analysen zur transatlantischen Zusammenarbeit und USamerikanischer Außenpolitik. Auf der Ebene der Argumentation ergeben sich dabei mehr oder weniger abstruse Verknüpfungen. So wird der Überfall auf einen Geldtransporter der Post zwar weiterhin als „proletarische Enteignung“ bezeichnet, jedoch in eine größere Strategie zur Bekämpfung des „US-Imperialismus“ und der NATO gestellt. Die USA und der 101 Caselli/ della Porta, The history of the Red Brigades, aaO. (FN 34), S. 100-101, Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 129. So auch Jamieson, Entry, Discipline and Exit, aaO. (FN 36), S. 16. und Rossi, Untergrund und Revolution, aaO. (FN 31), S. 93. 102 SDI = Strategic Defense Initiative. Diese von Ronald Reagan unterstützte „strategische Verteidigungsinitiative“ sollte zum Aufbau eines Abwehrschildes gegen Interkontinentalraketen führen. Für linke und linksextreme Kräfte galt sie als genuiner Ausdruck US-amerikanischen Machtgebahrens und wurde heftig bekämpft. 103 Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 132-133. Auch Jamieson, Entry, Discipline and Exit, aaO. (FN 36), S. 17.
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westliche Kommunismus waren zwar auch bei den frühen politischen Analysen ein wichtiges Thema gewesen, wurden aber nicht als bestimmender Handlungskontext definiert. Auch die bis dato, nach Aussagen Morettis, zu vernachlässigende Zusammenarbeit mit anderen terroristischen Organisationen wurde nun vermehrt nach außen getragen. Nach mehreren Treffen mit der deutschen RAF kam es im September 1988 zu einer gemeinsamen Stellungnahme, in der das Konzept einer kämpfenden revolutionären Front in Europa erläutert wurde.104 Die Brigadisten wechselten mit dem Kommuniqué nicht nur den ideologischen Schauplatz, sondern machten auch ihren konkreten organisatorischen Wandel offensichtlich, da sie sich nun der RAF auf mehreren Ebenen angenähert hatten: geringe Anzahl der Akteure, isolierte Existenz ohne soziale Basis, Bündnisbemühungen ins Ausland und darauf ausgerichtetes ideologisches Programm und Aktionsmuster. Damit hatten sie letztlich mit der Organisation der 1970er Jahre nur mehr den Namen und eine RestIdeologie gemeinsam.105 Die fortschreitende Isolation der Roten Brigaden zeigte sich im weiteren Verlauf, auch nach den großen Abspaltungswellen, in weiteren Äußerungen der Gruppe. So z. B. in ihrer Stellungnahme „Caserta 24“ vom 21. März 2002 zum Mord an Marco Biagi, Berater des italienischen Arbeitsministers Maroni. Die Stellungnahme, die im Titel einen Forderungen-Katalog verspricht, bemüht sich um eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Globalisierung (beschrieben als „imperiale Strategie“), der Problematik im Nahen Osten und den Anschlägen vom 11. September. Als taktische Schlussfolgerung aus diesen Analysen ziehen die Autoren den Aufbau einer anti-imperialistischen Front in Europa, dem Mittelmeerraum und im Nahen Osten, um durch Anschläge „reaktionäres“ Verhalten der Industrienationen zu provozieren und damit die Krise des Kapitalismus und seiner „imperialen Strategie“ zu verschärfen. Endziel bleibt der Klassenkampf zwischen Proletariat und „imperialer Bourgeoisie“. Bereits diese knappe Zusammenfassung macht deutlich, wie konstruiert der Zusammenhang mit dem konkreten Mordanschlag und seiner Rechtfertigung ist. Fast die gesamte Argumentationskette bleibt losgelöst von der italienischen Situation, es finden sich keine Analyse politischer Zusammenhänge oder konkrete Forderungen an die politische Elite Italiens, auch wenn dies der Titel vermuten lässt. Auf der Ebene der Form des Textes spiegelt sich dies insbesondere in den langen, verschachtelten, teilweise in sich unlogischen Sätzen wieder, welche die „Caserta 24“ nur bei intensiver Lektüre überhaupt verständlich machen.106 Deutlicher könnte der Unterschied zu den frühen Kommuniqués und Selbstinterviews nicht sein. Die „neuen“ Roten Brigaden unterwarfen sich keinem Rechtfertigungszwang gegenüber der italienischen Öffentlichkeit mehr, sie hatten ihre Zielgruppe, das „Proletariat“ bzw. die Arbeiterschaft, verloren und durch das abstrakte Heraufbeschwören einer internationalen Front ausgetauscht. Dadurch fehlte den Aktionen der Roten Brigaden zunehmend die intellektuell nachvollziehbare Legitimation. Konnte früher noch aufgrund einer logischen Argumentationskette eine Rechtfertigung geliefert werden, gelang nun nicht einmal mehr die Konstruktion einer zusammenhängenden Erklärung für Handlungen der 104 Die untersuchten Stellungnahmen wurden Alexander/Pluchinsky, Europe’s Red Terrorists: The Fighting Communist Organizations, aaO. (FN 49), S. 208-230 entnommen. Siehe zum versuchten Aufbau einer antiimperialistischen Front terroristischer Organisationen in Westeuropa auch Straßner, Alexander, Die dritte Generation der Roten Armee Fraktion. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003, S. 121-133. 105 Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 131. 106 Laqueur, Walter (Hrsg.), Voices of Terror. Manifestos, Writings, and Manuals of Al-Quaeda, Hamas and other Terrorists from around the World and throughout the Ages, New York 2004, S. 469-477.
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Roten Brigaden auf italienischem Staatsgebiet. Die Entfremdung von der italienischen Öffentlichkeit hatte sich damit intellektuell, aber auch emotional, gänzlich vollzogen.
5.2 Spaltungs- und Auflösungsphase Konkreter Ausdruck dieser Entfremdung war der vollständige Zerfall der Roten Brigaden und ihre Aufspaltung in zahlreiche Splitterorganisationen. Adriana Faranda und Valerio Morucci brachen 1979 als erste mit der Mutterorganisation. Wenig später kam es zu Konflikten zwischen der ersten Generation der Roten Brigaden, angeführt von Curcio und Franceschini aus dem Gefängnis heraus, und der draußen agierenden zweiten Generation um Mario Moretti. Im weiteren Verlauf der Spannungen befürworteten Curcio und Franceschini den Aufbau und die Abspaltung der Kolonne „Walter Alasia“ aus Mailand. Auch unterstützten sie zunächst eine weitere Gruppe, die sich Brigate Rosse-Partito della Guerriglia del Proletariato Metropolitano nannte. Mit der Verhaftung von Mario Moretti im Frühjahr 1981 beschleunigten sich diese Tendenzen: Die intakte römische Kolonne entwickelte sich mit der Unterstützung einiger Brigadisten aus Mailand und Venedig zum Brigate RossePartito Communista Combattente (PCC). Innerhalb dieser Gruppierung kam es jedoch bald zu weiteren Konflikten und die so genannte „zweite Position“ kristallisierte sich heraus. Deren Vertreter organisierten sich 1985 unter dem Namen Brigate Rosse-Unione Communisti Combattenti (UCC). Die Gründe für die Abwendung von den eigentlichen Roten Brigaden und das Streben nach Autonomie dieser Splittergruppen waren vielfältig: So spielten zum einen die bereits erwähnten verkrusteten und extrem hierarchischen Entscheidungsstrukturen eine Rolle. Für viele Brigadisten hatte sich die Organisation damit zum Ebenbild dessen gewandelt, das man eigentlich bekämpfen wollte. Zum anderen waren sich jedoch der historische Kern und die meisten Splittergruppen einig, dass die Roten Brigaden sowohl ihren alten Handlungskontext wie auch gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart vernachlässigt und sich damit ins Abseits gestellt hatten. Allerdings gelang es keiner der Gruppen, einen Gegenentwurf zu präsentieren und damit die frühe Popularität zurück zu gewinnen. Zwar bemühten sich alle Gruppierungen um neue Anknüpfungspunkte, beispielsweise über das bereits erwähnte Beschwören einer internationalen, antikapitalistischen Front, durch populistische Forderungen bei Entführungen107 oder über intensive Arbeit in der Fabrik und in den südlichen Regionen. Doch waren bei den meisten Aktionen der interne Machtkampf, das Handeln um des Überlebens willen und vor allem das weiterhin hohe Brutalitätsniveau handlungsanleitend und damit nicht zu übersehen.108 Die Roten Brigaden scheiterten als Organisation allerdings insbesondere auch an der neuen Herausforderung der Jugendbewegung der späten 1970er Jahre. Die hier evident werdende Unzufriedenheit mit den sozio-politischen Umständen hätte durchaus politische Anknüpfungspunkte für die Roten Brigaden geboten. Auch das Rekrutierungspotential oder die logistische Unterstützung der rebellischen Jugendlichen darf nicht unterschätzt werden. In ihren Ausdrucksformen agierte die Bewegung zum einen jedoch außerhalb der Fabrik 107
So forderte die „Guerilla-Partei“ um Senzani bei der Entführung des Politikers Cirillo 1980 die Entschädigung von Personen, die bei einem Erdbeben ihre Häuser verloren hatten. Auch verlangten sie die Auszahlung von Arbeitslosenunterstützung. Siehe dazu: Caselli/della Porta, The history of the Red Brigades, aaO. (FN 34), S. 102. 108 Siehe hierzu vor allem den in Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 283-284 bereit gestellten Anhang, sowie Caselli/della Porta, The history of the Red Brigades, aaO. (FN 34), S. 102-105.
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und jenseits des Arbeiterbildes auf den Straßen der Großstädte, zum anderen teilten nur wenige der Jugendlichen kommunistisches Gedankengut. Außerdem widersprachen ihre Spontaneität in Bezug auf die Anwendung von Gewalt und die Ablehnung jeglicher Disziplin dem strengen und kontrollierten Vorgehen der Roten Brigaden.109 Die wichtigste klandestine, linksextreme Organisation war sich in der Beurteilung dieses Phänomens letztlich nicht einig. Die Gruppe um Moretti stand den Zielen der „neuen“ Jugendlichen mit Unverständnis gegenüber und lehnte eine Zusammenarbeit mit ihnen ab. Dagegen bemühten sich die „Guerilla-Partei“ um Giovanni Senzani, die Faranda/Morucci-Gruppe und auch die Kolonne „Walter Alasia“ um eine Annäherung.110 Der so entstandene Riss in der Beurteilung der aktuellen Lage und den sich daraus ergebenden Handlungsoptionen konnte nicht mehr überwunden werden. Mario Moretti beschreibt diese letzte Phase nach seiner Verhaftung als ein Suchen nach einem Weg, der ein Weitermachen unter völlig neuen Bedingungen dennoch ermöglichte.111 Damit bestätigt er das Bild, das sich bei genauerer Betrachtung aus dieser Zeit für die Roten Brigaden und ihre Splittergruppen ergibt: rasender Aktionismus ohne einheitliche politische Linie. Im Zusammenhang mit der Auflösungsphase sind die Veränderungen im italienischen Rechtssystem und deren katalytische Wirkung von besonderer Bedeutung, da es der italienischen Demokratie damit gelang, den externen Druck auf die Organisation zu erhöhen. Das „Reue-Gesetz“ von 1983 und das „Disassoziations-Gesetz“ von 1987 lösten nicht nur öffentliche, sondern auch massiv gruppeninterne Diskussionen aus. Das Gesetz von 1983 ermöglichte unter der Voraussetzung einer vollständigen Auflistung aller verübten Taten sowie der aktiven Beihilfe bei der Bekämpfung zukünftigen Terrorismus eine Minderung des Strafmaßes nach Ermessen des Gerichts. Da es sich um eine befristete Sonderregelung handelte, wurden nur wenige Terroristen von ihr erfasst. Allerdings setzte sich die Stoßrichtung des Gesetzes in der italienischen Rechtsprechung über die „normale“ Berücksichtigung strafmildernder Umstände fort und kam mit der Verabschiedung des „DisassoziationsGesetzes“ zum Abschluss. Eine ab 1987 mögliche offizielle Disassoziation, also die Aufgabe aller Bindungen an die terroristische Erfahrung, konnte unter drei Voraussetzungen stattfinden: ein Bekenntnis aller terroristischer Straftaten, die Absage an Gewalt als Mittel des politischen Kampfes und ein dahingehend angemessenes Verhalten im Gefängnis. Die Aussicht, bei Zusammenarbeit mit den Behörden das eigene Strafmaß zu minimieren, war für unzählige Brigadisten, aber auch für viele andere linksextreme Aktivisten, Anreiz genug, um sich von ihren Organisationen loszusagen und wichtige Informationen an die italienischen Sicherheitskräfte weiterzugeben. Die Gesetze entwickelten dabei eine doppelte Effizienz: zum einen lieferten sie konkrete Hinweise für die Anti-Terror-Einheiten, zum anderen schürten sie das Misstrauen innerhalb der klandestinen Organisation, so dass der eigentlich feste, nur schwer aufzubrechende Zusammenhalt zu bröckeln begann. Gegen Ende der 1980er Jahre galten ca. 80% der wegen linksextremer Aktivitäten im Gefängnis sitzenden Personen als dissociati (die „Abschwörer“). Damit wurden die pentiti (die Reuigen) und die dissociati zum wesentlichen Zerfallsfaktor der Roten Brigaden. Auch die dadurch provozierten Rachakte, wie der bereits beschriebene Mord am Bruder des Terroristen 109
Vgl. dazu: Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 102-119 und Salvioni/Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 498-500. 110 Jamieson, Entry, Discipline and Exit, aaO. (FN 36), S. 12, Salvioni/Stephanson, Reflections on the Red Brigades, aaO. (FN 10), S. 501-502. 111 Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 259.
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Peci, waren der Bekämpfung der Roten Brigaden mittelfristig dienlich, da diese so ihre moralische Legitimation vollständig verloren und dem eigenen Unterstützerumfeld entfremdet wurden.112 Neben juristischem Zuckerbrot versuchte der italienische Staat allerdings auch mit der Peitsche gegen den Terrorismus vorzugehen. Er investierte massiv in die logistischen und personellen Fähigkeiten seiner Sicherheitskräfte, die unter Führung General Carlo Alberto Dalla Chiesas zentralisiert und professionalisiert wurden. Neben dem vermehrten Rückgriff auf V-Leute wurde in diesem Zusammenhang auch die Anwendung der Folter legalisiert. So wurden die Mitglieder des PCC, verantwortlich für die Entführung des US-Generals Dozier, nach ihrer Verhaftung gefoltert und legten im Zuge dessen umfassende Geständnisse ab, die zu weiteren Verhaftungen führten.113 Jede der Abspaltungen der Roten Brigaden konnte noch einzelne spektakuläre Aktionen umsetzen und damit Präsenz zeigen. Der PCC machte 1981 mit der Dozier-Entführung von sich reden und verübte bis 1988 (tödliche) Anschläge, die UCC erschoss 1987 bei ihrer letzten Aktion den bereits erwähnten General der italienischen Luftwaffe. Allerdings gelang es den staatlichen Sicherheitskräften zwischen 1982 und 1988 den Großteil der aktiven Mitglieder zu verhaften und damit ein de facto Fortbestehen der meisten Gruppen zu beenden. Auf ideologischer Ebene zogen Curcio und Moretti Anfang 1987, gefolgt von weiteren verurteilten Brigadisten, einen Schlussstrich und stellten in einem Brief fest, dass die Bedingungen für den Anfang der 1970er Jahre begonnenen bewaffneten Kampf nicht mehr existierten und eine kämpfende Organisation, die „politische Avantgarde“, ihren Sinn und Zweck verloren hatte. Sie konstatierten die Inaktualität der Nachfolgergruppierungen, ohne sich vom bewaffneten Kampf an sich loszusagen und gehören damit, bis heute, zu den „Unbeugsamen“, den irrudicibili.114
5.3 Fazit Die Roten Brigaden und ihre Nachfolgerorganisationen waren über beinahe zwei Jahrzehnte die dominante linksextreme Gruppierung Italiens. Ihr letztendlicher Zerfall, der mit der Entführung Aldo Moros einsetzte, war von endogenen und exogenen Faktoren bestimmt, die sich gegenseitig beeinflussten und in ihrem Wirkungsgrad verstärkten. Im Inneren der Organisation angelegt und nach außen hin wahrnehmbar war die zunehmende Militarisierung und Brutalisierung der Roten Brigaden. Dazu trug einerseits die Bürokratisierung und Professionalisierung der Organisation bei. Andererseits hatte der Rückzug in die Klandestinität langfristige Folgen auf die ideologischen Grundlagen der Gruppe und entfremdete sie zunehmend intellektuell von ihrer unterstützenden Basis innerhalb der italienischen Gesellschaft. Strategie und Aktion hatten damit immer weniger mit objektiv nachvollziehbaren Zielen zu tun und stützten sich auf ein stetig dünner werdendes ideologisches Konzept. Der sozialrevolutionäre Impetus wich dem rein pragmatischen Fokus auf die erfolgreiche Umsetzung von Einzelaktionen. Diese aus der eigenen Entwick112
Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, aaO. (FN 10), S. 128-129. Ausführlich: Jamieson, The Heart Attacked, aaO. (FN 30), S. 193-204. 113 Hess, Angriff auf das Herz des Staates, aaO. (FN 10), S. 128; Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 270-271. 114 Curcio, Mit offenem Blick, aaO. (FN 2), S. 184-186; Jamieson, The Heart Attacked, aaO. (FN 30), S. 20;, Moretti, Brigate Rosse, aaO. (FN 36), S. 275 und S. 283-284. Zu Verdeutlichung dieser Haltung siehe insbesondere Ponti, Nadia, Das erste, was zu sagen ist… Brief von Nadia Ponti an die Veranstaltung in Zürich, in: IG Rote Fabrik (Hrsg.), Zwischenberichte, aaO. (FN 51), S. 123-133.
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lung heraus entstandene soziale Isolation konnte der italienische Staat zum einen durch Investitionen in seinen Sicherheitsapparat, vor allem aber durch Anpassungen im Rechtssystem verschärfen. Der Einfluss der pentiti und der dissociati erstreckte sich dabei über die Preisgabe überlebenswichtiger Information über das Funktionieren der terroristischen Organisation hinaus auf die gesamte Moral der Roten Brigaden. Der so massiv erhöhte Druck von außen hatte wiederum Auswirkungen auf die ideologische und politische Diskussion innerhalb der Brigadisten und trug grundlegend zu deren Sprengkraft bei. Auch Veränderungen im gesamten gesellschaftlichen Kontext, namentlich der neuen Jugendbewegung, stellten inhaltliche Herausforderungen an die Gruppe und ihre Nachfolgeorganisationen, denen sie nicht gerecht werden konnten.
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„Neue“ Rote Brigaden - wider den Zerfall?
Der Zerfallsprozess der Roten Brigaden in den 1980er Jahren war zwar gekennzeichnet durch zahlreiche Inhaftierungen und persönliche Distanzierungen ehemaliger Brigadisten, was als vermeintliches Signum für ein Ende aller Aktivitäten der Organisation gewertet wurde. Es bleibt jedoch zu berücksichtigen, dass diese vorläufige Unterbrechung der terroristischen Anschläge durch erfolgreiche, repressive Maßnahmen des Staates oktroyiert war und keinem kollektiven Entschluss der Roten Brigaden entsprang. Dies manifestiert sich in der Tatsache, dass im Gegensatz zu anderen westeuropäischen sozialrevolutionären Gruppierungen nie ein Auflösungsdokument verfasst wurde. Der fehlende endgültige Bruch mit dem terroristischen Agieren auf der formell-intellektuellen Ebene findet seine Entsprechung in der Kontinuität der Anschläge, die auf der praktischen Ebene unter dem Namen der Roten Brigaden verübt wurden. Bereits 1992 dokumentierte die Organisation ihr Fortbestehen mittels eines Bombenanschlags auf eine Militärbasis der NATO in Aviano.115 Darauf folgte eine lange Phase der Inaktivität, die 1999 mit dem Mord an dem Universitätsprofessor Massimo D’Antona ein jähes Ende fand. Dieser war ebenso wie der durch die Organisation 2002 ermordete Akademiker Marco Biagi Berater der Regierung in Fragen der Arbeitsmarktreformen. Erst 2003 gelang der italienischen Polizei mit der Festnahme von Desdemona Lioce die Identifizierung der für die Anschläge Verantwortlichen. Diese rechnete sich selbst dem PCC zu und stellten sich damit unmittelbar in die Tradition der Roten Brigaden.116 Im Februar 2007 wurde evident, dass es trotz dieser Ermittlungserfolge weiteren Nachfolgegruppierungen der Roten Brigaden gelungen war, die Idee des bewaffneten Kampfes in die Gegenwart zu tragen. So verhaftete die Polizei ca. 20 Personen, die sich dem Partito Comunista Politico Militare (PCPM) und damit einer scheinbar neuen Splitterorganisation zurechneten. Der PCPM hatte bis dato erst einen einzigen Anschlag verübt, im Zuge dessen niemand verletzt worden war, stand aber im Verdacht, neue Zielobjekte für terroristisches Handeln ausgemacht zu haben. Ins Visier der Terroristen waren ein Wohnsitz Silvio Berlusconis, Büros seiner Mediengruppe, das Medienunternehmen Sky Italia 115 Vgl. Ceresa, Alessia, The Impact of ‚New Technology’ on the ‚Red Brigades’ Italian Terrorist Organization. The Progressive Modernisation of a Terrorist Movement Active in Italy since the 1970s, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Nr. 11/2005, S. 198. 116 Vgl. Willan, Philipp, Technological Breakthrough Leads Police to New Red Brigades, in: Jane’s Intelligence Review, Nr. 2/2004, S. 28-30.
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sowie der Energiekonzern ENI geraten. Deutliche Analogien zu den Morden an D’Antona und Biagi wies die Markierung des Arbeitsmarktexperten Pietro Ichino als potentielles Opfer auf. Weitere polizeiliche Erkenntnisse wiesen den PCPM als direkten Nachfolger der Kolonne „Walter Alasia“ aus, was insbesondere anhand von Waffenfunden belegt werden konnte.117 Das Alter einiger der Festgenommenen lässt darauf schließen, dass die Verbindungen zu den alten Roten Brigaden nicht nur materieller, sondern auch personeller Natur sind. Insbesondere dem mutmaßlichen Anführer des PCPM Alfredo Davanzo wird eine Aktivität in linksextremen Gruppierungen der 1970er Jahre nachgesagt. Dennoch wäre es verfehlt, die neue Organisation als ein Sammelbecken ehemaliger Brigadisten anzusehen, da sich unter den Inhaftierten auch Personen jüngeren Alters befinden.118 Gerade diese Tatsache kann als Indiz für eine weiterhin vorhandene Anziehungskraft gewertet werden, welche der sozialrevolutionäre Terrorismus in Italien auch auf jüngere Generationen entfaltet, die als nicht zu vernachlässigendes Rekrutierungspotential das Fortbestehen der Roten Brigaden als wahrscheinlich erscheinen lassen. Neben diesem altersbezogenen Moment, lässt sich bezüglich der Herkunft der neuen Terroristen auf die Gewerkschaft CGIL verweisen, aus deren Reihen Sympathisanten und Aktivisten geworben werden konnten.119 Bislang unbeantwortet ist die Frage nach der tatsächlichen Virulenz der neuen Gruppierungen, die unter dem Signum der Roten Brigaden agieren und sich auf die Mutterorganisation der 1970er und 80er Jahre berufen. Die Verwendung des fünfzackigen Stern und die Übernahme von im Diskurs der Roten Brigaden etablierten Begrifflichkeiten suggeriert oberflächlich historische Kontinuität. Diese Aufrechterhaltung der Traditionslinien führt jedoch gleichzeitig zur Perpetuierung der Zerfallsgründe, an welchen bereits die ursprüngliche Gruppierung krankte. Insbesondere die Verhaftung in einem ideologischen Konzept, dessen Entfremdung von der sozialen Realität Italiens bereits in den 1980er Jahren vollzogen war, macht eine Rekrutierung mit Breitenwirkung kaum möglich. Dieses Moment erfährt zusätzliche Steigerung durch die weiter bestehende Klandestinität der neuen Roten Brigaden, so dass von einer Neuauflage der alten Fehler und Schwächen gesprochen werden kann. Aufschluss über diese gegenüber der Mutterorganisation verminderte Wirkmächtigkeit gibt nicht zuletzt die deutlich geringere Zahl an Anschlägen, die dazu führt, dass der Terrorismus nicht mehr im Zentrum des täglichen Diskurses steht. Als im westeuropäischen Vergleich herausragendes Charakteristikum der Roten Brigaden bleibt dennoch anzuführen, dass es der Organisation angesichts der ihr inhärenten Schwächen gelungen ist, ihr Fortbestehen zu sichern. Diese Präsenz zeigt sich nicht nur im konkreten Agieren der neuen Roten Brigaden, sondern auch in der Verankerung des Linksterrorismus im kollektiven Gedächtnis. Gerade auf kultureller Ebene ist eine rege Auseinandersetzung mit der Thematik im Rahmen von Kino- und Fernsehfilmen zu beobachten, ebenso wie das weiterhin große Interesse der Öffentlichkeit an Veröffentlichungen von Mitgliedern des „historischen Kerns“ und der „legendären Einheit“.120 Im Kontrast zu der die deutsche Öffentlichkeit spaltende Diskussion um die Begnadigung ehemaliger Militanter der RAF ist in Bezug auf Italien anzumerken, dass sich von 117
Vgl. „Back to the past“, in: The Economist Nr. 8516/2007, S. 32 und “Two Red Brigades Suspects Arrested in Northern Italy”, in: BBC Monitoring International Reports vom 11.07.2007. 118 So sind fünf der Verhafteten zwischen 20 und 30 Jahren alt. Siehe dazu: „Back to the past“, aaO. (FN 117), S. 32. 119 Siehe dazu: „Das rote Gespenst lässt Italien erzittern“, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.02.2007, S. 8. 120 Vgl. dazu „Red Brigade pics stir Italy“, in: Variety vom 11. Juni 2007, S. 11.
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knapp 2000 verhafteten Untergrundkämpfern der 1970er und 80er Jahre heute nahezu alle wieder in Freiheit befinden. Deren Rückkehr in, auch den öffentlichen Dienst einschließende, Beschäftigungsverhältnisse legt eine Fähigkeit der italienischen Gesellschaft zur Reintegration der Terroristen vergangener Jahre offen.121 Der geringe Polarisierungsgrad, auch hinsichtlich der Freilassungen Curcios und Franceschinis, mag auf eine politische Kultur rückführbar sein, in der die Anwendung politisch motivierter Gewalt kein singuläres Phänomen darstellt. Trotzdem hinterließ der Aktionismus der Roten Brigaden bedeutende Spuren im historisch-kulturellen Gedächtnis Italiens, was die Organisation zu einem populären Erinnerungsort werden ließ, der immer wieder neue Thematisierung erfährt.
121 So arbeitet mit Roberto Del Bello ein ehemaliger Brigadist im Innenministerium, der an der Moro-Entführung beteiligte Eugenio Pio Ghignoni ist als Sicherheitsbeauftragter an der Universität „Roma III“ tätig. Siehe dazu: „Auf kleiner Flamme“, in: Der Spiegel Nr. 8/2007, S. 122.
Bewaffneter Kampf in Japan
Die Schimäre der Weltrevolution: Rote Armee Faktion1, Vereinigte Rote Armee und Japanische Rote Armee – Bewaffneter Kampf in Japan und im internationalen Kontext Florian Edelmann
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Zur Relevanz von Exotik
Im Zuge des großen medialen Widerhalls, den die RAF und die Ereignisse des „Deutschen Herbsts“ in der deutschen Öffentlichkeit anlässlich dessen dreißigsten Jahrestags im Jahr 2007 fanden, wurde an einigen Stellen gleichsam als exotische Fußnote auch die Existenz terroristischer Gruppen japanischen Ursprungs erwähnt.2 Dabei ließ sich einmal mehr trefflich über mögliche Querverbindungen und wechselseitige Beeinflussungen spekulieren,3 wozu bereits Kongruenzen in der Namensgebung geradezu einluden - sowohl Japaner wie Deutsche bezeichneten sich in irgendeiner Form als Teil einer revolutionären, Roten Armee.4 Als die Weltöffentlichkeit zu Beginn der 1970er Jahre erstmals von der Existenz sozialrevolutionären Terrorismus’ japanischer Provenienz Kenntnis nehmen musste, stand diese „Rote Armee“ als Blaupause des neuen internationalen Terrorismus im Zentrum des Interesses und wurde keinesfalls als Randphänomen wahrgenommen.5 Unter der Selbstbezeichnung als „Rote Armee“ firmieren hierbei vor allem drei Gruppen, deren Entwicklung und Verlaufsmuster interdependent sind und teilweise parallel verliefen. Die Rote Armee Faktion des Bundes der Kommunisten Kyôsandô Sekigun-ha, später dann nur noch Rote Armee (im Folgenden RA) Sekigun, als Spaltprodukt der Neuen Linken in Japan scheiterte mit ihrem strategisch noch offenen Konzept des Vorstufenaufstandes relativ schnell. Restkader formierten einerseits mit einer anderen linksextremisti1
Die Schreibweise japanischer Gruppenbezeichnungen und Eigennamen orientiert sich an Derichs, Claudia, Japans Neue Linke. Soziale Bewegung und außerparlamentarische Opposition, 1957-1994, Hamburg 1995 und Dies., Die Japanische Rote Armee, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus. Band 2, Hamburg 2006, S. 809-828, dementsprechend werden Nachnamen vor persönlichen Namen geführt. 2 Siehe etwa Probst, Robert, Im „Volksgefängnis“. Deutscher Herbst Tag 24, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.09.2007, S. 6 und "Immer radikaler". Interview mit Daniel Cohn-Bendit, in: Der Spiegel Nr. 39/2007, S. 102. 3 Siehe etwa Dobson, Christopher/ Payne, Ronald, The Carlos Complex: A Pattern of Violence, London u.a. 1977, S. 22 und O’Ballance, Edgar, Language of Violence: The Blood Politics of Terrorism, San Rafael 1979, S.145, die von einer “Terroristenkonferenz” im Mai 1972 unter Schirmherrschaft der PFLP berichten, an der u.a. RAF und Nihon Sekigun teilgenommen haben sollen. Skelton-Robinson, Thomas, Im Netz verheddert, Die Beziehungen des bundesdeutschen Linksterrorismus zur Volksfront für die Befreiung Palästinas (1969-1980), in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus. Band 2, Hamburg 2006, S. 828-904, hier: S. 847, bezeichnet dieses Konstrukt als Spekulation und attraktive Möglichkeit, komplexe Zusammenhänge möglichst einfach erklären zu können. 4 Siehe etwa Demaris, Ovid, Brothers in Blood: The International Terrorist Network, New York 1977, S. 228. 5 Siehe dazu Hoffman, Bruce, Creatures of the Cold war. The JRA, in: Jane’s Intelligente Review, Band 9 Nr. 2 (Februar 1997), S. 80 spricht von „einer der drei meistgefürchtetsten terroristischen Organisationen“.
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schen Splittergruppe die Vereinigte Rote Armee (im folgenden VRA) Rengô Sekigun, die weniger als ein Jahr bestand. Schon vor dieser Vereinigung begannen andere Mitglieder der Sekigun mit dem Aufbau einer internationalen Organisationsbasis im Libanon in Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen. Sie nannten sich nach dem Zusammenbruch von Rengô Sekigun 1972 Japanische Rote Armee (im Folgenden JRA) Nihon Sekigun und konnten sich über mehrere Jahrzehnte im Kontext des internationalen Terrorismus organisatorisch erhalten und begrenzte, aber spektakuläre Aktivitäten entfalten.6 Vor allem zwei Ereignisse in ihrer spezifischen Ikonographie und Dynamik prägen die Perzeption des japanischen Terrorismus. Am 31. März 1970 entführten Mitglieder der RA eine Maschine der JAL auf einem Inlandsflug und erzwangen so ihre Ausreise nach Nordkorea, am 30. Mai 1972 verübte ein japanisches Kommando7 einen Anschlag auf ankommende Flugreisende im Flughafen Lod von Tel Aviv in Israel.8 Während ersteres durch die Bewaffnung der Entführer mit Samuraischwertern und ihr an mittlere Angestellte gemahnendes Verhalten Projektionsfläche für gängige Japan-Klischees bietet, ruft der Lod-Vorfall durch seine Grausamkeit und Beliebigkeit sowie das erschreckend konsequente Vorgehen der Attentäter - alle waren zum Selbstmord bereit und nur einer überlebte - Erinnerungen an das japanische Vorgehen im Zweiten Weltkrieg wach.9 Wissenschaftliche und journalistische Publizistik überschlugen sich danach geradezu in negativen Superlativen zur Bezeichnung der Japanischen Roten Armee, „junge Fanatiker der Kamikaze-Nation“10, „Rote Samurai“11 oder „Herrin des Chaos“12 waren nur einige der verwandten Begriffe. Schnell setzte sich der Mythos einer besonders exotischen, blutrünstigen und grausamen Killertruppe im Rahmen des undurchschaubaren Netzwerkes internationaler Terroristen in der öffentlichen Wahrnehmung fest.13 Dabei werden Ereignisse verallgemeinert und überhöht, die zwar sicherlich einschneidend und richtungsweisend waren, jedoch nur als Ergebnis einer Entwicklung aus einem spezifischen Kontext und seiner Eigendynamik heraus sinnvoll erklärt werden können. Die Relevanz des exotischen Beispiels im Rahmen eines vergleichenden Ansatzes zum sozialrevolutionären Terrorismus ergibt sich demnach daraus, diese entwicklungsdynamischen und kontextuellen Spezifika herauszuarbeiten.
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Diese zusammenfassende Darstellung folgt Steinhoff, Patricia G., Hijackers, Bombers and Bank Robbers: Managerial Style in the Japanese Red Army, in: The Journal of Asian Studies, Band 48 Nr. 4 (November 1989), S. 724741, hier: S. 724. 7 Eine zutreffende Bezeichnung dieser Gruppe fällt schwer, jedenfalls wird die Bezeichnung JRA erst nach dem Anschlag geführt, vorher verstand sie sich wohl noch als internationale Sektion der VRA. Siehe hierzu Derichs, Claudia, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 818. 8 Siehe dazu Mickolus, Edward F., Transnational Terrorism: A Chronology of Events 1968-1979, London und Westport 1980, S. 168 ff und 321 ff. 9 Siehe dazu Croitoru, Joseph, Der Märtyrer als Waffe, München und Wien 2003, S. 76 f. und Dowsey, Stuart, The Future..?, in: Ders. (Hrsg.), Zengakuren: Japan’s Revolutionary Students, S.226-241, 227. 10 Müller, Christian, Japans linksradikale Ronin, in: Verlag Neue Zürcher Zeitung (Hrsg.), Blutspur der Gewalt. Bilanz eines Jahrzehnts des Terrorismus, Zürich 1980, S.108-118, 108. 11 Parry, Albert, Terrorism. From Robbespierre to Arafat, New York 1976, S. 433. 12 Farrell, William R., Blood and Rage: The Story of the Japanese Red Army, Lexington (Massachusetts) 1990, S. 105, bezeichnet mit diesem Begriff Shigenobu Fusako, Gründungsmitglied und später Führungsfigur der JRA. 13 Siehe etwa Dobson, Christopher / Payne, Ronald, The Carlos Complex, aaO. (FN 3) S. 164 f. und Samurai im Jet, in: Der Spiegel Nr. 15/1970, S. 117.
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Nationaler Bewegungskontext: Neue Linke in Japan
Die Herausbildung einer organisierten Neuen Linken in Abgrenzung zu den etablierten kommunistischen oder sozialistischen Parteien der „Alten Linken“ und als Versuch einer kritischen Wiederaneignung ideologischer Positionen, Gesellschaftsanalysen sowie Revolutionstheorien, folgte in Japan, Westeuropa und den USA zwar ähnlichen Bruchlinien, vollzog sich jedoch nicht gleichzeitig.14 Während die japanische Presse den Begriff wohl erst ab Ende der 1960er aufgreift, lässt sich die Entstehung einer Neuen Linken in Japan früher, nämlich bereits ab etwa 1957, im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Studentenbewegung und Kommunistischer Partei Japans (KPJ) nachweisen.15
2.1 Studentenbewegung und Alte Linke Schon im Vorkriegsjapan waren der Einfluss der 1922 entstandenen KPJ auf die sich explizit politisch verstehende und linksorientierte studentische Bewegung und organisatorische Verbindungen stark ausgeprägt.16 Nach der Kapitulation Japans im Pazifikkrieg am 15. August 1945 wurde im Zuge der Liberalisierungs- und Demokratisierungspolitik der Besatzungsmacht USA einerseits die KPJ wieder legalisiert, die daraufhin die Besatzungsregierung unter Mac Arthur als Supreme Commander of Allied Powers (SCAP) als Befreier und Vollender der in Japan noch nicht voll durchgeführten bourgeoisen Revolution begrüßte und unterstützte.17 Andererseits begünstigten die politische Toleranz des frühen Beatzungsregimes und eine demokratisch orientierte Bildungsreform die Durchsetzung studentischer Selbstverwaltungskörperschaften jichikai durch studentische Aktivisten selbst, die flächendeckend als verbindliche Studierendenvertretungen mit verpflichtender Mitgliedschaft, begrenztem hochschulpolitischem Mandat und Budgethoheit eingeführt wurden.18 Unter dem Einfluss marxistischer KP- naher sozialwissenschaftlicher Studiengruppen und Campuszellen von Vorfeldorganisationen der KPJ schlossen sich solcherart dominierte jichikai im September 1948 zum nationalen Verband Zengakuren19 zusammen, der zumindest stark von der KPJ beeinflusst war.20 Im Zengakuren affiliierte Studierende konzentrierten sich zunächst auf vorwiegend studentische Belange wie den Kampf für Erhalt und Erweiterung 14
Siehe dazu Asada, Akira, A Left Within the Place of Nothingness, in: New Left Review, Band 239, Nr.5 (September/Oktober 2000), S.15-40, 18 f. und Nur Gewehre, in: Der Spiegel vom 06.03. 1972 (11/72), S. 114. Siehe R.H. Havens, Thomas, Fire Across the Sea, Princeton New Jersey 1987, S. 169 sowie Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 60ff und 78ff und Matsunami, Michihiro, Origins of Zengakuren, in: Stuart J. Dowsey, Zengakuren, Berkeley 1970, S. 42-74, hier: S. 69. 16 Siehe dazu DeWitt Smith II, Henry, Japan’s First Student Radicals, Cambridge Massachusetts 1972, S. 170 ff. 17 Siehe dazu Krauss, Ellis S., Japanese Radicals Revisted, Berkeley und Los Angeles 1976, S. 56 und Scalapino, Robert A., The Japanese Communist Movement 1920-1966, Berkeley und Los Angeles 1967, S. 54 ff. 18 Siehe dazu Farrel, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 45 f. und Matsunami, Origins of Zengakuren, aaO. (FN 15), 44f. 19 Akronym für Alljapanischer Verband der studentischen Selbstverwaltungen Zennihon jichikai sôrengô; anders als der Name vermuten lässt war dies jedoch nur e i n e r der Verbände auf nationaler Ebene, wenn auch bei weitem der Mitgliederstärkste; Farrel, Blood and rage, aaO. (FN 12), S. 46 geht von einem Organisationsgrad von 60 % der Studentenschaft im Dezember 1948 aus. 20 Siehe dazu Mieczkowski, Seiko, The Rise and Fall of Japanese Student Federation (Zengakuren), in: Asian Thought and Society, Nummer 40 (Januar 1989), S. 53. Krauss, Japanese Radicals Revisted, aaO. (FN 17), S. 76 spricht von klarer Dominanz der KPJ; Scalapino, The Japanese Communist Movement, aaO. (FN 17), S.71 hingegen von vollständiger Kontrolle durch die KPJ. 15
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der Hochschulautonomie und erzielten dabei anfängliche Erfolge. Indem diese Aktivitäten in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext gesehen wurden, etwa der Vertiefung der Demokratisierung und der Ablehnung imperialistischer bzw. militaristischer Residuen, konnte sich ein genuiner ideologischer Standpunkt etablieren, der die Studentenbewegung als einen zentralen und eigenständigen Faktor unter anderen im revolutionären Prozess bestimmte.21 Mit der Eskalation des Kalten Krieges ergab sich ein fundamentaler Wandel in Analyse und Taktik der bestimmenden Faktion der KPJ, der sogenannten „Hauptstromlinie“, ab 1950. Als Reaktion auf die scharfe Kritik der friedlichen und besatzungsfreundlichen Linie der KPJ durch das Kominform einerseits und die zunehmend antikommunistische Politik von SCAP und japanischer Regierung andererseits wurde der amerikanische Imperialismus zum Hauptfeind, die nationale Befreiung Japans aus seinem „quasikolonialen“ Status zur Strategie und der bewaffnete revolutionäre Aufstand zur Taktik erklärt.22 Resultat der Umsetzung dieses Konzepts, eine kurze militante Phase mit Anschlägen und Ausschreitungen, an denen sich trotz bestehender Vorbehalte auch Zengakuren - Kader maßgeblich beteiligten, war ein weitgehender Bedeutungsverlust der Kommunistischen Partei sowie die Verabschiedung eines scharfen Antisubversionsgesetztes. 23 Ab 1955 setzte sich daraufhin, auch im Kontext von Veränderungen in der internationalen kommunistischen Bewegung nach Stalins Tod und zunehmenden Spannungen zwischen sowjetischen und chinesischen Positionen, eine neue, volkstümliche und legalistische Linie der KPJ durch. Die politischen Prämissen wurden zwar beibehalten, doch vollzog sich eine taktische Kehrtwendung hin zum friedlichen Kampf im parlamentarischen Rahmen. Die studentische Bewegung sollte dabei nicht mehr eine, freilich getreu der Parteilinie, kämpferischen Avantgarde bilden, sondern vielmehr in dienender Funktion unter Ägide der Partei deren verlorene Basis wiederherstellen helfen.24
2.2 Entstehung der Neuen Linken und deren frühe Determinanten Ausschlaggebend für die Abkehr von Teilen der Linken und insbesondere der studentischen Bewegung von der in der KPJ verkörperten traditionellen Linken ab etwa 1956 war eine aus den dargestellten Ereignissen resultierende Frustration.25 Beide radikalen taktischen Wechsel der Linie verunsicherten die studentische Basis und waren offensichtlich eher durch die Bruderparteien und das Kominform beeinflusst als Ergebnis einer auf die realen Verhältnisse bezogenen eigenständigen Analyse. Trotz vollzogener Selbstkritik fand eine substantielle Auseinandersetzung mit dem Stalinismus sowie dessen zentralen theoretischen Konstrukten nicht statt. Bei Betonung der friedlichen Koexistenz blieb demnach ein kruder
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Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 60 f. Siehe dazu Pohl, Manfred, Die Kommunistische Partei Japans, Hamburg 1976, S. 84 f. Siehe zur studentischen Teilnahme an den militanten Aktionen der KPJ Kitizawa, Yoko Muto, Ichiyo, Ikarus fällt - die „Rote Armee“ in Japan, in: Antiimperialistischer Kampf Nr.7 (Frühjahr 1974), S. 68-89, S. 69 und Seiffert, Johannes Ernst, Zengakuren, München 1969, S. 36 sowie zum gesamten Komplex Scalapino, The Japanese Communist Movement, aaO. (FN 17), S. 79-96. 24 Siehe dazu Matsunami, Origins of Zengakuren, aaO. (FN 15), S. 61 ff. 25 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12) S. 51. 22 23
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Antiimperialismus mit nationalistischen Untertönen und vager Volksfrontstrategie die dominierende Ideologie der KPJ.26 Dem wurde einerseits eine scharfe Dogmatismuskritik entgegengesetzt, die auf Versatzstücken trotzkistischer, genuiner leninistischer und maoistischer Revolutionstheorie aufbauend eine Renaissance des Marxismus-Leninismus anstrebte. Statt stalinistischem „Sozialimperialismus“ mit monopolisierter, monolithischer und petrifizierter kommunistischer Weltbewegung sei eine an den sozialen Gegebenheiten und Kräfteverhältnissen orientierte, auf weltweite, permanente Revolution gerichtete, tatsächliche Avantgardepartei zu schaffen, wobei die Rolle der studentischen Bewegung als revolutionäres Subjekt unterschiedlich gewichtet wurde.27 Dieser zunächst noch als parteiinterne Strömung artikulierte theoretische Ansatz fand nach Gründung des Bundes Revolutionärer Kommunisten Kakukyôdô als eigenständiger Organisation großen Widerhall in den studentischen Selbstverwaltungskomitees.28 Andererseits setzte sich im Zengakuren die Position durch, die studentische Linke müsse sich wieder stärker außerparlamentarisch positionieren, indem sie fass- und vermittelbare Kampagnen mit Bezug auf reale Probleme durchführe, dabei die kritische öffentliche Meinung reflektieren und zu ihren ursprünglichen Zielen zurückfinden.29 Ansatzpunkte für diese Taktik waren insbesondere eine verbreitete pazifistische Stimmung in der Bevölkerung, die der Remilitarisierung Japans sowie der Permanenz und Erweiterung amerikanischer Militärbasen kritisch gegenüberstand30, sowie bürgerrechtliche und soziale Anliegen.31 So beteiligte sich der Zengakuren unter anderem am lokalen Widerstand gegen den Ausbau von Militärbasen, Arbeitskämpfen sowie Kampagnen von Gewerkschaften gegen die Verschärfung der Polizeigesetze und bildungspolitische Vorhaben.32 All diese, teilweise mit Erfolg geführten Auseinandersetzungen wurden als Teile eines gegen den japanischen Monopolkapitalismus geführten und damit antiimperialistischen und revolutionären Kampfes gesehen, mit dem schrittweise aus der studentischen Bewegung eine Avantgardepartei aufgebaut werden könne. Mit dem Anspruch, im Zengakuren eigenständige ideologische Positionen und Strategien formulieren und durchführen zu können, vertieften sich interne Spannungen wie auch solche zwischen KPJ und gesamter Organisation, was nach Parteiausschlüssen und austritten 1958 zur endgültigen Spaltung führte.33 Deren Resultat war ein KP-treuer Restverband und eine aus dem aktivistisch-voluntaristisch orientierten neugegründeten Bund der Kommunisten Kyôsandô (in dem nach und nach weitere Faktionen aufgingen) und dem eher theoretisch ausgerichteten Kakukyôdô bestehende nicht affiliierte Hauptströmung.34 Damit hatte sich ein bedeutender Teil der studentischen Bewegung als unabhängige und eigenständige Neue Linke von der KPJ und deren schwankender, aber strikt zu befolgender
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Siehe dazu Scalapino, The Japanese Communist Movement, aaO. (FN 17), S. 100 und 103. Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 66 ff. 28 Siehe dazu Apter, David E. Apter/ Nagayo, Sawa, Against the State. Politics and Social Protest, Cambridge (Massachusetts) und London 1984, S. 118. 29 Siehe dazu Matsunami, Origins of Zengakuren, aaO. (FN 15),S. 64 f.. 30 Siehe dazu Havens, Fire Across the Sea, aaO. (FN 15), S. 9. 31 Siehe dazu Matsunami, Origins of Zengakuren, aaO. (FN 15), S. 65 ff und 71 ff. 32 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 15), S. 77 f. 33 Siehe dazu Farrell, Blood and rage, aaO. (FN 12), S. 51. 34 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 79. 27
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Linie emanzipiert, ideologische und strategische Freiheit schufen jedoch ebenso wie die aktionistische Grundhaltung eine Quelle für intensive interne Spannungen.35
2.3 Der Ampo-Kampf Die erste Kampagne von nationaler Bedeutung, an der sich der vom Kyôsandô kontrollierte Zengakuren als Kraft der Neuen Linken maßgeblich beteiligte, war die Auseinandersetzung über die Revision des bilateralen Sicherheitsvertrages Nichi-Bei anzen hoshô jôyaku (kurz: Ampo) zwischen Japan und den USA.36 Im Zusammenhang mit dem Friedensvertrag von San Francisco 1951 abgeschlossen, räumte dieser den USA weitgehende Vorrechte hinsichtlich Truppenstationierungen ein, die der äußeren Verteidigung sowie der Aufstandsbekämpfung in Japan selbst wie auch außenpolitischen Zwecken im Fernen Osten dienen sollten.37 Während Japan so trotz wiedererlangter Souveränität nur bedingt eigenständige Außenpolitik betreiben konnte, hatte es große Teile der Stationierungskosten zu tragen, mit Okinawa einen Teil seines Territoriums dauerhaft abzugeben und war im Konfliktfall potentielles Angriffsziel. Dieses Ungleichgewicht sowie inhärente Widersprüche zum Antikriegsartikel 9 der japanischen Verfassung hatten von vorne herein das progressive Lager linke Parteien, Gewerkschafts- und Studentenbewegung - gegen das Vertragswerk mobilisiert, im Zuge der fälligen Revision zu Ende der 1950er und der Normalisierung des politischen wie gesellschaftlichen Lebens in Japan weitete sich diese Opposition aus.38 In den zahlreichen Protestaktionen der Jahre 1959 und 1960, die sich nicht zuletzt am selbstherrlichen und undemokratischen Vorgehen von Premierminister Kishi während der Ratifizierungsdebatten entzündeten,39 nahm der Zengakuren - teils im Rahmen eines breiten Widerstandsbündnisses, teils an dessen Rand - aufgrund seines offensiven und konfrontativen Vorgehens eine Vorreiterrolle ein.40 Ohne dass bereits von tatsächlich militantem Vorgehen wie planmäßiger Bewaffnung oder Gewaltanwendung die Rede sein kann, entwickelte sich der bereits in den oben genannten Auseinandersetzungen angelegte Stil fort. Gutorganisierte Demonstrantenblöcke durchbrachen in Zickzacklinien vorrückend Polizeiabsperrungen, besetzten Plätze und Gebäude, blockierten Straßenzüge, warfen vereinzelt Steine und übertraten damit schon die Schwelle des bloßen zivilen Ungehorsams.41 Zwar konnte die Protestbewegung letztlich die Ratifizierung des revidierten Ampo nicht verhindern, die Regierung Kishi sah sich jedoch zum Rücktritt gezwungen, und ein avisierter Staatsbesuch Eisenhowers wurde abgesagt, nachdem beim zweiten erfolgreichen „Sturm auf das Parla-
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Siehe dazu Steinhoff, Patricia G., Student Conflict, in:. Krauss, Ellis S/ Rohlen, Thomas P./Dies. (Hrsg.), Conflict in Japan, Honolulu 1984, S. 174-213, hier: S. 177. Siehe dazu Apter,/ Nagayo, Against the State, aaO. ( FN 28), S. 120 und Harada, Hisato, The Anti-Ampo Struggle, in: Stuart J. Dowsey, Zengakuren, Berkeley 1970, S. 80. 37 Siehe dazu Havens, Fire Across the Sea, aaO. (FN 15), S.7. 38 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 84 ff. 39 Siehe dazu Havens, Fire Across the Sea, aaO. (FN15), S. 10; nach Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 53, nahmen an der entscheidenden Parlamentssitzung nicht einmal die Mitglieder der Regierungspartei vollständig teil. 40 Siehe dazu Krauss, Japanese Radicals Revisted, aaO. (FN 17), S. 4 f. 41 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 95 ff. 36
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ment“ eine Demonstrantin ums Leben kam, womit die Bewegung ihre erste Märtyrerin hatte.42
2.4 Die Post-Ampo-Ära: Zersplitterung, Faktionalismus und Radikalisierung Trotz großer Mobilisierungswirkung und öffentlicher Unterstützung der eigenen Positionen, die aus dem Ampo-Protest resultierten, zerfiel der Zengakuren selbst als einheitlicher organisatorischer Zusammenhalt wie auch dessen maßgebliche Strömungen nach dem Abflauen der Proteste ab 1960 mit Abschluss des revidierten Vertrages.43 Einerseits war die Aktionseinheit schon während der Kampagne allenfalls prekär, indem die verschiedenen Strömungen mit unterschiedlicher Intention eigenständig und oft konträr agierten.44 Andererseits war das taktische Kalkül der bestimmenden Faktion Kyôsandô, durch die Aktion zur Avantgardepartei zu werden und die Massen mitzureißen, offensichtlich gescheitert. Auch wenn beim ersten „Sturm auf das Parlament“ 1959 Studenten und Arbeiter effizient gemeinsam agierten, blieb diese spontane Kooperation singulär und ohne Folgen.45 Gleichzeitig teilten die Aktivisten gerade nach der gescheiterten Kampagne ein Gefühl von Notwendigkeit radikaler Opposition und zunehmender Entfremdung von staatlicher Autorität, hatte doch in ihren Augen das Vorgehen Kishis gezeigt, wie dünn der demokratische Firnis war,46 und die repressiven Reaktionen auf Proteste deutliche Grenzen für die Wahrnehmung ihrer politischen Rechte gezogen.47 Kyôsandô musste als Resultat der kritischen Aufarbeitung des Ampo-Protestes seine Führungsrolle im Zengakuren aufgeben und desintegrierte sich daraufhin völlig in verschiedene Splittergruppen, das gleiche Schicksal ereilte bald darauf auch seinen Nachfolger in der Führungsposition Kakukyôdô. In der Folge zerfiel die studentische Linke in eine kaum überschaubare oder nur systematisierbare Vielzahl von einzelnen „Parteifaktionen“ oder „Politsekten“, deren Hervortreten und Abgrenzung jeweils Ergebnis nicht integrierbarer interner Konflikte war, die ideologisch umgesetzt wurden.48 Gemeinsam ist diesen Faktionen, dass sie bei aller Feindschaft zur KPJ tradierte kommunistische Organisations- und Entscheidungsstrukturen wie etwa hierarchische Gliederung und demokratischen Zentralismus übernahmen, aus linken Denktraditionen eklektisch eigene, oft esoterisch anmutende Ideologien entwickelten, deren semantische Beherrschung 42
Siehe dazu Krauss, Japanese Radicals Revisted, aaO. (FN 17), S. 5 und Harada, The Anti-Ampo Struggle, aaO. (FN 36), S. 92 f. Ob der Tod der Studentin Kamba Michiko auf das Vorgehen der Polizei zurückzuführen ist oder dem allgemeinen Chaos während der Demonstration geschuldet war, ist umstritten, so dass die Frage nach der Verantwortung mehr über politische Präferenzen eines Autors verrät, als über tatsächliche Erkenntnisse. Insofern ist ein Vergleich mit Benno Ohnesorg allenfalls bedingt hilfreich (siehe etwa Derichs, Die japanische Rote Armee, aaO. (FN 36), S. 811), insoweit er sich auf die Reaktion der Bewegung bezieht. 43 Siehe dazu Mieczkowski, The Rise and Fall of Japanese Student Federation, aaO. (FN 20), 56. 44 Siehe dazu Harada, The Anti-Ampo Struggle, aaO. (FN 36), 88 ff. 45 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 90. 46 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 56. 47 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 97. 48 Sowohl die Bezeichnung als auch die Zuordnung zu unterschiedlichen ideologischen Metalinien einzelner Faktionen differieren deutlich, siehe nur die Darstellungen von Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 98 ff, Matsunami, Who’s Who in Zengakuren and the Youth Movement in 1969, in: Dowsey, Stuart J., Zengakuren, Berkeley 1970, S. 242-267 oder McCormack, Gavan, The Student Left in Japan, in: New Left Review, Band 65 Nr.1 (Januar/Februar 1971), S. 45 ff.
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und strikte Befolgung jeweils das zentrale Identifikationsmoment war, und in hohem Maße auf charismatische Führung sowie persönliche Folgebereitschaft rekurrierten.49 Zentrale materielle Basis blieb die Verfügung über die Ressourcen der jichikai, die von der jeweiligen Politsekte kontrolliert wurden, was neben ideologischem Antagonismus oft zu harten Auseinandersetzungen zwischen Faktionen führte, die spätestens ab 1964 auch gewalttätig ausgetragen wurden.50 Nach einer Phase relativer Lähmung zu Anfang des Jahrzehnts mit vereinzelten Aktionen kann ab 1965 eine bis nach 1970 anhaltende Sequenz breiten Aktionismus’ mit sporadischen Bündnissen ausgemacht werden. Deren zentrale Kristallisationspunkte waren der Normalisierungsvertrag mit Südkorea, der zunehmend eskalierende Vietnamkrieg und dabei insbesondere die Rolle Japans in der US-Strategie, konkrete lokale Auseinandersetzungen um militärisch relevante Bauvorhaben und Einrichtungen, die für 1970 geplante erneute Revision des Ampo und die damit verbundene Frage der Rückgabe Okinawas sowie insbesondere auch genuin studentische Belange von Universitätsautonomie und -Reform.51 Ausgehend von den ab 1966 eskalierenden Universitätskämpfen lässt sich eine graduell zunehmende Radikalisierung der Protestformen feststellen. Der Bogen spannt sich von vereinzelten Konfrontationen im ersten Ampo-Kampf über zunehmend militantere Demonstrationen, länger dauernde Universitätsbesetzungen und zeitlich begrenzte Geiselnahmen von Universitätspersonal bis hin zur festungsartigen Verbarrikadierung von Universitätsgebäuden und Schlachten auf Campus und Straße zwischen behelmten, vermummten und bewaffneten Demonstranten und der Bereitschaftspolizei.52 Dabei lassen sich Radikalisierung und zunehmende Gewaltbereitschaft zunächst nicht als Reaktion auf systematische und übermäßige Repression staatlicher Stellen gegen studentischen Protest begreifen.53 Insoweit im Japan der Nachkriegszeit ein enges Geflecht institutioneller und informeller Beschränkungen für das Handeln von Sicherheitsbehörden ausgemacht werden kann,54 stellt der Ausbau von Polizeiapparat und entsprechender Anti-Aufstands-Gesetzgebung vielmehr eine Reaktion auf systematische Regelbrüche dar.55
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Siehe dazu Steinhoff, Student Conflict, aaO. (FN 35), S. 177 ff. Dieses in Japan uchi-geba genannte Phänomen, forderte im Verlauf der 1960er und 1970er zahlreiche Verwundete und sogar Tote, siehe zu den Ausmaßen Farrell, William R., Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 62. Festzuhalten ist, dass sich insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen zwei Gruppen desselben genealogischen Ursprungs und derselben „ideologischen Familie“, nämlich den Kakukyôdô - Nachfolgeorganisationen Kernfaktion Chûkaku-ha und Faktion Revolutionärer Marxisten Kakumaru-ha, so brutalisierten, das ab etwa 1971 von einem regelrechten Bruderkrieg die Rede sein kann, siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 177 ff. 51 Siehe dazu ebd., S. 110 ff und Dies., Die japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 812. 52 Siehe dazu etwa Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 131 f. und Steinhoff, Student Conflict, aaO. (FN 35), S. 184 ff. Gewalttätiger Protest ist dabei weder determinierend für die Bewegung der 1960er insgesamt (so aber Angel, Robert C., Japanese Terrorists and Japanese Countermeasures, in: Rubin, Barry (Hrsg.), The Politics of Counterterrorism: the Ordeal of Democratic States, Washington D.C. 1990, S. 38 f.), noch tritt er 1967 voraussetzungslos und plötzlich auf (so jedoch DeWitt Smith II, Japan’s First Student Radicals, aaO. (FN 16) S. 286 f.). 53 Wohl lassen sich vereinzelte Exzesse ausmachen, die allerdings Folgen für die Sicherheitsbehörden hatten, siehe dazu Katzenstein, Peter J.,/ Tsunjinaka, Yukata, Defending the Japanese State. Structures, Norms and the Political Responses to Terrorism and Violent Social Protest in the 1970s and 1980s, Ithaca und New York 1991, S. 60. Nachdem der regelmäßige Bruch sozialer Normen zur Taktik geworden war, trug die Etikettierung der Bewegung als Devianz zur weiteren Radikalisierung bei siehe dazu Steinhoff, Student Conflict, aaO. (FN 35), S. 208. 54 Siehe dazu Ithabashi, Isao/ Ogawara, Masamichi Leheny, David, Japan, in: Alexander, Yonah (Hrsg.), Combating Terrorism: Strategies of Ten Countries, Michigan 2002, S. 340 ff. 55 Siehe dazu Steinhoff, Student Conflict, aaO. (FN 35), S. 192. 50
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Gründe für die Zunahme von Militanz und konfrontativen Protestformen sind demnach eher in der Bewegung selbst zu suchen und können wohl durch das Zusammenspiel der Zunahme intrafaktioneller Gewalt,56 der Evaluation des Scheiterns regelkonformen Protests bei gleichzeitiger öffentlicher Anerkennung der vorgebrachten Belange, die eine Eskalation zu rechtfertigen schien,57 und der marxistisch beeinflussten, bestehende Zustände ablehnenden Gesellschaftsanalyse, die legitimen Protest von vorne herein in Relation zur Notwendigkeit von Revolution setzte.58 Reziprok verstärkend wirkte schließlich in Bezug auf alle genannten Aspekte der ständige Zwang zum Wettbewerb im faktionalisierten Spektrum der Bewegung, auch und gerade im Kontext der volatilen Allianzen zwischen Politsekten.59 Letzte Konsequenz der dargestellten Entwicklung war einerseits, dass Teile der Bewegung dazu übergingen, mit Guerillataktiken zu experimentieren und andererseits, dass die Bewegung immer mehr öffentliche Sympathien verlor. Während konfrontative Demonstrationen mit erklärten Zielen noch als Ausdruck von Hingabe an eine Sache gedeutet wurden, brachte die Öffentlichkeit für zunehmend auch ihren Alltag beeinträchtigende und vordergründig selbstzweckhafte Krawalle wenig Verständnis auf.60
3
Die „militärische“ Variante: Die Rote Armee (Faktion) Kyôsandô Sekigun(-ha)
Nach Desintegration des Kyôsandô überlebten Restkonstanten dieser Organisation zunächst nur in Form seines Regionalkomitees in der Kansai-Gegend (Kioto und Osaka), bis er von dort aus ab Mitte der 1960er als Neugründung wieder breitere Bedeutung erlangen konnte und sich schließlich 1969 nach Ausschluss aus dem Zusammenhang die Kansai-Gruppe als Rote Armee Faktion des Bundes der Kommunisten Kyôsandô Sekigun(-ha) in Form einer selbständigen Gruppierung konstituierte.61 Wie auch sein Vorgänger verfolgte der neugegründete Kyôsandô eine stark aktionistisch orientierte Linie, die sich maßgeblich auf die vordergründig leninistisch fundierte Analyse der Ampo-Kampagne durch die KansaiGruppe von 1961 stützte: Der revolutionäre Kampf müsse nicht auf die ökonomische Lage sondern die politische Auseinandersetzung fokussiert werden. Indem diese mittels aktiver offensiver Konfrontation mit der Staatsmacht zum Aufstand werde, könne die Bewegung zum Katalysator einer Avantgarde werden und die Revolution auslösen.62 Diese „Theorie 56
So wird die in den späten 1960ern typischen Ausstattung mit Plastikhelm, Vermummung und Stöcken zuerst in internen Auseinandersetzungen verwandt, siehe dazu Kokubun, Yutaka, The University Problem, in: Dowsey, Stuart J., Zengakuren, Berkeley 1970, S. 115 und Steinhoff, Student Conflict, aaO. (FN 35), S.182 und zum Gesamten Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 112. 57 Siehe dazu Steinhoff, Student Conflict, aaO. (FN 35), S. 194. 58 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN12), S. 72 f., sowie für ein konkretes Beispiel solcher Analyse Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S.104 f. 59 So Steinhoff, Student Conflict, aaO. (FN 35), S. 194. Siehe zu den ständig wechselnden Bündnissen McCormack, The student Left, aaO. (FN 48), S. 42. 60 Siehe dazu Steinhoff, Student Conflict, aaO. (FN 35), S. 192. 61 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 99 und 121. Wenn Matsunami, Who’s Who in Zengakuren, aaO. (FN 48), S. 251 f., und Sawara, Yukiko, The University Struggles, in: Stuart J. Dowsey, Zengakuren, Berkeley 1970, S. 184 diese Abspaltung vom sozialistischen Studentenbund Shagakudô herleiten, sind dies wohl synonyme Bezeichnungen. Der Shagakudô ging bereits in den 1950ern im Kyôsandô auf, so dass die verschiedenen Benennungen wohl terminologischen Präferenzen geschuldet sind. Die von Derichs verwandte Terminologie findet sich auch bei Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12) S. 86 und Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 726. 62 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S.105.
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der politischen Entwicklung“ wurde auch zur Grundlage für den Entschluss der Sekigun-ha, den offensiven bewaffneten Kampf in einer Phase relativer Schwäche der Bewegung und zunehmend effektiven Vorgehens der Polizei gegen Straßenkämpfe und deren Organisatoren aufzunehmen.63
3.1 Ideologische Determinanten In den eklektischen Begründungen der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes waren einige Ansätze angelegt, die spätere Entwicklungen der RA und ihrer Folgeorganisationen determinieren. Die aus Diskussionszusammenhängen um Shiomi Takaya, eine der zentralen Persönlichkeiten des Kyôsandô in Kansai, hervorgegangene ursprüngliche Linie der RA bestimmte unter Bezugnahme auf trotzkistische Traditionslinien in der japanischen Neuen Linken ihr revolutionäres Projekt international, nämlich als Teil weltweit simultan hervortretender revolutionärer Bewegungen im Kampf gegen den Imperialismus.64 Der Imperialismusbegriff der RA war entsprechend weit und bezog sich auch auf den japanischen Staat mit seinen internationalen Verflechtungen, so dass der Kampf für die Weltrevolution ebenso durch die Konfrontation in Japan selbst wie international geführt werden könne.65 Die internationale Situation der revolutionären Bewegung wurde ausgehend von einem DreiBlock-Schema, in dem „Arbeiterstaaten“, „entwickelte“ und „rückständige“ Länder unterschieden wurden, als vorrevolutionäre analysiert. Dabei könnten die Revolutionsherde im Trikont nur ihre volle Schlagkraft entfalten, wenn die progressiven Kräfte in den entwickelten Ländern in die Phase revolutionären Kampfes einträten und die Arbeiterstaaten ihre Rolle als Unterstützer dieser Bewegungen wahrnähmen.66 Darin enthalten waren zwar Anklänge an die foquistische Revolutionstheorie,67 mit der Abkehr von deren TrikontZentriertheit und Betonung der zentralen Rolle des Revolutionskampfs in den entwickelten Ländern jedoch auch deutliche Brüche und ein gewisser Elitismus, während gleichzeitig die Möglichkeit der revolutionären Intervention im internationalen Umfeld ideologisch untermauert wurde. Die Situation in Japan wurde als Übergangsperiode wahrgenommen, in der das Einführen offensiv-militanter Kampfpraktiken ein Abflauen der Konfrontationen verhindern könne, was den Aufbau der Avantgarde und das Übergehen zum tatsächlich revolutionären Kampf ermögliche. Das bereits erwähnte aktionistische Aufstandskonzept wurde analog zur internationalistischen Linie erweitert, indem von begrenzten Vorstufenaufständen die Sequenz über die globale Ausweitung und Vereinigung hin zur weltweiten Revolutionsfront als neuer „großer Taktik“ gespannt wurde.68 In der Betonung der Notwendigkeit des revolutionären Beispiels von Aktivismus und Voluntarismus, durch das der Massenkampf vorbereitet werden könne, finden sich eher Anklänge an anarchistische Gedanken als an die leni63
Siehe dazu Apter/ Nagayo, Against the State, aaO. (FN 28), S. 122 sowie Kitizawa/ Muto, Ichiyo, Ikarus fällt, aaO. (FN 23), S. 77 ff.. 64 Siehe dazu Steinhoff, Portrait of a Terrorist: An Interview with Kozo Okamoto, in: Asian Survey, Band 16 Nr. 9 (September 1976), S. 831 und Dies., Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 728 65 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 86. 66 Siehe dazu Kitizawa/ Muto, Ikarus fällt, aaO. (FN 23), S. 78. 67 Siehe dazu den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Band. 68 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 122 f. und Kitizawa/ Muto, Ikarus fällt, aaO. (FN 23), S. 78 f.
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nistischen Vorstellung von Avantgarde.69 Weiterhin war für die Ideologie der RA spezifisch, dass das Vokabular stark durch militärische Untertöne geprägt war, Mitglieder der Organisation wurden zu Soldaten der Armee, Aktionen zu Gefechten und dem „Feind“ wurde ausdrücklich der Krieg erklärt: „Wenn ihr das Recht habt, unsere Gefährten in Vietnam nach Belieben zu töten, haben auch wir das Recht euch nach Belieben zu töten.“70 Wenngleich aus der ex-post Betrachtung diese theoretisch wenig fundierte und vor allem auf die Notwendigkeit von Aktion abhebende Position als romantischer und gewaltverherrlichender Eskapismus beschrieben werden kann,71 entfaltete sie doch zunächst einige Attraktivität im radikaleren Teil der japanischen Szene.72
3.2 Aufstandslinie, Verhaftungen und Untergrund Ihr Konzept der Aufstandslinie präsentierte die RA der studentischen Bewegung in der vollkommen legalen, öffentlichen und damit auch polizeilich überwachten Versammlung, dem Gründungskonvent der nationalen Föderation der Universitätskampfkomitees Zenkoku Zenkyôtô am 5. September 1969 sowie in ihrer „Parteizeitung“ Sekigun. Diese Komitees, gegründet als Selbstorganisation nicht faktionsgebundener radikaler studentischer Aktivisten für die Universitätskämpfe, wurden zunehmend von den Politsekten kooptiert und bildeten mit ihren ideologisch nicht festgelegten aber aktionserfahrenen und -hungrigen Mitgliedern ein attraktives Rekrutierungspotential gerade für die RA und ihre regionale Erweiterung.73 Als erste eigenständige und auf dem Aufstandskonzept basierende Aktion wurden für den Oktober 1969 vollmundig der „Tokio-Osaka-Kioto-Krieg“ geplant und angekündigt, der mit den „Days of Rage“ der Weatherman-Fraktion der amerikanischen Students for Democratic Society in Chicago koordiniert werden sollte.74 Aufgrund der vorherigen Publizität konnte die Aufstandspolizei großflächige Razzien gegen bekannte RA-Mitglieder und ihre aus Knüppeln, Stahlrohren und Flaschen bestehenden Waffenlager auf Universitätscampussen im Vorfeld der Ereignisse durchführen, womit die „Kriege“ ähnlich den „Days of Rage“ auf relativ unbedeutende unkoordinierte Auseinandersetzungen begrenzt blieben.75 Die RA-Führungsebene zog daraus die Konsequenz, eine bessere Bewaffnung, Planung und Ausbildung ihrer “Soldaten“ sowie ein höheres Maß an Klandestinität in der Planung seien für erfolgreiche Aktionen notwendig. Eine Heimindustrie zur Herstellung 69
Siehe dazu Rubenstein, Richard E., Alchemists of revolution. Terrorism in the Modern World, New York 1987, S. 97 ff und Steinhoff, Portrait of a terrorist, aaO. (FN 64), S. 831. 70 Kyôsandô Sekigun-ha, Sensô sengen [Kriegserklärung], zitiert nach: Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 123. 71 Siehe dazu Asada, A left Within the Place of Nothingness, aaO. (FN 14), S. 18 sowie Box, Meredith / McCormack, Gavan, Terror in Japan. The Red Army (1969-2001) and Aum Supreme Truth (1987-2000), in: Critical Asian Studies, Band 36 Nr. 1 (2004), S. 91-112, 101. 72 Siehe dazu Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 729; Angaben über die Gruppengröße im Anfangsstadium schwanken zwischen 500-1000 Mitgliedern zuzüglich Unterstützerszene, ebd. S. 733, und etwa 400, von denen ca. die Hälfte Teil der kämpfenden „Zentralarmee“ gewesen sei, siehe Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S.90 und Matsunami, Who’s Who in Zengakuren, aaO. (FN 48), S. 251 f. 73 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 121, Kitizawa/Muto, Ikarus fällt, aaO. (FN 23), S. 80 f. 74 Siehe zu den „Days of Rage“ und den Weathermen den Beitrag von Ilona Steiler in diesem Band. 75 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 90 und Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 728.
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von Bomben wurde aufgebaut, ein Plan zur Geiselname des Ministerpräsidenten in einer Massenaktion gefasst, dessen politisches Ziel war, substantiierte Änderungen am Rückgabevertrag für Okinawa zu erzwingen, und hierfür ein Training für Mitglieder anberaumt, die nur darüber informiert wurden, dass etwas Großes bevorstehe.76 Gegenüber der bereits alarmierten Polizei genügten diese Sicherheitsmaßnahmen nicht, so dass während des besagten Trainings am Daibosatsu-Pass in einer Razzia im November 53 der militantesten Mitglieder festgenommen wurden und umfangreiches Beweismaterial sichergestellt werden konnte.77 Danach ging ein harter Kern der Gruppe unter hohem Fahndungsdruck vollständig in den Untergrund, während der größere Teil als legales, aber überwachtes Unterstützernetzwerk tätig blieb.78 Im Untergrund konzentrierten sich die Anstrengungen auf den Aufbau tragfähiger Kommando- und Kommunikationsstrukturen sowie die Beschaffung von Geldmitteln, die Weiterführung der Bombenwerkstätten und Möglichkeiten, an Schusswaffen zu kommen. Außer in der Frage der Schusswaffen war die RA dabei relativ erfolgreich, allerdings um den Preis, dass theoretische Standpunkte nur noch die Gefangenen veröffentlichten und jede Form dezidiert politischen Kampfes praktisch zum Erliegen kam.79
3.3 Organisations- und Soziostruktur Ausbildung einer spezifischen Organisationsstruktur wie Änderungen der sozialen Basis der RA hängen stark mit dem Übergang von einer zwar am radikalen Rand studentischer Bewegung angesiedelten, aber legalen und auf prinzipiell offenen Zugang ausgerichteten Politfaktion als Kyôsandô Sekigun-ha zur illegalen, abgeschlossenen und klandestin operierenden Sekigun zusammen.80 Zunächst übernahm die Sekigun-ha bekannte, aus der kommunistischen Tradition in leicht gewandelter Form in die Neue Linke Japans übernommene Organisationsmodelle mit Zentralkomitee, Sekretariat und Politbüro auf nationaler Ebene und regionalen wie lokalen Einheiten, die das selbe Muster nachbildeten, wobei die höhere Ebene die großen Linien bestimmte, die von den Subeinheiten in relativer Autonomie auszuführen waren.81 Die soziale Basis war bei aller proletarischen Rhetorik vorwiegend studentisch und dabei noch auf die A-Klasse-Universitäten zentriert, in der organisatorischen Hierarchie kommt ein deutlicher Elitismus zum Ausdruck. Führungspositionen blieben Studierenden der Eliteuniversitäten vorbehalten, mit abnehmender Wichtigkeit der Aufga76
Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 91 ff und Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 728. 77 Siehe dazu Kitizawa/Muto, Ikarus fällt, aaO. (FN 23), S. 81 und Sawara, The University Struggles, aaO. (FN 61), S. 192. 78 Siehe dazu Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 728 und 733 sowie dies., Three Women Who Loved the Left. Radical Woman Leaders in the Japanese Red Army Movement, in: Imamura, Anne E. (Hrsg.), Re-Imaging Japanese Women, Berkeley and Los Angeles 1992, S. 301-323, 306. 79 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S 102; Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 147, führt einen „politischen“ Anschlag der RA, einen Angriff mit einer Rohrbombe auf Bereitschaftspolizisten während einer Demonstration in Tokio, an, der etwa bei Kitizawa/ Muto, Ikarus fällt, aaO. (FN 23), S. 83 dezidiert nicht der RA zugeschrieben wird. 80 Übergänge und Benennungen sind fließend, siehe Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 724. Zum besseren Verständnis wird jedoch eine Dichotomisierung in die beiden Begriffe vorgenommen, was vertretbar erscheint. 81 Siehe dazu Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 726 und 730.
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ben wurden auch zweitklassige Hochschulen, Oberschüler oder gar proletarische Jugendliche berücksichtigt.82 Positionen in Theoriebildung und Kampf waren Männersache, Frauen bildeten das organisatorische Rückrat der Faktion.83 In geschlechtsspezifischer Hinsicht wurde diese Arbeitsteilung auch im Untergrund zunächst beibehalten, während Frauen das Gros der Unterstützungsorganisation Revolutionsfront Kakumei Sensen stellten, die sich mit Logistik, legaler Geldbeschaffung und Gefangenenhilfe befasste, waren Männer in den „kämpfenden Einheiten“ der Sekigun bestimmend. Organisatorisch bildete sich im harten Kern eine hierarchische Aufteilung in zentrale Armeeführung und Partisaneneinheiten als regionale Unterabteilungen heraus.84 Kontaktstrukturen wurden durch ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem mittels Boten und vorher abgesprochenen Telefonkontakten aufrechterhalten, mit dem Anweisungen der jeweils höheren Ebene durch Unterstützer an die untergeordneten Einheiten weitergegeben wurden. Dabei blieb den Partisaneneinheiten nur noch eine Art Arbeitsgruppenautonomie in der konkreten Umsetzung der detaillierten Anweisungen.85 Die Fortschritte der praktischen Planung wurden regelmäßig auf dem gleichen Weg nach oben gemeldet, jede Aktion war einer sôkatsu genannten minutiösen Evaluierung unterworfen, deren Ziel die beständige Verbesserung und deren ideologische Übersetzung war. Individuelle Stellung der Mitglieder im organisatorischen Gefüge hing weniger von sozialem Status und ideologischer Festigkeit ab als von praktischen Fertigkeiten.86
3.4 Die Yodo-go-Entführung als Wendepunkt Nach den Festnahmewellen 1969 wurde, ohne die Konzeption des Vorstufenaufstandes aufzugeben, eine neue Spielart des bis dato rein verbalen Internationalismus eingeführt, das Konzept der internationalen Aktionsbasen. Als zentrales Hemmnis beim Übergang zum Angriff auf den Staat sah die RA-Führung in kritischer Analyse des bisherigen Aktivismus das Fehlen entsprechender praktischer Fertigkeiten, die allerdings in den „Arbeiterstaaten“ erworben werden könnten, um dann den Kampf auf einem höheren Konfrontationsniveau führen zu können.87 Als mögliche Basis kam insbesondere Nordkorea in Betracht, es begann die minutiöse Planung von „Operation Phönix“, einer Flugzeugentführung als Weg zur Kontaktaufnahme, die als Transportmittel dienen, ein Fanal an die Weltöffentlichkeit setzen und den potentiellen Kooperationspartner von der Ernsthaftigkeit der japanischen Revolutionäre überzeugen sollte.88 Eine neunköpfige Gruppe unter Beteiligung von Führungskadern der RA entführte am 31. März 1970 die JAL Maschine Yodo-go auf einem Inlandsflug mit der Bewaffnung, die zur Verfügung stand: Samuraischwerter und Rohrbomben.89 Nach einigen Turbulenzen landeten die Entführer mit der Maschine in Pyöngyang. Während die Sekundärziele erreicht wurden, verfehlte die Kontaktaufnahme jedoch ihre primäre Intention, indem die nordkoreanische Führung nicht bereit war, die RA-Kader 82
Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 94 und Parry, Terrorism, aaO. (FN 11), S. 434. Siehe dazu Steinhoff, Three Women Who Loved the Left, aaO. (FN 78), S. 301 und 316f. Siehe dazu Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 819 f. 85 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 95. 86 Siehe dazu Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 730 ff und 736 ff. 87 Siehe dazu Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 812. 88 Siehe dazu Mickolus, Transnational Terrorism, aaO. (FN 8), S. 170. 89 Siehe dazu Dowsey, The Future..?, aaO. (FN 9), S. 227. 83 84
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militärisch auszubilden und ihre politische Linie zu unterstützen.90 Vielmehr wurde die Gruppe umerzogen und später in den nordkoreanischen Sicherheitsapparat eingebunden, wobei sie an der Ausbildung von Agenten und der Entführung japanischer Staatsbürger teilnahmen.91 Für die in Japan verbliebenen Mitglieder der RA stellte die Entführung eine Zäsur dar, bei nochmals zunehmenden Repressionsdruck rief das erfolglose Rekurrieren auf die Linie der internationalen Aktionsbasen zwei diametral entgegengesetzte neue Strategien hervor: Vorbereitung der Weltrevolution durch revolutionären Kampf in Japan einerseits und vollständige Internationalisierung andererseits.
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Die Revolution frisst sich selbst: Die Vereinigte Rote Armee Rengô Sekigun
Nach dem Wegfall der Kader, die mit der Yodo-go nach Nordkorea gelangt waren, und zahlreichen Verhaftungen von Mitgliedern der Führungsebene gelangte Mori Tsuneo von einer Position als einfacher „Soldat“ an die Spitze der RA. Unter seiner Führung professionalisierte sich die Organisation, führte eine Reihe erfolgreicher Überfälle zur Geldbeschaffung durch und fokussierte ihr Projekt bei nomineller Beibehaltung der internationalen Strategie auf den Aufbau einer schlagkräftigen Stadtguerilla in Japan selbst, wobei Fahndungsdruck und Festnahmen die RA beständig dezimierten.92 Eine zentrale Frage, die angesichts strenger Waffenkontrolle schwierige Beschaffung von Schusswaffen, blieb jedoch ungelöst, so dass die Kooperation mit einer anderen linksextremistischen und gewaltbereiten Faktion, die diesen Schritt bereits vollzogen hatte, attraktiv erschien. Diese fand sich in der eher dem maoistisch orientierten Flügel der Bewegung zugehörigen „Kommunistischen Partei Japans/Revolutionärer Linker Flügel“ (Kakusa) mit ihrer Vorfeldorganisation „Gemeinsame Tokio-Yokohama Front gegen den Ampo“ (Keihin Ampo Kyôtô).93 Kakusa verfolgte eine ähnliche Praxis wie die RA und sah sich nach zahlreichen Festnahmen zum Gang in den Untergrund gezwungen, wofür zwar Waffen aus einem Überfall, aber keine ausreichenden Geldmittel zur Verfügung standen.
4.1 Ideologische und organisatorische Determinanten Die spezifische Ideologie der Kakusa unterschied sich in zentralen Punkten deutlich von derjenigen der RA, und ihre soziale Basis fand sich vor allem bei Studierenden der technischen Hochschulen in Yokohama und Nagoya, die wiederum oftmals aus der Arbeiterklasse stammten. Ihre Ausrichtung war eher maoistisch, und zwar sowohl in Bezug auf die nationale Ausrichtung des Kampfes, den dezidierten Antiamerikanismus als auch hinsichtlich der Strategie, die auf den Aufbau ländlicher Guerilla-Basen abzielte. Zu diesem Zweck hatte sich der dezimierte harte Kern ab Mitte 1971 mit ehemaligen Mitgliedern ihrer Unter90
Siehe dazu Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 732. Siehe dazu Steinhoff, Kidnapped Japanese in North Korea: The New Left Connection, in: The Journal of Japanese Studies, Band 30 Nr. 1 (2004), S. 123-142, 132 ff. 92 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 99 ff. 93 Vielfach wird zwischen Kakusa und Keihin Ampo Kyôtô nicht unterschieden und der Name des legalen Zweiges für die gesamte Organisation verwandt. Vorliegend wird jedoch der Darstellung bei Derichs, Die japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), aaO. (FN 1), S. 809 und 813 sowie Steinhoff, Three Women Who Loved The Left, aaO. (FN 78), S. 301 und 321 gefolgt. 91
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stützergruppe in die japanischen Alpen zurückgezogen.94 Weiterhin beanspruchte die Gruppe, feministisch zu sein, allerdings derart, dass Frauenbefreiung erst nach der erfolgreichen Revolution eintreten könne, weshalb Frauen in durchaus traditionellen Funktionen für den Sieg der revolutionären Sache zu arbeiten hätten. Der Aufstieg der ehemaligen Pharmazeutin und späteren Vollzeitaktivistin Nagata Hiroko an die Spitze des Zentralkomitees von Kakusa ist demnach weniger eine Folge deren „marxistisch-feministischer“ Ausrichtung als vielmehr zahlreicher Verhaftungen von Mitgliedern der Gruppe, darunter auch der Führung.95 Auch Moris Sekigun war zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme auf einen kleinen Kern mit stark dezimiertem Unterstützerumfeld zusammengeschmolzen, so dass beide Gruppen nur teilweise aus erfahrenen Untergrundkämpfern bestanden, als sie sich trotz der ideologischen Differenzen vorwiegend wegen praktischer Erwägungen zur Zusammenführung der beiden Gruppen entschlossen.96 Nach einigen nur lose koordinierten Überfällen und Angriffen auf Polizeistationen begann die so entstehende VRA ihre dezidiert gemeinsame Tätigkeit mit einem langfristigen Trainings- und Vereinigungstreffen im Dezember 1971 in der Abgeschiedenheit der Berge, gleichermaßen um die unterschiedlich erfahrenen Mitglieder auf einen Stand zu bringen, etwa im Gebrauch von Schusswaffen, und die divergierenden ideologischen Basen zu verschmelzen.97 Mori konnte mit seiner Gruppe trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit die Oberhand behalten, wobei sich dies wohl mit seiner Fähigkeit erklären lässt, aus theoretischen Versatzstücken ein „ideologisch korrektes“ Erklärungsmuster für die jeweilige Situation zu entwickeln, Nagata wurde seine Stellvertreterin.98 Inspiriert durch kollektive Selbstkritiksitzungen, die in der Kakusa bereits vor der Vereinigung praktiziert wurden und Eingang in die Traingsnachbereitung der VRA fanden, und die Tradition von sôkatsu in der neuen Linken konstruierte er ein kyôsanshugika genanntes, in etwa mit „Kommunisierung“ oder „kommunistische Transformation des Individuums“ übersetzbares, ideologisches Konstrukt. Jedes Mitglied hatte sich einem Prozess zu unterwerfen, in dem seine bourgeoisen Tendenzen im Kollektiv kritisiert wurden, um sie anschließend individuell zu bekämpfen und so zum besseren Revolutionär zu werden. Dabei war nicht bestimmt, was bourgeoises Verhalten oder revolutionäre Disziplin im Einzelnen ausmache und wie eine individuelle Verbesserung stattzufinden habe, trotzdem unterwarfen sich die Anwesenden dieser Anforderung.99
4.2 Die kurze Praxis der VRA und ihre Nachwirkungen Mori, der Deutungshoheit über die kritischen Begriffe des kyôsanshugi-ka hatte, war mit den langsamen Fortschritten und den Ergebnissen der individuellen Verbesserung nicht zufrieden, so dass bald auch körperliche Strafen Teil des kyôsanshugi-ka wurden, angesichts der gewalttätigen Rhetorik und Praxis beider Gruppen kein allzu großer Schritt. Das Zusammenspiel der durch die kollektiven Kritik- und Bestrafungssitzungen ausgelösten Gruppendynamik in Verbindung mit der unbedingten Folgebereitschaft sowie der abge94 Siehe dazu Steinhoff, Patricia G., Death by Defeatism and Other Fables: The Social Dynamics of the Reng Sekigun Purge, in: Takie Sugiyama Lebra (Hrsg.), Japanese Social Organization, Honolulu 1992, S. 195-224, 196. 95 Siehe dazu Steinhoff, Three Women who Loved the Left, aaO. (FN 78), S. 307. 96 Siehe dazu Box/ McCormack, Terror in Japan, aaO. (FN 71), S. 97. 97 Siehe dazu Steinhoff, Death by Defeatism, aaO. (FN 94), S. 196 98 Ebd., S. 197 f. 99 Siehe dazu Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 814 ff.
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schiedenen und abgekapselten Lage der Gruppe ließ die Situation eskalieren.100 Im Prozess der Bestrafung zur Verbesserung kamen mehr als zehn Mitglieder der VRA aufs Grausamste zu Tode, erschlagen, erstochen oder in der Kälte des Bergwinters ausgesetzt erfroren oder verblutet, wobei diese Todesfälle als Defätismus angesichts der Erkenntnis individueller Nichtrevolutionierbarkeit ideologisch wegerklärt wurden.101 Durch Hinweise der lokalen Bevölkerung alarmiert, konzentrierte die Polizei Fahndungsaktivitäten auf das Gebiet, in dem sich die VRA in wechselnden Berghütten aufhielt und konnte Mori und Nagata in der Nähe eines aufgelassenen Schlupfwinkels festnehmen.102 Die restliche Gruppe gelangte danach auf einer verzweifelten Flucht über die Berge in den Wintersportort Karuizawa. Während ein Teil dort verhaftet wurde, nahm der andere eine Geisel und verbarrikadierte sich in einem Berghotel. Nach einer zehntägigen, live im Fernsehen übertragenen Belagerung durch die Polizei, in deren Verlauf zwei Polizisten und ein Zivilist den Tod fanden, wurden die Reste der VRA am 28. Februar 1972 lebend gefangen genommen und ihre Geisel gerettet.103 Bald darauf kamen auch die Ereignisse des kyôsanshugi-ka ans Licht und die Toten wurden gefunden, was in der Bevölkerung und insbesondere in der außerparlamentarischen Linken einen profunden Schock auslöste und die neue Linke insgesamt ein Gutteil der noch verbliebenen Sympathien kostete.104 In der neuen Linken wurde das katastrophale Scheitern der VRA vornehmlich mit deren unrichtiger, einseitig auf „militärische“ Optionen rekurrierender Revolutionstheorie erklärt, eine prinzipielle Ächtung des bewaffneten Kampfes fand nicht statt. Nach einer kurzen Lähmungsphase ließ sich denn auch eine Zunahme von Anschlägen verzeichnen, die einerseits von den neu gegründeten „nichtöffentlichen“ Einheiten verschiedener Faktionen, andererseits von nichtaffiliierten, autonom agierenden Gruppen von Linksextremisten („Schwarzhelmfaktionen“) ausgeführt wurden.105 Eine weitere Konsequenz war, dass eine Gruppe von Kadern der Sekigun, die seit Beginn 1971 in den Libanon gesickert war, sich als Organisation verselbständigte und die Notwendigkeit sah, selbst zu Aktionen überzugehen.106
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Der revolutionäre Weltkrieg wird erklärt: Die Japanische Rote Armee Nihon Sekigun
Moris Führungsanspruch in der RA wie seine Linie des revolutionären Kampfes in Japan waren von vorne herein nicht unumstritten, insbesondere eine Gruppe um Shigenobu Fusako vertrat weiterhin die Linie internationaler Aktionsbasen und sah den Fehler der „Aktion Phönix“ in der Auswahl der Gastlandes wie ungenügenden vorherigen Absprachen.107 Shigenobu war aus einfachen Verhältnissen kommend früh ins Arbeitsleben eingetreten und erst als Abendstudentin der Meji-Universität in Kontakt zum neugegründeten Kyôsandô gekommen, in dem sie bald wichtige organisatorische Aufgaben wahrnahm und nach der 100
Siehe dazu Steinhoff, Death by Defeatism, aaO. (FN 94), S. 200 und 205 f. Ebd., S. 208 ff. Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S.17 f. 103 Siehe dazu Nur Gewehre, aaO. (FN 14), S. 114. 104 Siehe dazu Kitizawa/ Muto, Ikarus fällt, aaO. (FN 23), S. 87. 105 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 147 ff und 158 ff. 106 Siehe dazu ebd., S. 817 und Steinhoff, Three Women Who Loved the Left, aaO. (FN 78), S. 315. 107 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 122. 101 102
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Spaltung bei Sekigun-ha verbleibend nach und nach eine zentrale Rolle in der Revolutionsfront einnahm. Nach Aufbau des Kommunikations- und Logistiknetzwerkes der illegalen Sekigun erlangte sie zunehmend eine Position, aus der sie ihre zunehmend kritische Haltung zur Führung artikulieren konnte und Unterstützung bei anderen Mitgliedern zentraler Gremien fand. Zunächst als Teil eines von der Führung beauftragten Komitees, nach Moris Aufstieg auf eigene Faust handelnd, konnte sie Kontakte zur Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) aufbauen.108 Aus der säkularen Bewegung Arabischer Nationalisten 1967 hervorgegangen, war die PFLP als pragmatische marxistische Organisation im palästinensischen Spektrum mit der PLO verknüpft und wegen ihrer Expertise in terroristischen Aktionen, ihrer territorialen Basis im Libanon wie ihrer dezidiert internationalistischen Ausrichtung ein attraktiver Bündnispartner.109 Formal bestätigt wurde die Verbindung durch die Ausreise Shigenobus mit Okudaira Takeshi in den Libanon und den Beginn ihrer Zusammenarbeit mit der PFLP in Beirut im Februar 1971.110
5.1 Rekrutierungsstrategien, organisatorischer Aufbau und Ideologie Der Kern der internationalen Zelle der RA im Libanon bestand demnach wohl zunächst aus zwei ihrer Mitglieder, Shigenobu und Okudaira.111 Während Okudaira sich unmittelbar nach der Ankunft in ein Ausbildungslager der PFLP begab, um zum Guerilla zu werden, baute Fusako eine Basis für die Verbindung mit deren politischer Führung auf, drehte zu Rekrutierungszwecken den Film „Sekigun - PFLP: Weltkriegserklärung“ mit und pflegte die Kontakte in die Heimat. Über die Zirkel, in denen die Aufführung des genannten Films in Japan organisiert wurden, gelangten nach und nach weitere Mitglieder in den Nahen Osten, so dass am Vorabend des Lod-Massakers, nach dessen Ausführung die Bezeichnung JRA verwandt wurde, bereits ein Kreis ausgebildeter japanischer Terroristen bereitstand.112 108
Wie dieser Kontakt zu Stande kam, wird unterschiedlich dargestellt. Nach Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 122 geschah die Kontaktaufnahme in Japan, entweder durch bereits bestehendes humanitäres Engagement im Nahen Osten von japanischer Seite oder einen Emissär der PFLP, der Tokio besuchte. Nach Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 816 ergab sich die Verbindung über Freunde Shigenobus in Paris. Müller, Japans linksradikale Ronin, aaO. (FN 10) S. 109 vertritt, wie andere eher journalistische Beiträge zur JRA die These, der Kontakt sei durch eine Nordkorea-Reise Habaschs entstanden, gibt dann aber im gleichen Beitrag eine nochmals abweichende Erklärung (ebd. S. 112). 109 Siehe dazu Hurni, Ferdinand, Terror im Kampf um Palästina und Israel, in: Verlag Neue Zürcher Zeitung (Hrsg.), Blutspur der Gewalt. Bilanz eines Jahrzehnts des Terrorismus, Zürich 1980, S. 85-107, 99f. und SkeltonRobinson, Im Netz verheddert, aaO. (FN 3), S. 936 ff. 110 Auch hierzu existieren verschiedene Versionen. Während Steinhoff, Three Women Who Loved the Left, aaO. (FN 78), S. 315, statuiert, Fusako habe aufgrund von Vorstrafen einen Reisepass nur durch Heirat mit dem polizeilich nicht registrierten Aktivisten Okudaira Takeshi erhalten können und sei mit ihm gereist, ohne auf ein Placet der Organisation zu warten, bestätigt Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 123 zwar die Reisemodalitäten, jedoch sei in letzter Minute das Einverständnis der RA erteil worden. Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 141, sowie Dies., Die Japanische Rote Armee, S. 813, widerspricht dem und beschreibt das Paar als ZK-Mitglieder und offizielle Emissäre der RA. Skelton-Robinson, Im Netz verheddert, aaO. (FN 3), S. 844 f., gibt unter Berufung auf einen Spiegel-Artikel (Weißer Kreis, in: Der Spiegel vom 05.06.1972, Nr. 24/72, S. 82 ff) an, Fusako sei als Teil eines humanitären Teams gereist. 111 Siehe dazu Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 821. Müller, Japans linksradikale Ronin, aaO. (FN 10), S.112, geht demgegenüber davon aus, dass Shigenobu im Libanon bereits einen Kern ausgebildeter Genossen antraf. 112 Siehe dazu Steinhoff, Three Women Who Loved the Left, aaO. (FN 78), S. 314 f. Mindestens einer der LodAttentäter, Okamoto Kôzô, wurde über die „Filmgruppe“ rekrutiert.
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Ein anderer Weg der Rekrutierung war die Verbreitung von Flugblättern in Japan, in denen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme genannt wurden; wie erfolgreich diese waren lässt sich nicht genau feststellen, dokumentiert ist lediglich ein Fall.113 Um in der dortigen japanischen Gemeinde neue Anhänger zu werben und den Aktionsradius zu erweitern, wurde eine europäische Zelle der JRA in Paris aufgebaut, jedoch vor Aktivierung völlig zerschlagen.114 Erweiterung und Erhaltung der personellen Basis schien über die gesamte Lebensspanne der JRA hinweg zentrales Problem zu sein, während zwar teilweise das Fortbestehen einer Unterstützungsbasis in Japan berichtet wurde, erscheint es doch plausibler, dass sich die JRA mit Verortung im Nahen Osten von den dortigen Entwicklungen weitgehend abgekoppelt hatte.115 Jedoch war sie erstaunlich erfolgreich bei der Freipressung gefangener Terroristen aus den eigenen Reihen wie aus Vorgängerorganisationen und erst in den 1970ern entstandenen Gruppen, wodurch sich ab Mitte der 1970er ein relativ konstanter Bestand von 25-35 harten Mitgliedern halten ließ.116 Angaben über den organisatorischen Aufbau der JRA sind rar, es scheint sich jedoch in gewissem Maße die schon in der RA anzutreffende Aufteilung in zwei Arme wiederzufinden. Dem mehr oder weniger legalen Politischen Komitee, dass sich mit Öffentlichkeitsarbeit, politischer Analyse und organisatorischen Fragen befasste, stand wohl ein eher im Untergrund agierendes Militärisches Komitee gegenüber, bestehend aus logistischen Einheiten und Kommandoeinheiten.117 Letztere wurden von der PFLP trainiert und dienten vereinzelt auch in deren regulären Kampfeinheiten, etwa während der Abwehr des israelischen Einmarschs im Libanon 1982. Anders als in der RA, in der sich die „Revolutionsfront“ den Anforderungen der „Armee“ unterstellte, scheint das von Shigenobu geleitete Politische Komitee die zentrale Rolle gespielt und, abgesehen von operativen Details, auch Aktionen der Kommandoeinheiten geplant zu haben.118 Von besonderer Bedeutung für die Persistenz der JRA im Nahen Osten war das Verhältnis zu ihren Verbündeten, maßgeblich der PFLP, die in den ersten Jahren durch starke Dependenzen gekennzeichnet war, Shigenobu scheint auch in deren Apparat eingestiegen zu sein.119 Die europäische Zelle stand in Verbindung zum Netzwerk „Außenoperationen“ der PFLP mit Stützpunkt in Paris um Michel Moukharbel und Ilich Rámirez Sánchez („Carlos“), das mit einer begrenzten Autonomie agierte und zahlreiche Kontakte zu europäischen terroristischen Organisationen unterhielt.120 In den 1980er Jahren legten einige Indizien nahe, dass die JRA zur Ausweitung
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Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 160. Siehe dazu Dobson/ Payne, The Carlos Complex, aaO. (FN 3), S. 178 f Cliford, William, Crime Control in Japan, Lexington 1976, S. 25 gibt Schätzungen der japanischen Polizei wieder, nach denen 1974 etwa 300 Personen aktiv mit der JRA sympathisierten; Nach Steinhoff, Patricia G., Kidnapped Japanese In North Korea, aaO. (FN 91), S. 128 f., besteht eine Unterstützungsorganisation fort, die sich aber vor allem mit Hilfe für die Gefangenen aus RA und VRA befasst und sporadisch erscheinende Texte der JRA publiziert. 116 Siehe dazu Steinhoff, Hijackers, Bombers and Bank Robbers, aaO. (FN 6), S. 733 ff. 117 Siehe dazu Mickolus, Transnational Terrorism, aaO. (FN 8), S. 512 und Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S.164. 118 Siehe dazu Dobson/ Payne, The Carlos Complex, aaO. (FN 3), S. 182 und Steinhoff, Three Women Who Loved the Left, aaO. (FN 78), S. 315. 119 Siehe dazu Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 822. 120 Siehe dazu Skelton-Robinson, Im Netz verheddert, aaO. (FN 3), S. 865 ff. 114 115
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ihrer Basis auch mit Libyen in Verbindung stand und die in dieser Zeit verübten Anschläge, wenn nicht gar Auftragsarbeiten, so doch mit libyschen Stellen koordiniert waren.121 Die Gruppe bestand größtenteils aus den ehemaligen Mitgliedern der Studentenbewegung sowie den wenigen marginalisierten Nichtstudierenden, wie etwa jungen Arbeitern oder Universitätsabbrechern, die schon die RA gebildet hatten. Ideologisch vollzog sich sukzessive ein Wandel weg von den ursprünglichen internationalistischen Überzeugungen, in denen die JRA, als Teil einer internationalen Bewegung gesehen, die Revolution in Japan auch durch das Voranbringen des Kampfes auf der internationalen Bühne fördern könne, hin zur Übernahme palästinensisch-nationalistischer Standpunkte.122 Der Kampf gegen den Imperialismus wurde nicht mehr als Teil des Kampfes für die Weltrevolution, sondern gegen die Feinde des palästinensischen Volkes definiert, Antiamerikanismus und Antizionismus zu bestimmenden Bezugsgrößen.123 Das Ausmaß ideologischer Beliebigkeit und der Verlust eines eigenständigen revolutionären Projekts wurden in den 1980er Jahren so besonders deutlich.
5.2 Aktionismus der 1970er Ihr Debüt auf der Bühne des internationalen Terrorismus gab die JRA mit einem Attentat, das im Auftrag der PFLP gegen ein israelisches Ziel ausgeführt wurde, Art und Weise der Durchführung waren jedoch in Zusammenarbeit mit den Japanern selbst geplant worden. Von Rom kommend eröffneten drei Attentäter, unter ihnen Okudaira, in der Ankunftshalle des Flughafens Lod von Tel Aviv mit Maschinenpistolen das Feuer auf wartende Passagiere und warfen Handgranaten in die Menge, das Attentat forderte 26 Menschenleben und fast 80 Verwundete. Die drei, neben Okudaira Yasuda Yasuyuki und Okamoto Kôzô, waren übereingekommen, sich wie in der Ausbildung erlernt nach erfolgtem Anschlag mit Handgranaten selbst in die Luft zu sprengen. Während Okudaira und Yasuda bei dem Attentat ums Leben kamen, überlebte Okamoto, wurde verhaftet und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.124 Damit führte die JRA das Selbstmordattentat in das taktische Kalkül des modernen nahöstlichen Terrorismus ein.125 Selbst rekurrierte sie nie wieder hierauf, was nahe legt, dass eben keine kulturell vorgeprägte japanische Tradition des Opfertodes ausschlaggebend war, sondern vielmehr der Wille, nach den katastrophalen Ereignissen um die VRA die eigene Ernsthaftigkeit und Hingabe an die revolutionäre Sache zu demonstrieren.126 Die nächsten beiden Aktionen gemeinsamer Kommandos von JRA und PFLP, eine Flugzeugentführung zur Befreiung Okamotos und Lösegelderpressung 1973 und eine Sabotageaktion in Singapur zur Unterstützung des „vietnamesischen Volkes“ 1974, konnten 121 Siehe dazu Hoffman, Bruce, Terrorismus – der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt, Frankfurt am Main 1999, S. 251 ff und Pluchinsky, Dennis A., Middle Eastern Terrorist Activity in Western Europe in the 1980s: A Decade of Violence, in: Yonah Alexander und Dennis A. Pluchinsky (Hrsg.), European Terrorism Today & Tomorrow, Washington D.C. u.a. 1992, S. 1- 41, 20f. 122 Siehe dazu Box/ McCormack, Terror in Japan, aaO. (FN 71), S. 97. 123 Sie dazu Rubenstein, Alchemists of Revolution, aaO. (FN 69), S.118 ff. 124 Siehe dazu Mickolus, Transnational Terrorism, aaO. (FN 8), S. 321 ff. 125 Siehe dazu Daase, Christopher, Die RAF und der internationale Terrorismus, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus. Band 2, Hamburg 2006, S. 905-929, 920. 126 Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 227 f.
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zwar operativ gerade noch gerettet werden, verfehlten aber die avisierte Wirkung.127 Nach Aufdeckung der europäischen Zelle und Verhaftung des zentralen Verbindungsmannes 1974 besetzte ein reines JRA-Kommando mit logistischer Unterstützung des „Carlos“Netzwerkes die französische Botschaft in Den Haag und erreichte die Freilassung des Inhaftierten wie eine Lösegeldzahlung.128 Mit der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Kuala Lumpur 1975 und der Entführung einer JAL-Verkehrsmaschine nach Dacca 1977 gelang es der JRA, den japanischen Staat zur Zahlung von 6 Mio. US Dollar und zur Freilassung insgesamt elf inhaftierter Gesinnungsgenossen zu zwingen, Mitglieder von JRA, RA, VRA und anderen japanischen terroristischen Gruppierungen sowie „soziale Gefangene“.129 Demnach war der Terrorismus der JRA in den 1970ern mit Ausnahme der Vorfälle von Lod und Singapur vorwiegend selbstzweckhaft, aber in dem Maß erfolgreich, wie es gelang, die Nachgiebigkeit des Gegners realistisch einzuschätzen, durch das glaubwürdige Postulat der Gefangenbefreiung die interne Loyalität der JRA zu stärken und die nahöstlichen Kontakte wie die Rückzugsbasis effektiv zu nutzen.
5.3 Aktionismus der 1980er Nach den großteils erfolgreichen Aktionen der 1970er setzte eine Ruhephase ein, die wohl der (Re-)Integration der Freigepressten in die JRA, der Evaluierung der bisherigen Praxis und der Neubestimmung des gemeinsamen Standpunktes der JRA diente, die sich zusehends in die regionalen Konflikte des Nahen Ostens verwickelt sah.130 Deutlich wurde dies insbesondere im Zuge der israelischen Invasion im Libanon 1982, die zumindest ex post auch mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus begründet wurde,131 als sich die JRA mit der Niederlage der verschiedenen palästinensischen Organisationen zu Rückzug und Aufgabe ihrer Basis im libanesischen Bekaa-Tal gezwungen sah. Ein Großteil der Gruppe überlebte organisatorisch wohl mit palästinensischen Einheiten in Tripoli und konnte nach dem israelischen Rückzug ab etwa 1984 wieder ins Bekaa-Tal einsickern, weiterhin wird über rege Reisetätigkeit einzelner Mitglieder der JRA in diesem Zeitraum berichtet.132 Öffentliche Äußerungen der JRA in diesem Zeitraum waren widersprüchlich und ließen Konfusionen über den richtigen Kurs erkennen. So wurde 1981 öffentlich über die Zukunft des bewaffneten Kampfes nachgedacht, um ihn 1983 für beendet zu erklären und ihn kurz darauf mit der Aufforderung an extremistische Kreise in Japan, der JRA beizutreten, verbal wieder aufzunehmen.133 Mit Anschlägen auf japanische, amerikanische und kanadische diplomatische Einrichtungen in Jakarta am 14.05.1986 anlässlich des G7-Gipfels in Tokio, bei denen selbstgebaute Raketen und eine Autobombe Verwendung fanden, meldete sich die JRA unter dem Pseudonym „Anti-Imperialistische Internationale Brigaden“ (AIIB) zurück, keiner dieser 127
Siehe dazu Mickolus, Transnational Terrorism, aaO. (FN 8), S. 398 ff und S. 432. Siehe dazu Dobson/ Payne, The Carlos Complex, aaO. (FN 3), S. 180 f. und Smith, Colin, Carlos. Portrait of a Terrorist, Worcester und London 1976, S. 172 ff. 129 Siehe dazu Derichs, Japans Neue Linke, aaO. (FN 1), S. 142 f. 130 Siehe dazu Farell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 196 ff. 131 Siehe dazu Sharon, Ariel, It's Past Time to Crush The Terrorist Monster, The New York Times vom 30.09.1986, Sektion A, S. 35. 132 Siehe dazu Steinhoff, Three Women Who Loved the Left, aaO. (FN 78), S. 315. 133 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 198 f. 128
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Anschläge forderte Verletzte.134 Ähnliche Attentate fanden in den Jahren 1987 und 1988 gegen US-Einrichtungen in Spanien und Italien statt, begründet wurden sie mit Rache für das US-Bombardement auf Libyen oder allgemein antiimperialistischen Motiven, nur einer dieser Anschläge forderte Todesopfer, die anderen zeitigten keinen nennenswerten Schaden.135 Ein in diesem Zusammenhang ebenfalls geplanter Anschlag in den USA wurde durch die Festnahme von Kikumura Yu in der Vorbereitungsphase verhindert.136 In den 1980er versuchte die JRA demnach eine auch in der Benennung zum Ausdruck kommende Neupositionierung ihrer Strategie hin zum direkten Angriff auf Symbole des Imperialismus, jedoch wurde der Aktionismus beliebig und größtenteils ineffektiv.
5.4 Organisatorischer Zerfall der Japanischen Roten Armee Nach dem Anschlag auf einen US-Offiziersclub in Neapel 1988 führte die JRA weder unter diesem Namen noch unter einem Pseudonym bewaffnete Aktionen durch, der Zerfall hat aber wohl schon früher eingesetzt. Nach den konfusen programmatischen Äußerungen der frühen 1980er Jahre unternahm die Gruppe Anstrengungen in Südostasien und insbesondere in Japan, neue Netzwerke aufzubauen, was durch Festnahmen in Japan und auf den Philippinen sowie die dabei gefundenen Notizen belegt ist, über die Vorbereitungsphase kamen die Pläne aber nicht hinaus.137 Die Grenzen der Möglichkeiten im Libanon wie im gesamten Nahen Osten mit der notwendig engen Anbindung an das Schicksal von Organisationen wie der PFLP ließen die JRA offenbar auch wieder Kontakte zu den Yodo-go Entführern in Nordkorea suchen. An sich schon eine Bankrotterklärung, hatte doch die JRA mit diesem Teil der Bewegung offiziell gebrochen, führten solche Kontakte zu keinem greifbaren Ergebnis.138 Daraus lässt sich ableiten, dass der JRA spätestens ab Mitte der 1980er klar war, dass ihr Projekt eines ausschließlich vom Nahen Osten aus operierenden bewaffneten Kampfes mit internationalem Geltungsanspruch an seine Grenzen gekommen war. Selbst im Nahen Osten wurde ab Ende der 1980er das Umfeld für internationale Terroristen zunehmend feindlicher. Indem zahlreiche Staaten die Unterstützung „internationalistischer Gruppen“ einstellten, sich ab 1993 im Palästinakonflikt ein zaghafter Friedensprozess abzeichnete, wodurch die traditionellen radikalen Palästinenserfraktionen an Bedeutung verloren, und sich auch im Libanon schrittweise die Lage normalisierte, wurde die Luft für die JRA immer dünner.139 Mehrere Mitglieder verließen in den 1990er Jahren den Libanon, einer wurde beim Versuch der Kontaktaufnahme mit dem „Leuchtenden Pfad“ in Peru erschossen, drei weitere in Nepal, Peru und Rumänien festgenommen und an Japan 134 Siehe dazu Gardela, Karen/Hoffman, Bruce, The RAND Chronology of International Terrorism for 1986, Santa Monica 1990, S. 39. Obwohl hinter den AIIB teilweise auch andere Organisationen oder Zusammenschlüsse vermutet werden, siehe etwa Angel, Japanese Terrorists, aaO. (FN 52), S. 50, scheinen JRA und AIIB identisch zu sein. 135 Siehe dazu Gardela, Karen/Hoffman, Bruce, The RAND chronology of international terrorism for 1987, Santa Monica 1991, S. 36 und S. 43. Dies., The RAND chronology of international terrorism for 1988, Santa Monica 1992, S. 52. 136 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 210 f. 137 Siehe dazu Angel, Japanese Terrorists, aaO. (FN 52), S. 50f. und 58f. 138 Siehe dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 215 ff. 139 Siehe dazu Ithabashi/ Masamichi Ogawara/ Leheny, Japan, aaO. (FN 54), S. 348f.
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bzw. an die USA ausgeliefert.140 Fünf weitere Mitglieder wurden 1997 im Libanon festgenommen und mit Ausnahme Okamotos, der als „aktiver Kämpfer gegen Israel“ und ehemaliger Gefangener141 der palästinensischen Sache politisches Asyl bekam, nach Japan abgeschoben.142 Im November 2000 wurde Shigenobu Fusako in Japan, wo sie eine neue revolutionäre Organisation aufbauen wollte, festgenommen und erklärte im März 2001, immer noch als Sprecherin der JRA agierend, diese für aufgelöst.143
6
Was bleibt? Restkonstanten des bewaffneten Kampfes
Nimmt man als Eckdaten die „Kriegserklärung“ der Sekigun-ha von 1969 und die Auflösungserklärung der Nihon Sekigun von 2001, ist eigentlich anzunehmen, dass in der japanischen Öffentlichkeit über dreißig Jahre bewaffneter Kampf der Roten ArmeeGruppierungen deutliche Spuren hinterlassen haben. Juristisch ist diese Zeit noch nicht vollständig abgeschlossen, von den neun Yodo-go Entführern starben drei in Nordkorea, zwei wurden im Verlauf der 1980er auf Auslandsreisen festgenommen und die übrigen vier verhandeln mit der japanischen und nordkoreanischen Regierung über die Modalitäten ihrer Rückkehr.144 Wegen der Morde der Rengô Sekigun an eigenen Mitgliedern sitzt Nagata Hiroko seit 1972 in Haft, seit der letztendlichen Bestätigung der Todesstrafe durch das Oberste Gericht 1993 erwartet sie deren allerdings unsichere Vollstreckung.145 Shigenobu Fusako wurde im Februar 2006 für ihre Beteiligung an der Botschaftsbesetzung der Nihon Sekigun in Den Haag und andere Delikte zu 20 Jahren Haft verurteilt, kann gegen das Urteil aber noch Rechtsmittel einlegen.146 Andere Mitglieder der JRA erwarten noch den Ausgang ihrer langwierigen Verfahren, leisten ihre Haftstrafen ab oder sind wieder in Freiheit, weiterhin sind mehrere bekannte Kader der JRA auf der Flucht.147 Letztlich sind alle drei Gruppen gescheitert, ohne einen nennenswerten Beitrag zur internationalen Revolution zu leisten, aufgesogen in den nordkoreanischen Staatsapparat, verstrickt in blutige interne „Säuberungen“ oder verheddert in einem verworrenen Regionalkonflikt führte ihre jeweilige Linie, stark geprägt von romantischen Vorstellungen der Hingabe an die Sache und Selbstaufopferung, sie in die politische Bedeutungslosigkeit.148 Die Mission der Rote Armee-Gruppierungen lässt sich im Grundsatz darauf zurückführen, eine einmal bestimmte Linie, nämlich die Möglichkeit und Notwendigkeit bewaffneten Kampfes für die Revolution, fortzuführen und das eigene organisatorische Erbe zu pflegen.149 Wenn damit schon der Einfluss auf die Politische Linke in Japan fraglich scheint, ist 140
Siehe dazu Hoffman, Creatures of the Cold War, aaO. (FN 5), S. 81f. Okamoto war 1985 im Rahmen eines größeren Gefangenaustausches freigekommen, siehe dazu Whartman, Eliezer, How Many Murderers are to go Scot Free?, The Jerusalem Post vom 29 August 1989. 142 Siehe dazu Jägerstätter, Franz, Opfer zum Ramadan, Jungle World vom 05.04.2000. 143 Siehe dazu Box/ McCormack, Terror in Japan, S. 99f. aaO. (FN 71), und Red Army Founder Nabbed in Osaka, in: Mainichi Daily News vom 09.11.2000, S.1. 144 Siehe dazu Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 810. 145 Siehe dazu Steinhoff, Three Women Who Loved the Left, aaO. (FN 78), S. 312. Laut Box/ McCormack, Terror in Japan, aaO. (FN 71), S. 100 gilt dies weiterhin. 146 Siehe dazu Red Army Cofounder Shigenobu Gets 20 years, The Daily Yomiuri vom 24. Februar 2006, S.1. 147 Siehe dazu Gallagher, Aileen, The Japanese Red Army, New York 2003, S. 51 und Ithabashi/Masamichi Ogawara/Leheny, aaO. (FN 54), 348 f. 148 Siehe dazu Box/ McCormack, Terror in Japan, aaO. (FN 71), S. 98 ff. 149 Siehe dazu Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 826f. 141
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die gesamtgesellschaftliche Wirkung wohl noch geringer, zumal nach der endgültigen Zerschlagung der VRA alle Ereignisse in weit entfernten Regionen stattfanden. Damit konnte sich der öffentliche Diskurs weitgehend darauf beschränken, ob den Forderungen von Terroristen, die im Ausland Geiseln nehmen, nachgegeben werden könne oder nicht, und weder Staat noch Gesellschaft sahen ihre Existenz nach 1972 in irgendeiner Form durch die JRA grundsätzlich in Frage gestellt.150 Dementsprechend blieb und bleibt die japanische Antiterrorgesetzgebung, bei aller Konsequenz, mit der die Devianz einzelner politischer Gruppierungen bekämpft wird, und den allfälligen Verschärfungen nach einzelnen Attentaten oder Wellen politischer Gewalt151 in ein enges Geflecht grundrechtlicher und institutioneller Beschränkungen eingebunden.152 Im Zuge der Verhaftung und Verurteilung Shigenobus fand sich die JRA eine Zeitlang wieder auf den Titelseiten japanischer Zeitungen, wobei insbesondere die Frage nach einheimischen Unterstützern und internationalen Verbindungen, etwa nach Peking und Pyöngyang, große Aufmerksamkeit genoss. Die teilweise autobiografischen Bücher von Shigenobu und anderen Protagonisten des bewaffneten Kampfes werden in Japan durchaus gelesen.153 Ob das Interesse dabei aber der Historisierung des Phänomens an sich oder der Faszination, die deviante Persönlichkeiten ausstrahlen, gilt, lässt sich wohl nicht sagen. Ambitionierte Projekte wie Masao Adachis Film Yuheisha (Terrorist), der das Innenleben eines gefangenen Terroristen mit seinen Zwängen und Widersprüchen zu beschreiben sucht und sich dabei stark an Okamoto Kôzô orientiert, sind eher noch für ein Nischenpublikum gedacht.154 Restkonstanten des bewaffneten Kampfes beschäftigen demnach vor allem einzelne Bereiche der japanischen Gesellschaft wie die Justiz und ehemalige Aktivisten, die künstlerisch oder publizistisch tätig sind. Ob eine breitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema stattfinden wird ist nicht abzusehen.
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Sie dazu Farrell, Blood and Rage, aaO. (FN 12), S. 232 ff. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Derichs, Die Japanische Rote Armee, aaO. (FN 1), S. 825. 151 Siehe dazu Box,/ McCormack, Terror in Japan, S. 109. 152 Siehe dazu Ithabashi,/ Masamichi Ogawara,/ Leheny, Japan, aaO. (FN 54), S. 340 ff und 372f. 153 Siehe dazu Box/ McCormack, Terror in Japan, aaO. (FN 71), S. 99. 154 Siehe dazu Gerow, Aaron, Radical filmmaker Returns with an existential scream, The Daily Yomiuri vom 10. 02..07, S. 19.
Revolutionäre Organisation 17. November
Die Phantomguerilla: Revolutionäre Organisation 17. November in Griechenland Florian Edelmann
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Das Ende eines Mythos
Eher zufällig konnten die griechischen Sicherheitsbehörden im Juni 2002 nach 27 Jahren nahezu ungestörter Existenz einen ersten und gleichzeitig entscheidenden Schlag gegen die linksradikale terroristische Revolutionäre Organisation 17. November (im Folgenden RO 17N) Epanastaiki Organosi 17 Noemvri führen.1 Schwer verletzt durch eine fehlgezündete Bombe wurde Savvas Xiros2 im Hafen von Athen festgenommen und konnte anhand mitgeführter Waffen und Schlüsseln einer konspirativen Wohnung als Mitglied der Organisation identifiziert werden, wobei dort gefundene Dokumente und Xiros’ vom Krankenbett aus getätigte Aussagen zu Identifizierung und Verhaftung des harten Kerns der RO 17N führten.3 Nachdem sich im September des selben Jahres Dimitris Koufodinas, der letzte flüchtige Gesuchte und mutmaßliche operative Kopf der Organisation, der Polizei stellte, gilt die Gruppe als vollständig zerschlagen, Koufodinas selbst erklärte die Beendigung ihrer Praxis.4 Innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums zerfiel damit eine der „aktivsten und tödlichsten“5, „gefährlichsten“6, „geheimnisvollsten“7 und „meist gesuchten“8 terroristischen Gruppierungen, die als „Europas letzte Stadtguerilla“9 den griechischen Staat mit der „langwierigsten und unversöhnlichsten aller ideologisch motivierten terroristischen Kampagnen“10
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Siehe dazu Kadritzke, Niels, Ein Ikonenmaler als Topterrorist, Die Tageszeitung vom 08.07.02, S. 11. Die Schreibweise transkribierter griechischer Eigennamen und Bezeichnungen orientiert sich im vorliegenden Beitrag an der von George Kassimeris in seinen verschiedenen Schriften zur RO 17N verwandten. 3 Siehe dazu Pallister, David, Athens Police Find Terrorists’ Hideout: ‘November 17’ Breakthrough in Search for British Attache’s Killers, The Guardian vom 05.07.02 S. 13 und Smith, Helena, Raids Have Wiped out Terror Group, Greece Says, The Guardian vom 08.07.02, S. 15. 4 Siehe dazu Kassimeris, George, Urban Guerilla or Revolutionary Fantasist? Dimitris Koufodinas and the Revolutionary Organization 17 November, in: Studies in Conflict & Terrorism, Band 28 Nr. 1 (Frühjahr 2005), S. 21-32, 23. 5 Corsun, Andrew, Group Profile: The Revolutionary Organization 17 November in Greece (1975-91), in: Alexander, Yonah/ Pluchinsky, Dennis A. (Hrsg.), European Terrorism Today and Tomorrow, McLean (Virginia) 1992, S. 93-125, 125. 6 Sabitzer, Werner, Erfolgreicher Schlag gegen den Terror, in: Öffentliche Sicherheit. Das Magazin des Innenministeriums, Mai/Juni 2003, http://www.bmi.gv.at/oeffentlsicherheit/ zuletzt abgefragt am 24.01.08. 7 Antonaros, Evangelos, Griechen kommen Europas Phantom-Killern auf die Spur; Erfolg bei Jagd nach geheimnisvoller Terrorgruppe, Die Welt vom 03.07.02, S.7. 8 Siehe dazu Carassava, Anthee, Greek Terror Group’s leader Sentenced, The International Herald Tribune vom 18.12.03, S. 3. 9 Kadritzke, Niels, Ende eines Politikums; Die griechische Terrorgruppe „17. November“ ist anachronistisch, Die Tageszeitung vom 20. Juli 2002, S.11. 10 Kassimeris, George, Europe’s Last Red Terrorists: The Revolutionary Organization 17 November, 1975-2000, in: Terrorism and Political Violence, Band 13 Nr. 2 (Sommer 2001), S. 67-84, 84. 2
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im westeuropäischen Kontext konfrontierte. Erstmals in Erscheinung trat die Gruppe, deren Name auf das blutige Ende der Besetzung des Athener Polytechnikums am 17. November 1973 als dem zentralen Ereignis des Widerstandes gegen die Obristendiktatur Bezug nimmt, mit der Ermordung des Stationschefs der CIA in Athen Richard Welch im Dezember 1975, begründet durch die allgemein perzipierte folgenreiche Verwicklung des amerikanischen Geheimdienstes in griechische Angelegenheiten wie die Regionalpolitik des östlichen Mittelmeerraums.11 Im Verlauf von fast drei Jahrzehnten bewaffneten Kampfes beging die RO 17N über 100 Anschläge auf symbolisch gewählte, oft hoch profilierte und gut geschützte Ziele sozioökonomischer, militärischer und politischer Natur und ermordete dabei 23 Menschen, darunter ausländische Militärs und Diplomaten wie auch hochrangige griechische Politiker und Industrielle sowie Sicherheitskräfte, Richter und Publizisten.12 Während der gesamten aktiven Phase konnte kein Mitglied der Gruppe identifiziert oder gar verhaftet werden, selbst forensisch verwertbare Beweise über mögliche Täter wurden erst ab Ende der 1990er an Attentatsorten sichergestellt.13 Die auch als „Phantomorganisation“ bezeichnete RO 17N konnte damit zu einem gleichsam dauerhaften Phänomen der politischen Kultur Griechenlands werden, wobei trotz Besetzung eines kommunikativen Raums durch regelmäßige Bekennerschreiben und gelegentliche politische Kommuniques die tatsächliche gesellschaftliche Relevanz fraglich ist.14 Bemerkenswert ist der vordergründige Widerspruch, der sich aus langer organisatorischer Persistenz der Gruppierung und deren raschem Zerfall ergibt. Um diese Dialektik zu analysieren, erscheint es notwendig, kontextuelle Bedingungen für Entstehen, Entwicklung und Permanenz der RO 17N in Griechenland herauszuarbeiten. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass auch nach der inzwischen erfolgten juristischen Aufarbeitung die Anzahl verlässlicher Quellen begrenzt bleibt und ein Großteil der vorfindlichen Literatur zur Gruppe in weiten Teilen auf Bekennerschreiben rekurriert, hat doch die RO 17N Zeit ihrer Existenz keine größeren Strategiepapiere veröffentlicht.15
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Siehe dazu Kassimeris, George, Europe’s Last Red Terrorists. The Revolutionary Organization 17 November, New York 2001, S. 108; andere Quellen bezeichnen Welch lediglich als U.S.-Diplomaten, siehe etwa Alexander, Yonah / Pluchinsky, Dennis A., Revolutionary Organization 17 November, in: Dies. (Hrsg.), Europe’s Red Terrorists: The Fighting Communist Organizations, London und Portland 1992, S. 90-113, 91 und Corsun, Andrew, Group Profile, aaO. (FN 5), S. 118. 12 Siehe dazu Choy, Shawn, In the Spotlight: Revolutionary Organization 17 November (17N), in: Center for Defense Information. Terrorism Project vom 5. August 2002, http://www.cdi.org/terrorism/17N-pr.cfm [zuletzt abgefragt am 24.01.08]. 13 Siehe dazu Schlamp, Hans-Jürgen, Killer mit grauen Schläfen, Der Spiegel vom 5. Februar 2001 (5/2001), S. 155 ff. Nach Sabitzer, Werner, Erfolgreicher Schlag gegen den Terror, aaO. (FN 6) wurde bereits 1985 ein mutmaßliches Mitglied der RO 17N, Christos Tsoutsouvis, bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet, diese Angabe fehlt jedoch in anderen zugänglichen Quellen. Angesichts der Tatsache, dass im genannten Zeitraum mehrere terroristische Gruppierungen in Griechenland aktiv waren, siehe dazu Pluchinsky, Dennis A., Political Terrorism in Western Europe: Some Themes and Variations, in: Yonah Alexander und Kenneth A. Myers (Hrsg.), Terrorism in Europe, London 1982, S. 40-78, 46 f., ist mehr als fraglich, ob dieser Vorfall die RO 17N betrifft. 14 Siehe dazu Kassimeris, George, Greece: Twenty Years of Political Terrorism, in: Terrorism and Political Violence, Band 7 Nr. 2 (Sommer 1995), S. 74-92, 86 ff. 15 Siehe dazu etwa Corsun, Group Profile: The Revolutionary Organization 17 November in Greece, aaO. (FN 5), S. 98 f.
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Ereignisgeschichtlicher Kontext: Das lange Erbe des Bürgerkriegs
Die RO 17 N trat 1975 unmittelbar nach der Implosion der Obristendiktatur während der Metapolitefsi genannten Transformationsphase Griechenlands von der Militärherrschaft hin zu einer pluralistischen Demokratie hervor, ist jedoch ideologisch wie ereignisgeschichtlich eng mit dem Widerstand gegen die Obristen verbunden.16 Die von 1967-1974 andauernde Militärdiktatur ist auf dem Hintergrund der Entwicklungen während des Zweiten Weltkriegs und danach zu begreifen, die durch einen hohen Grad politischer Polarisierung und eine prekäre Machtbalance zwischen Krone, Militär und Parlament gekennzeichnet war.17 In der Zeit der Besetzung Griechenlands durch die Achsenmächte war die Kommunistische Partei KKE und die von ihr kontrollierte Partisanenorganisation EAM/ELAS (Nationale Befreiungsfront bzw. -heer) die wichtigste Kraft im Spektrum des Widerstands und beanspruchte gegenüber anderen Teilen der Résistance auch politisch die Vormachtstellung.18 Diesen Anspruch versuchte sie unmittelbar nach der Befreiung in einem begrenzten Aufstand und schließlich im Bürgerkrieg von 1946-49 durchzusetzen, scheiterte aber sowohl aufgrund eigener, teils auf die moskautreue Linie zurückgehender, strategischer und politischer Fehleinschätzungen als auch wegen der intensiven, mit der Truman-Doktrin begründeten Unterstützung des Regierungslagers durch die USA.19 Während der Auseinandersetzungen innerhalb der Partisanenbewegung wie auch im Bürgerkrieg hatten beide Seiten auf irreguläre und oft grausame Methoden, als „roter“ und „weißer“ Terror bezeichnet, rekurriert, wodurch die Befriedung nach der kommunistischen Niederlage erschwert wurde.20 In der Folge wurde Antikommunismus zum zentralen Identifikationsmoment des nur in Ansätzen demokratischen griechischen Staates, der von amerikanischer Unterstützung anhängig blieb, und die illegalisierte KKE wie die legale Einheitliche Demokratische Linke EDA waren fortwährender Repression durch die als „Nebenstaat“ agierenden Sicherheitskräfte und Militärs ausgesetzt.21 Während ökonomische Erholung und zögerliche Fortschritte bei der Modernisierung auszumachen waren, blieb das politische System, insbesondere das Parteiensystem, in paternalistisch-klientelistischen Strukturen verhaftet und war mit mächtigen Vetospielern in Form des politisierten Militärs und des Königshauses konfrontiert.
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Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 43. Siehe dazu Kapetanyannis, Vassilis, The Communists, in: Featherstone, Kevin/ Katsoudas, Dimitrios K. (Hrsg.), Political Change in Greece. Before and After the Colonels, London und Sydney 1987, S. 145-173, 148 und Tzermias, Pavlos, Neugriechische Geschichte: Eine Einführung, 3. überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Tübingen und Basel 1999, S. 173 ff. 18 Siehe dazu Tzermias, Pavlos, Politik im neuen Hellas, Strukturen, Theorien und Parteien im Wandel, Tübingen 1997, S. 74 f. 19 Siehe dazu Kapetanyannis, The Communists, aaO. (FN 17), S. 146 f. 20 Siehe dazu Weithmann, Michael W., Griechenland. Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 1994, S. 247 und Legg, Keith R., Politics in Modern Greece, Stanford (Kalifornien) 1969, S. 196. 21 Siehe dazu Tzermias, Politik im neuen Hellas, aaO. (FN 18), S. 82 ff. 17
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2.1 Obristendiktatur und Widerstand Sich durch eine imaginierte bevorstehenden „slawokommunistische“22 Machtübernahme legitimierend, putschte am 21. April 1967 eine Gruppe von Offizieren um Papadopoulos, Makarezos und Pattakos erfolgreich, verhinderte die anstehenden Wahlen, die wohl in einer Machtverschiebung zuungunsten des Militärs resultiert hätten, und errang die Macht im Staat, die zunächst nominell von einer zivilen Regierung übernommen wurde.23 Dass eine wie auch immer geartete linke Gefahr weder von der EDA, die Mitte der 1960er mit Stimmenverlusten und internen Streitigkeiten zu kämpfen hatte, noch von dem Extrotzkisten und zeitweiligem Minister einer Mitte-links orientierten Regierung Andreas Papandreou ausging, zeigt sich auch im Ausbleiben eines durchsetzungsfähigen organisierten Widerstandes unmittelbar nach dem Obristenputsch. 24 Zwar fehlten dem Regime öffentliche Unterstützung, ein positiv bestimmbares politisches Projekt und eine tragfähige Ideologie jenseits eines verkürzten Neohellenismus, durch eine Kombination brutaler Repression gegen tatsächliche und imaginäre Feinde jeder Couleur, wirtschaftlichen Wachstums wie ökonomischer Stabilität und nicht zuletzt wohlwollender Tolerierung bei nomineller Kritik durch die NATO-Partner und insbesondere die USA konnte sich das Regime als Stabilitätsgarant im nationalen und internationalen Kontext zunächst konsolidieren.25 Exilierte Politiker des linken und zentristischen Spektrums wie auch in Griechenland verbliebene Aktivisten der genannten Strömungen bildeten bald nach den Ereignissen von 1967 eine Vielzahl von Widerstandsorganisationen, die trotz ambitionierter politischer Programme wenig Einfluss auf das politische Geschehen nehmen konnten.26 Ihr Fokus lag vielmehr darauf, die internationale Öffentlichkeit für die Vorgänge unter der Obristendiktatur zu sensibilisieren. Die Mehrzahl dieser Gruppen, etwa die Panhellenische Befreiungsbewegung PAK Andreas Papandreous, agierte vornehmlich im Ausland und kooperierte nur sporadisch untereinander, obwohl auch bei ursprünglich aus der Zentrumsunion stammenden Mitgliedern eine deutliche Linksverschiebung als Basis der Zusammenarbeit auszumachen war.27 Massenproteste gegen das Regime traten erst 1973 auf, als einerseits eine Phase vorsichtiger Liberalisierung politisches Handeln wieder zu ermöglichen schien und sich andererseits im Zuge der Ölkrise und der weltweiten Rezession der Lebensstandard verschlechterte. Nachdem linke wie studentischen Demonstrationen und Aktivitäten ab März des Jahres zunahmen, kulminierte die Bewegung in der Besetzung des Athener Polytechnikums im November durch Studenten, deren Forderungen nach Brot, Bildung und Freiheit sich Tausende
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Der Terminus „Slawokommunismus“ wurde von der griechischen Rechten während des Bürgerkriegs als Kampf- und Gegenbegriff zum „Monarchofaschismus“ geprägt, mit dem die kommunistisch kontrollierte Demokratische Armee Griechenlands DSE pauschal Regierungslager und Rechte belegte, implizit die ungebrochene Kontinuität von Metaxas-Diktatur und Kollaboration in der Nachkriegsregierung behauptend. Siehe dazu Tzermias, Neugriechische Geschichte, aaO. (FN 17), S. 168. Inhaltlich bedient er einerseits ethnisch motivierte Ressentiments, begründet durch die große Zahl makedonischer Griechen in der Aufstandsarmee, andererseits wird auf die Unterstützung der Aufständischen durch Tito und die damit verbundenen Ängste vor einem internationalen kommunistischen Masterplan zur Machtübernahme im letzten nichtkommunistischen Balkanstaat Bezug genommen. Siehe dazu Weithmann, Griechenland, aaO. (FN 20), S. 248. 23 Siehe dazu Clogg, Richard, A Concise History of Greece, Cambridge 1992, S. 162 f. 24 Siehe dazu Legg, Politics in Modern Greece, aaO. (FN 20), S. 227. 25 Siehe dazu Tzermias, Neugriechische Geschichte, aaO. (FN 17), S. 194 ff. 26 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 22. 27 Siehe dazu Spourdalakis, Michalis, The Rise of the Greek Socialist Party, New York und London 1988, S. 51 ff.
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anschlossen und die zum prägenden Moment einer Generation von Aktivisten wurde.28 In der Nacht des 17. November wurde die Besetzung unter massiver Anwendung militärischer Gewalt um den Preis zahlreicher Verletzter und Toter beendet, kurz darauf putschte eine Militärfraktion um den Chef der Militärpolizei Ioannidis eine neue Junta an die Macht und nahm die Liberalisierung zurück.29
2.2 Zusammenbruch der Militärherrschaft und Metapolitefsi Im Versuch, sich eine, wie die Vorgänge 1973 gezeigt hatten, offensichtlich fehlende Legitimitätsbasis zu verschaffen, stürzte sich die Militärregierung in ein außenpolitisches Abenteuer, indem sie im Sommer 1974 einen Putsch gegen die Regierung Makarios der Republik Zypern inszenierte.30 Die Insel war nach Unruhen in den 1950ern, in denen die griechische Bevölkerungsmehrheit die Vereinigung mit dem Mutterland Enosis und die substantielle türkische Minderheit die Teilung Taksim anstrebte, aus britischer Herrschaft in eine prekäre Unabhängigkeit entlassen worden, wobei Großbritannien, die Türkei und Griechenland als Garantiemächte fungierten und Militärkontingente auf der Insel beließen.31 Auf die Machtübernahme rechter Kreise mit Unterstützung des griechischen Militärs, die auf Enosis orientiert waren, reagierte die Türkei mit der Invasion der mehrheitlich türkisch bevölkerten Teile der Insel sowie später weiterer Teile des Territoriums, was letztlich in eine völkerrechtlich nicht anerkannte faktische Teilung Zyperns mündete.32 Die griechische Mobilmachung zum Angriff der Invasionsmacht verlief dermaßen chaotisch, dass sich weite Teile der Militärführung weigerten, Ioannidis’ Angriffsbefehl Folge zu leisten und schließlich die Rückkehr zur zivilen Herrschaft durchsetzten, woraufhin der ehemalige Premierminister Konstantinos Karamanlis aus seinem Pariser Exil zurückgeholt und im Juli 1974 als Garant einer reibungslosen Transition erneut vereidigt wurde.33 Der Spielraum bei der Rückkehr zur Demokratie oder vielmehr der Einführung und Konsolidierung einer vollständig freiheitlich demokratischen Ordnung war einerseits begrenzt. Andererseits knüpfte gerade die außerparlamentarische Linke hohe Erwartungen an die Metapolitefsi, war doch deren Einsatz 1973 mitursächlich für das schnelle Ende der Militärherrschaft geworden, indem die breite Protestbewegung dieses Jahres deren Legitimitätsdefizit offenkundig gemacht hatte und so die fatale Intervention in Zypern zumindest mit veranlasste.34 Gefordert wurde eine rigide Entfernung von Protagonisten und Kollaborateuren der Junta aus Militär und Staatsapparat, deren strenge strafrechtliche Verfolgung, substantielle Veränderungen in Staatsverfassung wie zahlreichen Politikfeldern und eine klare Abkehr von der bisherigen internationalen Strategie Griechenlands, da im Verhalten der NATO-Staaten und insbesondere der „imperialistischen“ USA eine der Hauptursachen sowohl der siebenjährigen Diktatur als auch der nationalen Tragödie in der Zypernfrage 28
Siehe dazu Kassimeris, George, Junta by Another Name? The 1974 Metapolitefsi and the Greek ExtraParliamentary Left, in: Journal of Contemporary History, Band 40, Nr. 4 (Oktober 205), S. 745-762, S. 746. 29 Siehe dazu Tzermias, Neugriechische Geschichte, aaO. (FN 17), S. 198 f. 30 Siehe dazu Clogg, Concise History of Greece, aaO. (FN 23), S. 168. 31 Siehe dazu Tzermias, Pavlos, Geschichte der Republik Zypern. Mit Berücksichtigung der Entwicklung der Insel während der Jahrtausende, Tübingen 1991, S. 215 ff. 32 Siehe dazu Weithmann, Griechenland, aaO. (FN 20), S. 257. 33 Siehe dazu Clogg, Concise History of Greece, aaO. (FN 21), S. 168 f. 34 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 24f.
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gesehen wurde.35 Auf diese Forderungen konnte die Regierung der nationalen Einheit unter Karamanlis jedoch, sofern überhaupt auf der Agenda, nur insoweit eingehen, als das Militär, das ja freiwillig die Macht abgegeben hatte, nach wie vor einen Machtfaktor darstellte und in sich keinesfalls homogen war, womit sich die reale Gefahr erneuter Einmischungen bei allzu eifriger Vergangenheitsbewältigung ergab.36 Nach dem Wahlsieg seiner neu gegründeten Partei Nea Demokratia (Neue Demokratie ND) im November 1974 demokratisch legitimiert, löste Karamanlis dieses Dilemma durch ein „kurioses Amalgam aus Beständigkeit und Veränderung“37. Indem Rädelsführer der Junta hart bestraft wurden, eine allgemeine Säuberung jedoch unterblieb, sich Griechenland zeitweilig aus dem militärischen Arm der NATO zurückzog, das internationale Engagement aber nicht vollkommen neu justierte, und nach Referendum zwar die Monarchie abgeschafft, jedoch in der neuen Verfassung eine bikephale Exekutive mit weitreichenden präsidentiellen Prärogativen verankert wurde, ergab sich ein Kompromiss aus Maximalforderungen und tatsächlich Machbarem.38 Für die „Generation des Polytechnikums“, die alle Veränderungen ohne systematische Dejuntafizierung als rein symbolische empfanden, war dieses Ergebnis enttäuschend, woraufhin sich Teile dieses Spektrums immer weiter von etablierten politischen Kräften wegbewegten und eine Vielzahl außerparlamentarischer, revolutionär orientierter linker Gruppen marxistischer, maoistischer und anarchistischer Provenienz entstand.39 Während ein Teil der nichttraditionellen Linken in der unter Andreas Papandreou aus der PAK hervorgegangenen Panhellenistischen Sozialistischen Partei PASOK aufging, die als neue Linke Kraft sowohl in Programmatik wie in Organisationsstruktur auf das Erbe des Widerstandes gegen die Obristen rekurrierte, brachen andere Protagonisten dieser Strömung innerlich völlig mit dem System.40 Obwohl die genannten Gruppen an Größe und Einflussmöglichkeiten eher marginal blieben, konnten sie in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einiges an öffentlicher Aufmerksamkeit gewinnen, nicht zuletzt wegen der zumindest in Teilen der intellektuellen Öffentlichkeit zunehmenden Kritik an Karamanlis` gradualistischem Kurs und aufgrund eines gesellschaftlichen Klimas, in dem sich bei allem Bedürfnis nach gesellschaftlichem Frieden auch die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderung artikulierte.41 Innerhalb des revolutionären Spektrums war die Option, zur gesellschaftlichen Veränderung auch Gewalt als Mittel einzusetzen, bereits in den Erfahrungen des Jahres 1973 mit teilweise gewalttätigem Verlauf von Demonstrationen und dem traumatischen Erlebnis des 17. November angelegt,42 auch gab es Szenarien eines „harten“, also durch bewaffneten Kampf durchgesetzten Endes der Militärherrschaft in den verschiedenen Organisationen des Widerstandes gegen die Obristen.43 Als sich zunehmend abzeichnete, dass die Interpretation der Metapolitefsi als Möglichkeit der Revolutionierung der Gesellschaft nur in weitgehend geschlosse35
Siehe dazu Spourdalakis, The Rise of the Greek Socialist Party, aaO. (FN 27), S. 75 ff. Siehe dazu Tzermias, Neugriechische Geschichte, aaO. (FN 17), S. 207. Kassimeris, Junta by Another Name?, aaO. (FN 28), S. 745. 38 Siehe dazu Clogg, A Concise History of Greece, aaO. (FN 23), S. 171 ff. 39 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 56. 40 Siehe dazu Featherstone, PASOK and the Left, in: Ders./ Katsoudas, Dimitrios K. (Hrsg.), Political Change in Greece. Before and After the Colonels, London und Sydney 1987, S. 112-134, 119 und Spourdalakis, The Rise of the Greek Socialist Party, aaO. (FN27), S. 59f. 41 Siehe dazu Kassimeris, Junta by Another Name?, aaO. (FN 28), S. 54 ff. 42 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 52 f. 43 Siehe dazu Featherstone, PASOK and the Left, aaO. (FN 40), S. 118. f. 36 37
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nen radikalen Zirkeln Zuspruch finden konnte, während gleichzeitig rechtsextreme Gruppen ebenso terroristische Aktivitäten entfalteten,44 gingen Teile des linksextremistischen Spektrums zum bewaffneten Kampf über, wobei insbesondere eine durch personelle Kontinuitäten begründete Einordnung des Übergangsregimes als „Junta unter anderem Namen“ zur Legitimation der Gewalt diente.45
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Organisationsstruktur und ideologische Determinanten der RO 17N
Wie erwähnt blieb jeglicher Fahndungserfolg hinsichtlich der Strukturen von RO 17N bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts aus, so dass sich alle Erwägungen über die organisatorischen Rahmenbedingungen der Gruppe lange Zeit notwendigerweise in einem, wenn auch qualifizierten, so doch spekulativ bleibenden Rahmen bewegten.46 Viele dieser Spekulationen lassen sich im Licht der Erkenntnisse des großen RO 17N-Prozesses von 2003 erhärten, vollständig sind sie dennoch nicht. Zentrale Figuren haben entweder wie Koufodinas zwar politische Verantwortung übernommen, aber keine detaillierten Angaben über organisatorische Details gemacht, oder wie Giotopoulos jegliche Beteiligung bestritten, wegen Verjährungsgrenzen blieben die Aktivitäten der Gruppe in den 1970er Jahren weitgehend außer Betracht und der wichtigste Kronzeuge Tselentis trennte sich einerseits bereits 1988 von der Gruppe, andererseits stehen einige seiner Angaben in deutlichem Widerspruch zur beobachtbaren Praxis der RO 17N.47 Angeklagt waren insgesamt 19 mutmaßliche Mitglieder der Organisation, von denen 15 zu teilweise mehrfach lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt und vier mangels Beweisen freigesprochen wurden; in zweiter Instanz wurden zwei weitere Angeklagte wegen Verjährung der ihnen zur Last gelegten Verbrechen freigesprochen.48 Vollständig klar ist der Ursprung der Organisation nicht, zumindest ein größerer Teil der Mitglieder kommt wohl aus der 1973er Bewegung und ihren Ausläufern nach dem Sturz des Juntaregimes, vereinzelt ist auch eine personelle Kontinuität in die radikaleren Kreise des Widerstandes gegen die Militärdiktatur auszumachen.49 Im Gesamten war die RO 17N eine kleine Gruppe mit konstant weniger als 20 Mitgliedern, wobei bemerkenswert ist, dass innerhalb viele verwandtschaftliche und sonstige enge emotionale Bindungen bestanden.50 Neben ideologisch motivierter Hingabe an die Sache und der Überzeugung von der eigenen Sendung als kämpfende Avantgarde der Mas44
Siehe dazu Pluchinsky, Political Terrorism in Western Europe, aaO. (FN 13), S. 47. Siehe dazu Kassimeris, Junta by Another Name?, aaO. (FN 28), S. 751 und 757. 46 Siehe etwa Pluchinsky, Dennis A., Western Europe’s Red Terrorists: The Fighting Communist Organizations, in: Alexander, Yonah/. Pluchinsky, Dennis A (Hrsg.), Europe’s Red Terrorists: The Fighting Communist Organizations, London/ Portland 1992, S. 16-54, S. 48. 47 Zum gesamten Prozess und den Protagonisten siehe Kassimeris, George, Last Act in a Violent Drama? The Trial of Greece’s Revolutionary Organization 17 November, in: Terrorism and Political Violence, Band 18 Nr. 3 (Herbst 2006), S. 137-157. Skelton-Robinson, Thomas, Im Netz verheddert, Die Beziehungen des bundesdeutschen Linksterrorismus zur Volksfront für die Befreiung Palästinas (1969-1980), in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus. Band 2, Hamburg 2006, S. 828-904, 829, weist auf das grundsätzliche Problem der Glaubwürdigkeit der Aussagen von Kronzeugen hin. 48 Siehe dazu The New York Times vom 04. Mai 2007, Teil A, S. 8 und vom 18. Dezember 2003, Teil A, S.15 sowie Kadritzke, Niels, 21-mal Lebenslänglich für Terrorchef, die Tageszeitung vom 18. Dezember 2003, S. 10. 49 Siehe dazu Kassimeris, Last Act in Violent Drama?, aaO. (FN 47), S. 139 f. und 141 ff. 50 Siehe dazu Kadritzke, Niels, Räuber und Gendarm, die Tageszeitung vom 3. August 2002, S. 3 sowie Kassimeris, aaO., (FN 47), S. 138 f., der darauf hinweist, das drei der verurteilten Terroristen Brüder, zwei Cousins und einer Patenonkel von Kindern anderer Gruppenmitglieder waren. 45
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sen51 kann dies als Erklärung für das hohe Maß innerer Geschlossenheit, das einerseits eine Infiltration praktisch unmöglich machte und andererseits den relativ unproblematischen Ausstieg von Mitgliedern ermöglichte52, dienen, das die wohl als einheitliche arbeitsteilige Zelle strukturierte Gruppe charakterisierte.53 Demnach ist auch plausibel, dass innerhalb der solcherart geschlossenen Struktur nicht wie teilweise angenommen eine klare Unterscheidung in verschiedene Generationen existierte,54 sondern vielmehr im Rahmen bestehender persönlicher Netzwerke je nach Bedarf neue Mitglieder angeworben wurden und zumindest ein Teil der Gründungsmitglieder bis zuletzt in der RO 17N aktiv war.55 Für eine arbeitsteilige und mindestens teilweise hierarchische Organisationsweise spricht, dass sich in den veröffentlichten Kommandoerklärungen über die Jahre hinweg Kohärenzen hinsichtlich Argumentationsstruktur und Stil ablesen lassen,56 Entscheidungen wurden wohl auf einer kollektiven Basis im regelmäßigen Diskurs getroffen, worauf auch die relativ schnelle Reaktionsfähigkeit auf politische Entwicklungen schließen lässt.57 Indem angesichts der Ineffektivität von Fahndung und Strafverfolgung ein vollständiger Gang in den Untergrund entbehrlich blieb, gingen die Mitglieder außerhalb der klandestin organisierten terroristischen Aktivitäten bürgerlichen Berufen nach, führten ihre tatsächlichen Namen und waren insofern „Teilzeitterroristen“.58 Folglich bleibt auch fraglich, ob die RO 17N während ihrer aktiven Phase den Aufbau eines organisierten legalen Unterstützungsnetzwerks für nötig erachtete,59 öffentlich traten Unterstützer erst 2003 anlässlich des Prozesses auf. Entsprechend einfach war die Logistik, die aus mehreren konspirativen Wohnungen als Waffenlager und zur Aufbewahrung von Dokumenten wie sonstigen Utensilien diente; teilweise wurde die Bewaffnung durch Überfälle beschafft,60 vereinzelt wird auch von Banküberfällen zur Geldbeschaffung berichtet.61 Nicht belegen lassen sich die regelmäßig wiederkehrenden Mutmaßungen über Verbindungen der RO 17N ins griechische linke Establishment, also der PASOK, sowie zu anderen terroristischen Organisationen der Region wie der kurdischen PKK oder der türki-
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Siehe dazu Kassimeris, Urban Guerilla or Revolutionary Fantasist?, aaO. (FN 4), S. 21 und 24 f. Siehe dazu Kassimeris, Last Act in a Violent Drama?, aaO. (FN 47), S. 152. 53 Siehe dazu Kassimeris, George, The Greek State Response to Terrorism, in: Terrorism and Political Violence, Band 5 Nr. 4 (Winter 1993), S. 288-310, 291. 54 So etwa Kadritzke, Niels, Topterrorist taucht wieder auf, Die Tageszeitung vom 07.09.02, S. 13. 55 So die Aussage von Tselentis, die bei aller gebotener Vorsicht auch durch die Tatsache gestützt wird, dass etwa Giotopoulos’ Fingerabdrücke auch in den letzten benutzten konspirativen Wohnungen gefunden wurden, siehe dazu Kassimeris, Last Act in a Violent Drama, aaO. (FN 47), S. 140 und 150 ff sowie The New York Times vom 18.12.03, Teil A, S. 15. 56 Siehe dazu Corsun, Group Profile, aaO. (FN 5), S. 99 und Schlamp, Killer mit grauen Schläfen, aaO. (FN 13), S. 162. 57 Siehe dazu Alexander/ Pluchinsky, Revolutionary Organization 17 November, aaO. (FN 11), S. 90 und Corsun, Group Profile, aaO. (FN 5), S. 93 f. sowie die Aussagen von Tselentis in Kassimeris, Last Act in a Violent Drama?, aaO. (FN 47), S. 151, der jedoch im Gegensatz zu den erstgenannten gerade die lange Vorbereitungszeit hervorhebt, was zumindest für die Aktionen nach 1988 nicht zuzutreffen scheint. 58 So schon die Mutmaßung von Corsun, Group Profile, aaO. (FN 5), S. 94; siehe auch Bruni, Frank, Greek Terror Defendants Don't Look the Part, The New York Times vom 04.03.03, Teil A, S. 11 sowie The Washington Post vom 27.07.02, Teil A S.14, die Corsuns Mutmaßungen ex post bestätigen. 59 Siehe dazu Alexander/ Pluchinsky, Revolutionary Organization 17 November, aaO. (FN 11), S. 91. 60 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 214 f. 61 Siehe etwa Bruni, Greek Terror Defendants Don't Look the Part aaO. (FN 58) und Pallister, David, Athens Police Find Terrorists’ Hideout, The Guardian vom 5. Juli 2002, S. 13; auch Schutzgelderpressungen sollen der Beschaffung von Geldmitteln gedient haben, siehe dazu The Guardian vom 22.01.03, S. 15. 52
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schen Devrimci Sol.62 Während erstere ein Beispiel für gängige simplifizierende Erklärungsmuster der erstaunlich langen Persistenz der RO 17N bieten,63 dürften letztere die Möglichkeiten der autochthonen Gruppe, deren Aktionsradius in Griechenland selbst auf den Großraum Athen beschränkt blieb, überschritten haben und begegnen auch substantiierten Bedenken hinsichtlich ihrer ideologischen Ausrichtung. Zwar lässt sich die Möglichkeit persönlicher Bekanntschaften zwischen späteren PASOK-Kadern und RO 17N-Mitgliedern in der Zeit des Widerstandes nicht völlig von der Hand weisen,64 damit ist aber noch nicht gesagt, dass sich hieraus spätere Übereinstimmungen ergeben; so griff ab Mitte der 1980er die RO 17N auch Ziele an, die mit der PASOK in Verbindung standen, bis hin zu einem Mörserangriff auf deren Parteizentrale 1999, und attackierte in ihren Kommandoerklärungen die PASOK aufs Schärfste.65 Schon die Namensgebung der RO 17N hatte einen klaren ideologischen Grundtenor, indem auf die Ereignisse um die Besetzung des Polytechnikums 1973 Bezug genommen wurde.66 Das Datum wurde als Wendepunkt gedeutet, in dem die RO 17N zum einen die revolutionäre Bewusstwerdung sah, durch die eine Generation die Notwendigkeit radikaler Umwälzungen begriffen habe, zum anderen verdeutliche die Niederschlagung durch Militär und Sicherheitskräfte, dass es speziell im griechischen Kontext keinen friedlichen Übergang zum Sozialismus geben könne. Was positiv unter diesem griechischen Sozialismus zu verstehen sei, bleibt unscharf, er ist wohl vor allem als Gegenentwurf zum politischen Establishment, auch dem linken, gemeint. In Bezugnahme auf die „heroischen Zeiten“ von Partisanenkampf und Widerstand sollte das Rekurrieren auf die griechische kommunistische Tradition wohl der Rekonstruktion eines authentischen Klassenkampfes in und durch bewaffnete Aktion dienen. Dazu sah sich die RO 17N als bewaffnete Avantgarde berufen, wobei bewaffneter Kampf nur dann erfolgversprechend sei und von bloßem Terrorismus oder indiskreter politischer Gewalt abgegrenzt werden könne, wenn seine Ziele, gemäß einer revolutionären Strategie ausgewählt, der Propaganda und letztlich dem Beginn von Massenkämpfen dienten. Eine andere ideologische Grundrichtung, die sich ebenfalls aus dem Erbe von 1973 herleiten ließ, war ein dezidiert patriotisch bzw. nationalistisch gewichteter Antiimperialismus, der sich aus der Interpretation der Obristendiktatur wie der gesamten politischen Entwicklung seit Kriegsende als Ausdruck von Fremdbestimmung seitens der USA und damit eines quasikolonialen Status Griechenlands ergab. Im Verlauf der Zeit wurden die nationalistischen Untertöne immer maßgeblicher. Aus der Betonung, wie bedeutend ein Nachholen der unvollständig verwirklichten nationalen Selbstbestimmung sei, das seinen Ausdruck etwa in der Ablehnung von Mitgliedschaft in NATO und EG als imperialistischer Organisationen und der Forderung nach dem Rückbau amerikanischer Militärbasen findet, wurde gerade in Bezug auf die Türkei fast schon Chauvinismus. So forderte die RO 17N im Kon62
Siehe etwa Choy, In the Spotlight, aaO. (FN 12) sowie The Washington Post vom 13 November 1999, Teil A. S. 27 und o.A., A Former U.S. Envoy Links Greek Politicians to Assassin Group, The New York Times vom 8. November 2001, Teil A S. 9. Zusammenfassend hierzu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 189 f. dort FN 238, der insbesondere die griechische Presse berücksichtigt. 63 So auch Kassimeris, Greece: Twenty Years of Political Terrorism, aaO. (FN 14), S. 89. 64 Wahrscheinlich ist eine solche aber nicht, wie dargestellt kooperierten die verschiedenen Organisationen nur sporadisch, siehe dazu Spourdalakis, The Rise of the Greek Socialist Party, aaO. (FN 27), S. 53. 65 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11) S. 79, 123 ff und 218. 66 Soweit nicht anders gekennzeichnet, bezieht sich der folgende Absatz auf die Darstellung der ideologischen Entwicklung von RO 17N in Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 106-151.
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text einer der vielen Krisen in der Ägäis und der Zypernfrage unverhohlen das griechische Militär zu kriegerischen Akten gegen die Türkei auf.67 Einer marxistisch-leninistisch fundierten Analyse am nächsten kommt in den Texten der RO 17N das ab Mitte der 1980er Jahre verwandte Konstrukt der „großbürgerlichen Lumpenklasse“, mit dem sie das Zusammenspiel von Großindustrieller „Oligarchie“, politischem Establishment und imperialistischen Interessen zur spezifisch neuen antagonistischen Klasse deutete. Deren Ziele seien sozioökonomisch, politisch und militärisch bestimmt und folglich sei sie auch auf all diesen Ebenen angreifbar.68 Als dessen letzte Konsequenz sah man den „Westeuropäischen parlamentarischen Faschismus“, der gemeinsam mit dem US-Imperialismus daran arbeite, durch neue Weltordnung, elektronische Überwachung und Gedankenkontrolle in globalem Maßstab die Interessen der weltweiten „großbürgerlichen Lumpenklasse“ durchzusetzen.69
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Strategie und Taktik: Der Aktionismus der RO 17N
Die Strategie der RO 17N war nie darauf angelegt, den Brigate Rosse Italiens entsprechend den „Angriff auf das Herz des Staates“ zu wagen und mittels terroristischer Aktionen, etwa Geiselnahmen, staatliche Stellen zu Zugeständnissen in bestimmten Fragen zu zwingen. Gleichwohl wurden in den verschiedenen Erklärungen der Gruppe Forderungen zum Ausdruck gebracht, diese blieben jedoch eher auf einer abstrakten Ebene und dienten vielmehr der Vermittlung der verfolgten Ziele als der Eröffnung tatsächlicher Handlungsoptionen; insofern deckt sich der Aktionismus der RO 17N fast schon idealtypisch mit Waldmanns Definition von Terrorismus als primär kommunikativer Strategie.70 Ziel der bewaffneten Propaganda war für die Gruppe dabei vor allem, ein gesellschaftliches Klima von Aufruhr zu erzeugen, das in die revolutionäre Selbstorganisation der Massen münden sollte, indem permanent auf die Defizite des politischen Systems aufmerksam gemacht und gleichzeitig die Verwundbarkeit des Staatsapparats stets aufs Neue bewiesen wurde.71 Auffällig ist, dass bei der taktischen Auswahl der angegriffenen Ziele, mit der politische Botschaften vermittelt werden sollen, konstant nach neuen Anknüpfungspunkten gesucht wurde, um in Bevölkerung und der Linken Sympathie und Unterstützung hervorzurufen.72 Die jeweilige Ratio der aufgegriffenen Frage verknüpfte die Organisation in ihren Kommandoerklärungen mit dem konkret angegriffenen Objekt durch eine dezidiert ideologisch fundierte Argumentations- und Begründungskette; was in der ersten Phase mit ihren unmittelbar nach dem Fall
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Siehe dazu RO 17N, Communiqué on the Assassination of US Navy Captain William Nordeen in Athens on 28 June 1988, in: Alexander, Yonah und. Pluchinski, Dennis A (Hrsg.), Europe’s Red Terrorists: The Fighting Communist Organizations, London und Portland 1992, S 104 ff. 68 Siehe dazu etwa RO 17N, Communiqué on the Assassination in Athens on 21 February 1985 of Nikos Momferatos, in: Alexander, Yonah/ Pluchinski, Dennis A. (Hrsg.), Europe’s Red Terrorists:, aaO. (FN 67), S. 97 f. 69 Siehe dazu etwa, RO 17N, Communiqué on the Assassination of Ronald Stewart, a US Air Force Sergeant, in Athens on 12 March 1991, in: Alexander, Yonah/ Pluchinski, Dennis A. (Hrsg.), Europe’s Red Terrorists:, aaO. (FN 67), S. 108-111, 110f. 70 Siehe dazu Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 13. 71 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists: The Revolutionary Organization 17 November, 19752000, aaO. (FN 10), S. 81. 72 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorist, aaO. (FN 11), S. 107.
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der Junta klar erkennbaren Feindbildern noch weitgehend gelingen konnte, nahm mit dem zunehmendem Fortschreiten der taktischen Sequenz oft grotesk anmutende Formen an.73 Taktisch lassen sich in der Art der eingesetzten Techniken wie der Auswahl von Attentatszielen mehrere Phasen im Aktionismus der RO 17N ausmachen.74 Zwischen 19751980 wurden mit relativ großem zeitlichen Abstand und einer stets gleichen großkalibrigen Handfeuerwaffe Stellvertreter für die Obristendiktatur aus kurzer Distanz ermordet.75 Der US-Amerikaner Richard Welch fungierte dabei als Vertreter der imperialistischen Schutzmacht der Junta,76 Evangelos Mallios und Pantelis Petrou als Personifikationen von deren Repressionsapparat. Als Hinrichtungen deklariert, wollte die RO 17N mit diesen Morden nicht nur symbolisch, sondern auch persönlich an Protagonisten des Regimes, die außerhalb der Reichweite der Justiz geblieben waren, im Namen des unterdrückten Volks Rache nehmen.77 Ein weiteres erklärtes Ziel war, die zwar geschrumpfte, aber immer noch signifikante außerparlamentarische Linke zum Kampf zu aktivieren.78 Nur beim Attentat auf Petrou kam auch dessen Fahrer zu Tode, ansonsten wurden anwesende Dritte geschont. Nach dem Wahlsieg der PASOK unter Andreas Papandreou 1981 erklärte die RO 17N eine Feuerpause, ohne jedoch den Kampf selbst zur Disposition zu stellen oder die PASOK als genuine Vertreterin sozialistischer Interessen oder gar der eigenen Position anzuerkennen; eingeräumt wurde lediglich eine graduelle Übereinstimmung, etwa in der Analyse des Imperialismus. Vielmehr gebot nach Ansicht der Gruppe die allgemeine Situation mit einer befürchteten Reaktion rechter Kräfte auf den linken Wahlsieg eine Schonfrist, in der sich weisen werde, ob und in wie weit die PASOK das ihr entgegengebrachte Vertrauen des Volkes erfülle.79 Mit dem Mord an einem US-Militär und dessen Fahrer 1983 beendete die RO 17N die Feuerpause und begann eine zweite Phase des Aktionismus, was sie mit dem Verrat der PASOK an ihrem antiimperialistischen Credo und dem Fortbestehen der US-Basen in Griechenland begründete.80 Neben Anschlägen auf amerikanische Ziele, die nicht mehr auf 73
Siehe dazu etwa RO 17N, Communiqué on the Kneecapping of Neurosurgeon Zacharias Kapsalakis in Athens on 4 February 1987, in: Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 224-226. Darin wird der Angriff auf einen Repräsentanten des Gesundheitssystems nicht etwa primär aus dem schlechten Zustand des Gesundheitssystems und den daraus resultierenden Praktiken erklärt, was wahrscheinlich vermittelbar gewesen wäre, vielmehr wird der Imperialismus als solcher für diese Zustände verantwortlich gemacht, und aus dem schwer verletzten Arzt ein imperialistischer Agent. 74 Je nachdem ob mehr auf die Wahl der Waffen abgehoben wird, so Corsun, Group Profile aaO. (FN 5), S. 94 ff, oder eher Ausrichtung und interne Logik der Anschläge in Betracht gezogen wird, so Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 72-105, fällt die Zahl der Phasen wie auch deren zeitliche Begrenzung unterschiedlich aus. Vorliegend wird Kassimeris Ansatz gefolgt, der drei Phasen unterscheidet, dabei hinsichtlich der zeitlichen Grenzen aber auch nicht einheitlich bleibt, siehe etwa im Vergleich Kassimeris, The Greek State Response to Terrorism, aaO. (FN 53), S. 296 f. 75 Siehe dazu Corsun, Group Profile, aaO. (FN 5), S. 94. 76 Die Zuordnung dieses Attentates blieb zunächst unklar, sie dazu etwa Mickolus, Edward F., Transnational Terrorism: A Chronology of Events 1968-1979, London und Westport 1980, der nicht weniger als fünf mögliche Urheber nennt und, soweit überhaupt griechische Gruppen in Erwägung gezogen werden, Unklarheiten über deren Zuordnung zum linken oder rechten Spektrum konstatiert. 77 Siehe dazu Kassimeris, The Greek State Response to Terrorism, aaO. (FN 53), S. 296. 78 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists: The Revolutionary Organization 17 November, 19752000, aaO. (FN 10), S. 69 f. 79 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 120 f. Insofern ist auch die Koinzidenz von Feuerpause und PASOK Wahlsieg nicht geeignet, die These von personellen Verflechtungen zwischen PASOK und RO 17N zu stützen. 80 Siehe dazu Corsun, Group Profile, aaO. (FN 5), S. 100.
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Rache, sondern die amerikanische Geo- und Regionalpolitik als bestimmendem Einflussfaktor auf das imperialistische griechische Establishment selbst zielten, gerieten die griechische Polizei, staatliche, diplomatische und private Einrichtungen, Wirtschaftsmagnaten, Staatsbeamte und schließlich Politiker ins Visier.81 Die angewandte Technik wurde verbessert und erweitert, es kamen neben Feuerwaffen Autobomben, Fernzünder, Raketenwerfer und selbstgebaute Mörser zum Einsatz; außerdem wurden nicht mehr ausschließlich Mordanschläge, sondern auch Knieschussattentate, direkte Überfälle und Angriffe auf Sachwerte verübt.82 Dezidiert antiimperialistische Angriffe, reaktive Attentate und Anschläge auf wirtschaftliche und politische Vertreter der nationalen „großbürgerlichen Lumpenklasse“ fanden tagespolitisch aktuelle Anlässe, wie Korruptionsskandale, Arbeitskämpfe, soziale Missstände oder außenpolitische Krisen.83 Mit teilweise hohem Begründungsaufwand wurden diese stets auf das antiimperialistische Paradigma wie den Ausverkauf der Interessen des griechischen Volkes zurückgeführt und ideologisch durch die Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes des imperialistischen Systems erklärt.84 In einer dritten Phase ab 1991 nahm der Aktionismus zunächst zu, Art und Weise von Planung wie Ausführung der Attentate erhöhten das Risiko, Unbeteiligte zu treffen, und trafen solche auch vermehrt.85 Weiterhin lassen sowohl eine immer kryptischere und indifferentere Sprache der Kommandoerklärungen wie eine gewisse Beliebigkeit der Zielauswahl, die auch eher niederrangige Vertreter fremder Mächte und eine Vielzahl von Niederlassungen ausländischer Firmen umfasste, deren symbolische Bedeutung und multinationale Verstrickung oftmals fraglich bleibt, eine gewisse Orientierungslosigkeit erkennen.86 Themen der Stunde waren die Dehellenisierung der Wirtschaft, der Imperialismus und die Machenschaften der „großbürgerlichen Lumpenklasse“ wie des westlichen parlamentarischen Faschismus. In der Erklärung stellvertretender Solidarität etwa im Bezug auf den zweiten Golfkrieg, den Kosovokrieg und die Festnahme des PKK-Führers Öcalan kann der Versuch gesehen werden, den Imperialismusbegriff neu zu bestimmen.87
81 Siehe dazu etwa Gardela, Karen / Hoffmann, Bruce, The RAND Chronology of International Terrorism for 1987, Santa Monica 1991, S. 38 und 54; Dies., The RAND Chronology of International Terrorism for 1988, Santa Monica 1992, S. 33, 59, 63 sowie Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 76 ff. 82 Siehe dazu Kassimeris, The Greek State Response to Terrorism, aaO. (FN 53), S. 297. 83 Siehe dazu Corsun, Group Profile, aaO. (FN 5), S. 101 ff. 84 Ein gleichsam paradigmatisches Beispiel hierfür bietet die schon erwähnte Erklärung zum Knieschussattentat auf Kapsalakis, siehe dazu RO 17N, Communiqué on the Kneecapping of Neurosurgeon Zacharias Kapsalakis in Athens on 4 February 1987, aaO. (FN 73). 85 Siehe dazu Kassimeris, The Greek State Response to Terrorism, aaO. (FN 53), S. 97. 86 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists: The Revolutionary Organization 17 November, 19752000, aaO. (FN 10), S. 78, konstatiert, dass die Zielauswahl notorischen Präferenzen folgte, die Ausführung der Attentate mechanisch anmute und ihnen die Symbolkraft fehle. 87 Siehe dazu etwa RO 17N, Communiqué on the Assassination of Ronald Stewart, aaO. (FN 69), 109 und 111.
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Degeneration: Von „gerechter Rache“ zu unvermittelbarem Interventionismus
Mit dem Übergang vom reinen Vergeltungsterrorismus der 1970er und frühen 1980er Jahre zur breit angelegten, politisch motivierten terroristischen Kampagne ab 1983 und schließlich zum selbstzweckhaften, in formelartiger Wiederholung erstarrendem Militarismus der 1990er einher ging eine graduell zunehmende Immunisierung der Positionen der RO 17N. Kommandoerklärungen als in sich schlüssige Ergebnisse einer historisch richtigen Analyse wurden auch dann, wenn ihre Positionen wie daraus gezogene Konsequenzen etwa im Zuge des Prozesses von 2003 kritisch hinterfragt wurden, als abschließende, nicht ergänzungsbedürftige und fast dogmenartige Äußerungen zur Thematik verabsolutiert.88 Der 1981 noch als Postulat formulierte Anspruch, Aktionen seien nur dann Bestandteil des bewaffneten revolutionären Kampfes und der bewaffneten Propaganda, wenn die politische Auswahl des Ziels als Symbol für sich selbst spräche, wurde schlicht für an sich gegeben gesetzt; indem Themen, die das alltägliche Leben der werktätigen Massen bestimmen, aufgegriffen und in ihrer Tragweite als Folgen imperialistischer Vorherrschaft dargestellt worden seien, wären diese von aus sich heraus für das einfache Volk verständlich.89 Soweit eine Verbindung zwischen angegriffenem Ziel und damit verfolgtem politischen Zweck von vorne herein schwer konstruierbar war, wie etwa bei der Ermordung des britischen Militärattaché Saunders im Juni 2000 als Reaktion auf den Kosovokrieg der NATO, mit dem der Brigadier der Armee nicht das Geringste zu tun hatte,90 wurde der begründende Zusammenhang einfach weit genug gefasst. Dadurch, dass Staatsbediensteten generell Verantwortlichkeit für die Außenpolitik ihrer Regierung wie die Politik eines gesamten Militärbündnisses zugewiesen wurde und man das NATO-Bombardement als Ausdruck der parlamentarischfaschistischen neuen Weltordnung mit den Kriegsverbrechen der Nazis gleichsetzte, ergab sich quasi von selbst die Notwendigkeit einer exemplarischen Bestrafung im Namen der unterdrückten Völker.91 Diese Degeneration in Anspruch und Vorgehen der RO 17N fand auch Niederschlag in der öffentlichen Wahrnehmung, die lange zwischen vager Sympathie und morbider Faszination chargierte.92 Während durchaus plausibel erscheint, dass die „Hinrichtungen zur Vergeltung“ zwischen 1975 und 1981 mehr als nur klammheimliche Freude in breiteren Teilen der griechischen Bevölkerung evozierten,93 und noch Anfang der 1990er die Zustimmung einer signifikanten Minderheit zumindest zu den politischen Zielen der RO 17N feststellbar war, schlugen die Sympathien nach dem Saunders-Mord und der damit verbundenen vermehrten Wahrnehmung der Opferperspektive deutlich um.94 Nur zehn Prozent der befragten Griechen maßen 2003 den Ausführungen Giotopoulos’ Bedeutung zu, das Strafverfahren gegen die mutmaßlich an der RO 17N Beteiligten sei als Aus88
Siehe dazu Kassimeris, Last Act in a Violent Drama?, aaO. (FN 47), S. 152. Siehe dazu Kassimeris, Urban Guerilla or Revolutionary Fantasist?, aaO. (FN 4), S. 27. 90 Siehe dazu Howard, Michael, Inside Story: „I Can’t Rest Until They Find His Killer“, Beilage zu The Guardian vom 8.Juni 2001, S. 4. 91 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists: The Revolutionary Organization 17 November, 19752000, aaO. (FN 10), S. 80. 92 Siehe dazu ebd., S. 237 f.. Kassimeris berichtet, dass der Abdruck von Kommandoerklärungen mit dem Logo der RO 17N auf der Titelseite den griechischen Tageszeitungen jahrelang signifikante Steigerungen der Verkaufszahlen garantierte. 93 Siehe dazu Schlamp, Killer mit grauen Schläfen, aaO. (FN13), S. 160, der - allerdings aus dritter Hand zitierend - von einer geradezu euphorischen Reaktion des linken Komponisten Mikis Theodorakis auf die Ermordung des mutmaßlichen Juntafolterers Mallios berichtet. 94 Siehe dazu Choy, In the Spotlight, aaO. (FN 12). 89
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druck einer von imperialistischen Mächten abhängigen Justiz an sich schon ungerecht und illegitim.95
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Restkonstanten siebenundzwanzigjähriger Praxis
Lange verhältnismäßig ungestörte Persistenz, abrupte Zerschlagung wie geringe gesellschaftliche und politische Relevanz lassen sich nach dem Dargestellten zumindest teilweise aus der strukturellen Verfasstheit der Epanastaiki Organosi 17 Noemvri selbst erklären. Indem sich eine geschlossene Gruppe ideologisch und emotional verbundener Mitglieder außerhalb ihrer terroristischen Tätigkeit unter bürgerlichen Namen in legalen Beschäftigungen frei bewegen konnte, ließen sich Zugriffsmöglichkeiten von Polizei und Sicherheitsbehörden minimieren, während andererseits ein einmaliger erfolgreicher Zugriff schnell die Organisation in ihrer Gesamtheit greifbar machte.96 In ihrer Geschlossenheit entwickelte die RO 17N eine selbstreferentielle Eigendynamik, durch die das bloße Fortführen des bewaffneten Kampfes zur Existenzberechtigung wurde und der eigene Aktionismus nur noch in Ansätzen hinsichtlich seiner politischen und gesellschaftlichen Relevanz hinterfragbar war, wodurch sich trotz der langen Dauer ihrer terroristischen Aktivität nur geringe Auswirkungen auf die griechische Wirklichkeit und die politische Randständigkeit der Gruppe ergaben.97 Dass die Organisation in dieser randständigen Position fast drei Jahrzehnte überdauern konnte, hängt auch mit den spezifischen Bedingungen ihrer Umwelt, im Besonderen dem unkoordinierten, indifferenten und nachgerade unprofessionellen Umgang griechischer Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden wie deren institutionellem Umfeld mit dem Phänomen Terrorismus zusammen.98 Einesteils ist dies dem inkonsistenten Verhalten aufeinander folgender Regierungen der beiden großen Parteien ND und PASOK geschuldet, die gerade in Fragen der inneren Sicherheit noch die Grabenkämpfe vergangener Zeiten ausgefochten zu haben scheinen, wodurch zweimal Antiterrorismusgesetze verabschiedet und innerhalb weniger Jahre wieder aufgehoben wurden.99 Andernteils war der Sicherheitsapparat in der Zeit nach der Metapolitefsi strukturell schwach und nicht in der Lage, effektiv auf das Auftreten und Fortbestehen sozialrevolutionärer Gruppen zu reagieren.100 Dafür wird einerseits ein ideologisch motivierter Rückbau der Sicherheitsorgane und die Entlassung gerade der Antisubversionsexperten verantwortlich gemacht.101 Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass gerade 95
Siehe dazu Kadritzke, 21-mal Lebenslänglich für Terrorchef, aaO. (FN 48). Siehe dazu Kassimeris, Last Act in a Violent Drama?, aaO. (FN 47), S. 139. 97 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN11), S. 149 ff. 98 Siehe dazu Kassimeris, The Greek State Response to Terrorism, aaO. (FN 53) S. 308. Eindrückliches Beispiel hierfür ist das völlige Fehlschlagen einer Polizeiaktion in Athen, bei der die im Hinterhalt liegenden Beamten weder über Funkgeräte verfügten noch den Versuch einer Verfolgung des flüchtenden Kommandos machten. Siehe dazu RO 17N, Communiqué on the Luuisa Rankour Street Incident on 27 March 1992, in: Kassimeris, George, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 233 ff. 99 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists, aaO. (FN 11), S. 155-191, der jedoch auch darauf hinweist, dass Gesetzgebung allein noch keine konsistente Antiterrorismusstrategie darstellt und die einzelnen legislativen Maßnahmenpakete strukturelle Defizite aufwiesen. 100 Siehe dazu Kassimeris, Europe’s Last Red Terrorists: The Revolutionary Organization 17 November, 19752000, aaO. (FN 10), S. 81 f. 101 So Bakoyannis, Dora, Terrorism in Greece: Revisting an Issue, in: Mediterranean Quarterly, Band 12 Heft 3 (Sommer 2001), S. 1-7, 4 f. 96
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das Ausbleiben grundlegender Reformen unter Karamlis eine Sicherheitsarchitektur weitgehend intakt ließ, die mehr auf die Verfolgung bestimmter Gesinnungen als die Untersuchung und Prävention von Straftaten ausgerichtet war, weiterhin nach politischen Kriterien besetzt wurde und mit einem Instrumentarium überkommener Methoden, Taktiken wie weltanschaulicher Präferenzen schlicht nicht im Stande war, mit der neuen Bedrohung umzugehen.102 Nachdem schon in den 1980ern das Ausbleiben von Erfolgen in der Terrorismusbekämpfung zu Spannungen zwischen Griechenland und den USA sowie daraus resultierenden Reisewarnungen mit empfindlichen Einbußen in der Tourismusindustrie geführt hatten,103 wurde nach der Ermordung von Saunders und im Vorfeld der Olympischen Spiele von 2004 unter internationalem Druck eine Zusammenarbeit zwischen griechischen, britischen und anderen ausländischen Sicherheitsbehörden zum Aufbau einer effektiven Antiterrorismusstrategie vereinbart.104 Inwieweit diese zum Fahndungserfolg gegen die RO 17N beigetragen hat lässt sich allerdings nicht genau feststellen, war doch Ursache der entscheidenden Festnahme die Fehlzündung einer Bombe. Mit Inhaftierung der gesamten Kommandoebene und Abschluss des Prozesses gegen die Mitglieder der RO 17N im Dezember 2003 wie auch der Rechtsbehelfsverfahren, ist die Geschichte dieser „kämpfenden kommunistischen Organisation“105 wohl als endgültig beendet anzusehen.106 Das Phänomen sozialrevolutionärer Terrorismus als solches jedoch existiert in Griechenland weiterhin: Bereits kurz nach Ende Verfahrens der RO 17N kam es wieder zu Anschlägen, die in der Art ihrer Ausführung wie auch den avisierten Zielen an Attentate der Gruppe erinnerten, so fanden unter anderem Autobomben und Raketenwerfer Verwendung, deren Ziele Politiker, Polizeitransporte und die amerikanische Botschaft waren.107 Ein Teil dieser Attentate bezog sich wohl auch auf die Gefangenen aus der RO 17N, wenngleich deren Stil treu bleibend keine Freipressungsversuche unternommen wurden, sondern eher die Situation der Inhaftierten thematisiert und in den reibungslosen Ablauf von Strafvollzug und nachfolgenden Prozessen interveniert werden sollte. Teilweise wird gemutmaßt, dass der „Revolutionäre Kampf“, der sich zu den meisten der genannten Attentate bekannte, aus ehemaligen Mitgliedern der RO 17N, die der Verhaftung entgehen konnten und den Restbeständen anderer terroristischer Gruppierungen wie dem „Revolutionären Volkskampf“ (ELA) besteht.108 Ob dies bloße Nachwehen einer fast drei Jahrzehnte dauernden Kampagne politischer Gewalt, lediglich extremistische Auswüchse regelmäßig vorkommender gewalttätiger Proteste oder der Beginn einer nachahmenden neuen Welle sozialrevolutionären Terrorismus sind,109 lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit feststellen.
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Siehe dazu Kassimeris, Greece: Twenty Years of Political Terrorism, aaO. (FN 14), S. 84 f. Siehe dazu Clogg, A Concise History of Greece, aaO. (FN 23), S. 190. 104 Siehe dazu The Guardian vom 7. März 2001, S. 16 und The New York Times vom 13. Juni 2000, Teil A S. 3. 105 So die Systematisierung von Alexander und Pluchinsky, siehe Pluchinsky, Western Europe’s Red Terrorists, aaO. (FN 46), S. 16 und 20 ff. 106 Siehe dazu Kassimeris, Last Act in a Violent Drama?, aaO. (FN 47), S. 153. 107 Siehe dazu The Guardian vom 13 Januar 2007, S. 25 und The New York Times vom 31. Mai 2006, Teil A S. 8. sowie Kassimeris, Last Act in a Violent Drama?, aaO. (FN 47), S. 154. 108 Siehe dazu Spyroglou, Valentine, Athens Rocket Attack Highlights Left-Jihadi Terrorism Links, in: Defense & Foreign Affairs' Strategic Policy January 2007, S. 24 ff; vollständig verlässlich scheint diese Quelle nicht zu sein, immerhin ist der Bericht unter der Rubrik „Aktuelle Einschätzungen“ geführt und beruft sich mit hoher Frequenz auf nicht näher spezifizierte „gutunterrichtete Kreise“ wie „Terrorismusexperten“. 109 Siehe dazu Kassimeris, Last Act in a Violent Drama?, aaO. (FN 47), S. 153 f. 103
Erfolgreicher Terrorismus? Die Tupamaros in Uruguay
Die Tupamaros in Uruguay
Nina Huthöfer
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„Robin Hood verlässt die Wälder“ – Die uruguayische Stadtguerilla
„(…) Latin America is a global laboratory for political violence, with such puzzling complexity of forms and types of action as to include, in nuce if not in a full-fledged manner, most of the patterns of violence that have been used in the past two and a half decades.“1 In Lateinamerika wurde nahezu jede Form politischer Gewalt (neu) erfunden, „verfeinert“ und schließlich in die Länder der Ersten und andere Teile der Dritten Welt exportiert. So war auch die Stadtguerilla Uruguays Vorbild für andere revolutionäre Gruppen auf der ganzen Welt, wie die Rote Armee Fraktion2 in der Bundesrepublik Deutschland. Die RAF sah die Erfahrungen und Berichte aus Lateinamerika als direkte Handlungsanweisung.3 Die Stadtguerilla Tupamaros oder auch Movimiento de Liberación Nacional (MLN), die in den 1960er/70er Jahren in Uruguay einen bewaffneten Kampf gegen die Staatsgewalt führten, wurden aufgrund ihrer Erfolge und ihrer „Ungreifbarkeit“ für die Polizei aufgrund ihrer guten Infrastruktur weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Lange Zeit wurden die Tupamaros von der „demokratischen“ Regierung nicht als Gefahr wahrgenommen und „spielten“ mit den Sicherheitskräften erfolgreich „Katz und Maus“. Fritz René Allemann ist sogar der Überzeugung, dass die Tupamaros das von ihnen erfundene Konzept der StadtGuerilla zu einer Vollendung brachten, die in anderen Ländern nie wieder erreicht wurde.4 Die uruguayischen Revolutionäre schlugen mit der Gründung einer Stadtguerilla einen neuen Weg ein. Bis dahin waren alle Guerillagruppen dem Focismo nach kubanischem Modell gefolgt und hatten demzufolge ihre Aktionen vom Hinterland aus gestartet. Mit der Entscheidung zum urbanen Partisanenkampf passten sich die Tupamaros den gegebenen Verhältnissen an. Diese Wahl hatte Auswirkungen auf die Struktur und den Aktionismus der Bewegung, die sie von der Landguerilla unterscheiden. Obwohl es die Guerilleros bis zum Jahr 1972 schafften, zu einem dem Staat mindestens ebenbürtigen Machtfaktor aufzusteigen, war der Kampf der Tupamaros gegen das etablierte politische System letzten Endes nicht von Erfolg gekrönt. Das Militär konnte sie 1972 innerhalb eines halben Jahres personell so weit schwächen, dass eine Weiterführung des Kampfes unmöglich wurde. Einer der langfristigen Gründe für das Scheitern der Tupamaros ist sicherlich die lange demokratische Tradition in Uruguay, wodurch die breite 1
Radu, Michael S., Terror, Terrorism, and Insurgency in Latin America, in: Orbis Vol. 28 (1984) Nr. 1, S. 27-41 (S. 28). 2 Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 3 Dennoch ergeben sich im Vergleich der beiden Organisationen bedeutende Unterschiede, u. a. in der Anbindung an die Parteien des linken Lagers. Siehe dazu Krumweide, Heinrich-W., Die Tupamaros, in: Waldmann, Peter (Hrsg.), Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2005, S. 47-52. 4 Allemann, Fritz René, Macht und Ohnmacht der Guerilla, München 1974, S. 311.
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Masse nicht vom Erfolg des bewaffneten Kampfes überzeugt werden konnte. Die Tupamaros, die die Repressionen der Militärdiktatur überlebt hatten, schworen nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis dem bewaffneten Kampf ab und schlugen den friedlichen Weg ein. Der Moviemiento de Liberacion Nacional ist heute Teil des Bündnisses Frente Amplio, das seit 2004 an der Regierungsspitze steht.
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Von der „Schweiz“ zum „Griechenland Lateinamerikas“
2.1 Uruguays Demokratie – Ein Vorbild für Lateinamerika Während des gesamten 19. Jahrhunderts war das kleine Land an der Südostküste des amerikanischen Kontinents Zankapfel auswärtiger Mächte. Zuerst konkurrierten Spanier und Portugiesen um die viehreiche Kolonie, später waren es Argentinier und Brasilianer. Im Jahre 1828 waren die Vermittlungsversuche der Engländer erfolgreich und Uruguay wurde als eigenständiger Staat anerkannt.5 Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern schlug die Bevölkerung Uruguays den Weg der Demokratie ein. Von 1865 an verliefen die Machtwechsel 100 Jahre fast ununterbrochen im institutionellen, demokratischen Rahmen.6 Präsident José Pablo Torcuato Batlle y Ordóñez7, der einige Jahre in der Schweiz verbracht hatte und deren Regierungssystem bewunderte, legte in seinem Land die Fundamente für ein stabiles politisches System und wirtschaftliche Prosperität. Der Batllismus sorgte für eine relativ konfliktfreie Teilung der Regierungsarbeit zwischen den beiden traditionellen Parteien, dem Partido Nacional (Blancos), der hauptsächlich die ländlichen Eliten vertrat, und dem Partido Colorado (Colorados) der Arbeiter und Kleinbürger repräsentierte. Ab dem Jahr 1903 wechselten sie sich 70 Jahre lang an der Regierung des lateinamerikanischen Landes ab. In den fünfziger Jahren regierten sie das Land nach dem Prinzip der Konkordanz und proportionalen Partizipation in Form eines Regierungskollegiums. Die beiden Parteien waren dabei ein Sammelbecken für Mitglieder aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Doch trotz der Dominanz der Großparteien war es auch anderen Parteien möglich, ihre Interessen und Ziele öffentlich zu artikulieren. Im linken Spektrum etablierten sich der Partido Comunista de Uruguay und der Partido Socialista de Uruguay (PSU). Außerdem waren Pressefreiheit und freie Meinungsäußerung garantiert. Den Bürgern standen somit mehrere Wege zur politischen Partizipation offen. Die Bereitschaft, Gewalt zur Durchsetzung von Interessen einzusetzen, war daher gering. Ein weiterer befriedender Faktor war die nahezu homogene Bevölkerungsstruktur. Nahezu neunzig Prozent der Bevölkerung waren Europäer, so dass der andere lateinamerikanische Staaten prägende Konflikt zwischen Indigenas, Mestizen und Spaniern in Uruguay keinen Raum fand. Daneben zeigten sich in Uruguay zahlreiche weitere Elemente, die einer Demokratisierung förderlich waren. Ebenso wie das politische System war auch die Wirtschaft viele Jahrzehnte durch Stabilität geprägt. Mit den Gewinnen aus dem Export von Fleisch, Leder und Wolle wurde ein Sozialstaat aufgebaut, der bestehende gesellschaftliche Ungleichgewichte rasch abzufedern vermochte. Infolge der ökonomischen Modernisierung bildete sich eine breite Mittel5 Argentinien und Brasilien unterzeichneten 1828 den Vertrag von Montevideo, mit dem der Staat Uruguay als Puffer zwischen den beiden Ländern gegründet wurde. 6 Vgl. Luff, Johannes, Beziehungen zwischen politischer Gewalt und sozialer Anomie, Pfaffenweiler 1989, S. 209. 7 José Batlle y Ordóñez war von 1903 bis 1907 und 1911 bis 1915 Präsident Uruguays.
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schicht heraus, was zusätzlich zur sozialen Befriedung beitrug und einer positiv geprägten politischen Kultur Vorschub leistete.
2.2 Verfall des politischen und wirtschaftlichen Systems Allerdings zeichnete sich ab Mitte der fünfziger Jahre ein Ende des wirtschaftlichen Wachstums ab und Mitte der sechziger Jahre geriet das Entwicklungsmodell schließlich aufgrund der weltweiten Wirtschaftskrise ins Wanken. Der internationale Preisverfall der Agrarprodukte, eine massive Kapitalflucht und eine zunehmend negative Zahlungsbilanz waren die Auswirkungen. Die Stagnation auf dem ersten Sektor traf Uruguay, das auf Viehzucht spezialisiert war8, besonders hart. Während des Zweiten Weltkriegs und des Koreakriegs hatte Uruguay noch von den Produktionsausfällen in den Krisenregionen profitiert. Allerdings verpasste man, mit einem Teil der Gewinne die Diversifizierung der Ökonomie und damit auch die Modernisierung der Produktionsstätten voranzutreiben. Nach 1945 konnte man mit den sich rasch erholenden Ländern nicht länger Schritt halten. Die kleinen Landwirtschaftsbetriebe stellten für die auf den Markt drängenden Großunternehmen keine Konkurrenz dar. Die geringe Einwohnerzahl von knapp drei Millionen konnte keine angemessene industrielle Basis schaffen, die die Ausfälle aus dem Agrarsektor hätte auffangen können. Folge war eine Zunahme der Auslandsverschuldung, Arbeitslosigkeit und Massenemigration. Als Folge der ökonomischen Probleme konnten auch die hohen Kosten des Wohlfahrtsstaates nicht mehr gedeckt werden. Eine politisch-institutionelle Krise kam erschwerend hinzu. Es zeigte sich die Ineffizienz der auf Klientelismus beruhenden Verwaltung.9 Die Strukturen der Colorados und Blancos waren verkrustet, da Führungsämter meist in der Familie weitergegeben wurden. Neumitglieder hatten daher keine Chance in der Partei aufzusteigen.10 In einem Verfassungsreferendum stimmte das Volk 1966 der Auflösung des Regierungskollegiums und der Wiedereinführung des präsidentiellen Systems zu. Doch auch diese institutionelle Veränderung verbesserte die Entscheidungskompetenz der politischen Verantwortlichen nicht. Die Jahrzehnte lange Dominanz der beiden Großparteien hatte ein unflexibles, konservatives System entstehen lassen. Blancos und Colorados waren nicht zur Aufgabe des Status quo bereit, wodurch die dringend notwendigen Reformen verhindert wurden. Die Linke konnte diese Ohnmacht der Traditionsparteien nicht für sich nutzen. Nicht mehr als 6,5 Prozent11 aller Stimmen konnte die gesamte Linke 1966 auf sich vereinigen. Trotz des großen Einflusses der kommunistischen Partei auf die Arbeiterbewegung war das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Konfliktlösungsfähigkeit nicht tief genug, um sie an die Spitze der Regierung zu führen. Gerade die Mittelschicht, die etwa 60 Prozent der Bevölkerung ausmachte, wollte keinen Systemwechsel aus Furcht vor sozialem Abstieg.
8 Bis etwa Mitte der 60er Jahre machten Produkte der Landwirtschaft und Viehzucht einen Anteil von 87 Prozent an den Exporten des Landes aus. Siehe dazu Luff, Beziehungen zwischen politischer Gewalt und sozialer Anomie, aaO. (FN 6), S. 212. 9 Die staatliche Verwaltung umfasste 1961 21,1 Prozent der Bevölkerung und band etwa 35 Prozent der Staatsausgaben. Siehe dazu Nohlen, Dieter, Uruguay, in: Waldmann, Peter/ Zellinsky, Ulrich (Hrsg.), Politisches Lexikon Lateinamerika, München 1982, S. 301. 10 Vgl. Luff, Beziehungen zwischen politischer Gewalt und sozialer Anomie, aaO. (FN 6), S. 215. 11 Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, aaO. (FN 4), S. 314.
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Erst als sich die Lage immer mehr zuspitzte und auf den Colorado-Präsidenten General Óscar Diego Gestido Pose (1966-1967) sein ultrakonservativer Parteikollege Jorge Pacheco Areco (1967-1972) folgte, dessen Sanierungsprogramm von der Mittel- und Unterschicht große Opfer verlangte, kam es zu einer Radikalisierung der Arbeiterbewegung sowie eines Teils der Mittelschicht. Die Gewerkschaften erhielten Zulauf, wovon gerade die der Kommunistischen Partei nahe stehende Convención Nacional de Trabajadores (CNT) profitierte. Es bedurfte jedoch weiterer Faktoren, die Teile der uruguayischen Bevölkerung zu den Waffen greifen ließ und tausende Weitere zur Unterstützung der Guerilleros veranlassten.12 Dies war zum einen der Wandel der Demokratie zu einem autoritären System, den hauptsächlich Präsident Jorge Pacheco Areco vorantrieb. Zum anderen waren es äußere Einflüsse, die Gewalt als Mittel zur politischen Konfliktaustragung legitimierten. Die Revolution auf Kuba zeigte ein neues Beispiel revolutionärer Tradition in Lateinamerika, und wie in anderen Ländern des Kontinents war auch in Uruguay die junge Generation fasziniert von den Guerilleros. Uruguays Anfälligkeit für die ökonomische Krise sorgte dafür, dass utopische Zukunftsvisionen einen fruchtbaren Nährboden fanden. Die Guerilleros riefen dazu auf, sich wieder auf die nationalen Wurzeln zu besinnen, anstatt sich an die USA zu binden. Stattdessen sollten sozialistische Systeme auf dem ganzen Kontinent etabliert werden. Die potentiell Revolutionswilligen wurden mit Schriften versorgt, die Theorie und Strategie des Guerillakampfes zum Inhalt hatten. Dazu gehörten Che Guevaras „Guerra de Guerillas“ und die Texte Régis Debrays.13 Vor diesem Hintergrund kam es Anfang der 1960er Jahre in Uruguay zur Gründung der Guerillabewegung Tupamaros und zur sukzessiven Aushöhlung der demokratischen Institutionen durch die Colorado-Regierungen.
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Aufbau und Struktur der Tupamaros
3.1 Bündnis aus verschiedenen linken Gruppen Zu Beginn bestanden die Tupamaros aus ca. 50 Mitgliedern, die ihrerseits wiederum hauptsächlich aus drei Gruppierungen stammten. Ein Teil kam vom castristischen Movimiento Revolucionario Oriental, den Eleuterio Fernandéz Huidobro anführte, ein zweiter Teil rekrutierte sich aus der Zuckerrohrbewegung aus Artigas, der Raúl Sendic vorstand. Die dritte Gruppe bildete sich aus Anhängern der PSU unter Tabaré Rivero. Einige stammten vom marxistisch-leninistischen Movimiento de Izquierda Revolucionario. Lediglich ein Mitglied der Tupamaros kam vom PCU. Selbst einige Flüchtlinge aus Brasilien und Argentinien schlossen sich ihnen an.14 Der heterogene Zusammenschluss wurde durch die Überzeugung zusammengehalten: „Words divide us; action unites us.“15 Dennoch kam es im 12 Fischer, Thomas, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Band 2, Hamburg 2006, S. 739. 13 Vgl. Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 738f. Siehe dazu den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Sammelband. 14 Vgl. Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 741. 15 Anonymus, Latin America Review of Books, Generals and Tupamaros - The struggle for power in Uruguay 1969-1973, London 1974, Introduction, S. 2.
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Jahr 1964 zu Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Strömungen, die zum Ausschluss einer Reihe von Mitgliedern führte. Die kollektive Führung und der weitgehende Verzicht auf eine Ideologie sorgte dafür, dass es in den Folgejahren zu keinen vergleichbaren Rivalitäten mehr kam, wie sie die Guerilla in vielen anderen Ländern spalteten. Obwohl zu den Tupamaros auch ehemalige Mitglieder der Sozialisten und Kommunisten gehörten, unterstanden sie keiner Partei. Sie fassten die Gründung einer eigenen Partei zu einem späteren Zeitpunkt zwar ins Auge, ordneten diese aber dem bewaffneten Kampf unter: „’(…) with a Party or without a Party.’ The Revolution cannot wait“.16 1969 hatte die Gruppe die personelle Schwächung infolge der Verfolgung durch den Staat drei Jahre zuvor überwunden. Die Tupamaros zählten zu diesem Zeitpunkt ca. 200 „aktive“ Mitglieder. Die „aktiven“ Mitglieder waren unmittelbar an Operationen beteiligt. Für ihre Teilnahme am bewaffneten Kampf mussten sie ein großes Maß an Mut vorweisen, der in schweren Prüfungen getestet wurde, und große persönliche Opfer bringen. Aufgrund ihrer Popularität innerhalb der Bevölkerung konnten sich die Tupamaros auf ein breites Netz an „Helfern“ stützen. Sie arbeiteten mit Fachkräften und Informanten aus der Verwaltung und Betrieben zusammen, die bei vielen Operationen den Erfolg durch ihr Insider-Wissen erst ermöglichten. So wurden sie von Bankbeamten und Angestellten staatlicher Wirtschaftsunternehmen mit wichtigen Informationen versorgt, Ärzte sowie Krankenschwestern kümmerten sich um die verwundeten Kämpfer. Ebenso standen den Tupamaros Mechaniker und Sprengstoffspezialisten zur Verfügung.17 Aus diesem Kreis der Unterstützer rekrutierten sie im Fall von Verlusten neue „aktive“ Mitglieder, wodurch der personelle Nachschub gesichert war und auch die gestiegene Opferzahl aufgrund der Eskalation des Kampfes ab 1970 ausgeglichen werden konnte. Auf die Staatsmacht musste die Organisation wie eine Hydra wirken, der unaufhörlich neue Köpfe wuchsen. Die Mitglieder rekrutierten sich aus allen sozialen Schichten und Berufen. Arbeiter zählten genauso zu ihnen wie Geistliche und Regierungsangestellte. Dennoch kam ein Großteil aus Akademikerkreisen, so dass zeitweise gescherzt wurde, ein Doktortitel sei für die Mitgliedschaft obligatorisch. Über die Ebene der Unterstützer waren die „aktiven“ Kämpfer, v. a. die Führung, dennoch immer mit der Bevölkerung, den Parteien des linken Lagers und den Gewerkschaften in Kontakt. Insgesamt ist die organisatorische Struktur der Tupamaros mit einer Pyramide vergleichbar, deren breite Basis dafür sorgte, dass die Spitze nicht ausdünnte. Für die Sicherheitskräfte war es so nur schwer möglich, die Bewegung zu zerstören. Erfolgreich sollte dies erst durch breit angelegte Repressionen des Militärs werden, die auch die Ebene der Unterstützer nicht verschonte. Unter den Mitgliedern der Tupamaros gab es im Vergleich zu anderen Guerillagruppen einen relativ hohen Frauenanteil. Ein Drittel der Guerilleros war weiblich.18 Diese gro-
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Aus “Thirty Questions to a Tupamaro”, zitiert in: Kohl, James/ Litt, John (Hrsg.), Urban Guerilla Warfare in Latin America, Cambridge, 1974, S. 231. 17 Vgl. Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 746. 18 Waldmann, Peter, Vergleichende Bemerkungen zu den Guerillabewegungen in Argentinien, Guatemala, Nicaragua und Uruguay, in: Lindenberg, Klaus (Hrsg.),Lateinamerika, Bonn 1982, S. 103-124 (S. 111).
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ße Bereitschaft kann mit der sozialen Herkunft der Mehrheit der Tupamaros erklärt werden.19 Unter der autoritären Herrschaft des Präsidenten Pacheco schlossen sich besonders viele Studenten den Tupamaros an. Sie waren durch die wirtschaftliche Krise besonders betroffen, und die Furcht vor sozialem Abstieg machte sie für revolutionäre Ideen zugänglich. Nur ein Drittel hatte im Montevideo der sechziger Jahre die nötigen Mittel, um ihrem Studium kontinuierlich nachzugehen, und nur 3,3 Prozent derer, die ein Studium begonnen hatten, erwarben 1967 einen Abschluss.20 Der Rest musste in den schlecht bezahlten Dienstleistungsbereich ausweichen, wollte deshalb die gesellschaftliche Situation verändern und war entsprechend empfänglich für idealistische Weltbilder und nationale Helden. Angeheizt wurde die Stimmung durch die Radikalisierung der internationalen Studentenbewegung infolge der Eskalation des Vietnamkrieges und der Ermordung Che Guevaras. Schließlich kam hinzu, dass Pacheco einen harten Kurs im Kampf gegen die „Subversiven“ eingeschlagen hatte. Die staatlichen Repressionen nahmen zu und die bürgerlichen Freiheiten wurden immer stärker eingeschränkt. In einer umgekehrten „Aktions-RepressionsSpirale“ reagierten die Tupamaros darauf mit einer qualitativen und quantitativen Steigerung ihrer Operationen. Mit spektakulären Aktionen wie der Besetzung der Stadt Pando machten die Tupamaros auf den zunehmenden Autoritarismus des Präsidenten aufmerksam. Das harte Vorgehen der Regierung stieß umso mehr auf Widerstand, als die Tupamaros bis 1969 einen weitgehend unblutigen Krieg gegen das Regime geführt hatten. Die Solidarität mit den Untergrundkämpfern nahm in der Folge zu, woraufhin die Sicherheitskräfte ihre Maßnahmen weiter verschärften. Indem man sich 1971 auch den Syndikalisten öffnete, kamen weitere Mitglieder hinzu. Der Guerillero Eleuterio Fernández Huidobro gab in einem Interview an, dass sich die Tupamaros infolge des „Sicherheitsgesetzes“ Medias Prontas de Seguridad nicht länger um die Anwerbung neuer Mitglieder sorgen mussten. Das Land durchlebte gerade eine Periode zunehmender Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung. Wir [Tupamaros] wuchsen im studentischen und im Gewerkschaftsbereich, ganze Gruppen sind (…) uns beigetreten, wir mussten die Leute nicht erst von unseren Vorstellungen überzeugen, sie kamen schon überzeugt zu uns.21
3.2 Militärische Hierarchie und „innere Demokratie“ Die Organisation der Tupamaros wurde in einem Reglement festgelegt, das 1965 erlassen und 1966 weitgehend bestätigt wurde. Die Führung der Tupamaros übernahm das Exekutivkomitee. Es konnte durch die Nationalversammlung, die innerhalb von 18 Monaten zusammentreten musste und in der alle Einheiten vertreten sein sollten, verändert werden. Dies kam faktisch jedoch nie vor. Die Mitglieder des Exekutivkomitees schützten sich mit Hilfe von Decknamen, die Nachfolge im Falle ihrer Verhaftung oder Ermordung war geregelt. Die Identität der Führer blieb selbst den meisten Tupamaros verborgen. Wer sich hin19
Laut Waldmann ist dies damit zu erklären, dass Frauen aus der Mittelschicht eher dazu bereit sind, sich politischen zu engagieren als Frauen aus der Unterschicht. Siehe Waldmann, Vergleichende Bemerkungen zu den Guerillabewegungen in Argentinien, Guatemala, Nicaragua und Uruguay, aaO. (FN 18), S. 111. 20 Ebd., S. 114. 21 Interview mit Huidobro, Eleuterio Fernández, in: Weber, Gaby, Die Guerilla zieht Bilanz, Gießen 1989, S. 115.
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ter dem ersten Exekutivkomitee verbarg, wurde erst nach der Verhaftung der Männer bekannt: Es soll sich dabei um Raúl Sendic, Eleuterio Fernández Huidobro und Tabaré Rivero gehandelt haben. Das Exekutivkomitee legte eine militärische Hierarchie fest und verteilte die Aufgaben und Aufträge auf die einzelnen Zellen. Trotz dieses Führungsgremiums kann man nicht von einer Dominanz einiger weniger sprechen. Die „Führer“ hielten sich vielmehr im Hintergrund. Zum einen um ihre Identität zu schützen, zum anderen aus Abneigung gegenüber elitistischen Tendenzen innerhalb der Tupamaros. Einen einzelnen Caudillo22 wie in anderen Guerillaorganisationen gab es nicht, auch wenn der Name Sendic sehr häufig mit den Tupamaros assoziiert wird. Die Aufgliederung der Exekutive weist darauf hin, dass die Führung der Gruppe nicht in der Hand eines Einzelnen lag. In dem Dokument wurde außerdem die Zellenstruktur festgeschrieben. Diese Organisationsform wurde gewählt, um in der Stadt beweglicher zu sein und sich besser verstecken zu können. Hierin unterscheidet sich die Organisation der Stadtguerilla klar von der Landguerilla, die als militärische Einheit und reguläre Gegenarmee auftritt. Die Zellen waren wiederum untergliedert in militante und periphere Zellen. Während den militanten Zellen ein hohes Maß an Disziplin abverlangt wurde und sie nur auf Befehl des Exekutivkomitees handelten, kamen den peripheren Zellen unterstützende Aufgaben zu. So waren sie unter anderem für die Informationsbeschaffung, die Logistik und Planung von Operationen zuständig. Im Gegensatz zu den militanten Zellen, die hierarchisch geprägt waren, unterstanden die peripheren Zellen weniger den Weisungen des Exekutivkomitees. Die Zellen bestanden jeweils aus mindestens zwei Personen und einem Verantwortlichen, den das Exekutivkomitee bestimmte. Um zu verhindern, dass sich zwischen den Mitgliedern der einzelnen Zellen persönliche Bindungen und Loyalitäten bildeten, die der Gruppe als Ganzes geschadet hätten, wurde jegliche Kommunikation zwischen den Zellen unterbunden. Informationen und Befehle liefen lediglich über die Führungsspitze. Man stellte so sicher, dass ein verhafteter Tupamaro unter Folter nicht die ganze Bewegung verraten konnte.23 Man kann sagen, dass Aufsplitterung und Verschwiegenheit für die Stadtguerilla das sind, was der geheime Pfad für die Landguerilla ist. Das System des nicht mehr Wissens, als man wissen sollte, des nicht mehr Sagens, als man sagen sollte, das System, nur Orte zu kennen, die man kennen muß, um seine eigenen Aktionen auszuführen, und nicht mehr Namen zu wissen, als man unbedingt wissen muß, noch nicht einmal der Genossen in der eigenen Zelle, der Gebrauch von Decknamen anstelle der wirklichen Namen, ist eine Garantie dafür, dass, wann immer einer der Kader verhaftet wird, der Schaden für die Bewegung gering oder praktisch gleich null ist. Sagen wir, dass alles dies unseren Schutzschild bildet.24
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Der Caudillo ist eine spezifisch lateinamerikanische Form vereinter politischer und militärischer Führerschaft. In Folge der Dekolonialisierung mangelte es an zivilen politischen Eliten, weshalb das Militär und damit auch regionale militärische Machthaber politische Einflusssphären errichten konnten. Die Herrschaftstechnik eines Caudillo zeichnete sich dabei durch hochgradige Vernetzungen, Klientelismus und Patronage aus. Bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein erwies sich das politisch-kulturelle Erbe des Caudillismus somit auch als Demokratisierungshindernis. Siehe dazu Tretter, Ulrich, Der Caudillismus. Strukturen lateinamerikanischer Regierungssysteme, Würzburg 1989. 23 Vgl. Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, aaO. (FN 4), S. 318-320. Vgl. dazu auch Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 747. 24 Interview mit Urbano, in: Schubert, Alex, Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay - Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik, Berlin 1971, S. 73.
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Die Zellen waren allerdings nicht nur ausführende Glieder, sondern wurden auch in die Planung einbezogen. Vor wichtigen Aktionen wurde die Meinung von einzelnen Zellenmitgliedern eingeholt. Ebenso wurde jede Operation im Nachhinein auf ihre Erfolge und Defizite hin analysiert. Die „einfachen“ Mitglieder waren also durchaus an den Entscheidungen beteiligt, das Privileg, endgültige strategische Entscheidungen zu treffen, oblag aber dem Exekutivkomitee. Dieses Vorgehen ermöglichte eine schrittweise Professionalisierung Neumitglieder wurden meist aus den Netzwerken „Familie“ oder „Freunde“ rekrutiert. Indem Personen rekrutiert wurden, die einzelnen Tupamaros bereits bekannt waren, sollte die Bewegung „dicht“ gehalten und Verrat verhindert werden. Dieses ausgedehnte Beziehungsnetz verschaffte den Tupamaros einen klaren Vorteil gegenüber der Polizei, die somit wenig Chancen hatte, die Organisation zu infiltrieren. Von den Guerilleros wurde verlangt, sich gesellschaftlich zurückzuziehen bzw. unter Umständen sogar alle Bindungen abzubrechen und abzutauchen. Man musste bereit sein, sich dem Feind im bewaffneten Kampf zu stellen und diesem die absolute Priorität zu geben. 1969 ging man dazu über, Kolonnen zu bilden, in denen mehrere Zellen zusammengefasst wurden. Jede Kolonne war eine verkleinerte Kopie der Bewegung als Ganzes mit eigenen Einrichtungen und einem aus drei Personen bestehenden Direktorium.25 Mit dieser organisatorischen Änderung trug man den wachsenden Mitgliederzahlen und der gestiegenen Zahl an Operationen Rechnung. Zwar erschwerte diese Aufsplitterung die Koordination, stellte aber sicher, dass die Aktionen auch nach Verhaftung einzelner Mitglieder weitergeführt werden konnten. Die Vorsichtsmaßnahmen, die die Tupamaros zum Schutz vor Verrat eingebaut hatten, funktionierten bis 1972. Erst als das Militär zur systematischen Folter der verhafteten Guerilleros und ihrer Sympathisanten überging, konnten diese Mechanismen der Übermacht der Sicherheitskräfte nicht mehr standhalten.
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Der Aktionismus des Movimiento de Liberación Nacional (MLN)
4.1 Ursprünge der Tupamaros: Häuptling Tupac Amaru und die Zuckerrohrbewegung Das Konzept der Stadtguerilla, dessen theoretische Fundierung später von Carlos Marighella26 in seinem Handbuch des Stadtguerillero vorgenommen wurde, wurde „[…] von den Tupamaros in Uruguay praktisch zu einem nie vorher und nie nachher erreichten Höhepunkt der Perfektion fortgebildet.“27 Sie wandten die Mittel terroristischer Gewalt „[…] bald in gröbsten und brutalsten Formen [an], bald raffiniert und fast spielerisch.“28 Die Tupamaros gaben der direkten Aktion Vorrang vor theoretischen Erklärungen und Begründungen. Die endlosen ideologischen Diskussionen innerhalb der Linken hielten sie für unfruchtbar und die Gemeinsamkeit schädigend.29 Man wollte sich keiner Weltanschauung verschreiben, weil man als Plattform für alle politischen Strömungen dienen wollte. 25
Vgl. Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, aaO. (FN 4), S. 325. Marighella, Carlos, Handbuch des Stadtguerillero, 1969. Carlos Marighella stützte sich bei seinen Ausführungen auch auf die praktischen Erfahrungen der Tupamaros. Sein „Büchlein“ galt allen nachfolgenden sozialrevolutionären Gruppen als Leitfaden. Siehe dazu den einführenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 27 Allemann, Fritz René, Terrorismus in Lateinamerika – Motive und Erscheinungsformen, in: Funke, Manfred (Hrsg.) Terrorismus – Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik, Bonn 1977, S. 176. 28 Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, aaO. (FN 4), S. 327. 29 Vgl. Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 748. 26
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Aufgrund der unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Bewegung fiel es schwer, langfristige Ziele zu formulieren. Sicherlich kann man den Mangel an langfristiger Planung als einen der Gründe für das Scheitern der Tupamaros sehen. Waldmann hält diesen ausgeprägten Pragmatismus und die Abneigung der Tupamaros gegenüber dogmatischer Haarspalterei aber auch für einen der Hauptgründe für ihre Geschlossenheit und Schlagkraft.30 Was jedoch Taktik und Organisation der Aktionen betraf, gehörten die Führer der Tupamaros zu den fähigsten und innovativsten unter den lateinamerikanischen revolutionären Gruppen. Grundsätzlich unterschieden sie „(…) taktische Aktionen, die der Beschaffung von Nachschub dien[t]en; und es [gab] Propagandaaktionen und direkte Aktionen gegen das Regime.“31 Bei ihren Operationen legten sie großen Wert auf Flexibilität und schnelle Reaktionsfähigkeit. Dem Handeln in der unmittelbaren Gegenwart sprach man die größte symbolische Aussagekraft zu, weshalb sie ihre Strategie stets der aktuellen Situation anzupassen versuchten. Bei der Planung der Aktionen wurde nichts dem Zufall überlassen und auf Veränderungen sofort reagiert. Hinter jeder Operation und jeder Phase des Schweigens verbarg sich eine verschlüsselte Botschaft.32 Zu diesem Spiel mit Symbolen gehörte nach Ansicht Fischers auch das „Katz- und Maus-Spiel“, das man den Sicherheitskräften aufzuzwingen suchte.33 Angriffe auf allgemein verhasste Personen und das Aufdecken illegaler Machenschaften großer Firmen und der herrschenden Klasse sollten den Hass der Bevölkerung schüren und sie zum bewaffneten Kampf bewegen. Die Aktionen sollten die Ohnmacht, Unsicherheit und Repressivität des bestehenden politischen Systems entlarven. Besonders eigneten sich dazu Diplomatenentführungen, weil hier der Druck von außen auf die Regierung noch hinzukam.34 In ihren Aktionen bezogen sie sich immer wieder auf die uruguayische Geschichte35 und sahen sich in einer Reihe mit den Helden des Unabhängigkeitskampfes. Sie wählten bewusst den Namen Tupamaros und stellten damit den Bezug zu dem Inka-Häuptling Tupac Amaru, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit seinen Männern gegen die spanischen Besatzer gekämpft hatte, her. Auch die Gaucho-Reiter, die im Geiste von Artigas36 weiterkämpften, nachdem ihr Führer vertrieben worden war, nannten sich Tupamaros. Es finden sich zudem Referenzen auf Aparicio Saravia, einen nationalistischen Caudillo aus den Zeiten des Bürgerkriegs im späten 19. frühen 20. Jahrhundert. Auf diese Weise wollte man den eigenen Kampf gegen die Regierung rechtfertigen und eine Identität stiftende Wirkung erzielen. Innenpolitisch legitimierten sie ihren Kampf weiterhin mit der Notwendigkeit, die korrupte politische Elite zu stürzen und den Arbeitern mehr Rechte zu verschaffen. In der Au30
Siehe Waldmann, Vergleichende Bemerkungen zu den Guerillabewegungen in Argentinien, Guatemala, Nicaragua und Uruguay, aaO. (FN 18), S. 106. 31 Interview mit Urbano, in: Schubert, Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay - Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik, aaO. (FN 24), S. 74. 32 Siehe dazu Peter Waldmann, Terrorismus – Provokation der Macht, München 1998, S. 13. 33 Vgl. Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 750. 34 Vgl. Pesch, Ulrike, Diplomaten-Entführungen als terroristisches Kampfmittel, in: Funke, Manfred (Hrsg.) Terrorismus – Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik, Bonn 1977, S. 100. 35 Andere lateinamerikanische Guerillaorganisationen bezogen sich dagegen stärker auf die Kubanische Revolution. Obwohl man sich in Uruguay nicht direkt auf das Vorbild Kubas bezog wirkte die dortige Revolution doch wie ein Katalysator für den bewaffneten Kampf. 36 Der uruguayische Freiheitskämpfer José Gervasio Artigas kämpfte im 19. Jh. für die Unabhängigkeit Uruguays gegen die Spanier.
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ßenpolitik sah man den Imperialismus der großen Nationen, hauptsächlich der Amerikaner, als Bedrohung für die „lateinamerikanische Nation“. Um sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, sollten die nationalistischen Bewegungen in allen Ländern den Kampf für eine freie Gesellschaft aufnehmen und ein nationaler Sozialismus eingeführt werden. Dem Sozialismus traute man die Lösung aller Probleme zu, ohne sich seiner Mängel in der Praxis bewusst zu sein.37 In der Zuckerrohrbewegung, die von Raúl Sendic Antonaccio Anfang der 60er Jahre angeführt wurde, liegt wohl der Ursprung der Tupamaros. Der Sohn kroatischer Einwanderer gilt als Gründer der Tupamaros und gehörte zum Führungszirkel der Gruppe. Wie viele andere stammte er aus einer Mittelstandsfamilie. Er studierte Rechtswissenschaften und war Mitglied der Sozialistischen Partei. Dort gehörte er dem aktivistischen Flügel an. Als Rechtsreferendar entschloss er sich 1960, die Peludos, die Landarbeiter auf den Zuckerrohrplantagen im Nordwesten Uruguays zu organisieren, da er von den endlosen Diskussionen um die Richtung innerhalb der sozialistischen Partei enttäuscht war. Sendic hielt Gewerkschafts- und Wahlkämpfe nicht länger für effektiv und wollte stattdessen handeln. Deshalb gründete er die Union der Zuckerrorarbeiter von Artigas (UTAA), in der sich Arbeiter der amerikanischen Unternehmen CAINSA und AZUCARLITO zusammenschlossen und stieg zum Caudillo der Zuckerrohrarbeiter auf. Man forderte unter anderem Tarifverträge, die einen Mindestlohn und einen öffentlichen Ruhetag festlegen sollten. 1962 zogen die Zuckerrohrarbeiter zum ersten Mal nach Montevideo, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Obwohl sich die linken Parteien der Belange der Arbeiter anzunehmen versprachen38 und einen Parlamentsausschuss bildeten, führten die friedlichen Demonstrationen zu keinem Ziel. Zwar erkannte man die Legitimität der Forderungen an, die Regierung fürchtete aber, auch Zugeständnisse an andere benachteiligte Gruppen machen zu müssen. Als nach wiederholten Protestmärschen auf die Demonstranten geschossen wurde, entschlossen sich diese 1964/65 zur Bewaffnung. Dieser Griff zu den Waffen war neu für Uruguay, wo bisher friedliche Mittel zur Konfliktlösung herangezogen worden waren. Die Tupamaros können aber nicht mit der Zuckerrohrbewegung gleich gesetzt werden. Auch die miserablen Lebensbedingungen der Landarbeiter und ihre Proteste trugen zur Radikalisierung der Gesellschaft bei. Sie stellten jedoch nur einen kleinen Teil der sozialen Basis der Tupamaros. Die erste Aktion, die den Tupamaros zugeschrieben wurde, war der Überfall auf den Schweizer Schießverein Tiro Suizo in Nueva Helvecia im Bezirk Colonia am 31. Juli 1963. Bei den Hintermännern dieses Überfalls handelte es sich aber noch nicht um eine organisierte Gruppe, sondern um „ein kleines Netzwerk militanter, mit der Gewerkschaftsbewegung verbundener Linker“39, die sich zusammengeschlossen hatten, um Waffen für die UTAA zu beschaffen. Die Männer erbeuteten verschiedene Gewehre und Munition. Diesen Überfall bereits als die Geburtsstunde der Tupamaros zu bewerten ist sicherlich zu weit gegriffen. Dagegen spricht zum einen die unterschiedliche ideologische Herkunft der Männer, auch wenn die Tupamaros ein Sammelbecken verschiedener Richtungen des linken 37
Vgl. Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 749. Gerade die sozialistische Partei Uruguays betrieb einen revisionismos histórico, der die offzielle Geschichte des Landes in Frage stellte und die Bedeutung der ländlichen Massen in den Vordergrund hob. Dabei kritisierten sie die ökonomische Abhängigkeit von den imperialen Mächten. Eine Lösung für die Probleme des Landes hatten aber auch sie nicht zu bieten. Als der Partido Socialista die Zuckerrohrarbeiter fallen ließ, trat Sendic aus der Partei aus. 39 Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 740. 38
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Spektrums waren, zum anderen die dilettantische Durchführung der Tat.40 Nichtsdestotrotz macht dieser Überfall deutlich, dass sich verschiedene Gruppen auf den bewaffneten Kampf vorbereiten, indem sie sich mit Waffen ausrüsteten. Erst die Bündelung der Kräfte führe zur Gründung der Tupamaros. Die Entstehung der Tupamaros aus einer Massenbewegung heraus und ihre Anbindung an das Volk war eine Besonderheit der uruguayischen Stadtguerilla und unterscheidet sie von anderen terroristischen Organisationen und erklärt ohne Zweifel auch die heutige gesellschaftliche Relevanz ihrer ehemaligen Mitglieder.
4.2 Die Jahre der Vorbereitung Zu Beginn waren es lediglich zwei Dutzend Menschen, die beschlossen hatten, die aus Überzeugung für den bewaffneten Kampf in die Illegalität zu gehen. Die ersten Jahre verbrachten die Revolutionäre damit, sich auf die Konfrontation mit der Staatsmacht vorzubereiten. Indem man die städtischen Zentren und besonders Montevideo als Aktionsrahmen wählte, entfernte man sich von den Focisten, die ihren Kampf auf die ländlichen Gebiete konzentriert hatten. Die Entscheidung für die Hauptstadt Montevideo war konsequent.41 Hier lebte rund die Hälfte der drei Millionen Uruguayer und die Stadt war das politische, wirtschaftliche und soziale Zentrum.42 Vorteile und Nachteile dieser Maßnahme gleichen sich aus: „It is right that we are operating right in the mouth of the enemy, but it is also true that the enemy is gagging on us”.43 Der Rückzug in ein autonomes Gebiet war den Tupamaros ohnehin nicht möglich, die Eroberung von Territorium aber auch nicht ihr primäres Ziel. Vielmehr ging es ihnen darum, das System zu destabilisieren und die in ihren Augen unfähigen politischen Verantwortlichen zu stürzen. Die Hauptstadt bot sich dafür geradezu an. Die Tupamaros setzen sich mit der Wahl des urbanen Partisanenkampfes einerseits dem unmittelbaren Zugriff durch die Regierung aus, konnten diese andererseits aber empfindlicher treffen als im Hinterland. Außerdem hatte die Stadtguerilla weitaus weniger Versorgungsprobleme. Waffen, Essen und Kommunikationskanäle waren ohne große Transportkosten verfügbar.44 Hinzu kam, dass Uruguay, landschaftlich durch offene Weideflächen geprägt, über wenige Rückzugsmöglichkeiten für die Guerilleros wie Sümpfe oder Gebirge verfügte. Zwar hätten Sendics Ortskenntnisse und die Mobilisierung der Landarbeiter eher für Landguerilla gesprochen, aber man erkannte früh, dass so auch im städtischen Proletariat und der Bourgeoisie Mitglieder rekrutiert werden konnten. Es wurde eine Infrastruktur aufgebaut, mit der man sich gegen Verfolgung schützen konnte. So musste für geheime Rückzugsorte gesorgt, getarnte Ausbildungszentren geschaffen und die Versorgung von Verwundeten durch eigenes Personal sichergestellt werden. Die anfänglich seltenen Aktionen dienten der Waffen- und Geldbeschaffung oder der
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Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 740. Bereits 1914 lebten rund 80 Prozent der Bevölkerung in Städten und 1963 hatte sich der Anteil auf 87,2 Prozent erhöht. Luff, Beziehungen zwischen politischer Gewalt und sozialer Anomie, aaO. (FN 6), S. 207. 42 Ebd. Diese Ballung der Bevölkerung in den Städten führte auch die Guerilla in den anderen Ländern des Cono Sur, Argentinien und Brasilien, dazu, sich für den städtischen Partisanenkampf zu entscheiden. 43 Ein Urbano zitiert in: Kohl/ Litt (Hrsg.), Urban Guerilla Warfare in Latin America, aaO. (FN 16), S. 173. 44 Vgl. Interview mit Urbano, in: Schubert, Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay - Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik, aaO. (FN 24), S. 79f. 41
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Propaganda. So überfielen junge Männer des Jugendkommandos José Artigas45 im Dezember 1963 den Lastwagen einer großen Einkaufskette und verteilten die erbeuteten Lebensmittel im Elendsviertel Aparicio Saravia. Außerdem wurde ein Wagen des amerikanischen diplomatischen Corps angezündet und eine Coca-Cola Fabrik angegriffen. Ebenso wurde im August 1965 einen Sprengstoffanschlag auf ein Lagerhaus des deutschen Chemiekonzerns Bayer, der als „Nazi-Unternehmen“ galt und „Yankee-Mörder“ belieferte, verübt. In jener ersten Phase waren die Aktionen von einer besonderen Rücksichtnahme gegenüber dem Volk geprägt, weshalb sie häufig als „Robin-Hood“-Phase bezeichnet wurde. So erstatteten die Tupamaros beispielsweise nach dem Überfall auf das Casino San Rafael in Punta del Este den Angestellten ihre Gehälter zurück. Auf diese Weise versuchten sie, die Sympathien der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Man agierte gegen die korrupte Staatsmacht und deren nordamerikanischen Verbündeten sowie kapitalistische Unternehmen, denen man die Schuld für die Krise des Landes gab. Mit Flugblättern und auf Plakaten rief man die Bevölkerung auf, sich zusammenzuschließen und gegen Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen zu kämpfen. Erst auf einem Wochenendtreffen verschiedener linker Gruppen im Mai 1965 wurde der Entschluss gefasst, eine bewaffnete Organisation mit dem Namen Tupamaros zu gründen deren Ziel „die Befreiung des Landes aus der Umklammerung durch nationale Oligarchie und dem ausländischen Imperialismus sowie die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft“46 sein sollte. Im Dezember 1966 gaben sich die Tupamaros den Beinamen Movimiento de Liberación Nacional (MLN). Der erste Zusammenstoß mit der Polizei war von den Tupamaros nicht geplant und traf sie unvorbereitet. Einer der Guerilleros wurde getötet, einer ergab sich und vier konnten von der Polizei identifiziert werden. Die Polizei reagierte mit verstärkter Überwachung, was zur raschen Enttarnung geheimer Unterkünfte führte. So kamen die Sicherheitskräfte Ende des Jahres 1966 auf die Spur des Jugendclubs Comunidad Juvenil Eduardo Pinella. Hier verbarg sich ein Ausbildungszentrum der Organisation. Der Polizei gelang es, in dieser und anderen Razzien mehrere Mitglieder festzunehmen. Die geheime Infrastruktur war jedoch schon so weit ausgebaut, dass es zu keiner völligen Zerschlagung der Gruppe kam. Weitere Gefechte mit der Polizei im November 1967 schwächten die Tupamaros aber so, dass größere Aktionen vorerst nicht realisiert werden konnten. Die gefangenen oder gefallenen Kameraden mussten ersetzt und die Waffenlager aufgefüllt werden.
4.3 Die Tupamaros nach der Regeneration Zwar war die Mitgliederzahl der Tupamaros in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften dezimiert worden, aber sie besaßen noch ausreichend Ressourcen, um die Gruppe wieder aufzubauen. Der Staat begünstigte mit seinem harten Vorgehen gegen die Revolutionäre deren Wiedererstarken, weil dies der Guerilla Sympathien aus der Bevölkerung einbrachte. Dadurch, dass viele neue Mitglieder angeworben werden konnten, waren die Tupamaros bald in der Lage, die Aktionen gegen die Staatsmacht wieder aufzunehmen.
45 Der uruguayische Offizier José Gervasio Artigas schlug die Spanier am 18. Mai 1811 in der Schlacht von Las Piedras und wird als Nationalheld verehrt. 46 Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12) S. 741.
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In der Folge entführte die Gruppe In- und Ausländer, die durch Zahlung von Lösegeld wieder frei kamen. Zur Beschaffung finanzieller Mittel dienten außerdem Überfälle auf Banken und Firmen, wobei man bemüht war, Dokumente zu finden, welche Steuerhinterziehung und Unterschlagung durch die politische Elite belegen konnten. Landwirtschaftsminister Carlos Frick Davies wurde auf diese Weise Anfang 1969 dazu gezwungen, sein Amt niederzulegen. Ebenso fand man während eines Raubüberfalls auf das Stadthaus der Erbengemeinschaft Mailhos die Familie wegen Steuervergehen belastendes Material. Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik sollten so diskreditiert werden und der Bevölkerung deren Unfähigkeit aufgezeigt werden. Polizei und Armee waren in den ersten Jahren kein direktes Ziel, da man sich einer direkten Konfrontation mit den Sicherheitskräften nicht gewachsen sah.
4.4 Phase der Stärke Da sie die Bevölkerung hinter sich glaubten, gaben die Tupamaros Ende 1969 dem bewaffneten Kampf eine neue Qualität. Man verkündete den „generellen Krieg […] des Aufstandes gegen die Macht“47 und baute mit den „Volksgefängnissen“, in welchen die Entführten untergebracht waren, ein paralleles System der Repression auf. Die Sicherheitskräfte konnten nie einen Verschleppten befreien, da ihnen die Lage der Volksgefängnisse trotz groß angelegter Suchaktionen unbekannt blieb. Gleichsam als Nebeneffekt trug die Ohnmacht der Polizei gegenüber den Partisanen zur Mythenbildung um die Tupamaros bei. In der Folge gingen die Tupamaros dazu über, die Sicherheitskräfte direkt anzugreifen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war, dass die Folter an gefangenen Guerilleros von Seiten der Polizei publik wurde und die Tupamaros mit einer entsprechenden Gegenstrategie antworten wollten. Bei der Erstürmung der Stadt Pando am 8. Oktober 1969 zeigte sich die neue Eskalationsstufe des uruguayischen Guerillakrieges. 50 Tupamaros nahmen die Ortschaft östlich von Montevideo ein. Sie besetzten u. a. das Polizeikommissariat und raubten die ortsansässigen Banken aus, wobei sie 81 Millionen Pesos erbeutet haben sollen. Diese Aktion diente zum einen der Beschaffung von Waffen, sollte zum anderen aber auch die Stärke der Tupamaros und die neue Stufe des Guerillakrieges zeigen.48 Während des Rückzugs endete die anfangs beeindruckende Aktion aber in einem Debakel für die Tupamaros. Ein Teil der Guerilleros wurde verhaftet und auch die Beute wurde von der Polizei kassiert. Es sollte der einzige Versuch der Tupamaros bleiben, gemäß der konventionellen Guerillatheorie zu versuchen, eine eigene Basis in Form eines von ihnen kontrollierten Hinterlandes zu etablieren. Trotz des Rückschlages kam es in den Jahren 1970/71 zu einer weiteren qualitativen Steigerung der Aktionen. Einerseits wurden bei den Entführungen immer größere Gewinne erzielt, andererseits griff man im Rahmen von bewaffneten Aktionen zu stets härteren Mitteln. So beschaffte sich die Gruppe beschaffte bei einem Überfall auf ein Ausbildungslager der Marine am 22. Mai 1970 mehr Waffen als jemals zuvor. Im Sommer desselben Jahres kam es zu mehreren Entführungen, die eine für den weiteren Lebensweg der Tupamaros verhängnisvolle Wendung beinhalteten. Der brasilianische 47 48
Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 750. Vgl. Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, aaO. (FN 4), S. 328.
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Generalkonsul Aloisio Dias Gomide wurde Ende Juli entführt, ebenso der USSicherheitsexperte Dan Mitrione, den man beschuldigte, ein CIA-Agent zu sein, der das uruguayische Militär in Foltermethoden ausbildete.49 Außerdem nahm man den nordamerikanischen Entwicklungshelfer Claude Fly im August gefangen. Dieser verkörperte für die Tupamaros die ausbeuterischen multinationalen Konzerne, die das feindliche System unterstützten. Während Fly und Gomide nach einem Herzinfarkt bzw. aufgrund von Lösegeldzahlungen freigelassen wurden, wurde Mitrione von den Tupamaros ermordet, um die Glaubwürdigkeit der Gruppe zu bewahren. Da die Regierung auf die Forderung der Tupamaros 150 politische Gefangene freizulassen nicht einging, entschied man sich die angedrohte Exekution der Geisel vorzunehmen, um die eigene Entschlossenheit unter Beweis zu stellen. Entführungen konnten nur weiterhin als Waffe im Kampf gegen das Regime eingesetzt werden, wenn man sie bis zu ihrer letzten Konsequenz durchführte: Die Vollstreckung des Urteils schließt nicht nur die Verantwortung der Bewegung gegenüber ihrem eigenen Volk ein, sondern auch gegenüber den anderen revolutionären Bewegungen Lateinamerikas.50
Die Radikalisierung im Vorgehen delegitimierte die Kämpfer aber in weiten Teilen der Bevölkerung. Konnten sich die Tupamaros bis dahin einer breiten Unterstützung innerhalb der Gesellschaft sicher sein, verspielten sie sich mit der Ermordung der Geisel viele Sympathien. In der Folge nahm man deshalb bei Entführungen Abstand davon, die Exekution der Geiseln anzudrohen, falls die Forderungen nicht erfüllt würden. Dennoch mussten die Revolutionäre auf dem einmal eingeschlagenen Weg der Gewalt weitergehen. Eine Rückkehr zu moderateren Mitteln war durch die erhöhte Bereitschaft des Staates zur Gewalt gegen die Subversiven unmöglich geworden. Im September 1971 gelang es dem zwischenzeitlich erneut inhaftierten Sendic und weiteren 105 Tupamaros aus dem Gefängnis Puntas Carretas zu entkommen. Der britische Botschafter Sir Geoffrey Jackson, der zur Freipressung der Gefangenen im Januar 1971 entführt worden war, wurde daraufhin frei gelassen. Nach dem erfolgreichen Ausbruch verzichteten die Tupamaros aus Rücksicht auf die Präsidenten- und Parlamentswahlen am 28. November 1971 vorerst auf weitere Aktionen. Trotz ihrer Bedenken gegenüber der Wirksamkeit der Wahlen, wollten sie der in Parteien organisierten Linken nicht im Weg stehen. Der Sieg des konservativen Juan María Bordaberry Arocena bei den Wahlen war ihrer Ansicht nach Zeichen dafür, dass der bewaffnete Kampf tatsächlich der einzige Weg zur Ablösung der alten Elite war. Dennoch blieb es um die Tupamaros, die in eine Ruhephase zur strategischen Neupositionierung eingetreten waren, auch nach der Wahl fast ein halbes Jahr ruhig. Am Ende der Rekonvaleszenz stand die Fehleinschätzung, dass sie tief genug in der Bevölkerung verankert seien, um das Regime endgültig zu besiegen, und läuteten deshalb eine neue Phase des Kampfes ein („Plan Tatu“).51 Die revolutionären Kampfmaßnahmen sollten intensiviert und auf das Land ausgedehnt werden. Sieben Kolonnen wurden in Folge auf dem Land gebildet. Sie sollten die Sicherheitskräfte durch Aufsehen erregende Aktionen aus der Stadt locken und so den Stadtguerilleros mehr Spiel49
Vgl. Interview mit Urbano in: Schubert, Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay - Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik, aaO. (FN 24), S. 66. Ebd., S. 67. 51 Vgl. Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, aaO. (FN 4), S. 341. 50
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raum verschaffen. Die neue Phase der Aktivität wurde mit der Ermordung des Polizeisubkommissars Oscar de Lega Luzardo, des Korvettenkapitäns Ernesto Motto und des ehemaligen Unterstaatssekretärs im Innenministerium Armando Acosta y Lara im April 1972 eingeläutet, die große Empörung bei der Bevölkerung hervorrief. Die Tupamaros stellten sich mit diesen Morden auf eine Stufe mit dem von ihnen angeprangerten System, eine sukzessive Entmythisierung der Organisation war die Folge. Die Morde lösten negative Reaktionen in der Bevölkerung aus. Obwohl Teile der Bevölkerung bisher hinter den Tupamaros standen, verurteilten sie die Härte, die der Kampf gegen die politische Elite angenommen hatte. Insgesamt war die Entscheidung zu diesem „Plan Tatú“ neben der Liquidierung Mitriones einer der schwerwiegendsten Fehler der Tupamaros. Die Sicherheitskräfte reagierten auf die Provokationen der Tupamaros mit erhöhter Gewalt gegen die Revolutionäre und ihre vermeintlichen Unterstützer. Die Regierung rief den Kriegszustand52 aus und legte die Kontrolle über die Antiguerilla-Operationen fortan in die Hände des von der US-Armee ausgebildeten Militärs. Diese offene Konfrontation mit der Staatsmacht, der erhöhte Druck des Präsidenten Bordaberry und die jungen Neumitglieder trieben die Radikalisierung der Truppe immer weiter voran und entfernte sie damit immer mehr von der Bevölkerung, die sie zu vertreten vorgab. Neben einer Vielzahl von Verhaftungen gelang es den Streitkräften auch, die sorgsam getarnten Volksgefängnisse zu aufzuspüren. Die Verlagerung und Dezentralisierung der Organisation, die im Plan Tatú beschlossen worden war, machte die Tupamaros verwundbar und erleichterte den Streitkräften die Zerschlagung der Bewegung. Die Guerilla auf dem Land fiel als erste. Ein Großteil der Tupamaros wurde verhaftet, einige konnten sich aber ins Ausland flüchten. Die wenigen, die im Land blieben und nicht aufgegriffen wurden, waren jedoch zu schwach, um sich zu reorganisieren.
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Zerfallsmuster: Der Plan Tatú – Das Scheitern der Tupamaros
Es bleibt festzustellen „[…] dass die Tupamaros nicht nur die weitaus erfolgreichste und am längsten aktive Stadt-Guerilla organisiert hatten, sondern ihrem Ziel auch erheblich näher kamen als alle anderen Guerilla-Bewegungen“.53 Es gelang ihnen „einen Gegen-Staat mit seinen Gesetzen und Organen“54 zu errichten und dies in einem Land, das sich jahrelang als „Vorzeige-Demokratie“ einen Namen gemacht hatte. Ihre Professionalität machte dabei einen Teil ihres Erfolges aus. Sie wiesen eine hohe Bereitschaft auf, sich den gegebenen Verhältnissen anzupassen und aus gescheiterten Operationen zu lernen. Zwar orientierten sie sich an Vorbildern aus Nachbarstaaten, taten dies aber nie unreflektiert. Hierin zeigt sich ihre Überlegenheit gegenüber anderen Guerillagruppen. In der „kühlen Rationalität“ der Tupamaros sieht Allemann den Schlüssel zum anhaltenden Erfolg der Guerilla in Uruguay.55 Hinzu kam, dass sie in den ersten Jahren der Staatsmacht zwar schadeten, die Sicherheitskräfte aber nie direkt attackierten. Diese Vermeidung der Konfrontation mit der 52 Das Parlament hatte der Proklamation des Kriegszustandes infolge neuer Morde durch die Tupamaros zugestimmt. Die Vertreter einer „harten“ Linie gegen die Subversiven hatten sich somit durchgesetzt. 53 Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, aaO. (FN 4), S. 348. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 354.
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Armee unterschied sie ebenfalls von der Landguerilla, die ihren militärischen Gegner direkt angreift. Die Tupamaros waren sich bewusst, dass dies ihr schnelles Ende bedeuten könnte, wie es sich nach ihrem Strategiewechsel letztlich auch bewahrheitete. Obwohl man auch vor illegalen Methoden nicht zurückschreckte, versuchte man stets, so wenig zivile Opfer wie möglich zu treffen. Zu Attentaten auf Personen durfte es nur nach „einer bewußten, erschöpfenden und detaillierten Analyse“56 kommen und war nur gerechtfertigt, „um für die Revolution höchst wichtige Werte zu retten“.57 Ihre Beute verteilten sie an die Bedürftigen und gewannen so die Sympathie der Bevölkerung. Wie weit diese ging, sieht man an dem breiten Feld der „Helfer“, die die Revolutionären unterstützten. Die Unterstützung durch die breite Masse unterscheidet sie von anderen terroristischen Organisationen. Diesen Bonus verspielten sie jedoch, als sie härter und willkürlicher gegen ihre Feinde vorgingen und damit viele Sympathisanten vor den Kopf stießen. Schließlich konnten sie aufgrund der Verschwiegenheit, die die innere Struktur der Gruppe betraf, nicht von der Polizei infiltriert werden. Mit ihrer Entscheidung zum Plan Tatú gaben die Tupamaros schließlich das auf, was lange Zeit ihren Erfolg ausgemacht hatte: „[D]ie Geschlossenheit und die undurchdringliche konspirative Abdichtung nach außen“.58 Die Aufnahme in den inneren Kern der Gruppe war bis dahin nur denen erlaubt worden, die sich einer Reihe von Prüfungen gestellt hatten. Keine andere Gruppe konnte eine solche Straffheit der Organisation und Disziplin vorweisen wie die Tupamaros. Die Öffnung und Dezentralisierung erleichterte dem Militär die bis dahin fast unmögliche Infiltration der Tupamaros, wodurch sie rasch vernichtet wurden. So gingen die Tupamaros, als sie zur Offensive Tatú schritten, von völlig falschen Voraussetzungen aus. Anders als die Guerilleros glaubten, war das Vertrauen des Volkes in die demokratischen Institutionen immer noch groß und von der Mehrheit keine Bereitschaft zur Revolution zu erwarten. Im Fall der Mittelschicht und der Mehrheit der Oberschicht wurde ihnen aufgrund ihrer sozialistischen Ausrichtung und ihrer radikalen Vorgehensweise vielmehr offene Ablehnung entgegengebracht.59 Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, unter ihnen viele Studenten, wiesen eine ausgeprägte Affinität zum revolutionären Geist des erfolgreichen Systemwechsels auf Kuba und den Revolten in mehreren Städten Europas im Jahre 1968 auf. Diese Minderheit sah sich als „[…] organisierte Vorhut der ausgebeuteten Klassen in ihrem Kampf gegen das Regime“60, worauf sie in ihren Pamphleten immer wieder hinwies. Jedoch waren unter den Tupamaros selbst fast keine Angehörigen der unteren sozialen Schichten. Sie rekrutierten sich hauptsächlich aus der Mittelklasse und hatten mit der Arbeiterklasse nichts gemein. Michael Radu sieht die Kombattanten deshalb in einem Dilemma. Ihre Motivation für den bewaffneten Kampf „[…] is not [their] belief in social justice for the poor, but [their] utopian belief in the need to destroy a society [they do] not know in order to build one [they] cannot clearly define.”61 Durch die gestiegene Zahl von Studenten, die sich den Tupamaros angeschlossen hatten, wuchs auch der „Intellektualismus“, ein avantgardistisches Denken sowie die Radikali-
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Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, aaO. (FN 4),S. 320. Ebd. 58 Ebd., S. 342. 59 Vgl. Waldmann, Vergleichende Bemerkungen zu den Guerillabewegungen in Argentinien, Guatemala, Nicaragua und Uruguay, aaO. (FN 18), S. 123. 60 Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12), S. 749. 61 Radu, Terror, Terrorism, and Insurgency in Latin America, aaO. (FN 1), S. 30. 57
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sierung der Bewegung und entfremdete sie immer stärker von der Unterschicht, an die sie in den frühen Jahren gut rückgekoppelt waren. Ein weiterer Fehler unterlief den Tupamaros in der Wahrnehmung ihres Gegners. Sie hatten die Streitkräfte unter- und ihr eigenes Potenzial überschätzt. Zwar hatten sie auch das Militär infiltriert, waren dort aber nicht so weit vorgedrungen wie bei Polizei und Verwaltung. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass ihre Spitzel auch Eingang in die Führung gefunden hatten. Außerdem streute man innerhalb des Militärs gezielt falsche Informationen. Das Wissen, das die Guerilleros über das Potenzial des Militärs hatten, war daher verzerrt. Das Militär hatte sich angesichts der instabilen Verhältnisse im Land jahrelang auf seinen Einsatz vorbereitet. Im Rahmen der Ausbildung durch nordamerikanische Militärs hatten die Streitkräfte eine gründlichen waffentechnischen Modernisierung vollzogen sowie die Neustrukturierung der Ausbildung vorgenommen. Die Streitkräfte wurden aufgrund der Ohnmacht der Regierung immer weiter in die Bekämpfung der Revolutionäre eingebunden. 1972 übergab Präsident Bordaberry mit Zustimmung des Parlaments die Bekämpfung der Tupamaros vollständig den Streitkräften und das Militär wurde zum entscheidenden Faktor der Politik. Daraufhin durchkämmten Armee und Polizei Montevideo. Nach dem Fall der Volksgefängnisse, in denen die Tupamaros ihre Geiseln festgehalten hatten, wurde eine Zelle nach der anderen zerschlagen. Verhaftet wurden nicht nur Guerilleros, sondern auch deren vermeintliche Unterstützer. Durch den systematischen Einsatz von Folter erlangte das Militär von den Verhafteten Informationen über weitere Mitglieder der Organisation. Diese war laut Fischer letztlich ausschlaggebend für den Untergang der Tupamaros.62 Das Militär verschaffte sich so die Informationen, die für eine schnelle Zerschlagung der Tupamaros nötig waren. Besonders hilfreich waren für die Streitkräfte die Hinweise, die ihnen Héctor Amodio Pérez und Mario Piriz Budes, ehemalige Angehörige der Führungsriege der Organisation, lieferten. Ein Teil der Revolutionäre entkam der Verfolgung, indem sie sich ins Ausland absetzten. Innerhalb weniger Monate gelang es dem Militär die Organisation aufzureiben, obwohl diese auf dem Zenit ihrer Macht gestanden hatte.63 Im Herbst 1972 waren die Tupamaros durch Verfolgung, Verhaftungen und Folter zermürbt. Die wenigen, die bislang der Verhaftung entkommen waren, waren zu schwach, um die Aktionen fortzuführen. 1973 gab es Anzeichen, dass sich die Tupamaros ein weiteres Mal reorganisierten. Nach einem Jahr des Schweigens wurde der Correo Tupamaro wieder in den Armenvierteln und Fabriken verteilt. In dem Flugblatt mit dem Titel From Now On gestand man die Niederlage ein, gleichzeitig verkündete man aber den Anbruch einer neuen Zeit und sah die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes noch drängender. Dem Volk blieben nur noch zwei Möglichkeiten: Der Griff zu den Waffen und die Befreiung aus der Knechtschaft der herrschenden Klasse oder die Auslieferung des Landes an diese und die imperialen Mächte. In ihrem Machtstreben durch den schnellen Sieg über die Tupamaros bestärkt, forderte das Militär eine Beteiligung an der Regierung, wozu Bordaberry den Consejo de Seguridad Nacional (COSENA) einrichtete, der vom Militär dominiert wurde. Doch das Militär gab sich mit diesem Machtzuwachs nicht zufrieden. Die anhaltende Krise der vergangenen Jahre hatte innerhalb der Streitkräfte zu der Überzeugung geführt, dass eine militärische Machtübernahme gemäß dem Vorbild anderer lateinamerikanischer Staaten alternativlos 62
Fischer, Die Tupamaros in Uruguay – Das Modell der Stadtguerilla, aaO. (FN 12) S. 745. Die Armee ging 1972 von etwa 4 200 Tupamaros aus. Siehe: Betancourt, Ernesto F., Revolutionary Strategy – A Handbook for Practitioners, New Brunswick 1991, S. 158. 63
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sei. Präsident Bordaberry löste das Parlament am 27. Juni 1973 auf, blieb selbst aber vorerst im Amt. Nach der Auflösung des Parlaments kam es zum kalten Staatstreich, wobei sich das Militär auf die Medidas Prontas de Seguridad stützte, und installierten eine Militärjunta. Die Streitkräfte verschärften die Pressezensur, verboten die Parteien sowie die CNT und verschoben die nationalen Wahlen. Die innere Sicherheit wurde zu einem hohen Preis wieder hergestellt: Die Demokratie musste einer autoritären Militärregierung weichen. Aus der „Schweiz“, in dem das Militär nie zuvor ein entscheidender Faktor in der Politik gewesen war, war das „Griechenland Lateinamerikas“ geworden. Die Machtergreifung des Militärs kann den Tupamaros nicht angelastet werden. Laut Kohl und Litt bahnte sich die Krise schon vor ihrem Erscheinen an: In sum then, Uruguay was a nation in trouble long before the Tupamaros appeared. Moreover, it was this time of troubles which contributed to the growth of the MLN, not vice versa.64
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Die Entwicklung eines Dreiparteiensystems
Im Rahmen der Präsidentschaftswahlen 1971 forderte das Bündnis Frente Amplio (FA) aus Sozialisten, Kommunisten und Vertretern des 1962 gegründeten Partido Demócrata Cristiano die beiden traditionellen Parteien zum ersten Mal heraus. Die Kandidatur des Frente Amplio wurde von den Tupamaros unterstützt, weshalb sie einen Waffenstillstand anboten, der ab dem 28. November etwa ein halbes Jahr lang wirksam war. Obwohl Liber Sergni, General a. D. und Präsidentschaftskandidat des FA, landesweit 18,3 Prozent und in Montevideo 30,1 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, wurde der Colorado Bordaberry neuer Präsident. Auch nachdem das Militär 1984 wieder von einer zivilen Regierung abgelöst wurde65, übernahmen wieder die Großparteien die Geschicke des Landes. Der Colorado Julio María Sanguinetti setzte sich am 24. November bei den Präsidentschaftswahlen durch. Raúl Sendic wandelte nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1985 mit anderen ehemaligen Tupamaros den MLN in eine legale politische Partei, den Movimiento de Participación Popular um, der sich dem Bündnis Frente Amplio anschloss. Die FA konnte ihre Stimmenanteile kontinuierlich ausbauen und Regierungserfahrung sammeln. Durch das langsame Erstarken der FA konnte der Bevölkerung die Angst vor einem radikalen Regierungswechsel genommen werden. So konnte sich die FA mit ihrem Kandidaten bei den nationalen Wahlen im Oktober 2004 endgültig gegen die Traditionsparteien durchsetzen, nachdem sie trotz der relativen Mehrheit in den Wahlen von 1999 nicht an die Macht kam. Tabaré Ramón Vázquez Rosas Mitglied der FA, der zuvor Bürgermeister Montevideos war, ist seit März 2005 Präsident Uruguays. Jorge Lanzaro hält aufgrund des Wandels, den der Frente Amplio von einer heterogenen Bewegung zu Wahlorganisation vollzogen hat, die Entwicklung zu einer Massenpartei für möglich.66
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Kohl/ Litt (Hrsg.), Urban Guerilla Warfare in Latin America, aaO. (FN 16), S. 184. Das Militär leitete ab 1980 der Rückkehr zu einer zivilen Regierung ein, nachdem die von ihm vorgelegte Verfassung 1980 vom Volk mit 58 Prozent abgelehnt worden war. Siehe dazu Betancourt, Revolutionary Strategy – A Handbook for Practitioners, aaO. (FN 63), S. 141. 66 Lanzaro, Jorge, La gauche en Uruguay: le chemin vers le gouvernement, in: Problèmes d’Amérique Latine, Nr. 55, Hiver 2004/ 2005, S. 16-25. 65
Terrorismus oder Guerilla? Der Sendero Luminoso in Peru
Der Sendero Luminoso in Peru
Alexandra Bürger
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Die zwei Hälften Perus
Peru im Dezember 2007: Wieder einmal scheint das Land „am Rande des Kollaps“1, wieder einmal ist eine Organisation beteiligt, die in den 1980er Jahren zu den stärksten Guerillabewegungen weltweit zählte: der Sendero Luminoso. Zum ersten Mal in der Geschichte Perus muss sich ein früherer Staatschef vor der Justiz für die Menschenrechtsverletzungen verantworten, die zu Zeiten des Krieges gegen den Sendero begangen wurden. Dem ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori (1990-2000) werden zwei Massaker und zwei Entführungen zur Last gelegt.2 Während der Ex-Regierungschef für die einen als Bezwinger einer brutalen Guerilla gilt, ist er für die anderen in gleichem Maße für Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig. So wie heute das Verfahren gegen Fujimori, spaltete damals der Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad“) die Andenrepublik. Der Leuchtende Pfad führte Peru in einen der blutigsten Guerillakriege Lateinamerikas, der zwischen 1980 und 2000 beinahe 70.000 Menschen das Leben gekostet hat.3 Die Bewegung wollte die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zerstören – ein Ziel, das die indianische Bevölkerung im zentralen Hochland (zunächst) unterstützte. Die Menschen in den wohl-habenderen hispanisierten Küstenregionen standen der Guerilla indes weitaus skeptischer gegenüber. Angetreten, um das Land im Kommunismus zu vereinen, vertiefte der Sendero Luminoso (SL) am Ende die soziale Kluft zwischen dem europäischwestlichen Peru der Küstenregionen und dem indianischen traditionellen Peru des Hochlands. „The social cost in terms of suffering, hatred, and disunity is immeasurable.“4 Der SL spaltet bis heute nicht nur Peru, sondern auch die Wissenschaft. Die Kontroverse konzentriert sich auf eine Frage: War der Sendero Luminoso eine Guerillabewegung oder eine terroristische Organisation? Dabei geht es nicht um bloße wissenschaftliche Definitionen, sondern vor allem um die moralische Rechtfertigung des Kampfes. Wird diese Unterscheidung nicht getroffen, kann eine Regierung jedwede Opposition als Terrorismus brandmarken, instrumentalisieren und ohne Einschränkungen bekämpfen. Auch Fujimori habe die Terrorismusgefahr des Sendero noch nach seiner weitgehenden Zerschlagung hochgespielt, um sein autoritäres Regime zu rechtfertigen und seine Macht zu sichern. Zu diesem Ergebnis kam 2003 die Comisión de la Verdad y Reconciliación (Wahrheit und 1
„Am Rande des Kollaps – Das Verfahren gegen Ex-Präsident Fujimori spaltet Peru“, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.12.2007, S. 9. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. Schäfer, Anne, Die Beziehung zwischen Guerillabewegungen und Zivilbevölkerung am Beispiel des Sendero Luminoso, in: Kölner Arbeitspapiere zur internationalen Politik, Nr. 5/2004, S. 4. 4 “The Cell at the End of the Path”, in: The Economist vom 19.09.1992, S. 50.
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Versöhnung), die im Auftrag der Regierung alle von terroristischen Gruppen und vom Staat verübten Verbrechen in Peru zwischen 1980 und 2000 aufzuklären hatte.5 Der Kommissions-bericht wurde indes von weiten Teilen der Gesellschaft und der politischen Klasse angezweifelt und den Mitgliedern der Kommission eine Sympathie für die Guerilla unterstellt. Im Schlussbericht wird dies jedoch widerlegt: Dort heißt es, der Sendero habe eine extreme Gewaltbereitschaft und ungewöhnliche Grausamkeit gezeigt.6 Aber macht ihn das automatisch zu einer terroristischen Organisation? Welche Abgrenzungskriterien also helfen letztlich bei der Unterscheidung zwischen Guerilla und Terrorismus? Noch immer ist des einen Terrorist des anderen Freiheitskämpfer, wie das Beispiel des Sendero Luminoso zeigt. Während David E. Long den SL als „one of the most powerful and deadly terrorist groups anywhere”7 bezeichnet, konstatiert David Scott Palmer: „Shining Path uses terror to further its revolutionary ends but is not a terrorist movement.“8 Andere Wissenschaftler behaupten hingegen: „Peru was facing a challenge unique in Latin America.“9 Mit seiner „ungebrochene[n] Militanz und blindwütige[n] Grausamkeit“10 sei der SL ein „Sondertypus“11 unter den Befreiungsbewegungen gewesen. Um diese Thesen überprüfen zu können, muss man sich zunächst den Begrifflichkeiten Terrorismus und Guerilla annähern.
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Terrorismus vs. Guerilla
Obwohl Wissenschaft und Politik seit den 1970er Jahren nach einer allgemein gültigen Definition suchen, ist Terrorismus bis heute ein vager Begriff geblieben. „Es gibt keine philosophische Einführung in die Grundlagen des Terrorismus, keinen Clausewitz, noch nicht einmal einen Jomini, und vielleicht wird sich dies auch nie ändern – einfach deshalb, weil es den Terrorismus nicht gibt, sondern eine Vielzahl von Terrorismen.“12 Ob nationalistisch, religiös, sozialrevolutionär oder separatistisch motiviert: Terrorismus ist immer Gewalt, doch nicht alle Gewalt ist Terrorismus.13 So erkennt das I. Genfer Zusatzprotokoll von 1977 einem Guerillero den Kombattanten-Status zu (Art. 44 Abs. 3), was ihn zu einem völkerrechtlich legitimierten Widerstandskämpfer macht. Ein Terrorist hingegen gilt nach 5
Vgl. Oettler, Anika, „Peru: Aufarbeitung der Zeit der Angst“, in: Brennpunkt Lateinamerika Nr. 18/2003, Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg 2003, S. 179-189, hier: S. 180. 6 Vgl. „Perus verdrängter schmutziger Krieg – Zwei Jahrzehnte im Visier der Wahrheitskommission, in: Neue Zürcher Zeitung vom 25. September 2003, unter: www.nzz.ch/2003/09/25/al/article88gy2_1.307508.html (Zugriff am 10.11.2007). 7 Long, David. E., Foreword, in: Tarazona-Sevillano, Theresa, Sendero Luminoso and the Threat of Nacroterrorism, New York et al. 1990, viii. 8 Palmer, David Scott, Conclusion: The View from the Windows, in: ders. (Hrsg.), The Shining Path of Peru, New York 1992, S. 241-248, hier: S. 244. 9 Stern, Peter A., Introduction: The Shining Path in the Corner of Dead, in: ders. (Hrsg.) Sendero Luminoso, An annotated Bibliography of the Shining Path Guerilla Movement 1980-1993, Albuquerque/ New Mexico 1995, xi. 10 Meyns, Peter, Befreiungsbewegungen, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.), Lexikon der Politik, Band 6 Internationale Beziehungen, München 1994, S. 55-62, hier: S. 61. 11 Waldmann, Peter, Terrorismus und Guerilla, in: Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 1993, Bonn 1993, S. 69-103, hier: S. 93. 12 Laqueur, Walter, 2003, zit. nach: Elter, Andreas, Terrorismusdefinitionen, Bundeszentrale für politische Bildung, unter: www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=3J2X8S (Zugriff am 02.12.2007). 13 Vgl. Laqueur, Walter, „Traditionelle Kriege sind zu teuer“, in: Das Parlament, Nr. 36/2006, unter: http://www.bundestag.de/dasparlament/2006/36/thema/001.html (Zugriff am 11.11.2007).
Terrorismus oder Guerilla? Der Sendero Luminoso in Peru
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Genfer Recht als Kriegsverbrecher.14 Indes sieht sich freilich auch ein sozialrevolutionärer Terrorist als ein Kämpfer, der ein System nur umstürzen will, um soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Es braucht also mehr als dehnbare moralische Abgrenzungskriterien. Obwohl es keine inter-national akzeptierte Definition des Terrorismus gibt, hat sich in der Forschung ein Konsens herausgebildet, inwieweit sich Terrorismus und Guerilla theoretisch unterscheiden lassen:
Tabelle 1:
Terrorismus vs. Guerilla15 Terrorismus
Struktur
Funktion der Gewalt
Motive und Ziele
Anhänger/Selbstverständnis Bezugsgruppe
Gegner
Guerilla
Faktische Isolation: tellurischer Charakter: keine territoriale Basis oder Ver- eigenes Territorium, Verankerung in bindung zur Bevölkerung der Bevölkerung keine Chance zur Machtübernahme reale Chance zur Machtübernahme sog. klandestine Organisation reguläre Gegenarmee Zielerreichung durch psychische Folgen Zielerreichung unmittelbar durch militärider Gewaltanwendung: sche Gewalt/Zerstörung: systematische Verbreitung von Taktik der Nadelstiche Furcht unter dem Gegner und unter systematische Schwächung und Sympathisanten und Unbeteiligten letztlich physische Vernichtung des punktuelles Zuschlagen militärischen Gegners; agiert nach Gesetzen des Krieges Gewalt als Teil einer Kommunikationsstrategie lang anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen keine offene Feldschlacht offener Kampf mit Gegner Zerstörung gesellschaftlicher Nor- Machterlangung men Aufbau von Gegenstrukturen (Sys keine längerfristige Besetzung eines tem-Alternative) großen Territoriums Ziel des Landgewinns messianisch Berufene, elitäre radikale Splittergruppen des gebildeVorkämpfer/Avantgarde einer revoten Mittelstands lutionären Neuordnung wirtschaftlich und politisch be- Einbeziehung breiter sozialer Schichnachteiligte Dritte aus anderer ten, vor allem verarmte LandbevölkeSchicht (Stellvertreterschicht) rung Regierungen und Unbeteiligte; Regierungen; Gewalt gegen Zivilisten keine Begrenzung der Gewalt als Ausnahme
Sowohl Guerilla als auch Terrorismus bedienen sich irregulärer Methoden der Kriegsführung. So kann eine Guerillabewegung in Schwächephasen durchaus auf terroristische Strategien verfallen oder Terrorismus als Teilstrategie verfolgen.16 Dies tut sie aber vorrangig, um Zeit zu gewinnen, die eigenen Kräfte wieder zu mobilisieren, bis sie der Gegenseite
14
Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II), angenommen in Genf am 08. Juni 1977. 15 Eigene Darstellung, siehe ausführlich dazu den einführenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 16 Waldmann, Peter, Terrorismus als weltweites Phänomen: Eine Einführung, in: Hirschmann, Kai/ Gerhard, Peter (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, Berlin 2000, S. 11-27, hier: S. 17.
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erneut eben-bürtig ist oder sogar stärker als sie.17 Trotz fließender Übergänge lassen sich also klare Unterschiede in der Vorgehensweise feststellen. Der Guerillakampf ist in erster Linie eine klassische militärische Strategie, bei der es darum geht, Städte und Regionen einzunehmen, um letztlich die Regierungsmacht zu übernehmen. Terroristen hingegen wollen sich nicht an die Stelle ihres Gegners setzen, sondern vor allem seine Handlungen und Strukturen beeinflussen. Dazu verfolgen sie eine Kommunikationsstrategie, die Gewalt anwendet, um eine psychologische Öffentlichkeitswirkung zu erzielen.18 Die Gewaltanwendung soll die Bevölkerung verunsichern und den Staat in seiner Machtlosigkeit entlarven, weshalb Terroristen willkürlich Unbeteiligte zu ihren Opfern machen. Je spektakulärer oder symbolträchtiger ihre Aktionen, desto größer ist das Publikum und desto drastischer sind die heraufbeschworenen Gegenmaßnahmen der Regierung. Wenn die Regierung mit staatlichem Terror überreagiert, so das Kalkül, wird sich die Bevölkerung letztlich gegen das bestehende Regime erheben (Aktion-Repression). Statt also einen direkten Draht zu den Bürgern herzustellen, setzen terroristische Organisationen auf den aufklärerischen Effekt ihrer Gewaltaktionen. „Diese sollen der unterdrückten Masse die Existenz einer revolutionären Avantgarde signalisieren, ihr die eigene Situation des Elends und der Ausbeutung ins Bewußtsein rufen und sie dazu anzustacheln, ebenfalls Widerstand zu leisten.“19 So sind etwa sozialrevolutionäre Terrororganisationen überzeugt, ihre Gewalttaten im „objektiven Interesse“20 des Proletariats zu verüben, dem sie selbst aber nicht entstammen. Um die Gesellschaft nach marxistischem Vorbild neuordnen zu können, müssen sie einen Volkskrieg initiieren21, weil sie selbst aufgrund ihrer Schwäche dazu nicht in der Lage sind. Im Gegensatz zum Terroristen will der Guerillero die Bevölkerung nicht in Angst und Schrecken versetzen. Schon Che Guevara warnte vor der Strategie des Terrorismus, da sie „den Kontakt mit den Massen erschwert und die Einigung für Aktionen unmöglich macht, die in einem kritischen Augenblick notwendig werden.“22 Der Guerillero kann ohne die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten seinen Kampf erst gar nicht beginnen, schließlich soll er sich wie Maos „Fisch im Wasser“ bewegen. Kann sich eine Organisation territorial derart verankern, darf sie sich das legitimitätsstiftende Etikett „Guerilla“ anheften. Praktisch entscheidet also das Votum der Bevölkerung über das Schicksal und den Erfolg einer Guerillabewegung.23 Diese bedient sich zwar auch terroristischer Maßnahmen, richtet diese aber nur gegen die Staatsgewalt. Dazu zählen Übergriffe auf Polizeistationen oder die Tötung von Informanten der Regierung „to demoralize the government by disrupting its control, to demonstrate one’s strength and to frighten collaborateurs.”24 Insgesamt sind also nicht die Guerilleros eine Gefahr für die Bevölkerung, sondern die staatlichen
17
Vgl. Waldmann, Terrorismus und Guerilla, aaO. (FN 11), S. 70. Vgl. Waldmann, Terrorismus als weltweites Phänomen, aaO. (FN 16), S. 18-20. 19 Waldmann, Terrorismus und Guerilla, aaO. (FN 11), S. 73. 20 Münkler, Herfried, Guerillakrieg und Terrorismus, in: Neue Politische Literatur, Jg. 30, Nr. 3/1980, S. 299-326, hier: S. 317. 21 Vgl. Malthauer, Stefan, Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppen, in: Waldmann, Peter (Hrsg.), Determinanten des Terrorismus, Weilerswirst 2005, S. 85-137, hier: S. 99. 22 Che Guevara, zit. in: Fromkin, David, Die Strategie des Terrorismus, in: Tophoven, Rolf/Becker, Horst (Hrsg.), Terrorismus und Guerilla, Düsseldorf 1979, S. 47-54, hier: S. 50. 23 Hahlweg, Werner, Theoretische Grundlagen der modernen Guerilla und des Terrorismus, in: Tophoven, Rolf (Hrsg.), Guerilla und Terrorismus heute – Politik durch Gewalt, Bonn 1976, S. 13-29, hier: S. 24. 24 Vgl. Laqueur, Walter, Guerilla Warfare. A Historical and Critical Study, New Brunswick/London 1998, S. 401. 18
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Gegenangriffe. Greift indes die Guerilla vermehrt zu terroristischen Aktionen, verliert sie die Unterstützung der Menschen, für die sie eigentlich zu kämpfen vorgibt. Das Beispiel des Sendero Luminoso untermauert diese These. Seit Mitte der 1980er Jahre verübte der SL verstärkt terroristische Akte gegen die Bevölkerung. Letzten Endes führte dies zu großen Sympathieverlusten und zu seinem Scheitern. Im Folgenden bleibt daher nicht nur zu entscheiden, ob das Handeln des Sendero letztlich legitimiert war, sondern vor allem auch, warum er im Verlauf seiner Existenz immer mehr in die Grauzone zwischen Terrorismus und Guerilla abdriftete.
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Entstehungsumstände: im „Winkel der Toten“
Folgt man dem politikwissenschaftlichen Mainstream, entstehen Guerillabewegungen vor allem dort, wo zwei Bedingungen zusammenfallen: eine ökonomische Krise und ein autoritäres Regime. Da letzteres einen leicht zu identifizierbaren Feind abgebe, könnten ökonomische „grievances“ verschiedener Gruppen schnell politisiert werden. Zudem bliebe Regimegegnern nur die Möglichkeit des bewaffneten Aufstandes, ist es ihnen doch ohne freie Wahlen nicht möglich, unblutig an die Macht zu kommen und das politische System zu verändern.25 Der Entstehungskontext und die Entwicklung des Sendero Luminoso belegen diese These - und widerlegen sie zugleich. Der Sendero Luminoso wurde 1970 in Ayacucho gegründet, einer der ärmsten und isoliertesten Gegenden Perus. Bezeichnenderweise bedeutet Ayacucho in der Indianersprache Quechua „Winkel der Toten“26 – ein Titel, den die Region in den 1970er Jahren zurecht trug. Drei Viertel der Menschen arbeiteten in der Landwirtschaft, meist nur für ihre eigene, kärgliche Existenz. Im ganzen Departemento gab es weder asphaltierte Straßen noch Telefone. Auch was die Versorgung mit Wasser, Elektrizität und Medizin anging, lag die südliche Hochlandregion weit unter dem nationalen Durchschnitt.27 Diese infrastrukturelle Vernachlässigung schlug sich auch in der Lebenserwartung nieder. Sie betrug 1975 gerade einmal 44 Jahre, während die Menschen an der Küste im Durchschnitt immerhin 54 Jahre alt wurden. Ayacucho war zudem trauriger Spitzenreiter in der Analphabetenquote: Noch 1980 waren dort mehr als 50 % der über 5jährigen des Lesens und Schreibens nicht mächtig.28 Während die Bevölkerung in den Küstenregionen weitgehend hispanisiert, gebildet und in den Welthandel eingebunden war, herrschten im indigenen Hochland Armut und Perspektiv-losigkeit. Schon in den 1920er Jahren benannte der Gründer der peruanischen Kommunisten-partei Jose Carlos Maríategui diese soziale und ethnisch-kulturelle Kluft, die Peru in zwei Hälften trenne. Er bezichtigte die peruanische Bourgeoise, das Land ausverkauft und in einen ökonomischen Kolonialismus getrieben zu haben.29 Für Mariátegui, der 1930 die Sozialistische Partei Perus gegründet hatte, gab es nur eine Antwort auf diese 25
Vgl. Goodwin, Jeff/ Skocpol, Theda, “Explaining Revolutions in the Contemporary Third World” in: Politics and Society 17 (4), Dezember 1989, S. 489-509, hier: S. 496-497. Vgl. Baier, Wolfgang, Gefangen vom Leuchtenden Pfad, Wien 1995, S. 142. 27 Vgl. Palmer, David Scott, “Terror in the Name of Mao: Revolution and Response in Peru”, in: Perspectivas Latinoamericanas, Número 2/2005, S. 88-109, hier: S. 90. 28 Vgl. Waldmann, Peter, Guerillabewegungen in Lateinamerika: Das Beispiel des Sendero Luminoso (Peru), in: Langewiesche, Dieter (Hrsg.), Revolution und Krieg, Paderborn 1989, S. 171-187, hier: S. 174. 29 Vgl. Tarazano-Sevillano, Sendero Luminoso and the Threat of Narcoterrorism, aaO. (FN 7), S. 16. 26
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Situation - den Marxismus-Leninismus: „El Marxismo-Leninismo abrirá el sendero luminoso hacia la revolución.”30 Diesen „Leuchtenden Pfad“ zur Revolution schlug vierzig Jahre später ein Philosophieprofessor ein, der den Sendero Luminoso gründete und beinahe autokratisch leitete: Abimael Guzmán Reynoso. Guzmán gab der Organisation auch ihren Namen: El Partido Comunista del Perú por el Sendero Luminoso del Pensamiento de José Carlos Mariátegui.31 Der Stammbaum der Gruppierung reicht bis ins Jahr 1964 zurück. Damals spaltete sich die Kommunistische Partei in zwei Gruppen. Während die einen Chruschtschows Linie der friedlichen Koexistenz treu blieben, beharrten die anderen auf Stalins Zwei-LagerThese und Maos Volkskrieg. Letztere Strategie unterstützte auch die maoistische „Bandera Roja“ (Rote Flagge), zu der Guzmán zählte. Da die Partei nach seiner Ansicht die Vorbereitung für den bewaffneten Kampf vernachlässigte, gründete der Philosophieprofessor 1970 den SL.32 Zwar erkannte Perus Militärregime (1968-1980) die Gefahr einer Revolution kubanischer Art und versuchte, mit Hilfe einer Landreform die Armut zu reduzieren und damit die Entstehung von Guerillaorganisationen zu verhindern. Das Agrarreformgesetz von 1969 gilt als eines der radikalsten Lateinamerikas. Die Regierung übertrug 40 % des Ackerlandes den jeweiligen Beschäftigten. Das betraf vor allem die Besitztümer an der Küste, was die Oligarchie entscheidend schwächte. Die Situation der Küstenbewohner verbesserte sich erheblich, die Situation im Hochland blieb indes nahezu unverändert oder verschlechterte sich sogar teilweise.33 Zugleich versuchte das Militärregime, die sozialen Unterschichten in den politischen Entscheidungsprozess zu integrieren, um sich deren Unterstützung zu sichern. „In the process, Peru’s military rulers generated a plethora of new political organisations such as unions, peasant federations, and rural cooperatives.“34 Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Staaten gab es also in Peru eine große Dichte verschiedener Organisationen, zwei der wichtigsten Gewerkschaften waren marxistisch.35 Das Ausmaß politischer Repression war im Vergleich mit anderen Militärregimen weitaus geringer, der Freiraum für den Sendero relativ groß – was die These entkräftet, Revolutionen entstünden vor allem in „closed authoritarian regimes“, in denen die Bevölkerung entpolitisiert wird.36 So war es letztlich auch der Generalstreik von 1977, der zur demokratischen Öffnung Perus führte. Indes belegt die Gründung des Sendero Luminoso, dass Guerillabewegungen von ökonomischen und gesellschaftlichen Missständen profitieren. Für Guzmán war es nicht schwer, Anhänger zu finden, bot Ayacucho in den 1970er Jahren einen geeigneten Nährboden für seine Ideologie. Der Professor rekrutierte seine Parteigänger zu einem guten Teil an der Universität von Huamanga, wo er seit 1962 Philosophie lehrte. Unter den Studenten 30
Der Marxismus-Leninismus wird den leuchtenden Pfad zur Revolution weisen. Vgl. Enzyklika Britannica, unter www.britannica.com/eb/article-9067404/Shining-Path#202162.hook (Zugriff am 12.11.2007). 31 Die Kommunistische Partei Perus für den Leuchtenden Pfad von José Carlos Mariátegui. 32 Vgl. Barolo, Juan, Der Erleuchtete Pfad in die Finsternis – „Sendero Luminoso“ zwischen Guerillakampf und Terrorismus, in: Ehrke, Micheal et. al. (Hrsg.), Lateinamerika Analysen und Berichte 9 – Vom Umgang mit Gewalt, Hamburg 1985, S. 111-137, hier: S. 113-114. 33 Vgl. Schäfer, Guerillabewegungen und Zivilbevölkerung, aaO. (FN 3), S. 32. 34 Ron, James, “Sendero Luminoso’s Tactical Escalation”, in: Journal of Peace Research, 38 (5), 2001, S. 569-592, hier: S. 579. 35 Vgl. McClintock, Cynthia, “The Prospects of Democratic Consolidation in a 'Least Likely Case'”, in: Comparative Politics 21(2), 1989, S. 127-148, hier: S. 139. 36 Vgl. Goodwin/Skocpol, “Explaining Revolutions in the Contemporary Third World”, aaO. (FN 25), S. 496.
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und Dozenten fanden seine Revolutionsideen schnell Zustimmung, auch weil sich der Staat unfähig zeigte, den Bedürfnissen der heranwachsenden Generationen zu entsprechen. Viele der indigenen Studenten waren die ersten in ihren Familien, die einen höheren Bildungsabschluss erreichten. Weil aber die Regierung ab 1975 eine wirtschaftliche Sparpolitik betrieb37, gab es kaum oder nur schlecht bezahlte Jobs, was die „Bildungspioniere“ frustrierte und dem Sendero in die Hände spielte.38 Die Menschen glaubten, die Guerilla könne das ökonomische, soziale und politische Chaos in den Griff bekommen und ihnen einen sozialen Aufstieg ermöglichen. Im Sinne Mariáteguis und Maos wollte der SL das System stürzen und die Gesellschaft umwandeln. Dazu indoktrinierte Guzmán eine ganze Generation von Lehramtsstudenten, die den Kommunismus unter den indianischen Analphabeten verbreiteten, indem sie wiederum ihre Schüler beeinflussten.39 So bildete sich in Ayacucho ein breites Beziehungsgeflecht potentieller Sendero-Aktivisten. Dies war möglich, weil die Universität von Huamanga nicht nur die übliche Aufgabe hatte, Akademiker auszubilden. Vielmehr sollte sie auch die Entwicklung der Region vorantreiben. „This meant that the university provided an opportunity unmatched in the country at that time for faculty and students to pursue either development or political agendas in the field.“40 Deshalb entstanden auf dem Land auch jene Schulen für praktische Studien, in denen Guzmáns Studenten die Sendero-Ideen unter das Volk brachten. Dabei half, dass der SL-Anführer 1970 zum Personalchef der Universität ernannt worden war und Sympathisanten einstellen konnte, ca. 75 Prozent davon waren indianischer Abstammung.41 Viele von ihnen wurden als zweisprachige Lehrer ausgebildet – „ein Multiplikator der Parteiideen, wie er geeigneter kaum vorstellbar ist.“42 Neben den Lehrern wurden auch Frauengruppen, Gewerkschaften und der Movimiento de Campesinos Pobres (Bewegung der armen Bauern) für die Verbreitung der Sendero-Ideologie eingespannt. Diese “generated organisms” waren laut der Guerilla Teil einer „broad mobilization to get deep into the masses, to agitate, to open the party and help prepare for the beginning of the people’s war.”43 Zudem wurden im ganzen Land Zellen und Regionalkomitees der Partei geschaffen. Letztlich zeichneten also mehrere Faktoren für die Entstehung des Sendero Luminoso verantwortlich. Zum einen gab es ein erhebliches Potential sozialer Unzufriedenheit bei der unterprivilegierten Landbevölkerung und bei den relativ privilegierten Studenten, was nach Krumwiede einen wichtigen Push-Faktor darstellt, der Terroristen/Guerilleros zum Handeln antreibt.44 Zum anderen waren günstige politische und geographische Rahmenbedingungen gegeben, weil das relativ offene Militärregime marxistische Studentenverbände und andere linke Gruppierungen tolerierte. So konnte die Universität von Ayacucho zur Plattform des Sendero ausgebaut werden, von der aus die Indoktrinierung der Bevölkerung 37
Vgl. Nolte, Detlef, Neue Militärregime, in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 244/1994, Lateinamerika II. Politische Entwicklung seit 1945, S. 23-30, hier: S. 26. 38 Vgl. Krumwiede, Heinrich-W., Ursachen des Terrorismus, in: Waldmann, aaO. (wie FN 21), S. 29-84, hier: S. 56. 39 Vgl. Strong, Simon, Shining Path – A Case Study in Ideological Terrorism, Conflict Studies 260, Research Institute for the Study of Conflict and Terrorism, London 1993, S. 3. 40 Palmer, Terror in the Name of Mao, aaO. (FN 27), S. 90. 41 Vgl. Masterson, Daniel M., Militarism and Politics in Latin America – Peru from Sánchez Cerro to Sendero Luminoso, New York 1991, S. 277. 42 Waldmann, Guerillabewegungen in Lateinamerika, aaO. (FN 28), S. 178. 43 Vgl. Interview der Zeitung El Diario mit Guzmán, zit. nach Masterson, Militarism and Politics in Latin America, aaO. (FN 41), S. 277. 44 Vgl. Krumwiede, Ursachen des Terrorismus, in: Waldmann, aaO. (FN 38), S. 36.
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organisiert wurde. Zum anderen scheiterte die Landreform, die extreme Armut im Hochland blieb, was die Menschen zunächst für Heilsversprechungen des SL anfälliger machte. Dass die Region Ayacucho auf fast 3000 Meter Höhe eingeschlossen in den Zentralanden liegt, half der Organisation außerdem, sich in den 1970er Jahren unbeobachtet von Lima auszubreiten und die erste Phase abzuschließen: die Gründung und Entwicklung der Partei sowie die Bildung gut organisierter, ideologisch geprägter Kader. Nach einem Jahrzehnt der Gewaltlosigkeit begann der Sendero 1980 seinen bewaffneten Kampf ausgerechnet in dem Moment, als in Peru die ersten freien Wahlen nach der Militärdiktatur stattfinden sollten. Damit widerlegt die Geschichte des SL eine weitere These der Revolutionstheorie: „The ballot box (...) has proven to be the coffin of revolutionary moments.“45
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Der Leuchtende Pfad zum Volkskrieg: Ziele und Ideologie des Sendero
Warum aber begann der Sendero Luminoso seinen Kampf, als es zumindest theoretisch am schwierigsten war, die Bevölkerung für eine Revolution zu gewinnen, boten doch die Wahlen eine gewaltlose Option, das System zu verändern? Diese Frage stellt die Pull-Faktoren in den Mittelpunkt, die eine Bewegung in den bewaffneten Kampf ziehen lassen: angestrebte Ziele und Nutzenkalküle.46 Der politische Wandel in Peru brachte den Sendero Luminoso in Bedrängnis. Zu Beginn einer demokratischen Öffnung sind die alten Strukturen zusammengebrochen, neue noch nicht aufgebaut. Es kommt zu einer Neu- bzw. Umverteilung der Macht und damit zu Verteilungs-kämpfen zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen.47 Je kleiner dabei eine Organisation ist, desto eher kann sie erwarten, marginalisiert zu werden und in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Das traf 1980 für den Sendero in mehrerer Hinsicht zu: Zum einen hatte der SL seine Hochburg in einer weit von Lima entfernten Andenregion. Zum anderen verlor Guzmán Mitte der 1970er Jahre die Universitätswahlen und damit seine Vormachtstellung an der Hochschule. Die Senderistas verschwanden im Untergrund, die Partei trat von da an kaum noch in Erscheinung.48 Kleine Gruppierungen haben indes die Möglichkeit, strategische Allianzen einzugehen, um ihr politisches Gewicht zu erhöhen. 1980 gab es eine Vielzahl linker und marxistischer Parteien, denen sich der Sendero hätte an-schließen können. Dass er dies nicht tat, sondern sich als einzige Bewegung gegen die Parlamentarisierung und für eine gewaltsame Strategie entschied, hängt mit seiner Ideologie sowie seinem angestrebten Ziel zusammen. Eine Organisation nämlich greift vor allem dann zu den Waffen, wenn sie eine entsprechend extremistische Gesinnung verfolgt.49 Der Sendero Luminoso hatte sich laut Guzmán „ein hohes Ziel und hohe Ansprüche gesetzt: die alte Gesellschaft zu zerstören, uns ganz der Revolution zu widmen und unser
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Goodwin/ Skocpol, Explaining Revolutions in the Contemporary Third World, aaO. (FN 25), S. 495. Vgl. Krumwiede, Ursachen des Terrorismus, in: Waldmann, aaO. (FN 38), S. 37. 47 Vgl. Mansfield, Edward D./Snyder, Jack, “Democratic Transitions, Institutional Strength, and War”, in: International Organization 56 (2), Spring 2002, S. 297-337, hier: S. 99. 48 Vgl. Barolo, Der Erleuchtete Pfad in die Finsternis, aaO. (FN 32), S. 115. 49 Vgl. Ron, Sendero Luminoso’s Tactical Escalation, aaO. (FN 34), S. 579. 46
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Leben dafür zu opfern.“50 So gab es laut SL vier Parallelen zwischen dem vorrevolutionärem China und Peru, was den bewaffneten Kampf zwingend erfordere: 1. Peru ist ähnlich dem China der 1930er Jahre ein semifeudaler und semikolonialer Staat, der 2. von einer bürokratischen Bourgeoisie beherrscht wird. Das macht es 3. notwendig, den Krieg zunächst auf dem Land zu führen und dann in die Städte zu tragen. Die Zeit dafür sei reif, weil sich Peru 4. in einer revolutionären Situation befinde.51 Aufgrund der „halbfeudalen“ Gesellschaftsstruktur waren für den Sendero Wahlen und eine friedliche Transformation des Systems nicht möglich. Nur der Volkskrieg könne den Beginn einer neuen Ära einleiten, an dessen Ende eine „New Democratic Republic“ stünde, in der eine Diktatur des Volkes eingeführt und der Kapitalismus samt Privateigentum abgeschafft würde.52 Guzmáns “Demokratie” war also reiner Kommunismus, „a single irreplacable new society, without exploited or exploiters, without oppressed or oppressors, without classes, without state, without arms, without wars.“53 Der leuchtende Pfad dorthin war indes ein Weg der Gewalt. Laut Guzmán hatte dies schon der SL-Namenspatron betont: „Mariátegui sagt: 'Die Macht wird durch die revolutionäre Gewalt erobert.' (...) Mariátegui war niemals ein Anhänger von Wahlen.“54 Der SL-Führer hatte sich in seiner zweiten juristischen Doktorarbeit selbst skeptisch über Wahlen geäußert, die kontrolliert würden durch „the manipulation of electoral law and by the economic forces behind the press and the media.“55 Das semifeudale Problem Perus konnte folglich nur durch den Krieg gelöst werden. Gewalt war für den Sendero also nicht nur ein „rationales“ Kampfmittel, sondern eine Art „Reinigungsgewalt“56, so Guzmán in seinem berühmten Interview weiter: Was das Problem der Gewalt betrifft, gehen wir von einem Prinzip aus, welches vom Vorsitzenden Mao Tsetung aufgestellt worden ist: Die Gewalt, d.h. die revolutionäre Gewalt, ist ein universelles Gesetz, ohne jegliche Ausnahme. Die Gewalt ist es, die es uns ermöglicht, die fundamentalen Gegensätze mit Hilfe einer Armee durch den Volkskrieg zu überwinden. (...) Krieg hat immer zwei Aspekte, Zerstörung einerseits und Aufbau andererseits, wobei der Aspekt des Aufbaus der zentrale ist.57
Doch nicht nur ideologische, auch rationale Erwägungen spielen eine Rolle, warum politische Gruppierungen zu Beginn einer Demokratisierung Gewalt anwenden. So ist das zentral-staatliche Gewaltmonopol in der ersten Transformationsphase fragmentiert, die Armee diskreditiert.58 Diese Sicherheitslücke können andere, halb- oder nicht-staatliche Eliten ausnutzen. Auch diese These bestätigt Guzmán in seinem Interview von 1988 nachträglich für den Sendero Luminoso:
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Guzmán gab nur ein einziges, dafür achtstündiges Interview, das er 1988 mit der Zeitung el diario führte, abgedruckt in: Borja, Luis Arce, Die Anden beben!, Frankfurt/Main 1990, S. 115-243, hier: S. 150. 51 Waldmann, Guerillabewegungen in Lateinamerika, aaO. (FN 28), S. 179. 52 Vgl. Tarazano-Sevillano, Sendero Luminoso and the Threat of Narcoterrorism, aaO. (FN 7), S. 19. 53 Guzmán, zit. nach: Degregori, Carlos Iván, The Origins and Logics of Shining Path: Two Views – Return to the Past, in: Palmer, David Scott (Hrsg.), The Shining Path of Peru, New York 1992, S. 33-44, hier: S. 38. 54 Guzmán in einem Interview mit der Zeitung el diario, in: Borja, aaO. (FN 50), S. 138. 55 Guzmán, zit. nach: Strong, Simon, Shining Path – The World’s Deadliest Revolutionary Force, London 1992, S. 26. 56 Krumwiede, Ursachen des Terrorismus, aaO (FN 38), S. 55. 57 Guzmán in einem Interview mit der Zeitung el diario, in: Borja, aaO. (FN 50), S. 157-158. 58 Vgl. Mansfield/ Snyder, Democratic Transitions, Institutional Strength, and War, aaO. (FN 47), S. 301-302.
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Alexandra Bürger Im Jahre 1980 sollte mittels Wahlen ein Regierungswechsel stattfinden. Es würde ungefähr ein Jahr dauern, bis die neue Regierung den gesamten Staatsapparat übernehmen und kontrollieren könnte. (...) Dies hatten wir berechnet und vorausgesehen, sowie die Situation, in der die Regierung das Land nach 12 Jahren Militärherrschaft übernahm, und die Tatsache, dass sie nicht so leicht den Kampf gegen uns aufnehmen konnte, und auch nicht gleich die Führung des Staates übernehmen konnte, weil ihr Prestige und ihr politisches Image stark gesunken waren. (...) Zwar sagen viele, wir hätten all dies nicht bedacht, sondern einfach nur dogmatisch angewandt. (...) [aber] es war offensichtlich, und wir haben es laut und deutlich gesagt, dass Belaúnde aus Angst vor einem Staatsstreich die Macht der Streitkräfte einschränken würde.59
Letztlich war nach Guzmáns Kosten-Nutzen-Analyse das Wahljahr der geeignete Zeitpunkt, um den Volkskrieg zu beginnen, der in der SL-Ideologie so fest verankert war. Zum einen wollte sich der SL von der Konkurrenz im linken Lager absetzen, das im politischen Establishment aufgegangen war: „The Marxist left would end up defending the society that the Shining Path wanted to dynamite.“60 Dass die Zivilgesellschaft im Zuge der Demokratisierung weiter wachsen würde, erhöhte die Notwendigkeit, den Kampf zu beginnen. Außerdem war zu erwarten, dass die neue Regierung staatliche Entwicklungs-programme initiieren würde, um die extreme Armut unter der Andenbevölkerung abzu-mildern. Wollte der SL die Unterstützung der Bauern gewinnen, musste er handeln und die Aufmerksamkeit auf seine Ideen lenken „by showing them overwhelming actions to drive home the ideas so that the masses would serve the party”61. Der Moment dafür schien günstig, weil das Militär zögerte, wieder politisch aktiv zu werden. Die gewaltsame Ideologie und die totale Ablehnung demokratischer Wahlen sind ein erster Hinweis auf terroristische Züge des Leuchtenden Pfads. Indes wenden auch GuerillaBewegungen Terrorismus als Teilstrategie an, ohne dass diese insgesamt zwingend als terroristische Organisation eingestuft werden müssen. Letztendlich sind vor allem die Qualität der Gewalt sowie die Vorgehensweise und Struktur einer Gruppe ausschlaggebend.
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Aktionismus: vom Guerillakampf zum Terrorismus?
Guzmán hatte eine genaue Marschroute für den Leuchtenden Pfad abgesteckt und dazu Maos Strategie des Volkskampfes weiterentwickelt. In fünf Phasen sollten die SenderoZiele umgesetzt werden.62 In der ersten Phase ging es darum, revolutionäre Stützpunkte auch in entlegenen Regionen zu schaffen, was der SL in der Zeit von 1970-1980 erfolgreich getan hatte. Die zweite Phase, in der Symbole des bürgerlich-kapitalistischen Staates angegriffen werden sollten, begann am 17. Mai 1980. Für ihren ersten Anschlag einen Tag vor den allgemeinen Wahlen in Peru wählten die Senderistas ein geeignetes Symbol: Sie verbrannten in der Stadt Chuschi (Ayacucho) Wahlurnen und Wählerlisten.63 In der dritten Phase sollte schließlich der Volkskrieg beginnen, für den in der vierten Phase die Unterstützung auf die Städte ausgeweitet werden müsste. In der letzten Phase schließlich käme es zum Zusammen-bruch der Städte und zum Sieg der Guerilla. 59
Guzmán in einem Interview mit der Zeitung el diario, in: Borja, aaO. (FN 50), S. 168-169. Gorriti, Gustavo, The Shining Path: A History of Millenarian War in Peru, Chapel Hill/London 1999, S. 93. 61 Guzmán, zit. nach: Strong, Shining Path - The World’s Deadliest Revolutionary Force, aaO. (FN 55), S. 37. 62 Vgl. im Folgenden Schäfer, Guerillabewegungen und Zivilbevölkerung, aaO. (FN 3), S. 44-45. 63 Vgl. Gorriti, The Shining Path, aaO. (FN 60), S. 18. 60
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5.1 Bezugsgruppe/Selbstverständnis und Motive Der Leuchtende Pfad wollte zu Beginn seines Kampfes in erster Linie die Bevölkerung des Andenhochlandes mobilisieren. Etwa die Hälfte der Peruaner zählt zu der Schicht dieser sozial benachteiligten Indigenas. Schon der prominente Marxist und SL-Namensgeber Jose Carlos Mariátegui hatte die ethnische Diskriminierung angeprangert: The Indian race and language, displaced from the coast by the Spaniard and his language, have fearfully taken refuge in the sierra. Therefore, in the sierra are combined all elements of a region, if not a nationality. The Peru of the coast, heir of Spain and the conquest, controls the Peru of the sierra from Lima. (…) Instead of a single pluralism of local and regional traditions, what has to be solved is a dualism of race, language and sentiment, born of the invasion and conquest of indigenous Peru by a foreign race that has not managed to merge with the Indian race, or eliminate or absorb it.64
Es wäre ein Leichtes für den Sendero gewesen, die Konfliktlinie zwischen dem mestizischweißen Peru der Küstenregionen und dem indianischen Peru des Hochlands zu instrumentalisieren.65 Indes fällt auf, dass dieses Potential nur unzureichend genutzt wurde, obwohl Mariátegui neben Mao der wichtigste ideologische Bezugspunkt der Bewegung war. So unterließ es Guzmán in seinem einzigen, achtstündigen Interview von 1988, den bewaffneten Kampf auch nur an einer Stelle in ethnischen Begriffen zu interpretieren.66 Stattdessen gab es für den Philosophieprofessor, der sich nach Marx, Lenin und Mao das „Vierte Schwert des Marxismus“ nennen ließ67, nur den Kampf des peruanischen Volkes gegen das System, der nötig war, da die staatliche Autorität nur zum Wohle der Bourgeoise und des Kapitals zu arbeiten schien. Das Zentralkomitee der Partido Comunista del Perú por el Sendero Lumi-noso del Pensamiento de José Carlos Mariátegui benannte ihre Bezugsgruppe selbst als das „Proletariat“ und „das Volk unseres Landes, unsere unbesiegbaren Bauern insbesondere“68. Der Sendero Luminoso weist hier Merkmale einer sozialrevolutionären terroristischen Organisation auf.69 So wollte er nicht vorrangig die Lebensbedingungen der indigenen, diskriminierten Bevölkerung verbessern. Die SL-Führungselite, die sich aus Intellektuellen des Mittelstandes zusammensetzte, identifizierte sich nicht mit den Indianern, sondern orientierte sich primär „an ihrer Ideologie als einem abstrakten Bezugssystem, welchen den Sinn und das Ziel ihres Tuns bestimmt und zugleich definiert.“70 Gerade diese „tendenzielle Distanzierung von der eigenen Herkunftsgruppe und der Bezug auf eine Drittgruppe, in deren Namen sie ihren Kampf zu führen beanspruchen“71 ist aber ein Hauptmerkmal des sozialrevolutionären Terrorismus’. Die SL-Führung verstand sich in diesem Sinne selbst als
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Maríategui, Jose Carlos, Seven Interpretative Essays on Peruvian Reality, Austin/Texas 1971, S. 163-164. Vgl. Malthaner, Terroristische Bewegungen, in: Waldmann, aaO. (FN 21), S. 100. 66 Vgl. Krumwiede, Ursachen des Terrorismus, in: Waldmann, aaO. (FN 21), S. 53. 67 McClintock, Cynthia, Revolutionary Movements in Latin America – El Salvador’s FMLN and Peru’s Shining Path, Washington D.C. 1998, S. 63. 68 Anonymus, Entwickelt den Guerillakrieg! Herausgegeben vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Perus, März 1982, in: Borja, Die Anden beben!, aaO. (FN 50), S. 24. 69 Vgl. den einführenden Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band. 70 Vgl. Malthaner, Terroristische Bewegungen, in: Waldmann, aaO. (FN 21), S. 100. 71 Ebd., S. 99. 65
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eine Avantgarde, die allein die Massen führen könne, so Guzmán in seinem Interview mit dem el diario: Die Partei ist keine Massenpartei, sondern sie hat Massencharakter, das ist ein wesentlicher Unterschied. Unter dem Massencharakter versteht man, dass die Partei eine Organisation ist, in der eine Auswahl getroffen wird, eine Auswahl der Besten, der Erprobtesten, derer die aus dem besten Holz geschnitzt sind, wie Stalin es formulierte. Das heißt, zahlenmäßig sind es wenige im Vergleich mit der großen Masse, die als Partei die Interessen des Proletariats verteidigen, seine Klassen-interessen vertreten und seine Emanzipation herbeiführen, die erst im Kommunismus vollendet sein wird.72
Der Sendero Luminoso wollte die Gesellschaft aber nicht nur im Stile einer terroristischen Vereinigung verändern. Vielmehr ging es ihm tatsächlich darum, die Macht selbst zu übernehmen, was ihn theoretisch wieder in den Bereich einer Guerilla rückt. Die Partida Comunista wollte nicht nur einen neuen Staat errichten, sondern diesen auch bis ins kleinste Detail nach maoistischem Muster kontrollieren.73 Sein strategisches Ziel, die Machtergreifung, versuchte der SL mit einer typischen Guerillataktik zu erreichen: den Kampf auf dem Land beginnen und von dort aus Regionen und Städte einnehmen. So hatte der Sendero schon in den 1970er Jahren seine generated organisms aufgebaut, die auf drei Ebenen arbeiteten: national, regional und lokal. „Each of these divisions is buttressed by multiple layers of support sections, cells, and committees – some clandestine, some legal and legitimate.”74 Bis Ende 1982 gelang es der Organisation, im Departemento Ayacucho eine Reihe „befreiter Zonen“ zu errichten. Die dortigen Kommunalbeamten wurden abgesetzt, der Besitz der Reichen aufgeteilt, den Armen die Schulden erlassen und Radiostationen besetzt. Anschließend errichteten die Senderistas eine eigene Ordnung, in der die Partei über alles entschied. So wurde etwa der Schulunterricht gemäß den Leitideen des Leuchtenden Pfads umgestaltet.75 „Sendero had driven virtually all government representatives out of approximately 25,000 square miles of Peruvian territory.“76 Gegen Ende des Jahres 1982 kontrollierte der SL damit ein Gebiet so groß wie ein mittleres deutsches Bundesland, was ihn als Guerilla charakterisiert, die ein Territorium längerfristig besetzt halten kann. Hinsichtlich Bezugsgruppe und Motive weist der Leuchtende Pfad damit sowohl Merkmale einer sozialrevolutionären terroristischen Organisation als auch einer Guerillabewegung auf. Wichtig für die abschließende Bewertung ist daher die Frage, inwieweit sich der Sendero in der Bevölkerung verankern konnte.
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Guzmán im Interview mit der Zeitung el diario, in: Borja, Die Anden beben!, aaO. (FN 50), S. 152. Vgl. McClintock, Revolutionary Movements in Latin America, aaO. (FN 67), S. 70. 74 Tarazano-Sevillano, Sendero Luminoso and the Threat of Narcoterrorism, aaO. (FN 7), S. 55. 75 Vgl. Waldmann, Guerillabewegungen in Lateinamerika, aaO. (FN 28), S. 179. 76 Vgl. McClintock, Cynthia, “Sendero Luminoso: Peru’s Maoist Guerrillas”, in: Problems of Communism, September-October 1983, S. 19-34, hier: S. 30. 73
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5.2 Struktur Eine Guerillabewegung unterscheidet sich vor allem in ihrer Struktur von einer terroristischen Gruppe. Letztere kann weder eine Verbindung zur Bevölkerung noch ein territoriales Rück-zugsgebiet aufweisen. Eine Guerilla hingegen ist von Anfang an auf die Unterstützung der Menschen angewiesen, zu deren (vermeintlichem) Wohl sie ihren bewaffneten Kampf letztlich aufgenommen hat. Was die Verankerung im heimatlichen Territorium betrifft, werden für den Sendero Luminoso im Folgenden drei Phasen unterschieden.
1. Phase (1980-1982): der Aufgang der roten Sonne Perus Andenbevölkerung war Anfang der 1980er Jahre empfänglich für revolutionäre Ideen. Die Reformen des Militärregimes (1968-80) hatten nicht den geplanten Erfolg gebracht, die Menschen litten immer noch unter extremer Armut. So nahm die Bevölkerung in der südlichen Andenregionen um Ayacucho täglich kaum mehr als 420 Kalorien zu sich, da die Landwirtschaft auf den kargen Böden nicht mehr abwarf.77 Die Menschen hatten das Vertrauen in die staatlichen Versprechen verloren. Guzmán wusste diese Situation zu seinem Vorteil zu nutzen. Niemand schien sich um die Probleme der indianischen Landbevölkerung zu bemühen, bis der Sendero begann, Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu wecken. Indes stellte die Guerilla nur in der relativ kurzen ersten Phase bewusst auf IndioMythen ab, um schneller akzeptiert zu werden. So wurde Guzmán den Indigenas als Puka Inti („Rote Sonne“) und damit quasi als messianische Heilsfigur verkauft.78 Zudem schickte die Partei zu Beginn der 1980er Jahre Senderistas in die Dörfer, wo sie die Einheimischen nach ihren Problemen fragen sollten, um die sich die Bewegung anschließend kümmerte.79 So konnte das Vertrauen und die Loyalität der bis dahin politisch und gesellschaftlich marginalisierten Andenbauern gewonnen werden. In dieser ersten Phase zahlte sich auch die Basisarbeit des vorangegangenen Jahrzehnts aus. Von den 5.000 Lehrern, die es 1981 in Ayacucho gab, war die Hälfte von den Ideen Guzmáns indoktriniert. Die meisten von ihnen gingen nach dem Studium wieder in ihre Dörfer zurück, was der Bewegung zusätzlich half, schließlich waren die Bewohner von ihren Kindern und Nachbarn leichter zu überzeugen als von Fremden.80 Die Strategie ging voll auf. So antwortete 1982 fast jeder Bürger in der Region Ayacucho auf die Frage eines Soziologen, ob der SL von der lokalen Bevölkerung unterstützt werde, mit: „It’s a movement supported by the youngest peasants. The older ones are resigned to their lot, but they do support their kids.”81 Dass der Sendero Rückhalt in der Bevölkerung genoss, beweisen auch die Schwierigkeiten der Polizei, Guerilleros zu fassen. Diese konnten sich leicht in der gebirgigen Region verstecken, wo sie von den campesinos mit Nahrung und Informationen versorgt wurden. Dies belegt auch die Aussage eines Bauern gegenüber Journalisten der Zeit: „Anfang der 1980er Jahre waren wir Bauern in der Umgebung alle Anhänger des Leuchtenden Pfades, ich auch. 77
Vgl. McClintock, Peru’s Maoist Guerillas, aaO. (FN 76), S. 26. Vgl. Masterson, Militarism and Politics in Latin America, aaO. (FN 41), S. 275. 79 Vgl. Harding, Colin, The Rise of Sendero Luminoso, in: Miller, Rory (Hrsg.), Region and class in modern Peruvian history, Liverpool 1987, S. 179-207, hier: S. 190. 80 Vgl. Schäfer, Guerillabewegungen und Zivilbevölkerung, aaO. (FN 3), S. 50. 81 Vgl. McClintock, Peru’s Maoist Guerrillas, aaO. (FN 76), S. 30. 78
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Wir dachten, dass sie wirklich für unsere Rechte kämpfen.“82 Insgesamt schätzten Soziologen und Journalisten, dass zu der Zeit rund drei Viertel der Bewohner Ayacuchos und benachbarter Departementos dem SL und seinen Anliegen prinzipiell positiv gegenüberstanden.83 Die breite Unterstützung wurde in der ersten Phase auch nicht von den terroristischen Aktionen der Senderistas beeinträchtigt. Diese wurden ganz im Gegenteil von der Bevölkerung begrüßt, richteten sie sich doch gegen verhasste Viehdiebe, Dorfverwalter oder Polizisten, mit denen die meisten Andenbauern Schikanen, Übergriffe und Korruption verbanden.84 Dass die Kämpfer zahlreiche dieser „bad people“ hinrichteten oder vertrieben, wurde daher anfangs weitgehend gebilligt. In dieser ersten Phase bekämpfte der Sendero im Stile einer Gegenarmee vorrangig die Staatsgewalt, nicht aber die Menschen, „while the police arbitrarily arrested and even tortured many residents.“85 Insgesamt schienen also in den Augen vieler Andenbewohner die Lebensbedingungen in der neuen „SL-Demokratie“ besser zu sein: Ihre Ansichten wurden berücksichtigt, korrupte Beamte ersetzt und die Schulbildung verbessert. Was die territoriale Verankerung betrifft, kann der Leuchtende Pfad damit zwischen 1980 und 1982 durchaus als eine erfolgreiche Guerilla eingestuft werden. Die rote Sonne befand sich am Zenit.
2. Phase (1983-1986): Abwendung der Bevölkerung Der Sendero verlor in den Folgejahren rasch an Unterstützung der Bevölkerung. Denn als die Guerilla ihr Zwischenziel erreicht hatte, große Gebiete zu besetzen, begann ihr fanatisches Wüten. Im Dezember 1982 verübte die Bewegung erneut Attentate auf vier Regierungs-beamte in Ayacucho, darunter der stellvertretende Bürgermeister, der vor den Augen seiner vier Kinder erschossen wurde. Zuvor war bereits der Gouverneur der Stadt Chuschi öffentlich hingerichtet worden: „They paraded him through the streets naked and took him to the plaza with the intent of executing him.“86 Der 1980 gewählte Präsident Beláunde hatte bis dahin gezögert, die Armee in die Region zu entsenden. Nun verhängte er den Ausnahmezustand über Ayacucho. Die staatlichen Spezialeinheiten verbreiteten Angst und Schrecken in der Region, die terroristische Aktions-Repressions-Strategie des Sendero schien aufzugehen. Dennoch kam es nicht dazu, dass sich die Bauern, angeführt von den Guerilleros, in einem Generalaufstand gegen den Staat stellten. Dies hatte der SL selbst zu verschulden. Erstens offenbarte sich nun, dass die Bewegung kein handfestes Konzept gegen die Armut und Rückständigkeit der Andenregion hatte. Ganz im Gegenteil: Der Dorfkommunismus, den der SL einführte, verschlechterte die Lebensbedingungen eher noch und zeigte, wie wenig die Führungsriege um Guzmán ihre Bezugsgruppe verstand. So wurden die Regionalmärkte als „forms of capitalist exchange“ geschlossen und „planting quotas“ einge82 Vgl. „Erwacht aus einem bösen Traum”, in: Die Zeit vom 22. Februar 1996, unter: http://images.zeit.de/ text/1996/08/Erwacht_ aus_einem_bösen_Traum (Zugriff am 13.11.2007). 83 Vgl. Waldmann, Guerillabewegungen in Lateinamerika, aaO. (FN 28), S. 183. 84 Vgl. Barolo, Der Erleuchtete Pfad in die Finsternis, aaO. (FN 32). 85 Vgl. de Wit, Ton/ Gianotten, Vera, The Center’s Multiple Failures, in: Palmer, The Shining Path, aaO. (FN 53), S. 45-57, hier: S. 52. 86 Vgl. Isbell, Billie Jean, Shining Path and Peasant Responses in Rural Ayacucho, in: Palmer, The Shining Path, aaO. (FN 84), S. 72.
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führt, damit die Kommunen nichts mehr an die Städte liefern konnten und diese ausgehungert würden.87 Um das Verbot durchzusetzen, sprengten die Senderistas wichtige Brücken und blockierten Zufahrtsstraßen.88 Die vom Handel abhängigen Andenbauern wandten sich von der Guerilla ab. Darüber hinaus waren die Wochenmärkte für alt und jung ein gesellschaftliches Ereignis und eine willkommene Abwechslung vom Alltag. Diese zu verbieten stieß auf genauso wenig Verständnis wie der Versuch, religiöse und traditionelle Feste durch „revolutionäre Gedenktage“ zu ersetzen.89 Zudem rächte sich, dass sich der Sendero nicht auf ethnische Konfliktlinien konzentriert hatte, sondern einzig auf seine maoistische Ideologie. Diese wurde von den indianischen Bauern kaum verstanden, weil sie in keiner Weise ihre Traditionen und Bedürfnisse berücksichtigte. Zweitens richtete der Leuchtende Pfad seine terroristischen Strategien vermehrt gegen die eigene Bezugsgruppe, als sich die Bauern weigerten, den Handel und die Wochenmärkte gänzlich einzustellen. Zahlreiche Hinrichtungen von „Verrätern“ und „Spionen“ sowie Straf-expeditionen gegen abtrünnige Dörfer, bei denen viele Bauern getötet wurden, gehörten nun zur Tagesordnung.90 Die ohnehin Hunger leidenden Menschen wurden gezwungen, immer größere Mengen von Guerilleros mit Nahrung zu versorgen. „Sie nahmen unsere halbwüchsigen Jungen mit in den Kampf und vergewaltigten viele Mädchen“, berichtete ein Bauer.91 Hatte die Bevölkerung zunächst geglaubt, der Sendero befreie sie von ihren Unter-drückern, wurden nun die Senderistas selbst zum Feind der campesinos. Drittens kündigten viele Indigenas dem Leuchtenden Pfad die Gefolgschaft, weil er die Menschen, für die er doch kämpfen wollte, schlichtweg im Stich ließ. Rückten die staatlichen Sicherheitskräfte heran, räumten die Senderistas die Dörfer widerstandslos und ließen die Bewohner schutzlos zurück. Die Militärs richteten viele campesinos strandrechtlich wegen Kollaboration mit dem Feind hin,92 wohl auch, damit die Guerilleros ihre Rückzugsgebiete verloren. Wer überlebte, versuchte die Region Richtung Küste zu verlassen. Dass die Senderistas dem offenen Kampf mit dem Gegner auswichen und ihr erobertes Territorium sowie ihre Anhänger nicht einmal zu verteidigen versuchten, scheint ihr den Rang einer Guerillabewegung abzusprechen. Der Leuchtende Pfad führte immer mehr in Richtung Terrorismus. Indes half der vom Sendero provozierte staatliche Terror den Guerilleros, „to return to the bossom of communities that now hated the military and police with a vengeance.“93 Das gab der Truppe um Guzmán einen willkommenen Grund, die Fortführung ihres Kampfes zu rechtfertigen.
3. Phase (1986-1992): pragmatische Unterstützung vs. offener Widerstand In seiner dritten Phase spaltete der Sendero Luminoso die Andenbevölkerung in zwei Teile. Die eine Hälfte akzeptierte oder unterstützte zwar den SL, tat dies aber nur aus pragmatischen Gründen: Sie wollte weder den staatlichen Sicherheitskräften in die Hände fallen 87
Vgl. Vgl. McClintock, Peru’s Maoist Guerrillas, aaO. (FN 76), S. 32. Vgl. Harding, The Rise of Sendero Luminoso, aaO. (FN 79), S. 192. Vgl. dazu besonders Malthaner, Terroristische Bewegungen, in: Waldmann, Determinanten des Terrorismus, aaO. (FN 21), S. 103. 90 Vgl. Barolo, Der Erleuchtete Pfad in die Finsternis, aaO. (FN 32), S. 121. 91 Vgl. „Erwacht aus einem bösen Traum”, in: Die Zeit vom 22. Februar 1996, aaO. (FN 82). 92 Vgl. Isbell, Shining Path and Peasant Responses in Rural Ayacucho, aaO. (FN 86), S. 72. 93 Strong, Shining Path, A Case Study in Ideological Terrorism, aaO. (FN 39), S. 19. 88 89
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noch die Senderistas herausfordern. Jedoch empfanden sie die Guerilla nur noch als fremde Besetzungsmacht, nicht mehr als Befreiungsbewegung.94 Die andere Hälfte begann sich indes gegen die Guerilla zu wehren. Um den Kämpfern den Zutritt zu ihren Dörfern zu verweigern, bildeten sie sog. rondas campesinas („Patrouillen der Bauern“). Da diese jedoch nicht von der Regierung unterstützt wurden, verfügten sie zur Selbstverteidigung lediglich über Mistgabeln und Steinschleudern. Es war für den gut bewaffneten Sendero kein Problem, diese Dörfer wieder einzunehmen und die „Kollaborateure“ zu bestrafen.95 Die Leidtragenden dieser Aktions-Repressions-Spirale waren die Indigenas, die zwischen der Guerilla und den Sicher-heitskräften aufgerieben wurden. So führte die Regierung lange Zeit ihren „schmutzigen Krieg“ gegen die Bevölkerung weiter. „According to the United Nations, each year between 1987 und 1990 more people in Peru were detained by security forces and consequently disappeared than in any other country.”96 Insgesamt war aber nicht nur die staatliche Repression eine Gefahr für die Menschen, sondern auch die Guerilla selbst. Aus welchen persönlichen Gründen sich die Indigenas auch immer abwandten – insgesamt wurde die Verbindung zur Bevölkerung nach und nach gekappt. Starns Einschätzung scheint die Situation am besten widerzuspiegeln: „Even if it’s fought in the name of the peasantry, the Shining Path reinscribed the old insensibility of privileged Peruvian society towards mountains villagers, and the elevation of the European over the Andean.”97 Damit verspielte der Sendero Luminoso seine anfänglich vorhandene territoriale Verankerung – und damit die legitimitätsstiftende Bezeichnung „Guerilla“. Diese Beurteilung scheint sich zu bestätigten, untersucht man die Qualität der senderistischen Gewalt.
5.3 Funktion der Gewalt und Anhänger Der Sendero Luminoso war eine Bewegung mit herausragender Kampfkraft. Die Führungselite bestand zwar aus Intellektuellen des Mittelstandes. Im Unterschied zu anderen kommunistischen Parteien war das strategische und ideologische Potential des Sendero aber von Beginn an auf eine einzige Person vereint, die alle wichtigen Entscheidungen fast im Stile eines Autokraten traf: Guzmán. Er schaffte es, bis Anfang der 1990er Jahre 10.000 aktive Anhänger um sich zu scharen.98 Mehrere Motivationen spielten dabei eine Rolle. Die einfachen Mitglieder waren meist Jugendliche oder Studenten aus der indigenen Land-bevölkerung. Letztere wollten nach dem Studium einen lukrativen Job außerhalb ihrer Dörfer finden, eine Hoffnung, die sich aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Peru nicht erfüllte. „Subsequently, their aspirations are blocked and they feel frustrated by the inequities in Peruvian society and uncomfortable both in their parents’ traditional An-
94 Vgl. Degregori, Carlos Iván, Cosechando Tempestadas: Las rondas campesinas y la derrota del Sendero Luminoso en Ayacucho, in: ders. (Hrsg.), Las rondas campesinas y la derrota del Sendero Luminoso, Lima/Huamanga 1996, S. 189-255, hier: S. 206. 95 Vgl. Barolo, Der Erleuchtete Pfad in die Finsternis, aaO. (FN 32), S. 124. 96 Strong, Shining Path: A Case Study in Ideological Terrorism, aaO. (FN 39), S. 19. 97 Starn, Orin, “Maoism in the Andes: The Communist Party of Peru-Shining Path and the Refusal of History”, in: Journal of Latin American Studies, 27(2), 1995, S. 399-421, hier: S. 413-414. 98 Vgl. McClintock, Revolutionary Moments in Latin America, aaO. (FN 67), S. 74.
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dean world and in the urban Western world.”99 Für diese entwurzelten jungen Menschen bot der Sendero einerseits Halt und das Gefühl, gleichzeitig für ihre eigene, bessere Zukunft kämpfen zu können. Psychologisch betrachtet fühlten sich die Jugendlichen in ihrer Kämpferrolle wichtig und ernst genommen. Außerdem waren sie für den sektenähnlichen Führerkult um Guzmán empfänglich. Andererseits zahlte sich die Gefolgschaft später auch ökonomisch aus. Durch die Kooperation mit kolumbianischen Drogenhändlern100 konnte die Guerilla gegen Mitte der 1980er Jahre üppige Löhne zahlen: Das Durchschnittsgehalt von 250 bis 500 $ betrug das drei- bis achtfache der meisten Lehrer.101 Zudem wurden Frauen rekrutiert, die in Peru traditionell eine untergeordnete und passive Rolle spielten. Der Sendero bot ihnen die gleichen Chancen wie den Männern. Ihr Kampf war daher doppelt motiviert: durch den Wunsch nach ökonomischer und politischer Gerechtigkeit sowie durch das Streben nach Gleichberechtigung.102 Was die Organisation betrifft, wies der Sendero Luminoso sog. klandestine Züge sowie die Zellenstruktur einer terroristischen Organisation auf. Alle Senderistas benutzten Decknamen, und nur wenige von ihnen kannten mehr als vier andere Kämpfer, da jede Zelle maximal fünf Mitglieder hatte. Nur einer der fünf nahm als Führer an den Komitees des jeweils nächst höheren Levels teil. Um ihre Anonymität zu wahren, trugen die Guerilleros während ihrer Aktionen zudem große Wollkapuzen.103 Zu Beginn ihrer Revolution Anfang der 1980er Jahre verfolgte die Bewegung indes noch eine reine Guerillataktik. In Trainingscamps auf dem Land wurden die Mitglieder ausgebildet. Es ging also um den Aufbau einer Gegenarmee, was charakteristisch für eine Guerillabewegung ist. Dies trifft in dieser Zeit auch für die Strategie zu: „Guerilla warfare was initiated and weapons were acquiered in the course of political and military actions which, according to the party, totalled 1,342; according to official government sources (…) 220. (…) Dynamite was stolen and mines, government offices, banks, electricity pylons, (…) and police posts were blown up.”104 Der größte Coup gelang im März 1982, als mehrere Guerillakommandos für einige Stunden die 80.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt Ayacucho besetzten und beinahe dreihundert Häftlinge aus dem Gefängnis befreien konnte – obwohl in der Stadt starke Polizeikräfte im Einsatz waren.105 Die Aktionen waren also anfänglich auf die Regierungs-gewalt begrenzt, Terrorismus wurde nur selektiv eingesetzt. Mitte der 1980er Jahre jedoch verließ der Sendero immer mehr den Pfad des legitimen Kampfes. Zwar verfolgte die Bewegung die typische Guerillastrategie der flexiblen Blitzangriffe, wobei ihnen die Kenntnis der Region half, gezielt Anschläge auf Polizeieinheiten oder staatliche Gebäude zu verüben. Dies wurde ab 1984 immer schwieriger, als der Rückhalt in der Bevölkerung nachzulassen begann. In der Folgezeit sank die Zahl der GuerillaAktionen auf dem Land (bewaffnete Zusammenstöße, Hinterhalte, Angriffe), die Zahl der 99 McClintock, Cynthia, Theories of Revolution and the Case of Peru, in: Palmer, The Shining Path, aaO. (FN 84), S. 225-240, hier: S. 234. 100 Gegen Ende der 1980er Jahre erhielt der Sendero von kolumbianischen Drogenhändlern mindestens 10 Mio. $ „Steuern“ pro Jahr, damit diese mit ihren Flugzeugen in der Region Ayacucho versteckte Landebahnen benutzten konnten. Vgl. Gonzales, José E., Guerrillas and Coca in the Upper Huallaga Valley, in: Palmer, The Shining Path, aaO. (wie FN 84), S. 123-144. 101 Vgl. Krumwiede, Ursachen des Terrorismus, aaO. (FN 38), S. 56. 102 Vgl. Schäfer, Guerillabewegungen und Zivilbevölkerung, aaO. (FN 3), S. 51. 103 Vgl. McClintock, Peru’s Maoist Guerrillas, aaO. (FN 76), S. 22. 104 Vgl. Strong, Shining Path – A Case Study in Ideological Terrorism, aaO. (FN 39), S. 7. 105 Vgl. Strong, Simon, Shining Path – Terror and Revolution in Peru, London 1992, S. 92.
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terroristischen Anschläge in den Städten stieg (Bombenanschläge, Morde und Überfälle).106 Insgesamt nahm damit die Qualität der Gewalt in mehrfacher Hinsicht zu. Erstens wurden die Mitglieder darauf eingestimmt, einen hohen Blutzoll (quota) zu entrichten, sprich: für den Volkskrieg nicht nur systematisch zu töten, sondern auch für ihn zu sterben.107 Zweitens richtete sich der Terrorismus zunehmend gegen die eigene Bezugsgruppe, die anfing, sich aufzulehnen. So inszenierten die Senderistas äußerst brutale Hinrichtungen vermeintlicher „Verräter“, um den Widerstand im Keim zu ersticken und der in prärevolutionärem Denken gefangenen Bevölkerung die revolutionäre Idee „einzubleuen“.108 Oft wurden Zivilisten gezwungen, Verurteilte umzubringen – sie mussten ihnen mit Steinen den Schädel einschlagen oder die Kehle durchschneiden. Diese „Umerziehung“ gipfelte 1990 in einer Reihe von Massakern an ganzen Dörfern.109 Drittens schreckte der Sendero nicht davor zurück, Kinder im Alter von acht oder neun Jahren ihren Eltern zu entreißen, in Militärcamps zu unbarmherzigen „Kriegsmaschinen“ zu „formen“110 und damit zahllose Familien zu zerstören. Auch bei seinen Anschlägen in den Städten kamen viele Kinder und andere Unschuldige um, „was der SL-Führung offenbar nie Kopfzerbrechen bereitete“.111 Viertens zählten seit Mitte der 1980er Jahre mittlere Verwaltungsbeamte wie Lehrer und Gesundheitsmitarbeiter als vermeintliche Spione zu den Opfern. Auch harmlose Konkurren-ten in anderen kommunistischen Gruppen wurden vom Sendero ermordet – insgesamt sollen es 291 Funktionäre und Politiker gewesen sein (1983-1996).112 All diese Maßnahmen lassen sich eindeutig als terroristische Vorgehensweise definieren. Wenn also Waldmann anmerkt, die Senderistas „kennen nur eine Sprache, die Sprache der Gewalt”113, spielt er darauf an, dass die Bewegung Gewalt nur zum Teil als Kommunikationsstrategie einsetzte. So bekannte sie sich weder zu ihren Aktionen noch versuchte sie, die Öffentlichkeit von der Richtigkeit ihrer Ziele und Taten zu überzeugen. Dass die Mittelpunktsfigur Guzmán nur ein einziges Interview gab, unterstreicht die dürftige Kommunikations- und Propagandaarbeit sowie die klassisch leninistische Überzeugung der SL-Elite, sie allein verfüge über eine höhere Wahrheit.114 Auch was die Funktion der Gewalt betrifft, hatte sich der Sendero Luminoso insgesamt als Guerilla disqualifiziert. Er richtete seine Aktionen immer mehr gegen unschuldige Zivilisten, deren Menschenrechte auf grausamste Weise verletzt wurden, darunter zahlreiche Kinder. Der Terrorismus diente primär als taktische Waffe, um die SL-Strategie und ideologischen Vorstellungen in der Andenbevölkerung durchzusetzen sowie um neue Mitglieder zu rekrutieren, die sich von der Gewalt einschüchtern ließen. Es ging also mehr darum, unter den Menschen systematisch Angst und Schrecken zu verbreiten, als den militärischen Gegner zu schwächen und physisch zu vernichten. Letztendlich wollte Guzmán staatlichen Gegenterror provozieren, der wiederum die Gewalt des SL legitimieren sollte. 106
Vgl. Barolo, Der Erleuchtete Pfad in die Finsternis, aaO. (FN 32), S. 126. Vgl. Gorriti, Gustavo, The Shining Path: A History of the Millenarian war in Peru, aaO. (FN 60), S. 99. Barolo, Der Erleuchtete Pfad in die Finsternis, aaO. (FN 32), S. 126. 109 Vgl. Del Pino, H., Ponciano, Family, Culture, and “Revolution”: Everyday Life with Sendero Luminoso, in: Stern, Steve J. (Hrsg.), Shining and Other Paths – War and Society in Peru, 1980-1995, Durham, London 1998, S. 158-192, hier: S. 167-168. 110 Vgl. Schäfer, Guerillabewegungen und Zivilbevölkerung, aaO. (FN 3), S. 69. 111 Waldmann, Guerillabewegungen in Lateinamerika, aaO. (FN 28), S. 180. 112 Vgl. Ron, Explaining Sendero Luminoso’s Tactical Escalation, aaO. (FN 34), S. 572. 113 Waldmann, Guerillabewegungen in Lateinamerika, aaO. (FN 28), S. 180. 114 Vgl. ebd. 107 108
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Solange die Regierung den ihr zugedachten Part in diesem Aktions-Repressions-Stück spielte, waren die Menschen in einem Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt gefangen. Der Niedergang des Leuchtenden Pfades konnte daher erst beginnen, als der Staat seine Strategie radikal änderte.
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In den späten 80er Jahren intensivierte der Sendero seine terroristischen Anschläge in den Städten, um sich vor allem in Lima die Unterstützung des urbanen Proletariats zu sichern.115 Zwischen 1991 und 1993 kam es zu zahlreichen Bombenanschlägen, bei der jeweils bis zu 60 Menschen, meist unbeteiligte Kinder, Frauen und Alte, getötet wurden.116 Eine besonders erfolgreiche Aktion war es, die Stromleitungen in Lima zu unterbrechen, so dass die Sechsmillionenstadt stundenlang im Dunkeln lag.117 Damit erreichte die Bewegung, dass im Juli 1992 allmählich Panik ausbrach: The risk was that, facing an average of eight car-bomb attacks monthly, businessmen, industrials, merchants, and bankers would decide to evacuate the city, withdrawing their money from the banks, which in turn would have bankrupted the banking system and paralyzed industry and most commerce. The result would be hunger, provoking looting by a badly paid, badly trained, badly equipped and demoralized armed forces. The risk was being run of a disintegreation of military units that had a high rate of desertion. This is how close we were to defeat.118
Mit ihren ausgeweiteten terroristischen Aktionen in Perus Hauptstadt machten die Senderistas indes unwissentlich die letzten Schritte auf ihrem Leuchtenden Pfad. Weil der Volkskrieg nun quasi vor der Haustür des Staates wütete, erhöhte die Regierung ihre Anstrengungen, neue Strategien gegen den SL zu finden. Zum einen startete sie eine „heart and minds“-Kampagne. In jenen Kommunen, in denen der Sendero noch am meisten Akzeptanz fand, wurden Initiativen wie „free haircuts and health clinics, whitewashing and re-roofing local schools, trash clean-up campaigns, soup kitchens, and bulding access roads or trails“119 durchgeführt, die relativ schnell die Bevölkerung die Seiten wechseln ließ - auch, weil nun die Sicherheitskräfte kaum mehr die Menschenrechte verletzten. Zum anderen wurden vor allem in den ärmsten Gegenden, die teilweise noch immer Zentren des SL waren, Entwicklungs-programme eingeführt.120 Je mehr die Andenbevölkerung die Regierungsstrategie als beste Lösung für ihre Probleme ansah, desto aggressiver wurde der Sendero und desto mehr Widerstand sah er sich ausgesetzt. So unterstütze die Regierung nun auch die rondas campesinos mit Waffen und taktischer Ausbildung. Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass die große Ausbreitung der rondas zum Ende des Leuchtenden Pfads beigetragen hat. Dank der beruhigenden Prä115 Vgl. dazu ausführlich: McCormick, Gordon H., From the Sierra to the Cities – The Urban Campaign of the Shining Path, RAND Corporation (R-4150-USDP), Santa Monica 1992, unter: www.rand.org/pubs/ reports/R4150 (Zugriff am 04.12.2007). 116 Vgl. Schäfer, Guerillabewegungen und Zivilbevölkerung, aaO. (FN 3), S. 75. 117 Vgl. Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, München 2005, S. 71. 118 Obando, Enrique, zit. in: McClintock, Revolutionary Movements in Latin America, aaO. (FN 67), S. 89. 119 Vgl. Palmer, Terror in the Name of Mao, aaO. (FN 27), S. 96. 120 Vgl. ebd., S. 100.
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senz der bäuerlichen Patrouillen ließen die Menschen den Kämpfern keine Lebensmittel, Verstecke oder andere Unterstützung mehr zukommen. Insgesamt soll es 1994 etwa 5.700 rondas mit über 400.000 Mitgliedern gegeben haben. Dieser Erfolg war indes nur möglich, weil sich die breite Bevölkerung vom Sendero abgewandt hatte. In Guatemala und El Salvador hingegen scheiterte die Maßnahme, rondas campesinos einzusetzen, weil die dortigen Guerilleros weiterhin über den Rückhalt der Menschen verfügten.121 Das (vorläufige) Ende des SL lässt sich genau auf den 12. September 1992 datieren, den Tag, als die peruanische Polizei Guzmán und andere Führungspersönlichkeiten verhaftete und damit einen „sendero sin destino“122 hinterließ. Ein Gericht befand Guzmán des Terrorismus, des Mordes und anderer schwerer Delikte für schuldig. Seine Verurteilung zu lebenslanger Haft wurde 2006 in einem neuen Prozess bestätigt.123 Innerhalb der nächseten fünf Jahre, „the revolutionaries were a spent force, dead, in jail, or rehabilitated, the remnants scattered and no longer a threat to the state.“124 Über die heutige Stärke des Senderos gibt es nur Spekulationen. Von den ehemals 10.000 Senderistas sollen nach Behördenangaben noch etwa 150 Kämpfer übrig sein.125 Medienberichte sprechen von einigen Hundert Bewaffneten, die indes nur noch ökonomische Motive im Drogenanbau verfolgten.126 Letztlich führte die neue politische, ökonomische und militärische Strategie der Regierung dazu, dass die Menschen wieder Vertrauen in den Staat entwickelten und sich mit Aussicht auf eine friedliche und bessere Zukunft gegen den Sendero stellten. Im Gegensatz dazu zeigte sich der SL wenig lernfähig. Er blieb bei seiner ideologischen Kurzsichtigkeit und seiner brutalen Gewaltstrategie.127 Den Anteil der Toten, die insgesamt auf das Konto des Sendero gehen, schätzte die Wahrheits- und Versöhnungskommission in ihrem Bericht von 2003 auf 54 Prozent. Weil er weder den Bedürfnissen der Bauernschaft Rechnung getragen noch deren kulturellen Besonderheiten berücksichtigt habe, sahen die Kommissionsmitglieder zudem alle Anzeichen eines Genozids gegeben.128 Insgesamt stellte der Sendero Luminoso an Grausamkeit und Radikalität alle anderen lateinamerikanischen Bewegungen in den Schatten. Damit passt die Bewegung schwer in die bekannten Revolutions-Modelle. Auch wenn dies wissenschaftlich unbefriedigend scheint, bleibt nur die Einordnung als Grenzfall. Die lokal begrenzte Ideologie, die wahrlich todernste Bekämpfung anderer linker Organisationen und demokratischer Wahlen sowie die Brutalität seiner Aktionen rücken den Sendero in den Bereich des Terrorismus. Dennoch wollten die Senderistas tatsächlich die Macht übernehmen. Dass der Leuchtende Pfad trotz seiner Gewaltideologie zahllose Jugendliche und Frauen rekrutieren und einen breiten Teil der Bevölkerung zunächst auf seine Seite ziehen konnte, lässt ihn indes als territorial ver121
Vgl. Schäfer, Guerillabewegungen und Zivilbevölkerung, aaO. (FN 3), S. 72. Sohr, Rául, Peru: Un sendero sin destino, in: Mensaje, 34 (336), 1985, S. 13-15. Vgl. “Lebenslänglich für Guzmán“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16. Oktober 2006, unter: http://www.nzz. ch/2006/10/16/al/articleekk4v:1.68186.html?printview=true (Zugriff am 01.12.2007). 124 Vgl. Palmer, Terror in the Name of Mao, aaO. (FN 27), S. 94. 125 Vgl. „Überfall von Guerilleros auf Polizisten in Peru“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 23. Februar 2005, unter: http://www.nzz.ch/2005/02/23/al/articlecm7yp_1.97057.html (Zugriff am 01.12.2007). 126 Vgl. „Der Terror hat nie aufgehört – Im Hochland von Peru verbreitet der Leuchtende Pfad immer noch Angst und Schrecken“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 25. September 2003, unter: http://www.nzz.ch/ 2003/08/03/al/ article90dva_1.285115.html (Zugriff am 01.12.2007). 127 Vgl. Palmer, Terror in the Name of Mao, aaO. (FN 27), S. 95. 128 Vgl. „Perus verdrängter schmutziger Krieg – Zwei Jahrzehnte im Visier der Wahrheitskommission“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 25. September 2003, unter: http://www.nzz.ch/2003/09/25/al/article88gy2_1.307508.html (Zugriff am 01.12.2007). 122 123
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ankerte Guerilla erscheinen. Diese Tatsache bringt den zweiten Teil der peruanischen Geschichte in Erinnerung: das strukturelle Versagen der Regierungen. Die Aufarbeitung des Sendero-Phänomens scheint gegenwärtig mit dem Prozess gegen Fujimori wieder in Gang gekommen. Wie das Ergebnis auch ausfallen wird: „In some perverse way Sendero has won a victory, although it is not the victory it sought. No one in Peru can claim any longer to be ignorant of the way the 'other half' of the country lives. (…) The 'two Perus' have been forced to acknowledge their mutual existence.”129
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Stern, Peter A., Sendero Luminoso – An Annoted Bibliographie of the Shining Path Guerrilla Movement, 19801993, Albuquerque 41997, xix.
Ein „tragisch-groteskes“ Missverständnis: Das Scheitern der argentinischen Montoneros
Das Scheitern der argentinischen Montoneros
Franz Kurz
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Politische Gewalt in Argentinien
Bis 1983 liest sich Argentiniens Geschichte des vergangenen Jahrhunderts wie eine unüberschaubare Aneinanderreihung von Putschen der Generalität, gescheiterten Demokratisierungsbemühungen und teils exzessiven Eruptionen politischer Gewalt. Besonders die historisch letzte Militärdiktatur von 1976 bis 1983, der sogenannte Proceso de Reorganizacion Nacional (Prozess der Nationalen Reorganisation, PRN), hat dabei tiefe Spuren in der Gesellschaft des Landes hinterlassen, zählte sie doch mit bis zu 30.000 Opfern1 selbst im an Diktaturen wahrlich nicht armen Lateinamerika zu den gewaltsamsten ihrer Art. Wie prägend die Erinnerung an den Proceso noch heute ist, wurde einmal mehr deutlich, als Nestor Kirchner, ehemaliger Präsident und Gatte der aktuellen Staatschefin, seine zunächst instabil erscheinende Position recht schnell nach dem Amtsantritt nicht zuletzt dadurch festigen konnte, dass er eine zweite Welle der juristischen Aufarbeitung von Verbrechen während der Gewaltherrschaft vorantrieb.2 Damit ist Argentinien zwar mit Ausnahme Boliviens das einzige Land des Kontinents, in dem Angehörige des Militärs wegen derartiger Vergehen Gefängnisstrafen antreten mussten. Gleichzeitig ist Kirchners Biographie aber auch eng mit dem Entstehen der Diktatur verbunden. Vorangegangen war dem PRN nämlich eine ebenso beispiellose Eskalation substaatlicher Gewalt, zu deren bedeutendsten Protagonisten die Montoneros, eine (pseudo-)peronistische3 Stadtguerilla zählten, in deren Umkreis sich auch Kirchner während der 1970er Jahre befand. Und so musste sich der Präsident bemühen, rasch auch Verfahren gegen ehemalige Insurgenten voranzutreiben, um Vorwürfe zu entkräften, er lege bei seiner Vergangenheitspolitik ein doppeltes Maß an.4
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Da sich das Militär bei seinen Morden sehr um Geheimhaltung bemühte, variieren die Angaben über Opferzahlen in der Literatur teils beträchtlich – je nachdem auf welche Quelle sich die Autoren berufen. Während ihre Zahl von staatlicher Seite auf mittlerweile 12.000 beziffert wird, gehen Menschenrechtsgruppen von bis zu 30.000 „Verschwundenen“ aus. Siehe dazu beispielsweise Elster, John, Die Akten schließen. Nach dem Ende von Diktaturen, Bonn 2005, S. 75; Fuchs, Ruth, Staatliche Aufarbeitung von Diktatur und Menschenrechtsverbrechen in Argentinien. Die Vergangenheitspolitik der Regierungen Alfonsin (1983-1989) und Menem (1989-1999) im Vergleich, Hamburg 2003, S. 49. 2 Erste Verurteilungen von Generälen gab es bereits zu Beginn der Amtszeit des ersten Präsidenten nach dem PRN, Raul Alfonsin. Siehe dazu und zum Folgenden Berger, Timo, Wohin Herr K.?, Argentinien: Ein Jahr Nestor Kirchner, in: (Stand: 04.01.2008); Elster, Die Akten schließen, aaO. (FN 1), S. 75f. 3 Zur Einordnung der Montoneros als „(Pseudo-)Peronisten“ siehe Kap. 6 dieses Beitrags. 4 Vgl. dazu Buenos Aires Herald, Impartial or partially so?, in: (Stand: 10.01.2008).
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Bedeutend sind die Montoneros jedoch nicht nur wegen ihres tragischen Einflusses auf die jüngste Geschichte Argentiniens oder des damals auch im internationalen Vergleich herausragenden Ausmaßes ihrer Aktionen. Ebenso galten sie einige Zeit sogar als einziges Beispiel erfolgreicher terroristischer Interessensdurchsetzung. Im Rückblick zeigt sich allerdings deutlich, dass es ihnen zwar mehrmals tatsächlich gelungen ist, den argentinischen Staat zu verändern – nie jedoch zu ihren eigentlichen Zielvorstellungen hin. Sie scheiterten und trugen letztendlich selbst bedeutend zu ihrem eigenen Niedergang bei. Und das, obwohl sie unter ausnehmend günstigen Bedingungen operieren sowie zeitweise eine immens hohe Schlagkraft entwickeln konnten. Dies legt den Schluss nahe, dass die Ursachen ihrer Erfolglosigkeit nicht nur in äußeren Faktoren liegen, sondern vielmehr auch bei ihrer eigenen strategischen Konzeption zu suchen sind.5
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Strategische Konzeption der Montoneros
Unter den verschiedenen Varianten der Guerilla war die Form der Stadtguerilla, zu der auch die Montoneros zählen sollten, Ende der 1960er Jahre eine relativ neue Erscheinung.6 Ihr Entstehen war vorrangig historisch und topographisch begründet. Versuche von substaatlicher Seite, meist sozialistische Systeme in verschiedenen Ländern des lateinamerikanischen Festlandes gewaltsam einzuführen, wurden bis dahin vorrangig mit dem Mittel der Landguerilla unternommen.7 Deren Strategie bestand darin, von einem abgelegenen, unzugänglichen Terrain aus, das sie unter ihrer Kontrolle hatte und als Rückzugsgebiet nutzen konnte, den jeweiligen Staat durch eine „Taktik der Nadelstiche“8, also vornehmlich durch systematische, überraschende Angriffe auf die regulären Streitkräfte im Rahmen einer unkonventionellen Kriegsführung, derart zu demoralisieren, dass dieser schließlich kapitulierte. Grundlage dieses Kampfes waren zwei Thesen, wie sie am bekanntesten von Ernesto Guevara und Regis Debray formuliert wurden:9 Zum einen waren die Insurgenten überzeugt, eine kleine, entschlossene Minderheit sei in der Lage, von einem abgelegenen Aufstandsherd, einem sogenannten foco, aus eine Revolution auszulösen, wobei es gleichgültig war, ob alle Bedingungen für eine derartige gewaltsame Umwälzung bereits bestanden. Denn die Aktionen der Aufständischen würden revolutionäre Tendenzen innerhalb der 5
Dabei offenbart sich jedoch einmal mehr das Problem, dass die Montoneros – wie viele vergleichbare Insurgentengruppen Lateinamerikas auch – hierzulande recht unbekannt sind und ebenso von der wissenschaftlichen Literatur entweder nur überblicksartig in Sammelbänden oder allein in größeren Zusammenhängen behandelt werden. Zumindest in deutscher und englischer Sprache scheint Gillespies Monographie die einzige zu sein, die sich ausschließlich mit ihnen befasst. Zum Verständnis ihres Niedergangs ist es jedoch nötig, daneben die Überblicksdarstellungen von Allemann, Laqueur und Waldmann heranzuziehen. Generell ist festzustellen, dass die deutsch- und englischsprachigen Autoren nach dem sich abzeichnenden Niedergang der Montoneros in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre das Thema fast gar nicht mehr behandeln. Bei der Beschreibung der aktivistischen Phasen der Guerilla muss sich dieser Beitrag daher auf eine immer geringer werdende Literaturauswahl stützen. 6 Vgl. dazu Allemann, Fritz, Terrorismus in Lateinamerika – Motive und Erscheinungsformen, in: Funke, Manfred (Hrsg.), Terrorismus. Untersuchungen zur Strategie und Struktur terroristischer Gewalt, Bonn 1977, S. 173. 7 Aus Platzgründen kann auf die Landguerilla und deren Strategie nur stichpunktartig eingegangen werden. Näheres vgl. ebd., S. 174f; Laqueur, Walter, Guerilla. A Historical and Critical Study, Boston ²1976, S. 326 – 340; Waldmann, Peter, Strategien politischer Gewalt, Stuttgart 1977, S. 54 – 62; Allemann, Fritz, Macht und Ohnmacht der Guerilla, München 1974, S. 65 – 242. 8 Waldmann, Strategien politischer Gewalt, aaO. (FN 7), S. 56. 9 Vgl. dazu und zum Folgenden Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 174ff; Laqueur, Guerilla, aaO. (FN 7), S. 326 – 340. Siehe dazu den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Band.
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Gesellschaft – die nach ihrer Überzeugung überall in Lateinamerika vorhanden waren – katalysieren und die fehlenden Bedingungen letztendlich auf diese Weise erzeugen. Hintergrund dessen wiederum war ihre Auffassung, es bestünde ein Klassenkonflikt, der den Bürgern durch die Annahme des bewaffneten Kampfes erst ins Bewusstsein gerufen werden müsse, mittels Steigerung der Gewalt eskalieren und schließlich in einen Umsturz münden würde. Dabei sollten die Aufständischen als Vorbild und Vorhut wirken, hatten sie doch aufgrund ihres Wissensvorsprungs und höherer Einsicht bereits die Notwendigkeit eines Systemwechsels erkannt.10 Zum anderen gingen die Landguerilleros davon aus, dass die Schauplätze solcher Erhebungen in Lateinamerika grundsätzlich ländliche Gebiete sein müssten, da dort das revolutionäre Potential der Kleinbauernschaft, der campesinos, am ehesten entfesselt werden könne. Das industrielle Proletariat in den Großstädten, gamäß marxistischer Lehre eigentlich die potentiell revolutionäre Kraft, wurde von Debray als konservativ und nicht revolutionsbereit eingeschätzt.11 Nach dem Scheitern mehrerer Versuche in der ersten Hälfte der 1960er Jahre, dieses Konzept auf dem lateinamerikanischen Festland – unter anderem auch in Argentinien12 – zu verwirklichen, spätestens aber mit dem symbolträchtigen Tod Guevaras 1967 in Bolivien, gelangten viele militante Aufstandswillige zu der Überzeugung, die bisherige Guerillastrategie bedürfe einer Überarbeitung.13 Dabei kam es aber nur zu einer Revision der zweiten Debrayschen These. Die Idee des foquismo14, also der Glaube, eine kleine, revolutionäre Avantgarde könne durch Aufnahme des bewaffneten Kampfes gleichsam künstlich die Bedingungen für einen vom Volk getragenen Umsturz schaffen, hatte weiterhin Bestand. Neu war zunächst lediglich das Gebiet, in dem die post-guevaristische Guerilla operieren sollte, nämlich die Millionenstädte und Ballungszentren der jeweils betroffenen Länder. Dies bezog sich in der Praxis vor allem auf die hoch urbanisierten Staaten des Cono Sur, Argentinien, Uruguay und Brasilien, wo schließlich auch die weitaus bedeutendsten Aktivitäten dieser neuen Stadtguerilla zu verzeichnen waren. Dass nämlich die Montoneros in Argentinien eine derart große Wirkung entfalten konnten, liegt unter anderem an ihrer Einsicht, ein ländlicher, abgelegener foco würde völlig an allen Realitäten vorbeigehen in einem Land, dessen Bevölkerung sich beinahe zur Hälfte in Buenos Aires und der gleichnamigen Provinz konzentrierte, genauso wie Großteile der Wirtschaft und die politischen Machtzentren nur dort sowie in den Provinzhauptstädten Rosario und Cordoba aufzufinden waren.15 Mit dieser geographischen musste freilich auch eine technische Neuerung einhergehen. Hatte der Kleinkrieg der Landguerilla noch den Charakter einer regulären, wenn auch unkonventionellen Kriegsführung, so war dies ihrer Nachfolgerin in der Stadt nicht mehr möglich.16 Die Großstädte boten zwar durch ihre Anonymität eine gewisse Protektion; ein 10
Vgl. dazu Mansilla, H. F. C., Gewalt und Selbstverständnis. Zur Ideologiekritik der lateinamerikanischen Guerillabewegung, in: Konetzke, Richard/ Kellenbenz, Hermann/Kahle, Günther (Hrsg.), Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, 15 (1978), S. 370f. 11 Siehe dazu Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 278. 12 Zu ersten Guerillaaktionen in Argentinien siehe Lamberg, Robert, Die Guerilla in Lateinamerika. Theorie und Praxis eines revolutionären Modells, München 1972, S. 186 – 191. 13 Siehe dazu und zum Folgenden Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 175-178. 14 Vgl. dazu Gillespie, Richard, Soldiers of Peron. Argentina’s Montoneros, Oxford 1986, S. 272. 15 Vgl. dazu ebd., S. 76. 16 Vgl. dazu und zum Folgenden Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 184-188; Allemann, Fritz, Stadtguerilla in Lateinamerika-Modell für Europas Extremisten, in: Tophoven, Rolf (Hrsg.): Guerilla und Terrorismus heute. Politik durch Gewalt, Bonn 1976, S. 51 – 66.
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von den Aufständischen kontrolliertes Rückzugsgebiet, gar ein Zugewinn an Terrain oder der Schutz durch sympathisierende Bevölkerungsteile war dort aber nicht mehr möglich. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass die staatlichen Sicherheitsdienste in den Städten eine große Anzahl an Untergrundkämpfern umso leichter entdecken würden. Damit verbot sich allerdings ebenso der Aufbau einer Guerillaarmee wie auch direkte, noch so überraschende Angriffe auf die Streitkräfte nunmehr ausschieden. Nur hohe Mobilität in kleinen Gruppen und Isolation konnten Sicherheit garantieren. Weil die urbanen Kämpfer wie ihre ländlichen Vorgänger jedoch weiter die Machthaber demoralisieren wollten, glaubten sie dies in ihrer jetzt noch schwächeren Position nur über indirekte Methoden und damit über das Mittel des Terrorismus erreichen zu können.17 Durch Bombenanschläge, Geiselnahmen, 17
Dabei ist es in der Literatur nicht gänzlich unumstritten, ob auch die Montoneros Terroristen waren. Zwar gelangt die Mehrzahl der wissenschaftlichen Autoren zu dieser Einschätzung (so beispielsweise Laqueur, Walter, Terrorismus. Die globale Herausforderung, Berlin 1987, S. 311ff; Allemann, Stadtguerilla in Lateinamerika, aaO. (FN 16), S. 51 – 66). Und selbst Carlos Marighella, einer der bedeutendsten Strategen der Stadtguerilla, ist der Überzeugung, „[t]errorism is an arm the revolutionary never can relinquish“ (Marighella, Carlos, Minimanual of the Urban Guerilla, in: Mallin, Jay: Terror and Urban Guerillas. A Study of Tactics and Documents, Miami 1971, S. 103). Richard Gillespie widerspricht allerdings dieser Auffassung (siehe dazu Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 79f , FN 86). Eine genaue Zuordnung der Montoneros wird jedoch durch das Fehlen einer klaren Definition des Begriffs „Terrorismus“ erschwert (vgl. dazu exemplarisch die Aufarbeitung verschiedener Definitionsversuche bei Hoffman, Bruce, Terrorismus. Der unerklärte Krieg, Frankfurt a. M. 2001, S. 13-56). Zur Klärung kann zunächst die Antwort auf die Frage beitragen, ob es sich bei den urbanen Insurgenten überhaupt um eine Guerilla handelte. Eine solche führt dem Wortsinn nach einen Kleinkrieg. Unabhängig von seiner Intensität bedeutet Krieg die „(…) bewaffnete Konfrontation zwischen organisierten (…) militärischen Formationen (…)“ (Allemann, Stadtguerilla in Lateinamerika, aaO. (FN 16), S. 58). Empfänger von Gewalt sind in erster Linie die Streitkräfte des Gegners. Insofern handelt es sich bei einer Landguerilla – zumindest was ihre zentralen militärischen Aktivitäten betrifft – zwar um „(…) eine unkonventionelle, aber bei allen eigenen Regeln durchaus im Rahmen klassischer Kriegsführung bleibende Strategie und Taktik (…)“ (Ebd., S. 57). Die urbane Guerilla vermag zumindest in ihrer ersten Phase nicht, vornehmlich die staatlichen Streitkräfte anzugreifen und hat dies auch gar nicht vor. Sie nutzt aufgrund ihrer Ohnmacht Mittel wie Bombenanschläge und Entführungen, um den Bürgern die Machtlosigkeit des Staates zu demonstrieren sowie diesen zu Repressionen zu zwingen. Ziel der Aktionen sind also „(…) weitreichende, psychologische Auswirkungen (…), die über das jeweilige, unmittelbare Opfer oder Ziel hinausreichen (…)“ (Hoffman, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 55) – trotz aller definitorischen Unklarheit wohl eine entscheidende Komponente des Terrorismus. Da die Streitkräfte zu einem gewissen Grad dabei als Opfer ausscheiden, vor allem aber, um solche psychologischen Auswirkungen zu erreichen, muss die Gegnerschaft notwendigerweise ausgeweitet werden. So verschwimmt die Trennlinie zwischen Kombattanten und – wenigstens unmittelbar – Unbeteiligten, was wohl ein weiteres Kennzeichen terroristischer Aktivität darstellt. Siehe dazu Hirschmann, Kai, Internationaler Terrorismus, in: (Stand: 07.01.2008), S. 1. Er zumindest wirft ein, dass es sich hier nicht um eine Guerilla im eigentlichen Sinn handeln kann. Gillespie führt zwar mit einigem Recht an, die Stadtguerilla unterscheide sich von gewöhnlichen Terroristen dadurch, dass ihre Gewalt tendenziell eben diskriminiert, vorhersehbar und geradezu rücksichtsvoll ausgeübt werde, da sie ja auf öffentliche Unterstützung angewiesen sei (so Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 79f , FN 86). Dies ist jedoch höchstens in der Theorie der Guerilla, und dort auch nur bei einer strikten Befolgung von Giullens Anweisungen, der Fall. Die Frage, ob es sich nicht selbst dann um eine Form des Terrorismus handle, ist an dieser Stelle somit überflüssig. Wie noch zu belegen sein wird, löst schon die Konzeption eines solchen Kampfes kleiner Gruppen, die aufgrund ihrer absoluten Unterlegenheit im Kerngebiet des Gegners nur mit Mitteln wie Bombenabschlägen, Mord etc. gewalttätig in Erscheinung treten können, eine Eigendynamik aus, die diskriminiertes Vorgehen zumindest langfristig meist ganz verschwinden lässt. Bei Ermordungen politisch anders denkender, aber eben unbewaffneter und gewaltloser Gewerkschaftsführer, bei der Entführung unbeteiligter, jedoch als „ausbeuterisch“ eingestufter Unternehmer und Androhung ihrer „Hinrichtung“ kann man eine Trennlinie zwischen Kombattanten und Unbeteiligten wohl kaum mehr erkennen. Hier werden Opfer gewählt, die für die Insurgenten als Vertreter einer ganzen Schicht, meist der „besitzenden Klasse“, gelten (siehe dazu Waldmann, Peter, Ursachen der Guerilla in Argentinien, in: Konetzke, Richard/ Kellenbenz, Hermann/ Kahle, Günther (Hrsg.): Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, 15 (1978), S. 343f). Diskriminiert kann man dieses Vorgehen wohl nur noch mit sehr viel Zynismus nennen. Viel-
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„Enteignungen“ von Banken, Sabotage, „Hinrichtungen“ usw. sollte eine wachsende Atmosphäre der Unsicherheit entstehen und der Bevölkerung die Ohnmacht und Verwundbarkeit des Staates demonstriert werden. Nicht zu Unrecht ging die Stadtguerilla dabei speziell im für lateinamerikanische Verhältnisse relativ modernen Argentinien „[…] ganz von der Verletzlichkeit der hochentwickelten urbanen Strukturen aus, die gerade wegen ihres komplizierten zivilisatorischen Geflechts dem Zugriff kleiner, aber dicht gefügter und mit einem festen organisatorischen Rückhalt ausgestatteter Stoßtrupps besonders hilflos ausgeliefert sind.“18 War dies ein unbestreitbarer Vorteil, musste den Insurgenten jedoch auch klar sein, dass eine komplette Zerstörung der staatlichen Regierungs- und Verwaltungsmaschinerie aufgrund der absoluten Überlegenheit der Sicherheitskräfte in ihrem Operationsgebiet unmöglich war.19 Auch die Bewaffnung und Aufwiegelung der städtischen Massen stand im Widerspruch zu den Sicherheitserfordernissen wie Isolation und Geheimhaltung. Um das geplante Endziel einer radikalen Änderung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen dennoch zu erreichen, fassten sie also zunächst erneut ein indirektes Kalkül ins Auge: „Man kann das Vorgehen der städtischen Guerillaorganisationen als eine Art Wettlauf mit dem Staat um die Vermeidung der Ungunst der Bürger ansehen.“20 So war ihnen zwar bewusst, dass ihre terroristischen Aktionen Repressionen von Seiten des Staates nach sich ziehen würden, die in erster Linie die Bevölkerung treffen. Sie hofften jedoch, ihr eigener Prestigeverlust werde noch übertroffen durch die wachsende Unpopularität, die die Machthaber durch Beschneidung von Freiheitsrechten etc. erlitten. So würde schließlich auch in nicht-diktatorischen Ländern „(…) das Establishment seine liberal-demokratische (…) ‚Fassade’ aufgeben und sich große Teile der Bevölkerung zum Feind machen müssen.“21 Unterstützt werden sollte dies durch den staatlichen Autoritätsverlust, der mit dem Fortdauern der terroristischen Aktionen einherging. Nachdem nun den Bürgern der repressive Charakter eines Regimes bewusst gemacht worden war und sie zum Klassenkampf unter Führung der Stadtguerilla bereit waren, sollte schließlich in einer zweiten Phase ein ländlicher foco eröffnet und der Staat mit seinen Streitkräften also erst nach Aufwiegelung der Massen auch direkt angegriffen werden. Dies würde dann, ganz im Sinne der „klassischen“ Guerilla, mit einer Insurgentenarmee erfolgen. Musste sich die urbane Guerilla folglich als solche noch möglichst klein halten, um ihr eigenes Überleben zu sichern, war sie in ihrer Konzeption zumindest nach einer gewissen Zeit numerisch nach oben hin offen.
mehr tritt gerade bei solchen Fällen „(…) das terroristische Element gleichsam in chemischer Reinheit zutage“ (Allemann, Stadtguerilla in Lateinamerika, aaO. (FN 16), S. 61. Zu weiteren Definitionsmerkmalen des Terrorismus, die allesamt auch auf die Stadtguerilla zutreffen, aber hier aus Platzgründen nicht mehr angesprochen werden können vgl. Hoffman, Bruce, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 55f. An dieser Stelle muss jedoch auch eine Besonderheit der urbanen Terroristen angesprochen werden. Sie sind zumindest konzeptionell fähig, sich in eine Guerilla gleichsam zurückzuverwandeln. Denn die Bildung eines ländlichen focos ist weiterhin ausdrückliches Ziel ihrer Strategie. 18 Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 281. 19 Vgl. dazu und zum Folgenden Waldmann, Strategien politischer Gewalt, aaO. (FN 7), S. 60f; Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 184 – 188; Allemann, Stadtguerilla in Lateinamerika, aaO. (FN 16), S. 51 – 66. 20 Waldmann, Strategien politischer Gewalt, aaO. (FN 7), S. 60f. 21 Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 320.
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Maßgeblich formuliert wurde diese Strategie von Abraham Guillen und Carlos Marighella.22 Während der Erstgenannte bei seinen Anweisungen an die Insurgenten jedoch noch darauf besteht, alle Aktionen der Guerilla sollten einen eindeutig politischen Charakter haben beziehungsweise direkt dem Wohlergehen der Massen dienen, ja sogar regelmäßig zur Zurückhaltung bei gewalttätigen Aktionen mahnt, kann bei Marighella vom Primat des Politischen kaum mehr die Rede sein. In seinem Werk „Minimanual do Guerillero Urbano“23 propagiert er eine weitgehende Ausnutzung der verfügbaren militärischen Möglichkeiten „(…) je radikaler und zerstörerischer, desto besser.“24 Bezeichnenderweise widmet er den politischen Zielen und der Frage, wie diese zu erreichen seien, wenig Aufmerksamkeit. „Für Marighella wie für die argentinischen Terroristen war die fanatische Überzeugung kennzeichnend, dass die Abgabe von Schüssen weit wichtiger sei als intellektuelle Diskussion.“25 Daraus resultiert wiederum ein weiteres Charakteristikum der Stadtguerilla, nämlich der starke Bedeutungsverlust der Ideologie, welcher gerade im Vergleich zu ihrem ländlichen Pendant noch einmal drastisch heraussticht. Dies lässt sich bei den Montoneros besonders gut nachzeichnen, welche als einer der wenigen Guerillaverbände begannen, die sich nicht auf den Marxismus-Leninismus beriefen, sich nach und nach – aus Gründen, die noch aufzuzeigen sein werden – aber immer mehr dieser Position annäherten. Die „(…) bemerkenswerte Auswechselbarkeit der ideologischen Etiketten bei praktisch gleichbleibender strategischer Perspektive (…)“26 mag auf den ersten Blick ein Nachteil für die Insurgentengruppen sein, verlieren sie dadurch doch eine integrative, ideologische Basis. Häufig jedoch stellte sie sich als Stärke heraus. Intellektuelle Grabenkämpfe entfielen, stattdessen bildeten Aktionen, welche an sich weniger konfliktträchtig waren, die integrative Basis der Insurgenten. Die Frage ob Marighella oder doch Guillen die Montoneros stärker beeinflussten, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Während Gillespie in Guillen ihren Mentor zu erkennen glaubt, wird man wohl zumindest mit Blick auf ihr tatsächliches Verhalten mit einer ebensogroßen Berechtigung von einem starken Einfluss Marighellas sprechen können.27 Wie sich nämlich noch zeigen wird, unternahmen die argentinischen Insurgenten zwar immer wieder Versuche, direkt mit den Massen zusammenzuarbeiten und politische Initiativen zu starten, jedoch ordneten sie zu keinem Zeitpunkt ihre militärischen Operationen dauerhaft und strukturell diesem Ziel unter, sondern weiteten sie – im Gegenteil – mit der Zeit immer exzessiver aus.
22 Vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 318f; Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 185; Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 75- 82. Siehe dazu auch den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Band. 23 Siehe dazu Marighella, Minimanual, aaO. (FN 17), S. 70- 115. 24 Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 319. 25 Ebd. 26 Allemann, Stadtguerilla in Lateinamerika, aaO. (FN 16), S. 63. 27 Siehe dazu Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 75-82. Man könnte es – überspitzt formuliert – sogar für irrelevant erachten, auf welchen der beiden Strategen sich die Montoneros ursprünglich beriefen, da zahlreiche, der Strategie inhärente Mechanismen ohnehin ursächlich dafür waren, dass sich das Verhalten einer Stadtguerilla in der Praxis nach einer gewissen Zeit den Vorstellungen Marighellas annäherte. Sollten sich die Montoneros tatsächlich an Guillen orientiert haben, würde dies die Wirkungsmacht dieser Mechanismen – wie sie in Kap. 3 dieses Beitrages beschrieben werden – nur umso deutlicher illustrieren.
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Defizite der Strategie
An der Konzeption der Stadtguerilla wurde immer wieder Kritik geübt, an einzelnen Punkten, aber auch an der Strategie insgesamt. Zunächst kann allgemein festgestellt werden, dass der Erfolg der Aufständischen, neben vielem anderen, zu einem großen Maße abhängig ist von der Einstellung der Bevölkerung ihnen gegenüber. Guerillakrieg ist ein Kampf um die Gunst der Bevölkerung.28 Dies erkennen sowohl die Insurgenten selbst an, der foquismo bleibt ja Kernstück ihrer Strategie, als auch die wissenschaftlichen Autoren. „Keine Guerilla kann sich auf Dauer gegen eine überwältigend feindliche Gesinnung der Bevölkerung durchsetzen (…)“29, denn neben allem Schutz und humanen Ressourcen, die den Insurgenten dann fehlen würden, „(…) bleibt der Stadtterrorismus politisch wirkungslos, solange er nicht in der breiten Masse die Unterstützung einer politischen Bewegung (…) gewinnen kann.“30 Zweifelhaft erscheint jedoch, wie es den Untergrundkämpfern gelingen soll, eine allgemeine oder zumindest weitreichende Sympathie für sich und ihre Ziele zu erzeugen. Vielmehr ist es wohl berechtigt, an diesem entscheidenden Punkt aus verschiedenen Gründen von einer strukturellen Schwäche der Stadtguerilla zu sprechen. So dürften einer breiten Unterstützung zunächst soziale Differenzen zwischen den Aufständischen und der von ihnen hauptsächlich angesprochenen Bevölkerungsgruppe, den Arbeitern, im Wege stehen. Der Elitismus der urbanen Insurgenten, ihr Selbstverständnis als kleine, exklusive revolutionäre Avantgarde, die durch Wissensvorsprung und bessere Einsicht gerade den Unterprivilegierten den Weg weist, mag dabei ein Übriges tun.31 Wohl noch stärker wird aber ihre Breitenwirkung durch die für eine Stadtguerilla typische sowie unvermeidliche Sozialstruktur limitiert. Ihre Mitglieder waren meist Studenten und kamen überwiegend aus wirtschaftlich und sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen.32 Arbeiter hingegen mochten mit den Kämpfern kollaborieren oder sympathisieren, ein Leben im Untergrund leisten konnten sie sich nicht. „Middle-class radicals had considerably greater economic independence here, and students, whose university studies normaly lasted fife or six years, had much more time available for the demanding life of the guerillero.“33 Die Unterschichten, in deren Namen die Insurgenten meist zu kämpfen vorgaben, waren daher in der in der Insurgentengruppe weder vertreten, noch stand ihnen in der Praxis der Zugang zu dieser frei. So, bleibt zu vermuten, „(…) stoßen die Revolutionäre mit ihren Umsturzplänen bei den städtischen Unterschichten auf Gleichgültigkeit und Skepsis.“34 Eng damit verbunden ist ein weiterer Kritikpunkt an der Stadtguerilla. Denn auch in „(…) einer grundsätzlich falschen Analyse der lateinamerikanischen Realitäten (…)“35 kann eine Ursache ihres Scheiterns ausgemacht werden. Die von den Guerillatheoretikern unterstellte revolutionäre Tendenz in den dortigen Gesellschaften war vielfach schlicht 28
Vgl. dazu Laqueur, Walter, Zwölf Thesen über die Guerilla, in: Funke, Manfred (Hrsg.): Terrorismus. Untersuchungen zur Strategie und Struktur terroristischer Gewalt, Bonn 1976, S. 166. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 169. 31 So Mansilla, Gewalt und Selbstverständnis, aaO. (FN 10), S. 370f. 32 Siehe dazu und zum Folgenden Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 77; Waldmann, Peter 1982: Vergleichende Bemerkungen zu den Guerillabewegungen in Argentinien, Guatemala, Nicaragua und Uruguay, in: Lindenberg, Klaus (Hrsg.): Lateinamerika. Herrschaft, Gewalt und internationale Abhängigkeit, Bonn 1982, S. 109-114. 33 Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 77. 34 Waldmann, Vergleichende Bemerkungen, aaO. (FN 32), S. 113. 35 Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 390.
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nicht vorhanden.36 Was bereits häufig für die Landbevölkerung feststellbar war, galt für die städtischen Massen, zumal das industrielle Proletariat in Argentinien umso mehr. Auch wenn die politischen Visionen der Revolutionäre gerade dieser Gruppe zugute kommen sollten, scheint es zweifelhaft, dass die Arbeiter in ihrer Mehrheit bereit waren, die Aussicht auf kurzfristige materielle Verbesserungen mittels des bereits erfolgreich erprobten gewerkschaftlichen Kampfes zugunsten einer abstrakten Ideologie zu opfern. „Versprechungen für die Zeit nach der Revolution wiegen eben weniger schwer als das, was man hier und heute bekommen kann.“37 Und auch die Einstellung der urbanen Guerilla zum jeweiligen politischen System des Landes, in dem sie wirken, kann als problematisch aufgefasst werden. Stehen sie einem marktwirtschaftlichen Staat mit einer demokratisch gewählten Regierung gegenüber, betrachten sie ihn notwendigerweise als „kapitalistische Diktatur“, dessen scheindemokratische „Fassade“ nach dem beschriebenen Prinzip der Provokation und Repression für jedermann sichtbar eingerissen werden müsse.38 Erst wenn die herrschende Klasse durch die andauernden terroristischen Aktivitäten zu einer offenen Gewaltherrschaft gezwungen werde, könne die Fiktion eines legal möglichen Wandels zerstört und die latenten Klassengegensätze wieder zum Leben erweckt werden. Die Beweggründe der Insurgenten sind dabei dahingehend zu ergänzen, dass sie in einer Demokratie im Gegensatz zu einer Diktatur für ihr Ziel eines gewaltsamen Umsturzes kaum genug militante Unterstützer finden und leicht Gefahr laufen sich zu isolieren.39 Die weitere Kalkulation wirkt jedoch unrealistisch. Ihre Hoffnung, die Bevölkerung werde sich nun ihnen zuwenden, nachdem sie gerade noch gegen eine von der Mehrheit gewählte Regierung agiert und für die Installierung einer Gewaltherrschaft verantwortlich waren, wirkt allzu konstruiert. Eine eher zunehmende Isolation der Aufständischen erscheint weitaus wahrscheinlicher. Sollten die Revolutionäre dagegen ihren Kampf von Beginn an gegen eine Diktatur aufnehmen, ist es wohl berechtigt, zunächst von einer günstigeren Ausgangbedingung zu sprechen. Für gewöhnlich ist dort eine jede Plattform für oppositionelle Kräfte entfernt, was einer Militarisierung und Radikalisierung größerer Bevölkerungsteile Vorschub leisten könnte. Umgekehrt allerdings kann das Wirken der Aufständischen, „[…] in einem charakteristischen circulus vitiosus, zur weiteren Verhärtung der Diktatur und insbesondere zur Brutalisierung ihrer Methoden durch die generalisierte und systematisierte Folter (…)“40 führen. Gerade die urbane Guerilla, die sich ja im Kerngebiet staatlicher Kontrolle aufhält, scheint besonders anfällig für die verschärfte Repression einer extremen Diktatur.41 Es muss hier allerdings auch festgehalten werden, dass zumindest die Möglichkeiten für jede Stadtguerilla, eine Demokratie in eine Gewaltherrschaft zu wandeln, relativ günstig sind, zumal in Lateinamerika, wo solche Systeme – von wenigen Ausnahmen abgesehen – meist recht jung und wenig konsolidiert waren.42 Neben all diesen Einzelaspekten kann schließlich auch die gesamte strategische Konzeption der urbanen Guerilla kritisiert werden. Ziel der Insurgenten ist es, die Sympathie 36
Siehe dazu und zum Folgenden Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 389-397. Ebd., S. 396. Vgl. dazu und zum Folgenden Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 320; Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 176ff. 39 So Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 421-439. 40 Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 186. 41 So Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 320f. 42 Vgl. dazu Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 421-439. 37 38
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weiter Teile der Bevölkerung zu gewinnen und diese gegen den Staat aufzuwiegeln. Nun kann aber „(…) eine Bewegung, die sich an streng konspirative Regeln hält, (…) daneben nicht auch noch politisch und propagandistisch aktiv sein.“43 Diesen Widerspruch zwischen klandestinem Leben und Wirken einerseits sowie intendierter Massenaktivität andererseits vermag allerdings Guillen und noch weniger Marighella befriedigend zu lösen. Denn so bleibt nur, die Bevölkerung durch wohlüberlegte Taten indirekt zu beeinflussen, meist durch besonders symbolträchtige Wahl der Ziele. Um jedoch Sympathien zu gewinnen oder aufrechtzuerhalten, ist es nötig, dabei auf die exzessive und nicht augenscheinlich dem politischen Ziele dienliche Ausübung von Gewalt zu verzichten. Und genau hierin scheint das gewichtigste Problem und Erfolgshemmnis der Stadtguerilla zu liegen: Inwiefern nämlich eine solche Praxis durchzuhalten ist, zumal wenn die intendierte Eskalation des Konflikts mit dem Staat erst einmal eine bestimmte Intensität erreicht hat, bleibt aufgrund zahlreicher Aspekte weiterhin fraglich. Ein Motiv für die Ausweitung von Gewalt kann Rache darstellen. Verluste, die der Guerilla zugefügt wurden, sei es durch offizielle staatliche Sicherheitsorgane oder durch parastaatliche Einheiten, können zu Gegengewalt führen. Hier scheint eine eigendynamische Wirkung der Violenz, die nun nicht mehr primär politisch ist, wahrscheinlich. Die dabei angesprochene Gefahr der Entpolitisierung von Gewalt aber auch die Tendenz, diese immer exzessiver einzusetzen, erhöht sich noch durch vier weitere Aspekte. Zunächst kann dazu eine Art „technologischer Determinismus“ führen.44 Dieser beschreibt die Tendenz, dass das, was durch technologische Ressourcen machbar ist, auch ausgeführt wird, ungeachtet des politischen Nutzens oder sogar Schadens, den die jeweilige Aktion mit sich bringen könnte. Bei einer fortgeschrittenen Eskalation des Konflikts und angesichts der Unwilligkeit – gerade wenn sie sich auf Marighella beruft – und oft wohl auch Unfähigkeit der Stadtguerilla zur Zurückhaltung, wirkt dies plausibel. Die mangelnde Zurückhaltung resultiert auch aus dem zweiten Aspekt, aus Entwicklungen innerhalb der Gruppe der Aufständischen. Die urbanen Revolutionäre müssen sich aus Sicherheitsgründen isolieren. Es ist anzunehmen, dass sich nach einiger Zeit die Gruppenstrukturen verfestigten. Unterstützt durch die alltägliche Ausübung von Gewalt ist es nun durchaus möglich, dass die Stadtterroristen einen charakteristischen Zug von Subkulturen entwickeln, „(…) nämlich die zunehmende Entfernung ihrer Mitglieder von der gesamtgesellschaftlichen Realität und ein Verhalten nach Maßstäben, die bei anderen sozialen Gruppen Befremden und Ablehnung erregen.“45 Violenz wird dadurch eine legitime Alltäglichkeit, keinem gruppeninternen Kontrollmechanismus unterworfen. Zurückhaltung scheint folglich politisch gar nicht mehr nötig. Umgekehrt jedoch wird Sympathieerwerb bei einer Gesellschaft mit ganz anderen Maßstäben so nur noch schwerlich erreichbar sein. Drittens kann es vorkommen, vor allem wenn die Gruppen noch nicht zu einer Massenbewegung herangereift und dadurch stark isoliert sind, dass nach einer gewissen Dauer Selbsterhaltung zur primären Intention der Insurgenten wird.46 „In vielen Fällen führen sie ein abgekapseltes Dasein, das sie nicht nur der politischen Bewegung, der sie ursprünglich angehörten, sondern mit der Zeit auch ihren ursprünglichen Zielen entfremdet. Daher neigen terroristische Gruppen, selbst wenn sie ihr
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Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 319. Siehe dazu und zum Folgenden Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 202. Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 345. 46 So Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 123f. 44 45
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Ziel erreicht haben, zum Weitermachen (…).“47 Es liegt dabei nahe, dass als Instrument zum Gruppenerhalt wiederum die Ausübung von Gewalt genutzt wird. Und viertens ist schließlich zu erwarten, dass die Stadtguerilla gerade in einer Phase der Schwäche und Abwesenheit jeder Aussicht auf baldigen Erfolg umso weniger Zurückhaltung üben wird, denn „(…) die Versuchung des Terrorismus ist umso größer, je weniger sich eine umstürzlerische Organisation sich die Chance einer (…) Machtübernahme ausrechnen kann.“48 Eine aus vielen Gründen anwachsende Gewaltspirale scheint der Stadtguerilla also inhärent zu sein. Die Neigung zur bloßen Selbsterhaltung wiederum schließt die Fähigkeit zu Kompromissen sowie zu einer alternativen, nicht militanten politischen Interessensdurchsetzung aus. Letzteres trägt jedoch zu einer weiteren Entpolitisierung der terroristischen Aktionen bei. Nun kann wachsende Violenz auf die Bevölkerung ohnehin befremdlich wirken. Wenn sie aber noch dazu unpolitisch wird, scheint es mehr als fraglich, wie dadurch die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung gewonnen werden soll. Vollends verspielen die Insurgenten die Möglichkeit einer breiten Unterstützung schließlich durch den Terrorismus an sich.49 Im Kampf gegen eine Demokratie, aber auch gegen eine Diktatur, kann beispielsweise das Festhalten von Geiseln in „Volksgefängnissen“ oder deren „Hinrichtungen“ kaum Attraktion auf die Massen ausüben. Die Insurgenten wirken als Alternative zum derzeitigen Regime wohl kaum wünschenswert, wenn sie schon jetzt ein paralleles System der Repression aufgebaut haben. Gepaart mit einer möglichen Entpolitisierung ihrer Gewalt, wäre es nicht verwunderlich, wenn sie auf die Meisten eher den Eindruck einer Mafia erwecken. „Weit entfernt davon, den erwarteten Effekt der ‚Mobilisierung’ auf die Massen auszuüben, erweist sich der Terror von einem bestimmten Punkt an als sicheres Mittel, die revolutionäre Vorhut von den Massen zu isolieren und ihre Verwundbarkeit in dieser Isolierung aufs äußerste zu steigern.“50 All diese Kritikpunkte weisen darauf hin, dass die Stadtguerilla, und damit auch die Montoneros, aus verschiedenen Gründen wenig Aussicht auf Erfolg hat. Vielmehr scheint ihr sogar eine „Tendenz zur Selbstzerstörung“51 inhärent zu sein.
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Spezielle Voraussetzungen für die Stadtguerilla in Argentinien
Für die Montoneros schien diese Tendenz jedoch lange Zeit nicht zu gelten. Dies wird nur verständlich, wenn man dabei die speziellen Umstände berücksichtigt, unter denen die Guerilla in Argentinien operierte. „The Montoneros arrived on the Argentine political scene during some of the stormiest years of social conflict ever experienced by their country.“52 Im Jahr ihrer Entstehung, 1968, herrschte bereits seit zwei Jahren eine als dicta-blanda53, also relativ liberal geltende Militärdiktatur unter General Ongania. Das Militär hatte 1966 47
Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 123. Diese Neigung zur Selbsterhaltung klingt gerade bei der Stadtguerilla plausibel, da sie zu einem großen Teil aus Studenten bestand. Nach Jahren im Untergrund mag es vielen ohnehin schwer fallen, wieder ein normales Leben zu beginnen. Bei Studenten, die davor noch nicht einmal beruflich eine gesellschaftliche Verwurzelung erfahren hatten, scheint dies umso schwerer. 48 Allemann, Stadtguerilla in Lateinamerika, aaO. (FN 16), S. 61. 49 Siehe dazu und zum Folgenden Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 188ff. 50 Ebd., S. 190. 51 Ebd. 52 Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 47. 53 Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 313.
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die Regierung übernommen, da es einen Machtzuwachs des Peronismus fürchtete. Der Peronismus war eine populistisch-nationalistische Bewegung, zurückgehend auf ihren Namensgeber, den mittlerweile im Madrider Exil lebenden ehemaligen Präsidenten General Juan Peron.54 Ihren politischen Ausdruck findet die Bewegung in der Doktrin des Justizialismus mit dessen drei Grundprinzipien, den sogenannten „Bannern“ des Justizialismus“: soziale Gerechtigkeit, politische Souveränität und ökonomische Unabhängigkeit. Die Bewegung bestand aus einem politischen Arm, dessen Partei allerdings die meiste Zeit verboten war, aus einer Frauenorganisation und dem Schwerpunkt der Bewegung, den peronistischen Gewerkschaften, welche einen Großteil der Arbeiter im für lateinamerikanische Verhältnisse hochindustrialisierten Argentinien vertraten. Zwar war die Bewegung parteipolitisch seit dem Sturz Perons 1955 die meiste Zeit in die Illegalität gezwungen, sie konnte aber vor allem über die Gewerkschaften in organisierter Form fortbestehen – und damit auch das Klassenbewusstsein der Arbeiter und das Wissen um ihre eigene Stärke.55 Sporadische Zulassungen der Justizialistischen Partei zeigten nicht nur eine konstant hohe Zustimmung für den Peronismus, sondern ließen sogar auf ein Anwachsen seiner Unterstützer seit Beginn der 1960er Jahre auf über 40% der Bevölkerung schließen.56 Die damit einhergehende andauernde Popularität Perons, der Messianismus, den viele Argentinier gar mit seiner Person verbanden57, erklärt sich zum einen dadurch, dass er es verstand, in seiner Amtszeit vor allem die Arbeiterschicht zu seiner Machtbasis zu formen. Diese erfuhr dabei im Gegenzug eine teilweise Umschichtung des nationalen Einkommens zu ihren Gunsten und einen – scheinbaren – Zugewinn an politischem Einfluss. Dagegen verlor die traditionelle Elite, die Oligarchie und das Militär, zusehends ihre Macht an Peron. Zum anderen war der General, der sich zuvor bei einer Wahl erfolgreich im Präsidentenamt hatte bestätigen lassen, durch einen Putsch gestürzt worden und wurde in der Folge zusammen mit seinen Anhängern gewaltsam an einer Rückkehr an die Spitze des Staates gehindert. Der Kontrast zwischen einem – zumindest subjektiv empfundenen – politischen Aufstieg und Wohlstandssteigerung unter Peron einerseits, und die erzwungene Illegalität einer beinahe religiös von ihren Prinzipien, vor allem aber ihrem Anführer überzeugten und organisierten Massenbewegung andererseits, wird wohl eine der wichtigsten Ursachen für das erfolgreiche Fortbestehen des Peronismus gewesen sein. Gleichzeitig war und blieb dieser Umstand einer der Hauptgründe für die gescheiterten Demokratisierungsbemühungen in Argentinien.58 Denn die traditionelle Elite war nicht gewillt, eine weitere Machtübernahme des Peronismus zuzulassen. Die Justizialistische Partei wiederum wäre jedoch aus jeder freien Wahl wohl als stärkste Kraft hervorgegangen. Unter diesen Umständen versuchten nun in den 1960ern Teile der mächtigen peronistischen Gewerkschaftsbürokratie, sich mit der Elite zu arrangieren.59 Das Ziel dieser, auf 54
Aus Platzgründen kann auf Peron und das Phänomen des Peronismus nur stichpunktartig eingegangen werden. Näheres dazu vgl. Knoblauch, Rudolf, Der Peronismus, Diessenhofen 1980. Siehe dazu auch Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 17 – 26. Siehe außerdem Page, Joseph, Peron. A Biography, New York 1983. 55 Vgl. dazu Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 19f. 56 Siehe dazu Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 363ff und Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 33f. 57 Vgl. Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 364. 58 Dabei darf freilich nicht vergessen werden, dass auch Perons erste Präsidentschaft keineswegs allen demokratischen Kriterien entsprochen hatte. 59 Siehe dazu und zum Folgenden Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 29-46, S. 61f. und Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 299.
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ihren wichtigsten Vertreter, den Gewerkschaftsführer Vandor, zurückgehenden, Vandorismus60 genannten Strömung war es, eine Art Peronismus ohne Peron in die Legalität zu führen. Der Versuch scheiterte jedoch, da die neoliberale Wirtschaftsreformen Onganias zunächst hauptsächlich zu Lasten der unteren Schichten gingen, deren Löhne teils erheblich sanken. Dies untergrub jegliche Unterstützung für weitere Versuche der Bürokratie, sich mit dem Regime zu einigen und führte nur zu einer noch stärkeren Abkehr großer Bevölkerungsteile von den Militärs. So wirkt es kaum verwunderlich, dass sich in der Zeit der Illegalität und angesichts der Arrangements der Gewerkschaftsspitze auch ein latent oppositioneller, oft als „links“ bezeichneter Flügel innerhalb der Bewegung entwickelte.61 Dieser war wiederum in zwei Flügel aufgespalten. Der erste war Peron absolut ergeben, die Anhänger des zweiten konzentrierten sich mehr auf das, was sie als „revolutionäre Essenz“62 des Peronismus erkannt zu haben glaubten. Diese radikal militante Fraktion, trat vornehmlich für ein Engagement zugunsten der unteren Schichten ein und stellte sich gegen „den Imperialismus“, wie sie ihn vor allem den USA vorwarfen, was sie aber auch nicht daran hinderte, ebenso „links-untypische“, nationalistische Positionen, wie das Bekenntnis zu Nation und Vaterland, einzunehmen. Viele ihrer Mitglieder kamen ursprünglich aus rechten, nationalistischen Kreisen oder aus den erst Ende der 1960er Jahre gegründeten peronistischen Jugendorganisationen und den eigentlich konservativen katholischen Jugendbewegungen. Waren also große Teile der Peronisten durch das Fehlen einer Möglichkeit zu Einflussnahme und legaler Partizipation am Staat wohl ohnehin schon radikalisiert, war es eine neuere gesellschaftliche Entwicklung, die die letztgenannte Gruppe, die Katholiken, zu beträchtlichen Teilen in das Lager der Radikalen überlaufen ließ.63 Beeinflusst vom II. Vatikanischen Konzil wurden 1968 auf einer Bischofskonferenz in Medellin Forderungen nach mehr Engagement der Kirche gegen diesseitige soziale Probleme gestellt. Darüber hinaus erklärten vor allem Arbeiterpriester strukturelle Gewalt, besonders wenn sie Armut in einer Gesellschaft zementiert, für ungerecht, Aufstandsgewalt der so Unterdrückten hingegen für gerecht. In Argentinien, dessen Bevölkerung zu über 90% katholisch getauft war64, stieß dies bei weiten Teilen der Bevölkerung auf große Resonanz, beeinflusste aber auch viele Mitglieder vornehmlich des niederen Klerus. Derart legitimiert wandten sich zahlreiche Laien und Arbeiterpriester gegen das diktatorische Regime, wobei für einige von ihnen dabei auch militante Schritte gerechtfertigt schienen. Es ist bezeichnend, dass Priester in dieser Zeit denen, die im bewaffneten Kampf gegen die Unterdrückung fallen würden, den Einzug ins Himmelsreich verhießen. Leistete eine solche Entwicklung auch der Radikalisierung von Teilen der Mittelschicht bereits Vorschub, wurde dies noch anderweitig unterstützt. Für diese Schicht bedeutete die Machtübernahme Onganias nicht nur den Verlust ihrer politischen Repräsentation, sondern auch dessen, was ihnen selbst in der „infamen Dekade“65 nicht beschnitten wurde: 60
Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 34. So Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 299. 62 Ebd. 63 Siehe dazu und zu den folgenden Absätzen vor allem Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 47-64 und Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 326-330. 64 So Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 52. 65 Als decada infame wird die Phase nach dem ersten Militärputsch 1930 bezeichnet. Die damalige Machtübernahme einiger Offiziere in Kooperation mit Teilen der traditionellen Oligarchie beendete nicht nur die bis dahin äußerst bemerkenswerte wirtschaftliche und politische Entwicklung Argentiniens, sondern sollte auch zu einem 61
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das Recht auf kulturelle Freiheit und universitäre Autonomie.66 Ersteres wurde deutlich durch die erzwungene Einstellung mehrerer Satirezeitschriften und anderer Printmedien, jedoch auch durch kuriosere, aber noch unmittelbarere Eingriffe in die kulturellen Freiheitsrechte, wie das Verbot, Miniröcke zu tragen. Die teils gewaltsame Aufhebung der Autonomie der Universitäten traf dann vornehmlich die jüngeren Mitglieder der Mittelschicht direkt, die den Großteil der argentinischen Studenten ausmachten. Offiziell wegen „kommunistischer Infiltration“, in Wahrheit aber wohl, um eine Reform der Lehre durchzusetzen, die den Interessen der dominanten ökonomischen Gruppen entsprach, beschnitt die Regierung Ongania das Selbstbestimmungsrecht der Hochschulen. Proteste dagegen wurden häufig gewaltsam von der Polizei aufgelöst, was zahlreiche Studenten nun vollends zu radikalen Systemgegnern werden ließ. Im Widerstand gegen das Regime versuchten sie ihre numerischen und strategischen Defizite durch Zusammenarbeit mit militanten Arbeiterorganisationen auszugleichen. Deutlichstes Ergebnis dieser Bemühungen und zugleich ein starker Indikator für die fortgeschrittene Radikalisierung der argentinischen Gesellschaft Ende der 1960er Jahre war der sogenannte Cordobazo: In Cordoba, der wichtigsten Provinzhauptstadt des Landes, kam es im Mai 1969 zu Studentenprotesten, nachdem die Essenspreise an der lokalen Universität infolge der Privatisierung der Mensa um 537%67 gestiegen waren. Als dabei ein Student durch Schüsse der Polizei getötet wurde, folgten landesweite Solidarisierungen von Akademikern, aber auch von Gewerkschaften, die in Aufständen und einem Generalstreik am 30. Mai gipfelten. Gleichzeitig provozierten in Cordoba zweitägige, 14 Tote fordernde Straßenschlachten, an denen auch Arbeiter teilnahmen, das Eingreifen der Armee. Trotz der Gewalttätigkeit der Ausschreitungen schienen auch weite Teile der ansonsten eher gemäßigten Mittelschicht mit den Protestierern zu sympathisieren.68 Durch diesen und weitere Proteste näherten sich zahlreiche Akademiker der militanten, linken Fraktion des Peronismus an. Viele von ihnen hingen zu dieser Zeit – hauptsächlich beeinflusst von den Geschehnissen auf Kuba – sozialistischen Vorstellungen an und glaubten in der Bewegung eine bereits organisierte sozialrevolutionäre Kraft gefunden zu haben.69 Präzedenzfall für weitere Interventionen der Streitkräfte in die Politik des Landes werden, wodurch schließlich bis 1983 eine funktionierende (Re-)Installation von Demokratie und weitergehenden bürgerlichen Freiheiten unmöglich wurde. Vgl. dazu Klimmeck, Barbara, Argentinien 1976-1983. Militärherrschaft, Medienzensur, Menschenrechtsverletzungen, Saarbrücken 1991, S. 22-26. 66 Onganias Machtübernahme stand gleichzeitig für einen Funktionswandel militärischer Interventionen, wie er in extremerer Form noch einmal im PRN seinen Ausdruck findet. Hatten die Generäle die alte Regierung bis dahin stets in Kooperation mit einer der zivilen gesellschaftlichen oder politischen Kräfte gestürzt beziehungsweise zu dem Zweck, eine von ihnen von der Macht fernzuhalten, so versuchte sich das Militär nunmehr als „neutrale“ Instanz gleichsam außerhalb des Parteienwettbewerbs zu stellen. Ziel war eine „Umerziehung“ der Gesellschaft. Dafür mussten aus Sicht der Generalität freilich auch zahlreiche Freiheitsrechte sowie die zivile Teilhabe an der politischen Macht beschnitten werden. Anders als in früheren Dekaden hatte dies jedoch auch zur Folge, dass sich das Militär nicht mehr auf die Unterstützung einer mit ihm kooperierenden zivilen Kraft verlassen konnte (siehe dazu Grau, Joachim, Zivil-militärische Beziehungen in Demokratisierungsprozessen: Argentinien und Uruguay im Vergleich, in: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=970059760& dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename= 970059760.pdf (Stand: 13.01.2007), S. 133 - 136). Nur damit wird verständlich, warum sich Ende der 1960er Jahre in Argentinien eine dermaßen große und radikale Opposition entwickelte. 67 So Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 65. 68 Siehe dazu ebd., S. 65f. 69 Vgl. dazu Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 325. An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass schon hier eine gewisse Naivität der Hochschüler sichtbar wird, was ihr Bild von der Bewegung und deren Führer betrifft: Viele Studenten, die aufgrund ihres Alters die Realitäten unter Peron nicht persönlich, sondern oft nur mittels der weit verbreiteten populären Mythen über ihn und diese Zeit erfahren hatten, schienen zu
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Die schließlich letzte wichtige Ursache für die Radikalisierung der argentinischen Gesellschaft Ende der 1960er Jahre war Peron selbst.70 Die peronistische Bewegung, ursprünglich eine streng hierarchisch gegliederte Organisation, war nach über zwei Dekaden ohne eindeutigen Anführer im Land keineswegs homogen. In ihr fanden sich von einer beinahe-kommunistischen Linken bis hin zu äußerst nationalistischen Rechtsextremen fast alle politischen Tendenzen vereint. Einigende Prinzipien waren einzig der allen gemeine Nationalismus und Antiimperialismus sowie die Person Perons. Dass dieser es geschafft hatte, vom Exil aus weiter die Kontrolle über große Teile der heterogenen Bewegung zu behalten, lag neben der Verklärung seiner Person vor allem an seinem „(…) highly successful opportunism (…).“71 Er hatte Mitte der 1960er verlautbaren lassen, er habe seine ursprüngliche justizialistische Doktrin dahingehend ummodelliert, dass er jetzt einen argentinischen socialismo national als Ziel verfolge.72 Diese zunächst unklare Formulierung wurde von linken Peronisten als nationaler Sozialismus, von rechten als Nationalsozialismus interpretiert und fungierte so als doppelte Legitimation und Integrationsbasis. Bei persönlichen Nachfragen in Madrid gelang es dem ehemaligen Präsidenten immer wieder, beide Seiten in ihrer jeweiligen Auslegung zu bestärken. Zwar gab es bereits in dieser Phase genug Indizien, dass Peron eher einen Kurs des Ausgleichs mit den traditionellen Eliten einer radikalen sozialen Umwälzung, also eine eher gemäßigte rechte Position vorziehen würde. Er bewerkstelligte es aber, Zweifel von Seiten der Linken an seiner Haltung zu beseitigen, als er angesichts eines drohenden Machtverlustes durch den Vandorismus, vor allem am Ende des Jahrzehnts, stärker diesen Flügel unterstützte und gerade auch „die Jugend“ zu einer radikalen Opposition gegen das Militärregime aufrief.
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Aktionismus der Montoneros und Wandel Argentiniens von 1968 bis Ende der 1970er Jahre
5.1 Beginn der Guerillaaktivitäten, Demokratisierung und Aufstieg der Montoneros Als sich die Montoneros schließlich 1968 aus dem militanten, linken Flügel des Peronismus gründeten, stand also gleichzeitig auch die argentinische Bevölkerung mit großer Mehrheit der Militärregierung radikal oppositionell gegenüber; sie suchte nicht mehr den Ausgleich mit den Machthabern, sondern forderte einen grundlegenden Systemwandel. Dieser Flügel war jedoch in einem größeren Maße radikal. Seine Mitglieder waren zusätzlich ideologisiert und bereit, auch mit Gewalt grundlegende Veränderungen durchzusetzen.73 Allerdings muss an dieser Stelle gleich eingeschränkt werden, dass ihre Ideologie zu diesem Zeitpunkt zwar eine wichtige Antriebskraft für sie darstellte, jedoch keineswegs ausformuliert, und erst recht noch nicht klassisch marxistisch-leninistischen Ideen nahe stehend war. Vielmehr ist sie für die Anfangszeit der Stadtguerilla eher schwer zu umreißen. So strebten die Montoneros zunächst einen Ausgleich unter den Klassen zugunsten der unteren Schichten an. übersehen, dass die historisch letzte Beschneidung der universitären Selbstbestimmung unter Peron erfolgt war. Siehe dazu Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 63. 70 Vgl. dazu und zum Folgenden vor allem Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 35-46. Außerdem Page, Peron, aaO. (FN 54), S. 401-408. 71 Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 42. 72 Siehe dazu ebd., S. 38. 73 Vgl. dazu und zum Folgenden vor allem ebd., S. 70-75.
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Gleichzeitig sahen sie aber im Peronismus aber auch eine revolutionäre Bewegung. Und schließlich glaubten sie, die größte Gefahr für Argentinien liege im US-amerikanischen „Imperialismus“, was auch symbolisch in ihrer Namenswahl zu erkennen ist: Die Montoneros waren ursprünglich bewaffnete Reiter, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Spanier aus dem heutigen Argentinien vertreiben halfen.74 Generell kann man in der Anfangszeit wohl eher einen ideologischen Pragmatismus denn Dogmatismus ausmachen; ein herausragender Theoretiker der Montoneros ist für diese Phase jedenfalls nicht bekannt.75 Dies resultierte aus ihrem Selbstverständnis, demzufolge sie lediglich den bewaffneten Arm des Peronismus darstellten.76 Peron, der ihre Vorstellungen zu vertreten schien, wurde die Aufgabe zuteil, ihr Anliegen politisch zu vertreten. Dadurch, und aufgrund der ursprünglichen Herkunft einiger ihrer Mitglieder aus rechten oder konservativen Kreisen, lässt sich auch erklären, warum sie bei ihren ersten Aktionen von einigen Medien wahlweise als linksextreme oder als nationalistische Gruppierung eingestuft wurden.77 In der Zeit der sozialen Unruhen um 1968 entstanden noch weitere urbane Guerillagruppen in Argentinien. Alle waren oder gaben sich ebenfalls peronistisch, mit Ausnahme des trotzkistischen Ejercito Revolucionario del Pueblo (Revolutionäre Volksarmee, ERP).78 Spätestens seit dem Cordobazo sahen sie die revolutionären Tendenzen innerhalb der Gesellschaft als hinreichend an, um durch die Annahme des bewaffneten Kampfes nun vollends entfesselt werden zu können. Und so wurde bereits wenige Monate nach dem Mai 1969 der Beginn regelmäßiger terroristischer Aktivität verzeichnet. Im Jahr ihres ersten öffentlichen Bekanntwerdens, 1970, zählten die Montoneros 20 Mitglieder, die in einzelne Untergruppen aufgeteilt und streng hierarchisch gegliedert waren.79 Um Ressourcen zu beschaffen, aber auch um praktische Erfahrungen zu sammeln, waren sie bis dahin nur anonym bei Banküberfällen, sogenannten „Enteignungen“, in Erscheinung getreten. Am ersten Jahrestag des Cordobazo schließlich führten sie ihre erste „offizielle“ Aktion durch, die Entführung des ehemaligen Präsidenten General Aramburu.80 Nach drei Tagen in einem „Volksgefängnis“ verurteilten sie ihn durch ein „revolutionäres Gericht“ und gaben seine „Hinrichtung“ öffentlich bekannt. All diese Euphemismen, wie auch das Ziel ihres Anschlags weisen bereits darauf hin, dass sich die Montoneros dabei als eine Art Exekutive des Peronismus stilisieren wollten. Aramburu war nämlich für sein hartes und häufig gewalttätiges Vorgehen gegen die Bewegung während seiner Amtszeit bekannt. Ebenfalls zeichnete er verantwortlich für die Exhumierung und Verschleppung des Sarkophags von Perons ehemaliger Gattin Eva, die zahlreiche Argentinier als Heilige verehrten.81 Seine Ermordung wurde „(…) von vielen Peronisten mit Beifall aufgenommen (…), da sie darin einen legitimen Racheakt (…)“82 sahen. Neben der allgemeinen Radikali74
So Waldmann, Vergleichende Bemerkungen, aaO. (FN 32), S. 116. So Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 71. Vgl. dazu ebd., S. 85. 77 Siehe dazu Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 320. 78 Vgl. zu den anderen argentinischen Stadtguerillas und deren Beziehungen zu den Montoneros, die hier aus Platzgründen nicht im einzelnen aufgeführt werden können, Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 106-110 und Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 368-380. 79 So Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 84f. 80 Vgl. dazu und zum Folgenden vor allem Ebd., S. 89-103, S. 110-116. 81 Siehe dazu auch Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 364. 82 Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 345. 75 76
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sierung mag dies damit zu tun haben, dass die Mitglieder der Bewegung organisiert und sich ihrer peronistischen Identität bewusst waren. Die Vermutung liegt nahe, dass sie die Repressionen der letzten Jahre als viel unmittelbarer und vielleicht persönlicher empfanden, als dies dieselben Repressionen bei einer unorganisierten Masse ohne kollektive Identität bewirkt hätten. Umgekehrt war dem Beifall für die Terroristen aber auch Grenzen gesetzt. Als sie ein Jahr später in einem Zeitungsinterview detailliert die Einzelheiten der Ermordung und vorausgegangenen Folter des ehemaligen Präsidenten schilderten, provozierten sie damit „(…) allgemeine Abscheu.“83 Neben Rache lag der Operation allerdings noch ein anderes Motiv zugrunde. Es war ein offenes Geheimnis, dass Aramburu zu dieser Zeit begonnen hatte, gegen die Regierung Ongania zu konspirieren und dafür versuchte, sich mit den moderaten Peronisten zu arrangieren. Die Montoneros fürchteten allerdings, dass dies dem Peronismus das „revolutionäre Element“ gekostet hätte. Sie waren vielmehr überzeugt, nur eine gewaltsame Übernahme des Staates könne dieses Element bewahren. Die Ermordung Aramburus hatte jedoch noch weitere Konsequenzen: Nachdem der aktuelle Staatschef Ongania schon seit dem Cordobazo an Rückhalt im Militär verloren hatte, gab der sogenannte Aramburazo schließlich den Ausschlag zu seiner Demission 10 Tage später.84 Ihm folgte die kurze Präsidentschaft von General Levingston, der seinerseits allerdings schon im März 1971 von General Lanusse abgelöst wurde. Während der Amtszeit Levingstons, verloren die Montoneros bei diversen Operationen einen Großteil ihrer Mitglieder. Jedoch konnten sie dies mehr als nur ausgleichen durch die öffentliche Sympathie, die ihnen trotz ihrer teils exzessiven Brutalität noch immer entgegengebracht wurde. Diese Popularität lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Peron ihnen und ihren Taten immer wieder öffentlich sein Wohlwollen versicherte.85 Vor allem aus Teilen des linken Flügels des Peronismus und dessen Jugendorganisationen konnten die Montoneros nun neue Mitglieder rekrutieren, aber auch aufgrund des Beitritts einiger Arbeiterpriester wuchs ihre Anzahl. Da sie vornehmlich symbolische Ziele wie Jockey Clubs oder Vertreter marktbeherrschender, ausländischer Firmen wählten, vermochten sie sich zudem weiterhin als Kämpfer für die unteren Schichten und als „Werkzeug“86 des antiimperialistischen und antioligarchischen Peronismus zu präsentieren. Jedoch verbaute ihnen die an den Tag gelegte Gewalt einen Unterstützerkreis über den linken – und kleineren – Flügel des Peronismus hinaus, was komplettiert wurde durch die regelmäßigen Ermordungen von rechten Gewerkschaftsführern, die des „Reformismus“ bezichtigt wurden.87 Diese Morde waren auch Indiz für einen allmählichen ideologischen Wandel, der sich bei den Montoneros in der Zwischenzeit vollzogen hatte. Durch sporadische gemeinsame Aktionen mit dem ERP, durch den politischen Einfluss, der mit der Befolgung einer aus sozialistischen Kreisen stammenden Guerillastrategie einherging und durch die Fusion mit einer formal peronistischen, tatsächlich aber marxistisch-leninistischen Guerilla gerieten die Montoneros „(…) nun mehr und mehr in ein sozial-revolutionäres Fahrwasser und entfernten sich damit immer weiter von den (…) Gewerkschaften.“88
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Ebd. Siehe dazu und zum Folgenden Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S.94-98. 85 Vgl. dazu ebd., S. 104ff. 86 Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 191. 87 So Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 369f. Als prominentes Beispiel ist hier der Gewerkschafter Vandor zu nennen, den wenig später ein anonymes Kommando der Montoneros ermordet haben soll. 88 Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 371. 84
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Derweil kündigte der neue Präsident Lanusse Wahlen für 1973 an, bei denen auch die Peronisten legal teilnehmen durften, was von den Montoneros, wie auch von Teilen der Bewegung als direkte Auswirkung des ihres bewaffneten Kampfes gewertet wurde. In Wahrheit ist es jedoch schwer, den Anteil der Montoneros an dieser Entwicklung zu messen.89 Sicher trugen ihre Aktionen, hinter denen noch immer ein relevanter Teil der Bevölkerung stand, zur Diskreditierung der Militärs bei. Entscheidend waren aber wohl die Massenproteste und Generalstreiks, die seit 1969 in zunehmender Zahl stattfanden. Zwar wurden diese immer gewalttätiger und eskalierten regelmäßig in Barrikadenkämpfen, sie waren aber zum Großteil ökonomisch und nicht ideologisch motiviert. Mit Peron verbanden die eher „reformistisch“ orientierten Arbeiter die Hoffnung auf Besserung ihrer materiellen Situation. Die Zielvorstellung war eine patria peronista, nur die der äußersten linken Fraktion und der Stadtguerilla war eine patria sozialista. Einzig die scheinbare Deckungsgleichheit beider Ziele machte eine gewisse Zusammenarbeit noch möglich und ließ das Ende der Diktatur als gemeinsamen Erfolg erscheinen. Die Montoneros erkannten dies damals jedoch genauso wenig wie Perons Opportunismus und begrüßten die Wahlen. Diese für Terroristen eigentlich untypische Haltung – der ERP intensivierte seine Aktivitäten unverzüglich, da er eine Eskalation des Klassenkonflikts statt eine Befriedung erreichen wollte – erklärt sich wohl aus zweierlei Gründen: Zunächst sahen die Montoneros zurecht große Chancen für die Justizialistische Partei, den Urnengang zu gewinnen. Und sollten sie Zweifel an der revolutionären Gesinnung der Partei gehabt haben, wurden diese durch ihren Glauben an die Gesinnung Perons beseitigt. Der andere Grund war Peron selbst. Bei einem kurzen Besuch in Argentinien Ende 1972 schmiedete er ein breit angelegtes Parteienbündnis und signalisierte seine Unterstützung für die Wahlen. Gleichzeitig forderte er die Montoneros aber auf, ihre Aktivitäten fortzusetzen, um eine Drohkulisse für den Fall einer Verschiebung oder Manipulation der Wahlen aufzubauen. So kam es in Argentinien – paradoxerweise – zu der vorläufig größten Ausweitung der terroristischen Aktivitäten in der Zeit zwischen Ankündigung und Durchführung der Wahlen, obwohl die größte der Terroristengruppen, die Montoneros, den Urnengang eigentlich unterstützte. Bemerkenswerterweise sah sich das Regime in dieser Phase nicht im Stande, härter gegen die Insurgenten vorzugehen. Zwar hatte es in den Jahren zuvor bereits eine Verschärfung der Repressionen gegeben, das Militär glaubte aber, dass die Wahlen nur mit Billigung der Peronisten zustande kommen könnten. Eine Großoffensive gegen die Terroristen hätte dies aus Sicht der Generäle aber unmöglich gemacht, da die Bewegung dies als einen Angriff auf sich als Ganzes aufgefasst hätte. So konnten die Montoneros gegen Ende der Militärdiktatur nicht nur ihre Aktivitäten fortsetzen, sondern schafften es auch, sich an die Spitze einer offiziellen Organisation innerhalb der peronistischen Bewegung zu setzen.90 Es gelang ihnen, die Kontrolle über die Juventud Peronista (Peronistische Jugend, JP) zu erlangen, die in der Folgezeit immer mehr Zulauf von sozialistisch orientierten Schülern und Studenten bekam. Noch während des Wahlkampfes wurden aus der JP allerdings immer wieder verbale Angriffe gegen die gemäßigte, des Revisionismus beschuldigte Gewerkschaftsbürokratie laut, die durch Anschläge der Montoneros auf diese gleichsam komplettiert wurden. Und so kam es schon bei der Feier zur Inauguration des schließlich erfolgreichen peronistischen Präsidentschaftskandidaten Hector Campora – Peron war unter dem Vorwand, er habe keinen festen Wohnsitz in 89 90
Siehe dazu und zum Folgenden ebd., S. 372-375 und Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 113-116. Vgl. dazu und zum Folgenden Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 119-135.
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Argentinien, von Lanusse an einer Kandidatur gehindert worden – zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Jugendlichen. Campora hatte zwar 49,5% der Stimmen bei den Wahlen am 11. März 1973 erreicht91, spätestens mit Übernahme der Regierungsverantwortung und dem Wegfall der gemeinsamen Gegnerschaft zur Militärregierung wurde nun aber die innere Spaltung der Bewegung deutlich. Gleichzeitig offenbarte sich ab diesem Zeitpunkt das Fehlen einer alternativen, nicht militant-revolutionären Strategie der Montoneros, mit der sie ihre Ziele unter den neuen Gegebenheiten hätten erreichen können. So brachten sie zwar kurzzeitig entscheidende Stellen im Außen- und Innenministerium durch ihnen nahe stehende Personen unter ihre Kontrolle; sie waren aber nicht in der Lage, die gesamten 25% der Regierungsposten, die ihnen von Campora in Aussicht gestellt worden waren, komplett zu besetzen. Und selbst die einmal angetretenen Ämter verloren sie kurz darauf wieder an die politisch erfahrenere und numerisch überlegene peronistische Rechte. Was nun folgte, war eine in den Augen der Montoneros rechte, kapitalistisch orientierte Politik, die auf Ausgleich und Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten bedacht war. Dies mag zum einen seine Ursache darin haben, dass eine Wohlstandsumverteilung zugunsten der unteren Schichten wie unter Perons erster Regierung aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Lage gar nicht möglich war. Wichtiger dabei war aber einmal mehr Peron.92 Nachdem er im Juni 1973 endgültig nach Argentinien zurückgekehrt war, ließ er sich noch am 12. Oktober zum Präsidenten wählen. Der Opportunismus, mit dem er es zuvor verstanden hatte, die heterogene Bewegung zumindest hinter seiner Person zu vereinen, war spätestens nach Übernahme der Regierungsverantwortung nicht mehr praktikabel, zumal die Auseinandersetzungen vornehmlich der äußersten linken und rechten Peronisten immer gewalttätiger wurden. So sah er sich veranlasst, sich für eine der Strömungen zu entscheiden, und wählte die Gemäßigten und Rechten. Wohl um diese endgültig hinter sich zu vereinen, aber auch um eine intendierte Annäherung an das Militär möglich zu machen, kritisierte er die Montoneros und die JP in der Folge regelmäßig öffentlich. Gleichzeitig „säuberte“ er die linken Gewerkschaften, was eine Annäherung der Guerilla an die organisierte Arbeiterschaft verhindern sollte. Die Montoneros waren nun isoliert. Zwar hatten sie über die JP eine beachtliche Zahl an Jugendlichen organisiert, mit Peron hatte sich aber ebenso beinahe die ganze übrige Bewegung von ihnen abgewandt. Dies gilt auch für den Großteil des linken, aber dem Präsidenten absolut ergebenen Flügel. Hätten die Montoneros nicht auf eine geradezu naive und dogmatische Weise an die revolutionäre Gesinnung der Bewegung oder zumindest Perons geglaubt, es hätte wohl genug Anzeichen für deren „konterrevolutionäre“ Einstellung gegeben, die sie zu einem Kurswechsel bewogen hätten. So offenbart sich ihr Kampf und vermeintlicher Triumph für den Peronismus aber „(…) im Rückblick als ein tragisch-groteskes Mißverständnis.“93
91
Siehe dazu Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 115. Vgl. dazu ebd., S. 136 – 143, 148ff und Allemann, Macht und Ohnmacht, aaO. (FN 7), S. 375-380. 93 Ebd., S. 380. 92
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5.2 Technischer Höchststand der Guerillaaktivität Gerade wegen ihrer Naivität und ihres Dogmatismus fiel es den Montoneros lange Zeit schwer, diese für sie neue Situation zu erkennen.94 Trotz des einseitig vollzogenen Bruchs durch Peron wandten sie sich erst nach dessen Tod am 1. Juli 1974 klar von der Regierung ab. Es ist bezeichnend und wohl nicht nur der Propaganda geschuldet, dass sie in den folgenden Jahren dennoch immer wieder verlautbarten, in seinem Namen weiterzukämpfen. Als Präsidentin folgte Perons Witwe und gewählte Vizepräsidentin Maria Estela. Wahrer Machthaber war nun aber ihr Privatsekretär, der rechtsextreme Lopez Rega. Hatten sie auch nach den Wahlen die Ermordung von missliebigen Gewerkschaftern oder Zeitungsverlegern anonym ohnehin weiter betrieben, so gaben die Montoneros bereits am 6. September ihre Rückkehr in den Untergrund offiziell bekannt, mit der Begründung, alle legalen Formen des Kampfes seien ausgeschöpft.95 Des Weiteren sei die neue Regierung weder peronistisch noch vom Volk getragen und stelle somit keinen Unterschied zur vorangegangenen Militärdiktatur dar. Bei der nun folgenden Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes kam ihnen zugute, dass sie zwar das letzte Jahr mit der Exekutive mehr oder weniger zusammengearbeitet und ihre militärischen Aktionen zumindest offiziell eingestellt hatten, dies für sie aber keineswegs und in keiner Phase bedeutete, die militärischen Kapazitäten ihrer Organisation zurückzufahren oder gar ganz demobilisieren zu müssen. Das Gegenteil war vielmehr der Fall. In Erwartung neuer Zusammenstöße hatten sie die Demontage des Staatsschutz-Apparates nach dem Ende der Militärdiktatur genutzt, um ihre Bewaffnung und Infrastruktur zu perfektionieren.96 Dazu kam, dass sich die Mitglieder der JP nun in großen Mengen rekrutieren ließen. In der Zeit ihrer Legalität hatten die Montoneros damit eine Organisation aufgebaut, durch die zeitweise sogar mehr Aspiranten an sie herantraten, als sie aufnehmen konnten.97 Auch wenn Schätzungen problembehaftet sind, vermochten die Montoneros zu Spitzenzeiten um 1975 wohl auf 3000 - 4000 aktive Mitglieder zurückgreifen. Durch Entführungen standen ihnen zusätzlich immense finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Bei der Verschleppung der Gebrüder Jorge und Juan Born, die einer der wichtigsten Unternehmerfamilien Argentiniens angehörten, konnten sie beispielsweise 60 Millionen US-Dollar erpressen, was einem Drittel des Militärhaushalts des Landes entsprach.98 So ist zu erklären, warum – rein technisch – „(…) die subversive Aktion in dieser zweiten Phase einen so hohen Stand der Perfektion erreicht [hat], wie nie zuvor in Lateinamerika.“99 Die Anstrengungen der Montoneros in den nächsten Monaten waren dabei vornehmlich von drei unterschiedlichen Motiven gekennzeichnet. Zunächst versuchten sie die Unterstützung der Arbeiter für sich zu gewinnen. Sie glaubten, dies erreichen zu können, indem sie weiter zahlreiche Gewerkschaftsführer ermordeten. Das Kalkül dahinter war zwar insofern korrekt, als dass nicht nur sie, sondern auch die Arbeiter diese für korrupt hielten. Die ideologisierten, der Mittelschicht entstammenden Aufständischen verkannten dabei jedoch, dass die meisten der Arbeiter bereit waren, Korruption unter ihren Vertretern zu tolerieren, solange diese für sie wenigstens hin 94
Siehe zu den Montoneros nach 1974 vor allem Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 144-271 und Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 193-197. 95 So Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 163f. 96 Vgl. dazu Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 193. 97 Siehe dazu und zum Folgenden auch Waldmann, Ursachen der Guerilla, aaO. (FN 17), S. 302. 98 Ebd., S. 303. 99 Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S.193.
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und wieder ökonomische Vorteile erstritten. So zeigten sich die Insurgenten blind für die eigentlichen Nöte und Interessen ihrer „Klientel“. Im Gegenteil: ließen sie doch in einem Interview auf die Frage, welches Verhandlungsangebot sie an die Gewerkschaftsführung hätten, verlauten, ihr Angebot sei, diese nicht zu ermorden.100 „Through their militarism (though not through this alone), the Montoneros needlessly isolated themselves from some of the more radical labour sectors.“101 Was ihre Handlungen, aber auch ihren Militarismus allerdings noch mehr beeinflusste, war das Aufkommen der Alianza Anticomunista Argentina (Argentinische Antikommunistische Allianz, AAA).102 Die sogenannte Triple A war eine rechtsextreme parastaatliche Todesschwadron, noch zu Lebzeiten Perons gegründet und gedeckt von Lopez Rega sowie weiten Teilen der Bundespolizei. Zu ihren Opfern zählten, neben vielen tatsächlichen Insurgenten, auch linke Gewerkschafter, die „des Kommunismus“ beschuldigt wurden. Aber trotz des äußerst brutalen Vorgehens der AAA verspielten die Montoneros auch hier bei ihren zahlreich folgenden Racheaktionen wieder einen möglichen Sympathiegewinn innerhalb der Bevölkerung. Wie die Triple A gingen sie ab einer gewissen Eskalationsstufe des Konflikts gleichfalls immer indiskriminierter und rücksichtsloser vor. Oft konnten Außenstehende nicht mehr den Zusammenhang zwischen einem Opfer und dem Motiv seiner Ermordung nachvollziehen. Oder – wie im Fall des Bombenanschlags auf den Chef der Bundespolizei – wurde auf mögliche unbeteiligte Opfer – hier dessen Frau – keine Rücksicht genommen. Und so steigerte sich der Konflikt mit der AAA durch eine Rachespirale spätestens ab 1975 dermaßen, „(…) [that] the Montoneros appeared more and more obviously to non-combatants as performers rather than participants in the unfolding social dramas.“103 Die gewalttätigen Auseinandersetzungen überlagerten immer stärker die politischen und sollten zusehends die argentinische Politik bestimmen. Diese Auseinandersetzungen hatten nun aber nicht mehr viel mit den Interessen der Arbeiter zu tun, was diese gleichsam zu unbeteiligten Zuschauern bei einem Privatkrieg werden ließ. Mit der Eskalation des Konfliktes war schließlich noch das dritte handlungsbestimmende Motiv der Insurgenten verbunden: der Versuch der Montoneros, eine regelrechte Armee aufzubauen. Ihrer eigenen Logik und nun ganz der beschriebenen Strategie der Stadtguerilla folgend, glaubten sie, dies durch die Entfremdung der Bürger vom Staat erreichen zu können.104 Dafür konzentrierten sie ihre Bemühungen darauf, die Verwundbarkeit der öffentlichen Institutionen zu demonstrieren, um die Regierung zu Repressionen zu zwingen. Durch ihre Ressourcen, die sie jetzt weitestgehend ausnutzten, gelangen den Insurgenten Anschläge in einem nie zuvor gekannten Maß, „(…) und Argentinien wurde beinahe zu einem der ersten Beispiele dafür, wie Terrorismus in städtischen Guerillakrieg umschlagen kann.“105 Dabei erzielten sie tatsächlich auch „Erfolge“ – wenigstens gemäß ihrer Strategie. Zunächst rief die Regierung den Belagerungszustand aus, der vornehmlich für Repressionen gegen nicht-peronistische linke Parteien genutzt wurde. Als dann das zu dieser Zeit ebenso aktive und schlagkräftige ERP auch noch einen ländlichen foco in der
100
So Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 171. Ebd. 102 Genaueres zur AAA und zum Folgenden siehe besonders ebd., S. 153-159; 183-205. 103 Ebd., S. 202. 104 Vgl. dazu und zum Folgenden vor allem ebd., S. 183-223 und Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 193f. 105 Laqueur, Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 317. 101
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Provinz Tucman errichtete, sah die Präsidentin schließlich keinen anderen Weg mehr, als dem Militär die Aufgabe der Terrorismusbekämpfung zu übertragen.
5.3 Extreme Militärdiktatur und Niedergang der Montoneros „Tatsächlich aber leitete dieser scheinbare revolutionäre Aufschwung den Anfang von Ende ein.“106 Zunächst stellte sich die Kalkulation der Montoneros als fasch heraus, wonach die Repression ein Heer von militanten Bürgern schaffen würde.107 Denn entweder machten diese die Guerilla für Eingriffe des Staates verantwortlich, da sie es ja waren, die das verhältnismäßig demokratischste System Argentiniens seit langem bekämpften, oder aber sie wurden selbst Opfer der Repression. So wurde die Peripherie um die Montoneros immer kleiner, ihre zum Teil noch bestehenden Verbindungen zu Massenorganisationen brachen meist gänzlich ab. Viel entscheidender sollte im Rückblick aber die Reaktivierung der Armee für innere Angelegenheiten sein. Die Generäle, die bis dahin politisch im Abseits standen, nutzten dies, um sich auf eine erneute Machtergreifung vorzubereiten, was die Montoneros durch immer regelmäßigere Angriffe auf die einzelnen Heeresteile beschleunigten. Angesichts von durchschnittlich einem politischen Mord alle fünf Stunden, einer durch die erfolglose Wirtschaftspolitik der Regierung immer stärker fragmentierten peronistischen Bewegung und einer Inflationsrate „(…) galloping towards world records (…)“108, wurde ihr Putsch am 24. März 1976 von Teilen der Bevölkerung sogar begrüßt.109 Das neue Regime unter General Jorge Videla begründete den Schritt denn auch mit der Schwäche der alten Regierung sowie der Notwendigkeit eines entschiedeneren Kampfes gegen die Subversion. Die Montoneros betrachteten diese neue Entwicklung zunächst positiv, glaubten sie doch, nun umso leichter regierungsfeindliche Massen vorzufinden, deren folgenden bewaffneten Aufstand sie als Vorhut letztendlich anführen würden. Sie fühlten sich sogar stark genug, zusammen mit dem ERP zwei neue ländliche focos zu errichten. Beide wurden jedoch schnell wieder aufgegeben, was nur zu einem geringen Teil daran lag, dass sie nur halbherzig in Angriff genommen wurden, weil die Konzentration der Guerilla weiter vornehmlich dem Terrorismus in der Stadt galt. Entscheidend war vielmehr die falsche Grundannahme der Insurgenten, die Bedingungen, unter denen sie nun zu agieren hätten, würden sich kaum unterscheiden von denen der repressiveren Phase gegen Ende der alten Militärdiktatur. Doch neben der neuen, extremen Diktatur wirkte die vorausgegangene autoritäre Herrschaft geradezu „(…) wie ein Monument der Liberalität (…).“110 Videla erweiterte sein Verständnis von Subversion auf Journalisten, ganze Universitäten und selbst guerillafeindliche Parteien, die in der Folge unter schwersten Repressionen zu leiden hatten. Willkürliche Verhaftungen und häufige, äußerst brutale Anwendungen von Folter wurden beinahe alltäglich. Gerade die Tortur vermochte es aber, große Teile der Terroristen aufzureiben. In Folterlager gebracht, sagten viele von ihnen über weitere Mitglieder und die Strukturen der 106
Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 194. Siehe dazu und zum Folgenden Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 204f. 108 Ebd., S. 223. 109 Siehe dazu und zum Folgenden Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 194-197 und außerdem Gillespie, Soldiers of Peron, aaO. (FN 14), S. 232-271. 110 Allemann, Terrorismus in Lateinamerika, aaO. (FN 6), S. 195. 107
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Organisation aus. Da jedoch allein Anonymität, und kein gesichertes Rückzugsgebiet, den Insurgenten in der Regel den einzigen Schutz bot, vermochten es die Militärs häufig, schon durch ursprünglich einen einzigen Gefangenen ganze Netzwerke zu enttarnen. Darüber hinaus setzte die AAA – ohne allerdings diesen Namen weiter zu benutzen – ihre Aktionen nicht nur fort, sondern konnte sie sogar noch ausweiten. Das Regime verurteilte derlei nur offiziell, ging aber nie tatsächlich dagegen vor. Vielmehr ließ es zu, dass die Todesschwadronen auf Infrastruktur und Ressourcen von Militär und Polizei zurückgreifen konnten, was ihnen nur noch weitere Vorteile beim Kampf gegen die Terroristen einbrachte. Durch Folter und Angriffe von paramilitärischen Einheiten war der ERP bereits ein Jahr nach Installation der Diktatur beinahe völlig verschwunden und die Montoneros nur noch in einem geringen Maße militärisch handlungsfähig, was sie dazu zwang, ihre Aktionen wieder auf ihr Kerngebiet, die Städte, zu beschränken. Bezeichnenderweise unternahmen die Montoneros erst in dieser Phase der Schwäche wieder einen Versuch, direkt auf die Arbeiter zuzugehen, statt über Gewalttaten auf sie einzuwirken. Dieser scheiterte jedoch recht schnell, da sich diese größtenteils lieber weiter über die erprobten Gewerkschaften für ihre Anliegen engagierten, statt durch ein Zusammengehen mit den Aufständischen Gefahren für Leib und Leben auf sich zu nehmen und sich deren revolutionären Kadern unterzuordnen. Interne Spannungen in der Folgezeit und Abspaltungen aufgrund der autoritären Führungsstruktur schwächten die Montoneros noch zusätzlich. Und so gelang es der Armee schließlich durch erneute Intensivierung der Verfolgung im Vorfeld der Fußball Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien, die meisten der verbliebenen Terroristen zu töten oder ins Exil zu zwingen.
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„Erfolg“ unter außergewöhnlichen Bedingungen – inhärente Schwächen
Am Beispiel der Montoneros lässt sich nachzeichnen, was wohl für die Stadtguerilla im Allgemeinen gilt. Urbaner Terrorismus scheint keine Erfolg versprechende Methode zu sein, politische Ziele zu erreichen. Er kann die Verwundbarkeit der Städte bis zu einem gewissen Grad ausnutzen, aber die Aufständischen schaffen es nicht, entscheidende Bevölkerungsteile für ihre gesellschaftlichen Visionen zu gewinnen. So hielten die Montoneros zunächst eine Mehrheit der Argentinier für ohnehin revolutionär. Als sie schließlich erkannten, dass dies eine Fehlannahme war, standen ihnen ihr Elitismus und die damit verbundene Ignoranz der Interessen ihrer eigentlichen „Klientel“, der Arbeiter, im Wege. Auch der konzeptionelle Widerspruch zwischen nötiger physischer Isolation und Massenarbeit wurde nie gelöst. Durch exzessive Gewalt verspielten sie sich ohnehin nur theoretisch mögliche, breitere Sympathien und auf Dauer machte ihnen die zunehmende Fokussierung auf militärische Belange die politische Arbeit ganz unmöglich. Die Eskalation des bewaffneten Konflikts, der nun immer weniger mit ihren eigentlichen Zielen zu tun hatte, ließ sie wohl schließlich gänzlich uninteressant für relevante Bevölkerungsteile werden und komplettierte ihre Isolation vollends. Die Montoneros hatten sich durch ihre Aktionen selbstverschuldet der Bevölkerung entfremdet, sich von ihr entfernt und damit letztendlich selbst zerstört. Ihre Versuche, das politische System in Bezug auf die Herrschaftsform zu manipulieren, waren teils zwar erfolgreich. Es muss jedoch angemerkt werden, dass sie nur von ihrer theoretischen Konzeption her einen Unterschied zwischen Militärdiktatur und Demokratie sahen. Bei ihrem jeweiligen Handeln, das einzig von ihren aktuellen Fähigkeiten und der Eskalationsstufe des Konflikts bestimmt war, ist aber kaum ein differenziertes Vorgehen
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festzustellen. Die Unterschiede bei den Herrschaftsformen schienen eher ihre Erfolgsaussichten verschiedenartig zu beeinflussen. In einer Demokratie isolierten sie sich, in einer extremen Militärdiktatur wurden sie physisch aufgerieben. Erfolgreicher scheinen ihre Aussichten einzig in einer weniger repressiven Militärdiktatur, deren Kennzeichen hohe Exklusivität bei der Teilhabe an der Macht und eine radikalisierte, organisierte Bevölkerung war. Aber auch hier gilt, wie Walter Laqueur zu Recht feststellt, dass Terroristen den Staat zwar ändern können, jedoch nie nach ihren Vorstellungen.111 Vielmehr sind sie sind sie am Ende meist nur Steigbügelhalter für andere. Abschließend soll an dieser Stelle noch darauf eingegangen werden, was die Montoneros trotz allem kurzzeitig zu einer scheinbaren Ausnahme von der Regel der Selbstzerstörung machte, nämlich ihre Beziehung zum Peronismus. Denn betrachtet man ihr Beispiel, scheint die Kritik an der Strategie der Stadtguerilla auf den ersten Blick sogar ungerechtfertigt. Tatsächlich schafften es Insurgenten hier mittels terroristischer Methoden, eine breitere Schicht von Unterstützern oder zumindest Sympathisanten zu erlangen. Ihr Wirken war darüber hinaus mit ausschlaggebend dafür, dass ihr Ziel erreicht wurde – die Rückkehr des Peronismus und Perons an die Macht. Dabei könnte es für die Analyse des Potentials der Stadtguerilla zunächst sogar nachrangig sein, dass es sich dabei nur um einen Scheinerfolg handelte. Auf den zweiten Blick dürften aber die verschiedenen Kritikpunkte selbst für die Phase des „Erfolges“ weitestgehend berechtigt sein. Der Erfolgsgrund scheint nämlich genau in dem Missverständnis, das die Beziehung von Montoneros und Peronismus kennzeichnet, zu liegen. Wären sie nicht von einer falschen Vorstellung in Bezug auf die Bewegung ausgegangen, hätten sie sich nicht als deren bewaffneter Arm gerieren können. Nur weil sie sich einer bereits bestehenden Massenbewegung anschlossen, waren sie gerade in ihrer Entstehungszeit überlebensfähig und konnten ausreichend Unterstützung und Zulauf bekommen. Zugute kam ihnen dabei die Besonderheit, dass der Peronismus Menschen mit verschiedensten politischen Präferenzen in sich vereinte. Da gerade eine Stadtguerilla für gewöhnlich an einem radikalen Rand des politischen Spektrums anzutreffen ist, werden sich wohl nur wenige Bewegungen finden, in der radikale Strömungen und gleichzeitig ein so großer Teil der Gesellschaft organisiert waren. Nur so lässt sich erklären, dass in Zeiten der Blockkonfrontation Beinahe-Sozialisten, Gemäßigte und Rechtskonservative für dasselbe Ziel kämpften. Es war aber eben nur durch diese Allianz möglich, den Sturz der Militärdiktatur zu betreiben. Der für die Stadtguerilla typische ideologische Pragmatismus, den die Montoneros in dieser Phase offenbarten, zeigte sich dabei als Vorteil. Dies kann aber eben nicht überdecken, dass diese Allianz eigentlich nur aufgrund der Naivität der Montoneros heraus entstand und so selbst dieser Fall keine Ausnahme darstellt. Die Montoneros waren bereits isoliert und durch ihre zunehmende ideologische Radikalisierung wurden sie es nur umso mehr. Es war ihnen nur nicht bewusst.
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So Laqueur, Zwölf Thesen, aaO. (FN 28), S. 173.
Das Aktionskonglomerat der Brasilianischen Stadtguerilla
Die Brasilianische Stadtguerilla: Aktionskonglomerat auf widersprüchlicher Grundlage Stephanie Rübenach
1
Nomen est omen?
Bereits 1976, erst wenige Jahre nach der Zerschlagung der wichtigsten Strukturen der brasilianischen Stadtguerilleros durch das Militärregime, schreibt der renommierte Terrorismusforscher Walter Laqueur in einem Artikel, ‚Stadtguerilla’ sei lediglich ein „Euphemismus für Stadt-Terror“1. Diese Aussage impliziert diverse Thesen über antistaatliche Gewalt, die es hier für den Fall Brasilien zu überprüfen gilt: Zum einen nimmt Laqueur im Gegensatz zu vielen seiner damaligen Kollegen (besonders zu nennen ist hier Hahlweg2) eine (notwendige) Unterscheidung zwischen Guerillakampf und terror (Panik) vor. Es sei betont, dass Laqueur von Terror, nicht Terrorismus spricht – letzteres ist ihm zufolge vereinfacht gesagt der strategische Einsatz von Terror.3 Nichtsdestotrotz muss natürlich auch Terrorismus und Guerillakampf unterschieden werden. Zweitens zeugt der Gebrauch des Wortes ‚Euphemismus’ von der Tatsache, dass Terroristen gerne darauf zurückgreifen, sich selbst zur Rechtfertigung der eigenen Taten mit dem positiv konnotierten Wort ‚Guerilla’ zu bezeichnen. Drittens ist zu vermerken, dass Laqueur hier nicht konkret von der brasilianischen Stadtguerilla spricht, sondern von der Stadtguerilla ganz allgemein. Zweifellos ist deren Theorie und Praxis jedoch in Brasilien geprägt worden, besonders durch Carlos Marighellas ALN und sein Handbuch des Stadtguerillero4. Dieses Handbuch diente jedoch gleichzeitig vielen Terroristen, besonders in Europa, als Handlungs- und Rechtfertigungsgrundlage. Man muss also die Frage stellen, ob man einen Unterschied machen muss zwischen der brasilianischen Stadtguerilla und dem vielfach verwendeten Konzept ‚Stadtguerilla’5. Besonders linke Literatur, die auf die Missstände der brasilianischen Diktatur aufmerksam machen wollte, betont die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen der brasilianischen Stadtguerilla und dem Konzept:
1
Laqueur, Walter, Zwölf Thesen über die Guerilla, in: Tophoven, Rolf (Hrsg.), Politik durch Gewalt. Guerilla und Terrorismus heute, Bonn 1976, S. 168-169. Hahlweg, Werner, Theoretische Grundlagen der modernen Guerilla und des Terrorismus, in: Tophoven, Rolf (Hrsg.), Politik durch Gewalt. Guerilla und Terrorismus heute, Bonn 1976, S. 12-29. 3 Vgl. Fetscher, Iring/Rohrmoser, Günther, Analysen zum Terrorismus. Ideologien und Strategien, Opladen 1976, S. 26. 4 Marighella, Carlos, Handbuch des Stadtguerillero (Juni 1969), ohne Ort 1996. 5 So im Übrigen auch der Titel einer der wichtigsten Schriften der RAF „Das Konzept Stadtguerilla“. Eine kurze Interpretation und vollständige Dokumentation findet sich in ID-Archiv (Hrsg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1996, S. 27-48. Siehe dazu außerdem Schubert, Alex (Hrsg.), Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay – Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik, Berlin 1971, S. 108-130. 2
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Stephanie Rübenach Auch in Berlin, auch in Frankfurt nennen sie sich Tupamaros (…) Sie schaffen sich künstlich jene Unterdrückungssituation, in der die Entrechteten Lateinamerikas tagtäglich leben. (…) Gegengewalt gegen das terroristische Herrschaftssystem des Kapitals in einem Lande anzuwenden, in dem über Mitbestimmung zumindest diskutiert wird, ist eine Verhöhnung der Verdammten dieser Erde.6
Wenn dieser Text auch nicht zur objektiv-wissenschaftlichen Literatur zählt, so ist die Anmerkung, dass das Militärregime Brasiliens ab 1964 eine fundamental andere Grundlage darstellte als eine europäische Demokratie, dennoch ein wichtiger Hinweis, den es auch in einer Untersuchung der Frage „Guerilla oder Terrorismus“ zu berücksichtigen gilt. Dieser Beitrag widmet sich dieser Fragestellung und untersucht die Praxis und Theorie der brasilianischen Stadtguerilla auf ihre Kompatibilität mit den idealtypischen Modellen antistaatlicher Gewalt. Zu diesem Zweck werden zum einen diese Modelle kurz erläutert sowie der ideologische Kontext der guerrilleros in Lateinamerika heraus gearbeitet. Außerdem wird in einem kurzen Überblick auf die politische Situation kurz vor und unter dem Militärregime hingewiesen, welches die Grundlage für die Entwicklung der Stadtguerilla bildete. Daraufhin werden die Merkmale der städtischen Guerillaorganisationen anhand der präsentierten Kriterien zur Klassifikation antistaatlicher Gewalt analysiert. Ziel ist es, die brasilianische Stadtguerilla in einem Fazit kategorisieren und in Relation zu anderen Organisationen setzen zu können. Im Hinblick auf die verwendete Literatur bleibt anzumerken, dass einer der Autoren der Hauptquellen (Dictatorship and Armed Struggle in Brazil7) – João Quartim –, dessen Ausführungen über die Klassenrelationen und die Ereignisse der Ära Vargas in ihrem Detailreichtum eine wertvolle Quelle sind, selbst Stadtguerillero war. Quartim war, wie es scheint, Mitglied der VPR.8 Diese Tatsache wurde bei der Interpretation der Quelle berücksichtigt. Prinzipiell ist die Literaturlage zu dieser Thematik ausreichend, verschiedene spezifische Themenbereiche, wie etwa die Frage der Geheimdienstaktivitäten, werden häufig jedoch nur von einem oder von wenigen Autoren detailliert abgedeckt.
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Überblick: Unterscheidung zwischen Terrorismus und Guerillakampf
Im Folgenden werden die wichtigsten Unterscheidungskriterien zwischen Guerillakampf und Terrorismus erläutert. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich hier nicht um eine Definition der Einzelphänomene handelt – die Debatte über die Definition des Begriffes ‚Terrorismus’ ist beispielsweise geradezu unendlich.9 Hier geht es lediglich um eine Abgrenzung der Phänomene. Vergleicht man die relevante Literatur, wird schnell klar, dass die Mehrheit in Bezug auf eine Unterscheidung zwischen Guerillakampf und
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Duve, Freimut, Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe, in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 7. Quartim, João, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, London 1971. 8 Vgl. Quartim, João, Bemerkung zu „Régis Debray and the Brazilian Revolution“, New Left Review I/59/1970, Onlineversion: http://newleftreview.org/?page=article&view=1248, Stand: 16.01.2008./“Popular Revolutionary Vanguard“, in: MIPT Terrorism Knowledge Base, Onlineversion: http://www.tkb.org/Group.jsp?groupID=4213, Stand: 16.01.2008. 9 Siehe dazu Horgan, John, The Psychology of Terrorism, London/New York 2005. 7
Das Aktionskonglomerat der Brasilianischen Stadtguerilla
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Terrorismus in drei grundlegenden Kriterien übereinstimmt: Das Ziel der Gewalt, die Vorgehensweise und die Verankerung in der Bevölkerung. Was das Ziel der Gewalt betrifft, so wird hervorgehoben, dass Terroristen zu Anschlägen mit einer beliebigeren Opferauswahl und -anzahl als guerrilleros tendieren, um Panik auszulösen und dadurch ihrer Perzeption eines (realen oder eingebildeten) Missstandes (grievance) Publizität zu verschaffen. Ihre Opfer, häufig Zivilisten, sind nicht das eigentliche Ziel ihrer Botschaft; diese ist vielmehr an Staat oder Regierung gerichtet - es handelt sich um eine Kommunikationsstrategie. Von diesem Ziel wird als Antwort auf die ‚Botschaft’ eine Welle der Repression erwartet. Es wird angenommen, dass die staatliche Reaktion die Unterstützung des Volkes für die Guerilla sichert.10 Guerrilleros, auf der anderen Seite, halten die Sabotage als Teil einer militärischen Strategie, um den Feind direkt zu schwächen, für nützlich. Sabotage zur Auslösung von Panik hält beispielsweise Guevara der Sache für nicht zuträglich.11 Im Gegensatz zu Terroristen tendieren Guerillakämpfer dazu, ausschließlich Kombattanten zu töten.12 Die Frage der Vorgehensweise ist eng verbunden mit dem Ziel der Gewalt. Da Terroristen den Symbolgehalt ihrer Anschläge betonen, legen sie großen Wert darauf, dass Anschläge, Zielgruppen und Opferzahlen nur schwer vorherzusagen sind. Unvorhersagbarkeit und Überraschung sind ein Garant für die Erzeugung von Panik – man spricht hierbei von einem psychologischen Effekt der Gewalt.13 Terroristen akzeptieren unterbewusst ihre militärische Schwäche und versuchen nicht ernsthaft, die Größe einer Armee zu erreichen und sich militärischen Auseinandersetzungen zu stellen. Guerillaarmeen versuchen andererseits ihre militärische Schwäche durch Überraschungsangriffe auszugleichen, um ihren militärischen Gegner direkt zu schwächen14 und langsam Armeestrukturen aufzubauen und Armeegröße zu erreichen. Sie beabsichtigen außerdem, die Taktik der Überraschungsangriffe zugunsten territorialer Eroberungen15 und einer Endschlacht 16 aufzugeben. Die Verankerung in der Bevölkerung ist die logische Konsequenz der beiden vorangehenden Argumente: Aufgrund ihrer willkürlichen Anschläge, von denen zumeist auch NonKombattanten betroffen sind, können Terrroristen in den meisten Fällen nicht auf die Unterstützung des Volkes bauen, obwohl sie in der Tat nach ihr streben.17 Sozialrevolutionärer Terrorismus ist ein essentiell elitär-avantgardistisches Konzept, das besagt, dass Terroristen in dem Bewusstsein handeln, den Willen des Volkes zu vertreten, während sich die Bevölkerung selbst noch nicht bewusst ist, was sie braucht und was sie will18: „Terroristen […] sind elitär, verachten die Massen und glauben an die historische Mission einer winzigen Minderheit. Man sagte von den Tupamaros, dass derjenige, der Mitglied werden wollte, den 10
Vgl. Waldmann, Peter, Terrorismus und Guerilla: Ein Vergleich organisierter antistaatlicher Gewalt in Europa und Lateinamerika, in: Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie (E&D), Bonn 1993), S. 70-71. 11 Vgl. Guevara, Ernesto, Der Guerillakrieg, in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Guerillakampf und Befreiungsbewegung. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Band 1, Bonn 20034, S. 161-163. 12 Vgl. Wilkinson, Paul, Political Terrorism, London 1974, S. 14. 13 Vgl. Waldmann, Terrorismus und Guerilla: Ein Vergleich, aaO. (FN 10), S. 70-71. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. Debray, Régis, Revolution in der Revolution?, München 1967, S. 64. 16 Vgl. Zedong, Mao, Strategie des chinesischen Revolutionären Krieges, in: Raddatz, Fritz J. (Hrsg.), Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt. Einleitender Essay von Sebastian Haffner, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 74. 17 Vgl. Fromkin, David, Die Strategie des Terrorismus, in: ApuZ B 13/1976, S. 28. 18 Vgl. Münkler, Herfried, Guerillakrieg und Terrorismus, in: Neue Politische Literatur 3/1980, S. 317.
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Doktorgrad besitzen mußte.“19 Daher konzentrieren sie sich meist nicht auf den Aufbau einer territorialen Basis (was ihrer Philosophie des unvorhersehbaren Überraschungsangriffes widersprechen würde)20 und sind vorwiegend in Städten zu finden, in welchen sich Einzelindividuen gut verstecken und effektiv willkürliche sowie überraschende Gewaltakte verüben können. Guerrilleros hingegen führen im ‘Idealfall’ einen People’s War.21 Guerillaarmeen sind von der Unterstützung der Bevölkerung und einer großen ‚sympathetic audience’ und ‚active audience’ abhängig, die das kontrollierte Gebiet bewohnt. Letztere übernimmt logistische Funktionen, während die ‘sympathetic audience’22 als Rekrutierungsbasis fungiert.23 Konsequenterweise sind ihre Operationsgebiete hauptsächlich bergige, ländliche Gebiete, in denen sie langsam aber sicher eine solide Armee aufbauen, sich frei bewegen und ein Netzwerk der Loyalitäten unter der lokalen Bevölkerung aufbauen können, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden.24 Da viele Gruppierungen tatsächlich nur mangelhaft anhand dieses Schemas zu kategorisieren sind (beispielsweise Hamas oder die PIRA, die zeitweise über territoriale Basen verfüg(t)en und dennoch eine terroristische Strategie verfolg(t)en), bietet es sich an, die Kriterien gegeneinander nach ihrer Wichtigkeit abzuwägen. Hierbei kristallisiert sich heraus, dass die Wahl der Opfer der Gewalt – Zivilbevölkerung oder Kombattanten – dasjenige Kriterium ist, dessen Aussagekraft am größten ist (da beispielsweise die Unterstützung der Bevölkerung schlecht messbar, jedoch durch Zwang leicht manipulierbar ist).
3
Ideologischer Entstehungskontext: Das Erbe des foquismo25
Wenn man die Entstehung und Ideologie der brasilianischen Stadtguerilla in eine entsprechende Traditionslinie einordnen möchte, liegt es am nächsten, den lateinamerikanischen Kontext zu betrachten, da dieser bereits stark von einer sozialrevolutionären Guerillatradition geprägt war. Deren Ausmaß, besonders unter Einfluss der Fokustheorie, war aufgrund des Ziels einer sozialistischen Revolution zumeist kontinental gedacht. Tatsächlich war der Anstoß zur Entwicklung einer Stadtguerilla das vollständige Scheitern des für den ländlichen Kampf konzipierten Konzeptes der Fokustheorie in Bolivien unter Guevara.26 Man nahm sich vor, den Kampf erst einmal in die Anonymität der von den Foquisten vernachlässigten Städte zu verlagern und dort vom Untergrund aus zu kämpfen, um eine Infrastruktur für die ländliche Guerilla aufzubauen. Es stellt sich folglich die Frage, ob das Konzept der Stadtguerilla einen Bruch mit der in der Praxis gescheiterten Fokustheorie darstellte
19
Zitiert nach Tophoven, Rolf/ Becker, Horst, Terrorismus und Guerilla, Düsseldorf 1979, S. 45. Original: Laqueur, Walter, Terrorismus – eine Bilanz, in: Zeugnisse politischer Gewalt – Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978, S. 218-219. 20 Vgl. Waldmann, Terrorismus und Guerilla: Ein Vergleich, aaO. (FN 10), S. 84. 21 Giap, Vo Nguyen, People’s War. People’s Army, Hanoi 1961. 22 Wright, Joanne, Terrorist Propaganda: The Red Army Faction and the Provisional IRA. 1968-86, Houndsmill et al.1991. 23 Vgl. Münkler, Guerillakrieg und Terrorismus, aaO. (FN 18), S. 350. 24 Vgl. Waldmann, Peter, Social-revolutionary terrorism in Latin America and Europe, in: Bjørgo, Tore (Hrsg.), Root Causes of Terrorism. Myths, Reality and Ways Forward, London et al. 2005, S. 154-163. 25 Siehe dazu den Beitrag von Stephanie Rübenach in diesem Band. 26 Vgl. Lamberg, Robert F., Die castristische Guerilla in Lateinamerika. Theorie und Praxis eines revolutionären Modells, Hannover 1971, S. 146.
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oder dennoch eine Kontinuität mit dieser aufweist. Marighella selbst führt zu dieser Frage in einem Interview mit Detrez aus: Wird die Landguerilla gleichzeitig an verschiedenen Punkten des Landes ausgelöst? Ja, wir werden die brasilianischen und nordamerikanischen Großgrundbesitzer angreifen. (…) Wir werden die ländliche Ökonomie desorganisieren, aber wir werden keine Zone, kein Stück Land verteidigen. Denn verteidigen bedeutet letztlich besiegt werden. Wir müssen immer und überall, wie bei der Stadtguerilla, die Initiative ergreifen. (…) Sind Sie gegen die Ideen von Régis Debray? Einige seiner Ideen waren nützlich für mich. Was die Focustheorie angeht, bin ich wohl eher anderer Auffassung.27
Anhand dieser Aussagen lassen sich einige Schlüsse zur Natur der Stadtguerilla und zu ihrer Relation zur Fokustheorie ziehen: Zum einen wird sogleich im ersten Abschnitt evident, dass die Idee eines Guerillakampfes auf dem Lande durchaus nicht aufgegeben wird, die Stadtguerilla ist ihm nur vorgeschaltet. Letztendlich wird es die ländliche Guerilla beziehungsweise eine Armee sein, die den Sieg erringen wird – wie dies von Mao übernommen auch die Fokustheorie propagiert. Die Stadtguerilla ist nur eine (provisorische) Taktik des Guerillakrieges in seiner Gesamtheit: „Keine revolutionäre Bewegung glaubt sie könne das Regime nur in den Städten vernichten.“28 Zweitens lässt dieser Abschnitt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der ländliche Kampf nach einer gewissen Zeit der Stadtguerilla an mehreren Punkten ausgelöst werden soll und einer vollkommenen Beweglichkeit unterworfen sein soll. Kurzum, es gibt (in einem Land) nicht mehr einen absolut zu sehenden foco, sondern eine allgegenwärtige, aufgesplitterte Avantgarde. Diese Tatsache weicht – wie auch der städtische Kampf an sich –von der Fokustheorie und von der Überlegung ab, dass die Guerillaarmee später in einer echten Armee aufgeht, denn dann wäre eine einheitliche Truppe, die wächst und nach und nach Gebiete erobert, zu erwarten. Die Frage der Gebietseroberung ordnet Marighella jedoch ebenfalls der absoluten Beweglichkeit unter – was wiederum klar von der Fokustheorie entlehnt ist und bereits damals in dieser Radikalität eine Bruch mit der klassischen Guerillatheorie darstellte. Zudem schreibt Marighella häufig von der Ablehnung einer Bindung der guerrilleros an eine Partei. Insbesondere bezieht er sich dabei auf ein potentielles Bündnis mit der kommunistischen PCB, deren Mitglied er bis zu seinem Ausschluss war. Dieser Bruch lässt sich hauptsächlich auf die Frage zurückführen, ob der sozialistischen eine bürgerliche Revolution zur Herstellung einer anti-feudalen, nationalen Demokratie vorangehen soll.29 Die PCB vertrat den Standpunkt der Notwendigkeit einer
27
Detrez, Conrad im Interview mit Marighella, Carlos, Interview zum „Revolutionären Krieg (Oktober 1969)“, in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 98-99. 28 Alves, Márcio M., Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt?, in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 20. 29 Vgl. Marighella, Carlos, Brief an das Exekutivkomitee der Kommunistischen Partei Brasiliens (10. Dezember 1966), in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 88.
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Stephanie Rübenach unity with the local bourgeoisie against imperialism. The PCB held strictly to this policy even after the military coup of 1964 (…). This emphasis on alliances with the bourgeoisie caused a series of splits in the PCB and the loss of a significant number of its working class militants.30
Die brasilianischen Stadtguerilleros sahen jedoch in der Bourgeoisie eine dem Imperialismus verfallene Klasse, die mit dem Regime kollaboriert, und in der PCB eine untätige Partei, die nicht auf Seiten der Masse des Volkes steht, sondern die „friedliche Koexistenz“ propagiert. Die Existenz einer anti-imperialistischen nationalen Bourgeoisie leugnen sie.31 Diese Vorstellung steht ganz in der Tradition der Überlegungen Guevaras und der Fokustheorie, die auch davon ausgeht, dass die Bourgeoisie die Revolution nicht mehr anführen kann.32 So ist es Aufgabe des Stadtguerillero, „die Güter und Besitztümer der Nordamerikaner, anderer ausländischer Unternehmer und die der brasilianischen Großbourgeoisie zu überfallen und sie zu zerstören oder zu plündern.“33 Marighella kommt zu dem Schluss, dass eine Unterordnung unter die Bourgeoisie aufgrund ihrer städtischen Natur „eine Herabsetzung der Rolle der Bauern in der Revolution“34 bedingen würde. Er ist der Ansicht, dass ein „bewaffnetes Bündnis von Arbeitern und Bauern“35 nur zustande kommt, wenn das Proletariat sich nicht an der Bourgeoisie orientiert.36 Auch diese Tatsache rückt die Gesamtguerillastrategie, deren erste Phase die Stadtguerilla ist, in eine eindeutige Nähe zur Fokustheorie. Die Unversöhnlichkeit in Bezug auf die Bourgeoisie ist Ausdruck einer Kompromisslosigkeit, die sich auch in anderen Bereichen findet, so beispielsweise bei Marighellas Entschlossenheit, sich ausschließlich auf den Guerillakampf zu stützen („Die Guerilla ist für mich das einzige Mittel“37) und unter keinen Umständen zu diskutieren – auch nicht untereinander: Die Dinge werden sich in der Praxis klären, und dabei wird eine immer engere strategische Einheit entstehen und sich automatisch ein einheitliches Kommando herausbilden. Sicher ist nur, dass wir am runden Tisch niemals dazukommen werden. Ein einheitliches Kommando, das nur aus Diskussionen heraus entsteht, wäre rein formal und würde bald wieder auseinanderfallen.38
Hieraus ergibt sich logischerweise auch ein relativ dürftiges politisches Fundament, da dieses ausgeprägter Diskussion bedürfte. So findet man ein nur sehr vages sozialistisches Programm: „Der Stadtguerillero muß sich ein Minimum an politischen Kenntnissen aneignen“.39 Auch diese Tatsache ist aus der Fokustheorie bekannt. Andere Merkmale des Stadtguerillakonzeptes hingegen widersprechen der Fokustheorie grundsätzlich, darunter etwa 30
Moreira Alves, Maria Helena, Building Democratic Socialism: the Partido Dos Trabalhadores in Brazil, in: Monthly Review 42/4/1990, Onlineversion: http://findarticles.com/p/articles/mi_m1132/is_n4_v42/ ai_9396661/ pg_4, Stand: 16.01.2008. 31 Vgl. Alves, Zerschlagt die Wohlstandsinseln, aaO. (FN 28), S. 22. 32 Vgl. Guevara, Ernesto, Guerillakrieg – Eine Methode”, in: Gross, Horst-Eckart (Hrsg.), Guerillakampf und Befreiungsbewegung. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band 1, Bonn 20034, S. 27. 33 Marighella, Handbuch des Stadtguerillero, aaO. (FN 4), S. 12. 34 Marighella, Brief an das Exekutivkomittee, aaO. (FN 29), S. 91. 35 Detrez im Interview mit Marighella, Interview zum revolutionären Krieg, aaO. (FN 27), S. 95. 36 Vgl. Marighella, Brief an das Exekutivkomittee, aaO. (FN 29), S. 91. 37 Marighella, Carlos, Brief an Fidel Castro (18. August 1967), in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 94. 38 Detrez im Interview mit Marighella, Interview zum revolutionären Krieg, aaO. (FN 27), S. 95. 39 Marighella, Handbuch des Stadtguerillero, aaO. (FN 4), S. 12, Hervorhebung im Original.
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die positive Einstellung Marighellas gegenüber spontanen Aufständen in der Bevölkerung, die politisch gelenkt werden müssen – eine Idee, der die Fokustheorie in der Überzeugung, dass ausschließlich der foco die Revolution anführen kann, eher ablehnend gegenüber steht.40 Tatsächlich ist also die Relation zur Fokustheorie zweifelsohne vorhanden, ihrer Natur nach jedoch ambivalent. Treffend schreibt Quartim: „Die revolutionäre Theorie Debrays wurde noch einmal von der revolutionären Praxis überprüft.“41 Lassen sich auf taktischer Ebene schwerwiegende Unterschiede feststellen, so sind doch diverse Grundüberlegungen die gleichen geblieben. Viele dieser Unterschiede entstammen der Skepsis gegenüber der Fokustheorie nach dem bolivianischen Unterfangen, viele andere jedoch auch der konkreten politischen Lage Brasiliens in der Ära Vargas und während der Militärdiktatur ab 1964.
4
Entstehungskontext: Die Spuren Vargas und die brasilianische Militärdiktatur
Es ist gerade für die Analyse der brasilianischen Stadtguerilla von unschätzbarer Bedeutung, den politischen Entstehungskontext zu beleuchten, da die Entstehung und das Bestehen einer repressiven Militärdiktatur vor Entstehung der Guerillabewegung ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu europäischen Stadtguerillabewegungen oder auch etwa dem bolivianischen Vorgänger darstellt. Wie von Duve einleitend dargelegt, war die brasilianische Stadtguerilla eine der wenigen antistaatlichen Organisationen, die eine Radikalisierung nicht hervorgerufen hat, sondern von dieser hervorgerufen wurde.42 Dies ist nicht der Ort, die Militärherrschaft und ihre Entstehungsbedingungen umfassend und detailliert darzustellen, aber es ist wichtig, deren Grundzüge zu klären, um die Gründungszusammenhänge der Stadtguerilla zu verstehen.
4.1 Fehlende Konfliktlösungsmechanismen: Klassenrelationen und –organisation Grob lässt sich das Klassenspektrum ab der Ära Gétulio Vargas (brasilianischer Präsident von 1930-1945 und 1950-1954) folgendermaßen einteilen: Die alte Oligarchie (besonders Kaffeeanbauer) stellte bis 1930 in einem dezentralen System die herrschende Klasse des Landes dar und führte im so genannten coronelismo ein klientelistisches System an; mit zunehmender Industrialisierung und Urbanisierung kam die Expansion der städtische Bourgeoisie hinzu, die vom kapitalistischen Großbürgertum bis hin zum Kleinbürgertum (small employers und petty bourgeoisie43), die von der beginnenden Industrialisierung lebten44, reichte. In Schichten ausgedrückt, reichte die Bourgeoisie von der herrschenden neuen
40
Vgl. Debray, Revolution in der Revolution?, aaO. (FN 15), S. 25-47; außerdem Ramm, Hartmut, The Marxism of Régis Debray, Kansas 1978, S. 72-75. 41 Quartim, João, Debray und die brasilianische Revolution, in: Focus und Freiraum: Debray, Brasilien, Linke in den Metropolen, Berlin 1970, S. 89. 42 Vgl. Lamberg, Die castristische Guerilla …, aaO. (FN 26), S. 157. 43 Nach der Definition von Wright sind dies kleine selbstständige Unternehmer mit bis zu 10 Mitarbeitern oder ohne Mitarbeiterstab (vgl. Wright, Erik Olin, Classes, London 1985, S. 150). 44 Vgl. Garcia de Almeida, Marcio A./ Vasconi, Tomás A., Die Entwicklung der in Lateinamerika vorherrschenden Ideologien, in: Grabendorff, Wolf (Hrsg.), Lateinamerika, Hamburg 1973, S. 29.
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kapitalistischen Oberschicht bis zur upper-middle-class45. Nicht als eigene Klasse, aber als enorm wichtige Gruppierung, die Klassendispute und gesellschaftliche Positionen widerspiegelte, wird auch das Militär mit berücksichtigt, das sich in Brasilien nach Stepan zwischen 1941 und 1966 überwiegend aus der Mittelschicht speiste (1941-1943: 76.4 Prozent der Kadetten aus der Mittelschicht; 1962-1966: 78.2 Prozent46). Diese Verhältnisse kristallisieren sich tatsächlich erst ab etwa 1930 heraus, als Vargas eine staatlich geleitete Industrialisierung vornahm sowie eine bürokratische Zentralisierung.47 Durch die Industrialisierung kam es zu einer stärkeren Ausbildung der Bourgeoisie und der Arbeiterschaft und durch die Zentralisierung zu einer Auseinandersetzung mit den ländlichen Oligarchen. Um diese potentiell explosive Mischung zu entschärfen, schuf Vargas einen populistischen Kompromiss („getulism“48), der alle Parteien auf die ein oder andere Weise einband und ihnen das Gefühl der Partizipation vermitteln sollte: Der Kaffeeoligarchie wurden in ihren Einflussgebieten immer noch weitgehende politische Rechte und vor allem ökonomische Macht zugestanden. Die relativ erfolgreiche staatsgeleitete Modernisierung und Industrialisierung wandte sich an die nationale Bourgeoisie49 genauso wie die Kontrolle der Arbeiterschaft, durch ein vom Arbeitsministerium reguliertes Wohlfahrtssystem und vom Staat geschaffene Gewerkschaften50: „All trade unions, moreover, were subordinate to the state, so that in return for decreed wage increases, capitalists both national and foreign received protection from the threat of a genuinely autonomous working-class movement“51. Durch das Gewerkschafts- und Wohlfahrtssystem sowie die direkt vom Staat geleitete erfolgreiche Wirtschaftspolitik erschien das System auch der Arbeiterschaft lohnend.52 Dieser von Vargas oktroyierte ‚Kompromiss’ bildete bis 1945 die Grundlage eines quasi-faschistischen Staates (Estado Nôvo) und hatte in der brasilianischen Variante einer Bourgeoisie-‚Demokratie’ bis 1964 noch erheblichen Einfluss. Der zentral gelenkte Kompromiss war jedoch nur so gut wie die Kompromissbereitschaft der an ihm Beteiligten. Sobald er aus dem Gleichgewicht geriet, war es das Militär (zumeist auf Grundlage einer Allianz der Bourgeoisie53), das sich berufen sah, die Situation durch ihr Eingreifen wieder ins Lot zu bringen. Dies geschah drei Mal: 1945, 1954 und 1964. In Kürze zusammenge45
Zur klassischen Mittelschicht zählen zum Beispiel alle möglichen Arten von Angestellten, z.B. Lehrer, Bankangestellte, etc.; jedoch kann man das Kleinbürgertum auch nicht zur Oberschicht zählen – vielmehr muss man sie zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern ansiedeln. Daher auch die Verwendung des englischen Begriffes uppermiddle-class, der den Übergang zwischen den beiden Klassen besser kennzeichnet als jedes deutsche Äquivalent. 46 Vgl. Stepan, Alfred, The Military in Politics. Changing Patterns in Brazil, Princeton, 1971, S. 32-34. Was Stepan als Mittelschicht bezeichnet, beinhaltet auch die neue städtische Bourgeoisie, also kapitalistisches Großbürgertum („business executive“) sowie petty bourgeoisie („merchants“). Middle Class ist hier folglich eher eine Abgrenzung gegenüber traditioneller Oberschicht (Oligarchie, Botschafter, Anwälte etc.). Diese Verwendung des Begriffes der middle class wird auch im Folgenden im Zusammenhang mit Stepan verwendet. 47 Vgl. Heinz, Wolfgang S., Neue Demokratien und Militär in Lateinamerika. Die Erfahrungen in Argentinien und Brasilien (1983-1999), Frankfurt a. M. 2001, S. 125. 48 So Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN7), S. 23-24. 49 Vgl. ebd., S. 27. 50 Vgl. Heinz, Neue Demokratien ..., aaO. (FN 47), S. 125. Die Verhandlungsposition der Arbeiter war zudem noch weiter geschwächt durch den Überschuss an Arbeitern, die jederzeit abrufbar waren, um aufmüpfige Arbeiter abzulösen (vgl. Skidmore, Thomas E., The Politics of Military Rule in Brazil, 1964-85, Oxford/New York 1988, S. 11). 51 Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 24. 52 Vgl. ebd. 53 Siehe dazu für 1945 Thomas, Tobias, Brasilianische Militärherrschaft. 1964-1979, Mettingen 1985, S. 20-21.
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fasst lagen die Gründe für die Verschiebung der Gewichte in machtpolitischen, wirtschaftlichen und ideologischen Überlegungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach das liberale Bürgertum für die Restauration der Demokratie aus dem Kompromiss aus und sorgte für soviel Instabilität, dass Vargas sich nach links wandte und auf die Arbeiterschaft stützte.54 Dasselbe Mittel wandte Vargas als Präsident der ‚traditionellen Elitendemokratie’55 1953 an, als er die für die kommenden Wahlen Barros’ Kandidatur unterminieren wollte56 sowie Goulart, der der galoppierenden Inflation und dem erwachenden Klassenbewusstsein nicht mehr Herr wurde.57 Zu Zeiten des Kalten Krieges wurde ein derartiges Verhalten schnell als prokommunistisch ausgelegt und befremdete besonders die städtisch-kapitalistische Bourgeoisie vom getulistischen Ausgleich sowie in extremem Maße das Militär. Was Vargas oder Goulart aus machtpolitischen Erwägungen unternahmen, war für andere Ausdruck einer ideologischen Überzeugung und damit eine Gefahr für ökonomische Interessen und Fragen der nationalen Sicherheit. Doch die Instabilität des Kompromisses rührte zugleich aus Brüchen innerhalb der herrschenden Klasse(n) nach dem Zweiten Weltkrieg, denn „at least until 1943 the Estado Nôvo represented the interests of the ruling class as a whole [Oligarchen und städtische Bourgeoisie; Anm. d. Verf.]“58. Der Zusammenbruch dieser relativen Einigkeit lässt sich hauptsächlich auf eine ambivalente Einstellung zur kapitalistischen Wirtschaft, die entweder national oder international gedacht wurde, zurückführen. Es entstand eine Kluft zwischen nationaler Bourgeoisie (eher Nähe zum Mittelstand), die Vargas’ staatsgelenkte importsubstituierende Industrialisierung bevorzugte und dem Großbürgertum, das sich an den USA und wachsenden ausländischen Direktinvestitionen orientierte.59 Letztere Richtung wurde nach 1945 grob von der Partei UDN – einem eher rechtsgerichteten Sammelbecken von Vargas-Gegnern60– vertreten.61 Auch weite Teile der Armee, die durch das Brasilianische Expeditionskorps FEB62 und den Kalten Krieg63 beeinflusst waren, zeigten sich stark proamerikanisch und als Gegner der Verstaatlichung von Unternehmen. Nach Vargas, der sich gegen Ende seiner Amtszeit ganz in der Tradition seiner Politik der wechselnden Allianzen nicht mehr klar zu einer national orientierten Wirtschaft, aber auch nicht klar zum Imperialismus bekannte64, kam es unter der Präsidentschaft Kubitscheks nach dem Militärputsch 1954 zu einer weitergehenden Industrialisierung unter ande-
54
Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 30. Vgl. Heinz, Neue Demokratien, aaO. (FN 47), S. 126. 56 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 36. 57 Vgl. ebd., S. 43-44. 58 Ebd., S. 27. 59 Vgl. ebd., S. 35. 60 Vgl. ebd., S. 31-32. 61 Dieser Partei stand der Vargas-Block aus PTB (Arbeiterschaft; die PTB „never represented anything more than a populist movement without organic, political or programmatic engagements vis-à-vis the working class“ (Lowy, Michael, „The Long March of Brazil’s Labor Party”, in: Logos Frühling 2003, Onlineversion: http://www.logosjournal.com/lowy.htm, Stand: 16.01.2008) und PSD (Großgrundbesitzer) gegenüber, die den ‚getulism’ mit den national-geprägten Teilen der Bourgeoisie trugen (vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 31-33). 62 Vgl. Heinz, Neue Demokratien, aaO. (FN 47), S. 138. 63 Vgl. Calvert, Peter/ Milbank, Susan, The Ebb and Flow of Military Government in Latin America. Conflict Studies 198, London 1987, S. 11/Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 34. 64 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 34-35. 55
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rem durch die Förderung ausländischer Direktinvestitionen65, was die Großbourgeoisie beträchtlich stärkte und wiederum das Gleichgewicht des Kompromisses ins Wanken brachte. Und letztlich finden sich genau in diesen Vorkommnissen und Verhaltensweisen die Fehler des ‚Kompromisses’, die auch die Klassendynamik prägten: Der Opportunismus zur eigenen Machtkonsolidierung und zur Erzeugung künstlichen gesellschaftlichen Friedens, ließ keinerlei Dynamik zu und resultierte damit in ständigem Misstrauen. Die Tatsache, dass immer eine Klasse von einer anderen in Schach gehalten wird oder sie gegeneinander ausgespielt werden, verhindert die Ausbildung der Tradition einer politischen Kompromissfähigkeit. Gleichzeitig kam es zu keiner ausgeprägten, eigendynamischen Organisation der einzelnen Klassen und den dazugehörigen Antagonismen, die einen Klassenkampf möglich gemacht hätten. Zurück bleibt eine Gesellschaft, deren Konfliktlösungsmechanismen stark eingeschränkt sind und deren einziger Anhaltspunkt in Krisensituation das Militär ist. Könnte diese Rolle normalerweise eventuell ein Mittelstand mit starken politischen Institutionen erfüllen, so ist dies in Brasilien aufgrund des Fehlens dieser Institutionen fast nicht möglich. Der Mittelstand ist genauso ohne Konfliktlösungsmechanismen alleingelassen in einer Gesellschaft, in welcher der Politik und Parteien, die schlecht organisiert sind66, grundsätzlich misstraut wird.67 Einzig das brasilianische Militär bleibt als Vertreter eines institutionalisierten und extrem organisierten Mittelstandes: „the armed forces become one of the few important institutions controlled by the middle class“68 und „the recognition of their [armed forces] political power points up the weakness of civilian institutions“69. So entstand mit den Militärcoups schrittweise die zweifelhafte Tradition, dass „zivile Politiker für ihre politischen Ziele auch eine militärische Unterstützung (cobertura militar) benötigten“70. Die Kombination aus dem drohenden vollständigen Zusammenbruch des getulistischen Ausgleichs in Kombination mit der paranoiden Angst vor kommunistischen Strömungen kulminierte 1964 in einem Militärcoup: Die Inflation nahm unter Goulart so ungeheuere Ausmaße an71, dass eine beständige Erhöhung der Löhne der Arbeiterschaft nötig wurde, um deren Gunst nicht zu verlieren, was wiederum das Kleinbürgertum, deren Löhne nicht mit der Inflation schritt hielten, aufbrachte. Außerdem begann langsam ein echtes Klassenbewusstsein zu erwachen, und Arbeiter, deren Gewerkschaften, wie auch die Bauernschaft (unter Francisco Julião für eine Agrarreform) begannen sich unabhängig von staatlicher Kontrolle zu formieren.72 Die Linkswendung Goularts und die Forderungen von Arbeitern und Bauern ließen das Szenario einer kommunistischen Bedrohung73 wieder aufleben und vereinte die Bourgeoisie und die Mittelschichten, in ihrer Gegnerschaft gegen das Regime Goulart: “The success of the military coup had been assured by an alliance of 65
Vgl. Pernas, Jörg Sancho, Die importsubstituierende Industrialisierung in Brasilien seit der Ära Vargas, Onlineversion: http://tiss.zdv.uni-tuebingen.de/webroot/sp/spsba01_S99_1/paper3.htm, Stand: 16.01.2008. 66 Vgl. Heinz, Neue Demokratien ..., aaO. (FN 47), S. 124. 67 Siehe dazu Quartim, Dictatorship and Armed Struggle, aaO. (FN 7), S. 27 und Soares, Glaucio Ary Dillon, The Rise of the Brazilian Military Regime, in: Studies in Comparative International Development 21/2/1986, S. 45. 68 Nun, José, The Middle-Class Military Coup, in: Véliz, Claudio (Hrsg.), The Politics of Conformity in Latin America, London 1967, S. 76. 69 Calvert/Milbank, The Ebb and Flow, aaO. (FN 63), S. 11 70 Heinz, Neue Demokratien., aaO. (FN 47), S. 126. 71 Vgl. Soares, The Rise of the Brazilian, aaO. (FN 67), S. 37. 72 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 43-44. 73 Vgl. Soares, The Rise of the Brazilian, aaO. (FN 51), S. 51.
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the military command with politicians of the right and centre who used large sections of the urban middle classes and the petty bourgeoisie as their striking forces.” 74 Doch diesmal zeigte sich das Eigenleben des Militärs, das eben doch nicht gesetzlich oder institutionell an den gesellschaftlichen Willen gebunden war („the armed force (…) have tended historically to act on behalf of certain civilian sectors as well as for their own interests“75), und sie übergaben die erworbene politische Macht nicht an die zivile Bevölkerung, sondern an die eigene Bürokratie. Grundlage ihres Handelns bildete dabei unter anderem die Doktrin der Nationalen Sicherheit, zu deren wichtigsten Elementen Sicherheit (inklusive eines radikalen Antikommunismus) und wirtschaftliche Entwicklung zählten.76 Auch die Bourgeoisie und Mittelschichten hatten mit dem Militärcoup ihre Chance auf eine Veränderung der politischen Verhältnisse in einem national-demokratischen Rahmen endgültig aus der Hand gegeben: Die DNS wurde auch als Antwort auf neue Formen des Krieges, besonders den revolutionären Krieg, konzipiert, ein Begriff, der aus der damaligen französischen Militärdoktrin entstammt. In dieser Doktrin wurden nationale Befreiungskriege und kommunistische Aufstände zum sogenannten “revolutionären Krieg“ verschmolzen.77
Die hierdurch besiegelte leichtfertige und freiwillige Auf- und Abgabe der eigenen Gestaltungsmacht der Bourgeoisie und der Mittelschichten, rechtfertigte vielleicht das Misstrauen der Guerillabewegung in das revolutionäre Potential der Bourgeoisie, lässt jedoch gleichzeitig unter den schlechten Bedingungen für jegliche Klassenorganisation und der folgenden Repression das Vertrauen in das eigene revolutionäre Potential paradox erscheinen.
4.2 Repression und Nationale Sicherheit Der Weg in die Repression war geprägt von der endgültigen Zerschlagung der jungen Knospen einer Klassenorganisation, der Erkenntnis des Mittelstandes und des Kleinbürgertums, dass das Militär die Macht nicht mehr abgeben würde und dem Anwachsen parastaatlicher Gewalt, die dem Regime eine kaum zu bewältigende Unberechenbarkeit verlieh. Die erste Phase der Militärdiktatur bis 1967 war noch geprägt von der Unentschlossenheit des Militärs, wie im weiteren vorzugehen sei. Mit der Präsidentschaft Costa e Silvas setzte sich jedoch die harte Linie (linha dura) durch: Ein neues staatliches System unter einer langfristigen Militärherrschaft.78 Und so wurde mit dem Fünften Institutionsakt auch der Kongress suspendiert, der bis dahin in einer Scheindemokratie aufrechterhalten worden war. Die Bürgerrechte wurden aufgehoben und die extrem repressive Phase der Militärdiktatur eingeleitet.79 Alex Schmids Definition der Repression im Gegensatz zur Oppression bezieht sich auf seinen Begriff der violent politics, in der es zu „unverblümte[r], nackte[r] Gewalt-
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Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 50. Calvert/Milbank, The Ebb and Flow, aaO. (FN 63), S. 9. 76 Vgl. Heinz, Neue Demokratien, aaO. (FN 47), S. 137. 77 Ebd., S. 140. 78 Vgl. Kohl, James/Litt, John, Introductory Essay [Brasilien], in: Dies. (Hrsg.), Urban Guerrilla Warfare in Latin America, Cambridge, MA/London 1974, S. 43. 79 Vgl. Lamberg, Die castristische Guerilla, aaO. (FN 26), S. 157. 75
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ausübung von Seiten der Herrschenden, ohne Rücksicht auf gesetzliche Schranken“80 kommt. Spätestens ab 1968 muss man folglich von Repression sprechen, während man, zumindest solange das Parlament beziehungsweise die letzten Reste einer legalen Opposition existierten, eventuell noch von Oppression sprechen könnte. Dem Staatsterror81 Tür und Tor öffnete die Entstehung des Nachrichtendienstes SNI (Serviço de Segurança Nacional) 196482, der verstärkte Ausbau der Sicherheitsdienste und Veränderungen in der Gesetzgebung ab 196883 und die Entwicklung kaum kontrollierbarer parastaatlicher Organisationen besonders ab 1969. Letztere teilten sich in eigenständige, ohne gesetzliche Grundlage agierende Gruppierungen, gesetzlich abgesicherte Organisationen, Todesschwadronen und rechtsextremistische Untergrundorganisationen.84 Der SNI war dabei ein Auswuchs der Doktrin der Nationalen Sicherheit – ein Konzept in dem es keinen Platz gab „für Konflikte oder divergierende Meinungen“85: Die Rolle des Volkes, bzw. des „Proletariats“, wird bei dieser Darstellung des Kommunismus nicht weiter problematisiert. Es erscheint als eine Größe, über welche die politischen Akteure beliebig verfügen können. Im Gesamtkonzept der nationalen Sicherheit tritt die Behebung materieller Notstände ohnehin hinter dem Kampf gegen die Subversion zurück. (…) Die beschriebene Perzeption von Kommunismus und Subversion führte in der Praxis dazu, dass die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, Subversion und Kritik an der Regierung, der Guerilla und politischer Opposition, dem Terrorismus und „Abweichlertum“ verschwammen.86
Durch umfassende Befugnisse entwickelte sich der SNI zu einer Parallelgewalt zur Regierung.87 Den Umfang des Staatsterrors und der Repression macht German sehr deutlich: Während Inhaftierungen und Folterungen des Regimes in die Zehntausende gingen, sind zwischen 1965 und 1974 dem gegenüber 98 Opfer des Linksterrorismus namentlich bekannt.88 Tatsächlich gab es kurz nach Entstehung der Stadtguerillabewegung unabhängige Versuche verschiedener Bewegungen, dem Regime entgegenzutreten, darunter eine Streikwelle zwischen 1967 und 1968, die in einem Generalstreik in Osasco, einem Vorort von São Paulo, ihren Höhepunkt fand.89 Jedoch zeigte sich sehr schnell die mangelnde organisatorische Tradition und Kampferfahrung der Arbeiter, und der Streik blieb punktuell: „The workers followed the most radical slogans (…) but were easily routed when the dictatorship 80
Waldmann, Peter, „Staatliche und parastaatliche Gewalt: Ein vernachlässigtes Forschungsthema”, in: Tobler, Hans Werner/ Waldmann, Peter (Hrsg.), Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, Frankfurt a.M. 1991, S. 32. Hier Kommentar zu: Schmid, Alex P., Research on Gross Human Rights Violations, Leiden 19892, S. 14. 81 Siehe dazu Waldmann, Staatliche und parastaatliche Gewalt, aaO. (FN 80), S. 32-34. 82 Vgl. German, Christiano, Brasilien: Militärherrschaft und Nachrichtendienste (1964-1985), in: Tobler, Hans Werner/Waldmann, Peter (Hrsg.), Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, Frankfurt a.M. 1991, S. 108. 83 Vgl. ebd., S. 113. 84 Vgl. ebd., S. 114-115. 85 Vgl. Werz, Nikolaus, Die ideologischen Wurzeln der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ in Lateinamerika, in: Tobler, Hans Werner/ Waldmann, Peter (Hrsg.), Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, Frankfurt a.M. 1991, S. 179. 86 German, Brasilien: Militärherrschaft und Nachrichtendienste, aaO. (FN 82), S. 107-108. 87 Vgl. ebd., S. 116. 88 Vgl. ebd., S. 118. 89 Vgl. Alves, Zerschlagt die Wohlstandsinseln, aaO. (FN 28), S. 17.
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responded with the full weight of its repressive apparatus.“90 So wurden Massenbewegungen im Keim erstickt, noch bevor sich die Stadtguerilla, deren Beginn sich auf Ende 1967 datieren lässt, richtig entfalten konnte.91 Auch weite Teile des Kleinbürgertums und der Mittelschicht, die keine weitere Militarisierung des Regimes und eine Rückgabe der Regierung in zivile Hände wünschten, wurden durch die Elimination ihrer traditionellen Parteien zum Schweigen gebracht und ihre Organisation zerschlagen.92 Auch Stepan registriert die plötzliche Opposition der Mittelschicht und petty bourgeoisie, die den Militärcoup aktiv unterstützt hatte. Er erklärt diesen Sachverhalt folgendermaßen: A strong military regime that does not respect traditional civil liberties and rules of the game of politics will be perceived as most threatening to those who have enjoyed some of the fruits of the old system (i.e., the middle and upper classes). The lower classes, precisely because they are excluded from the political game of democracy will tend to be more tolerant of the antipolitical ‘clean out the thieves’ posture of the military.93
Man muss sich also fragen, inwiefern die Analyse Marighellas, was das revolutionäre Potential der Klassen betrifft, nicht zu blauäugig, ungenau und radikal war. Zweifelsohne boten sich nur noch begrenzte Möglichkeiten des Widerstands, zweifelsohne brauchte die Bevölkerung schnelle Anzeichen von Erfolg, die eine ländliche Guerilla nicht in diesem Maße hätte bieten können wie die Stadtguerilla. Aber man bedenke, dass die Ziele der Guerillabewegung ähnlich gesteckt waren, wie die des Militärregimes – nämlich kompromisslos. Ein Rückfall in die Situation vor 1964 kam nicht in Frage94 – es wurde nicht mehr und nicht weniger erwartet als ein revolutionärer, neuer Staat. Insofern war eine Zusammenarbeit mit der national-gesinnten Bourgeoisie tatsächlich nicht möglich, die noch immer von republikanischen Idealen träumte (die ohne Zweifel zuvor in jeglicher Hinsicht gescheitert waren). Die radikale Ablehnung einer solchen Kooperation ist jedoch etwas, was man sich in Zeiten der Repression wohl nicht erlauben kann. Es scheint, als wäre die Guerillabewegung außerdem von einem zu starren Klassenkonzept ausgegangen, das nicht mit einberechnete, dass die Übergänge von ihrer Rekrutierungsbasis – den Studenten (nicht genau einer Klasse oder Schicht zuzuordnen) und der Mittelschicht – zur Bourgeoisie, beispielsweise zu den Kleinunternehmern, fließend waren. Ganz zu schweigen davon, dass der mangelnde Organisationsgrad aller Klassen ein Klassendenken relativ überflüssig machte.
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Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 107. Vgl. Kohl/ Litt, Introductory Essay [Brasilien], aaO. (FN 78), S. 48-49. 92 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 59. 93 Stepan, The Military in Politics, aaO. (FN 46), S. 47. 94 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 59. 91
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Stephanie Rübenach Die brasilianische Stadtguerilla: Konglomerat terroristischer Aktionen?
5.1 Überblick: Organisation und Ideologie Das konstitutive Merkmal der Stadtguerillabewegung ist, dass es lange eine Vielzahl von Aktionseinheiten gab, aber keine einheitliche Führung. So bemerkte die ALN (Ação Libertadora Nacional), die Gruppierung um Marighella: „Zur Stunde ist das Hauptproblem die Zersplitterung der revolutionären Organisationen, von denen jede um die Führung kämpft. (…) Die Auswahl unter den Organisationen hat begonnen, entscheidend ist die Fähigkeit zur Aktion.“95 Es wird sich zeigen, wie sich diese Zersplitterung manifestierte. Als wichtigste Organisationen kristallisierten sich Marighellas ALN und die VPR (Vanguardia Popular Revolucionaria) heraus.96 Allerdings stellten diese Organisationen keine einheitlichen Gebilde dar: Besonders die ALN setzte sich aufgrund von Marighellas Besessenheit in Bezug auf Dezentralisierung aus relativ unabhängigen Kommandoeinheiten zusammen, die eigenständig Initiative zeigen mussten. Die Erfahrung der hochzentralisierten und daher immobilen kommunistischen Partei hatte ihn stark geprägt.97 Die VPR hingegen sprach sich für eine „tactical autonomy, strategic centralism“–Idee aus.98 Wie sich die Organisation in der jeweiligen Gruppierung jedoch genau ausgestaltete bleibt unklar. Beide Organisationen, besonders jedoch die VPR, waren alles andere als statische Gebilde und homogene Einheiten. Die ALN entstand Ende 1967, nachdem Carlos Marighella sich von der PCB losgesagt99 und sich in São Paulo, wo er Landesvorsitzender war100, mit weiteren militanten Anhängern des bewaffneten Kampfes zusammengeschlossen hatte.101 Der Bruch Marighellas mit der kommunistischen Partei hatte sich mit seiner unerlaubten Anwesenheit bei der OLAS vollzogen, und so unterhielt diese Gruppierung zumindest offiziell gute Beziehungen zur kubanischen Linie – ohne dabei jedoch den foquismo unkritisch zu übernehmen. Man bekannte sich jedoch zur OLAS (kontinentaler Aspekt) und den 20 Punkten ihrer allgemeinen Erklärung102. Umgekehrt, behauptet Radio Free Europe, hätte auch die ALN „moral and publicity support from the Cuban regime“103 erhalten. Der Anspruch eine ländliche Guerilla aufbauen zu wollen, und die Überzeugung, dass nur diese den Sieg erringen könnte, hat wohl zu diesem relativ guten Verhältnis beigetragen – obwohl die Praxis der städtischen Guerillakriegsführung anders aussah. Dies spricht aber auch für die Fähigkeit der ALN, unterschiedliche (radikale) Richtungen in ihre Bewegung zu integrieren: „the
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ALN, Die Rolle der revolutionären Aktion beim Aufbau der revolutionären Organisation, in: Focus und Freiraum: Debray, Brasilien, Linke in den Metropolen, Berlin 1970, S. 115. Vgl. Train, Brian, Urban Guerrillas in Brazil, Teil des MIT Western Hemisphere Project, Online: http://web.mit.edu/hemisphere/events/mnm03-1m/brazil-train.shtml, Stand: 16.01.2008. 97 Vgl. Kohl/ Litt, Introductory Essay [Brasilien], aaO. (FN 78), S. 48. 98 Vgl. ebd. 99 Siehe dazu Marighella, Brief an das Exekutivkomittee, aaO. (FN 29), S. 86-93. 100 Vgl. Detrez, Conrad, Carlos Marighella in der Nachfolge Che Guevaras, in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 28. 101 Vgl. Kohl, James/ Litt, John, Urban Guerrilla Organizations, in: Dies. (Hrsg.), Urban Guerrilla Warfare in Latin America, Cambridge, MA/ London 1974, S. 167. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 211. 102 Vgl. Detrez, Carlos Marighella in der Nachfolge, aaO. (FN 100), S. 29. 103 Radio Free Europe Research, Brazil’s Urban Guerrilla in Theory and Practice, 16. Juni 1970, S. 3. 96
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ALN has been better able than others to combine a correct line on the absorption of small independent revolutionary groups with a correct line on alliances.“104 Die VPR hingegen war deutlich weniger homogen hinsichtlich ihrer Entstehung und ihres Bestehens: 1967 spaltete sich die Arbeiterpartei Polìtica Operária (POLOP) nach Auseinandersetzungen über die Frage des bewaffneten Kampfes. Der radikale Splitter in São Paulo wurde zur „POLOP Opposition“, während der radikale Splitter in Minas Gerais mit Mitgliedern aus Rio de Janeiro sich COLINA (Comando da Libertaçao Nacional) nannte. POLOP Opposition wiederum nahm Mitglieder der MNR auf, die sich hauptsächlich aus ehemaligem Militärpersonal zusammensetzte, und wurde später zur VPR.105 Ein interner Streit 1968 zwischen Leninisten (für eine nationale Organisation zur Koordination des Volkskampfes) und Militaristen, der während des Erlasses des Fünften Institutionsaktes zugunsten der Militaristen eskalierte, führte zur Eliminierung der leninistischen Elemente. Die im Folgenden militaristischen Tendenzen der VPR beschreibt Quartim folgendermaßen: „(1) rejection of systematic work in the mass movement; (...) (3) tendency towards reducing organizational structure to armed groups alone; (4) adoption of the foco theory as presented in Revolution in the Revolution?“106. Diese Problematik rührt aus einem allgemeinen Problem der Stadtguerillabewegung. Wie der Terrorismus ist ihre Vorgehensweise nicht darauf ausgerichtet viele Mitglieder zu integrieren. Über den Terrorismus sagt Waldmann beispielsweise, „dass die Untergrundorganisationen vom Umfang her begrenzt bleiben müssen und sich nicht zu Massenverbänden auswachsen dürfen.“ 107 So muss auch die Stadtguerilla vollständig in der Stadt, die für Entdeckung und Verrat viel anfälliger ist als Wald oder Berge, untertauchen können und entsprechend ausgebildet sein: Daher können sie einen Zulauf der Massen kaum gefahrlos integrieren. Sie können ihn jedoch auch schlecht ignorieren, da sie nach deren Unterstützung streben.108 Das heißt natürlich auch, dass die beiden Größen ‚Stadt’ und ‚Guerilla’, von denen letztere auf die Unterstützung des Volkes unbedingt angewiesen ist – einander eigentlich ausschließen. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich alle Organisationen der Stadtguerilla. Auch Kohl und Litt betonen diesen Sachverhalt. Denn als sich kurz darauf die VPR mit COLINA zu VAR-Palmares zusammenschloss und wieder ein Streit darüber entflammte, ob die bewaffneten Gruppierungen sich später in proletarische Parteien verwandeln würden (Ansicht der COLINA)109, merken Kohl und Litt hierzu an: „The fusion of these groups was, however, unstable; strategic differences soon emerged and the VAR split into a new VAR-Palmares and a new VPR. Essentially proponents of the armed line regrouped in the VPR, and proponents of the mass line into the VAR.“110 So findet der Streit, den Kohl und Litt als den zwischen 'armed line' und 'mass line' bezeichnen111, der bereits zur Abspaltung vieler Stadtguerillabewegungen von ihren Parteien geführt hatte, sich innerhalb der Guerillagruppierungen wieder. 104
Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 192. Vgl. ebd., S. 182; S. 212-214. 106 Ebd., S. 182-183. 107 Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, München 2001, S. 61-62. 108 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 182-183. 109 Vgl. ebd., S. 190. 110 Kohl/ Litt, Introductory Essay [Brasilien], aaO. (FN 78), S. 48. 111 Vgl. Kohl, James/ Litt, John, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Urban Guerrilla Warfare in Latin America, Cambridge, MA/ London 1974, S. 15 und S. 19. 105
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Viel genauer als anhand dieser Polarisierung lassen sich die Ideologien der Gruppierungen nicht bestimmen. Die Einigung auf Marighellas eher praktisches Handbuch und die vage Idee einer sozialistischen Revolution bilden die gemeinsame „ideologische“ Grundlage. Hinzu kommt die Überzeugung, dass der foquismo in Brasilien nicht durchgeführt werden kann, aber der bewaffnete Kampf in den Städten unumgänglich ist, um gegen Militärdiktatur und Imperialismus zu kämpfen. Dieser Kampf an zwei Fronten wurzelt in der Ansicht, dass das Militär und besonders das Großbürgertum den USA erst vollständig die ökonomische Tür geöffnet hätten und das Überleben der Diktatur von der imperialistischen Unterstützung abhängt. Natürlich lassen sich jedoch die Wurzeln der ausländisch finanzierten Industrialisierung bereits auf den späten Vargas und Kubitschek zurückverfolgen. Interessanterweise findet sich meist keine klare Stellungnahme, welchem Endziel Priorität zuzuweisen ist: Der Kampf gegen Diktatur und Imperialismus werden entweder gleichwertig und von einander abhängig behandelt112 oder der Imperialismus wird mehrfach gar als „principal enemy“ bezeichnet.113 Das Endziel eines sozialistischen Systems als Ablösung der Feindbilder ist allerdings klar nachgeordnet und hat eher den Charakter einer Gegebenheit die von sich aus passiert, jedoch nicht vorangetrieben wird, wie ein Interview mit (durch die Entführung des deutschen Botschafters von Holleben) freigepressten Mitgliedern der ALN, VPR und MR-8 8 (Movimento Revolucionario do Outubro 8) deutlich macht: Dobor [VPR]: (…) We in the VPR do have a general program, which is the same as that of Marighella's group, the ALN. First we are fighting for the freedom of the Brazilian people. We want to abolish the dictatorship (...) Second, we are fighting for independence. (…) Third, (…) We are fighting for political, economic, and social justice. (…) Gabeira [MR-8]: We all think [Hervorhebung des Verf.] that the revolution will be socialist (…).114
Trotz dieser sehr allgemein gehaltenen Ideologie wurde der Plan einer gemeinsamen Front nicht endgültig erreicht. Die Fusionen und die Zusammenarbeit in einzelnen Aktionen wie diejenige der ALN und MR-8 bei der Entführung des amerikanischen Botschafters Elbrick115 oder der VPR, der ALN und des Kommandos Juarez Guimarães de Brito116 bei der Entführung von Hollebens117 waren kurzfristiger Natur oder führten zumindest nicht zu weitergehenden Fusionen. Erst im Juli 1970 versuchten ALN, MR-8118, VPR und MRT (Movimento Revolucionario Tiradentes, die bewaffnete Gruppierung des Roten Flügels der 112
Vgl. Truskier, Andy im Interview mit Dobor, Ladislaw, Fleury, Carlos Eduardo und Gabeira, Fernando Nagle, The Politics of Violence: The Urban Guerrilla in Brazil, in: Kohl, James/ Litt, John (Hrsg.), Urban Guerrilla Warfare in Latin America, Cambridge, MA/London 1974, S. 145. Marighella, Carlos, „Problems and Principles of Strategy“, in: Dies. (Hrsg.), Urban Guerrilla Warfare in Latin America, Cambridge, MA/London 1974, S. 82. 113 Marighella, Problems and Principles of Strategy, aaO. (FN 112), S. 82. Vgl. ALN, Die Rolle der revolutionären Aktion, aaO. (FN 95), S. 113. 114 Truskier im Interview mit Dobor, Fleury, Gabeira, Politics of Violence, aaO. (FN 112), S. 145. 115 Vgl. ALN/ MR-8, Aufruf nach Entführung des amerikanischen Botschafters Elbrick (4. September 1969)”, in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 110. 116 Welches laut Kohl und Litt der ALN zuzuordnen ist. Vgl. dazu Kohl, James/Litt, John, Chronology, in: Dies. (Eds.), Urban Guerrilla Warfare in Latin America, Cambridge, MA/London 1974, S. 69. 117 Vgl. Kommando Juarez Guimarães de Brito/VPR/ALN, „Aufruf nach Entführung des deutschen Botschafters von Holleben (14. Juni 1970)”, in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 117. 118 Diese hatten ihren Kampf mit einem traditionellen ländlichen foco begonnen, der jedoch vernichtend geschlagen wurde und ein Weiteres zur Opposition gegen den foquismo beitrug (vgl. Kohl/ Litt, Urban Guerrilla Organizations, aaO. (FN 101), S. 167).
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maoistischen PCdoB Partei119), eine United Front in die Tat umzusetzen, zu der dann schließlich noch die PCBR (Partido Communista Brasileiro Revolucionario, die sich mit Marighella von der PCB getrennt hatten, aber erst später in den bewaffneten Kampf eingestiegen sind120) stieß. Jedoch begannen zu dieser Zeit auch die radikal repressiven Aktionen von Seiten der Regierung und der Tod des ALN-Führers Ferreira im Oktober nahm der Front die Stoßkraft.121
5.2 Ziel der Gewalt und Vorgehensweise Trotz der ‚vereinten Front’ ist es mehr als offensichtlich, dass man nicht von einer homogenen Stadtguerilla sprechen kann, sondern viel eher von einem Aktionskonglomerat. Dennoch lassen die wenig variantenreichen ‚Grundüberzeugungen’ zu, die Vorgehensweise der Stadtguerilla als Ganzes zu betrachten. Geprüft wird im Folgenden die Übereinstimmung der brasilianischen Stadtguerilla mit den zwei stark verflochtenen Kriterien zur Klassifikation von Guerillakampf und Terrorismus: Ziel der Gewalt und Vorgehensweise. Bei der Untersuchung des Ziels der Gewalt geht es darum zu bestimmen, wer die Opfer der Stadtguerilla waren, aus welchem Grund sie ausgewählt wurden, ob sie das Ziel der Botschaft waren, die die Aktion vermitteln wollte, und was von der Gegenreaktion erwartet wird. Die Frage, ob Non-Kombattanten bei der Opferwahl der Stadtguerilla eine Rolle spielten, hängt davon ab, wie der Begriff des ‚Kombattanten’ definiert wird: Normalerweise spricht man bei Kombattanten von einer zu Kriegshandlungen berechtigten Armee, die zumeist eine Regierung vertritt. Am Beispiel Nordirlands kann man jedoch beobachten, dass eine systematische Ausweitung des Begriffes auf die Sicherheitskräfte, also beispielsweise die Polizei, vorgenommen wurde.122 Tatsächlich lässt sich jedoch bei der brasilianischen Stadtguerilla feststellen, dass die Zielsetzung beim städtischen Kampf sich durchaus nicht auf Angehörige der Armee oder der Polizei beschränkte. Vielmehr folgte die Auswahl der Opfer dem Muster einer terroristischen Organisation, vielfach besonders einer sozialrevolutionären: Die Aktionen hatten meist einen stark symbolischen Wert und selbst die Material- oder Geldbeschaffung zählte als ‚Enteignung’.123 So schreibt Marighella: „Die kleineren Enteignungen dienen der individuellen Unterhaltung des Stadtguerillero, die großer [sic!] der Unterhaltung der Revolution.“124 Ein gutes Beispiel einer solchen Enteignung ist der Banküberfall: Die Bank stellt als Vertreter des Kapitalismus ein unbedingtes Ziel und Symbol dar und bringt gleichzeitig eine gute Ausbeute. Damit wurde er zur populärsten Art des Überfalls.125 Um dieses doppelte Ziel zu verdeutlichen, sollen bereits während des Überfalls Flugblätter verteilt wer-
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Vgl. Kohl/Litt, Urban Guerrilla Organizations, aaO. (FN 101), S. 167. Vgl. ebd., S. 168. Vgl. Kohl/Litt, Chronology, aaO. (FN 116), S. 68-69. Es versteht sich, dass hier nicht alle Gruppierungen aufgelistet wurden. Für eine ausführlichen Aufliste findet sich bei Quartim und Kohl/ Litt. 122 Vgl. Münkler, Guerillakrieg und Terrorismus, aaO. (FN 18), S. 311-312. 123 Vgl. Marighella, Handbuch des Stadtguerillero, aaO. (FN 4), S. 14. 124 Ebd., Fehler im Original. 125 Vgl. ebd., S. 31. 120 121
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den, die den Sinn der Enteignung darlegen, um sich von Kriminellen, den marginales, abzugrenzen.126 Auch den zahlreichen spektakulären Entführungsaktionen ist eine symbolische Intention zu unterstellen (abgesehen von dem Ziel des Gefangenenaustauschs127). Die Entführungen des angeblichen CIA-Spions Charles Chandlers (der von der VPR in der Folge ermordet wurde128), des US-Botschafters Elbrick, des japanischen Konsuls Okuchi oder des deutschen Botschafters von Holleben hatten sicherlich keinen strategischen Wert, um das Militärregime oder die jeweiligen ‚imperialistischen’ Mächte direkt zu schwächen. Pragmatisch-zynisch interpretiert hätte das jeweilige Land den Verlust eines Botschafters leicht ausgleichen können, aber die Aktionen hatten symbolischen Wert für den Kampf gegen den Imperialismus. So spricht die ALN wortwörtlich davon, in der Stadt einen „psychologischen Krieg“129 begonnen zu haben130, auch die Begriffe Terrorismus und Terror für die städtischen Aktivitäten werden von den Beteiligten selbst benutzt131 („Gewalt, Radikalismus, Terror (die einzigen Waffen gegen die abscheuliche Diktatur)“132). Und tatsächlich berechnet Marighella in terroristischer Tradition mit ein, dass sich der Staat durch immer heftiger werdende Gegenreaktionen als das entlarvt „was er ist, als repressive Institution“133, die der Militarisierung der Situation Vorschub leistet und wiederum die Unterstützung des Volkes („all the strata of society“134!) für die Stadtguerilla vermehrt: Für die Regierung gibt es keine andere Wahl als ihre Unterdrückungsmaßnahmen zu verstärken (…) Die Militärdiktatur beginnt eine massive politische Verfolgung. (…) Das Volk weigert sich mit den Behörden zu kollaborieren, und es entsteht ein allgemeines Gefühl der Empörung über die Ungerechtigkeit der Regierung und ihre Unfähigkeit, den Schwierigkeiten nicht mit anderen Mitteln beikommen zu können als dadurch, ihre Opponenten physisch zu liquidieren. Die politische Situation verwandelt sich in eine militärische.135
Die Frage ist allerdings, wie weit der psychologische Krieg tatsächlich ging: Welche Rolle spielten die Zivilisten? Terroristen gehen im Gegensatz zur Guerilla gewöhnlich davon aus, dass die Beliebigkeit ihrer Aktionen, die auch jeder Zeit Zivilisten treffen kann, solche Panik verbreitet, dass der Staat das Volk, die alle potentielle Terroristen sind, mit einer Unterdrückungskampagne überzieht. Die Haltung der Stadtguerilla zur Rolle der Zivilisten im Kampf stellt sich ambivalent dar: Wie jede Gruppierung streben sie selbstverständlich deren Unterstützung an und tatsächlich sprechen Erklärungen oder Interviews die typische 126
Vgl. ebd., S. 32. Außerdem Rammstedt, Otthein, Stadtguerilla und soziale Bewegung, in: Niezing, Johan (Hrsg.), Urban Guerilla. Studies on the theory, strategy and practice of political violence in modern societies, Rotterdam 1974, S. 46. 127 Vgl. Marighella, Handbuch des Stadtguerillero, aaO. (FN 4), S. 37. 128 Vgl. Kohl/ Litt, Chronology, aaO. (FN 116), S. 65. 129 Wobei dieser Begriff für die Stadtguerilla auch eine andere Bedeutung als ‚Terrorismus’ haben kann – nämlich die Regierung durch Massenkommunikationsmittel oder mündliche Nachrichten zu demoralisieren (vgl. Marighella, Handbuch des Stadtguerillero, S. 40). Doch allein die Terminologie spricht für ein am Terrorismus orientiertes Denkmuster. 130 Vgl. ALN, Die Rolle der revolutionären Aktion, aaO. (FN 95), S. 109. 131 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 169. 132 ALN, Die Rolle der revolutionären Aktion, aaO. (FN 95), S. 111. 133 Rammstedt, Stadtguerilla und soziale Bewegung, aaO. (FN 126), S. 49. Dies ist natürlich in einem ohnehin repressiven Staat völlig paradox. 134 Marighella, Problems and Principles of Strategy, aaO. (FN 112), S. 82. 135 Marighella, Handbuch des Stadtguerillero, aaO. (FN 4), S. 46.
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Sprache einer Guerillagruppierung, nämlich dass Zivilisten zu schonen seien und sie den Sinn der Gewalt verstehen müssen.136 Doch selbst wenn diese Idee konsequent befolgt worden wäre, wäre deren Durchführung aus drei Gründen nahezu unmöglich gewesen – hier wird erneut die Kluft zwischen Anspruch und Idealfall einerseits und Realität und Praxis andererseits deutlich: Erstens ist eine Stadt, vor allem von den Ausmaßen von Rio de Janeiro, São Paulo oder Belo Horizonte (die Haupteinsatzorte), viel zu dicht bevölkert, um die Zivilbevölkerung konsequent vor Unfällen schützen zu können. Zweitens haben beispielsweise Banken die Eigenschaft, Non-Kombattanten im Kundenservice zu beschäftigen, die als Angestellte typische Vertreter des Mittelstandes sind. Das heißt, auch wenn diese von den Stadtguerilla-Bankräubern explizit geschont wurden137, wurden sie dennoch von der Guerilla einer Bedrohungssituation ausgesetzt, in der sie nicht einschätzen konnten, ob ihr Leben in Gefahr war oder nicht. Drittens sind gerade Bombenanschläge so unberechenbar in ihrer Detonation, dass man zivile Opfer mit einberechnen muss. Steve Bruce schrieb einmal über die IRA: „(…) I am in no position to know to what extent those killings are (...) ’unintentional’, but I do know enough about the effects of high explosives to know that no group which had a high regard for human life would use it.”138 Entsprechend antwortete auch VPR-Mitglied Dobor im Interview auf die Frage, ob sie Bomben benützten: “No. We do not use forms of violence that can be twisted by the government. (…) They would put a few bombs in a movie-house on Saturday afternoon, when it is full of children. And then we would hove the entire population running after us in the streets.”139 Seltsam nur, dass gerade die VPR kein unbeschriebenes Blatt ist, was Bombenanschläge betrifft: So verübte der VPR-Vorgänger POLOP Opposition im Oktober 1968 einen Anschlag auf die amerikanische Supermarkt-Kette Sears Roebuck. Abgesehen von der Tatsache, dass ein solcher Anschlag auf jeden Fall die Möglichkeit ziviler Opfer miteinberechnet, stellt Quartim fest: “Sears, like all the big stores, sells its goods cheaper than the small shops. Closing it down for a few days meant upsetting the local housewives, without ever explaining to them the political meaning of the action.”140 Weitere Bombenanschläge der VPR umfassten außerdem das US-Konsulat, einen Anschlag auf die Redaktion der konservativen Zeitung O Estado do São Paulo oder auch den Stützpunkt der Zweiten Armee in Ibirapuera.141 Desweiteren waren sie für einige Brandanschläge auf Unternehmen und Büros verantwortlich.142 So lässt sich festhalten, dass zwar das absichtliche, beliebige Töten von Zivilisten nicht Teil der Strategie der Stadtguerilla war, sie aber als ‘Kollateralschäden’, besonders von der VPR, ohne weiteres in Kauf genommen wurden. Es liegt der Schluss nahe, dass es sich bei der Stadtguerilla tatsächlich primär um eine Kommunikationsstrategie handelte, die auf schnelle taktische Erfolge zielte. Und obwohl immer wieder betont wurde, dass es sich lediglich um eine Vorstufe zum ländlichen Guerillakampf handelt, für den eine städtische Infrastruktur gebildet wird, fanden sich in der losen Organisation und der absoluten Beweglichkeit (die auch auf Unberechenbarkeit und damit 136
Vgl. Truskier im Interview mit Dobor, Fleury, Gabeira, Politics of Violence, aaO. (FN 112), S. 138-140. Vgl. ebd., S. 138. Lamarca, Carlos im Interview, Interview mit Carlos Lamarca, in: Detrez, Conrad (Hrsg.), Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 114. 138 Bruce, Steve, Victim Selection in Ethnic Conflict: Motives and Attitudes in Irish Republicanism, in: Terrorism and Political Violence 9/ 1997, S. 61. 139 Truskier im Interview mit Dobor; Fleury, Gabeira, Politics of Violence, aaO. (FN 112), S. 140. 140 Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 170. 141 Vgl. Radio Free Europe Research, aaO. (FN 103), S. 4./Kohl/Litt, Chronology, aaO. (FN 116), S. 64-65. 142 Vgl. ebd. 137
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Terrorismus hinausläuft) nur wenige Elemente, die auf eine Armeestruktur hätten Fingerzeig sein können. Wirft man einen Blick auf die Ziele der Stadtguerilla, fällt außerdem schnell auf, dass Aktivitäten gegen imperialistische Ziele oder Enteignungen weit häufiger waren als Angriffe auf das Militär oder die Diktatur selbst. Hält man sich die Grundlage der Militärdiktatur vor Augen – die Doktrin der Nationalen Sicherheit mit ihren beiden Säulen Sicherheit und Entwicklung – so konzentrierte sich die Guerilla in den Städten hauptsächlich auf die Störung der zweiten Säule. Es sei nur angemerkt, dass dies jedoch auch die Säule war, die den durchschnittlichen Brasilianer wohl weniger in seinem alltäglichen Leben einschränkte. Das wurde jedoch von der Guerilla, deren Konsensfähigkeit entsprechend des getulistischen Erbes verkümmert ausgefallen ist, in ihrer radikal antiimperialistischen Position kaum wahrgenommen.
5.3 Verankerung in der Bevölkerung Dies führt zur Überprüfung einer letzten Variable – die sehr hilfreich wäre, das Phänomen der brasilianischen Stadtguerilla zu klassifizieren: Der Grad der Verankerung in der Bevölkerung. Leider ist dies auch die Variable, die am schwersten messbar ist. Wie sollte man feststellen, ob Unterstützung freiwillig oder erzwungen ist? Wie könnte man graduelle Abstufungen der Unterstützung ermitteln? Alles in allem handelt es sich um eine sehr schwammige Größe – weshalb an dieser Stelle lediglich ein paar Gedanken zu Dynamiken präsentiert werden, die Einfluss haben könnten auf die Unterstützung der Bevölkerung. Die Tatsache, dass zivile Opfer nicht ausgeschlossen werden können und sie durch den Kampf der Stadtguerilla weitere Nachteile durch Zerstörung oder Repression erleiden, spricht dafür, dass sich die Unterstützung der Bevölkerung prinzipiell in Grenzen halten dürfte. Bekräftigt wird diese Annahme bis zu einem gewissen Grad von Marighella selbst: „In the process of unleashing the urban guerrilla, the forms of struggle that we employ are not those of mass struggle, but those of small armed groups supplied with firepower (...) the masses (...) will look upon the urban guerrillas with sympathy and lend them their support.“143 Marighella geht folglich nicht davon aus, dass der städtische Kampf tatsächlich zum Volkskampf werden könnte und die Bevölkerung zu einer active audience wird. Er glaubt vielmehr, dass sich hier sympathetic audience, also die passive Unterstützung, herausbildet, auf deren Grundlage im Folgenden der ländliche Guerillakampf ausgelöst werden kann. Allein diese Einschätzung dürfte jedoch bereits zu optimistisch sein. Prinzipiell geht zumindest die ALN davon aus, die angesprochene Problematik, dass die Massen gar nicht in die Stadtguerilla integriert werden könnten, dadurch lösen zu können, dass man die Entwicklung einer parallelen Massenbewegung stimuliert, wie etwa die Studentenbewegung oder Generalstreiks. So teilt das Pamphlet der ALN „Probleme der Organisation“ die revolutionäre Bewegung auch in drei getrennte Fronten auf: die städtische Massenfront, das städtische Unterstützungsnetz, die städtische Guerillafront.144 Dieses Konzept der ALN übersieht allerdings, dass die parallele Massenbewegung mit dem Streik von Osasco oder der Studentenbewegung bereits ihren Höhepunkt erreicht hatte, als die 143
Marighella, Problems and Principles of Strategy, aaO. (FN 112), S. 84. ALN, Probleme der Organisation, in: Focus und Freiraum: Debray, Brasilien, Linke in den Metropolen, Berlin 1970, S. 117-118.
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Stadtguerillabewegung sich zu organisieren begann und dass diese bereits durch massive Repression wieder zerschlagen war, als sich wiederum die Stadtguerilla auf ihrem kurzen Höhepunkt befand. Als die Studenten im Juli 1968 die Philosophische Fakultät von São Paulo besetzten und kurz darauf eine Welle verstärkter Repression einsetzte und Todesschwadronen auszogen, waren es noch gut drei Monate bis zur Entführung und Ermordung von Charles Chandler – der ersten spektakulären Aktion der Stadtguerilla. Das massive Einsetzen von Guerillaaktionen gerade zu diesem Zeitpunkt führte zudem zu einem ungewollten Nebeneffekt, der die parallele Massenmobilisierung auf Weiteres still legte: „the political lacuna following Institutional Act V created a strong temptation for those students and workers who wished to continue to leave their respective movements and turn to urban guerrilla action, to the detriment of popular organizing.“145 Drei weitere Gründe, die alleine schon die Ausbildung einer sympathetic audience behindert haben dürften, sind die Klassenrelationen und –ausprägungen, das Problem, dass sich der städtische Kampf und der Grad der Repression allein im Industriedreieck konzentrierte. Der erste Punkt hat viel mit der erläutertern Vorgeschichte und den Klassenrelationen der Ära Vargas zu tun und mit der prinzipiellen Tatsache, dass die Stadt keine grundsätzlich homogene Masse darstellt, sondern eine Vielzahl an Klassen, Schichten und Zwischenstufen mit den unterschiedlichsten Zielen: It would be naive to maintain that the social composition of the country-areas is simple in absolute terms. (...) Still it is possible to argue that cities are often more heterogeneous in their population, as a result of the more detailed division of labour (…) the opposition between the haves and the have-nots tends to be less clearcut, the middle group larger (…) making the likelihood for polarization less.146
So hatte man es mit einer Arbeiterklasse zu tun, die nie gelernt hatte, sich zu organisieren, sich gegen Oppression durchzusetzten und deren junge Strukturen schon wieder zerschlagen wurden. Die Konsequenz – das Fehlen der Arbeiter in der Stadtguerilla – gibt Marighella im Interview zu: Trotzdem stimmt es, dass die Schichten, die uns am meisten unterstützen, in der Stadt der Mittelstand und auf dem Land die Bauern sind. Unter den Verhafteten oder Identifizierten gibt es nur deshalb keine Bauern, weil die Landguerilla noch nicht begonnen hat. (…) Die Arbeiterklasse, das muß ich zugeben, ist noch wenig präsent im Kampf.147
Zusätzlich sind die Bewohner der favelados (Slums) anzuführen, die teils auch zu den Arbeitern zählen, größtenteils jedoch zu den marginales (Lumpenproletariat)148, von denen sich die Stadtguerilla allerdings abzugrenzen versuchte, da seine Aktionen denen der häufig kriminellen marginales ähnlich sind: „Der Stadtguerillero unterscheidet sich dennoch radikal von den Marginales. Diese trachten in ihrer Aktivität nach einem persönlichen Vorteil und greifen an ohne Unterscheidung zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern.“149 Im Mit145
Kohl/Litt, Introductory Essay [Brasilien], aaO. (FN 78), S. 49. Wiberg, Håkon, Are guerillas possible? in: Niezing, Johan (Hrsg.), Urban Guerilla. Studies on the theory, strategy and practice of political violence in modern societies, Rotterdam 1974, S. 15-16. 147 Detrez im Interview mit Marighella, aaO. (FN 27), S. 98. 148 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 133. 149 Marighella, Handbuch des Stadtguerillero, aaO. (FN 4), S. 146
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telstand fand die Stadtguerilla tatsächlich die meiste Unterstützung, besonders da das Modell der Stadtguerilla sie häufig vor dem Untertauchen und damit vor dem bürgerlichen Tod bewahrte150 – anders als bei der castristischen Guerilla. Man bedenke jedoch, dass nur ein winziger Bruchteil der Mittelschicht tatsächlich in der Stadtguerilla involviert war: Fast 60 Prozent der Stadtguerilla setzten sich aus Studenten und Ex-Militärs zusammen. Der wirkliche arbeitende Mittelstand machte hingegen nur 33 Prozent aus.151 Bei der ablehnenden Haltung der Stadtguerilla gegenüber der Bourgeoisie, deren kleinbürgerliche Ausprägungen mit den small employers und der petty bourgeoisie bis in die Mittelschicht reichen, ist dies nicht allzu verwunderlich. Dass die Großbourgeoisie nicht für eine Kooperation gewonnen werden konnte, braucht kaum erwähnt zu werden. Zuletzt bliebe die (etwas homogenere) Bauernschaft, die in der Stadt nicht vertreten war, und die erst in der nächsten Stufe mobilisiert werden sollte, doch zu Recht hält Lamberg fest: Gewiß, das revolutionäre Potential der bäuerlichen Bevölkerung des Nordostens und Norden ist schier unerschöpflich, doch hallt der Ruf der Guerilla nicht so weit – und er wird auch in absehbarer Zeit nicht bis an die Küste von Pernambuco dringen. Beschränken sich denn die Guerillas nicht selber nur auf das „eiserne Dreieck?152
Und somit kommt man zum zweiten Grund, der eine weiterreichende Unterstützung unterbunden haben dürfte: Die Konzentration der Guerilla im Industriedreieck Rio – São Paulo – Belo Horizonte, im entwickeltsten Teil Brasiliens, dürfte der Unterstützung für die Guerilla abträglich gewesen sein. Sie gingen ja weniger gegen die Repression an, als hauptsächlich gegen die Entwicklung dieser Standorte, die von den meisten wohl als Positivum empfunden wurde (selbst wenn diese hauptsächlich aus dem ‚imperialistischen’ Ausland finanziert war). Das Wirtschaftswunder, das zwischen 1969 und 1974 unter Médici angesetzt werden kann153, verstärkte zwar die Kluft zwischen Arm und Reich – jedoch war die Arbeiterklasse ja nicht in der organisatorischen Lage, sich zu wehren, und dem Mittelstand dürfte dieser wirtschaftliche Aufschwung nicht ungelegen gewesen sein. Drittens war der Grad der staatlichen Repression den Kräften der Stadtguerilla so weit überlegen, dass eine Weiterentwicklung quasi unmöglich wurde. Gerade in Phasen der extremen Repression wollte die Stadtguerilla ihre Kräfte beweisen, wenn es doch klüger gewesen wäre, sich zurückzuziehen, wie Quartim am Beispiel der VPR nachweist.154 Die relativ planlose Organisation und die gleichzeitige ständige Konfrontation mit dem Regime zerstörten immer wieder grundlegende Strukturen.155 Laut Dobor hängt dies mit der Tatsache zusammen, dass die Repression am Anfang gegen die Massenbewegung gerichtet war und nicht gegen die Guerilla: „initially the police were not working very hard against us. As a result, we did not build the type of organizational structure that could withstand the concerted assault by the police which came later. We also did not expect so much violence and torture.“156 Und tatsächlich nahmen die repressiven Maßnahmen spätestens 1970 solche Ausmaße an, dass das Militär nicht einmal davor zurückschreckte, hochgestellte und ange150
Vgl. Lamberg, Die castristische Guerilla , aaO. (FN 26), S. 149. Vgl. Rammstedt, Stadtguerilla und soziale Bewegung, aaO. (FN 126), S. 159. 152 Lamberg, Die castristische Guerilla, aaO. (FN 26), S. 160. 153 Vgl. Kohl/ Litt, Introductory Essay [Brasilien], aaO. (FN 78), S. 52. 154 Vgl. Quartim, Dictatorship and Armed Struggle in Brazil, aaO. (FN 7), S. 183-184. 155 Vgl. Kohl/ Litt, Introductory Essay [Brasilien], aaO. (FN 78), S. 49. 156 Truskier im Interview mit Dobor;, Fleury, Gabeira, Politics of Violence, aaO. (FN 112), S. 142. 151
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sehene Persönlichkeiten oder deren Angehörige zu eliminieren. Auch der Staat hat die psychologische Kriegsführung, den Terror, erlernt und seine Botschaft an alle Schichten des Volkes gewandt – was die Stadtguerilla zu guter letzt vernichtete: Through these actions, the government revealed with chilling clarity its willingness to strike down both members of the upper-class political elite and relatives of high-ranking officers. The message was not lost on the masses, who were reduced to spectators of the guerrilla struggle. The death of Carlos Lamarca in September 1971, a result of information obtained under torture, symbolized the end of the urban guerrilla struggle in Brazil.157
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Eine Frage der Perspektive: Theorie und Praxis – Original und Rezeption
So ist abschließend festzustellen, dass es sich bei der brasilianischen Stadtguerilla um eine sehr eigentümliche Variante des Guerillakampfes handelt – ein Guerillakampf der mit städtischem Terrorismus begann. Wie angemerkt wurde, schließen sich die beiden Größen ‚Stadt’ und ‚Guerilla’ prinzipiell aus, weil erstens die für den Guerillakampf konstitutive Masse des Volkes nicht in den städtischen Kampf der guerrilleros integriert werden kann und zweitens, weil die Stadt zu dicht bevölkert ist, um die Zivilbevölkerung vor den Folgen der Anschläge zu behüten. Die ALN versuchte das erste Problem durch den parallelen Massenkampf zu umgehen, scheiterte jedoch an einer unzureichenden Analyse der realen Gegebenheiten. Grundsätzlich ist so zu konstatieren: Der Begriff Stadt-Guerilla drückt nicht nur zwei sich gegenseitig abstoßende Ideen aus, sondern auch die bereits einleitend angesprochene Ambivalenz zwischen Theorie – also die Vorstellung wie der Kampf im Idealfall ablaufen sollte – und der Praxis. ‚Stadt’ steht hierbei stellvertretend für die praktische Realität: Die erste Phase des Kampfes – der städtische Kampf – ist in der Praxis nicht zu überwinden (ganz ähnlich der ersten Phase der Fokustheorie). Die Repression und die Fehleinschätzung der realen Gegebenheiten aufgrund wenig durchdachter und diskutierter Maximalforderungen und vager sozialistischer Ideen gepaart mit mangelnder Kompromissbereitschaft, ließ die Guerilla wörtlich und übertragen nicht über sich hinauswachsen. Sie kam einfach nie in die Position, die ländliche Guerilla auszulösen. Und so blieb es bei dem Terrorismus, der sich in der Praxis manifestierte, besonders durch die Inkaufnahme ziviler Kollateralschäden und der Idee, man könnte die Diktatur und die USA durch Terrorismus indirekt ansprechen. ‚Guerilla’ steht hingegen für den Idealfall – für das intendierte Konzept hinter der Stadt-Guerilla: Man stützte sich auf eine Situation höchster Repression, die eine terroristische Taktik, um eine solche künstlich zu schaffen, überflüssig machte. Außerdem war der ländliche Guerillakampf fester Bestandteil des Gesamtplanes. Man plante, Zivilpersonen zu schützen und sah sich in der lateinamerikanischen Guerillatradition. Und so bewegt sich auch die Verwendung des Begriffes von anderen Organisationen oder auch Wissenschaftlern in der Zeit nach der brasilianischen Stadtguerilla zwischen diesen beiden Polen. Dadurch lässt sich zum Beispiel erklären, warum Mack schreibt: „There is no such thing as the strategy of urban guerrilla warfare (...) The term (...) has been applied to groups as disparate in tactics and motive as the Provisional IRA, the Tupamaros,
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Kohl/Litt, Introductory Essay [Brasilien], aaO. (FN 78), S. 51.
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the Baader Meinhof Gang, the FLQ in Quebec“158. So wählte die RAF für eine Schrift den Titel „Konzept Stadtguerilla“. Dieser Titel spielt selbstverständlich auf den Idealfall an – auf den Guerillakampf als Rechtfertigung. Inhaltlich jedoch propagiert er die terroristische Praxis. Sie konstruiert eine Unterdrückungssituation, die ebenfalls auf dem radikal zu bekämpfenden ‚Imperialismus’ basiert und rechtfertigt den Terrorismus in den Städten als Notwendigkeit im Kontext des Primats der Praxis. Der Begriff der Stadtguerilla wurde auch auf die Provisional IRA während der troubles bis zur Wiederherstellung der britischen Direktherrschaft angewendet159 – hier kam der Begriff der Stadtguerilla seiner eigenen widersprüchlichen Aussage so nahe wie es wohl möglich ist: Ihre Eingliederung in die bereits vorhandene Bürgerrechtsbewegung in Derry und Belfast gab der PIRA die Möglichkeit, eigene Gebiete zu besetzen (Bogside und Creggan) und tatsächlich für einen kurzen Zeitraum mit enormer Unterstützung der katholischen Bevölkerung in den Städten zu agieren wie eine Guerillaarmee. Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen die Idee einer parallelen Massenmobilisation Realität war; jedoch hatte sich diese in Nordirland aufgrund einer Eigendynamik ohne Zutun der PIRA gebildet. Doch selbst hier wird kurze Zeit später klar: Dem großen Zulauf an Rekruten ist man nicht gewachsen160 – diese Art des städtischen Kampfes ist nicht auf die Integration großer Mengen neuer Mitglieder ausgerichtet (schwere Geheimhaltung in Kombination mit immensem Ausbildungsaufwand). Die Taktik des Guerillakampfes wich wieder Willkür und Terrorismus. So scheint es, dass die Stadt-Guerilla in ihrer ursprünglichen brasilianischen Variante und in Form ihrer Erben durchweg zum Scheitern verurteilt war.
158 Mack, Andrew, The Non-Strategy of Urban Guerilla Warfare, in: Niezing, Johan (Hrsg.), Urban Guerilla. Studies on the theory, strategy and practice of political violence in modern societies, Rotterdam 1974, S. 22. 159 Beispielsweise Clutterbuck, Richard, Protest and the Urban Guerrilla, London 1973, S. 47-140. 160 Vgl. Taylor, Peter, Provos – The IRA & Sinn Fein, London 1998.
AlQaida – zwischen religiösen, politischen und sozialrevolutionären Motiven
Moderner Terrorismus zwischen religiösen, politischen und sozialrevolutionären Motiven: das Beispiel AlQaida Daniel Heller
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AlQaida als typologisches Problem
Bei der Verwendung der Kategorie „religiöser Terrorismus“ ergibt sich ein Widerspruch mit den meisten gängigen Terrorismusdefinitionen, die Terrorismus notwendigerweise als politisch motivierte Gewalt bzw. Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele definiert. Damit verbunden sind Probleme, AlQaida angemessen und logisch in die gängige Terrorismustypologisierung einzuordnen, die der Komplexität der Ideologie AlQaidas nicht angemessen ist. In der Terrorismusforschung ist eine Typologisierung gebräuchlich geworden, die Terrorismus anhand der ihm zugrunde liegenden Motivation oder der gesetzten Ziele in sozialrevolutionären, religiösen und ethnisch-separatistischen Terrorismus untergliedert.1 AlQaida wird oft allzu leichtfertig unter der Kategorie „religiöser Terrorismus“ subsumiert. Damit ist aus einem säkularisierten Verständnis heraus gemeint, dass AlQaida religiös und nicht politisch motiviert ist bzw. religiöse Ziele und nicht politische oder säkulare Ziele verfolgt, wie dies sozialrevolutionäre und ethnisch-separatistische/-nationalistische Terroristen als so genannte „säkulare Terroristen“ tun. Religiöse Ziele sollten hier also eigentlich als von politischen Zielen zu unterscheidende Kategorie verstanden sein. Ein Widerspruch ergibt sich aber dann, wenn die meisten Terrorismusforscher zunächst als bestimmendes Wesensmerkmal des Terrorismus ansehen, dass er eine Form der politisch motivierten Gewalt ist, mit der politische Ziele durchgesetzt werden sollen,2 und dann bei einer folgen1
Vgl. z.B. Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, Hamburg 2005; Ders., Terrorismus als weltweites Phänomen. Eine Einführung, S. 18, in: Hirschmann, Kai/Gerhard, Peter (Hrsg.): Terrorismus als weltweites Phänomen, Berlin 2000, S. 11-26; ebenso die allgemeinen Ausführungen über Terrorismus in Straßner, Alexander, Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“, Wiesbaden 2003, S. 20; Malthaner, Stefan, Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppen, S. 91, in: Waldmann, Peter, Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2004, S. 85-137; „Elemente oder abgewandelte Formen dieser weitgehend anerkannten Unterscheidung“ fänden sich – laut Malthaner - auch bei einer Vielzahl anderer Autoren, so etwa bei Fetscher, Iring, Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 21, in: Fetscher, Iring/ Rohrmoser, Günther, Ideologien und Strategien, Analysen zum Terrorismus, Bd. 1, hrsg. Vom Bundesministerium des Inneren, Opladen 1981, S.16-37; oder Schmidt, Alex P./de Graaf, J., Violence as Communication. Insurgent Terrorism and the Western New Media, Beverly Hills 1982. Oftmals aber nicht immer werden die Kategorien Vigilantistischer Terrorismus oder Rechter/Rechtsradikaler/Nationalrevolutionärer Terrorismus ergänzt. 2 Vgl. z.B. den renommierten US-amerikanischen Terrorismusforscher Hoffman, Bruce, Terrorismus. Der unerklärte Krieg,, Bonn 2006, S. 79: „Bei der Unterscheidung der Terroristen von anderen Arten von Kriminellen oder irregulären Kämpfern und des Terrorismus von anderen Arten von Verbrechen oder irregulärer Kriegführung gelangen wir zur Einsicht, dass der Terrorismus unausweichlich politisch ist hinsichtlich seiner Ziele und Motive (...).“ Dieses Merkmal nennt er als erstes vor allen anderen; auch die weithin akzeptierte Definition von Peter Waldmann geht von einer politischen Zielsetzung als Definitionsmerkmal aus, s. Waldmann, Terrorismus, aaO (FN 1), S. 12; die Harvard-Professorin Louise Richardson definiert Terrorismus folgendermaßen: „Terrorismus
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den Typologisierung – fast immer3 ohne auf diese Problematik einzugehen, wodurch man annehmen muß, dass sie übersehen wird – eine Kategorie „religiöser Terrorismus“ verwendet. Allgemein kommt es also zu einem Klassifizierungsproblem, das mit der folgenden Frage relativ präzise umschrieben werden kann: wie kann es eine Kategorie „religiöser Terrorismus“ geben, wenn Terrorismus zumeist als genuin politische Gewalt, als politisch motivierte Gewalt bzw. als Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele definiert wird? Aus der Klassifizierungsproblematik ergibt sich, dass die in der gängigen Typologisierung verwendeten Kategorien hinterfragt und auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden müssen. Durch die zahlreichen neuen Erkenntnisse über die Motivationen und Zielsetzungen „islam(ist)ischer“ oder „islam(ist)isch fundamentalistischer“ Terroristen, die in den letzten Jahren von der Terrorismusforschung gewonnen wurden, ergibt sich, dass die bisher gebräuchliche Typologisierung zu kurz greift. In diesem Beitrag wird herausgearbeitet, dass die idealtypische Klassifizierung terroristischer Organisationen am Realtypus AlQaida scheitert.
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AlQaida im Spannungsfeld religiöser und politischer Ziele
Gerade bei Islamisten, wie allgemein bei Fundamentalisten nicht nur islamischer Provenienz, ist eine Differenzierung zwischen politischer und religiöser Motivation schwierig. Fundamentalisten4 wollen sich ja gerade einer Unterscheidung zwischen Religiösem und Politischem widersetzen, sie wenden sich gegen die weltweit zunehmend verbreitete Säkularisierung der Gesellschaften. Die Begriffe „Fundamentalismus“ und „Islamismus“ würden – laut der Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer – zuallererst besagen, dass ihre Anhänger den Islam zur primären, wenn nicht ausschließlichen Grundlage ihres Denkens und Handelns machen wollen und dass sie ihn als umfassendes gesellschaftspolitisches Programm verstehen.5 Laut den Ausführungen von Gudrun Krämer sind Fundamentalisten bedeutet einfach für politische Zwecke planmäßig und gewaltsam gegen Zivilisten vorzugehen. Er zeichnet sich durch sieben entscheidende Merkmale aus. Erstens: Ein Terrorakt ist politisch motiviert. Wenn nicht, dann handelt es sich einfach um ein Verbrechen.“ Louise Richardson, Was Terroristen wollen. Die Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, Frankfurt/New York 2006, S. 28. Auch sie sieht also die politische Zielsetzung als wesentlich an. 3 Louise Richardson scheint sich dieser Problematik bewußt zu sein, verwickelt sich allerdings selbst in Widersprüche: einerseits definiert sie als primäres bestimmendes Wesensmerkmal, dass ein „Terrorakt“ politisch motiviert sein muss (FN 2), andererseits schreibt sie später, dass ein wichtiges Erbe des Terrors nach der Französischen Revolution sei, „anstelle der Religion als motivierende Kraft des Terrorismus die politische Ideologie zu setzen. Bis zur Französischen Revolution hatten alle Terrorgruppen religiöse Beweggründe (sie unterscheidet nicht zwischen Terror und Terrorismus, D.H.), auch wenn diese in den meisten Fällen zugleich politische Dimensionen hatten.“ ebd., S. 58. 4 Teilweise wird in der Forschung zwischen beiden Strömungen unterschieden; vgl. Roy, Olivier, Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung, Radikalisierung, München 2006; teilweise, v.a. in der Religionswissenschaft, wird die Auffassung vertreten, dass diese Richtungen im wesentlichen die gleichen Forderungen stellen, vgl. Krämer, Gudrun, Gottes Staat als Republik. Reflexion zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999, S. 30. Laut Krämer würde dem Begriff Islamismus in der Religionswissenschaft der Vorzug gegeben werden. Als sinnvoll wird hier erachtet, dass mit den unterschiedlichen Begriffen verschiedene Konnotationen ein- und derselben Weltanschauung ausgedrückt wird: Islamismus als mehr politisch-kämpferischer Aktionismus, demgegenüber islam(ist)ischer Fundamentalismus mehr als spiritualistisches-pietestisches Verständnis mit einer Konzentration auf die richtige individuelle islamische Lebensweise. Nach diesem Verständnis wäre auch der Begriff Islamismus für terroristische Gruppen passender. 5 Vgl. Krämer, Gottes Staat als Republik, aaO. (FN 4), S. 30.
AlQaida – zwischen religiösen, politischen und sozialrevolutionären Motiven
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schriftgläubig. Sie postulieren die Eindeutigkeit der verbindlichen Textquellen, in erster Linie des Korans. Neben dem Koran – und mit diesem aufs engste verwoben – erachteten sie die zu Lebzeiten des Propheten Mohammeds gültige Gesellschaftsordnung der Arabischen Halbinsel – genau betrachtet: ihr idealistisch verklärtes Bild dieser Gesellschaftsordnung – in ihren konkreten Einzelheiten für verbindlich. Die islamische Urgemeinde, geleitet durch die vom Propheten vermittelte Offenbarung, durch Gottes Wort und Gottes Gesetz, hätte die vollkommene islamische Ordnung gelebt. Diese Ordnung – Sinnbild von Ordnung schlechthin – gelte es nun, unverfälscht von fremden, vor allem westlichen Ideen, Werten und Verhaltensweisen (wie z.B. Säkularismus oder Laizismus) wiederzuerrichten.6 Dieses Idealbild, das die Anhänger des islamischen Fundamentalismus von der Zeit Mohammeds zeichnen, stelle, nach Peter Antes, den Islam als eine Einheit von Sprache, Sitte (adab), Religion, Geschichte, Kultur und traditionellem Erbe, kurz: als Religion und staatlich-politisches Gesellschaftssystem (din wa-daula) zugleich dar. Eine Trennung beider Bereiche wäre somit nicht denkbar. Damit entfiele eine Unterscheidung nach dem biblischen Motto: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist (Matthäus 22, 21).7 Demgegenüber gelte für den Islam: „er will Mensch und Welt integral erfassen und kennt darum keine Trennung zwischen Weltlichem und Geistlichem.“8 Bassam Tibi geht davon aus, dass es sich beim islamiischen Fundamentalismus um ein Phänomen dualer Natur handelt, das gleichermaßen politisch und religiös ist.9 Die Religion Islam erfülle eine doppelte Funktion: sie bleibe einerseits religiöser Glaube und erfülle zusätzlich eine politische Funktion.10 Sein Anliegen ist es darzulegen, inwiefern der Fundamentalismus „trotz seiner religiösen Untermauerung eine politische Ideologie ist.“11 Ideologisch resultiere ihm zufolge der heutige Fundamentalismus unter den Muslimen aus einer Politisierung der Religion des Islam und seines kulturellen Systems, folglich werde die Religion gleichsam natürlich mit politischen Ansprüchen verbunden. Man kann sich der Frage nach einer religiösen oder politischen Motivation/Zielsetzung AlQaidas wie auch anderer islamistischer Terroristen annähern, indem man zunächst fragt, ob ihre Motivation bzw. Zielsetzung eher weltlich bzw. „diesseitig“, auf die Gestaltung der Beziehungen zwischen Menschen, also auf eine Gestaltung einer Gesellschaft, eines Staates, einer politischen Ordnung (eher politisch) ausgerichtet ist oder eher spirituell, transzendental, also „jenseitig“ oder theologisch, zur Gestaltung der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen ausgerichtet ist und auf Erlangung persönlichen Heils im Jenseits (klar religiös, da man diese Motivation sowohl nach einem fundamentalistischen Verständnis als auch nach einem säkularen Verständnis als spezifisch religiös einschätzen würde) ausgerichtet ist. Diese Unterscheidung ist noch relativ leicht zu treffen. Danach muß untersucht werden, ob und inwieweit die auf das Diesseits, auf die lokale, nationale oder internationale gesellschaftliche, politische, soziale, wirtschaftliche und rechtliche Ordnung bezogenen Forderungen und Zielsetzungen der islamistischen Terroristen der AlQaida auf der religiösen Basis des Islams erhoben werden oder ob nicht genuin politische Forderungen vorge6
Vgl. ebd., S. 31. Antes, Peter, Der Islam als politischer Faktor, Hannover 1997, S. 19. Ess, Josef van, Islam, , in: Brunner-Traut, Emma (Hrsg.), Die fünf großen Weltreligionen. Freiburg et al. 1974, S. 67-84, hier S. 70. 9 Vgl. Tibi, Bassam, Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, München 2002, S. 59. 10 Vgl. ebd., S. 22. 11 Vgl. ebd., S. 23 und S. 69. 7 8
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tragen werden und politische Zielsetzungen verfolgt werden, wodurch sie den Islam als politische Ideologie zu Rate ziehen würden.
2.1 Transzendentale Motive oder Ziele AlQaidas Die spezifisch religiösen Motive und Ziele von „religiösen Terroristen“ wurden von Bruce Hoffman, aber auch von David Rapoport herausgearbeitet und in den Vordergrund gestellt. Vor allem Hoffman sieht in diesen Aspekten die Wesensmerkmale und Spezifika des religiösen Terrorismus. Doch ist Hoffman vorzuwerfen, dass er die diesseitigen Bezüge des vermeintlich religiös-motivierten Terrorismus allzu vernachlässigt, wodurch sich sehr stark der Widerspruch zwischen seiner Terrorismusdefinition – Terrorismus als politische Gewalt – und seiner Charakterisierung des „religiösen Terrorismus“ ergibt, der bei ihm sehr konsequent unter Bezugnahme auf transzendentale und spirituelle, wie messianische, chiliastische, manichäische oder apokalyptische sowie theologische Aspekte beschrieben wird. Dementsprechend nennen beide diese Art von Terrorismus auch „holy terror“. Bruce Hoffman charakterisiert religiösen Terrorismus wie folgt: „Für den religiösen Terroristen stellt Gewalt zuerst und vor allem einen sakramentalen Akt dar, die in direkter Reaktion auf irgendeine theologische Anforderung oder ein Gebot erfüllt wird. Der Terrorismus erhält auf diese Weise eine transzendentale Dimension (…).“12 Auch David Rapoport betont die transzendentale Dimension des religiösen Terrorismus’.13 Für den spezifisch-religiösen Terroristen Hoffman'scher Lesart ist seine Gewalttat vorrangig ein sakramentaler Akt in Erfüllung einer göttlichen Pflicht zur Erlangung individuellen Heils im Jenseits. Es steht die Erlangung des persönlichen Heils durch den Kampf gegen Ungläubige und vom Glauben Abgefallener als Vollzug religiöser Pflichten und Gebote im Vordergrund. Demgemäß können terroristische Organisationen, bei denen in überwiegendem Maße derartige spezifisch religiöse Motive vorherrschen, eindeutig als religiös eingestuft werden, soweit die gängigen Terrorismusdefinitionen um die religiöse Motivation erweitert werden. Dementsprechend müssen terroristische Organisationen wie die militante religiöse AUM-Sekte in Japan, jüdische, christliche und islamische messianische terroristische Gruppen, die mit ihrem Terrorismus die Apokalypse und letztendlich die Ankunft des Messias („second coming“) bzw. des Mahdi beschleunigen wollen, als spezifisch oder rein religiös motiviert eingestuft werden. Genauso wie die indischen Thugs, die mit ihrem Terrorismus ihrer Gottheit gefallen und sie für ihre Ankunft im Jenseits wohlgesonnen stimmen wollten.14 Nur teilweise ist AlQaida von derartigen spirituellen, transzendentalen oder theologischen Motiven geleitet. Die Grundprinzipien, strategischen Leitlinien, allgemeine (konsensuale) Ziele, Motive und Forderungen ergeben letztendlich „die“ Ideologie einer Organisation, die auch meistens von mehreren Personen bestimmt wird. Dies kann anhand der Organisation AlQaidas nachvollzogen werden: AlQaidas Ideologie umfasst viele verschiedene Ziele: Sie hat gleichzeitig eine lokale Agenda, die maßgeblich von ihren Untergruppen, die 12
Hoffman, Terrorismus, aaO. (FN 2), S. 148. Vgl. Rapoport, David, Fear and Trembling. Terrorism in Three Religious Traditions, in: American Political Science Review 78, Nr. 3, September 1984, S. 674. 14 Zu diesen Bewegungen siehe ebd. 13
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ihr angeschlossen sind, beeinflusst wird, sowie eine globale Agenda. Noch diffuser erweist sich der ideologische Grundtenor: nachgerade jeder einzelne Aktivist, gleich ob Mitglied der Führungsebene, Trainer im Ausbildungslager, Logistiker, Sprengstoffexperte, ausführender Aktivist, Selbstmordattentäter, kann eine andere Motivlage haben, aus der heraus er sich zum bewaffneten Kampf entschließt. Bei AlQaida ist festzustellen, dass die operativen Kader und die ausführenden Aktivisten tendenziell andere Motive und Ziele haben als die Führungsebene: bei den Attentätern scheinen vielmehr die spirituell-religiösen, transzendental-religiösen Motive – der Gewaltakt als ultimatives und überzeugendstes Zeugnis ihres Glaubens, gleichsam als Glaubensbekenntnis – im Vordergrund zu stehen, während beim Führungszirkel eher religiöspolitische Zielsetzungen verfolgt zu werden scheinen. Bruce Hoffman macht bei Siddique Khan, dem Anführer der Gruppe, die die Anschläge auf das Londoner Verkehrsnetz vom 7. Juli 2005 verübt haben, folgende Motive aus, wie er sie selbst mit seinen Ausführungen in seinen „Märtyrerinterview“ vor dem Anschlag zu erkennen gegeben hätte: „[t]he sense of individual empowerment and catharsis“ sowie „(t)he intense desire for vengeance and martyrdom, with the latter regarded by him as 'supreme evidence' of his religious commitment.“15 Siddique Khan selbst sagt in dem Video: „I and thousands like me are forsaking everything for what we believe. Our driving motivation doesn’t come from tangible commodities that this world has to offer.“16 Auch andere Autoren leisten Differenzierungen hinsichtlich des Charakters der Ziele und Motive verschiedener AlQaida-Vertreter. Wolfgang Ludwig Steiner macht aus kommunikationssoziologischer Sicht bei AlQaida eine „Spannung zwischen einer primär politischen und einer primär religiös angelegten Programmierung“ des Terrorismus aus, die sich anhand einer aus unterschiedlichen Gründen erfolgten Freund/Feind-Gegenüberstellung verbunden mit der Orthodoxie/Häresie-Einstufung verschiedener Mitglieder ergebe.17 Es geht dabei im wesentlichen um die Frage, wer genau – und aus welchen Gründen – von Aktivisten als der Feind AlQaidas angesehen wird. Während Al-Zawahiri die Definition des Feindes aus politischen Gründen durch ihre Tauglichkeit zur Mobilisierung der muslimischen Massen (zweckrational, unter Berücksichtigung der politischen Erfolgsaussichten des Terrorismus)18 herleitet, würde Abu Musab al-Zarqawi die Definition des Feindbildes mit religiösen oder theologischen Motiven begründen, wobei es ihm um den (religiösen) Kampf gegen die „Häretiker“, gegen Ungläubige (kafir) und vom Glauben abgefallene Apostaten geht.19 Seiner Einstellung nach spielten Erwägungen hinsichtlich politischer Erfolgsaussichten keine Rolle, „(d)er Sieg kann nur durch Gott gegeben werden, aber auch im Falle von Niederlage und Tod der Rechtgläubigen behält das Martyrium seine Verbind-
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Hoffman, Bruce, Islam and the West. Searching for Common Ground. The Terrorist Threat and the CounterTerrorism Effort, Testimony presented to the Senate Foreign Relations Committee on July 18, 2006, veröffentlicht von der RAND Corporation, Santa Monica 2006, http://www.rand.org/pubs/testimonies/2006/RAND_CT263.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.12.2007, S. 13. 16 Ebd., S. 13. Hoffman entnimmt den Text der Ansprache dem „Report of the Official Account of the Bombings in London on 7th July“ des Honourable House of Commons/GB. 17 Schneider, Wolfgang Ludwig, Religio-politischer Terrorismus als Parasit, in: Kron, Thomas/ Reddig, Melanie (Hrsg.), Analysen des Transnationalen Terrorismus. Soziologische Perspektiven, Berlin 2007, S. 125-165, hier S. 155. 18 Hier kommt es zu einer Betonung des politischen Motivs al-Zawahiris; eine Unterscheidung zwischen Motiv und Ziel(setzung) s. u. 19 Vgl. Schneider, Religio-politischer Terrorismus als Parasit, aaO. (FN 18), S. 150ff.
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lichkeit und seinen Sinn.“20 Diese Einstellungen weisen ganz klar in die Richtung eines transzendentalen, spirituell und theologisch verstandenen religiösen Terrorismus, während die Motivation al-Zawahiris einem politisch motivierten Terrorismus entspricht.
2.2 Säkulare Motive, Ziele und Forderungen AlQaidas „In Anlehnung an die bahnbrechenden Studien der Forschergruppe um Scott Appleby wird davon ausgegangen, dass selbst die Mehrzahl der gemeinhin als fundamentalistisch bezeichneten religiösen Bewegungen primär handfeste Interessen in dieser Welt verfolgt und keineswegs darauf abzielt, ein apokalyptisches Strafgericht über sie zu verhängen.“21 Dieses Zitat kann man als den Ausgangspunkt der hier erörterten Problematik sehen, ob die islamischen Fundamentalisten des AlQaida-Netzwerkes nicht doch auch oder sogar hauptsächlich politische Forderungen vertreten. Die islamistischen Grundanschauungen berücksichtigend, ergibt sich bei näherer Betrachtung der Forderungen, die das islamistisch gesinnte AlQaida-Netzwerk erhebt, dass es sowohl Gründe für die Ansicht gibt, dass AlQaida politische Ziele verfolgt, als auch dafür, dass sie religiöse Ziele verfolgt. Ein- und dieselben Forderungen können sowohl als politisch motiviert als auch als religiöse Forderungen – als Forderungen, die sich auf der Grundlage ihres islamistischen und fundamentalistischem Verständnis des Islam ergeben – charakterisiert werden.22 Eine Zuordnung ist schwierig, die Grenzen fließend. Die Zuordnung hängt auch von der Perspektive ab: man kann die Frage nach dem Charakter ihrer Motive, Ziele und Forderungen zum einen eher aus ihrer islamistischen Sichtweise betrachten. Daraus ergibt sich, dass sich Motivation, Ziele und Forderungen für AlQaida selbst aus ihrem integralen, umfassenden bzw. universalen Verständnis des Islam ergeben. Es kann bzw. es darf keine eigenständige Sphäre des Politischen geben. Ihre Forderungen ergeben sich aus ihrer Sicht aus dem Islam selbst. Sie würden nicht nur nicht unterscheiden, ob sie religiöse oder politische Ziele verfolgen oder politisch oder religiös motiviert sind und beides gleichzeitig bejahen, sondern sie würden vielmehr selbstverständlich bekräftigen, dass sich ihre Forderungen aus dem Islam ergeben. Man könnte dann auch aus beobachtender Sicht sagen, dass sich ihre Motive und Ziele aus ihrem Verständnis des Islam ergeben. Demgemäß könnte man auch in der Terrorismusforschung den religiösen Charakter ihrer Zielsetzung annehmen. Zum anderen kann man den Charakter ihrer Ziele auch aus einem „westlich“säkularisierten Verständnis heraus einstufen. Nach „westlich“-säkularisierten Maßstäben trennt man grundsätzlich die Sphären der Religion und Politik, was nicht heißen soll, dass 20
Schneider, Religio-politischer Terrorismus als Parasit, aaO. (FN 18), S. 154. Waldmann, Peter, Einleitung, S. 18, in: Ders. (Hrsg.), Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2005, S. 1128. Waldmann spielt auf das umfangreiche Forschungsprojekt „The Fundamentalism Project“ dessen Ergebnisse in fünf Bänden („Fundamentalisms Observed“; „Fundamentalisms and Society: Reclaiming the Sciences, the Family, and Education“; Fundamentalisms Comprehended; Fundamentalisms and the State: Remaking Polities, Economies, and Militance; Strong Religion: The Rise of Fundamentalisms around the World; „Accounting for Fundamentalisms: The Dynamic Character of Movements“ ) publiziert worden ist, bei denen der Historiker R. Scott Appleby neben Martin E. Marty als Co-Herausgeber fungierte. 22 Dies gilt analog auch für andere islam(ist)ische terroristische Organisationen, die gegenwärtig im Namen des Islam Terrorismus betreiben oder betrieben, wie zum Beispiel für den militärischen Arm der Hamas und die Hizbollah. 21
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religiöse Prinzipien nicht politische Entscheidungen beinflussen können und dürfen. Wenn man nun aus diesem „westlich“-säkularisierten Verständnis heraus die Motivationen, Zielsetzungen und Forderungen von AlQaida betrachtet, dann ergibt sich, dass sie eher als politisch eingestuft werden müssen.23 Zu einer politischen Motivation/Zielsetzung AlQaidas gelangt man dann, wenn untersucht wird, aus welchen Gründen AlQaida die USA, Israel und Staaten, die bei den militärischen Interventionen in muslimischen Staaten kooperiert haben, zum Feind erklärt hat, was also die neuralgischen Kristallisationspunkte für den Hass AlQaidas gegenüber den USA, Israel und den Bündnisstaaten sind. Viele europäische Staaten gehören mittlerweile gerade deshalb zu AlQaidas Feinden, weil sie mit den USA verbündet sind und dem westlichen, von den USA geführten Lager zugeordnet werden, das den Islam und die Muslime militärisch, politisch, wirtschaftlich und auch kulturell bedrohe. Der Umstand, der Osama bin Laden endgültig gegenüber den USA radikalisierte, war die Stationierung amerikanischer Truppen auf der Arabischen Halbinsel im Zuge des IrakKrieges, die die Truppen Saddam Husseins aus Kuwait zurückdrängen und Saudi Arabien vor einer Invasion schützen sollten. Außerdem kritisiert er die „Besetzung“ des palästinensischen Gebietes und die „Unterdrückung“ der palästinensischen Muslime durch Israel mit amerikanischer Unterstützung (politische Unterstützung durch z.B. Vetos gegen Israelkritische Beschlüsse der UN, finanzielle und militärische Unterstützung), die anhaltende „Unterdrückung“ der irakischen Muslime (UN-Sanktionen, Invasion und Besetzung), sowie die globale „Unterdrückung“ von Muslimen in Bosnien, Tschetschenien, Ost-Timor, SüdThailand etc. „Unterdrückung“ ist in seinen (Kriegs-)Erklärungen, seinen Nachrichten an die Muslime und die USA, ein ständig wiederkehrendes Motiv. Darüber hinaus bedauert er den „Ausverkauf muslimischer Bodenschätze“ (des saudi-arabischen Öls) zu viel zu niedrigen Preisen an die USA. Daraus ergibt sich, dass AlQaidas Hass auf die USA vornehmlich eine Reaktion auf die US-amerikanische Politik im muslimischen Raum ist.24 Aus diesen Kritikpunkten entspringen AlQaidas politische Motivation, Zielsetzung und auch ihre eigentlich politischen Forderungen. Auch Kai Hirschmann meint: „Die Forderungen Osama bin Ladens sind im Wesentlichen politisch.“25 AlQaida fordert und verfolgt den Sturz der als korrupt, autoritär, despotisch, dekadent oder unislamisch empfundenen Regime in muslimischen Ländern wie zum Beispiel in Ägypten, Jordanien, Syrien, Pakistan, Irak – besonders aber in Saudi Arabien und damit den 23
Ein anderer Ansatz, um die politischen Motive und Ziele bei AlQaida zu identifizieren, wäre, wenn man sämtliche Ziele, die sich nicht aus einer wörtlichen bzw. authentischen Wiedergabe des Korans oder der Sunna ergäben, als politisch motiviert ansieht, was gerade deshalb gerechtfertigt wäre, weil AlQaida, wie andere Fundamentalisten, ja gerade propagieren, dass sie eine wörtliche Auslegung des Korans und eine authentische Verwendung der Sunna pflegen und ihr Handeln nur nach diesen Richtlinien ausrichten würden. Doch dies erfordert fundierte Kenntnisse des Korans und auch der Sunna, eigentlich schon ein Studium der Islamkunde und ist deshalb vor allem im Hinblick auf westliche Beobachter eine zu große Anforderung und daher nicht eine praktikable Möglichkeit. Auch hier würden sich wieder große Auslegungsspielräume auftun, die Islamisten der AlQaida würden wiederum behaupten, dass sich ihre Forderungen aus dem Koran und der Sunna ergäben und bestimmt auch einen Islamgelehrten finden, der ihre Meinung theologisch legitimiert, wodurch man wieder beim Ausgangspunkt der Problematik wäre. 24 Vgl. Scheuer, Michael, Imperial Hubris. Why the West is Loosing the War on Terror, Washington D.C. 2004, S. 8-14. 25 Hirschmann, Kai, Terrorismus in neuen Dimensionen. Hintergründe und Schlussfolgerungen, Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51/2001), online unter http://www.bpb.de/publikationen/BEPMBD.html, zuletzt aufgerufen am 12.02.2007, S. 7.
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Umsturz der dortigen politischen Systeme (Umwandlung der Monarchien, Autokratien, Militärdiktaturen und Demokratien in ein islamisches System mit der Einführung des Kalifats26 und der Rechtsordnung der Scharia), die Beendigung der amerikanischen Militärpräsenz/„Besatzung“ in islamischen Staaten zum Beispiel in Afghanistan, im Irak oder in Saudi Arabien, die Beendigung der US-amerikanischen Unterstützung (militärischer, finanzieller und diplomatischer Art) für Israel und die muslimischen „Despotien“; die Bekämpfung Israels und seiner „Besatzung“ Palästinas; die Kontrolle und Verwertung der Energiereserven und Rohstoffe im islamischen Raum durch Muslime.27 Diese und ähnliche Forderungen AlQaidas sind eindeutig politische Ziele. Dem entsprechend schreibt Jason Burke: (…) the grievances that they (AlQaida und andere „islamische“ Terroristen, D. H.) are seeking to resolve are not in any way metaphysical. Their sense of grievance might be extreme but it is rooted in reality. In their manifestos they refer to real events and real people and what are to perceived to be real problems (…). While bin Laden’s discourse may be based on an interpretation of Islamic history, his power is derived from playing on the current social, economic and political problems of the Muslim world. Just because a lack of graduate employment, decent housing, social mobility, food, etc., is explained by an individual through reference to a religious does not make it a religious grievance. It remains a political grievance articulated with reference to a particular religious worldview.”28 Nicht nur bei der Führungsspitze, auch bei den operativen Aktivisten AlQaidas, selbst bei den Selbstmordattentätern, finden sich politische Motive, eine Empörung angesichts politischer, sozio-ökonomischer Missstände, die sie zu ihren Taten veranlasst haben. Burke, der sich sehr eindringlich mit den Umständen des Attentats vom 11. September 2001 und den Biographien der Täter auseinandergesetzt hat, beschreibt die Beweggründe Mohammed Attas, des Anführers der Hamburger Zelle:
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Das Kalifat ist auch nach einem islam(ist)ischen Verständis nicht „die“ Staats- bzw. Gesellschaftsordnung, die sich zwingend aus dem Koran oder der Sunna ergibt. Es ist vielmehr eine von Menschen erfundene politische Ordnung in deren Rahmen der Kalif von den Gläubigen gewählt werden soll, s. dazu Krämer, Gottes Staat als Republik, aaO. (FN 4), S. 67-72. 27 S. dazu die guten Zusammenfassungen und Auflistungen politischen Zielsetzungen und Forderungen von Hirschmann, Terrorismus in neuen Dimensionen, aaO. (FN 25), S. 7 und Scheuer, Imperial Hubris, aaO (FN 24), S. 241. 28 Burke, Jason, Al Qaeda. The True Story of Radical Islam, London/New York 2004, S. 24-25.
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But it was not religious issues that angered Atta most. Acquaintances in Cairo remember him becoming incensed by essentially political concerns that are common among activists of all ideologies throughtout the developing world. Underlying them all was, friends said, a powerful sense of ‚social injustice’ that underpinned Atta’s anger at the inequities of Egyptian society. He was particularly exercised by the complete ignorance of social problems’ manifested by Egypts elite, repeatedly criticizing governmental officials and politicians for focusing on their careers and the enrichment of their families above all else. (…) On another occasion (…) he made a point of describing to Volker Hauth, a fellow student, the problems that had resulted from President Sadat’s neoliberal financial policies in the 1970s. They had enriched the elite at the expense of the poor, Atta said. The lack of opportunity for young Egyptians was also a constant complain.29
Bruce Hoffman gibt die Ausführungen eines anderen Attentäters einer Londoner Zelle wieder, wodurch sich zeigt, dass auch operative Aktivisten nicht nur spirituell oder transzendental religiös, sondern auch politisch motiviert sein können. In seiner Abschiedsbotschaft erklärt Khan, an die Nicht-Muslime Großbritanniens gerichtet: You are those who have voted in your government, who in turn have, and still continue to this day, continue to oppress our mothers, children, brothers and sisters, from the east to the west, in Palestine, Afghanistan, Iraq, and Chechnya. Your government has openly supported the genocide of over 150,000 innocent Muslims in Falluja. You have offered financial and military support to the U.S. and Israel, in the massacre of our children in Palestine. You are directly responsible for the problems in Palestine, Afghanistan, and Iraq to this day.30
3
Sozialrevolutionäre Motive AlQaidas
Bei näherer Betrachtung wirken zahlreiche Strukturmerkmale des terroristischen Aktionismus AlQaidas – das betrifft die Organisationsstruktur ebenso wie Ideologie und Strategie – wesensähnlich mit den entscheidenden Ideologemen (aus denen sich dann ja maßgeblich auch die Strategie und Organisationsstruktur ergibt) sozialrevolutionärer terroristischer Organisationen.
3.1 Imperialismuskritik bzw. Anti-Kolonialismus/-Amerikanismus Die Anführer und die Mitglieder AlQaidas sehen in den Vereinigten Staaten von Amerika die moderne Kolonialmacht unserer Zeit, die die Regime in der islamischen Welt nicht nur stützt und kontrolliert, sondern steuert. Sie beklagen immer wieder die Unterdrückung der islamischen Welt durch den Westen unter der Führung der USA (die USA als Führungsmacht des Westens und Motor der Globalisierung) in politischer, wirtschaftlicher, technologischer, wissenschaftlicher, aber auch weltanschaulicher und kultureller Hinsicht. Sie beklagen, Amerikaner und Europäer würden die muslimischen Länder wirtschaftlich ausbeuten und ihre Bodenschätzen rauben, vor allem ihre Ölvorkommen: Bin Laden unterstellt
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Burke, Al Qaeda., aaO. (FN 28), S. 241-242. Hoffman, Islam and the West, aaO. (FN 15), S. 13, wiederum nach dem „Report of the Official Account of the Bombings in London on 7th July“ des Honourable House of Commons/GB. 30
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den USA und Saudi Arabien, dass die saudische Königsfamile Öl zu einem gegenüber dem „normalen Weltmarktpreis“ verbilligten Preis Öl an die Amerikaner als Ausgleich für den Schutz vor äußeren Feinden liefert. Dies sind im wesentlichen politische und ökonomische Vorwürfe. „Unterdrückung“ und „Ausbeutung“ sind in den Verlautbarungen der AlQaidaFührungsregie, aber auch in den Statements von Aktivisten häufig erhobene Anschuldigungen, sie sind neben dem Vorwurf eines „Angriffs gegen den Islam“ ihren Hauptmotiven avanciert. Außerdem wehren sich AlQaida-Aktivisten dagegen, dass als negativ interpretierte westliche Werte (Säkularisierung, Individualisierung, Konsum, sexuelle Freizügigkeit), die allgemein als amerikanische Werte gedeutet werden, in die islamische Welt gleichsam „überschwappen“ und damit den reinen Islam verunreinigen würden. Sie sehen dies aber nicht aus der Sicht des Empfängers, sondern als eine bewusste Strategie von Seiten der USA, die damit den muslimischen Raum kulturell imperialisieren wollten, um durch eine Kompatibilität des wirtschaftlichen und politischen Systems muslimische Länder für die transnational agierenden amerikanischen Konzerne kapitalistisch „ausbeutbar“ zu machen. Diese Anschauungen offenbaren ansatzweise sozialrevolutionäre Konnotationen, auch wenn sie natürlich nicht unter ausdrücklichem Bezug auf marxistisch-leninistisches Gedankengut geäußert werden.
3.2 Staatskritik bzw. Gesellschaftskritik AlQaida verfolgt das politische Ziel, die in ihren Augen nicht nur korrupten, autoritären oder despotischen, sondern auch als un- oder anti-islamisch, als vom Islam abgefallene (takfir) angesehenen Regime in islamischen Ländern gewaltsam zu stürzen und die dortigen Staatssysteme zu transformieren. Es soll die Herrschaftsform des theokratischen Kalifats mit der unbeschränkten Geltung der islamischen Rechtsform Scharia nicht nur in einem islamischen Land eingeführt werden (dies wird als notwendiger Zwischenschritt erachtet), sondern (von der Basis der einzelnen Kalifate aus) soll das Kalifat über die derzeitigen Nationalstaatsgrenzen hinweg als Herrschaftsform für die gesamte muslimische Gemeinschaft (umma(h)) etabliert werden. Letztendlich sollen die derzeitig vorherrschenden, vom „Westen“ (Großbritannien und Frankreich) zur Schwächung der muslimischen umma(h) eingeführten Nationalstaatsgrenzen „niedergerissen“ werden, um die umma(h) wieder zu vereinen und zu stärken. Sie gehen davon aus, dass Nationalstaatsgrenzen nicht nur überflüssig, sondern schädlich für die muslimische Gemeinschaft sind, da sie die perzipierte muslimische Glaubensgemeinschaft geteilt und damit dauerhaft geschwächt haben. Um diese Ziele zu erreichen, sei unweigerlich der bewaffnete Kampf notwendig, eine politische Opposition wird unter der repressiven Herrschaft der despotischen Herrscher in den meisten muslimischen Ländern entweder als nicht möglich oder gescheitert angesehen. Der französische Sozial- und Islamwissenschaftler Olivier Roy, der als einer der profilierten Kenner des Islamismus gilt, vertritt die These, dass der militante Islam eine Reaktion auf das Scheitern sämtlicher von den Muslimen vom Westen übernommener und auf islamische Verhältnisse zugeschnittener Ideologien – (Arabischer) Nationalismus, „Islamischer Sozialismus“ etc. – und des friedlichen politischen Islam sei.31 Friedliche politische opposi31
Vgl. Roy, Olivier, The Failure of Political Islam, Cambridge 1995.
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tionelle Betätigung wird als „Sich-mit-der-Unterdrückung-abfinden“, als Aufgabe wahrer islamischer Positionen diffamiert. Es wird konstatiert, dass nur der bewaffnete Kampf imstande sei, die Verhältnisse wirklich zu verändern, zu revolutionieren. Diese Einstellung erinnert stark an die Haltung sozialrevolutionärer Terroristen gegenüber der gemäßigten und demokratischen Linken und auch den friedlichen kommunistischen Gruppierungen, die wegen ihrer passiven Haltung kritisiert wurden. Diese Ähnlichkeit ist aber eher zufällig, es dürfte eine generelle Einstellung terroristischer Gruppen sein, die gemäßigten und friedlichen Vertreter ihrer politischen Positionen als „ineffektiv“, „Kollaborateure“, „Feiglinge“ und dergleichen abzutun. Neben den nationalen sollen auch die ethnischen Grenzen zwischen den Muslimen überwunden werden. Historisch war das Projekt AlQaida dazu angedacht, die nationalistischen und ethnischen Differenzen, die nach dem Abzug der Roten Armee aus Afghanistan unter den ausländischen „Mudschaheddin“ wieder aufbrachen und zutage traten, zu überwinden und eine gemeinsame, schlagkräftige und international operierende „Islamische Armee“ aufzustellen32, die global den weltweit vom Westen bedrohten und unterdrückten Muslimen im Sinne einer „Islamischen Rapid Reaction“ oder „Intervention Force“ zuhilfe kommen sollte.33 Wie die sozialrevolutionären Gruppen in Europa miteinander und mit anderen Gruppen wie der palästinensischen PFLP kooperierten, haben sich unter dem „Label“, dem „Franchise“, der „Konzernmutter“ AlQaida viele islam(ist)ische Organisationen zusammengeschlossen.
3.3 Internationalismus, Massenbasis, der Avantgardegedanke Die Umma(h) wird als muslimische Internationale gesehen. Die wahren Muslime sollen als die die Revolution tragende Masse die Basis des neuen islamischen Staates sein. Ayman alZawahiri, der als die „Nummer 2“ von AlQaida und als ihr „Chef-Stratege“ gilt, schreibt dazu in dem berühmten Text „Ritter unter dem Banner des Propheten“: Die Umma mobilisieren, um sie am Kampf teilhaben zu lassen, und sich davor hüten, einen elitären gegen die Macht zu eröffnen: die Dschihad-Bewegung muss sich auf die Massen zubewegen, ihre Ehre verteidigen, sie beschützen, sie leiten und sie zum Sieg führen, ihr im Opfer vorangehen und ihr die Dinge in einem Stil begreiflich machen, der die Wahrheit allen, die nach ihr suchen zugänglich macht.(...) Unsere Dschihad-Bewegung muss auf die Arbeit an den Massen, das heißt auf die Predigt in der Umma, ihr Augenmerk legen, am muslimischen Volk Dienst tun und die Menschen über alle möglichen und mildtätigen und erzieherischen Werke in ihr Anliegen einbinden. Kein Platz darf ungenützt bleiben.34
Schneider bemerkt hierzu: „Leninistische Rhetorik ('Massen' vs. Kampf anführender 'Bewegung'), die entsprechende Mobilisierungssrategie ('die Arbeit an den Massen') und reli-
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Vgl. Burke, Al Qaeda, aaO. (FN 28), S. 81ff. Congressional Research Service (Autor: Kenneth Katzman), Al Qaeda. Profile and Threat Assessment, CRS Report for Congress, Washington D.C. 2005, S. 2. 34 al-Zawahiri, Ayman, Ritter unter dem Banner des Propheten, in: Kepel, Gilles/ Milleli, Jean-Pierre (Hrsg.), Al Qaida. Texte des Terrors, München/Zürich 2006, S. 356-357, zit. n. Schneider, Religio-politischer Terrorismus als Parasit, aaO. (FN 17), S. 150-151. 33
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giöser Inhalt ('die Arbeit an den Massen, d.h. (...) die Predigt in der Umma (...)') werden hier übergangslos miteinander verknüpft.“35 Diese Elemente erinnern stark an die sozialrevolutionäre Revolutionstheorie, an das Konzept der kommunistischen Internationale. Die Gemeinschaft der gläubigen Muslime wird als „interessiert unterstellter Dritter“, als Adressat der Botschaften und vermeintlicher Nutznießer des Aktionismus erachtet. Außerdem kommt hier deutlich der leninistisch inspirierte Avantgardegedanke zum Ausdruck. AlQaida sieht sich als Speerspitze und Vorhut der muslimischen umma(h), die mit ihren revolutionären und spektakulären Aktionen die „schlafenden“ Muslime „wachrütteln“ und zur Revolution anstiften und durch mehrere empfindliche Schläge gegen westliche, vor allem amerikanische Einrichtungen, eine kritische revolutionäre Masse erzeugen will. Wie genau sich dieser Sieg vollziehen soll und welche Auswirkungen er haben soll, wird dabei nicht nicht näher erläutert. Diese Anschauung erinnert wiederum stark an die Brennpunktoder Fokustheorie von Regis Debray. John Gray geht davon aus, dass der „Vater der radikal-islamistischen Terroristen“ Sayyid Qutb diese Avantgarde-Konzeption mehr oder weniger bewußt aus Ideologien europäischer Provenienz übernommen hat.36
3.4 Sozialer und psychologischer Ausgangspunkt Der Soziologe Olivier Roy bemerkt, dass auch die Gewalt der meistens jungen radikalen und militanten Muslime von „Räumen der sozialen Ausgrenzung“ ausgeht, „ohne dass die religiöse Dimension dabei eine Rolle spielt.“37 Die radikalen islamischen Netzwerke würden ihre Aktivisten „in den gleichen sozialen Kategorien (gescheiterte Existenzen aus der gebildeten Mittelschicht und aus der Arbeiterschicht)“ rekrutieren, „den gleichen Hass auf ‚bürgerliche Werte und Einstellungen’ hegen, „die gleichen Feinde (Imperialisten)“ haben „und oft auch die gleichen Lieblingsguerillas (Palästina)“. Sie behaupten, internationalistisch zu sein (die Umma anstelle der internationalen Arbeiterklasse) und bauen auf dem gleichen Generationenkonflikt (rationalisiert als Rückkehr zu den Grundlagen im Gegensatz zur kulturellen und politischen Entfremdung der vorangehenden Generation) wie die linksextremistischen Organisationen der sechziger und siebziger Jahre auf.38 „Wie in den sechziger und siebziger Jahren wird das Unbehagen einer entfremdeten Generation in globalen Begriffen ausgedrückt: den Imperialismus, diesmal der Vereinigten Staaten, zu bekämpfen. (…) AlQaida hat nicht den Petersdom in Rom angegriffen, sondern das World Trade Center und das Pentagon. Die Anschläge zielten auf den modernen Imperialismus, wie die Ultralinken Ende der sechziger und in den siebziger Jahren es weniger erfolgreich getan hatten. (…) Rhetorik und Zielauswahl der Dschihadisten stimmen oft mit denen der linken Antiglobalisierungsgegner [sic!] überein.“39 Auch AlQaida rekrutiert ihre Aktivisten – wie dies sozialrevolutionäre Organisationen typischerweise taten – aus der Arbeiterschicht, unter Studenten, die entweder der Arbeiterschicht oder der Mittelschicht entstammen, oder aus einer von der Gesellschaft entfremde35
Vgl Schneider, Religio-politischer Terrorismus als Parasit, aaO. (FN 17), S. 151. Vgl. Gray, John, Die Geburt Al Qaidas aus dem Geist der Moderne, München 2004, S. 36-39. 37 Roy, Der islamische Weg nach Westen, aaO. (FN 4), S. 60. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 61. 36
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ten Mittelschicht. Olivier Roy stellt hierzu fest, dass die islamistischen Gruppen oft eine Mischung aus Anführern, die aus der gebildeten Mittelschicht stammen, und gescheiterten Existenzen aus der Arbeiterklasse seien – ein Muster, das an die meisten westeuropäischen Radikalen der siebziger und achtziger Jahre erinnere, nämlich an die RAF, die Roten Brigaden und die Action Directe.40 In den muslimischen Staaten, die meistens autoritär geführt werden, erfahren sogar Angehörige der gebildeten Mittelschicht Ausgrenzung, da sie nicht zur herrschenden Familie, zum herrschenden Klan oder zur oft bestimmenden Berufsgruppe (Militär) gehören. Sie sind zwar gut ausgebildet, doch ist ihnen der soziale Aufstieg verwehrt. Sie – wie auch die Studenten – sind von Arbeitslosigkeit bedroht, da die wirtschaftliche Entwicklung in den muslimischen Ländern keine Perspektiven bietet. Diejenigen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in westliche Industriestaaten ausgewandert sind, erleben die Ausgrenzung in „ghettoisierten Vierteln“. Weil sie durch ihr Leben in „Ausländerghettos“ nicht integriert sind und von der Mehrheitsgesellschaft nach wie vor als Ausländer gesehen und behandelt werden, erleiden sie dieselben Probleme, denen sie oder ihre Eltern bzw. Großeltern eigentlich entfliehen wollten. Sie fühlen sich weder im Ursprungsland noch im Einwanderungsland heimisch. Dies gilt besonders für die sogenannte zweite oder dritte Einwanderergeneration. Diese gescheiterten, frustrierten und perspektivlosen Existenzen aus der Arbeiterschicht oder der gebildeten Mittelschicht finden Halt und Identität im Islamismus. Sie nehmen auch radikale Positionen wie die Protesthaltung AlQaidas gerne auf, denn ihre Ideologie bietet einfache Antworten auf in Wirklichkeit komplexe Probleme an. Auch wenn Peter Waldmann generell die These, dass Terrorismus auf eine verbreitete Armut, vor allem in den Ländern der Dritten Welt (unmittelbar) zurückzuführen sei, als eine unbestreitbar irreführende Annahme für die Entstehung und Entwicklung von Terrorismus einstuft, schreibt er dies erläuternd: „Was nicht ausschließt, dass Armut und vor allem soziale Ungleichheit eine indirekte Bedeutung insofern zukommt, als sie, von Mittelschichtintellektuellen als entwürdigend und empörend empfunden, für diese ein Motiv bildet, eine terroristische Vereinigung mit sozialrevolutionären Zielen zu gründen oder ihr beizutreten.“41 Heinrich Krumwiede versucht, die wichtigsten Ursachen des Terrorismus heraus zu kristallisieren, die ihm zufolge in zwei verschiedene Typen von Bedingungen, Rahmen- und Prozessbedingungen, unterteilt werden. Bei den Rahmenbedingungen werden wiederum verschiedene Typen unterschieden (Push-, Pull- und Ermöglichungsfaktoren). Als einen der drei Push-Faktoren, der zu Terrorismus führen kann, sieht Krumwiede soziale Unzufriedenheit oder soziale Empörung. Er macht darauf aufmerksam, dass es „problematisch“ ist, „einen einfachen Zusammenhang zwischen großer sozialer Ungleichheit, intensiver sozialer Unzufriedenheit (bzw. sozialer Frustration, relativer Deprivation) und politischer Gewalt (und gar Terrorismus) zu postulieren.“42 Außerdem betont er, dass es keine monokausalen Zusammenhänge zwischen „objektiven“ Zuständen und „subjektiven“ Befindlichkeiten gibt. So könne „derjenige, dem es 'objektiv' recht gut gehe, intensivere soziale Unzufriedenheitsgefühle hegen als derjenige, dem es 'objektiv' schlecht gehe, denn er hat eine anspruchsvollere Erwartungshaltung und anspruchsvollere Vergleichsmaßstäbe.“43 Krumwiede weist mit diesen Differenzierungen schon ganz klar auf das Konzept der „rela40
Vgl. Roy, Der islamische Weg nach Westen, aaO. (FN 4), S. 63. Waldmann, Einleitung, aaO. (FN 21), S. 12. 42 Krumwiede, Heinrich-W., Ursachen des Terrorismus, in: Waldmann, Determinanten des Terrorismus, aaO. (FN 21), S. 29-84, hier S. 36. 43 Ebd. 41
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tiven Deprivation“ hin, das er ja auch schon selbst ausdrücklich als Maßstab für ein Empfinden sozialer Ungleichheit und Unzufriedenheit nennt. Ohne dies weiter auszuführen bemerkt er, dass „(d)er Hinweis auf die Komplexität der Materie (..) aber nicht die elementare Einsicht verschütten (sollte), dass tiefgreifende Unzufriedenheit erzeugende soziale Ungleichheit, die als sozial ungerecht gilt, nicht nur bei Unterprivilegierten, sondern auch bei relativ sozial Privilegierten (wie etwa Studenten) zur Ausbildung sozialrevolutionärer Neigungen und unter Umständen (...) zu terroristischen Gewalttaten führen kann.“44 Die Soziologin Melanie Reddig beschreibt einen Zusammenhang zwischen relativer Deprivation und islamistischem Terrorismus.45 Anders als bei der These der absoluten Deprivation, bei der objektive Armut, Unterdrückung und Ausgrenzung im Zentrum stehen, beziehe sich die These der relativen Deprivation allein auf die subjektive Wahrnehmung einer Deprivation. Entscheidend sei das Gefühl, sozial schlechter als erwartet gestellt zu sein.46 Terroristische Gewalt diene dann aus Sicht der relativen Deprivationsthese als ein Mittel, um die Ursache der perzipierten Unterdrückung zu bekämpfen.47 „Die These, dass relative Deprivation Individuen dazu motiviert, terroristische Gewalt auszuüben, kann implizit in zahlreichen Erklärungen für das Aufkommen des Islamismus und des islamistischen Terrorismus wiedergefunden werden.“ Reddig zieht den Soziologen Riesebrodt heran, der davon ausgeht, dass sich Individuen dem Fundamentalismus zuwenden, wenn sie unter sozialen Abstiegsängsten oder enttäuschten Aufstiegserwartungen litten. Das Erstarken des Islamismus im Nahen Osten führt Riesebrodt vor allem auf eine Bestrebungsdeprivation zurück: „Vielfach sind die Erwartungen dieser Gruppen hinsichtlich ihrer Berufsperspektiven, ihres wirtschaftlichen Wohlstandes, sozialen Aufstiegs und Prestiges an der Realität aufgeblähter Staatsapparate und verkrusteter Wirtschaftsstrukturen gescheitert. Als Reaktion darauf wenden sie sich oft gegen den Staat und projizieren ihre Aspiration in eine imaginierte gerechte Sozialordnung einer vergangenen Ära, die es zu restaurieren gelte.“48 Reddig beschreibt eingehend, wie es in Ägypten zu einer relativen Bestrebungsdeprivation der Mittelschicht gekommen sei, die sich dadurch dem Islamismus zuwandte und gegen die korrupte Elite des Landes stellte und wie daraus der ägyptische islamistische Terrorismus der Muslimbruderschaft, der Gamaa al Islamiyya, des Al Jihad hervorgegangen sei, der wiederum in den Terrorismus der AlQaida mündete, als sich die Aktivisten der Al Jihad unter der staatlichen Repression nach Afghanistan absetzten und sich AlQaida anschlossen.49 Doch träfe es keineswegs nur für Ägypten zu, dass es vor allem die Mittelschicht sei, die sich der islamistischen Ideologie und darüber hinaus dem militanten Aktionismus zuwende. Die islamistische Ideologie könne dazu beitragen, dass eine relative Deprivation überhaupt wahrgenommen werde.50 Die Übernahme der islamistischen Ideologie könne aber auch die Wahrnehmung einer bereits vorhandenen relativen Deprivation verändern. Die islamistische Ideologie biete – laut Mark Juergensmeyer, der von Reddig angeführt 44
Krumwiede, Ursachen des Terrorismus, aaO. (FN 42), S.36. Reddig, Melanie, Deprivation, Globalisierung und globaler Dschihad, S. 295ff., in: Kron/ Dies. (Hrsg.), Analysen des Transnationalen Terrorismus, aaO. (FN 17), S. 280-309. 46 Vgl. ebd., S. 293. 47 Vgl. ebd., 295. 48 Riesebrodt, Martin, Die fundamentalistische Erneuerung der Religionen, in: Kilian Kindelberger, Fundamentalismus. Politisierte Religion, Potsdam 2004, S. 24, zit. n. Reddig, Deprivation, Globalisierung und globaler Dschihad, aaO. (FN 53), S. 295. 49 Vgl. ebd. S. 295-297. 50 Vgl. ebd., S. 303. 45
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wird51 – mit den ihr enthaltenen Überzeugungen, Normen, Werten und Weltbildern einen Rahmen für die Deutung der sozialen Situation, in der sie sich befinden.52 Wenn die relative Deprivation, die sich aus einem sozialen Wandel ergibt, innerhalb eines religiösen Deutungsrahmens interpretiert würde, hätte dies Auswirkungen auf die Wahrnehmung der sozialen Situation. Tibi schreibt dementsprechend: „Ein Fundamentalist ist kein 'homo religiosus' sondern ein politischer Ideologe und Aktivist, der durch den Rückgriff auf das Religiöse Millionen von verzweifelten Menschen in einer desperaten Situation mobilisieren kann.“53 Davon ausgehend kommt man zu der Ansicht, dass viele vermeintlich religiös motivierte islamistische Terroristen weitgehend auch aus einer (im weiteren Sinne) sozialrevolutionären Motivation heraus handeln, nämlich als Reaktion auf die als ungerecht empfundenen sozio-ökonomischen Umstände, die sie für sich und die muslimischen Glaubensbrüder (die Gemeinschaft der Muslime, die umma(h), nimmt hier die Gestalt einer politischen Entität an; die Ansicht, dass die umma(h) eigentlich als politische Einheit und nicht als religiöse Einheit gedacht war, wird auch von Muslimen vertreten) nicht nur reformieren, sondern radikal, auf der Basis des Islam revolutionieren wollen. Ein wichtiger Aspekt, der hierbei zum Ausdruck kommt, ist, dass – laut Reddig – die islamistische Ideologie dazu beitragen kann, dass relative Deprivation die Form einer fraternalistischen Deprivation annehmen kann.54 Laut Tyler und Lind – von denen Reddig55 dieses Konzept übernimmt – entsteht bei der fraternalistischen Deprivation die relative Deprivation aus dem Vergleich der sozialen Situation der eigenen sozialen Gruppe mit der Situation der anderen sozialen Gruppen.56 Die Identifikation mit der Glaubensgemeinschaft werde beim Kampf gegen den Westen gestärkt, so dass Individuen nicht ihre eigene soziale Situation, sondern die soziale Situation der als „interessiert unterstellten“ Glaubensgemeinschaft mit der sozialen Situation anderer Gruppen – hier, der wohlhabendere feindliche Westen – miteinander vergleichen würden.57 Genauso wie Waldmann geht Krumwiede davon aus, dass ein (subjektives) Empfinden von relativer sozialer Ungleichheit, von Ungerechtigkeit und ökonomischer Unterdrückung zu sozialrevolutionären Motiven führen könne. Um an obige Differenzierung zwischen Ursachen, Motiven und Zielsetzung anzuknüpfen: die subjektive Wahrnehmung von sozio-ökonomischer Deprivation, vor allem das Gefühl einer relativen Ungleichheit, die Perzeption tatsächlicher, objektiver sozioökonomischer Missstände und Benachteiligungen als Ursache kann zu einem (sozialrevolutionären) Motiv führen, dessen Ergebnis Terrorismus ist. Die Analyse der sozialen Struktur AlQaidas und der Gruppe, die mit den Zielen, Forderungen von AlQaida symphatisieren zeigt, dass bei jungen Muslimen, die sich AlQaida anschließen oder mit ihrer Ideologie, ihren Zielsetzungen und Forderungen sympathisieren, 51
Vgl. Reddig, Deprivation, Globalisierung und globaler Dschihad, aaO. (FN 53), S. 304. Vgl. Juergensmeyer, Mark, From Bhindranwale to Bin Laden. The Rise of Religious Violence, S. 3, in: Global and International Studies Program, University of California, Paper 20, 2004, 1-9; Ders., Is Religion the Problem ?, S. 7, in: Global and International Studies Program, University of California, Paper 21, 2004, S. 1-10. 53 Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung, aaO. (FN 9), S. 23. 54 Reddig, Deprivation, Globalisierung und globaler Dschihad, aaO. (FN 45), S. 305. 55 Vgl. ebd., S. 292. 56 Tyler, Tom/ Lind, Allan, Understanding the Nature of Fraternalistic Deprivation. Does Group-based Deprivation Involve Fair Outcomes or Fair Treatment?, S. 45, in: Walker, Ian/ Smith, Heather (Hrsg.), Relative Deprivation. Specification, Development, and Integration, Cambridge, MA 2002, S. 44-68. 57 Reddig, Deprivation, Globalisierung und globaler Dschihad, aaO. (FN 45), S. 305. 52
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tatsächlich sozialrevolutionäre Motive vorliegen, auch wenn sie dann auf den Islam zurückgreifen, der für sie dann (auch) die Funktion einer sozialrevolutionären Protestideologie übernimmt. Bin Laden geht ja auch selbst davon aus, dass der Islam Prinzipien für ein gerechtes Wirtschaftssystem beinhaltet. Krumwiede diagnostiziert „bei der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Fundamentalismus und einer ihm angeblich eigenen Tendenz zum 'religiösen Terrorismus' (...) eine Neigung zu einer alarmistischen, von einer nüchternen Analyse weit entfernten Betrachtungsweise (...), die (islamischen) 'religiösen Terrorismus' als rational nicht faßbares, 'apokalyptisches', keiner weltlichen Bezugsgruppe und Rücksichtnahme verpflichtetes, besonderes Gewaltphänomen deutet.“58 Als Beispiel für solch eine „mythologisierende Sichtweise“ nennt er die Analyse des religiösen Terrorismus durch Bruce Hoffman. Damit offenbart Krumwiede, dass er religiösen Terrorismus als spirituell-religiösen oder transzendentalen Terrorismus komplett negiert. So wirft er Terrorismusforschern, die einen derartigen messianistisch-sakralen Terrorismus prognostizieren, „Alarmismus“ und „Mythologisierung“ vor. Dem kann mit dem Gesagten natürlich keine Geltung zugestanden werden. Auch er verkennt wie so viele, dass islamistische bzw. fundamentalistische Terroristen sowohl aufs Diesseits als auch aufs Jenseits bezogene Motive und Ziele haben. „Eine Tendenz zur Mythologisierung statt nüchterner Analyse“ sei „vor allem hinsichtlich des Bin Laden-/AlQaida-Phänomens zu erkennen“.59 Demgegenüber schlägt er eine „sozialwissenschaftlich-nüchtern(e)“ Analyse vor, die u.a. von folgender Annahme ausgehen soll: „Der islamische Fundamentalismus kann als psycho-soziale Begleiterscheinung des sozio-ökonomischen Modernisierungsprozesses gedeutet werden.“ Dies spricht dafür, dass Krumwiede letztendlich auch einer Ansicht zuneigt, nach der dem vermeintlich religiös motivierten Terrorismus eher politische, genauer, sozioökonomische Ursachen und damit auch sozialrevolutionäre Motive zugrundeliegen als irgendwelche „apokalyptische“, „mythische“, also „nüchtern betrachtet“ (um seinen eigenen Vorwurf gegen ihn zu verwenden) spirituell und transzendental religiöse. Die Besinnung auf den Islam in seiner umfassenden Form und der bewaffneter Kampf stiften ferner eine unangepasste und sinngebende Identität und bewirken die Umkehrung der Entfremdung. Roy stellt einen eindeutigen Generationenkonflikt fest. Der bewaffneter Kampf und die Rückkehr zum vermeintlich traditionellen und „reinen“ Islam ist für sie ihr Protest und ihre Revolte gegen die politische Lethargie der Eltern- und Großelterngeneration. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie sich mit der schlechten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in ihren politischen Heimatländern, mit der Unterdrückung durch die autoritären Machthaber abgefunden und arrangiert haben. Vatikiotis beschreibt die Einstellung des PLO-Terroristen Wadi Haddad in dieser Hinsicht so: „Dramatic and violent action, including terorism, was in his view what distinguished him and his generation from the supine, passive, collaborative generation of his father.“60 All dies erinnert an die sozialen Problematiken sozialrevolutionärer Terroristen: Studenten aus bürgerlichen Familien wollten sich mit der damals linken Protestkultur, die für manche in den bewaffneten Kampf mündete, weil man den friedlichen politischen Protest nicht als wirkungsvoll erachtete, gegen den Konformismus der Eltern auflehnen. Man woll58
Krumwiede, Ursachen des Terrorismus, aaO. (FN 42), S. 64-65. Ebd., S. 65. Vatikiotis, P. J., The Spread of Islamic Terrorism, S. 79, in: Netanyahu, Benjamin (Hrsg.), Terrorism. How the West Can Win, New York 1986, S. 77-83.
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te sich nicht mit vermeintlich unfairen gesellschaftlichen Verhältnissen abfinden. Auch hier haben wir eine Ähnlichkeit eines strukturellen Wesensmerkmals des vermeintlich religiösen Terrorismus von AlQaida mit sozialrevolutionärem Terrorismus. Die Religion Islam, die nach ihrer Interpretation für eine gerechte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung postuliert, dient für AlQaida nach dem Scheitern der „islamisch-sozialistischen“ Protestideologie nunmehr als Blaupause, um dem Protest mithilfe der kohärenten Weltanschauung des Islam eine hohe Legitimität zu verleihen. Reddig bemerkt hierzu, dass „das Feindbild, das die islamistische Ideologie vermittelt, (..) ein wichtiger Faktor für die Motivation, mit kollektiver politischer Gewalt gegen relative Deprivation vorzugehen, weil damit die Verantwortung relative Deprivation eindeutig zugeschrieben wird. Zudem vermittelt die islamistische Ideologie die Vorstellung, dass der Kampf eine höhere moralische Legitimation hat, weil er nicht in erster Linie um materielle Güter, sondern um spirituelle Güter geführt wird.“61 Zur Untermauerung ihrer Argumentation führt sie eine Analyse der renommierten Terrorismusforscherin Jessica Stern an: „When leaders express grievances in religious or spiritual terms, they give contestants the feeling they are fighting over eternal, spiritual values, rather than fleeting, material ones such as natural resources or territory.“62 Mit dieser Argumentation ließe sich einerseits Burkes oben geäußerte Ansicht erklären, andererseits könnten aber auch die spirituell-religiösen Elemente eines Manichäismus und Chiliasmus aber wiederum als taktische Instrumente zur Artikulation eigentlich politischer Forderungen gedeutet werden.
3.5 Kapitalismuskritik Mittlerweile lässt Osama bin Laden auch dezidiert anti-kapitalistische Kritik verlautbaren. In seiner Rede anlässlich des 6. Jahrestages der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA äußerte Osama bin Laden deutliche Kritik am Kapitalismus. Er kritisiert, dass das die Welt dominierende demokratische System dabei versagt, die Menschen vor der Habgier der großen Unternehmen und ihrer Repräsentanten zu schützen.63 Er empfiehlt den Menschen in den westlichen Gesellschaften: „as you liberated yourselves before from the slavery of monks, kings, and feudalism, you should liberate yourselves from the deception, shackles and attrition of the capitalist system.“64 Er stuft das kapitalistische System als „harsher and fiercer“ als die im Mittelalter vorherrschenden Gesellschaftssysteme ein.65 Er bemängelt, dass das kapitalistische System versucht, die gesamte Welt in einen Machtbereich der größten Unternehmen unter dem „Label“ der Globalisierung zu verwandeln. Es drängt sich hier die Frage auf, warum Osama bin Laden seit kurzem deutlich antikapitalistische Forderungen erhebt: einerseits könnte er dies zur Tarnung seiner wahren Beweggründe benützen, andererseits könnte er dies aus berechnenden taktischen Gründen tun. Im Kern dient dieses Vorgehen wohl einer erweiterten integrativen Basis, sowohl in 61
Reddig, Deprivation, Globalisierung und globaler Dschihad, aaO. (FN 45), S. 305. Stern, Jessica, Terror in the Name of God. Why Religious Militants Kill, New York 2003, S. 84, zit. n. Reddig, Deprivation, Globalisierung und globaler Dschihad, aaO. (FN 42), S. 305. 63 Vgl. bin Laden, Osama Rede anlässlich des 6. Jahrestages der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA, Transcript, http://abcnews.go.com/images/Politics/transcript2.pdf, zuletzt aufgerufen am 15. Dezember 2007, S. 5. 64 Ebd. 65 Vgl. bin Laden, Rede anlässlich des 6. Jahrestages der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA, aaO. (FN 63). 62
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den Ursprungsländern AlQaidas, als auch im Westen. Gerade in der Unterschicht und in der frustrierten Mittelschicht dürfte der Same der Kapitalismuskritik auf fruchtbaren Boden fallen. Einige mögen behaupten, dass seine Kapitalismuskritik und die Kritik an multinationalen Konzernen eigentlich wenig überzeugend sei, wo doch die Firma der Familie des Betriebswirtschaftlers und international tätigen Geschäftsmanns66 Osama bin Ladens selbst eine international tätige Firma innehat – die Bin Laden Group. Gerade er mit seinem Reichtum, aus dem saudi-arabischen Großbürgertum stammend, dürfte nichts gegen den Kapitalismus einwenden. Seine Herkunft und soziale Stellung sei doch eigentlich völlig untypisch für sozialrevolutionäre Terroristen. Doch bin Laden sieht sein Handeln aus selbstlosen, altruistischen Gründen heraus motiviert: er bemängelt die desperaten sozio-ökonomischen Bedingungen seiner Glaubensgemeinschaft, der umma(h) und will mit seinem Kampf die Bedingungen seiner Glaubensbrüder verbessern. Dies deckt sich mit den vermeintlich selbstlosen, altruistischen Motiven vieler aus dem Bürgertum stammender Studenten, die sich sozialrevolutionären Gruppen anschlossen, um gegen die ungereche Benachteiligung der Arbeiter und der Dritten Welt zu kämpfen („als interessiert unterstellter Dritter“). Bei bin Laden liegt die Perzeption einer fraternalistischen Deprivation vor, die ihn dazu veranlasst die Bedingungen anzuprangern, denen er eigentlich seinen persönlichen Reichtum verdanken. Bin Laden genießt hohen Repekt bei vielen Muslime, weil er gerade nicht einfach nur seinen Reichtum genießt, sondern weil er doch die Bürde eines harten, entbehrungsreichen Leben eines Glaubenskriegers auf sich nehme, der für seine Glaubensbrüder einsteht und sich deshalb vor seinem übermächtigen Gegner in einer rastlosen und aufreibenden Flucht in unkonfortablen Höhlen verstecken müsse. Dies hat ihm unter vielen jungen Muslime einen Heldenstatus eingebracht, er ist für sie ein muslimischer Robin Hood, der den Reichen wegnehmen und den Armen geben will. Antikapitalistische Forderungen, die er auch tatsächlich persönlich vertreten mag, bringen ihm auf jeden Fall Prestige, Symphatie und vielleicht auch konkrete Unterstützung ein. Roy geht soweit, in einer Kapitelüberschrift zu fragen, ob der Dschihad mehr mit Marx zu tun hat als mit dem Koran.67 Er meint: „Zwar sind die Mittel vollkommen verschieden, aber die gegenwärtigen islamischen Radikalen sind nicht zu verstehen, wenn wir nicht erkennen, dass ihre Wurzeln und die des westlichen modernen Anti-Imperialismus verwandt sind. Häufig findet man bei islamischen Radikalen eine Mischung aus Geboten des Koran und pseudo-marxistischen Erklärungen.“68 Er konstatiert, dass AlQaida an einem Kreuzungspunkt zwischen der Tradition marxistischer Bewegungen sowie radikaler DritteWelt-Organisationen und der islamischen Radikalisierung steht.69 „Mit dem Anspruch, die Vorhut der muslimischen Umma zu sein, zieht AlQaida die Radikaleren unter den Muslimen an, die auf der Suche nach einer anti-imperialistischen Struktur sind, aber keine radikalen linken Organisationen finden oder von den vorhandenen enttäuscht sind.“70 Dieses Argument stützt wiederum das obige Argument, dass den Islamisten der Islam einfach als ideologische Blaupause für politisch-sozial orientierten Protest dient.
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Man denke an die Bau- und Infrastrukturprojekte, die bin Laden während seiner Zeit im Sudan dort durchgeführt hat. 67 Vgl. Roy, Der islamische Weg nach Westen, aaO. (FN 4), S. 55. 68 Ebd., S. 61. 69 Vgl. Roy, Der islamische Weg nach Westen, aaO. (FN 4), S. 62. 70 Ebd.
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Sämtliche aus einer säkularisierten Sicht politischen Zielsetzungen AlQaidas zielen auf den Umsturz der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und auch sozialen Ordnung ab. Sie sind revolutionär. Die Gesellschaftsordnung, das Wirtschaftssystem und die sozialen Beziehungen sollen auf der Grundlage eines ökonomisch-sozial anmutenden islamischen Verständnisses gerechter gestaltet werden. Die Einkünfte aus dem Verkauf von Öl und anderen Bodenschätzen sollen gerechter verteilt werden, die Vormacht der herrschenden Eliten (der Familiendynastien, wie die der Sauds und Mubaraks; des Militärs z.B. in Ägypten, Libyen und auch Algerien) soll durchbrochen werden. Da in der neuen Ordnung die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander fundamental unterschiedlich auf der Basis einer islamischen Ordnung gestaltet werden sollen, könnte man die Forderungen und Zielsetzungen auch als sozialrevolutionär im weiteren Sinne bezeichnen.
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Fazit
Der Islam ist immer noch das wichtigste Identitätsmerkmal in muslimischen Ländern und damit auch zentrales Movens und primäres Integrationsinstrument für dort ansässige oder beheimatete terroristische Organisationen. Mit dem Rückgriff auf islamische Bezüge sowie durch eine Konstruktion vermeintlicher islamischer Gebote, dass alle Muslime eine individuelle Pflicht hätten, einen defensiven Dschihad auch mit terroristischen Mitteln gegen Amerikaner, Juden und Europäer zu führen, versucht AlQaida erfolgreich, ihrem Terrorismus religiöse Legitimität zu verleihen und damit Unterstützung und Symphatie zu gewinnen. Die ideologische Führung AlQaidas instrumentalisiert die Religion, um ihre eigentlich politischen Ziele zu erreichen. Dazu schreibt Tibi: „Der Islam wird von Fundamentalisten als eine Artikulationsform herangezogen und dient ihnen dazu, politische und soziale Belange in ein religiöses Gewand zu kleiden.“71 AlQaidas Ideologie deckt insgesamt eine große Bandbreite von Themen ab. Sie ist ein Sammelsurium von verschiedenartigen Kritikpunkten, die in der muslimischen Welt äußerst populär sind und großen Zuspruch vor allem bei jungen Muslimen ernten. Sie drückt eine allgemeine Protesthaltung aus. Bei AlQaida muß man davon ausgehen, dass – nicht nur, aber auch – aus berechnenden taktischen Gründen Ideologeme anderen Ideologien, auch der sozialrevolutionären, entnommen werden, um einen möglichst großen Kreis potentieller Unterstützer und Sympathisanten anzusprechen. Dies ist ein beliebtes Muster terroristischer Organisationen, um ihren Unterstützerkreis zu erweitern.72 AlQaida vertritt z.B. in der muslimischen Welt populäre anti-imperialistische und anti-amerikanische Forderungen und versucht diese Positionen den Muslimen als vom Islam gebotene Positionen „zu verkaufen“. So werden sozial-revolutionäre Positionen, die bei den Muslimen, die tatsächlich unter sozio-ökonomischen Problemen leiden, äußerst populär sind, zusätzlich religiös „verpackt“ und legitimiert. Der Islam wird zum supplementären Integrations- und Legitmitationsinstrument instrumentalisiert. Dabei gehen Islamisten soweit, ihre eigenen Ansprüche und Prinzipien aufgeben: einerseits propagieren sie ihre Interpretation des Islam als die einzig wahre und universal gültige, weil sie die offenbarten, universal und allzeit gültigen Quellen des Islam lediglich rein wörtlich interpretierten, alles andere wäre Häresie. Doch dann wird die Interpretation des Islam, des Koran und der Sunna entgegen aller eige71 72
Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung, aaO. (FN 9), S. 58. Siehe dazu den Beitrag von Alexander Straßner in diesem Band.
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ner Ansprüche von ihnen so weit gedehnt, um in jeder Kultur geächtete Mittel, die nach einem Wortlaut des Korans sogar als verboten erklärt wurde, mithilfe von weiten Interpretationen und pseudotheologischen Konstrukten scheinbar religiös zu legitimieren: um Selbstmordanschläge auf unschuldige Frauen, Kinder und Alte pseudoreligiös postulieren und legitimieren zu können, mussten die Ideologen von AlQaida auf etwas zurückgreifen, was sie selbst über alle Maßen verachten und was laut zahlreichen islamistischen Vordenkern ein Zeichen der Häresie ist: die Neuerung, bida. Der Rückgriff auf den Islam erfolgt bei ihnen auch nur so, dass er den eigenen Zwecken, den eigenen Motiven und Zielen dient, äußerst selektiv und verzerrt. Sozialrevolutionäres Gedankengut erweist sich so als zusätzlicher Integrationsanreiz für die Islamisten, da es in der desperaten sozio-ökonomischen Situation vieler Muslime sich mit der generellen politischen Aufladbarkeit des Islam ideal kombinieren lässt. Insofern geriert sich AlQaida heute als terroristischer Gemischtwarenladen, lavierend zwischen den Idealtypen.
Folgerungen
Die Zukunft des sozialrevolutionären Terrorismus Alexander Straßner
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Terrorismusforschung und Prognostik
Prognosen leiden in der Regel darunter, etwas mit der Zukunft zu tun zu haben. Insofern ist eine wissenschaftliche Prognostik ohnehin stets ebenso fehlerhaft wie ihre genuine Aufgabe: Aus bestehenden oder vergangenen gesellschaftlichen Herausforderungen zukünftige Entwicklungen abzuleiten oder gar Trends und Tendenzen aufzuzeigen, um frühestmögliche politische Bewältigungsmaßnahmen treffen zu können. Gerade im Bereich der Terrorismusforschung kämpft die Wissenschaft einerseits mit der Notwendigkeit, Bedrohungspotentiale frühzeitig zu erkennen und damit Bekämpfungsmöglichkeiten deutlich zu machen, andererseits aber auch sich mit der öffentlichen Aufgeregtheit, die der Thematik doch stets innewohnt, auseinanderzusetzen.1 Insofern ist es kaum verwunderlich, dass einige der selektiv am Beispiel AlQaida entworfenen Zukunftsszenarien mitunter apokalyptischen Charakter haben.2 Auf der anderen Seite haben sich auch futuristisch orientierte Wissenschaftler aus Nachbardisziplinen der Politikwissenschaft oder gar der Informatik zu Wort gemeldet, die einer elektronisch möglichen massiven Datenspeicherung zur Terrorismusbekämpfung das Wort redeten und nachgerade Orwellsche Dimensionen vorhersagten.3 Monokausal unwissenschaftliche, nivellierende und damit stets unterkomplexe Darstellungsversuche mussten vor diesem Hintergrund stets zu kurz greifen, so populär sie in der Öffentlichkeit auch zu verkaufen sind. Am Anfang aller nur schwer zu leistenden wissenschaftlichen Vorhersagefähigkeit zur Terrorismusforschung muss dabei jedoch immer die Generalisierung stehen. Für die Terrorismusforschung heißt dies, für alle realtypischen Erscheinungsformen unterschiedlicher Provenienz zumindest ähnliche Erklärungsansätze herleiten zu können.4
1 Siehe zur Problematik besonders Eckert, Roland, Die Eskalation unregulierter Konflikte. Möglichkeiten und Grenzen der Prognose von Terrorismus, in: Kemmesies, Uwe (Hrsg.), Terrorismus und Extremismus. Der Zukunft auf der Spur, München 2006, S. 71-84. 2 Vgl. dazu etwa Scheerer, Sebastian, Die Zukunft des Terrorismus. Drei Szenarien, Lüneburg 2002. Auch in renommierten Instituten und den Kreativabteilungen der strafverfolgenden Behörden werden eindringliche Gedankenexperimente zu wahrscheinlichen Anschlagsszenarien hochstilisiert. Siehe dazu „Maritimer Terrorismus“, in: Der Spiegel Nr. 18/2007, S. 100-101. 3 Siehe dazu „Terroristensuche in Telefonnetzen?“, in: Spektrum der Wissenschaft Nr. 2/2007, S. 108-113. Gerade die Fortschritte in Forensik und Neurophysiologie aber eröffnen auch fruchtbare neue Dimensionen der Terrorismusbekämpfung, jedoch auch der Klärung seiner Ursachen. Ging der italienische Arzt und Psychologe Cesare Lombroso noch Mitte des 19. Jahrhunderts davon aus, Avitaminose würde eine Mitvoraussetzung für terroristisches Gebaren von Individuen sein, wenden sich moderne Physiologen einmal mehr den zerebralen Voraussetzungen zu. Jenseits der Ursachenforschung wird dabei auch die Frage der Schuldfähigkeit aus naturwissenschaftlicher Perspektive aufgerollt. Siehe dazu besonders Markowitsch, Hans J./Siefer, Werner, Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens, Frankfurt am Main 2007. 4 Siehe dazu Straßner, Alexander, Terrorismus und Generalisierung. Gibt es einen Lebenslauf terroristische Gruppierungen?, in: Zeitschrift für Politik Nr. 4/204, S. 359. Aktuell dazu auch Sirseloudi, Matenia M., Zur Prozessdy-
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Aus der Feststellung, dass eine terroristische Organisation noch niemals ihr Ziel, die Überwindung eines bestehenden politischen oder gesellschaftlichen Systems durch Gewalt, erreichen konnte5, nährt die Vermutung, dass der Zerfall terroristischer Organisationen vorhersehbar und in ihren Entstehungszusammenhängen sowie ihrer Methodik bereits angelegt ist. Eine Handlungsoption für politische Eliten ergibt sich daraus freilich nicht: Staatliche Institutionen, Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste erfüllen letztendlich den Zweck, die natürliche Schutzfunktion des Staates gegenüber seinen Bürgern aufrecht zu erhalten. Der Luxus, terroristische Organisationen bis zu ihrem Zerfall gewähren zu lassen, verbietet sich dahingehend und würde von terroristischen Gruppen wie der Bevölkerung als Schwäche ausgelegt. Unter den Spielarten des Terrorismus hat sich der religiös motivierte Typus als der langlebigste erwiesen, und auch ethnisch-separatistische Gruppierungen wie ETA und IRA konnten mehrere Jahrzehnte taktisch und militärisch handlungsfähig bleiben. Der sozialrevolutionäre Terrorismus ist unter den drei Idealtypen der mit Abstand kurzlebigste, wenngleich die jeweilige Lebensdauer der verschiedenen Organisationen durchaus zu variieren vermochte. Während sich einige Organisationen wie die RAF oder die Revolutionären Zellen auflösten, beendeten andere ihre Existenz weniger pathetisch und spektakulär, sei es durch komplette Verhaftung der Führungsebene (Action Directe, Cellules Communistes Combattantes) oder durch internationale Zersplitterung (Japanische Rote Armee). Andere Organisationen wie die Roten Brigaden Italiens scheinen, abhängig von gesellschaftlichen und internationalen Rahmenbedingungen, zwar langjährig inaktiv gewesen zu sein, von ihrer grundsätzlichen Attraktivität und Bindekraft aber wenig verloren zu haben.6 Ebenso different ist der gesellschaftliche Umgang mit ehemaligen Sozialrevolutionären: Während ehemalige Mitglieder der uruguayischen Tupamaros heute Ministerämter bekleiden, ist es in der Bundesrepublik unvorstellbar, ehemaligen Mitgliedern der RAF oder der Bewegung 2. Juni politische Verantwortung zu übertragen.7 Die Gründe für die relative Kurzlebigkeit sozialrevolutionärer terroristischer Organisationen zu erklären ist zentraler Gegenstand des letzten, den Sammelband beschließenden Beitrages. Darin eine Geringschätzung des ideologisch motivierten Terrorismus zu lesen würde aber eine krasse Fehlinterpretation bedeuten. Im Gegenteil ist die augenblickliche Tendenz staatlicher strafverfolgender und geheimdienstlicher Institutionen, bei personellen Neueinstellungen vornehmlich Arabistiker und AlQaida-Experten zu berücksichtigen, eine fatale Entwicklung, die sich allein am „Schweine-Zyklus“ orientiert. Im Gegenteil soll aufgezeigt werden, dass Begründungszusammennamik terroristischer Kampagnen, in: Kron, Thomas/Reddig, Melanie (Hrsg.), Analysen des transnationalen Terrorismus, Wiesbaden 2007, S. 310-333. 5 Waldmann, Peter, Terrorismus, Provokation der Macht, München 2005, S. 17-22. 6 So wurden 2001 zwei Regierungsberater durch Rotbrigadisten ermordet. Anfang 2007 wurden bei Razzien in Italien sogar 16 Mitglieder einer Organisation verhaftet, die verantwortlich gemacht wurde, an der Gründung einer terroristischen Vereinigung und der Vorbereitung terroristischer Anschläge beteiligt gewesen zu sein. Siehe dazu „Rote Brigaden planten Attentat an Ostern“, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.02.2007, S. 6 und „Das rote Gespenst lässt Italien erzittern“, in: Süddeutsche Zeitung vom 16. 02.2007, S. 8. 7 Die Mehrzahl ehemaliger Aktivisten führt heute ein unauffälliges Leben, meist von staatlicher Seite alimentiert oder durch Gelegenheitsarbeiten ihren eigenen Lebensunterhalt finanzierend. Einige wenige sind in sozialpädagogischen Diensten untergekommen. In der Öffentlichkeit scheint aber ein Unverständnis in beiden Richtungen zu herrschen. Treten ehemalige Frontkämpfer wie Peter-Jürgen Boock in den Medien auf, wird ihnen „Sündenstolz“ und die pekuniäre Vermarktung ihrer militanten Vergangenheit vorgeworfen. Im umgekehrten Falle und dem Rückzug in die individuelle Isolation wird die Unterstützung aus Steuermitteln für ehemalige Systemfeinde angeprangert. Siehe dazu „Die RAF als Porno, in: Die Zeit vom 26.04.2007, S. 1.
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hänge und Motive für sozialrevolutionären Aktivismus keineswegs verschwunden sind, seine Prävention und Bekämpfung auch weiterhin staatliche Aufgabe sind.
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Der Zerfall terroristischer Organisationen
Wie in zahlreichen monographischen Abhandlungen gezeigt worden ist, scheint Terrorismus auf Dauer eine nicht Ziel führende Strategie zu sein. In der Tat hat noch keine terroristische Organisation ihre Ziele tatsächlich erreicht. Die wenigen Beispiele von Revolutionen (Kuba, Algerien) standen stets im Zusammenhang mit einer Guerilla-Armee, die ein Hinterland ebenso zu nutzen wusste wie die Unterstützung weiter Bevölkerungsteile. Der Terrorist vermag diese Vorteile nicht zu nutzen, da sein Anliegen in der systematischen Perhorreszierung der Bevölkerung und der Verbreitung von Angst und Schrecken besteht, nicht aber in der Gewinnung von Bevölkerungssympathien oder gar in der Entwicklung einer positiven Systemalternative. Die Gründe für die Erfolglosigkeit des terroristischen bewaffneten Kampfes sind aber auch auf der aktionistischen und der systemischen Ebene zu suchen.
2.1 Zwei konkurrierende Modelle terroristischer Aktionen Für terroristische Organisationen ergeben sich aus ihren Startbedingungen ähnliche Probleme, unabhängig von ihrer Motivlage. Als kleine Gruppe, die besonders in ihrer Entstehungszeit besonders verletzlich gegenüber staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen ist, ist sie nicht nur angewiesen auf ein erfolgreiches und integratives „product placement“, sondern darüber hinaus auch auf eine Sicherstellung ihrer Finanzierung und eine dauerhafte Rekrutierung von Mitgliedern. Um zu diesen mittelfristigen Zielen zu gelangen, muss die Organisation auf sich aufmerksam machen, ihre gesellschaftliche Relevanz betonen und durch Aktionen für relativen Zulauf Sorge tragen. Zur Realisierung dieses Vorhabens haben sich zwei grundlegende Modelle herausgebildet. Während das Bild der Aktions-RepressionsSpirale expressis verbis von der baskischen Separatistenorganisation ETA (Euskadi ta askatasuna) als positiv aktivistisches Momentum terroristischer Aktion gezeichnet worden ist, beschreibt das Modell der „Militanzfalle“ eine autopoietische Entwicklung, der sich keine terroristische Organisation zu entziehen vermag.
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Abbildung 1
Zwei Modelle terroristischer Eigendynamik
Terroristische Radikalisierung Taktik oder Nebeneffekt?
„AKTIONS-REPRESSIONS-SPIRALE“
Terrorismus als Strategie kleiner Gruppierungen („low intensity“)
TERRORISTISCHE ORGANISATION
Unterstützung
„MILITANZFALLE“
Anschlag
Notwendigkeit eines Transportmediums zur Verbreitung von Angst und Schrecken
STAAT Adressat politischer Gewalt Æ Reaktion? • versuchte Provokation
Terrorismus gerät in Abhängigkeit von Medienlogik: nur Wandel der Anschlagsmuster (logistische Überforderung) oder Steigerung der Aggressivität sichert öffentliche Aufmerksamkeit und Medienpräsenz
Repression
GESELLSCHAFT • Unterstützerpotential • Rekrutierungspool • Gradmesser für Berechtigung des terroristischen Kampfes
sukzessive Radikalisierung und Brutalisierung der terroristischen Vorgehensweise, wachsende Distanz zwischen Gesellschaft und Organisation zunehmende Isolation und Verfall ideologischer Grundmuster
Quelle: Eigene Schematisierung
Das Modell positiver terroristischer Provokation (Aktions-Repressions-Spirale) impliziert, dass eine staatliche Ordnungsmacht auf eine terroristische Herausforderung immer nur mit gesteigerter Repression reagieren kann. Am Anfang steht dabei stets ein terroristischer Präzedenzfall, der zeigen soll, dass es eine aus der Gesellschaft hervorgehende Opposition gibt, die das staatliche System auf militantem Wege anzugreifen in der Lage ist. Da es das Anliegen der Organisation ist, das zu bekämpfende System zu demaskieren, geht das Modell davon aus, dass es in der Bekämpfung der terroristischen Herausforderung seinen repressiven Charakter offenbart. Auf den ersten Anschlag folgt daher eine systematische Repression mit gesteigerter Beschneidung individueller Freiheitsrechte, vermehrten Kontrollen, Eingriffen in die gesellschaftliche Autonomie etc. In den Teilen der Gesellschaft, die bis dato der terroristischen Organisation kritisch gegenüber standen, wird daher zunehmend erkannt, dass der Charakter des Systems tatsächlich repressiv ist. Der terroristischen Gruppierung erschließt sich so die Möglichkeit, aus dem gesellschaftlichen Fundus an potentiellem Unterstützerpotential mehr und mehr Mitglieder auf die eigene Seite zu ziehen. Dabei hat dieser personelle Zustrom nicht nur eine rein quantitative, sondern auch qualitative Dimension. Denn mit dem personellen Zuwachs verschafft sich die Organisation ein Mehr an Finanzkraft, aber auch eine Steigerung logistischer Fertigkeiten und technischen Know-Hows. So ausgestattet scheinen die ersten terroristischen Aktionen nicht mehr ausreichend, ist doch nun ein größerer, logistisch aufwändigerer Anschlag mit mehr Todesop-
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fern, eventuell aber auch ein Attentat auf einen führenden Vertreter der Staatsmacht möglich. Auf die neuerliche Anschlagswelle reagiert der Staat mit noch mehr Repression, was der Organisation noch einmal mehr Mitglieder und damit Möglichkeiten zuführt. Einmal in dieser Logik der Gewaltspirale gefangen, vermag der Staat nicht mehr auszubrechen, womit die Revolution unausweichlich ist. In modernen Mediengesellschaften ist die Eskalationsspirale kein Phänomen, das von terroristischen Organisationen den staatlichen Behörden aufgezwungen werden kann. Im Gegenteil sind terroristische Gruppierungen selbst Leidtragende ihrer auf Medien abgestellten Selbstvermarktungsstrategie. Als stets relativ kleine Gruppierung sind sie auf die dynamisierende und katalysierende Wirkung der Medien angewiesen, die ihre Anliegen verbreiten und ihre Aktionen durch Berichterstattung unterfüttern sollen.8 Gleichzeitig bedeutet die Nutzung der Medien jedoch auch einen gravierenden Nachteil: Der Wert einer Nachricht bemisst sich unter anderem dadurch, dass nicht ähnliche oder gar identische Nachrichten mehrmals wiederholt werden. Gerade am Beispiel des Selbstmord-Terrorismus der Hamas und des Islamischen Dschihad im Nahen Osten wie der AlQaida im Irak wird deutlich, wie bei repetierenden Anschlagsmustern die öffentliche Aufmerksamkeit im Westen abnimmt. Insofern sind terroristische Organisationen dazu gezwungen, entweder ihre Anschlagsmuster dauerhaft zu modifizieren (aus diesem Grund hat AlQaida bei Anschlägen in der westlichen Welt noch niemals zweimal dasselbe Anschlagsszenario geboten: 2001 in New York und Washington Flugzeuge, 2003 in Madrid Züge, 2004 in London Busse und U-Bahnen) oder aber stets größere, grausamere oder symbolisch wirksamere Aktionen durchzuführen. Hierbei stoßen aber besonders sozialrevolutionäre terroristische Organisationen rasch an ihre logistischen Grenzen. Weder personell noch organisatorisch sind sozialrevolutionäre Gruppen langfristig in der Lage, den Status einer gesellschaftlichen Bedrohungsmacht dauerhaft aufrecht zu erhalten. Sich dieser Tatsache bewusst, hält in sozialrevolutionären Gruppen eine Tendenz Einzug, die an moderne Massenbürokratien erinnert. Da der Sozialrevolutionär für eine ideologische determinierte Wahrheit kämpft, vermag er vorheriges Verhalten nicht zu hinterfragen oder es zu modifizieren, wäre beides doch ein Eingeständnis, entgegen der Wahrheit und damit fehlgeleitet gehandelt zu haben. Konfrontiert mit Kritik und externem Druck versucht die Organisation daher, durch professionalisierte und nicht selten auch brutalisierte Vorgehensweisen den eigenen Aktionen ein größeres Gewicht zu verleihen. Nunmehr befindet sich die Organisation selbst in einem Dilemma: Die effektivierten Anschläge sind nämlich noch weniger nachvollziehbar für die Sympathisanten und die Gesellschaft, was die Isolationstendenzen nur noch radikalisiert. Am Ende dieser Entwicklung steht eine auf eine Kerngruppe geschrumpfte terroristische Organisation, die in ihrer Gefährlichkeit und auch der Zahl ihrer Todesopfer meist über ihre Entstehungszusammenhänge hinauszureichen vermag. Strukturell aber ist ihr Zusammenbruch ab diesem Punkt nur noch eine Frage der Zeit. Neben den grundlegenden taktischen Restriktionen, die terroristische Organisationen so limitieren, sind es daher auch gruppeninterne Zwänge, die eine dauerhafte und letztlich auch erfolgreiche Existenz der Gruppe verhindern.
8 Zum symbiotischen Verhältnis zwischen Terrorismus und Medien siehe Neidhardt, Friedhelm, Kalkül mit der Angst. Terrorismus, Medien und die Grenzen der Gelassenheit, in: WZB-Mitteilungen, H. 113/2006, S. 10-13 und Glaab, Sonja (Hrsg.), Medien und Terrorismus. Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung, Berlin 2007.
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2.2 Systemische Ursachen Aus den begrifflichen Problemen ebenso wie den normativen Friktionen ist abzuleiten, dass eine international anerkannte, konsensfähige Definition von Terrorismus unmöglich ist. Auch eine einheitliche Theorie des Terrorismus ist so nur schwerlich zu leisten.9 Wie aber bisher deutlich geworden ist, vollziehen sich Entstehung und Wandel sozialrevolutionärer terroristischer Organisationen häufig nach einem bestimmten Muster. Da dieses Muster für zahlreiche Organisationen zu gelten und stets nach einer relativ begrenzten Lebensspanne auf ein Auseinanderbrechen der jeweiligen Organisation zuzulaufen scheint, muss die Frage nach dem Grund für diese Entwicklung gestellt werden. Unter systemtheoretischen10 Gesichtspunkten sollen daher die Zerfallsmuster terroristischer Organisationen nachgezeichnet werden. Dabei sind idealtypisch und mit steigender Wahrscheinlichkeit fünf Möglichkeiten der Auflösung terroristischer Gruppierungen denkbar:
Auflösung durch Erfolg: Ein erfolgreicher Kampf, das Erreichen eines Ziels und damit die Beseitigung des bekämpften Systems machen die Existenz der terroristischen Organisation obsolet; Auflösung durch Zwischenlösung: Die terroristische Gruppierung ringt durch ihre Aktivität der staatlichen Ordnungsmacht ein Zugeständnis ab, welches die Organisation als ausreichend ansieht und akzeptiert oder sie geht in einer anderen Gruppierung auf, in der Hoffnung, den bewaffneten Kampf dort erfolgreicher gestalten zu können; Auflösung durch Legalisierung: Die terroristische Organisation erkennt, dass das alleinige Verfolgen einer militärischen Strategie nicht zielführend ist und wandelt sich zu einer politischen Partei oder legalen sozialen Bewegung, die versucht, die Interessen der Organisation auf systemkonformem Wege durch Partizipation am politischen Prozess durchzusetzen; Auflösung durch Zerschlagung: Die Existenz der terroristischen Organisation wird durch die Verhaftung der führenden Mitglieder in einer einmaligen Aktion oder in kurzen Zeitabständen und das gleichzeitige Fehlen von personellem Nachwuchs und regenerationsfähiger Logistik dauerhaft beendet; Auflösung durch Strukturkollaps: Die Akteure der Organisation beenden von sich aus nach einer temporär begrenzten Phase und internen Verwerfungen (Spaltungstendenzen) den eigenen Aktivismus ohne Bedingung und in der Überzeugung, mit der bisherigen Vorgehensweise die gesteckten Ziele nicht erreichen zu können.
Allein die drei letzteren Erscheinungsformen des strukturellen Endes terroristischer Gruppen waren bisher zu beobachten. Noch nie konnte eine terroristische Organisation durch Anwendung systematischer Gewalt und die Verbreitung von Furcht und Schrecken ihre Ziele erreichen. So können terroristische Organisationen zwar durchaus punktuell staatliche Institutionen dazu zwingen, auf die Aktions-Repressions-Spirale einzugehen. ES handelt sich dabei aber erstens stets nur um eine temporär begrenzte Eskalation, zweitens beinhaltet es zumindest in Demokratien immer nur eine graduelle Verschiebung staatlicher Strategien der Terrorismusbekämpfung, niemals aber um basale qualitative Veränderungen des Sys9
Hirschmann, Kai Terrorismus, Hamburg 2003, S. 6. Siehe dazu auch Japp, Klaus P., Terrorismus als Konfliktsystem, in: Kron, Thomas/ Reddig, Melanie (Hrsg.), Analysen des transnationalen Terrorismus, aaO. (FN 4), S. 166-193.
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temcharakters selbst. Selbst erfolgreiche Revolutionen als Folge von Aufstandsbewegungen wie in Kuba oder Nicaragua stellen mehr die typische Form einer Guerilla dar. Außerdem ist eine derartige Auflösung durch Erfolg bis dato niemals allein auf das Wirken der terroristischen Organisation zurück zu führen gewesen, sondern wurde stets von die Absichten der Aktivisten befördernden, internationalen Rahmenbedingungen verstärkt (Entkolonialisierung).11 Eine Zwischenlösung in Form eines Kompromisses kommt für extremistische Individuen aufgrund ihrer manichäischen Welteinteilung nicht in Frage. Dagegen verfolgten bis heute zahlreiche terroristische Organisationen zeitgleich eine Legalitätstaktik und bildeten politische Arme aus (ETA) oder versuchten, sich gänzlich in eine legale Partei umzuwandeln (Japanische Rote Brigaden, Tupamaros), wurden mehrere Organisationen durch einen plötzlichen Fahndungserfolg völlig zerschlagen (Action Directe), während die Mehrzahl der terroristischen Organisationen ihren Aktivismus unter öffentlicher Bekundung der eigenen Einsicht beendete (RAF). Auf der Suche nach Gründen für die notorische Erfolglosigkeit terroristischer Gruppen offenbaren sich grundlegende strukturelle Mängel in der jeweiligen Organisationsstruktur. Von diesen ableitbar lässt sich folgende Hypothese formulieren: Terroristische Organisationen können einerseits ihre Ziele nicht erreichen und sind gleichzeitig dauerhaft nicht überlebensfähig, da sie die Anforderungen an ihre Eigenschaft als soziale Systeme nicht zu erfüllen vermögen. Im Laufe der deskriptiven Betrachtung der Zerfallsprozesse innerhalb der Organisation RAF oder der Roten Brigaden drängt sich etwa der Eindruck auf, dass die Ursache für das Auseinanderbrechen der Gruppierung in ihren sozialen Strukturen zu suchen ist. Aus diesen heraus entwickelte sich eine inhärente Funktionslogik, die daraus resultierenden nachgerade zwanghaften Regelhaftigkeiten sowie deren Niederschlag in der konkreten Handlungsweise der Organisation führten die RAF ebenso wie andere terroristische Gruppen an den Rand ihrer Existenz. Aus diesem Grund bietet es sich an, neben den Mängeln in der Kommunikation mit ihrer Umwelt auch die strukturell begründeten generellen Defizite in terroristischen Organisationen unter Aspekten der Systemtheorie zu analysieren und sie am Beispiel der RAF zu verdeutlichen, um die deutlich werdenden Funktionsdefizite erklären zu können. Der modellhafte Ansatz zur Beschreibung politisch-sozialer Phänomene („Systemtheorie“) geht von der Betrachtung der gesamten Gesellschaft als System aus und unterteilt es wiederum in zahlreiche es konstituierende Subsysteme.12 Unter diese Subsysteme fallen auch Sozialsysteme, die sich durch die Interaktion von verschiedenen Individuen auszeichnen, die ihrerseits konkrete Kollektive mit bestimmter Mitgliedschaft bilden.13 Somit sind zwei Grundbedingungen eines sozialen Systems festzuhalten: Zum einen lässt sich das gesamte System gegenüber seiner Umwelt aufgrund positiver Strukturmerkmale und damit klar gezogener Systemgrenzen unterscheiden. Dies geschieht dadurch, das jegliches System eine bestimmte Struktur („patterning“) herausbildet, die es eindeutig erkennbar nach außen macht und nach innen für die Mitglieder eine - auch emotional-normativ bestimmte - Identifikationsmöglichkeit bietet. Dieses „patterning“ kann auch durch die Etablierung spezifischer Sprachkodizes stattfinden, welche die Integrationsfähigkeit des Systems erhöhen und 11
Siehe dazu Laqueur, Walter, Die globale Bedrohung. Neue Gefahren des Terrorismus, München 2001, S. 29. Vgl. dazu Almond, Gabriel/ Powell, Bingham, Vergleichende Politikwissenschaft – ein Überblick, in: Stammen, Theo (Hrsg.), Vergleichende Regierungslehre. Beiträge zur theoretischen Grundlegung und exemplarische Einzelstudien, Darmstadt 1976, S. 132-161. 13 Parsons, Talcott, Zur Theorie sozialer Systeme (herausgegeben von Stefan Jensen), Opladen 1976, S. 165. 12
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seine Grenzen stabiler machen. Während innerhalb der eigenen Systemgrenzen eine spezielle Sprachcodierung die Kommunikation unter den Individuen erleichtert und die autopoietische Steuerung des sozialen Systems ermöglicht, grenzt es sich durch eine “Gegencodierung“ der Systemumwelt von dieser ab.14 Soziale Systeme bestehen andererseits selbst wiederum aus konstitutiven Elementen (Subsystemen), die miteinander in Wechselwirkungen stehen, so dass die Veränderung eines Subsystems Auswirkungen auf ein anderes haben muss (Interdependenz).15 Daraus folgen intensive Austauschprozesse zwischen dem sozialen System und seiner Umwelt einerseits sowie den nachgeordneten Subsystemen andererseits, die Systeme „interpenetrieren“ sich gegenseitig.16 Daraus resultieren spezielle Anforderungen an das System und seine Konstituenten, um die dauerhafte Überlebensfähigkeit des Untersystems zu sichern. Diese Prämissen können extern oder intern sein, also sich auf die Umwelt des Systems oder aber seine eigene Organisationsstruktur beziehen. Von besonderer Bedeutung für die Überlebensfähigkeit eines Systems ist der Ressourcenund Kommunikationsaustausch mit seiner Umwelt. Daraus ergibt sich eine MetaAnforderung an soziale Systeme, die in einem Dilemma mündet. So müssen sie sowohl eine erhebliche Flexibilität an den Tag legen, um auf Veränderungen der Systemumwelt adäquat reagieren zu können, zum anderen müssen sie aber auch die dadurch nötig gewordene Veränderung der eigenen Struktur durchführen und gleichzeitig so gering halten können, ohne dass dadurch den eigenen Mitgliedern ihre emotionale Bindung zum sozialen System genommen wird. Soziale Systeme sind dadurch als prinzipiell „offene Systeme“ zu kennzeichnen, die in hochkomplexen, interdependenten Austauschprozessen mit ihrer Umwelt, aber auch mit ihren eigenen Subsystemen stehen.17 Mit seiner Umgebung steht das System dabei durch input- und output-Strukturen in Verbindung.18 Inputs sind demzufolge außerhalb eines Systems liegende Ereignisse, welche das System verändern oder beeinflussen. Diese können in Form von supports (Unterstützungsleistungen) oder demands (Forderungen an das System) gestellt werden. In terroristischen Organisationen bestehen diese supports im Wesentlichen in konkreten Leistungen von Unterstützern wie der Bereitstellung von Wohnungen sowie der Werbung für die Ziele der Organisation, der Gefangenenbetreuung sowie der Agitation gegen das zu bekämpfende System. Unter den outputs eines Systems versteht man entsprechende Reaktionen auf Anforderungen der Umwelt oder die für die Systemumwelt entscheidend werdenden Handlungskonsequenzen. In der Regel ist es die Kommunikationsanforderung, welche terroristische Gruppen vor logische Probleme stellt, da sie, besonders in sozialrevolutionären Gruppierungen, auf dem Elitedenken der Kader und damit der Führungsebene basieren, die allein aus höherer Einsicht in die historisch-dialektischen Prozesse der Weltgeschichte nicht auf Forderungen oder Vorschläge aus unteren Organisationssegmenten oder aus der Systemumwelt eingehen können. Gerade hier wird deutlich, dass sich der systemtheoretische Ansatz auf terroristische Organisationen projiziert als aufschlussreich erweist, stets jedoch nur in Kombination mit akteurszentrierten Ansätzen. So werden sich wechselseitig bedingende personelle Variablen ebenso deutlich wie strukturelle Zwänge und Mängel und dar14
Luhmann, Niklas, Warum AGIL?, in: KZfSS Nr. 40/1988, S. 135-136. So Almond/ Powell, Vergleichende Politikwissenschaft, aaO. (FN 11), S. 135. 16 Vgl. dazu Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 286-346. 17 Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, aaO. (FN 13), S. 166-167. 18 Siehe dazu Easton, David, Grundkategorien zur Analyse des politischen Systems, in: Türk, Klaus (Hrsg.), Handlungssysteme, Opladen 1978, S. 268. 15
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aus resultierende folgelogische Fehlperzeptionen. Diese defizitären Variablen der Realitätsverarbeitung führen in terroristischen Gruppen zu mangelhaftem Verhalten den Erfordernissen der Systemumwelt gegenüber als auch zur Ausbildung unzureichender Strukturen der Organisation selbst. Im Kern ist das Scheitern von terroristischen Organisationen daher als das folgelogische Ergebnis aus einem Zusammenspiel von externen und internen Faktoren beschreiben.
Externe Faktoren: Terroristische Organisationen besitzen unter der Bevölkerung eines Landes nur wenig Rückhalt. Ihre Taktik, systematisch Furcht und Schrecken zu verbreiten erweist sich dabei als kontraproduktiv zu ihrem Grundanliegen gesellschaftlicher Mobilisierung. Allein bei einem sympathisierenden Potential an Unterstützern vermögen sie mit ihren Ideen und Aktionen positives Gehör zu finden. Terroristische Organisationen befinden sich daher stets in einem Zustand relativer Isolierung. Daraus resultiert eine eindimensionale input-Struktur in Form hohen exogenen Drucks auf das soziale System, der sich aus Bekämpfungsmaßnahmen der Behörden oder Forderungen aus der Mitte der Gesellschaft nach Auflösung der Gruppe zusammensetzt. Dieser externe Druck spiegelt sich auch gruppenintern wider: Innerhalb der Organisation herrscht ein nur eng begrenzter Spielraum bezüglich der Änderung der eigenen Vorgehensweise, der immense Konformitätsdruck in terroristischen Gruppen ist eine logische Resultante aus ihrer Isolierung. Wechselwirkungen mit der Systemumwelt sind ohnehin kaum zu konstatieren. Output-Strukturen, ein kommunikativer Austausch mit den das soziale System umgebenden übergeordneten Systemen ist bei terroristischen Organisationen nur durch die Ausübung von Attentaten, mithin durch die beschriebene Verbreitung von Furcht und Schrecken zu konstatieren. Die Orientierungsfunktion von Programmatiken und Bekennerschreiben, bei sozialrevolutionären Gruppen stets beobachtbar, um die intellektuelle Motivation eines Anschlags und seinen „tieferen Sinn“ zu verdeutlichen, vermag dieses Defizit nicht auszugleichen. Hungerstreikerklärungen von Inhaftierten oder Bekennerschreiben zu Attentaten dienen ebenso allein der Aufrechterhaltung eines Bedrohungsszenarios und nur nachgeordnet der Werbung um Zustimmung, der Mobilisierung eigener Zusammenhänge und zusätzlicher Identitätsstiftung. Dennoch beziehen sich diese Gruppen auf einen äußeren Legitimationsrahmen, der in der Regel in Ungerechtigkeitstheoremen und postulierter Unterdrückung zu suchen ist. Als soziale Systeme müssen sich terroristische Organisationen trotz aller Isolationstendenzen daher mit Einflüssen der Systemumwelt auseinander setzen. Zu diesen exogenen Einflüssen zählen auch negative geopolitische Rahmenbedingungen. Unter den externen Schocks, mit denen sich nachgerade alle Sozialrevolutionäre auseinander zu setzen hatten, gehörte der Kollaps des gesamten osteuropäischen Staatensystems zu den schwerwiegendsten. Der kollektive Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa als zwar nicht angestrebte Ordnung, doch aber als legitimierender und letztlich real existierender Gegenentwurf konnte durch die Aktivisten nach 1990 nicht mehr kompensiert werden und bezeichnete ein ideologisches Trauma ersten Ranges für alle sozialrevolutionären Gruppierungen in Westeuropa. Neben den finanziellen Zuwendungen für K-Gruppen oder die Kommunistische Partei DKP entfiel nun auch, weniger für die Führungsstrukturen der jeweiligen Organisation, aber dafür für Umfeld und Sympathisanten - und damit auf Umwegen für die Führungskader der terroristischen Organisation -, der legitimatorische Bezugsrahmen. Die historisch deter-
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Alexander Straßner minierte Überlegenheit des sozialistischen Systems hatte sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil manifestierte sich die evolutionäre Unterlegenheit des Sozialismus im kollektiven osteuropäischen Zusammenbruch. Auch wenn die meisten sozialrevolutionären Gruppen selbst den Sozialismus in Osteuropa als nicht erstrebenswert ansahen, so entfiel partiell für das Umfeld ein wesentlicher Aspekt der ideologischen Fundierung und damit auch ein gut Teil der Motivation der ohnehin nur rudimentär vorhandenen Unterstützung. Die meisten Sozialrevolutionäre begegneten dieser nachteiligen inputStruktur jedoch nicht durch einen modifizierten Verhaltenskatalog, sondern vielmehr durch ihre konsequente Verleugnung und verschlossen sich gegenüber den gerade für ihre eigene Funktionsfähigkeit wirkmächtigen Resultaten aus den weltweiten Umbrüchen. Die RAF begann im Gegenteil dazu mit einem abermals verschärften Aktionismus die eigene isolierte Stellung im gesamten linksextremistischen Gefüge noch einmal zu vertiefen. Der externe Schock wurde dadurch nicht durch systemtheoretisch notwendige Adaptionsmechanismen aufgefangen. Die Phase der Orientierungslosigkeit im Anschluss an die geopolitischen Verwerfungen 1989/90 nutzten die Behörden zu umfangreichen Gegenstrategien und Zugeständnissen, die allesamt zum Ziel hatten, die interne Struktur der RAF zusätzlich zu destabilisieren und personell auszuhöhlen. Auch diesen Tendenzen konnte die ohnehin schwer angeschlagene dritte Generation daher in der Tat nicht mehr entgegenwirken. Sowohl die Kronzeugenregelung als auch die Initiative des Bundesjustizministers Kinkel zielten in der Folge darauf ab, die stark angegriffene Stellung der RAF für sich auszunutzen und ihre innere Struktur, die in der dritten Generation immerhin über acht Jahre hinweg - wenn auch nur durch Repression - relativ stabil geblieben war, nachhaltig zu erschüttern. Und auch ein Aussteigerprogramm des Verfassungsschutzes („Hans Benz“), welches den Protagonisten des bewaffneten Kampfes den gefahrlosen Ausstieg aus der terroristischen Organisation gewährleisten sollte, hatte nicht nur die Reduzierung des Gefährdungspotenzials zum Ziel, sondern vor allen Dingen auch die nachhaltige systemische Schwächung und Destabilisierung der gesamten Gruppierung. Ein Hauptgrund für die Anfälligkeit gegenüber externen Faktoren war jedoch die zunehmend verloren gehende Verankerung im öffentlichen Bewusstsein, welche die terroristische Organisation nicht mehr auszugleichen wusste. Zum einen suchten die Terroristen den Grund für ihre trotz fortschreitender eigener Professionalisierung zunehmende Isolation in der mangelnden Bereitschaft der Bundesbürger zur Revolution und der Veralltäglichung medialer und realer Gewalt. Tatsächlich aber lag der Publizitätsschwund einmal mehr in der terroristischen Logik allgemein und in der Vorgehensweise der dritten Generation selbst zu suchen. Nicht trotz ihrer technischen Effektivierung, sondern gerade aufgrund dieser verlor sie nicht nur die öffentliche Aufmerksamkeit, sondern auch ihren Rückhalt in der gesamten Szene und RAF-Struktur, da diese Form der Adaption lediglich eine Verschärfung der eigenen Kommunikationslosigkeit mit der Systemumwelt bedeutete. Auf die Systemebene transformiert muss der Vorwurf an die sozialrevolutionäre Organisationen daher lauten: Wechselwirkungen mit dem übergeordneten System „Gesellschaft“ waren nur durch einen rigiden Aktionismus in Form von Attentaten zu konstatieren. Darüber hinaus zeigen terroristische Organisationen aus Schutz vor Verfolgung und staatlichen Gegenstrategien ausgeprägte Abschottungstendenzen gegenüber der Systemumwelt und den eigenen Subsystemen. Auch diese Maßnahme zeitigt
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für terroristische Organisationen zwei fatale Konsequenzen: Zum einen können sie keine Anpassungen an sich verändernde Rahmenbedingungen vornehmen, zum anderen verlieren sie durch das Versagen von Kommunikation gegenüber der Systemumwelt und den eigenen Subsystemen die notwendige Integration von Mitgliedern und deren Identifikation mit dem System überhaupt. Die interne Struktur sozialrevolutionärer Organisationen aber erschwert ebenfalls systemstabilisierendes Verhalten. Mit einer zunehmend leninistisch motivierten, und damit autistisch und losgelöst von anderen Systembestandteilen (Unterstützern) handelnden Führungsriege wurden quer durch viele Beispielorganisationen Modifikationen der eigenen Vorgehensweise verunmöglicht, welche die Fortexistenz als soziale Systeme dauerhaft zu sichern vermocht hätte. Deshalb gilt es neben den externen Determinanten auf die internen Ursachen für den Zerfall sozialrevolutionärer Gruppen zu rekurrieren.
Interne Faktoren: Neben den Herausforderungen durch die Systemumwelt folgen soziale Systeme und damit terroristische Organisationen auch einer inneren Logik. Da sich ein soziales System durch die Abgrenzung von seiner Umwelt und seine eigene Strukturierung aus Subsystemen definiert, gleichzeitig aber Kommunikationsstrukturen zwischen diesen drei Bestandteilen bestehen bleiben müssen, werden spezielle Anforderungen an die interne Funktionslogik des Systems deutlich. Fokussiert man das Vorgehen und die Strategie der terroristischen Organisation unter strukturfunktionalistischen Gesichtspunkten, so lassen sich in allen vier dargestellten, idealtypischen Aufgabenstellungen an ein soziales System fundamentale Defizite terroristischer Organisationen nachweisen. Zu den ohnehin vorhandenen logischen Mängeln in der Struktur terroristischer Gruppen hinsichtlich ihrer Strategie gegenüber der Systemumwelt tritt die zunehmende Immobilität im sozialen System selbst hinzu. Spezielle Kennzeichen eines sozialen Systems wie die Ausbildung von systeminternen Sprachkodierungen waren zwar erkennbar. Diese waren aber für die Systemumwelt nicht nachvollziehbar, und die Bekennerschreiben und Pamphlete sozialrevolutionärer Gruppierungen begannen früh in ihrer Existenz die Isolation der Organisation zu befördern. Hinzu kam erschwerend die Tatsache, dass die Ausbildung spezieller Terminologien soziale Systeme zur autopoietischen Steuerung führen soll, es im Falle von Sozialrevolutionären aber nur zusätzlich zu ihrer Isolation beitrug, da die sprachliche Formulierung der eigenen Zielvorstellungen aufgrund der geringen Nachvollziehbarkeit niemals integrativen Charakter entfalten konnte. Terroristische Organisationen befinden sich daher in einem dauerhaften Kommunikationsdilemma. Zwar versuchen sie, durch ihre Bekennerschreiben für Unterstützung auch außerhalb der eigenen Systemgrenzen zu werben, ihre Anschläge wie ihre Sprachcodierung verhindern diese Resonanz jedoch gleichzeitig. Die eigene Codierung zeitigt aber auch Konsequenzen die eigenen Subsysteme betreffend. Gegenüber diesen bedeutet dies in der Regel das faktische Ausschließen aus Diskussionsprozessen und die Ausübung unhinterfragbarer Befehlsgewalt. Die Systemgrenze werden dadurch nicht nur stabilisiert, sondern undurchlässig nach innen und außen. Diese Isolation setzte sich in der Führungsebene der Organisation in einer Weise fort, dass es sukzessive zu einer die gesamte Struktur erfassenden Destabilisierung kam, noch bevor die Behörden die abgeschwächte Bedrohungslage anerkannten und auf anderweitige, subtilere Mittel der Terrorismusbekämpfung zurückgriffen.
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Alexander Straßner Daneben aber war es völlig unabhängig von externen geopolitischen oder strafverfolgenden Einflüssen die strukturell begründete Reformunfähigkeit leninistisch geprägter Gruppen, welche eventuelle Adaptionsmechanismen ebenso wie ansatzweise Wandlungsfähigkeit verunmöglichte oder aber von vornherein ablehnte. Um diese internen Schwachstellen auszuloten, bietet es sich an, die an ein soziales System gestellten Anforderungen am Beispiel sozialrevolutionärer Gruppen zu prüfen. Soziale Systeme müssen der Systemtheorie zufolge vier zentrale Funktionen erfüllen, die sie sowohl gegenüber der gesamten Systemumwelt als auch gegenüber den eigenen Subsystemen zu erbringen haben:19
1. 2. 3.
4.
Bereitstellung von Handlungsressourcen und Anpassung an die realen Gegebenheiten der unmittelbaren Umwelt des sozialen Systems (adaptation) Generierung, Formulierung und Implementation der Zielausrichtung des eigenen Handelns (goal attainment) Integration von Individuen in das soziale System durch gemeinsame Wertvermittlung und dauerhaftes Verknüpfen der einzelnen Systemelemente zum Zweck der Systemstabilität (integration) Beibehaltung und Versorgung des Strukturmusters, welches dem sozialen System zugrunde liegt (latent pattern maintenance)
1. Adaptation: Unabdingbar für die Überlebensfähigkeit eines sozialen Systems und seiner es konstituierenden Subsysteme ist dessen Anpassungsfähigkeit an seine Umwelt und damit an unweigerlich sich verändernde Rahmenbedingungen. Soziale Systeme müssen daher ein Gleichgewicht finden zwischen Anpassung und moderater Modifikation der eigenen Struktur und der gleichzeitigen Beibehaltung der bisher es kennzeichnenden patterns aus Integrationszwecken. Gelingt die Anpassung an eine sich verändernde Umwelt, ist das weitere Überleben des sozialen Systems gesichert. Misslingt aber diese Bewältigung, so droht dem sozialen System immenser Strukturwandel (und damit ein vollständiger Verlust an Identifikationsleistung) sowie der Zerfall der Systemgrenzen. Gleichzeitig aber ist eine weitere mögliche Konsequenz auch die Verfestigung von Schädigungen und die Entstehung sekundärer Strukturen „pathologischer Art“.20 In jedem Falle bedeuten Anpassungsprozesse stets auch strukturelle Gefährdungen für soziale Systeme. Terroristische Organisationen sind nur selten anpassungsfähig und –willig. Besonders für ideologisch inspirierte Organisationen erweist sich das Anpassungspostulat als schwierig, da sie überzeugt sind, für eine „richtige“ und „wahre“ Sache zu kämpfen. Der Urgrund für die mangelhafte Anpassungsfähigkeit terroristischer Organisationen dürfte daher in der eigens vorgenommenen Komplexitätsreduktion der Systemumwelt liegen. In einer binären Weltsicht aus richtigen und verfehlten Ordnungsentwürfen kann es keine Adaptionsmechanismen geben. Insofern gestalten sich die Anpassungsmaßnahmen terroristischer Gruppen relativ eindeutig und stellen fast ausnahmslos stets nur eine Radikalisierung des eigenen Vorgehens dar. So neigten terroristische Organisationen in der Vergangenheit stets dazu, bei anhaltendem Misserfolg oder sich abzeichnender mangelhafter Verankerung in der Systemumwelt weit reichende Professionalisierungstendenzen an den Tag zu legen. Diese bestanden in der Regel darin, sich den Fahndungsmaßnahmen der Behörden durch struktu19 20
Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, aaO. (FN 12), S. 302-307. Ebd., S. 169.
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rellen Komplexitätsaufbau, zunehmenden waffentechnische Effektivierung oder aber durch zusätzliche Camouflagetechniken zu entziehen. Der Mangel an Anpassung ist damit strukturell begründet, Adaption an sich ändernde exogene Einflüsse würde einen Rechtfertigungszwang nach sich ziehen, den terroristische Kleingruppen nicht akzeptieren können. Besonders trifft dies für die dritte Generation der RAF zu. Faktisch wurde sie durch eine völlige Immobilität bestimmt, welche dem elitistischen Präponderanzdenken der Führungskader entsprang. Anregungen oder positive Kritik von Unterstützern oder aus dem Umfeld wurden als folgelogische Übertragung des Elitedenkens aus den ersten beiden RAFGenerationen nicht angenommen, sondern als unberechtigte Kritik von Mitkämpfern angesehen, welche des höheren Bewusstseins der Kader entbehrten. Die Kommunikationskanäle zwischen den einzelnen RAF-Ebenen waren damit verschlossen, da die Kommandos nicht bereit waren, weder einfache Modifikationsvorschläge noch grundlegende Kritik an ihrer Vorgehensweise zu akzeptieren.21 Diese Art und Weise des Verschließens gegenüber inputStrukturen wurde besonders bei einer der ersten Aktionen der dritten Generation deutlich, als sich die Kommandos allein aus funktionalistischen Gründen zu einer Aktion gegen einen US-Soldaten entschlossen. Die folgelogischen, ideologisch geprägten Auseinandersetzungen über revolutionären Sinn und Unsinn der Aktion führten die dritte Generation bereits sehr früh an den Rand einer systemisch determinierten, drohenden Funktionsfähigkeit. Die Selektivität des Empfangs von Informationen, die eine frühzeitige Korrektur der eigenen Vorgehensweise aufgrund sich abzeichnender Erfolglosigkeit ermöglicht hätte, verdammte das soziale System RAF in der Folge zu begrenzter Funktionsfähigkeit, da es sich als nicht flexibel weder die Bedürfnisse der unteren organisatorischen Segmente betreffend noch hinsichtlich der gesellschaftlichen wie politischen Realitäten und daraus resultierenden Herausforderungen erwiesen hatte. Im Gegenteil stellte sich die Absicht der Kommandos, einen reibungslosen Informations-, realiter aber Befehlsfluss von oben nach unten auf Zwang zu gründen, als wesentlicher Gründungsfehler der Organisation dar. Ein tief greifender Wandel in der Vorgehensweise und innerorganisatorischen Willensbildung konnte somit nicht stattfinden, die Abkehr von der dogmatischen Entscheidungsfindung der Führungspersonen hin zu einem auf Anpassung ausgerichteten Konsensfindungsprinzip hätte dem ideologisch begründeten Wahrheitsanspruch der Kommandoebene diametral entgegen gestanden. Insofern kann dieser Mangel als besonders in sozialrevolutionären Gruppen deutlich werdender Geburtsfehler bezeichnet werden. In der Tat aber lassen sich nicht nur bezüglich der Adaptionsmechanismen, sondern in allen vier Grundfunktionen an ein soziales System fundamentale Defizite terroristischer Organisationen nachweisen. 2. Goal attainment: Um sich dauerhaft etablieren zu können, ist es für ein soziales System darüber hinaus notwendig, für eine mit seinen Bestandteilen gemeinsame Ausrichtung auf bestimmte Ziele zu sorgen. Das Ziel des Systems ist es dabei, zur größtmöglichen integrativen Wirkung der eigenen Anliegen zu gelangen. Parsons spricht angesichts der Komplexität von sozialen Systemen aber auch von einem „System von Zielen“, welches soziale Systeme daher vertreten müssen.22 Ob terroristische Organisationen allgemein überhaupt auch nur ein klar definiertes Ziel vertreten, kann zumindest in Zweifel gezogen werden. Dennoch ist festzuhalten, dass in punkto Zielausrichtung ethno-nationalistische Spielarten des Terro21
Siehe zur Bedeutung der Empfangsselektivität in Kommunikationsmodellen und Entscheidungssystemen besonders Deutsch, Karl W., Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg im Breisgau 1970, S. 211-232. 22 Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, aaO. (FN 12), S. 175.
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rismus gegenüber sozialrevolutionären Organisationen einen beträchtlichen Integrationsvorsprung haben. Aus diesem Grund erklärt sich auch die im Vergleich längere Lebensdauer von separatistischen Organisationen. Generell aber sind Zielkonzeptionen terroristischer Gruppen über Autonomieforderungen hinaus vage: Ihre Ziele zeichnen sich – sofern programmatisch überhaupt dokumentiert - einerseits durch fehlende exakte inhaltliche Bestimmungen aus, zum anderen sind sie in der Regel negativ formuliert und beschränken sich auf die Ablehnung des status quo beziehungsweise die Zerstörung eines bestehenden Systems. Vor diesem Hintergrund muss sich ein Einschwören von nachrangigen Systemkonstituenten auf eine gemeinsame Linie als schwierig erweisen, da allein negative Zielformulierungen (Antiimperialismus, Antifaschismus, Antirassismus etc.) langfristig erhebliche Integrationsdefizite aufzuweisen haben. Über die unterstützende Sympathisantenschicht hinaus vermögen allein destruktive Vorgehensweisen nur wenig Gehör zu finden, was seinerseits den exogenen Druck auf terroristische Organisationen wiederum erhöht. Zur positiven Zielformulierung aber wären terroristische Gruppen zuvorderst zu einer innerorganisatorischen Klärung der gemeinsamen Ziele verpflichtet. Sollte es eine klar definierte utopische Endzeitvorstellung auf Seiten sozialrevolutionärer Gruppen jemals gegeben haben, so wurde sie dennoch nicht auf die Vereinbarkeit mit den Vorstellungen der eigenen Subsysteme oder anderer, sich in der Systemumwelt befindlicher gesellschaftlicher Gruppierungen mit ähnlicher Stoßrichtung hin überprüft. Das apologetische und dogmatische Verkünden der eigenen Avantgardefunktion und damit die apodiktische Vorgabe der angestrebten Ziele konnte auf Dauer das soziale System nicht am Leben erhalten. Am Beispiel der RAF war eine gemeinsame Zielformulierung allein unter der Bedingung der Repression der Kommandos möglich, ein von den unteren Ebenen eigenständig formulierter Zielpunkt hätte nur identisch mit demjenigen der Führungsebene sein können. Mit dem Verlust der Gewalthoheit im Jahr 1992, der Reaktion auf die eigene Isolierung und die geopolitischen Umbrüche durch den Gewaltverzicht verloren die Kommandos auch die Möglichkeit, ihren ideologisch determinierten Konformitätszwang die eigenen Subsysteme betreffend aufrecht zu erhalten. Richtungskämpfe und Aufspaltungsprozesse waren die Folge, und in der Retrospektive war die ausgeprägte Dogmatik derjenige Faktor, der sämtliche strategischen Modifikationen der dritten Generation verunmöglichen sollte. Weder konnte die militärisch begründete „Front“ der achtziger Jahre gegen den militärisch-industriellen Komplex initiiert werden noch die „soziale Gegenmacht von unten“ der neunziger Jahre, die sich dem gegenüber durch eine vermehrte Einbindung benachbarter gesellschaftlicher Strukturen auszeichnen und das offensichtliche taktische Fehlverhalten der Vergangenheit beheben helfen sollte. Auch hinsichtlich der Erfordernis, konkret fassbare Ziele zur Verwirklichung auszuschreiben und so für eine erhöhte Integrationskraft zu sorgen, kann sozialrevolutionären terroristischen Gruppen also keine Aussicht auf dauerhafte Existenz ausgestellt werden. 3. Integration: Conditio sine qua non für die Fortexistenz eines sozialen Systems ist darüber hinaus die Einbindung wichtiger Konstituenten in die gemeinsame Strategie auf der Basis der Berücksichtigung der subsystemischen Interessen. Nicht zuletzt ist diese Tatsache deshalb von entscheidender Bedeutung, da es dem System nur dann gelingt, seine Rekrutierungsfunktion, also die Besetzung der die Systemstruktur erhaltenden Gelenkstellen mit geeignetem Nachwuchs, aufrecht zu erhalten. Gelingt es dem sozialen System nicht, die aus den Anpassungsprozessen herrührenden Flexibilitätserfordernisse mit gleichzeitiger inte-
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grativer Effizienz zu verbinden, so beginnen die Systemgrenzen durchlässig für diejenigen Mitglieder zu werden, die sich auf der normativen Ebene dem sozialen System nur noch bedingt zugehörig fühlen.23 Von einer versuchten Integration anderer Systemkonstituenten mit eventuell divergierenden Vorstellungen kann aber bei terroristischen Organisationen abermals nur bedingt die Rede sein. Dies liegt vor allen Dingen daran, dass eine Einbindung heterogener Gruppierungen in das soziale System auch eine Verschmelzung, zumindest aber ein Sich-Öffnen der Organisation für abweichende Strömungen und divergierende Konzeptionen, mithin eine ausgeprägte Fähigkeit zu konsensualem Denken und grundlegende Kompromissbereitschaft mit beinhaltet. Besonders für ideologisch inspirierte Gruppen ist diese Anforderung an ein soziales System also nur schwer zu leisten. Faktisch ist die einzige Integrationsmöglichkeit für diese das Einfordern des Gefolgschaftsprinzips von neuen oder unteren Systemkonstituenten. Im Gegenzug können nur diese Organisationen die Integrationsaufgabe bewältigen, die taktischen Motiven den transzendent-ideologischen gegenüber den Vorzug geben. Im „Front“-Konzept der RAF aus dem Jahr 1982 wurde ein Aufgehen in der Zielkonzeption der RAF daher mit einer bedingungslosen Unterordnung unter die elitistischen Vorstellungen der Kommandoebene gleichgesetzt. Für revolutionäre Prämissen anderer Provenienz erwies sich der Spielraum einer Kleingruppe mit nicht hinterfragbarem Wahrheitsanspruch als zu klein. Das Umschwenken auf taktische und funktionalistische Motive und die dezidierte Absage an ideologische Prämissen konnte dieses Defizit nicht ausgleichen. Das Konzept der „sozialen Gegenmacht“ hingegen, das genau dieser Unfähigkeit Anfang der neunziger Jahre Abhilfe schaffen sollte, kam zu spät, die Zugkraft und die zuerst auf Charisma, dann auf Furcht gegründete Autorität der Kommandos war zu diesem Zeitpunkt bereits verloren gegangen. Von einem dauerhaften kooperativen Zusammenwirken der einzelnen Ebenen konnte lediglich in der sehr kurzen Phase der „Offensive 1985/86“ gesprochen werden. Hier wird deutlich, wie sich die verschiedenen Anforderungen an soziale Systeme überschneiden: die durch ausgeprägte Abschottungstendenzen nach innen und außen beförderte Isolation verhindert bei terroristische Organisationen eine Integrationsleistung. Diese Abschottungsmechanismen dienen zwar nicht zuletzt der eigenen Strukturabsicherung, sind dabei aber stets nur mittelfristiger Behelf. Insgesamt und langfristig aber sind die defizitären Integrationsbestrebungen systeminhärent angelegt und nur ein weiterer Anhaltspunkt für die temporäre befristete Existenz terroristischer Kleingruppen. 4. Latent pattern maintenance: Parsons zufolge kann ein soziales System ferner nur dann dauerhaft seine eigene Existenz sichern, wenn es ihm gelingt, über längere Zeitperioden hinweg die grundlegenden Handlungsmuster zu sichern (pattern maintenance) und die intern auftretenden Spannungen auf systemerträgliche Weise zu reduzieren (tension management). Zum einen bietet die Etablierung einer dauerhaften Struktur sozialen Systemen eine erhöhte Integrationsfähigkeit und bindet die bereits sozialisierten Mitglieder weiterhin eng an die Gruppe. Deshalb ist es eine der vordringlichsten Aufgaben sozialer Systeme, die Werte des Systems mit den persönlichen Überzeugungen der sozialisierten Individuen zu verknüpfen (Glaubensvorstellungen, Ideologie etc.).24 Auf der einen Seite gebietet der immense exogene Druck auf terroristische Organisationen eine stets mögliche Revision der eigenen Vorgehensweise. Einmal mehr erweist sich diese Aufgabe für ideologisch inspirier23 24
Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, aaO. (FN 12), S. 175. Ebd., S. 173.
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te Gruppen aber kaum zu leisten, da die Überprüfung ihres propagierten Wahrheitsanspruchs erhebliche Autoritätseinbußen innerhalb der Organisation nach sich zieht. Insofern bringt gerade diese Aufgabe an soziale Systeme terroristische Organisationen in ein Dilemma: die Bereitstellung dauerhafter Handlungsmuster in einem Spannungsfeld von exogenem Druck und der Beibehaltung größtmöglicher Integrationskraft ist kaum möglich. Entweder es erfolgt eine Absage an Adaptionen aufgrund des Drucks von außen, was die Kommunikationsmechanismen innerhalb der Organisation in Mitleidenschaft zieht, oder aber die Organisation reagiert auf die exogenen Schocks und muss Einbußen hinsichtlich der Integrationsfähigkeit von prinzipiell Gleichgesinnten hinnehmen. Zu den Mustern der Vorgehensweise der RAF ist festzuhalten, dass sich die Strategie und der Aktionismus der RAF nur mühsam, dann aber fundamentalen Wandlungen unterzog. Zuvorderst wurde in den achtziger Jahren eine „Front“ aus verschiedenen Gruppierungen propagiert, unter ihrer Ägide begann eine zweijährige Offensive mit zahlreichen Anschlägen und Todesopfern. Unter diesen Aktionen waren auch Attentate, welche die internen Spannungen erst produzierten und somit das soziale System von innen beständig aushöhlten. Die Beschwörung einer „sozialen Gegenmacht“ war ebenso eine abrupte Kehrtwende in der RAF-Strategie und konnte schon von daher kaum systemverträglich sein, da es keine moderate Veränderung, sondern eine Erschütterung der Systemgrenzen und -strukturen war. Aus der Kontinuität der Aktionen allein konnte damit kein integrativer Charakter erwachsen, von anderweitigen Strategien der verstärkten Einbindung hatten die Kommandos keine Vorstellung. Neben der Unfähigkeit zur Bildung dauerhafter Integrationsmuster war man jedoch ebenso wenig in der Lage, die selbst produzierten Spannungen zu bewältigen, zumal sich nach dem Aufkeimen erster Widerstandsherde verdeutlicht hatte, dass die Führungsebene zur Führung der unteren Segmente keine Autorität mehr hatte. Aus den anderen Systemebenen erwachsende Kritik wurde in den achtziger Jahren zuerst unterdrückt, aufkeimende Widerspruchspotentiale nach 1992 als mangelhafte Loyalität harsch zurückgewiesen. Die durch die Kritik aus dem Umfeld entstehenden Konfliktlagen innerhalb der Organisation konnten aufgrund der Kommunikationsverweigerung der Kommandos nicht mehr gelöst werden. Sowohl die nachhaltige Kritik aus dem Umfeld als auch die eigene Abschottungsmentalität gegenüber äußeren Einflüssen verhinderten eine Wiederannäherung der langsam divergierenden Ansichten. Nachgerade zwangsläufig mündeten diese zuerst in der Spaltung der Gesamtorganisation und letztlich in der Auflösung der eigenen Gruppe. Für terroristische Organisationen insgesamt ist dieses Phänomen kennzeichnend: Zunächst unfähig, geringfügige Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen vorzunehmen, vollziehen sich Wandlungen in der Strategie der Gruppe stets eruptiv als Kennzeichen eines verspäteten Paradigmenwechsels. Zu den ohnehin defizitären Integrationsmöglichkeiten terroristischer Gruppen kommt so ein zusätzliches Hemmnis. Die Synopsis der systemtheoretischen Anforderungen an sozialrevolutionäre terroristische Organisationen muss zu dem Schluss führen, dass sie dauerhaft nicht überlebensfähig sind. Ihre Vorgehensweise vermag stets nur Wenige an sich zu binden, was der postulierten Integrationsfähigkeit sozialer Systeme diametral entgegensteht. Gleichzeitig verhindern fehlende langfristige Zielstellungen und gleichzeitige, kurzfristig-abrupte Wandlungen der eigenen Strategie dauerhaft integrative Konzeptionen. Im Gegenteil erhöhen sie das Konfliktpotential innerhalb des Systems und destabilisieren die Systemgrenzen. Ideologische oder religiöse Grundmotive verkürzen die Lebensdauer terroristischer Gruppen noch einmal, da sie zusätzlich effektive Adaptionsmechanismen verhindern. Zusammenfassend lässt
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sich das Versagen terroristischer sozialer Systeme daher sowohl von externen als auch von internen Determinanten her erklären:
Das Versagen terroristischer Organisationen als soziale Systeme
Mangelnde Anpassungsfähigkeit (Immobilität)
Fehlende integrative und positive Zielkonzeption (Dogmatik)
Versagen terroristischer Organisationen als soziale Systeme
Defizitäre bzw. verspätete Integrationsbestrebungen (Elitismus)
Fehlende konstante Handlungsmuster und/ oder abrupte strategische Brüche
Fehlende gesellschaftliche Verankerung
Terrorismusbekämpfung
Abbildung 2
Negative geo-/nationalpolitische Rahmenbedingungen
Quelle: Eigene Schematisierung
Die Einbindung eventueller Vorschläge oder divergierender taktischer Offerten, eine Adaption unterschiedlicher Vorstellungen und die Anpassung der eigenen Strategie daran, also die Umwandlung von inputs in outputs (systemtheoretisch: conversion process), ist für sozialrevolutionäre Terroristen ein Fremdwort. Sozialrevolutionäre kämpfen für eine nicht hinterfragbaren historischen Determinismus, mithin für nichts weniger als die Wahrheit. Von dieser Warte aus erklärten sich die nicht selten zutage tretenden Feindschaften zwischen revolutionären Gruppen in ein und demselben Land (RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen), die sich wechselseitig die revolutionärer Identität absprachen. Nicht von ungefähr wurden diese Rivalitäten mitunter mit größerer emotionaler Intensität ausgefochten als der Kampf gegen den Staat. Der output den eigenen Systemkonstituenten gegenüber in Form von apodiktisch formulierten Verhaltensvorschriften, Maßregelungen und Auflagen ist in terroristischen Gruppen hingegen reichlich vorhanden, gegenüber der Systemumwelt beschränkten sie sich hingegen auf die gewaltsame Verteidigung des eigenen Dogmas. Unter der Prämisse, dass alle diese systemdefinierenden Variablen nicht vorhanden waren oder aber unterdrückt und abgelehnt wurden, soziale Systeme allerdings als „analytisch offene, mit anderen Subsystemen (des umfassenden Handlungssystems) in Aus-
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tauschprozessen stehende Einheiten“25 gelten, muss die Tatsache überraschen, dass einige sozialrevolutionärer Gruppierungen überhaupt so lange existiert haben wie die Tupamaros oder die Roten Brigaden. So sind terroristische Organisationen durchaus soziale Systeme, ihre geringe Lebensdauer allerdings Ausdruck einer defizitären Struktur und Ausfluss einer die wesentlichen Variablen eines überlebensfähigen Systems negierenden Selbsterhaltungsstrategie.
2.3 Ideologie als Handicap So entstehen zusammenfassend sozialrevolutionären Gruppen sowohl gruppendynamische Hindernisse als auch allgemeine terrorismustheoretische Friktionen, die eine erfolgreich langfristige Ausübung ihrer Tätigkeit unmöglich machen. Die im Vergleich zu religiös oder separatistisch motivierten Gruppen auffällige kurze Lebensdauer muss jedoch auch inhaltlichen Charakter aufweisen, also mit den Motiven der Organisation selbst zu tun haben. Ein wesentlicher Grund für das Integrationsdefizit sozialrevolutionärer Aktivisten liegt in der Tatsache begründet, dass sie in der Regel nicht der Schicht entstammen, für die sie zu kämpfen vorgeben. Auf der Basis einer transzendenten Ideologie handelnd ließ sich ein konkreter Bezugspunkt der eigenen Aktionen ebenso wenig vermitteln wie eine direkte Verbindung zu den proletarischen Massen aufbauen. Transzendenz ist dementsprechend bereits ein Hindernis bei der Verankerung sozialrevolutionärer Organisationen. Die Tatsache, dass man die Legitimation für den bewaffneten Kampf in einer Ideologie sucht, die in der Zielgruppe der eigenen Aktionen kaum Bindungskraft entfaltet, führt den Aktionismus bereits relativ früh in die Isolation. Insofern waren besonders diejenigen sozialrevolutionären Gruppen zumindest längerfristig handlungsfähig, die eine gewisse gesellschaftliche Relevanz für sich beanspruchen konnten. Im Umkehrschluss dazu waren es besonders die leninistisch motivierten oder zumindest handelnden Gruppen, die sich rasch in relativer gesellschaftlicher Isolation wieder fanden. Nur bei wenigen Individuen aber herrscht dahingehend grundlegende Einsicht vor: Es scheint die doppelte Tragik jeder avantgardistischen Revolte zu sein: Sie muss so lange unweigerlich scheitern, wie sich die gesellschaftlichen Kräfte hinter dem Rücken der Subjekte eigengesetzlich zur unsichtbaren Macht formieren.26
Die RAF handelte stellvertretend für eine Arbeiterschaft, die ihr weder ihr Mandat erteilt hatte noch ihre Argumentation nachvollziehen konnte. Die theoretische „Erklärungsmaschinerie“27 konnte ihr nie die gesellschaftliche Relevanz zuteil werden zu lassen, die für eine auch nur in Ansätzen zu beobachtende Mobilisierung der Bevölkerung notwenig gewesen wäre. Damit verband sich jedoch auch die Tatsache, dass nicht einmal mit den Teilen der Gesellschaft, welche die theoretischen Bezugnahmen teilten, eine Verbindung hergestellt wurde. Nicht zuletzt ursächlich für diesen Effekt war die rein eklektizistisch rezi25
Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, aaO. (FN 13), S. 167. So der ehemalige Aktivist der RAF, Dellwo, Karl-Heinz, Kein Ankommen, kein Zurück, in: Holderberg, Angelika (Hrsg.), Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit, Gießen 2007, S. 111. 27 So selbstkritisch Dellwo, Karl Heinz, Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel, Hamburg 2007, S. 199. 26
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pierte theoretische Literatur, die jeweils dann sinnvoll und brauchbar erschien, wenn sie den eigenen Handlungen das Wort redete. Theorien waren insofern beliebig und substituierbar: Marcuse hatte uns geholfen mit der Erklärung, dass die Voraussetzung der Kritik nicht ist, dass man schon die Lösung weiß. Wir diskutierten, dass es nicht darum gehen konnte, schon jetzt festzulegen, wo es hingehen sollte. Wir wollten auf dem Weg alles ändern können. Wir hatten das Recht zur einfachen Negation, zu sagen, dass wir das Bestehende nicht wollen, denn wir waren sicher, dass wir die doppelte Negation, also zu sagen, wie es sein soll, im Widerstandsprozess finden würden. (…) Man konnte damals schnell Nähe und Übereinstimmung herstellen. Zumindest anfänglich hat niemand nach strategischen Positionen gefragt. Trotzkismus, ML, Maoismus, Anarchismus, das hat damals als Abgrenzung noch nicht in dem Maße funktioniert wie später. Wir waren auf der Suche und keiner war festgelegt. (…).28
Mit der eigenen Isolation konfrontiert, flüchtete sich die Organisation in einen gesteigerten Aktionismus. Ein Muster, das in allen weiteren Organisationen sozialrevolutionärer Prägung ebenso zu finden war: Konfrontiert mit Kritik an der eigenen Vorgehensweise, zog man die Brutalisierung und Professionalisierung der Ambiguitätstoleranz vor, jegliche Akzeptanz von kritischen Positionen wäre als Schwäche interpretierbar gewesen. Damit im Verbund ist zu konstatieren, dass es sich bei sozialrevolutionären Organisationen mit zunehmender Lebensdauer angesichts ihrer Entideologisierung ohnehin nicht mehr um revolutionäre Organisationen im wissenschaftlichen Sinne handelt. Entsprechend den etablierten Theorien hat eine Revolution stets eine politische (Überwindung der bestehenden politischen Ordnung) und eine soziale Dimension (Beseitigung der systemisch bedingten gesellschaftlichen Ungleichheit).29 Zu Beginn der Aktivität sozialrevolutionärer Gruppen gibt es diese soziale Dimension noch, mit zunehmender Professionalisierung und Degenerierung aber wird der Revolutionsbegriff nur noch politisch gefasst. Die Existenz der terroristischen Organisation erschöpft sich daher im Versuch, die politischen Gegebenheiten zu beseitigen, während der soziale Aspekt des Kampfes verloren geht, ein weiterer Grund für die zunehmende Isolierung. Insofern ist nicht nur die grundlegende Limitiertheit revolutionärer Gewalt zu konstatieren, sondern auch ihre erhebliche, ja mittelfristig gesteigerte Brutalität.30 Ebenso leninistisch-avantgardistisch wie die RAF stellte sich die Japanische Rote Armee an die Spitze einer gesellschaftlichen Bewegung, die nur in ihrer eigenen Perzeption der Realität existierte. Die Brigate Rosse vermochten dagegen bereits die polarisierte italienische politische Kultur zum Anlass zu nehmen, mit relativem Erfolg die konkrete Verbindung zu den „proletarischen Massen“ der norditalienischen Industriereviere aufzunehmen. Auch das einzigartig breite Integrationsfeld der argentinischen Montoneros, die den schichtenübergreifenden peronistischen Anspruch für sich in Anspruch zu nehmen versuchten, vermochte ihren Aktionismus ebenso nur kurzfristig substantiell zu unterfüttern. Das Paradebeispiel sozialer Relevanz stellten freilich die uruguayischen Tupamaros dar. Die Tatsache, dass sie an der Spitze einer tatsächlich existierenden gesellschaftlichen Bewegung stammten, den Zuckerrohrarbeitern, verbunden mit dem Argument manifest spürbarer Re28
Dellwo, Das Projektil sind wir, aaO. (FN 27), S. 8 und S. 58. Siehe dazu besonders Wassmund, Hans, Revolutionstheorien. Eine Einführung, München 19768, S. 58-63. 30 Vgl. dazu die Ausführungen in Varon, Jeremy, Bringing the War Home. The Weather Underground, The Red Army Faction and Revolutionary Violence in the Sixties and Seventies, Berkeley/ Los Angeles/ London 2004, S. 151-195. 29
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pressivität des Systems während der Militärdiktatur, führten die Tupamaros zur für Sozialrevolutionäre privilegierten Position, ihren Legitimitätscharakter zu betonen. Im Verlauf des Redemokratisierungsprozesses konnten ehemalige Tupamaros so ihre politische Beteiligung im regierenden Linksbündnis einfordern.
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Sozialrevolutionärer Terrorismus ohne Aussicht?
Als Quintessenz der getroffenen Ausführungen ist man geneigt zu vermuten, dass Terrorismus an sich keine dauerhaft Ziel führende Strategie ist und deshalb eine Bekämpfung unnötig erscheint. Politische Eliten und Verantwortliche in den Strafverfolgungsbehörden können sich den Luxus prognostischer Überlegungen in diese Richtung freilich nicht leisten. Schon die natürliche staatliche Schutzfunktion macht es unmöglich, terroristische Organisationen bis zu ihrem strukturellen Versagen gewähren zu lassen. Dennoch wäre es vermessen zu glauben, dass die kurzfristige Lebensdauer von sozialrevolutionären Gruppen eine Wiederauferstehung oder Wiederholung ähnlicher militanter Muster von vornherein ausschlösse. Auch wenn sich der Charakter des sozialrevolutionären Terrorismus in Struktur und Gefährdungsradius verändert hat, so sind die Inhalte doch gleich geblieben und nicht etwa mit dem epochalen Bruch der Jahre 1989/1990 verschwunden. Auch wenn der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus die meisten sozialistisch oder kommunistisch inspirierten Parteien und Organisationen vor erhebliche legitimatorische und auch organisatorische Probleme stellte, so haben sich die Rahmenbedingungen für sozialrevolutionäre Militanz damit keineswegs in Luft aufgelöst.31 Bereits 1992, als die RAF ihren Gewaltverzicht erklärte, formulierten die Verfasser des relativ selbstkritisch gehaltenen Schreibens: Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, der seine Ursache wesentlich in den im Innern ungelösten Widersprüchen hatte, hat katastrophale Auswirkungen für Millionen Menschen weltweit und hat alle, die rund um den Globus um Befreiung kämpfen, auf sich selbst zurückgeworfen. Aber dadurch hat sich für alle die Notwendigkeit noch mal deutliche gezeigt, dass die Kämpfe um Befreiung nur aus dem Selbstbewusstsein der eigenen, speziellen Geschichte der Völker, den authentischen Bedingungen und Zielen entwickelt werden können.“32
Nur wenige Jahre später, in der Auflösungserklärung, sprachen die Urheber des Schreibens die zuvor noch nebulös angesprochenen Brüche in modernen Gesellschaften weitaus direkter an und formulierten daraus die Hoffnung auf neu entstehende Protestbewegungen:
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Wenig hilfreich ist jedoch der Versuch besonders der konservativen Literatur, den Linksextremismus zum staatsgefährdenden Moloch zu stilisieren, der nur kurzfristig in einer Nische ein Schattendasein fristet. Zu den wenig ertragreichen Darstellungen diesbezüglich siehe exemplarisch van Hüllen, Rudolf/ Klein, Kurt J./ Langguth, Gerd/ Rupprecht, Reinhard (Hrsg.), Linksextremismus. Eine vernachlässigte Gefahr, Sankt Augustin 1997. 32 Siehe dazu die Erklärung „An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann“, in: ID-Archiv (Hrsg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialen zur Geschichte der RAF, Berlin 1996, S. 410.
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Die RAF ist die Antwort für die Befreiung noch nicht gewesen – vielleicht ein Aspekt von ihr. (…) Das Befreiungskonzept der Zukunft kennt viele Subjekte und eine Vielfalt von Aspekten und Inhalten (…).33
Werden klassische Formen der Immunisierung und Mechanismen der Rechtfertigung für den bewaffneten Kampf, und mithin der eigenen Existenz, ausgeklammert, so schält sich doch der selbstkritische Gedanke heraus, dass nur die militante, leninistischavantgardistische Variante des sozialrevolutionären Terrorismus irreführend war. Die Hauptwidersprüche im Kapitalismus und die systematische Ausgrenzung von Menschen, die dem kapitalistischen leistungs- und Verwertungsprozess nicht zur Verfügung stehen, hätten aber weiterhin Bestand und böten einen entsprechenden Nährboden für neuerliche, alternative Formen der militanten Opposition gegen Staat, Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus. Wirft man einen Blick auf moderne sozialrevolutionäre Organisationsformen, so ist durchaus erkennbar, dass die Gewaltbereitschaft auf einer niedrigeren Eskalationsstufe durchaus noch vorhanden ist. Gleichzeitig aber ist das Dogma RAF und die Verbindung von hierarchischer Organisation und Unbeirrbarkeit heute aber weitgehend negativ konnotiert, kann also auch in der Szene nicht für neuerliche Integrationsschübe sorgen. Dennoch sind in der Bundesrepublik erste terroristische Ansatzpunkte von linksextremer Provenienz bereits wieder erkennbar. Als die RAF sich nach ihrem Gewaltverzicht besonders in der linken Szene erheblicher Kritik ausgesetzt sah, spaltete sich mit den Antiimperialistischen Zellen (AIZ) eine Gruppierung ab, die zwar extrem kurzlebig war, jedoch eine Vorgeschmack auf die Diffusion sozialrevolutionärer Militanz in den Folgejahren bieten sollte.34 Nach der Auflösung mehrerer Revolutionärer Zellen Anfang der neunziger Jahre und der Selbstterminierung der RAF 1998 schien der sozialrevolutionäre Terrorismus tatsächlich an sein Ende gelangt. Doch auf dem Nährboden der vorangegangenen Organisationen entwickelte sich eine neuerliche Form autonomer Militanz, die heute von den Behörden unter der Rubrik „no-name-terrorism“35 subsumiert wird. Akronyme wie RAF scheinen zu negativ konnotiert, um sie mit neuem Personal ausgestattet abermals zum Leben zu erwecken. Vielmehr scheint man aus der relativen Isolation der hierarchisch ausgerichteten Organisationen die Lehre gezogen zu haben, sein Heil wieder in netzwerkartigen Strukturen und der Klandestinität zu suchen. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr das Abtauchen der Aktivisten in den Untergrund, sondern vielmehr das Betätigen als „Feierabendterroristen“. Aus diesem Grund haben sich die so genannten „Autonomen“ zur augenblicklich größten Bedrohung von sozialrevolutionärer Seite entwickelt. In ihrem Selbstverständnis ist jede Form von Organisation mit Hierarchie gleich zu setzen, was ihrer ideologisch geprägten Vorstellung von der Selbstbestimmtheit und Freiheit des Individuums diametral entgegensteht. Eine schlagkräftige, dogmatisch definierte Organisation ist von dieser Seite nicht zu erwarten, was die „militante gruppe“ (mg) zur augenblicklich größten Bedrohung avancieren lässt, die mit mehreren Brandanschlägen ohne Personenschäden aber
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Die Auflösungserklärung der RAF ist abgedruckt in IG Rote Fabrik (Hrsg.), Zwischenberichte. Zur Diskussion über die Politik der bewaffneten und militanten Linken in der BRD, Italien und der Schweiz, Berlin 1998, S. 217237, hier S. 233. 34 Siehe dazu Straßner, Alexander, Die dritte Generation der RAF. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003, S. 250-253. 35 Bundesverfassungsschutzbericht 2004, S. 138.
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auf einem niedrigen Eskalationsniveau verbleiben lässt.36 Erschwerend kommt hinzu, dass innerhalb der Szene eine breite Debatte über Sinn und Zielerfolg von Militanz geführt wird, eine Reflex auf die dogmatisch geprägten Zeiten der RAF, die keinerlei Diskussionen oder Kritik an ihrer Vorgehensweise zu akzeptieren bereit war. Da die Militanzdebatte seit 2004 aber nach eigenem Bekunden aus der Szene in einer Sackgasse steckt, ist auch von dieser Seite augenblicklich kaum mit gesteigerten terroristischen Aktionen zu rechnen. Von der personellen Warte aus muss die Aussicht auf eine baldige Neuauflage sozialrevolutionär motivierter terroristischer Aktionen, zumindest in der Bundesrepublik, negativ bewertet werden. Die Rahmenbedingungen des bewaffneten Kampfes sind jedoch keineswegs entfallen. In dieser Argumentationslinie finden sich vor allen Dingen die so genannten Autonomen wieder. Ihre ideologischen Wurzeln hat die autonome Bewegung im anarchistischen Teil der studentischen Protestbewegung sowie in der Autonomiebewegung von Fließbandarbeitern in norditalienischen Industrierevieren. Dem kapitalistischen Ordnungssystem wie dem marxistisch-leninistischen Organisationsverständnis erteilen die Autonomen ebenso eine klare Absage wie jedem anderen Herrschaftsmuster und favorisieren dem gegenüber die Selbstgestaltung des menschlichen Zusammenlebens nach freiem Ermessen des Einzelnen, der sich keinem Machtanspruch anderer Menschen zu beugen braucht.37 Dabei verfügen die Autonomen über kein einheitliches ideologisches Weltbild, auch wenn sie einen auffallenden Bezug zum anarchistischen oder anarcho-kommunistischen Gedankengut nicht abstreiten können. Im Februar 1983 begannen sich die Autonomen, nach ersten Vorläufern in der „Sponti-Bewegung“ mit ihrem Höhepunkt 1978, durch einen Kongress auch in der Bundesrepublik zu sammeln. Bezeichnenderweise war die Formierung der Autonomen in Deutschland nicht zuletzt durch jene mit angestoßen worden, welche ohnehin bereits eine tragende Rolle im Linksextremismus und -terrorismus gespielt hatten. So organisierte der Stuttgarter Rechtsanwalt Arndt Müller, dem wegen seiner Verstrickung in den Stammheim-Prozess und die Selbsttötung der Häftlinge 1977 die Approbation entzogen wurde, den Konvent ebenso wie Karl-Heinz Dellwo, Aktivist der zweiten RAF-Generation, eine Broschürengruppe die Autonomen betreffend herausgab. Die Versammlung hatte eine ähnliche Zielabsicht wie der RAF-Kongress des Jahres 1985, nämlich die Internationalisierung der bestehenden autonomen Kräfte in Europa. Wie der Versuch der RAF scheiterten aber auch die Bemühungen der Autonomen an unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten. Als gemeinsames Positivum konnte lediglich die Anwendung von Gewalt als Prinzip hervorgehoben werden.38 Ersten Niederschlag fand der abermalige Ideologieimport dabei in der Hausbesetzerszene im Frankfurter „Westend“, Berlin-Kreuzberg und der Hamburger Hafenstraße. Ihren Schwerpunkt legten die Autonomen im Gegensatz zur RAF nicht etwa auf die „revolutionäre Aktion“, sondern auf den „subversiven Alltag“ und eine „Strategie der Nadelstiche“ gegen den „staatlichen Gewaltapparat“, dem sie sich in unversöhnlichem Hass gegenüber sehen. Allgemein aber konnten sie sich in der Friedensbewegung ebenso wie bei Grünen, 36
Bundesverfassungsschutzbericht 2005, S. 151. Deutlich wird diese im Anarchismus verhaftete Ablehnung menschlicher Herrschaftsstrukturen über andere Menschen besonders in zwar populären, jedoch deshalb nicht minder semantisch sinnwidrigen Parolen wie „Keine Macht für Niemand!“. Vgl. dazu Moreau, Patrick/ Lang, Jürgen, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996, S. 368-373. 38 Ebd., S. 365. 37
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DKP oder der linken Sozialdemokratie kaum verankern, lediglich unter den Hausbesetzern oder in der Anti-Atomkraft-Bewegung zeigten sich zunehmend Integrationseffekte.39 Ihren ersten kriminellen Höhepunkt erreichte die autonome Bewegung erst 1987 mit der Erschießung zweier Polizisten im Rahmen des Protestes gegen die Frankfurter Startbahn-West. Für die Autonomen heute ist ihre fundamentale Gegnerschaft zum „System“ und ihre pauschalisierte Ausrichtung „gegen den Staat“ kennzeichnend, den sie durch „permanente Revolte“ zerstören wollen. Trotz aller individueller Autarkie ist das öffentliche Erscheinungsbild der Autonomen bei Straßenkrawallen aber eher uniform: Als „schwarzer Block“, wie anlässlich der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm, treten sie in einheitlichem Outfit, nicht selten mit „Hasskappen“ vermummt, auf, um so ihre Unversöhnlichkeit mit dem „System“ und seinen „Bullen“ zu demonstrieren.40 Die Autonomen finden sich dabei meist spontan in Kleingruppen zusammen und zeigen dann eine zum Teil erhebliche Gewaltbereitschaft, die in den letzten Jahren besonders in der Gruppe F.e.l.S. („Für eine linke Strömung“) ihren Höhepunkt fand.41 Nach der Zerschlagung des verhassten Systems soll in einer „herrschaftsfreien Gesellschaft“ die Autonomie des Individuums sichergestellt werden. Ein besonderes Hemmnis bezüglich einer tief reichenden Verankerung und schlagkräftigen Kooperation war für die Autonomen dabei bisher ihre weitgehend unorganisierte Struktur, die der effektiven Verfolgung von Zielen nahezu konträr entgegen steht. In dem Versuch, sich Mitte der neunziger Jahre stärker am Erfolg und der Wirksamkeit der eigenen Aktionen auszurichten, entdeckten die Autonomen daher kurzfristig die klassische Praxis des Leninschen Untergrundkämpfers.42 Ihre spontaneistische Tradition steht dabei im Gegensatz zu einer streng militärischen Organisation terroristischer Gruppierungen. Ihre bisherigen Versuche, verbindliche Strukturen untereinander aufzubauen, um zu einer effektiveren Bekämpfung des „Systems“ übergehen zu können, waren bereits einmal Ende der achtziger Jahre gescheitert.43 Und auch die Tendenz zur organisatorischen Effektivierung Mitte der neunziger Jahre wurde begleitet von einer langen und breit angelegten Debatte um die Vereinbarkeit von erhöhtem Organisationsgrad und autonomem Dogma. Eine Aufspaltung der Autonomen in unterschiedliche Gruppierungen war vor diesem Hintergrund nur folgelogisch, unter den zahlreichen Spaltprodukten sind besonders die „Antifaschistische Aktion“ ebenso wie die Gruppe F.e.l.S., die mit dem traditionellen, systematisch unorganisierten Aktionismus brach und einen Rückgriff auf marxistisch-leninistische Ideologiefragmente vornahm, zu nennen.44 Die darin zum Ausdruck kommende heterogene Phänomenologie der Autonomen verbietet es daher, von „den Autonomen“ an sich zu sprechen. Ähnlich den RZ bestehen sie auch heute noch aus einem lediglich losen Verbund eigenständig handelnder Gruppen, die 39
Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard, Interaktionen im politischen Extremismus Deutschlands. Vergleich zwischen den organisierten, nicht gewalttätigen und den gewalttätigen, nicht-organisierten Kräften, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 1999, Baden-Baden 1999, S. 13-32, hier S. 25. 40 Siehe dazu Horchem, Die Grenzen „autonomer“ Gewalt. Eine Bilanz nach der Wiedervereinigung, in: Löw, K. (Hrsg.), Terror und Extremismus in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen, Wege zur Überwindung, Bonn 1994, S. 113. 41 Bundesverfassungsschutzbericht 1998, S. 93/94. 42 Moreau/ Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, aaO. (FN 34), S. 377. 43 Landesverfassungsschutzbericht Hessen 1988, S. 46. 44 In der Tat erwies sich die von der Gruppe vorgenommene Verquickung von militanten und friedlichen Strategien deckungsgleich mit der modifizierten RAF-Strategie Anfang der neunziger Jahre, auch wenn F.e.l.S. betonte, die eigenen Ideen seien derjenigen der RAF vorausgegangen. Siehe dazu Moreau/Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, aaO. (FN 34), S. 390-392.
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zudem ein uneinheitliches Weltbild an den Tag legen. Allein in der jüngsten Vergangenheit ist es der „Autonomen Antifa M“ gelungen, die stark fragmentierte Szene wieder etwas zu bündeln.45 Die Autonomen scheinen daher nur vordergründig, gratwandernd auf der ohnehin nur schwer auszumachenden Scheidelinie zwischen Extremismus und Terrorismus den Linksterrorismus der RAF auf anderer Ebene weiter zu führen. Nicht zuletzt die zahlreichen Diskrepanzen und Zerwürfnisse zwischen Autonomen und RAF waren es aber, die auch heute noch die unterstellte Nachfolgerschaft der Autonomen im Anschluss an das Ende der RAF verbieten. Im Gegensatz zur Kommandostruktur der RAF tauchen Autonome nicht in die Illegalität ab, die sie aus ideologischen Gründen stets ablehnten. Vor allem kritisierten sie darüber hinaus stets den Elitismus der RAF, der sich der Akzeptanz der Massen und des Bewusstseins der Notwendigkeit einer Umwälzung durch die Theorie des „foquismo“ entzogen hatte. Allein in ihrer Imperialismus- und Kapitalismuskritik, die sich gegen die weltweite Ausbeutung richtete und in ihrer Frontstellung gegen die Unterwerfung der Frauen in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen des kapitalistischen Patriarchats zeigten sich noch frappierende Parallelen zum Trikont-Prinzip der dritten Generation wie zur „sozialen Gegenmacht“. Und auch Themenkomplexe wie die betriebene Agitation gegen die „staatliche Repression“, Kampf gegen die „Umstrukturierung“ meist städtischer Lebensräume sowie der „Häuserkampf“ (Hafenstraße etc.) komplettierten neben den Aktionsschwerpunkten „Antirassismus“ und „Solidarität für Kurdistan“ das Konglomerat autonomer Feindbilder und deckten sich dabei nur scheinbar mit RAF-Schwerpunkten der neunziger Jahre. Trotz der bestehenden Differenzen konnten die Behörden in den achtziger Jahren – wie etwa beim Hungerstreik 1989 – eine zaghafte Annäherung zwischen der RAF und den integrationswilligen Teilen der Autonomen ausmachen. Darüber hinaus verfehlten auf Integration angelegte Bekennerschreiben und Veröffentlichungen im RAF-Sprachrohr „Zusammen kämpfen“ ihre Wirkung nicht, da bereits 1986 die Selbstbezichtigung des Anschlags auf Beckurts nicht nur in der Szenezeitschrift der RAF, sondern auch in der Autonomen-Postille „radikal“ erschienen war.46 Zunehmend verprellte man aber die Autonomen durch das fortschreitende tschekistische Selbstverständnis und die abrupte Beendigung des Hungerstreiks 1989. Als linksterroristische Bedrohung im Anschluss an die RAF gewinnen die Autonomen daher nur bedingt neuen Charakter, und der geschärfte analytische Blick eröffnet zusätzliche tiefe Gräben zwischen beiden linksextremistischen Organisationsformen, die allein über die Struktur militanten Widerstandes hinausgehen. Die Bundesverfassungsschutzberichte sprechen durch die autonomen Sabotageakte und verübten Anschläge mit Hakenkrallen auf Bahngleise, Hochspannungsmasten, Fernmelde- und Datennetze zwar bereits von terroristischen Ansätzen.47 Da sie mit der Vorgehensweise und dem Selbstverständnis der dritten Generation aber bereits Mitte der achtziger Jahre weitgehend gebrochen hatten, können sie damit höchstens in extrem verminderter und damit differenter Form den Links45
Backes/ Jesse, Interaktionen im politischen Extremismus, aaO. (FN 36), S. 25. Siehe dazu das Interview mit dem ehemaligen Generalbundesanwalt Dr. Kurt Rebmann in: Terrorismus Informationsdienst Nr. 1/Oktober 1986, S. 5. Neben „radikal“ gibt es augenblicklich noch ca. dreißig weitere konspirativ verbreitete Szeneblätter, von welchen das wöchentliche Berlin-Info „Interim“ noch das meiste Gewicht besitzt. Siehe dazu Backes, Uwe/Jesse, Eckhard, Autonome und Skinheads – ein Vergleich, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 1994, Baden-Baden 1994, S. 14. 47 Bundesverfassungsschutzbericht 1998, S. 99. 46
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terrorismus weiterführen, der zudem nur noch der Ebene der RAF-Militanten ähneln würde. Dass hier dennoch mitunter von den Aktivisten selbst eine direkte Nachfolgelinie impliziert wurde, dürfte nicht zuletzt Abwanderungstendenzen aus dem RAF-Umfeld hin zu den Autonomen angesichts des Verfalls der RAF zuzuschreiben sein. So registrierten die Behörden Anfang bis Mitte der neunziger Jahre eine Annäherung zwischen dem RAF-Umfeld und den Autonomen, da die dritte Generation ihre Isolation zu erkennen begann und – gleichsam als Vorläufer der „sozialen Gegenmacht von unten“ – sich weitaus konzessionsbereiter auch den Autonomen gegenüber gab.48 Dabei profitieren die Autonomen hinsichtlich ihrer Funktionsfähigkeit auch heute noch von dem Vorteil, im Gegensatz zu den RZ oder der RAF relativ unbeschadet aus den weltweiten Umbrüchen 1989/90 hervor gegangen zu sein. Und auch Mitte der neunziger Jahre galten die Autonomen im Gegensatz zu ihrem Pendant auf rechtsextremistischer Seite, den Skinheads, noch als moralisch höherwertig und konnten ihr Schattendasein zu aktionistischen Phasen nutzen.49 Ebenso konnten in den neunziger Jahren nur kurz Gemeinsamkeiten zwischen Autonomen und RAF festgestellt werden. 1991 bezichtigten sich Autonome eines Brandanschlags auf eine NATO-Pipeline in Pfahlhausen/Niedersachsen und propagierten dabei ausdrücklich die Einheit aller Kampfformen. Dazu gehöre auch, dass Anschläge wie derjenige der RAF auf Rohwedder als Bestandteil des gesamten Widerstandes begriffen würden.50 Nach einer Studie des BfV charakterisiert autonome Gruppierungen auch heute noch ihre erhöhte Militanz besonders in der Auseinandersetzung mit der sogenannten „NeonaziSzene“. Dabei zeigen sie Entschlossenheit zu terroristischen Aktionen nach dem Muster der RZ und versuchen, ihren bisher unstrukturierten Protest zu organisieren. Insofern verfahren sie nach dem Grundmuster, Anschläge aus der Legalität heraus zu planen, um ein erhöhtes Maß an Anonymität zu gewährleisten. In dieser Verhaltensweise findet das konspirative Vorgehen der dritten Generation jedoch ebenfalls nur scheinbar seine Fortsetzung. Ebenso vermutet man in der Tradition des RAF-Terrorismus nach 1990 die Selbstdefinition der Autonomen als „Antifaschisten“ und ihr Kampf gegen den Rechtsextremismus. Dies dürfte aber in extremistischer Logik allgemein und daher losgelöst von terroristischen Prämissen begründet liegen. Die von den Autonomen ausgehende Gewalt in der Auseinandersetzung mit ihren extremistischen Spiegelbildern manifestierte sich in dem tödlichen Mordanschlag auf Gerhard Kaindl, Funktionär der rechtsextremistischen „Deutschen Liga“ am 4. April 1992 in Berlin, dessen Adresse zuvor in einer Szenepublikation veröffentlicht worden war. In diesen Veröffentlichungen fanden sich auch konkrete Handreichungen für Sabotageakte, mitunter wurden in der Zeitschrift „radikal“ Montageanleitungen für elektronische Einrichtungen zum zeitverzögerten Zünden von Brandsätzen mit exakten Schaltplänen veröffentlicht.51 Ein Hinweis auf eine Stabübergabe durch die RAF an die Autonomen lässt sich allerdings auch durch die wechselseitige Annäherung nicht ablesen, im Gegenteil hatte sich bereits nach der Wiedervereinigung die dritte Generation ebenso wie ihre Vorgänger gegen 48
Bundesverfassungsschutzbericht 1988, S. 89. Vgl. Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard, Autonome und Skinheads- ein Vergleich, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 1994, Bonn 1994, S. 7-34, hier S. 7. 50 Horchem, Die Grenzen „autonomer“ Gewalt, aaO. (FN 35), S. 116. 51 Vgl. dazu ebd., S. 115-117. Ähnlich kennzeichnend für die wechselseitige Aufschaukeltendenz ist die Schärfe der Auseinandersetzungen zwischen Hamburger Autonomen und der Polizei, seit der Rechtspopulist Schill Innensenator des Stadtstaates ist. Siehe dazu „Schill gegen die Schanzen-Szene“, in: SZ vom 20.11.2002, S. 6. 49
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den aufkeimenden „Neofaschismus“ gestellt und den Staat für dessen Kolportation verantwortlich gemacht. Und auch die Autonomen scheinen diese Strategie nur bedingt weiter zu verfolgen, der Antifaschismus ist in autonomen Zirkeln nur eines von zahlreichen Themenfeldern. Von besonderer Bedeutung sind die internationalistischen Kontakte der Autonomen. So unterhielt die besonders gewalttätige Antifa-Autonomen-Gruppe „Scalp“ intensive Kontakte mit den Autonomen der Hamburger Hafenstraße, um Lebensläufe und andere Informationen über französische „Faschisten“ auszutauschen. Die Behörden in Frankreich befürchteten eine Verbindung zu einer französischen Gruppierung, die zur Solidarität im Laufe eines Prozesses gegen ein Mitglied der Action Directe aufriefen. Im Gegenzug sind deutsche Autonome vermehrt nach Paris und Avignon gereist, um dort ihre Verbindungen zur Gruppe „Guerilla“ aufzufrischen.52 Derjenige Teil der Autonomen, der sich aus ehemaligen Unterstützern der RAF zusammensetzt, und internationale Kontakte vor allen Dingen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK vorzuweisen hat, ist aktionistisch noch kaum in Erscheinung getreten.53 Die gegenwärtigen Hochburgen der Autonomen sind neben den größeren Zentren Berlin, dem Rhein-Main-Gebiet, dem Ruhrgebiet und Hamburg auch vermehrt kleinere Universitätsstädte wie Göttingen (hier wiederum von besonderem Einfluss: die „Autonome Antifa M“, deren Ziel es ist, mit anderen Kräften gegen militante Skinheads zusammenzuarbeiten), Freiburg im Breisgau und Passau.54 In der jüngsten Vergangenheit zeigte sich die im linksextremistischen Spektrum noch vorhandene Integrationskraft im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Castor-Transporte, wobei die Autonomen den zunächst gewaltlosen Protest gegen die Verlagerung von Atommüll in ihrem Sinne zu instrumentalisieren und umzufunktionalisieren wussten. Doch auch Antifaschismus, Antirassismus und Demagogik gegen die „Umstrukturierung“ aus sozialräumlicher Benachteiligung einzelner Lebensräume im Sinne einer Agitation gegen „Miethaie“, „Profiteure“, „Bonzen und Banker“ stellen weiterhin Motivationsgrundlagen dar.55 In den letzten Jahren hat darüber hinaus das Thema Globalisierung an Bedeutung gewonnen und scheint mittelfristig erhebliches Rekrutierungspotential aufzuweisen.56 Die aktuelle Einschätzung der Behörden, denen zufolge es nur insgesamt 6.000 gewaltbereite Linksextremisten in der Szene gibt, lassen aber kaum auf eine bevorstehende militante Bedrohung schließen.57 So findet sich der sozialrevolutionäre Terrorismus augenblicklich in einem Dilemma wieder. Zwar gibt es sozialrevolutionäres Gedankengut, probate Akteure ebenso wie die dafür notwendigen Rahmenbedingungen, meist in Gestalt diffus empfundener Strukturen von ökonomischer Deprivation. Alte, leninistisch und damit hierarchisch organisierte Kaderorganisationen mit nicht hinterfragbarem Wahrheits- und Führungsanspruch aber sind
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Moreau/ Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, aaO. (FN 34), S. 365. Bundesverfassungsschutzbericht 2001, S. 146. 54 Siehe dazu „Warnung vor Gewalt von links“, in: SZ vom 07.09.1999, S. 7. 55 Mletzko, Matthias, Merkmale politisch motivierter Gewalttaten bei militanten autonomen Gruppen, in: Backes, Uwe/ Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 1999, Baden-Baden 1999, S. 180-182. 56 Vgl. dazu Backes Uwe, Interdependenzen und Interaktionen zwischen gewaltlosen und gewaltorientierten extremistischen Akteuren am Beispiel von „Autonomen“, „Neonationalsozialisten“ und „Skinheads“ in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kemmesies, Uwe (Hrsg.), Terror und Extremismus. Der Zukunft auf der Spur, München 2006, S. 45. 57 Bundesverfassungsschutzbericht 2006, S. 151. 53
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als gesellschaftliches Kunstprodukt in der Szene ebenso wie in der Öffentlichkeit diskreditiert. Eine Einsicht, die auch unter ehemaligen Aktivisten vorherrscht: Aus dem Scheitern der RAF – stellvertretend für jeden revolutionären Kampf – aber ein Bekenntnis zu machen zu einem System, das Gleichheit nur in der Objektstellung aller Menschen herstellt, kommt in der Regel von denen, die, wie Marx sagt, zwar auch entfremdet sind, auf Grund ihrer privilegierten gesellschaftlichen und ökonomischen Lage diese Entfremdung als Scheinsubjekte aber noch genießen können. Sie sind unlauter.58
Integration von potentiellen Sympathisanten geschweige denn gesellschaftliche Mobilisierung ist von diesem Blickwinkel aus nicht zu erwarten. Andererseits zeigt der spontaneistische Aktionismus der Autonomen die Problematik, dass eine dauerhaft schlagkräftige Gruppierung ohne ein Mindestmaß an Organisierung weder Wiedererkennungswert noch Existenzgrundlage hat. Organisationen wie die „militante gruppe“ in der Bundesrepublik offenbaren, dass sie mit ihrem Mittelweg sowohl die Ideale der autonomen Bewegung erschüttern als auch trotz allem nicht zu einem konstanten Aktivismus auf hohem Niveau in der Lage sind und mit ihren Brandanschlägen eine Randerscheinung bleiben müssen. Die Grundkonstanten der Motive für bewaffneten Widerstand gegen das System von sozialrevolutionärer Seite aber sind keinesfalls verschwunden. So wird der Kampf gegen Unterdrückung in kapitalistischen Systemen, gegen die Ausbeutung von Frauen durch Männer, gegen Rassismus und Imperialismus auch weiterhin Bezugsrahmen für Individuen sein, die sich empfänglich für entsprechende Variablen zeigen. Inwiefern Globalisierungsprozesse ein neues Fundament und Folie für die Entstehung neuer sozialrevolutionärer Bewegungen sein können, lässt sich derzeit nur erahnen. Insofern wird der präventiven Bekämpfung des sozialrevolutionären Terrorismus besondere Bedeutung zukommen, wobei die Weltformel der Terrorismusbekämpfung59 hier genau die gleiche Gültigkeit besitzt wie bei anderen Spielarten: Terrorismus ist langfristig nicht durch überzogene sicherheitspolitische Maßnahmen und Reaktionen oder durch militärische Interventionen in Krisenregionen zu lösen. Der Schlüssel zur Terrorismusbekämpfung liegt langfristig in der Bewältigung nationaler wie internationaler sozialer und ökonomischer Schieflagen. Diese sind zwar nicht unmittelbarer Auslöser für Terrorismus, bilden aber doch stets das Fundament zur Entstehung und latenten Unterstützung terroristischer Organisationen.
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So Dellwo, Das Projektil sind wir, aaO. (FN 27), S. 195. Siehe zu national verschiedenen und supranational angelegten Methoden der Terrorismusbekämpfung Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel (Hrsg.), Jahrbuch Terrorismus 2006, S. 157-240.
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Anhang
Autorinnen und Autoren Autorinnen und Autoren
Der Herausgeber Alexander Straßner, Dr. phil, M.A., geb. 1974; Akademischer Rat z.A. am Institut für Politikwissenschaft der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Terrorismus, Verbände, Militär. Wichtigste Publikationen: Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003; Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2004 (zusammen mit Martin Sebaldt); Grundkurs Politikwissenschaft. Einführung ins wissenschaftliche Arbeiten (zusammen mit Autorenkollektiv).
Die Autorinnen und Autoren Alexandra Bürger, stud. phil., geb. 1977, Magistrandin an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Konfliktregelung, Demokratisierung als Friedensstrategie, Indonesien. Publikation: Nation-building und State-building: zur empirischen Fruchtbarkeit eines politischen Ordnungskonzepts, in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.), Wenn Staaten scheitern. Theorie und Empirie des Staatszerfalls, Wiesbaden 2007, S. 13-31. Florian Edelmann, stud. phil., cand. iur., geb. 1977, Magistrand an der Universität Regensburg, Forschungsschwerpunkte: Soziale Bewegungen, Terrorismus, Zentralamerika. Barbara Fendt, stud. phil, stud. rer. oec., geb. 1981, Magistrandin an der Universität Regensburg, Forschungsschwerpunkte: Verbände, Interessenvertretung, Ökonomie des öffentlichen Sektors, Internationale und interregionale Ökonomie. Marcus Gerngroß, stud. phil., geb. 1982, Magistrand an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Ethnizität und Religion, Konfliktregelung, Vergleichende Demokratieforschung. Wichtigste Publikationen: Libanon: Staatszerfall durch interne Konflikte und externe Akteure, in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.), Wenn Staaten scheitern. Theorie und Empirie des Staatszerfalls, Wiesbaden 2007, S. 147-166. Philip Gursch, B.A., stud. phil, geb. 1982, Masterstudiengang Demokratiewissenschaft an der Universität Regensburg, 2003-2006 B.A.-Studium Staatswissenschaften und Kommunikationswissenschaft an der Universität Erfurt, Mitglied des Arbeitskreises Terrorismusforschung an der Universität Regensburg (aktf.de), Forschungsschwerpunkte: Terrorismus, Politische Kommunikation, Medien, Politische Ideengeschichte. Daniel Heller, stud. phil., stud. iur., geb. 1982, Magistrand an der Universität Regensburg, Initiator und Koordinator des Arbeitskreises Terrorismusforschung an der Universität Regensburg (aktf.de), Forschungsschwerpunkte: (islamistischer) Terrorismus, Nachrichtendienste, Sicherheitspolitik, Verfassungs- und Verwaltungsrecht.
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Autorinnen und Autoren
Carolin Holzmeier, stud. phil., geb.1983, Magistrandin an der Universität Regensburg, Wichtigste Publikationen: Tschetschenien. Zwischen Islamismus und „Befriedungskriegen“, in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.): Wenn Staaten scheitern. Theorie und Empirie des Staatszerfalls, Wiesbaden 2007, S.195-213 (gemeinsam mit Natalie Mayer). Nina Huthöfer, stud. phil., geb. 1982, Magistrandin an der Universität Regensburg, studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft ((Schwerpunkt Westeuropa) Prof. Martin Sebaldt), Forschungsschwerpunkte: Politisches System der EU und Frankreichs, Internationale Beziehungen. Lutz Korndörfer, stud. phil., geb. 1978, Magistrand an der Universität Regensburg, Forschungsschwerpunkte: Medien und Studentenbewegung. Wichtigste Publikation: Palästina, Kampf um Staatlichkeit zwischen Terrorismus und Aushandlung, in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.), Wenn Staaten scheitern. Theorie und Empirie des Staatszerfalls, Wiesbaden 2007, S. 169-194. Franz Kurz, stud. phil., geb. 1983, Magistrand an der Universität Regensburg, Forschungsschwerpunkte: Lateinamerika, Außenpolitik der USA. Natalie Mayer, M.A., geb. 1981, Wichtigste Publikationen: Tschetschenien. Zwischen Islamismus und „Befriedungskriegen“, in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.): Wenn Staaten scheitern. Theorie und Empirie des Staatszerfalls, Wiesbaden 2007, S.195213 (gemeinsam mit Carolin Holzmeier). Tobias Nerb, M.A., geb. 1980, Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft (Schwerpunkt Westeuropa) an der Universität Regensburg. 20022007 Studium der Politikwissenschaft, der Rechtswissenschaften und der Geschichte an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Systemtransformation, Dekolonialisierung, Verbände und Zivilgesellschaft. Wichtigste Publikationen: Verbände als Spielball mitgliedschaftlicher Kalküle. Albert O. Hirschman, in: Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander (Hrsg.), Klassiker der Verbändeforschung. Theorie und Empirie einer Forschungstradition, Wiesbaden 2006: 131-142. Verbände als korporative „Realpersönlichkeiten“ im Staat. Otto von Gierke, in: Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander (Hrsg.), Klassiker der Verbändeforschung. Theorie und Empirie einer Forschungstradition, Wiesbaden 2006: 259-274. Verbände als Dialogpartner im kooperativen Staat. Gerhard Lehmbruch (in Zusammenarbeit mit Stefan Köppl), in: Sebaldt, Martin/ Straßner, Alexander (Hrsg.), Klassiker der Verbändeforschung. Theorie und Empirie einer Forschungstradition, Wiesbaden 2006: 259-274. Kolumbien zwischen Guerillakrieg, Drogenkartellen und Reststaatlichkeit(in Zusammenarbeit mit Aletta Hofmann), in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.), Wenn Staaten scheitern. Theorie und Empirie des Staatszerfalls, Wiesbaden 2007. S. 109-130.
Autorinnen und Autoren
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Stephanie Rübenach, stud. phil., geb. 1983, Magistrandin an der Universität Regensburg und 2006/7 Studium der International Relations am Centre for Study of Terrorism and Political Violence an der University of St Andrews. Studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft (Schwerpunkt Westeuropa) (Prof. Martin Sebaldt). Forschungsschwerpunkte: Terrorismus und Guerillakrieg, Nordirlandkonflikt, Lateinamerika, Zentralafrika. Wichtigste Publikationen: „Vom Genozid zum unendlichen Krieg. Symptome der Staatszerfallsprozesse in Rwanda und der Demokratischen Republik Kongo“, Einsichten und Perspektiven – Bayerische Zeitschrift für Geschichte und Politik 2/2006, S. 126-137; „Rwanda. Paradoxon zwischen instabilem Staat und starkem Regime“, in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.), Wenn Staaten scheitern. Theorie und Empirie des Staatszerfalls, Wiesbaden 2007, S. 63-92 (zusammen mit Marco Hilz). Susanne Schäfer, stud. Phil., geb. 1983, Magistrandin an der Universität Regensburg. Studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Philosophie und Ideengeschichte (Prof. Dr. Karlfriedrich Herb), Forschungsschwerpunkte: Demokratietheorien, Revolutionsforschung, politische Ideengeschichte. Wichtigste Publikationen: Algerien. Unabhängigkeit, verhinderte Islamisierung und Stabilisierung, in: Straßner, Alexander/Klein, Margarete (Hrsg.), Wenn Staaten scheitern, Theorie und Empirie des Staatszerfalls, Wiesbaden 2007, S. 93-108 (zusammen mit Nico Pointner). Ilona Steiler, stud. phil., geb. 1981, Magistrandin und studentische Mitarbeiterin an der Professur für Internationale Politik (Schwerpunkt Transatlantische Beziehungen) (Prof. Stephan Bierling), Forschungsschwerpunkte: Sub-Sahara Afrika, Politische Kultur der USA. Johannes Wörle, stud. phil., stud. jur., geb. 1982, Magistrand an der Universität Regensburg, Forschungsschwerpunkte: Terrorismus, Transatlantische Beziehungen. Benjamin Zeitler, M.A., geb. 1981, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft (Schwerpunkt Westeuropa) an der Universität Regensburg (seit 2007); Lehrbeauftragter beim Bohemicum Passau-Regensburg. 2001-2007 Studium der Politikwissenschaft an der Universität Regensburg und an der Karlsuniversität Prag. Forschungsschwerpunkte: Parteien, Politische Kommunikation, Wahlen und Verbände. Wichtigste Publikation: Stadt unterm Hakenkreuz, Tirschenreuth in der NS-Zeit, Tirschenreuth 2002; Verbände als organisatorisches Spiegelbild der Gesellschaft: David Truman, in: Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander (Hrsg.): Klassiker der Verbändeforschung, Theorie und Empirie einer Forschungstradition, Wiesbaden 2006, S. 57-73; Verbände als Herrschaftsinstrument politischer Organisationen: Robert Michels, in: Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander (Hrsg.): Klassiker der Verbändeforschung, Theorie und Empirie einer Forschungstradition, Wiesbaden 2006, S. 223-241; Verbände als pluralistische Stratarchien: Samuel J. Eldersveld, in: Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander (Hrsg.): Klassiker der Verbändeforschung, Theorie und Empirie einer Forschungstradition, Wiesbaden 2006, S. 241259; Getrennt marschieren, geeint schlagen? Die Organisation der CDU-Kampagnen zu den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005, Politische Studien, 59. Jg., Nr. 417, 2008, S. 5370.