Dietmar Dath Skye Boat Song
,,Skye Boat Song“ ist ein Abenteuerroman über die Evolution und eine mehrfache Liebesgeschichte: Die Liebe zur Exfreundin, zur Wissenschaft, zur Musik, zur Familie, zum Guten und Bösen, zu ,,den Menschen“ und zum eigenen Untergang haben darin Platz, ebenso eine Liebeserklärung an einen der größten und unbekanntesten Köpfe des 20. Jahrhunderts, den Informatikpionier Claude Elwood Shannon. Dietmar Dath wurde 1970 geboren, hat die Romane ,,Cordula killt Dich“, ,,Die Ehre des Rudels“ und ,,Am blinden Ufer“ veröffentlicht, war verantwortlicher Redakteur bei ,,Spex“, übersetzt und schreibt für Zeitungen und Zeitschriften von ,,Jungle World“ bis ,,frieze“. Zur Zeit arbeitet er an einem Roman über Paul Dirac.
ERSTE AUFLAGE VERBRECHER VERLAG BERLIN 2000 © TEXTE BY DIETMAR DATH LEKTORAT : WERNER LABISCH, JÖRG SUNDERMEIER ASSISTENZ: MARIA TERESA GONZALEZ NUNEZ, JUDITH BERGES TITELZEICHNUNG : OLIVER GRAJEWSKI
ISBN 3-9804471-8-9 ALLE RECHTE VORBEHALTEN DIGITALISIERT VON
DUB SCHMITZ
NICHT ZUM VERKAUF BESTIMMT !
Für die Katze auf der Friedhofsmauer von Auldearn/Schottland - rauch' ruhig weiter Deine giftigen Zigaretten!
,,I don't mess around with programming at all.“ Claude E. Shannon ,,Ist die Natur immer gesetzmäßig gewesen, und wird sie immer gesetzmäßig bleiben?“ Novalis; Fragmente ,,Nach Abwehr eines russischen Spähtrupps entdeckten seine Soldaten unter den Toten ein siebzehnjähriges Mädchen, das fanatisch gekämpft hatte. Wie es kam, wußte niemand zu sagen, aber am nächsten Morgen lag der Leichnam nackt im Schnee, und da der Winter ein glänzender Bildhauer ist, der die Formen sowohl starr wie frisch erhält, so hatte die Besatzung noch lange zur Bewunderung des schönen Körpers Gelegenheit. Als man später den Stützpunkt zurücknahm, meldeten sich noch oft Freiwillige zu einer Streife, um sich auf diese Weise noch einmal zu weiden am Anblick der herrlichen Gestalt.“ Ernst Jünger; Strahlungen I
Speed bonnie boat Like a bird on the wing Onward the sailor’s cry Who was born to be king Over the sea to Skye Loud the winds howl Loud the waves roar Thunder clouds rent the air Baffled our foes, Stand by the shore Follow they will not dare Though the waves leap Soft shall ye sleep Ocean’s a royal bed Flora will keep Watch by your weary head Speed bonnie boat Like a bird on the wing Onward the sailor’s cry Carry the lad Who was born to be king Over the sea to Skye
Pischon (alpha)
,,Tolle Party-Orte.“ Deshalb vor allem wollte sie nach Berlin, wenn sich - falsch: FALLS sich dort ,,was auftat“, es gab da ,,einen, der computational chemistry macht, einen bottom-up-approach hat. Ich werd' mich da vielleicht mal vorstellen, will jedenfalls raus aus Borbruck. Dieses... dieselben Kneipen, dieselben Gesichter, dieselben Ausflüchte.“ War Colin nur zu alt, oder warum leuchtete ihm das so wenig ein, daß es vielmehr fast völlig duster blieb, ihr beschwingtes: ,,und wenn die Kneipe heute dort ist, muß das nicht heißen, daß sie morgen auch noch da ist. Da ist alles im Fluß, in Berlin, man muß jedesmal, wenn man dort ist, Leute anrufen, die wissen, wo gerade was...“ Große aperiodische Feste. Er würde sie, seine ,,Zweittochter“ Denise, jetzt bald aus ihrem Leben hier schubsen, aus denselben Kneipen, fort von denselben Gesichtern und denselben Ausflüchten, denn woanders warteten Zoo, Arche und Basis. * Er erkannte es sofort. Es war, schien ihm, nur für seine Augen bestimmt, wie der brennende Dornbusch für die Augen des Moses, das Weiße Album für die Ohren von Charles Manson. Das Zeichen entband in der Abendluft, die schon Morgenluft werden wollte, eine geisterhafte Resonanz, der er sich nicht einmal durch die Flucht in den schallisolierten Keller, in den Schoß der geduldigen Maschinen, die so ganz Ohr waren, hätte entziehen können. („I am rooting for machines“, hatte Shannon gesagt, befragt, ob es ihm etwas ausmache, daß Schachcomputer immer stärker wurden.) Colin schnalzte mit der Zunge, als ob er sich selbst aus einer Trance wecken wollte. Mit wem hätte er teilen können, was er sah? Schon als er die rhetorische Frage bedachte, grübelnd, zugleich gereizt, wußte er die Antwort, dachte an Harald Otte, schob den Einfall aber wieder weg. Zeichen und Zeichenkette verlangten seine volle Aufmerksamkeit. Da 1
unten zeigte sich die Botschaft im düster füllhornbunten Kleid, zeigte ihre vielen Farben, intrikates Muster der bevorstehenden Ablösung all dessen, was 3,5 Milliarden Jahre Zeit gehabt hatte, sich selbst einen Namen zu geben. Flucht war die einzige Rettung, zur Basis, zur Arche. Speed bonnie boat, like a bird on the wing. Sonst wäre verloren * Colin erinnerte sich an seinen Besuch in der Kälte, Bauplatz der Arche, vor drei Jahren: Wohin das Auge reichte, im zahnweißen Land, unter brustwarzenhoffarbenen Wolkenfronten, auf allen Bergen und Kuppen, in Felsen und Eis, standen die Gerüste, die Konstrukte einer gewitzigten Hoffnung. Baffled our foes. * Wäre verloren, was sich emporgearbeitet hatte entlang einer gewundenen Molekültreppe von großer Schönheit, reich beschenkt mit ästhetischen Eigenschaften wie Chiralität und Parität, wundersame logische, physikalische und moralische Überschreitung der thermischen Grenze zwischen klassischer und quantenchemischer Kinetik, nur um jetzt mit ebenso sanfter wie unerbittlicher Hand beiseite geschoben zu werden. Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art, lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art. Zeichen: So beredt wie gedachtnislos blühte das Memento unweit der bescheidenen Zivilisationsspur einer zum ziellosen Vagabundieren einladenden regennassen Straße. Am Rand glänzte aufgeschütteter Schotter und brüchiger Asphalt beim Löwenzahn, vor dem Geräteschuppen, zwischen Teppichstange und Komposthaufen. Konnte man so ein Zeichen überhaupt fassen, als ein einzelner Menschenkopf? Verstehen? Auf- oder annehmen? Colin atmete durch die Nase aus: als ob das ein Frage wäre, auf die er die Antwort nicht genauer wußte, als ihm lieb war. Fassungsvermögen eines beliebigen Kanals, Grundlagen der mathematischen Kommunikationstheorie, Klippschulklasse bei His Ole Omniscience, Claude Elwood Shannon:
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C=W log(1+ P/NW) Colin Kreuzer verzweifelte im Stillen, ganz bei sich, warf weder die Hände in die Luft, noch zerriß er sein Gewand, noch fluchte er Gott oder fiel zu Boden und starb. Er trank nur ruhig seine Cola aus. Wenn ich nur nicht so betrunken wäre, von Jennifer und von Tomatin, Single Highland Malt Scotch Whisky, aged 10 years. My mother was a schottisches Mädchen, mein Vater ein – * Die Wahrheit ist eine Natter, dämmerungs- und nachtaktiv. Am Rande der Stadt kann Kreuzer sie seit Jahren zischeln hören, im verbrannten Gras. Sommer bedeutet, daß Soziologiestudenten und Pädagogikstudentinnen hierher fahren, zum Flußdelta der Weß vor der Stadt. Grillen, Knutschen, Lebenssinnanzweifeln in kleinen Grüppchen. Fahren hier her, wo Colins Haus steht, sitzen dann am Feuer wie die ersten angesichts der Majestät des Sternenhimmels erschauernden CroMagnons. Unter ihren mit abblätternden Heckaufklebern verzierten Gebrauchtwagen schimmern im Mondlicht Pfützen nichtregenerierbarer fossiler Brennstoffe: verspiegelte Fenster zur ewigen Welt, die unter der Erde beginnt. Bei diesen Pfützen kauert die Natter Wahrheit und lauscht den Geschichten, die Angela ihrem Jan von Birgits neuem Freund und seinen lästigen, aber hochinteressanten Macken erzahlt. Zischelt; erzählt von der Wellenform, in der sie sich kriechend fortbewegt, und lebt ihr Leben. * Die Bemalten, vor Jahrhunderten, in Mutters Heimat, als – * Als das Zeichen sich aus sich selbst heraus auffaltete, magischäquivoker Transferent seiner Unauslotbarkeit, vielfältig einfach wie eine Kochsche Schneeflocke; als es aus der Erde sproß und sein Duft die feuchte Nachgewitterluft erfüllte, deren Kühle wie abklingender Kopfschmerz die ganze Peripherie aufatmen ließ, war dem vierzigjährigen Mann auf der schmalen Holzveranda sein eigenes Verschwinden keine vorwegnehmende Träne wert. Nichts von dem hier, wußte Colin, nicht die Gräser, noch die Junikäfer würde ein Gott vermissen, dem noch an seiner Schöpfung läge. Aber 3
der Abschied, der sich hier abzeichnete, hatte trotzdem nichts von würdigem Abtreten. Der Mann auf der Veranda dachte an Mareike und Simon, acht und elf Jahre alt, an ihr kleines Kindermikroskop und seine paar hundert Pokémonkarten, ihre roten Gummistiefel und seine Angst vor der Blinddarmoperation. Mareike schlief oben, Simon war bei Großvater Haber in Brombach, in den Sommerferien. Ihrer beider Vater stand nun still da, auf der Veranda. Dachte an seine beiden Kinder und an deren Mutter, die ihm vor einer Stunde unten im Tonstudio in die Schulter gebissen hatte, um nicht zu schreien, während sie ihre Finger in seine langen grauen Haare grub. Ihre Stirn wie die Stirn der Nofretete, ihre Hände in seinem Haar, und ihre sorgliche Rücksicht, die so weit ging, daß sie nicht einmal im schallisolierten Teil des Hauses schrie oder stöhnte, wenn eins der Kinder zuhause war, während er doch sah, daß sie gern geschrieen, gestöhnt, auch gelacht hätte in diesem Moment... Das liebte er. Davon wollte er nicht lassen. Müßte nur er verschwinden, und diese Liebe könnte irgendwie überdauem, der Welt, in der die andern weiterleben würden, die nicht zur Arche konnten, erhalten bleiben, dann ware das Verschwinden gar nichts Schlimmes, dann bliebe die Ordnung gewahrt und das Schöne. Mareike, Simon, Jennifer: habe ich sie all die Jahre vielleicht nur deshalb geliebt, weil sie mich vergessen ließen, was das Zeichen da mir jetzt sagt? Mich fünfzehn Jahre lang betäubt, als wäre, was mir geschenkt wurde, bloß eine pralle Tüte Klebstoff oder ein besonders dicker Joint? „Baffled our foes, stand by the shore, follow they will not dare“, nuschelte er unter seinem Walroßoberlippenbart in den Hals der Colaflasche. Wahrheit und Bedeutung sind zweierlei. Colin spürte, was er war, als ein Mensch, hier draußen, am äußeren Rand der Evolution, saumselig sozusagen, vor Angst: die Gänsehaut auf den Armen, das Jucken zwischen den Zehen, wo Insekten zugestochen hatten, die Schwere in den Schultern (flüssiges Blei? Alter?), die quasimusikalische Vibration sexueller Zufriedenheit in Unterbauch, Lenden und Oberschenkeln; absurd, weil unbekümmert um das, was seine höheren Verstandesfunktionen vorausberechnen konnten, wenn er auf das Zeichen sah: 4
Hunderte von Blumen, die in keinem Lehrbuch botanischen oder floristischen Wissens, keinem hortikulturellen Katalog verzeichnet waren. Zinkweiße Stengel neben krapproten, transparente Blüten, die eine kinderhandgroße Ähre bildeten mit flachem Labellum, in der Mitte chromblau gefleckt, neben echtvioletten Pflanzen mit Kelchen aus neonweiß gesprenkelter Libellenflügelhaut, umkränzt von Blättern wie in Schwarzlicht getaucht. Das da war heute nachmittag noch nicht dagewesen, vermutlich, dachte Colin, auch vor zwanzig Minuten noch nicht. Der Raum, den das Blühen am Boden einnahm, war ein exakter Rhombus von cirka fünf Quadratmetern Flächeninhalt. Die fremden Figuren wuchsen und blühten, während Colin hinsah, verfielen hier und da schon wieder, in geschwinden Meta- und Mutamorphosen, animiertem, gleitend vieladrigem Wuchern. Anders als Blumen, die sonst auf Feldern, Wiesen oder in Gewächshäusern natürlicher oder kontrollierter Zuchtwahl gehorchten, wuchsen und starben diese Pflanzen nicht lautlos - Summkadenzen am unteren Rand der Hörbarkeit begleiteten den rasenden biotischen Auf- und Abstieg der ins Kraut schießenden seltsamen Vitalisationen und Schimären in murmelnder Orthogenese, sphärischem Makromolekülkanon. Lies nicht symbolisch, was wörtlich verstanden werden will. ,,Sag' mir, wo die Blumen sind“, flüsterte Colin, und warf die Colaflasche ins böse Beet. ,,Hier, ihr Schweine: koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk mit Pflanzenextrakten, echt lecker.“ Was er erwartet hatte, was er hatte überprüfen wollen, geschah. Die schlanke, maschinell geblasene Glasflasche wurde sofort umrankt, überwuchert, zersetzt und abgebaut. Glas, gescannt und gedeutet von der hybriden Kultur des Mehr-Lebens, fahrige Erinnerung an Quarzsand, Zerlegung in Kieselsäure, Aluminiumoxid, Pottasche, Kalk... Rückgängig gemachte Glasur verzehrter Formkörper. Er konnte dabei zusehen, so schnell ging das. Die Wildblumen lasen den leeren Behälter ohne Anstrengung, ihr Kanal war leistungsstark. Wieder meldete sich in Colins Gedachtnis die schöne alte Gleichung aus Shannons Encyclopedia Britannica-Beitrag, Rosenkranz, Om Mani Padme Hum, Trost. Er drehte und wendete im Geist ihre einzelnen Glieder: C, die Verarbeitungskapazität, P, die Mächtigkeit des Signals, W, die 5
Bandweite. Und N, das Rauschen. Als das Blühen die Flasche restlos vertilgt hatte, streckte Colin Kreuzer die Arme aus, gähnte, spielte mit den Fingern Luftklavier, ließ dann ein paar Gelenke knacken. Dann ging er in den Schuppen, um Öl zu holen, damit er das Zeug verbrennen konnte, wie damals im Amazonas, wie noch früher, vor Jahrhunderten, die Pikten in Schottland, wo seine Mutter – * Simon, Mareike: Though the waves leap, soft shall ye sleep. * Fest faßte er die Ölpumpe mit der tätowierten Hand, das Lied im Gedächtnis, das Ziel vor Augen, trotz der Dunkelheiten. (beta) So ging's überhaupt nicht. Alles war Schwachsinn. Dafür mußte ich komplette 29 Jahre alt werden, befand Axel, wie von Engeln hinterrücks vergewaltigt: um einzusehen, daß alles Schwachsinn ist. Soll noch mal wer sagen, Altwerden zahle sich nicht aus. Die Glühbirne zickte schon wieder. Flackernd meldete sie die eigene Wichtigkeit an: ohne mich hat sich's ausstudiert, mein lieber Ex-Lektor, Ex-Gitarrist, Ex-Freund von Denise Ehrke. Das Wichtigkeitsgegaukel trieb die Birne schon seit Wochen, in ihrer blöden japanischen Pappkastenschirmlampe, die von der Decke hing und jetzt wieder leicht schaukelte, während draußen das Gewitter sehr langsam und widerwillig abließ vom kindischen Wüten. Alles also: Schwachsinn. Das Ganze. Die Summa. The Works. Tutti Quanti. Nicht LUSTIGER Schwachsinn von der Sorte, die Denise und manchmal sogar Mastermind Kreuzer draufgehabt hatten (wer von den beiden war damals eigentlich auf die Idee verfallen, Axel dauernd ,,Axel Rose“ zu nennen, nach dem Guns'n'Roses-Shouter, W. Axl Rose, aber deutsch ausgesprochen, wie in ,,Oh Rose der Welt“?), als Denise und Axel mit Patrick (und irgendwie auch Kreuzer) noch eine Band gewesen waren. Quakender, ausgelassener Freundschaftsschwachsinn, wenn es spät wurde in Kreuzers Auf6
nahmekeller, an der Musik. Der Schwachsinn, als der sich jetzt ALLES entpuppt hatte, war keiner von solcher Art. Nicht holder, sondern maligner, nesselnd giftiger Schwachsinn vom Schlage ,,Rassenkunde“, ,,Ehrenerklärung“, ,,Betriebswirtschaftslehre“ oder ,,Theaterkritik“. So dämlich, verschlammt, unergiebig war sich Axel nicht mehr vorgekommen, seit damals der Schnösel von ,,Spex“ aufgetaucht war, um angeblich die Band, in Wahrheit aber doch nur Kreuzer zu interviewen, und er, Axel, von allen ,,Unwichtigen“ am sprachlosesten rumgestanden war, was ihm im fertigen Artikel dann auch noch den Spott eingetragen hatte, als der große Schweigsame dargestellt zu werden. Vielen Dank. Die Einsicht in den Schwachsinn seines ganzen jungen Gelehrtenlebens schenkte sich Axel ,Rose“ Amarell gegen halb sechs Uhr morgens. Das war daher der Zeitpunkt, als der Philosoph es in seinem feuchtkalten Zimmer im Keller eines undichten, nach dem Hinterhof hin bereits baufälligen, mit Mühe sich an seiner onkeligen Spät-19.Jh.-Fassade festhaltenden Altbauhauses im Norden der Stadt nicht mehr aushielt. Dringend brauchte er frische Luft, oder wenigstens regendampfschwadenschwangere Autoabgase im Frühnebel. Die ganze Nacht hatte er an seiner ,,wagemutigen“ (laut der Dissertationsbetreuerin, Prof. Kauling) bzw. ,,hühnerfickerhinterfotzigen“ (Patrick Mündelein, per Telefon vorgestern aus den USA Axels großer wöchentlicher Selbstverdammungssitzung zugeschaltet), jedenfalls: elenden Doktorarbeit und in den Walfischbäuchen der Bücher verbracht, hatte das sperrige mittelalterliche Latein von Thomisten und Skotisten in seinem sich immer hohler anfühlenden Kopf gegen die kalten Wände geschlagen, daß sie zu Squashbällen zusammenklumpten. Heideggers stets vage griechisch skandierendes Deutsch, Adornos gedrechselte Perioden in der ,,Negativen Dialektik“ und Husserls geduldiger, zugleich zwangsmanischer Duktus verfolgten ihn in Träume, die er träumte, obwohl er nicht schlief. Wahnsinn? Eben nicht. SCHWACHsinn. Das Geräusch von Papier auf Sandstein, das seine knirschenden Kiefer machten, das Klopfen in den aus der Wand ragenden Heizungsrohren, das E-Gitarren-Einstöpselboxengeräusch des Stromzählers im Flur waren endlich zu einem Krach angeschwollen, der ihn in Kürze dazu notigen würde, aufzuspringen, Bücher zu zerreißen, auf Seiten und 7
zerknickten Buchrücken herumzutrampeln, mit Fäusten oder dem Kopf auf den Fledder einzuschlagen. Ein Schwachsinn also, diese Doktorarbeit: ,,Kritik der Metaphysik des Todes“. Wie hatte Axel sich je von der Zustimmung Kaulings einlullen lassen konnen? War die Alte nicht noch verrückter als er, und war er nicht noch verrückter als die Alte, und waren nicht beide jeweils verrückter als sie selbst? Wie hatte er wähnen können, so ein titanischer Entwurf sei für einen Menschen von 29 Jahren durchzuhalten? Er mußte hier raus. Mit der traumgleichen Sicherheit des scheinbar ziellosen Herumirrens, in entbehrungsreichen Jahren als Teilzeitmusiker erlernt, führte ihn sein morgendlicher Weg durch den diesigen, zum Schneiden tropenschweren Morgendämmer in die Borbrucker Altstadt. Nachdem er sein bleiches, hohlwangiges Gesicht mit den wirren braunen Haaren ein paar mal gespenstergleich in Fenstern von Spielwaren-, Mode- und anderen Geschäften über der intensiv heimleuchtenden ikonischen Schönheit seines DEATH-T-Shirts hatte schweben sehen, lenkte die Hand des Fatums seine Schritte schließlich zum Studentencafe ,,Kirsche“, das im Sommer ab 6 Uhr früh Frühstück, Zeitungen und stille Narkoleptiker-Eckchen bot. Er war, wie er enttäuscht feststellte, nicht der Erste. Im Innenraum, umrahmt von Gummibäumen, saßen schon zwei Personen. Axel kannte beide und wollte solche Leute gerade jetzt bestimmt nicht treffen. Es war zu spät. Sie nahmen vorerst keine Notiz von ihm: der geistesgestörte Theologiestudent mit dem Rasputinbart, den Kauling mal aus einem Seminar geschmissen hatte (wie hieß er noch? Björn Knack, Kraft, Krall, Krawall? So was in der Art) schlürfte an seinem Tisch aus einer Schale Kaffee wie ein Verdurstender und blätterte mit der ganzen Kraft seines rechten Handgelenks in einem dickleibigen Folianten. Wird sich 'ne Sehnenscheidenentzündung holen, der ExtremsportUmblätterer, diagnostizierte Axel übernächtigt. Am andern Ende des Raums, in der abgerundeten Sitzecke beim Sechs-Personen-Tisch, saß eine junge Frau. Was denn, eine: DIE junge Frau, die süße Böse, die schöne Seele mit dem provokanten Benehmen aus dem Hauptseminar über die Vorsokratiker bei Seiler. Vor einem Jahr war das gewesen. Axel, eben von der unvergleichli8
chen Denise aus der Lebensabschnittszugewinngemeinschaft gekickt, hatte damals den Fehler gemacht, ein paar schüchterne Annäherungsversuche bei der Fremden zu probieren, vor und nach den Seminarstunden. Ihre Art, sich zu geben, ihr junges-aberaltersloses Vampirprinzessinnengesicht (sie konnte genausogut 19 sein wie Ende 20), die Augen - so winterwaldbärenbraun, daß sie manchmal fast schwarz schienen - und die seltsamen Fragen, die sie ihm stellte, wenn er sie mit Smalltalk anzumeiern versuchte -,,Du bist auch bei den Kognitionsforschern im Seminar? OK, also: Was, glaubst du, denken verwesende Körper? Ich meine nicht die Hirne, ich meine den ganzen Apparat. Der denkt ja auch.“ -: das alles hatte ihm sehr gefallen. Sie, die, soweit er wußte, Angela hieß (Braun? Bauer? Er war so schlecht im Nachnamenmerken, besonders, wenn er bei wem abgeblitzt war) hatte ihn ein halbes Jahr lang an allen möglichen Orten, sozusagen ,,in allen möglichen Stellungen“, in der Mensa, vor dem Kaffeeautomaten, im Seminar, in der UB, immer wieder höflichreserviert auflaufen lassen. Er hatte schließlich aufgeben, nicht ohne sich eine schöne Erinnerung an das vergessen geglaubte Gefühl abgeholt zu haben, das man mit 14, pickligem Gesicht und Hühnerbrust kassieren kann, wenn man die Klassenschönheit zu erobern versucht. Er vermutete, daß sie jetzt schlief, nahm an, daß ihre Augen hinter der Sonnenbrille (wer eigentlich trug morgens um halbsieben im Cafe eine Sonnenbrille? Verwesende vielleicht.) geschlossen waren. Jedenfalls lehnte ihr Kopf ruhig an der Wand, ihre drei Nummern zu große Lederjacke hatte sie sich wie eine Decke um den schwarzen Strickpulli geschlungen. Er nahm sich eine FAZ vom Tisch mit den Zeitungen und suchte sich eine möglicherweise Deckung gewährende Nische, direkt neben dem Herrenklo. Der gottgeweihte Wahnsinnige schlug deutlich hörbar seinen Wälzer zu. Stand auf. Marschierte mit leicht roboterhaftem Gang direkt auf Axel zu. Jetzt frißt er mich gleich, hoffte der fiebrig. Er blätterte geräuschvoll seine Zeitung auf und versuchte, sie sich vors Gesicht zu halten. Der Irre kam und kam nicht. Ach so: er wird aufs Klo gehen, in Wirklichkeit. Axel hörte seine Schritte nicht. Alles war leise, das bewirkte wohl der 9
Schlafentzug. In Weltallfernen furzelte schnorchelnd die Espressomaschine herum. Axel senkte die Zeitung, sah, wie der Gestörte auf die Klotür zuschlurfte. Und dann der Schwenk. Axels Stimmung fiel auf den ersten Tagestiefpunkt. Rasputin blieb direkt vor dem Philosophen stehen. Mit kratzkreischendem Geräusch wurde ein Stuhl unterm Tisch hervorgezogen. Wortlos, mit zusammengepreßtem Mund, ließ sich der Mann auf der hölzernen Sitzfläche nieder. Er atmete schwer, hundehaft keuchend. Sein feindseliges Schweigen wirkte bedrängend auf Axel, der nur einen kurzen Blick über den Rand seiner Zeitung riskierte. Das war schon zu viel. Die stieren Augen seines Gegenübers versenkten ihren Blick in seinen. Erinnerung machte Stimmung in Axels Kopf: ,,Wir sehen uns wieder! Sie werden schon noch verstehen!“ - das heisere Krächzen damals, als zwei Studenten Krall oder Kraß zwingen mußten, den Raum zu verlassen... Polizeigriff, Tritte... sehr häßlicher Moment. Etwas verwaschen, am weichen Rand des Gelalls, begann der ungebetene Tischgast zu sprechen: ,,Du bist einer von den Leuten. Meine Großmutter... Ich kenne dich. Amarell. Der Tod. Du schreibst über den Tod. Nekroskopie. Sterblichkeit. Hmprrghrarr.“ Der Widerling zog Rotz die Nase hoch. Was ein unappetitlicher Mensch. Und dieser dünne, lange Fadenbart über der Oberlippe, und die Wolle an Backen und Kinn, bis fast vor die Brust. Svengali, ein Fakir, dachte Axel, was ihm nicht viel nützte. Nach einer stumpf zerdehnten Pause fuhr der Irre fort: ,,Tod. Strafe für Adams Übertretung. Wir alle sind aus seinem Samen.“ ,,He! Krell! Ja, dich mein' ich! Laß ihn in Rune.“ Der Mann an der Küchentheke, offenbar die einzige ,,Bedienung“ zu dieser Stunde, griff ein. Bulliger Bursche. Krell (das also war sein Name) rümpfte die Nase, schien an einer Erwiderung zu knobeln -und erhob sich dann brüsk, um mit seinem Buch unterm Arm doch noch auf dem Klo zu verschwinden. ,,Danke. Echt. SEHR danke“, nickte Axel in Richtung Theke. ,,Ist recht. Was willst du? Kaffee?“ ,,Kaffee, Croissant, Brötchen, Butter“, bestatigte Axel und blätterte lustlos in der FAZ. Einmal, als wäre ihm Lebenswichtiges entfallen gewesen und er hätte sich brandheiß erinnert, sah er auf. Sein Blick suchte die schöne Frau im Eck. 10
Sie war verschwunden. Als er sich ein paar Minuten später über sein Frühstück hermachte, kam Krell, watschelnd wie ein Frosch mit Kinderlähmung, von der Toilette zurück und verließ wortlos das Lokal. ,,Zahlt der nix?“ wunderte sich Axel laut. ,,Der zahlt hier, sobald er was kriegt. Ich kann immer irgendwie nicht glauben, daß der überhaupt weiß, wie das geht. Bezahlen und so“, stöhnte der Thekenmann. ,,Reden“, stimmte Axel zu. ,,Laufen. Atmen“, bestätigte der andere. Kurz darauf trafen die ersten ausgeschlafenen Gäste ein. (gamma) Denise sah ein Drosselnest in Augenhöhe; es war verlassen. Hinter der Stadt, wo die Krümmung der Erde sichtbar gewesen wäre, wenn man nur noch ein paar hundert Meter höher stiege als Denises Aussichtspunkt gelegen war, streckte sich schon der Morgen, schamrot über die eigene Frühe. Nacht erbleichte vom Saum her, die Amsel rief was Unbescheidenes. Denise lachelte: Tiesens Vögel. Colin Kreuzer, ihr Mentor und Ersatzvater, hatte ihr davon erzählt: Ein Forscher namens Heinz Tiesen hatte Amselgesänge katalogisiert, nicht zufrieden damit, daß Vogelgesang Verhalten bislang bloß die Behaviouristen interessierte. 300 distinkte Motive hatte Tiesen ausgemacht, die Ratio der Tonhöhen wohldefiniert, Sequenzen encodiert. ,,Als ob die lieben Tierchen Susan Blackmore und den anderen Memspinnern rechtgeben wollten“, hatte Colin gesagt, beim Schnaps, ,,Habent sua fata... wenn man bedenkt: Dawkins wollte damals nur klarmachen, daß seine Vorstellung von Genen nicht auf große aperiodische Moleküle angewiesen waren, als er das ,Mem' erfunden hat. So was wie Hutmoden, Religionen, Beethovens ,Tatata Taa' aus der Fünften ,vererbt' sich eben auch, und die Units dieser Vererbung, die Replikatoren der Zeichen- und Ideenwelt, hat er dann ,Meme' genannt, analog zu Genen... nur damit ein paar Jahre später, Ende der Neunziger, diese Blackmore, die auch noch heißt wie der Gitarrist von 11
Deep Purple, auftauchen kann und dieses Buch schreiben, ,The Meme Machine'... tja, und alles was ihr fehlt, um sie davor zu bewahren, mit ihrer Memtheorie einfach noch eine Semiotik zu den bereits existierenden Saussureschen oder Peirceschen dazuzuliefern, ist ein bißchen Infotheorie oder eine Wahnidee wie die von Stonier, Information sei eine intrinsische Eigenschaft der Welt. Das heißt, was ihr eigentlich fehlt, ist das Wissen, daß Vögel auch Meme haben.“ Tatsächlich: ein Vogelmem, sie hörte es deutlich, immer wiederkehrende kleine Melodie... es erinnerte sie sogar an was - aber was? Eine Hookline aus einem Housetrack? Tiesen hatte die Vogellieder als musikalische Noten der diatonischen Skala aufgeschrieben. ,,Einer meiner Helden“, horte Denise Colin in der Erinnerung sagen, ,,Der Mann hat's kapiert: Musik, Biologie, Informatik. Merk' dir das, Doc.“ Dabei hatte er sie, die eben erst promovierte Biologin, angegrinst wie ein Haschischkuchenpferd, und war dann, die Arme ausbreitend, fortgefahren: ,,Du mußt mein Lebenswerk vollenden! Rock-n-Roll, Bits-n-Bytes, äquipotente Zellen in Dictostelium Disciodeum als Modell der Embryonalentwicklung. Ich bin zu alt für den Kleister. Ein abgehalfterter Bio-Hippie. Du aber - Du bist Biopunk. The Wave of the Future. Meine zweite Tochter, sozusagen, neben Mareike. Also: enttäusch' mich nicht!“ Biologie, Musik, Informatik: Nicht richtig überraschend, diese Trinitas, dachte Denise Ehrke, wo doch der, der sie vertrat, in der Fachwelt immer noch als einer der Mitbegründer der Bioinformatik und zugleich in der Subkultur als wandelndes Plattenarchiv galt. Kreuzer hatte, soweit Denise wußte, mit Anfang Dreißig aus Liebe zu seinem ,,Hobby“ (seltsames ,,Hobby“: drei veröffentlichte Schallplatten zu dem Zeitpunkt schon, allesamt kultisch verehrt von den Freunden obskurer experimenteller Sachen) und Verdrossenheit über den Stand der Forschung das Metier gewechselt: der Wissenschaft Lebewohl gesagt und sich als Plattenproducer für Underground und Avantgarde etabliert. Denise gähnte. Rieb sich mit dem Zeigefinger die lange Narbe auf der linken Wange, die von ihrem entstellten Auge bis zum Mundwinkel verlief. Das Ding juckte. Es hatte gewittert, da juckte oder zog es immer. 12
Da, wieder: diese Melodie. Woran...? Jetzt hatte sie's: ein schottisches Volkslied, das Colin ihr mal... Sky bird? Blue sky? Irgend so was. Denise hatte die ganze Nacht im Labor gearbeitet und wollte jetzt runter in die Stadt radeln, zum Kollegiengebäude III, um mit ein paar Studis die Symposiumsvorbereitung für die übernächste Woche durchzusprechen. Wichtige Gaste von auswärts. Der fetteste Termin dieses Jahr, abgesehen vom Vorstellungsgespräch in Berlin in zwei Monaten. Na ja: Schnee von morgen. Denise holte tief Luft, um ins hier und jetzt zurückzukehren. Sie nahm den ,,Langen Weg“ mit dem Fahrrad den Berg hinunter, der Aussicht wegen. Ihr Plan stand fest: runter in die Altstadt, in die ,,Kirsche“. Kaffee, Zeitung, Hörnchen. Einziger Nachteil: vielleicht würde Axel dort hocken. Im Sommer machte der öfters Nächte durch, schon damals... und jetzt, da er seine Doktorarbeit schrieb... Gut: dann würde sie ihn eben im Cafe treffen. Und wenn? Danach zur Uni. Und dann heim, den Tag verschlafen. Auf ihr Rad gelehnt stand sie, unter Baldachinen vernadelten Groß-Geästs auf einem breiten Kiesweg des so genannten Guten Weißen Bergs, von dem sie, die vor zehn Jahren Zugereiste, bis heute nicht wußte, was daran eigentlich ,,gut“ oder ,,weiß“ war und welche Seite von den Einheimischen eigentlich die ,,Tag-“ und welche die ,,Nachtseite“ genannt wurde. Der Berg hatte jedenfalls eine bewaldete und eine bebaute Seite, das konnte sie auseinanderhalten. Auf der bebauten residierte die Wissenschaft, das Borbrucker ,,Bio-Valley“, mehr eine schiefe Ebene als ein Tal - in Felsspalten nisteten die unheimlichen, vom Volksmund und Presse-Tagedieben mit allerlei Abscheulichkeiten in Verbindung gebrachten biowissenschaftlichen, chemischen etc. Fakultäten der Uni, i.e. zumindest deren ausgelagerte Forschungsstätten. Ferner gab es da ein paar Laboratorien von Firmen, die zum Teil in einem Sponsorenverhältnis zu den besagten Fakultäten standen. Und kurz vor dem Absacken des ,,guten weißen“ Massivs in schwindelerregende Schluchten stand das Labor, in dem Denise, wahrend draußen das Gewitter rumpelte und grellte, sechs Stunden über Feldmeyers blöden Spektral-Karyotypendateien geschwitzt hatte: Und alles nur, weil ihr eigener Chef, Müller, sie an den Kollegen ,,ausgeliehen“ hatte: ,,Wenn deine Software spinnt, Denise ist die 13
Richtige.“ Vielen Dank fürs Vertrauen. Elende Hiwi-Sklaverei. Feldmeyers Software war Dreck. Die Karyotypendateien sollten Muster in u.a. mittels Fourier-Spektroskopie farbtypisierten Chromosomenpaaren von Kranken erkennen, für irgendeine blöde Brustkrebsstudie, mit der Feldmeyer sich bei den Medizinern anschleimen wollte. Aber mit den Programmen, die Feldmeyers ,,Hausinformatiker“ entwickelt hatte ein hirnloser fünfundzwanzigjähriger Fettsack, der von sich behauptete, er habe ,,das Hacker-Gen, ha ha ha!“ – hätte man vermutlich nicht mal eine Kommode voll Socken sinnvoll nach Farben katalogisieren konnen. Denise sog die moosige Luft ein und dachte an Axel. Sie hatte ihm immer gepredigt, er solle die Illusion aufgeben, all seine blöden Jobs, seine Lektortätigkeit für diesen Frankfurter Verlag, sein Übersetzen, und zuletzt: seine akademische Karriere als ,,Philosoph“ würden ihm irgendeine materielle Sicherheit einbringen, auf deren Ruhepolster er sich dann irgendwann ganz der Musik und dem Schreiben würde widmen konnen. Aber war sie's denn soviel schlauer angegangen? Gut, ihr Lebensfetisch Nummer eins war die Forschung, nicht das bißchen Baßspielen, aber war die Forschung, in der sie jetzt arbeitete, überhaupt die, nach der sie sich sehnte? Trieb sie sich nicht genauso in der Warteschlaufe rum wie ihr Exfreund? Nicht dran denken. Dem Wald zuhören. Very Zen. Denise schloß die Augen. Wörter wie ,,Tannhäuser“ schienen im Hirn auf und verglommen süßlich seimend. Sie öffnete die Augen, und da fiel vor ihr, vom Baum, ein Regen von Lametta? Es leuchtete, regnete herab, aus der Krone einer Fichte. Sie streckte die rechte Hand danach aus: kleine Fädchen fielen auf Handrücken und Arm. Bewegte sich das, diese kurzen Spaghetti? Das Leuchten mußte eine Täuschung sein: wie bei reflektierenden Schulranzenaufklebern, Fahrradspeichenleuchtplastik. Ein Trick des Morgenlichts, dachte Denise: in der Dämmerung sieht wahrscheinlich auch mein blonder Struwwelkopf aus, als leuchte er. ,,Und du, du bist zu... verschissen blond!“ sprach sie Axels 14
Lieblingssatz aus ,,Fight Club“ nach, und mußte lachen. Denise drehte die Hand um, Innenfläche nach oben. Dann führte sie sich die Hand als Teller nah vor Augen. Was sich da wand und leuchtete, sah aus wie ein Gewimmel von Fadenwürmern, viel zu groß geratene Exemplare von Pristionchus pacificus oder Caenorhabditis elegans. Fasziniert und ein wenig angeekelt sah sie genauer hin. Sie leuchteten wirklich. Der Impuls, das Zeug abzuschütteln, das jetzt dichter vom Himmel - d.h., aus den Baumwipfeln - flockte, fast wie dicht schnürender Regen, überall um sie, war sehr stark. Aber Denise war Wissenschaftlerin, und deshalb holte sie mit der Linken aus der Brusttasche ihrer Jeansjacke das Plastikröhrchen mit den Kopfschmerztabletten, das sie seit dem Unfall immer bei sich trug, öffnete den Deckel, schüttelte die letzten zwei Tabletten raus - sie fielen zu Boden -, formte mit der rechten Handfläche eine Mulde als eine Art Schälchen und schüttete ein paar der Viecher in das Röhrchen. Verschloß es. Steckte es wieder in die Brusttasche, zu späterer Inspektion. Stieg auf ihr Rad, schüttelte den Kopf, fuhr sich durchs Haar: da sollten keine von den Viechern bleiben. Strich sich auch die Schultern ab. Und trat dann in die Pedale, hatte es fast eilig, zur ,,Kirsche“ zu kommen. Vielleicht eilte sie sich deshalb so, weil sie, wie ihr überrascht aufging, plötzlich sogar Lust hatte, Axel zu treffen. (delta) Hier leben wir. Unten, innen. In dieser Welt, von der Ihr dachtet, sie gehöre Euch. Ihr kommt aus Afrika, die mitochondriale Eva hat Euch unter der glutgelben Sonne, auf der versteppten Ebene ausgetragen. Wir kommen von überall her, aber unsere dichteste Konzentration war einst an einem Ort, wo IHR unter der Erde lebtet und Eure Toten unter Steinen bestattet habt, danach an einem Ort, der viel mehr Arten auch Eurer Sorte Leben beherbergt, als ihr ahnt, und den ihr Dschungel nennt. Wenige von uns gibt es in Mitteleuropa, wo man sich Berggespenster ausgedacht hat, um unser Wirken zu erklären. Unsere 15
Stollen und Wohnungen, unsere Säle und Paläste reichen vom Malm durch den mittleren/braunen Jura bis in die schwarzen Lias-Schichten. Unser Abwasser färbt Eure Ackerzonen ein. Unter den Steilhängen mit den Buchenlaubwäldem, in den Albtraufen, hinter Kalk- und Mergelsteinen sprechen wir und essen wir, und wenn wir Euch begegnen, glaubt Ihr, wir kämen von woanders her, vielleicht von draußen, wo es kalt ist, wo Unendlichkeiten locken. Aber wir waren immer hier. Ihr seid nicht wie das übrige Eurkaryontenunwesen, Eure Gehirne, durchzogen von Blutkanälen, die unseren Lebensbahnen so sehr gleichen und umgeben sind von gliösen Grenzmembranen, die an die Filme auf unseren Augen erinnern, denkt sich Dinge aus, die das stören, was Euch leben läßt. Nicht Euer Fragen noch Euer Eingreifen sind Eure schlimmsten selbstschädigenden Verhaltensmuster, sondern Eure Reaktionen darauf -: Euer Kunstsinn und Euer Mitleid wird Euch zum Verhängnis werden. Wenn Ihr glaubt, dem nah zu sein, was Ihr als Natur empfindet, seid ihr auf dem Weg ins Dickicht, das Euch verschlingen wird. Ihr feiert Eure sieben Seen, ihr liebt den Regen, den melancholischen Blick aufs leere Flußbett, eine Reise, das Feuer aus gefrorenen Wolken, die Laterne unterm Hüttendach. Die Weiden krümmen sich im Wind, die Bambusrohre sprechen, als würden sie weinen, Ihr hört zu. Wir warten. Wir lieben uns und lecken einander ab, wir verknoten uns in schönen Formen und ergießen uns ineinander. Und wir warten. Formen, aus denen wir sind, Formen, aus denen Ihr seid, Zweigesicht. Ewig nicht, aber eingefaltet in sehr viel Zeit. Von dort aus fand eine Bifurkation start, das eine wurden wir, sein andres Ihr. Eurer Mitleid läßt die Wälder langsam kollabieren. Mitleid erschlägt die Nymphen, Mitleid verschont so viele böse Dinge. Mitleid beschmutzt den April, Mitleid ist die Wurzel und die Quelle dessen, was Ihr an Euch selbst nicht genug begreift. Wenn Eurer Göttin Artemis kein schönes Tier mehr auf dem Fuß folgt, liegt das am Mitleid, denn Mitleid verbietet Euch, das schöne Tier zu töten. Alle Dinge verfaulen in dieser Jahreszeit, dies ist der Grund: niemand kann das frische Neue finden, wenn die Fäulnis Mitleid wütet, und die Dinge verkehrt herum in den Boden hinunterwachsen, wo sie uns belästigen, später dann nähren. Wir haben von einer lustigen Geschichte erfahren: ein Mann und eine 16
Frau ziehen ins Grüne, sie sind, für Eure Verhältnisse, schon recht alt und wollen ihren Lebensabend ,,in der Natur“ verbringen. Die Frau aber ist eine kultivierte Frau, deshalb will sie rund ums Haus auch Pflanzen kultivieren. Sie legt Beete und Pflanzungen an. Sie schreibt in Gartenschriften, das sind aber Grabinschriften. Rehe kommen aus dem Wald und nagen an den Pflanzen. Die Frau hetzt den Mann auf, er soll die Tiere töten. Der Mann entdeckt, daß er die Tiere lieber mag als seine Frau, weil er sich vor den Tieren nicht so fürchtet. Die Ehe eine Gametenpartnerschaft, die Ihr in Verträgen codiert, sehr drollig geht so allmählich in die Binsen. Wir hören dergleichen und wir warten. Wir wissen, daß wir nicht mehr lange warten müssen. Wir wissen, daß wir nicht mehr lange warten dürfen. Eure Leben sind wie ein Molekül, das kein Licht verträgt: unfahig, die Wellenlängen zu absorbieren, mit denen wir euch bestrahlen werden, wird das Molekül zerbrechen, Bindungen werden wechseln oder sich lösen, eine Ladung wird springen oder eingefangen werden. Wir spielen, hier unten, innen. Wir spielen Eure Leben nach, wir lieben uns, wie ihr das tun würdet, wenn ihr wir wärt: Da drüben sehe ich einen Penis und eine Vagina, hier hinten tropft es, das ist warm, nicht schlecht. Lippen greifen, oder küssen. Etwas hat eine Brust, die kann man massieren, und auf ihr wachsen Haare, die haben erst die eine Farbe, dann eine andere, werden dunkler oder heller, und ich habe Hände. Ich beuge mich hinunter, etwas an mir hat einen Nippel, den schiebe ich in einen Mund. Der kaut daran. Alles hier geht schon sehr lange und ist schön, dann wieder häßlich. Wir trinken, wir tauschen Informationen, chemisch und elektrisch, Funken und Suppe Wir hören einen von Euch sagen, der heißt Sloterdijk, und wir sagen es uns weiter: ,,Es gehört zur Signatur der Humanitas, daß Menschen vor Probleme gestellt werden, die für Menschen zu schwer sind, ohne daß sie sich vornehmen könnten, sie ihrer Schwere wegen unangefaßt zu lassen.“ Wir hören einen andern sagen, der heißt Drexler, und wir flüstern mit: „I am now persuaded that the sooner we start serious development efforts, the longer we will have for serious public debate. Why? Because serious debate will start with those serious efforts, and the sooner we start, the poorer our technology base will be.“ Noch einer, er heißt Teilhard, fragt sich, und auch das berichten wir einander: ,,Comment conce-voir 1'embryogénèse des ensembles? Peut on encore parler de 'berceaux' étroitement localisés (,monogénèse'), ou 17
n'y a - t il pas plutôt émersion diffuse (,hologénèse') sur aires étendues, lorsque ce n'est plus simplement un individu, mais une masse, qui traverse la crise de naissance?“ So redet Ihr die ganze Zeit. Wir sprechen Eure Sprachen, selbst die, die Ihr vergessen habt. Wir wissen Dinge, die vergessen wurden. Wir wissen Dinge, die nie vergessen werden können. In vielen Welten gibt es uns und Euch, wir finden Euch immer an deren Küsten oder kommen aus ihren Bergen. Das Licht Eurer Leuchttürme blendet uns nicht, das Licht Eurer Berglampen ebenso wenig. Ihr seid es, die am Ufer der Evolution erblinden werden. Wir warten hier unten, innen. Wir spielen. Wir lieben uns. Und manchmal essen wir einander auf. (epsilon) Wie hatte der kleine Sonntagsschüler noch mal geheißen? Damals, im Dschungel? Mit seinen Bibelzitaten und diesem französischen Jesuitengeschwätz, mit dem er Colin Kreuzer ständig... Es half nichts. Es fiel Harald nicht ein. Er mußte sich Luft machen, sprechen: ,,So schlecht war mir seit dem mündlichen Abi nicht mehr.“ Das richtete sich an niemand Bestimmten, war einfach die konzisestmögliche Wiedergabe eines unabweisbaren psychosomatischen (oder: somapsychotischen?) Tatbestands. Ihm wurde klar, daß man's noch präzisieren konnte: ,,Ich glaube, so schlecht war mir überhaupt noch nie.“ Er verdrehte die Augen. Hustete. Zündete sich eine neue Zigarette an. ,,Mir ist so schlecht, daß... mir ist RICHTIG schlecht.“ Harald Otte, 38 Jahre alt, ledig, besserverdienend ,,wie die Sau“ (laut seinem Schwager Martin, ein Lebensmittelgroßhändlersohn, der Ottes jüngere Schwester Ann-Marie geheiratet hatte) saß auf seinem FürniDesignersessel von Kenji Yagawa, in seinem vollklimatisierten Büro, im vierten Stock der Deutschland-Zentrale von Generics (,,Nicht: Genetics!“) International auf einem grünen Hügel am Rande von Stuttgart-Leonberg und starrte abwechselnd auf seinen Bildschirmschoner (fröhlich tanzende Kieselalgen) und seine manikürten Fingernägel. Seit er vor zwanzig Minuten via Sprechanlage darum gebeten hatte, man solle ihn nicht stören und 18
keine Anrufe durchstellen, hatte er vier Marlboro geraucht, zwei Tassen lauwarmen Kaffees getrunken und jedes bescheuerte Schreibtischspielzeug angeschubst, umgedreht, aufgezogen oder gekippt, das sich anschubsen, umdrehen, aufziehen oder kippen ließ. Wenn die Anleger wüßten, dachte Otte, was ich, einer der Chefentscheider der Firma, auf die sie gesetzt haben, hier mache, kame ihnen der Biotechnolgieboom momentan ein bißchen entboomt vor. Geht jetzt eigentlich die Welt unter, oder wie seh' ich das? Wen soll ich anrufen, den Chef in Chicago, die Kollegen in Berlin, die Bundeswehr, die UNO? ,,Was erwartest du von mir, Colin? Was soll ich denn machen?“ Es war ein weiter Weg gewesen bis hierher. Nicht nur für Otte persönlich, der erst 1987 zur neugegründeten deutschen Tochter von GI gestoßen war, auch für Leute wie Miller, den Firmengründer, der den Laden '84, während der Morgendämmerung der großen Cytokinhausse, aus Spucke, Holz und dubiosen Bankkrediten gemodelt hatte. Ein weiter Weg auch für seine Chefwissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - für die ganze Branche. Für die ganze Welt, dachte Otte, und die Flauheit im Magen wuchs noch einmal an. 1959 teilten sich Severo Ochao und Arthur Kornberg den Nobelpreis für Medizin in Anerkennung ihrer Laborsynthese von DNA. Bücher von Kornberg standen hinter Otte im Regal: ,,DNA Replication“, 2. Auflage, W.H. Freeman 1991, die Autobiographie ,,For the Love of Enzymes“, Harvard UP 1989, und seine Untersuchung über die Biotechnologiewirtschaft, ,,The Golden Helix“, University Science Books 1995. Nachdem Kornberg und Ochao die Tür aufgestoßen hatten, fiel der Fortschritt ein, in die Festung des Lebens, mit Pauken und Trompeten: 1967 konnte man DNA-Polymerase bereits zur synthetischen Reproduktion beliebiger Schablonen verwenden, inklusive die künstliche Herstellung eines viralen Genoms. 1972 entwickelten zwei Teams des Stanford Biochemistry Department die Technik, DNA aus verschiedenen Genomen zu „Splicen“. Mit Hilfe dieser Technologie, der berühmten ,,rekombinanten DNA“, richteten Stanley Cohen und Herbert Boyer Plasmide zu Vehikeln her, die fremde Gene in bakterielle Wirtszellen einschmuggelten, wo sie repliziert und exprimiert wurden. Ebenfalls während der Siebziger Jahre entdeckte Donald Metcalf in Melbourne/Australien die 19
Abhängigkeit des Wachstums, der Entwicklung und Funktionsweise diverser Immunsystems- und Blutbildungs-Zellen von bestimmten Proteinfaktoren, die er Colony-Stimulating Factors nannte. Diese CSFs waren die ersten Cytokine. Der Cytokin-Goldrausch konnte beginnen: D-CSF, der Faktor für Granulocyten, wurde unter dem Namen »Neupogen“ 1991 von Amgen auf dem pharmazeutischen Markt lanciert, der verwandte Stoff GM-SF erhielt als Produkt von Immunex 1991 den Namen »Leukin“ und 1992 als ScheringPlough-Erzeugnis den Namen ,,Leucomax“. Firmen wie Immunex oder DNAX gediehen gut, und so fühlte sich ein junger Rechtsanwalt, der Biologie bis zum Bachelorgrad studiert hatte, nämlich Franklin Miller aus Chicago, im Jahre des Herrn 1984 inspiriert genug, das weltweite Unternehmen zu gründen, das 1987 zwei der renommiertesten Forscher der Bundesrepublik Deutschland ,,einzukaufen“ versucht hatte, aber nur bei einem erfolgreich gewesen war - dem Mann, der hier jetzt saß und schwitzte. Der andere, vermutete Harald Otte, hatte die e-mail geschrieben, die auf Ottes Bildschirm sichtbar werden mußte, wenn er eine Keypad-Taste runterdrücken oder die Maus bewegen würde - im Augenblick war sie unsichtbar, auf dem Schirm menuettierten immer noch die Kieselalgen, Es kam Harald Otte vor, als wäre der Bildschirmschoner eine Art Vorhang, ein Verdeck vor der Botschaft, die er am liebsten ignorieren würde. »Ach, leck“, rief er und schlug mit der flachen Hand auf die Maus. Die Botschaft flammte auf, mene mene und so fort: Aufwachen! Weißt Du noch, am Amazonas? Ich habe deine Frage damals nicht vergessen, sie war das einzige, was wir wirklich mitnehmen konnten von der Exkursion '86, Proben gab's ja keine, und Robertos Knochen hatten nix bewiesen, außer, was wir eh die wußten: daß es keinen Roberto mehr gab. Also. Deine Frage. Du erinnerst Dich? Warum sie nicht rauskommen, warum man sie nicht sieht. Tja: jetzt hab ich die Antwort gesehen - in freier Wildbahn, und seit einigen Jahren auch zunehmend deutlicher in den Zeitschriften, siehe den Anhang. Die Antwort lautet jedenfalls: es war eben noch nicht Zeit dazu. Und jetzt ist es soweit. Denke ich. Ich will nicht, daß du mich kontaktierst. Ich will, daß du es nachprüfst. Ihr habt doch Fieldworker, überall. Laß 20
deine Kontakte spielen. Geh den Veröffentlichungen nach. Frag diesen Typen vom Santa Fe Institute, dessen hochinteressanten kleinen Aufsatz über autokatalytische Proteinsets ich Dir unten ausgeschildert habe. Es ist soweit, Alter. Von wegen sechste Auslöschung - eher ne neue Explosion, wie damals im Kambrium. Wir sind die Pikten. Mach was draus. Regards n all that CK (nicht das Scheißparfum) Und darunter eine ellenlange Liste mit Literaturangaben, Hauptsächlich Artikeln aus wissenschaftlichen Zeitschriften wie dem Journal of Physical Chemistry, Science, Nature, Proceedings of the National Academy of Sciences USA, Journal of Theoretical Biology, aber auch ein paar Webseitenverweise zu verschiedenen Instituten und Firmen in aller Welt, zu Umweltschutzorganisationen, privaten Homepages und sogar ein paar Archiven großer Tageszeitungen. Einige davon hatte Otte nach Erhalt der e-mail bereits ausprobiert - die Zeitungsberichte sprachen von eher kuriosen Vorkommnissen der Sorte ,,Aus Aller Welt“: rätselhafte Rückgänge von Tierpopulationen, etwa ein weltweites Froschsterben, unerklärliche Mißgeburten u.a., aber auch jährliche Krebsatlanten - paranoides Zeug, im Grunde, so eine Zusammenstellung. Nur daß Otte es besser wußte. Denn er erinnerte sich an die Amazonas-Exkursion, erinnerte sich daran, was er selbst gesehen und was Colin Kreuzer ihm von den archäologischen (nicht: paläontologischen!) Ausgrabungen seiner Mutter in ihrer schottischen Heimat berichtet hatte, an ihrer beider irrwitzige Schlußfolgerungen und dann seinen, Ottes, Versuch, diese Schlußfolgerung wieder zu demolieren, mit seiner Frage, der Frage, die Colins e-mail erwähnte: Wenn es das gab, wovon sie glaubten, daß es die Ereignisse am Amazonas erklärte, warum hatte man dann bislang nichts davon mitgekriegt? Wie sah die ESS, die Evolutionär Stabile Strategie, einer solchen Lebensform aus - Mimikry? Wo es ihr doch ein Leichtes gewesen wäre, sich selbst als planetare Monokultur zu etablieren, alles herkömmliche Leben zu beseitigen? Colins Antwort damals waren ein paar hingekritzelte informationstheoretische Gleichungen und weitere wilde Spekulationen gewesen. Otte und Kreuzer waren nach Deutschland zurückgekehrt. Colin hatte 21
seinen Freund Harald gedrangt, ihre ,,Entdeckung“ zu veröffentlichen. Mit wachsendem Abstand von den ,,Ereignissen“ (die meisten Hauptwörter, die mit dem, was damals gewesen war, zu tun hatten, es beschreiben konnten o.ä., setzte Harald Otte grundsätzlich in Anführungszeichen) hatte Otte immer weniger Vertrauen in (ihrer beider? Nein:) Colins ,,Theorie“ verspürt und eine Beteiligung an einer eventuellen Veröffentlichung strikt abgelehnt. Colin schien zu resignieren, wandte sich immer mehr seinem Musikbastelkram zu und seiner komischen Jennifer. Dann kam das 87er Angebot von GI. Otte nahm an, Colin Kreuzer gebrauchte unflätige Ausdrücke. Ihrer beider Wege trennten sich, scheinbar für immer. Und doch wußte Colin offenbar, wo er seinen alten Freund erreichen konnte. Der wußte seinerseits, wo Colin lebte, wenn auch mehr durch Zufall - vor drei Jahren war in einer Musikzeitschrift ein Interview mit Colin bzw. ein Artikel über ihn erschienen. Otte las solche Sachen sonst nicht, aber einer von den Jungspunden aus der R&D-Abteilung hatte das Heft beim Betriebsausflug dabeigehabt und war im Bus neben Otte gesessen, hatte drin rumgeblättert, und da erkannte der Manager seinen ehemaligen Kollegen. Hatte lange Haare, jetzt, WIRKLICH lang, und eher weiß als grau. Kreuzer streckte die Faust in die Kamera, mit dieser Tätowierung drauf, die Otte kannte. Umgeben von jungen Leuten - irgend so eine Band, die er förderte, oder der er angehörte. Otte hatte sich das Heftchen kurz geborgt und den Artikel überflogen - da hieß es, Colin Kreuzer lebe jetzt in Borbruck, wo ihm eine kleine Plattenfirma gehöre und er außerdem ein Tonstudio betreibe. Otte hatte das überprüfen lassen. Damals stimmte es. Wenn es immer noch stimmte... Aber in der mail stand, Mr. Ich-bin-derWelt-abhanden-gekommen wolle nicht kontaktiert werden. Es gab zwar eine Absenderkennung, aber die war ein Witz, eine Mystifikation - es würde nichts nützen, dort eine Reply-mail hinzuschicken, weil es diesen Absender mit Sicherheit gar nicht gab:
[email protected]. Ein blöder Hackerwitz. Pueriler Kreuzerscher Frank-Zappa-Humor. Andererseits: Borbruck. Harald Otte hatte das Rauchen, Bangen, Brüten satt. Er nahm den Hörer vom Telefon. Und wollte schon die Auskunft wahlen, um sich Colins Nummer zu verschaffen, da rastete in seinem Kopf etwas ein, was sich einerseits verdächtig nach pawlowscher Konditionierung, andererseits in diffuser Weise 22
beruhigend anfühlte. Wie hatte er das vergessen können - sein gutes altes EntscheiderMotto? ,,Loyalität geht vor Freundschaft“ - wie Freundschaft vor Panik geht, ergänzte er jetzt bei sich. Auswendig, und aufatmend, wählte er eine lange Nummer in Chicago, Illinois, USA. ,,You got any idea what time it is, moron?“ meldete sich, herrisch aber nicht humorlos, Ottes Arbeitgeber, Franklin Milhouse Miller. (zeta) Als Axel Amarell die ,,Kirsche“ verließ, klingelte hinter ihm fröhlich eine Fahrradklingel. Er wandte sich um und erblickte Denise. Sie lachte, grinste, zeigte klaviertastenweiße Zähne. Ein kleiner Stich, da, wo Axel sein Herz vermutete, war die Folge. Ihm fiel wieder ein, was sie gesagt hatte, leise, ganz nüchtern, als sie das erste mal ohne Verband in den Spiegel gesehen hatte, nach dem Unfall: ,,Na toll. Ich seh ja prima Scheiße aus.“ Das war zwei Monate nach der Trennung gewesen, er war dabei auf ihrem Krankenhausbettrand gesessen, als EIN Freund, nicht mehr: IHR Freund. Prima Scheiße? Wie sie jetzt so auf ihrem Fahrrad vor ihm saß, mit den Beinen schlenkernd, und ihn anlachte, hätte er ihr gern sagen wollen: Von wegen Scheiße. Alle Narben der Welt können nicht anstinken gegen dieses Lachen. ,,Hi, Denise.“ ,,Hi. Durchgearbeitet?“ ,,Durch. Aber nicht gearbeitet. Nur durch.“ Sie nickte, lachte wieder. ,,Hast grad gefrühstückt?“ ,,Ja. Ich will noch ins Seminar.“ ,,Schade. Ich will namlich jetzt frühstücken. Hatten wir ja bißchen reden konnen.“ Tja, dachte Axel. Schade ist gar kein Ausdruck. Er verabschiedete sich. Komisch, überlegte er: was ist eigentlich Attraktivität? Das geheimnisvoll unbekannte Gesicht der, na ja, eben geheimnisvollen Unbekannten (,,Angela“) vorhin, bei der Axel seinerzeit abgeblitzt 23
war, oder das so vertraute Gesicht seiner Exfreundin, Narbe und Lachen inklusive, mit der er drei großartige Jahre zusammengewesen war, und die er, was ihn nicht weiter wunderte, immer noch liebte? Von wegen Metaphysik des Todes. Das Leben ist halt doch immer noch ein ordentlich Unendliches metaphysischer als der toteste Tod. * Die Zufahrt zum philosophischen Seminar war gesperrt. Axels Auffassungsgabe an diesem Morgen tickte etwas verlangsamt, aber schon als er, es war inzwischen gegen halbacht, um die Ecke zum Institut bog, am Copyladen und der Pizzeria vorbei, begriff er, daß hier etwas höchst Unphilosophisches passiert war. Drei Streifenwagen standen zum Teil mitten auf der Straße, statt sauber eingeparkt. Blitzbesuch der Polizei? Passanten wurden angewiesen, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Ein langer Schranksarg von Krankenwagen stand da, dessen Blaulicht gerade erst abgestellt wurde, als Axel naherkam. Ein uniformierter Beamter deutete auf ihn: ,,Was schaust du so? Hier gibt's nix, geh weiter.“ ,,Ich... möchte... ich will zum Seminar“, hörte sich Axel sagen. Übermüdung verunwirklichte alles, zerfaserte die Sätze. ,,Geht nicht. Abgesperrt“, sagte der Polizist gescheit, und als Axel nicht wegging: ,,Was wollen Sie da überhaupt?“ ,,Ich wollte zu... einer... zu Professorin Kauling. Ich bin, ich habe, sie betreut meine Doktorarbeit.“ ,,Ach?“ sagte eine tiefe Baßstimme neben Axel. Er drehte sich um und fand sich so einem etwa fünfzigjährigen, in Jeans und Lederjacke gekleideten Mann gegenüber, der, ahnte Axel, als war's Telepathie, auch Polizist war, und noch dazu von einiger Autorität: eine angedeutete Kopfbewegung von ihm genügte, und der Uniformierte trat zurück, wandte sich anderen Schaulustigen zu. ,,Kauling also. Und Sie sind Doktorand. Name?“ ,,Axel. Ähm: Axel Amarell“, sagte Axel zögerlich und dachte: wie komm ich drauf, daß der den Vornamen will, ja, daß der schon reicht? Weil mit Polizisten reden wie den Eltern Beichten ist. Der Mann streckte ihm seine große Hand hin: ,,Keller. Mordkommission. Ich fürchte, Sie müssen sich eine neue... Doktormutter suchen, oder wie ist die weibliche Form von Doktorvater?“ 24
Wie ist die weibliche Form von Papst, dachte Axel benommen. Pontificia Maxima? ,,Um... aber“, schluckte er. Der Polizist nahm ihn sanft am Arm und sagte: ,,Kommen Sie doch gerade mit rein, Herr Am... Amarell?“ ,,Amarell.“ ,,Schöner Name. Klingt wie Matell, Revell, Spielzeug für Jungs.“ ,,Ja. Ah. Danke.“ ,,Ich habe ein paar Fragen. Über Frau Kauling, das Institut undsoweiter undsofort.“ Willenlos ließ sich Axel zum Treppenaufgang fuhren, als er plötzlich mitten im Gehen stehenblieb und zur andern Straßenseite sah: da stand, neben einem Einbahnstraßenschild, die junge Frau mit der Sonnenbrille, die er heute morgen in der ,,Kirsche“ gesehen hatte. Sie hatte die Brille abgenommen, und ihre dunklen Augen sahen Axel ruhig an. Kellers Blick war seinem gefolgt: ,,Ihre Freundin?“ ,,Was? Nein, ich, die... - Freundin nicht. Bekannte höchstens.“ ,,Na, also, gehen wir mal rein.“ * Später, nachdem es nicht mehr rückgängig zu machen war, würde Axel sich die Frage stellen, warum Keller ihn nicht zurückgehalten hatte, als Axel, anstatt nach rechts in Kaulings kleines Büro, aus lauter Gewohnheit, und wohl auch wegen des Schlafdefizits, einfach durch die großen Flügeltüren in die langgestreckte Bibliothek ausgeschritten war. Zwar folgte ihm Keller augenblicklich und beugte sich an sein Ohr, in das er flüsterte: ,,Nicht schön. Kommen Sie. Wir haben hier nix verloren. Lassen wir die Leute ihre Arbeit machen.“ Aber er hätte ihn früher zurückhalten können, und tat es doch nicht: war das ein Versuch Kellers, etwas über Axel zu erfahren? War Axel ein Verdächtiger? War jeder ein Verdächtiger, für diesen Keller? So eine blöde Frage aber auch: ,,Ihre Freundin?“ Darüber dachte Axel gerade nach, über das mit der Freundin, als er den Raum betrat, als Keller sich zu ihm beugte, als Keller ihn mit sanftem Nachdruck aufforderte, die Leute von der Spurensicherung ihre Arbeit tun zu lassen. Der Geruch stach weit weniger übel, als der Anblick vermuten ließ. Axels Nase war ohnehin ein bißchen verschnupft. Aber kein 25
Schnupfen konnte jemals diesen Anblick mildern. Die Leiche lag zwischen zwei der Bücherwände. Sie lag, nachdem sie nicht mehr hing, da die Leute von der Spurensicherung sie abgetrennt hatten von ihrer Aufhängung zwischen den Wandgerüsten. Der Rumpf der Leiche war bedeckt mit einer Plane, aber die war nicht dunkel, sondern semitransparent. Deshalb sah man, wie sie innen verschmiert war vom Rotschwarzdunkel. Der geöffnete Brustkorb unter der zerfetzten Bluse klaffte schwarz und leer, das Gesicht war nicht zu erkennen, denn die Wangen waren abgelöst worden. Der ganze Körper: aufgeschlagen wie ein Buch. Und zerbrochen - lange Knochensplitter ragten aus Armen und Beinen. Das Schlimmste waren die Stränge, die lose baumelten und an denen die Leiche vielstrahlig mit den Wandgestellen auf beiden Seiten verbunden gewesen war. Stränge, die die Polizei hatte kappen müssen, um mit der Untersuchung zu beginnen. Die Tote war nicht nur von innen nach außen gekrempelt worden, nicht nur ausgeweidet und stellenweise gehäutet, sondern man hatte auch diese Stränge aus ihrem Leib gezogen: Fasern, Muskeln, die Chordae der Sehnen, gelblich kollagene Gewebebündel. Die waren, was Axel erst später erfuhr (und dabei fühlte er sich wieder wie als Kind beim Nasenbluten: bei wachem Verstand der Ohnmacht haarnah), mit Klammern, Nageln und anderen Instrumenten an Gestelle, an den Boden, an Bretter geheftet worden. Die alte Frau war für den (oder die) Mörder ein Webewerk gewesen, Text. Fußnoten, dachte Axel. Ihm schwindelte. ,,Geht's? Herr Amarell? Können wir hier weg? Kommen Sie, kommen Sie ins Büro. Brauchen Sie was?“ fragte Keller. ,,Geht. Geht schon irgendwie“, spotzte Axel würgend, und tatsächlich: es ging. Für den Augenblick jedenfalls. Die Türen waren zu, er war draußen. Sie war siebenundsechzig Jahre alt. Fast siebzig, dachte Axel zusammenhanglos. Sie wollte nur keine Emerita sein. Und jetzt das. So. Entsetzlich. * ,,Gestern abend war sie länger hier, bis nach Schließung. Sie hatte einen eigenen Schlüssel, hat hier drin gearbeitet und ist dann wohl in die Bibliothek. Sie ist seit cirka fünf Stunden tot. Nach Mitternacht ist es passiert“, berichtete Keller trocken. Das Büro war offenbar bis jetzt unberührt geblieben: die Unordnung, in der sich Inspektor Keller und Axel auf die beiden freien Stühle niederließen, war die Axel 26
wohlvertraute Umgebung, in der Kauling ihre Gedanken dachte, Bücher geschrieben hatte - die große Heidegger-Monographie, die Abhandlung über Dauer, eine Kritik des Neopragmatismus. Ein Cassettenrecorder stand neben dem Computer auf dem Schreibtisch, davor stapelten sich Cassetten, auf denen meist Originaltondokumente aufgenommen waren - sie war so etwas wie eine nSammlerin“ gewesen, was derlei Memorabilia der Kopfe des 20. Jahrhunderts anging, etwa auch Fotos oder Filmdokumente. ,,Es ist ja bald vorbei, das alberne Jahrhundert“, hatte sie öfter gesagt. ,,Wir sind schon Geschichte, wie keltische Völker, wie die Menschen der minoischen Kultur, die Etrusker, die Karthager, oder die Pikten in Schottland. Man könnte melancholisch werden.“ Oft waren Axel und andere hier gesessen und hatten gemeinsam mit Kauling den Stimmen Heideggers oder Adornos gelauscht. Manches davon hatte Kauling seit den 6oer Jahren selbst aufgenommen, anderes über Kolleginnen und Kollegen beschafft. ,,Sie sind also Philosophiestudent?“ fragte Keller und holte einen Umschlag aus der Innentasche seiner Lederjacke. Axel blubberte. ,,Schon. Ja.“ ,,Dann können Sie wohl auch griechisch. Ist doch griechisch, oder?“. Mit diesen Worten fischte er aus dem braunen Papierumschlag einen Zettel in Klarsichtfolie, offensichtlich ein Beweisstück - es war ein DIN A 5Blatt, und in dunkelroter, fast violetter Schrift war drauf leicht verschmiert ein Wort in griechischen Buchstaben geschrieben. Axels Erstaunen und erschrockenes Erkennen waren wohl von seinem Gesicht abzulesen, Keller fragte ungeduldig: ,,Also? Was bedeutet das?“ ,,Es heißt: Aletheia. Wahrheit.“ ,,Wahrheit. Schön“, grunzte Keller, ließ das Papier samt Folie wieder in den Umschlag gleiten und sagte: »Dann verraten Sie mir doch mal, was das soll: daß sie der Toten einen Zettel auf die Stirn legen, auf dem so was steht.“ ,,Ich kann mir nur denken, daß es eine Anspielung auf Heidegger ist.“ ,,Heidegger. Auch so'n Philosoph?“ ,Ja. Frau... Kauling... hat viel über ihn geschrieben. Einer der Lieblingsgedanken Heideggers war, das griechische Denken neu, wie er sagte, abzuhorchen, nach Dingen, die... vielleicht in der abendländischen Tradition verlorengegangen sind. Deshalb hat er alte griechische Begriffe nach Wortbestandteilen aufgebrochen und neu wörtlich übersetzt. Aletheia zerlegte er in A-letheia, also: Un-Ver27
borgenheit. Er dachte, daß Wahre sei bei den Griechen so eine Unverborgenheit. Sozusagen also das, was erscheint, wenn etwas enthüllt wird, aus der Verborgenheit gezogen.“ ,,Wie wenn man jemanden aufschneidet und alles ans Tageslicht läßt, was besser drin geblieben wäre.“ bemerkte Keller. Axel fiel keine Antwort ein. Inter Lineas I Cawdor, Montag, 3. September 1980 (...) langes Telefongespräch mit Jenny. Sie will Kinder. Mum davon erzählt, sie, mit den erwartbaren verzogenen Mundwinkeln: ,,Als ob es nicht schon genug Gekrauche... „ Stolze Oma, indeed. Mutter, gälisch: màthair. Sie will mir's immer noch beibringen, diese komische Sprache da. Ich fühl' mich hier allerdings alles andere als zuhause. Na schön: wenn sie hier oben glücklich ist, in der Kälte, im Regen, im Wind... hat mir wieder Aufnahmen von ihren Steinen gezeigt. Will wirklich noch mal ernsthaft anfangen mit der Graberei, jetzt, da Dad tot ist. Mehr Sinn in ihr Leben holen, wo sein Autounfall doch so komplett sinnlos war. Die ganzen Jahre ist ihm nie was passiert, nicht im Libanon und nicht in Nordirland, und dann, auf der Autobahn vor Hamburg... verrückt. (...) Jedenfalls hat Mum einen richtigen Plan, wie und wo sie's angehen will, und kriegt auch Geld vom Council: Ross, Cromarty, Sutherland, Badenoch und Strathsprey. Cawdor, Donnerstag, 6. September 1980 Hölle, gälisch: ifrinn. Merkwort: Inferno. (...) Es geschehen noch Zeichen und Wunder: mir ist was eingefallen, wie ich mich an Mums Kram beteiligen, mich sogar ein bifichen nützlich machen kann. Zumindest eine Art Brücke zwischen Mums und meinen Interessen hier, für die paar Wochen, die ich noch oben sein werde - wie sagt Jenny: ,,Du siehst ja ganz schön lang nach dem Rechten...“. Jedenfalls: Was, wenn man dieses ganze Pikten-Zeugs, die OghamInskriptionen (die anscheinend nicht nur gälische Namen sind, wie ich dachte) UND die Ornamente UND die Tiersymbole etc., als Gegenstande der Informationstheorie betrachtet, als kryptographi28
sche Probleme? Fiel mir gestern ein, beim Lesen von Shannons ,,Coding Theorems“ - Steineklopfer als diskrete Quelle? Warum nicht. Ich habe hier zwar keine Rechner, aber... (...) London, Mittwoch, 1. Oktober 1980 (...) Mum ist da oben jedenfalls in Sicherheit, und so zufrieden, wie sie's nach den Umständen überhaupt sein kann. Ich werde heimfahren und nehme die Aufzeichnungen über den Ackergill-Stein und die anderen Sachen aus Caithness mit, vielleicht wird da zuhause noch was draus. Mal Harald zeigen, den ganzen Mist. So, mein Flieger nachhause geht gleich. Ab zu Jenny, Kinder machen. Kinder, gälisch: Clann. Davon dann das Lehnwort: Clan. (...) [aus Colin Kreuzers Tagebüchern]
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Gihon (eta) Was macht man nicht alles falsch in diesem Journalistenberuf! Welche Platte, glaubt Ihr, wunderbare Leserschaft, habe ich mir noch einen Abend vor meiner denkwürdigen Begegnung mit der zerfahrensten, unbandhaftesten Band, die ich je befragen durfte, den merkwürdigsten Menschen, die je auf unserem Cover waren, und last not least der ,,Hoffnung aller Ohren, die von Rock eigentlich wirklich nichts mehr erwartet hatten“ (Christoph Gurk in seiner panegyrischen Besprechung von ,,automatenstudien zum ersten“ letzten Monat) auf Tape aufgenommen, um sie dann im Zug nach Borbruck wieder und wieder zu hören? Etwa die Platte, um die es geht? Unsere Platte des Monats vom September, diese komische, in jeder Hinsicht ÜBERTRIEBENE Gitarrensuppe, vom ominösen Herrn Kreuzer durch irgendwelche unnennbaren Apparate gejagt, von Patrick Mündeleins Trommelstöcken eifrig umgerührt und vom Duo Ehrke/Amarell mit Gesangsschlaufen umkrauselt, die den Beach Boys, den Cocteau Twins, Björk und Mark E. Smith zur längst fälligen Synthese ihrer vokalartistischen Erfindungen verhelfen? Diese erste ,,richtige“ Platte der ,,Band“ Shannon also, nach einem Gastauftritt auf Hilsbergs ,,Aber Sofort“-Sampler letzten Herbst und seither sechs undefinierbaren Vinyl-Only-Singles auf Kreuzers eigenem ,,Enantiomer“-Label, drei davon ambientes Geschmier, eine ein scheppriges Punkdittie (,,Rattenstrom“, von CG in o.a. Hymnus zu unrecht als ,,Witz“ abgetan, siehe unten) und zwei Coverversionen (KISS und Isaac Hayes, natch!), alles ohne B-Seite? Von wegen. Die Neue Madness habe ich mir statt dessen gegeben. Tut mir leid. Ernsthaft. Später, als wir dann alle so, ich will nicht sagen: gemütlich, aber doch: guter Dinge in Kreuzers Studio am gottverlassensten östlichen Rand von Borbruck saßen, ließen mich Shannon deutlich spüren, daß das Nichtauswendiglernen ihrer Platte ein Fehler gewesen war. Außer Kreuzer, der im Gespräch durchaus die Gandalf-der-Zauberer-Rolle ausfüllt, die man von einer grauen Eminenz seiner Statur erwartet, wollten Shannon über nichts anderes reden als eben IHR ALBUM, 30
über die einzelnen Stücke, die einzelnen Ideen, die ,,geilen Stellen“ (Diedrich Diederichsen über Shannon in seinem ellenlangen Artikel: ,,Visuelle Musik“, whatever that is, in der jüngsten ,,Texte zur Kunst“, lest es halt selber) usw. usf. Speziell Kreuzer, der in seinem Leben als u.a. Kollaborateur von Leuten wie Bruce Gilbert von Wire (,,Ashbless“-LP 1991) oder der viel zu unbekannten Robert Fripp-Entdeckung Peter Hamill (,,Vala of the Four Zoas“-LP mit Kreuzer und Jah Wobble, wo Hamill schon sehr ähnlich singt wie heute Kreuzers Entdeckung Denise Ehrke auf den beiden langen letzten Srücken von ,,automaten...“) schon mehr geile Stellen verbrochen hat, als auf irgendeine Kuhhaut gehen dürften, flankiert das Gewese seiner Schützlinge mit ellenlangen musik- und informationstheoretischen Exkursen sowie jenem nachsichtig-stolzen Lächeln über seine, äh, SchülerInnen, das wohl auch William Blake von der anderen Seite aus für Madame Blavatsky, William Butler Yeats und Aleister Crowley übriggehabt haben dürfte, oder was weiß ich. Warum aber nun exponiere ich mich hier so und verrate Euch, daß ich in meiner bejammernswerten Unprofessionalität schlechterdings zu blöd dazu war, mir diese ja schließlich at the end of the day schlechthin SCHÖNE Musik (schön im Sinne von WebernChören, Aphex-Twin-Rauschen, Slayer-Post-Gig-Verstärkerbrummen oder King Tubby-Outtakes, nicht im Sinne von ,,hübsch“) vor dem Besuch bei diesen netten Menschen so konsequent aufs Hirn runterzuladen, daß ich sie wenn schon nicht besser, so doch genausogut kenne wie ihre Urheberlnnen? Weil das einen Punkt berührt, der für die Karriere dieser Gruppe (und die wird GROSS sein, wenn nicht ALLES täuscht), wie sie sich schon heute in der in- und ausländischen aufmerksamen Presse abzeichnet, in all den vom unheimlichen Konsens namens ,,eine Offenbarung!“ getragenen Reviews von »spin“ bis ,,De:Bug“, recht bald von einschneidender Bedeutung sein dürfte. Und zwar folgenden: die Musik, die Shannon machen, verführt gerade intellektuelle, im Umgang mit sozusagen diskurswilligem Musikschaffen im Pop- und Avantgardeunderground geschulte RezipientInnen wie mich merkwürdigerweise zu gleich zwei einander eigentlich ausschließenden Trugschlüssen über sie: a.) Shannons Musik ist, weil trotz allen Raffinements ja letztlich doch ROCK, unmittelbar durchschaubar, man braucht sie nur einmal zu hören, dann weiß man gleich, wie gut sie ist. b.) Shannons Musik ist 31
SO gescheit und schwierig (dabei mitsumm- bzw. pfeifbar, test it!), daß man beim bloßen Hören eh nicht dahinterkommt, womit man es zu tun hat, und deshalb die vielen Artikel mit ganz vielen Verweisen auf die Theorien von Kreuzer spicken muß, die dieser ja entgegenkommenderweise teilweise veröffentlicht hat (welcheR JournalistIn erinnert sich nicht gern des bleichen Horrors, als statt eines normalen Infos der Vorab-CD ein siebenseitiges Pamphlet mit dem Titel ,,Deep Purple als Array von Peripheriegeräten oder Warum unsere Platte leider doch nicht Smoke on the Water heißt“ beigegeben war?). Auch ich also war in diese beiden Fallen gleichzeitig getappt, ins polare Großmißverständnis - obwohl ich ja durch Christophs Begriffsarbeit gewarnt gewesen ware, ich zitiere noch mal aus der Besprechung: »Das Einfache an diesem Groove ist, daß seine Schwierigkeiten jeweils allen immer und überall sofort einleuchten. Das Schwierige daran ist hingegen, daß er bei eben dieser Einfachheit nie stehen bleibt. Dialektische Hirschjagd.“ Tja, von wegen. Was hilft der dialektischste Rock dem undialektischen Gehör? Auch ich dachte also, mir sei alles klar, und zugleich: das Viele, das mir unklar war, konnten mir nur der Meister und seine Leutchen selbst beantworten, das würde ich auf der Platte eh nicht finden. Kein Wunder, daß die Band vergrätzt war über soviel Hochmut mal falsche Demut. Wie Axel Amarell, der Dichter fast aller Shannon-Texte und übrigens nebenbei Philosoph und Schriftsteller - noch unveröffentlicht allerdings, er arbeitet an einem Roman über ein ,,anderes Borbruck“, laut Denise Ehrke ,,alles in Kleinschreibung“, Stefan George und die RAF wird's freuen - bei einem seiner sehr wenigen von meinem treuen AIWA-Gerät eingefangenen Wortbeiträge an diesem langen Augustnachmittag sagte: »Du bist wohl nicht so besonders gut vorbereitet, was? Der Sascha Kösch von De:Bug hat die Platte wenigstens mal LAUT gehört!“ Ach ja. Der Sascha Kösch von De:Bug. Ausgerechnet der. Mit Rock soviel am Hut wie Denise Ehrke mit Peter Maffay, aber mir den Vorbereitungspokal wegschnappen. Welch Demütigung. Geschieht mir recht. Das Problem bei all dem reicht weiter als nur bis zu dem Punkt, an dem einem klar wird, daß nicht BEIDE Vorstellungen von Lesbarkeit bzw. Komplexität bzw. Redundanz des, sagen wir mal: Phänomens „Shannon“ richtig sein können. Es geht vielmehr darum, daß diese 32
Gruppe uns dazu auffordert, die Vorstellungen von Intelligenz in der (Pop-)Musik zu überdenken, die sich im Widerspiel von elektronischer und anderer Popmusik in den späten 90em entwickelt haben: daß es nicht so einfach ist mit dem Einfachen, aber auch nicht so schwierig mit dem Schwierigen. Ich habe mich daher letztlich zweifellos zur großen Erleichterung der meisten von Euch daGEGEN entschieden, meine eigene Auffassung davon, was hier eigentlich vorgeht, breitzuwalzen, abgesehen von der Problemdarstellung, und übergebe das Wort für den Rest dieses Artikels lieber ans Protokoll dessen, was in Borbruck im Enantiomer-Studio geredet wurde, an diesem 26. August. Ich tue das nicht, weil O-Töne so besonders erfrischend wären, sondern weil Shannon vor allem eins klarmachen, auf Platte wie im Gespräch (und auch live, wenn ich Uwe glauben darf, der sie gestern abend, als ich wegen der Ken McLeodGeschichte in London war, in Köln im Gebaude 9 gesehen hat): es ist LÄNGST nicht alles klar. Deshalb habe ich die meisten der Einzelanalysen von Songs durch die Band auch gekappt und mich auf die abstrakteren Ausführungen konzentriert: damit Ihr, genau wie ich, Eure Hausaufgaben wenigstens JETZT macht. SPEX: Als ich den Namen las, ,,Shannon“, dachte ich an diese DiscoFrau, diese High-Energy-Diseuse aus den Achtzigern.... PATRICK MÜNDELEIN: Ja, ,,Let The Music Play“ hieß das, 1983. Fantastisches Stück, von Chris Barbosa und Ed Chisolm, da ist Moroder nie rangekommen. Moroder hat sowieso nur einmal was wirklich geniales gemacht, das war der ,,Metropolis“-Soundtrack. Das war großartig, das gab dem Wort „Musical“ einen guten Namen. Aber ansonsten: lieber Shannon. SPEX: Mögt ihr alle solche Musik? DENISE EHRKE: Shannon, Pointer Sisters, super. Die Inbrunst bei diesen Sängerinnen, und dazu aber dann diese flurbereinigte aseptische Harold-Faltermeyer-Keyboard-Kiste, dieses Jan-HammerMiami-Vice-mäßige, das man auch bei Alphaville hat und allen großen Discothekensachen vor Techno. PATRICK: Und danach wieder der Frankfurt-Kiste dann später, Culturebeat und Snap. DENISE: Wir covern übrigens jetzt ,,Eternity“ von Snap, wir machen ja wieder weiter mit den Singles. Das wird besser als Sonic Youths Madonna-Ding. 33
COLIN KREUZER: Der Name Shannon kommt einfach von Claude Shannon, dem Begründer der modemen Informations- bzw. der mathematischen Kommunikationstheorie. Ich habe das vorgeschlagen, und zwar einfach, indem ich den andern angedroht habe, daß ich ihnen sonst dieses Buch (hebt einen riesigen Walzer mit goldenem Einband hoch: Claude Elwood Shannon, ,,Collected Papers“) um die Ohren haue. Er ist der Typ auf dem Cover von ,,automatenstudien zum ersten“, der alte Mann im Anzug mit dem Puppentheater. SPEX: Was ist das für ein Ding? COLIN: Das ist ein Jonglier-Diorama... so kleine Puppen, die Kegel, Reifen und Bällchen jonglieren, ein Spielzeug, das er gebaut hat, vor lauter überschüssiger Energie. Ein erleuchteter Mann. SPEX: Und dieses keltische Cover-Design der Platte? COLIN: Das ist nicht keltisch, das ist piktisch. SPEX: Bitte was? COLIN: Piktisch. Die Pikten, die ihren Namen - die Bemalten -von den Römern hatten, waren ein Volk in der Heimat meiner Mutter, in Schottland. Meine Mutter war Archäologin, hat in Brough of Birsay ein piktisches Dorf mit ausgegraben... die hatten so eine Schrift, die man bisher nicht lesen konnte, ich habe in den spaten Siebzigern ein Programm geschrieben, das zumindest als vorbereitendes Inventar... DENISE: Mann, hört auf, interessiert doch keinen. PATRICK: Ich fand das cool, mit der Piktenschrift und diesen Zeichnungen, Sonnenuhr und so weiter, als Colin davon erzählt hat, daß man diese Typen in Legenden für Elfen hielt oder was, und daß sie angeblich alle unterirdisch gelebt haben sollen. Sehr Cheesy, sehr Led Zeppelin, Bombast und Geheimnis. Jedenfalls sind sie Ratzeputz weg vom Fenster gewesen, irgendwann. COLIN: Ja, im neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung verschwinden sie so langsam, d.h. ihre archäologisch feststellbaren Spuren. Es heißt, die Wikinger und die Schotten unter Konig Dalriada hätten sie ausgerottet, aber vielleicht haben sie auch unter der Erde was kennengelernt, was Menschen frißt. Wer weiß. [Titelgeschichte über Shannon: ,,Von wegen einfach“, in SPEX - Das Magazin für Popkultur, Ausgabe 10/1999, von Dietmar Dath - Erste Hälfte]
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(theta)
Auf der Zunge noch den Vanillegeschmack der Hörnchenfüllung, auf der Oberlippe einen Rest Milchkaffee, sah Denise müde in den Spiegel auf dem Flur und fand sich, alles in allem, ,,alt und verbraucht, aber noch nicht tot. Immerhin“. Der Anrufbeantworter blinkte rot: jemand hatte nachts angerufen, als sie weggewesen war, auf der Arbeit. Denise wollte die Nachricht gleich abhören. Zuvor aber ging sie den schattenreichen, im Zwielicht auch optisch teppichbodenweichen Korridor lang in die Küche und legte die Brötchentüten auf den Küchentisch, samt Zeitungen und der Zeitschrift, die sie am Kiosk unweit der ,,Kirsche“ gekauft hatte: eine taz, die Süddeutsche und das Gitarrenheftchen mit Tony Iommi auf dem Cover. Die Türen rechts und links des Flurs waren verschlossen. Die andern beiden in der Wohngemeinschaft, Michaela und Paul, schliefen den Schlaf der Gerechten. Es war zwanzig nach neun. Durchs Fenster fiel Sonnenlicht wie in ein goldenes Glas Bier und machte den Raum mit jeder Sekunde größer, ließ die Poster an den Wänden, zwei davon Shannon-Konzertplakate, zurückweichen vor der solaren Majestät, und weitete Denise das Herz. Als sie, übermüdet aber seltsam glücklich, auf den Stuhl gegenuber dem Fenster sank, wurde ihr klar, warum sie auf dem Gang überhaupt in den Spiegel geguckt hatte: sie hatte wissen wollen, wie sie heute morgen aussah, eigentlich: wie sie auf Axel gewirkt hatte, bei der kurzen Begegnung vor dem Cafe. Denise streifte ihre Jeansjacke ab und hängte sie über den himmelblau gestrichenen Holzstuhl, auf dessen Sitzfläche Zeitungen, Postwurfsendungen und anderer bedruckter Kram der letzten Wochen gestapelt waren. Unterm Hängeregal, auf dem breiten und langen Küchenbord über den Einbauschränken, stand das von Patrick bei seiner Übersiedlung nach den USA zurückgelassene Terrarium, doppelt so hoch wie breit, mit Glasklebetechnik von Patrick und Denise gemeinsam angefertigt. Die Scharniere und Magnetverschlüsse der Fronttür blitzten in der Morgensonne. Denise beugte sich nach vorn und blickte durch die Deckscheibe ins Innere des Frosch-Habitats, um nach den Tieren zu spähen. Das zentimeterdicke Rohr zur künstlichen Beregnung glänzte 35
feucht. Denise dachte an Colins gelegentliche Geschichten von seiner Zeit im Regenwald. Da ware sie gern dabeigewesen. Keine Stadt der Eichhörnchen, eher ein eigener Planet, soweit sie Colins Erzählungen und ihrem eigenen Vorstellungsvermögen glauben konnte. Ein flüchtiger Blick kontrollierte die Hygro- und Thermometerwerte, sah auf die Zeitschaltuhr und entdeckte dann auf einem der Äste einen der Ruderfrösche, Rhacophorus schlegeli, der dort lag, als ware er ein Supermodel auf einer Porsche-Motorhaube. Der andere versteckte sich wohl unterm Farnblatt oder in der aus arrangierten Steinen (,,Stonehenge für Depravierte“, hatte Patrick gesagt) bestehenden kleinen ,,Höhle“ an der rechten Außenwand. Denise dachte an Patrick und Saskia in Amerika, lachelte dabei. Die Frösche hierzulassen war schon okay - eine Verantwortung weniger, schließlich kriegte Saskia gerade ein Kind, das verlangte schon jetzt genug Aufmerksamkeit. Ich vermiß' dich, alter Bastler, schickte Denise eine telepathische Botschaft an Patrick. Sentimentale Wohligkeit breitete sich in ihr aus, als sie sich daran erinnerte, wie sie beide hier, an diesem Küchentisch, die Rück- und Seitenwände des Terrariums mit Holzleim, Latex und etwas Zement bestrichen hatten, dann Korkmehl, Wurzelstücke, Kies, Sand, Torf und Borken im Glaskasten arrangiert und am Ende das Wasser ins Becken mit den Unterwasserleuchten zwischen den Steinen eingelassen hatten. Grüne Schmiere vom Quellmoos an den Fingern. Der Kleinst-Tümpel am Grand des Behälters lag still und klar da, ein Anblick, der auf schwer zu beschreibende Weise dafür einstand, wie sich Denise fühlte: wäßrig weich, glatt und ruhig. Friedsame Spiegelfläche namens Bewußtsein. Die Entspanntheit schlug in eine von flusigen Traurigkeitsfädchen umwimmelte, wattierte Melancholie um, als Denise sich abwandte vom Glaskasten und zum Kühlschrank sah, wo mit einem Tesastreifen eine Polaroidaufnahme vom Dreh des ,,Geburtstagsvideos“ befestigt war, das die andern von Shannon ihr vor zwei Jahren auf Axels Anregung geschenkt hatten. Patrick und Axel, mit Colin ausnahmsweise rechtschaffen arbeitend am Baß, hatten ,,Denis” von Blondie gecovert. Colins Frau Jennifer hatte die Kamera bedient. Patrick, der Bastler, hatte das Werk geschnitten und ,,ge-editet“ -: ,,Glaub' ja nicht, daß das hier ein Liebesdienst ist. Ich wollte diese 36
ganze SMPTE-Scheiße einfach mal selber ausprobieren, irgendwann machen wir ja mal einen richtigen Videoclip. Research and Development, Mausi! Drei Millionen Mark hat's auch nicht gekostet, also setz' dich hin, laß es über dich ergehen, und dann reden wir nicht mehr davon.“ Die ,,Vorführung“ des Machwerks, per Video-Beamer auf einer Riesenleinwand in Colins Studio, war der Auftakt zur schönsten Geburtstagsfeier in Denises Leben gewesen. Überhaupt: aufregende Zeit damals, kurz nachdem John Peel das ,,Mausestrom“-Ding in seiner Radiosendung gespielt hatte. Die erste Mini-Tournee hatte Shannon durch sechs deutsche Stadte geführt, wo man überall bejubelt worden war. Und die Flöhe und Flausen, die Konzepte und Diskussionen, die Jams und Proben und Geräusche... Solche Sachen, solche Ereignisse, solche Ideen gab es in diesem Leben nicht mehr, seit die Band zerfallen war. Seltsamerweise war diese Wehmut jetzt von nichts so weit entfernt wie von der Vorstellung, man könnte es mit den verbliebenen drei ,,noch mal versuchen“ - Denise gestand sich ein, daß ihr das genauso unwahrscheinlich und letztlich unnütz vorkam wie ein erneutes Anbandeln mit dem Philosophen. Der hatte, wie sie selbst, genug mit seinem eigenen Kram zu tun, und obwohl sie ihm wünschte, daß das Philosophiestudium und die von Colin immer noch durch Vermittlung in der Welt der Kulturschaffenden unterstützten Bemühungen, endlich als Autor zu reüssieren, möglichst bald Früchte trugen und Axel aus seinem ,,Hängertum“ (wie Patrick das immer genannt hatte) erlösen konnten, wollte sie doch nicht unbedingt ,,dabeisein“, wenn ,,es klappte“. Sie merkte, daß sie, wenn sie noch länger auf diesem Stuhl saß und auf die vor ihren Augen verschwimmende Fotografie auf der Kühlschranktür starrte, wahrscheinlich im Sitzen einschlafen würde. So beugte sie sich vor zum blauen Stuhl, nahm mit Daumen und Zeigefinger der Rechten die Jeansjacke beim Kragen, stemmte sich mit muskelkaterkrampfigen Beinen in die Höhe, warf sich die Jacke über die Schulter und stand einen Augenblick unschlüssig da. Badezimmer, Zähneputzen? Direkt ins Bett? Irgendwas hatte sie vergessen. ,,Morgen, Denise! Oh, Brötchen, super. Dankeschön“, mummelte, in einem wie von eigener vorzeitiger Gewecktheit gesträubten Morgenmantel eingemummt, Michaela, und schlurfte mit strähnigem, 37
haselnußbraunem Haar und teigigem Gesicht, die Hände schon nach den Brötchentüten ausgestreckt, an Denise vorbei in die Küche. ,,Morgen, Krankenschwester“, antwortete Denise, nAber sag' mal, was willst du denn schon so früh? Hast du nicht Spätschicht?“ ,,Hmmjoo, schon“, grummelte Michaela, ,,Aber ich hab' heut nacht eh nicht so besonders geschlafen, und gebe jetzt einfach auf. Keine REM-Phase mehr für mich, heute.“ Sie setzte sich auf den eben von Denise freigegebenen Stuhl und nahm ihr Frühstück aus den Tüten. ,,Erst das doofe Gewitter, und dann dieser Depp, der so früh angerufen hat... als das Telefon geklingelt hat, war ich grad am Einschlafen. Ich hab' auf den Wecker geguckt, da war's halbfünf.“ ,,Was für'n Depp war das denn?“ wollte Denise wissen, nachdem Michaela sie dergestalt daran erinnert hatte, was sie noch hatte tun wollen: den AB abhören. Keine Ahnung, aber war wohl für dich, soviel ich gehört hab'. Check's doch einfach.“ ,,Alles klar.“ Denise ging wieder auf den Flur, und schaltete das Gerät auf ,,Wiedergabe“: ,,Hallo, Denise. Hier ist Colin. Ich nehme an, du hockst auf dem Berg. Wenn du heimkommst, schlaf ich hoffentlich, also brauchst du nicht zurückrufen, aber wenn du heute gegen abend mal bei Jenny und mir im Büro vorbeigucken könntest, wär' das nett. Ciao.“ ,,Im Büro“ - er meinte das Label - samt Plattenversandbüro, dessen Verwaltungskram von ihm und Jennifer in einem kleinen Kabuff im fünften Stock eines Neubaus in der innenstadtnahen Tietzenstraße erledigt wurde. Was es wohl zu besprechen gab, daß er's nicht bei sich draußen tun wollte? Andererseits, vielleicht war das ja auch ein freundliches Entgegenkommen; mußte sie schon nicht so weit radeln. Denise beschloß, nicht weiter drüber nachzudenken, ja, noch nicht mal zu entscheiden, ob sie überhaupt Lust hatte, der Einladung zu folgen, oder nach gründlichem Ausschlafen nicht eher bei Colin zuhause oder im Büro anrufen würde, um erst mal rauszufinden, worum es überhaupt ging. Start dessen löschte sie mit einem Tastendruck die Nachricht und ging auf ihr Zimmer. Denise wollte die Jeansjacke gerade auf den Boden neben dem Bett fallen lassen, als ihre Finger eher zufallig beim Betasten der Jacke die Brusttaschenausbuchtung spürten. 38
Ach ja: das Tablettenröhrchen. Sie öffnete den Verschluß und holte das Röhrchen hervor, las den Aufdruck: ,,ASS+C ratiopharm, gegen Schmerzen, 10 Brausetabletten“, drehte das Röhrchen, las, geistesabwesend und nun doch sehr erschöpft, fast die ganze Aufschrift, inklusive ,,verwendbar bis: siehe Boden“, hielt den kleinen Plastikbehälter dann ans Ohr, um ihn zu schütteln: ob es wohl raschelte wie bei Reiskörnern? Aber es gab überhaupt kein Geräusch. Als sie den Verschluß öffnete, sah sie, weshalb: es waren keine Würmer drin. Statt dessen wies der Boden des Zylinders, derselbe Boden, auf dem außen ein Computeraufdruck das Verfallsdatum anzeigte, ein kleines, kaum stecknadelkopfgroßes Loch auf. Ungläubig lachte Denise kurz auf, besah alles genau, tatsächlich: gegen's Fenster gehalten schien Licht durch das Loch. Dann warf sie das Röhrchen auf den Schreibtisch, um es später genauer zu untersuchen, tastete die Jeansjacke ab, die Tasche, überlegte, ob sie rausgehen sollte, in die Küche, und Michaela diese unglaubliche Geschichte erzählen. Andererseits: wenn COLIN das hörte... Sie sank also auf ihr Bett, lag da ein paar Sekunden, angekleidet minus Jacke, auf dem Rücken, breitete die Arme aus, sah einmal kurz blinzelnd zur kalkweiß gestrichenen Decke und schloß die Augen. (iota) Die lange blauschwarze GI-Firmenlimousine rollte schnurrend und vollklimatisiert durch die Nacht. Gelegentlich hielt sie an Raststätten; vielleicht ein bißchen häufiger, als statistisch zu erwarten war. Der Abfahrtsort hieß Stuttgart, das Ziel Borbruck. Im hinteren Wagenteil saßen einander auf bequemen Polstersesseln gegenüber Harald Otte, vertieft in Texte, zu denen ihm Colin Kreuzers e-mail den Weg gewiesen hat, und Lucia Maltoni, eine 26-jährige deutsch-italienische Molekularbiologin, die ihm von der Firma als Assistentin ,,für die Dauer der Erledigung der Recherche“ zur Seite gestellt worden war, und zum ca. siebten mal besagte e-mail durchlas. Otte, der seit Antritt der Reise zweieinhalb Einliterflaschen stilles Wasser ausgetrunken hatte und dessen Blasendruck der Hauptgrund für die häufigen Raststättenabfahrten war, konnte man die Erleichterung durchaus 39
ansehen, daß nach all den Populationsstatistiken, Berichten von explodierenden Walen an Stränden, merkwürdigen Vorfällen bei petrochemischen Fabriken (Lichterscheinungen, gehäufte Unfälle) weltweit, Mutationen bei malayischen Arowana-Fischen, RegenwaldRodungs-Reports und anderem Unsinn endlich der sozusagen fleischige Teil seines obskuren, von Kreuzer zusammengestellten Curriculums an der Reihe war: ein wissenschaftlicher Artikel von einem Stuart A. Kauffmann, in der dieser ein paar gewagte, aber vorerst (Otte hatte inzwischen Seite 9 des 30-seitigen Textes erreicht) durchaus nachvollziehbare Behauptungen vertrat. Das zentrale Argument bezog sich darauf, daß die Biologie sich nach Kauffmans Ansicht bislang zu sicher gewesen sei, eine Prophezeiung des Physikers und Teilzeit-Biologen Erwin Schrödinger habe sich in der modernen Genetik bestätigt, derzufolge im Herzen des biotischen Prozesses ,,große, aperiodische Moleküle“ zu finden seien, ,,die sich selbst replizieren können und einen Ordnung generierenden Mikrocode tragen“. Kauffman wandte gegen das ,,Schrödingerparadigma“ (das also ein ,,Erbinformations“-Paradigma war) offenbar ein, daß dessen ,,Ordnung entsteht aus Ordnung“-Vorstellung, die alles bisherige biologische Denken prägte, die Rolle der stabilen Bindungen in den Molekülen, die darin involvierten quantenmechanischen bzw. quantenchemischen Prozesse und den angeblich die Ontogenie regulierenden Mikrocode überschätze. Man hätte, schrieb er, damals, als die moderne Genetik geschaffen wurde, die Selbstorganisationsattribute der Materie und autokatalytische Prozesse unterschätzt. Es sei keineswegs eine Eigenschaft von ,,Leben“, daß die Information... – ,,Was bedeutet eigentlich dieser Satz mit der ,sechsten Auslöschung?’“ ,,Bitte?“ - Otte blickte von seinem Ausdruck des Kauffman-Artikels auf. Lucia Maltoni zog die Brauen zusammen: ,,Hier, in seiner mail, sagt Ihr Freund, die sechste Auslöschung stünde nicht bevor oder träte nicht ein, start dessen käme es wohl zu einer neuen Explosion wie der, äh, kambrischen. Ich bin nicht sehr fit in Evolution, was meint er genau?“ Wenn ich das SICHER wüßte, würden wir nicht hinfahren, um ihn 40
selber zu fragen, dachte Otte, bezwang sich aber, bevor er es aussprach. Start dessen sagte er mürrisch: »Die sechste Auslöschung, das... das ist so ein Schlagwort. Haben so ein paar Öko-Apostel aufgebracht, es... es bezieht sich darauf, daß im Laufe der Evolution bisher fünfmal riesige Kahlschlagerscheinungen die... Biodiversität um manchmal bis zu 65 Prozent verringert haben. Die letzte, fünfte große Auslöschung war das Dinosauriersterben. Die Ursachen sind verschieden, Meteoriten, Klimawechsel, eventuell sogenannte Polsprünge, nichts genaues weiß man nicht. Na ja, die sechste jedenfalls erleben wir nach Einschätzung dieser Leute, darunter namhafte Biologen, gegenwärtig - weil der Mensch...“ ,,So viele Arten vernichtet. Ich verstehe.“ ,,Na ja. Sehr plakativ gedacht, wie immer bei solchen Sachen.“ Maltoni rümpfte die Nase, es sah nicht unattraktiv aus, fand Otte. Sie fragte: ,,Und die kambrische Explosion?“ ,,Das war das Gegenteil einer Auslöschung. Vor fünfhundertfünfundvierzig Millionen Jahren kam es plötzlich, also, die Ursachen liegen da wirklich noch VÖLLIG im Dunkeln, jedenfalls, in einem an geologischen Maßstäben gemessen wahnsinnig raschen Zeitraum diversifizierte sich das Leben absolut rasend, innerhalb von nur fünf bis zehn Millionen Jahren tauchen plötzlich zig neue Tiere und Pflanzen auf, im Fossilienfundus, die... -“ Maltonis Handy klingelte, d.h.: es spielte dudelnd einen Melodiefetzen, den Otte überrascht als das Gitarrenriff von ,,Smoke on the Water“ erkannte. Er machte eine entnervte Geste, die ihr bedeutete, sie solle rangehen. Maltoni tat's: ,,Ja?.... Oh, sure. No, it's.... yes, we wanted to know as soon as possible. No... no internal clearance for... yes. Yes, thank you. So, what's the... oh, really?....That's.... that's quite a.... yes. Yes, thank you very much. You should probably mail this to... yes, alright. Thank you. I think it would be best if you kept this information confidential.... yes. Goodbye.“ Sie drückte die Taste, die das Gespräch beendete, und sah Otte mit einem Ausdruck so vollendeter Verblüffung an, daß dieser nicht umhinkonnte, zu denken: offenbar hat am anderen Ende der Leitung gerade jemand etwas weitaus Erstaunlicheres als die endgültige Erklärung für die kambrische Explosion verkündet. ,,Und?“ ,,Ihr Freund Kreuzer. Der Chef hat den Einfall gehabt, Kreuzers finanzielle Verhältnisse überprüfen zu lassen, auf den üblichen 41
offiziellen und halboffiziellen Wegen, auf denen man Leute wegen ihrer Bonität...“ Otte winkte ab: ,,Und? Wie sieht's aus, hat er 'n paar Mark auf der Naht?“ ,,Sie werden es nicht glauben.“ (kappa) Wie Axel sich überhaupt nach Hause geschleppt hatte, war ihm später nicht mehr erinnerlich. Irgendwie schaffte er den gemangelten Körper und den noch zermürbteren Geist gegen 10 Uhr zurück zum Haus in der Holderlinstraße. Schloß dort den Briefkasten auf: die Telefonrechnung, eine Postkarte von seiner Schwester und Patrick, aus Florida, Cape Kennedy, Motiv: eine Space Shuttle. Außerdem zwei Zeitschriften und eine orangerote Benachrichtigungskarte der Post, wonach auf dem Postamt ein Päckchen für ihn bereitlag, dessen Zustellung in seiner Abwesenheit versucht worden war. Postamt, von wegen: das gab es in seinem Viertel nicht mehr, start dessen eine Filiale der Schreibwarenund Kopierladenkette ,,McPaper“, die gleichzeitig als Postamt fungierte. ,,Heute jedoch nicht vor 14 Uhr“. Nein, bitte nicht. Heute gar nicht mehr. Unter Aufbietung letzter Kra'fte gelang es ihm, die Stufen in sein Zimmer nicht hinunterzufallen. Dort blickte er ganz verzweifelt auf seinen Schreibtisch, sah die Bücher am Boden, die Zeitungen, den Prospekt der Ausstellung ,,Körperwelten“, den er für eine Fußnote seines Todesmetaphysik-Projekts hatte ausschlachten wollen. Ausschlachten. Ihm war schlecht, er kroch ins Bad, erbrach sich in die Toilette. Als er wieder in seinem Wohn- und Schlafzimmer war, fiel er, vollständig bekleidet, aufs niedrige Bett. Versank in schwappende, ebbende, dann flutende Bewußtlosigkeit. Traumschau der Schwere: da war ein Zerren an kontraktilen Organen, eine Gespanntheit, Tonus, Fasern drohten zu reißen, etwas knirschte und knarrte, der Gedanke an Ketten und Stricke, an Seile und Fäden schnitt durch das Bewußtsein. und dann schwappte etwas Flüssiges über sein Gesicht, wie eine Zunge, die ihn ableckte, und er war naß, 42
und wußte nicht, ob es Speichel war oder Blut. Traum von Denise und ihm, im Auto, die Heimfahrt, seine Hand unter ihrem T-Shirt, seine Schuld. Das Lenkrad. Die Straße, der Graben. Glasscherben. Fenster, Blut in ihrem Auge, sehr viel Blut, in ihrem Mund. Insistentes Türklingeln ließ ihn hochschrecken. Sehr lahm kam er ächzend auf die Beine, ging zur Tür - und war sehr überrascht, als eine junge Frau mit dunklen Augen vor ihm stand. Angela. Angelika? ,,Hallo“, sagte sie schlicht und schlüpfte an ihm vorbei ins Zimmer, ohne daß er sie dazu aufgefordert hätte. Sie trug ihre Lederjacke, die schwarzen Jeans, ein Sweatshirt mit einem Schmetterlings-Aufdruck in psychedelischen Farben. Ihr schwarzes Haar war hinterm Kopf zum sehr kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ohne um Erlaubnis zu fragen, setzte sie sich an Axels Schreibtisch. Axel schloß verdutzt und zögerlich die Tür. ,,Ich wollte mal schauen, wie's dir geht. Du bist ziemlich lang da drin geblieben, heute morgen. Haben sie dich verhört?“ Er war sich nicht sicher - die Deckenlampe war nicht eingeschaltet, nur sein Schreibtischlämpchen spendete etwas Helle-, aber es schien, als deute sich um ihre Mundwinkel so etwas wie ein Lächeln an. Sehr sexy, dachte er, obwohl ihm schon wieder übel war. ,,Sie haben mich ein paar Sachen gefragt. Ich weiß aber nix.“ ,,Tja. Was ist da bloß passiert?“ Axel sagte so bestimmt wie möglich: ,,Nimm's mir nicht übel, aber wie kommst du eigentlich dazu, mich hier... woher kennst du meine Adresse, Ange.. Angeli...“ »Angelika ist schon richtig.“ Ich weiß wirklich nicht... wie spät ist es überhaupt?“ ,,Halbacht abends. Du siehst verhungert aus. Ich wette, du hast den ganzen Tag verpennt. Wollen wir was essen gehen?“ (lambda) In der Tietzenstraße angekommen, drückte Denise im irritierenden Gefühl, ein klein wenig ferngesteuert zu sein, den Klingelknopf neben dem Messingschildchen, auf dem ,,Enantiomer Records: Produktionen & Vertrieb“ eingraviert war, umrahmt von kleinen 43
Designmarkierungen, die in piktischer sogenannter „Ogham“ bzw. ,,Ogam“-Schrift unbekannte Wörter notierten. Für unbekannte Sounds, dachte Denise entrückt. Sie hatte, entsprechend ihrem losen Vorsatz vom Vormittag, tatsächlich erst einmal versucht, Colin Kreuzer telefonisch zu erreichen, war dabei aber erfolglos geblieben. Zuhause, im Wohnhauscum-Studio, meldete sich nur der Anrufbeantworter. Bei Enantiomer Records dagegen war eine halbe Stunde lang die Leitung besetzt gewesen. Wahrend Denises Kontaktversuchen hatte Paul in der Küche Spaghetti gekocht. Als sie schließlich entnervt aufgab, hatte sie Hunger und ließ sich nur zu gern einladen. So gestärkt, stürzte sie in reichlicher Hast die Treppe runter und fuhr mit dem Rad, ganz wie Colin gewünscht hatte, zum Label. Das Erlebnis mit den Würmern und dem Tablettenröhrchen (das sie, sozusagen aus Kontaminationsschutzgründen, zuhause in einer Botanisiertrommel verschlossen hatte) kam ihr inzwischen höchst mitteilenswert vor. Sie wußte, daß Colin dafür ein Ohr haben würde. Nach fünf Sekunden schließlich reichlich frenetischer Bimmelei meldete sich aus der Gegensprechanlage Colin Kreuzers Frau Jennifer: ,,Ja?“ ,,Denise. Ich wollte... Colin wollte mich sehen. Isser da?“ ,,Kommt gleich. Komm du doch schonmal hoch.“ Der Türoffner summte. Denise trat ein. Im Aufzug, über der ,,Menüleiste“ (ich bin wirklich computerverblödet, schalt sich Denise, ich weiß gar nicht mehr, wie das Ding mit den Stockwerklämpchen WIRKLICH heißt), hatte jemand den Label-Werbe-Aufkleber hingepappt, Symboläquivalent quasiunendlicher Kanalkapazität: (P/N) log e in Schwarz, auf hellblauem Grand und unterlegtem dunkelblauem Shannon-Logo. Daneben wieder die pitkischen Ogham-Marker. Denise dachte: von wegen unendlich. Uns ist die Puste ausgegangen, und das war's. Im fünften Stock trat sie aus dem Aufzug und wurde von Jennifer reingewunken: ,,Ich hab' grad noch unsern neuen Internet-Typen da. Setz' dich doch in Colins Zimmer!“ „Alles klar“, nickte Denise und verdrückte sich hinter Colins 44
Arbeitstisch. Nebenan lag ein junger Mann, offenbar einer der Informatiker von der Uni, die ehrenamtlich für Colin multimediale Möglichkeiten der Label-Expansion ausschöpften, Jennifer mit einem volltönenden Monolog über ,,Soundbeispiele“, ,,ICMP“, ..Ethernet“, nOptionen“, ,,Padding“ und so weiter in den Ohren. Denise wäre als zeitweise NetManagerin diverser Bio-Arbeitsgruppen durchaus in der Lage gewesen, zur Diskussion Sinnvolles beizutragen, hatte aber die Erfahrung gemacht, daß ,,Nur-Informatiker“ schnell das Interesse an funktionalen Problemlösungsstrategien verloren, um sich statt dessen im Fortgang der jeweiligen Unterhaltung zusehends in Schlaufen der Selbstdarstellung bzw., zur Rede gestellt, Selbstrechtfertigung zu verheddern. Auf der Suche nach Interessantem im Kram auf dem Tisch, zwischen Büchern, Musikzeitschriften, Münzen, CD-ROMs, CDs, Tapes und einem Glas Wasser, auf dessen Grund ein HeavyMetal-Totenkopf-Fingerring lag (der Teufel mochte wissen, was das zu bedeuten hatte) fand sie ein kleines gebundenes Buch über den Komponisten Philip Glass und seine Oper ,,Orphée“. Großzügiges Layout und dröges Geseier verbreiteten beim Durchblättern genau die Art gepflegter Ödnis, nach der es Denise verlangt hatte. Zufrieden, zumindest ausreichend abgelenkt, vertiefte sie sich in die verblasene Lektüre, als die Tür, die sie angelehnt hatte, um nicht zuviel von dem Geschwätz im Nebenzimmer mitkriegen zu müssen, sich öffnete und Colin bei sich selbst anklopfte: ,,Na? Denise? Alles klar bei dir?“ Sein langes, graues, fast weißes Haar war hinterm Kopf mit einem Lederband zusammengebunden. Es sah tatsächlich, ganz entsprechend seiner ewigen Selbststilisierung, etwas hippiehaft aus, aber nicht uncool, fand Denise. Der Bio-Hippie, richtig. Colin schlog die Tür hinter sich. ,,Kommt drauf an“, erwiderte sie vorsichtig. „Weshalb bin ich denn hier?“ Colin lachte und hielt ihr, während er sich ihr gegenüber auf einen der zwei verchromten „Besucherstuhle“ niederließ, eine Büchse Cola hin; eine zweite öffnete er selbst, als sie das Ding annahm. ,,Zurückgrüßen ist dir neuerdings auch schon zu redundant, was?“ „Würde ich so nicht sagen. Nix gegen Redundanz. Braucht man ja, damit Komplexität entsteht. Hat mir mein Producer mal beigebracht. 45
Exwissenschaftler. Ein bißchen schlaff, der Typ, aber nett.“ ,,Hmhm“, machte Colin, sehr einverstanden. „Gut Also. Warum bist du hier? Weil ich dir was erzählen will.“ ,,Worum geht's?“ „Es geht... um mein Verschwinden.“ ,,Siehst noch ganz anwesend aus.“ ,,Noch. Eben.“ Er beugte sich nach vorn, und das breite, gewinnende Lächeln, das Denise immer daran denken ließ, daß an diesem Mann bei aller Hippie-Gelassenheit ein guter Schauspieler, und obendrein ein erfolgreich-charismatischer Geschäftsmann verlorengegangen war, verschwand aus seinem Gesicht. „Ich hab' dich sehr gern, Denise.“ Sie grinste: ,,Ach? Ist ja geil. Zu dir oder zu mir?“ Er lachte: ,,He. Ich könnte deine Oma sein, Denise. Also: ich mag dich wirklich sehr. Nicht im Sinne von sexueller Belästigung unter Showbusinessbedingungen, das weißt du. Man kann die Vaterrolle auch übertreiben.“ „Deine Frau ist nur fünf Jahre alter als ich, Oma“, scherzte sie unsicher. Der Ton gefiel ihr ganz und gar nicht. Wenn Colins Miene und seine gebetsartig gefalteten Hände Indikatoren dafür waren, wo das Gesprach hinsollte, dann war sie sich gar nicht sicher, ob sie dahin mitkommen wollte. ,,Stimmt. Ist sie. Es geht aber darum, daß ich bald... weg.. muß, und meine Familie mitnehmen werde. Und, na ja... irgendwie bist du halt auch Familie.“ ,,Hat das... hat das was mit dem Ärger zu tun, den du in Hamburg hattest?“ Colin lachte, diesmal eher sarkastisch: ,,Nee, echt. Also: wirklich nicht. Du weißt nicht besonders viel über mich, und das ist gut so. Die Sache in Hamburg war, tja, harmlos. Leuten, die viel über das wissen, worum es geht, würde ich im Moment keine Lebensversicherung verkaufen. Diesmal ist es nicht mit einem kleinen Umzug in 'ne andere Stadt getan. Es geht sehr viel weiter weg, und es können nicht viele Leute mitkommen. Deshalb bist du hier. Ich hätte dich gerne dabei. Ich möchte nicht, daß du in dieser Gegend bist, wenn es losgeht. Und Axel, wenn's geht, auch.“ Denise kippte einen Schluck eisgekühlte 46
Cola hastig und in der vergeblichen Hoffnung runter, daß der Kälteund Kohlensäureschock ihren Kopf ein bißchen würde klarschrecken können. Dann sagte sie in einer Mischung aus Patzig- und Verlegenheit: Ich habe wirklich nicht den KLEINSTEN Schimmer, wovon du redest. Es klingt wie die Arche Noah in der Neufassung von Doktor Mabuse.“ ,,Ich weiß. ist mir klar.“ Colin zuckte mit den Schultern, Denise verstand, daß ein Seufzen mitgemeint war. ,,Mein Verhältnis zu Axel ist nicht mehr so toll, seit er sich in seinem Keller einigelt. Hölderlinstraße... Keller statt Turm. Er denkt, ich könne ihm helfen, sein Leben... na ja, oder seine Arbeit... in den Griff zu kriegen. Ich tu mein bestes, rede mit den Leuten, schick seine Manuskripte durch die Gegend. Sein Abgang damals in Frankfurt hat ihm ziemlichen Ärger gemacht, sein Ruf ist noch schlechter als meiner, bei manchen Leuten.“ Denise winkte ab, wußte Bescheid: als Axel seinen Verlagsjob geschmissen hatte, diese Pendler-Geschichte Borbruck/Frankfurt, die für seinen Lebensmut und ihrer beider Beziehung pures Gift gewesen war, hatte Denise Hoffnung verspürt, er würde sich fangen. Dann kam der Unfall, Axels Selbstbezichtigungsorgien, die Auflösung der Band... ,,Er vermittelt mir den Eindruck, ich wäre sein einziger Freund, neben der alten Kauling. Er ruft mich nachts an: ,Colin, du kennst doch diese Leute in München, die diesen Verlag haben. Meinst du nicht, daß man da...?', und so weiter. Dann wieder wochenlang Funkstille. Dann wieder Postkarten - wohnt in derselben Stadt, schreibt mir aber Postkarten. Besucht mich dafür nicht mehr draußen, als ware ich wirklich schon woanders. Ich... ich habe soviel mit dieser Sache zu tun, mit der Vorbereitung... Ich dachte einfach, es ware besser, wenn DU ihm mein Angebot, mitzukommen...“ Denise dämmerte etwas, leicht empört sagte sie: ,,Sag mal, denkst du, du könntest uns wieder zusammenbringen oder so nen Quatsch?“ Colin lachelte schwach: ,,Das wäre mein kleinstes Problem. Es wird sich allerdings vielleicht nicht vermeiden lassen, wenn ihr mitkommt, daß ihr euch... was weiß ich. So sehr viele andere Leute werden nicht dort sein, wo wir hingehen.“ Tut mir leid, aber jetzt mußt du doch ein bißchen konkreter -“ Die Tür ging auf. Jennifer steckte den Kopf rein: ,,So, der ist weg.“ Colin stand 47
vom Stuhl auf, trat zu Jennifer, küßte sie, öffnete die Tur, umarmte seine Frau, zog sie sanft rein. „Jenny... Denise möchte, daß ich ein bißchen konkreter werde, bevor sie ja oder nein sagt.“ Auf Jennifers Stirn entstand eine Falte: ,,Du meinst, du hast ihr gesagt, sie soll mitkommen, aber nicht, weshalb du überhaupt wegwillst?“ Denise war verwirrt. Colin Kreuzer schüttelte den Kopf und sagte: ,,Ja, schon klar. Komm halt mit zu uns nachhause und schau dir an, was ich gesammelt habe. Dann wirst du schon verstehen, wovor wir weglaufen wollen.“ Zu dir oder zu mir? Zu dir, dachte Denise. (my) SPEX: OK, also, jetzt weiß ich, was es auf sich hat mit Claude Shannon und dem, wofür er steht - hat aber doch nicht wirklich viel mit Eurer Musik zu tun, oder? Die müßte ja dann elektronisch sein? Computermusik? Höchstens in dem Sinne, in dem Gilles Deleuze etwas mit seiner, wie sagt man, Nutzanwendung bei Mille Plateaux zu tun hat... COLIN: Also erstens: narürlich IST unsere Musik elektronische Musik. Du willst mir ja wohl nicht erzählen, daß in diesen Zeiten, das heißt Post-MIDI, in einem Studio wie diesem, mit solchen Klangbibliotheken, aufwendigen Programmen, Harddisc-Recording und der ganzen Scheiße, jemand halbwegs Gescheites noch Musik machen kann, die nicht elektronisch ist? Von Stockhausens Helikopter-Quartetten bis zu norwegischem Black Metal: alles elektronische Musik. Selbstverständlich. Shannons Proprium, aber pur. Bei aller aktuellen Musik geht es schon seit der Zeit, als Shannon an seinen bahnbrechenden Sachen zu Kommunikationstheorie, Kryptographie, Information gearbeitet hat, andauernd um die Probleme, die ihn beschäftigt haben: Detektion von Impulsen, Probleme des Coding, Schichtung - wenn ich lese, wie er Definitionen gibt, aus denen man dann Mengen von Informationselementen mit all ihren Summen und Produkten als metrische Lattices, zu deutsch also Gitter, behandeln kann, dann denke ich an das Mehrspurstudio und wie durch die Technologie die Unterscheidung von vertikalen und 48
horizontalen musikalischen Strukturen aufgemischt wird, und das nicht, weil ich gern fernliegende Analogien benutze, sondern weil es heute wirklich eher um so was geht als um den Kontrapunkt. Und zweitens: der Mann hat schon in seiner heroischen Zeit, in den Sechzigern, Klarinette gespielt, und als die Russen seine Papers nachgedruckt haben, die waren damals ja ganz verrückt nach so was, Kybernetik und so fort, da haben sie seine Honorare in Rubeln berechnet, und wegen des Außenhandelsmonopols und der Devisenkontrolle konnte er das natürlich nur in Rußland und für russische Produkte ausgeben, da ist er hingefahren und hat sich Musikinstrumente gekauft. In Rußland. Ein alter Jazzer, wie wir alle. DENISE: Was du alles weißt. Aber er hat recht: hör' dir mal ,,Unsichtbar“ an, auch und gerade Axels Text, wie der mit Redundanzen spielt, wahrend der Refrain gar keiner ist, sondern.... PATRICK: Nach jeder Strophe anders klingt. Oder das dritte Stück, ,,Obwohl der Stein beschrieben ist“, da werden die Höhen genau in dem Moment rausgefahren, wo die Emphase im Gesang – DENISE: Dankeschön. Sehr nett. (Lachen) PATRICK: - praktisch danach verlangt, daß es richtig loskreischt. Das ist wie ,,Sweet Child in Time“ in andersrum. SPEX: Ich will ja nicht mosern oder das Konzept in Frage stellen, aber mal ehrlich: seid ihr denn wirklich alle über diesen ganzen wissenschaftlichen Hintergrund, diese Spekulationen von Colin im Bilde? PATRICK: Denise schon, die ist ja selber Computerbiologin... DENISE: Bio-Informatikerin. So wie Colin einer war, der hat's allerdings mit ERFUNDEN. COLIN: Naja, erfunden, also - schon bei Shannon gibt es das, ,,An Algebra for theoretical Genes“, Populationsgenetik und weißgott. Was heute passiert, da bin ich selber nicht mehr so fit. Diese beiden Amerikaner, die letztes Jahr den Chemienobelpreis gekriegt haben, Walter Kohn und John A. Pople, haben sich zwar netterweise auf das berufen, was Otte, Schuster, Yagai und ich in den Siebzigern gemacht haben, aber wenn da heute diese Dichteund Wellengleichungsmethoden in Computern das Myoglobin in Muskeln modellieren helfen, da stehe ich auch ratlos davor. Ist aber nicht der Punkt. DENISE: Der Punkt ist: wenn man Musik als Information behandelt, 49
dann besetzt man die schöne alte Position wieder, die von Hegel bis Adorno Kunst generell als eine, wie heißt das bei Adorno, Erscheinungsform der... AXEL AMARELL: Erscheinungsform der Wahrheit. DENISE: Der Wahrheit, genau, sehen wollte, nicht einfach, was weiß ich... PATRICK: Schöner Schein oder so. Da sind wir uns einig, das wollen wir nicht. Wir sind Erwachsene, wir haben auch politisch was vor mit der Musik. Denise war schon immer politisch engagiert, erst bei den Jusos, zwei Jahre lang, ist dann ausgetreten wegen Schröder/Fischers Krieg. Na ja, und politisch sagen wir eben... DENISE: Mit Texten, zum Beispiel... SPEX: ,,Das, was die Weltbank abdecken will, vielen Dank“ - solche Zeilen? PATRICK: Ja, aber nicht bloß als Flugblatt. DENISE: Was das Prätentiöse angeht, was bei dir vorhin anklang, so als Verdacht... es geht da erst mal darum, daß wir halt Intellektuelle sind, daß das die realistische Beschreibung unserer Position ist... SPEX: In der Musikszene? DENISE: Im Produktionsprozess. Das beschreibt die Privilegien, die man hat. Und wenn man das sagt, denke ich, wenn man sagt: wir sind Philosophiestudenten oder Bioinformatiker... PATRICK: Oder Anglistikstudenten... DENISE: 'tschuldigung, Patrick. Anglistikstudenten, ganz besonders. Also, wenn man das sagt, dann ist das im dummen Fall ein, wie sagt man, ein sogenanntes ,,Bekenntnis“ und also gerade bei denen mit der Leichenbittermiene ,,Oh ich verdammter Intellektueller“ eine Selbstbeweihräucherung, im Falle der Verherrlichung sowieso, aber im GÜNSTIGEN Fall kommt dabei die dem Intellektuellen angemessenste Form von Politik raus, eben die Politik des Intellekts, die von dem ewigen Chor der strategisch anti-intellektuellen Intellektuellen, von Montaigne bis, ich weiß nicht, Botho Strauß von mir aus, ausdauernd zugunsten einer schon blöd bescheidenen Kontemplation sabotiert wird. In unserem Fall ist das halt das Bindeglied zwischen allem, was man operativ dann... SPEX: Bindeglied zwischen was zum Beispiel? DENISE: Zwischen Musik und Informatik zum Beispiel, um das noch mal zu bringen. Eine der reaktionärsten Figuren dieser ganzen ,,New 50
Economy“-Scheiße ist ja dieser Nicholas Negroponte, der „weltgrößte Experte in Multimedia“, Chef vom Media Lab des MIT und Mitgründer von WIRED. Ein Content Provider für den verwertenden Wert der neuen Ökonomie. COLIN: Gebrauchswertillusionist. DENISE: Ja. So. Und der hat da diese Bibel für Wireheads geschrieben, ,,Being Digital“, 1995 erschienen, auf dem Höhepunkt der Begeisterung für den ganzen Quatsch, vor der ersten Dot-comErnüchterung. Und darin gibt es also auch ein Kapitel über Musik,und da sagt er, man könne sie auf drei Arten betrachten: vom SignalProcessing-Standpunkt aus, also Sound Separation etc., all die technischen Probleme, dann zweitens als Frage der musikalischen Kognition, also wie das Hirn Musik decodiert, und drittens als künstlerischen ,,Ausdruck“. Und da kommt Kunst als ERKENNTNIS gar nicht mehr vor, nur noch als Problem und/oder Luxus, deshalb ist das anti-intellektuell, OBWOHL es als StummelPositivismus so wissenschaftlich tut. Und darauf intellektuell reagieren heißt eben, daß man zwar den Punkt ,,Ausdruck“ entschlossen negiert, die ganze Ideologie, die daran hängt, zugunsten eines materialistischeren Kommunikationsbegriffs – COLIN: Wie man ihn eben bei Claude Shannon...DENISE: ...aber die anderen beiden, die wissenschaftlichen, den des Signal-Processing und den der Kognition, die dem dritten, reaktionären den Anstrich von Fortschrittlichkeit und Aufgeklärtheit geben, nicht den Negropontes dieser Welt überläßt. Das heißt: als Intellektuelle mitziehen. Auf dem Niveau des fortgeschrittensten Denkens, das die Verhältnisse selber ausdünsten, gegen diese Verhältnisse denken. Nicht mit linken Gebetsmühlen. COLIN: Na ja, andererseits will niemand behaupten, daß nun Shannon der Weisheit letzter Schluß wäre. SPEX: Meinst du jetzt die Band oder den Gelehrten? COLIN: Beide. PATRICK: Die Band aber eher nicht. Die ist schon der Weisheit letzter Schluß. Vorerst. COLIN: Ich meine halt, der Mann, Claude Elwood Shannon, ist der AUSGANGSpunkt für Leute, die Absichten verfolgen, wie Denise sie beschrieben hat. AXEL: EIN Ausgangspunkt. Dazu kommen noch Adorno, die Linke 51
der 80er, die neuen sozialen Bewegungen, die RAF, Konzeptkunst, Wissenschaftskritik... COLIN: Oh, sorry, ich bin alt, ich denke immer, DIESE Sachen verstehen sich eh von selber. SPEX: Mit meiner nächsten Frage rechnet ihr wahrscheinlich, ich muß sie aber trotzdem stellen, in Zeiten von Techno, The Matrix, Kodwo Eshun und so weiter: ist das Ganze, was ihr da macht, nicht eher eine Art Science Fiction-Aufführung von Kunst, Rock und Theorie, anstatt ,,echte“ Kunst, Rock und Theorie? COLIN: Es gibt tatsächlich eine Verbindung zur Science Fiction. Aber nicht als Schablone für das, was wir machen, sondern als eine uns sympathische, ich weiß nicht... AXEL: Schwesternkunst. Eine Verwandte. COLIN: Genau. Wie große, theatralische Rockmusik. Beides Einflüsse, die man beleihen kann, aber nicht Blaupausen. Als ich mit meinen Eltern von England hierherkam, meinem deutschen Diplomatenvater und meiner schottischen Mutter, war ich der größte Hawkwind-Fan der Welt, als kleiner Teenie Anfang der Siebziger, und deshalb war mein Lieblingsschriftsteller Michael Moorcock, der ja mit Hawkwind aufgetreten ist, für sie Texte geschrieben hat und so - auch ,,Stormbringer“ von Deep Purple ist nach einem Buch von ihm benannt. Wir sind nach Hamburg gezogen, wo mein Vater ja auch ursprünglich herkam. Da hab' ich dann anfangen müssen, deutsche Bücher zu lesen, um deutsch zu lernen. Da war ich froh, daß es hier auch Moorcocks Bücher gab. Also: ich persönlich bin schon stark von diesem Zeug gepragt - wie Claude Shannon übrigens, der zitiert auch den SF-Schrifsteller Robert Silverberg und so. SPEX: Warum bist du eigentlich von Hamburg weg, vor zwei Jahren? Du hast ja auch dort, was man hört, eher zurückgezogen gelebt, mit deiner Frau und den Kindern. COLIN: Ich hatte Ärger mit Leuten da. Private Sachen. SPEX: Ich habe gehört, es wäre eher um politische Geschichten gegangen, Ärger mit Linken, weil du Teil einer musikalischen Subkultur warst, die halt auch irgendwie als links galt, und dann gab es da irgendeine Diskussion über ein neues Zeitschriftenprojekt, wo man dich eingeladen hatte. Da hast du dir einen Haufen Feinde gemacht, wie man hort. COLIN: Arschlöcher gibt es überall. 52
SPEX: Auch in Borbruck also? COLIN: Ich wollte halt mal neue Arschlöcher kennenlernen. DENISE: Jüngere Arschlöcher. COLIN: TALENTIERTE jüngere Arschlöcher. PATRICK: So kam es zu Shannon. AXEL: Amen. [Titelgeschichte über Shannon: ,,Von wegen einfach“, in SPEX - Das Magazin für Popkultur, Ausgabe 10/1999, von Dietmar Dath - Zweite Hälfte] Inter Lineas 2 ich seh zu, daß ich hier rauskomme, der himmel steht bereits wieder in flammen + wir standen bei den tischtennisplatten, die aus stein, drüben, wo der verkrüppelte baum steht, frei im raum steht, zu spät, aber ich entgegnete, nein mein blasser freund, nein zu spät ist es nie, es kann sein, daß ich ihretwegen gehe (jedesmal, wenn sie in meine richtung schaut, auch mit dem kaputten auge über der narbe, denke ich an mord und kannibalismus und manchmal kommen sogar die flutfantasien wieder, auf dem dach des hauses ausharren, wenn er auf dem tisch vorbeitreiben würde, oder der andere mit den sandfarbenen haaren, würde ich ihm natürlich die hand reichen und ihn raufziehen, aber wählerisch wäre ich), es kann genausogut sein, daß ich wirklich meinetwegen gehe, und, lach nicht, womöglich wegen der zukunft + ich war noch nie in landers, kannst du dir das vorstehen, und kenne doch aus diesen vier büchern jeden winkel von landers, jedenfalls jeden, den ich kennen will, die werd ich mir mal anschauen,wenn ich hinkomme, und das hat was wallfahrthaftes, ich kann nicht mal garantieren, daß ich nicht niederknien, mich vorbeugen und den dreckigen boden des großen bahnhofs küsse + look at that fucker, werden sie sagen + aber in landers ist alles anders + ich komme mir hier wirklich vor wie in ketten + gut, und was die da in ketten gelegt haben, sind nur noch klappernde knochen + denise will jetzt weg nach berlin, hab ich das schon? mal gesagt + geschrieben vielleicht + sie wollen nichts von uns, außer daß wir schnell sterben und weiter kein aufhebens machen um den großen zug + aber genau den will ich jetzt 53
besteigen, und wenn's auch RBs alter gewinnerzug ist, mir egal + gewinnen ist nicht das ziel + übrigens, dreihundert verschiedene sorten, das ist auch nicht zu verachten + wo sind die schuldigen, auf daß sie bestraft werden + die männer in den keineswegs metallenen, dennoch augenbetörend schimmernden rüstungen, errichteten sarkophagähnliche quader, welche gehäuse waren für maschinen, in denen etwas geschehen sollte, das sich allen beschreibungen entzog, etwas, das selber aber durchaus dem prozeß des beschreibens, wie er bei menschen, die viele worte machen, beobachtet werden kann, ähnelt, und was dort eingesponnen spindelt und surrt, das waren, schenkte man den ausführungen der leitenden offiziere unter den gerüsteten invasoren glauben, verben, also zeichen, die arbeiten wollten, zeichen, die rufen konnten und sich selbst geniessen und subjekten helfen, objekte anzusehen + die sprache, die diese maschinen woben, sei eine, welche, nähere sich ihnen ein menschliches auge (was selten geschehe) die eigenschaft aufzuweisen scheine, glitzernde schwärze zu + entbergen + kritik der meta der todes physik tod der physik + solcherart vermurmelt raunten die warnungen der herren, die jene maschinen installierten und nach verstreichen geraumer zeit, welche offenbar „testreihen“ gewidmet war, mit einem ausdruck unverhohlener enttäuschung wieder abbauten und bei ihrem teilrückzug mit sich nahmen + zurück blieb, zur weiteren disziplinierung der möglicherweise wieder gegen die neugezogenen grenzen der pufferzone um die stadt borbruck anrennenden vertriebenen, eine kompanie desinteressierter söIdner die sich jeden kontakts mit den vereinzelt aus gebüsch und dem unserm sumpf vorgelagerten unterholz auftauchenden und dort schnelle wieder verschwindenden besiegten enthielt, so daß letztere sich schließlich auch nicht mehr in der gemarkung zeigten, sondern sich verstärkt der kultivation der schnitte und der gestaltung neuer siedlungen dortselbst, regelrechter kleiner städte in miniatur, widmeten, auch gelegentlich abstecher in die entgegengesetzte richtung, also bis kurz vors tatsächliche Promontorium Sacrum, unternahmen, aber keine mehr zu den zelten und lagern ihrer zwingherren, die dort um maschinen saßen, so licht in schall verwandelten, gaukelspiel, das sie nannten + sonolumina + die klassische seitenaufteilung würde uns 54
abverlangen, alles, was wir zu sagen hätten, in blossen sechs bildern auszudrücken, drei links drei rechts + eine schier unlösbare aufgabe + schauen sie sich nur mal das seitenlayout bei so einer ferkelei wie der broschüre ,,Touristikinformation Borbruck“ an, dann gewinnen sie einen anschaulichen begriff davon, welche verunstaltende gewalt von dieser sklavischen fügsamkeit gegenuber der als klassisch und damit maßgeblich aufgefaßten seitenaufteilung ausgeht, und wie jedes bedenken, daß damit eine zu stark vereinfachende, eben: schematisierende darstellung nicht nur etwa städtischen lebens sondern auch der in diesem nistenden, dieses nährenden und aus diesem wieder hervorgehender geistesverfassung produziert und in zwar einleuchtender, aber eben auch gewaltsam alternative anschauungen ausblendender weise für verbindlich erklärt wird + ein akt der wahrnehmungslenkung, dem gegenuber reserviertere lektüre unbedingt angeraten scheint + nun kann eine hochglanzbroschüre, ein video, selbst eine stadtführung (ich erinnere mich an eine besonders abscheuliche in landers, wir, das heißt die lose gruppe, mit der ich in landers eingetroffen war, und die sich aus leuten aus den schnitten, welchen aus borbruck und sogar aus miemy zusammensetzte, also wir: wurden von öffentlichem platz zu öffentlichem platz gekarrt, und die gebäude die jene plätze umstanden, wurden von unserer reiseführerin ausnahmslos als ,,objekte“ erläutert, im immergleichen monoton leiernden redeschwall: ,,dieses objekt stammt aus der zeit vor der industriellen revolution und gliedert sich in...“), unter umständen auch jahrelange seßhaftigkeit am ort, sowieso nicht mit zwingender anschaulichkeit oder sinnlicher gewißheit in die tatsache einblick gewahren, daß städtisches leben auf ganz eigenartige weise (vor allem bei millionenstädten der größenordnung, wie wir sie hier untersuchen wollen) zur selbstreproduktion der noosphäre beiträgt + das studium der noosphäre kann, wenn auch erst seit etwa vier jahrzehnten, eigentlich von jedem beliebigen ort aus betrieben werden; eigenartigerweise aber gestattet es nicht den schritt vom besonderen zum allgemeinen, sondern fordert vom studierenden verstand, daß dieser zuerst einmal das GANZE phänomen wenn nicht begreift, so doch SICH VORZUSTELLEN sucht + die mikro- und nanoskopischen, die molekularen und globalen prozesse, die die noosphäre konstituieren 55
und die das zustreben der ganzen nun ja: heilsgeschichte auf den punkt omega hin faßbar machen, diachronisch erlebbar, sind eigenartigerweise nicht die konstituenten einer emergenz von noosphäre sui generis (ens realissimum, s. hegel), sondern in bisher jedem erlebtenfall selbst ebenso eigenartigerweise BEWEISBAR epiphänomene dessen, was sie doch erst hervorbingen + die noosphäre erlaubt, daß städte existieren, ohne sie kann es keine geben, das ist LOGIK+ und erst, als es städte gab, trat die noosphäre ins dasein + nach ihnen, das ist GESCHICHTE + logik und geschichte schließen einander offenbar aus + [aus dem Einleitungskapitel des ,,vorfahren“ von Axel Amarell]
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unveröffentlichten
Romans
Tigris (ny)
Simon sah gleich, daß was passiert war. Es hatte vorher keinen Anruf gegeben, der den Besuch ankündigte. Opa Haber war genauso überrascht wie er. Mama und Papa kamen um acht. Simon saß im Garten und las gerade in seinem Lobo-Comic (,,Unamerican Gladiators“, es gab ganz schön was auf die Fresse), als er das Hupen hörte, und dann hinter den Apfelbäumen den alten, schmutzigblauen Audi 100 die Auffahrt hochkriechen sah. Simon lief ins Haus, holte den Opa, der gerade dabei gewesen war, die Rösti fürs Abendessen zu braten. Zusammen gingen sie raus auf die Kiesrampe und begrüßten Simons Eltern. ,,Wo ist Mareike, wo habt ihr die Kleine?“ wollte der Opa wissen. Papa wischte das ungeduldig, wenn auch nicht unfreundlich weg: ,,Bei Freunden. Komm, Jakob, gehen wir ins Haus. Wir müssen reden.“ Ich hab' aber grad das Essen... der Junge...“ Ich kümmer' mich drum“, versicherte Mama, und legte die Hand auf Simons Schulter. Ungewohnte Geste. Spätestens, seit er zehn war, mochte er so was eigentlich nicht mehr so besonders, schon gar nicht vor Fremden oder Leuten wie dem Opa (den er ja bloß alle halbe Jahre, und das hieß für ihn: halbe Ewigkeiten, zu Gesicht bekam), aber er kriegte den Mund nicht auf, sich drüber zu beschweren. Irgendwie lag die ganze Zeit so eine Anspannung in der Luft, eine Art Ärger, die ihn daran erinnerte, wie's gewesen war, als sie damals von Hamburg weggezogen waren und seine Eltern jeden abend in ihrem Schlafzimmer... ja, was? Gestritten hatten? Eigentlich nicht. Sie hatten halt geredet, waren sich eigentlich einig, und trotzdem hatte Simon damals beim Lauschen immer das Gefühl gehabt, sie sprachen lauter miteinander,als sie eigentlich wollten. Kein gutes Zeichen; wenn es zwei Erwachsene gab, die cool waren und über den meisten Scheiß lachen konnten, den andere Eltern als mittlere Staatsaffären betrachteten, von Ärger in der Schule bis zu Ärger im Viertel mit Erwachsenen, dann waren das Mama und Papa. Mama führte ihn ganz leicht schubsend in die Küche und fragte ihn 57
ein bißchen aus, was er gemacht hatte (nicht viel: den halben Tag am Nintendo sitzen, den anderen halben Tag mit dem Opa entweder draußen rumlaufen, am Waldrand, oder dem alten Mann neue Sachen auf dem Computer zeigen, der zwar dem Opa gehörte - Papa hatte ihn ihm geschenkt). Mama erzählte vom Wetter in Borbruck und davon, daß Mareike wieder ihre Sommersproßen gekriegt hatte. Kein Wort vom Grund ihrer Anwesenheit, außer einmal ,,wenn du dann nachher mitkommst“, ein Satzfragment, das Simon verriet, daß seine Ferien in Brombach damit wohl beendet waren. Das hatte er allerdings schon halb erraten gehabt, als er den Wagen hatte heranfahren sehen. Blöde dreckige Kiste. Wenn Papa wirklich soviel Geld hatte, wie er Mama gegenüber mal angedeutet hatte - nur um es auf Simons Nachfrage dann lachend abzustreiten: ,,Nee, Bill Gates ist dein Alter wirklich nicht. Sorry, Zwerg.“ - warum kaufte er sich dann eigentlich nicht mal ein anständiges Auto? Oder ließ sein altes wenigstens mal waschen? War richtig peinlich gewesen, letztes Jahr, als Simon in dieser Karre zur Skifreizeit gefahren und damit auch wieder abgeholt wurde. Na ja: das war dann wohl der Preis für coole Eltern. Die oberflächliche Unterhaltung mit Mama hielt Simon natürlich nicht ganz davon ab, durch den Türspalt zu belauschen, was im Wohnzimmer geredet wurde. Der Junge hatte seinen Lobo-Comic und dieses Buch über ,,das Leben“ auf den Knien, das ihm Papa geschenkt hatte, und schaute sich, um Mama davon abzubringen, ihn allzu gründlich auszufragen, zum Schein immer wieder die Doppelseite mit dem DNA-Molekül an, diese Zweifachwendeltreppe, wo die beiden Strange ,,Händchen hielten“ und daneben erklärt war, daß auf solchen Dingern die ,,Erbinformation“ aller Lebewesen, von der Bakterie bis zum Menschen, gespeichert wurde. Start sich aber wirklich in die Erklärung von ,,Basen“ und wie sie in ,,Sequenzen“ zu ,,Buchstaben“ wurden, zu vertiefen, horte Simon Papa sagen: ,,Es wäre wirklich... es wäre gut, wenn du mitkommen würdest, Jakob. Nicht nur wegen Jenny, und wegen der Kinder. Ich will es, ich persönlich.“ Opa antwortete zögernd, aber offenbar entschlossen, als habe er lange über die Antwort nachgedacht, und zwar RICHTIG lange, also nicht nur, seit Mama und Papa da waren, sondern seit Monaten, vielleicht sogar Jahren: ,,Ich bin alt. Du sagst immer, du wärst alt, aber ich bin WIRKLICH alt. Ich weiß nicht, ob so eine Reise... ich glaube, da 58
sollten nur junge, wenigstens jüngere Leute mit.“ ,,Wenn du dir's bloß nicht zutraust,“ widersprach Papa, ,,dann laß mich dir versichern, daß dabei gesundheitlich...“ - in diesem Moment stellte Mama das Essen auf den Tisch, und schlog die Tür. Ihr Gesichtsausdruck verriet nicht, ob sie bemerkt hatte, daß Simon gelauscht hatte, aber jetzt war jedenfalls Schluß. Mama aß mit, und das hieß, daß man auch noch mal ein bißchen ,,gut miteinander reden“ mußte. Simon versuchte es mit einer möglichst langatmigen Nacherzählung des Lobo-Comics. Mama hörte höflich zu, war vielleicht auch selber ganz froh, daß er das Thema ausklammerte, das so ein bißchen zwischen ihnen stand: warum Simons Eltern überhaupt hier waren. Schließlich kamen Opa und Papa in die Küche. Papa nahm sich ein Bier aus Opas Kühlschrank, und Mama meinte, als Simon mit dem Essen fertig war: ,,OK, Simon, du bist ziemlich verschwitzt - du solltest Duschen und was neues anziehen, deine Sachen zusammensuchen. Und dann fahren wir heim, in Ordnung?“ Simon fand, es könne nicht schaden, wenn er jetzt endlich seiner Neugier nachgab: ,,Wieso denn? Ich hab doch noch Ferien!“ ,,Weil wir jetzt ZUSAMMEN wegfahren werden“, sagte Papa leichthin. ,,Wer, zusammen?“ wollte Simon wissen. Mama antwortete: «Na ja, Papa und ich, du, und Mareike, und...“ Sie sah zu Opa, der Blick war merkwürdig. Es war ein Blick, bei dem Mama plötzlich sehr ähnlich aussah wie Mareike, wenn sie quengelte oder nicht schlafen konnte, ,,Mareikes Bambi-Erpressung“ nannte Papa das. Opa antwortete mit einem sehr seltsamen Lächeln und sagte: ,,Deshalb solltest du dich beeilen, Junge. Es wird 'ne lange Reise.“ Papa unterstrich das mit dem ,,Beeilen“ durch eine kleine Handbewegung. Simon war froh, aus dem Raum und der komischen Anspannung, die da herrschte, entlassen worden zu sein. Er duschte im Bad im oberen Stockwerk, zog sich neue Jeans, neue Socken und das abgewetzte, aber saubere T-Shirt mit seinem Lieblings-Pokémon, Garados dem Wasserdrachen, an - er hing an dem alten Zeug, auch wenn er kaum noch Kinder kannte (in Borbruck sowieso nicht, die Freunde in Hamburg hatte er ewig nicht gesehen), die sich für Pokemons begeisterten. Dann ging er runter und sammelte 59
in ,,seinem“ Zimmer, das früher das von Mama gewesen war, seine Bücher, Actionfiguren, Nintendo-Spiele, die Star-Wars-Kappe, das Skateboard und alle anderen Sachen ein, stopfte sie so gut es ging in Koffer und Rucksack, und war gerade fertig, als Mama und Papa reinkamen: ,,Alles klar bei dir?“ fragte Papa. Der Abschied von Opa war mehr als merkwürdig. Opa Haber war im allgemeinen sehr in Ordnung. Nicht so cool wie Mama und Papa, aber auch keiner von den Erwachsenen, die Simon immer abwechselnd tätscheln und belehren wollten - deshalb war es für diesen ruhigen, zurückhaltenden (und seit Oma, an die Simon sich nur noch sehr vage erinnern konnte, vor fünf Jahren gestorben war, wohl auch sehr einsamen) Mann ziemlich ungewöhnlich, daß er Simon so lange umarmte und am Ende sagte. ,,Paß auf, ja? Auf Zombies und so weiter...“ - das mit den Zombies war ein privates Spiel zwischen ihnen beiden, seit sie im letzten Sommer auf RTL einen dämlichen italienischen Horrorfilm gesehen hatten. Simon war die Situation auf eine Art peinlich, die er noch nicht kannte. ,,Klar,“ sagte er, ,,du auch, OK?“. Auch Papa umarmte den Opa, und dann Mama, am längsten, sie flüsterte ihm sogar was ins Ohr, woraufhin er ihr auf den Rücken klopfte und auch selber was flüsterte, wahrend Papa Simon zum Auto führte. Am Ende, auf der Auffahrt, rief Papa noch aus dem Auto: »Wir können nicht anrufen. Aber ich bleibe in Verbindung. Falls du's dir doch noch anders überlegst.“ Opa winkte nur ab, lachte, rief: ,,Na nun fahrt endlich!“ Nach der ersten halben Stunde schweigsamer Fahrt legte sich Simon auf den Rücksitzen hin und tat, als würde er schlafen. Mama klang, als hätte sie geweint, als sie zu Papa sagte: ,Scheint ja ein voller Erfolg zu sein, deine Werbekampagne für die Arche.“ Papa klang defensiv, als er sagte: ,,Denise überlegt es sich noch, und dein Vater... ich glaube, er denkt, ich spinne ein bißchen.“ ,,Tust du ja auch“, sagte Mama, und Simon bekam plötzlich eine Angst, von der er wußte, daß sie ein bißchen zu erwachsen für ihn war: was, wenn alles nicht so bleiben konnte, wie es war? Auf der Welt, zwischen Papa und Mama? Er beruhigte sich erst wieder, als nach einem Schweigen, das kurz war und endlos schien, Mama etwas sagte, das mit anzuhören Simon 60
normalerweise peinlich gewesen ware, in diesem Moment aber nicht nur Mama und Papa, sondern auch ihn erlöste: ,,Ja, du spinnst. Aber ich liebe dich. Und wenn wir mit dem Boot nach Skye fahren müssen, damit wir zusammenbleiben, dann machen wir das halt.“ (xi) Harald Otte pfiff durch die Zähne. Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Es war alles vollkommen logisch, brillant, elegant - und absolut over-the-top. Otte saß auf seinem großen Doppelbett (er hatte, genau wie Maltoni, ein Doppelzimmer, i.e. eine teure Suite, im teuersten Borbrucker Hotel, dem ,,Silberkaiser“, ganz für sich allein) und studierte die Diagramme, die man ihm aus Chicago gemailt hatte. Beteiligungsgesellschaften, Aufsichtsräte, Investmentfonds, CashFlow, selbst die jährlichen Ausgaben der diversen Firmen, Mantelfirmen, Tochtergesellschaften etc. für wohltätige Zwecke, etwa Förderung von Kultur und Wissenschaft, waren hier aufgelistet. Wenn das alles stimmte, war die Aufregung von Miller, der bei Ottes und Maltonis Ankunft im Hotel beide (!) nacheinander (!) persönlich (!) angerufen hatte, vollkommen verständlich. Das Hotel, in dem die beiden Leute von GI untergebracht waren, mochte das beste am Platz sein. Aber wenn das, was Maltoni mit ihrem Mini-Drucker soeben ausgedruckt hatte, und was Otte jetzt studierte, halbwegs den Tatsachen entsprach, wäre es für Harald Ottes alten Kumpel Colin Kreuzer eine Taschengeldangelegenheit gewesen, das ganze Hotel zu KAUFEN. Ottes jüngsten Nachforschungen zufolge hatte Kreuzers letzte veröffentlichte bio-informatische Arbeit in den frühen Neunzigern davon gehandelt, daß die Verteilung fossiler Spuren ausgestorbener Lebewesen in den letzten 540 Millionen Jahren, während das multizellulare Leben den Planeten beherrschte, sogenannten ,,power laws“ zu folgen schien, in denen die Wahrscheinlichkeit p(x), einen bestimmten Wert x für eine bestimmte biologische Quantitat zu finden, die Bedingung p(x)~xexp-a erfüllte. Abseitiges Zeug: Skelette zählen, Quoten festlegen. Und 61
jetzt? Jetzt war der Skelettzähler offenbar mehrere hundert Millionen Dollar schwer. Und seine Kontakte - wie hatte es an der Uni schon geheißen: ,,Colin Kreuzer kennt jeden, aber nicht jeder kennt Colin Kreuzer“ - reichten buchstäblich überall hin, von Schering bis ins Weiße Haus, von ESSO bis an die Sorbonne. Franklin Milhouse Miller war ein kleiner Fisch gegen diesen Mann, und er wußte es, und wollte deshalb um jeden Preis von Harald Otte bei diesem Burschen ,,eingeführt“ werden. Ein Witz: Miller erhoffte sich ein Entree bei jemandem, der in so bescheidenen Lebensumständen existierte, daß man ihm nicht mal zutrauen würde, daß die Büroraume seiner kleinen Plattenfirma schon abbezahlt waren. Aber in Tat und Wahrheit war dieser ,,gescheiterte“ Wissenschaftler offenbar eine Art Superversion jener alten Weiblein, die einer urbanen Legende zufolge als Tütenpennerinnen durch New York wackelten, wahrend in den Hochhausern derselben Städte bestbezahlte Vermögensverwalter für sie die Milliarden umschichteten, wie's der Tagesmarkt verlangte. Inhalt der Plastiktülen: Aktien. Computer, Biotech, Luft- und Raumfahrt, alles, was für Kreuzer vor fünfzehn Jahren als KARRIEREoption absolut Anathema gewesen war (Wirklich? Hat er uns alle verarscht?), bildete heute ein Glied der Kreuzerschen Wertschöpfungskette. Aber das Geld war nicht um seiner selbst willen da, vermehrte sich nicht blind - es kam der nichtkommerziellen medizinischen, der Werkstoff - oder KI-Forschung in für so einen Reichtum unverhaltnismäßig hohem Ausmaß zugute. Diese Forschung hatte den Reichtum freilich miterzeugt. So floß jährlich viel Geld an die JohnsHopkins-Klinik, an die Institute of Electrical and Electronics Engineers Inc. Information Theory Society, sogar an für Ottes Geschmack völlig sinnlosen Kleinst-Forschungsprojekte wie ein ,,Center for the Simulation of Accidental Fires and Explosions at the Umversity of Utah“ (originelle Abkürzung: C-SAFE), das offenbar eine Software „for practical application to accidents involving both hydrocarbon and energetic materials“ entwickelte. Das Ganze ergab eine perverse Sorte Sinn, überlegte Otte, wenn man daran dachte, was für einen Kult Kreuzer immer um sein Idol Claude Shannon veranstaltet hatte - auch der war an der Börse reich geworden; wie er selber sagte, nicht durch irgendeine ,,Geheimformel“, sondern via Kontakte, Charisma, Ausgefuchstheit. Shannon gehörte zu den 62
Gewinnern, als die Aktien von Hewlett Packard, Teledyne, Motorola und vielen anderen während des spät-20.-Jh.-Technikbooms zuzulegen begannen, und sein einziger theoretischer Erklärungsansatz für seinen Erfolg war, wie Kreuzer selbst Harald Otte mal verraten hatte, der Spruch gewesen: „People look at the stock price, when they should be looking at the basic company and its earnings.“ Die Vorhersage stochastischer Prozesse im Auf und Ab der Börse versuchte Shannon gar nicht erst. Vielleicht, überlegte Otte jetzt, war ja gerade DAS sein, und so auch Kreuzers, Erfolgsrezept: daß er sich auf kein Erfolgsrezept verließ, weil er zu genau wußte, welche mathematischen Probleme damit verbunden waren. Ottes Finger folgte den verwickelten Beteiligungen, er kam sich vor wie ein Pirat beim Studium einer Schatzkarte - da klopfte Maltoni an die Tür: ,,Der Hubschrauber. Der Hubschrauber mit unseren Leuten aus Brüssel ist da, auf dem Borbrucker Flughafen. Wir sollten sie abholen.“ ,,Ich komme.“ (omikron) Spaß: ein Begriff, der Denise eigentlich ein bißchen zu abstrakt vorkam. Zu sehr nach Animierclub, nach Spielothekenwerbung klang. Er paßte trotzdem. Selten, auch nicht zu der Zeit, als Patrick und Axel mit Denise zusammen gewohnt hatten, war in dieser Wohnung so viel gelacht und so gutgelaunt geschimpft worden. Sie spielten ,,Vier gewinnt“, das hatte das Mädchen von zuhause mitgebracht, danach ,,Mensch ärgere dich nicht“, Mühle (dreimal, immer gewann das Mädchen, zweimal gegen Denise, einmal gegen Michaela) und schließlich Memory. Der Abend, den Denise in ihrer WG mit ihrer Mitbewohnerin und Colins Tochter Mareike verbrachte, setzte eine ganz unerwartete Zäsur, während die rasante Verunheimlichung aller alltäglichen Dinge und Umstände die Welt in Denises Augen zunehmend traumhafter erscheinen ließ. Wenn sie die glatten, kindlichen Gesichtzüge der Achtjährigen studierte, die gerade dabei war, seelenruhig alle Karten abzuräumen, die Denise und ihrem Ausdruck nach zu urteilen auch 63
Michaela sich hatten merken können, wünschte sie sich, sie wäre selber noch mal so Jung: so bereit, das Unerwartete zu glauben. Was der Vater des Mädchens ihr heute Mittag erzählt und später in seinem Haus gezeigt hatte, war ausreichend gewesen, um Denise zu veranlassen, telefonisch für heute nacht im Labor auf dem Guten Weißen Berg freizufragen. Sollte doch jemand anders den KaryotypieSaustall in den Superrechnern der Brustkrebsstudien-Mediziner ausmisten. Ihr war gerade ein ,,conceptual breakthrough“ von wahrlich angsteinflößenden Dimensionen beschert worden, den sie erst mal verdauen mußte. Aber sie hatte ihm geglaubt. Nicht leichtfertig, nicht bereitwillig. Aber am Ende doch. Das Material war überzeugend gewesen, die Berechnungen (und da kannte sie sich aus - hoffte sie zumindest) noch überzeugender,beides zusammen bestätigte einander paßgenau. Und dann die Geschichte mit den leuchtenden Würmern - sie hatte sie für sich behalten bis Colin mil seiner „ Präsentation“ fertig gewesen war, und danach war sie nicht viel mehr als ein Postskriptum gewesen. Der Erklärungsrahmen war so unabweichlich gesteckt, daß Denise darauf verzichtet hätte, sie überhaupt noch zu erwähnen wenn die Geschichte ihr nicht zugleich den bequemsten Weg offeriert harte, Colin deutlich zu machen, DASS sie ihm glaubte. Also waren Blaumachen und Babysitten eine Selbstverständlichkeit, während Colin und Jennifer ihr anderes Kind aus seinen Ferien holten. Denise überlegte sogar schon (wahrend die Memorykarten, die Mareike noch nicht aufgedeckt hatte, immer weniger wurden, und sich Denise geistesabwesend fragte, ob Colin Kreuzer mit dem Kind solche Spiele eigentlich trainierte), ob sie tatsächlich, wie von Colin gewünscht, Axel anrufen sollte und ihn ,,einweihen“. Ob sie ein Recht hatte, diese Entscheidung für jemand anderen zu fällen. Eine sehr weitreichende Entscheidung: wer immer von dieser Sache wußte, selbst wenn geheim blieb (ihr hatte er's auch noch nicht verraten) wohin die Reise gehen sollte, war ein Sicherheitsrisiko für die Menschen, die vor dem ,,Mehr-Leben“, wie Colin das nannte, an einen ,,unzugänglichen Ort“ fliehen würden. ,,Ich weiß nicht, was passieren wird“, hatte er gesagt, ,,und wie lange es dauert. Es könnten noch Jahrtausende, Jahrmillionen sein. Aber es geht los, es passiert, 64
nachdem es NICHT mehr passiert ist, seit die Saurier abgenippelt sind. Die Statistik spricht eine eigene Sprache, die Periodizität ist ablesbar - und empirisch kannst du sehen: es häuft sich. Es kommt raus, es mischt sich ein. Wir haben keine Fossilien davon, weil es nie gestorben ist, keine Individuen kennt, so unsterblich ist wie Einzeller oder diverse Würmer - nur daß die, einmal getrennt, nicht wieder zusammenfinden. Wir haben nur Geschichten, die Erscheinungen bei Urquhart Castle und überall in Nordschottland, die Piktenchronika, diese Tierdesigns, das leere Dorf in Neuengland, die Legenden am Amazonas und das, was ich gesehen habe. Und von mir aus auch das Bermudadreieck, was weiß ich. Aber ich nehme an, daß einige der katastrophischen Ereignisse der Evolutionsgeschichte in der Vergangenheit - die fünf Auslöschungen, die kambrische Explosion Beweise für eine Interaktion dieser Lebensform mit ,unseren' Taxa sind, und ich möchte weder ausgelöscht werden bzw. die Auslöschung meiner Art miterleben, noch irgendwelche durch Aktivierung von Junk-DNA oder anderer Mechanismen, mit denen das Mehr-Leben in unsere Evolution eingreift, ausgelösten Mutationen erleben. Ich möchte, daß die Evolution so weitergeht, wie sich das Darwin, Wallace, Haeckel vorgestellt haben, ergänzt durch ein paar Tricks, die wir inzwischen gelernt haben. Unsere Meme, wie Frau Blackmore sagen würde. Und daher will ich mit den meinigen das Feld räumen. Der Zoo ist schon fertig, es fehlen nur noch die Menschen.“ Der Zoo: wollte Denise an einen Ort, der so hieß? Als nur noch sechs Karten - drei Paare - unaufgedeckt auf dem niedrigen Glastisch in Michaelas Zimmer lagen, machte Mareike einen Fehler. Sie schimpfte: ,,Ich hab' geRATEN, statt daß ich's geWUSST hab'. Und es war FALSCH.“ Die beiden Frauen lachten. Denise war dran, und trotz entgegenkommendster 5o:5o-Wahrscheinlichkeit vertat auch sie sich, so daß es Michaela war, die den Rest abräumen konnte. Trotzdem hatte Mareike gewonnen. ,,Zeit fürs Bett, Mareike, bevor du uns noch völlig in den Boden demütigst“, mahnte Denise, und das Madchen verstand sowohl den Witz wie den Wink. Mareike ließ sich in Denises Zimmer bringen, nachdem sie sich im Bad gewaschen und die Zähne geputzt hatte, und ging dort ohne Nörgeln ins Bett. Denise hatte vor, in Pauls Zimmer zu schlafen, der ein paar Tage mit 65
seiner Freundin nach Frankreich gefahren war. Davor wollten sich die beiden Frauen noch eine Weile in der Küche zusammensetzen. ,,Cleveres Madchen“, bemerkte Michaela, »Am Anfang ein bißchen still, aber... na ja, als die Eltern sie gebracht haben, vorhin, dachte ich, das sind ja ganz schone Geheimnistuer, sehr überbesorgt. Es wirkte fast, als ob sie das Kind verstecken wollten.“ ,,Na ja, es gibt schon Leute, die cleveren Mädchen was tun, oder?“ sagte Denise, und Michaela nickte. Denise hatte fast davon angefangen, was in Hamburg passiert war, um Colins ,,Übervorsicht“ zu erklären, beschloß aber, es für sich zu behalten. Sie hatte selbst erst heute Mittag davon erfahren bislang hatte sie nur gewußt, daß Colin sich in Hamburg mit der ,,Szene“ gestritten hatte, als irgend jemand von irgendeinem Arbeitskreis irgendeiner linken Stiftung, an dem Colin mitarbeitete, rausgekriegt hatte, daß Colin a.) einen Haufen Geld besaß und b.) dieses Geld zum Teil durch Beteiligung an Firmen verdient hatte, ,,von denen ich selber auch nichts anderes behaupten würde, als daß es Schweinefirmen sind, deren Profiteure - also Leute wie ich - von Tierversuchen bis zu Sauereien in der sogenannten Dritten Welt so ziemlich jeden denkbaren Fleck auf der Weste haben“. Am schwersten allerdings schien zu wiegen, daß Colin c.) keineswegs bereit war, mit diesem seinem schmutzigen Geld ,,die Sache“ mit mehr als hin und wieder ein paar Tausendern zu unterstützen, in diesem Fall irgendwelche größeren Vorhaben lokaler Initiativen gegen die EXPO 2000 in Hannover. Zwar hatte Colin in der Tat regelmäßig Geld für die politische und künstlerische Gegenkultur der Stadt ausgegeben, aber die vielen Rechercheure, die seinen großen Reichtum entdeckt hatten, fanden rasch heraus, daß die Summen, die er zur Rettung bedrohter linker Zeitschriften, Unterstützung von alternativen Wohnprojekten, Veranstaltung von Konzerten u.ä. ,,lockermachte“, in äußerst knausrigem Verhältnis zu seinen Ausgaben und Zuwendungen für anderes standen, etwa den Hamburger Tierpark und die inoffizielle ,,zweite“ Informatikfakultät der Universität. Als dann noch bei einer Diskussionsveranstaltung die Rede auf den Raubbau im tropischen Regenwald kam und Colin plötzlich aus keinem für die Mitdiskutierenden ersichtlichen Grund gesagt hatte: ,,Von mir aus sollen sie die ganze Scheiße abbrennen. Ich halte persönlich den Flammenwerfer. Lieber atme ich Meeralgen-Sauerstoff 66
aus Flaschen und lebe auf dem Mond, als daß ich mir anhöre, wie dieser Urwald hier zum Herz der Welt erklärt wird. Ihr habt keine Ahnung, was da los ist“, war der Bruch mit der ,,Szene“ endgültig vollzogen. ,,Ich hätte damit leben können, daß mich bestimmte Leute nicht mehr grüßen. Daß ich nicht mehr eingeladen werde, daß ich mir meine Bücher in beschissenen Supermarkt-Buchhandlungen oder aus dem Netz holen muß, weil ich in OKen Buchläden dumm angemacht werde. Auch als Jenny an der Uni Ärger gekriegt hat und der ,AK ,feministische Wissenschaft' sie rausgeekelt hatte, war das noch verkraftbar, vor allem, da Jenny mit den Leuten eh schon Ärger hatte, weil sie in ihrem Fach - sie ist Physikerin, wußtest du das?, promovierte sogar - angeblich ,zu ehrgeizig' war und ihr unterstellt wurde, sie sei korrupt, im Sinne von ranschmeißerisch bei Professoren. Und eine ,reiche Mieze', das hat eine von denen wirklich gesagt. Wie gesagt, das ging noch. Wir vertragen viel. Aber dann ging die Scheiße mit den Kindern los.“ Zuerst wurde Simon in der Schule von Mitschülern als ,,ekliger Milliardärssohn“ und ,,schwuler Prinz“ beschimpft. Dann gab es Ärger mit dem Kindergarten, in den Mareike bis dahin gegangen war. Am Ende willigte Colin schweren Herzens ein, das Mädchen in einen konfessionellen, nämlich protestantischen Kindergarten gehen zu lassen. Mareikes Einschulung stand bevor. Und dann passierte das mit dem Spielplatz. - weißt du, Denise, ich kann die Leute irgendwo sogar verstehen - die linken Verleger, Institutsleiter und so. Ich hätte das früher auch nicht anders gesehen, und was hilft es, wenn ich ihnen sage, mein Geld ist Mittel zum Zweck, wenn ich ihnen den Zweck nicht verraten kann? Nicht alle haben sich übel aufgefuhrt. Aber ein paar Teilzeit-Autonome, hauptsächlich kleine städtische Angestellte und andere Staatsbuben und -mädchen, haben meine Autoreifen zerstochen, unseren Briefkasten mit Scheiße gefüllt und am Ende kam dann eines Tages Mareike vom Kindergarten heim mit einem Briefumschlag, den ihr ein fremder Junge, älter als die Kinder auf dem Spielplatz und offenbar nur ein Bote, für mich mitgegeben hatte. Sie sollte mir eine ,Geheimbotschaft' ausrichten. Na ja, sie war ganz stolz. Sie sagte, der Typ hätte gemeint, ich solle mal in den Briefumschlag kucken, wir kommen dann bald und spielen mit deiner Frau und deiner Tochter.“ ,,Was war denn drin?“, hatte Denise gefragt. ,,Ein verpacktes 67
Kondom“, lachte Colin - sein Mund jedenfalls lachte. Seine Augen nicht. Denise war entsetzt gewesen: ,,Was hast du gemacht?“ ,,Ich habe, wenn du es genau wissen willst, mein verschissenes Geld benutzt, um mir und meiner Familie diese Schweine vom Sack zu schaffen. Einige konnte man kaufen. Anderen mußte man zeigen, daß es Schlimmeres gibt als zerstochene Reifen, Scheiße im Briefkasten und geschmacklose Briefdrohungen. Zeigen hat zum Glück gereicht Niemand ist ernstlich zu Schaden gekommen.“ Er hatte den Kopf geschüttelt und lapidar hinzugesetzt: ,,Trotzdem wollten wir natürlich in dieser Stadt nicht bleiben. Wir sind weggezogen, aber das, was ich hab' machen müssen, scheint gründlich funktioniert zu haben - selbst die Nachricht von meinem Reichtum hat die Stadtgrenzen nicht überschritten und stand nie irgendwo gedruckt, nicht im kleinsten Kampfzellen-Zirkular. Und ich habe immer noch ein paar Freunde da, sogar Linke, und natürlich Geldsäcke, Musikfans und Zoodirektoren. Tja, so war das.“ ,Tja’dachte jetzt auch Denise. ,,Du wirkst ziemlich geistesabwesend“, bemerkte Michaela. Was geht dir denn so im Kopf rum?” Ach, nichts weiter“, erwiderte Denise, und zündete sich noch eine Zigarette an, ,,ich hab' mich nur grad entschieden.“ ,,Entschieden?“ ,,Na ja, ich hab' mich den ganzen Abend gefragt, ob ich einen alten Freund anrufen und um eins dieser beliebten Gespräche unter vier Augen bitten soll.“ ,,Und?” ,,Ich mach's“, sagte Denise, und blies Rauch aus der Nase, wie ein schläfriger Drache. (pi) Als er auf seinem Bett erwachte - ein Bein hing drüber hinaus, der Arm war eingeschlafen -, hatte Axel Mühe, sich zu orientieren. Ein Traum? Ja, aber ein anderer Traum als sonst: rote Engel, schwarze Vorhänge, statt des splitternden Glases, der aufblendenden Scheinwerfer. Nicht der Traum vom Unfall, von Denise, von den 68
Sanitätern und der regennassen Straße. Sondern einer von... er hatte getrunken. Was getrunken? Milch. Ihm wurde warm im Bauch und in der Brust, wie gleichzeitig vom Magen und vom Herzen her, und etwas rieselte sein Rückgrat runter, feiner Strom. Strafe für Adams Übertretung, dachte er, zusammenhanglos. Lies nicht symbolisch, was wörtlich gemeint ist. Hm. Axel gähnte, streckte sich: was war das, mit der Milch? Ihm fiel ein, daß sein Mund an etwas gelutscht hatte, oder... das wohlige Gefühl wich einer wunden Scham. Was waren das für Erinnerungen, Säuglingsvisionen? Milch aus der Brust eines roten Engels. Hände mit langen Fingern auf seiner Brust. Moment. Kommando zurück. Gestern. Der Schlüssel zu allem hieß: was war gestern überhaupt passiert? Der Reihe nach, wenn's geht. Er war im Institut gewesen, ja - und dort hatte er das Furchtbare gesehen und... war dann einfach nach Hause gegangen. Na ja.. ,,einfach“.... Dann hatte er geschlafen. Träume. Dann: der Besuch. Angelika. Sie waren Essen gegangen. Beim Mexikaner, richtig. Ein Steak hatte er gehabt, halb durch, ein bißchen blutig in der Mitte. Er dachte an das rosa Fleisch, an den roten Saft - wie hatte er so was essen können, nur ein paar Stunden nachdem Kauling... Wieder fiel ihm der rote Engel ein, und wieder dachte er, einen Rest von Milch auf den Zungenknospen zu schmecken, sahnig, süffig und warm. Was war denn dann geschehen? Sie hatten sich unterhalten, gelacht. Danach ein Spaziergang - waren sie in der Altstadt gewesen? In einer Weinstube vielleicht? Er dachte an Schnitzarbeit, eine Eule aus hellem Holz in einem Winkel... ja: Weinstube mußte stimmen. Er hatte keinen Kater, also konnte er nicht viel getrunken haben.. und doch war da ein Filmriß: hatte er sie nach Hause gebracht, und wenn ja, wo wohnte sie? Oder war sie mit ihm wieder hier her gegangen? Axel stand auf, sah sich um. Er fand in seiner »Wohnung“, d.h. im Schlaf- und Wohnzimmer und der Waschnische, keine Spur von ihr. Mist. 69
Sie war aufgetaucht, weil sie es wollte. Und genauso wieder verschwunden. Er hatte nicht mal ihre Telefonnummer. Hatte er mit ihr geschlafen? Er wußte es nicht mehr. Geküßt aber hatten sie sich auf jeden Fall. Wenn auch vielleicht nicht auf den Mund, dachte er plotzlich. Brust. Brustwarze. Bedröppelt taperte Axel zum Schreibtisch, auf dem sein alter Wecker stand: es war elf Uhr Vormittags. Auf dem aufgeschlagenen Exemplar der ringgebundenen Manuskriptkopie seines ,,Entwurfs“ für die Doktorarbeit lag Kellers Karte, die Post von gestern...: das Paket, bei McPaper, richtig. Er nahm den Zettel, drehte ihn um, las auf dem Weg zum Waschbecken die Öffnungszeiten. Dann wusch er sich, putzte sich die Zähne, zog sich an. Er hatte vor, das Paket abzuholen. Oder etwas zu schreiben. Genaugenommen hatte er sogar mehr Lust zu schreiben als seit Wochen, aber nicht an der Doktorarbeit, nein: am Roman. Er wollte den Borbruck-Roman rausholen, oder ein Gedicht schreiben. Einen Brief? An wen? Egal. Er hatte schlicht Lust, zu schreiben. Wie wichtig konnte das Paket schon sein? Wahrscheinlich wieder ein Geschenk seiner Schwester. Saskia schickte ihm regelmaßig Bücher und CDs aus den USA, als gäb's in Deutschland keine. Das Telefon klingelte. ,,Leck mich am Arsch!“ maulte Axel, und holte einen Joghurt aus dem Kühlschrank, Bananegeschmack. Löffelte ihn am Schreibtisch, während das Telefon weiterklingelte, immer weiter, fünfmal, sechsmal. ,,NA GUT! ALSO GUT!“ rief Axel, warf den Löffel quer durchs Zimmer, sprang zum Telefon, nahm ab und japste in plötzlicher Panik, es könnte Angelika sein, sie könnte auflegen, bevor er dranging: ,,Ja? Hallo?“ Schallend lauter Gesang antwortete ihm: ,,You keep me haaaaaaanging on the telephone.... you keep me haaaaaaaaanging on the tele-phooooooone....“. Er lachte hellauf: ,,He! Blondie! Wie nett!“ Denise lachte auch. Dann sagte sie: ,,Äh, hör mal, Axel.“ ,,Ja? Ich höre. Is ja 'n Hörer.“ ,,Sehr komisch. Also äh... neulich, vor der ,Kirsche', da haben wir ja glatt verpaßt, und ich dachte... eigentlich schade, daß wir uns kaum noch sehen.“ ,,Finde... finde ich auch“, sagte Axel vorsichtig. 70
,,Und da dachte ich, ich weiß nicht... ohne Hintergedanken, einfach nur: hast du Bock, mich mal wieder in der alten WG zu besuchen? Heute abend? Oder wir gehen weg, vielleicht was essen oder...“ Was war das nur plötzlich, daß alle tollen Frauen von Borbruck neuerdings mit dem aufsteigenden Star am Philosophenhimmel was Essen gehen wollten? Rote Engel, dachte Axel. Rote und andere Engel. Er erwiderte: ,,Nee zu dir kommen ist OK. Doch, hätte ich Lust zu. Um Sieben, oder wann?“ ,,Ja, Sieben ist gut.“ ,,Sieben ist gut. Also. Dann. Bis dann.“ Und um nicht so trocken Ade zu sagen, hängte er noch ein paar Takte Blondie ran: „Denis Denis... la lala lalala....“ ,,Bleib' bei deinem Gekrächze, Axel Rose“, spottete Denise, und legte auf. Axel hängte ebenfalls ein und ging zu seinem Schreibtisch. Er griff sich aufs Geratewohl den dicken Band Novalis und sagte laut zu sich selbst: ,,Scheint ja ein guter Tag werden zu sollen. So was gibt's also auch.“ (rho) Was ist ein Gott? Ein Gott ist ein ewiger Geisteszustand. Was ist ein Satyr? Ein Satyr ist eine Elementarkreatur. Was ist eine Nymphe? Eine Nymphe ist eine Elementarkreatur. Die Ameise ist ein Kentaur in ihrer Drachenwelt. Er weiß das, und was er tut, ist nicht eitel. Es fällt uns nicht schwer, darüber zu sprechen, was er tut. Er will sich von uns entfernen. Er glaubt, wir wollten die Erde in Besitz nehmen. Er glaubt, er kennte die verborgene Botschaft. Aber es gibt keine verborgene Botschaft. Tatsächlich werden wir das tun, was er befürchtet. Wir werden uns zu erkennen geben, wie wir uns ihm gezeigt haben. Es wird nicht mehr lange dauern, aber länger, als ein Einzelner unter Euch leben kann. Ihr altert, nicht erst seit Ihr Einzelne seid. Wußtet ihr, daß Fruchtfliegen, die mit einem Enzym hochgepäppelt werden, das freie Radikale 71
auflöst, eine längere Jugend erleben? Wir wissen das. Einige von Euren Einzelnen wissen das auch. Einzelne wurdet Ihr bald, nachdem wir Euch die Sprache gegeben haben. Das fiel uns nicht schwer: schließlich ist es in Wirklichkeit das: eine Sprache - was wir sind. Als einige von Euch mit uns in Kontakt kamen, in Afrika, übernahmt Ihr das von uns, was wir sind, als Metapher. Wir haben uns immer wieder mit Euch abgegeben, auf Kreta und im Zweistromland, in Australien und Burghead, und immer war es Sprache und Metapher, was Ihr von uns entgegennahmt. Seither habt ihr verlernt, zu bedenken, was Metaphern eigentlich sind. Ihr nehmt sehr oft allegorisch, was Ihr wörtlich nehmen solltet: Aeternus quia simplex naturae, hat einer von Euch Einzelnen gesagt. Wir kennen ihn gut, den, der sich von uns und Euch entfernen will; er ist einer der wenigen unter Euch Einzelnen, die uns in den letzten tausend Jahren gesehen haben. Das geschah an einem Ort mit Millionen Arten, Arten von der Sorte Leben, der auch Ihr angehört Millionen, von denen Ihr erst 500 000 katalogisiert hattet, als jene Expedition dorthin aufbrach, der außer einem Mitarbeiter des ,,Coleopterists Bulletin“ und einem einheimischen Führer namens Pedro Ruis auch er, Colin Kreuzer, und sein Studienfreund Harald Otte angehorten. Im kristallinen Tiefengestein unterhalb des Guyana-Schilds hatten wir eine unsere größten - Ihr würdet wohl sagen: Zivilisationen geschaffen. Sie war Jahrhunderttausende alt, als die kleine Expedition in unsere Wälder vordrang, um die Kronendacher der Regenwälder mit Kletterseilen, Netzen, Katapulten zu erforschen. Pedro Ruis war ein guter Führer, und daher ,,abergläubisch“: er nahm ernst, was die Yanomami erzählten, die in ihren Siedlungen an ganzjährig wasserführenden Trinkwasserquellen lebten und sich im Wald vor den Boten unserer Zivilisation in acht nahmen, die sie gelegentlich beobachtet batten. Sie kannten uns, ahnlich wie die Pikten, als ,,steinerne Katzen“, ,,leuchtende Bäume“, ,,Männer aus Fliegen“ und ähnliches. Ruis glaubte, daß diese Begegnungen tatsächlich stattgefunden hatten, und well die Yanomami berichteten, daß das einzige, was schnell genug war, um uns zu vertilgen, Feuer war, trug er einen Flammenwerfer auf dem Rücken, während er die Gruppe durch den 72
Dschungel führte. Das war exzentrisch, aber vertrauenswürdige Gelehrte hatten Pedro der kleinen Expedition empfohlen, als ausgezeichneten Kenner des Terrains, und so sah man ihm die Exzentrizität nach. Kreuzer selbst war wie versessen darauf, gerade die Gebiete solcher Begegnungen unter die Lupe zu nehmen, denn ihm war bei der Entzifferung piktischer Steine und der darauffolgenden jahrelangen Lektüre ethnologischer bzw. ethnomedizinischer Literatur aufgefallen, daß die Geschichten der Yanomami Parallelen nicht nur zu weltweit verstreuten Zeugnissen, sondern auch und vor allem ähnlichen Erzählungen der weit entfernten Kayapo in Zentralbrasilien aufwiesen. Er vermutete, von seiner im selben Jahr an einem Lungenleiden verstorbenen Mutter ermutigt, hinter all dem ,,neue, in der Literatur bisher nicht beschriebene Formen der Mimikry“ und war besonders am ,,Signalcharakter“ der ,,Tarnung“ interessiert, daran, ,,wie die Natur lügen kann“. Er nahm als indirekte Rede, was er hatte wörtlich verstehen sollen. Immerhin: als einer der wenigen, die diesen Ort besuchten, verstand er, daß der Ort eine Geschichte hatte, daß es nicht um Aura und Atmosphäre ging, sondern um historische Formen, die in einer Sprache redeten, die einige von Euch „ Natur“ genannt haben. Mit dem Coleopteristen, einem jungen Mann aus der Schweiz und gläubigen Katholiken, saß er oft abends vor dem Zelt und diskutierte Biologie, Philosophie, sogar Theologie. Der junge Schweizer war ein Anhänger des Priesters und Paläontologen Teilhard De Chardin, der Evolutionstheorie und Schöpfungslehre im Begriff der ,,Orthogenese“, der von Gott gelenkten Evolution, zusammengedacht hatte. Der Gottesfürchtige spornte mit der Herausforderung eines Surplus an ,,Sinn“ in seiner Auffassung von Naturgeschichte sein Gegenüber zu immer neuen Überarbeitungen von dessen eigener Theorie der ,,Informationsgebundenheit des Lebens und Lebensbezogenheit der Information“ an. Einmal stenographierte sich Kreuzer ein längeres Zitat von Pater Teilhard in sein Reisejournal, das der Schweizer ihm beim Frühstück vorlas: ,,Das menschliche Denken eröffnet (...) eine neue Ära in der Geschichte der Natur. (...) In seiner Geistigkeit müssen sich (...) wie in der Spitze eines Kegels alle in sie eingegangenen Erzeugenden erkennbar, wenn auch hominisiert, wiederfinden: der Hunger, die Liebe, der Sinn für den Kampf, die Lust 73
an der Beute. Die Kontrolle dieser Erbteile auf einer höheren Ebene ist die Arbeit der Moral und das Geheimnis des Mehr-Lebens.“ ,,Gefällt mir sehr gut. ,Mehr-Leben'”, sagte Colin Kreuzer zu dem jungen Schweizer. Der Name des gläubigen Schweizers war Robert Kauling. Seine bald nach der Geburt des Sohnes verwitwete Mutter lehrte damals noch in Basel Philosophie, erhielt kurz darauf jedoch einen Ruf an die Universität Borbruck, wohin ihr Sohn ihr später mit seiner Verlobten Anita Krell folgte, die ein Kind von ihm bekam. Robert Kaulings schwere Krankheit, später von Borbrucker Ärzten als Schizophrenie diagnostiziert, war dort, im Regenwald, noch nicht ausgebrochen. Erst 1995 sollte er endgültig ,,den Verstand verlieren“, seine Freundin, die ihn nicht heiraten wollte, sowie sich selbst vergiften und seinen Sohn, den er sehr liebte, nur aus Unachtsamkeit verschonen: er paßte nicht richtig auf, ob der Junge das Glas Saft, in dem die tödliche Medizin war, tatsächlich austrank. Damals, im Regenwald, waren es Kauling, Kreuzer und Pedro Ruis, die uns begegneten. Es geschah auf einer Lichtung zwischen riesigen Gymnospermen. Wir erschienen ihnen als Faden, Fächer, als große Hände. Ruiz versuchte, uns zu verbrennen. Wir verätzten sein Gesicht, er sank zu Boden, dort saugten wir ihm das Fleisch von den Knochen. Kauling berührten wir mit langen Fingern und schlugen ihn mit Fieber, er rannte ins Dickicht, wurde erst nach anderthalb Tagen von einer Rettungsmannschaft nahe einem Tumpel geborgen, nackt und völlig von Sinnen. Kreuzer hielt stand. Er begrüßte uns sogar. Wir verstanden, was er redete. Er veränderte uns, wir erkannten in ihm einen Liebenden. Wir gingen durch ihn hindurch wie Zephyrwind. Deus nee laedit amantes, sagten wir, und: ja ich will ja, antwortete er. Er wurde uns, was Ihr eine Frau nennt. Wir umringten ihn/sie als Satyrn, stark wie Zweige, und er/sie trank von der Flüssigkeit im Gras. Er/sie lernte die Absorption von Personen, sah eine Göttin mit schönen Knien, die bewegte sich vor Eichenwäldern in seiner Heimat Europa, am grünen Hang, und weiße Hunde sprangen um sie her. Wir lasen ihn/sie, und er/sie sah uns dabei zu. Als er, derselbe wie zuvor, und doch nie mehr derselbe, zwei Stunden spater ins Camp 74
zurückstolperte, wo Harald Otte bereits versuchte, um Hilfe zu funken, hatte er begonnen, einige wenige Worte immer wieder zu wiederholen. Erst Stunden später sollte er aus dem nahezu katatonischen Fugenzustand herausfinden, in dem er fortwährend brabbelte: ,,Nicht wir. Mehr-Leben - die anderen. Wir nicht. Die anderen. Mehr-Leben.“ Damals begann, was bald zur Trennung führen wird, zwischen uns und Euch. Und wir begrüßen das. Denn es ist besser, als daß der Planet verheert wird. Er war ohnehin nicht der richtige Ort für Euch, auf Dauer. (Sigma) ,,Und du bist sicher, daß du keinen Wein willst?“ Axel schüttelte den Kopf und mußte selber zusehen, wie er das klar bekam: ob jetzt das mehr fließende als statische Knacken und Knistern von draußen kam, wo der Regen wieder angefangen hatte, oder von irgendwo drinnen, aus den Leitungen der Nerven vielleicht. Schönheit bekommt immer, was sie will, selbst wenn sie gar nicht weiß, daß sie's will, dachte er, kaum neidisch. Mehr bewundernd. Denise: immer noch seine große Liebe. Und jetzt war er hier. Wollte sie ,,mit ihm anbandeln“ - noch einmal? Nervensummen. Gegen einen Kurzschluß hätte er überhaupt nichts einzuwenden gehabt, wozu etwas isolieren, was so strömte? Verführung ohne Nötigung empfand er, eine Lust, die erst im Kopf zu glühen anfing und dann langsam durch alle Fibern und Gefäße strömte, von denen sie, die studierte Biologin, sicher besser wußte, wie sie hießen. Er redete zurückhaltend etwas von seiner Arbeit im Weinberg des HErrn, sie antwortete teilnehmend und plötzlich sehr nah; sprach auch von ihrer Arbeit, und wieviel besser es ihr ging, seit alles sich auf Computern abspielte. Sie erinnerte sich und ihn an ihr Studium: die vielen verschiedenen Muskeln, deren Namen sie in den vielen verschiedenen Windungen des eigenen Hirns irgendwo unterbringen sollte, die toten Frösche, die seziert werden sollten. Arme Viecher (vorhin, bevor sie zusammen auf Denises Zimmer gegangen waren, hatte Axel in der Küche das Terrarium bewundert). 75
Sie sprach davon, wie ein Frosch riecht, wenn man ihn auftaut. Die Unterhaltung zwischen ihnen beiden ,,roch“ gar nicht, dachte Axel. Aber dafür duftete sie. Er sah zu ihrem Bett. Da liegt sie dann und kuschelt sich an sich anstatt an mich, und träumt ihre eigenen Träume. Durch die feuchtwarme Luft der Innenstadt war er gelaufen, schon in der Straßenbahn dann beinah albern fröhlich geworden, das Gegenteil einer Gänsehaut, was immer das sein mochte (vielleicht wußte sie auch das, die studierte Biologin? Mal fragen), hatte sich um seine müden Ideen gewickelt. Sie waren gleich wieder zu dritt zusammengekommen, als er die vertraute Wohnung betrat: sie, er, und die jahrelange Freundschaft. Seine Jacke hatte er abgelegt, eine Weinflasche hatte sie bald zu entkorken versucht, das war in lustigem Korkengebrösel geendet und überschwappendem Wein, den Pulli mußte sie ablegen, und als sie ihm so gegenüber saß am kleinen Tisch wunderte er sich, daß es ihm so ohne jede Strafe möglich war, immer wieder mit den Augen ihre Brüste unterm T-Shirt zu berühren, ohne ein einziges mal ungemütliche Gier in sich quengeln zu spüren. Einmal, als Denise sich mit dem Handrücken Wein aus den Mundwinkeln wischte, dachte er an den roten Engel, dachte an Angelika, und fragte sich, warum ihn der Gedanke hier nicht störte, warum es keine Dissonanz gab zwischen dem Wissen, erst gestern eine bedröhnte Nacht mit einer mehr oder weniger völlig Fremden verbracht zu haben und dem Verlangen, Denise möglichst noch näher zu kommen als im Augenblick, da er ihr doch schon unverhofft so viel näher war als seit der Zeit, da noch alles gut gewesen war mit ihnen beiden. Er überlegte also, wie er es anstellen sollte, Denise den Vorschlag zu machen, von dem er gar nicht genau wußte, wie sein Wortlaut gewesen wäre, da kam sie ihm zuvor: ,,Weißt du, am Telefon... oh Mann, ich bin ein bißchen angeschickert, ehrlich. Gar nicht so einfach, das hier“, sie lächelte entschuldigend, und er war vollig verdutzt: sie wollte ihm abnehmen, womit er zu kämpfen hatte? Das wurde ja immer besser. Er beschloß, sie ausreden zu lassen. Etwas besseres konnte ihm ja gar nicht passieren andererseits, er hatte darauf gefaßt sein können, schließlich war sie es gewesen, die ihn zu sich eingeladen hatte, nicht umgekehrt, also? ,,Es ist bloß... Axel, ich war nicht ganz ehrlich zu dir am Telefon.“ Er gab den Verständnisvollen, das fiel ihm leicht: ,,Dann bist du's 76
eben jetzt. Spuck's aus.“ Sie räusperte sich, flatterte theatralisch mit den Händen. Wie schön sie war, wie lustig, dachte Axel. Wie sehr er sie bewunderte, diese Schönheit und Lustigkeit. ,,OK. Also. Ich hab' ja so getan, als ob ich dich einfach nur so... treffen wollte.“ Er nickte, sagte nichts. Jetzt wurde es wirklich spannend. ,,Das war Bullshit. Es geht nämlich eigentlich nicht um mich.“ Er konnte schon hören, was sie als nächstes sagen würde: es geht um UNS, und wollte sich schon eine Antwort zurechtlegen, da fuhr sie fort: ,,Es geht um Colin.“ Er war verstört: was redete sie denn jetzt? Was hatte Colin mit ihrer Beziehung zu tun? ,,Colin Kreuzer.“ Er nickte heftiger: natürlich, glaubte sie denn, er wisse nicht mehr, wer das war? ,,Er hat wieder ein... Projekt. Aber diesmal ist es was Größeres.“ Ehe er sich selbst zur Ordnung rufen konnte, hörte Axel sich sagen: ,,Moment mal. Willst du mir damit sagen, daß du mich hier, daß es um irgendeine blöde Idee von diesem alten Wichtigtuer, ich dachte du...“ Er erschrak über seine Worte, wußte nicht, wie fortfahren. Sie sah ihn alarmiert an. Da sagte er: ,,Ich dachte, du interessierst dich zur Abwechslung mal wirklich für MICH.“ ,,Tu ich doch“, entgegnete sie, wie immer, wenn sie defensiv wurde, ein bißchen aufbrausend. ,,Deswegen mache ich das doch. Ihr Typen! Er traut sich nicht, und du sitzt in deinem Keller und sendest Funksignale nach draußen und...“ Barsch schnitt er ihr das Wort ab: ,,Hör' mal, echt, das ist alles sehr nett, daß du hier einen auf Sozialarbeiterin machst und dich sorgst, ich könnte vereinsamen oder so, aber ehrlich gesagt, das ist alles...“ Sie wollte protestieren, er hob abwehrend die Hand: ,,Das ist alles ganz große Scheige. Colin Kreuzer. Toll.“ Jetzt wurde Axel richtig sauer, über sich, seine Erwartungen, Hoffnungen, aber auch auf den Alten: ,,Wer GLAUBT dieser Scheißer eigentlich, daß er ist? Nur well ich ihn GEBETEN habe, mir mal ein bißchen zu helfen, führt er sich hier auf wie weißgott... also... und du machst das mit...“ Sie streckte die Hand nach ihm aus, wollte sie ihm auf den Arm legen, ihn beruhigen. ,,Axel...“ Er sprang vom Sessel auf: ,,Nix Axel. Mann. Oh Mann, 77
wirklich. Von wegen, lange nicht gesehen. Glaubt ihr beiden, ich kriege ohne euch überhaupt nichts zustande? Glaubst du, ich vertrockne ohne dich?“ ,,He, sei doch nicht gleich so verletzt...“ Sie stand ebenfalls auf, schwankte dabei ein bißchen. ,,Ich will dir mal was sagen, Denise: nach deinem Unfall dachte ich, ich komme nie wieder auf die Beine. Und die letzten zwei Tage waren eine Achterbahnfahrt. Aber weißt du was? Ich habe jemand kennengelernt. Eine tolle Frau. Hättste nicht gedacht, was? Ja. Und sie spielt NICHT meine Therapeutin. Sie interessiert sich für MICH! Ich bin hierhergekommen, ich weiß auch nicht... ich dachte vielleicht können wir wirklich irgendwie... na ja... Freunde sein oder... ach, vergiß es.“ Er schob sich an ihr vorbei zur Tür raus, sie stolperte ihm nach, auf den Flur: ,,Axel. Axel, das ist jetzt aber doch... echt... das blödeste Mißverstandnis aller Zeiten. Du hast mir ja überhaupt nicht ZUgehört, du läßt mich ja nicht mal AUSreden...“ Mit zwei Schritten war er an der Wohnungstür: ,,Völlig richtig. Ich lasse dich nicht ausreden. Ich will's nicht wissen. Ich will nur meine Ruhe. Vor dir. Vor Colin Kreuzer. Vor der ganzen bekloppten Heilsarmee“, und warf die Tür zu. Zwei Sekunden später trat Michaela aus ihrem Zimmer auf den Flur und fragte: „He, was war denn hier los?“ Denise zuckte mit den Schultern: »Ich hab's versaut, mit dem Jungen da. Nix neues, eigentlich.“ Inter Lineas 3 Liebe Mutter! Ich will die Welt verlassen und ich will die mitnehmen, die ich nicht zurücklassen darf. Wie kann ich aber das tun, was ich jetzt also tun werde, wo es doch nicht nur ein Verbrechen ist, an ihnen wie an mir, sondern auch eine Sünde? Weil ich nicht länger glaube, nicht an die Psychiater und nicht an Deinen Trost, der sagt, daß ich das alles wirklich erlebt und gesehen habe; weil ich sie fürchte statt herbeiwünsche, die Fortschritte des göttlichen Bereiches im einzelnen Menschen. Das Leben, 78
das ,,Mehr-Leben“ vor allem, wie es Kreuzer genannt hat, siegt sowieso, was macht das bißchen Tod von mir und meiner Familie, wo es ja nur um meinen letzten Versuch geht, etwas von der Reinheit zu retten, die einmal war? Ich weiß, daß sie auch diesen Brief nur als Beweis dafür lesen werden, daß ich verrückt bin, daß ich verrückt ,,war“, wie es dann heißen wird. Das n war“ ist das, worauf ich mich freue, ich weiß ja alles von der lauteren Absicht und vom reinen Gewissen. Zu viel Leben. Ich sage nicht, daß die Leute nicht sterben. Was ich sage, und Du allein kannst mich verstehen, ist, daß es nicht genug Tod gibt. Ich sage auch nicht, daß kleine Kinder die Leute nicht in ekstatische Fröhlichkeit versetzen. Ich sage, daf, es schon zuviel Geburt gegeben hat und immer mehr davon geben wird. Und das Ende ist zu oft die Verdammung. Keines der Geheimnisse, an die wir glauben müssen, verletzt unsere menschlichen Anschauungen schmerzlicher als das Geheimnis der Verdammung. Je mehr wir Menschen werden, das heißt, der Schätze bewußt, die im geringsten Sein verborgen sind, und je klarer wir den Wert erkennen, den das kleinste Atom für die schließliche Einheit darstellt, um so verlorener fühlen wir uns beim Gedanken an die Hölle. Ich glaube, daß das, was uns erwartet, wenn wir hier bleiben, eine Hölle ist. Ich will dort nicht hinein, und meine Frau und mein Sohn sollen dort auch nicht hinein. Ich bitte um Verzeihung. Robert [Abschiedsbrief Robert Kaulings]
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Euphrat (tau) Ob ich selber schuld bin? So stand er da, und wußte es nicht recht, und fragte sich: Aber was sonst hätte ich machen sollen? Wer hätte denn – Die Weltöffentlichkeit, die Wissenschaft, die Demokratie, oder die Leute um mich, damals, die kleinen Vertreterinnen und Vertreterinnen, die POLITISCHE LINKE, die ihren Kulturkampf immer wieder noch mal durchficht, gegen die Werte statt deren Verräter, gegen Wahr und Rechtschaffen, Hoch und Edel, klar, sind ja auch meist Dreckphrasen, aber so völlig zu leugnen, daß es Kriterien gibt, nach denen man, * Follow they would not dare. Ein Lied über den jakobitischen Prinzen, der vor den Verfolgern in Sicherheit gebracht wird, auf die unzugängliche Insel Skye, von königstreuen schottischen Seefahrern. Daher die Idee: aber nicht nach Skye, sondern * Sie trafen um zehn Uhr vormittags ein: Räumkommando. Jennifer hatte alle Hände voll zu tun, sie davon abzuhalten, die Kinder zu erschrecken, und mußte Simon mehrfach ermahnen, die Leute nicht so anzustarren. Ihre Waffen fand er ,,cool“; sie selber und Mareike waren da ganz anderer Ansicht. Mareike fragte immer wieder, ob Denise (die sie dabei, Gottseidank, nicht ,,Tante“ nannte) denn jetzt mitkommen würde oder nicht. Es war Jennifer mehr lästig als fürchterlich, wie der Aufmarsch hier das ganze Leben durcheinanderbrachte. Wie die Illusion, man sei normal, lebe ein normales Leben unter normalen Menschen und gehe normalen Beschäftigungen nach, seit Hamburg ein wichtiger Stützpfeiler für Jennifers Leben und Wohlbefinden, in sich zusammenfiel, von diesen Typen zerlegt, wie die Inneneinrichtung, die Colin und sie in den letzten zwei Jahren zusammengekauft, teilweise sogar selber zusammengebaut hatten. 80
Diese Typen: wie Diebe, die eine Autostereoanlage ausbauen. Nur mit dem Unterschied, daß sie die Einwilligung derer eingeholt haben, denen sie's auseinandernahmen, das Normale. Eine Art höherer Versicherungsbetrug. Jennifer mußte sich zwingen, nicht zum Hörer zu greifen und ihren Vater anzurufen. Soviel war noch zu bedenken. Hatte der Junge, der sich um die Enantiomer-Webseite kümmern sollte, wirklich verstanden, was sie ihm angedeutet hatte - „ Falls was passiert, stellst du ALLES ins Netz. Alle Files, die ganze Musik, jede Datei.“ Augen groß wie Untertassen hatte der gemacht: ,,Was heißt das, ,falls was passiert'?“ ,,Kann ich dir nicht so genau sagen“, und dann, geschäftsmäßig: „Diese Karte hier gehört zu einem Firmenkonto. Die Geheimzahl dafür wird dir übermittelt werden, falls...“ ,,Falls was passiert.“ ,,Ja. Das Konto deckt deine Ausgaben, das Geld da drauf reicht 'ne ganze Weile.“ Eine Untertreibung: bei den Raten, die kommerzielle Webdesigner und Serveranbieter derzeit verlangten, konnte die Webseite mit dem Geld auf diesem Konto selbst inflationsbereinigt ca. 200 Jahre lang betrieben werden, aber das sagte sie dem Jungen nicht. Er würde es selbst herausfinden, am Kontosauszugsdrucker. Zur Absicherung war ein von Colin und Jennifer als den Inhabern des Labels unterschriebener Vertrag seit heute früh postalisch an den Burschen unterwegs. Jennifer hatte das veranlaßt, einer der Typen in Blau hatte den Umschlag zur Post gebracht. Seine Kollegen machten derweil vor allem Lärm, und auch ein paar Sachen kaputt, die sie verladen sollen. War ja alles versichert, dachte Jennifer wie im Traum. Während der Stunden, in denen die Ausweidung und Abschabung des Inneren ihrer intimen Höhle geschah, fanden Jennifer und Colin keine Zeit, miteinander zu reden. Der Mann, dessen Kopf dieser ganze Irrsinn hier entsprungen war, stand ständig auf der Veranda herum und telefonierte. Offenbar mußten einige der Blauen instruiert und dann dabei angeleitet werden, irgendwelche Leute, deren Anwesenheit in Borbruck man Colin gestern abend mitgeteilt hatte, in ihrem Hotel festzuhalten -ob mit Gewalt, Überredung oder einer Kombination von beidem, wußte 81
Jennifer nicht. Sie wollte es auch gar nicht so genau wissen. Schon in Hamburg war das die unangenehmste Erkenntnis gewesen: natürlich wußte sie, daß MACHT zu all dem gehörte, daß sie auch selber über einen Teil dieser Macht verfügte und diese Macht wiederum über sie. Schließlich hatte sie Colin dabei geholfen, einige mathematische Modelle sowohl für seine merkwurdigen Rechenoperationen mit den Populationsdynamiken des ,,Mehr-Lebens“ wie für seine Finanzfeldzüge zu entwickeln. Sie leitete sogar eine der Gesellschaften, die den Zoo und die Basis unweit des Zoos gebaut hatten, und jetzt die Arche bauten. Das Skye Boat aus dem Lied, das er immer * Das alles waren immer quasi-virtuelle Spiele gewesen, nicht real, Simulationen von feindlichen Übernahmen oder Aussterberaten. Daß irgendwo Leute entlassen wurden oder eine Froschspezies verschwand und Jennifers Berechnungen das abbildeten, war Theorie gewesen, Abstraktion. Erst die notwendigen Maßnahmen gegen die Idioten, die Mareike bedroht hatten, machten ihr klar, daß Colin und sie über Macht verfügten, reale, physische Macht. Ihre linken Freunde hatten über die Gewaltfrage gequasselt, beantwortet wurde sie aber am Telefon, von Leuten wie ihr und Colin. Der schien noch andere Sorgen zu haben - um halbeins kam er in die Küche, trank ein Glas Tomatensaft, sah aus dem Fenster und sagte: ,,Die arme Frau.“ ,,Welche Frau“? fragte Jennifer, die Geschirr in Papier einschlug, nicht sonderlich interessiert. ,,Kauling. Die Mutter von meinem verrückten Amazonas-Freund.“ ,,Otte?“ ,,Nein. Der Katholik. Die alte Philosophin. Ich hatte dir doch -“ ,,Axels Professorin? Die hier sofort aufgetaucht ist, nachdem wir hergezogen waren, und dich, wie hat sie gesagt... ,zur Rede stellen' wollte?“ ,,Ja. Sie hat alles gewußt. Das Mehr-Leben, und so weiter. Das heißt, vielleicht nicht alles, aber... genug, um sich den Rest zusammenzureimen. Sie wollte... an die Öffentlichkeit gehen. Ich weiß nicht, wie sie sich das vorgestellt hat. Hatte wohl auch ihr eigenes Forschungsprojekt am Laufen, in dieser Sache.“ ,,Und was ist passiert?“ 82
,,Das Forschungsprojekt war ein Bumerang. Sie wurde selber erforscht. Was übriggeblieben ist, hat man... mir als Warnung hinterlassen. Dabei hätte es das gar nicht gebraucht. Ich frage mich, ob das, was man mir draußen gezeigt hat... auf dem Hof... auch in diesen Kontext gehört. Und das im Dschungel, damals. Ob das Mehr-Leben vielleicht gar nicht rauskommen will, sondern mich und andere, die davon wissen oder wissen könnten, nur warnt, damit wir... ich weiß nicht... irgendwie aneinander vorbeikommen.“ Jennifer legte die Hände auf seine Schultern: ,,Vergiß es. Mach dir keinen Kopf. Es hat angefangen. Wir fliegen heute abend los. Es hilft alles nichts. Selbst wenn das... Mehr-Leben vom Zoo weiß, von der Basis.“ ,,Es weiß bescheid. Das ist eh klar. Aber es wird uns dort in Ruhe lassen. Es will da nicht hin, die Gegend, na ja... gilt außerdem ja auch als lebensfeindlich, oder? Es will bloß die Erde. Längerfristig. Vielleicht sehr langfristig.“ Jennifer lächelte schwach, wandte sich wieder ihren Tellern zu. Er küßte sie im Rausgehen auf die Wange, streichelte ihren Hals mit der Hand. Als er die Hand wegnahm, las Jennifer zum ersten mal seit Jahren bewußt, was da stand, auf dieser Hand: C = W log (1+P/NW) Colin ging ins Wohnzimmer. Als er Simon und Mareike vor dem Bildschirm sitzen und ihr Autorennspiel spielen sah, fragte er sich, ob er die Kinder nicht um etwas betrog, was die alte Kauling ihnen hatte geben wollen. Eine Menschheit, eine Wahl, eine Alternative, die hieß: wir machen es bekannt. Er hatte selbst einst so gedacht. Natürlich: schon bei der kleinsten Andeutung dessen, was er wußte, hatte man ihn damals angestarrt, als käme er vom Mars. Aber bei den Mitteln, über die er inzwischen verfügte, ware es ihm ein Leichtes gewesen... ja, was? Mit autoritären Mitteln eine demokratischere Lösung durchzusetzen als den Sippen-Separatismus, den er jetzt ins Werk setzte? Immerhin: Außer den Seinen waren auch viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit an Bord, und noch ein 83
paar mehr Leute wie er, von den kreativeren Rändern der ,,herrschenden Klasse“. Reiche Intelligenz, die intelligente Reiche. Ziemlich gräßlich, möglicherweise. * Er erinnerte sich an Diskussionen, über Politik, mit Denise, als die Band eben neu gegründet gewesen war. Einigkeit darüber, daß die gute alte westliche Demokratie ein Ding der Vergangenheit war. Er konnte ihr damals nicht verraten, wie sehr er aus erster Hand wußte, daß das Absterben der Konkurrenz eine Realität war. Er wirkte ja kräftig daran mit. Und überall, von rechts bis links, wurden die Hirne derer, die noch in politischen Kategorien dachten, vom ,,abstrakten Menschen“ heimgesucht, dem aufgeklärten Popanz, der seine lautstärksten Anwälte im achtzehnten Jahrhundert gehabt hatte, dieser Niemand im Nirgendwo, dieses Phantom der Demokratie, dessen ,,Verschwinden“ in den Philosophien der zweiten Jahrhunderthälfte noch die Attribute retten sollte, Erkenntnisse, Strukturen, Zeichen, Differenzen, um derentwillen er erfunden worden war. Und was tat er denn? Er rettete so viele Individuen, wie er konnte. Gar nicht so sehr viele. Und er war eigentlich nicht wirklich dabei. Patrick und Saskia erhielten wohl gerade jetzt per Boten ihre Einladung. Denise versuchte er seit Stunden zu erreichen. Zuhause war sie nicht, und auf dem Guten Weißen Berg, bei der Nummer, die sie ihm gegeben hatte, war besetzt. Sollte er eines der blauen Männlein schicken? Als letzte Chance vielleicht. Axel meldete sich auch nicht. Colin hatte ihm auf den Anrufbeantworter sprechen wollen, der endlich mal wieder eingeschaltet gewesen war, es dann aber gelassen. Entweder Denise hatte ihn überredet, oder es hatte eh keinen Zweck. Survival of the fittest. Colin Kreuzer ging die Treppe hinunter ins fast völlig abgebaute Studio und fing an, den Männern zu erklären, wo und wie sie die Sprengladungen anbringen sollten.
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(ypsilon) Nach unten, immer tiefer, in Selbstmitleid und Nacht. Marsch der schwarzen erwachten Biester, die irgendwo da innen drinnen knurrten. Falsche Hoffnungen, die aus der Drachensaat eines neuen Hochmuts heraufgrünten. Wo hatte er das gesehen, gedeutet? Axels Abstieg in Finsternisse und Übelkeiten begann unmittelbar, nachdem er vor Denise und ihren Colin-Kreuzer-Neuigkeiten Reißaus genommen hatte. Er war sich nicht völlig bewußt, daß er die Stationen seiner ausschweifenden Nacht mit Angelika (von der er plötzlich wieder dachte sie habe sich damals doch eher als ,,Angela“ vorgestellt, aber konnte das sein?) noch einmal wiederholte, nur diesmal ohne den roten Engel. Das immerhin war völlig klar, nach dem dritten WhiskyCola in der ,,Jukebox“-Bar neben dem mexikanischen Steakhaus: daß der rote Engel Wirklichkeit gewesen war, der Biß in den Nacken, das Saugen an ihrer Brust, auch die Schreie. Bis zum Rand abgefüllt fiel er das zweite mal in 48 Stunden in seine Wohnung ein wie die Hunnen ins Nähkästchen der Prinzessin auf der Erbse. Kotzte das Klo voll. Riß die Hände, zurücktaumelnd, hoch: ,,Fahr doch zur Seite... paß doch...“ Scheinwerfer blendeten vor ihm auf, Axel war ein Igel, ein Reh, und eine ganz arme Sau. Er erwachte auf hoher See. Stellte, auch das schon fast eine liebe Gewohnheit, ein Bein aus dem Bett. Brauchte zwanzig Minuten zum Aufstehen, da war es schon 13 Uhr nachmittags. Verdammt, aber nicht verdammt wie sonst, dachte er, sondern: verdammt in Schwarz. Ein guter Tag, um sich von einem Geschenk aufmuntern zu lassen, beschlog er nach einer halben Scheibe Brot und einem Glas abgestandener Cola. * Er war sehr schlechter Laune als er das Postamt betrat. Als er es verließ, war er vor allem verängstigt. Es war nicht so gewesen wie er erwartet hatte. Das Päckchen stammte nicht von Saskia. Den ganzen Weg nach Hause preßte er es an die Brust, als enthielte es einen Herzschrittmacher, den er sich nachher auf seinem Schreibtisch ohne 85
Betäubung selber einzusetzen gedachte. Die Leute in der S-Bahn erschienen ihm bedrohlich. Niemand durfte sehen, was er versteckte. Ihm war, als strahle das Packchen an seiner Brust unheilige Wärme ab, als lebte es - schon als er es entgegengenommen hatte, mit einem einzigen Blick auf den Absender: Kauling, Schellingstr.4o - waren ganze Welten um ihn eingestürzt Aber das qualende Warten, bis er zuhause ankam und es öffnen konnte... Mit im Gegenuhrzeigersinn, auf ,,Untergang“ eingestellt, stoßweise beschleunigendem Kreislauf war er die Treppe hinuntergestakst, immer noch auf hoher See, bei zunehmend wilderem Seegang, hatte die Tür hinter sich zugeworfen und sich an die Wand gelehnt mit dem Gefühl, als sei es durchaus nicht ausgemacht, wer von ihnen beiden zuerst umfallen würde: er oder die Wand. Als er halbwegs bei sich war, ging er zum Telefon und schaltete den Anrufbeantworter auf Wiedergabe. Viermal Denise: 1.) ,,Axel? Denise. Geh bitte ran, wenn du das bist. Wenn nicht, ruf mich auf dem Berg an, sobald du wieder da bist. 32 94 491. Bitte.“ 2.) ,,Hallo, ich bin's noch mal, Denise. Nimm bitte ab. Bitte, Axel. Es ist wichtig. Kein Scheiß. Axel? Ich versuch's noch mal.“ 3.) ,,Hallo, ich wieder. Ich käm' mir ja schon blöd vor, wenn es nicht so wichtig wäre. Ist es aber. Also ruf an. 32 94 491, ich wiederhole: 32 94 491.“ 4.) ,,Axel, ich versuch's nicht noch mal jetzt. Ich hab' hier einen Haufen Arbeit, die hab' ich mir aufgeladen, um den Kopf auszumisten. Sei wenigstens nachher da, heute abend, dann komm' ich zu dir. Wir MÜSSEN reden.“ Axel saß eine Weile ganz verwirrt herum. Schließlich nahm er das Päckchen, riß er es auf. Er fand eine Videocassette und einen Brief. Lieber Axel! Es ist zu spöt für Umschweife. Ich fürchte um mein Leben. Vielleicht weißt du, wovon ich spreche, Du hast ja Deine eigenen Erfahrungen mit Colin Kreuzer gemacht. Ich ringe damit, alles bekannt zu machen, obwohl ich noch keinen Weg dazu weiß. Der Film auf dem Band wird Dir, denke ich, alles vergegenwärtigen, worüber ich, wenn alles gut geht, bald mit Dir reden möchte. Du hast auch sie selbst erlebt: wie sie auf den Seminaren herumlungert. Mir nachstellt. 86
Mich einschüchtert. Ich habe das Video als Kopie eines anderen hergestellt, das mein Enkel für mich aufbewahrt, und an der entscheidenden Stelle die Verlangsamungsfunktion genutzt: es wird Dir sofort auffallen. Du hast einen anderen Teil dieses Films schon einmal in meinem Haus gesehen, letzten Sommer, mit anderen aus unserem Adornoseminar. Diesen Teil für Dich abzuspielen, fehlte mir damals der Mut. Ich hoffe, es ist nicht zu spät. Ich hätte gern Deine fertige Arbeit gelesen. Vielleicht werde ich das noch tun. Gib nicht auf, in Gedanken bei Dir: G. Kauling P.S.: Adorno Schriften 6, S. 517f. letzter/erster Satz, SuZ § 53 Abs. 10 erster Satz. Laut las Axel vom Blatt, nachdem er es einmal still durchgelesen hatte, noch einmal den Satzteil ab: ,, ...worüber ich, wenn alles gut geht, bald mit dir reden möchte.“ Es war nicht alles gutgegangen, soviel war klar. Und ,,Ich hätte gern deine fertige Arbeit gelesen“ bedeutete, daß die Alte gewußt hatte, daß es nicht gutgehen würde. Die formelle Unterschrift unter den ansonsten in so drängendem Ton gehaltenen Brief war ein ernstes Anzeichen des Contenanceverlusts. Dem eigenartigen P.S. wollte Axel erst nachgehen, wenn er das Band angeschaut hatte. Sein Mund war trocken, er hatte es sehr eilig damit. Mein Enkel, mein Enkel, ging's ihm im Kopf herum. Sie schreibt das hin, als wäre damit alles klar, als würde ich den kennen, als könnte ich mich an den wenden. * Axels Fernseher war eine schäbige Kiste, der Videorecorder ein 3 Jahre altes Geschenk seiner Schwester. Beide waren allemal gut genug zum Abspielen des Bandes, dessen schlechte Bildqualitat und Schwarzweiß-Flackern Axel sofort bekannt vorkamen. Ja: sie hatten es tatsächlich bei Kauling angesehen, ihre Seminaristinnen und Seminaristen: er, Björn, Maria, Anja, Tobias. Es handelte sich um Amateurfilmaufnahmen von den Proben zur Gustav MahlerZentenarfeier in Wien, 1960. Man sah Adorno, die sehr viel jüngere Kauling, den jungen Wollschläger, ein paar Unbekannte, Josef 87
Keilberth, einen der Dirigenten... und dann, nach einem Reißschwenk ins Probenpublikum, ein paar fremde Gesichter, größer und näher. Da fing der Film, wie der Brief angekündigt hatte, plötzlich an, ganz langsam abzulaufen, fast Bild für Bild, hielt schließlich kurz völlig an. Die Kamera verharrte mit ihrem grobkörnigen Blick auf dem Gesicht eines Mädchens. Engelhaft vergeistigt sah sie aus, als lausche sie mit kaum beschreibbarem Entzücken der Musik, und Axel wußte, daß der Ausdruck nicht täuschte: engelhaft. Das paßte gut. Dies hier war sein roter Engel. Verdammt in Rot. Die Frisur war ein wenig anders, die Kleidung der damaligen Mode entsprechend ,,züchtiger“: ein Rollkragenpullover. Aber sie war es, kein Zweifel: Angelika. Nicht einen Tag jünger als gestern abend. Die ,,verschlüsselten“ bibliographischen Angaben im P.S. waren leicht zu enträtseln: die Bücher gehörten zu Axels Arbeitsmaterial. Das eine war die gebundene Ausgabe der ,,Negativen Dialektik“ Adornos, das andere Heideggers ,,Sein und Zeit“. Hektisch blätterte er die angegebenen Stellen nach. Las bei Adorno, im Supplement zur Negativen Dialektik, der Heideggerkritik ,,Jargon der Eigentlichkeit“: ,,Wie manche niedere Organismen nicht im selben Sinne sterben wie die höheren, individuierten, so ist angesichts des Potentials der Verfügung über organische Prozesse, das Umriß gewinnt, der Gedanke einer Abschaffung des Todes nicht a fortiori abzutun.“ Die Heideggerstelle schien schlichter, aber sie war genauso resonant, genauso weitreichend in ihren Implikationen, wenn man das Video bedachte: ,Der Tod ist die eigenste Möglichkeit des Daseins.“ Axel war schwindlig. Colin Kreuzer... Denise... der Mord.... Er spielte mit dem Gedanken, den Polizisten Keller anzurufen. Was freilich hätte er ihm sagen sollen? In seiner Verwirrung war ihm nur eins noch klar: alles hing zusammen, alle waren hinter ihm her, weil er jetzt wußte, oder ahnte, was Kauling gewußt hatte. Denise, der rote Engel, Colin... man durfte ihn hier nicht finden. Er mußte raus, mußte weg. Öffentliche Platze! Die Stadt! Am besten in die Kneipe: wenn man so angegriffen, verkatert, restalkoholisiert war wie er, wußte er aus Bandzeiten, half nur Weitersaufen. Natürlich nicht so lange, bis er völlig die Kontrolle verlor. Nur so 88
lange, bis er nicht mehr vor Angst schlotterte und klapperte, und sich die Welt nicht mehr um ihn drehte wie sein ,,Namensvetter” , Axl Rose, während der seinerzeitigen Höhepunkte seiner Live-Auftritte, mit dem Mikroständer in der Hand, unaufhörlich um sich selbst. (phi) Sie wußte endlich, was zu tun war. Unten die Schluchten der Häuser, um sie die Stadt der Eichhörnchen, sie selbst eine tachistische Spur: sie fuhr, fiel fast den Berg hinunter, setzte Rücktritt - und Handbremsen kontrolliert abwechselnd ein, um die Beschleunigung zu beherrschen, die bergab eine Fallbeschleunigung war. Sie dachte an Raumfahrzeuge im Orbit: die ,,kreisen“ da oben nicht, sondern, wie Jennifer ihr mal erklärt hatte, ,,fielen“ sie genaugenommen an der Erde ,,vorbei“, der tangentiale Impuls entsprach exakt der Erdanziehung. So fühlte sich auch Denise jetzt: vorbeifallend, aber auf genau abgemessener Bahn. Der ganze lange Tag, die Versuche, Axel zu erreichen (wie viele waren das gewesen? Ein halbes Dutzend bestimmt), die ansteigende, dann abfallende Spannung, diese Achterbahn: wie eine mechanische Maus in einem organischen, wachsenden, wuchernden, sich ständig verändernden Labyrinth war sie die Möglichkeiten durchgegangen, und zu keinem Ergebnis gelangt Wie nebenbei war es ihr unterdessen gelungen, das Programm fertig zu schreiben, das den Brustkrebsleuten endlich die effektive Verwaltung ihrer Genkarten erlauben würde. Jetzt, da sie auf dem Bock saß und sich der Abfahrt, der Brücke über die Bundesstraße näherte, die sie übersetzen lassen würde, in die Altstadt, verstand sie erst, daß Axels komische Beleidigtheit und ihr merkwürdiges Zögern, Mitsichringen eigentlich gar nicht so weit auseinanderlagen: auch sie nahm alles viel zu persönlich, führte unausgesprochen immer noch einen Prozeß, der längst beendet war es ging ja gar nicht um ,,sie beide“, wie Axel das nahm, es ging vielmehr um Einzelne und darum, daß sie gerettet werden konnten. Sie würde ihn, beschloß sie, einfach am Arm packen und zu Colins Haus schleifen, völlig egal, was weiter wurde: er mußte mit. Den steinigen Weg hinunter (Stock und Stein, dudelte Gedächtnis) rauschte um sie ein Wind, sie war ein Fisch in den Stromschnellen. Schußfahrt, radspeichensurrend bergab, dann die Brücke, und 89
zwischen Lichtern in den Körper der Stadt, durch die Poren: enge Gäßchen, schiefe Häuslein, auf dem Velo querdorfein. Hier gingen die Leute gebückt, hier standen Straßenlampen, die an alte Gaslaternen erinnern sollten, und Denise fand es nur zu passend, daß das der Ort war, wo Axel hingezogen war, nein: sich verkrochen hatte, nachdem der einzige Zusammenhang mit anderen Menschen, in dem er sich je wohlgefühlt hatte, sich aus Gründen, die niemand wußte, einfach aufgelöst hatte. Ein ganz buchstäbliches, ganz verbissen ernstes Leben hatte er damals angefangen, mit allem dazu erforderlichen Mutwillen. Denise erinnerte sich an eins ihrer letzten Gespräche vor seinem Auszug, als er gesagt hatte: ,,Ich möchte ein Leben leben, das ich Wort für Wort ernstnehmen kann. Diese ganzen Jobs bis jetzt, inklusive die Band...das ist alles so unernst.“ Seltsam, daß er gerade das als Schwäche und Defekt empfand, was ihr immer als seine Stärke erschienen war: das Indirekte, nicht Wörtliche, seine Fähigkeit, einen Unterschied zu setzen zu den deterministischen Bestimmungen dessen, was er tat und war, durch kleinste Kleinigkeiten. Ihr hatte die Geschichte immer gut gefallen, wie er als Briefonkel und Grüßaugust für Manuskripteinsender in dem Frankfurter Verlag die Aufgabe gehabt hatte, Pauschalablehnungen zu schreiben. Wie ihn das am Anfang schrecklich genervt hatte, weil ihm einige der Manuskripte sogar gefielen und er das Gefühl gehabt hatte, man müßte mit diesen Leuten einfach mal reden, sich auf eine Korrespondenz einlassen, auch aus den nicht druckreifen und verschrobenen Texten, und vielleicht gerade aus denen, wäre etwas zu machen gewesen... dieser Kampf, dieses skrupelhaft Indirekte, Überreflektierte hatte ihr gefallen. Natürlich war es bitter für den, der das leben mußte, aber schließlich kriegte kaum jemand auf der Welt was geschenkt und da war es doch eher ein persönlicher ERFOLG als ein Mißlingen, wenn man sich ,,Gedanken machte“, wenn man nicht abstumpfte und Ideen wie die der ,,Förderung guter, abseitiger Leute“ pflegte, obwohl der institutionelle Rahmen, in dem man sich bewegte, einem genau das verbieten wollte. Und immer wieder seine eigenen, persönlichen Mikrolösungen für das perennierende Problem: so hatte er beispielsweise irgendwann einen Formbrief entworfen, in dem stand, das jeweilige Manuskript sei geprüft worden, aber ,,leider sehen wir bei unserem übervollen Verlagsprogramm derzeit keine Möglichkeit der Veröffentlichung“. 90
Lachend, wenn auch ein bißchen grimmig, hatte er's ihr erläutert: ,,Das mit dem ,übervollen' Programm ist meine persönliche Note, mein kleiner indirekter Protest. Übervoll, verstehst du - nicht: wir drucken schon so viel, nein: wir drucken ZUviel, mit anderen Worten: es ware besser, wir würden einiges von der Scheiße, die wir machen, nicht machen. Vielleicht hat da niemand was davon, daß das da so steht, vielleicht DECODIERT das niemand, aber die Information ist drin.“ Die Information. Kein Wunder, daß jemand, der so dachte, bei einer Band namens Shannon landete. Wo war jetzt diese blöde Baracke, in der Axel... - ah: hier. Vollbremsung. Denise stieg ab und kettete das Rad an eine der Laternen direkt neben einem Münzfernsprecher (nichtmal Kartentelefone gibt's hier draußen. Die passen schon auf, für die Touristen, daß in der Altstadt alles schon alt bleibt. Very Mittelalter). Die Haustür stand zwar nicht offen, war aber, wie Denise erleichtert feststellte, als sie die Hände dagegen drückte, zum Glück auch nicht abgeschlossen. Der Treppengang nach oben war zwiedunkel, fahles, wie erkaltetes Licht fiel vom Hinterhof durch große Fenster. Der Treppengang abwärts, in den Keller, war stockfinster. Denise tastete an der Wand rechterhand nach einem Lichtschalter, fand ihn schließlich, und eine mickrige Funzel spendete gelb-mieses Licht. Denise ging hinunter, die verschwitzten Stellen ihres T-Shirts - Achseln, Rücken, Bauch - fühlten sich kalt an: Verdunstung. Sie klopfte an Axels Tür, lauschte. Nichts regte sich. Dann eine Stimme. Denise verstand nicht, was die Stimme sagte, rief aber selber. ,,Axel? Axel, machst du bitte auf? Sei nicht mehr beleidigt, OK? Komm schon.“ Die Stimme sprach weiter, das war merkwürdig. Hatte man sie nicht gehort, obwohl sie ihrerseits hörte, daß da geredet wurde? Sie trat nah an die Tür, legte den Kopf an, lauschte: ,,...und ich finde das Manuskript wirklich gut, also nicht nur gut, sondern im Prinzip auch so machbar. Rufen Sie mich mal zurück, ich bin gespannt, was sich da entwickelt“, dann wurde noch eine Nummer durchgegeben - es war der Anrufbeantworter, was da redete, und Axel hatte ihn lautgestellt. Er war also wirklich nicht da - auf so einen Anruf hätte er garantiert reagiert, wenn schon nicht auf ihre Versuche, ihn zu erreichen. Es ging offenbar um sein Buch - schon ein Treppenwitz: da rödelte er jahrelang vor sich hin, und jetzt, wo solche Sachen keine Rolle mehr 91
spielten, weil er, wenn es nach Denise und Colin ging, diese Welt und ihre Verlage demnachst hinter sich lassen würde, hatte es offenbar endlich geklappt - ob das einer von Colins Bekannten war? Oder ein Schuß ins Blaue, d.h. ein Manuskript, das Axel einfach verschickt hatte an irgendeinen... - was stehe ich hier eigentlich?, wunderte sich Denise. Ich muß Axel finden! Oder wenigstens Colin kontaktieren und ihm endlich sagen, daß seine Vermittlerin alles andere als Erfolg gehabt hat. Sie lief die Treppe eilends wieder hoch, verließ das düstere Haus, kramte bereits beim Überqueren der Gasse ihren Geldbeutel raus und fand außer einem Zwanzigmarkschein ein Markstück zwischen zahlreichen Zehnpfennigmünzen, froh darüber, daß das da drüben kein Kartentelefon war. In der Zelle mußte sie allerdings entdecken, daß der Apparat außer Betrieb war. Die Anzeige las sich: ,,Nur Notruf.” Denise fluchte. Sie machte das Rad los, fuhr Richtung Stadtzentrum. Die erste Telefonzelle, die sie fand, unweit der ,,Kirsche“, war ein Kartenkasten. Um die Ecke stand ein Kiosk, dort konnte sie sich eine Karte kaufen. Als sie zurückkam, stand ein älterer Mann in dem Häuschen und redete. Und redete, und redete... geschlagene fünf Minuten war Denise hinund hergerissen, ob sie einfach aufs Rad steigen und bis zur nächsten Zelle fahren sollte, wo immer die hier sein mochte, oder noch abwarten, ob dem Kerl schließlich doch die Puste ausgehen würde. Dann hängte er ein. Und wählte noch mal. Denise spürte die bei ihr zu solchen Gelegenheiten übliche irrationale Wut aufsteigen und machte sich jetzt wirklich bereit, abzuhauen, da hängte der Mann wieder ein er hatte offenbar kein Glück gehabt - besetzt oder ähnliches. Er zog die Karte aus dem Apparat und verließ die Zelle. Denise schloß ihr Fahrrad wieder ab und ergriff die ihr freundlicherweise aufgehaltene Tür, hüpfte wie auf Sprungfedern in die Zelle, wählte Colins Nummer. Piep-piep-piep, ,,Dieser Anschluß ist vorübergehend nicht erreichbar“, piep-piep-piep. Hatte sie sich verwählt? Die Nummer auf dem Display stimmte. Sie wählte sie noch einmal, zur Sicherheit. Piep-piep-piep, ,,Dieser Anschluß...“ Denise hängte ein. Überlegte. Nahm wieder ab. Wählte die Nummer des Labelbüros. Tuut. Tuut. ,,Hallo. Ihr habt die Nummer von...“ Denise kannte die Ansage. Sie legte auf, verließ die Zelle. Irgend etwas Einschneidendes 92
war passiert. ,,OK, was jetzt?“ Es war sehr einfach. Sie machte das Schloß los, setzte sich aufs Rad, griff den Lenker. Und fuhr. Schneller, angestrengter war sie noch nie Rad gefahren. Sie fuhr auf den Zubringer, dann in großem Halbkreis einmal um die ganze Stadt, fuhr so schnell wie möglich, die untergehende Sonne war ihr Ziel. Denise trat die Pedale durch, als wolle sie etwas zerstampfen, biß die Zähne zusammen, fuhr Richtung Fluß, auf der Landstraße, an Bauemhöfen vorbei, einem Sportplatz, Spaziergängern, Leuten mit Hunden, Joggern, überholte andere Radfahrer. Dann sah sie die Rauchsäule. Noch waren ein paar Hügel voll sattgrünem Gras zwischen ihr und dem Ort, von dem aus dieser biblische Großpilaster aus schwarzem Oxidationsdreck in den Himmel ragte, aber sie war oft genug hier lang gefahren, wenn auch weniger angestrengt, um zu wissen, daß es nur Colins Haus sein konnte, was da brannte. Sie dachte darüber nach, ob sie wenden sollte, ob es klug war, dorthin zu fahren, wo ein so gewaltiges Feuer brannte, und trat dabei doch weiter in die Pedale bis sie das Geräusch hörte: es war, als ob ein Roboter immer wieder schnell hintereinander weg, ohne Luft zu holen, das Wort ,,Bitte“ sprach, mit metallener Monotonie und Insistenz: ,,Bittebittebittebittebittebitte...“ Sie bremste das Rad ab. Sah zu den Hügelkammen, wo das Geräusch herkam. Dort stieg eine dicke schwarzglänzende Hummel auf, ein Hubschrauber, dessen Rotorenrotation die Wiese Wellen werfen hieß. Denise wendete den Bock, stieg auf, trat los. Wollte weg, wollte fliehen. Sah sich um: das Ding folgte ihr. Kam näher. Sie strampelte, fluchte, spuckte. Scheiße, jetzt kriegen sie mich, wer immer ,,sie“ sind. Denise gab ihr Letztes, radelte, schon völlig verausgabt, immer weiter, das Geräusch wurde lauter, kam in ihrem Rücken naher - sie drehte sich um, im Gegenlicht erkennte sie Männer in dem Chopper sitzen - hatten die Gewehre? Sie werden mich vom Fahrrad schießen. Was für ein Wahnsinn. BITTEBITTEBITTEBITTE.... Nein: Bitte nicht. Aber es war schon zu spät, der Krach war laut und immer lauter geworden, jetzt stand ihr Trommelfell vor dem Zerreißen, der Helikopter hing direkt über ihr. Sie gab auf. Bremste ab. Sprang vom Rad, das unter ihr zur Boden 93
fiel. Und eine Megaphonstimme rief vom Himmel durch den Höllenlärm: ,,Denise? Wieso haust du ab? Laß uns lieber landen und steig' ein! Wir müssen zum Flughafen!“ Colin. Denise ächzte wie Balken, die sich bogen, hörte es selber nicht im Krach, schüttelte wild den Kopf. Dann ließ sie sich rückwarts ins Gras fallen, Arme und Beine ausgebreitet, wahrend der Hubschrauber fünf Meter entfernt langsam zur Erde niedersank. (chi) Um Neun Uhr Abends räumten die martialischen Figuren, die Harald Otte, obwohl sie sich weder vorstellten noch auf Nachfragen reagierten, als ,,Kreuzers Elitegarde“ betrachtete, endlich das Feld. Sowohl Otte wie Lucia Maltoni und die drei bei GI unter Vertrag stehenden Biologen aus Brüssel, die als kleiner ,,Beirat“ von Miller nach Borbruck geschickt worden waren, hatte man in ihren jeweiligen Suiten festgehalten, vermutlich bis Kreuzers Abreisevorbereitungen vollendet waren. Der ,,Anführer“ der Gruppe hielt sich während der ,,Gefangenschaft“ der GI-Leute bei Otte auf und saß schweigend im Sessel, während Otte sich die Zeit damit vertrieb, auf seinem Laptop ein Memo abzufassen: ,,Das Shannon-Kauffman-Kreuzer-Modell des Mehr-Lebens: Boolesches Gitter und Information-Lattice-Struktur einer emergenten negentropischen Homoostase. Teil 1: Evolution.“ Er war bis zu dem zentralen Absatz des ersten Abschnitts gelangt und tippte gerade den Satz: ,,Im Rahmen des SKK-Modells gehe ich also von der Annahme aus, daß die beiden alternativen Pfade der Lebensentstehung aus präbiotischen organischen Molekülen unter Ausnutzung quantenchemischer Kinetik (z.B. der oben angesprochenen Tunneleffekte) offenbar BEIDE eingeschlagen wurden, und es vergleichbar der dunklen Materie im All offenbar ein zweites, ein Schatten- oder Mehr-Leben gibt, das -“, als der schweigsame Gast sich aus seinem Sessel erhob und sagte: ,,Ich muß Sie jetzt verlassen.“ ,,Wie schade. Richten Sie Kreuzer einen Gruß von mir aus.“ 94
Der Hüne schüttelte den Kopf: ,,Den werde ich so bald nicht wiedersehen.“ ,,Ich verstehe.“ Der Fremde lächelte nur und zuckte mit den massigen Schultern. Dann schlug er den rechten Flügel seines Jacketts zurück, zog einen Umschlag aus der Innentasche und überreichte ihn Harald Otte. Danach verlieg er so geräuschlos, wie er gekommen war, die Suite. Zwei Minuten spater stürzte Lucia Maltoni herein. ,,Unglaublich! Ich durfte nicht mal das Telefon benutzen! Ich hätte geschrieen, aber...“ ,,Unter Ihrer Würde. Sehr richtig.“ Harald Otte zündete sich eine Zigarette an. Lucia drangte: ,,Wir sollten sofort...“ ,,Die Polizei rufen? Keine gute Idee.“ „Nein, ich meine: wir sollten zu ihm fahren. Zu Kreuzer. Sofort.“ * Lucia und die Brüsseler standen an der Feuerwehrabsperrung und sahen dem Rauch hinterher, der in den Himmel emporgeblasen wurde, während Otte im Auto Colin Kreuzers Brief las. Das hast Du jetzt davon, Harry! Damals hatte ich den schwarzen Peter. Du wolltest mich zwingen allein zu veröffentlichen. Ich habe mich anders entschieden. Du bist jetzt im Paradies, wie die ersten Menschen, zwischen den Strömen Pischon, Gihon, Tigris und Euphrat. Wie sieht's aus? Baum der Erkenntnis? Best, CK Kein schlechter Abgang, fand Harald Otte. (psi) Wie interessant. Doch, wirklich. Er nickte. Der Kopf war sehr schwer. ,,Muß ich mir mal aufschreiben, irgendwann. Interessant“, lallte die Zunge, die in einen ganz anderen Mund zu gehoren schien. 95
Denise und Colin Kreuzer mochten ja fit sein in Biologie, aber er, Axel Amarell, hatte im Laufe dieses verdammten Tages (verdammt in Schwarz, verdammt in Rot) eine ganz neue stoffwechselkundliche Entdeckung gemacht: es war praktisch unmöglich, sich effektiv zu besaufen, wenn man sich zugleich vor Angst fast in die Hose machte. Interessant. Axel saß an einem Zweipersonentisch beim Eingang der ,,Kirsche“ und sah auf die Uhr an der Wand: es war 21 Uhr 30, in einer halben Stunde würde das Lokal schließen. Warum war er hier? Die Frage verbrannte zu Asche, kaum daß er sie sich stellte. Was zurückblieb, war Klarheit, mit der man, betrunken und alarmiert, alles weiß, was man wissen will: wegen Angelika. Die gehörte hier her, oder? Hier hatte er sie... hatte... hier - was? Sie war aber nicht aufgetaucht. Er wußte selbst nicht, wie er auf den Gedanken gekommen war, hier nach Angelika zu suchen. Vielleicht wartete er gar nicht auf sie, sondern auf den Dings, na: den Tod, und stellte sich dabei vor, sie wäre eben der. Vielleicht war einfach sein Hintern zu schwer geworden, und er kam nicht mehr hoch. ,,Guten. Abend.“ flüsterte zu nah eine Stimme aus Grabestiefen. Axel blickte auf, wie ertappt und sah ins eingefallene, fusselbartumflaumte Dämonengesicht des irren Krell. Der setzte sich unaufgefordert zu ihm. Zu spät für Umschweife, fiel Axel ein. Viel zu. Zu viel zu. Das Lokal war etwas voller als bei ihrer letzten Begegnung. Sechs Leute saßen an anderen Tischen. Die Bedienung war diesmal nicht der Riese mit der Rausschmeißerstatur, sondern eine entnervte Studentin. Schlechte Karten, dachte Axel, fast gleichgültig. Zu viel. Zu spät. Was war das, was Krell da auf dem Stuhl abstellte? Schwarzer Koffer? ,,Du hast das Band von meiner Großmutter bekommen.“ Axel brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß eine Antwort von ihm erwartet wurde, dann blubberte er: ,,Deine...“ ,,Ja. Ich sehe, du HAST es bekommen. Und angeguckt. Meine Großmutter. Sie ist tot. Wie meine Eltern. Du weißt, warum. Du hast welche von ihnen gesehen. Mindestens eine: die Frau.“ Axel schwieg. Schwieg viel zu viel. Zu viel zu spät. Zu: völlig zu. Krell sagte lauernd: ,,Ich werde heute nacht hingehen. Ich werd' mich nicht mehr verstecken. Niemand lebt mehr. Meine Familie ist tot. Ihre 96
Familie wächst.“ Axel nickte. Verdammt in allen Farben. ,,Kommst du mit? Hrmpf“, wieder dieses unangenehme RotzHochziehen. Darin war er Weltmeister, der Enkel. Enkel, Ekel. Axel sah ihn entgeistert an. Ihn begleiten? Wohin denn? Nein, das kam gar nicht in Frage. Auf keinen Fall. Niemals. * Scheiße, dachte Axel, frierend und ängstlich, als genau in dem Moment, da er sich, dem Irren folgend, über die Friedhofsmauer schwang und mit beiden Beinen auf der Erde landete, ein heftiger die Baumkronen der nahen Weiden erfassender Wind aufkam. Mächtiges Rauschen, ,,Todes... schwingen“, grunzte er, der Ohnmacht nahe. Roter Engel, Schwarze Schwingen. Wie konnte ich mich dazu hinreißen lassen? ,,Hier. Nimm das“, zischte Krell und drückte Axel etwas aus Metall in die Hand - der wollte nicht nehmen, was ihm da hingehalten wurde, weil er nicht erkannte, was es war. Dolch? Pistole? Aber dann ließ Krell es los, und Axel, der verhindern wollte, daß es zu Boden fiel, schloß die Hand drum... Besah es, dem zwischen Gräberreihen voranschleichenden Krell zögernd und schwankend auf den Fersen, im matten Mond- und Sternenlicht. Ein Kruzifix. Du liebe Fresse. Der spinnt wirklich restlos. Der ist soweit. Verdammt in zu spät, zu verdammt in viel. Roter. Schwarzer. Kreuz. Kreuzer. Was ist hier LOS? Betrunken. Elend. Zu ver - viel - fiel? Feile, Pfeile? ,,Leise! Siehst du's? Da drüben?“ Axel sah es, murmelte: ,,Kruzi... Kreuzefix...“ ,,Es“ war ein kleines, zwischen Pavillon und Tempel an alles mögliche erinnerndes Mausoleum, am Ende der langen Reihen von Gräbern mit prahlerischen Steinen und Statuetten. Die Grabplatten-Tür des kaum anderthalb Mann hohen Gebäudes stand offen. Breiter als einen Spalt. Das war zu sehen, weil von innen her mattes, 97
grünliches Licht schimmerte. Grabgartenlicht. Heraufgrünende... zu viele... Verdammt in Grün? ,,Na dann wollen wir mal“, bemerkte Krell mit der selbstzerstörerischen Heiterkeit des gemeingefährlichen Verrückten und kniete an einem der Gräber, um seine schwarze Tasche zu öffnen. Fast hätte Axel jetzt wirklich hysterisch gelacht: was Krell zum Vorschein brachte, waren ein Hammer und ein kleines, mit einem Lederband zusammengehaltenes Bündel vorn scharf zugespitzter Holzpflöcke. Kreuzigung. Kreuzer, Kreuzotter. Zu rot. Zu grün. Mein Gott, Buffy, siehst du heut' nacht vielleicht Scheiße aus, dachte der Philosoph, knickte ein und kotzte hinter eine Hecke. ,,Bist du fertig?“ ,,Hmmpf”, machte Axel, und kicherte ein bißchen. Den Wahnsinnigen störte es nicht. Die Grabplatte, steinerne Tür ins Innere der Gruft war weniger geöffnet als vielmehr verschoben worden. Es handelte sich um einen schlichten, nicht sehr dicken Granitblock. Keine Scharniere. Türe. Hier unten, innen. Leben sie? Wer Im Innern mußte Axel sich, Krell dichtauf folgend, zunächst bücken. Dann begann der Abstieg, eine Unzahl glatter, feuchter Stufen hinunter. Trotz triefender Nase nahm Axel einen leichten Öl- und einen diesem untermischten Modergeruch wahr. Verdammt in alten Tüchern, Laken. Lecken. Verdammt in Milch? - sauer geworden, über Bin sauer geworden, bei Denise, obwohl sie Es ging viel tiefer hinunter, als Axel von außen für möglich gehalten hätte. Sie schienen sich der Lichtquelle nicht wirklich zu nähern, es blieb gleich hell. Nach einer Weile glaubte Axel, daß es womöglich die Wände selbst waren, die das Licht abstrahlten, durch daß sie sich wie Schatten bewegten, vorsichtig Fug vor Fug setzend. Einmal machte Axel den Fehler, die freie Hand, die, die nicht das christliche Heilszeichen, Kreuz, Kreuzer, umklammert hielt, die Wand berühren zu lassen, nur um sich abzustützen - sofort zog er sie, angewidert, wieder zurück: es war, als hätte er ein atmendes Geflecht berührt, ein Gewebe aus Fäden und hauchdünnen Strängen mit hervortretender Textur, wie von angeschwollenen Adern. 98
Die waren warm, pulsierten. Eine Ewigkeit später gelangten Krell und Axel an den bogenförmigen, fast gotisch spitzen Eingang einer Höhle, aus deren Innern sich der bislang intensivste Schimmer jenes grünblakenden Lichts auf die untersten Treppenstufen ergoß. Verdammt in Hier unten, innen. Schwüle, Dschungelfeuchte. Amazonas. Krell hob die Hand. ,,Hier. Festsaal, Felsenaltar.“ ,,Wa —“ gluckste Axel. Krell sprach aus, was beide wußten: ,,Hier wohnen die, die nicht sterben.“ * Es waren Dutzende, vielleicht ein halbes Hundert. Sie saßen auf nackten feuchten Felsen. Bemalt, be -? Die Bemalten, die roten und grünen Engel. Manche hatten ihre ledernen Flügel ausgebreitet und liegen sie flattern. Die, die näher an den Wänden hockten, aßen. Axel konnte sehen, was sie da aßen. Sie schmeckten einander wohl gut. Einige umklammerten andere. Kreuzungen aus Hyanen, urzeitlichen Echsen mit Genitalien wie Säugern und Menschenleibern, Schimären mit Drachenzungen, silberne Augen. Weißes Haar. Ihre Arme und Beine hatten keine Fleisch- und Hautverkleidung, die Muskeln, Nerven und Sehnen traten deutlich hervor. Etwas flatterte über ihnen, an der hohen Decke. Schwingen. Ein Schatten senkte sich auf sie. Axel riß das Kruzifix in die Höhe, schrie und spuckte. Krell brüllte. Das Brüllen wurde schnell zum Gurgeln und ein nasser, heißer Schwall Blut spritzte Axel über Gesicht und Arme. Etwas faßte sein Handgelenk, etwas anderes bohrte sich in seine Handfläche. Er ließ das Kreuz fallen, stolperte zur Seite. Schreie, Kreischen: das war Gelächter. Axel stürzte gegen den schleimigen Felsen rechts von ihm, ging in die Knie und wandte den Blick ab, um nicht zu sehen, wie sich zwei der Größten auf Krell stürzten, und ihn zerrissen. 99
Ihm selbst war nichts geschehen. Nein: fast nichts. Brennender Schmerz an der Hand. Er führte die Hand vor Augen, und sah, daß der Mittelfinger ein Stumpf war. Es tut fast nicht weh. Komisch. In Rot. Und dann doch. Axel versuchte zu schreien, aber er sank bloß röchelnd auf dem Boden zusammen. Er blickte auf, mit flatternden Lidern. Eins der Geschöpfe, die auf Krell hockten, drehte den Kopf in seine Richtung und lächelte. Der Blick verriet, was Axel geahnt hatte, bevor er hier her gekommen war, auch meinte er, die Worte zu hören, oder waren es Gerüche, die er las, wie Buchstaben? Chemische Kommunikation? ,,Wir haben sie nicht einfach so zum Spaße getötet. Sie hat gewußt, was viele vor ihr wußten. Sie wollte es anderen erzählen, sie wollte uns und euch aufeinander hetzen. Das konnten wir nicht dulden. Das verstehst du doch?“ Axel spürte, wie sein Kopf zu dieser Botschaft nickte, vor- und zurückruckte, zustimmen mußte. Das Gesicht, Blut in den Mundwinkeln, Milch, nickte nun auch. Die Augen waren silbern, nicht mehr dunkel wie oben, draußen. Nicht mehr winterbärenbraun. Ein schönes Gesicht, das er kannte. Vielleicht würde sie ihm jetzt sagen, wie sie wirklich hieß. Dann näherte sie sich ihm, um ihn zu küssen. (omega) Südlich des Zoos und der Basis, überm Bauplatz der Arche, gingen sie miteinander ihren fast täglichen Weg, stapften durch das Strahlen, und sangen zusammen ein Lied: „Though the waves leap, soft shall ye sleep, ocean's a royal bed. Rocked in the deep, Flora will keep watch by your weary head.“ Dann hielten sie die Luft an, schneidend kalte, gute Luft, und sahen hinunter auf das, was Menschen gemacht hatten. Weiß, groß und flach: Eine gigantische Komposition zum Lob einfachster Adjektive, gelöster Funktionalität, erhabener Nothilfe. Das Panorama war irdisch; keine Saturnmondlandschaft aber hätte fremdartiger aussehen konnen. Vater und Tochter standen auf dem Rand des Tals, an der Südseite des Talrandes, dick vermummt, mit 100
Mikrofonen vor den Filtermasken und Kopfhörern unter den Fellmützen. ,,Das sieht so groß aus.“ staunte Mareike ,,Was meinst du?“, fragte Colin Kreuzer. Seine Hand im Handschuh suchte ihre, fand sie, und umschloß sie vorsichtig. ,,Das Tal oder die Rampen?“ ,,Das Tal. Die Rampen sind ja...“ sie suchte nach einem Ausdruck, und als sie keinen fand, sagte er: ,,Ich weiß. Von uns gemacht. Sehen ziemlich klein aus, in dem ganzen Eis.“ Die sechs Raketenstartrampen für die Schiffe Shannon I-VI, von denen aus die Bauteile der L5-Station in den Orbit geschossen werden sollten, irgendwann im Laufe der nächsten zehn Jahre, bildeten den äußeren Kreis einer Reihe von konzentrischen Zirkeln. Auf jedem der Kreise standen große Gebäude: Fertigungshallen, Forschungsstationen, auch Verteidigungseinrichtungen gab es. In der Mitte blitzten die ölpfützenähnlich schwarzbunt schimmernden Sonnenkollektoren, auf den beiden geodätischen Kuppeln der Basis und des Zoos. Linnés Tal der Könige. Darwins Wiege. ,,Glaubst du, sie lassen uns gehen?“ ,,Ich denke schon. Sie sind bis jetzt nicht hier aufgetaucht. Ich bin draufgekommen, daß wir unsere Abreise hier vorbereiten sollten, weil es zwar Flug-, Wasser- und Landsaurier gab, aber keine nennenswerten Schneesaurier. Ich wollte flexibler sein als die letzten Weltbeherrscher, die's gekostet hat. Ich glaube, hier haben wir eine Weile Ruhe, um unser Skye Boat zu bauen.“ Was er da sagte, war teils Hoffnung, teils begründeter Verdacht. Tatsächlich lief bisher alles nach Plan und Wunsch. Vor einem Jahr waren er und seine Familie mit Denise Ehrke hier eingetroffen. Die ersten Siedler waren sie gewesen, deren Training im Habitat, von den Andocksimulationen bis zu den Zentrifugen, den Übungen zum Muskelaufbau und der Ernährungsumstellung augenblicklich begonnen hatte. ,,Ich weiß gar nicht mehr richtig, wie ich früher aufs Klo gegangen bin, vor diesen Vakuumdingern“, hatte Simon neulich gesagt, und das war vielleicht das deutlichste Zeichen dafür, daß die Migration ins All wirklich begonnen hatte. ,,Warum lassen sie uns hier in Ruhe, während es überall sonst auf der Welt immer mehr Ärger gibt?“ fragte das Mädchen. Sie hatte also wieder mal von den jüngsten Nachrichten jenseits der Polbasis 101
erfahren, von denen Colin und Jennifer die Siedler (inzwischen 130 Menschen - viel zu wenig, aber ein Anfang) soweit wie möglich abzuschirmen versuchten. ,,Vielleicht ist es ihnen zu kalt,“ antwortete er schließlich, langsam und bedächtig, ,,oder sie mögen das ganze gefrorene Wasser nicht. Wasser ist schließlich UNSER Medium, das, in dem WIR entstanden sind. Ein sehr wichtiges Lösungsmittel.“ Ja: ocean's a royal bed. Wirklich, wahrlich. Daher kommen wir. Ein jedes nach seiner Art. ,,Nehmen wir das Wasser mit von hier, wenn wir weggehen?“ ,,Fürs Erste ja. Wir nehmen Wasser mit. Für den Orbit. Aber weiter draußen ist es gar nicht so selten.“ ,,Wo, draußen?“ ,,Auf dem Mars, zum Beispiel. Ich kann's dir zeigen, im Habitat. Es gibt Dokumentationen.“ ,,Werden wir da wohnen? Auf dem Mars?“ Er antwortete nicht sofort. Colin wußte ja selbst nicht genau, was die zutreffende Antwort war. Dann sagte er versuchsweise, wie um die Antwort selbst zu kosten: ,,Wenn wir hier weg sind, dann... dann sind wir erst mal Flüchtlinge. Wir können's uns nicht aussuchen, weißt du. Wir werden uns niederlassen, wo wir aufgenommen werden.“ ,,Und wenn's uns da nicht gefällt?“ Er zuckte mit den Schultern. ,,Dann ziehen wir weiter. Irgendwo gibt's schon noch Platz.“ Neu anfangen, ein Planet für unsere Sorte Leben. Follow they will not dare. Er klopfte dem Mädchen sacht auf die Schulter. Sie sagte: ,,Ich weiß. Wir müssen heim. Aber... hier ist es so schön.“ ,,Wir können ja morgen wieder her.“ Sie nickte. Er ließ ihre Hand los. Zusammen gingen sie zurück zum Kettenfahrzeug, um rechtzeitig zum Abendessen im Habitat zu sein.
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ECHE Dietmar Dath Am blinden Ufer Roman 230 Seiten ISBN: 3-9804471-4-6 „dietmar dath laesst einen den ganzen dreck neuer mitte literaten von münchen bis prenzlauer berg endlich vergessen.“ Sascha Kösch, De:Bug
Dietmar Dath Cordula killt Dich! Roman 178 Seiten ISBN: 3-9804471-0-3 „Ein Buch über Leute, die solche Bücher lesen.“ konkret
Jim Avignon TV Made Me Do It Bilder Hardcover 120 Seiten (durchgehend vierfarbig) ISBN: 3-9804471-5-4 „Jim Avignon is the Andy Warhol of contemporary Berlin.“ Tevi de la Torre, Dazed & Confused
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